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German Pages 340 Year 2016
Wertewandel in der Wirtschaft und Arbeitswelt
Wertewandel im 20. Jahrhundert Band 2 Herausgegeben von Andreas Rödder
Bernhard Dietz und Jörg Neuheiser (Hrsg.)
Wertewandel in der Wirtschaft und Arbeitswelt Arbeit, Leistung und Führung in den 1970er und 1980er Jahren in der Bundesrepublik Deutschland
ISBN 978-3-11-042590-1 e-ISBN (PDF) 978-3-11-046649-2 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-046412-2 ISSN 2366-9446 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: le-tex publishing services GmbH, Leipzig Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier
Printed in Germany www.degruyter.com
Inhaltsverzeichnis Bernhard Dietz/Jörg Neuheiser Diesseits und jenseits der Welt der Sozialwissenschaften. Zeitgeschichte als Geschichte normativer Konzepte und Konflikte in der Wirtschafts- und Arbeitswelt . . . . . . . . . .
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1. Personallehre und Arbeitsethos Brigitta Bernet Vom „Berufsautomaten“ zum „flexiblen Mitarbeiter“. Die Krise der Organisation und der Umbau der Personallehren um 1970 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Peter-Paul Bänziger „Materialism is a very comfortable thing, one can’t say yes or no at once.“ Konsum und Arbeit als Leitvorstellungen in Tagebüchern um 1930 und 1960 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Jonathan Voges (Arbeits-)Ethos der Freizeit? Do it yourself und Heimwerken und der Wertewandel der Arbeit . .
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2. Unternehmen und Unternehmer Friederike Sattler „Harvard in Schloss Gracht“: Das Universitätsseminar der Wirtschaft (USW). Wertewandel durch Weiterbildung wirtschaftlicher Führungskräfte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Markus Raasch Unternehmenskultur und soziale Praxis. Ein Beitrag zur Wertewandeldiskussion am Beispiel der Firma Bayer und ihrer Anliegerkommunen . . . . .
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Christian Marx Vom nationalen Interesse zum Shareholder Value? Wertewandel in den Führungsetagen westdeutscher Großunternehmen in den 1970er und 1980er Jahren
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Inhaltsverzeichnis
3. Medien und Neue Leitbilder des Kapitalismus Bernhard Dietz „Von der Industriegesellschaft zur Gesellschaftsindustrie“. Wirtschaft, Wirtschaftspresse und der „Wertewandel“ 1970–1985 . .
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Maximilian Kutzner Vom „Fluch der Unterbelastung“ zur „Last der reifen Jahre“. Die Wertewandel-Debatte in der bundesdeutschen Presse zwischen 1950 und 1990 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Carola Westermeier Werbung und Wertewandel. Diskurse über Verbraucher und deren Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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4. Alternative Ökonomie und Migration Benjamin Möckel „Entwicklungshilfe“ als Beruf. Wandlungsprozesse der Arbeit im „Humanitären Feld“ in den 1960er und 1970er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Jörg Neuheiser Utopische „Schulen unternehmerischer Tugenden“? Leistung, Qualität und Qualifizierung als Probleme des Alternativen Wirtschaftens in den 1970er und 1980er Jahren . . . .
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Sebastian Seng „Die Anderen“ und der Wertewandel. Japanische Bergarbeiter im Ruhrgebiet 1957–1965 . . . . . . . . . .
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Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Diesseits und jenseits der Welt der Sozialwissenschaften. Zeitgeschichte als Geschichte normativer Konzepte und Konflikte in der Wirtschafts- und Arbeitswelt Strukturbruch, Wertewandel und die Grenzen des klassischen Wertewandelnarrativs Warum haben sich Arbeit und Wirtschaft in jüngster Zeit so stark verändert? Wie haben sich Form und Gestalt von Arbeit in westlichen Industrienationen gewandelt, wie sieht die Zukunft der Arbeit aus? Wie und warum hat der digitale Finanzmarktkapitalismus die Welt erobert und steht er in Konflikt mit der Idee der sozialen Marktwirtschaft? Mit Fragen wie diesen beschäftigt sich eine breitere Öffentlichkeit nicht zuletzt seit der globalen Finanzkrise von 2007/2008. Das Interesse gilt den Auswirkungen der technischen und sozioökonomischen Großprozesse, die mit Digitalisierung und Globalisierung bezeichnet werden, zeigt sich aber auch an einer Renaissance von Fragen nach sozialer Ungleichheit, die häufig im Zusammenhang mit dem weltweiten Siegeszug des „Neoliberalismus“ diskutiert werden. Geschichte spielt in diesen Diskussionen eine zentrale Rolle: Ganz offensichtlich gibt es eine große Bereitschaft, historische Perspektiven in die tagesaktuelle Analyse einzubeziehen und nach Ursachen für heutige Zustände (oft auch Missstände) in der Vergangenheit zu suchen. Dabei wird bewusst oder unbewusst eine jüngere Vergangenheit von einer „reineren“, von „Neoliberalismus“, Digitalisierung und Globalisierung noch unberührten Vorvergangenheit abgegrenzt. Internationale Publikumserfolge wie George Packers The Unwinding oder Thomas Pikettys Das Kapital im 21. Jahrhundert verstärken ein populäres historisches Narrativ1 , in dem die Zeit vor der „neoliberalen Wende“ als vermeintlicher Idealzustand interpretiert wird. Jedenfalls erscheinen die keynesianisch geprägten Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg als Epoche, die sich immer deutlicher von einer Gegenwart abhebt, deren Konturen sich seit den 1970er Jahren entwickelten. Während für die angloamerikanische Welt die entscheidende Zäsur in dieser Erzählung mit den Regierungsübernahmen von Ronald Reagan und Margaret Thatcher symbolisch 1
George Packer, The Unwinding. An inner history of the new America, New York 2013; Thomas Piketty, Das Kapital im 21. Jahrhundert, München 2014.
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auf 1979/1980 datiert werden kann, ist der bundesdeutsche Fall schwieriger. Die politische „Wende“ der Jahre 1982/1983 lässt sich nicht in gleicher Weise eindeutig als neoliberaler Durchbruch deuten. Stattdessen gelten die 1970er und 1980er Jahre meist eher als eine Übergangszeit, bevor dann nach dem Ende des Ost-WestKonflikts und der Vereinigung beider deutscher Staaten in den 1990er Jahren die entscheidenden ökonomischen und finanzpolitischen Deregulierungsmaßnahmen zu einer „Entfesselung der Märkte“ geführt haben. Dennoch scheint auch aus deutscher Perspektive die Zäsur des Jahres 1989 für die Erklärung aktueller wirtschafts- und sozialpolitischer Problemlagen zu verblassen. Das breite öffentliche Interesse korrespondiert mit der schnell wachsenden Zahl von geschichtswissenschaftlichen Publikationen über die 1970er und 1980er Jahre, denen als Jahrzehnten eines fundamentalen „Strukturbruchs“ besondere Bedeutung für eine „Problemgeschichte der Gegenwart“2 beigemessen wird. In den etwa zwanzig Jahren „nach dem Boom“ (Anselm Doering-Manteuffel/ Lutz Raphael)3 sind demnach die „Anfänge der Gegenwart“ (Morten Reitmayer/ Thomas Schlemmer)4 bzw. die „Vorgeschichte der Gegenwart“ (Anselm DoeringManteuffel/Lutz Raphael/Thomas Schlemmer)5 zu finden. Auffallend ist hier, wie sehr auch in fachwissenschaftlichen Beiträgen ökonomischen und sozioökonomischen Faktoren für die Analyse der letzten vier Jahrzehnte eine zentrale Bedeutung zugesprochen wird. Gerade für die einflussreiche Beschreibung eines „sozialen Wandels von revolutionärer Qualität“ durch Anselm Doering Manteuffel und Lutz Raphael gilt, dass sie den technischen Wandel durch die Entwicklung der Mikroelektronik und die abnehmende Bedeutung der arbeitsintensiven industriellen Massenproduktion als Ausgangspunkte für umfangreiche soziale und kulturelle Verschiebungen verstehen. Auch wenn sie eine grundlegende Historisierung zeitgenössischer Selbstwahrnehmungen und eine genaue Vermessung der mentalitätsgeschichtlichen Veränderungen in westlichen Gesellschaften fordern, stehen ihre Interpretation wie auch das seit einigen Jahren intensiv diskutierte „Strukturbruchparadigma“ insgesamt unter einem deutlichen Primat der Ökonomie6 . 2 3 4 5 6
Hans Günter Hockerts, Zeitgeschichte in Deutschland. Begriff, Methoden, Themenfelder, in: Historisches Jahrbuch 113 (1993), S. 98–127. Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen ²2010. Morten Reitmayer/Thomas Schlemmer (Hrsg.), Die Anfänge der Gegenwart. Umbrüche in Westeuropa nach dem Boom, München 2014. Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael/Thomas Schlemmer (Hrsg.), Vorgeschichte der Gegenwart. Dimensionen des Strukturbruchs nach dem Boom, Göttingen 2016. Doering-Manteuffel/Raphael, Nach dem Boom, S. 28. Vgl. auch die neue Einleitung zur zweiten Auflage des Bandes. Ähnlich wie Doering-Manteuffel und Lutz Raphael hatten letztlich auch schon Jean Fourastié, Eric Hobsbawm oder Tony Judt vor allem aus ökonomischer Perspektive eine grundlegende Zäsur in den frühen 1970er Jahren beschrieben. Vgl. Jean Fourastié, Le Trente Glorieuses (ou la revolution invisible de 1946 á 1975), Paris 1979;
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Auf den ersten Blick mag das überraschen: Denn ungeachtet des im Nachhinein leicht feststellbaren technischen und industriellen Wandels und der offensichtlichen Rückkehr vermeintlich bereits überwundener sozialer Probleme wie der Massenarbeitslosigkeit stehen die „langen 1970er Jahre“ nicht zuletzt für einen libertären Aufbruch, der auch durch die Wahrnehmung einer sich verschärfenden ökonomischen Krise nicht grundlegend in Frage gestellt wurde. Ausgehend von „1968“ und dem gesellschaftlichen Reformklima der späten 1960er und frühen 1970er Jahre über die Entstehung der neuen sozialen Bewegungen bis schließlich zu den politischen Erfolgen der Grünen gelten die Jahre von etwa 1965 bis 1985 als Zeit des kulturell-politischen Umbruchs von einer patriarchalisch-autoritären Gesellschaft zu einer permissiven Gesellschaft der Emanzipation, Selbstbestimmung und Ökologie. Der „Ölschock“ von 1973, die zunehmende Dominanz „postindustrieller“ Produktions- und Arbeitsverhältnisse und die neoliberale Wende inmitten der Krise des Sozialstaats am Ende des Jahrzehnts haben fundamentale Liberalisierungsprozesse wie die „sexuelle Revolution“, den Wandel der Geschlechterrollen und der familiären Beziehungsmuster zunächst nur wenig beeinflusst. Schon zeitgenössische Beschreibungen dieser soziokulturellen Veränderungen stellten allerdings eine enge Verbindung zwischen materiell-ökonomischen Veränderungen und kulturellem Mentalitätswandel her. Das galt insbesondere für den sozialwissenschaftlich festgestellten „Wertewandel“, der im Zusammenhang mit ähnlich zentralen Begriffen wie Individualisierung und Pluralisierung oder den breiten Debatten um einen Wandel in der Modernisierungsentwicklung hin zu einer „zweiten“, „reflexiven“ oder „Post-Moderne“ so etwas wie den empirisch belegbaren Kern der beschriebenen sozio-kulturellen Veränderungen bildete7 . Ausgehend von „harten“ demoskopischen Daten, bot er seit Mitte der 1970er Jahre eine einleuchtende und komplexitätsreduzierende Erklärung für in sich hochdifferenzierte Wandlungsprozesse an und wurde in weiten Teilen der Sozialwissenschaften wie der bundesdeutschen Öffentlichkeit schnell als unhinterfragbares Faktum akzeptiert. Der Grund für den Erfolg und die vordergründige Plausibilität dieses Theorems lag vor allem darin, dass die materiellen und die kulturellen Veränderungen im Konzept des Postmaterialismus kausal in Verbindung gesetzt wurden. Die Dynamik des soziokulturellen Wandels nach 1970 stammte dabei aus dem wirtschaftlichen Aufschwung des Nachkriegsbooms. Vereinfacht formuliert galt: Verbessert sich die soziökonomische Lage
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Eric Hobsbawm, Age of Extremes. The Short Twentieth Century, London 1994; Tony Judt, Postwar. A History of Europe since 1945, London 2005. Vgl. Andreas Rödder, Moderne – Postmoderne – Zweite Moderne. Zeithistorische Deutungskategorien für das späte 20. Jahrhundert, in: Thomas Raithel/Andreas Rödder/Andreas Wirsching (Hrsg.), Auf dem Weg in eine neue Moderne? Die Bundesrepublik Deutschland in den siebziger und achtziger Jahren, München 2009, S. 181–201.
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einer Gesellschaft, sind also die materiellen Bedürfnisse befriedigt, dann wenden sich mehr (und vor allem junge) Menschen dieser Gesellschaft postmateriellen Bedürfnissen zu. Die Ursache von Wertewandel war entsprechend ökonomischer Fortschritt oder wie es der amerikanische Politologe Ronald Inglehart, Bertolt Brecht zitierend, selbst erklärte: „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.“8 Vor allem Ingleharts Forschungen etablierten das Konzept einer Präferenzverschiebung von „materiellen“ hin zu „postmateriellen“ Werten. In seinem Standardwerk The Silent Revolution von 1977 hatte Inglehart basierend auf Umfragedaten ein Interpretament gefunden, das ein Jahrzehnt nach amerikanischer Bürgerrechtsbewegung und europäischer Studentenprotestbewegung die damit verbundenen tieferen ökonomischen und sozial-kulturellen Verschiebungen auf eine ebenso simple wie einleuchtende Formel bringen konnte9 . Die Materialismus-Postmaterialismus-These verließ schnell den engeren akademischen Rahmen und diente als wichtiges Element zeitgenössischer Deutungsansätze. In der Bundesrepublik wurden etwa zu Beginn der 1980er Jahre die neuen sozialen Bewegungen – vor allem die Umwelt-, Friedens- und Frauenbewegung – als die politischen und gesellschaftlichen Ausdrucksformen der „postmaterialistischen Revolution“ interpretiert10 . Zu diesem Zeitpunkt hatte der deutsche Soziologe Helmut Klages bereits versucht, den Befund des US-amerikanischen Politikwissenschaftlers Ronald Inglehart zu differenzieren. An Stelle eines linearen Wandlungsprozesses von traditionalen materiellen zu postmateriellen Wertvorstellungen sprach er von einer Verschiebung von „Pflicht- und Akzeptanzwerten“ zu „Selbstentfaltungswerten“11 . Andererseits grenzte Klages sich damit auch de8 9
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Ronald Inglehart, The Silent Revolution. Changing Values and Political Styles among Western Publics, Princeton 1977, S. 137. Ebd. Ansätze zur Wertewandeltheorie hatte Inglehart bereits 1971 publiziert. Vgl. Ronald Inglehart, Changing Value Priorities and European Integration, in: Journal of Common Market Studies 10 (1971/72), S. 1–36; ders., The Silent Revolution in Europe: Intergenerational Change in Post-Industrial Societies, in: The American Political Science Review 65 (1971), S. 991–1017. Vgl. dazu Bernhard Dietz, Zur Theorie des „Wertewandels“. Ein Schlüssel für sozialen und mentalen Wandel in der Geschichte?, in: Peter Dinzelbacher/ Friedrich Harrer (Hrsg.), Wandlungsprozesse der Mentalitätsgeschichte, Baden-Baden 2015, S. 25–47; Andreas Rödder, Vom Materialismus zum Postmaterialismus? Ronald Ingleharts Diagnosen des Wertewandels, ihre Grenzen und ihre Perspektiven, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 3 (2006), URL: http://www.zeithistorische-forschungen.de/3-2006/id%3D4658. So der Sozialwissenschaftler Manfred Küchler in einem Aufsatz über die bundesdeutsche Friedensbewegung für den „Spiegel“: Der Spiegel, 23.11.1981, S. 68. Ebenso: Ulrich Beck, Perspektiven einer kulturellen Evolution der Arbeit, in: Mitteilungen aus der Arbeitsmarktund Berufsforschung 17 (1984), S. 52–62, insbesondere S. 55. Helmut Klages, Traditionsbruch als Herausforderung. Perspektiven der Wertewandelsgesellschaft, Frankfurt a.M. 1993; ders., Wertorientierungen im Wandel. Rückblick, Gegenwartsanalyse, Prognosen, Frankfurt a.M. 1984.
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zidiert vom kulturpessimistischen Ansatz der Leiterin des Allensbacher Instituts für Demoskopie, Elisabeth Noelle-Neumann, ab, die in ihren Thesen vom „Werteverfall“ den Niedergang der bürgerlichen Wertvorstellungen beklagte12 . Die Beurteilung des „Wertewandels“ war in den 1980er Jahren umstritten, der Begriff selbst aber in aller Munde. Das sozialwissenschaftliche Konzept hatte die Fachliteratur schnell verlassen und wurde nicht zuletzt in der bundesrepublikanischen Wirtschafts- und Arbeitswelt weitgehend selbständig und ohne Rekurs auf seine sozialwissenschaftlichen „Entdecker“ diskutiert. So erklärte Alfred Herrhausen 1987 in einem Artikel für das Handelsblatt die Diskrepanz zwischen guter wirtschaftlicher Lage und „pessimistischen geistigen Gegenwartstendenzen“ folgendermaßen: „Mit der Differenzierung der Subsysteme unserer arbeitsteilig organisierten Gesellschaft entwickeln sich die Verhaltenserwartungen an die Menschen in diesen Subsystemen auseinander. Die Werte und Tätigkeitsnormen aus dem Bereich der Produktion z. B. geraten mehr und mehr in Gegensatz zu den Werten und Normen der Kultur-, der Konsum- und der Freizeitsphäre. Werden dort – oder wurden dort bisher – Disziplin, Organisation, Leistung, Solidarität und auch Verzicht verlangt, so überwiegen hier Expressivität, Spontanität, Bindungslosigkeit und Befriedigung. Was ich meine, wird gemeinhin unter dem Stichwort Wertewandel angesprochen.“13 Es ist nur schwer nachvollziehbar, wie genau Alfred Herrhausen oder die vielen anderen Politiker, Publizisten und Wirtschaftsführer, die in den 1980er Jahren vom „Wertewandel“ sprachen, wussten, wer Ronald Inglehart oder Helmut Klages waren. Höchst unwahrscheinlich ist jedoch, dass sie sich mit dem demoskopischen Material oder der Validität der Theoriebildung intensiv auseinandergesetzt haben. Der „Wertewandel“ war ein wissenschaftliches Theorem, das in den 1980er Jahren recht freihändig diskursiv eingesetzt werden konnte. Einzelne Umfragewerte ließen sich ebenso wie das zentrale Modell der kausalen Verbindung von ökonomischem Fortschritt und Wertewandel leicht in zahlreiche Kontexte übertragen, etwa um politische und ökonomische Strategien gezielt an die Erwartungen postmateriell geprägter Wähler, Konsumenten oder auch Mitarbeiter anzupassen. Spätestens in den 1990er Jahren hat diese unbekümmerte Übernahme von Daten und Interpretamenten der sozialwissenschaftlichen Wertewandelforschung auch auf die (deutsche) Geschichtswissenschaft zurückgewirkt. Bis in die jüngste Gegenwart zitieren zahlreiche Überblicksdarstellungen und Forschungen zur Sozialgeschichte der Bundesrepublik Umfragen der Wertewandelforschung, um mit wenigen empirischen Belegen die „stille Revolution“ der Werte in Deutungen 12
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Vgl. Elisabeth Noelle-Neumann, Werden wir alle Proletarier? Wertewandel in unserer Gesellschaft, Zürich 2 1979; dies./Renate Köcher, Die verletzte Nation. Über den Versuch der Deutschen, ihren Charakter zu ändern, Stuttgart 2 1988. Alfred Herrhausen, Die wirtschaftlichen und ein Teil der damit verbundenen geistigen Gegenwartstendenzen in der Bundesrepublik, in: Handelsblatt, 22.5.1987.
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des soziokulturellen Wandels in den 1970er und 1980er Jahren zu integrieren14 . Erst im Kontext der Strukturbruchdebatte der letzten Jahre wurde die unreflektierte und kritiklose Übernahme des Wertewandel-Narrativs aufgrund seiner vordergründigen Plausibilität und Griffigkeit in zeithistorischen Darstellungen breit kritisiert15 . Zeitgeschichte, so der Tenor der Kritik, darf sich nicht an sozialwissenschaftliche Konzepte binden, deren Validität und Kohärenz nicht gesichert sind. Auch aufgrund ihrer Zeitgebundenheit und Verstrickung in politische, soziale und wissenschaftliche Interessenzusammenhänge müssen insbesondere demoskopische Studien in erster Linie als Quellen verstanden werden und nicht als gesicherte Forschungsergebnisse, die von Historikern bedenkenlos übernommen werden können. Nimmt man diese Kritik ernst, bleiben vom umfassenden Erklärungsangebot der sozialwissenschaftlichen Werteforschung zunächst nur Bruchstücke. Zu fragen ist dabei nicht nur nach den methodischen Problemen von zeitgenössischen Frageapparaten und Erhebungsverfahren, die in der soziologischen Forschung selbst schon früh zu grundsätzlichen Überlegungen darüber führten, ob die gemessenen Wertveränderungen tatsächlich tiefgreifende Wertwandlungen erfassten oder nicht eher kurzfristige, im hohen Maße von (tages-)politischen Rahmenbedingungen abhängige Wertakzentuierungen16 . Darüber hinaus gilt 14
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Eckart Conze, Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis in die Gegenwart, München 2009, S. 554–560; Hans Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Band 5: Bundesrepublik und DDR, 1949–1990, München 2008, S. 291f.; Edgar Wolfrum, Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart 2006, S. 253–260; Manfred Görtemaker, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Von der Gründung bis zur Gegenwart, München 1999, S. 620f. Nur wenig differenzierter: Ulrich Herbert, Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, München 2014, S. 910f. Jenny Pleinen/Lutz Raphael, Zeithistoriker in den Archiven der Sozialwissenschaften. Erkenntnispotenziale und Relevanzgewinne für die Disziplin, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 62 (2014), S. 173–195; Benjamin Ziemann, Sozialgeschichte und Empirische Sozialforschung. Überlegungen zum Kontext und zum Ende einer Romanze, in: Pascal Maeder/Barbara Lüthi/Thomas Mergel (Hrsg.), Wozu noch Sozialgeschichte?, Göttingen 2012, S. 131–149; Bernhard Dietz/Christopher Neumaier, Vom Nutzen der Sozialwissenschaften für die Zeitgeschichte. Werte und Wertewandel als Gegenstand historischer Forschung, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 60 (2012), S. 293–304; Alexander Gallus, Über das Verhältnis von Geschichts- und Politikwissenschaft, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 62 (2012), S. 39–45; Rüdiger Graf/Kim Christian Priemel, Zeitgeschichte in der Welt der Sozialwissenschaften. Legitimität und Originalität einer Disziplin, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 59 (2011), S. 479–508. Helmut Thome, Wertewandel in Europa aus der Sicht der empirischen Sozialforschung, in: Hans Joas/Klaus Wiegandt (Hrsg.), Die kulturellen Werte Europas, Frankfurt a.M. ²2005, S. 386–443, bes. S. 429–438; ders., Wandel gesellschaftlicher Wertvorstellungen aus der Sicht der empirischen Sozialforschung, in: Bernhard Dietz/Christopher Neumaier/ Andreas Rödder (Hrsg.), Gab es den Wertewandel? Neue Forschungen zum gesellschaftlichkulturellen Wandel seit den 1960er Jahren, München 2014, S. 41–69.
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es, im Sinne einer Geschichte des Wissens und der Verwissenschaftlichung des Sozialen genau herauszuarbeiten, in welchen institutionellen, politischen und ökonomischen Kontexten demoskopische Werteforschung praktisch möglich und gesellschaftlich einflussreich werden konnte – angefangen von Finanzierungswegen über den Einfluss von Auftragsgebern bis hin zu Publikationsstrategien, mit denen neue „Werteexperten“ gesellschaftliche Bedeutung erlangten17 . Schließlich müssen Wertewandelprozesse praxeologisch nachgezeichnet werden: Jenseits eines theoretisch postulierten Nexus von ökonomischem Fortschritt und empirisch gemessenen Werthaltungen ist sehr viel genauer zu prüfen, wie Wertvorstellungen im Zusammenspiel von Diskursen, gesellschaftlichen Institutionen und sozialen Praktiken öffentlich kommuniziert, nachhaltig verankert und bis ins individuelle Verhalten einzelner Akteure nachvollziehbar verändert werden18 . Eine solche Forschungsstrategie hat tiefgreifende Implikationen für eine Zeitgeschichtsschreibung im Zeichen des „Strukturbruchparadigmas“. Zum einen löst sie sich deutlich von einem mehr oder weniger ausgesprochenen Primat der Ökonomie, wenn es darum geht, soziokulturelle Wandlungsprozesse nachzuzeichnen und nicht zuletzt die Rolle von gesellschaftlichen Diskursen und einzelnen Akteuren oder sozialen Gruppen zu bestimmen, die mit ihren konkreten Handlungen letztlich Veränderungen erzeugten. Zum anderen fragt sie jenseits des Erklärungsangebots der sozialwissenschaftlichen Forschung nach Kontinuitäten über vermeintliche Brüche hinweg oder diskutiert, inwiefern scheinbar revolutionäre Wandlungen in langfristige Veränderungsprozesse eingebettet sind, die sich nicht ohne weiteres mit einer einschneidenden Zäsur in den 1970er Jahren verbinden lassen. Beide Aspekte finden dabei ironischerweise Anschlusspunkte gerade bei jenen, die die Strukturbruchthese besonders prominent vertreten. Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael etwa betonen, dass der revolutionäre Wandel des Strukturbruchs mit langlebigen Kontinuitäten 17
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Grundsätzlich dazu Anja Kruke, Demoskopie in der Bundesrepublik Deutschland. Meinungsforschung Parteien und Medien; 1949 – 1990, Düsseldorf 2007. Speziell zur sozialwissenschaftlichen Wertewandelforschung von Inglehart, Klages und Noelle-Neumann: dies., Mit Umfragen zur europäischen Öffentlichkeit? Meinungsforschung, Parteien und Öffentlichkeit in Europa nach 1945, in: Jürgen Mittag (Hrsg.), Politische Parteien und europäische Integration. Entwicklung und Perspektiven transnationaler Parteienkooperation in Europa, Essen 2006, S. 331–357; dies., Aufmerksamkeit für Europa. Eurobarometer, empirische Sozialforschung und die europäische Kommission, 1958–1979, in: Comparativ 21 (2011), S. 62–80; Jörg Neuheiser, Vom bürgerlichen Arbeitsethos zum postmaterialistischen Arbeiten? Werteforschung, neue Arbeitssemantiken und betriebliche Praxis in den 1970er Jahren, in: Jörn Leonhard/Willibald Steinmetz (Hrsg.), Semantiken von Arbeit: Diachrone und vergleichende Perspektiven, Köln u. a. 2016 (=Industrielle Welt 91), S. 319–346. Vgl. dazu die theoretischen Überlegungen zum „Wertewandelsdreieck“ in: Dietz/Neumaier, Vom Nutzen der Sozialwissenschaften.
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und ausgesprochenen Momenten des Verharrens einhergeht. Das führt nicht nur in ihren Darstellungen dazu, dass der Strukturbruch bisweilen bis auf einzelne Schlüsseljahre, etwa 1973 oder 1979, datierbar erscheint, sich andererseits aber in nur ungenau abgrenzbare Umbruchphasen auflöst, in denen „revolutionärer“ Wandel sich über Jahrzehnte erstreckt19 . Im Kern ist das „Strukturbruchparadigma“ paradox formuliert: eine schleichende Revolution voller Kontinuität. Vor diesem Hintergrund zwingen gerade die vermeintlich eindeutigen Belege für einen revolutionären Wandel, die die zeitgenössische Werteforschung in den 1970er und 1980er Jahren vorgelegt hat, zu einer neuerlichen historischen Analyse der tatsächlich stattfindenden Wertewandelprozesse. Am Anfang der folgenden methodischen Überlegungen steht daher zunächst ein Unbehagen an den Paradoxien der Strukturbrucherzählung.
Werte als historische Kategorie: Wertewandel-Analyse erster und zweiter Ordnung in der Forschungspraxis Die Beiträge in diesem Band fragen nach Wertewandelprozessen im Bereich der Wirtschaft und der Arbeitswelt. Das hat naheliegende Gründe: Denn obwohl „der Wertewandel“ im Sinne seiner Entdecker einen umfassenden Wandel der Wertvorstellungen in nahezu allen Lebensbereichen beschreibt, stand die Frage nach Einstellungen zur Arbeit und dem vermeintlichen Verfall des (deutschen) bürgerlichen Arbeitsethos von Anfang an im Mittelpunkt aller Wertewandeldebatten in der Bundesrepublik. Gerade weil sich das Phänomen „Wertewandel“ nicht in demoskopischen Umfragen erschöpft, sondern vielgestaltige Diskurse und Praktiken auch jenseits soziologischer Texte umfasst, ist es wichtig, sowohl Momente von Wertverschiebungen in konkreten Handlungssituationen beispielsweise in Entscheidungsprozessen in Unternehmen oder in Konflikten über normative Leitbilder zu untersuchen, als auch die explizite Auseinandersetzung mit dem Wertewandelkonzept selbst in den Blick zu nehmen. Schon hier stellen sich zentrale Periodisierungsfragen: Während die Sozialwissenschaftler den „Wertewandelschub“ für die Zeit von 1965 bis 1975 diagnostiziert hatten, entfaltete die These ihre populäre Verbreitung zu Beginn der 1980er Jahre als eine aktuelle Gegenwartsdiagnose. Eine „stille Revolution“ war dies nicht mehr. Diskutiert wurde „Wertewandel“ in Zusammenhang mit grundsätzlichen Fragen nach dem Wesen 19
Doering-Manteuffel/Raphael, Nach dem Boom, bes. Einleitung zur zweiten Auflage. Vgl. auch Frank Bösch, Umbrüche in die Gegenwart. Globale Ereignisse und Krisenreaktionen um 1979, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, OnlineAusgabe, 9 (2012), URL: http://www.zeithistorische-forschungen.de/1-2012/id=4421, Druckausgabe: S. 8–32.
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der Arbeitsgesellschaft, Arbeitsmotivation, Freizeit, Frauenarbeit, Technologie und Technikfeindlichkeit. Der außerordentliche Erfolg des Wertewandelnarrativs in der deutschen Wirtschafts- und Arbeitswelt in den 1980er Jahren ist erklärungsbedürftig. Was ergibt sich daraus für die Zeit der „stillen Revolution“? Löst sich schon hier die Vorstellung eines klar greifbaren „Wertewandelschubs“ auf? Und lassen sich sozialkulturelle Veränderungen der späten 1960er und frühen 1970er im Jahr 2016 mit dem Begriff „Wertewandel“ analytisch hinreichend präzise beschreiben, wenn der Begriff doch weitestgehend einen politischkulturell umstrittenen Begriff der Selbstbeschreibung der 1980er Jahre darstellt? In den Debatten über die Möglichkeit einer zeitgeschichtlichen Wertewandelforschung spielt die Frage des Umgangs mit konkreten Ergebnissen der demoskopischen Werteforschung eine zentrale Rolle. Eine vorschnelle Erklärung sozialwissenschaftlicher Daten zur rein diskursiven Quelle erscheint uns allerdings ebenso problematisch wie die bisher vorherrschende unkritische Übernahme. Die in diesem Band vorgestellten Untersuchungen orientieren sich deshalb zunächst an Andreas Rödders Unterscheidung von historischer Wertewandel-Analyse als Beobachtung erster Ordnung und als Beobachtung zweiter Ordnung. Wertewandel-Analyse als Beobachtung zweiter Ordnung betrifft die sozialwissenschaftliche Forschung als Gegenstand. Sie thematisiert dabei Akteure und Auftraggeber, Interessen und kommunikative Verbreitung der sozialwissenschaftlichen Forschung und problematisiert ihre analytischen Kategorien. Der Konstruktionscharakter des Phänomens „Wertewandel“ wird historisiert. Die Beobachtung erster Ordnung hingegen erfasst die Gegenstände der sozialwissenschaftlichen Forschung, also die von den Zeitgenossen beobachteten soziokulturellen Veränderungen und normativen Auseinandersetzungen an sich20 . Im Zusammenhang dieses Bandes sind das vor allem normative Auseinandersetzungen um das autoritär Sagbare in der Wirtschaft und Arbeitswelt seit Ende der 1960er Jahre und die Wirksamkeit dieses Wandels in der sozialen Praxis. Für die historische Wertewandel-Analyse erster Ordnung bedeutet die Erkenntnis, dass der „Wertewandel“ ein kulturelles Konstrukt ist, also nicht, dass er dies ausschließlich ist, sondern sie hält theoretisch die Möglichkeit offen, dass das kulturelle Konstrukt „Wertewandel“ auch auf ein ihm zugrunde liegendes Phänomen verweisen kann. Die Ursache des „Wertewandels“ erschöpft sich nach dieser Lesart nicht notwendigerweise in der sozialwissenschaftlichen „Erfindung“ des Wertewandels. Oder wie es Jenny Pleinen und Lutz Raphael ausdrücken: „Zugespitzt ergibt sich also der Befund, dass zeitgenössische Auseinandersetzungen um ‚Werte‘ Zeithistorikern, die sich mit Einstellungen, Meinungen, Habitus oder Bedürfnissen beschäftigen, einen vielversprechenden
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Vgl. Andreas Rödder, Wertewandel in historischer Perspektive. Ein Forschungskonzept, in: Dietz/Neumaier/Rödder (Hrsg.), Gab es den Wertewandel, S. 17–39, hier S. 27f.
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Zugang zu schwer zu erfassenden Elementen sozialen Wandels ermöglichen.“21 Obwohl der „Wertewandel“ „zweifellos das Ergebnis sozialwissenschaftlichhistorisierender Selbstbeobachtung der zeitgenössischen Gesellschaften“ sei, betonen sie, dass die Zeitgeschichte den „Wertewandel“ nicht einfach „als eine Art wissensgenerierte Ideologie abtun“ kann22 . Die historische Wertewandel-Analyse als Beobachtung erster Ordnung unterscheidet sich grundsätzlich von der sozialwissenschaftlichen Wertewandelforschung. Ihre Methoden, Kausalitäten, Kategorien und Begriffe werden nicht übernommen. Stattdessen konfrontiert und überprüft sie umfragebasierte sozialwissenschaftliche Befunde mit anderen und neuen Quellen, sie nimmt eine diachrone Perspektive ein, sucht nach genuin historischen Erklärungen durch Kontextualisierung, Differenzierung und neue Periodisierungsvorschläge. Historische Wertewandel-Analyse als Beobachtung erster Ordnung ist Konfliktgeschichte, die Analyse von normativen Aushandlungsprozessen steht im Zentrum. Dabei muss sie eine grundsätzliche Offenheit für Ambivalenzen und Kontingenzen beibehalten23 . Diese Unterscheidung zwischen erster und zweiter Ordnung ist heuristisch wichtig und Bedingung der Möglichkeit eines sinnvollen historischen Zugriffs auf „Wertewandel“. Gleichzeitig zeigen die in diesem Band vorgestellten Beispiele aus der Forschungspraxis, dass eine Trennung der beiden Ebenen nicht immer durchzuhalten ist, denn zwischen ihnen gab es massive Interdependenzen und Rückwirkungen. Das gilt vor allem für die 1980er Jahre, denn hier war die Wertewandelforschung – indem sie an der kommunikativen Entwicklung und Popularisierung des Phänomens maßgeblich beteiligt war – selbst ein Akteur innerhalb der festgestellten Prozesse. Und noch wichtiger: Indem das sozialwissenschaftliche Theorem „Wertewandel“ diskursiv eingesetzt werden konnte und beispielsweise auch Eingang in personalpolitische Konzepte von Unternehmen fand, wirkte es selbst wieder normativ. Wertewandelforschung als Beobachtung zweiter Ordnung muss diese normativen Rückwirkungen berücksichtigen und problematisieren, inwiefern die kommunikative Verbreitung der sozialwissenschaftlichen Forschung die soziokulturellen Veränderungen selbst beeinflusste. Hierfür bedarf es einer wissensgeschichtlichen Sensibilisierung, die wissenschaftliche Paradigmen als zentrale Bestandteile normativ-politischer Weltanschauungen begreift. Gleichzeitig muss eine historische Wertewandel-Analyse auch kritische Mediengeschichte sein, die Medien als integralen Teil sozialer Wirklichkeiten begreift und nach der kommunikativen Verbreitung und wirklichkeitskonstituierenden Funktion von sozialwissenschaftlichen Konzepten fragt24 . 21 22 23 24
Pleinen/Raphael, Zeithistoriker in den Archiven der Sozialwissenschaften, S. 181. Ebd., S. 182. Vgl. Dietz, Zur Theorie des „Wertewandels“. Vgl. Frank Bösch/Anette Vorwinkel, Mediengeschichte, in: Frank Bösch/Jürgen Danyel (Hrsg.), Zeitgeschichte. Konzepte und Methoden, Göttingen 2012, S. 370–390.
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Bleibt die Frage, ob sich Werte generell als zeitgeschichtliche Kategorie verwenden lassen25 . Denn Werte bzw. das Reden über Werte oder gar das Beschwören von Werten gelten oft als kulturpessimistisch und grundsätzlich konservativ. Der Theologe Friedrich Wilhelm Graf betont etwa, dass die Einwanderung des Wertbegriffs in ethische Debatten und juristische Diskurse dazu gedient hat, die „freiheitsdienliche Unterscheidung von gesetzlich kodifizierten Rechtsnormen und moralischen Verbindlichkeiten zu unterlaufen.“ Der Wertbegriff trage schon immer die Unterscheidung von „wert“ und „unwert“ in sich und er wirke unweigerlich exkludierend. „Moralische Dissense sind in einer freiheitlichen Gesellschaft der Regelfall und legitim. Deshalb werden nur Minderheiten ausgegrenzt, wenn ‚Werte‘ der Mehrheit als die gemeinschaftlichen Überzeugungen aller gelten sollen.“26 Dem ist im Hinblick auf eine exkludierende Rhetorik von der „christlichen Wertegemeinschaft“ oder auch einer eher nebulösen „deutschen Leitkultur“ zuzustimmen. Werte-Rhetorik wird im politischen Diskus instrumentalisiert. Gerade diese Tatsache ist aber kein Argument gegen, sondern für eine historische Wertewandelforschung. Denn die Auseinandersetzungen über normative Ordnungen erlauben Aufschluss über sozial-kulturellen Wandel und den Wandel der politischen Kultur. Historische Wertewandelforschung kann so z. B. zeigen, welche Argumentationsmuster aktueller Wertedebatten neu sind und welche sich – beispielsweise als kulturpessimistische Topoi – über die Jahrzehnte wiederholen. Damit ist eine solche Forschung keineswegs selbst kulturpessimistisch oder konservativ, nur weil es ihr Gegenstand ist27 . Oder wie es Wolfgang Reinhard schon Anfang der 1980er Jahre formulierte: „Geschichtswissenschaft begründet also keine Werte, sondern untersucht sie, und zwar mehr oder weniger wertfrei wie die Entwicklung der Wolltuchproduktion oder die Schlacht bei Dachau.“28 Die in diesem Band versammelten Fallstudien fühlen sich dieser Haltung verpflichtet. Alle Autorinnen und Autoren haben sich darauf eingelassen, scheinbar stille Wertverschiebungen in Bereichen zu untersuchen, wo der Wandel von sozialen Praktiken und die Reaktion auf vermeintliche oder offensichtliche Strukturveränderungen in den sozialen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen mit expliziten Auseinandersetzungen um normative Ideale und Leitbilder einhergingen. Der Blick auf Werte und mit divergierenden Wertvorstellungen 25 26 27 28
Das bestreiten etwa Graf/Priemel, Zeitgeschichte in der Welt der Sozialwissenschaften, S. 486. Friedrich Wilhelm Graf, Töten im Namen Gottes, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 27.3.2016. Vgl. hierzu Rödder, Wertewandel in historischer Perspektive, insbesondere S. 29f. Wolfgang Reinhard, Wertprobleme in der Geschichtswissenschaft, in: Wertepluralismus und Wertewandel heute. Eine interdisziplinäre Veranstaltung zur 10-Jahres-Feier der Universität Augsburg, München 1982 (=Schriften der Philosophischen Fakultäten der Universität Augsburg 23), S. 231–244, hier S. 240.
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verbundene Wahrnehmungen und Konflikte erweist sich dabei durchgehend als anregend und produktiv, auch wenn die Ergebnisse der einzelnen Beiträge gerade mit Blick auf „den Wertewandel“ zum Teil weit voneinander abweichen. Während etwa Benjamin Möckel in seiner Darstellung der Berufsauffassung junger Entwicklungshelfer und der für sie typischen Enttäuschungserfahrungen durchaus Aspekte erkennt, die auf „den Wertewandel“ in seiner klassischen Beschreibung verweisen, kommt Brigitta Bernet mit Blick auf den Wandel von betrieblichen Organisationsvorstellungen in der Schweiz zum scharfen Urteil, dass mit der Vorstellung eines Wertewandels „im Kollektivsingular“ die eigentlich entscheidenden Differenzen und Widersprüchlichkeiten der zeitgenössischen Veränderungsprozesse verdeckt und verkannt werden. Ähnlich haben auch andere Beiträge des Bandes große Schwierigkeiten, die Ergebnisse der demoskopischen Werteumfragen mit ihren konkreten Beobachtungen in den verschiedenen Fällen zu synchronisieren. Markus Raaschs Blick auf die lange unangefochtene Wertegemeinschaft der „Bayer-Familie“ ist hier ein eindrückliches Beispiel für eine in sich stark differenzierte soziale Formation, die ungeachtet aller Liberalisierungs- und Emanzipationstendenzen über Jahrzehnte einem patriarchalisch-materiellen Wertekonsens verbunden blieb, bevor dieser – erst – in den 1990er Jahren allmählich erodierte. Umgekehrt zeigen Peter-Paul Bänzigers Beobachtungen zu höchst individuellen Wertkonflikten um die Bedeutung von Arbeit für eigene Lebensentwürfe, wie groß die inneren Widersprüchlichkeiten vermeintlich eindeutiger persönlicher Wertvorstellungen bereits lange vor „dem Wertewandel“ waren – und wie sehr diese Spannungen langfristigen Problemkonstellationen der „modernen Lebensweise“ im 20. Jahrhundert entsprachen, die sich mit dem Bild von Wertewandel und Strukturbruch in den frühen 1970er Jahren kaum vereinbaren lassen. Vielleicht nicht überraschend, ist „der Wertewandel“ mit geschichtswissenschaftlichen Methoden am ehesten dort greifbar, wo er als Konzept explizit verhandelt wurde. Das gilt etwa für den „reflexiven Wertewandel“ in Form einer diskursiven Verstärkung und Verankerung von Wertewandelprozessen, die Bernhard Dietz im zweiten Teil seines Beitrags anhand der Vermittlung des Wertewandelkonzepts innerhalb der Wirtschaft durch Wirtschaftspresse sowie Marketing- und Personalexperten in den 1980er Jahren beschreibt. Auch Maximilian Kutzners Beitrag über Wertedebatten in der bundesdeutschen Tagespresse und Carola Westermeiers Blick auf die Wahrnehmung des Konsumenten innerhalb der westdeutschen Werbeindustrie in den 1970er Jahren entdecken einschneidende Veränderungen zumindest auf der Ebene der Gesellschaftsbeschreibungen, noch bevor diese durch die Befunde der sozialwissenschaftlichen Forschung begrifflich klarer benennbar wurden und in Form des Befunds eines einheitlichen Wertewandels von Neuem Einfluss auf das Gesellschaftsverständnis von Journalisten und Werbefachleuten gewannen.
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Zugleich legen allerdings die Ergebnisse der Fallstudien von Jonathan Voges und Jörg Neuheiser nahe, dass semantisch vermeintlich eindeutige Wandlungen des Arbeitsbegriffs oder die im Vergleich zur Erwerbsarbeit deutlich wachsende Freizeit der Bundesbürger nicht notwendigerweise mit einem Bedeutungsverlust von klassischen Arbeitsidealen oder einer Absage an Arbeit als zentrales Moment der individuellen Sinnstiftung einhergehen müssen. Denkbar sind auch sektorale Verschiebungen, etwa wenn die von Voges beschriebene ungeheure Bedeutungszunahme des Heimwerkens und des Do it yourself-Ideals seit den 1950er Jahren mit der Klage über die zunehmende Unmöglichkeit des selbsterfüllenden Arbeitens im Beruf einherging; ironischerweise zeigte sich gerade die Freizeitgesellschaft der 1970er und 1980er Jahre von einem Arbeitsideal beseelt, das in sinnerfüllter Tätigkeit und selbständigem Fleiß den Weg zu (häuslichem) Glück und Zufriedenheit wies. Neuheisers Studie zum Alternativen Milieu wiederum plädiert dafür, gerade die im Namen einer „Negation der Arbeit“ angetretenen selbstverwalteten Projekte als Orte zu erkennen, an denen Leistungsbereitschaft, qualitativ hohe Ansprüche an das hergestellte Produkt (oder die angebotene Dienstleistung) und die Idee der beruflichen Qualifizierung zu zentralen Momenten der täglichen Arbeit und des täglichen Streitens im Kollektiv wurden. Ausgerechnet die vermeintlich „postmaterialistischsten“ Akteure der bundesdeutschen Gesellschaft erscheinen hier als Vertreter einer „stillen“ Wertkontinuität. Die Beiträge des Bandes liefern daher insgesamt keine ausgewogene und in sich (ab-)geschlossene neue Perspektive auf „den Wertewandel“ in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sie behandeln Kontroversen um normative Leitvorstellungen und Werthaltungen im Bereich der Arbeitswelt und Wirtschaft und sie sind in ihren Beurteilungen des beobachteten Wandels selber kontrovers. Das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass sich im Rahmen des Bandes nicht etwa eine geschlossene Forschergruppe eines großen Projekts „Historische Wertewandelforschung“ präsentiert, sondern eher eine heterogene Gruppe von jüngeren Wissenschaftlern, die ihre Forschungsfragen grundsätzlich aus sehr unterschiedlichen Forschungsdiskussionen ableiten und ihre empirischen Befunde nur schwer in die längst bereitstehenden großen Deutungsentwürfe für die Zeitgeschichte seit den 1970er Jahren einordnen können. Nicht zuletzt aufgrund der Heterogenität ihrer Ergebnisse bieten sie reichhaltiges Material für weiterführende Überlegungen zu komplexen Wertewandelprozessen, die zumindest nicht ohne weiteres in einer klar gerichteten Strukturbrucherzählung aufgehen.
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Arbeit, Leistung, Führung: Historische Wertewandelforschung im Kontext einer erneuerten Geschichte der Arbeit
Keiner der nachfolgenden Beiträge geht in seinen Untersuchungen von konkreten sozialwissenschaftlichen Daten oder einzelnen Umfrageergebnissen der demoskopischen Umfrageforschung aus. Unser Ziel ist es nicht, soziologische Studien der 1970er und 1980er aus der Perspektive einer anderen Disziplin schulmeisterlich zu „benoten“ oder gar mit genaueren quantifizierenden Messungen zu übertrumpfen. Längst nicht alle Autorinnen und Autoren des Bandes arbeiten in ihren sonstigen Forschungen mit Begriffen und Methoden der historischen Wertewandelforschung. Das einigende Band zwischen uns ist eher ein gemeinsames Interesse an einer erneuerten Geschichte der Arbeit, wie sie sich seit etwa zehn Jahren sowohl auf institutioneller Ebene als auch in zahlreichen neuen Forschungen widerspiegelt, die sich einerseits von einer älteren Tradition der stark klassenbezogenen Arbeiter- und Arbeiterbewegungsgeschichte unterscheidet und andererseits das laute Beschweigen von Phänomenen der Arbeit und der Ökonomie, das sich im Zuge der kulturwissenschaftlichen Wende innerhalb der Geschichtswissenschaft für ein Jahrzehnt ausgebreitet hatte, (endgültig) überwinden will29 . Auf die große öffentliche Resonanz, die einzelne besonders publikumswirksame Studien in den letzten Jahren gefunden haben, wurde eingangs bereits hingewiesen. Die Finanzkrise von 2007/2008 verstärkte hier Tendenzen, die die Neugier von Historikerinnen und Historikern schon etwas früher erneut auf das Feld der Arbeit gerichtet hatten. Wichtige Impulse ergaben sich etwa in Verbindung mit dem Trend zur Globalgeschichte, die mit ihrer Betonung von transnationalen Prozessen und komplexen Verwicklungs- und Beziehungsgeflechten zwischen weit entfernten Weltregionen auch die ökonomischen Hierarchien und die zum Teil weit von vermeintlich „westlich-normalen“ Arbeitsvorstellungen abweichenden Konzepte von Arbeit, Leistung und ökonomischem Erfolg in den Blick der historischen Forschung rückte30 . Darüber hinaus waren es nicht zuletzt einmal mehr Thesen und Gesellschaftsdiagnosen aus den Sozialwissenschaften, die etwa um die Jahrtausendwende neue Bewegung in die Geschichte der Arbeit brachten, indem sie mit der Entdeckung eines „neuen Geists des Kapitalismus“, der Beschreibung von neuen 29
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Vgl. hier und im Folgenden die neueren Forschungsübersichten von Kim Christian Priemel, Heaps of work. The ways of labour history, in: H-Soz-Kult, 23.01.2014, URL: http://www.hsozkult.de/literaturereview/id/forschungsberichte-1223 und Jörg Neuheiser, Arbeit zwischen Entgrenzung und Konsum. Die Geschichte der Arbeit im 20. Jahrhundert als Gegenstand aktueller zeithistorischer und sozialwissenschaftlicher Studien, in: Neue Politische Literatur 58 (2013), S. 421–448. Andreas Eckert, What is Global Labour History Good For?, in: Jürgen Kocka (Hrsg.), Work in a Modern Society. The German Historical Experience in Comparative Perspective, New York/Oxford ²2013, S. 163–189.
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Subjektivierungs- und Ausbeutungsmechanismen in postindustriellen Arbeitsund Wirtschaftsbeziehungen oder der genealogischen Erforschung der Entwicklung des „unternehmerischen Selbsts“ zum neuen Leitbild westlicher Gesellschaften Historiker zu eigenen Untersuchungen anregten31 . Der Wandel der Arbeitsgesellschaft im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts stellt inzwischen auch in geschichtswissenschaftlichen Studien einen Fluchtpunkt dar, der etwa zu neuen Perspektiven auf eine dezidiert diachron angelegte Geschichte des Kapitalismus32 oder zu grundlegenden Überlegungen dazu führen konnte, ob die seit dem 19. Jahrhundert stetige Bedeutungszunahme des Konsums den Faktor Arbeit nicht längst zu einer zweitrangigen Kategorie in den subjektiven Lebensentwürfen heute lebender Menschen gemacht habe33 . Mit Blick auf die kaum bezweifelbare erhebliche Ausweitung einer formal als „Freizeit“ definierten Alltagsphase jenseits der Erwerbsarbeit lässt sich solchen Interpretationen kaum widersprechen; dennoch ergeben sich bemerkenswerte Widersprüche zwischen Beschreibungen einer fortschreitenden „Ökonomisierung des Sozialen“ und eines zunehmenden Verschwimmens von Grenzen zwischen Privatleben und Erwerbstätigkeit auf der einen Seite und Vorstellungen einer wachsenden Unabhängigkeit individueller Selbstentwürfe von Arbeitsprozessen auf der anderen34 . Die Wahrnehmung dieser Diskrepanz hat in den letzten Jahren insbesondere zu einem großen Interesse am Wandel des Arbeitsbegriffs und des semantischen Umfelds von Arbeit gerade in den 1970er und 1980er Jahren geführt35 . Die explizite Thematisierung des Wertewandels in der Arbeitswelt ging hier mit dem Aufkommen neuer zentraler Gegenwartsbegriffe einher, die in der jüngeren Forschung mit der spannungsreichen Entwicklung von neuen post-industriellen betrieblichen Zeitregimen und tiefgreifenden strukturellen Wandlungsprozes31
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Luc Boltanski/Ève Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2006 (franz. 1999); Günter Voss/Hans-Jürgen Pongartz, Der Arbeitskraftunternehmer. Eine neue Grundform der Ware Arbeitskraft, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 50 (1998), S. 131–158; Ulrich Bröckling, Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt a.M. 2007. Jürgen Kocka, Geschichte des Kapitalismus, München 2014. Andreas Wirsching, Konsum statt Arbeit? Zum Wandel von Individualität in der modernen Massengesellschaft, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 57 (2009), S. 171–199; ders., From Work to Consumption. Transatlantic Visions of Individuality in Modern Mass Society, in: Contemporary European History 20 (2011), S. 1–26. Vgl. Neuheiser, Arbeit zwischen Entgrenzung und Konsum, bes. S. 427; daneben auch Peter-Paul Bänziger, Von der Arbeits- zur Konsumgesellschaft? Kritik eines Leitmotivs der deutschsprachigen Zeitgeschichtsschreibung, in: Zeithistorische Forschungen 12 (2015), S. 11–38, online verfügbar unter URL: http://www.zeithistorische-forschungen.de/1-2015/ id=5179. Vgl. Winfried Süß/Dietmar Süß, Zeitgeschichte der Arbeit. Beobachtungen und Perspektiven, in: Knut Andresen/Ursula Bitzegeio/Jürgen Mittag (Hrsg.), Nach dem Strukturbruch. Kontinuität und Wandel von Arbeitswelten, Bonn 2011, S. 345–365, bes. S. 351–355; Leonhard/Steinmetz (Hrsg.), Semantiken von Arbeit.
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sen in der Arbeitswelt verbunden wurden. Mit „Flexibilisierung“, „Projekt“ und „Standort“ lassen sich leicht Beispiele für solche semantischen Verschiebungen benennen, die in der Tat darauf verweisen, dass in den Jahrzehnten nach dem Boom heftige Konflikte um eine angemessene Deutung von „Arbeit“ auch auf dem Feld der Sprache tobten und verschiedenste Akteure intensiv um die diskursive Deutungshoheit rangen36 . Vor diesem Hintergrund kann es nicht überraschen, dass nahezu alle Beiträge in diesem Band auch semantischen Wandlungsprozessen nachgehen und nicht zuletzt nach sprachlichen Strategien der jeweils handelnden Akteure bzw. nach Wahrnehmungsverschiebungen fragen, die sich in veränderten Begrifflichkeiten widerspiegelten. Ob sich die begrifflichen Verschiebungen in der Zeit des „Wertewandelschubs“ und den Jahren danach letztlich tatsächlich zu einer „epistemischen Wendezeit“ im Sinne einer neuerlichen sprachgeschichtlichen Sattelzeit verdichteten37 , scheint aufgrund der Befunde der meisten Beiträge dieses Bandes allerdings wenig wahrscheinlich. Das lässt sich beispielhaft an der Thematisierung von „Leistung“ und „Führung“ verdeutlichen, die im Rahmen einer erneuerten Geschichte der Arbeit zu den Aspekten gehören, die stärker an klassischen wirtschaftsgeschichtlichen Fragestellungen orientiert und dabei eng mit dem Problem sich wandelnder Auffassungen von Unternehmertum in der Bundesrepublik verbunden sind. Seit langem diskutieren Historiker, wann nach 1945 und in welcher Form genau sich in Westdeutschland der Wandel vom stark autoritär-patriarchalischen „Herrim-Hause“- Unternehmer zum tendenziell sozialpartnerschaftlichen Manager (nach amerikanischem Vorbild?) vollzogen hat; entscheidende Veränderungen und Durchbrüche wurden jeweils in den 1950er, 1960er und 1970er Jahren verortet38 . Erst jüngst haben Forschungen von Ruth Rosenberger, Karsten Uhl 36
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Dietmar Süß, Stempeln, Stechen, Zeit erfassen. Überlegungen zu einer Ideen- und Sozialgeschichte der „Flexibilisierung“ 1970–1990, in: Archiv für Sozialgeschichte 52 (2012), S. 139–162; Ulrich Bröckling, Projektwelten. Anatomie einer Vergesellschaftungsform, in: Leviathan 33 (2005), S. 364–383; Wencke Meteling, Nationale Standortsemantiken seit den 1970er Jahren, in: Ariane Leendertz/Wencke Meteling (Hrsg.), Die neue Wirklichkeit. Semantische Neuvermessungen und Politik seit den 1970er Jahren, Frankfurt a.M. 2016, S. 207–242. Ariane Leendertz/Wencke Meteling, Bezeichnungsrevolutionen, Bedeutungsverschiebungen und Politik. Zur Einleitung, in: Leendertz/Meteling (Hrsg.), Die neue Wirklichkeit, S. 13–34, hier S. 13. Vgl. etwa Volker Berghahn, Unternehmer und Politik in der Bundesrepublik, Frankfurt a.M. 1985; Alexander von Plato, „Wirtschaftskapitäne“: Biographische Selbstkonstruktionen von Unternehmern der Nachkriegszeit, in: Axel Schildt/Arnold Sywottek (Hrsg.), Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn 1993, S. 377–391; Paul Erker/Toni Pierenkemper (Hrsg.), Deutsche Unternehmer zwischen Kriegswirtschaft und Wiederaufbau. Studien zur Erfahrungsbildung von IndustrieEliten, München 1999; Christian Kleinschmidt, Der produktive Blick. Wahrnehmung amerikanischer und japanischer Management- und Produktionsmethoden durch deutsche Unternehmer 1950–1985, Berlin 2002; Werner Bührer, „. . . insofern steckt in jedem
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und Sabine Donauer gezeigt, dass Fragen nach dem angemessenen Verhältnis von Unternehmern und Führungskräften zum Personal, der richtige Umgang mit „Autorität“ und „Führung“ sowie die wirtschaftlich effizienteste Form der Beteiligung von Arbeitern und Angestellten im Rahmen der betrieblichen Arbeitsorganisation spätestens seit den 1920er Jahren zu den Standardthemen von Betriebswissenschaftlern, Arbeitspsychologen und anderen Experten im weiten Feld der anwendungsorientierten Arbeitswissenschaften gehörten39 . Auch in ihren Darstellungen bleiben die 1970er Jahre ein Jahrzehnt beschleunigten Wandels; zugleich relativieren ihre betont langen Perspektiven jedoch den Eindruck eines unvermittelten Umschlags von 1970 und verdeutlichen, dass zwischen vermeintlich klar voneinander abgrenzbaren fordistischen Produktionsregimen und neuen post-fordistischen Führungs- und Organisationsidealen sehr viel ausgeprägtere Verbindungslinien bestehen als im Rahmen der Strukturbruchdebatte üblicherweise angenommen40 . Die Beiträge im vorliegenden Band, die wie Frederike Sattler am Beispiel des 1968 gegründeten „Universitätsseminars der Wirtschaft“ oder wie Bernhard Dietz in seiner Beschreibung einer Überwindung autoritärer Begründungszusammenhänge von Leistung durchaus eine deutliche Zäsur um 1970 herum erkennen, sind daher grundsätzlich in sehr viel länger dauernde Wandlungsprozesse einzuordnen. Entsprechend schlussfolgert auch Christian Marx, dessen Beitrag den oft erwähnten Generationsbruch in den Führungsetagen deutscher Großunternehmen um 1970 am Beispiel der westdeutschen Chemieindustrie untersucht, dass zum Beispiel in Bezug auf die Rückkopplung betrieblichen Unternehmerhandelns an gesellschaftliche Verantwortung jenseits des „Shareholder Values“ ungeachtet aller Debatten über grundlegende Wandlungen des Unternehmers bis in die 1990er Jahre eher die Kontinuitäten dominierten. Neue Begriffe und semantische Verschiebungen deuten hier zwar auf sozialen Wandel und spannungsreiche Konflikte hin, sollten aber nicht vorschnell als sprachliche Indikatoren eines revolutionären Umbruchs gedeutet werden, zumal etwa
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echten Unternehmer auch ein künstlerisches Element.“ Die Erneuerung des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) in den 1970er Jahren, in: Morten Reitmayer/Ruth Rosenberger (Hrsg.), Unternehmen am Ende des „goldenen Zeitalters“. Die 1970er Jahre in unternehmens- und wirtschaftshistorischer Perspektive, Essen 2008, S. 233–250. Ruth Rosenberger, Experten für Humankapital. Die Entdeckung des Personalmanagements in der Bundesrepublik Deutschland, München 2008; Karsten Uhl, Humane Rationalisierung? Die Raumordnung der Fabrik im fordistischen Jahrhundert, Bielefeld 2014; Sabine Donauer, Emotions at Work – Working on Emotions. The Production of Economic Selves in Twentieth-Century Germany, Diss. Freie Universität Berlin, Berlin 2013, online verfügbar unter URL: http://www.diss.fu-berlin.de/diss/receive/FUDISS_thesis_000000100445. Einen ganz fundamentalen Einschnitt zwischen fordistischen und postfordistischen Ordnungsvorstellungen zeichnet etwa Timo Luks, Der Betrieb als Ort der Moderne. Zur Geschichte von Industriearbeit, Ordnungsdenken und Social Engineering im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2010, nach.
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gerade Markus Raaschs Blick auf die Bayer-Familie verdeutlicht, wie lange es dauern konnte, bis die Praxis der Mitarbeiterführung auf Unternehmensebene von sprachlich schon sehr viel früher erkennbaren Liberalisierungsprozessen einschneidend verändert wurde. Ein ähnliches Argument lässt sich auch in Hinblick auf die Studien anführen, die in den letzten Jahren Fragen der Subjektivierung in der Arbeitswelt in Verbindung mit sich wandelnden Machtstrukturen auf betrieblicher Ebene untersucht haben. In Anlehnung an Michel Foucaults Begriff der „Gouvernementalität“ erweisen sich nicht zuletzt körpergeschichtliche Aspekte und Fragen nach der Entstehung moderner Selbstverhältnisse als ausgesprochen produktiv. Insbesondere konnte überzeugend nachgezeichnet werden, wie langfristig beobachtbare Prozesse der Humanisierung der Arbeitswelt sich nicht ohne weiteres in begrüßenswerten Erleichterungen des Arbeitsprozesses erschöpfen, sondern mit neuen Disziplinartechniken einhergehen können, die Beschäftigte unter erheblichen (Selbst-)Ausbeutungs- und Optimierungsdruck setzen und damit vordergründige Liberalisierungstendenzen unterlaufen oder gar in ihr Gegenteil verkehren41 . Gerade in der Verbindung von genealogischer Diskursanalyse und praxeologischen Ansätzen gewinnt eine „Zeitgeschichte des Selbst“ auch mit Blick auf ökonomische Hierarchieverhältnisse einen Zugriff auf den Faktor „Macht“42 , der sich überzeugend von älteren gewerkschaftsgeschichtlichen oder wirtschaftshistorischen Beiträgen zur Frage der industriellen Beziehungen abhebt, und Machtfragen nicht auf häufig vordergründige Auseinandersetzungen zwischen Arbeitgebern, Arbeitnehmern und ihren kollektiven Vertretungsorganen reduziert. Zugleich neigen viele Beiträge zum Wandel der Selbstverhältnisse und der Subjektivierungspraktiken seit 1968 jedoch dazu, zeitgenössischen Wandelsund Revolutionswahrnehmungen eher zu stark zu folgen, insbesondere dann, wenn sie diskursiven Wandel im Sinne eines Weberschen Idealtyps zuspitzen und zu neuen Großerzählungen der Therapeutisierung, Politisierung und Emotionalisierung verdichten. Demgegenüber ist der Ansatz der historischen Wertewandelforschung mit seiner starken Betonung der Notwendigkeit einer Wertewandelanalyse zweiter Ordnung bescheidener und vorsichtiger, bisweilen vielleicht sogar im positiven Sinne ernüchternd. So versucht etwa der Beitrag zum Alternativen Milieu in diesem Band, eben die soziale Praxis innerhalb der alternativen Selbstverwaltungsprojekte den sehr weitreichenden Schlussfolgerun41
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Vgl. die Beiträge in Lars Bluma/Karsten Uhl (Hrsg.), Kontrollierte Arbeit – disziplinierte Körper? Zur Sozial- und Kulturgeschichte der Industriearbeit im 19. und 20. Jahrhundert, Bielefeld 2012; daneben Peter-Paul Bänziger, Fordistische Körper in der Geschichte des 20. Jahrhunderts – eine Skizze, in: Body Politics 1 (2013), S. 11–40. Vgl. Pascal Eitler/Jens Elberfeld, Von der Gesellschaftsgeschichte zur Zeitgeschichte des Selbst – und zurück, in: dies. (Hrsg.), Zeitgeschichte des Selbst. Therapeutisierung – Politisierung – Emotionalisierung, Bielefeld 2015, S. 7–30.
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gen über ihre Rolle bei der Entwicklung des Leitbilds vom „unternehmerischen Selbst“ entgegenzustellen, die sich aus einer rein diskursiven Analyse entlang einer Perspektive ergibt, welche gezielt nach der Ökonomisierung der Gegenwart seit den 1970er Jahren fragt. Insgesamt zeigen alle Beiträge in diesem Band, dass Wertewandelprozesse und die Frage nach dem „Wertewandelschub“ zentral sind, wenn es darum geht, den sozialen Wandel in Wirtschaft und Arbeitswelt in den Jahren nach dem Boom zu betrachten. Der Ansatz der historischen Wertewandelforschung erhöht dabei ganz selbstverständlich die Vorsicht gegenüber zeitgenössischen Beschreibungen von „revolutionärem Wandel“, ohne dass die Möglichkeit eines beschleunigten sozialen Wandels per se ausgeschlossen wird. Gegenüber einer sozialwissenschaftlichen Werteforschung, die historische Wertewandelprozesse schon aufgrund ihrer demoskopischen Methoden erst mit dem Beginn der Meinungsforschung (und damit in Westdeutschland letztlich erst seit etwa 1945) beobachten und untersuchen kann, neigt dieser Ansatz dazu, längere Perspektiven und komplexere Wandlungsprozesse anzunehmen, als es die These von der „stillen Revolution“ und viele andere Beschreibungen eines ebenso plötzlichen und dramatischen Einschnitts um 1970 nahelegen. Die Studien dieses Bandes stehen hier in enger Verbindung zu anderen Forschungen, die in den letzten Jahren scheinbar unbestreitbare Brüche wie den Übergang von industriellen zu post-industriellen Produktionsformen oder das vielbesungene Ende des Fordismus relativiert und in Frage gestellt haben43 . So lässt sich zumindest fragen, ob in Bezug auf Arbeitsethos und Leistungsverständnis die „Vorgeschichte der Gegenwart“ nicht stärker mit den Brüchen in der Konzeptionalisierung von Arbeit einhergeht, die die Moderne seit den 1890er Jahren geprägt haben44 . Ähnlich kann gefragt werden, ob „der Wertewandel“ in den 1970er Jahren zumindest mit Blick auf die Arbeitswelt nicht wesentlich 43
44
Vgl. Adelheid von Saldern/Rüdiger Hachtmann, Das fordistische Jahrhundert. Eine Einleitung, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 6 (2009), URL: http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Editorial-2-2009; dies., „Gesellschaft am Fließband“. Fordistische Produktion und Herrschaftspraxis in Deutschland, in: ebd., URL: http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-HachtmannSaldern-2-2009; Rüdiger Hachtmann, Fordismus, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 27.10.2011, S. 1–18, URL: http://docupedia.de/zg/Fordismus?oldid=84605; Werner Plumpe/Andre Steiner, Der Mythos von der postindustriellen Welt, in: dies. (Hrsg.), Der Mythos von der postindustriellen Welt. Wirtschaftlicher Strukturwandel in Deutschland 1960 – 1990, Göttingen 2016, S. 7–14. Vgl. Sebastian Conrad/Elisio Macamo/Bénédicte Zimmermann, Die Kodifizierung der Arbeit: Individuum, Gesellschaft, Nation, in: Jürgen Kocka/Claus Offe (Hrsg.), Geschichte und Zukunft der Arbeit, Frankfurt a.M. 2000, S. 449–475; Nina Verheyen, Bürgerliches Leistungsethos? Geschichtswissenschaftliche Korrekturen einer irreführenden Formel, in: Denis Hänzi (Hrsg.), Erfolg. Konstellationen und Paradoxien einer gesellschaftlichen Leitorientierung, Baden-Baden 2014, S. 45–61.
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weniger prägend war, als er in anderen Bereichen wie etwa der Sexualität und dem Familienleben erscheint. Eine abschließende Beantwortung dieser Fragen liegt jenseits des Anspruchs dieses Sammelbands. Seine Studien verstehen sich als Probebohrungen in die Wertewandelprozesse in der Wirtschafts- und Arbeitswelt der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und zeigen das Potential einer historischen Wertewandelforschung für eine erneuerte Geschichte der Arbeit im 20. Jahrhundert auf.
Diesseits und jenseits der Sozialwissenschaften: Zum Aufbau des Bandes Der vorliegende Band geht zurück auf eine Tagung, die im März 2015 in der Mainzer Zitadelle stattgefunden hat. Das erste Ziel der Tagung war eine Historisierung der sozialwissenschaftlichen Wertewandelforschung. Es ist in dieser Einleitung deutlich geworden, dass aus unserer Sicht das Verhältnis der Zeitgeschichte zu den Sozialwissenschaften keineswegs spannungslos ist. Der Ansatz der historischen Wertewandelforschung hat seinen entscheidenden Impuls aus einer theoretischen, methodischen und inhaltlichen Kritik an sozialwissenschaftlicher Forschung erfahren. Gleichzeitig will historische Wertewandelforschung mehr sein als kontextualisierende Wissenschaftsgeschichte und plädiert für einen produktiven, kritisch-kollegialen Umgang mit den Nachbardisziplinen. Diese Haltung war einer der Auslöser für eine letztlich sehr gewinnbringende Debatte zur Zeitgeschichte in der „Welt der Sozialwissenschaften“. Auch wenn nicht alle Differenzen zum richtigen zeithistorischen Umgang mit sozialwissenschaftlichen Ergebnissen behoben sind, haben sich die Wogen etwas geglättet und es zeichnet sich ab, dass ein Ansatz, der diesseits und jenseits der Sozialwissenschaften operiert – also die Möglichkeit einer historischen Erforschung der sozialwissenschaftlich beschriebenen Phänomene offen hält, aber mit Quellenkritik, Dekonstruktion und Historisierung sozialwissenschaftlicher Selbstbeschreibungen verbindet – auf größere Akzeptanz stößt45 . In diesem Sinne versteht sich der vorliegende Band als Beitrag zu einer Geschichte normativer Konzepte in der Wirtschafts- und Arbeitswelt auch in der Hoffnung, dass die damit einhergegangenen theoretisch-methodischen Sensibilisierungen für vergleichbare historische Herausforderungen in den Nachbarwissenschaften gewinnbringend sein können. 45
Vgl. hierzu den Tagungsbericht von David Kuchenbuch, Entgrenzung, Pluralisierung und Identitätsbestimmung. Herausforderungen der Zeitgeschichte in der Welt der Sozialwissenschaften, 25.02.2016 – 27.02.2016, Potsdam, in: H-Soz-Kult, 10.05.2016, URL: http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-6512.
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Das zweite Ziel der Tagung bestand in empirischen Antworten auf die Frage nach Idealen und Leitbildern in der Wirtschafts- und Arbeitswelt. Was bedeuten „Arbeit“, „Leistung“ und „Führung“ zwanzig, dreißig und vierzig Jahre nach Ende des Nationalsozialismus und Gründung der Bundesrepublik und welche Rolle spielt dabei der „Wertewandelschub“ der späten 1960er und frühen 1970er Jahre? Welche normativen Konzepte liegen der Wirtschafts- und Arbeitswelt zugrunde, woher kommen sie und wie verändern sie sich? Welche Konflikte um die Benennung und Auslegung der normativen Ordnungen gab es? Konkret gefragt: Wie haben sich vor dem Hintergrund gesellschaftlichen und ökonomischen Wandels Arbeitsethos, Leistungsvorstellungen und Führungskonzepte verändert? Zur Beantwortung dieser Fragen ist der vorliegende Band bewusst nicht chronologisch, sondern thematisch aufgebaut. Er gliedert sich in vier Teile. Im ersten Teil „Personallehre und Arbeitsethos“ geht es direkt um die Frage nach dem Wandel von Arbeitsethiken im Zusammenhang mit Konsum und Freizeit in einer diachronen Perspektive. Im zweiten Teil „Unternehmen und Unternehmer“ werden das Feld der Betriebe und Unternehmen und die Perspektive der dort handelnden Akteure (Arbeitnehmer, Unternehmer und Führungskräfte), aber auch die Frage der Führungskräfteausbildung untersucht. Im dritten Teil „Medien und Neue Leitbilder des Kapitalismus“ wird nach der kommunikativen Verbreitung und wirklichkeitskonstituierenden Funktion von sozialwissenschaftlichen Konzepten in den Medien gefragt als auch die öffentlichen Verhandlungen von Wertverschiebungen thematisiert. Im vierten und letzten Teil „Alternative Ökonomie und Migration“ steht zum einen die soziale Praxis alternativen Wirtschaftens im Vordergrund, andererseits geht es um Brechungen der nationalen Entwicklungen und Traditionen durch verschobene Wahrnehmungen. Diese Beiträge öffnen sich transnational, indem sie die Rückwirkungen von Auslandserfahrungen diskutieren (Möckel) oder über einen Perspektivwechsel, der Gastarbeiter in den Fokus rückt, Aussagen über Arbeitswerte der Mehrheitsgesellschaft versuchen (Seng). Abgesehen von der Analyse eines Parallelbeispiels (Bernet) liegt der Fokus des Bandes ansonsten auf der Bundesrepublik. Allen hier genannten Beitragenden gilt unser herzlicher Dank für ihr Engagement und ihre Mitwirkung an dieser Publikation. Für die finanzielle Unterstützung sowohl der Tagung im März 2015 in Mainz als auch für diesen Band danken wir der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Darüber hinaus möchten wir Frau Kim Krämer und Frau Ronja Kieffer für ihre redaktionelle Unterstützung danken, die mit viel Akribie und großer Geduld dabei geholfen haben, dass aus den Manuskripten ein Buch geworden ist.
1. Personallehre und Arbeitsethos
Brigitta Bernet
Vom „Berufsautomaten“ zum „flexiblen Mitarbeiter“. Die Krise der Organisation und der Umbau der Personallehren um 1970 Mit ihrem Buch „The Peter Principle. Why Things always go wrong“ legten der Psychologe Laurence J. Peter und der Journalist Raymond Hull 1969 einen Bestseller der populärwissenschaftlichen Managementliteratur vor. 1970 erschien das Buch unter dem Titel „Das Peter-Prinzip oder die Hierarchie der Unfähigen“ in deutscher Sprache. Die Diagnose war so einfach wie überzeugend: Die unpersönliche und hierarchische Struktur der modernen Arbeitswelt führe dazu, dass die Angestellten automatisch so weit aufstiegen, bis sie absolut nicht mehr in der Lage seien, die ihnen übertragenen Aufgaben zu erfüllen. Einmal auf dieser Stufe der maximalen Unfähigkeit – dem „level of incompetence“ – angelangt, verblieben sie dort bis zur Pensionierung. Folgt man Peter und Hull, so bestand das Kernprinzip moderner Organisationen in einem blinden Automatismus, der nicht Kompetenz belohnte, sondern mechanischen Gehorsam und Verständnislosigkeit auszeichnete. Wer selber dachte, schied aus, erfolgreich waren nur „Berufsautomaten“. Die unternehmerische Verlustrechnung, die hieraus resultierte, war nach Peter und Hull nur das eine. Die andere Seite des Problems traf das Individuum. Zur Unfähigkeit befördert, dabei aber nicht in der Lage, die strukturellen Gründe seiner Situation zu erkennen, produziere es Verhaltensauffälligkeiten und psychische Störungen1 . In das gleiche Horn blies der amerikanische Ex-Manager Robert Townsend. Sein Buch „Up the Organization! How to Stop the Corporation from Stifling People and Strangling Profits“ von 1970 rechnete mit allem ab, was sich in der Nachkriegszeit an Grundsätzen der erfolgreichen Unternehmensführung etabliert hatte. Dazu gehörten die Führungsansätze der Harvard Business School, das Stab-Linien-System ebenso wie Planungsabteilungen, feste Lohnordnungen oder Aufsichtsräte. Überall erkannte Townsend Kennzeichen des bürokratisch-hierarchischen Organisationstypus, den er darum kritisierte, weil er die Menschen voneinander entfremde, Eigeninitiative bestrafe und „schöpferische Arbeit“ im Keim ersticke. Das Pamphlet endete mit einem Plädoyer für eine Flexibilisierung des Unternehmens und für eine Personalpolitik, die sich an den menschlichen Bedürfnissen nach Selbstentfaltung, Sinn und Aufstieg orientierte2 . 1 2
Lawrence Peter/Raymond Hull, Das Peter Prinzip. Die Hierarchie der Unfähigen, Reinbek 1970. Robert Townsend, Hoch lebe die Organisation, München 1970, S. 174 und S. 416f.
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Wie der folgende Beitrag am Beispiel der Schweiz darlegt, setzte um 1970 tatsächlich ein Umbau der unternehmerischen Personallehren ein. Die Hinwendung zur Motivation, Persönlichkeit und Autonomie der Angestellten, die sich in der Konjunktur „partizipativer“ Führungsmethoden oder Maßnahmen zur Humanisierung der Arbeit niederschlug, wird – ebenso wie die Organisationskritik selbst – in der Fachgeschichte der Personalarbeit gemeinhin mit dem Kollektivsingular des „Wertewandels“ erklärt: In der Zeit um 1968 habe gesamtgesellschaftlich eine „Werteverschiebung in Form einer zunehmenden Bedeutung von Individualisierung und Selbstentfaltung“ stattgefunden, auf die auch die Personalarbeit habe reagieren müssen3 . Ausgehend von der Beobachtung, dass der Wertewandel als Deutungskonzept in der Schweiz vor 1975 kaum je anzutreffen ist (danach aber sehr wohl und insbesondere mit Blick auf die Arbeitswelt in Anschlag gebracht wurde), betont der folgende Beitrag demgegenüber die Uneinheitlichkeit der Phänomene, die hier einem fundamentalen Wertewandel zugerechnet werden. Er befasst sich mit der Neufundierung der unternehmerischen Personallehren in einer Anthropologie, für die „postmaterielle Werte“ wie Handlungsautonomie und Selbstentfaltung zentral waren. An diesem Beispiel beleuchtet er die heterogenen und zuweilen auch widersprüchlichen Entwicklungen, die in der Zeitdiagnose des Wertewandels nachträglich vereinheitlicht wurden. In einem ersten Schritt nehme ich die Organisationskritik um 1970, das ihr zugrunde liegende Menschenbild und die darauf aufbauenden personalpolitischen Praktiken in den Blick. Dann blende ich auf das „organisierte Unternehmen“ der Nachkriegszeit und zeige, welches Verständnis von unternehmerischer Produktivität um 1970 brüchig wurde. Am Fallbeispiel der Schweiz gehe ich drittens auf die Funktions- und Legitimitätskrise des Unternehmens ein. Schließlich zeige ich am Beispiel der Mitbestimmungsforderung exemplarisch, wie psychologische Experten in der aufgebrochenen Krisen- und Konfliktlage daran mitwirkten, die Wogen zu glätten, indem sie die „wahren Bedürfnisse“ der Beschäftigten bestimmten und zugleich Wege aufzeigten, wie diese im Unternehmen produktiv zu befriedigen seien. Grundsätzlich geht es mir darum, den Umbau der unternehmerischen Personalwertlehre um 1970 im breiten sozial- und kulturgeschichtlichen Kontext der Zeit zu verorten. Am Beispiel dieses Umbaus leistet der Aufsatz zugleich einen Beitrag zur Frage, wie sich der von Luc Boltanski und Eve Chiapello herausgestellte Prozess des Umschlagens einer gegenkulturellen Kritik am kapitalistischen Unternehmen zu einer Ressource desselben in einem historischen Setting außerhalb Frankreichs vollzog4 .
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Walter A. Oechsler, Personal und Arbeit. Grundlagen des Human Resource Management und der Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Beziehungen, München 9 2011, S. 105f. Luc Boltanski/Eve Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2002.
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Organisationskritik und neues Menschenbild Das „Peter-Prinzip“ und „Up the Organization“ gehören zum Genre der populären Management-Aphoristik, die um 1970 eine Hochblüte erlebte. Folgt man dem amerikanischen Autor David Jenkins, einem genauen Beobachter der damaligen Entwicklungen in Europa und den USA, brachten solche Bücher eine um sich greifende Enttäuschung darüber zum Ausdruck, „dass die Rechnung der industriellen Revolution letzten Endes nicht aufging.“5 Ihr Erfolg gründete auf einem wachsenden Unbehagen an den entmündigenden und entfremdenden Tendenzen der „industriellen Massenkultur“. Angesichts der immer größer und anonymer werdenden Organisationen und mit Blick auf die sozialen Kosten des Wachstumsprozesses wurden Zweifel an der Integrationsfähigkeit des kapitalistischen Systems laut. Eine allgemeine Orientierungskrise griff um sich, die sich auch in der Schweiz einen Weg in die Populärkultur bahnte. Hatte das „HazyOsterwald-Sextett“ mit dem „Konjunktur Cha Cha Cha“ von 1960 hier etwa noch den Soundtrack zur Hochkonjunktur geliefert, so orchestrierte es sechs Jahre später mit „Der Fahrstuhl nach oben ist besetzt“ die Krise der sozialen Aufwärtsmobilität. Solche Kommentare reihten sich ein in die liberale Bürokratie- und Technokratiekritik der 1960er Jahre. In der Schweiz erschienen sie als Symptome des „helvetischen Malaise“, das der freisinnige Staatsrechtler Max Imboden dem Land 1964 diagnostiziert hatte. Mit Blick auf die wachsende Abschottung der Wirtschaft, die fehlende Reformbereitschaft, die sinkende Wahl- und Stimmbeteiligung und die Dominanz der Verwaltung über Regierung und Parlament kam er zum Schluss: „Wir haben keine institutionellen Verantwortlichkeiten mehr. Der Apparat ist zur beherrschenden Kraft geworden.“6 Auf den Schallplattenspielern und in den Bücherwänden der Mittelschicht häuften sich um 1970 ironischbittere Kommentare zu den Integrationsversprechungen eines institutionellen Arrangements, das den ökonomischen Erfolg der Eliten an den Aufstieg der Angestellten und die politische Partizipation der Arbeiterschaft koppelte. Sie bezeugten eine Funktions- und Legitimationskrise des Nachkriegssystems, die – in anderer Tonart – auch von der Arbeiter- und Studentenbewegung formuliert wurde. Ein gemeinsamer Bezugspunkt war die Kritik der hierarchisch-bürokratischen „Organisation“ als eines der „Natur des Menschen“ gänzlich unangepassten Zustands, der schöpferische Arbeit, unternehmerische Initiative und politische Selbstbestimmung im Keim erstickte. Der Gedanke, dass es zwischen Person und Organisation zu Anomalien oder Spannungen kommen kann, war Ende der sechziger Jahre nicht neu. Für den 5 6
David Jenkins, Job Power. Demokratie im Betrieb, Hamburg 1975, S. 20. Max Imboden, Das helvetische Malaise (1964), in: Georg Kreis (Hrsg.), Das „Helvetische Malais“: Max Imbodens historischer Zuruf und seine überzeitliche Bedeutung, Zürich 2011, S. 19 (Tagebucheintrag von 1965) und S. 105.
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Bereich der Arbeitswelt wurde er damals jedoch wiederbelebt und im Epistem der humanistischen Psychologie neu ausbuchstabiert. Bezüge wurden vor allem zu amerikanischen Autoren wie Abraham Maslow, Douglas McGregor und Frederick Herzberg hergestellt. Sie alle gingen von einem Menschenbild aus, das den Drang nach Selbstverwirklichung und personalem Wachstum ins Zentrum stellte. Nicht statische Eigenschaften, sondern Entwicklungsprozesse, die den Menschen von Passivität zu Aktivität, von Abhängigkeit zu Unabhängigkeit, von vordergründigen Belohnungsinteressen zu den tieferen Interessen an der Arbeit selbst drängten, erfuhren darin eine größere Berücksichtigung. Ihre zentrale These bestand darin, dass die Prinzipien der formalen Organisation dem menschlichen Wachstumsprozess im Wege ständen und dass der daraus resultierende Konflikt zwischen Individuum und Organisation als zentrale Ursache von Ressourcenverschwendung und Persönlichkeitsstörungen anzusehen sei7 . In seiner „Hierarchy of Needs“ hatte Maslow die menschlichen Bedürfnisse in einer Pyramide angeordnet, deren Fundament die körperlichen Grundbedürfnisse bildeten. An der Spitze der Pyramide stand als höchstes Bedürfnis jenes nach Selbstentfaltung, Autonomie und Individualität. Wie Maslow betonte, wurden die höheren Bedürfnisse innerhalb der Hierarchie dann verhaltenswirksam, wenn die darunterliegenden Bedürfnisse angemessen befriedigt waren8 . Douglas McGregor übertrug dieses Modell auf die Arbeitswelt und machte es zum Ansatzpunkt einer umfassenden Kritik der statischen Betrachtungsweise von Organisationen und der ihnen zugrunde liegenden Anthropologie. Anhand von praktischen Beispielen illustrierte er, dass eine Mobilisierung von Leistungsreserven möglich war, wenn man sich an der „Theory Y“ orientiere. Traditionell gehe das Management von der „Theorie X“ aus, die im Menschen ein egoistisches, passives, unverantwortliches Wesen sehe, das sich gegen Veränderungen sträube und nur durch Zuckerbrot und Peitsche zur Arbeit motiviert werden könne. Diesen Annahmen stellte er die „Theorie Y“ gegenüber. Demnach besaß der Mensch ein elementares Tätigkeitsbedürfnis. Um seine Potentiale effektiver nutzen zu können, hielt McGregor eine Führung für notwendig, die eine Befriedigung der Bedürfnisse nach Selbstverwirklichung in der Arbeit in Aussicht stellte9 . Weitere Konkretisierungen für die Praxis erfuhren die Motivationstheorien durch Frederick Herzberg. In seiner „2-Faktoren-Theorie“ unterschied er zwischen „Hygienefaktoren“, die sich auf den Kontext der Arbeit bezogen (wie Lohn oder Arbeitsplatzsicherheit), und eigentlichen „Motivationsfaktoren“, die den Arbeits7
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Für einen Überblick: Klaus Türk (Hrsg.), Hauptwerke der Organisationstheorie, Wiesbaden 2000, hier S. 19 sowie Sabine Donauer, Job Satisfaction statt Arbeitszufriedenheit. Gefühlswissen im arbeitswissenschaftlichen Diskurs der siebziger Jahre, in: Pascal Eitler/Jens Elberfeld (Hrsg.), Zeitgeschichte des Selbst. Therapeutisierung, Politisierung, Emotionalisierung, Bielefeld 2015, S. 343–372. Abraham H. Maslow, Motivation and Personality, New York 1954. Douglas McGregor, The Human Side of Enterprise, New York 1960.
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inhalt (wie Leistung und Erfolg) betrafen. Mit „Job Rotation“, „Job Enlargement“ und „Job Enrichment“ schlug Herzberg kostengünstige und leicht in die Praxis übersetzbare Arbeitsmodelle vor, die auf eine Förderung der Arbeitsmotivation zielten10 . Neue Vorstellungen von effizientem Management verkörperte zur gleichen Zeit auch das „Management by Objectives“ – die Führung entlang von Zielvorgaben statt über fixe Autoritätsordnungen. Die Konzepte skizzierten Lösungen für die im Unternehmen aufgetauchten „Führungsprobleme“ und zeigten Wege auf, um Arbeiter und Angestellte effektiver in die sich wandelnden Produktionslandschaften „einzupassen“. Oder anders gesagt: um ihnen Anreize zu bieten, sich selbst in den Arbeitsprozess einzubringen und ihre Bedürfnisse nach Anerkennung und Selbsterfüllung im Rahmen des Betriebs – und nicht außerhalb desselben – zu befriedigen. Im Gefolge der Rezession von 1966/67 stieg auch in der Schweiz das Interesse an Managementansätzen aus den wettbewerbsfähigeren USA. Anfang der 1970er Jahre schlug die „Theory Y“ des sich selbst aktivierenden Individuums in die personalpolitische Praxis durch. Beispielsweise stellte der Großverteiler Coop im Jahr 1972 von der autoritären zur partizipativen Führung durch Zielsetzung („Management by Objectives“) um. Begründet wurde dies in klassisch motivationstheoretischer Manier mit dem doppelten Ziel, hiermit die „Leistungsorientierung“ und die „Selbstverwirklichung“ von Führungskräften und Beschäftigten fördern zu wollen11 . Motivationspsychologisch fundiert waren auch die sechstägigen gruppendynamischen Kurse, die das Basler Chemieunternehmen Sandoz AG ab 1972 mit dem mittleren und unteren Kader halbjährlich durchführte. Der zweifache Sinn der hier praktizierten Rollenspiele und unstrukturierten Diskussionen bestand einerseits in einer Aufweichung autoritärer Strukturen und andererseits in einer Verhaltensänderung diesen Strukturen gegenüber12 . Ähnlich gelagert war das geleitete Kurzturnen, das der Lebensmittelhersteller Haco bei Bern unter dem Motto „Freude und Entspannung im Betrieb“ täglich um neun Uhr morgens durchführte. Wie die Personalleitung betonte, zielte die 1973 eingeführte Maßnahme auf eine Förderung des „produktiven Arbeitsklimas“ und auf eine Vermeidung „unproduktiver Konflikte“ – etwa in der Zusammenarbeit von schweizerischen und ausländischen Arbeitskräften13 . 10
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Frederick Herzberg/Bernard Mausner/Barbara Bloch, The Motivation to Work, New York 1959. Vgl. auch Frederick Herzberg, One More Time: How Do You Motivate Employees?, in: Harvard Business Review 1 (1968), S. 53–62. Paul Meyer, Führung durch Zielsetzung. Praktische Fragen bei der Einführung einer neuen Führungskonzeption, in: SGP Mitteilungen 1 (1973), S. 89–92. Peter Seeli, Einführung in die Gruppendynamik mit spezieller Darstellung betriebsinterner Erfahrungen in der Firma Sandoz AG, in: SGP Mitteilungen 2 (1974), S. 440–449. Flurin Condrau/Niklaus Ingold, Gesundheit am Arbeitsplatz. Betriebliche Fitness in den 1960er und 70er Jahren, in: Brigitta Bernet/Jakob Tanner (Hrsg.) Ausser Betrieb. Metamorphosen der Arbeit in der Schweiz, Zürich 2015, S. 276–293.
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Etwas anders ausgerichtet war das Schulungs- und Weiterbildungsprogramm, das die Maschinenbaufirma Sulzer in Winterthur ab 1970 aufbaute. Es zielte auf eine Reorganisation der Arbeitsstrukturierung nach dem Modell des „Job Enrichment“ und „Job Enlargement“ und wollte auf Entspezialisierung und Flexibilisierung der Belegschaft hinwirken14 . Wie Sulzer-Generaldirektor Pierre Borgeaud hierzu ausführte, machte die voranschreitende Spezialisierung eine komplementäre Weiterbildung im „ganzheitlichen Denken“ unausweichlich. Das sei nicht nur ein Gebot der Humanität, sondern ein Erfordernis der „wirkungsvollen Zusammenarbeit im Unternehmen“. Heute brauche es „aktive, dynamische und veränderungsfreudige Mitarbeiter“, forderte Borgeaud, um dann fortzufahren: „Haben wir hingegen einen Mitarbeiter vor uns, dessen Spezialisierung einem einheitlichen Persönlichkeitsbedürfnis entspricht, so liegt wahrscheinlich der Typus eines Mitarbeiters vor, welcher im Sinne des ‚PeterPrinzips‘ seinen ‚level of incompetence‘ rasch erreichen wird, sobald er aus dem gewohnten Tätigkeitsfeld herausgelöst wird.“15
„Organisierter Kapitalismus“. Das institutionelle Arrangement der Nachkriegszeit Heute ist es nicht ungewöhnlich, beim Stichwort „Organisation“ sogleich an Routine, Hierarchie und Frustration zu denken. Die „Unentrinnbarkeit bürokratischer Herrschaft“: Unter diesen Grundsatz hatte Max Weber seine Organisationstheorie gestellt. Im Gegensatz zur heutigen Lesart stand Weber der Vorstellung einer plan- und berechenbaren Organisation jedoch positiv gegenüber, erkannte er in ihr doch die „formal rationalste Form der Herrschaftsausübung“. Nach Weber ermöglichte die bürokratische Organisation den rationalen Typus legitimer Herrschaft, der in der Moderne an die Stelle der Herrschaft „traditionalen“ und „charismatischen“ Charakters getreten sei. Da sie „ohne Ansehen der Person“ und „formal gleich für ‚jedermann‘ zu verfahren“ versprach, erschien sie als Garantin für ein Höchstmaß an „Intensität und Extensität der Leistung.“16 Parallel zum Aufstieg des Großunternehmens und der damit einhergehenden Aufwertung von Verwaltung, Führung und Steuerung übertrugen Management-Theoretiker diese Prinzipien auf die Industrie. Sie formulierten eine allgemeine Theorie der Organisation als kooperatives System, das die natürlichen Begrenzungen der 14 15 16
Pierre Borgeaud, Spezialist oder Generalist im Unternehmen (Vortrag ZGP am 23.2.1976), in: SGP Mitteilungen 4 (1976), S. 575–581. Ebenda, S. 578. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundrisse der verstehenden Soziologie, Band 1, Tübingen 5 1980, S. 128f.
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individuellen Leistungsfähigkeit durch Spezialisierung zu überwinden und die internen Kommunikations- und Entscheidungsprozesse durch Hierarchie und Führung zu bündeln versprach17 . Arbeitsteilige Spezialisierung, Hierarchie, einheitliche Leitung und Kontrolle – diese vier Prinzipien galten in der klassischen Lehre für jede formale Organisation als unerlässlich18 . Wie Niklas Luhmann festhielt, kamen dazu weiter ein „Geldgehalt mit garantierter Versorgung, lebenslange und berufsmässige Spezialisierung für diese Arbeit und ein besonderes, durch laufbahnmässigen Aufstieg steigerungsfähiges gesellschaftliches Prestige.“19 Sozialer Aufstieg gegen Loyalität und Unterordnung unter den Geist des Unternehmens: Dieses Versprechen griff auch in der Schweiz. Im Übergang vom Zweiten Weltkrieg zum Kalten Krieg verfestigte sich hier ein neokorporatistisches System des „organisierten Kapitalismus“, in dem Wirtschaftsverbände und Kartelle ihre Führungsrolle gegenüber staatlichen Regulierungsabsichten behaupten konnten. Auf der ideologischen Grundlage des 1937 geschlossenen „Friedensabkommens“ in der Metallindustrie, vertraglich gefestigt durch ein Netz von Gesamtarbeitsverträgen, das 1950 rund die Hälfte aller Lohnabhängigen umfasste, und getragen vom Schwung der Produktivitätsbewegung der 1950er Jahre, etablierte sich zwischen den Spitzen der Gewerkschaften und den Arbeitgebern ein sozialpartnerschaftlicher Konfliktregelungsmodus, dessen Referenzpunkt die leistungs- und konkurrenzfähige „Betriebsgemeinschaft“ war20 . Zur Stabilität des Systems trug die Vollbeschäftigung ebenso bei wie ein moderater Ausbau des Sozialstaats und der Einbezug der Sozialdemokratie in die sogenannte Konkordanzdemokratie im Jahr 1959. Um 1960 entfaltete dieses Modell des „organisierten Kapitalismus“ seine höchste Integrationskraft. Wie sozialdemokratische Wahlplakate 1960 verkündeten, war „der einst erniedrigte Proletarier zum selbstbewussten Bürger geworden“, der mit seiner Familie teilhatte am Wohlstand21 . Der Eckpfeiler dieses Arrangements war eine ausgebaute betriebliche Sozial- und Personalpolitik, die auf die Herausbildung und Bindung einer loyalen „Stammbelegschaft“ und zugleich auf die Abwehr staatlicher Regulierungen zielte22 . In der Hochkonjunktur der 1950er Jahre trat die Betriebsgemeinschafts17 18 19 20
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Chester Barnard, The Function of the Executive, Cambridge 1938. Giuseppe Bonazzi, Geschichte des organisatorischen Denkens, Wiesbaden 2008, S. 84. Niklas Luhmann, Politische Soziologie, Frankfurt 2010, S. 158. Andreas Rieger, Entwicklung und Bedeutung der GAV in der Schweiz, in: SGB (Hrsg.), Handbuch zum kollektiven Arbeitsrecht, Basel 2009, S. 100–121, hier S. 100–103. Zum Leitbild der Betriebsgemeinschaft in der Schweiz vgl. Angelus Eisinger, Die dynamische Kraft des Fortschritts, Zürich 1996, S. 97f. Bernet/Tanner (Hrsg.), Ausser Betrieb, S. 19 (Einleitung). Für einen Überblick: Jean Golay. Les problèmes sociaux dans l’entreprise en Suisse, in: Revue économique et sociale. Bulletin de la Société d’Etudes Economiques et Sociales 15 (1957), S.224–241.
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Doktrin jedoch in den Hintergrund und machte einem betriebswirtschaftlichen Verständnis des „organisierten Unternehmens“ Platz. Der Betrieb fungierte hier als relativ autonomes, von internationalen Märkten, aber auch vom sozialen Umfeld weitgehend abgeschottetes technisch-wirtschaftliches System, dessen Produktivität von mehr oder weniger konstanten Rahmenbedingungen abhing und auf Gleichgewichtszustände hin orientiert war23 . Die Bereiche dieses Systems erschienen als isolierte „Funktionen“ und wurden auf Möglichkeiten der Kostenreduktion hin untersucht24 . Ein zentrales Instrument der Vereinheitlichung und Rationalisierung war beispielsweise die Arbeitsanalyse, welche die vorhandenen Aufgaben und Arbeitsvorgänge sammelte, Einzelaufgaben neu zusammensetzte und auf der gleichen Grundlage auch Lohn- und Beförderungssysteme festlegte. Ein allgemeines Charakteristikum war die Mathematisierung resp. der Bedeutungszuwachs der „rechnerischen Apparatur“ im Unternehmen, dessen Planung und Steuerung verstärkt an Kennzahlen, Soll-Ist-Vergleichen und Betriebskalkulationen ausgerichtet wurde25 . Diese „statisch-mathematische“ Auffassung des Unternehmens stieß ab Mitte der 1960er Jahre auf Kritik. Die zunehmende Komplexität der Unternehmensumwelt zwang zur Revision der klassischen Annahme, dass es eine einzige, universale Organisationsform gebe, die für jedes beliebige Unternehmen geeignet sei. Der Ruf nach flexibleren Ordnungen kam zuweilen als „bewusste Kampfansage“ an die „Verbeamtung des unternehmerischen Denkens“ durch die „starre Anwendung“ von Organisationsplänen und statistischen Begriffen daher26 . So äusserte sich Heinrich Oswald, Generaldirektor der Knorr AG in Thayngen, in seinem 1967 verfassten Management-Manifest „Führen statt Verwalten“. Es forderte die Unternehmer dazu auf, „den Markt wieder als lebendige Ganzheit zu erkennen“, hielt zur Rückbesinnung auf den „unternehmerischen Willen“ als Vitalkraft von Mensch, Unternehmen und Gesellschaft an und kulminierte im Ausruf: „Le marché c’est nous!“27 Eine neue Stufe der Entwicklung, die nach einer wechselseitigen Anpassung von Mensch und Organisation verlangte, hielt auch der Berner Betriebswissenschaftler Peter Tlach für gekommen. In einem Vortrag von 1969 zeichnete er eine Evolutionsgeschichte des Unternehmens, die von der „Pionierunternehmung“ über die „organisierte Unternehmung“ zur 23
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Heike Knortz, Die Entwicklung des modernen Begriffs von der Arbeitsproduktivität. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Betriebswirtschaftslehre, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 55 (2010), S. 31–51, hier S. 46. Karl Käfer, Betriebswirtschaftliche Verfahrensforschung, in: Hans Ulrich/Fritz Trechsel (Hrsg.), Aktuelle Fragen der Unternehmung. Beiträge zur Betriebswirtschaftslehre, Bern 1957, S. 109–141. Erich Kosiol, Das Rechnungswesen im Dienste der Unternehmensführung, in: Ulrich/ Trechsel (Hrsg.) Aktuelle Fragen der Unternehmung, S. 61–77. Heinrich Oswald, Führen statt Verwalten, Bern 1990 (erstmals 1967), S. 6 und S. 58. Oswald, Führen statt Verwalten, S. 74.
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„integrierenden Unternehmung“ fortschritt. Die Entwicklung des Menschen ließ Tlach zu dieser betrieblichen Evolution parallel laufen. Im Rückgriff auf Abraham Maslow betonte er, dass Personalführungsstrategien jeweils jene Bedürfnisschichten ansprechen müssten, die bei einer bestimmten Gruppe von Menschen zu einer bestimmten Zeit ihrer Entwicklung vorherrschend seien – die existentiellen, die sozialen oder die egoistischen. Während zur Pionierunternehmung der charismatische und zugleich willkürliche Führungsstil des Gründers passte und die „organisierte Unternehmung“ ihr Führungsproblem durch Struktur und wissenschaftliche Betriebsführung löste, verlange die Zukunft nach der „integrierenden Unternehmung“, die nach der Integration des „ganzen Menschen“ – und damit auch seines Bedürfnisses nach Selbstverwirklichung – strebe28 . Mit der „integrierenden Unternehmung“ knüpfte Tlach an den St. Galler Wirtschaftswissenschaftler Hans Ulrich an. Dessen psychologischsoziologisch erweiterte Wertlehre des Unternehmens – die 1972 zur Grundlage des „St. Galler Management-Modells“ wurde –, umfasste nicht nur Geldwerte, sondern auch individuelle Wertvorstellungen und soziale Bewertungen. Wie Ulrich festhielt, drängte sich die von ihm propagierte „integrierende“ Sicht aufgrund des unternehmerischen Wandels ebenso auf wie in Anbetracht der laut gewordenen „antikapitalistischen Propaganda“29 .
Herausforderungen der „organisierten Unternehmung“ um 1970 Die Jahre um 1970 waren auch in der Schweiz eine „bewegte Zeit“30 . Mit Blick auf das politisch-institutionelle Gefüge der Nachkriegszeit sprach der Soziologe Michel Crozier am französischen Beispiel von einer „blockierten Gesellschaft“: Er beschrieb eine „von oben“ wirkende, das soziale Leben quasi erstickende Einzwängung der Teile durch das Ganze, die dann auf dieses zurückschlug31 . Eine ähnliche Integrationsproblematik wurde in der Schweiz zur Zeitdiagnose einer Krise der Organisation verdichtet. Mit Blick auf die Unternehmenswelt lässt sich von einer gleichzeitigen Funktions- und Legitimationskrise sprechen. 28 29 30 31
Peter Tlach, Die Unternehmung als soziales Gebilde, in: Industrielle Organisation 40 (1971), S. 537–542. Peter Ulrich, Die Unternehmung als produktives soziales System, Bern 1968, S. 335. Jakob Tanner, Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert, München 2015, S. 381. Michel Crozier, La société bloquée, Paris 1970. Ähnlich wie in Frankreich wurden die vielschichtigen Problemlagen in der Schweiz eher auf eine Überintegration – eine zu weitgehende Reduktion von Freiheitsgraden – und weniger auf eine Desintegration zurückgeführt. Vgl. auch Stefan Lange/Uwe Schimank (Hrsg.), Governance und gesellschaftliche Integration, Wiesbaden 2004, S. 9–46 (Einleitung), hier S. 14.
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Funktionsprobleme: Strukturwandel der Unternehmens- und Arbeitsorganisation
Zu den Herausforderungen, mit denen die „organisierten Unternehmen“ in den 1960er Jahren zu kämpfen hatten, gehörte die Rückkehr des Marktes in dieselben. Deutlich wurde dies zunächst mit Blick auf den Arbeitsmarkt. Die wirtschaftliche Konjunktur schlug sich nicht allein in höheren Löhnen, wachsenden Gewinnen und einer verstärkten Exporttätigkeit nieder, sondern sie ging auch mit einem verschärften Arbeitskräftemangel einher. Im Verlauf der 1960er Jahre wurde es immer schwieriger, qualifizierte Arbeitskräfte zu finden und diese im Betrieb zu halten. Die Klagen über Personalnotstand, anschwellenden Personalwechsel und die daraus entstehenden Umtriebe und Kosten zogen betriebswirtschaftliche und volkswirtschaftliche Erörterungen nach sich32 . Hohe Löhne, zusätzliche Ferien, günstige Arbeitszeiten, hohe Nachtarbeitszuschläge und weitere fringe benefits – das waren die Mittel, mit denen in allen Branchen um die knappen Arbeitskräfte geworben wurde. Von der Wachstumsdynamik wurden insbesondere die exportorientierten Unternehmen der Chemie und in der Maschinenindustrie erfasst, wo man die Lücken dank permissiver Einwanderungspolitik mit ausländischen Arbeitskräften zunächst passabel füllen konnte. Der kräftige Zuwachs von unqualifizierten „Fremdarbeitern“ aus dem Süden, welche zumeist im zweiten Sektor eingesetzt wurden, dynamisierte den Aufstieg der schweizerischen Arbeitskräfte von den Werkstätten in die Büros33 . Ende der 1960er Jahre geriet dieser Fahrstuhleffekt jedoch ins Stocken. Die ausländische Unterschichtung des Arbeitsmarktes hatte einer Fremdenfeindlichkeit Vorschub geleistet, aus der xenophobe politische Bewegungen ihren Nutzen zogen. 1965 wurde die erste „Überfremdungsinitiative“ eingereicht, welche den Anteil der ausländischen Wohnbevölkerung auf zehn Prozent beschränken wollte. Weitere Initiativen folgten. Angesichts dieser Vorstöße und der staatlichen Kontingentierungsbestrebungen, die sie begleiteten, schien sich eine weitere Verschärfung des Personalmangels deutlich abzuzeichnen34 . Vorab die Industrie ergriff nun alle denkbaren Maßnahmen zur Einsparung von Arbeitskräften, zur Erhöhung des Arbeitstempos und zur Leistung von Überstunden. Diese reichten von der arbeitssparenden Produktgestaltung und neuen Methoden der Warenverteilung über Mechanisierung, Automatisierung, den 32 33
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Francesco Kneschaurek, Personalpolitik und wirtschaftliche Entwicklung, Bern 1967, S. 5f. Angelus Eisinger, Die dynamische Kraft des Fortschritts. Gewerkschaftliche Politik im Spannungsfeld zwischen Vertragspolitik, sozioökonomischem Wandel und technischem Fortschritt. Eine theoriegeleitete Untersuchung der Politik des SMUV im Zeitraum von 1952–1985, Zürich 1997, S. 119. Zu den prekären Arbeitsbedingungen der „Gastarbeiter“ in Europa vgl. Stephen Castles/Godula Kosack, Immigrant Workers and Class Structure in Western Europe, Oxford 2 1985. Rencontres Suisse (Hrsg.), Crise des métiers, mencace économique. La Suisse devant la pénurie de main-d’oeuvre. Situation, causes, conséquences, remèdes, Lausanne 1972.
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Einsatz von EDV bis hin zu gesetzlichen und kollektivvertraglichen Vorstößen zur Lockerung der Bestimmungen für Schichtarbeit, Nachtarbeit und Überzeit35 . Mit den auf Konjunktur eingeschworenen Industriegewerkschaften ließen sich Verträge realisieren, die auf eine maximale – die staatlich festgesetzten Normalarbeitszeiten regelmäßig überschreitende – Auslastung der Produktionsanlagen im Schichtbetrieb zielten. Solche Initiativen zur Intensivierung und Rationalisierung der Arbeit hatten für die Betroffenen zuweilen massive psychosoziale Konsequenzen. Für die Dauernachtschicht hatte sich beispielsweise der Begriff der „graveyard-shift“ (Friedhofsschicht) durchgesetzt, was auf den „sozialen Tod“ anspielte, den Nachtarbeiter im Alltag erlebten36 . Mit der wachsenden Kluft zwischen routinisierter und spezialisierter Arbeit und angesichts der immer weitergehenden Zerlegung von Routinetätigkeiten in repetitive Arbeitsprozesse erhöhte sich der Grad an Monotonie und Leistungsdruck. Die fortschreitende Arbeitsteilung förderte die Sinnentleerung der Arbeit und reduzierte persönliche Entscheidungsmöglichkeiten auf ein Minimum. Die Diskrepanz zwischen materieller Entlohnung und Befriedigung bei der Arbeit wuchs in einem Maße, das sich über lohnbezogene Kompensationsmechanismen nur mehr ungenügend ausgleichen ließ. Wie arbeitswissenschaftliche Untersuchungen zeigten, schlugen die daraus resultierenden Spannungen – in Form von steigenden Fehlzeiten, Absentismus, Arbeitsverzögerung, Streiks oder Sabotageakten – in der unternehmerischen Kostenrechnung massiv zu Buche37 . Mit Sorge blickte man auch auf die Konsumorientierung und „Leistungsverweigerung“ der Jugend, der ein subjektiv befriedigendes Leben nur mehr außerhalb der Arbeit möglich schien38 . Dazu kam weiter, dass sich die exportorientierten Branchen auf den internationalen Märkten neu positionieren mussten. Die wirtschaftliche Konkurrenz verschärfte sich vorab in der Uhren- und Maschinenindustrie sowie in der Chemie. Hier setzte ein deutlich zunehmender Konzentrationsprozess ein, in dessen Verlauf es zu einzelnen spektakulären Fusionen von großen Industriebetrieben kam39 . Der Druck zu Kostensenkung und Produktivitätssteigerung forcierte 35
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Eberhardt Schmidt, Gedanken zum Wandel von Anforderungen und Weiterbildungszielen in der Unternehmensführung, in: Schweizerische Kurse für Unternehmensführung (Hrsg.), Führung. Festschrift zum 25jährigen Bestehen der Schweizerischen Kurse für Unternehmensführung, Zürich 1979, S. 95–106, hier S. 98f. Armin Villiger, Entwicklung und soziale Probleme der industriellen Schichtarbeit insbesondere in der Schweiz. Diss HSG, Winterthur 1967, S. 79f. OECD (Hrsg.), Les nouvelles attitudes et motivations des travailleurs. Rapport d’une réunion d’experts patronaux qui s’est tenu à Paris du 24 au 26 mai 1971, Paris 1972. Andreas Miller, Die Bank als soziales System, in: SHZ (Hrsg.), Zeitgemässe Personalpolitik in der Bankwirtschaft, Zürich 1970, S. 59–66, hier S. 61f. Vgl. die Beiträge im Themenband „Die junge Mitarbeitergeneration“ von Industrielle Organisation 2 (1973). 1966 kaufte der Sulzer-Konzern mit der Escher-Wyss in Zürich eines der ältesten Industrieunternehmen des Landes. 1967 kaufte BBC in Baden die Konkurrentin Maschinenfabrik Oerlikon und übernahm 1970 auch die Aktienmehrheit des Elektrotechnik-Herstellers Sécheron in Genf. 1967 kam es zur Übernahme des Berner Lebensmittelherstellers Wander
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nicht nur eine wachsende Unternehmenskonzentration. Interne Umstrukturierungen und Neuorganisationen der Arbeit folgten ihr auf dem Fuß. Man sprach vom permanenten Lernen, vom ständigen Umsteigen in neue Berufe mit neuen Anforderungen und verlangte nach Managern, welche die Erfordernisse der marktkoordinierten Konkurrenzwirtschaft in die Unternehmen „hineinorganisierten“40 . Die Fusionen und Konzentrationen setzten Reformdynamiken frei, von denen in erheblichem Maß nun auch die White-Collar-Arbeitskräfte – Büroangestellte, Facharbeiter, Führungskräfte etc. – betroffen waren. Auch sie gerieten unter Umstellungs- und Rationalisierungsdruck. Selbst im prestigeträchtigen Berufsfeld der Banken schritt die Arbeitsteilung voran. Durch die Zergliederung und Ausgliederung der Arbeit entstanden neue Hierarchien und neue Führungsaufgaben, die in der bisherigen Arbeitsorganisation kaum aufgetreten waren. Branchenunabhängige Mitarbeiter und Spezialisten (etwa im IT-Bereich), für die es keine Rolle spielte, ob sie in einer Bank oder bei einer Fluggesellschaft arbeiteten, hielten in die Unternehmen Einzug. Die alte Aufstiegs- und Lohnordnung mit ihren jährlichen „Erfahrungszulagen“ bis ins Pensionsalter erschien vor diesem Hintergrund zunehmend als überholt. Dies wiederum wurde von den eingefleischten Mitarbeitern, die sich im Betrieb hochgearbeitet hatten und nicht selten über einen branchenspezifischen Berufsstolz verfügten, negativ bewertet41 . Einen Eindruck der Frustrationen, mit denen auch Führungskräfte im Großunternehmen zu kämpfen hatten, vermittelte Robert Bossard, Personalchef von IBM Zürich. Wie sein Vortrag „Chef ohne Macht“ ausführte, trugen die ständig anwachsende hierarchische Linie, die (zuweilen auch geografische) Entfernung von den Zentren der Macht und die zunehmende Anonymität der Unternehmen einiges dazu bei, dass der Vorgesetzte „kaum mehr Vertreter der Geschäftsleitung in dem Sinne [sei], dass er sich als Mitbeherrscher des Machtapparats des Unternehmens fühlen könnte.“ Demnach kämpften Vorgesetzte mit Autoritätsverlustproblemen, die sich aus der „fortschreitenden Eingliederung in ein ‚System‘ und durch den Schrumpfungsprozess der äusseren Macht“ ergaben42 . Wie Bossard unter Verweis auf Abraham Maslow und Rensis Likert erklärte, lag die Herausforderung der Personalarbeit aktuell darin, die Vorgesetzten durch Schulungen und Kurse dazu zu bringen, den Verlust an Macht und Unabhängigkeit in der Gestaltung des eigenen Arbeitsbereichs zu „kompensieren“ durch die Motivation, „einen bestmöglichen Beitrag für die
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AG durch den Basler Pharmakonzern Sandoz. 1969 übernahm die Georg-Fischer-AG aus Schaffhausen die Maschinenfabrik Rüti. 1970 fusionierten die Chemie-Konzerne Ciba und Geigy in Basel. Christian Gasser, Einige Gedanken zur Dynamik der Unternehmensführung heute, in: Industrielle Organisation 5 (1968), S. 301–308. Schweizerische Handelszeitung (Hrsg.), Zeitgemässe Personalpolitik in der Bankwirtschaft, Zürich 1970. Robert Bossard, Chef ohne Macht?, in: SGP Mitteilungen 2 (1966), S. 50–56, hier S.53.
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Erreichung der Unternehmensziele“ zu leisten sowie durch die „Möglichkeiten, den Mitarbeitern einen befriedigenden beruflichen Wirkungskreis zu sichern und ihre Persönlichkeit fördern zu helfen.“ Mehr noch musste der Vorgesetzte dafür sorgen, dass das Geschäftsziel „zur beherrschenden, alles andere in den Hintergrund drängenden Idee“ werde43 . Legitimationskrise: Neue soziale Bewegungen und Kritik an den Gewerkschaften
Zum ökonomischen Druck gesellten sich politische und soziokulturelle Herausforderungen, die eine Legitimationskrise des „organisierten Kapitalismus“ beförderten. Ende der sechziger Jahre waren die sozialen Unkosten der Hochkonjunktur im öffentlichen Bewusstsein angekommen. Unternehmen erschienen nun nicht mehr vor allem als Quelle von Arbeit und ökonomischem Wohlstand, sondern verstärkt auch als Belastung für eine Region, für die Umwelt und die Gesundheit. Die „Überfremdungsproblematik“ war hierfür nur ein Beispiel. Auch die Umweltbelastung, die Verteuerung des Bodens, die fehlende Raumplanung, die steigenden Rüstungsausgaben oder die Verelendung der „Dritten Welt“ wurden vermehrt in einen Zusammenhang mit dem Wirtschaftswachstum der Industrieländer gebracht. Schliesslich machten die Übernahmen, Betriebsschließungen und Umstrukturierungen das Primat der Rentabilität greifbar und warfen neue Fragen der Arbeitsplatzsicherheit, Versetzbarkeit und Umschulung auf. Auch eingespielte Karrieremuster und Berufsprofile griffen nicht mehr. Diese Problemlagen leisteten einer Vertrauenskrise der Öffentlichkeit gegenüber Großunternehmen und Banken Vorschub, die sich auch in Volksinitiativen ausdrückte. Als 1968 publik wurde, dass die Oerlikon-Bührle AG in großem Stil Waffen an die kriegsführenden Parteien im nigerianischen Biafra-Konflikt geliefert hatte, reichte ein Komitee der Friedensbewegung eine Initiative ein, welche ein Verbot der Waffenausfuhr und eine verstärkte Rüstungskontrolle anstrebte. Zu den heißen Themen gehörte auch die von der Partei der Arbeit lancierte Initiative für eine staatliche Volkspension, die künftig mindestens 60 Prozent des Einkommens abdecken und eine jährliche Minimalrente von 6000 Franken garantieren sollte44 . Sie wurde 1972 abgelehnt. Mit dem angenommenen Gegenvorschlag, hinter den sich die bürgerlichen Parteien, Wirtschaftsverbände und Privatversicherer ebenso stellten wie die Sozialdemokratische Partei der Schweiz und die Gewerkschaften, hielt stattdessen eine Lösung in die Verfassung Einzug (Drei-Säulen-Doktrin), die der privaten Vorsorge großen Raum einräumte. An der gleichen Front scheiterte die 1971 von der linken POCH (Progressive Or-
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Bossard, Chef ohne Macht, S. 56. Vgl. http://www.geschichtedersozialensicherheit.ch/synthese/1972/.
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ganisation der Schweiz) lancierte Initiative zur gesetzlichen Herabsetzung der wöchentlichen Arbeitszeit auf 40 Stunden45 . Wie die Beispiele illustrieren, gingen viele dieser Vorstöße auf „neue soziale Bewegungen“ zurück, die im politökonomischen Regime der Nachkriegszeit nicht repräsentiert waren. Lange hatte die an Leistung und Konsum orientierte „geschlossene“ Gesellschaft der Schweiz die verschiedentlich aufflackernden Absatzbewegungen und Missmutsäußerungen erfolgreich unterdrückt. Die Bewegungen im Gefolge von 1968 stellten Reaktionen auf die Zumutungen und Vereinnahmungen einer wohlstandsnivellierten und letztlich kulturell öden „Massenkonsumgesellschaft“ dar46 . Hier schien es durchaus Anknüpfungspunkte für wirtschaftsliberale Erneuerungsprogramme zu geben. So glaubte wenigstens Heinrich Oswald, in den Studentenunruhen ein „meist noch uneingestandenes Verlangen nach einem neuen, befreienden Führungsstil in der Wirtschaft“ zu erkennen. Auch erschien ihm das Hinstreben auf eine radikale Umwälzung bestehender Strukturen verwandt mit dem Prinzip der „schöpferischen Zerstörung“, die – wie er seine Leser mahnte – für die Dynamik einer „vitalen Wirtschaft“ essentiell sei: „Den Schwarzseher mag es bedrücken, wenn Erstarrtes – krachend und splitternd – in neue Bewegung gerät. Wer an den Menschen glaubt, schöpft daraus die ermutigende Gewissheit, dass jeder Strom zu neuen Ufern führt.“47 Trotz Resonanzen zwischen der liberalen Vermassungs- und der Entfremdungskritik der Neuen Linken waren die Stoßrichtungen grundsätzlich anders. Der Protest im Zeichen von 1968 richtete sich gegen die verknöcherte Ordnung der herrschenden Gesellschaft, gegen die Kultur des Establishments und die Autorität der herrschenden Eliten. Ein Kristallisationspunkt der Bewegung war die Kritik an der ganz „normalen“ Repression. Diese manifestierte sich öffentlichkeitswirksam in der Polizeigewalt nach den Jugendunruhen von 1968 („Globus-Krawalle“), zeigte sich aber auch im Alltag von Kasernen, Schulen und Betrieben. Wie ein Blick auf die Bewegungszeitschriften deutlich macht, war der angepasste, technokratisch-patriarchale Vorgesetzte, der Befehle von oben ohne Murren ausführte und sie nach unten gedankenlos und gefühlskalt weiter gab, eine prototypische Verkörperung der alltäglichen Repression des Systems48 . Gerade die Lehrlinge, die in der Betriebshierarchie unten platziert waren, bekamen die „Willkürherrschaft“ in hohem Maß zu spüren. „Gewisse Vorgesetzte sehen noch heute ihr edelstes Ziel darin, die zukünftigen Beamten zu einem (nach ihren Vorstellungen) rechtschaffenen Menschen zu formen“, klagte 1971 ein Lehrling, 45 46 47 48
Vgl. das Dossier „Volksinitiativen“ auf https://www.bk.admin.ch/themen/pore/vi/index. html?lang=de. Ruedi Brassel/Jakob Tanner, Zur Geschichte der Friedensbewegung in der Schweiz, in: Ruedi Brassel u. a. (Hrsg.), Handbuch Frieden Schweiz, Basel 1986, S. 17–90, hier S. 66. Heinrich Oswald, Führen statt Verwalten, Bern 1968 (Vorwort zur zweiten Auflage), S. 7. Brassel/Tanner, Geschichte der Friedensbewegung, S. 66.
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dessen Lehrstelle beim staatlichen Postbetrieb PTT wegen „ungebührlichen Benehmens“ gekündigt worden war. „Bürokratie kann denkende Menschen nicht ertragen; was sie braucht sind willenlose Befehlsempfänger. Wie beim Militär.“49 In der Zeitschriftenlandschaft der außerparlamentarischen Opposition wurde den Erfahrungsberichten von Lehrlingen, die über Ausbeutung am Arbeitsplatz, Überstunden und tyrannische Vorgesetzte berichteten, viel Platz eingeräumt. Sie dokumentierten die sozialen Ursachen der Jugendrevolte und waren zugleich Medien zur Mobilisierung der Betroffenen50 . Ihre theoretischen Grundlagen bezog die Bewegung aus der marxistischen Entfremdungskritik, deren Analysen im Alltag, dem neu entdeckten Ort von Machtbeziehungen, ansetzten und sich den Arbeitspraktiken und Arbeitserfahrungen im Betrieb zuwandten. Ein wichtiger Bezugspunkt war der italienische Operaismo. Aber auch die französische Industriesoziologie hatte großes Gewicht – so etwa der französische Sozialtheoretiker André Gorz. Dieser sah den Grundwiderspruch seiner Gegenwart darin, „dass die Forderungen und Rentabilitätskriterien des Monopolkapitals oder der Grossbank den immanenten Forderungen einer autonomen, schöpferischen Tätigkeit, die Ziel und Zweck in sich selbst trägt, entgegenstehen“51 . Gorz plädierte für eine Strategie der „systemumwälzenden Reformen“, die Breschen in den Kapitalismus schlug und Machtpositionen eroberte, um dann auf der Grundlage der hochentwickelten Produktivkräfte der Gegenwart eine humane sozialistische Gesellschaft zu verwirklichen. An solchen Ansätzen orientierten sich die „Lehrlingskollektive“, die um 1970 in mehreren Schweizer Städten entstanden. Von der Neuen Linken wurden diese als Krisensymptom der gewerkschaftlichen Interessenvertretung gewertet52 . Mitte der 1960er Jahre auf dem Höhepunkt ihrer Anerkennung in Wirtschaft, Staat und Gesellschaft angelangt, hatten die Gewerkschaften am Ende des Jahrzehnts in der Tat mit vielschichten Repräsentationsproblemen zu kämpfen. Es stagnierten die Mitgliederzahlen und an der Basis wuchs der Unmut über die kompromissorientierten Verhandlungssysteme zwischen den Sozialpartnern und deren langsames Tempo. Das Festhalten der gewerkschaftlichen Organisationen an starren Regelungen und ihre eigene bürokratisch-autoritäre Struktur forderte Kritik heraus53 . Ein Vertrauensverlust griff um sich, für den die „wilden Streiks“ und spontanen Widerstandsaktionen symptomatisch waren, die nach dem italie49 50 51 52
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Der Fall Zoss. Memoiren eines PTT-Beamten, in: Focus 22 (1971), S. 12–14. Meine Lehrjahre bei der Firma Meienhofer, in: Focus 16 (1971), S. 13. André Gorz, Zur Strategie der Arbeiterbewegung im Neokapitalismus, Frankfurt 1967, S. 130. „Im Lehrlingssektor herrschen noch frühkapitalistische Zustände“, schrieb die Zeitschrift Focus 1970. Da die Gewerkschaften, die sich eigentlich um den „Schutz der Lehrlingsinteressen“ kümmern müssten, sich „besser mit den Unternehmern als mit ihren Mitgliedern“ verstünden, sei der Lehrling praktisch ein „schutzloses Objekt der Ausbeutung“. Vgl. Roter Morgen für Lehrlinge?, in: Focus 13 (1970), S. 34–36. Adrian Zimmermann, Demokratie im Betrieb. Die Mitbestimmungsoffensive der schwei-
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nischen „heißen Herbst“ von 1967 in der Schweiz vereinzelt auftraten. Wie stark der Schweizerische Gewerkschaftsbund in das auf technischen Fortschritt und Produktivität ausgerichtete Arrangement der Nachkriegszeit eingebunden war, zeigte sich auch in seiner uninteressierten bis ablehnenden Haltung gegenüber Forderungen nach Mitbestimmung, die Mitte der 1960er Jahre laut wurden. Während die Gewerkschaften damals weiterhin an ihrer traditionellen Strategie der Lohnerhöhungen festhielten, schlugen die Folgen der Automatisierung und Umstrukturierung des Produktionsprozesses auf den betrieblichen Arbeitsalltag durch und veränderten diesen massiv. Gerade in der Industriearbeiterschaft, wo Rationalisierungsdruck und -belastung am höchsten waren, ging es bald weniger um Lohnerhöhungen und mehr um die Arbeitsbedingungen und die Arbeitsorganisation in der Fabrik. Die hier gemachten Erfahrungen und die hier ansetzenden politischen Strategien – zu der auch die Forderung nach Mitbestimmung gehörte – fanden in der Gewerkschaftsstrategie indes keinen Niederschlag. Einen Ausbau der betrieblichen Mitbestimmung lehnten die Gewerkschaften ab, weil dies in einem gewissen Gegensatz zum eingespielten System der überbetrieblichen Konfliktregelung stand54 . Gehör fand das Postulat hingegen in christlich-sozialen Kreisen – so beim Zürcher Theologen Arthur Rich. In seinem Buch „Christliche Existenz in der industriellen Welt“ prangerte er die „wachsende Verdinglichung“ der Arbeiter und die Unterordnung des Menschen unter das Kapital an und erhob die Forderung nach einem qualifizierten Mitbestimmungsrecht für Arbeitnehmer. In einem solchen sah Rich „die Chance, vielleicht die einzige Chance, um die Objektlage des Erwerbstätigen in der industriellen Arbeitswelt aufzuheben und ihm dort die personale Stellung eines Mitverantwortlichen, Mitbestimmenden und Mitentscheidenden einzuräumen, ohne das es in den konkreten Produktionsverhältnissen kein mitmenschliches Dasein gibt.“55 Auch die Jugendorganisation der Sozialdemokratischen Partei griff die Mitbestimmungsforderung auf. Im Anschluss an die Strategie der „systemumwälzenden Reformen“ legte sie diese als schrittweise Ausweitung der Macht der Arbeiter und Angestellten aus, an deren Ende die Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln stehen sollte56 . Im Frühling 1968 trat in Zürich die „Arbeitsgruppe für Mitbestimmung“ an die Öffentlichkeit. Sie forderte eine „Ordnung der Machtstrukturen im Betrieb nach demokratischen Prinzipien“ und kritisierte die gängige „Unterordnung der Arbeit unter das Ka-
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zerischen Gewerkschaften in den 1970-er Jahren, in: Bernet/Tanner (Hrsg.), Ausser Betrieb, S. 293–312, hier S. 298. François Höpflinger, Industriegewerkschaften in der Schweiz. Eine soziologische Untersuchung, Zürich 1976, S. 138f. Arthur Rich, Christliche Existenz in der industriellen Welt, 2. umgearbeitete und erweiterte Auflage, Zürich 1964, S. 258. Die Forderung nach einem Mitbestimmungsrecht erhob er erst in der zweiten Auflage von 1964 und nicht schon 1957. Jusos und André Gorz, in: Focus 18 (1971), S. 18.
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pital“, welche den „elementaren Prinzipien der Menschenwürde“ widerspreche. Das bundesdeutsche Modell vor Augen, verlangte die Gruppe die Einrichtung von Personalkommissionen und Betriebsräten, die paritätisch aus Vertretern von Kapital und Arbeit zu besetzen seien. Wenig später griff die Sozialdemokratische Partei der Schweiz ähnliche Mitbestimmungsforderungen auf57 . Angesichts der hohen Konjunktur des Themas setzte in den Leitungsgremien der Gewerkschaften schließlich ein Umdenken ein. Stimmen setzten sich durch, die in einer gewerkschaftlichen Mitbestimmungskampagne die Chance erblickten, die Organisation als soziale Bewegung zu reaktivieren. So sah der Genfer Funktionär Eugène Suter in der gewerkschaftlichen Kampagne ein ideales Instrument, um „über alle Ressentiments und Vorurteile hinaus die schweizerischen und ausländischen Arbeitnehmer [. . . ] zu einer geschlossenen Kampfgemeinschaft zusammenzuschweissen“ und auch „die arbeitende Frau“ sowie „die Jugend“ in die Organisation miteinbeziehen zu können58 . 1969 beschloss der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) die Einsetzung einer Mitbestimmungskommission. Zusammen mit dem Christlich-Nationalen Gewerkschaftsbund und dem Verband evangelischer Arbeitnehmer lancierte er im März 1971 die Volksinitiative für die „Mitbestimmung der Arbeitnehmer“. Diese forderte staatliche Kompetenzen zum Erlass von Vorschriften für eine Mitbestimmung der Arbeitnehmer und ihrer Organisationen nicht nur auf Betriebsebene, sondern auch auf Stufe der Unternehmensleitung. Bei Firmen mit mehr als fünfhundert Beschäftigten sollte sich der Verwaltungsrat künftig paritätisch aus Vertretern der Aktionäre und gewerkschaftlichen Belegschaftsvertretern zusammensetzen. Das vordringliche Ziel der Initiative lag für die Gewerkschaften darin, ihre Stellung in den Betrieben vermehrt abzusichern – ein Ansinnen, das in der sozialpolitischen Auseinandersetzung zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften zum Hauptstreitpunkt werden sollte59 . Dass die Unterschriften in Rekordzeit gesammelt waren und das damals nötige Quorum von 50 000 um mehr als das Dreifache übertrafen, verwies auf die öffentliche Anschlussfähigkeit und Popularität des Anliegens. Im August 1971 eingereicht, kam die Mitbestimmungsinitiative indes erst im März 1976 zur Abstimmung. Obwohl sie zunächst von Ständeund Nationalrat und später auch von den Stimmberechtigten deutlich abgelehnt wurde, war der Vorstoß dennoch folgenreich. Unter dem Druck der Initiative wurden im Zeitraum zwischen Lancierung und Abstimmung auf betrieblicher und vertraglicher Ebene nicht nur verschiedene Mitsprache- und Mitentscheidungsformen eingeführt und neue Gesamtarbeitsverträge ausgehandelt. Sondern sie setzte zwischen Arbeitgeber und Gewerkschaften auch Lernprozesse in Gang, bei denen wissenschaftliche Experten eine wichtige Rolle spielten. 57 58 59
Zimmermann, Demokratie im Betrieb, S. 299. Protokoll SGB-Kongress 1969, S. 203f, zit. in: Zimmermann, Demokratie im Betrieb, S. 301. Höpflinger, Industriegewerkschaften in der Schweiz, S. 142.
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Verwissenschaftlichung der Organisationskritik im Medium der Motivationspsychologie Durch die Einreichung der Volksinitiative, die vor den Nationalratswahlen im Herbst 1971 erfolgte, wurde das Thema Mitbestimmung offiziell zum schweizerischen Politikum. Der Vorstoß löste eine breite Debatte aus. Während das Anliegen in der Bevölkerung vielfach Verständnis fand, wurde die Initiative in Unternehmenskreisen schroff abgelehnt und als Abkehr von der sozialpartnerschaftlichen Vertragspolitik gewertet60 . Speziell die „qualifizierte“ Mitbestimmung, welche die paritätische Integration von Gewerkschaftsvertretern in die Verwaltungsräte vorsah, ging der Arbeitgeberseite eindeutig zu weit. Hans Rüegg, Präsident des Arbeitgeberverbandes der Schweizerischen Maschinenindustrie (ASM), bezeichnete sie als „raffinierten Angriff auf das Privateigentum“, der auf eine „kalte Sozialisierung“ und „Expropriation der Eigentümer“ ziele61 . Demgegenüber konstatierte der Betriebswissenschaftler und Unternehmer Christian Gasser, dass die Gewerkschaften ein an sich berechtigtes „sozialethisches“ Anliegen „verpolitisiert, ideologisch verseucht und zu einer Machtfrage“ hochstilisiert hätten. Die Initiative taxierte er als überholt, weil sie vom Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit ausgehe und nicht realisiere, dass „echte Mitbestimmung“ – die sich an den „echten Bedürfnissen“ der Mitarbeiter und nicht an jenen der Gewerkschaftskader orientiere – im Betrieb durch partizipative Führungsmodelle bereits vielfach umgesetzt sei62 . Glaubt man damaligen Kommentaren, so schlug die Initiative schockartig in die Unternehmenswelt ein und zeitigte traumatische Folgen. Mit seiner Broschüre „Keine Angst vor Mitbestimmung. 10 Denkschritte für Unternehmer, Führungskräfte und Personalleiter“ schaltete sich der PR-Fachmann Edmond Tondeur als Vermittler in die Diskussion ein. Mit dem Ziel, die Schockstarre der Unternehmer zu lösen, rief er diese dazu auf, den Problemkreis der Mitbestimmung an sich herankommen zu lassen, sich zu entspannen und sich nicht auf eine prinzipiell ablehnende Haltung zu versteifen. Anstatt das Thema politisch und institutionell zu fixieren, sollten sie es zurückführen auf seine heterogenen Wurzeln und Absichten. Mit der Mitbestimmung hätten die Gewerkschaften ein „Schlagwort und kein fertiges Modell“ lanciert. Was genau unter Mitbestimmung zu verstehen sei, sei nicht fixiert, sondern bedürfe der Interpretation: „Die Unternehmer haben es in der Hand, an dieser Interpretation massgebend mitzuwirken 60 61 62
Toni Lienhard, Mitbestimmungs-Diskussion in der Schweiz, in: Brennpunkte (Publikation des Gottfried Duttweiler-Instituts) 5/1 (1974), S. 107–108. Hans Rüegg, Mitbestimmung – Motive und Konsequenzen, in: Schweizer Monatshefte 52/12 (1973), S. 875–885, hier S. 877. Christian Gasser, Mitbestimmung in der Unternehmung, in: Charles Lattmann/Vera GanzKeppeler (Hrsg.), Mitbestimmung in der Unternehmung, Bern 1972, S. 111–120, hier S. 120.
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und den Sprachsinn in diesem Bereich aktiv mitzuprägen“ erklärte Tondeur63 . Gewiss seien die hintergründigen Zielsetzungen um das Stichwort Mitbestimmung mit den Zielen der Arbeitgeber nicht identisch, betonte er. „Aber sie liegen doch nicht so weit weg von den Trends ab, die auch der Unternehmer als richtige Zukunftsentwicklung betrachtet, dass man sie nicht als Diskussionsalternative prüfen und ins Gespräch ziehen könnte.“64 Retrospektiv gibt diese Aufforderung eine konzise Darstellung des konstruktiven Umgangs, den nicht alle, aber gewichtige Teile der Arbeitgeberseite der Mitbestimmungsforderung gegenüber entwickelten. Mit der Mitbestimmungsinitiative – einem Kristallisationspunkt der politökonomischen Integrationskrise um 1970 – lag in der Schweiz eine auch in den Medien viel beachtete Konfliktsituation vor, die gute Bedingungen für eine „Verwissenschaftlichung des Sozialen“ bot65 . Bei der Objektivierungsarbeit spielten humanwissenschaftliche Experten eine tragende Rolle. Sie boten sich im Konflikt als neutrale Vermittlungsinstanzen an und konnten diese Position mitunter auch in einen professionellen Status ummünzen. Ein gutes Beispiel war hier Charles Lattmann, für den 1969 an der St. Galler Wirtschaftshochschule die erste Professur für Personalwesen in der Schweiz eingerichtet wurde. Lattmann, der sich 1968 mit einer Arbeit über Führungskräfteausbildung habilitiert hatte, schaltete sich gleich nach seiner Ernennung aktiv in die Debatte ein. Ein Kernelement seiner rhetorischen Strategie bestand darin, das Mitbestimmungspostulat auf seine „psychologischen Wurzeln“ zurückzuführen und als Experte für die „wahren“ Bedürfnisse der Arbeitnehmer aufzutreten. Gleichzeitig suchte er den Dialog mit Gewerkschaftsführern der alten Schule, die gegenüber staatlichen Regelungen (wie sie die SGB-Initiative anpeilte) skeptisch gesinnt waren. Im Mai 1970 organisierte Lattmann zusammen mit Arthur Rich eine zweitägige Arbeitstagung zum Thema „Mitbestimmung in der Industrie“, an der Unternehmer, Wirtschaftswissenschaftler und Gewerkschaftskader teilnahmen. Die Veranstaltung musste jedoch unterbrochen werden, als mit Ernst Wüthrich einer der altgedienten Gewerkschaftsfunktionäre das Wort erhalten hatte und die kritische Haltung darlegen wollte, die der Schweizerische Metall- und Uhrenverband (SMUV) der Mitbestimmungsinitiative gegenüber einnahm. Vertreterinnen der Neuen Linken und junge Gewerkschafter hatten bereits im Vorfeld gegen das geplante Referat demonstriert und unterbrachen den Vortrag mit Sprechchören und „Tumult“, sodass Wüthrich auf seine Stellungnahme verzichtete66 . Kurz nach 63 64 65
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Edmond Tondeur/Jakob Keller, Keine Angst vor Mitbestimmung, Zürich 1971, S. 13f. Ebenda, S. 78. Lutz Raphael, Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für die Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), S. 165–193. Walter Wolf, Für eine sozial verantwortbare Marktwirtschaft. Der Wirtschaftsethiker Arthur Rich, Zürich 2009, S. 95f.
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der Lancierung der Initiative führte Lattmann an der HSG eine zweite Tagung in gleicher Besetzung durch, die nun allerdings nicht öffentlich war. Mit Blick auf die heftigen Konflikte um das Thema wurde die Frage diskutiert, ob Mitbestimmung automatisch zur Radikalisierung der Belegschaft führe oder man sie so „ausgestalten“ könne, dass sie radikalen Tendenzen vielmehr entgegenwirke. Dass letzteres möglich sei, war das Fazit einer eigens zu diesem Thema eingesetzten Arbeitsgruppe. Um den angestrebten antiradikalen Effekt der Mitbestimmung zu unterstützen, dürfe diese nicht kollektiv ausgelegt werden. Vielmehr müsse „das Hauptgewicht auf der Verwirklichung individueller Mitbestimmung liegen“ – so das Fazit67 . Wie Charles Lattmann in seinem Vortrag präzisierte, hätten die Erfahrungen in der BRD gezeigt, dass gewerkschaftliche Mitbestimmungsrechte an den „echten Bedürfnissen“ der Arbeitnehmer nach „dem Erleben persönlicher Entfaltung“ vorbeigingen, da sie über Repräsentanten funktioniere. Abhängigkeit und Entfremdung seien so nicht verringert, sondern teilweise sogar erhöht worden. Demgegenüber definierte Lattmann die Mitbestimmungsfrage als ein Problemfeld, dessen Gestaltung in den alleinigen Kompetenzbereich des Unternehmens fiel. Um nicht unter Zugzwang zu geraten, müsse dieses die Förderung von Arbeitszufriedenheit künftig zu seiner Hauptaufgabe machen, forderte er. Als Maßnahme schwebte ihm eine doppelte Strategie vor: die Schulung von Vorgesetzten in Gruppendynamik und partizipativ-kooperativem Führungsstil einerseits und die Reorganisation gewisser Arbeitsvollzüge andererseits68 . Lattmann war ein umtriebiger Brückenbauer im Dialog zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften. Gerade im linken gewerkschaftlichen Flügel stieß seine wirtschaftsnahe Argumentation hingegen auf Skepsis – zu offensichtlich funktionierte er die Mitbestimmung zur „Waffe sowohl gegen sinkende Arbeitsmoral wie gegen ‚betriebsfremde Funktionärseinflüsse‘“ um69 . Es erwies sich daher als kluger Schachzug, im Jahr 1972 an der ETH Zürich eine Professur für Arbeits- und Organisationspsychologie einzurichten und sie mit dem deutschen Arbeitspsychologen Eberhard Ulich zu besetzen. Anders als Lattmann, der von der Führungskräfteschulung her kam, konnte Ulich mit arbeitswissenschaftlichen Studien zur Industriearbeit aufwarten70 . Sein Ansatz galt auch in 67 68
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Ergebnisse der Diskussion in Arbeitsgruppen, in: Lattmann/Ganz-Keppeler (Hrsg.), Mitbestimmung in der Unternehmung, S. 203–208. Charles Lattmann, Mitbestimmung und Unternehmensführung. Die Kritik der Mitbestimmung aus der Sicht der Unternehmensführung, in: Gewerkschaftliche Rundschau. Vierteljahrsschrift des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes 66 (1974), S. 174–178. Ähnlich argumentierte in der französischsprachigen Schweiz der Neuenburger Betriebspsychologe Michel Rousson, der zu Beginn der 1970er Jahre eine Reihe von Studien zur Arbeitszufriedenheit leitete. Vgl. ders., Monde de travail et besoins humains, in: SGPNachrichten (1973), S. 384–392. Diskussion über Mitbestimmung: Mehr Arbeit, weniger Lohn, in: Focus 72 (1976), S. 20–34, hier S. 23. Nach seiner Habilitation zum Thema „Schicht- und Nachtarbeit im Betrieb“ hatte Ulich
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der Neuen Linken als progressiv, weil er bei den konkreten Arbeitserfahrungen ansetzte71 . Im Anschluss an Maslow und Herzberg führte Ulich die Mitbestimmungsforderung auf eine wachsende Unzufriedenheit in der Arbeit zurück, die auftrat, weil diese kaum mehr Möglichkeiten „zur Entfaltung der eigenen Persönlichkeit und damit zur Selbstverwirklichung“ biete72 . Die Ursache des Problems lokalisierte er in der fortschreitenden Arbeitsteilung und Mechanisierung, welche die Möglichkeit des Einsatzes und der Entwicklung vorhandener Fähigkeiten in der Arbeit mehr und mehr einschränke. Demgegenüber lag sein Fokus auf der Ausweitung des „Handlungsspielraums“ der Arbeiter durch eine Neuorganisation der Arbeit nach dem Modell des „Job Enrichment“ und der „selbstgesteuerten Arbeitsgruppe“73 . Auf diesem Weg sollten die Effekte von Rationalisierung und Mechanisierung – die „Trennung von Denken und Ausführung“, aber auch „technische Arbeitszwänge“ – kompensatorisch ausgeglichen werden74 . Ulich wusste, dass der Zwang zu Verhaltenskonformität und Effizienzsteigerung auch im „integrierten Unternehmen“ nicht verschwinden würde und die Automatisierung weiter voranschritt. Seine Arbeitsmodelle waren Techniken, um die psychosozialen Rationalisierungskosten individuell – durch den Einsatz der eigenen Person – zu kompensieren. Nach seiner Berufung liefen verschiedene „Mitbestimmungsexperimente“ unter Ulichs Regie. Zum Beispiel übernahm er 1973 das Patronat der umfangreichen Studie über „Neue Arbeitsformen“, die Hans Rüegg für den Arbeitgeberverband der schweizerischen Maschinen- und Metallhersteller (ASM) mit über 40 Be-
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sich mit den psychologischen Folgen von Rationalisierung, Zeitdruck und Absentismus auseinandergesetzt. Seit 1972 Mitglied im „International Council for the Quality of Working Life“, war er einer der bekanntesten Repräsentanten der Bewegung zur „Humanisierung der Arbeit“ im deutschen Sprachraum. Ulichs Bücher „Neue Formen der Arbeitsgestaltung“ (1973) und „Arbeitszufriedenheit“ (1975) wurden alsbald zu Wegmarken der Diskussion. Diskussion über Mitbestimmung, in: Focus 72 (1976), S. 34. Eberhard Ulich, Neue Formen der Arbeitsstrukturierung, in: Fortschrittliche Betriebsführung 23 (1974), S. 187–197, hier S. 188. Die Idee des „Job Enrichment“ bestand darin, strukturell verschiedenartige Arbeitselemente – zum Beispiel Planungs-, Fertigungs- und Kontrollaufgaben – in eine umfassendere Handlungseinheit zusammenzufassen und einer Person zu übertragen. Die Arbeitsaufgabe wurde so zusammengestellt, „dass der Arbeiter eine längere Folge oder eine grössere Anzahl unterschiedlicher Arbeitsvorgänge ausführt und zum Beispiel für die Qualitätskontrolle seiner Arbeit, für die Einrichtung und Instandsetzung seiner Maschine und die Festlegung seiner Ausbringung selbst verantwortlich ist.“ Demgegenüber sollten Planung, Regulation und Kontrolle der übertragenen Aufgaben beim Modell der „selbstgesteuerten Arbeitsgruppe“ gruppenintern weitgehend eigenverantwortlich geregelt werden. ASM, Neue Arbeitsformen. Möglichkeiten und Voraussetzungen in der schweizerischen Maschinen- und Metallindustrie, Zürich 1974, S. 17f. Eberhard Ulich, Neue Formen der Arbeitsstrukturierung, in: Fortschrittliche Betriebsführung 23 (1974), S. 187.
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triebspraktikern aus verschiedenen Mitgliederfirmen erstellen ließ75 . Gestützt auf die Erfahrungen der Belegschaft wurden darin Möglichkeiten vorgestellt, wie sich Arbeitsabläufe so gestalten ließen, dass monotone oder abstumpfende Arbeit vermindert und die persönliche Entfaltung möglichst vieler Mitarbeiter gefördert werden konnte. In den meisten Fällen wurde eine jüngst erfolgte Teilbereichsautomatisierung zum Anlass genommen, um in einem Vorher-NachherSchema die Opportunitäten aufzulisten, welche sich hieraus hinsichtlich „Job Enrichment“ und „Group Autonomy“ ergaben. In seinem Schlusswort bezeichnete ASM-Präsident Hans Rüegg die neuen Arbeitsformen als „eine besonders glückliche Form der individuellen Mitwirkung der Arbeitnehmer“ und als einen „tauglichen Weg hin zur persönlichen Entfaltung und Selbstverwirklichung des Arbeitnehmers“. Als wichtigen Punkt hob er hervor, dass die Einführung neuer Arbeitsformen die Gesamtwirtschaftlichkeit der Produktion verbessere, „denn sehr oft gehen mit der Einführung der Arbeitsformen Rationalisierungsmassnahmen einher, und die erhöhte Arbeitszufriedenheit des Arbeitnehmers zieht in der Regel eine Stärkung der Leistungsbereitschaft nach sich.“76 Dem stimmte auch Ulich zu77 . Durch sein Patronat erhielten die Rationalisierungsexperimente eine arbeitswissenschaftliche Fundierung und wurden in den größeren Rahmen der internationalen „Quality of Working Life“-Bewegung gestellt. Wie aus den Berichten der Studiengruppen hervorgeht, griffen die Betriebspraktiker in den „Mitbestimmungsexperimenten“ ihrerseits die Kategorien der Motivationspsychologie auf und sortierten ihre Wünsche und Erfahrungen in den nämlichen Rahmen ein. Wie man sagen kann, wurden im Verlauf der Versuche nicht nur neue Arbeitsmodelle erprobt, vielmehr wurden dabei auch wirtschaftsdemokratische Mitbestimmungsforderungen in die kompensatorische Logik einer innerbetrieblichen Arbeitshumanisierung umgelenkt. Dass die Gewerkschaften auf diese Strategie durchaus einstiegen, zeigte sich im erneuerten „Friedensabkommen“ in der Metallindustrie von 1974, in welchem den neuen Methoden der Arbeitsorganisation ein zentraler Stellenwert zukam78 . Gemeinsamer Fluchtpunkt war das Hinwirken auf eine stärkere Delegation von Verantwortung und Kontrolle von Seiten des Managements auf die Beschäftigten. Auf diesem Weg wollte man sowohl die Produktivität steigern als auch den „echten“ Bedürfnissen der Beschäftigten nach Selbstverwirklichung und Autonomie entgegenkommen. Im Verlauf solcher Prozesse stabilisierte sich das Menschenbild der „Theory Y“. 75 76 77
78
Die Fallbeispiele umfassten Serienanfertigung (Montage), Teilfertigung (Maschinenbau), Gießerei und Kader. ASM, Neue Arbeitsformen. ASM, Neue Arbeitsformen, S. 7 und S. 173. Zunächst mit ökonomischen Argumenten äußerst zurückhaltend, plausibilisierte Ulich die neuen Arbeitsformen nach dem Kriseneinbruch Ende 1973 verstärkt auch mit dem Argument der Produktivitätssteigerung. Vgl. Eberhard Ulich, Erweiterung des Handlungsspielraums in der betrieblichen Praxis, in: IO 43 (1974), S. 6–8 Höpflinger, Industriegewerkschaften in der Schweiz, S. 151.
Vom „Berufsautomaten“ zum „flexiblen Mitarbeiter“
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Es wurde zu einer Konsenskategorie, auf die gewerkschaftliche Humanisierungsforderungen ebenso rekurrierten wie die – nach 1973/74 verstärkt einsetzenden – unternehmerischen Initiativen der Arbeitsflexibilisierung und Leistungsintensivierung.
Fazit: Von der Krise der Organisation zur Krise des Selbst? Dieser Beitrag befasste sich mit der Krise der Organisation um 1970. Von einer solchen kündete nicht nur die populärwissenschaftliche Management-Aphoristik der Zeit, mit der dieser Beitrag einsetzte. Sie kam in unternehmerischen Imperativen zur Flexibilisierung der formalen Unternehmensstruktur ebenso zum Ausdruck wie in der Krise der gewerkschaftlichen Interessenvertretung und den Forderungen nach Mitbestimmung und Demokratisierung der Wirtschaft. In ihrer Vielschichtigkeit war die Krise der Organisation ein Symptom der nachlassenden Integrationskraft des institutionellen Arrangements der Nachkriegszeit, dessen Kern das „organisierte Unternehmen“ bildete: ein national eingebettetes, von der internationalen Konkurrenz weitgehend abgeschottetes und durch funktionale Abläufe geprägtes hierarchisches Gebilde, das Unterordnung mit sozialer Aufwärtsmobilität und Rationalisierungskosten mit kollektiv vereinbarten Lohnerhöhungen zu kompensieren versprach. Dieses Arrangement geriet in den 1960er Jahren unter Flexibilisierungsdruck. Eine Funktionskrise setzte ein, die sich um 1970 zu einer Legitimationskrise verdichtete. Die eingespielten Bewältigungsroutinen griffen nicht mehr und machten Reformprozesse erforderlich, bei denen wissenschaftliche Experten eine wichtige Rolle spielten. In der Schweiz wurde diese Krise durch die gewerkschaftliche Mitbestimmungsinitiative von 1971 katalysiert und ins öffentliche Bewusstsein gehoben. Die Debatten um die Initiative öffneten hier einen Kommunikationsraum, in dem neue Argumentationsmuster ausprobiert und Verständigungsregeln ausgehandelt wurden. Nach anfänglicher Abwehr nahm sich die Arbeitgeberseite der gewerkschaftlichen Forderungen an. Sie führte die Postulate auf die (wissenschaftlich ermittelten) Bedürfnisse der Beschäftigten nach Selbstverwirklichung und Autonomie zurück und setzte die Forderungen im Epistem der amerikanischen Motivationstheorie neu zusammen. Die rhetorische Strategie, die aufgebrochenen sozialen Konflikte um Arbeit durch die Bezugnahme auf das Innenleben der Beschäftigten in innerbetriebliche Bahnen zu leiten, wurde von praktischen Initiativen flankiert, welche die „Mitbestimmung am Arbeitsplatz“ – etwa durch einen partizipativen Führungsstil, Job Enrichment oder (teil)autonome Arbeitsgruppen – auszubauen versprachen. Kritische Beobachter sprachen mit Blick auf die nämlichen Vorgänge von einer Psychologisierung von Begriffen aus der Kritik der Politischen
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Brigitta Bernet
Ökonomie: Was hier Entfremdung hieß, wurde dort als geringe Arbeitszufriedenheit ausgelegt und in ein „psychologisches Problem verwandelt, das innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise aufhebbar“ schien79 . Wie der Beitrag darüber hinaus zu zeigen versuchte, ist das Meta-Narrativ des „Wertewandels“ wenig geeignet, um den Umbau der Personallehren von der „Theory X“ zur „Theory Y“ differenziert zu beschreiben. Ein solcher Paradigmenwechsel fand um 1970 in der Tat statt, aber nicht in Harmonie mit einer allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung, sondern in konflikthaften Auseinandersetzungen und Lernprozessen, in deren Verlauf konträre Interessen und verschiedene soziale Problemlagen in eine neue Sprache übersetzt wurden, die Konsens suggerierte. Gewisse Stimmen wurden dabei rigide aussortiert. Sicherlich war der Kollektivsingular des „Wertewandels“ ein sinnkonstituierendes und konsensfähiges Interpretationselement, mit dem sich heterogene Entwicklungen nach 1975 als Bestandteile ein und desselben – gleichsam natürlichen – Prozesses homogenisieren ließen. Als analytische Kategorie der historischen Untersuchung ist die Zeitdiagnose jedoch ungeeignet, weil sie Differenzen und Widersprüchlichkeiten verdeckt. Geht man hingegen von uneinheitlichen und konflikthaften Tendenzen aus, so entsteht nicht nur eine dichtere Beschreibung der Vergangenheit. Geschärft wird auch das Sensorium für Widersprüchlichkeiten in der Gegenwart – so zum Beispiel für die ambivalenten Folgen, welche die erhöhte Wertschätzung der „persönlichen Werte“ der Beschäftigten zeitigen können. Denn was einmal im Verwertungszusammenhang des Unternehmens als Wert anerkannt ist, ist der Dialektik von Wertschätzung und Wertschöpfung ausgesetzt. Die neuen Möglichkeiten, sich verstärkt in die Arbeit einzubringen und hier eine Entfaltung der eigenen Persönlichkeit zu erleben, öffneten auch Möglichkeiten für neue Fremdzwänge. Wie die aktuellen Diskussionen um „Entgrenzung“ und „Subjektivierung von Arbeit“ deutlich machen, können die Interessenkonflikte zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, die um 1970 mit Bezugnahme auf das Innenleben der Beschäftigten gelöst wurden, dort jederzeit wieder aufbrechen. Sie als Stress, Depression oder Burnout zu verhandeln, heißt, diese Konflikte weiterhin als individuelle Probleme zu deuten, deren Behandlung ins Betätigungsfeld humanwissenschaftlicher Experten fällt80 .
79 80
Walter Volpert, Die „Humanisierung“ der Arbeit und die Arbeitswissenschaft, Köln 1974, S. 25. Vgl. z. B. Heiner Keupp/Helga Dill (Hrsg.), Erschöpfende Arbeit. Gesundheit und Prävention in der flexiblen Arbeitswelt, Bielefeld 2010.
Peter-Paul Bänziger
„Materialism is a very comfortable thing, one can’t say yes or no at once.“ Konsum und Arbeit als Leitvorstellungen in Tagebüchern um 1930 und 1960 Wie soll man sozialen Wandel im 20. Jahrhundert beschreiben? Diese Kernfrage zeitgeschichtlicher Forschung steht auch im Zentrum der Debatte über die Reichweite bestimmter Leitvorstellungen in Wirtschaft und Arbeitswelt in den 1960er und 1970er Jahren, zu der der vorliegende Band beitragen will. Während unter Werten in der Regel sich eher langsam verändernde Handlungsund Deutungsmaximen verstanden werden, beispielsweise im Zusammenhang mit den sogenannten „bürgerlichen Werten“1 , behauptet die These eines „Wertewandelschubs“, dass es innerhalb einer vergleichsweise kurzen Zeitspanne deutlich erkennbare Verschiebungen gegeben habe2 . Damit reiht sie sich in eine Serie von Narrativen ein, deren Hauptaussage darin besteht, dass sich die westeuropäischen Industriegesellschaften im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts grundlegend transformiert hätten, nicht zuletzt im Zusammenhang der „Etablierung der Konsumgesellschaft“3 . Zwar steht außer Frage, dass es in dieser Zeit zu gewichtigen Veränderungen in vielen Lebensbereichen kam. So sind im hier interessierenden Themenfeld die Forderungen nach Flexibilisierung und Deregulierung oder die zunehmende Bedeutung von Selbststeuerung und -optimierung nicht zu übersehen. Es lässt sich jedoch nur schwer abschätzen, wann, wo genau und inwieweit sich neue Formen des Arbeitens und der Bewertung von Arbeit auch wirklich durchsetzen konnten. Fast bei jedem genauer betrachteten Aspekt gibt es auch gute Gründe 1
2
3
Vgl. etwa Andreas Schulz, Bürgerliche Werte, in: Andreas Rödder/Wolfgang Elz (Hrsg.), Alte Werte – Neue Werte. Schlaglichter des Wertewandels, Göttingen 2008, S. 29–36; den Wertewandel als Wandel der Zusammensetzung des bürgerlichen Wertekanons beschreibend: Manfred Hettling, Bürgerlichkeit im Nachkriegsdeutschland, in: Manfred Hettling/ Bernd Ulrich (Hrsg.), Bürgertum nach 1945, Hamburg 2005, S. 7–37, hier insbes. S. 33f. Ich danke den beiden Herausgebern für Kritik und Hinweise sowie Li Gerhalter von der Sammlung Frauennachlässe und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Deutschen Tagebucharchivs für die Unterstützung bei den Archivrecherchen. Das Verfassen des Textes wurde durch ein Ambizione-Stipendium des Schweizerischen Nationalfonds ermöglicht. Vgl. etwa Andreas Rödder, Werte und Wertewandel. Historisch-politische Perspektiven, in: Rödder/Elz (Hrsg.), Alte Werte – Neue Werte, S. 9–25 sowie die klassische Formulierung bei Helmut Klages, Wertorientierungen im Wandel. Rückblick, Gegenwartsanalyse, Prognosen, Frankfurt a.M./New York 1984, S. 20. Rödder, Werte und Wertewandel, in: Rödder/Elz (Hrsg.), Alte Werte – Neue Werte, S. 19.
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für die Gegenthese, dass es sich um längerfristige Prozesse gehandelt habe. Viele von ihnen reichten bis ins frühe 20. Jahrhundert zurück, seien jedoch erst in den 1960er und 1970er Jahren auf breiterer Basis wahrgenommen und öffentlich thematisiert worden4 . Vor diesem Hintergrund machen die Überlegungen in der Einleitung dieses Bandes zu Recht deutlich, dass neue Ansätze für eine Zeitgeschichte arbeitsbezogener Leitvorstellungen nötig sind, die über simple Bruchthesen hinausgehen. Einen ersten Schritt dazu stellt die von den Herausgebern eingeforderte breitere Kontextualisierung zeitgenössischer sozialwissenschaftlicher Konzepte dar. Interessante Erkenntnisse dürfte für dieses Vorhaben nicht zuletzt die Analyse von bisher eher selten berücksichtigten Quellengattungen wie Unterhaltungsmedien oder Egodokumenten liefern5 . Da sie in der Regel keine Grenzen zwischen einzelnen Lebensbereiche ziehen, öffnet die Beschäftigung mit ihnen den Blick für die Frage, ob und wie bestimmte Vorstellungen zu gewissen Zeitpunkten thematisiert wurden, in welchem Kontext sie genau geäußert wurden und wie sie sich im Laufe der Zeit veränderten. Im Vergleich zur Beantwortung sozialwissenschaftlicher Fragebögen, auf deren Auswertung sich die Wertewandelthese der 1970er und 1980er Jahre maßgeblich stützte, ist die Auseinandersetzung mit allgemeinen Lebenszielen wie mit konkreten Alltagsproblemen in diesen Medien oftmals viel ausführlicher und gleichzeitig widersprüchlicher. Klare Aussagen über Veränderungen und Trends lassen sich deshalb weniger einfach formulieren als auf der Basis der vorstrukturierten – oder zumindest hinsichtlich der zur Verfügung stehenden Zeilen oder Zeit limitierten – Fragebögen. Das bedeutet nicht, dass „Egomedien“ nicht auch bestimmte Regeln vorgeben würden. Wenn dazu aber, wie im Fall von Familienbriefen und Tagebüchern, ganz wesentlich die (Selbst-)Verständigung über Lebensziele wie Alltagsprobleme gehört, handelt es sich zweifellos um Medien, die für die Frage nach der Transformation der entsprechenden Leitvorstellungen nicht unbeachtet gelassen werden sollten. Unveröffentlichte Tagebücher und Briefe bilden auch die Materialgrundlage für den vorliegenden Beitrag. Auf deren Basis gehe ich der Frage nach, was geschieht, wenn man die von den Vertreterinnen und Vertretern der Wertewandelthese als neu beschriebenen Leitvorstellungen in Quellen sucht, die vor 4
5
Vgl. u. a. Jörg Neuheiser, Arbeit zwischen Entgrenzung und Konsum. Die Geschichte der Arbeit im 20. Jahrhundert als Gegenstand aktueller zeithistorischer und sozialwissenschaftlicher Studien, in: Neue Politische Literatur 58 (2013), S. 421–448; Dietmar Süß, Stempeln, Stechen, Zeit erfassen: Überlegungen zu einer Ideen- und Sozialgeschichte der „Flexibilisierung“ 1970–1990, in: Archiv für Sozialgeschichte 52 (2012), S. 139–162; Knud Andresen/ Ursula Bitzegeio/Jürgen Mittag (Hrsg.), „Nach dem Strukturbruch“? Kontinuität und Wandel von Arbeitsbeziehungen und Arbeitswelt(en) seit den 1970er-Jahren, Bonn 2011. Vgl. dazu jüngst Janosch Steuwer/Rüdiger Graf (Hrsg.), Selbstreflexionen und Weltdeutungen. Tagebücher in der Geschichte und der Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts, Göttingen 2015.
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der Mitte der 1960er Jahre entstanden. Die im Folgenden exemplarisch analysierten Medien sind Teil eines umfangreichen Korpus aus Egodokumenten, die zwischen den 1860er und 1980er Jahren verfasst wurden. Bei den insgesamt rund 140 Verfasserinnen und Verfassern handelt es sich um Jugendliche und junge Erwachsene bis zum Alter von ca. 30 Jahren. Sie stammten aus sehr unterschiedlichen Schichten und lebten im gesamten deutschsprachigen Raum. Die im Folgenden hauptsächlich ausgewerteten Materialien sind im Deutschen Tagebucharchiv in Emmendingen respektive in der Sammlung Frauennachlässe in Wien archiviert. Es handelt sich um das kurz nach der Jahrhundertwende verfasste Tagebuch eines Leipziger Handelsreisenden, die Tagebücher einer Berliner Tänzerin aus den späten 1920er und frühen 1930er Jahren und um verschiedene Schriften dreier Schwestern, die in den späten 1950er und frühen 1960er Jahren entstanden. Von ihnen sind rund 200 Briefe und die als Tagebuch verwendeten Taschenkalender der mittleren Schwester überliefert6 . Inwiefern diese jungen Erwachsenen repräsentativ für ihre jeweilige Zeit sind, kann nicht exakt beziffert werden. Die in ihren Egodokumenten präsentierten Selbstverhältnisse sind jedoch durchaus beispielhaft für einige allgemeine Aspekte des Quellenkorpus. Darin zeigt sich nicht zuletzt, dass in den Jahrzehnten um 1900 das sich am Mäßigungsdenken und an den Bedürfnissen der familiären „Produktions- und Konsumtionsgemeinschaft“ orientierende bürgerliche Selbst durch die aufkommenden Konsum- und Arbeitsgesellschaften herausgefordert wurde. Der Mensch des 20. Jahrhunderts definierte sich zunehmend über ein leistungsorientiertes Arbeits- wie über ein konsumorientiertes Erlebnisethos. Sein Arbeitsort war der moderne Betrieb, der Rahmen seines Konsums nicht selten die romantische Zweierbeziehung oder die Kleinfamilie. In den 1960er und 1970er Jahren kam es folglich nicht zu einer Ablösung arbeitsgesellschaftlicher durch konsumgesellschaftliche Identitätsangebote, wie es das verbreitete „konsumistische“ Narrativ der zeitgeschichtlichen Forschung behauptet. Vielmehr etablierten sie sich seit dem frühen 20. Jahrhundert in einem mehr oder weniger parallelen Prozess. Ihre hauptsächlichen Trägerinnen waren die sich ausdifferenzierenden und allgemein breiter werdenden mittleren Schichten7 .
6
7
Zum Bestand vgl. auch Li Gerhalter, Bestandesverzeichnis der Sammlung Frauennachlässe am Institut für Geschichte der Universität Wien. Unter der Mitarbeit von Brigitte Semanek, Wien 2012, S. 162ff. Vgl. dazu allgemein Peter-Paul Bänziger, Von der Arbeits- zur Konsumgesellschaft? Kritik eines Leitmotivs der deutschsprachigen Zeitgeschichtsschreibung, in: Zeithistorische Forschungen 12 (2015), S. 11–38 sowie am Beispiel weiterer Egodokumente Peter-Paul Bänziger, Jenseits der Bürgerlichkeit. Tagebuch schreiben in den Konsum- und Arbeitsgesellschaften des 20. Jahrhunderts, in: Janosch Steuwer/Rüdiger Graf (Hrsg.), Selbstreflexionen und Weltdeutungen. Tagebücher in der Geschichte und der Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts, Göttingen 2015, S. 187–207, hier insbes. S. 200ff.
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Im Gegensatz zu vielen zeitgeschichtlichen Forschungen haben geschlechtergeschichtliche Arbeiten der vergangenen vier Jahrzehnte immer wieder darauf hingewiesen, dass Frauen aus dem Bürgertum und den privilegierteren Angestellten- und Arbeiterschichten schon in der ersten Jahrhunderthälfte zu konsumgesellschaftlichen Subjekten werden sollten. Dennoch blieben auch viele dieser Darstellungen nicht ganz unbeeinflusst vom konsumistischen Narrativ: „Die Frauen waren in ihrer Rolle als Konsumentinnen die Vorreiterinnen eines epochalen Wandels im 20. Jahrhundert, in dessen Verlauf der Konsumismus als Modus der kulturellen Reproduktion den bürgerlichen Lebensstil überlagerte“, argumentiert etwa Erica Carter, wobei sie unter letzterem ein nicht genauer beschriebenes Arbeitsethos versteht. Erst in der zweiten Hälfte des Jahrhundert sei dann „auch die Bedeutung einer spezifisch männlichen Konsumidentität hervorgetreten.“8 Wenn ich im Folgenden mehrheitlich Frauen das Wort gebe, geht es mir nicht darum, diese Perspektive weiter zu schreiben. Erstens lassen sich, wie ich auch im letzten Abschnitt zeige, bei männlichen Diaristen des frühen 20. Jahrhunderts konsumgesellschaftliche Selbstverhältnisse erkennen. Ein junger Grafiker aus Niederschlesien, der im August 1902 eine Stelle in Berlin antrat, beschrieb seinen ersten Arbeitstag folgendermaßen: „Ich arbeitete bis 3 1/2 durch, die eigentliche Arbeitszeit, 8 1/2 Stunden. Man kann aber auch Mittagspause machen, das ist einem freigestellt. Jetzt ging ich nach Hause, habe mich etwas ausgeruht, dann begab ich mich zu Hering, Wilhelmstraße. Hier spielte ich etwas allein Billard. Beling und Otto kamen auch hin. Nun aßen wir Abendbrot, hierauf spielten wir Billard. Darnach gingen wir zur Ferngrotte, einer Weiberkneipe in der Markgrafenstraße. Trotzdem wir uns sehr zurückhielten, kostete es uns schweres Geld. Deshalb verdufteten wir uns und gingen in das Variété Friedrichgarten, wo es ganz schön war. [. . . ] Als Schluß war, fuhren wir im Omnibus auf den Oberdeck heim. Um 12 1/2 ging ich schlafen.“ Dieses Leben führte er in den folgenden Monaten fort. Fast sein ganzes Geld – als Angestellter in einer „feine[n] Anstalt“ verdiente er vergleichsweise viel – gab er für Vergnügungen aus9 . Zweitens waren Arbeit und Selbständigkeit auch für im ersten Jahrhundertdrittel lebende junge Frauen wichtige Leitvorstellungen. So notierte etwa eine ca. 16-jährige Tochter eines Maurers aus Niederösterreich, nachdem ihr der Vater eine Ausbildung verweigert hatte: „29. Jänner 1919 trat ich aus der Schule. Den Sommer über blieb ich zu Hause und half meiner Mutter in der Wirtschaft. Im Herbst konnte ich dem Drang, mich selbst zu erhalten, nicht widerstehen und ging trotz meiner Jugend [. . . ] und trotzdem es mein Vater nicht gerne sah in 8
9
Erica Carter, Frauen und die Öffentlichkeit des Konsums, in: Heinz-Gerhard Haupt/Claudius Torp (Hrsg.), Die Konsumgesellschaft in Deutschland 1890–1990: Ein Handbuch, Frankfurt a.M./New York 2009, S. 154–171, hier S. 170. Deutsches Tagebucharchiv (DTA), Reg.-Nr. 1929, Eintrag vom 2.9.1902.
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Stellung.“ Die folgenden Jahre arbeitete sie zunächst als Näherin und Bedienstete in Wien, wo sie „als moderne[r] Mensch“ die Vergnügungen in der Stadt und im Umland genoss. Mit 20 Jahren ließ sie sich von einer Fabrik im Bodenseeraum anwerben, wo die „Arbeitsverhältnisse“ allerdings „ziemlich schlecht“ waren. Deshalb nahm sie 1926 eine Stellung als Hausmädchen in Antwerpen an. „Hier gibts Leben. Menschen aus allen möglichen Ländern u. mit allen Farben wandern im Hafen umher“, heißt es in einem der letzten Tagebucheinträge10 . Vor diesem Hintergrund gilt es zwei Dimensionen zu unterscheiden: einerseits die vergeschlechtlichende Anrufung aller „Frauen“ beziehungsweise aller „Männer“ als nur Konsumierende oder nur Arbeitende, andererseits die Tatsache, dass Geschlecht als relationale Kategorie funktioniert und die Handlungsmöglichkeiten von Einzelpersonen und Gruppen folglich nicht einfach durch ihre geschlechtliche Positionierung determiniert werden. Aus der Perspektive der Arbeitsgeschichte schreibt Karin Hausen über das Bild des Alleinernährers: „As a vision, it was accepted for many decades, in an unusually broad socio-political consensus, by men and women, the middle and working classes and members of different religions and political parties.“11 Stärker als Hausen selbst es tut, muss diese Vorstellung jedoch in ihrer Bedingt- und Begrenztheit durch konkrete historische Situationen beschrieben werden. Die Frauen und die Männer gibt es nicht. So wichtig das Aufzeigen der sozialen Konstruiertheit von Hausfrau und Mutter einerseits und Alleinernährer andererseits war, so sehr bedarf dieses Bild heute einer Differenzierung.
Eine materialistische Einstellung? Der Vater der drei 1933, 1940 und 1941 im oberösterreichischen Steyr geborenen Schwestern Elisabeth, Helga und Erika Höchhäusl war laut Angaben seiner ältesten Tochter schon in den frühen 1930er Jahren ein aktiver Nationalsozialist. Deshalb habe er nach der Ermordung von Kanzler Dollfuß die österreichische Staatsbürgerschaft verloren. Die Machtübernahme der NSDAP scheint ihm dann nach 1938 einen beträchtlichen beruflichen Aufstieg ermöglicht zu haben: Er habe einen Betrieb geleitet, in dem auch Zwangsarbeiter aus dem KZ Mauthausen arbeiten mussten. Nach dem Krieg habe er deshalb unter falschem Namen im 10
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Sammlung Frauennachlässe (SFN), NL 47, SFN, NL 47, TB, Einiges aus meinem Leben (Eintrag zu Beginn des Tagebuchs), ca. 1921; Einträge vom 15.2.1925, 29.5.1926 und 25.6.1926. Karin Hausen, Work in Gender, Gender in Work: The German Case in Comparative Perspective, in: Jürgen Kocka (Hrsg.), Work in a Modern Society. The German Historical Experience in Comparative Perspective, New York/Oxford 2010, S. 73–92, hier S. 81.
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Ausland leben müssen12 . Es ist zu vermuten, dass dies auch der Grund war, warum sich die Familie schließlich in Freiburg im Breisgau niederließ. Dort lebten die Eltern und die jüngeren drei Kinder auch knapp zehn Jahre später, am Beginn des im Zentrum der folgenden Ausführungen stehenden Zeitraums. Die beiden jüngeren Schwestern befanden sich nun in der Lebensphase zwischen Schule, Au Pair-Aufenthalten im europäischen Ausland und Berufsausbildung. Letzteres gilt auch für ihren Bruder, der jedoch in den überlieferten Quellen selten und nur als Drittperson in Erscheinung tritt. Die älteste der drei Schwestern war mit einem zunehmend erfolgreichen Unternehmer verheiratet und lebte in einer Kleinstadt in Nordrhein-Westfalen. In ihren Briefen geht es neben familiären Themen immer auch um die Arbeit und deren Bedeutung für das Leben. Sie bezahlte ihren jüngeren Geschwistern einen Teil der Ausbildung und betonte die Wichtigkeit, einen Beruf zu erlernen: „Es gibt freilich keine Bürgschaft für dauerndes Glück aber durch eine solide Berufsausbildung und anständiges Benehmen kann man vielen Schwierigkeiten ausweichen.“13 Neben ihrer Verankerung in den arbeitsgesellschaftlichen Diskursen des 20. Jahrhunderts spiegeln solche Aussagen insbesondere den Umstand, dass der Prozess der Verberuflichung von Erwerbsarbeit damals auch für Frauen weit fortgeschritten war – zumindest wenn sie, wie die Protagonistinnen dieser Geschichte, aus der Mittelschicht stammten und noch nicht verheiratet waren14 . Auf letzteres verwies Elisabeth etwa, wenn sie die Bedeutung des „Eintritts in die Familie oder das Haus des Mannes“ für einen weiblichen Lebenslauf unterstrich15 . Neben der Mitarbeit im Betrieb des Ehemannes war sie selbst als Hausfrau tätig, und ebenso sollte sich Helga später – wenn auch nur zeitweise – in ihrem Tagebuch als Ehefrau beschreiben, die abends auf den von der Arbeit zurückkommenden Mann wartet16 . Nicht nur in dieser Hinsicht wird deutlich, dass das Einhalten gesellschaftlicher Normen und Verpflichtungen eines von Elisabeths zentralen Anliegen war: Neben Berufsarbeit und Familie gehörte dazu auch die richtige Partnerwahl. Mit Helgas Absicht, einen US-Amerikaner zu heiraten, war sie deshalb 12 13 14
15 16
SFN, NL 68, Elisabeth Hergeth an Helga Hochhäusl, 8.1.1962 und 21.3.1962. SFN, NL 68, Elisabeth Hergeth an Helga Hochhäusl, 17.4.1962; vgl. auch Elisabeth Hergeth an Helga Hochhäusl, 20.2.1962, S. 1. Vgl. u. a. Céline Angehrn, Berufsbilder. Das Tableau der modernen Arbeit, in: Brigitta Bernet/Jakob Tanner (Hrsg.), Ausser Betrieb. Metamorphosen der Arbeit in der Schweiz, Zürich 2015, S. 109–123; Julia Paulus, Berufene Arbeit? Zur Berufsausbildung junger Frauen in der Bundesrepublik, in: Julia Paulus/Eva-Maria Silies/Kerstin Wolff (Hrsg.), Zeitgeschichte als Geschlechtergeschichte. Neue Perspektiven auf die Bundesrepublik, Frankfurt a.M./New York 2012, S. 119–143, hier insbes. 131ff.; Gaby Sutter, Berufstätige Mütter. Subtiler Wandel der Geschlechterordnung in der Schweiz (1945–1970), Zürich 2005. SFN, NL 68, Elisabeth Hergeth an ihre Schwester Helga H., 26.6.1963. Vgl. etwa SFN, NL 68, Tagebuch Helga Frey, Eintrag vom 19.9.1964.
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überhaupt nicht einverstanden und erging sich in einer eigentlichen Hasstirade: „[W]enn Du nur mehr einen Ausländer findest, verwitwet mit Kind, so ist das eine moralische Bankrotterklärung. Ich kann wirklich nicht verstehen, wo Du doch angenehm und mit guter Ausbildung und Garderobe versehen bist, dass Du Dir nicht einen ungebrauchten Mann findest mit richtigem Beruf wie Architekt oder Arzt oder dergleichen, in der Nähe, sagen wir Schweiz, Österreich, Deutschland oder auch Holland, jedenfalls so, dass sich noch feststellen lässt ob der Betreffende nicht Juden oder Neger oder dergleichen unter den Vorfahren hat.“ Nicht von ungefähr brachte sie in einem weiteren Brief auch ein nationalisiertes Konzept von Berufsarbeit gegen den unliebsamen Schwager in spe vor: Sie warf ihm vor, als Verkaufsleiter keinen wirklichen „Beruf “ zu haben, sondern lediglich „eine Stellung. In Deutsch heißt der Beruf ‚kaufmännischer Angestellter‘ wenn er nicht eine Ausbildung als Jurist, Volkswirt, Dolmetscher oder dergleichen hat.“ Wenn die Liebe jedoch trotz allem „nicht zu bremsen“ sei, solle sich Helga wenigstens einen guten Rechtsanwalt suchen und „einen für Dich günstigen Ehevertrag [. . . ] nach deutschem Recht“ ausarbeiten lassen17 . Abgesehen von dieser vorsichtigen Orientierung an einem „romantischen“ Liebeskonzept unterscheidet sich Elisabeth auf den ersten Blick deutlich von ihren jüngeren Schwestern, insbesondere von Erika, auf die ich gleich eingehe. Die Leitvorstellungen, vor deren Hintergrund die 1933 geborene Unternehmersfrau argumentierte, scheinen folglich auf generationelle Erfahrungen hinzudeuten, welche die beiden sieben beziehungsweise acht Jahre jüngeren Schwestern nicht mit ihr teilten: Die Sozialisierung in einer national ausgerichteten Familien- und Arbeitsgesellschaft, in der Konformität und soziale wie materielle Sicherheit hoch gehalten wurden, während die Ideenwelt des Nationalsozialismus deutlich präsent war und einem unverhohlenen Antiamerikanismus gefrönt wurde18 . Doch darin gehen Elisabeths Äußerungen nicht auf: Sie hatte eine Ausbildung als Modedesignerin absolviert und nahm für das Unternehmen des Ehemannes oft an internationalen Messen teil; nach der Heirat tauschte sie also nicht einfach das Berufsleben mit der Hausarbeit. Zugleich lassen ihre Briefe auch ein konsumgesellschaftliches Selbstverständnis erkennen: Mit zunehmendem Wohlstand flog sie zusammen mit ihrem Mann an immer entferntere Urlaubsziele. Und auf der Suche nach „Ruhe und [einem] geregelten Leben“ nahm sie allerlei Konsumangebote in Anspruch: „Diät, Massage, [. . . ] Gymnastik und all das wozu man immer zu müde ist. [. . . ] [D]erzeit fehlt mir zum wunschlos Glücklichsein 17 18
SFN, NL 68, Elisabeth Hergeth an Helga Hochhäusl, 8.1.1962, S. 1f., 20. 2. 62, S. 1 und 8.1.1962, S. 1f. Zur nationalsozialistischen Arbeitsgesellschaft vgl. aktuell Marc Buggeln/Michael Wildt (Hrsg.), Arbeit im Nationalsozialismus, München 2014; zum Amerikabild im Untersuchungszeitraum vgl. nach wie vor Axel Schildt, Moderne Zeiten. Freizeit, Massenmedien und „Zeitgeist“ in der Bundesrepublik der 50er Jahre, Hamburg 1995, Kap. 4.
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nur die Figur von früher [. . . ] aber ich werde es schon wieder hinkriegen.“19 Neben den damit verbundenen konkreten Konsumpraktiken verweist der Hinweis auf die Figur auf eine allgemeine Tendenz der Aufwertung von Aussehen und Gesundheit seit den späten 1950er Jahren. Wie Carter zeigt, wurden damals auch verheiratete Frauen nicht mehr nur als Hausfrauen und Mütter angerufen, sondern zunehmend auch als modebewusste Konsumentinnen20 . Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht, dass Elisabeth Verständnis für den Wunsch Helgas hatte, „[e]inmal weg zu kommen“, und ihr riet, sich „von SAS in ein Auslandbüro versetzen“ zu lassen. Auch sonst begegnete sie dem Modebewusstsein und den nicht nur an materiellen Zielen orientierten Lebensvorstellungen ihrer beiden jüngeren Schwestern keineswegs bloß mit Skepsis. Zeichnet sich hier also – der eben zitierte Brief stammt aus dem Jahr 1962 – ein Wandel an Elisabeths Wertehimmel ab? Tatsächlich schrieb sie ein Jahr später an Helga: „Wenn Du mir auch immer materialistische Einstellung anmutest, bin ich doch der Ansicht, daß [. . . ] es das wichtigste ist, daß Du etwas für Deine Gesundheit tust, wichtiger als etwa ein Service oder dergleichen zu verdienen.“21 Auch ihrer jüngsten Schwester Erika finanzierte sie eine Ausbildung als Modedesignerin, die mehr ermöglichen sollte, als lediglich die materiellen Bedürfnisse längerfristig zu befriedigen.
Karriere, Konsum und Abenteuerlust In ihren ersten Briefen an ihre ein Jahr ältere Schwester befand sich Erika noch in der Lehre als Schneiderin. Schon hier beschrieb sie sich als unabhängige junge Frau, die allerlei Pläne hat und sich weder vom Vater noch vom Freund davon abhalten lässt. Wie Helga einige Jahre zuvor, wollte sie nach der Lehre zunächst als Au Pair im Ausland arbeiten. Die Art und Weise, wie sie ihre Pläne beschrieb, ist bezeichnend für ihren Schreibstil und – will man ihren Selbstdarstellungen wie den Mahnungen der beiden älteren Schwestern glauben – ihrer Lebenseinstellung ganz allgemein: „[I]m April geht es rund. Wenn ich wiederkomme bin ich 18, dann gehe ich in die Franz. Schweiz, Geld verdienen, Sprachen lernen. Nach Weihnachten etwa, nach Frankreich, dann im Herbst Schule u. nachher Geld scheffeln. Kann es noch nicht richtig glauben, daß ich 19 20
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SFN, NL 68, Elisabeth Hergeth an Helga Hochhäusl, 26.10.1962. Vgl. Erica Carter, How German Is She? Postwar West German Reconstruction and the Consuming Woman, Ann Arbor 1997, Kapitel 6; vgl. auch Detlef Siegfried, Rote Lippen soll man küssen. Deutungen europäischer Schönheitspraktiken um 1960, in: Themenportal Europäische Geschichte (2013), http://www.europa.clio-online.de/2013/Article=659. SFN, NL 68, Elisabeth Hergeth an Helga Hochhäusl, 8.1.1962, S. 1 und 1.4.1963, S. 2.
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wirklich aus dem Kaff [Freiburg im Breisgau; pb] herauskomme.“ Obwohl sie trotz eifriger Bemühungen keine Stelle in Aussicht hatte, beschloss sie im Juni 1959, „den Nachtzug nach [zu] Paris nehmen u. auf gut Glück wegfahren. [. . . ] Bin jedoch sehr optimistisch.“22 In Paris angekommen, verdiente sie ihren Lebensunterhalt zunächst als Näherin. Zusätzlich wurde sie von den beiden älteren Schwestern finanziell unterstützt. Im Herbst 1959 begann sie, wie sie stolz berichtete, an jener Modeschule zu studieren, die der fünf Jahre ältere Yves Saint Laurent kurz davor besucht hatte23 . Als sie die Schule im darauf folgenden Sommer verließ, nahm sie eine Stelle bei der 1952 gegründeten und schon sehr erfolgreichen Haute-Couture-Firma Givenchy an. Endlich verdiente sie genügend Geld, um von den Schwestern unabhängig zu sein. Während der ganzen Zeit beschrieb sie sich als arbeitsame Person und „richtige Streberin“. Oft nähte sie bis spät in die Nacht hinein und auch morgens im Pendlerzug ging sie schon wieder einer Arbeit nach. So hatte sie, wie sie berichtete, nicht einmal Zeit, das schöne Spätsommerwetter zu genießen und baden zu gehen24 . Vor dem Hintergrund dieses ausgeprägten Arbeitsethos könnte man sie als Vertreterin einer materialistischen Werthaltung beschreiben, die den im vorangehenden Absatz geschilderten jugendlichen Übermut schon in frühen Jahren ablegte. Altklug riet sie denn auch ihrer Schwester: „Bleibe mit den Füßen auf der Erde u. erarbeite Dir Deine bessere Zukunft.“ Und mit ähnlichen Worten beschrieb sie auch den eigenen Arbeitsalltag: „Die tägliche Arbeit u. am Wochenende das Geld, ist doch ganz was anderes als die Schule u. die vage Unsicherheit was kommen wird.“25 Doch wie passen dazu die Karrierepläne, die sie ständig vor ihren Schwestern ausbreitete, und bei denen es keineswegs nur um die längerfristige Sicherung eines guten Verdienstes oder einer angesehenen gesellschaftlichen Stellung ging? Und was bedeutet es, wenn sie „etwas verrückt modernes nähen“ wollte oder über Helgas damaligen Freund, der auf einem Schiff arbeitete, mit bewundernden Worten bemerkte: „Eigentlich ist Er ja zu beneiden, daß Er soviel sieht u. dabei noch verdient“26 ? Einerseits suchte sie „Abwechslung“ am Arbeitsplatz und begrüßte es, „selbständig [zu] arbeiten“, sofern man dazu auch richtig vorbereitet werde. Folgerichtig war der Besuch von Kunstausstellungen, Theaterabenden und Museen für sie eher ein Mittel, „Ideen u. Geschmack für unseren Beruf zu schöpfen“, als dass sie danach strebte, eine bildungsbürgerliche Norm zu erfüllen27 . Solche Aussagen von Arbeitnehmerinnenseite sind nicht zuletzt vor dem Hintergrund 22 23 24 25 26 27
SFN, NL 68, Erika an Helga Hochhäusl, 23.2.1959, S. 6f. und 13.6.1959, S. 2. SFN, NL 68, Erika an Helga Hochhäusl, 31.1.1960, S. 4. SFN, NL 68, Erika an Helga Hochhäusl, 26.9.1959, S. 3, 21.1.1960 und 12.9.1959, S. 8. SFN, NL 68, Erika an Helga Hochhäusl, 21.8.1959, S. 3f. und o.D. [August 1960], S. 2f. SFN, NL 68, Erika an Helga Hochhäusl, 2.9.1960, S. 6 und 31.1.1960, S. 4. SFN, NL 68, Erika an Helga Hochhäusl, 22.9.1960, S. 2, 4.7.1959, S. 1f. und 26.9.1959, S. 5.
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der arbeitswissenschaftlichen Debatten jener Zeit zu sehen, in denen es etwa um „Persönlichkeitsentfaltung“, „Verantwortungsbereitschaft“ und „Mitwirkung“ ging. Über die Förderung der Einzelperson durch die Unternehmensleitung sollte damit den Forderungen der Gewerkschaften nach „Demokratie“ und „Mitbestimmung“ der Boden entzogen werden. Auch wenn diese Themen erst in den 1960er und 1970er Jahren zu einem breit verhandelten Politikum werden sollten, gehen die Anfänge der Debatten auf die frühen 1950er Jahre zurück, wie Sabine Donauer zeigt28 . Andererseits sollte die Arbeit in den Augen Erika Hochhäusls nicht nur als Tätigkeit erfüllend sein, sondern auch weiteren Leitvorstellungen genügen. Englisch zu lernen sei eine Bedingung, so schrieb Erika im Spätsommer 1960, um in einer großen „internationalen“ Metropole wie Hamburg „in einem großen Stadtgeschäft eingestellt [zu] werden.“ Dass es ihr dabei nicht nur um die möglicherweise spannendere Arbeit für eine großstädtische Kundschaft ging, zeigen ihre Briefe immer wieder: Mindestens ebenso ausschlaggebend waren ihre „Abenteuerlust“ und der Wunsch, „noch so vieles [zu] Erleben“. Wenn das Geld nicht reiche, erklärte sie etwa im Sommer 1960, werde sie ihre Urlaubsziele halt per „AutoStop“ erfüllen29 . Deutlich wird diese Lebenseinstellung nicht zuletzt in ihren Bemerkungen zu Liebe, Beziehungen und Ehe: „Schau Du bist jetzt 20 Jahre alt,“ versuchte sie Helga von einer frühen Heirat abzuraten, „also noch herrlich jung u. noch viel Erfolge u. Schönes vor Dir, wenn es auch mit Arbeit u. kleineren Enttäuschungen verbunden sein soll. [. . . ] Bei einem einfachen Mädchen, daß weder Ziele noch Beruf u. große Chancen hat, könnte ich es eher vorstellen.“ Auch wenn sie selbst, zumindest in den ersten Briefen, eine spätere Heirat durchaus in Betracht zog, fürchtete sie sich vor dem Verlust an Unabhängigkeit und vor der Monotonie, die diese unweigerlich mit sich bringe: „Aber warum soll man nicht versuchen so hoch wie nur möglich hinauszukommen. Liebe, dieses Wort ist ja ganz gut. Aber auch ‚wahre‘ Liebe verlöscht einmal oder zerfällt mit den Jahren langsam in Asche. Und dann bleibt die viele Arbeit, Kinder . . . u. die Sehnsucht nach Kleidern, Annehmlichkeiten kurzum nach dem ‚besseren Leben‘.“30
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29 30
Vgl. Sabine Donauer, Job Satisfaction statt Arbeitszufriedenheit: Gefühlswissen im arbeitswissenschaftlichen Diskurs der 1970er Jahre, in: Pascal Eitler/Jens Elberfeld (Hrsg.), Zeitgeschichte des Selbst. Therapeutisierung – Politisierung – Emotionalisierung, Bielefeld 2015, S. 343–371, hier S. 351ff.; vgl. auch Barbara Duden, Kontinuität oder Epochenbruch? Zeitenwende oder geschichtliche Schwelle? Zur Zeitgeschichte der Integration der häuslichen Ökonomie von Frauen in die formelle Ökonomie, in: L’Homme. Z.F.G. 25 (2014), S. 103–120; Karsten Uhl, Humane Rationalisierung? Die Raumordnung der Fabrik im fordistischen Jahrhundert, Bielefeld 2014, insbes. Kap. 7. SFN, NL 68, Erika an Helga Hochhäusl, 29.8.1960, S. 4 und S. 8, 21.8.1959, S. 3, 21.1.1960, S. 2 und 16.2.1960, S. 4. SFN, NL 68, Erika an Helga Hochhäusl, 26.5.1960, S. 2 und 4.7.1959, S. 3.
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Wie das Zitat deutlich macht, lagen die konkreten Ziele, die sie sich neben Arbeit und Karriere für ihr Leben setzte, vor allem auch im Genuss vielfältiger Konsumerlebnisse. Wichtig war ihr auch ein gutes Aussehen, wobei sie sich an den internationalen Ess- und Modetrends orientierte31 . Als „deutsch“ beschrieb sie dagegen zwei Mädchen aus ihrer Heimatstadt Freiburg, die sie für kurze Zeit in Paris beherbergte: „Ungeschminkt, dick, Taille, Hüften alles eine Breite, flache Schuhe, 5 Koffer, Musikinstrument u. saudumme Fragen.“32 Auf die konsumgesellschaftlichen Werte Erikas verweist aber auch ein Hinweis auf ihre Lohnvorstellungen, in dem sie eine durchaus selbstbewusste, instrumentelle Haltung gegenüber der Arbeit einnimmt: Dank der guten Wirtschaftslage brauche sie keine Angst zu haben, eine Stelle zu finden. Unter „180–200 DM monatlich“ werde sie nicht arbeiten. „Denn ausgenützt wirst Du so oder so u. wenn, dann wenigstens für Geld.“ Eine ähnliche Einstellung wird erkennbar, als sie einmal Pumps kaufte und sich erst danach um Arbeit kümmern wollte, um diese auch bezahlen zu können33 . In vielerlei Hinsicht verweisen Erikas Briefe also auf Vorstellungen, die man in der Wertewandeldebatte zehn Jahre später mit Begriffen wie „Selbstentfaltungswerte“ zu fassen suchte: das Betonen von erfüllender Arbeit und Lebensqualität inner- wie außerhalb der Arbeit anstelle der Orientierung an materiellem Wohlstand, politischer Stabilität und festen Normen34 . „Glaubst Du daß ein einfaches, zufriedenes Leben glücklicher macht als ein wohlhabendes, gehetztes u. innerlich leeres?“, fragte die junge Frau einerseits rhetorisch. Und an einer anderen Stelle schrieb sie, dass „[j]eder [. . . ] seinen Weg alleine gehen“ müsse35 . Genauso explizit grenzte sie sich andererseits schon früh vom Vorschlag einer Tante ab, in einer örtlichen Fabrik ein gutes Auskommen zu finden: „Sie könne nicht verstehen, daß ich in die Schweiz gehe, ich könnte doch in der ‚Intermetall‘ arbeiten, hätte meine Freizeit u. wöchentlich mein gutes Geld. Ich vergaß zu sagen ‚Intermetall‘ ist eine Feinmechanik-Fabrik. Also bei Ihr werde ich nicht viel Verständnis finden.“36 Eine Postmaterialistin also am Beginn des Wertewandels? Ja und nein. Ja, weil sie verschiedene mit diesem Begriff verbundene Werte teilte. Nein, weil sie 31 32 33 34
35 36
Vgl. SFN, NL 68, Erika an Helga Hochhäusl, 19.9.1959, S. 4, 29.8.1960, S. 2 und 12.7.1960, S. 2. SFN, NL 68, Erika an Helga Hochhäusl, 29.8.1960, S. 9. SFN, NL 68, Erika an Helga Hochhäusl, 19.5.1959, S. 1 und 3.11.1959, S. 2. Vgl. die Übersicht bei Andreas Rödder, Vom Materialismus zum Postmaterialismus? Ronald Ingleharts Diagnosen des Wertewandels, ihre Grenzen und ihre Perspektiven, in: Zeithistorische Forschungen 3 (2006), S. 480–485; zum Begriff der Lebensqualität vgl. Patrick Kury, Vom physiologischen Stress zum Prinzip „Lebensqualität“: Lennart Levi und der Wandel des Stresskonzepts um 1970, in: Body Politics 1 (2013), S. 119–137. SFN, NL 68, Erika an Helga Hochhäusl, 24.7.1959, S. 5 und 31.5.1959, S. 6. SFN, NL 68, Erika an Helga Hochhäusl, 31.5.1959, S. 6 und o.D. [Anfang Juni 1959], S. 6.
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durchaus auch materialistische Ziele verfolgte. In Ronald Ingleharts schematischer Darstellung des zeitgenössischen Wertespektrums wäre sie also einer der „mixed categories“ zuzuordnen37 . Man könnte daraus folgern, dass ein Wandel von Leitvorstellungen, zumindest in bestimmten sozialen oder geographischen Kontexten, schon einige Jahre früher einsetzte, als es die klassischen Darstellungen aus den 1970er und 1980er Jahren behaupteten38 . Die Wertewandelthese wäre also bezüglich ihrer Chronologie zu differenzieren und anstelle eines Schubs oder „fundamental change“39 von einem längerfristigen Prozess seit den 1950er Jahren auszugehen. In ihren inhaltlichen Grundaussagen aber scheint sie sich zu bestätigen: An den Briefen und Tagebüchern der drei Schwestern lässt sich erkennen, dass die mit „postmaterialistisch“ umschriebenen Wertvorstellungen in den späten 1950er und frühen 1960er Jahren ein Identitätsangebot darstellten, das zumindest für junge Frauen aus den Mittelschichten attraktiv war. Aber bedeutet das auch, dass diese Wertvorstellungen damals gänzlich neu waren und zunehmend an Bedeutung gewannen? Verweisen die Lebensziele der ältesten der drei Schwestern wirklich auf generationsspezifische Sozialisationserfahrungen, die sie stärker mit Selbstverhältnissen der ersten Jahrhunderthälfte als mit jenen ihrer jüngeren Schwestern verbanden? Und würde daraus auch folgen, dass materialistische Einstellungen und ein leistungsorientiertes Arbeitsethos in der Zeit danach durch andere Leitvorstellungen ergänzt und schließlich verdrängt wurden? Einige Aspekte einer Genealogie „postmaterialistischer“ Werte vor den 1950er und 1960er Jahren skizziere ich im abschließenden Abschnitt anhand von Tagebüchern aus der Zeit nach der Jahrhundertwende beziehungsweise aus den späten 1920er und frühen 1930er Jahren. Die Frage nach Veränderungen seit der Mitte der 1960er Jahre hingegen muss auf der Basis der hier ausgewerteten Quellen offen bleiben. Zumindest unterstützen Erika Hochhäusls Briefe aber die für die Zeit des angeblichen Wertewandelschubs aufgestellte These Helmut Klages, „daß die Pflicht- und Akzeptanzwerte und die Selbstentfaltungswerte [. . . ] ohne weiteres auch gemeinsam zu- und abnehmen und somit in eine ‚positive‘ Beziehung einzutreten vermochten.“ Ob dies jedoch lediglich „im Einzelfall“ zutraf, während die beiden Gruppen von Werten „tendenziell in einer ‚negativen‘ Beziehung standen“40 , wie Klages annahm, ist zumindest fraglich – nicht zuletzt angesichts der in diesem Band präsentierten Forschungsresultate41 . 37
38 39 40 41
Vgl. Ronald Inglehart, The Silent Revolution. Changing Values and Political Styles Among Western Publics, Princeton 1977, S. 29; vgl. auch Klages, Wertorientierungen im Wandel, S. 22ff. Vgl. etwa Klages, Wertorientierungen im Wandel, S. 17. Inglehart, The Silent Revolution, S. 18. Klages, Wertorientierungen im Wandel, S. 23. Vgl. auch Jörg Neuheiser, Postmaterialismus am laufenden Band? Mitbestimmung, Demokratie und die „Humanisierung der Arbeitswelt“ in den Konflikten zwischen „plakat“Gruppe und IG Metall bei Daimler-Benz in Untertürkheim, in: Knud Andresen/Michaela
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Eine Geschichte von Wertvorstellungen in den Konsumund Arbeitsgesellschaften des 20. Jahrhunderts Wie also sieht es aus, wenn wir weiter in die Vergangenheit zurückschauen? Eine eindrückliche Quelle für die Beantwortung dieser Frage sind die Tagebücher der 1911 in Berlin geborenen Marga Samletzky. Zwischen 1926 und 1934 berichtete sie oft täglich, manchmal auch mit monatelangen Abständen von ihrer Lehrzeit als Tänzerin in verschiedenen Berliner Varietés und Vergnügungspalästen sowie von ihren zahlreichen „Abenteuern“ mit Männern und gelegentlich auch Frauen. Schon früh lernte sie, wie wichtig im Tanzgeschäft die Arbeit am eigenen Körper ist. Der ersehnte Erfolg, so musste sie jedoch zugleich erkennen, ruhte nicht allein auf dem künstlerischen Können, sondern auch auf der Fähigkeit, sich zu verkaufen. Für die entsprechende Garderobe benötigte sie nicht zuletzt ein beträchtliches Startkapital, das ihre zwischen Arbeitslosigkeit und kleingewerblichen Tätigkeiten hin und her wechselnden Eltern nicht aufbringen konnten. Die Hoffnung, dass ein Mäzen in die Bresche springen würde, erfüllte sich nicht. Stattdessen schrieb sie im Winter 1931: „Ich muss direkt lachen wie ich mir früher gedacht habe, wenn ich Geld habe, Kostüme usw. Heute stehe ich auf dem Standpunkt erst Tanz, gutes Aussehen (respektive Note), dann Kostüme. Und ich werde hiermit weiterkommen [. . . ]. Werde ich zu etwas bringen?“42 Ob im Beruf oder bei den Männern: Worte wie „Erfolg“ oder „Unternehmungsgeist“ sind ständige Gäste in Samletzkys Tagebuch. Auch wenn der Begriff selbst nicht vorkommt, spiegelt sich darin deutlich der zeitgenössische Leistungsdiskurs. Wie Nina Verheyen argumentiert, waren gerade Mittelklassenangehörige dessen hauptsächliche Trägerinnen und Träger. Mit dem damit verbundenen meritokratischen Selbstverhältnis hätten sie sich vom Bürgertum des 19. Jahrhunderts und dessen Mäßigungsethos abgrenzen können43 . In ihrer Studie zur Geschichte der Berufsberatung für Mädchen weist Sylvia Rahn zudem darauf hin, „daß sich nicht nur die männlichen, sondern auch die weiblichen Jugendlichen in den 1920er Jahren mit dem Anspruch an eine ‚individualisierte Lebensführung‘
42 43
Kuhnhenne/Jürgen Mittag/Johannes Platz (Hrsg.), Der Betrieb als sozialer und politischer Ort. Studien zu Praktiken und Diskursen in den Arbeitswelten des 20. Jahrhunderts, Bonn 2015, S. 99–114; ders., Vom bürgerlichen Arbeitsethos zum postmaterialistischen Arbeiten? Werteforschung, neue Arbeitssemantiken und betriebliche Praxis in den 1970er Jahren, in: Jörn Leonhard/Willibald Steinmetz (Hrsg.), Semantiken von Arbeit im internationalen Vergleich, Köln [erscheint 2016]. DTA, Reg.-Nr. 1864, Eintrag vom 1.2.1931. Vgl. Nina Verheyen, Bürgerliches Leistungsethos? Geschichtswissenschaftliche Korrekturen einer irreführenden Formel, in: Denis Hänzi/Hildegard Matthies/Dagmar Simon (Hrsg.), Erfolg. Konstellationen und Paradoxien einer gesellschaftlichen Leitorientierung, BadenBaden 2014, S. 45–61; dies., Unter Druck. Die Entstehung individuellen Leistungsstrebens um 1900, in: Merkur 66 (2012), S. 382–190.
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‚jenseits von Stand und Klasse‘ konfrontiert sahen, und zwar unabhängig davon, ob die notwendigen Ressourcen zur Einlösung dieses Anspruches verfügbar waren.“44 Dies ist jenen Darstellungen entgegen zu halten, durch die die 1920er Jahre vor allem als erstes Jahrzehnt einer wenig differenzierten „Massenkultur“ in die Geschichte eingingen45 . Auch Samletzky thematisierte die strukturellen Hindernisse der Klassengesellschaft immer wieder. Nicht zuletzt wird dies in den Beschreibungen des Lebens ihres Vaters erkennbar: „Vati hat viel zu arbeiten aber wie üblich kein Geld zu kriegen.“ Sie selbst dagegen träumte immer wieder davon, reich zu sein: „Wenn man Geld hat und keine Sorgen und nicht krank ach wie himmlisch wäre das Leben aber so nee.“ Oft finden sich deshalb in ihrem Tagebuch Bemerkungen über (erhoffte) Beziehungen zu wohlhabenden und einflussreichen Männern. Der Leistungsdiskurs eröffnete ihr aber zugleich die Möglichkeit wie die (Selbst-) Verpflichtung, an sich zu „arbeiten“ und sich zu „entwickeln“, wie sie immer wieder betonte: „Manchmal streite ich mich im innern und sage, die Unschuld gibt Dir nichts, also wenn ich einen reichen Kerl finden würde der mir viel Geld gibt usw. sage ich ja. Und dann ein anderes mal sage ich, Du bist Wahnsinnig dann würdest Du so sein wie die anderen alle. [. . . ] [A]rbeite tüchtig, dann kannst Du dir alles alleine anschaffen, zwar ist das schwer, anders wäre es leichter und Du bist frei und unabhängig.“46 Zugleich bemerkte sie in zahlreichen Einträgen, dass sie in ihrem Leben nicht nur künstlerischen und gesellschaftlichen Erfolg haben und materiellen Wohlstand erreichen, sondern vor allem auch möglichst viel erleben wolle: „Und jetzt bin ich unzufrieden, das ich noch nicht viel erlebt habe, andere haben in meinem Alter viel mehr erlebt, Ja ich möchte viel erleben.“ Wie bei Erika Hochhäusl könnte man solche Aussagen dahingehend interpretieren, dass sie lediglich eine Lebensphase beschreiben, die mit der Ehe ein Ende finden wird. Tatsächlich finden sich in Samletzkys Tagebuch zahlreiche Äußerungen, die in diese Richtung weisen. „Mutter sein und ganz für das Kind und den Mann aufgehen,“ schrieb sie einmal, „ach ganz himmlisch muß das sein.“47 Diesen Weg wählte sie jedoch nicht. Vielmehr machte sie eine ansehnliche Tanzkarriere, unter anderem war sie als Solotänzerin im Berliner Admiralspalast tätig. 2008 starb sie im hohen Alter von fast 97 Jahren. Geheiratet hat sie hingegen nie48 . 44 45 46 47 48
Sylvia Rahn, Die Karrierisierung des weiblichen Lebenslaufs, Frankfurt a.M. 2001, S. 258. Kritisch dazu jüngst auch Moritz Föllmer, Individuality and Modernity in Berlin. Self and Society from Weimar to the Wall, Cambridge 2013, Teil I. DTA, Reg.-Nr. 1864, Einträge vom 25.2.1929, 4.1.1929 und 3.2.1931. DTA, Reg.-Nr. 1864, Einträge vom 21.12.1930 und o.D (Ende 1931). Dora Winkelmann, Margarete Gertrud Samletzky (Geb. 1911). Ein Leben – war plötzlich da und soll jetzt wieder weg, fünf Euro, wer es haben will, in: Der Tagesspiegel, 25.7.2008, http://www.tagesspiegel.de/berlin/nachrufe/margarete-gertrud-samletzky-geb1911/1286364.html (zuletzt am 3.9.2015).
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Vielleicht nicht ganz von ungefähr handelt es sich bei Samletzky wie bei Erika Hochhäusl um Vertreterinnen künstlerischer Berufe, für deren Auskommen konsumgesellschaftliche Strukturen und großstädtische Umgebungen unabdingbar sind. Ich möchte deshalb nicht behaupten, dass ein solches Leben für alle Menschen der 1920er und 1930er beziehungsweise der 1950er und 1960er Jahre gleichermaßen möglich und erstrebenswert gewesen wäre. Der Berliner Tänzerin war diese Sonderstellung durchaus bewusst: „Andere Mädchen sind in der Schule pauken nachher ins Büro, was hat solch ein Mädel? Ich sehe viel, lerne viel Menschen kennen, hab Erfolg verdiene viel Geld, alle sind nett zu mir, na, amüsiere mich viel bin häufig verliebt (leider).“49 Wie nicht zuletzt die klassische Wertewandelforschung betonte, lösten sich solche Unterschiede auch in den 1970er Jahren nicht einfach auf. Vielmehr, so Klages, hätten sie sich teilweise wieder akzentuiert50 . Wichtig ist deshalb die Feststellung, dass die Identitätsangebote, an denen sich die hier porträtierten Tagebuch- und Briefeschreiberinnen orientierten, in ihren Grundzügen schon in der ersten Jahrhunderthälfte erkennbar waren. Die entscheidenden Weichen, so die These, wurden nicht in den 1960er und 1970er Jahren gestellt, sondern bereits um die Jahrhundertwende. Hier begann sich die an der Ausbeutung von Ressourcen und Arbeitskraft orientierte Gesellschaft der Industrialisierungszeit in jene Konsum- und Arbeitsgesellschaft zu transformieren, deren Konturen in den 1920er Jahren vor allem – aber nicht nur – in Großstädten sichtbar waren, und die durch Krisen und Krieg zwar Unterbrüche und Transformationen, aber keinen nachhaltigen Bruch erfahren sollte51 . In einem ähnlichen Sinne argumentiert Moritz Föllmer in seiner Studie zur „Individualität“ in der Großstadt Berlin, dass der Nationalsozialismus eher „through the prism of a distinct form of modern individuality“ zu verstehen sei denn lediglich als „collectivist ideology“. Keine Regierung der 1920er bis 1950er Jahre habe es sich dauerhaft leisten können, die Erfahrungen und Erwartungen breiter Kreise aus den Arbeiter- und Mittelklassen einfach zu ignorieren. Neben dem Ideal der Häuslichkeit und der Sicherheit des Arbeitsplatzes hätten dazu insbesondere auch die außerordentlichen Erlebnisse der Konsumgesellschaft und die Aussicht auf beruflichen Erfolg gehört52 . Aufstieg im Betrieb und das Genießen der Freuden der beginnenden Konsumgesellschaft zählen auch zu den Leitmotiven im Tagebuch Willy Neubauers, dem 1885 geborenen Sohn einer Wäscherin und eines früh verstorbenen Drechslers, Instrumentenmachers und „Quartalssäufers“ aus der „Weltstadt Leipzig“. Indem er „tüchtig“ gearbeitet habe und durch „fleißiges Üben in den Handelsfä49 50 51 52
DTA, Reg.-Nr. 1864, Eintrag vom 3.9.1928. Vgl. etwa Klages, Wertorientierungen im Wandel, S. 123ff. Vgl. dazu Bänziger, Von der Arbeits- zur Konsumgesellschaft? Föllmer, Individuality and Modernity, insbes. Teil II (Zitat S. 1).
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chern“, schrieb er als 21-jähriger, sei es ihm gelungen, „meine jetzige Stellung zu erreichen. Bis zum Juli 1905 hatte ich nur Kontorarbeiten auszuführen, seit dieser Zeit bin ich jetzt zum Reisenden aufgerückt, nachdem man mein ‚Talent‘ zum Anpreisen der Waren ‚entdeckt‘ hatte. Wenn ich heute so an meinen Aufschwung zurück denke, erfüllt es mich mit rechter Freude, in welche sich auch ein wenig Stolz oder Selbstbewußtsein mischt.“53 Es ist vielleicht nicht ganz unbedeutend, dass der Begriff Talent hier in Anführungszeichen auftaucht: Neubauer führte seine Karriere auf Tüchtigkeit und Fleiß zurück, also gerade nicht auf jene angeborene Fähigkeit zum genialen Werk, nach dem sich Teile des Bildungsbürgertums seit dem 19. Jahrhundert gesehnt hatten54 . Mit Roman Rossfeld lassen sich Handelsreisende wie Neubauer deshalb als Verkörperungen eines neuen Arbeitsethos beschreiben, das erfolgreiches Verkaufen nicht mehr als angeborene Kunst, sondern als erlernbare Technik betrachtete55 . Neben diesem selbstbewussten Leistungsethos lässt Neubauers Tagebuch erkennen, dass er konsumgesellschaftlichen Vergnügungen in der „freien Zeit“ genauso wenig abgeneigt war. In den vergangenen Monaten, schrieb er im Oktober 1906, sei er morgens oft in den Garten seines zukünftigen Schwiegervaters gegangen, wo er „tüchtig mitgeholfen habe“. Ein paar Zeilen weiter unten ergänzte er: „Gegen diese Beschäftigung ließe sich also nichts einwenden und gegen die des Nachmittags noch viel weniger.“ Dann gehe er jeweils zusammen mit seiner geliebten Toni spazieren oder besuche „des Abends irgendein hübsches Konzert. Auch gehen wir ziemlich oft ins Theater“. Anlässlich dieser Spaziergänge gingen sie etwa „über die Waldschänke – wo wir im Garten Kaffee tranken. [. . . ] Abends zurück von Dölitz nach der Taberna gefahren und dort hübsch zu Abend gegessen und getrunken. Wir waren sehr fröhlich zusammen. Unterwegs von allem möglichen geplaudert. Zukunftspläne geschmiedet, vom Heiraten gesprochen und so fort.“ Zu Weihnachten 1908 bekam er von Toni „einen schönen Persianerkragen; ich schenkte ihr goldene Uhr mit Kette“. Und dass er für seine „8 Tage Ferien“ im Sommer desselben Jahres „vom Chef am letzten Arbeitstage ein Ferienzuschuß“ bekommen hatte, unterstreicht schließlich einmal mehr die enge Verschränkung von arbeits- und konsumgesellschaftlichen Phänomenen um die Jahrhundertwende56 . Zugleich sind die Unterschiede zu den bisher beschriebenen Egodokumenten deutlich zu sehen. Zum einen wird das Leistungsethos in Neubauers Tagebuch 53 54
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DTA, Reg.-Nr. 3151.1, Einträge vom 18.7.1906 und 23.9.1906. Vgl. dazu etwa Bernd Blaschke, Das nennen Sie Arbeit?! Produktivitätsdiskurse der Bohème vom 19. bis zum 21. Jahrhundert, in: Nicole Colin/Franziska Schößler (Hrsg.), Das nennen Sie Arbeit? Der Produktivitätsdiskurs und seine Ausschlüsse, Heidelberg 2013, S. 245–266. Roman Rossfeld, „Kundschaft ist kein Erbgut“. Handelsreisende im Spiegel der modernen Ratgeberliteratur, 1880 bis 1960, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 2 (2014), S. 154–178. DTA, Reg.-Nr. 3151.1, Einträge vom 12.10.1906, 27.11.1906 und 10.6.1909.
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hauptsächlich über Pflichtwerte wie Tüchtigkeit und Fleiß konturiert. Dazu passt zum anderen auch, dass die Suche nach besonderen Erlebnissen fehlt. Die Entwicklung seiner Persönlichkeit oder gar eine therapiegeleitete Selbstentfaltung57 lag dem jungen Leipziger Handelsreisenden genauso fern wie dem eingangs zitierten Berliner Grafiker. Dennoch finden sich in solchen Egodokumenten aus der Zeit der Jahrhundertwende wichtige Aspekte der Selbstverhältnisse einer Marga Samletzky oder der Schwestern Hochhäusl: die Kombination konsumund arbeitsgesellschaftlicher Identitätsangebote und nicht zuletzt auch die spezifischen Kommunikationsformen des Tagebuchs und des Familienbriefs. Im Unterschied zu deren Gebrauch in bürgerlichen Familien des 19. Jahrhunderts dienten diese Medien nun immer seltener der Überwachung der Entwicklung von Jugendlichen. Stattdessen wurden sie zum Medium der Verständigung unter Gleichaltrigen und der Selbstführung, zu deren Leitvorstellungen später auch die Selbstentfaltung gehören würde58 .
Fazit Die vier jungen Frauen sollten deshalb nicht einfach vor dem Hintergrund der Wertewandelthese graduell als Vertreterinnen älterer Werte (wie im Fall von Elisabeth Hergeth) oder als gemischte Typen (wie bei Erika Hochhäusl und Marga Samletzky) bewertet werden. Vielmehr lassen sie sich als unterschiedliche Subjekttypen beschreiben, die alle in den Konsum- und Arbeitsgesellschaften des 20. Jahrhunderts möglich wurden. Innerhalb dieses Rahmens gab es selbstverständlich verschiedene Rekonfigurationen, die es weiter zu untersuchen gilt. Einen grundlegenden Wandel in den 1960er und 1970er Jahren sehe ich hingegen nicht. „Materialism“, brachte Helga Hochhäusl in ihrem Tagebuch die gleichermaßen widersprüchlichen wie komplementären Angebote der Konsumund Arbeitsgesellschaften auf den Punkt, sei „a very comfortable thing, one can’t say yes or no at once.“ In englischer Sprache schrieb sie, weil sie sich im Hinblick auf den beruflichen Aufstieg weiterbilden wollte. Zugleich ermöglichten ihr die Sprachkenntnisse, sich in der Konsumgesellschaft zu bewegen und bei einem Glas Cognac „good american Jazz“ zu hören59 . 57
58 59
Vgl. dazu Maik Tändler/Uffa Jensen (Hrsg.), Das Selbst zwischen Anpassung und Befreiung. Psychowissen und Politik im 20. Jahrhundert, Göttingen 2012; Sabine Maasen/Jens Elberfeld/Pascal Eitler/Maik Tändler (Hrsg.), Das beratene Selbst. Zur Genealogie der Therapeutisierung in den „langen“ Siebzigern, Bielefeld 2011; Peter-Paul Bänziger/Stefanie Duttweiler/Philipp Sarasin/Annika Wellmann (Hrsg.): Fragen Sie Dr. Sex! Ratgeberkommunikation und die mediale Konstruktion des Sexuellen, Frankfurt a.M. 2010. Vgl. Bänziger, Jenseits der Bürgerlichkeit. SFN, NL 68, Tagebuch Helga Hochhäusl, Einträge vom 4.9.1960; 18.7.1962.
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Versucht man genauer zu bestimmen, was sie und ihre Zeitgenossinnen unter Materialismus verstanden, so zeigt sich, dass damit keineswegs nur Wohlstand und Sicherheit gemeint waren. Vielmehr wurden über diesen Begriff zentrale Fragen verhandelt, die die Gesellschaft der 1950er und 1960er Jahre beschäftigten. Nicht zuletzt ging es um die Einstellung zur Arbeit, aber auch um die „moderne“ Lebensweise im Allgemeinen sowie um die Frage, welche Lebensziele man sonst noch anstreben solle. „Ich stehe im Kampf zwischen Religion und Materialismus, letzterer lockt zu sehr, geht es Dir nicht auch oft so?“60 , schrieb Erika einmal an Helga. Im Unterschied zur Debatte über den „Wertewandel“ ging es dabei nicht um eine Gegenüberstellung postmaterialistischer und materialistischer Vorstellungen, sondern um die Frage, wie sehr man den weltlichen, individualisierenden Identitätsangeboten der Konsum- und Arbeitsgesellschaft folgen solle. Zugleich zeigt sich aber, dass auch in der Kirche schon in den frühen 1960er Jahren durchaus unterschiedliche Werte vermittelt wurden: „War letzte Woche in einer sehr modernen katholischen Kirche, und ganz überrascht, über den deutlichen, anklagenden Ton der Predigt“, schrieb Helga in ihr Tagebuch61 . Daraus folgt, dass die Historiografie in Zukunft nicht nur verstärkt kontextualisieren, sondern vermehrt auch das zeitgenössische Vokabular selbst historisieren sollte. Der Materialismus war in den 1960er und 1970er Jahren ein viel zu umkämpfter Begriff, als dass er sich heute noch als Werkzeug für die Geschichtswissenschaft eigen könnte. Die hier beschriebenen Quellen regen darüber hinaus dazu an, von einer grundsätzlichen Widersprüchlichkeit individueller Wertvorstellungen auszugehen und Veränderungen über längere Zeiträume zu verfolgen.
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SFN, NL 68, Erika an Helga Hochhäusl, o.D. [August 1960], 6. SFN, NL 68, Brief von Helga Hochhäusl an Elisabeth Hergeth, 18.3.1962; vgl. dazu Pascal Eitler, „Gott ist tot – Gott ist rot“. Max Horkheimer und die Politisierung der Religion um 1968, Frankfurt a.M./New York 2009.
Jonathan Voges
(Arbeits-)Ethos der Freizeit? Do it yourself und Heimwerken und der Wertewandel der Arbeit
Zu Beginn der 1970er ging der Freizeitforscher Horst Opaschowski mit dem gegenwärtigen Stand der Freizeit in der Bundesrepublik hart ins Gericht; anstatt sich der Muße hinzugeben, habe der Bundesbürger es sich zur Aufgabe gemacht, auch in der Freizeit nach „bestimmten Leistungsnachweisen“ zu gieren und so das Leistungsprinzip aus dem Berufsleben in die Freizeit hinein zu verlängern: „Passivität erzürnt den braven Bürger, der seine Pflicht erfüllt, indem er etwas leistet.“1 Nicht verdientes Nichtstun sei das zentrale Element der mühsam gewerkschaftlich erkämpften Zunahme von (berufs-)arbeitsfreier Zeit2 , sondern „Arbeit und Fleiß sind in Deutschland (neben Disziplin und Ordnung) nationale Tugenden geblieben.“3 Ohne dass es bislang ausreichend kritisiert (ja auch nur registriert) worden sei, war es so möglich, dass „man das ‚Arbeitsethos‘ durch ein ebenso fragwürdiges ‚Freizeitethos‘ zu ersetzen versucht.“4 Das „Freisein von Arbeit“ würde so unmöglich und die Freizeit zur „Zweitberufszeit“ gemacht5 . Ohne es kenntlich zu machen, schaltete sich Opaschowski mit dieser Suada (und anderen Beiträgen mit ähnlicher Stoßrichtung) in die Debatte um den Wertewandel im Bezug auf die Arbeit ein – und übertrug sie auf in der Freizeit geleistete Arbeiten, die gemeinhin mit dem Begriff des Do it yourself oder
Dieser Aufsatz basiert auf meiner augenblicklich an der Leibniz Universität Hannover entstehenden und von Frau Prof. Dr. Cornelia Rauh betreuten Dissertation mit dem Titel „Die Do it yourself-Bewegung in der Bundesrepublik Deutschland in sozial-, konsum- und unternehmensgeschichtlicher Perspektive. Selbstproduktion und Heimwerken in der Industriegesellschaft seit 1945.“ 1 Vgl. Horst W. Opaschowski, Freizeit als Zweitberufszeit? Zur Problematik der Freizeit in der modernen Leistungsgesellschaft, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 23 (1972), S. 505–513, hier S. 506f. 2 Vgl. zu den Auseinandersetzungen um die Arbeitszeitverkürzung in den 1950er Jahren Rainer Kalbitz, Gewerkschaftliche Tarifpolitik in den Jahren des Wirtschaftswunders, in: Hans-Otto Hemmer/Kurt Thomas Schmitz (Hrsg.), Geschichte der Gewerkschaften in der Bundesrepublik Deutschland. Von den Anfängen bis heute, Köln 1990, S. 183–247. 3 Opaschowski, Freizeit als Zweitberufszeit?, S. 509. 4 Ebd., S. 512. Opaschowski blieb dem Leser die Erklärung schuldig, wen er unter dem unpersönlichen „man“ verstanden wissen wollte. 5 Ebd., S. 510.
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des Heimwerkens belegt wurden und werden6 . Während die Grande Dame der Umfrageforschung aus Allensbach, Elisabeth Noelle-Neumann, gegen Proletarisierungstendenzen zu wettern begann, die sie vor allem auch an einem Verlust der Wertschätzung der Arbeit festmachte7 , kam es in einem anderen Bereich geradezu dazu, dass die Bundesbürger „ständig auf der Suche nach neuer Arbeit“ waren8 , und journalistische Beobachter vermerkten erstaunt, dass – entgegen der Annahmen von der Zunahme des rein „passiven Konsums“9 – es „keineswegs unter der Würde etwa des feinen Mannes [wäre], sich auch mal die Hände schmutzig zu machen.“10 Was waren die Besonderheiten dieser für die Bundesrepublik noch neuen Form von „Freizeitarbeiten“11 ? Wie verhielt sich der seit den 1970er Jahren anziehende Heimwerkerboom12 zur gleichzeitig laufenden Diskussion um den Wertewandel in der Arbeitswelt? Wie lassen sich zunehmende Leistungsbereitschaft in der Freizeit und abnehmende Wertschätzung von Fleiß und Arbeitsfreude im Beruf zusammendenken? Wie kam es schließlich zu dem von Opaschowski kritisch gedeuteten „Freizeitethos“, das man wohl als in die berufsfreie Zeit verlagertes „Arbeitsethos“ verstehen kann13 ? 6
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Gerade wegen seines Interesses für derartige Themen war Opaschowski auch gefragter Referent bei Veranstaltungen der Betreiber von Bau- und Heimwerkermärkten und deren Branchenverbands. Mitte der 1980er sprach er zum Beispiel bei DIY-Fachtagung während der Eisenwarenmesse in Köln und referierte dort über die zunehmende Heimwerkertätigkeit der Bundesbürger – freilich ohne den kritischen Unterton, den er im oben zitierten Text anschlug. Vgl. Die Entwicklung der Freizeit und des Freizeitverhaltens. 10. DIY-Fachtagung des FDE, in: eisenwarenbörse 8 (1984), S. 29–30. Vgl. den zur Buchform ausgeweiteten Artikel aus der Zeit: Elisabeth Noelle-Neumann, Werden wir alle Proletarier? Wertewandel in unserer Gesellschaft, Zürich 1978, vor allem S. 59ff. Vgl. Selbst ist der Mann, in: Rheinpfalz, 27.11.1970. Zur kritikwürdigen Gegenüberstellung von passiv-verschwenderischem Konsum und Arbeit, die insbesondere auch aus der Perspektive einer Geschichte der Freizeit, die vermehrt auch arbeitsähnliche Aktivitäten jenseits der Berufsarbeit in den Blick nimmt, zu hinterfragen ist, vgl. auch Christoph Nonn, „Produktive Arbeit“ und „verschwenderischer“ Konsum. Annäherungen an ein Gegensatzpaar des politischen Diskurses in Deutschland, in: Wilfried Feldenkirchen/Susanne Hilger/Kornelia Rennert (Hrsg.), Geschichte – Unternehmen – Archive, Essen 2008, S. 125–144. Selbst ist der Mann. Zum Begriff der „Freizeit-Arbeit“ vgl. auch schon Herbert Lehmann, Die Freizeit. Ein aktuelles Problem der industriellen Gesellschaft, in: Wilhelm Bitter (Hrsg.), Mensch und Automation. Selbstentfremdung – Selbstverwirklichung, Stuttgart 1966, S. 104–116, hier S. 104: „Daß Arbeit und Freizeit manchmal überhaupt nicht als Gegensätze angesehen werden, beweist das paradoxe Wort der ‚Freizeitarbeit‘.“ Für einen zeitgenössischen Blick auf den Heimwerkerboom vgl. z. B. Klaus-Peter Kerbusk, „Drastisch und von Dauer“. Die Do-it-yourself-Welle, in: Stephan Burgdorff (Hrsg.), Wirtschaft im Untergrund, Reinbek bei Hamburg 1983, S. 75–90, hier S. 82ff. Zu einer freizeitphilosophischen Herleitung dieses „Ethos der Freizeit“, die sich auch dem Do it yourself annahm, vgl. Alfons Auer, Ethos der Freizeit, Düsseldorf 1972.
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Diesen Fragen geht dieser Beitrag anhand einer kulturgeschichtlichen Annäherung an die bundesrepublikanische Do it yourself-Bewegung nach. Nach einem kurzen Abriss zur Geschichte des Heimwerkens in Westdeutschland seit den 1950er Jahren wird im Anschluss spezifischer nach den damit verbundenen arbeitsbezogenen Werten gefragt. Mit dem Fokus auf die 1970er und 1980er Jahre (der ersten Hochzeit des Heimwerkens) kann so nachvollzogen werden, wie ein bürgerliches Arbeitsethos, das sich auf Fleiß und Arbeitsfreude, aber auch auf handwerkliche Tugenden berief14 , gerade in der Freizeit anzutreffen war – wohingegen die Berufsarbeit von Befragten und Beobachtern als diesem Ethos diametral entgegenstehend (und damit nur als notwendiges Übel) charakterisiert wurde. Ein praxeologisch orientierter Blick auf die Aktivitäten der Heimwerker, den Jörg Neuheiser für die Untersuchung von Wertewandelsprozessen im Bereich der Arbeit vorschlägt15 , hilft dabei auch, die überkommene Dichotomie zwischen Arbeit und Freizeit aufzuheben. Es ist danach zu fragen, ob und wie sich Werte (verstanden als „allgemeine und grundlegende normative Ordnungsvorstellungen“, die sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene wirksam sein und explizit artikuliert oder sich implizit in Praxen ausdrücken können16 ) von einem Bereich in den anderen transferieren ließen. Welchen Veränderungen unterlagen die Werte bei diesem Wechsel von einem Kontext in den anderen und wie wurde für diesen neuen Raum über sie gesprochen?
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Vgl. zu diesen „bürgerlichen Sekundärtugenden“ auch Cornelia Rauh, Bürgertum als normative Instanz in der deutschen Geschichte nach 1945?, in: WestEnd 6 (2009), S. 107–115, hier S. 110f. u. Jürgen Kocka, Bürger und Bürgerlichkeit im Wandel, in: ApuZ 9/10 (2008), S. 3–9, hier S. 6. Vgl. dazu Jörg Neuheiser, Der „Wertewandel“ zwischen Diskurs und Praxis. Die Untersuchung von Wertvorstellungen zur Arbeit mit Hilfe von betrieblichen Fallstudien, in: Bernhard Dietz/Christoph Neumaier/Andreas Rödder (Hrsg.), Gab es den Wertewandel? Neue Forschungen zum gesellschaftlich-kulturellen Wandel seit den 1960er Jahren, München 2014, S. 141–167, hier S. 149. Allgemein zu einem praxeologischen Blick auf die Geschichte der Arbeit vgl. auch Thomas Welskopp, Produktion als soziale Praxis. Praxeologische Perspektiven auf die Geschichte betrieblicher Arbeitsbeziehungen, in: Knud Andresen/Michaela Kuhnhenne/Jürgen Mittag u. a. (Hrsg,), Der Betrieb als sozialer und politischer Ort. Studien zu Praktiken und Diskursen in den Arbeitswelten des 20. Jahrhunderts, Bonn 2015, S. 29–52. Vgl. zu diesem Konzept der geschichtswissenschaftlichen Wertewandelforschung Andreas Rödder, Wertewandel in historischer Perspektive. Ein Forschungskonzept, in: Bernhard Dietz/Christoph Neumaier/ders. (Hrsg.), Gab es den Wertewandel? Neue Forschungen zum gesellschaftlich-kulturellen Wandel seit den 1960er Jahren, München 2014 (= Wertewandel im 20. Jahrhundert 1), S. 17–39, hier S. 29.
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Auf dem Weg zum Volk der „Bohrer und Bastler“. Die Geschichte des Do it yourself-Gedankens in der Bundesrepublik Anfang der 1950er wusste der Korrespondent der Zeit noch von – zumindest für die Bundesrepublik – merkwürdigen Erfahrungen in den Vereinigten Staaten zu berichten. Er beobachtete, dass hier „jeder mit den eigenen Händen anfertigen [wolle], was in der Alten Welt eine Fülle hochspezialisierter Handwerker beschäftigt. Es gibt wenige Amerikaner, die nicht die Wände ihres Wohnzimmers selber anstreichen, und zwar möglichst mit verschiedenen Farben. Daß man sein eigener Installateur und Elektriker ist, versteht sich beinahe von selber. Nicht nur, weil’s billiger ist, auch weil es mehr Spaß macht.“17
Schon wenige Jahre später hätte Peter von Zahn nicht mehr in die USA reisen müssen, um derartige Beobachtungen zu machen; Do it yourself wurde bald nach seinem erstaunten Bericht auch für die Bundesrepublik eine alltägliche, bald schon von einem Großteil der (insbesondere männlichen) Bundesbürger geübte Praxis. Ausgerechnet im Jahr 1957, das in der einschlägigen Literatur zur bundesrepublikanischen Konsumgeschichte als Zäsur zwischen Selbermachen und Einkauf am Markt beschrieben wird18 , erschien die erste Ausgabe der Zeitschrift Selbst ist der Mann – die sich selbstbewusst „Die Do it yourselfIllustrierte“ nannte, die Idee des Selbermachens zu popularisieren begann19 und
Zu dieser Einschätzung der bundesrepublikanischen Gesellschaft der 1980er Jahre vgl. Peter Gross/Ronald Hitzler/Anne Honer, Selbermacher. Symbolische Repräsentationen durch Schattenarbeit. Heimwerken als Erfahrungsstil und soziale Praxis, Bamberg 1985, S. 1. 17 Peter von Zahn, Fremde Freunde. Bericht aus der Neuen Welt, Hamburg, 2. Auflage, 1953, S. 318. 18 Vgl. dazu z. B. besonders prägnant Michael Wildt, Vom kleinen Wohlstand. Eine Konsumgeschichte der fünfziger Jahre, Frankfurt a.M. 1996, S. 76 u. ders., Privater Konsum in Westdeutschland in den 50er Jahren, in: Axel Schildt/Arnold Sywottek (Hrsg.), Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn 1998, S. 275–289, hier S. 280f. 19 Im ersten Impressum der Zeitschrift begrüßte die Redaktion den Leser „im weltweiten Kreis begeisterter DO IT YOURSELFer“. „DO IT YOURSELF – das ist etwas Wunderbares; besonders in einer Zeit, in der die Norm regiert, das Schema, der Roboter.“ Schon zu diesem frühen Zeitpunkt wurden der rational organisierten und mit allerhand technischem Gerät angereicherten, als entfremdet beschriebenen Berufsarbeit ganzheitliche handwerkliche Arbeiten in der Freizeit entgegengestellt: „Klar, daß der fortschrittlichen Technik unsere ganze Hochachtung gehört. Was wir aber noch höher achten: Die Kunst, auch ohne Elektronengehirn Nützliches zu schaffen – das muntere Heimwerken – die Freude an der eigenen Leistung.“ Herzlich Willkommen, in: Selbst ist der Mann 1 (1957), S. 3.
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bald schon zahlreiche Nachahmer (sowohl in Form unterschiedlicher Periodika als auch in gebundenen Publikationen) fand20 . Auch wenn der (mehr oder weniger) intellektuelle Spott das Heimwerken von Beginn an begleitete21 , nahm die Anzahl derer, die zur Do it yourself-Bewegung gerechnet wurden, rapide zu. Die einschlägigen Medien wurden nicht müde, von anstreichenden Prominenten, schreinernden Juristen und tapezierenden Regierungsräten zu berichten, wobei die Nennung der ausgewiesenen bürgerlichen Berufszugehörigkeit der Heimwerker wohl zum einen dafür bürgen sollte, dass es sich dabei keineswegs um eine aus der Not geborene Praxis handelte, sondern als selbst gewählte Freizeitaktivität verstanden werden sollte22 . Zum anderen diente die Heerschau qua Amt oder Prominenz respektabler Do it yourselfer auch als Werbung für die bislang noch Unentschlossenen, die im Selbermachen noch ein Eingeständnis dafür sahen, sich den Handwerker schlichtweg nicht leisten zu können23 . 20
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Vgl. dazu als besonders prominentes und immer wieder aufgelegtes und erweitertes Beispiel Otto Werkmeister, Die Axt im Haus. Ein Handbuch für Geschickte und Ungeschickte, München 1966. Eine erste Auflage dieses Bandes erschien (mit reduzierter Ausstattung) schon 1956 und kann so als eines der ersten Beispiele bundesrepublikanischer Do it yourselfPublizistik angesehen werden. Vgl. dazu z. B. die Titelgeschichte des Spiegel aus der Mitte der 1960er Jahre, die im Gestus intellektueller Überlegenheit über die dem Redakteur offensichtlich unverständliche „Massenbewegung [. . . ] nach amerikanischem Muster [. . . ] ohne Fahnen und ohne Mitgliedsbuch“ berichtete. Do it yourself. Die Axt im Koffer, in: Der Spiegel 17 (1965), S. 47–59. Der Soziologie Erwin K. Scheuch, der sich in den 1960er Jahren verstärkt der Freizeit als Untersuchungsgegenstand angenommen hatte, machte diese nicht notwendige Freiwilligkeit geradezu zur Grundlage seiner Definition: „Gehört es in den Unterschichten zu den Pflichten eines Ehemannes qua Ehemann, sein eigener Handwerker sein zu können, dann ist dies eben nicht do it yourself im Sinne des Hobbys. Von einem Rechtsanwalt dagegen erwartet die Hausfrau nicht, daß er seinen Garten umgraben kann; tut er es doch, so wird das von ihm und seiner Umgebung als Hobby interpretiert.“ Erwin K. Scheuch, Die Problematik der Freizeit in der Massengesellschaft, in: Ders./Rolf Meyersohn (Hrsg.), Soziologie der Freizeit, Köln 1972, S. 23–41, hier S. 31. Deshalb wollten er und andere frühe Beobachter des Do it yourself in den westlichen Industriegesellschaften vergleichbare Praktiken in der Dritten Welt nicht als Teil der Do it yourself-Bewegung verstanden wissen – einfach deshalb, weil sie (ihrer Meinung nach) allein von der Not diktiert würden. Vgl. dazu G. Törnqvist (Tagespräsident), Diskussion zu: „Do-it-yourself “ in Gegenwart und Zukunft. 10. Juli 1958. TeilnehmerInnen: R. Brüschweiler (Schweiz), J. Hirsch (USA), G. Kroebel (Deutschland), J.Walter (USA), L. Williamson (Großbritannien). Leitung: J. Thygesen (Dänemark), in: ebd., S. 45–56, hier S. 55. Zur These, dass insbesondere (Fernseh-)Prominenz dazu beitrage, dass ein Lebensstilmuster gesellschaftlich durchgesetzt werden kann, vgl. auch Lu Seegers, Prominentenimages und Wertewandel in der Bundesrepublik Deutschland (1950–1980), in: Daniela Münkel/ dies. (Hrsg.), Medien und Imagepolitik im 20. Jahrhundert. Deutschland, Europa, USA, Frankfurt a.M. 2008, S. 207–227, hier S. 212 u. dies., Fernsehstars und „freie Liebe“. Zur Karriere der Programmzeitschrift „HÖR ZU“ (1965–1974), in: Zeithistorische Forschungen 1 (2004), S. 214–235.
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Mitte der 1960er war das Do it yourself dem Spiegel die erste Titelgeschichte wert, die mit bis zu diesem Stichtag nicht für möglich gehaltenen Zahlen – sowohl was die reine Anzahl an Heimwerkern betraf, als auch was den Wert der umgesetzten Heimwerkerartikel anging – aufwarten konnte. „Jeder zweite Deutsche macht es selbst: Jeder zweite sägt, feilt, hobelt, bohrt, pinselt oder repariert sein Auto.“24 40 Millionen Tapetenrollen verarbeiteten „Hobby-Tapezierer“ im Jahr 1964; mit der Farbe, die über „die Pinselborsten und die Spritzpistolen der Laien“ floss, hätte eine „Kesselwagen-Schlange“ gefüllt werden können, die von Hamburg bis Bremen reichte. „Die westdeutschen Amateurschreiner und Wochenend-Zimmerleute zersägten 140.000 Kubikmeter Spanplatten“, was aufeinandergeschichtet eine Pyramide von der Höhe des Mont Blanc ergeben hätte25 . Schon Mitte der 1960er Jahre hatte sich also bei einem Großteil der Bundesbürger eine (wenigstens zum Teil) äußerst arbeitsorientiert gestaltete „Wochenendkultur“ ausgeprägt26 . Dass damit noch lange nicht der Endpunkt der Entwicklung erreicht war, zeigten die Entwicklungen der 1970er Jahre. Nicht aufgehalten, sondern eher noch angetrieben von allgemeiner Krisenrhetorik wurden die nun flächendeckend in der ganzen Bundesrepublik gegründeten Bau- und Heimwerkermärkte zur immer wieder zitierten „Wachstumsbranche Nummer eins“27 , Heimwerken wurde schichtenübergreifend gesellschaftsfähig28 , Fernsehen und Zeitungen nahmen eigene Heimwerkerprogramme oder -sparten in ihr Angebot auf29 und das professionelle Handwerk, das sich zunächst eher desinteressiert bis unterstützend verhalten hatte, fürchtete nun um die Aufträge, die es in den Boomjahren nicht anzunehmen nötig gehabt zu haben schien, und blies zum „Gegenangriff auf die Baumärkte“ (und damit auch auf deren Kunden)30 . 24 25 26 27
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Do it yourself, S. 47. Ebd. Zur Begrifflichkeit der „Wochenendkultur“ vgl. Dietrich Wachler, Das verlängerte Wochenende in seinen Wirkungen auf Familie und Haushalt, Düsseldorf 1972, S. 70f. Mitte der 1970er setzte der Spiegel diese Wendung in die Welt, die anschließend immer wieder reproduziert wurde. Vgl. dazu Familie Selbermann, in: Der Spiegel 16 (1974), S. 52– 53. So war der sozialstatistisch Ende der 1970er Jahre ermittelte typische Heimwerker ein männlicher Angestellter, in Vollzeit beschäftigt und verfügte über ein relativ hohes Einkommen von mindestens 2500 DM monatlich. Doch auch alle anderen sozialen Gruppen fanden sich unter den Heimwerken. Vgl. Hans-Jürgen Winter, Betriebs-, Markt- und Kundenstruktur sowie Kundenverhaltensweisen am Beispiel ausgesuchter Bau- und Heimwerkermärkt, in: b + h 7/8 (1980), S. 31–40. So produzierten der Hessische und der Norddeutsche Rundfunk Mitte der 1970er eine mehrteilige Fernsehserie zum Heimwerken, die anschließend auch in (einer optisch an der medialen Präsentation des Fernsehens orientierten) Buchform erschien. Vgl. Wilfried Köhnemann, Die Selbermachers renovieren ihre Wohnung, Wiesbaden 1975. Vgl. dazu Werner Lutz, Boom der Baumärkte. Gefahr oder Chance für das Handwerk, in: Deutsches Handwerksblatt 38 (1986), S. 22–24, hier S. 24.
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Mehr als zwei Drittel der Bundesdeutschen waren nun aktive Heimwerker31 ; auch wenn immer noch die Einsparpotentiale durch das Selbermachen eine wichtige Rolle bei der Motivation spielten, Arbeiten im eigenen Haushalt selber auszuführen, so wurden doch auch andere Begründungen wichtiger: Spaß an der Arbeit, Selbstbestimmung und „ganzheitliche“ Tätigkeiten. Die Veralltäglichung des Heimwerkens32 hatte Mitte der 1980er Jahre ein derart hohes Ausmaß erreicht, dass eine britische Publikation nun schon ironisch fragte: „How to avoid DIY?“ Als einzig wirksames Gegenmittel wurde ein kalter Entzug vorgeschlagen, ein „cold turkey“, der vor allem darin bestehen sollte, einfach einmal nichts zu tun, nicht den Pinsel in die Hand zu nehmen, nicht zum Hammer, sondern zum Bierglas zu greifen, und sich einfach zu entspannen. „It’s not easy, but you must force yourself.“33 Warum sollte es schwer gewesen sein, anstatt Do it yourself zu betreiben, nichts zu tun? Meine These, der ich im Folgenden nachgehen werde, geht davon aus, dass das Do it yourself ein arbeitsbezogenes Ethos in der Freizeit anbot, für das die (meisten) Betroffenen in ihrem Berufsleben keine Entsprechung mehr zu finden schienen. Im Heimwerken konnten genuin bürgerliche Werte wie Fleiß, Selbstständigkeit und Ganzheitlichkeit Arbeitsverhältnissen gegenübergestellt werden, die als entfremdet, der eigenen Kontrolle entzogen und arbeitsteilig charakterisiert wurden34 . Der Blick auf die sozialen Praxen der historischen Akteure relativiert also wenigstens ein Stück weit die in Meinungsumfragen erhobenen Annahmen zum Wandel der arbeitsbezogenen Werte – sofern man die in der „Freizeit“ geleisteten Arbeiten anzuerkennen bereit ist35 . 31
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Vgl. Hartmut Lüdtke, Freizeit in der Industriegesellschaft. Emanzipation oder Anpassung, 2. Auflage, Opladen 1975, S. 55. Mitte der 1980er Jahre wiesen Erhebungen gar bei 90 Prozent der Bundesbürger Do it yourself-Aktivitäten nach. Vgl. Helmut Seidel, Wertewandel bei Arbeitern in Arbeit und Freizeit. Eine sekundäranalytische Studie sozialwissenschaftlicher Literatur und Forschungsergebnisse, Konstanz 1992, S. 122. Oder die „normalization“, wie es Trentmann für diesen Prozess der allmählichen Einpassung bestimmter Praxen in den Alltag nennt. Vgl. dazu Trentmann, The Politics of Everyday Life, in: Ders. (Hrsg.), The Oxford Handbook of the History of Consumption, Oxford/New York 2012, S. 521–547, hier S. 544. Vgl. Cliff Parker, How to Avoid DIY. A Killer Disease is Sweeping the Country. Not AIDS, not PMT or EEC but DIY, London 1984, S. 50. Eckart Conze hat in seinen Überlegungen zu „diese[r] ’bürgerliche[n] Gesellschaft, diese[r] kleinbürgerliche[n] oder ’verkleinbürgerlichte[n] – um nicht zu sagen: diese[r] ‚gut-bürgerliche[n]‘ Gesellschaft“ der Bundesrepublik darauf aufmerksam gemacht, dass diese Werte keinesfalls an ein Bürgertum als soziale Klasse gebunden waren, ja dass es gerade durch die Verallgemeinerung der bürgerlichen Werte zu einer ausgeprägten „Mittelstandsgesellschaft“ (freilich nicht im Schelsky’schen Sinne) gekommen ist. Vgl. Eckart Conze, Eine bürgerliche Republik? Bürgertum und Bürgerlichkeit in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft, in: Geschichte und Gesellschaft 30 (2004), S. 527–542. Um den Bereich der Arbeit in der Freizeit zu kennzeichnen, führte der französische Soziologe Joffre Dumazedier schon in den 1960er Jahren den Begriff der „Halbfreizeit“ ein.
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Do it yourself als Heilmittel gegen die Managerkrankheit Noch in ihrem ersten Jahrgang interviewte die Zeitschrift Selbst ist der Mann den Betreiber eines „Bastlerheimes“ über die Motivation seiner Kunden, im Sinne des Do it yourself aktiv zu werden. „Wer nie zur Ruhe kommt, der muß schon eine Bärennatur haben, wenn er nicht eines Tages vom Manager-Tod hinweggerafft werden soll“, so Heinrich von Gruben. Die Zeitschrift zitierte Statistiken, denen zufolge bereits 40 Prozent der Bundesbürger an den Symptomen der „Managerkrankheit“ leiden würden, die so inzwischen zu einer „Volksseuche“ geworden sei36 . Aus ärztlicher Sicht, so der Leserbrief eines Mediziners, sei das Do it yourself unbedingt zu begrüßen: „Man könnte ohne Übertreibung sagen, daß sie dadurch einen wertvollen Beitrag leisten, den Menschen zu einer ganzheitlichen Ausrichtung zu führen.“37 Und auch amerikanische Studien hätten ergeben, dass der „heilende Wert einer ‚Hand-Tätigkeit‘ kaum überschätzt werden könnte“, um der „Hetze des Berufslebens“ etwas entgegenzusetzen – „auch wenn man nicht gerade unter der ‚Manager-Krankheit‘ leidet.“38 Derartige Befunde muten auf den ersten Blick paradox an: Alle Autoren gingen davon aus, dass ein arbeitsbedingtes Leiden (die Managerkrankheit oder die „vegetative Dystonie“39 , so die weniger pejorative Beschreibung, die darauf abzielte, dass nicht allein Männer in den Führungsetagen von den entsprechenden Symptomen betroffen sein konnten) durch (zumindest) arbeitsähnliche Tätigkeiten geheilt oder wenigstens gelindert werden könnten. Dieser scheinbare Widerspruch löst sich jedoch auf, sobald man sich die zeitgenössischen Diskurse zur „Managerkrankheit“ genauer anschaut. Diese gingen nämlich keineswegs nur davon aus, dass diese äußerst populäre, von vielen durchaus als Auszeichnung (da die eigene Wichtigkeit und Unentbehrlichkeit unterstreichend) verstandene und zu allerhand alarmistischer Publizistik40 führende „Krankheit“ allein das Produkt von Überarbeitung im Sinne eines Zuviel an Arbeit zu verstehen wäre. Vielmehr deuteten Mediziner schon früh darauf hin, dass nicht allein die Menge an Arbeit für die Symptome verantwortlich war, sondern dass vor allem die Beziehung zur Arbeit ausschlaggebend war41 .
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Vgl. dazu Joffre Dumazedier, Nichtproduktive Beschäftigung, in: Erwin K. Scheuch/Rolf Meyersohn (Hrsg.), Soziologie der Freizeit, Köln 1972, S. 120–131, hier S. 125. Friedrich Rauch, „Heimwerken“ gegen die Managerkrankheit, in: Selbst ist der Mann 1 (1957), S. 78–79, hier S. 78. Wolfgang Reinhardt, Hier schreibt der Leser, in: Selbst ist der Mann 2 (1958), S. 172. Rauch, „Heimwerken“ gegen die Managerkrankheit, S. 79. Vgl. H. J. Weber, Praktische Psychologie am Arbeitsplatz. Lebensart und Managerkrankheit, Hamburg 1969 (= Staatlich anerkannte Ingenieurschule Verfahrenstechnik 74), S. 4. Vgl. Patrick Kury, Der überforderte Mensch. Eine Wissensgeschichte vom Stress zum Burnout, Frankfurt a.M./New York 2012, S. 112, 124 u. 271. Was auch dazu führte, dass ein Mehr an Freizeit allein nicht als hilfreich angesehen wurde,
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„Es kommt von medizinischer Seite her also weniger auf die Tatsache der ‚Arbeit‘ an als auf die persönliche Einstellung zu ihr“, so Clemens A. Andreae 1970 in seiner Ökonomik der Freizeit zum Thema der Managerkrankheit42 . Und der Werksarzt Weber, der sich mit der Psychologie am Arbeitsplatz beschäftigte, wies darauf hin, dass vor allem „Automation“ und Arbeitsteilung die eigentlichen Probleme seien, weil so der „Arbeitnehmer [. . . ] keine direkte Verbindung mit dem zu verarbeitenden Material mehr und keine Übersicht über seine Leistungen [hat]“. Die „Arbeitsfreude“, über deren Schwinden schon in den 1950er Jahren debattiert wurde43 , könne sich so nicht mehr einstellen, die von Patrick Kury in seiner Habilitation beschriebenen Symptome der Managerkrankheit (der „frühzeitige leib-seelische Zusammenbruch“ und der „vorzeitige und unerwartete Tod von Menschen“) wären so die Folgen einer als „entfremdet“ wahrgenommenen Arbeitswelt44 . Das Do it yourself seinerseits wurde von dessen professionellen Advokaten (aber auch von der etablierten Sozialphilosophie, so zum Beispiel von Jürgen Habermas45 ) als Möglichkeit beschrieben, genau diesen Entfremdungserfahrungen entgegenzuwirken. „Welch inhaltloses Leben lebten wir, wenn alles für uns getan würde. Das ‚Selbsttun‘ ist die Verwirklichung unserer Wünsche, unseres Strebens nach Gesundheit und Vollkommenheit“, wurde ein Psychologe der Harvard University (Dr. W. Allport) paraphrasiert46 . Selbstverwirklichung, Selbstbestimmung, Ganzheitlichkeit waren also auch schon in den 1950er Jahren angemahnte, aber offenbar im Berufsleben nur schwerlich zu realisierende arbeitsbezogene Werte, für die allerdings in der Freizeit eine Entsprechung ge-
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ging man doch davon aus, dass falsch gestaltete Freizeit das Gefühl der Hetze und Überlastung eher noch anheizen als mildern würde. Vgl. Weber, Praktische Psychologie am Arbeitsplatz, S. 4. Clemens A. Andreae, Ökonomik der Freizeit. Zur Wirtschaftstheorie der modernen Arbeitswelt, Reinbek bei Hamburg 1970, S. 78. Vgl. dazu schon Hans Biäsch, Arbeitsfreude und Arbeitszeit, in: Hermann Eichler/Hanns Linnhardt/Theodor Scharmann u. a. (Hrsg.), Arbeitszeit und Freizeit. Nürnberger Hochschulwoche 8.-10. Februar 1961, Berlin 1961, S. 179–196, hier S. 180. Vgl. Kury, Der überforderte Mensch, S. 117ff. Vgl. dazu Jürgen Habermas, Soziologische Notizen zum Verhältnis von Arbeit und Freizeit, in: Gerhard Funke (Hrsg.), Konkrete Vernunft. Festschrift für Erich Rothacker, Bonn 1958, S. 219–231. Habermas’ Beitrag kann als einer der frühesten Versuche zur sozialwissenschaftlichen Verortung des Do it yourself vor dem Hintergrund einer Philosophie der Arbeit verstanden werden. Für Habermas war die Berufsarbeit schon in den 1950er Jahren nicht mehr in der Lage, den Arbeitnehmern Befriedigung zu verschaffen – einen Zustand, den er mit der alltäglich erfahrbaren „Spurlosigkeit“ des eigenen Tuns umschrieb. Das Do it yourself ermögliche dagegen wieder „die Arbeit am ganzen Stück“ und führe so zurück zu „‚ganzheitlichen‘ Tätigkeiten vorindustrieller Produktionsstufen“. „So zimmern wir den Tisch, anstatt ihn an der nächsten Ecke besser und billiger zu kaufen.“ Ebd., S. 226. Zitiert nach E. Mertznich, „Do it yourself!“ Die immer griffbereite Medizin, in: Selbst ist der Mann 1 (1957), S. 5.
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funden werden konnte, die auch als Kompensation für Frustrationserfahrungen im beruflichen Alltag verstanden wurde. Wenn Martina Heßler in ihrer diskursgeschichtlichen Analyse der Automatisierungsdebatte der 1950er und 1960er Jahre darauf verweist, dass es in dieser immer auch um das Selbstverständnis der Menschen ging – definierten sich diese doch zu einem Gutteil auch immer über ihre Arbeit47 – so kann anhand des gleichzeitig anziehenden Diskurses über die Möglichkeiten des Do it yourself verfolgt werden, wie eben die von der (Berufs-) Arbeit nicht mehr bereitgestellten Identifikationsangebote nun im Heimwerker vermutet wurden48 ! Als die Sozialwissenschaften im weiteren Verlauf der 1960er, aber dann vor allem in den 1970er und 1980er Jahren den Wertewandel in der Arbeitswelt diagnostizierten, waren es genau diese Werte, die in den empirischen Studien (zum Beispiel von Helmut Klages) als besonders wichtig herausgestellt wurden, wohingegen Elisabeth Noelle-Neumann noch pauschaler einen allgemeinen Verfall der Arbeitsmoral nachzuweisen suchte. Dass sich genau diese Werte zur selben Zeit in den immer weiter ausufernden Freizeitarbeiten ausleben ließen, dass das Heimwerken genau das Maß an Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung zu bieten schien, das in anderen Arbeitskontexten schmerzlich vermisst wurde (auch wenn es aus der Warte der orthodox-marxistischen Nachfolge der 68er-Bewegung als „Zwangsarbeit“ am und im eigenen Haus gebrandmarkt wurde49 ), soll im Folgenden anhand eines genaueren Blicks auf die Geschichte des Do it yourself in den 1970er und 1980er Jahren belegt werden.
„Krise der Arbeitsgesellschaft“ und Do it yourself In ihrer sozialwissenschaftlichen Studie zu den Männern in der Bundesrepublik Deutschland befragte Helge Pross ihre männlichen Auskunftgeber auch über 47
Vgl. dazu Martina Heßler, Die Ersetzung des Menschen? Die Debatte um das MenschMaschinen-Verhältnis im Automatisierungsdiskurs, in: Technikgeschichte 82 (2015), S. 109– 136. 48 Heßlers Blick auf das „Problem der Freizeit“ ist deshalb auch ungenügend, nimmt sie doch die Möglichkeiten arbeitsähnlicher Erfahrungen jenseits der beruflichen Sphäre nicht mit in den Blick – obwohl sie sich gerade in diesem Themenbereich angeboten hätten! Vgl. ebd., S. 133f. 49 Vgl. Robert Hepp, Selbstherrlichkeit und Selbstbedienung. Zur Dialektik der Emanzipation, München 1971, S. 58. Vgl. zur Diagnose dieser Krise vor allem Joachim Matthes (Hrsg.), Krise der Arbeitsgesellschaft? Verhandlungen des 21. Deutschen Soziologentages in Bamberg 1982, Frankfurt a.M./New York 1983.
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ihre Einstellung zu ihrem Beruf. Dieser würde lediglich noch als „Selbstverständlichkeit“ hingenommen, identitätsstiftend hingegen sei er nicht mehr: „Der Beruf ist für mich nicht die Erfüllung des männlichen Lebens. Ich arbeite, weil ich mir damit andere Bereiche meines Lebens eröffnen kann“, fasste einer der Befragten seine Position (und damit auch die der meisten anderen in Pross’ Panel) zusammen50 . Diese rein instrumentelle Beziehung zum Beruf51 , diese eher pragmatische Einstellung zur Arbeit als Grundlage von Konsum war genau die Grundeinstellung, die Elisabeth Noelle-Neumanns kulturpessimistische Prognosen zum Verlust der Arbeitsfreude befeuerte52 . Liest man die Interviews von Pross allerdings genauer, so wird deutlich, dass Männer durchaus über den Beruf hinaus zu arbeiten bereit waren – und das im eigenen Haus oder der eigenen Wohnung. Zwar lehnten sie noch immer zum Großteil die klassische Hausarbeit als ihrer nicht würdig ab53 , sie waren aber durchaus bereit, „Reparaturen an der Wohnung und am Auto sowie Gartenarbeiten [zu] übernehmen.“54 Kommen diese Heimwerkeraufgaben bei Helge Pross eher noch als notwendiges Übel vor, so ließen sich gleichzeitig durchaus schon Einschätzungen finden, die die in der Freizeit geleisteten Arbeiten weitaus enthusiastischer beschrieben. Während die interviewten Männer ihre Berufsarbeit also noch mit den Vokabeln aus dem Wörterbuch der „Entfremdung“ beschrieben55 und daraus ihre Unzufriedenheit und mangelnde Erfüllung im Beruf erklärten, waren sie in anderen Bereichen durchaus fleißig und mit Freude bei der Sache – und das im wachsenden Maße, sowohl was die individuell geleisteten Arbeiten betrifft als auch im Bezug auf die Anzahl der westdeutschen Heimwerker insgesamt56 . 50 51
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Helge Pross, Die Männer. Eine repräsentative Untersuchung über die Selbstbilder von Männern und ihre Bilder von der Frau, Reinbek bei Hamburg 1978, S. 67. Zu dieser „‚instrumentelle[n]‘, d. h. [. . . ] nüchtern-kalkulatorische[n] Einstellung“ vgl. auch Helmut Klages, Wertorientierungen im Wandel. Rückblick, Gegenwartsanalyse, Prognosen, Frankfurt a.M./New York, 2. Auflage 1985, S. 64. Die These, dass der „‚Werteverfall‘ [. . . ] in der Arbeitswelt um sich gegriffen“ hatte, schien also vielen Beobachtern plausibel. Vgl. dazu Jörg Neuheiser/Andreas Rödder, Eine Geschichte vom Werteverfall? Die Deutschen und ihre Einstellungen zur Arbeit, in: Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.), Hauptsache Arbeit. Wandel der Arbeitswelt nach 1945, Bielefeld 2009, S. 30–37, hier S. 32. „Man muss doch ehrlich sein, die Hausarbeit ist eine niedrige Arbeit, die einem nichts gibt.“ Pross, Die Männer, S. 95. Vgl. ebd., S. 94. Pross fasste ihre Antworten zur Berufsarbeit auch in dem Begriff der „Entfremdung“ zusammen. Vgl. ebd., S. 70. So nahm die Zahl der regelmäßig aktiven Heimwerker allein in den drei Jahren zwischen 1978 und 1981 um 18 Prozent zu. Ein Viertel der Bundesbürger war somit regelmäßig heimwerkend aktiv. Durchschnittlich heimwerkten diese ambitionierten Heimwerker 92 Stunden im Jahr – was zwölf vollen Arbeitstagen entsprach, die zusätzlich zur Berufsarbeit geleistet wurden. Vgl. zu den Zahlen 1,2 Milliarden DIY-Stunden, in: b & h-markt 9 (1984), S. 92–93, hier S. 92.
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Als relativierende Einschätzung zur These vom Verfall der Arbeitsmoral in der bundesrepublikanischen Gesellschaft hatte schon Helmut Klages davon gesprochen, dass weniger von einem Verlust arbeitsbezogener Werte, sondern vielmehr von deren Wandel auszugehen sei. Anders als die konservative Niedergangsrhetorik wies Klages darauf hin, dass sich das Selbstverwirklichungsstreben und die Leistungsbereitschaft keinesfalls ausschließen müssten57 . Die „Schonhaltung“ im Betrieb ließe sich vor allem dann feststellen, wenn den Mitarbeitern die Möglichkeit zur Selbstentfaltung und -verwirklichung fehle58 . Dieser diagnostizierbare „Verlust der Arbeitsfreude“ führe dazu, dass es dazu kommen könne, dass „Werterfüllungserwartungen in die Freizeit“ verlagert würden59 . Dass dies keinesfalls bedeuten muss, dass die Freizeit nun lediglich die Zeit passiven Konsums oder nicht enden wollender Mediennutzung war, dass es vielmehr dazu kam, dass arbeitsbezogene Werte aus dem Beruf in die Freizeit transferiert wurden, dass Freizeit so ein Raum wurde, in der traditionelle Werte (Leistungsbereitschaft, Fleiß, Arbeitsfreude, Handwerklichkeit) mit den neuen Werten (Selbstverwirklichung, Selbstbestimmung) amalgamierten60 , belegt ein Blick auf die sich genau zu dieser Zeit sowohl quantitativ in der bundesrepublikanischen Bevölkerung verbreiternden als auch qualitativ an Bedeutung gewinnenden Do it yourselfLeidenschaft – die sogar das nun wichtiger gewordene „Selbst“ schon im Namen trug! Die massenhafte Ausdehnung des Do it yourself, die vor allem in den 1970er und 1980er Jahren um sich griff, bald die Hälfte und wenig später schon gut zwei Drittel der bundesrepublikanischen Bevölkerung erfasste (von der wiederum ein beträchtlicher Teil angab, regelmäßig und vor allem auch gerne zu heimwerken61 ) wurde schon zeitgenössisch als Gegenthese zur verbreiteten Annahme eines Verfalls der Arbeitsmoral gewertet: So könne Heimwerken dabei helfen, formulierte der Sozialwissenschaftler Peter Gross Mitte der 1980er Jahre, „jenes 57 58 59 60
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Vgl. Klages, Wertorientierungen im Wandel, S. 57. Ebd., S. 110. Ebd., S. 113. Deshalb ist es auch zu einfach anzunehmen, dass neue Formen der Berufsarbeit (in der Industrie wie auch in Dienstleistungsunternehmen) „ältere, mit Handarbeit verbundene Werthaltungen verschütten“ haben. Vielmehr ist von einem Formenwandel dieser Werthaltungen und von einer Diffusion dieser Werthaltungen aus der Arbeits- in die Freizeit auszugehen. Vgl. zur These der „Verschüttung“ Klaus Tenfelde, Arbeit – Arbeiterbewegungen – Wertewandel, in: Andreas Rödder/Wolfgang Elz (Hrsg.), Alte Werte – Neue Werte. Schlaglichter des Wertewandels, Göttingen 2008, S. 37–45, hier S. 39. Zu der sich auch in Dienstleistungsberufen wandelnden „Arbeitsethik“ vgl. schon zeitgenössisch Alan Gartner /Frank Riessmann, Der aktive Konsument in der Dienstleistungsgesellschaft. Zur politischen Ökonomie des tertiären Sektors, Frankfurt a.M. 1978, S. 140ff. Vgl. dazu Lothar Müller, „Der Bau- und Heimwerkermarkt zwischen Boom und Rezession“. Studie der Baufact München: Ergebnisse aus Verbraucherbefragungen (1978–1980), in: b & h-markt 2 (1982), S. 70–97.
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Arbeitsethos, das einem in der Erwerbswirtschaft über die Jagd nach Verdienst abhanden gekommen ist, wieder aufzuladen.“62 Ob man so weit gehen muss wie der Autor, zu diesem Zeitpunkt eine Zäsur zwischen „Arbeitsgesellschaft“ und den Anfängen einer „Do-it-yourself-Gesellschaft“ zu setzen63 , mag dahingestellt bleiben. Der sozialwissenschaftliche Befund, dass sich die Wertschätzung der Arbeit aus dem Beruf zunehmend in die Freizeit verlagerte, wurde jedoch nicht nur philosophisch-essayistisch behauptet, sondern auch in empirischen Umfragen erhoben. In seinen Beobachtungen zum bundesrepublikanischen Freizeitmarkt kommentierte der Doyen der westdeutschen Einzelhandelsforschung Bruno Tietz das Do it yourself ausgiebig; als gern gesehener Gast bei Veranstaltungen der Do it yourself-Branche (die er durch den entsprechenden Eintrag in seinem Handbuch zum westdeutschen Einzelhandel zu formieren half64 ), sah einen deutlichen Zusammenhang zwischen den Aktivitäten der Heimwerker und dem Lamento über die nachlassende Wertschätzung der Arbeit. Von der von Elisabeth Noelle-Neumann kritisch beäugten Hinwendung zum „Freizeitkonsum“ könne keine Rede (mehr) sein, so Tietz. Stattdessen bewiesen die Bundesbürger eine zum Positiven „veränderte Einstellung gegenüber handwerklichen Fähigkeiten“, die sich vor allem auch in den ubiquitär verbreiteten Do it yourself-Aktivitäten Bahn brach65 . Ähnlich sah es auch ein Redakteur des Spiegels. Nachdem dieser sich eingehend über die „Hundertausende[n] von Wohlstandsmenschen“, die „ohne Rücksicht auf den Nutzeffekt“ sägten, bohrten und pinselten, mokiert hatte66 , 62
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Peter Gross, Bei sich selbst zu Hause sein. Die Selbermacher-Mentalität in der Freizeitgesellschaft oder: Die Bastler als Avantgarde, in: Blätter für die Wohlfahrtspflege 133 (1986), S. 177–179, hier S. 178. Vgl. ebd. Eine ähnliche auf das zunehmende Selbermachen bezogene Zäsur setzte auch schon Jonathan Gershuny, indem er schon Ende der 1970er Jahre von einer „emerging self-service economy“ sprach. Diese These setzte sich vor allem kritisch mit den Vorgaben von Daniel Bell und dessen Annahme einer nachindustriellen Dienstleistungsgesellschaft auseinander. Für Gershuny würden nicht Dienstleistungen die kommende Gesellschaftsformation bestimmen, sondern vielmehr industrielle Produkte die Dienstleistungen ersetzen – wie eben die Bohrmaschine den Handwerker. Vgl. Jonathan Gershuny, After Industrial Society. The Emerging Self-service Economy, London/Basingstoke 1978. Für die These der Dienstleistungsgesellschaft vgl. Daniel Bell, Die nachindustrielle Gesellschaft, Reinbek bei Hamburg 1979 [Zuerst engl. 1973]. Für eine kritische Würdigung des Ansatzes von Gershuny aus wirtschaftsgeschichtlicher Perspektive vgl. auch Jan-Otmar Hesse, Ökonomischer Strukturwandel. Zur Wiederbelebung einer wirtschaftshistorischen Leitsemantik, in: Geschichte und Gesellschaft 39 (2013), S. 86–115, hier S. 105. Vgl. Bruno Tietz, Konsument und Einzelhandel. Strukturwandlungen in der Bundesrepublik von 1970–1995, 3. Auflage, Frankfurt a.M. 1983, S. 770ff. Ders., Wertedynamik und gesellschaftliche Rahmenbedingungen. Differenzierte Chancen für den Do it yourself-Markt, in: b & h-markt 3 (1982), S. 40–48, hier S. 42. Kerbusk, Do-it-yourself-Welle, S. 76.
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versuchte er deren Aktivitäten in die laufende Werteverfallsdebatte einzuordnen: „Mit ihren Feierabendaktivitäten widerlegen die Bundesbürger gleichzeitig Mutmaßungen über die angeblich schwindende Arbeitsmoral“, so Klaus-Peter Kerbusk67 . Ausgehend von derartigen Befunden entwarf Kerbusk eine paradigmatische Heimwerkerbiographie – die vor allem durch die Suche nach neuen und anspruchsvollen Aufgaben und nicht durch Versuche zur Arbeitsvermeidung geprägt war: So zählten Tapezieren und Anstreichen inzwischen zu den Alltagsaktivitäten von einem Großteil der Bundesbürger. „Ein paar Dübel in der Wand zu befestigen, ein bescheidenes Regal aus Spanplatten zu zimmern gehört für die Mehrzahl der bundesdeutschen Freizeitarbeiter zu den Routinearbeiten.“ Dabei blieben sie jedoch keinesfalls stehen. „Ermutigt von den ersten Do-it-yourselfErfolgen, wagen sich die Heimwerker nun auch an kompliziertere Arbeiten.“68 Anhand der Heimwerkerpublizistik kann diese Ausweitung des Do it yourself-spezifischen Aktivitätsradius nachvollzogen werden; war die entsprechende Literatur von den späten 1950er bis in die 1960er Jahre hinein noch geprägt durch kleinere Ausbesserungsarbeiten am (noch immer kriegsbedingt) defizitären Wohnraum69 und Arbeiten, die man eher unter dem Oberbegriff „Basteln“ rubrizieren würde70 , wandelte sich seit den späten 1960er Jahren das Bild. 1966 läutete die Zeitschrift Selbst ist der Mann ihren zehnten Jahrgang mit dem selbstbewussten Postulat ein, dass es im eigenen Wohnraum keine Aufgabe mehr gäbe, die nicht vom Heimwerker ausgeführt werden könnte; selbstbewusst gingen die Do it yourself-Journalisten daran, die „Ansprüche etwas höher zu schrauben“71 . Bauen statt Basteln hieß nun die Devise! Manfred Maus, als Gesellschafter der OBI-Baumarkt-Franchise-Zentrale selbst aktiv an der Ausweitung und Ausdifferenzierung der materiellen Kultur der bundesrepublikanischen Heimwerker beteiligt, konnte Anfang der 1980er Jahre davon berichten, dass der Heimwerker nun endgültig seine bescheidenen Anfänge hinter sich gelassen hatte. Was er zu dieser Zeit (und das mit Freude) in Angriff nähme, wären die auch schon von der Heimwerkerzeitschrift ausgerufenen „anspruchsvollen Tätigkeiten [. . . ]
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Ebd., S. 77. Ebd., S. 79. So war einer der ersten Artikel in Selbst ist der Mann, der sich mit Renovierungen befasste, der Frage gewidmet, wie man sich angesichts von beengten Wohnverhältnissen und „lärmenden Nachbarn“ dennoch ein ruhiges Familienleben verschaffen könnte – nämlich durch eine (selbst angebrachte) Schalldämmung. Vgl. F. W. Heyne, Schutz vor lärmenden Nachbarn, in: Selbst ist der Mann 1 (1957), S. 18–20. Als Beispiel dafür mögen nur die alljährlich jahreszeitbedingt wiederkehrenden Bastelanleitungen für Kinderspielzeug als Weihnachtsgeschenke genügen. „Selbst ist der Mann“ im 10. Jahrgang, in: Selbst ist der Mann 10 (1966), S. 3.
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Dazu gehören die Altbausanierung, An- und Ausbauten und das Renovieren von Wohnungen“72 . Möglich wurde eine derartige Ausweitung des Tätigkeitsspektrums durch eine zunehmend durchdidaktisierte Heimwerkerliteratur, die sich in Schrittfür-Schritt-Anleitungen detailliert den unterschiedlichen anfallenden Arbeiten widmete, und durch zunehmend einfacher zu verarbeitende Produkte – die nichttropfende Wandfarbe ist dafür nur das am häufigsten zitierte Beispiel – den Übergang der Renovierungsarbeiten vom handwerklichen Experten auf den heimwerklichen Laien (der sich jedoch zunehmend professionalisierte) ermöglichte73 . Diese durch Material, Werkzeug und Anleitungsliteratur ermöglichte Vereinfachung der Arbeiten führte jedoch keinesfalls dazu, dass deren Wertschätzung durch die Akteure nachgelassen hätte. Die Motivationen, die Erwin K. Scheuch schon Ende der 1960er Jahre als handlungsleitend zur Aufnahme von Do it yourself-Aktivitäten ermittelt hatte, blieben bis in die 1980er Jahre bestimmend: „Herstellung einer der beruflichen Arbeitssituation entgegengesetzten Arbeitssituation und Konstituierung von Individualität qua spezieller Interessen und Kompetenz [. . . ] und die Möglichkeit, in spielerischer Arbeit die Indirektheit des Lebens in Industriegesellschaften mit hohem Komfort zu überwinden.“74
Das Argument, im Do it yourself lediglich eine (zuweilen selbstausbeuterische) Möglichkeit zur Einsparung zu sehen, wurde zwar durchaus immer als zusätzliche Motivation angegeben – besonders seit den 1970er Jahren, in denen mit dem allgegenwärtigen Krisendiskurs eine Renaissance der „Knappheitsrhetorik“ einherging75 , die das Heimwerken auch ökonomisch sinnvoll erscheinen ließ. Dass dies jedoch nicht das Hauptargument gewesen sein kann, belegen die Hinweise darauf, dass gerade die Bevölkerungsgruppen, die von der Krise besonders getroffen waren – und hier insbesondere Arbeitslose – vergleichsweise Do it yourself-abstinent blieben (oder bleiben mussten, einfach weil sie sich das 72 73
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Manfred Maus, Der Qualitätsanspruch des Kunden an das Handwerkszeug. M. Maus zu: „Werkzeug“ und „Qualität“, in: b & h-markt 9 (1981), S. 72–78, hier S. 72. Vgl. zur Professionalisierung in der Freizeit im Allgemeinen den freizeitsoziologischen Ansatz von Rolf Meyersohn, Kommerzialisierung und Komplexität in der Massenkultur, in: Erwin K. Scheuch/ders. (Hrsg.), Soziologie der Freizeit, Köln 1972, S. 112–119; hier S. 118. Zur Produktvereinfachung für den Heimwerkermarkt vgl. Jonathan Voges, Vom Handwerk zum Heimwerk? Zur Diffusion professionellen Wissens in den Haushalten im Zuge der Do-it-yourself-Bewegung in der Bundesrepublik Deutschland, in: Ferrum 86 (2014), S. 89–96. Erwin K. Scheuch, Soziologie der Freizeit, in: René König (Hrsg.), Handbuch der Empirischen Sozialforschung. Band 2, Stuttgart 1969, S. 735–833, hier S. 736. Vgl. dazu Michael Prinz, Selbstversorgung – ein Gegenprinzip zur Moderne? Bemerkungen aus historischer Perspektive, in: Westfälische Forschungen 61 (2011), S. 279–306, hier S. 289.
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teure Equipment nicht leisten konnten76 ). Statistische Erhebungen wiesen den typischen Heimwerker der 1980er Jahre als gutverdienenden Familienvater mit eigenem Haus aus; da er zumeist in Vollzeit beschäftigt war, blieben ihm vor allem die Wochenenden als Do it yourself-Zeit77 . In ihren DFG-geförderten Erhebungen zur Heimwerkerkultur der 1980er Jahre konnte das ForscherInnenteam um Anne Honer und Werner Unseld zahlreiche Heimwerker befragen und ihr Verhältnis zu ihrem „tätige[n] Alltagsleben jenseits der beruflichen Arbeitssphäre“ ermitteln. Ihr Fazit war, dass die Heimwerker sehr genau unterschieden zwischen einer „verkaufte[n] Zeit“, die sie in ihrem Beruf verbrachten, und einer „subjektiv sinnvoll ‚investierte[n] Frei-Zeit‘“, worunter sie vor allem auch das Heimwerken verstanden. (Was für die Heimwerker auch bedeutete, dass die aufgewendete Arbeitszeit nicht mit in die KostenNutzen-Rechnung des Heimwerkens eingehen könnte, was in der immer wieder reproduzierten Wendung mündete: „Die Zeit darf man natürlich nicht rechnen.“) „Metaphorisch gesprochen: Wenn er seine Werkstatt betritt, verläßt der Selbermacher die soziale Standardzeit und ‚versenkt‘ sich in eine sinnprovinzielle Zeitenklave [. . . ] Diese freiwillig gestaltete Zeit aber erlebt er, er mißt sie nicht.“78 Ganz im Sinne von Gerhard Schulzes Thesen zur „Erlebnisgesellschaft“79 wurde im Heimwerken eine Form der Arbeit betrieben, bei der es nicht nur um das Endprodukt, sondern um das Erleben des Arbeitens selbst ging. Ein rein instrumentelles Verständnis von Arbeit schloss sich damit für die Heimwerker aus, eine „Schonhaltung“, wie Helmut Klages sie für den Berufsbereich feststellen zu können meinte, findet sich in den Selbstauskünften der Heimwerker nicht wieder. Wieder war es Horst Opaschowski, der diese Tendenz pointiert zusammenfasste: „Freie Tätigkeit ist nicht Freiheit von der Arbeit, sondern Freiheit in der Arbeit.“80 76
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Vgl. Anne Honer/Werner Unseld, „Die Zeit darf man natürlich nicht rechnen.“ Der Heimwerker und seine Zeiten, in: Peter Gross/Peter Friedrich (Hrsg.), Positive Wirkungen der Schattenwirtschaft?, Baden-Baden 1988, S. 219–225, hier S. 224 u. Walter Siebel, Der Mythos Schattenwirtschaft. Nur wer Arbeit hat, ist auch erfolgreich in Schwarzarbeit und Selbsthilfe, in: Die Zeit, 25.04.1986. Elisabeth Noelle-Neumann und Peter Gillies kamen an diesem Punkt zu einem anderen Schluss; in ihrer Befragung von Arbeitslosen gaben immerhin 31 Prozent der Interviewten als „Vorteil“ der Arbeitslosigkeit an, nun „vieles selber machen [zu können], wofür ich früher andere gebraucht hätte.“ Elisabeth NoelleNeumann/Peter Gillies, Arbeitslos. Report aus der Tabuzone, Frankfurt a.M. 1987, S. 45. Vgl. Winter, Betriebs-, Markt- und Kundenstruktur, S. 34 u. Engelbertine Martin, Freizeitverhalten, Hamburg 1983 (= Spiegel-Verlagsreihe Märkte im Wandel 11), S. 67. Honer/Unseld, „Die Zeit darf man natürlich nicht rechnen“, in: Gross/Friedrich (Hrsg.), Positive Wirkungen der Schattenwirtschaft, S. 221. Vgl. Gerhard Schulze, Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt a.M./New York 1992. Horst W. Opaschowski, Freizeit in der Entwicklung, in: Ders./Ursula Neubauer, Probleme im Umgang mit der Freizeit, Hamburg o. J., S. 6–27, hier S. 26.
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Diese neue Arbeitsfreude in der Freizeit korrespondierte auch mit der Form und der Struktur der geleisteten Aufgaben. Nicht nur, dass sie als selbstbestimmt, nicht arbeitsteilig und somit als „nicht entfremdet“ beschrieben wurden. Gleichzeitig hob man auch immer wieder eine besondere Wertschätzung für das Handwerkliche innerhalb der Tätigkeiten hervor81 . Was schon bei der Do it yourself-internen Diskussion der Manager-Krankheit vorgebracht wurde, zog sich auch auch durch den weiteren Diskurs über das Heimwerken: mit den Händen arbeiten können, eine latent kritische Distanz zur industriellen Produktion (die gleichzeitig in der aktiven Arbeit mit industriell produzierten Maschinen und Materialien praktisch wurde, was nur eine der zahlreichen Paradoxien des Heimwerkens ist), der Stolz auf die geleistete „Qualitätsarbeit“ (die auch der Arbeit von professionellen Handwerkern gegenübergestellt wurde, denen häufig Pfuschereien, Unverschämtheit und Unpünktlichkeit bei exorbitanten Lohnforderungen vorgeworfen wurde82 ), der sich durchaus mit dem Arbeitsethos eines Facharbeiters vergleichen ließ. Damit ist auch für diesen Bereich eine „Bekräftigung eines klassischen Arbeitsethos“ festzustellen83 . Mit der (Selbst-) Nobilitierung zum heimwerkenden Facharbeiter ging auch die immer professionellere Ausstattung der eigenen Heimwerkstatt einher, die zunehmend einem kleineren Handwerksbetrieb in Fragen der Bestückung mit Maschinen in nichts mehr nachstand84 ! Dieser Wandel in der Einstellung zur Arbeit und vor allem zur Zunahme der „männlichen“ Arbeit im und am eigenen Haus oder der eigenen Wohnung lässt sich jedoch nicht allein in den Praktiken – vom Tapezieren angefangen bis hin zur Komplettsanierung eines baufälligen Altbaus, der jedoch wohl nur für die wenigsten und dann wahrscheinlich besonders engagierten Heimwerker infrage kam – und deren Deutungen ablesen. Vielmehr lässt sich dieser Wandel auf einer viel basaleren Ebene erkennen: an der Wahl der verwendeten Sprache, um über die Praktiken zu kommunizieren.
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Zur Wertschätzung des Handwerklichen bei Heimwerkern vgl. auch Tietz, Wertedynamik und gesellschaftliche Rahmenbedingungen, S. 42. So berichteten Heimwerker anlässlich einer Forderung eines TÜV-Mitarbeiters, für Reparaturen am Auto ein Do it yourself-Verbot zu erlassen, von ihren schlechten Erfahrungen mit Handwerkern. Sie schrieben über verpfuschte Reparaturen durch KfZ-Mechaniker, die nicht einmal „die Sorgfalt und die Qualität einer Gesellenprüfungsaufgabe“ erreichten. Vgl. Fritz Haberl, Das Kind nicht mit dem Bade ausschütten, in: Selbst ist der Mann 21 (1977), S. 4. Ähnliches ließe sich auch im Bereich der Haushaltsreparaturen finden. Neuheiser, Der „Wertewandel“ zwischen Diskurs und Praxis, S. 165. So investierte der private Haushalt in seinen Maschinenpark mehr als „the average commercial firm [. . . ] a century ago“, wie es Rolf G. Heinze und Peter Olk in ihren Arbeiten zur Schattenwirtschaft herausgestellt haben. Vgl. Rolf G. Heinze/Thomas Olk, Development of the Informal Economy. A Strategy for Resolving the Crisis of the Welfare State, in: Futures 14 (1982), S. 189–204, hier S. 189, S. 195.
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„Heimwerk“ versus „Hausarbeit“ Dieser Wandel der Verlagerung von arbeitsbezogenen Werten aus dem Beruf in die Freizeit lässt sich auch schon an der Begriffsbildung nachzeichnen. Wurde zunächst allein der anglophone Begriff des Do it yourself verwendet – oder auch dessen direkte Übersetzung als „Mache es selbst!“ – kam in den 1960er Jahren ein Konkurrenzbegriff auf, der in der Folge zumindest gleichberechtigt gebraucht wurde: Heimwerken. Auch die Zeitschrift Selbst ist der Mann verwendete seit Mitte der 1960er diesen Neologismus im Untertitel und ersetzte damit den vorher gebrauchten Begriff des Do it yourself85 . Die genaue Wortherkunft ist unklar, Vermutungen, dass es sich um eine Wortprägung der Marketing-Abteilung der AEG gehandelt haben kann86 , sind nicht plausibel, wurde der Begriff doch schon 1957 im Impressum der ersten Ausgabe von Selbst ist der Mann verwendet87 . Doch auch wenn der genaue Zeitpunkt der ersten Verwendung des Terminus Heimwerken nicht aufs Jahr genau festgelegt werden kann, so lässt sich doch im Verlauf der 1960er Jahre dessen steigende Popularität nachweisen, der bis zur Aufnahme in die einschlägigen Wörterbücher ab den frühen 1970er Jahren führte88 . Die begriffsgeschichtlichen Vorgaben ernst nehmend, dass in unterschiedlichen Begriffen immer auch Rückschlüsse auf die Sozialgeschichte der jeweiligen Verwendungszeit kondensiert vorliegen, lässt sich allein aus dem Neologismus Heimwerken vieles über das Verständnis von Arbeit und vor allem von freiwillig in der Freizeit geleisteter Arbeit im eigenen Haus ableiten. Denn auf der reinen Wortebene scheint es sich beim Heimwerken um ein archaisch anmutendes Synonym für den Terminus Hausarbeit zu handeln – doch schwingen bei beiden Begriffen gänzlich andere Konnotationen mit. Ist der Unterschied auf dem ersten Substantiv der Komposita eventuell nur marginal (Heim vs. Haus), so lässt sich im Übergang vom Arbeits- auf den Werkbegriff eine zentrale semantische Verschiebung feststellen. Werner Conze hat in den Historischen Grundbegriffen den Arbeitsbegriff genau vermessen und ihn zwischen den Polen „Segen“ und „Fluch“ verortet; Jürgen Kocka folgte ihm insoweit, als dass auch er den Arbeitsbegriff zwischen „Last und Lust“ ansiedelte89 . Beide Autoren verweisen insbesondere auf den 85 86
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So trug die Zeitschrift zunächst den Untertitel „Das deutsche Do it yourself “. Ab den 1960er Jahren hingegen: „Das Heimwerkermagazin.“ Vgl. zu dieser These Karoline Brombach, Der Baumarkt. Standortstruktur und Morphologie eines Bautyps zwischen den Zentren und Ansätze zu seiner Qualifizierung, Detmold 2010, S. 29. Vgl. Herzlich Willkommen. Vgl. z. B. Heimwerker, in: Meyers Enzyklopädisches Lexikon Band 11, Mannheim u. a. 1974, S. 633. Vgl. Werner Conze, Arbeit, in: Reinhart Koselleck/Otto Brunnner/ders. (Hrsg.), Geschicht-
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seit dem 19. Jahrhundert in der Nachfolge Marx’ an Bedeutung gewinnenden Entfremdungsdiskurs. Kann also Hausarbeit in diesem als fremdbestimmte und entfremdete (wenn auch sicher nicht arbeitsteilig organisierte) Arbeit im eigenen Haus verstanden werden, bei der noch – vor allem auch wegen der Zuschreibung als weiblich – negative Wertungen mitschwangen, liegt der Fall beim „Werk“ ganz anders. Der Werkbegriff könne geradezu als „Antidoton der Produktionsformen und Nivellierungstendenzen der modernen Industriegesellschaft“ verstanden werden, so Jan-Peter Pudelek in den Ästhetischen Grundbegriffen90 . Anders als der Begriff der Arbeit transportierte der Werkbegriff somit immer den Rückgriff auf handwerklich-künstlerische, vor allem aber vorindustrielle und nicht entfremdete Aktivitäten. Und auf diese griffen die Verantwortlichen in den heimwerkerrelevanten Marketingabteilungen und die Heimwerker selber zurück, um ihr Tun zu kennzeichnen. Eingedenk dieser semantischen Voraussetzungen von Heimwerk und Hausarbeit verwundert es auch nicht, dass sich die Heimwerker gegen die Verwendung des Begriffs Hausarbeit für ihre Do it yourself-Aktivitäten sträubten. In einer der ersten Marktforschungen zum Do it yourself in der Bundesrepublik Deutschland gebrauchte die William Wilkens Wirtschaftswerbung KG den Terminus „handwerkliche Hausarbeiten“, um die für die frühen 1960er Jahre noch ungewohnten Freizeitpraxen der Bundesbürger zu kennzeichnen91 . Die Heimwerker selbst begrüßten zwar die Untersuchung, wiesen es jedoch weit von sich, Hausarbeiten auszuführen und beharrten auf der Verwendung entweder von Do it yourself oder von Heimwerken92 . Gerade an dieser Reaktion lässt sich die Selbstcharakterisierung der Heimwerker und ihrer Arbeiten augenfällig ablesen.
Fazit Inwiefern lässt sich nun anhand des Do it yourself und des Heimwerkens von einem Wandel arbeitsbezogener Werte sprechen? Bietet der Bereich der FreizeitArbeit eine Möglichkeit, die These eines Wandels in diesem Bereich in den 1970er
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liche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Band 1, Stuttgart 1972, S. 154–215, hier S. 215; Jürgen Kocka, Mehr Last als Lust. Arbeit und Arbeitsgesellschaft in der europäischen Geschichte, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2 (2005), S. 186–206. Vgl. Jan-Peter Pudelek, Werk, in: Karlheinz Barch u. a. (Hrsg.), Ästhetische Grundbegriffe. Band 6, Stuttgart/Weimar 2005, S. 520–588, hier S. 523. Vgl. William Wilkens Wirtschaftswerbung KG, Do it yourself – ein Markt mit Zukunft, Hamburg 1961. Die genaue Definition lautete: „handwerkliche Hausarbeiten, wie sie in jedem Haushalt auftreten und selbst ausgeführt werden können.“ Ebd., S. 11. Vgl. Bastl meint, in: Selbst ist der Mann 6 (1962), S. 3.
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und 1980er Jahren zu stützen, fordert er vielmehr zur Revision dieser Annahme heraus oder kann er als deren Widerlegung herangezogen werden? Schaut man auf die enge Verzahnung zwischen Praktiken und Selbstdeutungen, so wird deutlich, dass sich im Heimwerken Werte ausdrückten und artikuliert wurden, die in den 1970er und 1980er weniger als gänzlich neu galten, sondern sich vielmehr auf weitaus ältere Traditionen beriefen. Ambitionierte Heimwerker praktizierten bewusst nicht arbeitsteilige handwerkliche Tätigkeiten und begründeten diese auch mit Traditionsbeständen aus einem bürgerlichhandwerklichen Wertehorizont: Fleiß, Selbstständigkeit, Ganzheitlichkeit wurden dabei sowohl von den sozialwissenschaftlichen und philosophischen Beschreibungen als auch von den Akteuren selbst als Ursachen angegeben, warum nun ausgerechnet diese Tätigkeiten mit wachsender Begeisterung, steigender quantitativer Ausdehnung und Zunahme des qualitativen Gehalts der Aufgaben angegangen wurden. Was sich allerdings tatsächlich gewandelt hatte, war der Raum, in dem derartige Werte realisiert werden konnten. Dies war nicht mehr der Betrieb, die Behörde oder ein sonstiger Ort der beruflichen Tätigkeit, sondern das eigene Wohnumfeld. Wie der Blick in die 1950er Jahre und die Debatte um die Manager-Krankheit zeigte, begleiteten diese Begründungszusammenhänge für das Selbermachen die sogenannte Do it yourself-Bewegung schon seit ihren Anfängen. Die Gegenüberstellung zwischen Berufs- und Freizeitarbeit war dementsprechend auch keine Neuerfindung der Jahre „nach dem Boom“93 . Was sich in den 1970er und 1980er Jahren jedoch wandelte, war ein rasanter Ausbau der infrastrukturellen Grundlage für die Verwirklichung dieser arbeitsbezogenen Werte im eigenen Haus: In die als krisenhaft beschriebenen Jahrzehnte fiel der flächendeckende Ausbau eines Netzes an Bau- und Heimwerkermärkten über das gesamte Gebiet der Bundesrepublik Deutschland hinaus, das Do it yourself-spezifische Publikationswesen verbreiterte sich rapide, von Reader’s Digest über die Kaffeeeinzelhandelsketten wie Tchibo und Eduscho bis hin zu den Buchclubs94 – jeder hatte Do it yourself-Ratgeberliteratur im Programm, die neben den konkreten Hilfen bei den anfallenden Arbeiten auch immer für die Idee des Heimwerkens als selbstbestimmte Tätigkeit jenseits der entfremdeten Berufsarbeitsarbeit warben und damit offensichtlich Erfolg hatten. Hinzu trat sicher noch, dass 93
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Vgl. dazu die vieldiskutierten und in manchen Bereichen auch inzwischen relativierten Befunde von Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008. Vgl. Reparieren leicht gemacht. Das Do It Yourself-Buch für Haus, Garten, Garage und Freizeit, Stuttgart/Zürich/Wien 1976; Nicholas J. Frewing, Der Heimwerker. Das große Buch für Hobby und Handwerk, Hamburg 1975 (Das Buch erschien in der Reihe der Tchibo-Bibliothek) u. John McGowan/Roger DuBern, Do it yourself für die ganze Familie. Instandhalten, Reparieren, Verschönern, Gütersloh 1985.
(Arbeits-)Ethos der Freizeit?
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körperliche Betätigung mit der sich immer weiter ausdehnenden Dienstleistungsgesellschaft immer weniger nachgefragt wurde; insbesondere Männer, für die auf Kraft basierende Aktivitäten noch immer Teil ihrer Identität waren, fanden im Heimwerkern eine Möglichkeit, derartige Bedürfnisse auszuleben – ohne sich des Vorwurfs „sinnloser“ Verausgabung auszusetzen95 . Die Bundesrepublik wurde zu einem „Volk von Bohrern und Bastlern“, das nicht mehr vom Heimwerken lassen konnte. Die Freizeit wurde so sicher zu einem wichtigeren „sinnstiftende[n] Bereich des Lebens“96 , was aber noch lange nicht bedeutete, dass diese arbeitsfrei verbracht wurde. Vielmehr kann von einer Privatisierung arbeitsbezogener Werte ausgegangen werden, die sich in den Freizeitpraxen der Bundesbürger ausdrückte. Dass sich daraus wiederum ein neuer Zwang ergeben konnte, insofern die ubiquitär verbreitete Botschaft des „Das können Sie auch“ auch bedeuten mochte, dass man es auch können muss (zumal sich die Anleitungsliteratur immer neuer didaktischer Kunstgriffe bediente, um auch noch den letzten Unwilligen zum Do it yourselfer zu machen), führt nun wiederum dazu, dass die noch in den 1970er und 1980er Jahren damit verbundenen Werte von Selbstbestimmung und handwerklichem Arbeitsstolz erneut hinterfragt werden müssen. „Das muß ja nun fast eigentlich wirklich ein jeder können“. Personen, die nicht heimwerken konnten oder wollten, galten als faul oder „‚deppert‘“, zitierte Anne Honer in den 1980er Jahren einen ihrer heimwerkenden Interviewpartner, der aus seiner Missachtung den Do it yourself-abstinenten Mitbürgern gegenüber keinen Hehl machte97 . „Man kann der Moderne nicht nachsagen, dass sie faul war“, so Rudolf Helmstetter in seinem Abriss über die „Verfleißigung“ seit der Industrialisierung98 ; gleiches gilt allerdings auch für die Postmoderne99 , wenn sich auch (wenigstens zum Teil) die Orte gewandelt hatten, an denen sich dieser Fleiß Bahn brach100 . 95
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Zeitgenössisch wies schon Katharina Rutschky bei der Analyse der Heimwerkerpresse auf die darin präsentierten Männlichkeitsbilder hin. Vgl. Katharina Rutschky, Unsere Presse. Neue Folge. So sind Jungs – Magazine nur für ihn, in: Merkur 44 (1990), S. 600–606. Neuheiser/Rödder, Eine Geschichte vom Werteverfall?, S. 36. Zitiert nach Anne Honer, Die Perspektive des Heimwerkers. Notizen zur Praxis lebensweltlicher Ethnographie, in: Detlef Garz/Klaus Krainer (Hrsg.), Qualitativ-empirische Sozialforschung. Konzepte, Methoden, Analysen, Opladen 1991, S. 319–340, hier S. 327f. Rudolf Helmstetter, Austreibung der Faulheit, Regulierung des Müßiggangs. Arbeit und Freizeit seit der Industrialisierung, in: Ulrich Bröckling/Eva Horn (Hrsg.), Anthropologie der Arbeit, Tübingen 2002, S. 259–279, hier S. 259. Postmoderne hier verstanden im Sinne Rödders als geschichtswissenschaftlich operationalisierbares Konzept zur Beschreibung der bundesrepublikanischen Gesellschaft seit den 1970er Jahren. Vgl. dazu Andreas Rödder, Wertewandel und Postmoderne. Gesellschaft und Kultur der Bundesrepublik Deutschland 1965–1990, Stuttgart 2004, S. 24ff. Ähnlich beschrieb auch schon Helmstetter das Übergreifen des Fleißparadigmas auch auf die Freizeit. Vgl. Helmstetter, Austreibung der Faulheit, S. 277.
2. Unternehmen und Unternehmer
Friederike Sattler
„Harvard in Schloss Gracht“: Das Universitätsseminar der Wirtschaft (USW). Wertewandel durch Weiterbildung wirtschaftlicher Führungskräfte? Fragt man nach dem Wertewandel in Wirtschaft und Arbeitswelt, so liegt es nahe, sich nicht zuletzt mit dem Führungspersonal in den Unternehmen, mit seiner Aus- und Weiterbildung und den dabei vermittelten normativen Vorstellungen und Werthaltungen zu befassen. Der Versuch, in der Bundesrepublik in den ausgehenden 1960er Jahren, ähnlich wie in anderen europäischen Ländern schon viel früher, mit dem „Universitätsseminar der Wirtschaft“ eine Art Business School nach amerikanischem Vorbild zu etablieren, kann dabei besondere Aufmerksamkeit beanspruchen. Denn das erklärte Ziel dieser Einrichtung war es, basierend auf den Erkenntnissen der modernen Wirtschafts- und Sozialwissenschaften zu einer Professionalisierung des Managements beizutragen, also eine bewusste Änderung von Entscheidungs- und Handlungskriterien – man könnte auch sagen: Werten – in der Unternehmensführung zu erreichen. Vor dem Hintergrund sinkender Wachstumsraten und steigender Anforderungen des wirtschaftlichen Strukturwandels schien dies geboten. Die Hoffnung der Initiatoren richtete sich darauf, durch ein stärker wissenschaftlich fundiertes, professionelles Management das Kernproblem unternehmerischen Entscheidungshandelns, die eigene Erwartungsbildung, in Hinblick auf zukünftige, per se unsichere Entwicklungen, besser bewältigen zu können1 . „Die Notwendigkeit zu entscheiden, reicht weiter als die Fähigkeit zu erkennen“2 . 1
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Die Erwartungsbildung wirtschaftlicher Akteure ist ein zentrales Thema der modernen ökonomischen Theorie. Da sich wirtschaftliche Entscheidungen stets auf die Zukunft beziehen, finden sie immer unter den Bedingungen fundamentaler Unsicherheit statt, die nur durch die Bildung von Erwartungen reduziert werden kann: Erwartungen über zukünftige Entwicklungen, insbesondere über das Verhalten anderer wirtschaftlicher Akteure (und ihrer Erwartungen) helfen dabei, die Komplexität der eigenen Entscheidungsfindung zu bewältigen, ja überhaupt Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit herzustellen. Die ökonomische Theorie unterscheidet grundsätzlich zwischen adaptiver, auf Erfahrung beruhender und rationaler, durch mathematische Modelle zu erfassender Erwartungsbildung. Vgl. als knappen Überblick: Bernd Biervert/Josef Wieland, Gegenstandsbereich und Rationalitätsform der Ökonomie und der Ökonomik, in: Bernd Biervert (Hrsg.), Sozialphilosophische Grundlagen ökonomischen Handelns, Frankfurt a.M. 1990, S. 7–32. Das genannte Motto wählte die Bremer Werft AG im Jahr 1971, um ihre Führungskräfte zur Weiterbildung zu motivieren. Dass es sich dabei um die treffende Formulierung des Kernproblems der ökonomischen Entscheidungstheorie handelte, welches letztlich gar nicht lösbar
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Mit diesem knappen Satz kann das stets unausweichliche, in Zeiten wirtschaftlicher, sozialer oder politischer Umbrüche aber noch verschärfte Problem auf den Punkt gebracht werden. Theoretisch-abstrakter lässt sich der Versuch, das Problem durch Professionalisierung des Managements besser in den Griff zu bekommen, als ein Prozess beschreiben, bei dem es zu einem sukzessiven, bewussten Verzicht auf die eher intuitiv-adaptive, vor allem auf eigene Erfahrungen rekurrierende Erwartungsbildung von wirtschaftlichen Führungskräften zugunsten des verstärkten Einsatzes von wissenschaftlich fundierten Beobachtungs-, Analyse- und Prognosetechniken sowie professionellen Konsultations- und Beratungsverfahren in allen wichtigen Bereichen der Unternehmensführung kam – oder zumindest kommen sollte. Doch stellt sich die Frage, ob die Professionalisierung des Managements als ein auf die berufliche Tätigkeit beschränktes Phänomen des Wissens um und Praktizierens von methodisch avancierten Techniken und Verfahren zur Unternehmensführung betrachtet werden kann. Inwiefern bezog sich die ab Mitte der 1960er Jahre in der Bundesrepublik vermehrt diskutierte Professionalisierung der Tätigkeit von wirtschaftlichen Führungskräften auch auf außerökonomische, gesellschaftlich und politisch relevante normative Vorstellungen? Untersuchungen zur Soziologie der Professionen stimmen trotz ihrer unterschiedlichen Herangehensweisen weitgehend darin überein, dass drei wesentliche Merkmale zur Herausbildung einer Profession erforderlich sind3 . Neben dem sozial regulierten Zugang zur Profession und ihrer abgrenzbaren, autonomen Wissensbasis zählt dazu auch die gesellschaftliche Vertrauenswürdigkeit. In der Regel beruht sie auf der Selbstbindung an einen professionellen Verhaltenskodex, der einen klaren Bezug zum Allgemeinwohl aufweist, etwa die allgemeine Rechtspflege bei Juristen. Gerade mit Blick auf die Manager, denen es infolge des weitgehend freien Zugangs zur Berufsausübung und der wenig formalisierten Anforderungen an die Qualifikation bis in die 1960er Jahre hinein weder in den USA noch in Europa gelungen war, als eigenständige Profession gesellschaftlich anerkannt zu werden, erlangte der Anspruch, auch „höhere Ziele“ mit im Sinn zu haben, besondere Bedeutung. Er durchzieht die Geschichte der amerikanischen Business Schools seit ihrer Gründung im späten 19. Jahrhundert und findet sich auch in den Diskussionen über die Professionalisierung des Managements in der Bundesrepublik wieder, verstärkt in den späten 1970er Jahren.
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ist, wurde freilich nicht herausgestellt. Vgl. Paul Poster, Poensgen-Stiftung, in: Handelsblatt, 18./19.6.1971. Für eine Quintessenz der wichtigsten, einschlägigen Studien: Rakesh Khurana, From Higher Aims to Hired Hands. The Social Transformation of Business Schools and the Unfulfilled Promise of Management as a Profession, Princeton 2007, S. 8–12; Mie Augier/James G. March, The Roots, Rituals, and Rhetorics of Change: North American Business Schools after the Second World War, Stanford 2011, S. 242–246.
„Harvard in Schloss Gracht“: Das Universitätsseminar der Wirtschaft (USW)
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Welche Wirkungen gingen von der mehr oder weniger erfolgreichen und offenbar auch „höhere Ziele“ umfassenden Professionalisierung des Managements für die bundesdeutsche Gesellschaft aus? Trug sie zu einem „Wertewandelschub“ bei, wie ihn die zeitgenössische sozialwissenschaftliche Forschung für das Jahrzehnt zwischen 1965 und 1975 diagnostizierte? Verstärkte oder bremste der Ansatz zur Professionalisierung des Managements die vor allem von Helmut Klages beschriebene, vielschichtige, in sich auch widersprüchliche, aber vom Trend her doch recht eindeutige Verschiebung von traditionellen „Pflicht- und Akzeptanzwerten“ wie Autorität, Hierarchie und Disziplin hin zu modernen „Freiheitsund Selbstentfaltungswerten“ wie Emanzipation, Teilhabe und Selbstverwirklichung zur individuellen Begründung von Motivation und Leistungsbereitschaft4 ? Ist es für eine historisch-empirische Untersuchung überhaupt sinnvoll, mit diesen Begrifflichkeiten der Wertewandelforschung zu arbeiten? Oder führt die Verwendung der beiden Kategorien „Pflicht- und Akzeptanzwerte“ hier, „Freiheitsund Selbstentfaltungswerte“ dort in die Irre, weil sie fast unweigerlich darauf hinausläuft, ein sozialwissenschaftliches Theorem wie den „Wertewandelschub“ historisch zu plausibilisieren, auch wenn der empirische Gehalt eher gering oder das Phänomen gar nicht zeittypisch ist? Der folgende Beitrag geht zunächst einmal von der Annahme aus, dass es den „Wertewandelschub“ zwischen 1965 und 1975 nicht nur im Sinne eines diskursiven, maßgeblich von der zeitgenössischen sozialwissenschaftlichen Forschung und den Massenmedien mitgeprägten Phänomens, sondern auch im Sinne eines tatsächlichen Wandels von normativen Vorstellungen der gesellschaftlichen Akteure gegeben hat, der sich in ihrer sozialen Praxis und ihrer Haltung gegenüber den gesellschaftlichen Institutionen widerspiegelt. Davon ausgehend dient die Frage nach dem „Erfolg“ oder „Misserfolg“ der angestrebten Professionalisierung des Managements als ein historisch-empirischer Indikator, um zu beurteilen, ob und in welchem Ausmaß sich die Wertorientierungen wirtschaftlicher Führungskräfte im fraglichen Zeitraum verändert haben. Als „Werte“ der Akteure werden dabei die auf ihren bewussten oder unbewussten Rationalitätskonzepten und -kriterien beruhenden semantischen Begründungen für alltägliche Praktiken und für Einstellungen gegenüber gesellschaftlichen Institutionen verstanden. Die auf eine wünschbare, in diesem Sinne also „vernünftige“ Ordnungsvorstellung bezogenen, entscheidungs- und handlungsleitenden Rationalitätskonzepte und -kriterien können, so die Annahme, mit den jeweils korrespondierenden semantischen Begründungen für bestimmte Praktiken und Institutionen kongruent 4
Als knappe Bilanz der sozialwissenschaftlichen Wertewandelsforschung mit Blick auf ihre Implikationen für die Zeitgeschichte: Andreas Rödder, Wertewandel in historischer Perspektive. Ein Forschungskonzept, in: Bernhard Dietz/Christopher Neumaier/Andreas Rödder (Hrsg.), Gab es den Wertewandel? Neue Forschungen zum gesellschaftlich-kulturellen Wandel seit den 1960er Jahren, München 2014, S. 17–39, hier S. 23–28.
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sein, müssen es aber nicht. Denn es ist stets in Rechnung zu stellen, dass explizite semantische Begründungen durch den medial vermittelten, öffentlichen Diskurs über „Werte“ und „Wertewandel“ erheblich verzerrt werden können, gerade wenn es um Kontroversen und neue institutionelle Weichenstellungen geht5 . So betrachtet erscheint der angenommene „Wertewandelschub“ zwischen 1965 und 1975 als eine Phase, in der die semantische Begründung zur Anwendung bestimmter Rationalitätskonzepte und -kriterien für soziale Praktiken und gesellschaftliche Institutionen mit traditionellen „Pflicht- und Akzeptanzwerten“ offenkundig immer schwieriger, ihre Begründung mit modernen „Freiheits- und Selbstentfaltungswerten“ dagegen immer einfacher wurde. Das kann, muss aber nicht heißen, dass sich auch die zugrundeliegenden, auf eine wünschbare, „vernünftige“ Ordnungsvorstellung bezogenen Rationalitätskonzepte und -kriterien dauerhaft gewandelt haben6 . Das in den Mittelpunkt der empirischen Betrachtung gerückte, im Frühjahr 1968 ins Leben gerufene Universitätsseminar der Wirtschaft wurde in der einschlägigen Literatur bisher so gut wie nicht behandelt7 . Auf der Basis neu erschlossener Quellen aus dem geschäftlichen Nachlass des früheren Vorstandssprechers der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen (1930–1989), der von der Gründung bis in die späten 1980er Jahre in den Gremien des USW aktiv mitwirkte, lassen sich die aufgeworfenen Fragen jedoch gut diskutieren: Der Beitrag geht
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Dieser Auffassung von „Werten“ und „Wertewandel“ liegt ein heuristisches Modell zugrunde, welches historischen Wandel grundsätzlich als eine koevolutionäre, also nicht rein kontingente, sondern rekursiv verkoppelte, spannungsreiche Beziehung von drei wesentlichen Momenten begreift: erstens Semantiken, verstanden als teils normative, teils beschreibende Bedeutungszuweisungen durch die gesellschaftlichen Akteure; zweitens Institutionen, verstanden als wechselseitig erwartungsstabilisierende formelle und informelle Verhaltensregeln mit entsprechenden Sanktionen; und drittens Praktiken, verstanden als alltägliche Verhaltensweisen, die mitunter deutlich von den gesetzlich, vertraglich oder moralisch sanktionierten Regeln des Zusammenlebens abweichen. Ausführlicher: Werner Plumpe, Ökonomisches Denken und wirtschaftliche Entwicklung. Zum Zusammenhang von Wirtschaftsgeschichte und historischer Semantik der Ökonomie, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2009/1, S. 27–52, insbesondere S. 30–40. Zum Wandel von Rationalitätskonzepten und -kriterien: Hansjörg Siegenthaler (Hrsg.), Rationalität im Prozess kultureller Evolution. Rationalitätsunterstellungen als eine Bedingung der Möglichkeit substantieller Rationalität des Handelns, Tübingen 2005. Einige Hinweise zur Gründung des USW finden sich bei: Matthias Kipping, The Hidden Business Schools: Management Training in Germany since 1945, in: Lars Engwall/Vera Zamagni (Hrsg.), Management Education in Historical Perspective, Manchester 1998, S. 95– 110, hier S. 103–106; Guiliana Gemelli/Benedict Rodenstock, German Obstinancy and its Historical Variations, in: Guiliana Gemelli (Hrsg.), The Ford Foundation and Europe (1950’s1970‘s). Cross-fertilization of Learning in Social Science and Management, Brüssel 1998, S. 307–349, hier S. 326–331. Außerdem liegt eine Selbstdarstellung vor, die einen knappen – oberflächlich, ja fehlerhaft geratenen – historischen Abriss enthält: Universitätsseminar der Wirtschaft (Hrsg.), 25 Jahre Universitätsseminar der Wirtschaft 1968–1993, Stuttgart 1993.
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zunächst auf die Gründung des USW ein, skizziert ihre Hintergründe und Ziele sowie das Seminarangebot. In einem zweiten Schritt werden dann die internen Auseinandersetzungen um das Profil dieser neuen, mit hohem wissenschaftlichem Anspruch auftretenden Weiterbildungseinrichtung für wirtschaftliche Führungskräfte in den 1970er und frühen 1980er Jahren analysiert. Es folgt ein Fazit, das die Auswirkungen des Versuchs der Professionalisierung des Managements auf den gesellschaftlichen Wertewandel zu bilanzieren versucht.
Die USW-Gründung: Hintergründe, Ziele und Seminarangebote Die Gründung des Universitätsseminars der Wirtschaft geht auf eine Initiative Ludwig Vaubels zurück, des Vorstandsvorsitzenden der Wuppertaler GlanzstoffFabriken AG, der seit seiner eigenen Teilnahme an einem Advanced Management Program der Harvard Business School auf dem Gebiet der Weiterbildung von Führungskräften sehr aktiv war8 . Gemeinsam mit anderen Industriellen aus der Region und zusätzlicher Unterstützung durch den Kölner Finanzwissenschaftler Günter Schmölders gelang es ihm 1966, den nordrhein-westfälischen Kultusminister Paul Mikat von der Notwendigkeit einer neuen, betont universitätsnahen Weiterbildungsmöglichkeit für Führungskräfte zu überzeugen: Die im Auftrag Mikats erarbeiteten konkreten Empfehlungen sahen den schrittweisen Aufbau eines maßgeblich von der Wirtschaft getragenen, aber eng mit den Universitäten kooperierenden, organisatorisch eigenständigen „Universitätsseminars der Wirtschaft“ vor; perspektivisch dachte man an eine „weitergreifende[. . . ] Einrichtung im Sinne einer Business School internationaler Prägung“9 . Die Initiatoren des USW stellten damit ein echtes Novum in Aussicht. Denn im deutschen System der Aus- und Weiterbildung von Führungskräften hatten sich – anders als in anderen kontinentaleuropäischen Ländern – universitätsnahe Business Schools nach amerikanischem Vorbild bis dahin nicht etablieren 8
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Vgl. Matthias Kipping/Christian Kleinschmidt, Ludwig Vaubel and the Renewal of Management Education in Germany after 1945, in: Anne Marie Kuijlaars u. a. (Hrsg.), Business and Society, Entrepreneurs, Politics and Networks in Historical Perspective, Rotterdam 2000, S. 521–530. Auf Vaubels Initiative berief Mikat noch 1966 ein von Schmölders geleitetes Sachverständigengremium ein, das ein Gutachten mit Empfehlungen erarbeiten ließ. Vgl. Hans-Joachim Arndt/Siegfried Faßbender/Hans Hellwig, Weiterbildung wirtschaftlicher Führungskräfte an der Universität. Denkschrift des Deutschen Instituts zur Förderung des industriellen Nachwuchses, Düsseldorf 1968; Willy Minz, Zur Management-Ausbildung und -Weiterbildung in Deutschland, in: Die Wirtschaftsprüfung 22/24 (1969), S. 681–688, hier S. 684 (für das Zitat).
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können; neben den fachspezifischen Ausbildungsgängen an den zahlreichen Hochschulen waren vielmehr die unternehmensinterne und die ebenfalls von der Wirtschaft getragene überbetriebliche Weiterbildung prägend geblieben10 . Den USW-Gründern ging es allerdings nicht um eine „Amerikanisierung“ der deutschen Aus- und Weiterbildungswege11 . Ihnen kam es in erster Linie darauf an, bereits in der Praxis stehenden Führungskräften neue Impulse aus den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften zu vermitteln, damit sie ihre im Zuge des Strukturwandels komplexer werdenden praktischen Aufgaben besser bewältigen konnten; besondere Bedeutung maßen sie dabei einer Strömung der modernen Betriebswirtschaft bei, die sich für Fragen der allgemeinen Organisationslehre und vor allem für mathematisch fundierte Modelle und Methoden der Unternehmensführung zu öffnen begonnen hatte12 . Nachdem die ersten Weichen gestellt waren, konstituierte sich im Februar 1968 ein Verein zur Förderung des USW13 , im Juni 1968 folgten ein Kuratorium14 und ein Programmbeirat15 . Mit der wissenschaftlichen Leitung des USW wurden Horst Albach und Walter Busse von Colbe beauftragt. Albach war Ordinarius 10
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Vgl. Robert R. Locke, The End of the Practical Man: Entrepreneurship and Higher Education in Germany, France, and Great Britain, 1880–1940, London 1984; ders., Management and Higher Education since 1940: The Influence of America and Japan on West Germany, Great Britain, and France, Cambridge 1989. Die Frage einer „Amerikanisierung“ der Aus- und Weiterbildung westeuropäischer Unternehmer und Manager ist in der Forschung intensiv diskutiert worden. Jüngere Untersuchungen betonen, dass es sich um einen langfristigen Transfer- und Diffusionsprozess von Ideen handelte, der von der Aufnahmebereitschaft der Adressaten abhing, deshalb allenfalls partiell wirksam wurde und zudem jeweils eigentümlich an die kulturellen Gegebenheiten angepasst wurde. Als Forschungsstandsbericht: Rolv Petter Amdam, Business Education, in: Geoffrey Jones/Jonathan Zeitlin (Hrsg.), The Oxford Handbook of Business History, Oxford 2007, S. 581–602. Vgl. Historisches Archiv der Deutschen Bank (künftig: HADB), Büro Herrhausen (künftig: V 30), 661, Ludwig Vaubel, Fachstudium und Erfahrung allein reichen nicht aus, in: Universitäts-Seminar der Wirtschaft. Ziele und Programm, o. O. [Köln] o. J. [1969]. Zum Wandel der deutschen Betriebswirtschaftslehre: Horst Albach, Business Administration: History in German Speaking Countries [1990], in: Klaus Brockhoff (Hrsg.), Geschichte der Betriebswirtschaftslehre. Kommentierte Meilensteine und Originaltexte, 2. Auflage, Wiesbaden 2002, S. 143–169; Alfred Kieser, The Americanization of Academic Management Education in Germany, in: Journal of Management Inquiry 13 (2004), S. 90–97. Den Vorsitz übernahm Ludwig Vaubel. Die Zahl der fördernden Unternehmen lag bald bei 60, darunter zahlreiche namhafte Großunternehmen. Vgl. HADB V 30/656, Liste der Mitglieder des USW-Fördervereins für 1969, 1970 und 1971, 27.6.1971. Den Vorsitz übernahm Otto Wolff von Amerongen. Vgl. HADB V 30/661, Aufstellung der Kuratoriumsmitglieder, in: Universitäts-Seminar der Wirtschaft. Den Vorsitz dieses Gremiums, dem auch Alfred Herrhausen, zu dieser Zeit noch Vorstandsmitglied der Vereinigten Elektrizitätswerke Westfalen AG, angehörte, übernahm Günter Schmölders. Vgl. HADB V 30/661, Aufstellung der Mitglieder des Programmbeirats, in: Universitäts-Seminar der Wirtschaft.
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am Seminar für Betriebswirtschaftslehre der Universität Bonn und übernahm im Nebenamt die Aufgabe des „Programmdirektors“. Busse von Colbe, der als Ordinarius am Institut für Unternehmensführung der Ruhr-Universität Bochum tätig war, wurde ebenfalls im Nebenamt zum „Forschungsdirektor“ ernannt. Beide waren Vertreter einer auf den Theorieansätzen Erich Gutenbergs basierenden, mathematisch ausgerichteten Betriebswirtschaftslehre, die sich u. a. mit Kostenrechnung und Bilanzierung, mit computergestützter Planung, Simulation und Entscheidungsvorbereitung, mit Operations Research, Controlling und Risikoabschätzung befasste. In dieser Besetzung der wissenschaftlichen Leitung spiegelte sich die Überzeugung der Initiatoren wider, dass die moderne Unternehmensführung sich nicht länger vor allem auf technisch-naturwissenschaftliches Fachwissen und Erfahrung stützen konnte, sondern zusätzlich auch auf neue, betriebswirtschaftlich fundierte Führungs- und Steuerungstechniken zurückgreifen sollte, die letztlich auf rechenhaften Verfahren beruhten16 . Dies war keineswegs nur ein von außen an die Unternehmen herangetragenes Ansinnen, sondern ergab sich aus ihrem eigenen Wandel: Viele Unternehmen in Westeuropa reagierten auf die seit den mittleren 1960er Jahren nachlassende Wachstumsdynamik mit einer Strategie der stärkeren Diversifizierung ihrer Produkte und Absatzmärkte, die sich organisatorisch im Übergang von bisher recht klaren, meist funktionalen zu komplexeren, oft divisionalen Unternehmensstrukturen niederschlugen17 . Die Anforderungen an die Unternehmensführung und das Management steigerten sich dadurch erheblich, der Bedarf an entsprechenden Aus- und Weiterbildungsangeboten sowie externer Beratung wuchs an18 . Vor diesem Hintergrund gelangten deutsche Unternehmer in den späten 1960er Jahren immer mehr zu dem Eindruck, sicher zusätzlich befördert von der Wirtschaftspresse, dass es im eigenen Land – verglichen etwa mit den USA, der Schweiz oder Skandinavien – gar keine wirklich „erstklassigen Schulen“ für die Weiterbildung der eigenen Führungskräfte gab. Bestehende Angebote wie zum Beispiel die „Baden-Badener Unternehmergespräche“ wurden zunehmend als bloße „Benimm-Klubs“ oder „Kontaktgelegenheiten“ wahrgenommen, die den wachsenden Anforderungen der Unternehmenspraxis nicht mehr gerecht
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Vgl. HADB V 30/661, Ludwig Vaubel: Fachstudium und Erfahrung allein reichen nicht aus, in: Universitäts-Seminar der Wirtschaft. Vgl. Youssef Cassis, Big Business. The European Experience in the Twentieth Century, Oxford 1997. Exemplarisch für jüngere Detailstudien: Pierre-Antoine Dessaux/Jean-Philippe Mazaud, Hybridizing the Emerging European Corporation: Danone, Hachette, and the Divisionalization Process in France during the 1970s, in: Enterprise & Society 7 (2006), S. 227–265. Das erklärt das rasche Wachstum der Unternehmensberatungen: Vgl. Christopher D. McKenna, The World’s Newest Profession. Management Consulting in the Twentieth Century, Cambridge 2006.
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wurden19 . Manche Autoren beschworen gar eine generelle europäische „Management-Lücke“: Europas technologischer Rückstand gegenüber den USA und Japan resultiere aus veralteten Führungs- und Organisationspraktiken, denn in den Vorständen vieler europäischer, gerade auch deutscher Großunternehmen herrsche die Gerontokratie20 . Nicht nur neue Fachzeitschriften für Unternehmensführung und Magazine für Manager wurden gegründet, auch neue gewerbliche „Management-Akademien“ schossen aus dem Boden21 . Zugleich blieb nicht unbemerkt, dass die besonders angesehene Harvard Business School zu dieser Zeit ihre Überlegungen wiederaufnahm, mit Kursen für multinationales Management nach Europa zu expandieren und das Feld nicht, wie in den frühen 1960er Jahren noch für richtig befunden, europäischen Mitbewerbern zu überlassen, um sich selbst auf Lateinamerika und Asien zu konzentrieren22 . Entsprechende Pressemeldungen wurden in den Führungsetagen deutscher Unternehmen aufmerksam zur Kenntnis genommen, gerade auch von den Mitgliedern des 1968 aus der Taufe gehobenen USW-Fördervereins23 . Die Kernidee des Universitätsseminars bestand darin, für akademisch-fachlich vorgebildete und praktisch erfahrene Manager, die bereits in Führungspositionen tätig oder hierfür vorgesehen waren, ein ebenso umfassendes wie intensives, wissenschaftlich fundiertes Weiterbildungsangebot zu schaffen, mit dem sie Anschluss an die modernen Wirtschafts- und Sozialwissenschaften bekommen und laufend halten konnten. Im Mittelpunkt stand dabei der Gedanke der besseren Vermittlung zwischen Praxis und Theorie: Um die Probleme der Praxis besser bewältigen zu können, sollten sie mit den neuesten theoretischen Erkenntnissen und methodischen Anregungen vor allem der Betriebsund Volkswirtschaftslehre, aber auch der Rechts- und Politikwissenschaft, der Soziologie oder der Psychologie vertraut gemacht und von der Nützlichkeit ihrer praktischen Anwendung überzeugt werden; und indem diese neuen Methoden 19
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Vgl. Deutschlands Manager-Schulen: Nicht befriedigend, in: Capital 4 (1970); ManagementSchulen im Umbruch, in: Handelsblatt, 18./19.6.1971. Zu den Baden-Badener Unternehmergesprächen: Armin Grünbacher, The Americanisation that Never Was? The First Decade of the „Baden-Badener Unternehmergespräche“, 1954–1964 and Top Management Training in 1950s Germany, in: Business History 54 (2012), S. 245–261. Vgl. etwa Das ‚Management-Gap‘ überbrücken, in: Blick durch die Wirtschaft, 28.3.1970; Manager sind machbar, in: Capital 5 (1970). Vgl. HADB V 30/600, mit zahlreichen einschlägigen, vom USW gesammelten Pressemeldungen. Vgl. Max Daetwyler, Struktur und Aufgaben der amerikanischen Business Schools, in: Neue Zürcher Zeitung, 25.7.1970; David Palmer, Harvard Moves into Europe, in: Financial Times, 18.6.1971. Außerdem: Guiliana Gemelli, From Imitation to Competitive-Cooperation: The Ford Foundation and Management Education in Western and Eastern Europe (1950s1970s), in: dies., The Ford Foundation, S. 167–304. Vgl. HADB V 30/656, Unterlagen zur Mitgliederversammlung des USW-Fördervereins am 30.6.1971.
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und Verfahren an die Praxis herangetragen wurden, konnten sie zugleich besser an deren Bedürfnisse angepasst werden24 . Der neue, hohe Stellenwert der systematischen Wirtschafts- und Sozialwissenschaften hing mit einem tiefgreifenden Paradigmenwechsel in der Art der Unternehmensführung zur Mitte der 1960er Jahre zusammen: Ihr Fokus verschob sich ganz grundsätzlich von der technischen Dimension des Produktionsprozesses, die bisher ein eher straffes Korsett vorgegeben hatte und von den jeweils Verantwortlichen vor allem technisches und naturwissenschaftliches Fachwissen verlangte, hin zur betriebswirtschaftlich-organisatorischen Dimension, die wesentlich größere, zu gestaltende Flexibilität ermöglichte. In anderen Worten: Die Unternehmensorganisation wurde nicht länger als eine bloße Hilfsfunktion für die Produktionstechnik betrachtet, sondern zunehmend als eine eigenständige ökonomische Ressource begriffen, für deren effiziente Verwendung dann aber auch Verantwortliche gebraucht wurden, die nicht nur technisch-naturwissenschaftliches Fachwissen und Erfahrung mitbrachten, sondern möglichst auch betriebswirtschaftlich versiert waren, eben den „Willen, zu managen“ mitbrachten25 . Das Universitätsseminar präsentierte sich mit seinem Ansatz in bewusster Absetzung zu den zahlreichen inzwischen bestehenden Schulungs- und Weiterbildungsangeboten, vor allem zur Harzburger „Akademie für Führungskräfte“26 . Die 1956 vom früheren NS-Verfassungsjuristen und SS-Oberführer Reinhard Höhn gegründete Harzburger Akademie hatte in den 1960er Jahren enorm wachsenden Zuspruch erfahren, richtete sich mit ihrem Seminarangebot aber gerade nicht exklusiv an die „Topmanager“, wie die Führungskräfte der Unternehmen nun immer häufiger genannt wurden, sondern an die viel breiteren Kreise des mittleren und unteren Managements. Bis 1971 hatten mehr als 200.000 Personen an den Lehrgängen der Akademie teilgenommen; sie alle wurden mit dem „Harzburger Modell“ vertraut gemacht, einer Führungskonzeption, bei der „Persönlichkeit“, „Menschenführung“ und „Betriebsorganisation“ im Mittelpunkt standen und die im Kern auf dem Prinzip einer klaren Hierarchie mit 24 25
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Vgl. HADB V 30/661, Universitäts-Seminar der Wirtschaft. Als Schlüsseltext hierzu: Marvin Bower, The Will to Manage, New York 1966. Bei den ersten öffentlichen Präsentationen des USW wurde ausdrücklich Bezug auf Marvin Bower genommen. Vgl. etwa: Horst Albach, Unternehmens-Führung. Sich dem Wandel stellen, in: Die Welt, 9.7.1969. Vgl. Adelheid von Saldern, Das „Harzburger Modell“. Ein Ordnungssystem für bundesrepublikanische Unternehmen, 1960–1975, in: Thomas Etzemüller (Hrsg.), Die Ordnung der Moderne. Social Engineering im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2009, S. 303–330; dies., Bürgerliche Werte für Führungskräfte und Mitarbeiter in Unternehmen. Das Harzburger Modell, 1960–1975, in: Gunilla Budde/Eckart Conze/Cornelia Rauh (Hrsg.), Bürgertum nach dem bürgerlichen Zeitalter. Leitbilder und Praxis seit 1945, Göttingen 2010, S. 165–184; Daniel C. Schmid, „Quo vadis, Homo harzburgensis?“ Aufstieg und Niedergang des „Harzburger Modells“, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 59 (2014), S. 73–98.
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der Delegation von Verantwortung in abgrenzbaren, genau zu beschreibenden Aufgabenbereichen beruhte. Damit versuchte man sich von dem in den Medien inzwischen vermehrt kritisierten autoritär-patriarchalischen Führungsstil abzusetzen und betonte stärker die sozialpartnerschaftlichen Elemente. An die Stelle älterer „Pflicht- und Akzeptanzwerte“ traten hier also normative Vorstellungen, die auf eine geordnete Kooperation setzen. Die Seminare des USW richteten sich gezielt an Manager in herausgehobenen Führungspositionen und sollten im Interesse der Professionalisierung das gesamte Spektrum der modernen wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Ansätze abdecken, die bei der Lösung praktischer Managementaufgaben von Nutzen sein konnten. Es wurde also – anders als beim „Harzburger Modell“ – kein bestimmtes, einheitliches Führungskonzept vertreten; das Seminarangebot des USW war vielmehr offen und plural angelegt. Mit ihm sollten neue Wege aufgezeigt, konkreter gesagt: Methoden und Verfahren vermittelt werden – alle möglichst wissenschaftlich fundiert, aber nicht unbedingt aus einem Guss –, wie unternehmerische Erwartungsbildungs- und Entscheidungsprozesse besser vorbereitet, durchgeführt und kontrolliert werden konnten. Man legte beim USW in der Tat viel Wert auf die Zusammenarbeit mit der Wissenschaft. Den Anspruch, selbst auch die akademische Ausbildung von Managern übernehmen zu wollen, der wiederholt in der Presse ventiliert wurde, wiesen die USW-Vertreter aber zurück; man verstehe sich nicht als Nukleus einer privaten Stiftungsuniversität27 . Das USW stützte sich bei seinen ersten Seminaren, die ab 1969 an wechselnden Orten angeboten wurden, zunächst überwiegend auf externe Lehrkräfte, wobei der Anteil der Unternehmenspraktiker bei etwa 30 Prozent lag, erheblich höher als in amerikanischen Business Schools, wo er nur rund 10 Prozent betrug28 . Methodisch lehnte man sich aber eng an das Vorbild „Harvard“ an, die Analyse von Fallbeispielen bekam also einen hohen Stellenwert eingeräumt29 . Auch andere „praxisnahe, proaktive Lehrmethoden auf wissenschaftlicher Grundlage“, so der gern verwandte didaktische Fachterminus, wie Firmenbesuche, Unternehmensund Entscheidungsspiele, gruppendynamische Übungen und kontroverse Diskussionen erfreuten sich bei den Lehrkräften großer Beliebtheit; sie sollten dazu 27 28
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Vgl. Stiftungs-Universität. Lücke besteht, in: Das deutsche Industriemagazin 4 (1970); Peter Baum, Kaderschulen der Wirtschaft, in: Manager-Magazin 10 (1972). Vgl. Walther Busse von Colbe/Manfred Perlitz, Zehn Jahre General Management-Fortbildung am Universitätsseminar der Wirtschaft – Ein Vergleich mit den USA, in: Horst Albach/Walther Busse von Colbe/Hermann Sabel (Hrsg.), Lebenslanges Lernen. Festschrift für Ludwig Vaubel zum siebzigsten Geburtstag, Wiesbaden 1978, S. 143–163, hier S. 156– 158. Sie wurden in großer Zahl vom eigenen, sechs- bis achtköpfigen Wissenschaftlerteam erstellt und bezogen sich überwiegend auf bundesdeutsche Unternehmen. Exemplarisch: HADB V 30/660, Unterlagen und Schriftwechsel zur Erstellung einer Fallstudie zur Vereinigte Elektrizitätswerke Westfalen AG.
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beitragen, bei den Teilnehmern eventuell vorhandene Neigungen zu einem autoritären Führungsstil abzubauen30 . Die Orientierung an traditionellen „Pflichtund Akzeptanzwerten“ trat also auch hier in den Hintergrund, ja mehr noch, sie wurde bewusst in Frage gestellt und durch eine teils normative, teils beschreibende Vorstellung vom größeren Nutzen der offenen, fairen Auseinandersetzung in der sozialen Interaktion autonomer, frei entscheidender Individuen ersetzt. Besonderen Wert legte man am USW auf den Einsatz von Computern, vor allem um die Lösung quantitativer Entscheidungsprobleme zu erleichtern. Von Beginn an gehörten außerdem die Formulierung konkreter Lehr- und Lernziele sowie deren systematische, quantitative und qualitative Evaluierung im Verlauf der Seminare durch die Teilnehmer zum Standard. Mitwirkung und Teilhabe wurden also groß geschrieben. Das Spektrum der Seminarangebote reichte in den ersten Jahren von zehnbis zweiwöchigen Seminaren, die als Internatslehrgänge durchgeführt wurden, bis hin zu maßgeschneiderten firmeninternen Schulungen. Unter den Seminarveranstaltungen galt das „Zehnwochenseminar“ nach dem Vorbild des Advanced Management Program der Harvard Business School als das eigentliche „Flaggschiff “ des USW, denn es war das einzige umfassend angelegte General Management-Seminar der Bundesrepublik, bei dem betriebswirtschaftliche, in wachsendem Maße aber auch volkswirtschaftliche, juristische und gesellschaftspolitische Themen behandelt wurden31 . Dieses Seminar wurde ein- bis zweimal jährlich angeboten, doch zeigte sich schnell, dass es schwierig war, jeweils die vorgesehenen 50 Teilnehmer zu gewinnen, vor allem wohl wegen der langen Dauer, die das entsendende Unternehmen vor erhebliche Probleme stellte. Die Teilnehmer des ersten Zehnwochenseminars machten zudem die Erfahrung, dass sie bei sommerlicher Hitze, schlechter Unterbringung und Versorgung teils „bis zur physischen Erschöpfung“ mit neuem, theoretisch anspruchsvollen Lehrstoff konfrontiert wurden32 . Die organisatorischen Anfangsschwierigkeiten wurden bald behoben, doch die Kritik der Mitgliedsunternehmen an dem von vielen Teilnehmern als zu theoretisch empfundenen Seminarprogramm hielt an33 . Vor diesem Hintergrund wurde das Angebot um fachspezifische, stärker 30
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Vgl. HADB V 30/661, Horst Albach, Unternehmens-Führung. Sich dem Wandel stellen sowie Heinz Pentzlin, Auch Gruppenarbeit wird gelenkt und geleitet, beides in: Universitäts-Seminar der Wirtschaft. Außerdem: Horst Burgard, Erfahrungen im Schloss, in: Süddeutsche Zeitung, 31.1.1979. Vgl. HADB V 30/661, Das Zehnwochen-Seminar für Führungskräfte, in: Universitäts-Seminar der Wirtschaft. Außerdem: Busse von Colbe/Perlitz, General Management-Fortbildung, S. 148–149. Vgl. Nacktes Überleben, in: Der Spiegel 36 (1969). Vgl. außerdem das Gespräch der Autorin mit Horst Albach am 16.12.2011. Vgl. – exemplarisch – diesbezüglichen Schriftwechsel zwischen Herrhausen und Erhard Bouillon, dem Vorstandsvorsitzenden der Hoechst AG: HADB V 30/659, Bouillon an Herrhausen, 19.12.1974; Herrhausen an Bouillon, 23.12.1974.
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praxisorientierte, meist zwei- bis dreiwöchige Seminare ergänzt, und zwar ab 1970 zum Marketing, ab 1971 zur Planung und ab 1973 zur Personalführung. Diese kürzeren Fachseminare erfreuten sich guten Zuspruchs, so dass das entsprechende Angebot in den folgenden Jahren ausgebaut wurde. Besonders gut kam dabei das 1974 stattfindende dreiwöchige „Betriebswirtschaftliche Seminar für technische und naturwissenschaftliche Führungskräfte“ an: Es war speziell für Interessenten aus dem Maschinenbau und der Chemieindustrie entwickelt worden, also zwei Branchen, in denen man wegen der relativ starken Ausrichtung auf die Produktionstechnik – offenbar zu Recht – besonders hohen betriebswirtschaftlichen Fortbildungsbedarf ausgemacht hatte34 . Insgesamt stiegen die Teilnehmerzahlen von anfangs etwa 350 Personen moderat auf rund 460 Personen im Jahr 1974 an35 . Auch wenn man damit die eigene Exklusivität und den hohen wissenschaftlichen Anspruch des Seminarprogramms unterstrichen sehen mochte, was im Sinne der sozialen Anerkennung von Managern als eigene „Profession“ hilfreich sein konnte, ließen diese niedrigen Zahlen bei den Mitgliedern des USW-Fördervereins doch die Frage aufkommen, ob sich ihr Einsatz tatsächlich lohnte.
Auseinandersetzungen über die weitere Entwicklung In den Auseinandersetzungen über die weitere Entwicklung des USW kam der Deutschen Bank und ihren Repräsentanten eine wichtige Rolle zu. Denn die Bank gehörte nicht nur zu den Unternehmen, die das USW von Beginn an mit vergleichsweise hohen und kontinuierlichen Beträgen unterstützten36 ; ihr Vertreter hatte in den USW-Gremien auch die Gründung einer Grundstücksverwaltungsgesellschaft angeregt und vorangetrieben, um ein eigenes Unterrichtsgebäude kaufen oder bauen zu können37 . Anfangs war es vor allem der Vorstandssprecher Franz Heinrich Ulrich, der sich für das USW engagierte, ab Januar 1970
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Vgl. HADB V 30/661, Geschäftsberichte des Vereins zur Förderung des USW für 1974. Fast 60 Prozent dieser Teilnehmer kamen aus Großunternehmen mit mehr als 2.500 Beschäftigten. Vgl. HADB V 30/661, Geschäftsberichte des Vereins zur Förderung des USW für 1974. Ähnlich starke, fortlaufende Unterstützung kam ansonsten nur noch von Bayer, Enka Glanzstoff, Siemens und der Firma Otto Wolff aus Köln. Vgl. HADB V 30/657, Aufstellung der Spenden für das USW in den Jahren 1969 bis 1977, 29.12.1978. Vgl. HADB V 30/656, Deutsche Bank, Vorstandssekretariat, an den USW-Förderverein betr. die Gründungsversammlung der „USW-Grundstücksverwaltungsgesellschaft bürgerlichrechtliche Gesellschaft“, 6.3.1972.
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übergab er die damit verbundenen Aufgaben schrittweise an seinen neuen Vorstandskollegen Alfred Herrhausen38 . Herrhausen selbst war von der Idee, „in Deutschland eine Art Harvard Business School aufzubauen“39 , fasziniert und deshalb auch bereit, sich an der Seite von Ludwig Vaubel als stellvertretender Vorstandsvorsitzender des USW-Fördervereins um die strategisch wichtigen Organisations- und Finanzierungsfragen zu kümmern40 . Das lief alles andere als routiniert-professionell: Denn abgesehen von der schwierigen Suche nach einem geeigneten Unterrichtsgebäude41 , kam es auch hinsichtlich der Leitungsstrukturen und der Finanzierung bald zu heftigen Auseinandersetzungen. Mit Blick auf die Frage nach dem Wertewandel bundesdeutscher Manager ist es aufschlussreich, sich genauer anzusehen, wo die Konfliktlinie dieser Auseinandersetzungen verlief. Sie lag nämlich zunächst nicht, wie man vielleicht annehmen könnte, zwischen „Theoretikern, sprich: Wissenschaftlern“ auf der einen und „Praktikern, sprich: Unternehmensvertretern“ auf der anderen Seite. Sie trennte vielmehr diejenigen Unternehmensvertreter, die zu einem möglichst gut nachgefragten, wissenschaftlich ruhig weniger ambitionierten Seminarangebot kommen wollten, von anderen „Praktikern“ wie etwa Ludwig Vaubel oder Alfred Herrhausen, die der Einführung neuer, betriebswirtschaftlich avancierter Methoden und Verfahren bei der Unternehmensführung besonders aufgeschlossen und erwartungsvoll gegenüberstanden und die sich deshalb gemeinsam mit den Wissenschaftlern um eine Institutionalisierung des USW in genau diesem Sinne bemühten. Diese Unternehmensvertreter sahen die Gefahr, dass das USW zu einer Weiterbildungseinrichtung wie viele andere auch werden könnte und waren deshalb bereit, den Wissenschaftlern eine relativ starke Autonomie einzuräumen; sie wollten am Anspruch, „Harvard in Schloss Gracht“ zu bieten, keine Abstriche machen.
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Franz Heinrich Ulrich gehörte dem Kuratorium des USW-Fördervereins von der Gründung im Frühjahr 1968 bis zum Juni 1975 als stellvertretender Vorsitzender an. Herrhausen wurde im Frühjahr 1970 in den Vorstand des USW-Fördervereins berufen, dem er bis Juni 1975 als stellvertretender Vorsitzender angehörte. Im Juli 1975 wechselte er dann in das Kuratorium, um dort an der Seite von Otto Wolff von Amerongen den stellvertretenden Vorsitz zu übernehmen. Von März 1972 bis zu seiner Ermordung im November 1989 hatte Herrhausen außerdem den Vorsitz im Beirat der USW-Grundstücksverwaltungsgesellschaft inne. HADB V 30/658, Herrhausen an Spethmann, 15.5.1970. Die gleiche Formulierung findet sich in zahlreichen weiteren Briefen, die Herrhausen mit der Bitte um Unterstützung für das USW an ihm persönlich bekannte Manager versandte. Vgl. HADB V 30/662, Vaubel an Herrhausen, 20.8.1970; Herrhausen an Vaubel, 1.9.1970. Im März 1973 fiel schließlich die Entscheidung zum Erwerb von Schloss Gracht. Vgl. HADB V 30/658, Erwin Brüske, Unser Weg nach Gracht, in: Das Universitätsseminar der Wirtschaft in Schloß Gracht, Broschüre zur Dokumentation der Eröffnungsfeier am 30.4.1976.
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Umstrittene Organisations- und Finanzierungsfragen Mit Blick auf die Organisation lag besonderes Konfliktpotenzial darin, dass es zwischen der Geschäftsführung des USW-Fördervereins und dem Geschäftsführenden Vorstand des USW, das als Institution inzwischen viel mehr Eigengewicht bekommen hatte, keine klare Trennung der Verantwortlichkeiten für Finanzierung, Verwaltung und Personalwesen gab42 . Daraus ergaben sich laufende Spannungen zwischen dem Geschäftsführer des Fördervereins Erwin Brüske, der stets die Interessen der fördernden Unternehmen im Blick behielt und kostensparende, übergreifende Kooperationsmöglichkeiten ausloten wollte, und dem Geschäftsführenden Vorstand des USW, dem neben Brüske noch Programmdirektor Horst Albach und Forschungsdirektor Walther Busse von Colbe angehörten; sie beide waren vorrangig mit der Gestaltung und Umsetzung des wissenschaftlichen Programms befasst, sehr an der institutionellen Eigenständigkeit des USW interessiert und warfen der Verwaltung vor, nicht professionell genug und klar im Dienste der Wissenschaft stehend zu arbeiten. Herrhausen bemühte sich, die Reibungen zwischen Brüske und Albach durch vermittelnde Gespräche atmosphärisch zu mildern43 , setzte sich in der Sache aber sehr entschieden für die Berufung eines neuen, möglichst hochqualifizierten General Managers als Verwaltungsleiter und die Verabschiedung einer Geschäftsordnung zur klaren Regelung der Kompetenzen ein. Er war sich mit Albach und Busse von Colbe einig, dass das wissenschaftliche Potenzial des USW nur durch eine solche Professionalisierung des eigenen Managements gehoben und sein Profil damit zugleich geschärft werden konnte, worauf es vorrangig ankam. Herrhausen empfahl dem Vorstand also, den Wünschen von Albach und Busse von Colbe hinsichtlich der eigenen Kompetenzen und der personellen Ausstattung stärker entgegenzukommen44 . Doch Entscheidungen darüber zögerten sich hinaus45 .
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Vgl. HADB V 30/662, Bericht über eine Organisationsuntersuchung beim USW in Köln, März – Mai 1970, erstellt von Dipl.-Kfm. Karl Heinz Kettner, Prokurist der August ThyssenHütte AG, 25.6.1970. Vgl. das Gespräch der Autorin mit Horst Albach am 16.12.2011. Vgl. hierzu ein von Albach vorgelegtes Memorandum und darauf bezogenen Schriftwechsel Herrhausens: HADB V 30/662, Die Zukunft des Universitätsseminars der Wirtschaft, Albach, 16.5.1970; Brüske an Herrhausen, 12.1.1971; Blankenburg an Herrhausen, 25.1.1971; Herrhausen an Vaubel, 11.5.1971; Bankenburg an Herrhausen, 13.5.1971; Herrhausen an Bankenburg, 1.6.1971; Blankenburg an Herrhausen, 13.9.1971; Herrhausen an Vaubel, 10.1.1972; Vaubel an Albach, 13.1.1972. Vgl. HADB V 30/660, Vaubel an Schwesinger, 26.10.1971. Anfang Mai 1972 war immerhin klar, dass Albach die Programmdirektion an Busse von Colbe abgeben und sich selbst auf die Position des Forschungsdirektors zurückziehen wollte; zur Entlastung von Brüske wurde nun nach einem zusätzlichen Verwaltungsmitarbeiter gesucht. Vgl. HADB V 30/660, Vaubel an Herrhausen, 2.5.1972.
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Mit Blick auf die Finanzierung des USW entstand eine besondere Problemlage, als es Anfang 1973 zum politisch bedingten, fast vollständigen Wegfall der staatlichen Zuschüsse kam: Unter neuen, sozialdemokratischen Vorzeichen hatten sowohl das Bundesministerium für Wirtschaft als auch das Ministerium für Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen die bisher gewährte institutionelle Unterstützung zum Jahresende 1972 aufgekündigt, die bei etwa einem Viertel des Jahresetats von gut 2 Millionen DM gelegen hatte46 . Ein Ansatzpunkt zur Lösung des Problems bestand darin, nicht nur einzelne Unternehmen, sondern auch die Wirtschaftsverbände anzusprechen, im Interesse einer schnellen Überbrückungshilfe wie einer möglichst dauerhaften Unterstützung47 . Wie erhofft, setzte sich der BDI gemeinsam mit der BDA und dem DIHT für eine „Sonderspendenaktion“ zugunsten des USW ein48 . Die Resonanz der angesprochenen Unternehmen war unterschiedlich, doch im Ergebnis brachte die Aktion dem USW gut 500.000 DM ein, womit die entstandene Finanzierungslücke im Haushaltsjahr 1974 voll gedeckt werden konnte49 . Damit waren die mittel- bis langfristigen Finanzierungsprobleme natürlich noch nicht gelöst. Doch der von Vaubel unternommene Versuch, die Wirtschaftsverbände selbst für eine dauerhafte institutionelle Förderung des USW zu gewinnen50 , stieß bei den Wissenschaftlern im eigenen Haus auf erhebliche Vorbehalte51 . Sie sahen die Gefahr, dass das USW künftig als ein „Institut der Industrie“ angesehen werden würde, welches von dieser subventioniert werden müsse, und nicht mehr als eine wissenschaftliche Einrichtung für die Wirtschaft. Horst Albach, der mit der Entwicklung des USW ohnehin höchst unzufrieden war, zog radikale Konsequenzen und erklärte seinen Rückzug aus dem Geschäftsführenden Vorstand. Vaubel und Herrhausen, denen klar war, dass Albachs Ausscheiden „für das USW nach innen und außen tödlich sein könnte“, denn er war für die Wissenschaftler am Haus wie für die Presse die zentrale Persönlichkeit des USW, setzten alles daran, diesen Schritt nicht als offenen Bruch erscheinen 46
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Vgl. HADB V 30/658, Vaubel an Herrhausen, 24.6.1973. Die Unterstützung durch Globalzuschüsse für eine Einrichtung der Wirtschaft zur Weiterbildung ihrer Führungskräfte wurde politisch nicht länger für opportun gehalten; damit war allerdings nicht das Ende jeglicher Unterstützung des USW durch die öffentlichen Hände erreicht, es gab weiterhin projektbezogene Einzelförderungen und vor allem großzügige Bauförderung für die Sanierung von Schloss Gracht. Vgl. HADB V 30/658, Vaubel an Herrhausen, 26.4. und 8.5.1973; Brüske an Herrhausen, 9.5.1973. Vgl. HADB V 30/658, Vaubel an Herrhausen, 26.4.1973; Vaubel an Wolff von Amerongen und Herrhausen, 8.5.1973; USW-Förderverein, Sohl/Friedrich/Wolff von Amerongen, an verschiedene Adressaten, 12.6.1973. Vgl. HADB V 30/657, Aufstellung der Spenden für das USW in den Jahren 1969 bis 1977, 29.12.1978. Vgl. HADB V 30/662, Vaubel an Herrhausen, 20.7. und 4.9.1973. Vgl. HADB V 30/662, Albach an Vaubel, 23.9.1973.
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zu lassen52 . Für Albachs Bedenken gegen die Mitfinanzierung des USW durch die Wirtschaftsverbände zeigten sie jedoch kaum Verständnis. Albach seinerseits sparte nicht mit Kritik: Wenn das USW künftig nicht nur durch Subventionen am Leben gehalten werden solle, dann sei dringend die schon so lange ausstehende Reorganisation erforderlich, mahnte er und schlug die Schaffung eines mit hoher Durchsetzungskraft ausgestatteten Boards nach angelsächsischem Vorbild vor53 . Herrhausen hielt von diesem Vorschlag nichts: Er hebe die Probleme nur auf eine neue Ebene, schaffe aber keine klare Management-Verantwortung54 . Er plädierte erneut vehement dafür, endlich auch für das eigene Haus einen qualifizierten General Manager zu suchen, der das USW nach innen und außen wirksam vertrete und die gesamte Organisation leite. Mit Vaubel war er sich zudem darin einig, die Gespräche mit den Wirtschaftsverbänden fortzusetzen, selbst wenn mit endgültigen, harten Reaktionen Albachs zu rechnen war55 . Die Kompromissbereitschaft der Unternehmensvertreter Herrhausen und Vaubel gegenüber dem Standpunkt der Wissenschaftler kam hier erkennbar an ihre Grenzen, allerdings nicht, weil sie Abstriche am ursprünglichen Anspruch des USW machen wollten, sondern weil sie die Bedenken über eine Gefährdung der wissenschaftlichen Unabhängigkeit nicht teilten, darin eher ein vorgeschobenes, verhandlungstaktisches Argument sahen. Und tatsächlich: Nachdem Vaubel und Herrhausen den Gremien des USW im Sommer 1974 den Vorschlag für eine gestraffte Struktur vorgelegt56 und die Suche nach einem neuen Verwaltungsdirektor intensiviert hatten57 , erklärte Albach seine Bereitschaft, künftig wieder im Geschäftsführenden Vorstand des 52
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HADB V 30/662, Notiz Vaubels über eine Besprechung mit Albach am 11.10.1973, 15.10.1973; Notiz Vaubels über eine Besprechung mit Herrhausen am 12.10.1973, 12.10.1973. Vaubel und Herrhausen kamen mit Albach überein, seinen Rückzug als Konsequenz des bevorstehenden Eintritts von Hermann Sabel in den Geschäftsführenden Vorstand darzustellen. Doch der gleitende Übergang gestaltete sich schwierig, denn während Albach entschlossen war, zum Jahresende 1973 zu gehen, zögerte Sabel eine feste Zusage hinaus, weil seine Berufung auf einen Lehrstuhl an der Universität Bonn noch nicht abgeschlossen war. Vgl. HADB V 30/662, Albach an Herrhausen, 11.11.1973, mit Anlage: Gedanken zur Reorganisation des Universitätsseminars der Wirtschaft. Vgl. HADB V 30/662, Notiz Vaubels über eine Besprechung mit Herrhausen am 20.11.1973, 22.11.1973. Vgl. HADB V 30/662, Albach an Herrhausen, 24.11.1973; Albach an Vaubel, 24.11.1973; Vaubel an Herrhausen, 27.11.1973; Vaubel an Herrhausen, 28.11.1973. Vgl. HADB V 30/663, Notiz Vaubels über eine Besprechung mit Herrhausen am 20.6.1974, 27.6.1974. Diese Suche zog sich bis zum Dezember 1974 hin. Die Entscheidung fiel dann zu Gunsten des Diplom-Kaufmanns Paul Andrykowsky. Vgl. HADB V 30/662, Notiz Vaubels über eine Besprechung mit Schwesinger am 3.12.1973, 6.12.1973; Vaubel an Herrhausen, 2.4., 15.5., 5.8. und 19.11.1974; Vaubel an Wolff von Amerongen, 31.12.1974; HADB V 30/663, Notiz Vaubels über eine Besprechung mit Herrhausen am 20.6.1974, 27.6.1974; Vaubel
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USW mitzuarbeiten58 . Zu diesem Sinneswandel hatte beigetragen, dass der BDI dem USW inzwischen eine Absage erteilt hatte und sich die Hoffnungen auf Unterstützung durch die Wirtschaftsverbände ganz auf die BDA konzentrierten59 . Diese Hoffnungen waren nicht unbegründet: Ab 1975 gewährten die Arbeitgeberverbände dem USW großzügige finanzielle Hilfe.60 Mit dem BDA-Präsidenten Hanns-Martin Schleyer hatte Vaubel außerdem ausdrückliches Einvernehmen hergestellt, „dass die Freiheit der Lehre für die Wissenschaftler am USW auch für die Zukunft ein wesentlicher Gesichtspunkt ist“61 . Der Konsolidierung des USW als Einrichtung der Wissenschaft für die Wirtschaft, um den Prozess der Professionalisierung des Managements in bundesdeutschen Unternehmen voranzutreiben, schien nichts mehr im Wege zu stehen.
„Neustart“ in Schloss Gracht? Mit dem Einzug in Schloss Gracht zum Jahresende 1975, dem die feierliche Eröffnung der Weiterbildungsstätte mit modernen Unterrichtsräumen, eigenem Rechenzentrum und Internat am 30. April 1976 folgte, verband sich für das USW die Hoffnung zu einem „Neustart“62 . Schon zuvor waren wichtige personelle Weichen gestellt worden: Ludwig Vaubel hatte sich zur Jahresmitte 1975 altersbedingt aus dem Vorstand des USW-Fördervereins zurückgezogen und das Amt an Herbert Grünewald von der Bayer AG übergeben63 ; zugleich wechselte auch Alfred Herrhausen aus dem Vorstand in das Kuratorium64 . Wohl noch wichtiger für die weitere Entwicklung des USW war der Wechsel in der Geschäftsführung: Erwin Brüske übergab sein Amt im Herbst 1975 an Paul Andrykowsky, der
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an Herrhausen, 31.12.1974; HADB V 30/666, Protokoll der Sitzung des Vorstandes des USW-Fördervereins am 13.12.1974. Vgl. HADB V 30/662, Notiz Vaubels über eine Besprechung mit Sabel am 8.11.1974, 11.11.1974. Vgl. HADB V 30/663, Vaubel an Herrhausen, 27.6.1974; HADB V 30/662, Vaubel an Wolff von Amerongen, 31.12.1974. Die Arbeitgeberverbände brachten 1975 insgesamt 425.000 DM an Spenden für das USW auf. Seit 1977 konnten sie dem USW-Förderverein als Mitglieder beitreten, so dass der Spendenbetrag zurückging: 1978 betrug er nur noch 97.500 DM. Vgl. HADB V 30/657, Aufstellung der Spenden für das USW in den Jahren 1969 bis 1978, 29.12.1978. Vgl. HADB V 30/662, Notiz Vaubels betr. Verbandsspenden, 19.3.1975. Vgl. HADB V 30/660, Presseinformation zur Eröffnung von Schloss Gracht am 30.4.1976. Vgl. HADB V 30/662, Vaubel an Wolff von Amerongen, 7.1.1975; Vaubel an Herrhausen, 7.1.1975; Vaubel an Grünewald, 29.1.1975; Vaubel an Wolff von Amerongen, 29.1.1975; Vaubel an Herrhausen, 15.4.1975. Vgl. HADB V 30/666, Protokoll der Sitzung des Vorstandes des USW-Fördervereins am 13.12.1974.
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als Diplom-Kaufmann zuvor Erfahrungen in der Industrie, der Personalwirtschaft und der Verbandsarbeit gesammelt hatte und in den große Hoffnungen gesetzt wurden, was die Professionalisierung der internen Verwaltung und der Öffentlichkeitsarbeit anging65 . Ein strategisch ausgesprochen wichtiges Ziel bestand für das USW nach dem Einzug in Schloss Gracht darin, nun tatsächlich einen eigenen Lehrstuhl für Unternehmensführung einrichten zu können. Ein früherer Anlauf, einen solchen Lehrstuhl an der Universität Bonn zu etablieren, war im Wintersemester 1971/72 in erster Linie am Wissenschaftsministerium des Landes Nordrhein-Westfalen, aber auch am Widerstand von Professoren und Studenten gescheitert, die keinen „Brückenkopf “ zur Heranzüchtung von „Knechten des Großkapitals“ – so formulierte es die „Basisgruppe Volkswirtschaft“ – an ihrer Universität dulden wollten66 . Es war lediglich gelungen, einen bereits bestehenden Lehrstuhl für Betriebswirtschaft von Köln nach Bonn zu verlagern, wobei dem Inhaber die Möglichkeit der Beurlaubung eingeräumt wurde, um eine Tätigkeit am USW zu übernehmen; auf diesen Lehrstuhl war im Frühjahr 1974 Hermann Sabel berufen worden67 . Die Pläne für einen hauseigenen Lehrstuhl für Unternehmensführung hatte man nicht aufgegeben, trieb sie aber erst nach dem Einzug in Schloss Gracht wieder voran. Und im Frühjahr 1977 gelang es dann tatsächlich, die Robert Bosch-Stiftung für dieses Vorhaben zu gewinnen; sie übernahm die Finanzierung für zunächst einmal drei Jahre68 . Damit war die Möglichkeit geschaffen, eine neue hauptamtliche Geschäftsführung einzusetzen, bestehend nur noch aus 65
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Vgl. HADB V 30/662, Vaubel an die Mitglieder des Vorstands des USW-Fördervereins, 17.3.1975, mit Anlage: Lebenslauf Paul Andrykowsky; HADB V 30/660, USW-Förderverein, Geschäftsführung, Brüske/Andrykowsky, an die Freunde und Förderer des USW, Dezember 1975. Vgl. HADB V 30/660, Albach an den Vorstand des USW-Fördervereins, 8.6.1971; Tonbandabschrift einer Sendung des Westdeutschen Fernsehens in der Reihe „Uni/Audimax“ über das Universitätsseminar der Wirtschaft, 21.1.1972. Außerdem: „Kein Platz für Manager“, in: Capital 11 (1971). – Bereits 1969 hatte das private Battelle-Institut aus Frankfurt am Main die Mittel zur Einrichtung eines „Battelle-Lehrstuhls für wissenschaftliche Führungsmethoden am USW“ bewilligt, der im Juli 1970 an der Universität zu Köln etabliert wurde. Vgl. HADB V 30/666, Protokoll der Sitzung des Vorstands des USW-Fördervereins und des Geschäftsführenden Vorstands des USW am 4.6.1970. Die Tätigkeit für das USW durfte bei der Ausschreibung und Berufung nicht zur Bedingung gemacht werden. Vgl. HADB V 30/660, Der Minister für Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, i. A. von Medem, an den Vorsitzenden des Vorstands des USW-Fördervereins, Vaubel, 4.10.1972; Notiz Vaubels für eine Besprechung mit Herrhausen und Schmidt am 25.1.1973, 19.1.1973. Vgl. HADB V 30/656, USW-Förderverein, Vorstand, Grünewald/Sabel, an die Mitglieder des Kuratoriums, 4.4.1977. – Ab April 1985 übernahm die Deutsche Bank die Finanzierung des USW-Stiftungslehrstuhls. Vgl. HADB V 30/680, Vermerk Niederste-Ostholt für Herrhausen, 25.5.1984; HADB V 30/793, Protokoll der Sitzung des Vorstands des USWFördervereins am 16.8.1984.
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dem Wissenschaftlichen Direktor, eben dem künftigen Inhaber des Lehrstuhls für Unternehmensführung, und einem Kaufmännischen Direktor, dem bereits unter Vertrag genommenen Paul Andrykowsky. Zugleich erfolgte noch eine zweite Weichenstellung: Der bisher von aus Vertretern der Wissenschaft und der Wirtschaft gemeinsam gebildete Erweiterte Vorstand wurde aufgelöst und durch zwei Gremien ersetzt: einen ausschließlich mit Hochschullehrern besetzten Wissenschaftlichen Beirat und einen ausschließlich mit Unternehmensvertretern besetzten Programmbeirat69 . Intern wurde dies als ein Durchbruch der „Reformkräfte“ betrachtet, zu denen zweifellos auch Herrhausen zählte, der sich in den zurückliegenden Jahren ja mehrfach um eine solche Reorganisation bemüht hatte70 . Doch bevor tatsächlich ein hauptamtlicher Wissenschaftlicher Direktor berufen und damit zugleich die neue Geschäftsordnung in Kraft treten konnte, sollten noch fast zwei Jahre vergehen: Erst am 1. April 1979 trat Adolf G. Coenenberg, Ordinarius für Betriebswirtschaftslehre an der Universität Augsburg, sein neues Amt in Schloss Gracht an; er hatte sich zunächst auch nur für zwei Jahre beurlauben lassen71 . Trotz des vermeintlichen Durchbruchs der „Reformkräfte“ im Sommer 1977 blieb also zunächst einmal vieles beim Alten. Beim Seminarangebot hielt man an den Klassikern fest, versuchte aber dennoch, einige neue Akzente zu setzen. Das Zehnwochenseminar blieb das Aushängeschild des USW als „Harvard in Schloss Gracht“, auch wenn sich in der Praxis immer deutlicher zeigte, dass nicht alle „durch Anspruch und Kosten erweckten Erwartungen“ der Teilnehmer erfüllt werden konnten, wie es ein Assistent Herrhausens ausdrückte, der im Herbst 1977 selbst zu diesen Teilnehmern zählte72 . Er wolle die insgesamt „positiven, zum Teil glanzvollen Seiten“ vieler Veranstaltungen nicht mindern, aber doch etwas „Manöverkritik“ üben, hielt er für Herrhausen fest. Der Seminarleitung sei es nicht wirklich gelungen, sich auf die unterschiedliche betriebswirtschaftliche Vorbildung der Teilnehmer einzustellen, um sie auf ein gemeinsames, hohes Niveau zu führen. Diesem zentralen Kritikpunkt fügte er weitere, ungeschönte Detailbeobachtungen hinzu, bis hin zur nicht funktionierenden EDV-Anlage. Herrhausen gab den Bericht an seinen Vorstandskollegen Horst Burgard weiter, 69
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Vgl. HADB V 30/792, Ausführungen Herbert Grünewalds auf der Mitgliederversammlung des USW-Fördervereins am 8.7.1977; Neue USW Geschäftsordnung (Stand: 23.5.1977), in: USW-Informationen 1 (Mai 1978), S. 2–3. Paul Andrykowsky schrieb ihm im Juni 1977, wie sehr er sich freue, „nach fast zwei Jahren USW-Tätigkeit endlich auch die Ideen in die Tat umsetzen zu können, wie wir es damals besprochen hatten“. Die neue Geschäftsordnung beruhe im Wesentlichen auf dem „alten Herrhausen-Plan“. Vgl. HADB V 30/656, Andrykowsky an Herrhausen, 14.6.1977. Vgl. Prof. Dr. A. G. Coenenberg wissenschaftlicher Leiter des USW, in: USW-Informationen 2 (Mai 1979), S. 2. Vgl. HADB V 30/657, Otto Steinmetz, Deutsche Bank, Filiale Düsseldorf, an Herrhausen, 10.1.1978.
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der für die Personalentwicklung zuständig war und auch dem Vorstand des USW-Fördervereins angehörte, versehen mit der Anregung, die angesprochenen Probleme dort zu diskutieren; es sei doch wichtig, „dass das USW nicht abrutscht“73 . Zu den Neuerungen des Programms zählten die ab Herbst 1976 veranstalteten „Ludwig-Vaubel-Foren“, die sich dem Themenfeld „Forschung, Innovationen und Zukunftsplanung“ zuwandten74 , vor allem aber einige ganz neu konzipierte Seminare. Hervorzuheben sind hierbei die dreiwöchigen „Umwelt-Seminare“, bei denen die Beziehungen der Unternehmen zu ihrer ökonomischen, rechtlichen und sozialen Umwelt im Mittelpunkt standen, die also den Fokus weg von der Betriebswirtschaft und hin zur Gesellschaftspolitik verschoben75 . Man reagierte damit auf das spürbar gewachsene Interesse an volkswirtschaftlichen und juristischen, vor allem aber gesellschaftspolitischen Themen – ein deutlicher Hinweis darauf, dass in den Mitgliedsunternehmen die Diskussion über die „dritte Dimension“ der Professionalisierung des Managements, die Selbstbindung an „höhere Ziele“, im vollen Gange war. Behandelt wurden in den Umwelt-Seminaren nicht zuletzt die gewachsenen Mitbestimmungsansprüche der Beschäftigten und Gewerkschaften. Bis Ende 1977 fanden bereits drei solcher Seminare statt; sie fanden also großen Anklang und wurden von den Teilnehmern durchweg sehr positiv bewertet76 . Eine weitere Neuerung waren die ab 1978 auf Drängen Horst Albachs angebotenen vierwöchigen Seminare speziell zur „Führung im internationalen Unternehmen“, die sich an Manager richteten, die entweder bereits einen längeren Auslandsaufenthalt absolviert hatten oder sich auf einen solchen vorbereiteten77 . 1979 kamen außerdem noch einige Kurzseminare zum Angebot hinzu, u. a. zur „Organisationsentwicklung“ – ein Themenfeld, in dem das USW mit Blick auf die besonderen Probleme kleiner und mittlerer Unternehmen eigene Forschungsaktivitäten aufgenommen hatte78 . Mit diesen laufend weiter angepassten Angeboten konnte sich das „neue“, nun in Schloss Gracht residierende USW im Spektrum der Anbieter von Weiter73 74
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Vgl. HADB V 30/657, Herrhausen an Burgard, 12.1.1978. Eröffnet wurde diese Veranstaltungsreihe mit einem Forum zur „Forschungsplanung im Schnittpunkt von Wissenschaftspolitik und Unternehmenspolitik“. Vgl. HADB V 30/656, Programm des 1. Ludwig-Vaubel-Forums am 15./16.11.1976. Vgl. Unternehmen und Umwelt. Das USW kündigt neue Dreiwochenseminare an, in: Blick durch die Wirtschaft, 30.3.1977; HADB V 30/656, Andrykowsky, an die Mitglieder des Vorstandes des USW-Fördervereins, 24.6.1977. Vgl. Busse von Colbe/Perlitz, General Management-Fortbildung, S. 162; Zehn Jahre USW, in: USW-Informationen 1 (Mai 1978), S. 2. Vgl. Busse von Colbe/Perlitz, General Management-Fortbildung, S. 163; Zehn Jahre USW, in: USW-Informationen 1 (Mai 1978), S. 2. Vgl. außerdem das Gespräch der Autorin mit Horst Albach am 16.12.2011. Vgl. Zwei neue Seminare, in: USW-Informationen 2 (Mai 1979), S. 4. Außerdem: HADB V 30/662, Albach an Herrhausen, 18.7.1975; USW-Forschungsprojekt: „Lehrexperiment zur Organisationsentwicklung“, in: USW-Informationen 1 (Mai 1978), S. 3.
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bildungsseminaren für wirtschaftliche Führungskräfte in den folgenden Jahren recht erfolgreich behaupten, auch wirtschaftlich betrachtet: Es entwickelte sich nicht, wie befürchtet, zu einer nur durch Subventionen der Wirtschaft am Leben gehaltenen Einrichtung, sondern konnte sich in wachsendem Maße tatsächlich durch die Beiträge seiner Seminarteilnehmer und anderer Gäste, die das Schloss anderweitig nutzten, finanzieren79 . Allerdings waren damit die internen Auseinandersetzungen nicht etwa beendet. Im Gegenteil: Sie brachen schon Ende 1978 wieder auf, wobei die Konfliktlinie nun allerdings ziemlich eindeutig zwischen der professionalisierten Verwaltung und den Unternehmensvertretern einerseits und den Wissenschaftlern andererseits verlief. Während sich der neue Verwaltungsleiter Paul Andrykowsky als ebenso versierter wie pragmatischer General Manager erwies, der mit Erfolg für eine wirtschaftliche Konsolidierung des USW sorgte und deshalb von den Mitgliedsunternehmen volle Rückendeckung bekam, bezeichnenderweise nun auch von denjenigen Unternehmensvertretern, die in den ersten Jahren große Aufgeschlossenheit und Kompromissbereitschaft gegenüber den Wissenschaftlern an den Tag gelegt hatten, gewannen die Wissenschaftler selbst jetzt immer mehr den Eindruck, zu große Abstriche an ihrem Anspruch auf wissenschaftliche Unabhängigkeit und Selbstbestimmung machen zu müssen80 . Von den Unternehmensvertretern in den Gremien des USW wurde dieser Vorwurf zwar zurückgewiesen, aber der Druck einer pragmatischeren Ausrichtung des Seminarangebots auf die Nachfrage aus den Unternehmen war zweifellos größer geworden. Das Projekt der Professionalisierung des Managements durch vermehrte Anwendung wissenschaftlich fundierter Methoden und Verfahren stieß ganz offenkundig an gewisse Grenzen.
Die große Ernüchterung Die Entwicklung des USW offenbart im Kleinen ein ganz grundsätzliches Problem der angestrebten Professionalisierung des Managements: Bei vielen, für neue Impulse aus den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften durchaus aufgeschlossenen Unternehmensvertretern hatte sich im Verlauf der 1970er Jahre doch erhebliche Ernüchterung eingestellt, was die Möglichkeiten einer wissen79
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Paul Andrykowsky bekam von den Mitgliedsunternehmen volle Anerkennung dafür, dass es ihm gelang, die Auslastung von Schloss Gracht beträchtlich zu steigern und den Kostenaufwand zugleich zu reduzieren. Vgl. HADB V 30/657, Vermerk von Walcke für Herrhausen, 20.7.1978; Herrhausen an Andrykowsky, 6.10.1978; Bericht zur Mitgliederversammlung des USW am 28.5.1979. Vgl. HADB V 30/657, Vermerk von Walcke für Herrhausen, 29.11.1978.
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schaftlich fundierten „Kunst der Unternehmensführung“ anging. Herrhausen reflektierte dies in einem Aufsatz für die Zeitschrift für Betriebswirtschaft, um den ihn Horst Albach gebeten hatte und der wegen seiner Aussagekraft im Folgenden etwas genauer betrachtet werden soll81 . Ausgehend von der Fragestellung, ob die Führungskräfteschulung besser an der Universität oder an anderen Fortbildungseinrichtungen stattfinden sollte, bilanzierte Herrhausen zunächst, dass sich die von Anfang an wohl übertriebenen Erwartungen an eine regelrechte Verwissenschaftlichung des Managements, insbesondere durch Anwendung mathematischer Modelle auf die Entscheidungsprozesse im Unternehmen, nicht erfüllt hatten. „Aus dem Bestreben, wirtschaftliche Entscheidungen soweit wie irgend möglich aufgrund rationaler Überlegungen treffen und intuitives Handeln im Prozess der Entscheidungsfindung zunehmend ersetzen zu können“, habe sich auch die deutsche Betriebswirtschaftslehre unter wachsenden internationalen, vor allem amerikanischen Einflüssen verstärkt der Analyse und Problemlösung mit Hilfe von Modellbetrachtungen gewidmet, also daran gearbeitet, „Realprobleme“ in „abstrakte Formalprobleme“ umzuwandeln, hielt er fest. Doch dieser Ansatz zur Verwissenschaftlichung habe nicht nur bei ihren Anhängern zu teils stark übertriebenen Erwartungshaltungen an neue Instrumente und Systeme der Entscheidungsfindung geführt, sondern auch zu wachsender Spannung und Entfremdung zwischen Theorie und Praxis. Die wissenschaftliche Eigendynamik hatte eben nicht, wovon auch er selbst in den 1960er Jahren noch ausgegangen war82 , zu einer immer besseren Anpassung der Modelle an die ebenso vielfältigen wie vielschichtigen Sachverhalte und Beziehungen der unternehmerischen Praxis geführt. Im Namen der Wissenschaft sei vielmehr zum einen auch viel Oberflächliches und Unbrauchbares verbreitet worden, zum anderen führten die mathematisch teils sehr anspruchsvollen und mit großem Aufwand verbundenen Methoden und Verfahren in der Anwendung oft zu unbefriedigenden Ergebnissen oder versagten sogar völlig, wenn die Grundbedingung der Strukturgleichheit zwischen der „gedanklichen Sphäre des Modells“ und der „realen Sphäre des Problems“ nicht erfüllt gewesen sei.
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Vgl. HADB V 30/787, Alfred Herrhausen, Führungskräfteschulung an der Universität oder an interuniversitären bzw. überregionalen Fortbildungsinstitutionen, Manuskript (publiziert in: Zeitschrift für Betriebswirtschaft 49/7 (1979), S. 634–639). Der Entwurf dieses Aufsatzes stammt aus der Volkswirtschaftlichen Abteilung der Deutschen Bank, bringt also mehr als nur Herrhausens persönliche Meinung zum Ausdruck; allerdings nahm er eine gründliche Überarbeitung vor. Vgl. hierzu die aufschlussreiche Stellungnahme Herrhausens zum ersten „UnternehmerSeminar“ an der Universität Münster im Oktober 1966, an dem er selbst teilgenommen hatte, in: Ludwig Pack, Weiterbildung von Führungskräften der Wirtschaft an der Universität Münster, o.O. [Münster], o.J. [1966], S. 108–109. Vgl. außerdem das Gespräch der Autorin mit Horst Albach am 16.12.2011.
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Herrhausen verwies darauf, dass sich an den deutschen Universitäten keine umfassende interdisziplinäre und zugleich praxisorientierte Managementlehre herausgebildet hatte, sondern die Betriebswirtschaftslehre noch immer eine in zahlreiche Spezialgebiete zergliederte Disziplin war. Die amerikanische Managementlehre sei viel empirisch-pragmatischer, aber eben auch systematischer auf den funktionalen Zusammenhang von Planung, Organisation, Durchführung und Kontrolle ausgerichtet. Wünsche man sich also eine Schulung der Führungskräfte im Sinne der umfassenderen Managementlehre, dann seien sicher die von der Wirtschaft getragenen Einrichtungen die bessere Wahl, lautete seine Schlussfolgerung, zumal die Universitäten ja an manchen dieser Einrichtungen, etwa dem Universitätsseminar der Wirtschaft, auch beteiligt seien. Die Praxis brauche unbestritten den Kontakt zur Wissenschaft, und zwar zur autonom betriebenen Wissenschaft, die ihre Forschungs- und Lehrinhalte selbst bestimme, betonte er. Diese Freiheit zu beschränken, könne von Seiten der Wirtschaft niemand wünschen, da die Wissenschaft sie zu ihrer vollen Entfaltung unabdingbar brauche. Um Fortbildungsveranstaltungen zu fruchtbaren und nicht zu frustrierenden Erlebnissen zu machen, müsse aber das gegenseitige Verständnis verbessert werden. Herrhausen brachte die zentrale Kritik der Praxis am Versuch der Verwissenschaftlichung des Managements auf den Punkt: Die akademische Betriebswirtschaftslehre habe sich durch ihre formal vereinfachenden Hypothesen inzwischen zu weit von der betrieblichen Praxis entfernt; für den Praktiker bleibe ein noch so kunstvolles Modell unbefriedigend, wenn es ihm bei der Lösung seiner realen Probleme nicht helfen könne. In Fortbildungsveranstaltungen komme es deshalb vor allem darauf an, bei Modellbetrachtungen und Methodendiskussionen, so hilfreich diese seien, stets auch deren Voraussetzungen und Einschränkungen mit anzusprechen, verlangte er. Denn es müsse für alle Teilnehmer klar sein, „dass es kein allen unternehmerischen Aufgabestellungen gerecht werdendes Problemlösungsverfahren gibt und geben kann“. Auch wenn einigen Theoretikern zu Beginn der Verbreitung des Ansatzes der Operations Research sicher das Ziel eines geschlossenen Modell- und Methodensystems für die Unternehmensführung vorgeschwebt habe, welches für jede Entscheidungssituation automatisch das geeignete Modell und die entsprechende Lösungsmethode auswählt, so sei dies nicht nur undurchführbar, sondern noch nicht einmal erstrebenswert, so Herrhausen in aller Klarheit, „da jegliches schöpferische Denken auf die Formulierung theoretischer Modelle beschränkt würde, die in das System einzubauen wären, und in einer konkreten Entscheidungssituation wäre man nicht einmal mehr frei in der Wahl der Mittel der Entscheidungsvorbereitung“. Wenn sich die Praxis des von der Wissenschaft entwickelten theoretisch-methodischen Instrumentariums sinnvoll bedienen wolle, dann müsse sie also die Pluralität verschiedener, oft genug auch einander widersprechender Grundmodelle sehen und anerkennen. Für eine bestimmte
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Problemstellung könne sie dann prinzipiell auf eine Vielfalt an Instrumenten zugreifen, entscheidend sei die – weiterhin vom jeweils zuständigen Manager verantwortlich zu treffende, weil aus keiner Theorie abzuleitende – Auswahl eines für das konkrete Problem angemessenen Lösungsverfahrens. Mit generellen Imperativen der Wissenschaft könne man in der Praxis nur sehr wenig anfangen. Für den Erfolg einer Fortbildungsveranstaltung, so resümierte Herrhausen, komme es also nicht so sehr darauf an, wo sie stattfinde; wichtig sei vielmehr, dass bei Referenten und Teilnehmern von vornherein eine kritische Grundhaltung gegenüber dem vermittelten bzw. aufgenommenen theoretischen Wissen mit Blick auf seine geeigneten Anwendungsbereiche bestehe. Das schütze vor übertriebenen Erwartungen und falschen Hoffnungen, die im betrieblichen Alltag unweigerlich der Ernüchterung weichen müssten. Zurzeit, daran bestand für ihn kein Zweifel, seien pragmatisch betrachtet sicher die von der Wirtschaft getragenen Führungskräfteschulungen besser geeignet, diesen Interessen der meisten Teilnehmer aus den Unternehmen zu entsprechen. Er brach damit eine Lanze für das USW mit seinem inzwischen deutlich pragmatischeren Anspruch, der den Wissenschaftlern am Hause zu schaffen machte. Im Zeichen der wirtschaftlichen Rezession der frühen 1980er Jahre, als die Bereitschaft vieler Unternehmen deutlich sank, ihre Führungskräfte zu irgendwelchen zeitintensiven und kostspieligen Weiterbildungsseminaren zu entsenden, schreckte man am USW unter der Leitung von Herbert Grünewald nicht vor weiteren Veränderungen und Eingriffen zurück: Das Zehnwochenseminar als Flaggschiff von „Harvard in Schloss Gracht“ wurde nun massiv auf nur noch sechs Wochen zurückgestutzt, andere Seminare, gerade die wissenschaftlich besonders ambitionierten, etwa zum „Risikomanagement“, zum „European Management“ oder zur „Führung in divisionalen Unternehmen“, die nur wenig Nachfrage fanden, wurden gleich ganz gestrichen83 . Manche Wissenschaftler waren bereit, diese Entwicklung mitzutragen, andere dagegen entschieden sich, das USW zu verlassen. Für Horst Albach, den herausragenden wissenschaftlichen Kopf des USW, war die Grenze des persönlich Zumutbaren erreicht, als ihm Verwaltungsleiter Paul Andrykowsky im Frühjahr 1984 einen Strich durch die Rechnung machte, eine neue vielversprechende Kooperationsbeziehung zu einem Management-Institut in Shanghai aufzubauen; er zog sich zum Jahresende 1984 endgültig aus dem USW zurück84 .
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Vgl. HADB V 30/792/2, Protokoll der Mitgliederversammlung des USW-Fördervereins am 20.4.1983. Andrykowsky seinerseits warf Albach vor, sich nicht an Regeln und Absprachen zu halten. Vgl. HADB V 30/787, Aktennotiz Andrykowskys betr. Zusammenarbeit mit Herrn Prof. Albach, 7.3.1984. Vgl. zu diesem Konflikt auch: Bruno Seifert, USW. Böser Spuk im Schloß, in: Wirtschaftswoche, 28.7.1989; Gespräch der Autorin mit Horst Albach am 16.12.2011.
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Trotz einer insgesamt nur sehr zögerlichen Internationalisierung seiner Seminarangebote und Kooperationsbeziehungen85 stand das USW wirtschaftlich gesehen bald wieder gut da86 . Doch der strukturelle Konflikt war damit nicht beseitigt: Angesichts einer neuen personellen Konstellation, in der es dem gerade berufenen Wissenschaftlichen Direktor Rolf Peffekoven relativ gut gelang, seine Interessen durchzusetzen, sah Verwaltungsleiter Andrykowsky im Januar 1989 gar die akute Gefahr, „dass man das USW wieder in ein wissenschaftliches Institut umwandeln möchte, in dem die wissenschaftliche Seite das absolute Sagen hat!“87 . Die hinter dieser Annahme stehende Befürchtung, es werde auf Betreiben Peffekovens zur Verabschiedung einer neuen Geschäftsordnung kommen, um künftig – wie an einer Universitätsfakultät – einen „Dekan“ berufen zu können, der noch über der hauptamtlichen Geschäftsführung angesiedelt war, erwies sich freilich als unbegründet: Der Vorstand des USW-Fördervereins lehnte die Übernahme des „Dekan-Modells“ ab und nahm stattdessen den vorzeitigen Rücktritt Peffekovens zum 30. September 1989 an88 . Ausgestanden war der Konflikt damit aber nicht. Im Gegenteil, er begann vielmehr auch die Presse zu interessieren und brachte damit den Ruf des Universitätsseminars als führende deutsche Manager-Schule, die auf einer gelungenen Zusammenarbeit von Wirtschaft und Wissenschaft beruhte, zunehmend in Gefahr: Das USW fahre zwar an der Kapazitätsgrenze, konnten Deutschlands Manager im Juli 1989 in der Wirtschaftswoche lesen, habe aber nur wenig Neues zu bieten. Von Kreativität und Innovation könne mit Blick auf die Seminare des USW kaum noch die Rede sein, obwohl die Konkurrenz wachse, nicht zuletzt durch ausländische Anbieter. Einige der Mitgliedsfirmen hätten sich inzwischen bereits an der Gründung eines neuen Instituts beteiligt, das ihnen in dieser Hinsicht wesentlich vielversprechender erscheine: das Institut für Management und Technologie in Berlin (IMT)89 . Erst bei der Mitgliederversammlung des USW-Fördervereins Anfang September 1989 gelang es, die Wogen des Konflikts durch eine offene Aussprache einigermaßen zu glätten90 . Nach außen präsentierte sich das USW zu dieser Zeit 85
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Dies wurde auch von einigen Mitgliedsunternehmen bemängelt, besonders pointiert beispielsweise von Daniel Goedevert, dem aus Frankreich stammenden Vorstandsvorsitzenden der Ford-Werke AG; er sah das USW gegenüber Anbietern wie INSEAT, IMEDE, Harvard oder MIT immer mehr im Hintertreffen. Vgl. HADB V 30/793, Goeudevert an Herrhausen, 26.10.1988. Vgl. HADB V 30/793, Andrykowsky an Herrhausen, 29.5.1987, mit Anlage: Geschäftsbericht des USW für 1986; Herrhausen an Andrykowsky, 3.6.1987. Vgl. HADB V 30/791, Andrykowsky an Herrhausen, 13.1.1989 (für das Zitat); Andrykowsky an Weiss, 13.1.1989; Herrhausen an Andrykowsky, 20.1.1989. Vgl. HADB V 30/793, Andrykowsky an Herrhausen, 23.2. und 8.3.1989; Weise an die Mitglieder des Kuratoriums des USW-Fördervereins, 19.6.1989. Vgl. Bruno Seifert, USW. Böser Spuk im Schloß, in: Wirtschaftswoche, 28.7.1989. Vgl. HADB V 30/791, Auszug aus einer Tonbandabschrift zur Mitgliederversammlung des USW-Fördervereins am 6.9.1989. Die Austragung des Konfliktes kann hier nicht im Einzelnen nachvollzogen werden.
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freilich mit einem Seminarprogramm für 1990, das vielfältiger war als jemals zuvor: Neben sieben allgemeinen Management-Seminaren, u. a. auch zur „Europäischen Integration“ und zum „Internationalen Management“, gab es jetzt nicht weniger als acht funktionale Seminare – abgesehen von den Klassikern zum „Marketing“, zur „Planung“ und zur „Mitarbeiterführung“ nun auch solche speziell zu „Arbeitsrecht und Personalmanagement“, zu „Motivation durch Mitwirkung“ sowie zum „Projekt-“, „Logistik-“ und „Informationsmanagement“; und ergänzt wurde diese breite Palette noch durch vier Branchen-Seminare für Handel, Banken, Versicherungen und Pharmazeutische Unternehmen91 . Man versuchte also erkennbar, die Kritik am eigenen Profil aufzunehmen und sich dem wachsenden Wettbewerb zu stellen, das allerdings vor allem durch thematische Vielfalt, nicht durch eine neue, klare konzeptionelle Ausrichtung92 . Der Wettbewerb im Weiterbildungsmarkt für Topmanager war seit Mitte der 1980er Jahre gekennzeichnet durch einen doppelten Trend hin zur Europäisierung und zur Etablierung von ein- bis zweijährigen Programmen zum Erwerb des „Master of Business Administration“. Zugleich wandelten sich die normativen Vorstellung von Professionalisierung: Für die Absolventen der MBA-Programme stand nicht mehr die umfassende, auch an die Interessen der Gesellschaft gebundene Professionalisierung ihrer Tätigkeit als Manager im Mittelpunkt, sondern die Ausrichtung auf die Interessen der Anteilseigner und die Logik der Märkte93 . Das USW unternahm zwar erhebliche Anstrengungen, sich diesen veränderten Anforderungen anzupassen, doch gelang es ihm nicht, sich wie zum Beispiel das IMD in Lausanne, das INSEAD in Fontainebleau oder die London Business School unter den führenden Business Schools in Europa zu etablieren94 . Dazu war das USW offenkundig noch immer viel zu fest im traditionellen deutschen System der Aus- und Weiterbildung von wirtschaftlichen Führungskräften verankert, das weiterhin zwischen der Ausbildung an den staatlichen Hochschulen und der Weiterbildung an inner- oder überbetrieblichen Einrichtungen der Wirtschaft unterschied. Der Mitte der 1980er Jahre beginnende Boom der MBA-Programme erfasste zwar auch Deutschland95 . Doch das USW konnte 91 92 93 94
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Vgl. HADB V 30/791, USW Schloss Gracht, Programme 1990, gedruckte Broschüre. Vgl. dazu auch: Das USW reagiert auf wissenschaftlichen Fortschritt und die Internationalisierung, in: Handelsblatt, 1.8.1989. Das kann hier nur angedeutet werden. Grundlegend dazu: Khurana, Higher Aims. Vgl. Tina Hedmo, The Europeanisation of Business Education, in: Rolv Petter Amdam/ Ravnhild Kvålshaugen/Eirinn Larsen (Hrsg.), Inside the Business Schools. The Content of European Business Education, Oslo 2003, S. 247–266. Vgl. Rüdiger Pieper, Division and Unification of German Business Administration and Management Education, in: Lars Engwall/Elving Gunnarsson (Hrsg.), Management Education in an Academic Context, Uppsala 1994, S. 116–137; Haldor Byrkjeflot, To MBA or not to MBA? A Dilemma Accentuated by the Recent Boom in Business Education, in: Rolv Petter Amdam/Ravnhild Kvålshaugen/Eirinn Larsen (Hrsg.), Inside the Business Schools. The Content of European Business Education, Oslo 2003, S. 219–246.
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davon zunächst kaum profitieren, es blieb bis zum Ende des 20. Jahrhunderts eine Einrichtung der deutschen Wirtschaft und wandelte sich nicht zu einer Business School internationaler Prägung. Erst die im Jahr 2002 gegründete Nachfolgeeinrichtung des USW, die „European School of Management and Technology“ (ESMT) mit Hauptsitz in Berlin, erlangte im Oktober 2003 den Rang einer privaten wissenschaftlichen Hochschule und bildet seither in verschiedenen Programmen MBAs aus; seit Dezember 2013 besitzt sie sogar das Promotionsrecht. Neben dem „Campus Berlin“ gibt es heute noch immer den „Campus Schloss Gracht“ in Erftstadt-Liblar bei Köln96 .
Fazit Die Untersuchung des Gründungsprozesses, der Ziele und des Seminarangebots sowie der Auseinandersetzungen um die weitere Entwicklung des Universitätsseminars der Wirtschaft legt den Schluss nahe, dass diese 1968 ins Leben gerufene Weiterbildungseinrichtung für wirtschaftliche Führungskräfte durchaus zu einem gesellschaftlichen „Wertewandelschub“ im Jahrzehnt zwischen 1965 und 1975 beitrug, und zwar nicht nur im Sinne eines diskursiven Phänomens. Die kontinuierlich steigenden Teilnehmerzahlen aus den Großunternehmen aller Branchen und die darin zum Ausdruck kommende wachsende Akzeptanz der auf eine Professionalisierung des Managements zielenden Lehrinhalte sprechen dafür, dass hier auch ein Wandel der entscheidungs- und handlungsleitenden Rationalitätskonzepte und -kriterien wichtiger gesellschaftlicher Akteure angestoßen wurde: Die eher intuitiv-adaptive, vor allem auf eigene Erfahrungen rekurrierende Erwartungsbildung trat zurück, es kam vermehrt zum Einsatz von wissenschaftlich fundierten, letztlich rechenhaften Beobachtungs-, Analyseund Prognosetechniken, um unternehmerische Entscheidungen vorzubereiten. Betrachtet man das Seminarangebot etwas genauer, so ist jedoch hervorzuheben, dass am USW kein neues, einheitliches Leitbild für die Unternehmensführung vermittelt wurde. Beim Projekt der Professionalisierung ging es vielmehr um die Vermittlung neuer, das gesamte Spektrum der modernen wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Ansätze nutzender Methoden und Verfahren, die bei der Lösung praktischer Managementaufgaben im beschleunigten wirtschaftlichen Strukturwandel hilfreich sein konnten. Der gemeinsame Nenner dieser Lehrinhalte bestand darin, dass sie die Organisation der Unternehmung selbst als eine wirtschaftliche Ressource begriffen. Ganz offenkundig verstärkte die angestrebte Professionalisierung mit ihren Lehrinhalten und -formen die Verschiebung von traditionellen „Pflicht- und 96
Vgl. die Homepage der ESMT: https://www.esmt.org/ [Aufruf am 18.9.2015].
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Akzeptanzwerten“ wie Autorität, Hierarchie und Disziplin hin zu modernen „Freiheits- und Selbstentfaltungswerten“ wie Emanzipation, Teilhabe und Selbstverwirklichung zur individuellen Begründung von Motivation und Leistungsbereitschaft bei bundesdeutschen Managern. Allerdings beziehen sich diese semantisch immer wichtiger werdenden Freiheits- und Selbstentfaltungswerte im hier untersuchten Kontext sehr stark auf die vermittelten Methoden und Verfahren, mit denen die Rechenhaftigkeit und Planbarkeit von Erwartungsbildungs- und Entscheidungsprozessen in den Unternehmen verbessert werden sollte: Durch die Einbeziehung möglichst vieler Daten, aber eben auch unterschiedlicher Interpretationen und möglichst kreativ und flexibel einsetzbarer Handlungsoptionen konnte deren Effizienz gesteigert werden. Freiheits- und Selbstentfaltungswerte erscheinen in diesem Zusammenhang also stark funktional, sie sind „Werte für etwas“, nämlich nützlich für die Steigerung der Effizienz der Erwartungsbildungs- und Entscheidungsprozesse; es handelt sich nicht um „Freiheits- und Selbstentfaltungswerte an sich“ – zu denen sie sich aber im gesamtgesellschaftlichen Kontext, befördert von den modernen Massenmedien, durchaus entwickeln konnten. Verfolgt man diesen Gedanken weiter, dann scheint mit Blick auf die normativen Vorstellungen der Beteiligten nicht nur der Wertewandel per se, also der tendenzielle Wandel von „Pflicht- und Akzeptanzwerte“ hin zu „Freiheits- und Selbstentfaltungswerten“ interessant zu sein, sondern vor allem auch der Wandel von einer an bestimmte substanzielle Werte gebundenen klassischen „Prinzipienethik“ hin zu einer neuen, wesentlich formaleren „Verfahrensethik“. Denn allgemein verbindliche, ethische Begründungen für Werte, Normen und Leitbilder zu finden, fällt offenkundig nicht nur in organisatorisch komplexen, zunehmend fluiden Unternehmen, sondern auch in einer sozial ausdifferenzierten Gesellschaft immer schwerer. Die Untersuchung der internen Auseinandersetzungen über die weitere Entwicklung des Universitätsseminars, über Organisations- und Finanzierungsfragen und damit eng verknüpft das wissenschaftlich-programmatische Profil des Hauses, hat darüber hinaus verdeutlicht, dass am ursprünglichen Ziel der Professionalisierung des Managements bereits im Verlauf der 1970er Jahre deutliche Abstriche gemacht werden mussten. Die Konfliktlinie dieser Auseinandersetzung, die anfangs quer durch das Lager der Unternehmenspraktiker verlief, weil nicht alle Mitgliedsunternehmen der Einführung neuer, betriebswirtschaftlich avancierter Methoden und Verfahren bei der Unternehmensführung so aufgeschlossen gegenüberstanden wie etwa Ludwig Vaubel und Alfred Herrhausen, verschob sich dabei immer klarer zwischen die Unternehmenspraktiker und die professionalisierte Verwaltung des USW einerseits und die Wissenschaftler des Hauses andererseits, die – institutionell gestärkt – weiterhin auf ihre wissenschaftliche Freiheit und Selbstbestimmung pochten.
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Doch in der Unternehmenspraxis zeigte sich immer deutlicher, dass die anfänglichen Erwartungen an eine Verwissenschaftlichung des Managements viel zu hoch gesteckt waren. Die wissenschaftliche Eigendynamik hatte nicht, wie von vielen zunächst gehofft, zu einer schrittweisen, immer besseren Anpassung der abstrakt-formalen, mathematisch oft sehr anspruchsvollen Modelle, Methoden und Verfahren an die vielschichtigen und komplexen Probleme der unternehmerischen Praxis geführt, sondern die Kluft zwischen Theorie und Praxis bestand noch immer. Die sich daraus ergebende Konsequenz war freilich nicht die Abkehr vom Versuch der Professionalisierung des Managements, sondern ein Wandel der Vorstellung von Professionalisierung. Von der Vorstellung, die Wissenschaft werde eines Tages ein einheitliches, in sich geschlossenes Modellund Methodensystem für die Unternehmensführung bereitstellen, musste man sich verabschieden. Doch die Praxis konnte durchaus von wissenschaftlich fundierten Modellen, Methoden und Verfahren profitieren, sie musste nur lernen, sich dieses Instrumentariums sinnvoll zu bedienen, indem sie die gegebene Pluralität der verschiedenen, sich nicht selten widersprechenden Grundmodelle erkannte, sich die theoretischen Prämissen und Einschränkungen der einzelnen Methoden und Verfahren vor Augen führte und eine problembezogene Auswahl zu ihrer Anwendung traf – die dem verantwortlichen Manager niemand abnehmen konnte. Ziel der weiteren Professionalisierung des Managements musste folglich die Einübung einer kritischen Grundhaltung gegenüber dem von der Wissenschaft vermittelten theoretischen Wissen sein. Der Versuch, eine solche – wesentlich enger definierte – Professionalisierung des Managements in den seit Mitte der 1980er Jahre immer häufiger angebotenen MBA-Programmen zu erreichen, führte allerdings auch dazu, dass sich die Bindung der Manager an die Interessen der Gesellschaft immer mehr lockerte und ihre Ausrichtung auf die Interessen der Anteilseigner und die Logik der Märkte ganz in den Vordergrund trat. Der Betonung von Freiheits- und Selbstentfaltungswerten gerade unter Managern tat das keinen Abbruch, im Gegenteil, diese bezogen sich nur immer häufiger auf das individuelle „unternehmerische Selbst“, weniger auf die Gesellschaft als Ganzes.
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Unternehmenskultur und soziale Praxis. Ein Beitrag zur Wertewandeldiskussion am Beispiel der Firma Bayer und ihrer Anliegerkommunen Jüngst hat Thilo Jungkind den Charakter der späten 1960er bzw. beginnenden 1970er Jahre als „Zeitenwende“1 wieder einmal eindrücklich vor Augen geführt. In einer instruktiv kulturwissenschaftlichen Studie beleuchtete er am Beispiel der chemischen Industrie, namentlich der deutschen Traditionsfirmen Henkel und Bayer, die Zusammenhänge zwischen Risikomanagement und gesellschaftlichem Wandel2 . Er machte deutlich, dass die Zeit vor 1965 im Wesentlichen ein Verharren in überkommenen Handlungsmustern bedeutete: Umweltverschmutzung war ein großes Problem, Umweltschutz freilich wurde zuvörderst als innerunternehmerische Angelegenheit betrachtet. Die Unternehmen wiederum maßen letzterem nur eine untergeordnete Rolle bei. Beschwerden von Anwohnern waren nicht selten, konnten jedoch ohne größere Mühen von den Unternehmen besänftigt werden. Offenkundig kongruierten inner- und außerbetriebliche Sinnwelten im Primat von Wohlstandsstreben und Fortschrittsglauben und die Idee einer schützenswerten Mensch-Umwelt-Beziehung vermochte keine gesellschaftliche Breitenwirkung zu erreichen. Dann kam Ende der 1960er Jahre der „Wertewandelschub“3 : Neue Gesetze wurden erlassen, ältere rigider angewendet, die Freiräume der chemischen Industrie im Sinne des reüssierenden Verursacherprinzips massiv eingeschränkt. Protest wurde sowohl im lokalen wie im überregionalen Kontext immer lautstärker artikuliert. Die chemische Industrie lernte allerdings – so Jungkind – erstaunlich schnell und justierte ihre Risikopolitik entsprechend den veränderten außerbetrieblichen Sinnwelten mit zunehmendem Nachdruck neu. Spätestens seit Mitte der 1970er Jahre beschwiegen die Verantwortlichen das von ihren Betrieben ausgehende Risiko nicht länger, sondern unternahmen im Sinne des Umweltschutzes große Anstrengungen, Missstände zu beheben, Organisationsstrukturen anzupassen, Mitarbeiter 1 2
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Klaus Hildebrandt, Die totalitäre Erfahrung, München 1987, S. 445. Thilo Jungkind, Risikokultur und Störfallverhalten der chemischen Industrie. Gesellschaftliche Einflüsse auf das unternehmerische Handeln von Bayer und Henkel seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2013. Helmut Klages, Wertorientierungen im Wandel. Rückblick, Gegenwartsanalyse, Prognosen, Frankfurt a.M./New York 1984, S. 20.
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zu schulen und ein offenes wie öffentlichkeitswirksames Kommunikationsmanagement zu professionalisieren. Der Befund erscheint eindeutig. Im Spiegel des Umweltmanagements werden die Jahre zwischen 1965 und 1975 als „Scharnierjahrzent“4 , als „Dezennium des Umbruchs“5 markiert. Dennoch oder gerade deswegen soll im Folgenden die These vom „Wertewandelschub“ auf den Prüfstein gestellt werden. Im Fokus wird geflissentlich ebenfalls die Firma Bayer stehen, wobei der Zugriff breiter als bei Thilo Jungkind erfolgen soll.
Prämissen Das Interesse gilt unternehmenskulturellen Werten. Sie beschreiben für den betrieblichen Kontext „allgemeine und grundlegende normative Ordnungsvorstellungen, die für das Denken, Reden und Handeln auf individueller und kollektiver Ebene Vorgaben machen und die explizit artikuliert oder implizit angenommen werden“6 . Grundlegend ist ihr utilitaristischer Charakter. Sie sollen dem „Absolutismus der Wirklichkeit“7 entgegenstehen, das heißt der Komplexität der betrieblichen Strukturen, der Tendenz zur Fragmentierung, dem Problem der Anonymität, der Gefahr der Entfremdung oder belastenden Arbeitsbedingungen. Sie fundieren gleichsam die Folie, auf der sich im Sinne von Allokationseffizienz „Alltagsrollen, Prioritäten und Prozeduren“ regeln und zugleich rechtfertigen8 . Abhängig sind sie von institutionellen Rahmenbedingungen. In einem Weltkonzern wie Bayer beispielsweise sind potentiell ungleich mannigfaltigere Transaktionskosten zu bewältigen als in einem kleinen Eigentümerbetrieb. Einen analytischen Zugriff auf unternehmenskulturelle Werte ermöglicht an erster Stelle die betriebliche Sozialpolitik. Denn diese richtet sich unmittelbar an die (ehemaligen) Beschäftigten9 . Es wird davon ausgegangen, dass Unternehmenskultur kein Appendix der betrieblichen Sozialpolitik dar4 5 6
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Axel Schild u. a., Einleitung, in: ders. u. a. (Hrsg.), Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000, S. 11–20, hier S. 13. Marie Luise Recker, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, 2., überarbeitete und erweiterte Auflage, München 2005, S. 44. Andreas Rödder, Wertewandel in historischer Perspektive. Ein Forschungskonzept, in: Bernhard Dietz u. a. (Hrsg.), Gab es den Wertewandel? Neue Forschungen zum gesellschaftlichkulturellen Wandel seit den 1960er Jahren, München 2014, S. 17–41, hier S. 29. Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, 6. Auflage, Frankfurt a.M. 2001, S. 9. Peter L. Berger/Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, 17. Auflage, Frankfurt a.M. 2000, S. 106. Unter ihr können alle Leistungen verstanden werden, die ein Unternehmen seinen Angehörigen neben dem vertraglich vereinbarten Arbeitsentgelt auf freiwilliger Basis zukommen lässt.
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stellt, sondern dieser selbst inhärent ist. Die beschäftigtenbezogene Politik wird also als symbolische Kommunikation begriffen. Unternehmenskulturelle Werte können jedoch nicht nur gemacht, sondern sollten ob ihrer utilitaristischen Grundfunktion auch geglaubt und gelebt werden. Eine Untersuchung intentionalen Handelns und struktureller Gegebenheiten reicht zum (historischen) Verständnis betrieblicher Lebenswelten nicht aus. Deswegen muss sowohl die Ebene der unternehmenskulturellen Rezipienten wie das betriebliche Miteinander in praxi ebenfalls in Augenschein genommen werden10 . Eine der wenigen unternehmenshistorischen Operationalisierungen leistet in dieser Hinsicht Anne Nieberding mit ihrer Studie zu den Firmen J. M. Voith und Farbenfabriken Bayer im Kaiserreich11 . Auch sie blendet allerdings einen wichtigen Aspekt aus, da sie sich nicht für die Außenbeziehungen des Unternehmens interessiert. Es ist in Rechnung zu stellen, dass zu den unternehmenskulturellen Feldbedingungen auch das Umland, vornehmlich die Anliegerkommune, gehört. „All business is local“12 – ökonomische wie sozio-kulturelle Prozesse sind in signifikanter Weise regional determiniert. Auf der einen Seite gestaltet ein Betrieb, zumal wenn er tausende von Menschen beschäftigt, als Motor von „behavior patterns and value orientations“13 auch Lebenswelten außerhalb des Fabrikzauns; kein Beschäftigter gibt seine Werte am Fabriktor ab. Auf der anderen Seite sind Betriebe direkt von den Produktionsbedingungen ihres Umfeldes abhängig, während Anliegergemeinden als „wichtige Stakeholder“ eines Unternehmens gelten können, die unmittelbar „von seinem Erfolg, aber auch von seinen Emissionen betroffen sind“14 . Ein Unternehmen bildet daher weniger eine „Miniaturgesellschaft“15 oder eine „Mesoebene zwischen der Mikrodimension sozialer Beziehungen und der Makroebene gesellschaftlicher Strukturprinzipi10
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Bernhard Dietz, Christoph Neumaier und Andreas Rödder haben den Grundtatbestand einer kulturalitisch sensiblen Gesellschaftsgeschichte, mithin das interdependente Spannungsverhältnis von diskursiv verhandelten Ideen, strukturellen Bedingungen und sozialen Praktiken, pointiert in der Figur des Wertewandeldreiecks gefasst. Dazu zum Beispiel: Andreas Rödder, Wertewandel in historischer Perspektive, in: Dietz u. a. (Hrsg.), Gab es den Wertewandel?, S. 28ff. Anne Nieberding, Unternehmenskultur im Kaiserreich. J. M. Voith und die Farbenfabriken vorm. Friedrich. Bayer & Co, München 2003. Ähnlich in der Anlage: Christoph Fieber, Unternehmensführung durch Mitarbeiterkommunikation in den Bielefelder Anker-Werken im 20. Jahrhundert, in: Clemens Wischermann (Hrsg.), Unternehmenskommunikation deutscher Mittel- und Großunternehmen, Münster 2003, S. 147–180. Zit. nach Hartmut Berghoff, Moderne Unternehmensgeschichte. Eine themen- und theorieorientierte Einführung, Paderborn u. a. 2004, S. 235. Hans-Ulrich Wehler, What is the ‚History of Society‘?, in: Storia della Storiographia 18 (1990), S. 5–19, hier S. 15. Berghoff, Moderne Unternehmensgeschichte, S. 235. Thomas Welskopp, Der Betrieb als soziales Handlungsfeld. Neuere Forschungsansätze in der Industrie- und Arbeitergeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), S. 118– 142, hier S. 120.
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en“16 . Vielmehr sollte es als intendierte Zuschreibungsgemeinschaft verstanden werden, also als ein offenes, in ständiger Veränderung begriffenes System, dessen Akteure abhängig von strukturellen Gegebenheiten in stetigem Austausch mit ihrer sozialen Umwelt um Legitimität und damit Gewinnrationalität ringen17 . Eine solche erweiterte und zugleich kulturalistisch sensible Unternehmensgeschichte stellt eine große Herausforderung dar. Zwar ist häufig über das Wechselverhältnis von Unternehmen und Umland reflektiert worden18 ; Forderungen nach „Erforschung der unternehmensinternen Handlungsstrukturen, Kommunikationsund Interaktionsbeziehungen in ihrer spezifischen Vermitteltheit zur Unternehmensumwelt“19 sind immer wieder erhoben worden. Empirische Studien bleiben jedoch rar. Wegweisenden Charakter besitzt immer noch die Arbeit von Hartmut Berghoff zu Hohner und Trossingen20 , die in theoretisch-methodischer Anlehnung an Hans-Ulrich Wehler „Unternehmensgeschichte als Gesellschaftsgeschichte“ betreiben möchte21 . „Kultur- und Mentalitätsbildung“22 spielen freilich für Berghoff allenfalls eine periphere Rolle. Die Arbeiterhistoriografie und die Stadtgeschichte interessieren sich wenig für die Perspektive des Unternehmens, zudem erreichen einschlägige Studien, die sich sowohl um die Arbeitsverhältnisse in der Fabrik als auch die außerbetriebliche Veränderung von Lebens- und Kommunikationsformen bemühen, im Regelfall nicht die zwei-
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Berghoff, Moderne Unternehmensgeschichte, S. 148. In Anlehnung an Jungkind, Risikokultur und Störfallverhalten, vor allem S. 55ff. Es handelt sich bei diesem konzeptionellen Ansatz um eine kulturalistisch erweiterte Synthese der neoinstitutionalistischen Organisationstheorie und der Neuen Institutionenökonomik Northscher Prägung. Werner Plumpe, Statt einer Einleitung. Stichworte zur Unternehmensgeschichtsschreibung, in: ders./Christian Kleinschmidt (Hrsg.), Unternehmen zwischen Markt und Macht, Essen 1992, S. 9–13; Paul Erker, „A New Business History“? Neuere Ansätze und Entwicklungen in der Unternehmensgeschichte, in: Archiv für Sozialgeschichte 42 (2002), S. 557–604, hier S. 598ff; Florian Triebel/Jürgen Seidl, Ein Analyserahmen für das Fach Unternehmensgeschichte, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 1 (2001), S. 11–26; Berghoff, Moderne Unternehmensgeschichte, S. 55ff. und 235ff. Plumpe, Statt einer Einleitung, S. 12. Hartmut Berghoff, Zwischen Kleinstadt und Weltmarkt. Hohner und die Harmonika 1857– 1961. Unternehmensgeschichte als Gesellschaftsgeschichte, Paderborn u. a. 1997. Ähnlich gelagerte Studien bieten etwa die ausdrücklich unternehmenshistorischen Arbeiten von Stefan Blaschke, Unternehmen und Gemeinde. Das Bayer-Werk im Raum Leverkusen 1891–1914, Köln 1999 und Thomas Schlemmer, Industriemoderne in der Provinz. Die Region Ingolstadt zwischen Neubeginn, Boom und Krise 1945 bis 1975, München 2009 sowie die aus der Community-Power-Forschung stammende Monografie von Hermann Hilterscheid, Industrie und Gemeinde. Die Beziehungen zwischen der Stadt Wolfsburg und dem Volkswagenwerk und ihre Auswirkungen auf die kommunale Selbstverwaltung, 2. Auflage, Berlin 1977. Berghoff, Zwischen Kleinstadt und Weltmarkt, S. 16.
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te Hälfte des 20. Jahrhunderts23 . Zeithistorische Arbeiten, die sich bemühen, Lebenswelten in Betrieb und Anliegerkommune im Zusammenhang und aus kulturwissenschaftlicher Perspektive zu untersuchen, bilden Ausnahmeerscheinungen24 . Vor diesem Hintergrund möchte ich im Folgenden die verschiedenen Interessengruppen inner- und außerhalb des Fabrikzauns ins Blickfeld nehmen und auf diese Weise einen Beitrag zur Wertewandeldiskussion25 leisten. Im Brennpunkt sollen anders als bei Thilo Jungkind die Anliegerkommunen der größten deutschen Bayer-Werke, also Leverkusen und Dormagen, stehen. Sodann möchte ich auf zwei Ebenen nach (Dis-)Kontinuitäten fragen: 1. Auf der Ebene unternehmerischer Sinnstiftungsbemühungen: Welche Narrationen, Ideen, Normenkonzepte vermittelt die Beschäftigtenpolitik? Wie wirksam sind diese? 2. Auf der Ebene der Wechselseitigkeit von Innen- und Außenbeziehungen: Wie gestaltet sich im Lichte der unternehmerischen Sinnstiftungsbemühungen das Miteinander von Betrieb und Anliegerkommune? Welche Verhaltensmuster sind kennzeichnend? Ich würde gerne in zwei Schritten vorgehen und zunächst die Ausgangslage, also die Situation der 1950er und 1960er Jahre, skizzieren, und dann explizit den
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Zum Beispiel: Rudolf Braun, Sozialer und kultureller Wandel in einem ländlichen Industriegebiet (Zürcher Oberland) unter Einwirkung des Maschinen- und Fabrikwesens im 19. und 20. Jahrhundert, Erlenbach/Stuttgart 1965; Paul Hugger, Lebensverhältnisse und Lebensweise der Chemiearbeiter im mittleren Fricktal. Eine Studie zum sozio-kulturellen Wandel eines ländlichen Gebiets, Basel 1976; Heilwig Schomerus, Die Arbeiter der Maschinenfabrik Esslingen. Forschungen zur Lage der Arbeiterschaft im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1977; Rosemarie Grimm, Die Lebens- und Arbeitsverhältnisse ländlicher Fabrikarbeiter im 19. Jahrhundert. Dargestellt am Beispiel der Baumwoll-Spinn und Weberei Arlen, Konstanz 1978; Christa Köhle-Hezinger/Walter Ziegler (Hrsg.), Der glorreiche Lebenslauf unserer Fabrik. Zur Geschichte von Dorf und Baumwollspinnerei Kuchen, Weißenhorn 1991. Eine neuere Studie, die Unternehmensgeschichte ausdrücklich als Beziehungsgeschichte begreift und sich dem kulturellen Paradigma verpflichtet sieht, endet bezeichnenderweise im Jahre 1956: Swen Steinberg, Unternehmenskultur im Industriedorf. Die Papierfabriken Kübler & Niethammer in Sachsen (1856–1956), Leipzig 2015; vgl. ferner: Markus Raasch, Wir sind Bayer. Eine Mentalitätsgeschichte der deutschen Industriegesellschaft am Beispiel des rheinischen Dormagen, Essen 2007; stärker ethno-psychoanalytisch argumentiert EvaMaria Blum, Kultur, Konzern, Konsens. Die Hoechst AG und der Frankfurter Stadtteil Hoechst, Tübingen 1991; für die Schwierigkeiten und Grenzen solcher Studien auch die Kritik einschlägiger Rezensionen, etwa: Susanne Hilger, Review of Markus Raasch ’Eine Mentalitätsgeschichte der deutschen Industriegesellschaft am Beispiel des rheinischen Dormagen (1917–1997)’, in: Business History Review 84 (2010), S. 611–613. Grundlegend: Dietz u. a. (Hrsg.), Gab es den Wertewandel?.
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„Zeitraum des Übergangs nach dem Boom“26 , also die 1970er und 1980er Jahre, in Augenschein nehmen. Quellengrundlage bilden die lokale Zeitungsüberlieferung und einschlägige Akten- und Korrespondenzmaterialien aus dem Bayersowie diversen staatlichen, kirchlichen und privaten Archiven. Hinzu kommen knapp 60 in den Jahren 2003 bis 2006 im Rahmen meiner Dissertation27 von mir durchgeführte Zeitzeugengespräche (unter anderem mit Vorstandsmitgliedern, leitenden und einfachen Angestellten, Betriebsräten, Arbeitern und Arbeiterinnen, Kommunalpolitikern, Vereinsvorsitzenden, Lehrern/innen und Pfarrern)28 .
Die Nachkriegszeit Nach Entflechtung des I.G. Farben-Konzerns29 durch die Alliierten konnte die „Farbenfabriken Bayer Aktiengesellschaft“ am 19. Dezember 1951 ihre Neugründung feiern. Knapp vier Wochen später wurde ihr nach langen, aufreibenden Verhandlungen auch das Werk Dormagen wieder offiziell zugeschlagen30 . Während das Unternehmen sein internationales Engagement sogleich wieder 26 27 28
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Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, 2. Auflage, Göttingen 2010, S. 10f. Raasch, Wir sind Bayer. Das Missbehagen der Wertewandelforscher gegenüber den Methoden der „oral history“ erstaunt (zum Beispiel: Jörg Neuheiser, Der „Wertewandel“ zwischen Diskurs und Praxis. Die Untersuchung von Wertvorstellungen zur Arbeit mit Hilfe von betrieblichen Fallstudien, in: Dietz u. a. (Hrsg.), Gab es den Wertewandel?, S. 141–168, hier S. 153). Gerade für die Erforschung von Sinnbildungsprozessen im Dreieck von Diskurs, Struktur und Praxis scheinen sie mir eine wichtige Ergänzung zu archivalischen und seriellen Quellen zu sein. Die Zeitgeschichte sollte sich des Privilegs dieser Quellengattung immer bewusst sein. Grundlegend zu den Möglichkeiten und Grenzen von „oral history“ zum Beispiel: Lutz Niethammer, Fragen an das deutsche Gedächtnis. Aufsätze zur Oral History, Essen 2007. Die Geschichte der IG Farben ist breit beforscht worden; zur Historie des Konzerns etwa: Peter Hayes, Industry and Ideology. IG Farben in the Nazi Era, Cambridge 1987; Gottfried Plumpe, Die I.G. Farbenindustrie AG. Wirtschaft, Technik, Politik 1904–1945, Berlin 1990; Bernd C. Wagner, IG Auschwitz. Zwangsarbeit und Vernichtung von Häftlingen des Lagers Monowitz 1941–1945, München 2000; zu den einzelnen Gründerfirmen: Werner Abelshauser (Hrsg.), Die BASF. Eine Unternehmensgeschichte, München 2002; Stephan H. Lindner, Hoechst. Ein IG Farben Werk im Dritten Reich, München 2005; eine umfassende wissenschaftliche Studie zu Bayer fehlt, Ansätze finden sich vor allem in: Klaus Tenfelde u. a. (Hrsg.), Stimmt die Chemie? Mitbestimmung und Sozialpolitik in der Geschichte des Bayer-Konzerns, Essen 2007, sowie bei: Joachim Scholtyseck, Der Raum Leverkusen 1914 bis 1945, in: Gabriele John/Stefan Ehrenpreis (Hrsg.), Leverkusen. Geschichte einer Stadt am Rhein, Bielefeld 2005, S. 347–422. Dazu ausführlich: Hans-Dieter Kreikamp, Die Entflechtung der I.G. Farbenindustrie A.G. und die Gründung der Nachfolgergesellschaften, in: Vierteljahrschrift für Zeitgeschichte 25 (1977), S. 220–251; Raasch, Wir sind Bayer, S. 103ff.
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forcierte31 , fungierte als zentrales unternehmenskulturelles Leitbild unverändert die in der Werkszeitung immer wieder propagierte Idee der Familie Bayer32 . Bereinigt von seiner nationalsozialistischen Codierung (Werksleiter waren nicht länger Betriebsführer, Kameradschaftshäuser wurden in Feierabendhäuser umbenannt, Arbeiter wurden nicht länger als „Soldaten ohne Uniform“ imaginiert33 , Werksappelle34 dementsprechend abgeschafft) perpetuierte sich unter diesem Narrativ ein unternehmenspolitisches Konzept, das Carl Duisberg Anfang des 20. Jahrhunderts inauguriert hatte35 . Die dem Ideenkonzept der Familie Bayer inhärenten Werte nahmen sich eindeutig bürgerlich-konservativ aus: Sparsamkeit, Zuverlässigkeit, Treue und Standesbewusstsein wurden befördert. Massiv bewarb die Unternehmensleitung etwa die Werkssparkasse, wobei lange Zeit zwischen Arbeiter- und Angestelltenkasse unterschieden wurde. Das Entlohnungssystem war konsequent an Leistung und am Dienstalter ausgerichtet. Jeder Beschäftigte bekam unter anderem eine traditionelle Jahresgratifikation in Höhe eines durchschnittlichen Jahreseinkommens, die aus einem Grundbetrag, einer dividendenabhängigen Gewinnbeteiligung und nicht zuletzt einer Treueprämie – gestaffelt nach Dienstjahren – bestand36 . Das seit Dezember 1953 gültige Angebot, sich vermittels Aktienkauf am Unternehmen zu beteiligen,
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Dazu zum Beispiel: Patrick Kleedehn, Die Rückkehr auf den Weltmarkt. Die Internationalisierung der Bayer AG Leverkusen nach dem Zweiten Weltkrieg bis zum Jahre 1961, Stuttgart 2007. Das Familiennarrativ verwendeten zahlreiche Unternehmen, um eine allokationseffiziente Wir-Beziehung im Unternehmen herzustellen. Zur entsprechenden patriarchalischen Tradition von Unternehmenskultur zum Beispiel: Hans Pohl (Hrsg.), Betriebliche Sozialpolitik deutscher Unternehmer seit dem 19. Jahrhundert, Wiesbaden 1977; Thomas Welskopp, Betriebliche Sozialpolitik im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Eine Diskussion neuer Forschungen und Konzepte und eine Branchenanalyse der deutschen und amerikanischen Eisen- und Stahlindustrie von den 1870er Jahren bis zu den 1930er Jahren, in: Archiv für Sozialgeschichte 34 (1994), S. 333–372. Ein Fallbeispiel liefert: Britta Vogt, „Wir gehören zur Familie“. Das Unternehmensleitbild der Siemens AG anhand der Selbstdarstellung, Marburg 2005. Mit Blick auf Auswirkungen für die Arbeit der Personalabteilung auch: Ruth Rosenberger, Von der „Bayer-Familie“ zum paritätisch getragenen Personalmanagement? Mitbestimmung und Personalpolitik nach 1945, in: Tenfelde u. a. (Hrsg.), Stimmt die Chemie?, S. 245–270. Werkspiegel des Monats, in: Von Werk zu Werk, Januar 1941. Die etwa unter dem Motto „Wir sind ein Volk ohne Raum, wir fordern Land und Boden“ stattgefunden hatten: Kameradschaft im Werk, in: Von Werk zu Werk, Mai 1939. Zur betrieblichen Sozialpolitik von Bayer im Kaiserreich vor allem: Nieberding, Unternehmenskultur im Kaiserreich, S. 128ff; Jürgen Mittag, Taktierender Wirtschaftsführer, fürsorglicher Patriarch oder überzeugter Sozialpolitiker? Carl Duisburg und die Anfänge der Sozialpolitik und Mitbestimmung bei Bayer, in: Tenfelde u. a. (Hrsg.), Stimmt die Chemie?, S. 57–90. Zu Lohn- und Prämientradition von Bayer: Nieberding, Unternehmenskultur im Kaiserreich, S. 216ff.
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wurde bezeichnenderweise teilfinanziert aus dieser Jahresprämie37 . Auch die Urlaubsgewährung richtete sich nach der Beschäftigungszeit. Jubilare, das heißt die mehr als 25 Jahre im Unternehmen Beschäftigten, wurden „in einem Ausmaße betreut, wie es weithin unbekannt“ war38 : Sie bekamen Sonderprämien und wertvolle Geschenke (Bücher, Uhren Schmuck et cetera). 1965 gaben die Farbenfabriken Bayer allein für 60 Dormagener Jubilare Präsente im Gesamtwert von über 82.000 DM aus39 , wobei die Überreichung ostentativ im Beisein ausgewählter, zumeist jüngerer Arbeitskollegen im Büro des betreffenden Abteilungsvorstandes erfolgte. Wunschgemäß sollten mithin die Jubilare „die große Bayer-Familie schmieden“, indem sie „nicht nur ihr Wissen und Können, sondern auch ihren Geist der Zusammenarbeit an die jüngere Generation“ weiter vermittelten40 . Angestellten wurden besondere Privilegien zuteil. Dazu gehörten Umzugshilfen ebenso wie ein höherer Geschenkwert bei runden Geburtstagen oder Betriebsjubiläen. Die – zumindest informell – Angestellten vorbehaltenen Elitevereine wie der Tennis- oder der Ruderklub erhielten von Werksseite sinnfälligerweise die größte Unterstützung. Der konservative Grundzug der Familie Bayer manifestierte sich nicht zuletzt in den für unverheiratete Arbeiter vorgesehenen Ledigenheimen, den sogenannten „Bullenklostern“. Eine Vergabe von Werkswohnungen an ledige Männer stellte ein Problem dar, Frauen erhielten eine solche nur in Ausnahmefällen41 . Traditionell fungierte die Sozialabteilung der Farbenfabriken auch „in allen persönlichen Angelegenheiten“ als Ratgeber. Die weiblichen Betriebsangehörigen wurden daher – wie schon im Kaiserreich – auch in Sachen „Gesundheitspflege, Ernährung, zweckmäßige Kleidung, empfehlenswerte Lektüre“ beraten42 . Die Begründung war eindeutig: „Es würde zu weit führen, [. . . ] auf die Mentalität der Durchschnittsarbeiterin einzugehen. Sie ist eben zunächst einmal Frau und erst in zweiter Linie Arbeitskraft. Solange sie auch als Frau behandelt wird, also persönlichen Kontakt und menschliche Anteilnahme findet, [. . . ] wird sie sich wohl fühlen und entsprechende Arbeitsleistungen
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Bayer-Archiv Leverkusen (BAL) 325/49, Rundschreiben, Nr. 3, 30. April 1954. BAL 221/3, Sozialbericht 1965. Ebenda. Jubilare zu Besuch bei „Muttern“, in: Rheinischer Anzeiger (RA), 6. November 1953; Jubilare schmieden Bayerfamilie, in: Neuß-Grevenbroicher Zeitung (NGZ), 20. November 1951. Zum Werkswohnungsbau: Hans-Hermann Pogarell/Michael Pohlenz, Betriebliche Sozialpolitik in der Nachkriegszeit. Vom Ende des zweiten Weltkriegs bis zum hundertjährigen Firmenjubiläum 1963, in: Tenfelde u. a. (Hrsg.), Stimmt die Chemie?, S. 147–176, hier S. 162ff; Markus Raasch, „Der (Traum-)Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“. Die Bayer-Stadt Dormagen und das Projekt „Città 2000“, in: Geschichte im Westen 22 (2007), S. 155–176, hier S. 162ff. BAL 220/1.1, Jahresbericht der Sozialabteilung 1912, S. 31f; Zeitzeugen-Gespräch (ZG) mit Dorothea D. (geb. 1916, Angestellte bei Bayer) vom 27. Januar 2004.
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zeigen“43 . Speziell die Ehefrauen ihrer Beschäftigten hatten die Werksleitungen im Blick, wenn sie monierten, dass „in den Wohnkolonien in der Gartenpflege wesentlich mehr Sorgfalt“ aufgewendet werden müsse44 . Seinen wichtigsten Inszenierungsraum fand die Idee der konservativ-ständisch grundierten Familie Bayer in den Betriebs-, zumal den Jubilarfesten45 . Hier wurden immerhin die treuen Beschäftigten in Anwesenheit ihrer Ehefrauen und ausgesuchter Arbeitskollegen demonstrativ als „Arbeiterveteranen“46 besonders geehrt und als Vorbild exponiert. Die Teilnehmer saßen für gewöhnlich an langen, den ganzen Raum durchmessenden Tischen, der Vertreter der Unternehmensleitung am gleichen Tisch wie der Arbeiter. Allerdings waren die Belegschaftsgruppen streng getrennt positioniert, der Unternehmens- beziehungsweise Werksleiter stets an der Bühne, die Arbeiter im hinteren Teil des Raumes. Nicht zugelassen waren Arbeiter, die bürgerlich-konservativen Werten anscheinend entgegenstanden: Selbst wenn sie 25 Jahre im Betrieb beschäftigt waren, sollten bekennende Kommunisten nicht an den Festen teilnehmen. Der nationale Anstrich der in den Betriebsfesten imaginierten Familie Bayer sprang ins Auge: Es standen für gewöhnlich deutsche Volkslieder, seltener Schlager auf dem Programm. Einschneidend war eine Neucodierung der Familie Bayer: Ihr traditionelles Versprechen auf soziale Sicherheit und Beständigkeit wurde ergänzt durch die Erzählung von erlittenem Leid und gemeinsam geschultertem Aufbau. Redner auf den Betriebsfesten hoben immer wieder auf das Leid ab, das die Firma Bayer und ihre Beschäftigten während und nach dem Ende des Krieges erlitten hatten. Zugleich stellten Sie heraus, dass die Werksfamilie die Not der Vergangenheit geschultert habe und deshalb der Blick in die Zukunft gerichtet werden könne. So wurde rituell die „trotz Hunger und Entbehrungen“ vollbrachte Aufbauarbeit während „der dunkelste[n] Zeit [der] Firmengeschichte“ angeführt, häufig gedachten Redner der Belegschaftsangehörigen, „die aus dem Kriege nicht wieder zurückgekommen“ waren47 . Ausgiebig wurden die Zeiten beschworen, als die Beschäftigten bei „dünnem Bier“48 ums Überleben gekämpft hatten. Ein besonderer Anknüpfungspunkt bildete der kollektiv ertragene „Albdruck der
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Sozialbericht 1951, zit. nach: Roswitha Süßelbeck, Frauenerwerbsarbeit und Gleichstellungspolitik bei Bayer im Überblick, in: Tenfelde u. a. (Hrsg.), Stimmt die Chemie?, S. 319–334, hier S. 324. BAL 8/12.1, Notiz über die Werksbesprechung vom 7. August 1953. Ausführlich zur Bedeutung der Betriebsfeste bei Bayer: Markus Raasch, „Heilige Zeit“. Deutsche Gesellschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts im Spiegel von Betriebsfesten, in: Carola Gruner/Waltraud Schreiber (Hrsg.), Raum und Zeit. Orientierung durch die Geschichte, Neuried 2009, S. 297–336. Jubilarfeiern der Bayerwerke Dormagen und Elberfeld, in: Unser Werk 1 (1951). Das Feierabendhaus in Dormagen wird eingeweiht, in: Unser Werk 2 (1951). BAL 325/71, Willkommen-Gruß, o. D.
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Entflechtung“49 . Denn an dieser hatten sowohl der deutsche Bundeskanzler als auch die gesamte deutsche Öffentlichkeit intensiv teilgenommen. Die Familie Bayer hatte augenscheinlich zusammen gestanden, als die Trennung von Leverkusen und Dormagen ausgemacht, jedweder Hoffnungsschimmer verloren und das „soziale Elend“ für Tausende Menschen nahe schien50 . Es konnte sich eines dramatischen Abwehrkampfs gegen äußere Unbotmäßigkeit und für den Erhalt des „soziale[n] Friedens“ sowie letzthin nach „Jahren voller Sorge und Ungewissheit“ des Sieges über ein „drohende[s] Gespenst“51 erinnert werden. Ihren wohl markantesten Ausdruck fand der Gedanke der Leid- und Aufbaugemeinschaft im Lied der Bayer-Jubilare: „was Hirn und Hand erdacht, geschafft/geht über Land und Meer,/ es zeugt von Fleiß und unsrer Kraft/ und nie verlor’ner Ehr:/ stolz wuchs aus Trümmern unser Werk,/und blühn mög’ es in Frieden,/und Sohn und Enkel, allesamt/sei dieses Glück beschieden.“52 Die unternehmenskulturellen Erfolge erschienen beeindruckend. Viele Beschäftigte, und dies waren in Leverkusen Anfang der 1970er Jahre über 30.000, in Dormagen über 12.000, waren stolz, „beim Bayer“ zu sein – so die gängige Ausdrucksweise. Dabei ging dieses Gefühl augenscheinlich „von unten nach oben“, wie es mehrere Zeitzeugen ausdrückten. Schichtarbeiter wie leitende Angestellte verinnerlichten den Gedanken, dass „der Bayer die große Familie“ repräsentierte53 . In seiner Codierung als Leidens- und Aufbaugemeinschaft konnte das „Sicherheit“ und „ein Gefühl von Nähe“ versprechende Narrativ der Familie eine beträchtliche Anziehungskraft entwickeln54 . Es spiegelte sich nicht zuletzt in zahlreichen Einzelbiografien55 . Unter der Masse der in den ersten Nachkriegsjahrzehnten Neueingestellten befanden sich viele, denen die Firma Bayer wieder eine Zukunftsperspektive und ein neues Leben eröffnete. Dies betraf beispielsweise die Kriegerfrauen, die sich „wegen der ungenügenden Rentenversorgung gezwungen“ sahen zu arbeiten, die vielen einfachen Landarbeiter, die mit der Hoffnung auf ein besseres Leben gekommen waren, die große Zahl von Flüchtlingen und Heimatvertriebenen, die „auf der Suche nach einer neuen Heimat“ im Werk Anstellung fanden56 . In den 1960er Jahren kamen 49 50
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Weihnachten unter dem Albdruck der Entflechtung, in: Rheinbote, 22. Dezember 1950. Archiv im Rheinkreis Neuss C 706, Auszug aus der Niederschrift über die Sitzung des Kreisausschusses vom 15. Juni 1950; 1. Mai – Hoffnungsschimmer für Dormagen, in: NGZ, 3. Mai 1951. Weihnachten unter dem Albdruck der Entflechtung, in: Rheinbote, 22. Dezember 1950; BAL 325/82, Sondersitzung des Amts- und Gemeinderates Dormagen/Hackenbroich, 20. April 1951. Lied der Bayer-Jubilare, in: NGZ, 24. September 1956. ZG mit Werner M. (geb. 1924, Kommunalpolitiker) vom 9. August 2004. ZG mit Eduard B. (geb. 1939, Arbeiter bei Bayer) vom 18. Mai 2004. Dazu ausführlich: Raasch, Wir sind Bayer, S. 306ff. BAL 221/3, Jahresbericht der Sozialabteilung 1950.
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zahlreiche vormalige Bergmänner und Hüttenarbeiter hinzu, die der Kohlekrise zum Opfer gefallen waren. Offene Konflikte traten in den niederrheinischen Werken der Farbenfabriken kaum auf. Selbstverständlich gab es zwischen Unternehmensleitung und Betriebsrat immer wieder Reibungen. Es wurde über „Einsichtnahme in die Gehaltslisten“ gestritten57 , die Arbeitnehmervertreter klagten über mangelnden Einfluss auf Personalentscheidungen58 und die Inhalte der Werkszeitung59 , auch während der Entflechtungsverhandlungen ereiferte sich die Unternehmensleitung über Eigenmächtigkeiten des Betriebsrats60 . Bisweilen musste der Akkordausschuss wegen großer Meinungsverschiedenheiten für eine bestimmte Zeit die Arbeit einstellen – allerdings wurden die Probleme dann im informellen Kreis gelöst61 . Im Ganzen war das Verhältnis zwischen Betriebsrat und Unternehmensleitung vor allem durch das viel beschworene Motto „Kooperation statt Konfrontation“62 bestimmt. Die Werksleitungen legten „größten Wert darauf, im guten Einvernehmen und in Übereinstimmung“ mit den Arbeitnehmervertretern zu handeln63 . Die Arbeitnehmervertreter waren bemüht, nicht „in die Fehler früherer Jahrzehnte zurückzufallen“64 . Paradigmatisch fiel das Verhalten der Bayer-Betriebsräte im Frühjahr 1952 aus, als in der BRD heftig über ein Betriebsverfassungsgesetz gestritten wurde, das den Kompetenzbereich der Arbeitnehmervertretungen erheblich beschränken sollte. Inhaltlich stützten sie die Protesthaltung der Gewerkschaften, als aber der DGB in dieser Angelegenheit Flugblätter an den Werkstoren verteilte, sah man sich zu einer Entschuldigung bei der Unternehmensleitung veranlasst. Dem Vorgehen des Gewerkschaftsbundes stand der Betriebsrat offenkundig „innerlich ablehnend gegenüber“65 . An anderer Stelle distanzierte sich ein Betriebsratsvorsitzender entschieden von einem in der „Gewerkschaftspost“ erschienenen Grundsatzartikel, der angeblich in tendenziöser Weise den „autokratischen Betriebsausbau
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BAL 325/70, Der Werksleiter von Dormagen an den Betriebsrat, 19. Oktober 1948. Kirsten Petrak, Die werkseigene „gute“ Tradition, die Ära Hochapfel und das Betriebsverfassungsgesetz. Zur Praxis der betrieblichen Mitbestimmung in Leverkusen nach 1945, in: Tenfelde u. a. (Hrsg.), Stimmt die Chemie?, S. 177–196, hier S. 186. Petrak, Die werkseigene „gute“ Tradition, S. 188. BAL 325/24, Der Werksleiter von Dormagen an den Betriebsrat, 25. Juli 1951. Petrak, Die werkseigene „gute“ Tradition, S. 188ff. Hans Unger/Rüdiger Keim, Kooperation statt Konfrontation. Vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat, Köln 1986. BAL 329/477, Notiz [Conrad], 4. September 1945. BAL 325/70, Auszug aus der Betriebsversammlung vom 24. Januar 1950; zu den konfliktreichen 1920er Jahren bei Bayer: Werner Plumpe, Anfänge der Mitbestimmung. Gewerkschaften, betriebliche Sozialpolitik und Arbeitskonflikte in Leverkusen bis 1933/39, in: Tenfelde u. a. (Hrsg.), Stimmt die Chemie?, S. 91–120. BAL 325/70, Der Werksleiter von Dormagen an Ulrich Haberland, 23. Mai 1952.
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in der Chemie“ geißelte66 . Streikhandlungen gab es in den 1950er und 1960er Jahren bei Bayer nicht. Die Beziehung zwischen Unternehmen und Anliegerkommune sah sich vor diesem Hintergrund vor allem durch drei Gesichtspunkte gekennzeichnet: 1. Die Großindustrie figurierte als Trutzburg
Der Fabrikzaun trennte zwei Welten. Die innerbetriebliche Sphäre sollte hermetisch bleiben. Es gab keinen institutionalisierten Kontakt zwischen Werk und Stadtrat. Der Besuch von Schülergruppen war strengstens reglementiert. Der Information der Öffentlichkeit diente für gewöhnlich eine jährliche Pressekonferenz. In Dormagen kam der erste Werksbesuch von Kommunalpolitikern im Jahre 1963 einer Sensation gleich67 . Bei Störfallen verbat sich das Unternehmen äußere Hilfen, es dominierte das Narrativ einer hermetischen Leidens- und Risikogemeinschaft. Wenn wie in Leverkusen im Jahre 1960 Beschäftigte bei einer Explosion ihre Leben verloren, dann war die Sprache von Kriegs- und Heldenmetaphorik durchdrungen und es wurde in der Werkszeitung herausgestellt: „Was in dieser Nacht an Kameradschaft und Betriebstreue [. . . ] aller Helfer erkennbar wurde, ist so erfreulich, daß wir es nicht verschweigen wollen [. . . ] Es war das schwerste Unglück seit Jahrzehnten. [. . . ] Und dennoch gab es keine Beunruhigung im Werk. Die Arbeit ging weiter.“68 2. Die Industrie agierte als Patron
Bayer fungierte in Leverkusen und Dormagen nicht nur als Metronom der Stadtentwicklung, indem es das Bauerndorf Wiesdorf zu einer Großstadt von 150.000 Menschen werden ließ und die Einwohnerzahl Dormagens im Laufe des 20. Jahrhunderts beinahe verzwanzigfachte. Die Anliegerkommunen erlebten die Firma darüber hinaus an verschiedenster Stelle als Patron. Die kommunale Kulturarbeit sowie die Volkshochschulen in Leverkusen und Dormagen bedachte Bayer mit großzügigen Spenden69 . Gleiches galt für die Ortsgruppe der Schutzgemeinschaft 66 67 68 69
BAL 325/70, Der Betriebsratsvorsitzende von Dormagen an den Werksleiter, 28. Januar 1951. Stadtarchiv Dormagen (StAD) 116, Sitzung des Dormagener Gemeinderates vom 28. Mai 1963. Die Nacht vom 28. zum 29. Dezember, in: Unser Werk 1 (1961), zit. nach Jungkind, Risikokultur und Störfallverhalten, S. 130. Zum Beispiel: BAL 325/56, Besprechung mit Ulrich Haberland; BAL 8/12.1, Notiz über die Werksbesprechung vom 18. Juni 1954; Bayer stiftete zum Firmen-Jubiläum Geldgeschenk für Gemeindebücherei, in: RA, 9. August 1963.
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Deutscher Wald70 . Ohne Bayer hätte im Jahre 1963 keine öffentliche Bücherei in Dormagen eingerichtet werden können. Die Firma stiftete Karnevalswagen71 , half beim Bau von Sportanlagen72 und übernahm immer wieder Kosten für den Bau von Kirchengebäuden, weshalb sich in fast allen Kirchengrundsteinen in Leverkusen und Dormagen Produktproben von Bayer befinden73 . BayerMitarbeiter halfen unentgeltlich bei der Renovierung von Jugendheimen. Den Schulen74 spendete das Werk Werkstoffe, ließ kostenlos Kopierer reparieren, stellte Papier, Folien, Handschuhe, Säcke, Tafelschwämme oder Reinigungsmittel zur Verfügung. Karnevalssitzungen, Schulfeiern oder Lehrerfortbildungen konnten in Werksräumen stattfinden, bei Schuleröffnungen spendete Bayer großzügig vor allem für die naturwissenschaftliche Abteilung. Die Unterstützung von Werkseite besaß jedoch zum kleineren Teil eine strategische Komponente. Sie gründete vor allem auf persönlichen Beziehungen. Wenn ein guter Kontakt zur Familie Bayer bestand, wurden entsprechende Bedürftigkeiten zumeist anstandslos „auf dem kleinen Dienstwege“ befriedigt75 . Bei Bayer in leitender Funktion beschäftigte Elternvertreter, Kirchenvorstandsmitglieder oder Presbyter konnten sehr hilfreich sein. Besonders günstig waren Kontakte zum jeweiligen Werksleiter, der zum Unternehmensvorstand gehörte. Umgekehrt war es für alle Hilfsgesuche sehr schwierig, wenn keine persönlichen Bindungen existierten, wenn es keine Nähe zur Familie Bayer gab. Nicht wenige Schulleiter, Pfarrer oder Vereinsvorstände in Dormagen mussten diese Erfahrung machen. Als strategisch konnte lediglich die auffallend starke Protegierung der Berufsschulen betrachtet werden. Hier förderte Bayer mithin sein unmittelbares Arbeitskräftereservoir. 3. Die Erzählung der Schicksalsgemeinschaft
Sowohl in Leverkusen wie auch in Dormagen wurde jahrzehntelang die Idee hochgehalten, dass Werk und Umland eine Schicksalsgemeinschaft bildeten. Diese begann damit, dass die Gewerbesteuer von Bayer „nach Ertrag und Kapital die Haupteinnahmequelle der Gemeinde“ darstellte76 . Sie setzte sich fort in dem 70 71 72 73 74 75 76
Karl-Heinz Engler, Dormagen. Skizzen einer jungen Stadt, Dormagen 1969, S. 7. Franz Gerstner, Dormagener Kommunalgeschichte aus meiner Sicht, in: Historisches Jahrbuch der Stadt Dormagen 1981, S. 9–39, hier S. 25. Zum Beispiel: BAL 325/56, Besprechung mit Ulrich Haberland, 2. November 1955; Nur Belästigungen durch Industrie?, in: RA, 25. September 1959. Zum Verhältnis Bayer und Kirchen: Raasch, Wir sind Bayer, S. 441ff. Zu den Unterstützungsleistungen Bayers im Bereich Schule: Raasch, Wir sind Bayer, S. 499ff. ZG mit Heinz K. (Geburtsdatum nicht bekannt, Vorsitzender Schützenverein) vom 6. März 2006. StAD 118, Haushaltsansprache 1968 für die Gemeinde Dormagen. Entsprechend florierten Redewendungen wie: „Wenn Bayer nasse Füße hat, bekommt Leverkusen Schnupfen“;
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Umstand, dass Bayer die Infrastruktur der Kommune wesentlich prägte – sei es über die Werksvereine, das betriebseigene Schwimmbad oder die Feierabendhäuser. Auch im buchstäblichen Sinne wurde sie sichtbar, da Bayer zum Beispiel über Jahrzehnte das kommunale Trinkwasser förderte77 oder mit dem werkseigenen Krankenwagen Notfalltransporte der Anwohner übernahm78 . Evident wurde der Gedanke der Schicksalsgemeinschaft aber nicht zuletzt auch in der Politik. Die personellen Verbindungen zwischen Kommunalpolitik und Unternehmen waren eklatant. Nehmen wir das Beispiel Dormagen: Nachdem schon in den 1930er Jahren der vormalige Vorstand der örtlichen Bayer-Betriebskrankenkasse die Geschicke der Gemeinde gelenkt hatte, war zwischen 1948 und 1978 – unabhängig vom Parteibuch – immer ein leitender Bayer-Angestellter Bürgermeister. Zumeist paritätisch zwischen CDU und SPD verteilt, waren mindestens die Hälfte der Mitglieder im Gemeinde- bzw. Stadtrat Bayer-Angehörige. Der besondere Einfluss von Bayer auf die Kommunalpolitik kann nicht geleugnet werden. Es gab durchaus zielgerichtete Vereinnahmungen. Es kam vor, dass die Bürgermeister „während der Arbeit einbestellt und von der Werksleitung zur Brust genommen worden“79 . Wiederholt wurden dann klare Vorgaben gemacht80 . Mitunter übermittelte der Bürgermeister der Presse Wünsche der Werksleitung ungefiltert auf amtlichem Papier81 . Bisweilen war die Werksleitung vor dem Gemeinderat über Bauanträge, die Aufstellung von Verkehrsplänen oder Beschwerdebriefe von Anwohnern informiert82 . Mehrfach rügten Bürgermeister die schleppende Bearbeitung von Bauanträgen der Firma Bayer83 . Grundsätzlich wurde wohl eine Politik des beiderseitigen Nutzens, des Quidproquo, verfolgt. Einen markanten Höhepunkt fand diese in den Erschließungsverträgen der 1960er Jahre, als Bayer sich zu massiven finanziellen Leistungen beim Bau neuer Wohnungen verpflichtete und dafür im Gegenzug vorab erfahren wollte, wenn irgendein ein anderes Industrieunternehmen eine Genehmigung zur Ansiedlung haben wollte84 . Kritik an Bayer oder nachhaltiger Protest wegen der offenkundigen Umweltverschmutzungen (Fischsterben, Rauchbelästigung, teilweise unerträgli-
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„Wenn Bayer hustet, bekommt die ganze Geschäftswelt eine Erkältung“; „Wenn Bayer einen Schnupfen hat, erleidet die Stadt eine Lungenentzündung“. StAD 125, Niederschrift über die gemeinsame Besprechung des Hauptausschusses und des Wasserwerksausschusses vom 7. Januar 1960; Bayer will ein Wasserwerk bauen, in: RA, 5. Dezember 1958. Dormagen mit eigenem Krankenwagen, in: Düsseldorfer Nachrichten, 12. Februar 1960. ZG mit Werner K. (geb. 1918, Kommunalpolitiker) vom 1. Juni 2004. BAL 8/12.1, Notiz über die Werksbesprechung vom 19. Februar 1951 u. 19. Februar 1953. BAL 325/70, Der Bürgermeister von Dormagen an die Redaktion des Sport-Beobachters in Essen, 9. Januar 1951. BAL 8/12.1, Protokoll zur Werksausschuss-Besprechung vom 18. Juli 1961 u. 8. November 1961; BAL 8/11.2, Aktennotiz über die Abteilungsleiter-Besprechung vom 6. Oktober 1964. STAD 116, Sitzung des Dormagener Gemeinderates vom 17. September 1964. STAD 6110/4, Vertrag [1961] u. Schreiben an Herrn Dr. Böhme, 7. Mai 1961.
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cher Gestank, persistente Flecken in der Autokarosserie et cetera)85 waren im Zeichen der Schicksalsgemeinschaft-Idee sowohl in der Bevölkerung als auch in der Kommunalpolitik rar. In Genehmigungsverfahren konnte die Bayer AG damit rechnen, keinen Einsprüchen aus der Bevölkerung begegnen zu müssen.
Die Zeit nach dem Boom Die Veränderungen der 1970er und 1980er Jahre sind unbestreitbar. Vor allem die Vorstellung einer hermetischen Trutzburg fiel fort. Das Unternehmen, das seit 1972 nur mehr als Bayer AG firmierte86 , verschrieb sich angesichts des verschärften Umweltdiskurses und der veränderten Gesetzeslage in der Tat einer durchaus nachdrücklichen Öffnungspolitik. Es kam etwa im Verlauf der 1970er Jahre zur Schaffung von Werksleiter-Büros und damit erstmals zu offiziellen Ansprechpartnern für Stadt und Öffentlichkeit87 . In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre entstanden vor den Werkstoren für die Öffentlichkeit zugängliche Informationsbüros88 . Zum alljährlichen Ritual avancierte in Dormagen das „Christbaumschlagen“ samt Mittagessen mit den lokalen Pressevertretern89 . Seit den 1980er Jahren waren Besprechungen zwischen Werksleitung und Stadtverwaltung institutionalisiert, Ratsvertreter regelmäßig zu Fabrikbesichtigungen geladen. 1982 fand in Dormagen erstmals eine Sitzung des Umweltausschusses im Feierabendhaus der Bayer AG statt90 . Großen Zuspruch in der Bevölkerung fanden die Vortragsreihen „Bayer informiert die Bürger“ in Dormagen91 bzw. „Hallo Nachbar“ in Leverkusen92 . Die Leitidee der Familie Bayer blieb freilich evident. Die häufig in der Literatur zu findende These, dass sich die bundesrepublikanische Unternehmenskultur seit den 1970er Jahren weg vom patriarchalischen Familienmodell hin zu Werten wie Selbständigkeit, Flexibilität und individueller Freiheit bewegt habe93 , kann für die Firma Bayer nur bedingt 85 86
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Raasch, Wir sind Bayer, S. 560ff. Vgl. zur damit verbundenen divisionalen Umstrukturierung des Bayer-Konzerns: Thomas Reinert, Begegnung mit Bayer. Historische Facetten eines innovativen Unternehmens, Frankfurt a.M. 2013, S. 67ff. Bayer-Chef bleibt in Dormagen, in: RA, 22. März 1978. Feierabend am Informationszentrum, in: NGZ, 13. April 1987; Treffpunkt für viele Besucher, in: Unser Werk 3 (1988). BAL 342/52, Jahresberichte der Werksverwaltung Dormagen. Wer und Was?, in: RA, 6. Mai 1982. Bayer informiert jetzt die Bürger, in: RA, 30. Oktober 1980. Unterwegs zu den Nachbarn, in: Unser Werk 3 (1986). Einen konzisen Forschungsüberblick bietet: Thilo Jungkind, Unternehmenskultur in Deutschland seit 1945. Ein Blick auf die Funktionsfähigkeit von Unternehmen aus Sicht einer kulturellen Ökonomik, Saarbrücken 2012.
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bestätigt werden. Das Unternehmen bemühte sich vor allem den unternehmenskulturellen Adressatenkreis zu erweitern und führte deswegen den Begriff des „Nachbarn“ ein. Die Bevölkerung wurde als „Nachbar“ zum erweiterten Teil der Familie Bayer erklärt. In diesem Sinne wurde das Veranstaltungsprogramm der Werke in den 1980er Jahren noch einmal ausgebaut und ausdrücklich an den Interessen der breiten Bevölkerung ausgerichtet. Selbst Künstler wie Costa Cordalis oder Hape Kerkeling konnten Besucher/innen nun in Leverkusen und selbst in Dormagen, wo das Angebot der Kulturabteilung traditionell nicht annähernd so reichhaltig wie am Firmensitz war, erleben94 . Die wichtigste Erlebnisform der erweiterten Werksfamilie bildete fortan der regelmäßig abgehaltene „Tag der offenen Tür“, der als großes Volksfest gemäß dem Motto „Bayer lädt Nachbarn zum Mitfeiern ein“ inszeniert wurde95 . Die Öffnung hatte allerdings klare Grenzen, die alten Muster kamen immer wieder zum Vorschein. Dies äußerte sich in dem Misstrauen, das den Werksleiterbüros und auch der neu eingerichteten Umweltschutzabteilung von Führungskräften entgegengebracht wurde96 . Dies wurde sichtbar, wenn auf Betriebsratssitzungen vor der neuen Partei der „Grünen“ gewarnt wurde97 . Traditionen wurden offenbar, wenn Bayer einen kirchlichen Gesprächskreis boykottierte, der über die Probleme von Schichtarbeit sprechen wollte98 . Bezeichnenderweise erwirkte das Unternehmen Anfang der 1980er Jahre eine einstweilige Verfügung gegen einen apokalyptischen Science-Fiction-Roman inklusive der Schwärzung bestimmter Textstellen99 und ein Bayer-Sprecher verlautbarte angeblich: „Ich höre den Böll zwar schon heulen, aber das Verfahren werden wir trotzdem knallhart durchexerzieren“100 . Im Ganzen nahmen sich die Kontinuitäten erstaunlich aus: Der Anspruch der betrieblichen Sozialpolitik blieb ganzheitlich. „Die Kontrolle [sollte] nicht am Werkstor enden.“101 Zuverlässigkeit, Treue und Beständigkeit galten unverändert als unternehmenskulturelle Kernwerte. Das Zulagen- und Prämiensystem war in dieser Hinsicht eindeutig. Zu ihrem 125-jährigen Jubiläum im Jahre 1988 gewährte die Bayer AG beispielsweise eine üppige Gratifikation: Jeder Beschäftigte erhielt 60 Prozent des im Durchschnitt in der Firma erzielten Monatseinkommens. Hinzu kamen gestaffelt nach Dienstjahren bis zu 800 DM 94 95 96 97 98 99 100 101
BAL 342/52, Jahresberichte der Werksverwaltung Dormagen; zur Bedeutung der Leverkusener Kulturabteilung: Pogarell/Pohlenz, Betriebliche Sozialpolitik, S. 169ff. Bayer lädt Nachbarn zum Mitfeiern ein, in: Schaufenster, 12. April 1988; zum Kontext: Raasch, Heilige Zeit, S. 327ff. Zum Beispiel: ZG mit Walter B. (geb. 1924, Werksleiter) vom 17. Februar 2004. ZG mit Karl-Heinz R. (geb. 1934, Arbeiter bei Bayer) vom 18. November 2003. Raasch, Wir sind Bayer, S. 468f. Bayer-Werk stoppte Everwyn-Buch, in: Schaufenster, 23. März 1983. Zit. nach Freier Lauf, in: Der Spiegel 14 (1983). Bayer will offene Informationspolitik, in: RA, 20. März 1980.
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Prämie102 . Sicherlich suchte sich das Unternehmen von ständischem Denken zu distanzieren. Geflissentlich wurde nicht mehr von „Arbeitern“ und „Angestellten“, sondern von „Mitarbeitern“ gesprochen. Jeder Mitarbeiter konnte nunmehr nach einer gewissen Dienstzeit ein zinsgünstiges Darlehen für den Hausbau erhalten. Jedoch lagen die Gehälter der vormaligen Angestellten immer noch deutlicher über dem bundesdeutschen Durchschnittsdienst als die Löhne der vormaligen Arbeiter103 . Standesprivilegien wie Umzugshilfen blieben erhalten, an der Exklusivität bestimmter Werksvereine änderte sich trotz einer breiteren Förderung wenig. 1983 wurde in Dormagen aufwändig das Kasino, Versammlungsort der elitären Bayer-Kasinogesellschaft, renoviert. Es verfügte fortan neben dem noblen Betriebsrestaurant über eine Teeküche, eine Empfangshalle im Obergeschoss, vier Klub-, drei Konferenzräume, eine Kegelbahn und ein Kaminzimmer104 . Zudem wurde Ende der 1970er Jahre ein exquisiter Weinund Feinkostladen eingerichtet105 . Zweifelsohne war der konservative Anstrich der Familie Bayer ein Stück weit übertüncht worden. Ende der 1980er Jahre wurde zum Beispiel ein Modell geschaffen, das Eltern bis zu sieben Jahre nach dem Ausscheiden die Rückkehr auf einen der vorherigen Qualifikation angemessenen Arbeitsplatz garantierte106 . Gleichwohl waren die Traditionslinien erkennbar. In Dormagen wurde das letzte „Bullenkloster“ erst in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre abgerissen107 , in Leverkusen existierten sie – freilich in den letzten Jahren als Unterkunft für Auszubildende und Praktikanten – bis zum Jahr 2010108 . Bayer stieß seine Werkswohnungen aus wirtschaftlichen Gründen zusehends ab, wobei bis zuletzt weibliche Beschäftigte, zumal alleinerziehende Mütter, größte Schwierigkeiten hatten, eine solche zu bekommen. Die Hausbaukredite gewährte das Unternehmen unverändert vornehmlich verheirateten beziehungsweise verlobten Werksangehörigen. An der Choreografie der Jubilarfeste änderte sich wenig, der Rekurs auf die (Nach-)Kriegs- und Aufbauzeit erfolgte nicht mehr so häufig, aber er war evident. Gerne erinnerten Redner an „die Stunde Null“ und „das Geleistete beim Neubeginn“109 . „Die Aufbauleistung der Bayer-Jubilare“110 figurierte als eine Art Mantra und diese wurde geflissentlich als Antipode für die angeblich schwierige „gesellschaftspolitische Lage“ der Post-68er-Zeit präsen-
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Üppige Gratifikation zum 125-jährigen, in: Schaufenster, 22. Dezember 1987. Etwa: BAL 221/3, Statistischer Jahresüberblick der Bayer AG 1980. „Neues Kasino“ im alten Haus, in: Unser Werk 1983. Das Lädchen im Feierabendhaus Dormagen, in: Unser Werk 7 (1983). Die Chemie muss eine intelligente Branche sein, in: NGZ, 29. Dezember 1990. Das Bullenkloster wird eingestampft, in: RA, 26. Juni 1996. „Bullenklöster“ sind leer, in: Kölner Stadt-Anzeiger, 4. Januar 2010. Zwei bunte Abende für Jubilare, in: Unser Werk 6 (1972). Aufbauleistung der Bayer-Jubilare gewürdigt, in: RA, 12. Mai 1972.
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tiert111 . Wenn 1982 für den Gesamtbetriebsratsvorsitzenden aus Anlass seiner 40-jährigen Werkszugehörigkeit ein großes Jubilarfest veranstaltet wurde, dann erinnerten Theaterstücke, Reden und Gedichtvorträge ausgiebig an die Notzeiten in Krieg und Nachkriegszeit sowie den Erfolg des Neubeginns. Er selbst wurde als „Mann des Ausgleichs“112 , als Musterexemplar des „Bayeraners“113 zelebriert, der mit einem „hohen Maß an kooperativer Bereitschaft und sozialem Verantwortungsbewusstsein gegenüber der Belegschaft und dem Unternehmen geprägt war“114 . Der Erfolg, das heißt in erster Linie die kalmierende Wirkung der unternehmenskulturellen Werte war weiterhin beachtlich. Signifikante Konflikte zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern gab es nicht. Obwohl es in der Sache – etwa bei Lohn- und Arbeitszeitfragen – zu durchaus „heftigen Auseinandersetzungen“ kam, gestaltete sich das Verhältnis zwischen Betriebsrat und Unternehmensleitung grundsätzlich „immer sehr gut und vertrauensvoll“115 . Daran änderte auch das in Leverkusen sehr rege Agieren oppositioneller Betriebsräte116 nichts. Außenstehende monierten sich gerne über die Bayer-Betriebsräte und ihr „solidarisches Verhalten der Werkleitung gegenüber“117 . Selbst innerhalb der traditionell arbeitgeberfreundlichen Chemiegewerkschaft, die sich oft nachsagen lassen musste „Die haben den Stallgeruch wohl schon abgelegt“118 , wurde bisweilen – so sagt es ein ehemaliger Betriebsratsvorsitzender – auf die „Scheiß-Bayerleute“ geschimpft119 . Der bis heute letzte Streik in der chemischen Industrie im Jahre 1971120 scheiterte in jedem Fall nicht zuletzt am kaum vorhandenen Protestwillen bei Bayer. Während sich etwa am 25. Juni 1971 in den vier Tarifbezirken Nordrhein, Hessen, Hamburg und Westfalen insgesamt über 36.000 Beschäftigte der chemischen Industrie im Ausstand befanden, traten in Leverkusen lediglich 74 Werksangehörige in einen befristeten Sitzstreik. In Dormagen gab es einen 111 112 113 114 115 116
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Zwei bunte Abende für Jubilare, in: Unser Werk 6 (1972). Ein Mann des Ausgleichs, in: Unser Werk 6 (1982) Mit der Wahlbeteiligung nicht zufrieden, in: Unser Werk 8 (1981). BAL 271/2, Rede von Karl Hauenschild zum 40-jährigen Dienstjubiläum von Edgar Ballarin am 4. Juni 1982. ZG mit Klaus S. (geb. 1934, leitender Mitarbeiter bei Bayer) vom 24. März 2004. Stefan Moitra, Oppositionelle Betriebsratsarbeit bei Bayer. Zwischen parteipolitischer, persönlicher und struktureller Konfrontation, in: Tenfelde u. a. (Hrsg.), Stimmt die Chemie?, S. 217–243. Privatbesitz Ulrich 1, Volker Ulrich an Pfarrer Steinbrecher, 7. Oktober 1981. Zit. nach Rüdiger Klatt, Auf dem Wege zur Multibranchengewerkschaft. Die Entstehung der Industriegewerkschaft Bergbau-Chemie-Energie aus kultur- und organisationssoziologischer Perspektive, Münster 1997, S. 80. ZG mit Hans U. (geb. 1934, Betriebsratsvorsitzender) vom 2. Dezember 2003. Dazu zum Beispiel: Willi Dzielak u. a., Belegschaften und Gewerkschaft im Streik. Am Beispiel der chemischen Industrie, Frankfurt a.M./New York 1978; Raasch, Wir sind Bayer, S. 330ff.
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Tag vorher lediglich eine Protestversammlung, auf der eine Resolution zwecks „Wiederaufnahme der Tarifverhandlungen“ verabschiedet wurde121 . Das industrielle Patronatssystem blieb erhalten – auch wenn die Bevölkerungszahlen in Leverkusen und Dormagen in Abhängigkeit von der BayerBelegschaftsentwicklung stagnierten. Unverändert schätzten sich Leverkusener und Dormagener Gruppierungen vornehmlich dann glücklich, wenn sie von sich behaupten konnten: „Unsere Leute waren ja Bayer-Leute.“122 Bestanden persönliche Bande, konnte der Interessierte die „Familie Bayer immer fragen, ob man was wollte“123 . Gerade in den 1980er Jahren gereichte dieser Paternalismus zu latentem Unmut – sei es bei Pfarrern124 , die rückläufige Gemeindegliederzahlen erlebten, sei es bei Schuldirektoren, die in wegen der vormals rasanten Industrieentwicklung entstandenen sozialen Brennpunkten tätig waren125 . Unter dem Eindruck, „dass Bayer als Institution eigentlich nichts gab und „nicht auf einen“ zukam, fühlten sich viele vernachlässigt. Oft wurde „über Bayer hergezogen“126 . Erst in den 1990er Jahren sollte ein formalisiertes Antragsystem für Finanzhilfen und ein Programm für eine systematische Bildungsarbeit des Unternehmens geschaffen werden127 . Zweifelsohne sah sich die Idee der Schicksalsgemeinschaft in den 1970er und 1980er Jahren vor einige Herausforderungen gestellt. Seit Ende der 1970er Jahre hatte in Dormagen kein Bayer-Beschäftigter mehr das Bürgermeisteramt inne, die Jusos gefielen sich in Attacken auf die Großindustrie. An den Schulen in Leverkusen und Dormagen wurden zahlreiche junge Lehrerinnen und Lehrer eingestellt, die sich in ihrem Engagement wider „patriarchalische Traditionen, Konsumideologie und Profitgier“128 die örtliche Großindustrie als Feindbild erkoren hatten und selbst die Spende eines Teppichs mit der unmissverständlichen Botschaft ablehnten: „Wir lassen uns nicht korrumpieren!“129 Sie boykottierten Werksbesuche, verhinderten, dass 121 122 123 124
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BAL 216/1.2, Streiktagebuch 2. Juni 1971–3. Juli 1971. ZG mit Karl-Hans K. (geb. 1929, Pfarrer) vom 27. November 2003. ZG mit Christoph P. (geb. 1964, Pfarrer) vom 1. November 2005. ZG mit Karl-Hans K. (geb. 1929, Pfarrer) vom 27. November 2003; ZG mit Heinz T. (geb. 1943, Pfarrer) vom 3. Februar 2004; ZG mit Gerhard K. (geb. 1931, Pfarrer) vom 26. April 2004. ZG mit Leo W. (geb. 1940, Lehrer) vom 29. Juni 2004; zum Kontext: Evangelisches Zentralarchiv Neuss, Bestand Dormagen 11, Fragebogen für Errichtung bzw. Freigabe von Gemeinde-Pfarrstellen, 10. April 1979; Privatarchiv Grundschule Burg Hackenbroich, Problemanalyse Stadtteil Hackenbroich (Teil der Chronik Grundschule 1985ff). Problemanalyse Stadtteil Hackenbroich (Teil der Chronik Grundschule 1985ff), in: Privatarchiv Grundschule Burg Hackenbroich. ZG mit Simon K. (geb. 1937, Lehrer) vom 6. Juli 2004. Raasch, Wir sind Bayer, S. 511ff. Peter Merseburger, Willy Brandt 1913–1992. Visionär und Realist, 3. Auflage, Stuttgart/ München 2002. ZG mit Walter S. (geb. 1946, Werksleiter) vom 19. Juli 2004.
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ein Gymnasium nach einem Chemiker benannt wurde, und suchten immer wieder im Unterricht entsprechenden Einfluss auf die Schülerinnen und Schüler zu nehmen. Das Bedürfnis der Schülerschaft nach einem kritischen Diskurs war aber gering. Eine Schülerzeitung schrieb keine zwei Jahre nach der Chemiekatstrophe in Bhopal in bezeichnender Weise: „Was wären zum Beispiel die umliegenden Gemeinden und die umliegenden Gemeinden ohne die BayerWerke AG Dormagen?“130 Differenzierter angelegte Schülermeinungen schritten zur Selbstkritik, bevor sie Bayer attackierten: „Oft werden Klagen über ein großes ortsansässiges Werk laut, vor allem über die Umweltverschmutzung, welche dort offensichtlich geschehe. Ich maße mir nicht darüber zu urteilen, sondern ich sehe es vielmehr als meine Pflicht an, auf die schulinterne Umweltverschmutzung aufmerksam zu machen.“131 Es nimmt nicht wunder, dass offizielle Beschwerden über Bayer-kritische Lehrkräfte keine Seltenheit darstellten. Probleme bei ihren Bauvorhaben entstanden Bayer in den 1970er und 1980er vornehmlich durch Einsprüche von überregional agierenden Umweltorganisationen, Bürgerinitiativen aus dem benachbarten Köln oder der radikalsozialistischen „Coordination gegen Bayer-Gefahren“. In Leverkusen kamen die sehr protestwilligen „Grünen“ hinzu, die in Dormagen kaum eine Rolle spielten. Selbst der bis dahin schwerste und in ganz Deutschland heftig diskutierte Störfall in der Dormagener Bayer-Geschichte, der Austritt des Pflanzenschutzmittels Gusathions im Jahre 1979132 , rief vor Ort kaum Kritik hervor. Bei einer Fernsehsendung des WDR in Dormagen wunderte sich der Reporter über die industriefreundliche Haltung des Publikums133 . Während sich nahezu die gesamte deutsche Presselandschaft mit dem Fall beschäftigte und Politiker auf Landes- und Bundesebene ernsthafte Konsequenzen forderten, meldeten sich bei einem vom Dormagener Bürgermeister eingerichteten Protesttelefon gerade einmal 60 Bürger134 . „Die wirklich Betroffenen“ stellten in Leserbriefen heraus, dass die wahren „Umweltvergifter“ die „polemisch und unqualifiziert“ argumentierenden Industriekritiker seien135 . Die von der Industrie ausgehenden Belästigungen schienen es unverändert allenfalls bedingt wert, den „bedeutendsten Arbeitergeber am Platze“ an den Pranger zu stellen136 . Ein ehemals sehr kritischer Juso-Vorsitzender bekannte sich nach seiner Einführung ins Bürgermeisteramt in exemplarischer Weise ausdrücklich zur „Schicksalsgemeinschaft“. Er wolle „Probleme gemeinsam meistern ohne dabei die kritische Distanz zueinander zu verlieren und machte sodann 130 131 132 133 134 135 136
Archiv des Bettina-von-Arnim-Gymnasiums Dormagen (BvA) 1986/87 II, Spiegelei Juni 1987. BvA 1984/85 II, Journal Aktiv, Februar 1985. Jungkind, Risikokultur und Störfallverhalten, S. 284ff; Raasch, Wir sind Bayer, S. 577ff. „Vor Ort“ bringt nichts Neues, in: NGZ, 19. Dezember 1979. Bayer nicht lebensbedrohend, in: NGZ, 27. November 1979. Leserbrief, in: RA, 13. Dezember 1979. ZG mit Walter S. (geb. 1946, Werksleiter) vom 19. Juli 2004.
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deutlich: „Wer versuche, zwischen Dormagen und dem Bayer-Werk einen Keil zu treiben, diene nicht der Sicherheit der Bürger, sondern gefährde Arbeitsplätze und vergifte die Lebensquelle der Stadt.“137
Fazit Mit Blick auf die gesamte Bayer-Geschichte relativieren sich die Veränderungen zwischen den 1960er und den 1980er Jahren. Die Diskontinuitäten sind nicht zu leugnen, vor allem der Abschied von der Trutzburg-Vorstellung ist signifikant. Gleichwohl blieben die Kernelemente der betrieblichen Sozialpolitik vom Kaiserreich bis zum Ende der 1980er Jahre ebenso konstant wie die Signata des Verhältnisses Werk-Anliegerkommune. Ein bürgerlich-konservativer, ja ständisch bestimmter Wertehorizont blieb Kennzeichen der beschäftigtenbezogenen Betriebspolitik. Die Rolle des Patrons gab Bayer nicht auf, die Idee der Schicksalsgemeinschaft bestimmte die Sinnwelten der Anwohner. Auch die neunte Dekade des 20. Jahrhunderts erscheint in mancher Hinsicht als Vor- oder Inkubationsphase von Wertetransformationen. Denn erst die Einschnitte der 1990er Jahre können in der Substanz als einschneidend gelten: Hier wird das gut 100 Jahre alte Ideenkonzept der Familie Bayer im Zuge einer konsequenten Spar-, Arbeitsplatzabbau- und Outsourcing-Politik offiziell aufgegeben138 . Während es allein in Leverkusen am Ende der 1990er Jahre mehr als 15.000 Bayer-Beschäftigte weniger gab als zu Beginn des Jahrzehnts139 , der Weg in Richtung „The New Bayer“ eingeschlagen und emblematisch die Unternehmenszeitung von „Unser Werk“ in „direkt“ umbenannt wurde140 , geriet das Patronatssystem massiv ins Bröckeln. Es kam zu markanten Konflikten zwischen Betriebsrat und Unternehmensleitung, in Dormagen wurde erstmals nach Bau des Chemiewerkes im Jahre 1917 gegen Bayer demonstriert. Das Sagbare hatte sich gewandelt. Selbst Landwirte, die traditionell in einem gewissen Spannungsverhältnis zur Industrie standen, schimpften nicht mehr, sondern fragten sich besorgt: „Was ist eigentlich noch Bayer?“141 . Auf den Bayer-Jubilarfesten waren keine aktiven Beschäftigten, sondern nur mehr Rentner und Pensionäre versammelt, die „den Bayer nicht mehr verstehen“142 , die glaub137 138 139 140 141 142
Rathaus aktuell, in: RA, 29. Mai 1991; Hilgers ist für Zusammenarbeit mit Bayer-Werk, in: NGZ, 30. Mai 1991. Ausführlich dazu: Raasch, Wir sind Bayer, S. 354ff. Matthias Bauschen, Die neue Stadt Leverkusen 1975 bis 2004, in: John/Ehrenpreis (Hrsg.), Leverkusen, S. 515–568, hier S. 529. Zum Konzept „The New Bayer“: Reinert, Begegnung mit Bayer, S. 80ff. ZG mit Helmut H. (geb. 1945, Landwirt) vom 8. Januar 2004. ZG mit Norbert W. (geb. 1958, Kommunalpolitiker) vom 6. Juli 2004.
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ten, dass „der Bayer nicht mehr der Bayer ist“143 , dass „der Bayer nicht mehr existiert“144 . Diese Mikrostudie, die auf die Identifizierung von unternehmenskulturellen Werten im Spannungsfeld von Sprache, sozialer Praxis und institutionellen Rahmenbedingungen dies- und jenseits des Fabrikzauns abzielte, vermag letzthin nicht viel mehr als für Differenzierungen und Blickerweiterungen zu sensibilisieren. Selbstverständlich findet im zweiten Drittel des 20. Jahrhunderts ein Wertewandel statt. Dieser ist freilich „kein allgemeiner, gar uniformer, sondern eher ein sektoraler Wertewandel“145 ; seine Grenzen sind evident. Imaginationen von Familiarität waren eben nicht nur „für die direkte Nachkriegszeit und die beginnenden 1950er Jahre eine markante Ausprägung von Unternehmenskultur“146 . Wohl zu schnell ist die Forschung bisher zu dem Schluss gekommen: „Die Bevormundungsversuche der Unternehmen waren nicht mehr mit den beginnenden Individualisierungstendenzen seit Ende der 1960er Jahre vereinbar.“147 Das Beispiel der Firma Bayer und ihrer Anliegerkommunen stützt die ambivalenten Befunde der jungen Wertewandelforschung: Das klassisch sozialwissenschaftliche Deutungsmuster der „postmateriellen Neubestimmung“ greift zu kurz. So wichtig zumindest auf diskursiver Ebene Wünsche „nach Mitbestimmung, nach Entscheidungs- und Gestaltungsmöglichkeiten und nach Selbstverwirklichung“ wurden148 , so stark perpetuierten sich traditionelle, auf Leistung, Verdienst und Pflicht gründende Vorstellungen von Arbeit und Arbeitsbeziehungen149 . Weder der Durchbruch einer postökonomisch-idealistischen noch einer postautoritär-libertären Wertorientierung150 scheint bis in die 1980er Jahre wirklich haltbar. Greift man aus heuristischen Gründen zum Mythosmodell Hans Blumenbergs151 , wird das Ausmaß der Kontinuität, zudem die Dialektik von Kontinuität und Diskontinuität sichtbar: Der Mythos der Familie Bayer 143 144 145 146 147 148
149 150 151
ZG mit Dorothea D. (geb. 1916, Angestellte bei Bayer) vom 27. Januar 2004. ZG mit Werner M. (geb. 1924, Kommunalpolitiker) vom 9. August 2004. Rödder, Wertewandel in historischer Perspektive, in: Dietz u. a. (Hrsg.), Gab es den Wertewandel?, S. 35. Jungkind, Unternehmenskultur in Deutschland, S. 29. Ebenda, S. 46. Bernhard Dietz, Wertewandel in der Wirtschaft? Die leitenden Angestellten und die Konflikte um Mitbestimmung und Führungsstil in den siebziger Jahren, in: ders. u. a. (Hrsg.), Gab es den Wertewandel?, S. 169–200, hier S. 195. Vgl. mit Blick auf Debatten um Ehescheidung und Abtreibung auch: Isabel Heinemann, American Familiy Values and Social Change. Gab es den Wertewandel in den USA?, in: Dietz u. a. (Hrsg.), Gab es den Wertewandel?, S. 269–284. Z. B. Neuheiser, Der „Wertewandel“, in: Dietz u. a. (Hrsg.), Gab es den Wertewandel?, S. 141–168. Anders akzentuiert z. B. Dietz, Wertewandel in der Wirtschaft?, in: ders. u. a. (Hrsg.), Gab es den Wertewandel?, S. 195. Blumenberg, Arbeit am Mythos.
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gründet – inner- wie außerbetrieblich – in seinem Kern auf der Formel „soziale Sicherheit gegen Autorität“. Dieser Kern ist hochbeständig, seine Peripherie indes hochvariabel und so wird im Laufe des 20. Jahrhunderts immer wieder „Arbeit am Mythos“ verrichtet. Vor 1918 trug der unternehmenskulturelle Code nationalbürgerliche Züge; die Sozialdemokratie, die etwa von Unternehmensfeiern ausgeschlossen war, firmierte als das auszugrenzende Andere.152 In der „Weimarer Republik“ sprangen die Distanz zur Demokratie und die Inszenierung als Klagegemeinschaft ins Auge (Es wurde etwa auf Firmenfesten beklagt, dass man sich „in traurigster Zeit“ befinde, dass Wirtschaft und Nation „bis zur Grenze des Erträglichen und Möglichen belastet“ seien, dass die „Narben in [den] Herzen“ unverkennbar seien153 ). Im Nationalsozialismus florierten Vorstellungen des Soldatischen, die Dormagener NSDAP residierte zeitweise auf dem Werksgelände154 , bei Betriebsfesten stand zwischen den einzelnen Programmpunkten das „‚Sieg Heil‘ auf den Führer“; die Festteilnehmer sangen gemeinschaftlich Volks- und Weihnachtsstücke, aber auch das Horst-Wessel-Lied; zum Schluss wurde „ein Hoch“ auf den „Volkskanzler“ angebracht, zu dessen Ehren „die Werksfamilie zusammengekommen“ war155 . In der Substanz blieb aber die Erzählung des Autorität verlangenden Sicherheitsversprechens unangetastet, der Wandel der Codierungen ließ sie umso stärker erscheinen und auf praxeologischer Ebene entwickelte sie große Wirkungsmacht („Komme und gehe, wer da wolle – die Bayer-Familie steht“156 ). Erst in den 1990er Jahren scheint die Peripherie den erzählerischen Kern derart kontaminiert zu haben, dass er – mit signifikanten Auswirkungen auf die Lebenswelten von Beschäftigten und Anwohnern – in sich zusammenbrach. Der kulturwissenschaftlich sensible Blick auf die gesamte Dauer des 20. Jahrhunderts relativiert somit die These von der „Zeitenwende“ nach dem Boom, von den 1970er und 1980er Jahren als „Phase des beschleunigten Wandels“157 . Stattdessen lässt sie die These von Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael, nach der „die mittleren 1990er Jahre als mögliches Ende einer [. . . ] Übergangsphase“ zu betrachten sind158 , plausibel erscheinen. Diese kleine Studie erhebt selbstverständlich nicht den Anspruch der Repräsentativität, sie möchte nur dazu anregen, diese an anderer Stelle zu hinterfragen und – eingedenk „der Gefahr mäandrierender Über-Differenzierung“159 – im 152 153 154 155 156 157 158 159
Nieberding, Unternehmenskultur im Kaiserreich, S. 245ff. Rede auf dem Jubilarfest 1921, in: BAL 267/7/2. BAL 8/3, Der Werksleiter an die Betriebs-Bauabteilung in Leverkusen, 14, Februar 1936. Weihnachten in der Fabrik, in: RA, 29. Dezember 1933. ZG mit Dorothea D. (geb. 1916, Angestellte bei Bayer) vom 27. Januar 2004. Zit. nach Jungkind, Unternehmenskultur in Deutschland, S. 57. Doering-Manteuffel/Raphael, Nach dem Boom, S. 14. Rödder, Wertewandel in historischer Perspektive, in: Dietz u. a. (Hrsg.), Gab es den Wertewandel?, S. 36.
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Bemühen um die Konturierung von Grautönen nicht nachzulassen. Um die Veränderungen im zweiten Drittel des 20. Jahrhunderts zu verstehen, bedarf es wohl noch mehr Tiefenschürfungen in regionaler wie in (inter)nationaler Perspektive160 , aber auch der Bereitschaft, Prozesse des Wertewandels in der longue durée oder im (wenn möglich epochenübergreifenden) historischen Vergleich in Augenschein zu nehmen. Zeithistoriker/innen sollten dazu verstärkt den Austausch mit der Bürgertums-, vielleicht auch der Adelsforschung suchen, da sich beide intensiv mit dem Wandel von Werten auseinandergesetzt haben161 .
160 161
Vgl. die Beiträge der Sektion „Familie International“ in: Dietz u. a. (Hrsg.), Gab es den Wertewandel?. Manfred Hettling (Hrsg.), Der bürgerliche Wertehimmel. Innenansichten des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2000; Marcus Funck/Stephan Malinowski, „Charakter ist alles!“ Erziehungsideale und Erziehungspraktiken in deutschen Adelsfamilien des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Jahrbuch für historische Bildungsforschung 6 (2000), S. 71–91; Markus Raasch (Hrsg.), Adeligkeit, Katholizismus, Mythos. Neue Perspektiven auf die Adelsgeschichte der Moderne, München 2014.
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Vom nationalen Interesse zum Shareholder Value? Wertewandel in den Führungsetagen westdeutscher Großunternehmen in den 1970er und 1980er Jahren Führende westdeutsche Medien stellten bereits am Ende des Booms einen Wertewandel innerhalb der Unternehmerschaft fest und unterstellten ihr einen nachlassenden Leistungswillen. So titelte das deutsche Zeitschriftenmagazin Der Spiegel im Mai 1966 „Die deutschen Unternehmer sind müde!“. Der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie Fritz Berg zeigte sich bestürzt, als ihm seine industriellen Freunde berichteten, dass der eine oder andere schlichtweg die Lust verloren habe. Ein Beispiel hierfür war der 1947 aus der Kriegsgefangenschaft heimgekehrte Fallschirm-Feldwebel Gerhard Kubetschek, der nach dem Zweiten Weltkrieg die Tonmöbelfirma Kuba aufbaute. Obschon er von Radios anfangs wenig verstand, führten Aufstiegs- und Leistungswille in Verbindung mit günstigen ökonomischen Rahmenbedingungen bald zum Erfolg. Tischler aus der Umgebung lieferten ihm die Gehäuse für Plattenspieler und Musikschränke, seine Wohnung war Büro und Lagerraum zugleich. Doch im Frühjahr 1966 machte der 55-jährige und inzwischen drittgrößte deutsche Fernsehgerätehersteller Kubetschek Kasse und verkaufte sein Unternehmen für 80 Millionen DM an General Electric. Er selbst sicherte sich einen Anstellungsvertrag als Generalbevollmächtigter mit festem Gehalt und reduzierte sein unternehmerisches Risiko damit auf null. Folglich resümierte Der Spiegel: „Die alten Inhaber sind des Rennens um Marktanteile, Handelsspannen und Stundenlöhne müde.“1 Ähnliche Beispiele waren der Verkauf der Mehrheitsbeteiligung der Versandfirma Friedrich Schwab AG in Hanau an den amerikanischen Nähmaschinenkon1
Firmen-Verkäufe. Freiheit gegen Freizeit, in: Der Spiegel 23 (1966), 30.05.1966, S. 47–54. Nur vier Jahre später bescheinigte der Spiegel den Unternehmern hingegen ein hohes gesellschaftliches Ansehen. Vgl. Unternehmer. Baumeister der Welt, in: Der Spiegel 36 (1970), 31.8.1970, S. 69. Im Jahr 1975 erschien eine Spiegel-Ausgabe mit dem als Frage umformulierten Titel „Sind Deutschlands Unternehmer müde?“; hierbei wurde neben der konjunkturellen Entwicklung vor allem der Generationenwechsel von „den Regisseuren des Wirtschaftswunders“ zu den Verwaltern und Managern, die auf „solide Finanzen“ und „betuliches Wachstum“ setzen, verwiesen. Vgl. Ziel erkannt und dann drauf los, in: Der Spiegel 48 (1975), 24.11.1975, S. 36–49. Im Jahr 1982 wurde deutschen Managern erneut eine spezifische Form der Müdigkeit – die sogenannte Auslandsmüdigkeit – zugesprochen. Vgl. Karriere. Die Familie murrte nie, in: Wirtschaftswoche 41, 8.10.1982, S. 44–46.
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zern Singer oder der Erwerb der 1888 durch Max Winkelmann in Hamburg gegründeten Lack- und Farbenfirma Glasurit durch die BASF 19652 . Aus der Berichterstattung über den Rückzug oder das Missmanagement einzelner Unternehmer lässt sich nun sicherlich noch kein Wertewandel einer ganzen Sozialgruppe ableiten, zumal die Unternehmerschaft trotz strukturell ähnlicher Interessen kein vollständig homogener Personenkreis war. Ob es sich bei den genannten Unternehmensverkäufen um mehr als einen reinen Generationenwechsel handelte, in dessen Folge einige Unternehmer ihr Geschäft aufgaben, wäre also zunächst noch eine offene Frage. Fest steht jedoch, dass die Komplexität unternehmerischer Entscheidungen am Ende des Booms enorm zunahm – dies wurde in den vom Spiegel angeführten Beispielen deutlich – und dass dies im Zusammenspiel mit der Ausbreitung eines durch die monetaristische Wirtschaftstheorie angestoßenen neoliberalen Denkens langfristig Verschiebungen in den Werthaltungen ökonomischer Entscheidungsträger bewirkte. An dieser Stelle setzt der vorliegende Artikel an und nimmt eine von Wolfgang Streeck und Martin Höpner aufgestellte These über die Entwicklung des westdeutschen Kapitalismus als heuristischen Ausgangspunkt zu Überlegungen über einen Wertewandel westdeutscher Unternehmer. Demnach folgten die Unternehmen bis in die 1990er Jahre einem nationalen Interesse, auch wenn sie ihre Internationalisierung schon seit den 1960er Jahren enorm vorantrieben. „In der deutschen Tradition [. . . ] waren große Kapitalgesellschaften niemals nur Veranstaltungen ihrer Eigentümer zur Mehrung ihres Privatvermögens, sondern immer auch quasi-öffentliche Einrichtungen, die einem politisch definierten – nationalen – Gesamtinteresse zu dienen hatten.“3 Die Steuerung der gesellschaftlichen und sozialökonomischen Integration durch den Staat, die wirtschaftliche Leittheorie des Keynesianismus und die Einbindung der Wirtschaft in die staatliche Rahmenplanung waren tatsächlich bis in die 1970er Jahre Kennzeichen des westdeutschen Konsenskapitalismus. Ab Ende der 1960er Jahre wandte sich der Aufbruchsgeist gegen jene gesellschaftliche Konformität des liberalen Konsenses4 . Streeck/ Höpner zufolge hätten sich die großen westdeutschen Kapitalgesellschaften in den 1990er Jahren dann von ihren gesellschaftlichen Verpflichtungen weitgehend entbunden. Das „postwar settlement“ zwischen Kapital und Arbeit sei damit 2
3
4
Vgl. Schwab-Singer. Der große Bruder, in: Der Spiegel 11 (1966), 07.03.1966, S. 39–40; Schwab AG. Minus im Markt, in: Der Spiegel 35 (1969), 25.08.1969, S. 73; Amerikaner bei Schwab, in: Die Zeit 30, 23.07.1965. Wolfgang Streeck/Martin Höpner, Einleitung. Alle Macht dem Markt?, in: Wolfgang Streeck/ Martin Höpner (Hrsg.), Alle Macht dem Markt? Fallstudien zur Abwicklung der Deutschland AG, Frankfurt a.M./New York 2003, S. 11–59, hier S. 11. Vgl. Julia Angster, Konsenskapitalismus und Sozialdemokratie. Die Westernisierung von SPD und DGB, München 2003; Anselm Doering-Manteuffel, Die deutsche Geschichte in den Zeitbögen des 20. Jahrhunderts, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 62 (2014), S. 321–348, besonders S. 332–341.
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aufgebrochen worden, die Deutschland AG seither im Untergang begriffen. Der folgende Beitrag möchte am Beispiel der westdeutschen Chemieindustrie danach fragen, ob bestimmte Verhaltensformen und Entscheidungen insbesondere in den 1970er Jahren (noch) mit der Berücksichtigung eines nationalen Interesses begründet werden können und ob die von Streeck/Höpner diagnostizierte Wende in den 1990er Jahren historisch nicht tiefer zu verordnen wäre. Seit den 1970er Jahren traten ältere Interessenkonflikte wieder offen zutage, die durch die Verteilungsspielräume der Boomjahre überdeckt worden waren und in denen sich die Grundhaltungen der beteiligten Akteursgruppen besonders deutlich widerspiegelten. Die Schönwetterkapitäne der Wirtschaftswunderjahre standen erstmals wieder vor handfesten ökonomischen Problemen, die sich nicht mit den einfachen Rezepten des goldenen Zeitalters lösen ließen5 . Dies registrierte auch Der Spiegel, der nicht nur die persönliche Lustlosigkeit der Unternehmer für ihre Entscheidungen verantwortlich machte, sondern auch auf die Probleme einer steigenden Fremdfinanzierung sowie den Zwang zu Automation und rationeller Großserienproduktion, auf hohe Ausgaben für Forschung und anspruchsvolle Innovationen im Marketing hinwies6 . Der von den Medien registrierte Rückzug der Unternehmer war meiner Ansicht nach somit nicht nur auf persönliche Wertvorstellungen zurückzuführen, vielmehr waren hierfür ebenso strukturelle Veränderungen auf gesellschaftlicher, politischer und ökonomischer Ebene verantwortlich. Dies verweist auf den von der historischen Wertewandelforschung aufgeworfenen Zusammenhang zwischen institutionellen Rahmenbedingungen und sozialen Praktiken. Neuere unternehmenshistorische Studien greifen gerne den Schumpeterschen Unternehmerbegriff auf und verweisen auf den Aufstiegswillen, das Machtstreben und den Gestaltungswillen des Unternehmers, dessen schöpferische Arbeit Selbstzweck sei. Hier ähnelt der Unternehmer dem kreativen Künstler oder Gelehrten7 . Dieser unbändige Tatwillen wird dem Unternehmer unabhängig vom zeitlichen und räumlichen Kontext zugeschrieben. Dies ist zunächst wenig verwunderlich, versuchte Schumpeter doch ausgehend von einer allgemeinen Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung die Dynamik des kapitalistischen Wirtschaftssystems zu erklären. Dabei kommen Untersuchungen zu einzelnen Unternehmern oftmals zu dem Ergebnis fortbestehender personengebundener Charaktereigenschaften. Ein prägnantes Beispiel hierfür ist Friedrich Flick, dessen Selbstverständnis als Unternehmer von der Ausschließlichkeit des Ökonomischen geprägt und dessen Flexibilität angesichts ständiger Umdispositionen 5 6 7
Vgl. Ingo Köhler/Roman Rossfeld (Hrsg.), Pleitiers und Bankrotteure. Geschichte des ökonomischen Scheiterns vom 18. bis 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M./New York 2012. Vgl. Firmen-Verkäufe. Freiheit gegen Freizeit, in: Der Spiegel 23 (1966), 30.05.1966, S. 47–54. Vgl. Werner Plumpe (Hrsg.), Unternehmer – Fakten und Fiktionen. Historisch-biografische Studien, München 2014.
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über den Zeitverlauf konstant war. Flick handelte strikt nach ökonomischen Kriterien der Produktion, der Rentabilität und der Effizienz. Gewinn und Wachstum waren für ihn Werte per se8 . Ein anderes Beispiel wäre Paul Reusch. Der war politisch zwar wesentlich gefestigter, gerade aus diesem Grund blieb jedoch auch sein Wertehimmel stabil. Bis zu seinem Lebensende erachtete er das Kaiserreich mit seinen national-konservativen, hierarchisch-autoritären Strukturen als ideale Organisationsform9 . Misst man diesen Beispielen eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung bei, würde Wertewandel – ganz ähnlich zur Argumentation von Inglehart – nicht innerhalb ein und derselben Generation, sondern vor allem zwischen Generationen stattfinden. Während Inglehart hierfür vor allem die formativen Jahre während der Sozialisation verantwortlich macht, speist sich der Tat- und Gestaltungswille bei Schumpeter aus der bei ihm nur vage beschriebenen Persönlichkeit des Unternehmers. Vor diesem Hintergrund soll personellen Veränderungen in den Führungsetagen westdeutscher Chemieunternehmen in den folgenden Überlegungen besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden10 . Insgesamt bildete die Unternehmerschaft nur einen sehr kleinen Teil der Gesamtgesellschaft ab, folglich spielten für sie einige der von den zeitgenössischen Wertewandelforschern vorgeschlagenen Wertedimensionen nur eine untergeordnete Rolle. Es wird deshalb im Folgenden vor allem darum gehen, nach den unternehmerischen Entscheidungen zugrundeliegenden Werten und ihrem Wandel zu fragen. Werte werden dabei definiert als wünschenswerte Zustände, die den handelnden Individuen bei der Verfolgung ihrer Absichten als Zielvorstellung dienten11 . Folgten Unternehmer vor allem einer ökonomischen Binnenrationalität oder waren sie bei ihren unternehmerischen Entscheidungen
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Vgl. Kim C. Priemel, Flick. Eine Konzerngeschichte vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik, Göttingen 2007; Kim C. Priemel, Friedrich Flick. Freies Unternehmertum im 20. Jahrhundert, in: Plumpe (Hrsg.), Unternehmer, S. 227–255, hier S. 249–252. Vgl. Christian Marx, Paul Reusch und die Gutehoffnungshütte. Leitung eines deutschen Großunternehmens, Göttingen 2013; Christian Marx, Paul Reusch – ein politischer Unternehmer im Zeitalter der Systembrüche. Vom Kaiserreich zur Bundesrepublik, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 101 (2014), S. 273–299. Vgl. Ronald Inglehart, The Silent Revolution. Changing values and political styles among Western publics Princeton 1977; Joseph A. Schumpeter, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung. Nachdruck der ersten Auflage von 1912. Hg. und ergänzt um eine Einführung von Jochen Röpke und Olaf Stiller, Berlin 2006. Vgl. Andreas Rödder, Wertewandel in historischer Perspektive. Ein Forschungskonzept, in: Bernhard Dietz/Christopher Neumaier/Andreas Rödder (Hrsg.), Gab es den Wertewandel? Neue Forschungen zum gesellschaftlich-kulturellen Wandel seit den 1960er Jahren, München 2014, S. 17–39, hier S. 29; Bernhard Schäfers, Soziales Handeln und seine Grundlagen: Normen, Werte, Sinn, in: Hermann Korte/Bernhard Schäfers (Hrsg.), Einführung in die Grundbegriffe der Soziologie, 8., durchgesehene Auflage, Wiesbaden 2010, S. 23–44, hier S. 37–38.
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auch außerökonomischen Werten verpflichtet, wie dies für Robert Bosch nachgezeichnet wurde, dessen Sinn für Gerechtigkeit und Menschenwürde sich auch in seinen geschäftlichen Grundsätzen niederschlug12 ? Um dabei die Frage nach möglichen Verschiebungen im Wertesystem in der historischen Entwicklung zu beantworten, werden zwei Zeitabschnitte – die langen 1970er Jahre (1966–1982) und die Transformationsdekade um 1990 (1984–1995) – kontrastiert.
Unternehmerische Wertedimensionen am Ende des Booms (1966–1982) Steigende Energie- und Rohstoffpreise infolge der beiden Ölkrisen und wachsende Währungsschwankungen verlangten der exportorientierten westdeutschen Industrie am Ende des goldenen Zeitalters neue Antworten ab. Die Gründe für den Rückgang des Wachstums mögen unterschiedlich bewertet werden, in jedem Fall erhöhte sich der Wettbewerbsdruck13 . Diese Konkurrenzsituation wurde durch die Gründung der EWG, den verstärkten Drang von US-Unternehmen auf den europäischen Kontinent und die Internationalisierung westeuropäischer Unternehmen noch verschärft14 . Ohne den Wertewandel monokausal funktionalistisch als Folge des Strukturwandels erklären zu wollen, verschoben sich hier gewisse Handlungsparameter infolge neuer Rahmenbedingungen. In den Worten der historischen Wertewandelforschung veränderten sich die institutionellen Bedingungen in Form von Wirtschaftsdynamik und Währungssystem15 . Die erfolgsverwöhnten Unternehmer mussten ihre Strategie nun stärker als bisher an den Markt anlehnen und akzeptierten schließlich auch unternehmensexternes Wissen in Form von Beratung. Bis zum Ende der 1960er Jahre hielten viele von ihnen noch an den bewährten Rezepten des Booms fest, während dem die 12 13
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Johannes Bähr, Robert Bosch – Paul Reusch – Jürgen Ponto, in: Plumpe (Hrsg.), Unternehmer, S. 197–225, hier S. 224–225. Vgl. Ludger Lindlar, Das mißverstandene Wirtschaftswunder. Westdeutschland und die westeuropäische Nachkriegsprosperität, Tübingen 1997; André Steiner, Bundesrepublik und DDR in der Doppelkrise europäischer Industriegesellschaften. Zum sozialökonomischen Wandel in den 1970er Jahren, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 3 (2006), S. 342–362, hier S. 346–351. Vgl. Raymond G. Stokes/Ralf Banken, Aus der Luft gewonnen. Die Entwicklung der globalen Gaseindustrie 1880–2012, München 2014, S. 177–215. Vgl. Rödder, Wertewandel in historischer Perspektive, in: Dietz/Neumaier/Rödder (Hrsg.), Gab es den Wertewandel?, hier S. 30–32. Vgl. zur Begrifflichkeit des Strukturwandels: André Steiner, Abschied von der Industrie? Wirtschaftlicher Strukturwandel in West- und Ostdeutschland seit den 1960er Jahren, in: Werner Plumpe/André Steiner (Hrsg.), Der Mythos von der postindustriellen Welt. Wirtschaftlicher Strukturwandel in Deutschland 1960 bis 1990, Göttingen 2016, S. 15–54, hier S. 15–23.
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Umsatzhöhe als Orientierungsmarke galt. Absatz- und Marketingorientierung steckten hingegen noch in den Kinderschuhen. Ein Beispiel hierfür ist Ludwig Vaubel, der Vorstandsvorsitzende der Vereinigte Glanzstoff-Fabriken AG (VGF), einem Chemiefaserproduzenten in Wuppertal. Im Jahr 1970 stellte er einseitig die Umsatzentwicklung verschiedener Textildivisionen heraus, obschon der Markt im Bereich der Absatzpolitik und der Investitionsplanung bereits in den frühen 1960er Jahren durch Marktforschung und Marketing eine Aufwertung erfahren hatte. Erst allmählich rückte jedoch die Frage der Rentabilität in den Vordergrund16 . Diese Umsatzfixiertheit des Managements war ein Überbleibsel aus den Wirtschaftswunderjahren. Tatsächlich gaben diese Zahlen im Unterschied zu Marktanteilen oder Umsatzrenditen keine verlässliche Auskunft über unternehmerischen Erfolg. Eine von der Beratungsfirma McKinsey erstellte Studie machte dem Glanzstoff-Management deutlich, dass auch die langfristigen Strategieentscheidungen konsequent markt- und profitorientiert getroffen werden mussten und Erlösschwankungen nicht für alle Produkte parallel verliefen17 . Langsam registrierten die Manager westdeutscher Industriekonzerne, dass sie die Organisations- und Produktstruktur ihrer Unternehmen an die neuen Marktbedingungen anpassen und sich von ihrer Produktionsorientierung lösen mussten18 . Die Öffnung der Vorstandsetagen für Unternehmensberater veränderte die diskursiv verhandelten Werte und die sozialen Praktiken im Unternehmen. Im Gegensatz zu ihren US-Kollegen hatten westdeutsche Unternehmer die Berater unter dem Motto „Selbst ist der Mann“ bis in die 1960er Jahre noch weitgehend aus ihren Entscheidungsgremien herausgehalten. Dieses Überlegenheitsgefühl gegenüber theoretischem Beratungswissen zeigte sich sowohl im Fall der Fusion von VGF mit dem niederländischen Unternehmen Algemene Kunstzijde Unie (AKU) im Jahr 1969, als sich die Vorstände beider Unternehmen entschieden, aufgrund unüberwindbarer Meinungsverschiedenheiten mit McKinsey auf das Beratungsangebot zu verzichten, als auch bei der BASF, deren Vorstandsvorsitzender Bernhard Timm die Beratung durch McKinsey 1971 wegen der Penetranz und Plattheit der Berater einstellte19 . Doch waren dies nur kurzzei16
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Vgl. Christian Kleinschmidt, Der produktive Blick. Wahrnehmung amerikanischer und japanischer Management- und Produktionsmethoden durch deutsche Unternehmer 1950– 1985, Berlin 2002, S. 227–233. Vgl. Stiftung Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv zu Köln (künftig: RWWA), 195A6–23, Referat von Herrn Dr. Vaubel. Sitzung Akzo-gemachtigden, 11.8.1970; RWWA, 195-B0–59, Erklärung des Enka Glanzstoff-Vorstandes zu der Marktstudie von McKinsey, in: informiert 35/9 (1975), S. 1–2. Vgl. Christian Marx, Die Vermarktlichung des Unternehmens. Berater, Manager und Beschäftigte in der westeuropäischen Chemiefaserindustrie seit den 1970er-Jahren, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 3 (2015), S. 403–426. Vgl. Werner Abelshauser, Die BASF seit der Neugründung 1952, in: Werner Abelshauser (Hrsg.), Die BASF. Eine Unternehmensgeschichte, 3. Auflage, München 2007, S. 359–
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tige Versuche, zu eigener Handlungsstärke zurückzukehren. Auf lange Sicht – in diesen beiden Fällen schon in den 1970er Jahren – wurden die Unternehmensberater und langfristig auch die von ihnen vermittelten Werte zum festen Bestandteil der Unternehmensleitungen, die die Consulting-Firmen angesichts zunehmender Unsicherheit benötigten, um nach außen die Fiktion von Entscheidungssicherheit aufrecht zu erhalten. Die angepriesenen Ordnungsvorstellungen beeinflussten schrittweise das Denken, Reden und Handeln der Unternehmer, gleichzeitig bestanden jedoch handlungsleitende Ideen sozialer Ordnung aus der Boomphase fort20 . Ein gutes Beispiel für einen Unternehmer mit nationalem Verantwortungsbewusstsein ist Hans Günther Zempelin, wie Vaubel VGF-Vorstandsmitglied und von 1975 bis 1985 Vorstandsvorsitzender der Nachfolgegesellschaft Enka. Als sich die wirtschaftliche Lage von Enka Glanzstoff nach der ersten Ölpreiskrise 1975 kritisch zuspitzte, machte das Management den Vorschlag, 5.700 Arbeitsplätze zu streichen. Hiervon sollten 4.700 Stellenkürzungen auf die Bundesrepublik und die Niederlande entfallen. In einer Aufsichtsratssitzung von Enka Glanzstoff im September 1975 wies der Oberbrucher Betriebsratsvorsitzende Leo Capell auf das Missverhältnis der seit 1974 stattgefundenen Personalverminderung zwischen der Bundesrepublik (7,7 Prozent) und den Niederlanden (4,3 Prozent) hin. Falls ein Arbeitsplatzabbau erforderlich sei, sollte dieser gleichmäßig verteilt werden. Zempelin griff dieses Argument bereitwillig auf, wonach unter Berücksichtigung des Belegschaftsverhältnisses und der Vorleistungen etwa 600 bis 800 Arbeitsplätze in Deutschland weniger abgebaut werden müssten21 . Er nutzte damit nicht nur die Chance, die unternehmerischen Fehlentscheidungen der vorangegangenen Jahre in den Hintergrund zu drängen, sondern machte auch sein Verantwortungsgefühl gegenüber dem Produktionsstandort Deutschland deutlich. Schon 1973 hatte er sich für den Standort Oberbruch stark gemacht und sich in einer unternehmensinternen Kontroverse gegen Hinweise des Controllers gewandt, der einer Investition in Irland aufgrund steuerlicher Begünstigungen
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637, hier S. 576–580; Christian Marx, Die Manager und McKinsey. Der Aufstieg externer Beratung und die Vermarktlichung des Unternehmens am Beispiel Glanzstoff, in: Morten Reitmayer/Thomas Schlemmer (Hrsg.), Die Anfänge der Gegenwart. Umbrüche in Westeuropa nach dem Boom, München 2014, S. 65–77; Helmut Raithel, ManagementPraxis. Umgang mit Beratern. Mut zur Selbstverleugnung, in: Manager Magazin 12 (1975), S. 60–64. Vgl. Werner Plumpe, Nützliche Fiktionen? Der Wandel der Unternehmen und die Literatur der Berater, in: Morten Reitmayer/Ruth Rosenberger (Hrsg.), Unternehmen am Ende des „goldenen Zeitalters“. Die 1970er Jahre in unternehmens- und wirtschaftshistorischer Perspektive, Essen 2008, S. 251–269. Vgl. RWWA, 195-B5-2-39, Niederschrift über die 277. Außerordentliche Sitzung des Aufsichtsrates der Enka Glanzstoff AG, 24.9.1975.
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stets den Vorzug gab22 . Zempelin verkörperte damit einerseits noch den Managertypus der alten „Deutschland AG“, der neben Renditezielen auch die sozialen Belange im Inland im Blickfeld hatte – dies war die Sichtweise der westdeutschen VGF –, andererseits war er am Ausbau des Auslandsgeschäfts und somit auch an den (nicht intendierten) Folgen dieser Entwicklung beteiligt. Die verstärkt seit den 1960er Jahren, auch von Zempelin betriebene Internationalisierung über ausländische Produktionsbetriebe förderte eine einseitig an Rentabilitätskriterien ausgerichtete internationale Standortkonkurrenz. Auf die Frage eines Arbeiters, warum in Irland ein Werk errichtet werde, während in Westdeutschland Arbeitsplätze gestrichen würden, gab Zempelin unumwunden zu: „Weil uns der irische Staat 10 Jahre lang Steuerfreiheit gewährt hat.“23 Damit verwies er auf eine neue, vom nationalen Kontext weitgehend losgelöste Standortpolitik, die in dieser Form in den Nachkriegsjahrzehnten kaum denkbar gewesen wäre. Der Bedeutungsverlust des Nationalstaats wurde zum Signum multinationaler Unternehmen, auch wenn derselbe seine Funktion als Referenzsystem nicht vollständig einbüßte. Während die Bundesrepublik für Egon Overbeck, den Vorstandsvorsitzenden der Mannesmann AG, 1972 das Hauptbetätigungsfeld blieb, betrachtete die BASF unter Bernhard Timm zu diesem Zeitpunkt bereits den EWG-Raum als ihren Binnenmarkt24 . Zempelin symbolisierte diese Gleichzeitigkeit von Nationalstaatlichkeit und Internationalisierung paradigmatisch. In der Denklogik des neu gegründeten Akzo-Konzerns – der Fusion von AKU, VGF und KZO – zählten vor allem ökonomische Werte in Form von Gewinn und Rendite. In einem Interview definierte Zempelin den Unternehmer 1972 als eine Dienstleistungsfunktion innerhalb der Gesellschaft. Dass man damit auch Geld verdienen könne, hielt er nicht für verwerflich, allerdings sah er in der Erzielung von Gewinnen keinen Selbstzweck. „Das Streben nach Gewinn allein [gibt] noch keine Antworten auf den gesellschaftlichen Wert eines solchen Strebens.“ Mit Recht würden die Bürger einer kapitalistischen Marktordnung nach Zielen jenseits rationaler ökonomischer Betrachtungen verlangen25 . Die dynamische Gier gehörte für ihn zu den Definitionsmerkmalen des Unternehmers. Jürgen Kocka sieht hierin eine unaufgebbare Quelle des Neuerungsstrebens und der Neuerungsfähigkeit des Kapitalismus, zugleich verweist er aber auch auf die notwendige Bereitschaft der Unternehmer, Systemverantwortung mitzutragen. Zempelin war hierzu ebenso bereit wie dazu, seine Funktion als Unternehmer im kapitalistischen Wirtschaftssystem auszufüllen. Als sich die wirtschaftliche 22 23 24 25
Vgl. RWWA, 195-D2-1-3-27, Nau an Zempelin, 23.8.1973, 16.10.1973, Notiz von Zempelin für Meyer, 27.8.1973. RWWA, 195-Z0–3548, „Auch 1972 scheiterte der Akzo-Konzern in Breda und auch in Wuppertal“, in: Unsere Zeit, 28.11.1975, S. 5. Vgl. Umfrage zu Auslandsinvestitionen. Wie stark ist der Drang nach außen?, in: Wirtschaftswoche 10, 10.03.1972, S. 74–75. Vgl. Interview mit Hans Günther Zempelin, in: Wirtschaftswoche 3, 21.01.1972, S. 17–18.
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Lage von Enka nach der zweiten Ölpreiskrise erneut zuspitzte, zeigte er sich als unnachgiebiger Sanierer, der traditionelle Produktionsstandorte in Kassel und Breda schließen ließ. Hier wurden die Grenzen eines nur diffus umrissenen nationalen Interesses deutlich. Angesichts schrumpfender Verteilungsspielräume rückten die ökonomischen Ziele des Unternehmens bei den Entscheidungsträgern schnell in den Vordergrund26 . Welchen Einfluss sein familiärer Hintergrund, seine Schulzeit an der Nationalpolitischen Erziehungsanstalt (Napola) (1936–1943), sein Studium der Geschichts- und Rechtswissenschaften (1946–53) oder seine Sozialisation bei Glanzstoff auf unternehmerische Entscheidungen hatten, bleibt letztlich unklar27 . Doch dürfte neben strukturellen Bedingungen vor allem die lange Zugehörigkeit zum Unternehmen auf sein Entscheidungsverhalten eingewirkt haben. Seine Hauskarriere und seine Wahl für ein Jura-Studium waren keineswegs untypisch für einen Unternehmer der alten Bundesrepublik, gleichwohl gehörte er mit seiner Ausbildung nicht dem Kreis der Naturwissenschaftler und Techniker an, die bis dahin den Ton in den Vorstandsetagen westdeutscher Unternehmen angaben28 . Bei Bayer, Hoechst und BASF hatten nach dem Zweiten Weltkrieg wieder promovierte Chemiker den Vorstandsvorsitz übernommen und diese Bedeutung der Naturwissenschaftler unter den Vorstandsmitgliedern blieb bis Mitte der 1980er Jahre erhalten. Erst in der Übergangsphase 1984 bis 1994 übernahmen Kaufleute und Juristen die Führung der großen deutschen Chemiekonzerne. Diese Berufungen auf personeller Ebene spiegelten in gewisser Weise die Veränderungen auf Organisationsebene wider. Mit der Einführung divisionaler Unternehmensstrukturen in den westeuropäischen Industrieunternehmen Anfang der 1970er – Akzo, BASF, Bayer, Hoechst oder Schering sind Beispiele aus der Chemieindustrie – entstanden ergebnisverantwortliche Geschäftsbereiche, deren Eigenständigkeit in der Etablierung von Business Units Ende der 1980er Jahre gipfelte. Nicht mehr die Chemie, sondern der Markt wurde fortan zur handlungsleitenden Ordnungskategorie, und dies hing sowohl mit den neuen institutionellen Rahmenbedingungen eines verschärften Wettbewerbs als auch mit der Ausbildung der verantwortlichen Personen zusammen29 .
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Vgl. Jürgen Kocka, Braucht der Kapitalismus erfolgreiche Unternehmer, und wenn ja, gibt es sie?, in: Plumpe (Hrsg.), Unternehmer, S. 81–95, hier S. 93. Vgl. Lutz von Rosenstiel, Unternehmerische Werte und personelle Kompetenzen in: Walter Jochmann/Sascha Gechter (Hrsg.), Strategisches Kompetenzmanagement, Berlin/ Heidelberg 2007, S. 47–59. Vgl. Saskia Freye, Führungswechsel. Die Wirtschaftselite und das Ende der Deutschland AG, Frankfurt a.M. 2009, S. 57–62. Vgl. Wilhelm Bartmann/Werner Plumpe, Gebrochene Kontinuitäten? Anmerkungen zu den Vorständen der I.G.-Farbenindustrie AG-Nachfolgegesellschaften 1952–1990, in: Volker R. Berghahn/Stefan Unger/Dieter Ziegler (Hrsg.), Die deutsche Wirtschaftselite im 20.
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Auch wenn viele Vorstandsmitglieder nach ihrer Tätigkeit in den Aufsichtsrat wechselten und hierdurch die Kontinuität in der Unternehmensführung erhöht wurde, fand bei den drei großen westdeutschen Chemiekonzernen zwischen 1965 und 1975 der Übergang vom Vorkriegs- zum Nachkriegsmanagement statt – an der Vorstandsspitze bei Hoechst mit dem Wechsel von Karl Winnacker zu Rolf Sammet, bei der BASF mit dem Wechsel von Bernhard Timm zu Matthias Seefelder und bei Bayer mit dem Wechsel von Kurt Hansen zu Herbert Grünewald. Neben dem Wechsel im Vorstandsvorsitz gab es in diesem Zeitraum auch quantitativ die meisten Personalveränderungen in den Vorständen. Dieser Generationenwechsel mag zwar ohne erkennbaren Bruch mit der traditionellen Personalpolitik einhergegangen sein, gleichwohl verschoben sich die Ordnungskategorien unter den Bedingungen zunehmender internationaler Konkurrenz und einer damit in Zusammenhang stehenden Umstrukturierung der Chemiekonzerne30 . Auf lange Sicht führte dies im Bereich der Personalrekrutierung zur Entstehung eines Markts für international erfahrene Führungskräfte – mit entsprechend anderen Wertkategorien31 . Auch bei Glanzstoff fand zu dieser Zeit ein Führungswechsel statt. An der Spitze des VGF-Aufsichtsrats stand seit 1939 Hermann Josef Abs, der langjährige Vorstandssprecher der Deutschen Bank. Auch wenn er noch bis 1978 als Berater des Akzo-Aufsichtsrats fungierte, so hatte er 1971/72 seine Funktionen bei AKU/VGF zugunsten seines Nachfolgers bei der Deutschen Bank Franz Heinrich Ulrich geräumt. Auf Vorstandsebene wurde Glanzstoff viele Jahre durch Ernst Hellmut Vits geprägt, der dieses Organ ebenfalls seit 1939 leitete und in den 1950er Jahren in Kooperation mit Ludwig Vaubel eine Annäherung an das amerikanische Unternehmens- und Managementmodell vorangetrieben hatte; Vits verstarb 1970. Vaubel war Jurist und hatte – wie Zempelin – eine Hauskarriere bei Glanzstoff gemacht; 1953 war er in den Vorstand aufgerückt, 1969 wurde er Nachfolger von Vits32 . In Harvard hatte Vaubel 1949 das Prinzip des lebenslangen Lernens kennengelernt und dieses in seinem Buch „Unternehmer
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Jahrhundert. Kontinuität und Mentalität, Essen 2003, S. 153–186, hier S. 180; Marx, Die Vermarktlichung des Unternehmens. Vgl. Bartmann/Plumpe, Gebrochene Kontinuitäten?, in: Berghahn/Unger/Ziegler (Hrsg.), Die deutsche Wirtschaftselite im 20. Jahrhundert, besonders S. 181. Vgl. Internationale Manager. Chancen in der EWG, in: Wirtschaftswoche 41, 13.10.1972, S. 84–86. Vgl. Lothar Gall, Der Bankier Hermann Josef Abs. Eine Biographie, München 2004, S. 125, 249, 343–344; Christian Kleinschmidt, An Americanised Company in Germany. The Vereinigte Glanzstoff Fabriken AG in the 1950s, in: Matthias Kipping/Ove Bjarnar (Hrsg.), The Americanisation of European Business. The Marshall Plan and the transfer of US management models, London/New York 1998, S. 171–189; Walter Teltschik, Geschichte der deutschen Großchemie. Entwicklung und Einfluß in Staat und Gesellschaft, Weinheim 1992, S. 221; Ludwig Vaubel, Glanzstoff, Enka, Aku, Akzo. Unternehmensleitung im nationalen und internationalen Spannungsfeld 1929 bis 1978. Bd. 1, o.O. 1986, S. 231, 240.
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gehen zur Schule“ (1952) mit seinen eigenen Erfahrungen zusammengeführt. Die Übernahme amerikanischer Ideen gestaltete sich dabei nicht als einseitiger Transferprozess, vielmehr fand hier ein interkultureller Lern- und Austauschprozess statt, der eine hybride Tendenz zur gleichzeitigen Konvergenz und Differenzierung von Management- und Produktionspraktiken hatte. Damit verkörperte Vaubel nach 1945 einen neuen Typus von Unternehmer, der – im Gegensatz zur (schwerindustriellen) Wirtschaftselite der ersten Jahrhunderthälfte – bereit war, seine unternehmerischen Praktiken, aber auch seinen Wertehorizont auf den Prüfstand zu stellen, und gehörte zu den progressiven Kräften im Unternehmerlager. Trotz dieser großen Offenheit gegenüber neuen Ideen zeigten sich in seinem Festhalten an Umsatzzahlen und seiner Skepsis gegenüber Konzepten der Unternehmensberater Anfang der 1970er auch bei ihm Kontinuitätslinien zu den Ordnungsvorstellungen der Wirtschaftswunderjahre33 . Darüber hinaus war Vaubel Mitinitiator des „Wuppertaler Kreises“, der sich neben den „BadenBadener Unternehmensgesprächen“ und der „Akademie für Führungskräfte der Wirtschaft in Bad Harzburg“ zu einer Informationsplattform westdeutscher Unternehmer über Ordnungsvorstellungen und Managementpraktiken entwickelte. Diese Treffen dienten nicht nur dazu, sich über Produktionsformen und Managementmodelle sowie die Wahrnehmung des Unternehmers in der Öffentlichkeit auszutauschen, sie festigten auch das Selbstverständnis der westdeutschen Führungskräfte34 . Während die westdeutschen (Chemie-)Unternehmen am Ende des Booms somit vor immer neuen Herausforderungen standen und zugleich einen Generationenwechsel an ihrer Spitze erlebten, sank das Ansehen ihrer Führungsriege in 33
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Vgl. Susanne Hilger, „Amerikanisierung“ deutscher Unternehmen. Wettbewerbsstrategien und Unternehmenspolitik bei Henkel, Siemens und Daimler-Benz (1945/49–1975), Stuttgart 2004; Kleinschmidt, Der produktive Blick. Vgl. neben dem Beitrag von Friedericke Sattler in diesem Band auch: Adelheid von Saldern, Das „Harzburger Modell“. Ein Ordnungssystem für bundesrepublikanische Unternehmen, 1960–1975, in: Thomas Etzemüller (Hrsg.), Die Ordnung der Moderne. Social Engineering im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2009, S. 303–329; Adelheid von Saldern, Bürgerliche Werte für Führungskräfte und Mitarbeiter in Unternehmen. Das Harzburger Modell, 1960–1975, in: Gunilla Budde/Eckart Conze/Cornelia Rauh (Hrsg.), Bürgertum nach dem bürgerlichen Zeitalter. Leitbilder und Praxis seit 1945, Göttingen 2010, S. 165–184; Armin Grünbacher, The Americanisation that never was? The first decade of the Baden-Badener Unternehmergespräche, 1954–64 and top management training in 1950s Germany, in: Business History 54 (2012), S. 245–261; Matthias Kipping, The hidden business schools: management training in Germany since 1945, in: Lars Engwall/Vera Zamagni (Hrsg.), Management education in historical perspective, Manchester/New York 1998, S. 95–110; Daniel C. Schmid, „Quo vadis, Homo harzburgensis?“ Aufstieg und Niedergang des „Harzburger Modells“, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 59 (2014), S. 73–98. Vgl. zum Aufbau einer europäischen Wirtschaftshochschule als Ausbildungszentrum für den internationalen Führungsnachwuchs: Dreisprung in die Karriere, in: Wirtschaftswoche 18, 30.4.1982, S. 57–58.
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der öffentlichen Wahrnehmung, über die sich Vaubel und seine Kollegen regelmäßig verständigten und die folglich auf die Unternehmerschaft zurückwirkte, was nicht zuletzt mit Verschiebungen von Wertpräferenzen auf gesellschaftlicher Ebene zusammenhing. Ob die Unternehmer der Kritik mit einer Abwehrhaltung begegneten oder deren Inhalte produktiv wendeten, blieb dabei zunächst offen, sie konnten ihr aber kaum mehr ausweichen. So registrierte die Wirtschaftswoche 1972 einen Erdrutsch in der öffentlichen Meinung und titelte: „Der Unternehmer auf der Anklagebank“35 . Das wirtschaftsnahe Magazin machte einen gesellschaftlichen Bewusstseinswandel aus, der mit der linken Kritik in den 1960er Jahren begonnen habe und inzwischen zum festen Bestandteil der Öffentlichkeit geworden sei. So kritisierte der Kommentator der Wirtschaftswoche und spätere Chefredakteur der Welt am Sonntag Manfred Geist, dass Franz Böhm, Mitbegründer der Freiburger Schule, im „Ordo Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft“ das Image des Unternehmers an das Urteil des Marktes gekoppelt hatte. Böhm zufolge könne man den Unternehmer nicht gleichzeitig dem Gericht des Marktes und dem Gericht einer Jury unterwerfen, die am Markt Kritik übt. Geist kritisierte hingegen, dass die Unternehmer auch gesellschaftspolitisch denken lernen müssten, wenn sie die Bedingungen unternehmerischen Handelns – also die freie Marktwirtschaft – erhalten wollten. Letztlich zielten beide darauf, das Image der Unternehmer aufzupolieren, lediglich auf unterschiedlichen Argumentationswegen36 . Dabei gelang es Geist wesentlich besser als Böhm, die bestehende öffentliche Kritik am Unternehmertum aufzunehmen und in positive Handlungsempfehlungen für Unternehmer umzuformulieren37 . Indem Geist die Marktwirtschaft als Voraussetzung einer freiheitlichen Demokratie proklamierte, wurde den Unternehmern ein über das Einzelunternehmen hinausgehendes Interesse zugeschrieben; gleichwohl war hiermit etwas vollkommen anderes als ein nationales Interesse im Sinne Streeck/ Höpner gemeint. Geist zufolge sollten die Unternehmer vor allem zum Erhalt ihres persönlichen Freiheitsspielraums gesellschaftspolitisch aktiv werden, also sich auf neue Formen der Interessenaushandlung und -durchsetzung einlassen, um ihren Wertehorizont zu verteidigen. Von einem Konsens zwischen Arbeit und Kapital war hier keine Rede38 . 35 36
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Der Unternehmer auf der Anklagebank, in: Wirtschaftswoche 3, 21.1.1972. In ähnliche Stoßrichtung agierten auch die 1970 als deutsche Sektion (Studiengruppe „Unternehmer in der Gesellschaft“) der bereits 1968 in Frankreich gegründeten „Fondation Européenne pour l’Économie“ sowie die 1972 gegründete Stiftung „Gesellschaft und Unternehmen“. Vgl. Denkanstöße für Progressive, in: Wirtschaftswoche 48, 1.12.1972, S. 18–20. Bolstanski und Chiapello zeigen in ihrer Studie auf, wie kritische Gegenentwürfe zum Kapitalismus von demselben aufgenommen und produktiv für ihn nutzbar gemacht worden sind. Vgl. Luc Bolstanski/Ève Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2003. Manfred Geist: Die Krise der Unternehmer, in: Wirtschaftswoche 3, 21.1.1972, S. 16. Vgl.
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Die Einschätzung des Direktors des arbeitgebernahen Deutschen Industrieinstituts Burghard Freudenfeld korrespondierte mit Geists Kommentar. Freudenfeld zufolge war die Mehrheit der Unternehmer unpolitisch, wenn nicht sogar apolitisch. Angesichts der vielfältigen Beziehungen zwischen dem politischen und dem ökonomischen Feld kann ein solches Urteil nur aus dem zeithistorischen Kontext und Freudenfelds Position im Feld verstanden werden. Öffentliche Kritik waren die Unternehmer der Wirtschaftswunderjahre offensichtlich genauso wenig gewöhnt wie schlechte ökonomische Wachstumszahlen und Gewinneinbrüche. Freudenfelds Feststellung, über Themengebiete wie Umweltschutz, Mitbestimmung oder Vermögensbildung erst zu diskutieren, wenn übergeordnete Wertvorstellungen wie Eigentum und Freiheit nicht mehr in Frage gestellt würden, verweist auf die Kontinuitätslinien in den Werthaltungen westdeutscher Unternehmer39 . Von einem 1968 der Manager, d. h. einer Öffnung der Unternehmensführungen für neue Themenfelder und Partizipationsmöglichkeiten oder einer Verschiebung in ihrem Wertekanon war hier wenig zu spüren40 . In ähnlicher Weise argumentierte noch zehn Jahre später, also 1982, Hans G. Schönmann in der Wirtschaftswoche, als er im Zusammenhang mit dem Generationenwechsel zum Nachkriegsmanagement vor einer ideellen Pleite der westdeutschen Gesellschaftsordnung warnte: „Die abtretende Generation hat im Kriege gelernt, daß man im Rückzug unhaltbare Stellungen nicht zu spät räumen darf. [. . . ] Den Rückzug muß der utopische Wohlfahrtsstaat heute ebenso antreten wie damals der Eroberungswahn.“41 Insofern seien unpolitische Wirtschaftsführer „entmannte Handlanger“ einer ausufernden Staatsverschuldung. Auch hier wurde an das nationale Verantwor-
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hierzu auch: Deutsches Institut zur Förderung des industriellen Führungsnachwuchses (Hrsg.), Ohne Unternehmer keine Marktwirtschaft. Symposium zum zwanzigjährigen Bestehen der Baden-Badener Unternehmergespräche, Frankfurt a.M. 1974; Deutsches Institut zur Förderung des industriellen Führungsnachwuchses (Hrsg.), Unternehmer und Staat in der Sozialen Marktwirtschaft. Symposium zum fundundzwanzigjährigen Bestehen der Baden-Badener Unternehmergespräche, Frankfurt a.M. 1979. Vgl. Unternehmerselbstverständnis. Der Unternehmer ist ein fast unpolitisches Wesen, in: Wirtschaftswoche 27, 7.7.1972, S. 20–22. Vgl. zur Debatte über die Vermögensbildung: Vermögensbildung. Suche nach neuen Wegen, in: Wirtschaftswoche 41, 8.10.1982, S. 58–66. Vgl. zur Diskussion zwischen wissenschaftlicher Öffentlichkeit und Unternehmensleitungen über antiautoritäre Unternehmensführung im Zusammenhang mit 1968: Sabine Donauer, Job Satisfaction statt Arbeitszufriedenheit: Gefühlswissen im arbeitswissenschaftlichen Diskurs der 1970er Jahre, in: Pascal Eitler/Jens Elberfeld (Hrsg.), Zeitgeschichte des Selbst. Therapeutisierung – Politisierung – Emotionalisierung 2015, S. 343–371, hier S. 346–348; Christian Kleinschmidt, Das „1968“ der Manager. Fremdwahrnehmungen und Selbstreflexionen einer sozialen Elite in den 1960er Jahren, in: Jan-Otmar Hesse/Christian Kleinschmidt/Karl Lauschke (Hrsg.), Kulturalismus, neue Institutionenökonomik oder Theorienvielfalt. Eine Zwischenbilanz der Unternehmensgeschichte, Essen 2002, S. 19–31. Hans G. Schönmann: Wachwechsel der Generationen, in: Wirtschaftswoche 6, 5.2.1982, S. 40.
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tungsbewusstsein appelliert; gleichwohl meinte auch Schönmann damit nicht das Zurücktreten von Firmen- zugunsten von Allgemeininteressen – wie bei Streeck/ Höpner –, sondern das Einwirken auf den Staat im Unternehmensinteresse. Wirtschaftsnahe Forschungsinstitute und Medien forderten die Unternehmer gerade dazu auf, ihre zurückhaltende Position aufzugeben und öffentlich für ihre Werte einzutreten, die den Forderungen linksgerichteter Studenten- und Bürgerrechtsbewegungen entgegenstanden; und viele Unternehmer dürften ihre Haltung darin richtig wiedergegeben gesehen haben. Während sich die ökonomischen Rahmenbedingungen und damit auch die unternehmerischen Entscheidungsgrundlagen in den 1970er Jahren fundamental verschoben, gab es somit zugleich starke, an konservativ-autoritären Ordnungsvorstellungen orientierte Beharrungskräfte im Unternehmerlager. Neuen Handlungskonstellationen folgten hier nicht immer unmittelbar Verschiebungen im Wertesystem42 . Mit einer vollkommen anderen Form des nationalen Interesses wurden die westdeutschen (Chemie-)Unternehmen in den 1970er Jahren durch den Verkauf von Unternehmensanteilen an ausländische Investoren konfrontiert. Mitte der 1970er Jahre wurde öffentlich über die Frage diskutiert, inwiefern eine Begrenzung des Stimmrechts wünschenswert sei, um Aktienkäufe der Erdöl fördernden Staaten zu verhindern. Während die Deutsche Bank vor dem Hintergrund des nahöstlichen Engagements bei Krupp und Daimler-Benz für eine solche Begrenzung plädierte und die mit ihr zusammenarbeitenden Industriekonzerne wie Mannesmann und BASF dem Plan von Ulrich folgten, sah der Vorstandssprecher der Dresdner Bank Jürgen Ponto die Idee als unzweckmäßig an. Die deutsche Wirtschaft war in diesem Punkt gespalten. Die Commerzbank stand einer Beschränkung ebenfalls skeptisch gegenüber, wollte der Deutschen Bank jedoch keine Schwierigkeiten bereiten und stimmte dem Antrag auf Beschränkung bei der BASF deshalb zu; bei Bayer wurde der Commerzbank-Vertreter hingegen angewiesen, gegen die Einführung einer Begrenzung zu votieren. Ponto verwies auf die Eigentumsrechte als Grundpfeiler der deutschen Marktwirtschaft und wollte ausländische Investoren nicht abschrecken, während Ulrich sich zum Verteidiger nationaler Industrieinteressen aufschwang. Nur wenige Jahre später wurde die von Ponto als Fata Morgana beschriebene Beteiligung nahöstlicher Investoren bei Hoechst Wirklichkeit43 . Die Commerzbank verschaffte der Kuwait Petrole42
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Konservative Kommentatoren wiesen in den 1970er Jahren häufig auf die Gefahren des vermeintlich postindustriellen Wertewandels hin. Vgl. hierzu: Axel Schildt, „Die Kräfte der Gegenreform sind auf breiter Front angetreten.“ Zur konservativen Tendenzwende in den Siebzigerjahren, in: Archiv für Sozialgeschichte 44 (2004), S. 449–478, hier S. 472–476. Vgl. Historisches Archiv Commerzbank (künftig: HAC), 500/7902–2002, Bd. 1: Ausführungen von Overbeck auf der a.o. HV Mannesmann, 26.3.1975; HAC, 500/7902–2002, Bd. 2: BASF an ihre Aktionäre, 9.5.1975, Schreiben der Dresdner Bank an Depotkunden mit BASF-Aktien, 23.5.1975, Schreiben der Deutschen Bank an Depotkunden mit BASFAktien, 12.6.1975, Ausführungen von Jürgen Ponto anlässlich der Bilanz-Pressekonferenz,
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um Corporation nach der zweiten Ölpreiskrise ein Viertel der Hoechst-Aktien. Indem die deutschen Großbanken weiterhin ihr Depotstimmrecht ausübten und mit dem kuwaitischen Unternehmen kooperierten, war ein Übernahmeversuch gegen den Willen der Manager und befreundeter Bankiers vorerst nicht möglich. Langfristig stieg jedoch die Gefahr einer feindlichen Übernahme infolge der Liberalisierung der Kapitalmärkte44 . Die Position der Deutschen Bank hing sicherlich mit ihrer Stellung innerhalb der westdeutschen Wirtschaft und ihren vielfältigen Verflechtungen zu Industrieunternehmen zusammen, vor allem zeigte sich hier aber, dass die Deutsche Bank das nach außen abgeschirmte nationale Produktionsmodell als erfolgreich ansah und diesen Zustand erhalten wollte. Diesem Ziel lag die Vorstellung zugrunde, auf der Basis stabiler Bank-Industrie-Beziehungen das Risiko von Kreditausfällen und Finanzkrisen weitgehend minimieren und fortwährend gewinnbringende Geschäfte machen zu können. Im Endeffekt gab jedoch auch die Deutsche Bank diese Position auf und demonstrierte mit dem Verkauf von Industriebeteiligungen in den 1990er Jahren, dass neue Zielvorstellungen an die Stelle eines diffusen nationalen Interesses getreten waren45 .
Finanzmarktorientierung als neue Leitkategorie (1984–1995) Auf den Baden-Badener Unternehmensgesprächen 1979 sinnierte der langjährige Hoechst-Vorstandsvorsitzende Rolf Sammet über den Unternehmer: „Wie auch immer die Definition des Unternehmers ausfällt, Einigkeit besteht darüber, daß er entscheiden muß. Und Entscheidung kann nicht heißen, Berechenbares zu berechnen und die Ergebnisse nachzuvollziehen, nein die Entscheidung fängt da an, wo die Rechnung aufhört.“46 Damit verwies Sammet auf eine Dimension unternehmerischen Handelns, die im Gegensatz zur Ökonomisierung der Gesellschaft im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts stand. Ab Mitte der 1980er Jahre gewannen neue Leitvorstellungen an Bedeutung, die den Kapitalmarkt und die Anteilseigner in den Mittelpunkt stellten und die Rahmenbedingungen
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16.6.1975, Gedanken zum Thema Stimmrechtsbeschränkung, ohne Datum; Die Perser kommen, in: Der Spiegel 30 (1974), 22.07.1974; Stimmrechtsbeschränkung: Zwei Lager, in: Der Spiegel 7 (1975), 10.02.1975, S. 72; Völlig ungewöhnlich, in: Der Spiegel 13 (1975), 24.03.1975, S. 79–80; Fata Morgana, in: Die Zeit 18, 25.04.1975, S. 26. Vgl. Stefan Eckert, Auf dem Weg zur Aktionärsorientierung: Shareholder Value bei Hoechst, in: Streeck/Höpner (Hrsg.), Alle Macht dem Markt?, S. 169–196, hier S. 171, 182–183. Vgl. Jürgen Beyer, Deutschland AG a.D.: Deutsche Bank, Allianz und das Verflechtungszentrum des deutschen Kapitalismus, in: Streeck/Höpner (Hrsg.), Alle Macht dem Markt?, S. 118–146. Ernst Bäumler, Rolf Sammet. Eine biographische Skizze, o.O. 1982, S. 230.
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unternehmerischer Entscheidungen grundlegend veränderten. Dabei trugen Finanzexperten nicht nur zur Etablierung des Shareholder Value bei, Kosteneffizienz wurde neben technischem Wissen auch zu einer maßgebenden Zielgröße unternehmerischen Handelns – als Bewertungskriterium guten Managements wie auch für die Karriereaussichten des Führungspersonals. Die Finanzialisierung des Unternehmens bewirkte eine Reformulierung der Unternehmensziele, einen Bedeutungsgewinn von Finanzexpertise und war im Grunde Teil eines breiteren gesellschaftlichen Prozesses der Indikatorenbildung – von der Messung persönlicher Eigenschaften in Eignungstests bis zum Ranking von Krediten und Universitäten47 . Anfang der 1980er Jahre hatte der Bamberger BWL-Professor Eduard Gabele westdeutsche Manager nach ihren Wertvorstellungen gefragt und fünf unternehmensrelevante Wertedimensionen herausgestellt: Das Manager-Mitarbeiter-Verhältnis, Firmenwohl contra Allgemeinwohl, gesellschaftspolitisches Engagement, Rechtsauffassung und Veränderungsbereitschaft. An dieser, in der Terminologie der historischen Wertewandelforschung, Beobachtung erster Ordnung lassen sich zumindest vier Aspekte ablesen48 : (1) Die Befragung ergab unterschiedliche Wertemuster für Groß- bzw. kleinere und mittlere Unternehmen. Bei aller Kritik gegenüber dem Nutzen sozialwissenschaftlicher Analysen für die historische Forschung verweist dieser Befund auf Differenzen, die sich unternehmenshistorisch aus der unterschiedlichen Struktur der Unternehmen, ihrer Stellung im gesamtwirtschaftlichen Gefüge und den damit verbundenen Aufgaben ihres Managements erklären lassen49 . (2) Die Studie kam zu dem Ergebnis, dass das Verhältnis zu den Mitarbeitern schon fast im Stereotyp des autoritären Führers beschrieben worden sei. Selbst die wirtschaftsfreundliche Wirtschaftswoche fragte daraufhin, wie lebensnah die Beteuerungen eines modernen, kooperativen und partizipativen Führungsstils seien. Dies verweist im 47
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Vgl. Freye, Führungswechsel, S. 110–112; Paul Windolf, Was ist Finanzmarkt-Kapitalismus?, in: Paul Windolf (Hrsg.), Finanzmarkt-Kapitalismus. Analysen zum Wandel von Produktionsregimen, Wiesbaden 2005, S. 20–57. Vgl. Autoritär fürs Firmenwohl, in: Wirtschaftswoche 4, 22.1.1982, S. 34–36; Rödder, Wertewandel in historischer Perspektive, in: Dietz/Neumaier/Rödder (Hrsg.), Gab es den Wertewandel?, hier S. 26–27. Die Untersuchungen Gabeles gingen auch in eine internationale Studie zu Werten und Typen mittelständischer Unternehmer ein. Vgl. Erwin Fröhlich/J. Hanns Pichler, Werte und Typen mittelständischer Unternehmer, Berlin 1988. Vgl. Bernhard Dietz/Christopher Neumaier, Vom Nutzen der Sozialwissenschaften für die Zeitgeschichte. Werte und Wertewandel als Gegenstand historischer Forschung, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 60 (2012), S. 293–304; Rüdiger Graf/Kim Christian Priemel, Zeitgeschichte in der Welt der Sozialwissenschaften. Legitimität und Originalität einer Disziplin, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 59 (2011), S. 479–508; Jenny Pleinen/ Lutz Raphael, Zeithistoriker in den Archiven der Sozialwissenschaften, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 62 (2014), S. 173–195; Morten Reitmayer, Elite. Sozialgeschichte einer politisch-gesellschaftlichen Idee in der frühen Bundesrepublik, München 2009, S. 327–338.
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Bereich der Personalführung bis Anfang der 1980er Jahre zumindest partiell auf stabile althergebrachte Wertmuster, die im Gegensatz zu modernen Managementmethoden aus den USA standen50 . (3) Vor allem die Unternehmer kleinerer und mittlerer Unternehmen vertraten den Wert „gesellschaftspolitisches Engagement“. Die Wirtschaftswoche konstatierte, dass dies im Gegensatz zur öffentlichen Darstellung von Managern der Großkonzerne stehe. Tatsächlich dürfte hier auch ein Zusammenhang zur Eigentümerstruktur bestehen, denn während die Förderung kultureller Institutionen im Fall kleinerer (Eigentümer-)Unternehmen in der Person des Unternehmers und der Institution des Unternehmens zusammenfiel, wurde dies im Fall von Großunternehmen eher als private Aufgabe der Manager und der Kapitaleigner angesehen. Neben dem gesellschaftspolitischen Engagement war vor allem auffällig, dass Führungskräfte kleinerer und mittlerer Unternehmen den Punkt, Frauen sollten zur Unternehmensleiterin aufsteigen können, positiv hervorhoben. Allerdings verweist dieses Ergebnis eher auf Nachfolgeprobleme in Familienunternehmen als auf einen grundlegend divergierenden Wertekanon im Vergleich zu Managern von Großunternehmen. Ein kursorischer Blick auf die Führungskräfte westdeutscher Unternehmen in den 1970er und 1980er Jahren zeigt zumindest die fortbestehende Dominanz männlicher Unternehmer. (4) Die unter der Wertedimension „gesellschaftspolitisches Engagement“ zusammengefassten Rubriken „Unterstützung kultureller Institutionen“, „Lösung internationaler Probleme“ und „wirtschaftliche Aufbauarbeit in anderen Ländern“ deuten auf zeitgenössische Debatten über die Stellung von Schwellen- und Entwicklungsländern sowie die internationale Lage im Kalten Krieg hin. Diese internationale politische Dimension spielte zwar auf einen Bereich an, der weit über den unmittelbaren Unternehmenskontext hinausging, sie hatte aber einen anderen Fokus als das von Streeck/Höpner postulierte nationale Interesse, auf das die Unternehmer qua ihrer Stellung wesentlich größeren Einfluss hatten. Die These eines nationalen Interesses hätte sich besonders in der Wertedimension „Firmenwohl contra Allgemeinwohl“ widerspiegeln müssen, allerdings zeigten die Antworten hier keine eindeutige Tendenz. Grundsätzlich befürworteten alle Unternehmer die Aussage, ihre eigenen Interessen in den Mittelpunkt zu stellen – ein wenig überraschendes Ergebnis. Ebenso auffallend wie die oben genannten Punkte ist aber sicherlich, dass die Finanzierung des Unternehmens oder die Orientierung an Aktionärsinteressen und Kapitalmarktbedürfnissen als Wertedimension unternehmerischen Handelns noch überhaupt keine Rolle spielten. Dies sollte sich im Zuge der Deregulierung und Privatisierung seit den 1980er Jahren grundlegend ändern. Die Idee eines gesellschaftlichen Konsenses wurde 1981 noch einmal vom Vorstandsvorsitzenden der AEG-Telefunken AG, Heinz Dürr, herausgestellt. Mit 50
Vgl. auch: Hewlett-Packard. Klare Ziele sind alles, in: Wirtschaftswoche 9, 26.2.1982, S. 49.
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Hinweis auf Japan forderte er einen Konsens von Gewerkschaften, Staat und Unternehmen, um die notwendigen Strukturveränderungen der deutschen Wirtschaft vorzunehmen. Auch wenn dieses Plädoyer nur im Zusammenhang mit den Notverkäufen ganzer Geschäftsbereiche beim angeschlagenen AEG-TelefunkenKonzern zu verstehen ist, rief es ein breites Echo in der Wirtschaftslandschaft hervor. Während Ferdinand Beickler (Adam Opel AG) oder Eberhard von Kuenheim (BMW) Dürr unterstützten, vertraten Herbert Grünewald (Bayer) oder Daniel Goeudevert (Ford) die Ansicht, dass man auch die negativen Konsequenzen des marktwirtschaftlichen Strukturwandels, sprich den Verlust von Kapital und Arbeitsplätzen in Kauf nehmen müsse51 . Die Wertedimensionen unterschieden sich somit nicht nur zwischen kleineren und mittleren auf der einen und Großunternehmen auf der anderen Seite, auch innerhalb der Großindustrie gab es graduelle Unterschiede in den Ordnungsvorstellungen der Führungskräfte. Der Erhalt marktwirtschaftlicher Prinzipien stand dabei außer Frage. Die offene Frage war vielmehr, inwieweit Staat und Gewerkschaften mit einbezogen werden sollten; alle befragten Unternehmer hoben Anfang der 1980er Jahre hervor, dass ein solcher Konsens wünschenswert und der Dialog mit den Gewerkschaften sinnvoll sei. Unter den Bedingungen des Finanzmarktkapitalismus der 1990er Jahre trat diese Dialogbereitschaft, die von Finanzanalysten kaum erfasst werden konnte und ebenso wenig zur kurzfristigen Renditesteigerung beitrug, in den Hintergrund. Mit dem Durchbruch zum Shareholder Value ab Ende der 1980er Jahre, also der stärkeren Betonung von Aktionärs- und Kapitalmarktinteressen, wurden Finanzkriterien zur zentralen Richtschnur unternehmerischer Entscheidungen. Dabei ging die Finanzialisierung von Industrieunternehmen oftmals mit dem Abgang der naturwissenschaftlich-technisch ausgebildeten Führungskräfte einher. Hier spielte der generationelle Aspekt somit eine zentrale Rolle. Der Orientierungswandel und die neuen Handlungsrationalitäten der Manager ließen sich in Anlehnung an Karl Mannheim durch die Rekrutierung neuer Kulturträger deuten, obgleich Veränderungen der handlungsleitenden Ordnungsentwürfe, der Führungsstile sowie der innerbetrieblichen Herrschaftstechniken im Gegensatz zum Wandel körpergebundener Mentalitäten grundsätzlich auch ohne generationelle Brüche denkbar sind. Zwischen 1990 und 1994 rollte die erste große Erneuerungswelle seit 1965/75 über die deutschen Vorstandsetagen52 . Mit Hermann Strenger (Bayer, 1984) bzw. Manfred Schneider (Bayer, 1992), Jürgen Strube (BASF, 1990) und Jürgen Dormann (Hoechst, 1994) übernahmen Wirtschafts- und Rechtswissenschaftlicher die Führung der drei großen
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Vgl. Kernproblem der Marktwirtschaft, in: Wirtschaftswoche 29, 16.7.1982, S. 22–23. Vgl. Freye, Führungswechsel, S. 168–172; Reitmayer, Elite, S. 347–354; Simple Selektion, in: Wirtschaftswoche 23, 29.5.1992, S. 58–63.
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Chemiekonzerne53 . Sammets Diktum galt nun nicht mehr. Anfang der 1980er Jahre hatte der scheidende Hoechst-Chef hinsichtlich seines potenziellen Nachfolgers verkündet: „Wir sind ein forschendes Unternehmen, daher sollte es ein Chemiker sein, der möglichst geforscht hat.“54 Während diese Eigenschaft für seinen direkten Nachfolger Wolfgang Hilger – Sohn eines Bayer-Managers und promovierter Chemiker – noch galt, traf sie auf den seit 1994 amtierenden diplomierten Volkswirt Jürgen Dormann nicht mehr zu. Unter Dormann wurden zahlreiche Geschäftsbereiche und Tochtergesellschaften ausgegliedert, die verbliebenen Geschäftsbereiche wurden auf das Life-Sciences-Geschäft Pharma und Agrochemie konzentriert55 . Für Dormann war Hoechst ein Weltkonzern, dessen größter Einzelmarkt in den USA lag und dessen überdurchschnittliches Wachstum außerhalb Europas generiert wurde. Er war sich zwar auch der deutschen Wurzeln des Unternehmens bewusst. „Aber wir haben den Patriotismus ein bißchen übertrieben.“56 Von einem nationalen Interesse konnte hier nicht mehr die Rede sein. Die unter Hilger getätigten Investitionen in den neuen Bundesländern Anfang der 1990er Jahre waren noch von der Idee geprägt, dass – wie der damalige Daimler-Benz-Vorstand Edzard Reuter verkündete – das Aufbauwerk Ost nicht nur Sache des Staates sei. Hilger verkündete 1992, in den kommenden drei Jahren ca. 600 Millionen DM in Ostdeutschland zu investieren; seine Konkurrenten bei Bayer und BASF sahen Investitionen in ähnlicher Höhe vor57 . Die Übernahme ostdeutscher, teils unrentabler Betriebe durch westdeutsche Che53
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Vgl. Bartmann/Plumpe, Gebrochene Kontinuitäten?, in: Berghahn/Unger/Ziegler (Hrsg.), Die deutsche Wirtschaftselite im 20. Jahrhundert, hier S. 180. Auch wenn Natur- und Wirtschaftswissenschaftlicher sowie Juristen nach wie vor das Feld unternehmerischer Führungskräfte dominierten, stiegen Anfang der 1990er Jahre auch die Chancen für Sozialwissenschaftler (Soziologen und Psychologen), in entsprechende Funktionen aufzusteigen. Vgl. Wachsende Neugier, in: Wirtschaftswoche 9, 21.2.1992, S. 56–57. Rolf Sammet. Durch Verlust gewonnen, in: Wirtschaftswoche 18, 30.4.1982, S. 66–68; Wechsel auf den Chefposten, in: Wirtschaftswoche 29, 16.7.1982, S. 44–45. Vgl. Christian Marx, Multinationale Unternehmen in Westeuropa seit dem Ende des Booms. Von der deutsch-französischen Kooperation zwischen Hoechst und Roussel Uclaf zu Sanofi-Aventis (1968–2004), in: Themenportal Europäische Geschichte, URL: http://www.europa.clio-online.de/2015{/\penalty\exhyphenpenalty}Article=728 (2015); Wolfgang Menz/Steffen Becker/Thomas Sablowski, Shareholder-Value gegen Belegschaftsinteressen. Der Weg der Hoechst-AG zum „Life-Sciences“-Konzern, Hamburg 1999, S. 112–114; Sigurt Vitols, Viele Wege nach Rom? BASF, Bayer und Hoechst, in: Streeck/ Höpner (Hrsg.), Alle Macht dem Markt?, S. 197–221, hier S. 207–211; Christoph Wehnelt, Hoechst. Untergang des deutschen Weltkonzerns, Lindenberg 2009, S. 63–161. Wir waren zu patriotisch, in: Die Zeit 30, 22.07.1994, S. 17. Vgl. Warten auf den Boom, in: Die Zeit 34, 14.8.1992, S. 22. Bayers Investitionsplan sah ein Volumen von 700 Mio. DM vor, um den ersten Stützpunkt in Ostdeutschland – direkt neben der Chemie AG Bitterfeld-Wolfen – 1994 in Betrieb zu nehmen. Vgl. Im Osten schneller, in: Wirtschaftswoche 11, 6.3.1992, S. 52.
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miekonzerne war in gewisser Weise die letzte aus nationaler Verantwortung getroffene Entscheidung großer Tragweite, bei der Rentabilitätsaspekte nicht alleinentscheidend waren58 . Dies waren gewaltige Summen; angesichts eines Investitionsvolumens des Hoechst-Konzerns von über 4,5 Milliarden DM und eines Jahresüberschusses von über einer Milliarde DM im Jahr 1992 müssen aber auch diese Zahlen relativiert werden. Für einen Computerriesen wie IBM mit weltweiten Überkapazitäten war es vollkommen ausgeschlossen, in Ostdeutschland neue Produktionsstätten aufzubauen, wie der Chef von IBM Deutschland Hans-Olaf Henkel erklärte. Ähnlich sah dies in anderen Branchen aus. Der ostdeutsche Markt konnte oftmals schlichtweg aus den westdeutschen Werken mitversorgt werden59 . Spätestens mit der Übernahme des Vorstandsvorsitzes durch Jürgen Dormann verhallten bei Hoechst die Appelle an das nationale Gewissen. Dormann war seit 1987 für das Vorstandsressorts Finanz- und Rechnungswesen, Informatik und Kommunikation sowie die Region Nordamerika verantwortlich und spiegelte damit sowohl den Bedeutungsgewinn von Finanzexpertise als auch den verstärkten Drang in Richtung USA wider. Dabei stand Dormann am Ende einer längeren Entwicklung, die schon in den 1960er Jahren ihren Anfang nahm. Die nahezu alle Großunternehmen erfassende Einführung von Unternehmensdivisionen – oftmals unter Hinzuziehung internationaler Beratungsunternehmen –, die eine erhöhte Flexibilität gegenüber dem Markt garantieren sollte, mündete Ende der 1980er in der Etablierung eigenverantwortlicher Business Units, deren zunehmende Eigenständigkeit zugleich ihren Verkauf erleichterte und vorbereitete und eine Unternehmensstrategie ermöglichte, die sich auf die gewinnbringendsten Sparten konzentrierte – mit ständigem Blick auf den Aktienkurs und die Finanzierungsmöglichkeiten an den internationalen Kapitalmärkten. Auf die Phase der Diversifikation und Divisionalisierung zwischen den 1960er und 1980er Jahren folgte die Auflösung traditioneller Unternehmensstrukturen infolge der Aufwertung der Kapitalmärkte und sich herausbildender globaler Konkurrenzverhältnisse. Der ständige Wechsel von Organisationsmodellen wurde seither zum Dauerkennzeichen der Unternehmenslandschaft60 . Die Deregulierungs- und Privatisierungsschübe seit den 1970er Jahren förderten ein Klima, das die Selbstregulierungskräfte des Marktes zur Ultima Ratio erhob. Insofern ist es auch wenig verwunderlich, dass Michael E. Porter in den 1980er Jahren mit seinen Wettbewerbsthesen zum Strategiepapst aufstieg und beispielsweise als Referent des schweizerischen Zentrums
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Streeck/Höpner, Einleitung. Macht, in: Streeck/Höpner (Hrsg.), Alle Macht dem Markt? Geschäftsbericht Hoechst 1992, S. 53. Vgl. Werner Plumpe, Das Ende des deutschen Kapitalismus, in: Westend 2/2 (2005), S. 3–26, hier S. 6–18.
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für Unternehmensführung auftrat61 . Im Jahr 1991 wandelte Hoechst seine 16 Geschäftsbereiche in ergebnisverantwortliche Business Units um. Damit war der Frankfurter Chemieriese beileibe kein Einzelfall62 . Der steigende Bedeutungsgewinn von Rentabilitäts- und Marktaspekten zeigte sich in ähnlicher Weise beim deutsch-niederländischen Akzo-Konzern, der 1988 ergebnisverantwortliche Business Units implementierte, die das „unternehmerische Denken in allen Bereichen stärken und zu einem flexibleren und effizienteren Auftreten im Markt beitragen“ sollten63 . Sowohl bei Hoechst als auch bei Akzo bedeutete die Einführung von Business Units den tiefsten Einschnitt in die Organisationsstruktur seit ihrer Reorganisation Ende der 1960er Jahre. Strukturell schwache Arbeitsgebiete sollten fortan konsequent veräußert, das Portfolio entsprechend bereinigt werden. Damit erlebte die Marktorientierung endgültig ihren Durchbruch64 . Am Beispiel von Hoechst kann schließlich auch der Bedeutungsgewinn des Kapitalmarkts für unternehmerische Entscheidungen aufgezeigt werden. Schon mit dem Zusammenbruch des festen Wechselkursmechanismus von Bretton Woods hatten Finanzfragen an Gewicht gewonnen – dies galt für multinationale Unternehmen und die exportorientierte westdeutsche Chemieindustrie im Besonderen. Obschon das Mitbestimmungsgesetz von 1976 die Einflussmöglichkeiten der inländischen Arbeitnehmer erhöhte und somit die StakeholderOrientierung stärkte, rückten Aktionärsinteressen und Kapitalmarkterfordernisse in den 1980er Jahren vermehrt ins Zentrum der Unternehmenspolitik. Betriebs- und Volkswirte und andere als Finanzexperten ausgewiesene Manager wie Strenger, Strube oder Dormann waren eher bereit, von der traditionellen Produktionsorientierung abzuweichen und sich stärker an Finanzmarkterfordernissen zu orientieren. Diese Hinwendung zu den Finanzmärkten drückte zugleich die wachsende Abhängigkeit der Unternehmensfinanzierung von denselben und damit eine notwendige Bedingung unternehmerischen Handelns aus.65 Finanz- und betriebswirtschaftliche Konzepte erlangten auf diese Weise auf nahezu allen Unternehmensebenen Relevanz; auch die Entwicklungs- und
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Vgl. Lukrative Nische, in: Wirtschaftswoche 7, 7.2.1992, S. 82–83; US-Gurus. Brav aus der Hand, in: Wirtschaftswoche 46, 6.11.1992, S. 68–76. Vgl. Geschäftsbericht Hoechst 1991, S. 1–2; Ernst Homburg, The Era of Diversification and Globalization (1950–2012), in: Kenneth Bertrams/Nicolas Coupain/Ernst Homburg (Hrsg.), Solvay. History of a Multinational Family Firm, New York 2013, S. 333–564, hier S. 494–500. Geschäftsbericht Enka 1988, S. 5. Vgl. Geschäftsbericht Akzo 1991, S. 4–5; Geschäftsbericht Akzo 1992, S. 4–5; Menz/Becker/ Sablowski, Shareholder-Value gegen Belegschaftsinteressen, S. 91–94. Hartmut Berghoff, Varieties of Financialization? Evidence from German Industry in the 1990s, in: Business History Review 90/1 (2016), S. 81–108. Plumpe, Das Ende des deutschen Kapitalismus, hier S. 9; Ziele im Visier, in: Wirtschaftswoche 42, 9.10.1992, S. 209.
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Produktionsbereiche blieben letztlich hiervon nicht verschont. Wie die HoechstGrundsätze für Zusammenarbeit und Führung aus dem Jahr 1978 zeigen, nahmen die Aktionäre im Spektrum unternehmenspolitischer Interessengruppen zu diesem Zeitpunkt noch eine gleichgeordnete Stellung ein66 . Dabei hatte es „der Aktionär“ erst 1973 in den Geschäftsbericht des Frankfurter Chemiekonzerns geschafft. Während Umsatz, Ertrag, Investitionen, Produkte, Forschung und auch die Belegschaft stets Bestandteil der Hoechst-Geschäftsberichte waren, blieb der kapitalgebende Aktionär bis 1973 ein stiller Renditebezieher. Im Geschäftsbericht 1973 wurde zum ersten Mal auf die Notwendigkeit einer angemessenen Kapitalrendite, auf die Aktienentwicklung sowie auf mögliche Formen der Unternehmensfinanzierung verwiesen. Aktionärsinteressen und Kapitalmarktfragen gewannen somit schon am Ende des Booms an Bedeutung, entfalteten aber erst ab Ende der 1980er Jahre ihren durchschlagenden Effekt als unternehmerische Leitkategorien67 . Während die Dividendenglättung bis in die 1980er Jahre Aktionäre und Unternehmensakteure mit Festbetragsansprüchen weitgehend gleichstellte, grundsätzlich also wenig Anzeichen in Richtung Aktionärsorientierung zeigten, änderte sich die unternehmenspolitische Zielrichtung unter Dormann grundlegend. Den Aktionären wurde nun nicht mehr eine angemessene, sondern eine überdurchschnittliche Verzinsung ihres eingesetzten Kapitals versprochen. Im Geschäftsbericht 1994 wurde es noch konkreter: Hier wurde das Ziel einer Nettoeigenkapitalrendite von 15 Prozent ausgegeben68 . Die Aufwertung des Aktionärs und des Aktienkurses geschah aber nicht nur als Selbstzweck, vielmehr zeigte sich darin die verstärkte Abhängigkeit vom Kapitalmarkt. Stefan Eckert hat zu Recht darauf hingewiesen, dass der mit dem Schlagwort Shareholder Value verbundene Begriff „aktionärsbezogen“ die Unternehmenspolitik von Hoechst in den 1990er Jahren nur teilweise erfasst. Neben den Interessen der Aktionäre stand vor allem der Marktwert der Eigenkapitalanteile im Mittelpunkt der Unternehmenspolitik; dies war auch im Interesse der Aktionäre, insbesondere aber des Managements, um eine möglichst günstige Finanzierung zu ermöglichen und potenzielle feindliche Übernahmen zu verhindern69 . Dabei war die Verschiebung in Richtung Kapitalmarktorientierung eine bewusste 66 67 68 69
Eckert, Shareholder Value bei Hoechst, in: Streeck/Höpner (Hrsg.), Alle Macht dem Markt?, S. 171–174; Freye, Führungswechsel, S. 102–104. Geschäftsbericht Hoechst 1973, S. 10–11. Vgl. Eckert, Shareholder Value bei Hoechst, in: Streeck/Höpner (Hrsg.), Alle Macht dem Markt?, S. 174–178. Vgl. Stefan Eckert, Aktionärsorientierung der Unternehmenspolitik? Shareholder Value – Globalisierung – Internationalität, Wiesbaden 2004, besonders S. 420. Die Einhegung von Aktionärsinteressen durch das Management (mittels Namensaktien, Mehrstimmrecht oder Schachtelbeteiligungen) machte die Wirtschaftswoche 1992 zum Thema und titelte „Die Ohnmacht der Aktionäre“. Vgl. Wirtschaftswoche 21, 15.5.1992.
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Entscheidung des Hoechst-Managements, die in ihrer Radikalität keineswegs in allen deutschen Chemieunternehmen anzutreffen war. Trotz ähnlicher Umweltbedingungen blieben die Manager bei Bayer und BASF der rheinischen Version des Kapitalismus wesentlich stärker verbunden70 . Mit dem Zusammenbruch des Ostblocks verschoben sich die Kräfteverhältnisse und Themengebiete in der Debatte um Werte unternehmerischen Handelns noch einmal. Während die Ostgeschäfte der Bundesrepublik in den 1970er und 1980er Jahren teils auf erhebliche Kritik der USA stießen und bei westdeutschen Unternehmern die Frage aufkam, inwieweit eine Reduzierung des Osthandels Auswirkungen auf die sowjetische Militärmacht und den Systemerhalt hätte, wurden derartige Diskussionen durch die Transformation der ehemals staatssozialistischen Länder in kapitalistische Marktwirtschaften obsolet71 . Andere Themen wie der Umweltschutz erhielten in den 1970er und 1980er Jahren hingegen eine derart breite gesellschaftliche Zustimmung, dass sie sukzessive in die Unternehmenspolitik einflossen, zunächst vor allem in Form von Rechtfertigungen mit dem Hinweis auf Verbesserungen der Luft- und Abwasserreinhaltung, später auch als inhärenter Teil der Unternehmensstrategie und potenzielles Geschäftsfeld72 .
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Vgl. Jürgen Kädtler, Industrieller Kapitalismus und Finanzmarktrationalität – am Beispiel des Umbruchs in der (traditionellen) deutschen Großchemie, in: Prokla 169 (2012), S. 579– 599; Vitols, Wege, in: Streeck/Höpner (Hrsg.), Alle Macht dem Markt?, hier S. 199, 211–213. Vgl. Ostgeschäfte. Schwachstelle getroffen, in: Wirtschaftswoche 9, 26.2.1982, S. 16–17; Erdgaspipeline. Rotieren um Rotoren, in: Wirtschaftswoche 11, 12.3.1982, S. 94–95; Osthandel. Ohne Krücken laufen, in: Wirtschaftswoche 17, 23.4.1982, S. 46–54; Wolfgang Seiffert: Kontinuität aus Eigennutz, in: Wirtschaftswoche 47, 19.11.1982, S. 20–21. Gleichzeitig entwickelten sich in Ost- und Westdeutschland unterschiedliche Führungsstile. Während westdeutsche Manager die Delegation von Aufgaben und die Motivation der Mitarbeiter in den Mittelpunkt rückten, wurden Anleitung und Kontrolle nach wie vor als typische Führungsaufgaben in den neuen Bundesländern gesehen. Vgl. Ost-/Westmanager. Enormer Druck, in: Wirtschaftswoche 18, 24.4.1992, S. 59–60. Vgl. Thilo Jungkind, Risikokultur und Störfallverhalten der chemischen Industrie. Gesellschaftliche Einflüsse auf das unternehmerische Handeln von Bayer und Henkel seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2013; Inga Nuhn, Entwicklungslinien betrieblicher Nachhaltigkeit seit 1945. Ein deutsch-niederländischer Unternehmensvergleich, Münster 2013; Rolf Sammet, Umweltschutz und/oder industrielles Wachstum, in: Deutsches Institut zur Förderung des industriellen Führungsnachwuchses (Hrsg.), Unternehmer und Staat in der Sozialen Marktwirtschaft. Symposium zum fünfundzwanzigjährigen Bestehen der Baden-Badener Unternehmergespräche, Frankfurt a.M. 1974, S. 76–91; Theo Sommer: Jenseits von Pendelschwung und Wellenschlag, in: Die Zeit 2, 3.1.1986, S. 1; Standort Deutschland. Arbeit durch Umweltschutz, in: Wirtschaftswoche 12, 13.3.1992, S. 53; Umweltmanagement. Vorsprung durch umfassende Konzepte. Schlummernde Chancen, in: Wirtschaftswoche 30, 17.7.1992, S. 42–47.
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Fazit Die Beispiele aus der Chemieindustrie können lediglich Puzzleteile eines vermeintlich breiteren Wertewandels in den Führungsetagen westdeutscher Unternehmen sein. Nur teilweise ergibt sich hierbei ein geschlossenes Bild hinsichtlich der Ordnungsvorstellungen als Grundlagen strategischer Unternehmensentscheidungen. Einerseits zeigten sich divergierende Einstellungen bei kleinen und Großunternehmen und sogar innerhalb einzelner Branchen, andererseits traten infolge erhöhter Konkurrenz und Komplexität aber auch gleichförmige Entwicklungslinien zum Vorschein. Der Bedeutungsgewinn finanzieller Aspekte, der in den Sozialwissenschaften seit den 1990er Jahren unter dem Begriff der Finanzialisierung firmiert und die unternehmensinterne Steuerung über kapitalmarktgenerierte Größen zum Ausdruck bringt, scheint ein solcher unverkennbarer Basisprozess zu sein, der im Untersuchungszeitraum zu klaren Verschiebungen im Wertesystem geführt hat, dessen Wurzeln aber bis in die 1970er Jahre zurückreichen. Ende der 1960er gerieten bisherige Handlungsrationalitäten ins Wanken, die Ordnungsvorstellungen blieben jedoch vorerst noch stabil. Aufgrund der ökonomischen Turbulenzen in den 1970er Jahren waren die Unternehmer im Vergleich zur Boomphase neuen Handlungsrestriktionen unterworfen, die Idee eines übergeordneten nationalen Konsenses hatte aber noch Bestand, auch wenn dies Betriebsschließungen oder Produktionsverlagerungen nicht grundsätzlich ausschloss. Wirtschaftsnahe Forschungsinstitute und Autoren riefen die Unternehmer auf, sich gesellschaftspolitisch einzubringen, um die Prinzipien einer freiheitlichen Marktordnung gegen Angriffe von links zu verteidigen. Dies deutet nicht unbedingt auf einen Wertewandel hin, auch wenn es innerhalb der Unternehmerschaft Diskussionen über antiautoritäre Formen der Unternehmensführung gab, vielmehr spitzte sich hier ein Interessengegensatz zu, der im Konsenskapitalismus der Boomjahre bei hinreichenden Verteilungsspielräumen überdeckt worden war. Bei den naturwissenschaftlich-technisch ausgebildeten Konzernspitzen dominierte nach wie vor die Produktionsorientierung. Im Vergleich hierzu nahm sich die Phase ab Mitte der 1980er Jahre deutlich anders aus. Mit dem Bedeutungsgewinn der Finanzmärkte und dem Abtritt der Naturwissenschaftler wurden finanzielle Nenngrößen zunehmend handlungsrelevant. Der Nationalstaat blieb für viele ökonomische Bereiche wie das Arbeits- oder Tarifrecht, die industriellen Beziehungen oder das Ausbildungssystem weiterhin die zentrale Bezugsgröße, doch in den 1990er Jahren fungierte ein nationales Interesse für die Manager nicht mehr als Richtschnur unternehmerischer Entscheidungen. Hierzu trug der Wegfall der Systemkonkurrenz ebenso bei wie die Durchsetzung des digitalen, globalisierten Finanzmarktkapitalismus. Neben den für die Unternehmensstrategie zentralen Werten wäre für die 1970er und 1980er Jahre sicherlich zusätzlich nach konkreten Verschiebungen im Wertesystem auf einzelnen Themengebieten wie Osthandel, Mitbestimmung,
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Frauenerwerbsarbeit, Umweltpolitik73 , Vermögensbildung oder Internationalisierung74 zu fragen. Im Fall der Umweltpolitik wirkte die Gründung des entsprechenden Umweltministeriums nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl fundamental auf die institutionellen Beziehungen zwischen staatlichen und ökonomischen Akteuren ein. Hier veränderten sich sowohl die diskursiv verhandelten Werte in Richtung höherer Umweltsensibilität als auch die sozialen Praktiken zwischen Politikern und Unternehmern. Auch die Entwicklung des Mikrochips und die Einführung des Computers wären hinsichtlich eines Wertewandels zu untersuchen, schließlich beschrieb John Diebold in visionärer Manier schon 1952 in seinem Buch „Automation – The Advent of the Automated Factory“ die Vernetzung von Firmen und Computern und deren Auswirkungen auf das Managerbewusstsein75 . Ferner wäre nach Verschiebungen in der Wertedimension der Geschlechterverhältnisse zu fragen. Der ehemalige TelekomVorstand Thomas Sattelberger resümierte nach seinem Coming-Out im September 2014, dass man als Spitzenmanager immer noch damit rechnen müsse, „dass diese Information irgendwann gegen Sie verwendet wird.“76 Bekennende Homosexuelle waren und sind immer noch eine Rarität in deutschen Vorstandsetagen. In den 1970er und 1980er Jahren blieben die Führungsgremien deutscher Industrie- und Finanzunternehmen ein Hort homogener Männergesellschaften; von der Liberalisierung der Bundesrepublik in den 1960er und 1970er Jahren war hier weniger als in anderen Gesellschaftsbereichen zu spüren77 . Grundsätzlich vermittelt das kapitalistische Wirtschaftssystem als Referenzkategorie noch keine speziellen Werte. Weite Teile der Unternehmerschaft scheinen – insbesondere mit Blick auf den Nationalsozialismus – sogar weitgehend ohne feste Werte ausgekommen zu sein78 . Das Beispiel von Günther Zempelin hat jedoch gezeigt, dass es in den 1970er Jahren in den Führungsetagen westdeutscher Großkonzerne viele Manager gab, die Konflikte und Zusammenhänge außerhalb ihres unmittelbaren unternehmerischen Feldes wahrnahmen. Auch Hermann Josef Abs wäre wohl als Unternehmer zu bezeichnen, der im Sinne 73
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Nach dem Störfall von Sandoz und der Katastrophe von Tschernobyl 1986 sah es die Hoechst-Führungsspitze als notwendig an, einen umfassenden Unternehmenskodex zu verfassen, der die Wertvorstellungen unternehmerischen Handelns bestimmte; auf diese Weise wollte man sich nach heftiger öffentlicher Kritik wieder ein positives Erscheinungsbild verpassen. Vgl. Hoechst-Archiv, H0025784, Sozialpolitik. Bericht aus dem Personalund Sozialbereich Hoechst Inland 1987, S. 57–58; Wehnelt, Hoechst, S. 18–19. Euromanager. Seltene Exemplare, in: Wirtschaftswoche 53, 24.12.1992, S. 46–64 Vgl. Automation in Deutschland, in: Spiegel-Titel 14 (1964), 1.4.1964; Automation. Die Spitze muss umdenken, in: Wirtschaftswoche 48, 26.11.1982, S. 44–47; Bevor die Chance zum Zwang wird, in: Wirtschaftswoche 16, 16.4.1982. Männerwirtschaft, in: Der Spiegel 7 (2015), 7.2.2015, S. 72–75. Vgl. Ulrich Herbert, Liberalisierung als Lernprozess. Die Bundesrepublik in der deutschen Geschichte, in: Ulrich Herbert (Hrsg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945–1980, Göttingen 2002, S. 7–49 Vgl. Priemel, Friedrich Flick, in: Plumpe (Hrsg.), Unternehmer, hier S. 248–252.
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Kockas Systemverantwortung übernahm. Ab den 1990er Jahren wird es deutlich schwieriger, solche Unternehmertypen ausfindig zu machen. Insofern verweisen die durch den Formwandel des Kapitalismus induzierten Verschiebungen der strukturellen Bedingungen an das Management in der Zeit nach dem Boom – erhöhte Komplexität unternehmerischer Entscheidungen, Rückkehr von ökonomischen Krisen, Arbeitslosigkeit und Währungsschwankungen, Einzug externer Unternehmensberater, Finanzialisierung von Industrieunternehmen – auf ein verändertes Institutionenset im Sinne der historischen Wertewandelforschung, das einen Wandel von Ordnungsvorstellungen mehr als plausibel macht. Wertvorstellungen waren eben nicht nur eine Funktion aus der Befriedigung von Grundbedürfnissen, sondern standen auch immer im kulturellen Kontext der Zeitgenossen – ein Aspekt, den Inglehart stark vernachlässigt79 . Die Neuausrichtung des wirtschaftspolitischen Denkens, die sich vor allem seit den 1980er Jahren in der Deregulierung von Wirtschaftsunternehmen und Finanzmärkten, der Privatisierung staatlicher Institutionen und der Öffnung von Monopolbetrieben niederschlug, sowie der beschleunigte industriewirtschaftliche Strukturwandel seit den 1970er Jahren, der aufgrund zunehmender internationaler Waren- und Finanzverflechtungen weit über die Bundesrepublik hinausreichte, schufen eine in ihren Wertvorstellungen und Orientierungsmustern veränderte Welt80 . Sicherlich gab es auch hier Kontinuitätslinien. So waren Unternehmer seit jeher an der Erwirtschaftung von Profiten interessiert; Kocka beschreibt dies als das Streben nach Bereicherung und Verbesserung. Doch im Nachkriegskonsens der Bundesrepublik hatten die Unternehmer auch den Interessen anderer Sozialgruppen und außerökonomischen Werten ihre Berechtigung zugestanden, während der Aufstieg marktliberaler Ideen dazu führte, dass dem Markt als Steuerungsinstrument grundsätzlich, d. h. auch außerhalb des ökonomischen Feldes, Vorrang eingeräumt wurde. In den krisenbedingten Umstrukturierungen der 1970er Jahre lassen sich die Überbleibsel des „postwar settlement“ noch deutlich finden, für aufstrebende Varianten der Unternehmensführung in Form von Management Accounting und Controlling wurden außerökonomische Bezugsgrößen hingegen zunehmend irrelevant81 . 79
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Vgl- Thomas Herz, Der Wandel von Wertvorstellungen in westlichen Industriegesellschaften, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 31 (1979), S. 282–302; Rödder, Wertewandel in historischer Perspektive, in: Dietz/Neumaier/Rödder (Hrsg.), Gab es den Wertewandel?, S. 30–32. Vgl. Doering-Manteuffel, Die deutsche Geschichte in den Zeitbögen des 20. Jahrhunderts, hier S. 345–346; Steiner, Abschied von der Industrie?, in: Plumpe/Steiner (Hrsg.), Der Mythos von der postindustriellen Welt., hier S. 53–54. Der erste auf Controlling ausgerichtete Lehrstuhl in Deutschland wurde 1973 an der TH Darmstadt eingerichtet. Vgl. Christoph Binder/Utz Schäffer, Controllinglehrstühle und ihre Inhaber – ein Überblick, in: Jürgen Weber/Matthias Meyer (Hrsg.), Internationalisierung des Controllings: Standortbestimmung und Optionen, Wiesbaden 2005, S. 11–27.
3. Medien und Neue Leitbilder des Kapitalismus
Bernhard Dietz
„Von der Industriegesellschaft zur Gesellschaftsindustrie“. Wirtschaft, Wirtschaftspresse und der „Wertewandel“ 1970–1985 Gab es den „Wertewandel“? Sind aus fleißigen, gehorsamen und pflichtbewussten Arbeitern und Angestellten in der Zeit der späten 1960er und frühen 1970er Jahre autoritätskritische, emanzipierte und nach Selbstverwirklichung strebende Arbeitnehmer und Mitarbeiter geworden? Schenkt man den vielen Berichten zu diesem Thema in der Wirtschaftspresse Mitte der 1980er Jahre Glauben, dann war das in der Tat so und der Trend ging in Richtung einer weiteren Verschiebung weg von einem traditionellen Arbeitsethos. Die Wirtschaftswoche schrieb im April 1983: „Die Wertelandschaft der Industriegesellschaft, das Arbeits- und Leistungsethos befindet sich in einem zunehmenden Wandel. Jener Typus, der in seinem Handeln dem Leistungsprinzip verpflichtet und auf Steigerung seines materiellen Wohlstands ausgerichtet ist, für den Ordnung, Disziplin und Karrierestreben als Imperative nicht nur in der Arbeit, sondern auch im Privatleben Geltung haben, dieser Typus ist auf dem Rückzug.“1 In dem von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung herausgegebenen Blick durch die Wirtschaft, der von 1958 bis 1998 eigenständig erschien und schließlich im Wirtschaftsteil der FAZ aufging, beschäftigte man sich in den 1980er Jahren intensiv mit dem „Wertewandel“ als einer zentralen Herausforderung für die deutsche Wirtschaft. In der Ausgabe vom 20. Oktober 1986 begann ein längerer Artikel von Ernst Zander, Vorstandsmitglied der Reemtsma Cigarettenfabriken GmbH und Professor für Personalwirtschaft, zum „Wertewandel der Arbeit“ mit den bemerkenswerten Sätzen: „Mit dem Wertwandel ist es wie mit dem Wetter: alle sprechen von ihm, aber keiner weiß zuverlässig, wie es wird. Weitgehende Einigkeit scheint immerhin darin zu bestehen, daß es den Wertewandel tatsächlich gibt. Er ist durch eine zunehmende kritische und distanzierte Haltung zur gegenwärtigen Art der Industriearbeit gekennzeichnet; stattdessen gewinnen soziale und psychische Funktionen der Arbeit sowie alternative Erwerbsformen an Bedeutung. Sogenannte postmaterialistische Werte wie Selbstbestimmung, Gesundheit oder Freizeit gelten als besonders erstrebenswert.“2 1 2
Führungsnachwuchs. Karriere ja bitte!, in: Wirtschaftswoche, 15.4.1983, S. 54. Ernst Zander, Die Arbeit dient der Selbstentfaltung, in: Der Arbeitgeber 1/1987, S. 28. Der Artikel basiert auf einem Vortrag des Autors beim „Schwedenlunch“ der Schwedischen Handelskammer am 11.9.1986 im Anglo-German Club in Hamburg. Er erschien außerdem
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Der gesellschaftliche Wertewandel sei die zentrale Herausforderung für eine Management-Philosophie der Zukunft, war sich auch die schweizerische Management-Zeitschrift sicher: „Führungsleute der Wirtschaft, die ihre eigenen Normen und Werte auch morgen noch im Einklang mit der gesellschaftlichen Entwicklung sehen wollen, dürfen sich dem angezeigten Wertewandel nicht verschließen.“3 Die beliebig erweiterbaren Beispiele zeigen, dass in den 1980er Jahren der „Wertewandel“ die sozialwissenschaftliche Fachliteratur längst verlassen hatte und in der Wirtschaftspresse und Management-Literatur weitgehend selbständig und ohne Rekurs auf seine sozialwissenschaftlichen „Entdecker“ diskutiert wurde. „Wertewandel“ war somit erstens ein wissenschaftliches Theorem, das zweitens in den 1980er Jahren diskursiv eingesetzt werden konnte und drittens wiederum selbst eine normative Wirkung entfalten konnte. Bereits in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre waren in der Bundesrepublik die Thesen des Wertewandelpioniers Ronald Inglehart, vor allem aber die Ergebnisse und Interpretationen der deutschen Sozialwissenschaftler Elisabeth NoelleNeumann und Helmut Klages breit rezipiert worden. Die zeitgenössische Aufmerksamkeit lag zum einen in der Griffigkeit und vordergründigen Plausibilität der umfragebasierten Wertewandelthese begründet4 . Demnach habe in dem Jahrzehnt von 1965–1975 eine „stille Revolution“ in Form eines Wandlungsprozesses von traditionalen materialistischen zu postmaterialistischen Wertvorstellungen5 bzw. ein „Wertewandelschub“ von „Pflicht- und Akzeptanzwerten“ zu „Freiheits- und Selbstentfaltungswerten“ stattgefunden6 . Zum anderen sorgte die Auseinandersetzung um die Deutung dieses Trends für erhöhte Publizität, wobei insbesondere die kulturpessimistische Interpretation des „Wertewandels“ als „Werteverfall“ durch Noelle-Neumann7 Gegenstand der Auseinandersetin zwei Teilen in der Zeitschrift der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände. Vgl. Ernst Zander, Die Arbeit dient der Selbstentfaltung, in: Der Arbeitgeber 1/1987, S. 28f.; ders., Führungsgrundsätze und Wertewandel, in: Der Arbeitgeber 3/1987, S. 112f. 3 Peter Kratz, Anforderungen an eine Management-Philosophie für die Zukunft, in: Management-Zeitschrift IO 1/1982, S. 17. 4 Vgl. Bernhard Dietz, Zur Theorie des „Wertewandels“. Ein Schlüssel für sozialen und mentalen Wandel in der Geschichte?, in: Peter Dinzelbacher/Friedrich Harrer (Hrsg.), Wandlungsprozesse der Mentalitätsgeschichte, Baden-Baden 2015, S. 25–47. 5 Vgl. Ronald Inglehart, The Silent Revolution. Changing Values and Political Styles among Western Publics, Princeton 1977. Ansätze zu der Wertewandeltheorie hatte Inglehart bereits 1971 publiziert. Vgl. Ronald Inglehart, Changing Value Priorities and European Integration, in: Journal of Common Market Studies 10 (1971/72), S. 1–36; ders., The Silent Revolution in Europe: Intergenerational Change in Post-Industrial Societies, in: The American Political Science Review 65 (1971), S. 991–1017. 6 Vgl. Helmut Klages, Wertorientierungen im Wandel. Rückblick, Gegenwartsanalyse, Prognosen, Frankfurt a.M. 1984; ders., Traditionsbruch als Herausforderung. Perspektiven der Wertewandelsgesellschaft, Frankfurt a.M. 1993. 7 Vgl. Elisabeth Noelle-Neumann, Werden wir alle Proletarier? Ungewöhnliche Wandlungen im Bewußtsein der Bevölkerung, in: Die Zeit, 13.6.1975; dies., Werden wir alle Proletarier?
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zung wurde8 . Attackiert wurde dabei insbesondere auch die Behauptung, dass der Rückgang des traditionellen Arbeitsethos von linksliberalen Intellektuellen ausgehe und sich über Medien, Schulen und Universitäten verbreite9 . Wer heute als Zeithistoriker die 1970er und 1980er Jahre sozial- und kulturgeschichtlich erfassen möchte, muss sich der Frage nach dem richtigen Umgang mit der zeitgenössischen sozialwissenschaftlichen Wertewandelforschung stellen. Zu Recht wurde die unreflektierte und kritiklose Übernahme des Wertewandel-Narrativs aufgrund seiner vordergründigen Plausibilität und Griffigkeit in zeithistorischen Darstellungen kritisiert10 . Erste methodische Klarheit schaffte Andreas Rödders Unterscheidung von historischer Wertewandel-Analyse als Beobachtung erster Ordnung und als Beobachtung zweiter Ordnung. Die Beobachtung erster Ordnung erfasst somit die Gegenstände der sozialwissenschaftlichen Forschung, also die von den Zeitgenossen beobachteten soziokulturellen Veränderungen und normativen Auseinandersetzungen an sich. Die Beobachtung zweiter Ordnung betrifft die sozialwissenschaftliche Forschung als Gegenstand, thematisiert dabei Akteure und Auftraggeber, Interessen und kommunikative Verbreitung der sozialwissenschaftlichen Forschung und problematisiert ihre analytischen Kategorien11 . Diese Unterscheidung zwischen erster und zweiter Ordnung ist heuristisch wichtig und Bedingung der Möglichkeit eines sinnvollen historischen Zugriffs auf „Wertewandel“. Gleichzeitig zeigt das in diesem Artikel vorgestellte Beispiel aus der Forschungspraxis, dass eine Trennung der beiden
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Wertewandel in unserer Gesellschaft, Zürich 2 1979; dies./Renate Köcher, Die verletzte Nation. Über den Versuch der Deutschen, ihren Charakter zu ändern, Stuttgart 2 1988. Vgl. Elisabeth Noelle-Neumann/Burkhard Strümpel (Hrsg.), Macht Arbeit krank? Macht Arbeit glücklich? Eine aktuelle Kontroverse, München 1984. Vgl. hierzu auch Norbert Grube, Seines Glückes Schmied? Entstehungs- und Verwendungskontexte von Allensbacher Umfragen zum Wertewandel 1947–2001, in: Bernhard Dietz/Christopher Neumaier/ Andreas Rödder (Hrsg.), Gab es den Wertewandel? Neue Forschungen zum gesellschaftlichkulturellen Wandel seit den 1960er Jahren, München 2014, S. 95–119. Michael Klipstein/Burkhard Strümpel (Hrsg.), Gewandelte Werte – Erstarrte Strukturen. Wie die Bürger Wirtschaft und Arbeit erleben, Bonn 1985; Wolfgang Krüger, Wertewandel in der Wirtschaft. Kein Teufelswerk von Intellektuellen, in: Die Zeit, 14.2.1986. Jenny Pleinen/Lutz Raphael, Zeithistoriker in den Archiven der Sozialwissenschaften. Erkenntnispotenziale und Relevanzgewinne für die Disziplin, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 62 (2014), S. 173–195; Bernhard Dietz/Christopher Neumaier, Vom Nutzen der Sozialwissenschaften für die Zeitgeschichte. Werte und Wertewandel als Gegenstand historischer Forschung, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 60 (2012), S. 293–304; Rüdiger Graf/Kim Christian Priemel, Zeitgeschichte in der Welt der Sozialwissenschaften. Legitimität und Originalität einer Disziplin, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 59 (2011), S. 479–508. Vgl. Andreas Rödder, Wertewandel in historischer Perspektive. Ein Forschungskonzept, in: Bernhard Dietz/Christopher Neumaier/Andreas Rödder (Hrsg.), Gab es den Wertewandel? Neue Forschungen zum gesellschaftlich-kulturellen Wandel seit den 1960er Jahren, München 2014, S. 27f.
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Ebenen nur schwer durchzuhalten ist, denn zwischen ihnen gab es massive Interdependenzen und Rückwirkungen. Zunächst geht es im vorliegenden Beitrag aber um eine historische Wertewandel-Analyse als Beobachtung erster Ordnung, nämlich um soziokulturelle Veränderungen und damit verbundene normative Auseinandersetzungen um das autoritär Sagbare in der Wirtschaft und Arbeitswelt seit Ende der 1960er Jahre. Auch diese Auseinandersetzungen waren von sozialwissenschaftlichen Beobachtungen beeinflusst. Aber das Reden und Schreiben über den „Wertewandel“ begann in der Bundesrepublik erst in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre und eine breite Konjunktur in der Wirtschaftspresse erlebte der Wertewandeldiskurs Mitte der 1980er Jahre – also nach dem „Wertewandelschub“ von 1965–1975. Hier stellt sich verstärkt die Frage nach den Interdependenzen von erster und zweiter Ordnung: Inwiefern beeinflusste die kommunikative Verbreitung der sozialwissenschaftlichen Forschung die soziokulturellen Veränderungen selbst? War das „Wertewandel“-Paradigma für die Unternehmer so plausibel, dass es auch in den Betrieben handlungsrelevant wurde? Wenn aber dieser „Wertewandel“ der Wirtschaftspresse, der Management-Lehren, des Personalmanagements und des Marketings vor allem ein Phänomen der 1980er Jahre war, gab es dann den „Wertewandelschub“ vor dem diskursiven „Wertewandel“? Die hier vorgestellten Annäherungen an diese Fragen gehen davon aus, dass eine historische Wertewandelforschung ohne Medien- und Konsumgeschichte nicht recht zu schreiben ist. Im Zentrum dieses Aufsatzes steht daher eine historische Analyse der bundesdeutschen Wirtschaftspresse und er versteht sich so als ein Beitrag zur Geschichte des Wirtschaftsjournalismus und vor allem zur Historisierung des Wertewandeldiskurses in den 1970er und 1980er Jahren12 . Der Artikel ist in fünf Abschnitte gegliedert. Nach dieser Einleitung werden zweitens einige wichtige Veränderungen in der Wirtschaftspresse seit den 1960er Jahren dargestellt. Anschließend wird drittens der Diskurs um neue Führungssemantiken in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren analysiert. Es folgt viertens eine Untersuchung des Zusammenhangs von Wertewandeldiskurs und Wirtschaftspraxis in den frühen 1980er Jahren unter dem Stichwort „Gestaltung des Wertewandels“, bevor fünftens einige zusammenfassende und weiterführende Überlegungen den Artikel abschließen. 12
Die Geschichte der deutschen Wirtschaftspresse ist bisher weitgehend unerforscht. Neben einer Reihe von Handbuchartikeln existiert vor allem praxisorientierte Literatur. Vgl. Lutz Frühbrodt, Wirtschaftsjournalismus. Ein Handbuch für Ausbildung und Praxis, Berlin 2007; Ingeborg Hilgert/Heinz D. Stuckmann, Medien und Märkte, in: Stephan Ruß Mohl/Heinz D. Struckmann (Hrsg.), Wirtschaftsjournalismus. Ein Handbuch für Ausbildung und Praxis, München 1991, S. 14–41. Das Desiderat beklagte bereits vor 25 Jahren Jürgen Heinrich, Forschungsstand Wirtschaftsjournalismus im deutschsprachigen Raum, in: Siegfried Klaue (Hrsg.), Marktwirtschaft in der Medienberichterstattung. Wirtschaftsjournalismus und Journalistenausbildung, Düsseldorf u. a. 1991, S. 57–72.
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Veränderungen in der Wirtschaftspresse seit den 1960er Jahren Der Kommunikationswissenschaftler Peter Glotz schrieb in seinem medienkritischen Rundumschlag „Der missachtete Leser“ von 1969 über die Wirtschaftspresse: „Die Tageszeitungen haben bei der Aufgabe, eine moderne Wirtschaftsberichterstattung für den normalen Konsumenten zu machen, versagt.“13 Schon die Präsentation des Stoffes schrecke ab: „ein Sammelsurium von Kurznachrichten, Zahlen und Tabellen im Kleindruck. Auf jede Orientierungshilfe wird verzichtet. Kein Teil der Zeitung ist so starr, so wenig einladend gestaltet; nirgends finden sich so wenige Fotos, verständliche Graphiken und Zeichnungen.“14 Für die Tageszeitungen traf diese scharfe Analyse und Medienschelte wohl zu, weniger jedoch für den neuen Markt der Wirtschaftszeitschriften und Wirtschaftsmagazine, der sich seit den 1960er entwickelte und vor allem in den 1970er Jahren expandierte. Ein früher Pionier dieser Entwicklung ist das seit 1962 im Verlag Gruner & Jahr erscheinende Monatsmagazin Capital. Neu war hier die elitäre und exklusive Aufmachung, die sich schon in dem noblen Großformat und den großzügig gestalteten Seiten auf schwerem Kunstdruckpapier von der damaligen auf Zeitungspapier gedruckten Konkurrenz abhob. Das Magazin war ganz bewusst eleganter und unterhaltsamer als das börsentägliche Handelsblatt, das fotofreie Wochenblatt Der Volkswirt (Vorgänger der Wirtschaftswoche) und der dreimal wöchentlich publizierte, fachlichnüchterne Industriekurier. In Capital wurde der gesellschaftliche Aufstieg, die Karriere der Manager inszeniert, samt Modestrecken und Fotoreportagen über Sekretärinnen und Schreibtische bedeutender Unternehmer. Der Manager-Beruf wirkte hier glamourös und verheißungsvoll und das Magazin suggerierte, die nötigen Informationen für den Aufstieg bieten zu können: Man veröffentlichte erstmals Gehaltstabellen von Managern und gab Karriere- und Anlagetipps15 . Gründe für diese Entwicklung waren auch die zunehmende Bedeutung der Kapitalmärkte, die relative Aufwertung von Aktienanlagen auch für Kleinanleger und der damit angestiegene Informationsbedarf16 . Ein intellektuelleres Forum für soziale Aspekte von Wirtschaft und Arbeit 13 14 15
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Peter Glotz/Wolfgang R. Langenbucher, Der mißachtete Leser. Zur Kritik der deutschen Presse, Köln 1969, S. 66. Ebd., S. 68. Walter Hömberg, Zur Geschichte des Wirtschaftsjournalismus, in: Stephan Ruß Mohl/ Heinz D. Struckmann (Hrsg.), Wirtschaftsjournalismus. Ein Handbuch für Ausbildung und Praxis, München 1991, S. 231–235, hier S. 235. Volker Wolff, ‚Finanzjournalismus‘, in: Gabriele Reckinger/Volker Wolff (Hrsg.), Finanzjournalismus, Konstanz 2011, S. 168–175, hier S. 170.
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stellten in den 1960er Jahren Fachzeitschriften wie Junge Wirtschaft und Führungspraxis dar. Wichtige Themen waren hier „Führungskräftenachwuchs“, die Akademisierung und Professionalisierung der Ausbildung und insbesondere Grundsätze des modernen Managements. Vorsichtig interessierte man sich in diesen Zeitschriften für neue Führungsstile wie Unternehmensspiele oder Teamarbeit17 . Mit der Akademisierung des Führungskräftenachwuchses rüttelte man hier an der immer noch verbreiteten Vorstellung, dass „Führung“ eine angeborene Eigenschaft ist und sich nicht erlernen lässt. Das Interesse für neue Führungsstile verstärkte sich zum Ende der 1960er Jahre, als sich weitere Wirtschaftszeitschriften und Magazine auf den Markt drängten, die auch inhaltlich neue Schwerpunkte setzten. Insbesondere Fragen von Führung und Management wurden nicht nur als unternehmensrelevant, sondern auch als gesellschaftlich bedeutsam erkannt und diskutiert. Der sozioökonomische Hintergrund für diese Entwicklung war das beginnende Nachdenken darüber, woher in einer „post-industriellen Gesellschaft“ das wirtschaftliche Wachstum kommen sollte. US-amerikanische Zukunftsforscher wie Daniel Bell oder Herman Kahn waren hierfür die entscheidenden Stichwortgeber18 . Der Entwicklung von Technologie und Forschung wurde eine Schlüsselrolle zugesprochen und die deutsche Debatte zum Ende der 1960er Jahre drehte sich entsprechend zunächst um die „technische Lücke“ zu den USA, dann aber auch um das „educational gap“ und das „motivation gap“, vor allem aber um das „management gap“ – also eine als defizitär wahrgenommene Lücke zwischen der Bundesrepublik und den USA bezüglich der Modernität von Managementund Führungsmethoden19 . Die „Gapologie“20 erfasste auch die deutsche Politik. Im Februar 1968 wurde etwa im deutschen Bundestag in einer Debatte zu den Schwerpunktaufgaben in Wissenschaft und Forschung auch von der SPD gefor-
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Können Unternehmungsspiele dazu beitragen, aus Spezialisten Führungskräfte zu machen?, in: Führungspraxis, April 1963, S. 3–8; Wolfang Schelle, Wie sollte Teamarbeit organisiert werden, in: Führungspraxis, Juni 1963, S. 8–12. Vgl. Elke Seefried, Zukünfte. Aufstieg und Krise der Zukunftsforschung 1945–1980, München 2015, S. 96–125. Vgl. etwa Jean-Jaques Servan-Schreiber, Die amerikanische Herausforderung, Hamburg 1968; Manfred P. Wahl, Die technische Lücke, in: Die Zeit, 28.11.1969; Das ‚Management-Gap‘ überbrücken, in: Blick durch die Wirtschaft, 28.3.1970; Unternehmerische Entscheidungen: ein Beitrag zur Untersuchung des „Management gap“, 2 Vorträge mit Diskussionsbeiträgen veranstaltet von der Europa-Union Deutschland, Landesverband Baden-Württemberg, der Industrie- und Handelskammern von Mannheim u. Ludwigshafen am 12. März 1969 in Mannheim, Köln 1969; Willy Linder, „Management gap“ – Schlagwort oder Realität?: Bemerkungen zu einem neuen Forschungsgegenstand, in: Betriebswirtschaftliche Probleme 4 (1969), S. 103–106. Wissenschaftliche Unternehmensführung – nur ein Schlagwort?, in: Der Volkswirt, 25.9.1970, S. 55–57, hier S. 55.
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dert, die Ausbildung und Schulung des Managements der privaten Wirtschaft zu verbessern und zu intensivieren21 . Eine direkte Antwort auf das „management gap“ sollte die 1967 entstandene Zeitschrift Plus. Zeitschrift für Unternehmensführung darstellen, die im Handelsblatt-Verlag erschienen war22 . „Diese Lücke zu schließen, war der Gründungsauftrag von PLUS“ hieß es resümierend in der letzten Ausgabe der Zeitschrift23 . Herausgeber der Zeitschrift waren Handelsblatt-Gründer Friedrich Vogel und der Verleger Erwin Barth von Wehrenalp, Gründer des Düsseldorfer Sachbuchverlags Econ. Managementmethoden und neue Führungsstile sollten hier besprochen werden, denn nicht zuletzt die Wirtschaftskrise von 1966/67 mache deutlich – so von Wehrenalp: „frei nach Schnauze geht es nicht mehr.“24 Gleichzeitig war die Zeitschrift Ausdruck einer aktiveren Medienpolitik der Unternehmer, was sich vor allem an dem illustren Herausgeberbeirat zeigte. In diesem saßen u. a. Arbeitgeber-Präsident Siegfried Balke, der Aldi-Gründer Karl Albrecht, der Industrielle und Politiker Ernst-Wolf Mommsen, der Vorstandsvorsitzende des Otto-Versands Günter Nawrath und ab 1971 der gerade in den Vorstand der Deutschen Bank berufene Alfred Herrhausen25 . Typisch für das Heft war eine betont praxisnahe Diskussion von Managementlehren und Führungskonzepten. Insbesondere Aus- und Weiterbildungssysteme für Führungskräfte, die Professionalisierung von Management und der verstärkte Einsatz von wissenschaftlichen Techniken waren daher wichtige Themen. Im Hinblick auf seine Leserschaft verstand sich das Magazin durchaus exklusiv: „PLUS gibt auch denen eine Chance, Manager und Chefs zu werden, die es noch nicht sind (und deswegen ein anderes Blatt nicht beziehen dürfen).“ Aber: „Es ist nicht unser Ehrgeiz, Hunderttausende zu erreichen. Wir sind mit der wachsenden Kerngruppe des Management zufrieden.“, hieß es in einer internen Leser-Analyse26 . Gerade mit der exklusiven Leserschaft wollte man sich im Anzeigengeschäft positionieren und warb um Werbekunden mit Lesern, die zu 43 % der Geschäftsleitung und zu 46 % dem Mittel-Management angehörten – also „aufgeschlossene Männer mit hohem Bildungsniveau“ und „Spitzenverdiener, die zu wählen verstehen.“27 Tatsächlich hatte Plus 1973 eine Auflage von 15.000. Die zentrale Herausforderung für Plus stellte in den siebziger Jahren das 21 22
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Verhandlungen des Deutschen Bundestags, 5. Wahlperiode, 152. Sitzung, 7.2.1968, S. 7834f. Damit verbunden war die Übernahme der Zeitschrift „Führungspraxis. Modernes Management.“ durch PLUS mit Wirkung vom 1.7.1967. Vgl. „Plus“ erhält Zuwachs, FAZ, 4.8.1967. In eigener Sache, in: Plus. Zeitschrift für Führungspraxis, September 1974, S. 3. „Plus“. Pfeil nach oben, in: Der Spiegel, 16.1.1967. Vgl. Protokoll der Sitzung des Herausgeberbeirats Plus vom 27.1.1971, Büro Herrhausen V30/0200, Historisches Archiv Deutsche Bank. Plus-Leseranalyse 1971, Büro Herrhausen V30/0200, Historisches Archiv Deutsche Bank. Ebd.
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Manager Magazin dar, das seit 1971 im Spiegel-Verlag erschien und durch Erscheinungsbild und Machart für viel Aufmerksamkeit sorgte. Obwohl man sich dem Manager Magazin nicht anpassen wollte, war dieses in den frühen siebziger Jahren die große Konkurrenz vor allem im Anzeigengeschäft. Zwar gab man sich bei Plus zunächst noch optimistisch: „Wir werden die Chance, besser zu sein, gründlich nutzen. Profil und Rang unserer Zeitschrift werden jetzt noch deutlicher. Vermutlich wird sich Herr Augstein mit dieser Gründung was in die Tasche lügen“28 . Aber Alfred Herrhausen hatte früh und richtig erkannt: „Trotz des insgesamt negativen Gesamteindruckes des neuen Spiegel-Objektes befürchte auch ich, dass Plus insbesondere auf dem Anzeigensektor eine nicht zu unterschätzende, starke geschäftliche Konkurrenz erwachsen dürfte.“29 Und der Chefredakteur von Plus Werner Siegert konstatierte: „Die zahlenmäßige, redaktionelle Kapazität, zusammen mit der geballten Vertriebsmacht des SpiegelVerlages dürfe nicht bagatellisiert werden. Alles deute darauf hin, dass man in Hamburg die Konzeption von Plus übernehmen wird.“30 Als das Manager Magazin 1971 auf den Markt kam, wurde es von vielen als Provokation empfunden. Nicht nur weil der „linke“ Rudolf Augstein „überwiegend rechts orientierte Manager“ umwerben wollte, wie die Wochenzeitung Die Zeit süffisant konstatierte31 , sondern auch wegen des unorthodoxen Erscheinungsbildes, das beim kleingedruckten Titel begann und bei den vielen Graphiken, Fotos und Illustrationen endete. „Geschmackloser Spät-Pop“, kritisierte die Zeitung Die Welt. Die Bebilderung sei so „verworren wie der ganze anglisierte Manager-Style, der da praktiziert wird.“32 Tatsächlich hatte man gleich in der ersten Ausgabe des Magazins programmatisch den „zeitgemäßen“, „sachlichen“ und von „Deutschtümelei“ freien Begriff des „Managers“ an die Stelle der „Führungskraft“ gerückt. Denn dieses „aufgedonnerte Wortgebilde“ sei ein „Euphemismus für einen Herrschaftsanspruch von Kraftmenschen, die es nicht wirklich gibt“33 . Insgesamt war das Manager Magazin relativ erfolgreich: 1973 hatte es eine garantiert verbreitete Auflage von 60.000 Exemplaren34 und obwohl das Magazin in den frühen 1980er Jahren kurz vor dem Verkauf stand, ist es von allen 28 29 30 31 32 33 34
Zundler an die Mitglieder des Plus. Herausgeberbeirats, 11.11.1971, Büro Herrhausen V30/0200, Historisches Archiv Deutsche Bank. Herrhausen an Zundler, 24.11.1971, Büro Herrhausen V30/0200, Historisches Archiv Deutsche Bank. Protokoll der Sitzung des Herausgeberbeirats Plus vom 19.10.1971, Büro Herrhausen V30/0200, Historisches Archiv Deutsche Bank. Die Zeit, 29.10.1971. Missmanagement im Manager Magazin, Die Welt, 7.11.1971. Briefing, in: Manager Magazin, 11/1971. Becker, Hausmitteilung an Brawand und Ziller, 16.3.1973, Nachlass Leo Brawand, SpiegelArchiv Hamburg.
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Versuchen Rudolf Augsteins zur Übernahme oder Neugründung von Zeitungen und Zeitschriften der einzig dauerhaft gelungene35 . Die Intention der Macher war es, eine verständliche und anschauliche Wirtschaftsberichterstattung mit vielen Fallbeispielen aus der betrieblichen Praxis zu etablieren. Damit folgte man einem internationalen Trend zu publikumsnahen Management-Magazinen nach dem Vorbild von Forbes, Fortune und Business Week36 . Übergeordnetes Ziel war es, wissenschaftlich-sachlich gegen die Vorstellung von „Führungskraft“ als einer angeborenen und magischen Fähigkeit anzuschreiben37 . Dabei kritisierte in den Anfangsjahren ausgerechnet Hans Detlev Becker, der Direktor des Spiegel-Verlags und Geschäftsführer des Manager Magazin-Verlags, den Stil als unsachlichen „SPIEGEL-Jargon.“38 Zentrales Anliegen war es, die Zielgruppe der Manager richtig zu verstehen. Zu diesem Zweck trafen sich Verantwortliche des Magazins mit Experten wie dem Psychologie-Professor und Direktor des Berliner SIGMA-Instituts für angewandte Psychologie und Marktforschung Otto Walter Haseloff oder dem Kölner Soziologen Erwin Scheuch. In diesen Beratungsgesprächen und in den frühen Strategiepapieren wird deutlich, wie sehr man die Zielgruppe der Führungskräfte als politisch konservativ und nicht ausreichend gebildet ansah. „Die Furcht des Managers vor Innovationen soll abgebaut werden. Da es sich um eine Zielgruppe handelt, die in ihrer Altersstruktur über der von Capital steht, sind Didaktik und Form von Informationsaufbereitung von grösster Wichtigkeit.“39 Das Manager Magazin war auf „leitende und verantwortliche Persönlichkeiten der Wirtschaft“ zugeschnitten, eindeutig marktwirtschaftlich und dezidiert gewerkschaftskritisch. Gleichzeitig sollten, so Becker in einer Notiz für Chefredakteur Leo Brawand, „generationsbedingte gesellschaftliche Probleme in der Marktwirtschaft“ diskutiert werden. Das Magazin sollte daher auch der Kritik an der dialogfeindlichen Haltung der Unternehmer dienen. Die Unternehmer sollten „mit den nichtmarxistischen Kritikern der Markwirtschaft in Dialog“ treten und deren „grundsätzlich tolerante Einstellung zur freien Wirtschaft, bei Kritik an der Handhabung im Einzelnen zum Bündnis für das System der Markt-
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Peter Merseburger, Rudolf Augstein. Biographie, München 2007, S. 307. Business Week gehörte (bis 2009) dem amerikanischen Verlagsgiganten McGraw-Hill, der bis 1973 zu 49 % an dem Manager Magazin beteiligt war. Weitere Joint-Venture Gründungen von McGraw-Hill waren in Frankreich L’Expansion und Le Management, in Italien Espansione und in Japan Nikkei Business und Nikkei Electronics. Briefing, in: Manager Magazin, 11/1971. Becker, Notiz für Herrn Brawand, 27.2.1972, Nachlass Leo Brawand, Spiegel-Archiv Hamburg. Protokoll des Gesprächs mit Prof. Dr. Haseloff, Berlin 19.6.1971, S. 2, Nachlass Leo Brawand, Spiegel-Archiv Hamburg.
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wirtschaft“ gewinnen40 . Die Diskussion von neuen Management-Prinzipien und vor allem der Rolle des Marketings sei wichtig, denn man befinde sich „auf dem Weg von der Industriegesellschaft zur Gesellschaftsindustrie.“41 Es war nur folgerichtig, dass das Manager Magazin sich für sozialwissenschaftliche Untersuchungen öffnete und es zu einer verstärkten Zusammenarbeit mit Marketingund Demoskopie-Instituten kam. In den 1970er Jahren findet sich beispielsweise praktisch kaum eine Ausgabe des Magazins ohne neue Umfrage-Ergebnisse – insbesondere zu Gehältern und Autos, Zufriedenheit und Einstellungen von Führungskräften. Marketingforschung und Demoskopie wurden nicht nur als für die Wirtschaft der Zukunft bedeutsam prognostiziert, sondern vor allem schon selbst praktiziert. An der Vermessung des Sozialen und seiner Popularisierung war das Magazin entsprechend nicht unwesentlich beteiligt, indem es Management und Manager-Wissen selbst zur Ware machte. Dabei kämpfte das Manager Magazin in den 1970er Jahren mit der restlichen Wirtschaftspresse um einen größer gewordenen, aber sehr kompetitiven Markt. Eine vergrößerte potentielle Leserschaft hatte sich durch den starken Anstieg der Leitenden Angestellten seit dem Ende der 1960er Jahren ergeben. Aufgrund von Bildungsexpansion, Diversifikation, Tertiarisierung und divisionalen Unternehmensstrukturen war diese Gruppe seit Ende der 1960er Jahre massiv angewachsen. Die Leitenden Angestellten wurden als „neue Klasse“ debattiert und ihre Interessen, ihre Forderungen nach Anerkennung und Mitbestimmung galt es zu artikulieren – insbesondere und gerade in den neuen Magazinen42 . Dazu gehörte auch ein speziell auf „die ganz persönlichen Aufgaben und Sorgen von Personen mit Führungsverantwortung“ zugeschnittener Service-Teil, so der Chefredakteur von Plus in einem Brief an Alfred Herrhausen. Dieser Teil sollte den spezifischen Problemen aus der Lebenswelt der Manager dienen, also „ihrer Vertragsgestaltung, Steuerfragen, ihrer Weiterbildung, der Ausbildung ihrer Kinder, Freizeit, Gesundheit, Lektüre.“43 Wichtiger Teil dieser Lebenswelt der Manager waren auch Luxuskonsumartikel und Statussymbole wie Sportwagen, Limousinen, teure Alkoholika, Zigarren, Stereoanlagen, Uhren, Herrenschuhe, Anzüge, Whirlpools, Yachten etc., die in 40 41 42
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Becker, Notiz für Herrn Brawand, 12.1.1972, Nachlass Leo Brawand, Spiegel-Archiv Hamburg. Protokoll des Gesprächs mit Prof. Dr. Haseloff, Berlin 19.6.1971, S. 1, Nachlass Leo Brawand, Spiegel-Archiv Hamburg. Vgl. Bernhard Dietz, Wertewandel in der Wirtschaft? Die leitenden Angestellten und die Konflikte um Mitbestimmung und Führungsstil in den siebziger Jahren, in: Bernhard Dietz/Christopher Neumaier/Andreas Rödder (Hrsg.), Gab es den Wertewandel? Neue Forschungen zum gesellschaftlich-kulturellen Wandel seit den 1960er Jahren, München 2014, S. 169–197. Werner Siegert an Alfred Herrhausen, 28.11.1972, Büro Herrhausen V30/0200, Historisches Archiv Deutsche Bank.
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farbigen Hochglanzanzeigen in Wirtschaftswoche, Plus, Manager Magazin und Capital angepriesen wurden. Diese wechselten sich ab mit trocken-seriöser Werbung für Geldanlagen, Versicherungen, Weiterbildungsangebote, Anti-StressKuren, Potenzarzneien und Textverarbeitungssystemen „für Ihre Sekretärin“. Der Werbeindustrie dienten die Zeitschriften als attraktive Werbeträger zur gezielten Ansprache gehobener Zielgruppen. Das Anzeigengeschäft mit der ausdifferenzierten Dienstleistungsbedarf- und Konsumwelt für Führungskräfte war wiederum für die Wirtschaftsmagazine von zentraler wirtschaftlicher Bedeutung und der Konjunktureinbruch von 1973/74 machte sich hier empfindlich bemerkbar. Im Falle von Plus sorgte der Rückgang der Anzeigennachfrage insbesondere aufgrund der Konkurrenz durch das Manager Magazin dafür, dass der Titel im Herbst 1974 eingestellt werden musste und in der Wirtschaftswoche aufging44 . Gleichzeitig gaben die Wirtschaftsmagazine in speziellen Ratgeber-Artikeln dem aufstiegsorientierten Jungmanager Orientierungshilfe in der Welt der Statussymbole. „Entscheidend ist der feine Unterschied“ wusste man in einem Spezialheft der Wirtschaftswoche zu Manager-Symbolen schon vier Jahre vor Pierre Bourdieus berühmtem Klassiker zu sozial-kulturellen Abgrenzungsmechanismen von 197945 . Karrierebewusste Manager müssten „durch Äußerlichkeiten ihr Besser-Sein dokumentieren.“ Ob Auto, Kleidung, Wohnort, Hobbies, Wahl der Speisen und Getränke – es galt, die „Hierarchie der Status-Symbole“ zu beachten46 . Und auch bei Capital wusste man: „Immer gewichtiger und vielfältiger wird das Arsenal der Rangabzeichen, je höher ein deutscher Karrieremacher in der Firmenpyramide klettert.“47 Zu den Statussymbolen gehörte auch die richtige und repräsentative Ehefrau, die wissen müsse, dass ihr Mann in erster Linie mit dem Betrieb und dann erst mir ihr verheiratet sei. Daher war klar: „Alice Schwarzer-Fans scheiden als Manager-Gattinnen aus.“48 Die alpha-männliche Codierung des Managers und die Propagierung von Konsum zur sozialen Distinktion waren typisch für die Wirtschaftsmagazine der 1970er Jahre. Die Manager wurden hier in doppelter Hinsicht mit Marketing konfrontiert: zum einen wurde es ihnen als unverzichtbare Management- und Verkaufstechnik für den eigenen Betrieb empfohlen. Zum anderen waren sie selbst Gegenstand des Marketings als spezielle Konsumenten in einer zunehmend 44
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Dies erklärte der Marketing-Pionier und Geschäftsführer des Handelsblatt-Verlages, Wilhelm Zundler, in einem Brief an Alfred Herrhausen. Vgl. Wilhelm Zundler an Alfred Herrhausen, 5.7.1974, Büro Herrhausen V30/0200, Historisches Archiv Deutsche Bank. Manager-Symbole. Der Kult der Karriere, in: Wirtschaftswoche, 5.12.1975, S. 45–60; Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a. M. 1982 (original: La distinction. Critique sociale du jugement, Paris 1979). Manager-Symbole. Der Kult der Karriere, in: Wirtschaftswoche, 5.12.1975, S. 47, 50. Schlüssel für Anzug, Klo und Kasse, in: Capital 6/1972, S. 148–154, hier S. 148. Manager-Symbole. Der Kult der Karriere, in: Wirtschaftswoche, 5.12.1975, S. 47. Vgl. auch Manager-Ehe: Konflikt mit der Karriere, in: Manager Magazin 7/1972, S. 92–95.
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segmentierten Produktwelt. Der Aufstieg des Marketings und die Ausdifferenzierung der deutschen Wirtschaftspresse fallen dabei zeitlich zusammen. Zwar war Werbung in der Wirtschaftspraxis seit Jahrzehnten verbreitet, doch als verhaltenswissenschaftlich fundiertes Management-Konzept wurde Marketing erst zum Ende der 1960er Jahre in der Wirtschaftswissenschaft eingeführt und erst 1969 wurde der erste Marketing-Lehrstuhl in Münster eingerichtet49 . Die Verwissenschaftlichung des Marketings durch Einbezug von Elementen der Soziologie und Psychologie in einer zunehmend nachfrageorientierten Wirtschaft und ein verstärktes Interesse für die sozialen Bedingungen und Auswirkungen von Wirtschaft kamen in den Wirtschaftsmagazinen der 1970er Jahre zusammen.
Neue Führungssemantiken in den frühen 1970er Jahren Das zentrale Thema der Wirtschaftspresse war seit Ende der 1960er Jahre die Frage nach dem richtigen Führungsstil. Dies war einerseits der Autoritätskritik im Zuge von „1968“50 und der nach mehr „Wirtschaftsdemokratie“ strebenden sozial-liberalen Regierung unter Willy Brandt geschuldet. Im gesellschaftlichen Reformklima der späten 1960er und frühen 1970er Jahre galten hierarchische Ordnungsmodelle und autoritäre Führungsstile nach militärischem Vorbild als antiquiert und kreativitätshemmend. Untermauert wurde diese Kritik am alten Produktionsregime durch sozialwissenschaftliche Arbeiten. Insbesondere die soziologischen Untersuchungen des kritischen Unternehmensforschers Heinz Hartmann51 und der Adorno-Schülerin Helge Pross52 galten als einschlägig und 49
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Peter Borscheid, Agenten des Konsums: Werbung und Marketing, in: Heinz-Gerhard Haupt (Hrsg.), Die Konsumgesellschaft in Deutschland 1890–1990. Ein Handbuch, Frankfurt 2009, S. 79–96, hier S. 92–95; Ingo Köhler, Marketing als Krisenstrategie. Die deutsche Automobilindustrie und die Herausforderungen der 1970er Jahre, in: Hartmut Berghoff (Hrsg.), Marketinggeschichte. Die Genese einer modernen Sozialtechnik, Frankfurt a.M. u. New York 2007, S. 259–295. Werner Plumpe, 1968 und die deutschen Unternehmen. Zur Markierung eines Forschungsfeldes, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 49 (2004), S. 44–65; Christian Kleinschmidt, Das „1968“ der Manager: Fremdwahrnehmung und Selbstreflexion einer sozialen Elite in den 1960er Jahren, in: Jan-Otmar Hesse u. a. (Hrsg.), Kulturalismus, Neue Institutionenökonomik oder Theorievielfalt. Eine Zwischenbilanz der Unternehmensgeschichte, Essen 2002, S. 19–29. Vgl. auch Stephan Malinowski/Alexander Sedlmaier, „1968“ als Katalysator der Konsumgesellschaft. Performative Regelverstöße, kommerzielle Adaptionen und ihre gegenseitige Durchdringung, in: Geschichte und Gesellschaft 32 (2006), S. 238–267. Heinz Hartmann, Der deutsche Unternehmer, Autorität und Organisation (Aus d. Amerikanischen von Meino Büning), Frankfurt a.M. 1968. Helge Pross, Manager und Aktionäre in Deutschland: Untersuchungen zum Verhältnis von Eigentum und Verfügungsmacht, Frankfurt 1965; dies./Karl W. Boetticher, Manager des Kapitalismus: Untersuchung über leitende Angestellte in Großunternehmen, Frankfurt 1971.
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fanden Eingang in die Wirtschaftsmagazine53 . In einem Aufsatz für das Manager Magazin warnte Pross im Dezember 1971 die Unternehmer, dass gerade die akademisch gebildeten höheren Angestellten die anti-autoritäre Kritik in die Unternehmen bringen würden. Die Manager sollten sich daher besser auf die Auseinandersetzungen vorbereiten, indem sie aktiv und ernsthaft die Kommunikation mit den Kritikern suchen sollten – mit bloßer Propaganda könne man der intellektuell versierten Opposition nicht beikommen54 . Tatsächlich ließen sich die westdeutschen Wirtschaftsführer in teuren Management-Seminaren und Dialektik-Übungsseminaren für die Auseinandersetzung mit ihren Kritikern „ideologisch aufrüsten“55 . Die Diskussion um den richtigen Führungsstil lässt sich aber nicht nur als Interaktion von linker bzw. akademischer Gegenkultur und wirtschaftlichem Establishment beschreiben56 , denn sie war andererseits maßgeblich auch dem wirtschaftlichen Strukturwandel geschuldet. Eine neue und zunehmende Komplexität von Führungsaufgaben ergab sich allein aus der wachsenden Größe der Unternehmen. Die divisionalen Unternehmensstrukturen und die größer gewordene Bedeutung mittlerer Führungsebenen in Großunternehmen brachten die Frage nach der Delegation von Entscheidungsvollmachten unter dem Gesichtspunkt von Effizienzlogiken notwendigerweise mit sich. In der komplexer gewordenen Unternehmenswelt war ein erhöhter Bedarf an wissenschaftlich fundiertem Wissen entstanden, was sich vor allem in der zunehmenden Bedeutung der externen Unternehmensberater und der Professionalisierung der Ausund Weiterbildung der Manager zeigte57 . Das alte Produktionsregime war somit zum Ende der 1960er Jahre in einer Legitimations- und Funktionskrise. Spezifische Unternehmenswerte und -strukturen waren unter Druck. Das lautstarke Aufbegehren der Leitenden Angestellten Ende der 1960er Jahre und ihre Forderungen nach Mitbestimmung zu Beginn der 1970er Jahre sind ein deutliches Zeichen dafür58 . Zusätzlich verstärkt 53
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Das stellte auch der Soziologe Erwin Scheuch in einem Beratungsgespräch für das Manager Magazin fest. Vgl. Protokoll des Gesprächs mit Professor E. Scheuch – Hergenröder, Stephan am 2.7.1971, S. 3, Nachlass Leo Brawand, Spiegel-Archiv. Helge Pross, Kritik am Management. Der autoritäre Frieden geht zu Ende, in: Manager Magazin 12/1971, S. 122–126. Haut die Linken. Manager Polit-Unterricht, in: Capital 10/1972, S. 26–30, hier S. 26. Stephan Malinowski und Alexander Sedlmaier, „1968“ als Katalysator der Konsumgesellschaft. Performative Regelverstöße, kommerzielle Adaptionen und ihre gegenseitige Durchdringung, in: Geschichte und Gesellschaft 32 (2006), S. 238–267, hier S. 262. Christian Marx, Die Manager und McKinsey. Der Aufstieg externer Beratung und die Vermarktlichung des Unternehmens am Beispiel Glanzstoff, in: Morten Reitmeyer/Thomas Schlemmer (Hrsg.), Die Anfänge der Gegenwart. Umbrüche in Westeuropa nach dem Boom, München 2014, S. 65–77; Vgl. auch Friederike Sattlers Beitrag in diesem Band. Bernhard Dietz, Wertewandel in der Wirtschaft? Die leitenden Angestellten und die Konflikte um Mitbestimmung und Führungsstil in den siebziger Jahren, in: Bernhard Dietz/ Christopher Neumaier/Andreas Rödder (Hrsg.), Gab es den Wertewandel? Neue For-
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wurde diese doppelte Umbruchskrise durch einen tatsächlichen und noch stärker wahrgenommen Generationswechsel in der Führung der Unternehmen. „In den letzten beiden Jahren wurden relativ mehr deutsche Spitzenmanager abgelöst als in zwanzig Jahren zuvor“ konstatierte man im Manager Magazin im Januar 197259 . Verifizieren lässt sich das beispielsweise für die westdeutsche ChemieIndustrie: In den drei großen Konzernen Hoechst, BASF und Bayer kam es im Vorstand innerhalb weniger Jahre zu einem deutlichen Generationswechsel. Der Übergang vom Vorkriegs- zum Nachkriegsmanagement wurde hier zwischen 1965 und 1975 vollzogen60 . In einer zunehmend rechtfertigungs- und publikationspflichtigen Gesellschaft konnten die Unternehmen sich nicht mehr abschotten. In der Folge der Reform des Aktienrechts von 1965 und des Publizitätsgesetzes von 1969 begannen die Unternehmen – wenn auch zögerlich –, Einblick in ihr Innenleben zu gewähren und vereinzelt Presseabteilungen aufzubauen61 . Daher ist das Engagement von Unternehmern in der Wirtschaftspresse – wie beispielsweise bei Plus – auch als Ausdruck einer neuen Medienpolitik der deutschen Wirtschaft zu verstehen. Wie Werner Kurzlechner herausgearbeitet hat, kam es spätestens in Reaktion auf die gesellschaftlichen Veränderungen zu einem signifikanten Wandel in der öffentlichen Selbstdarstellung der Unternehmer und ihrer medialen Wahrnehmung zwischen 1965 und 1975. Eine „Semantik der Klage“ war einer selbstkritischen offensiven Medienpolitik gewichen62 . Symptomatisch hierfür ist eine siebzigseitige Sonderpublikation von Handelsblatt und Plus aus dem November 1970, in der rund sechzig Beiträge sich mit dem gesellschaftlichen Wandel und den daraus resultierenden Folgen für Arbeit, Leistung und Führung auseinandersetzten63 . Die Auswahl der Autoren war bewusst breit angelegt und reichte vom McKinsey-Manager bis hin zum SDS-Mitglied als Vertreter der „Neuen Linken“. Die aufwendige Sonderbeilage war nicht nur für die Handelsblatt- und Plus-Leser gedacht, sondern wurde zu-
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schungen zum gesellschaftlich-kulturellen Wandel seit den 1960er Jahren, München 2014, S. 169–197. Welche Eigenschaften braucht der Manager von morgen, in: Manager Magazin 1/1972, S. 72–74, hier S. 72. Vgl. Christian Marx’ Beitrag in diesem Band. Publizität. Eine lästige Pflicht, in: Manager Magazin 4/1972, S. 48f. Werner Kurzlechner, Von der Semantik der Klage zu einer offensiven Medienpolitik. Selbstbild und Wahrnehmung westdeutscher Unternehmer 1965–1975, in: Morten Reitmayer/ Ruth Rosenberger (Hrsg.), Unternehmen am Ende des „goldenen Zeitalters“. Die 1970er Jahre in unternehmenshistorischer Perspektive, Essen 2008, S. 289–318. Vgl. auch Andrea Rehling, Die deutschen Wirtschaftseliten in der öffentlichen Wahrnehmung am Beispiel von „Spiegel“, „Stern“ und „Quick“, in: Akkumulation. Informationen des Arbeitskreises für kritische Unternehmensgeschichte 18 (2003), S. 1–14. Management im Aufbruch – Karrieren in die Zukunft. Eine Dokumentation von Handelsblatt und Plus, November 1970.
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sätzlich kostenfrei an 30.000 Studenten und junge Führungskräfte verteilt. Die Absicht einer kritisch-offensiven Medienpolitik und die Sorge um den akademischen Nachwuchs kamen in dieser „Vertrauenswerbung für die Berufe des Managements“64 zusammen. Ziel der Publikation sei es, die Jugend mit dem „Aufbruch des Managements“ in einer Zeit des gesellschaftlichen, organisatorischen und technologischen Wandels zu konfrontieren, so Plus-Chefredakteur Werner Siegert in einer Einführung. Dieser Wandel sei gekennzeichnet „durch die Auflösung der alten Auftrags- und Gehorsamsbeziehungen zwischen Vorgesetztem und Untergebenen, durch den Einsturz der hierarchischen Pyramiden, durch die wachsende Bedeutungslosigkeit der überkommenen Motivatoren Geld und Sicherheit, durch die Rufe nach Mitbestimmung und Mitverantwortung.“ Dem gesellschaftlichen Wandel müssten die Wirtschaftsführer Rechnung tragen. Siegert schlussfolgerte: „Der neue Mensch setzt neue Manager voraus. Führen heißt nicht länger kommandieren und kontrollieren, führen heißt Bedingungen schaffen, in denen die Mitarbeiter ihre Kräfte und ihre Kreativität optimal entfalten können.“65 Damit hatte Siegert auch die Leitlinie für seine Zeitschrift Plus formuliert. „Autoritäre Führungsmethoden sind nicht mehr ‚in‘. Führungskräfte jeder Couleur lassen sich auf kooperativ trimmen“66 , bilanzierte man hier 1972 und stellte tabellarisch die Vorteile und Gefahren von kooperativer und autoritärer Führung einander gegenüber. Dabei überwogen die Vorteile kooperativer Führung gegenüber denen autoritärer bei weitem67 . Kritisiert wurde aber nicht nur autoritärpatriarchalische Führung, sondern auch formalisierte bürokratische Hierarchie, denn auch diese hemme die Kreativität der Mitarbeiter: „Innovationen entstehen selten durch zufällige Erfindungen eines einzelnen, häufiger durch systematische Kooperation von mehreren Personen in einer die Kreativität fördernden Atmosphäre. Das Zustandekommen von kreativen Situationen aber wird in der Hierarchie behindert.“68 Von entscheidender Bedeutung für einen guten Führungsstil seien jedoch die psychologischen Fähigkeiten des „neuen Managers“, um die „kreativen Möglichkeiten und Bedürfnisse“ seiner Mitarbeiter zu erkennen und zu stimulieren69 . Auch in der Zeitschrift Capital wusste
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Werner Siegert, Warum?, in: Management im Aufbruch – Karrieren in die Zukunft. Eine Dokumentation von Handelsblatt und Plus, November 1970, S. 3. Ebd. Gerald Knabe, Wann autoritär führen?, in: Plus. Zeitschrift für Unternehmensführung 11/1972, S. 31–33. Ebd. Peter Bendixen/Eckhard Miketta, Können wir uns Hierarchie noch leisten, in: Plus. Zeitschrift für Unternehmensführung 3/1974, S. 26–31. Rudolf Affemann, Psychologie: Pflichtfach für Manager, in: Plus. Zeitschrift für Unternehmensführung 9/1972, S. 73–75.
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man: „Der Führer ist tot.“70 Selbst beim konservativen Bundesverband der Deutschen Industrie wurde Anfang der 1970er Jahre die Notwendigkeit erkannt, „zukunftsbezogene Führungsstile“ mit motivierender Wirkung zu entwickeln. Bei der Jahrestagung des BDI im Juni 1971 kam man im Arbeitskreis „Neue Wege unternehmerischer Führungspolitik“ – in dem auch ein Plus-Redakteur mitwirkte – zu dem Ergebnis: „Die Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit durch den Aufbau moderner Führungssysteme bildet ein Kardinalproblem der deutschen Industriewirtschaft.“71 Noch deutlicher als in Plus wurden im Manager Magazin kooperative Führungsstile propagiert. Exemplarisch lässt sich das an der Auseinandersetzung mit dem sogenannten „Harzburger Modell“ ablesen. In der 1956 gegründeten Akademie für Führungskräfte der Wirtschaft in Bad Harzburg wurden bis 1971 mehrere hunderttausend deutsche Manager nach diesem Führungsmodell geschult72 . Im Mittelpunkt des „Harzburger Modells“ steht das Prinzip der Delegation von Aufgaben, Kompetenzen und Verantwortung, die in Stellenbeschreibungen formal definiert werden. Im Manager Magazin wurde das Harzburger Modell Anfang der 1970er Jahre entschieden kritisiert. Dabei bediente man sich sowohl der zeitgenössischen Kritik der Sozialwissenschaften als auch der Kritik aus den Unternehmen: Das Modell gebe lediglich vor, demokratisch zu sein, unterdrücke durch seinen bürokratischen Formalismus aber in Wahrheit Kreativität und Spontaneität73 . Im Harzburger Modell seien Partizipationsgrad und Selbstentfaltungsmöglichkeiten der Mitarbeiter gering und letztlich werde lediglich der „patriarchalisch-autoritäre“ Führungsstil durch einen „bürokratisch-autoritären“ Führungsstil ersetzt74 . Auch im Universitätsseminar der Wirtschaft – der im Frühjahr 1968 ins Leben gerufenen Weiterbildungseinrichtung für wirtschaftli70 71
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Der Führer ist tot. Anti-Autoritätstraining, in: Capital 9/1971, S. 107–110. Ergebnis der Aussprache im Arbeitskreis V „Neue Wege unternehmerischer Führungspolitik – Eine Herausforderung für das Management“. Jahrestagung des BDI, 14.6.1971 in Düsseldorf, BDI-Archiv, PI 126, Karton 672. Vgl. Adelheid von Saldern, Das „Harzburger Modell“. Ein Ordnungssystem für bundesrepublikanische Unternehmen, 1960–1975, in: Thomas Etzemüller (Hrsg.), Die Ordnung der Moderne. Social Engineering im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2009, S. 303–329; dies., Bürgerliche Werte für Führungskräfte und Mitarbeiter in Unternehmen. Das Harzburger Modell, 1960–1975, in: Gunilla Budde/Eckart Conze/Cornelia Rauh (Hrsg.), Bürgertum nach dem bürgerlichen Zeitalter. Leitbilder und Praxis seit 1945, Göttingen 2010, S. 165–184; Daniel C. Schmid, „Quo vadis, Homo harzburgensis?“ Aufstieg und Niedergang des „Harzburger Modells“, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 59/1 (2014), S. 73–98. Richard Guserl/Michael Hofmann, Das Harzburger Modell: Bürokratie statt Kooperation, in: Manager Magazin 2/1972, S. 60–65. Auf den Artikel folgte eine Gegendarstellung in der Zeitschrift Plus. Vgl. W. Glahe, Ist das Harzburger Modell verstaubt?, in: Plus. Zeitschrift für Unternehmensführung 4/1972, S. 43ff. Vgl. Richard Guserl/Michael Hofmann, ModellKritik: Kampf um Harzburg, in: Manager Magazin 7/1972, S. 52–55. Richard Guserl/Michael Hofmann, Das Harzburger Modell: Idee und Wirklichkeit und Alternative zum Harzburger Modell, Wiesbaden 1976, S. 51.
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che Führungskräfte, hinter der teilweise dieselben Personen standen wie bei der Zeitschrift Plus – grenzte man sich entschieden vom Harzburger Modell ab75 . Unabhängig davon, dass das Harzburger Modell keineswegs plötzlich zu existieren aufhörte und auch weiterhin von vielen Unternehmen als Orientierung genutzt wurde, verweist die Kritik an dem Modell auf die Intention der Macher des Magazins, traditionelle Führungskonzepte in Frage zu stellen. Gerade die Kritik am Harzburger Modell hob man auch gegenüber dem amerikanischen Partner, dem Medienunternehmen McGraw-Hill, als Beispiel einer erfolgreichen Einbindung externer Gesellschaftskritik hervor. Die Sektion Management und Gesellschaft sei besonders wichtig: „Here the place of the executive in today’s society is considered as well as his unique position as an individual whose role must be played out between capital and labour. The reader is helped to relate contributions meaningfully to this position as a representative of the system which is coming under ever-growing criticism.“76 Vermutlich noch wirksamer als die Kritik am Harzburger Modell war eine Artikelserie des Manager Magazins, in der von 1971 bis 1977 „Missmanagement-Geschichten“ aus der wirtschaftlichen Praxis beschrieben wurden. In beinahe siebzig Fallbeispielen wurden unternehmerische Fehlentwicklungen und Insolvenzen meist auf falsche Führungsstile und Personalentscheidungen zurückgeführt77 . In einem der ersten dieser Artikel über den Schuhhersteller Salamander wurden konservatives Management, hausbackenes Image und die Besetzung von Top- und Middle-Management mit der Verwandtschaft des Firmengründers Jakob Sigle für den Misserfolg des Unternehmens verantwortlich gemacht. Helfen könnten nur eine neue Marketingstrategie, eine funktionale Organisationsstruktur und ein radikaler Bruch mit der jahrzehntealten Familientradition in der Leitung des Unternehmens: „Teamwork statt Familienzwist.“78 Familienunternehmen kamen in dieser Negativ-Rubrik unverhältnismäßig oft vor. Das erklärte Chefredakteur Leo Brawand mit der unprofessionellen und nicht leistungsorientierten Personalauswahl: „Firmen, an denen eine ganze Sippe hängt, kommen offenbar besonders schlecht mit den wechselnden Zeitläufen zurecht.“79 75 76 77
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Vgl. Friederike Sattlers Beitrag in diesem Band. Leo Brawand, Manager Magazin: Guidelines, Nachlass Leo Brawand, Spiegel-Archiv Hamburg. Wolfgang Schwetlick, Rainer Lessing, Bilanz des Versagens, in: Manager Magazin, 3.3.1977, S. 26. Vgl. hierzu auch Ingo Köhler, Havarie der ‚Schönwetterkapitäne‘? Die Wirtschaftswunder-Unternehmer in den 1970er Jahren, in: Ingo Köhler/Roman Rossfeld (Hrsg.), Pleitiers und Bankrotteure. Geschichte des ökonomischen Scheiterns vom 18. bis 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2012, S. 251–283. Helmut Raithel, Salamander – Aus Tradition am Markt vorbei, in: Manager Magazin 2/1971, S. 24–29. Leo Brawand, Mißmanagement en famille, in: Manager Magazin 12/1972, S. 3.
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Die Missmanagement-Geschichten sorgten für Aufmerksamkeit und waren vor allem immer wieder skandalträchtig. So wurde etwa Anfang 1973 kolportiert, dass die Missmanagement-Artikel gezielt von Konkurrenten der betroffenen Firmen genutzt wurden, um „Kunden, Interessenten oder Mitarbeiter des behandelten Unternehmens abzuwerben oder die Beziehungen zu stören.“80 Der investigative Stil des Manager Magazins stieß von Beginn an auch auf entschiedene Ablehnung: Nachdem das Magazin Anfang 1972 über den Krupp-internen Kampf zwischen dem Vorstandsvorsitzenden Günter Vogelsang und dem alten Generalbevollmächtigten Berthold Beitz berichtet hatte81 , reagierte Werner Krueger, Vorstandsmitglied der Dresdner Bank, in einem vertraulichen Schreiben wütend: Als Kenner der Vorgänge bei Krupp wisse er, dass der Artikel an den Tatsachen vorbeigehe. Vor allem aber sei diese negative Berichterstattung sehr bedenklich, weil sie „intellektuellen Linksdrall“ fördere und Tendenzen Vorschub leiste, die „grundlegende Veränderungen, auch in unserer Wirtschaft und deren praktischer Handhabung, anstreben“82 . Die neue kritische Berichterstattung war für die Wirtschaft eine Provokation und ließ schließlich den BDI in Aktion treten. Weil auch Capital angefangen hatte, investigative Missmanagement-Geschichten im Stile des Manager Magazins zu bringen und nachdem Hans Leitner vom Verein Deutscher MaschinenbauAnstalten sich beim BDI über die „Dubiosität solcher Art von Wirtschaftspublizistik“ beschwert hatte83 , setzte sich der Arbeitskreis Presse des BDI mit der Frage auseinander. Die hier beteiligten Unternehmensvertreter – u. a. von Siemens, Hoechst, Philips, Thyssen, Zeiss, BP, Flick – teilten uneingeschränkt die Kritik an den Missmanagement-Geschichten und man verurteilte „Bösartigkeit“ und „Arroganz“ der Berichterstattung: „Gegen soviel Pharisäertum hilft eigentlich nur ein neuer Jesus“ schrieb der Leiter der Presseabteilung der Klöckner Werke AG.84 Einig war man sich auch darin, dass der BDI Druck auf die Verleger von Capital, Wirtschaftswoche und Manager Magazin ausüben sollte85 . Es müsse diskutierte werden, „ob es sich hier noch um einen sinnvollen Gebrauch der Pressefreiheit handelt oder ob hier Gefechte gegen das Unternehmertum zur Belustigung erfolgloser Mini-Manager geführt werden.“86 Zurückhalten wollten sich die Wirtschaftsvertreter allerdings mit großangelegten öffentlichen Solidaraktionen, die als Angriff auf die Pressefreiheit gewertet werden könnten. Zu
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Leo Brawand, Ein Forum für die Führungskräfte, in: Manager Magazin 4/1973, S. 3. Mißmanagement. Beitz kontra Vogelsang, in: Manager Magazin 2/1972, S. 28–31. Werner Krueger an die Herausgeber des Manager Magazins, 8.2.1972, Nachlass Leo Brawand, Spiegel-Archiv Hamburg. Hans Leitner an Friedrich Kleinlein, 7.11.1972, BDI-Archiv, PI 44, Karton 643. Cornell Ettinger an Friedrich Kleinlein, 17.11.1972, BDI-Archiv, PI 44, Karton 643. Friedrich Kleinlein an Hans Leitner, 3.1.1973, BDI-Archiv, PI 44, Karton 643. A. Lambeck an Friedrich Kleinlein, 21.11.1972, BDI-Archiv, PI 44, Karton 643.
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groß sah man die Gefahr, dass „wir uns wahrscheinlich nicht mehr als bissige Kommentare oder Glossen einhandeln.“87 Die Missmanagement-Geschichten zeigten erhebliche Wirkung, gerade deswegen warnte intern denn auch der Geschäftsführer des Manager MagazinVerlags Hans Detlev Becker davor, es mit der Skandalisierung auf Kosten der Seriosität zu übertreiben: „Gerade die Missmanagement-Geschichte, aber auch das gesamte Ansehen des ‚manager magazin‘ bei Managern – und um die geht es doch –, steht und fällt mit der Fähigkeit, verständige und überlegene Kritik an Managern und Management zu üben, ohne in hämische Redensarten, Tratsch und verbales Rowdytum zu verfallen.“88 Neben dieser „verständigen und überlegenen Kritik an Managern“ standen aber immer wieder auch Erfolgsgeschichten. Und man war im Manager Magazin ostentativ stolz und freute sich, wenn positive Management-Reportagen aus der wirtschaftlichen Praxis für Aufsehen und Interesse von potentiellen Nachahmern gesorgt hatten. Ein geradezu idealisierender Praxis-Bericht über das Edelstahlwerk Schmidt + Clemens, an dessen Beispiel „der Übergang von der patriarchalisch-autoritären zur kooperativ-humanen Betriebs-Organisation“ über die Jahre 1967–1973 nachvollzogen wurde89 , führte zu Anfragen von Management-Schulen und von zahlreichen Unternehmen „selbst aus den USA“90 . Das heißt natürlich nicht, dass das Manager Magazin im Alleingang die deutsche Wirtschaftskultur umgekrempelt hätte. Aber die hier diskutierten Beispiele zeigen deutlich, dass die neuen Führungssemantiken der 1970er Jahre keineswegs trivial und opportunistisch waren, sondern es durch die neue Form der Berichterstattung massive Interdependenzen zwischen Führungsdiskurs und sozialer Praxis gab. Vor allem aber sind die gewandelten Führungssemantiken der frühen 1970er Jahre sowohl als Reaktion auf gesellschaftliche Veränderungen als auch auf Strukturveränderungen in der Wirtschaft zu sehen. Antiautoritäre Kritik, die Akademisierung der Angestelltenschaft, die Folgen des „Abschieds von der Proletarität“91 , aber eben auch veränderte Unternehmensstrukturen, Internationalisierung und die zunehmende Bedeutung der EDV sorgten dafür, dass alte Werte in der Wirtschafts- und Arbeitswelt verblassten. Werte wie Gehorsam und Fleiß waren auch deswegen weniger gefragt, weil sich die funktionale Refe87 88 89 90 91
Jürgen Burandt an Friedrich Kleinlein, 16.11.1972, BDI-Archiv, PI 44, Karton 643. Becker, Notiz für Brawand, 18.7.1972, Nachlass Leo Brawand, Spiegel-Archiv Hamburg. Dietmar Gottschall, Kein Pardon für einsame Entschlüsse, in: Manager Magazin 1/1973, S. 50–55. Leo Brawand, Ein Forum für die Führungskräfte, in: Manager Magazin 4/1973, S. 3. Josef Mooser, Abschied von der „Proletarität“. Sozialstruktur und Lage der Arbeiterschaft in der Bundesrepublik in historischer Perspektive, in: Werner Conze/Rainer Lepsius (Hrsg.), Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland: Beiträge zum Kontinuitätsproblem, Stuttgart 1983, S. 143–186.
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renz dieser Werte verändert hatte und stattdessen beispielsweise Intelligenz und Flexibilität stärker gefordert waren. Dies war kein „Wertewandel“ von materialistischen zu postmaterialistischen Werten, wenn unter postmaterialistisch auch postökonomisch verstanden wird. Die Orientierung an Gewinnmaximierung und unternehmerischem Erfolg hatte sich nicht geändert, aber die Bedingungen des ökonomischen Erfolgs hatten sich gewandelt. Und die Unternehmer fragten sich zu Beginn der 1970er Jahre nicht nur vordergründig, ob sie mit Autorität überhaupt noch erfolgreich sein konnten.
„Gestaltung des Wertewandels“ in den frühen 1980er Jahren Die sich verändernden Führungssemantiken zu Beginn der 1970er Jahre wurden zeitgenössisch nicht unter dem Stichwort „Wertewandel“ diskutiert. Die sozialwissenschaftliche Wertewandelforschung hatte sich ja auch erst ab Mitte der 1970er Jahre etabliert92 . Während die Sozialwissenschaftler den „Wertwandelschub“ für die Zeit 1965–1975 diagnostiziert hatten, entfaltete die These ihre populäre Verbreitung zu Beginn der 1980er Jahre als eine aktuelle Gegenwartsdiagnose. Eine „stille Revolution“ war dies nicht mehr, denn der „Wertewandel“ war nun in aller Munde und vor allem die Wirtschaftspresse nahm sich in einer Vielzahl von Artikeln des Themas an. Als diskursives Phänomen erreichte der „Wertewandel“ die Wirtschafts- und Arbeitswelt zu Beginn der 1980er Jahre unter schwierigen ökonomischen Voraussetzungen. Das zentrale Problem war die hohe Arbeitslosigkeit, die Ende 1982 mit mehr als zwei Millionen Arbeitslosen einen neuen Höhepunkt erreicht hatte93 . Die bittere Erkenntnis, dass jeder Konjunkturzyklus mehr Arbeitslose als der vorige hinterlassen hatte, eine auch ökologisch motivierte Wachstumsskepsis, die möglichen Folgen der neuen Informations- und Kommunikationstechnologie und das Drängen der Frauen auf den Arbeitsmarkt ließen tiefgreifende Zweifel aufkommen, ob in Zukunft
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Vgl. Bernhard Dietz, Zur Theorie des „Wertewandels“. Ein Schlüssel für sozialen und mentalen Wandel in der Geschichte, in: Peter Dinzelbacher/Friedrich Harrer (Hrsg.), Wandlungsprozesse der Mentalitätsgeschichte, Baden-Baden 2015, S. 25–47. Norbert Reuter, Arbeitslosigkeit bei ausbleibendem Wachstum – das Ende der Arbeitsmarktpolitik?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament (APuZ) B 35 (1997), S. 3–13; Günther Schmid/ Frank Oschmiansky, Arbeitsmarktpolitik und Arbeitslosenversicherung 1982–1989, in: Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Band 7: Bundesrepublik 1982–1989: Finanzielle Konsolidierung und institutionelle Reform, Hrsg. von Manfred G. Schmidt, Baden-Baden 2005, S. 237–287, hier S. 245–247.
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„der Arbeitsgesellschaft die Arbeit ausgeht“94 . Wenn nicht mehr genug Arbeit für alle zur Verfügung stand, wenn Arbeitszeit flexibilisiert werden musste, wenn generell der Anteil der Arbeitszeit an der Lebenszeit abnahm und sich auch andere Formen von Arbeit (wie z. B. das populäre Heimwerken95 ) anboten, schien Erwerbsarbeit selbst nicht mehr das zentrale und dominante Strukturprinzip der Gesellschaft zu sein96 . Diese krisenhafte zeitgenössische Selbstbeobachtung erreichte einen Höhepunkt auf dem Bamberger Soziologentag 1982, der die „Krise der Arbeitsgesellschaft?“ verhandelte. Eine prominente Rolle in der soziologischen Zeitdiagnose spielte auch hier der Wertewandel, der in Bamberg erstmals auch unter geschlechterspezifischen Aspekten diskutiert wurde. Dass der „Wertewandel“ in der Arbeitswelt stattfand, war aus Sicht der Soziologen unstrittig, hinsichtlich der Ursachenforschung gingen die Meinungen auseinander. Bei der Bewertung des Wandels wurde die kulturpessimistische Lesart, die von einem Verfall des „klassisch-bürgerlichen“ Berufs- und Leistungsethos zugunsten „privatistischhedonistischer“ Haltungen ausging97 und die um 1980 z. T. auch bei den Arbeitgebern vertreten wurde98 , als einseitig und unterkomplex abgelehnt. In seinem Vortrag charakterisierte Helmut Klages den normativen Wandel in der Arbeitswelt folgendermaßen: „eine tendenzielle Rangminderung erfahren bevorzugt solche Werte, welche die pflichtethisch begründete Fügsamkeit und Folgebereitschaft gegenüber fremdgesetzten Ordnungs- und Leistungserwartungen unter Verzicht auf Chancen eigener Antriebserfüllung betreffen.“99 Diese abwägende Charakterisierung des sozialen Wandels findet sich auch in Klages’ Theorie der Wertesynthese, in der alte und neue Werte eine produktive Kombination eingehen konnten. 94
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Ralph Dahrendorf, Wenn der Arbeitsgesellschaft die Arbeit ausgeht, in: Joachim Matthes (Hrsg.), Krise der Arbeitsgesellschaft? Verhandlungen des 21. Deutschen Soziologentages in Bamberg 1982, Frankfurt a. M. 1983, S. 25–37. Vgl. den Beitrag von Jonathan Voges in diesem Band. Vgl. Ralph Dahrendorf, Im Entschwinden der Arbeitsgesellschaft. Wandlungen in der sozialen Konstruktion des menschlichen Lebens, in: Merkur 38 (1980), S. 749–760; André Steiner, Bundesrepublik und DDR in der Doppelkrise europäischer Industriegesellschaften. Zum sozialökonomischen Wandel in den 1970er-Jahren, in: Zeithistorische Forschungen/ Studies in Contemporary History 3 (2006), S. 342–362, hier S. 360f. Peter Kmieciak, Wertstrukturen und Wertwandel in der Bundesrepublik Deutschland, Göttingen 1976, S. 334f., 461f. Eduard Gaugler, Leistungsverhalten, Veränderungen im Betrieb, in: Der Arbeitgeber 32 (1980), S. 1166–1174; H.G. Bärsch, Arbeitszeitverkürzung. Feierabend für die 40-Std.Woche, in: Der Arbeitgeber 33 (1981), S. 240–244. [Gaugler war Direktor des Seminars für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, Personalwesen und Arbeitswissenschaft an der Universität Mannheim und hat u. a. zu Leistungsbeurteilung in der Wirtschaft gearbeitet.] Helmut Klages, Wertewandel und Gesellschaftskrise in der sozialstaatlichen Demokratie, in: Joachim Matthes (Hrsg.), Krise der Arbeitsgesellschaft? Verhandlungen des 21. Deutschen Soziologentages in Bamberg 1982, Frankfurt a. M. 1983, S. 341–352.
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Im Bericht des Manager Magazins über den Soziologentag wurde das „Klagessche Sowohl-als-auch der Werte“ als besonders realitätsnah beschrieben und durch Berichte aus der Wirtschaftspraxis bestätigt100 . Klages’ „Wertesynthese“ versprach aus Sicht der Wirtschaft eine durchaus sympathische Erklärung zu sein, denn sie ließ für die Zukunft hoffen, war doch „Leistung“ weiterhin möglich, auch wenn sie nicht mehr traditionell eingefordert werden konnte. In dem „Wertesynthese“-Modell gab es entsprechend einen großen Gestaltungsspielraum für Personal- und Marketingexperten. Generell lässt sich zu Beginn der 1980er Jahre eine zunehmend konstruktive „Wertewandel“-Berichterstattung in der Wirtschaftspresse feststellen, die man unter dem Stichwort „den Wertewandel managen“ zusammenfassen könnte. Die kulturpessimistische Diagnose von Noelle-Neumann101 und anderen wurde abgelehnt: „Wertewandel der Arbeit bedeutet also nicht Werteverfall.“102 Rückgängig machen könne man den „Wertewandel“ der Arbeit auch nicht, es ging vielmehr darum, ihn im Sinne der Wirtschaft zu gestalten. Es galt, mit flexibilisierten Methoden auf Motivationsprobleme, zunehmende Freizeitorientierung und verstärktes Interesse an mehr Lebensqualität der Arbeitnehmer zu reagieren. Mit dieser Aufgabe sahen sich insbesondere Führungskräfte konfrontiert: „Wir müssen über eine neue Anthropologie und Ethik der Arbeit und über eine neue Interpretation des Leistungsprinzips nachdenken“103 , hieß es 1984 in der Zeitschrift Der Leitende Angestellte. Man musste in der Wirtschaftswelt auch gar nicht die schrille Werteverfallsthese vertreten, um den „Wertewandel“ für Gewerkschafts- und Sozialstaatskritik einzusetzen. Klages selbst hatte 1981 seine Wertewandelforschung auch in eine politische Diagnose übersetzt und erklärt, dass eine starke soziale Absicherung und ein hoher öffentlicher Wohlfahrtsaufwand keine Zufriedenheit und Erfüllung für die Menschen mit sich brächten. Viel wichtiger sei das Streben nach den „Selbstentfaltungswerten“, daher bedürfe es einer Stärkung von Selbstverantwortung, Selbständigkeit und individueller Kompetenz der Bürger104 . Was das konkret bedeuten konnte, zeigte sich in der Auseinandersetzung um die 35-Stunden-Woche in den Jahren 1983/1984. In dieser zentralen arbeitspolitischen Auseinandersetzung der 1980er Jahre ließ sich der „Wertewandel“ 100 101 102 103
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Peter Derschka, Krise der Arbeit. Zweifel am Ziel, in: Manager Magazin 12/1982, S. 102– 107. Elisabeth Noelle-Neumann, Wir rüsten ab – im Arbeitsleben, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.1.1985. Mehr reden statt regeln, in: Manager Magazin 11/1980, S. 59. Winfried Schlaffke, Technischer Fortschritt und gesellschaftlicher Strukturwandel. Rolle und Aufgabe von Führungskräften in der Wirtschaft, in: Der Leitende Angestellte 6/1984, S. 24. Helmut Klages, Überlasteter Staat – verdrossene Bürger? Zu den Dissonanzen der Wohlfahrtsgesellschaft, Frankfurt a.M. 1981.
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entsprechend argumentativ gegen die Gewerkschaftsforderungen einsetzen. In einer Artikelserie für die Zeitung Blick durch die Wirtschaft wandte sich Helmut Klages gegen eine generelle Verkürzung der Arbeitszeit und unterstützte das von den Arbeitgebern favorisierte Modell der Arbeitszeitflexibilisierung105 , da dieses am ehesten den Trend der „Wertesynthese“, also das Miteinander von „Befriedigung von Selbstverwirklichungsbedürfnissen“ und „zuverlässiger Pflichterfüllung“ darstelle106 . Aus der Sicht der Wirtschaft hatte dieser „Wertewandel“ das Potential für den Wiedergewinn kultureller Hegemonie. Eine Kombination von Pflicht- und Akzeptanzwerten mit Selbstentfaltungswerten war geradezu ideal, wenn damit eine Verbindung von grundsätzlicher Akzeptanz der marktwirtschaftlichen Verfasstheit der Bundesrepublik mit individualisierter und emotionalisierter Leistungsethik gemeint war. Besonders erstrebenswert war die Wertesynthese des „aktiven Realisten“ aus der Wertewandeltypologie von Helmut Klages. Darunter verstand er besonders lebenstüchtige Menschen, die mit einer „Idealkombination von wünschenswerten Eigenschaften“107 (nämlich hohe Pflichtund Akzeptanzbereitschaft kombiniert mit Selbstentfaltungsbestrebungen) für die Herausforderungen der Postmoderne besonders gut gewappnet seien. Bei den „aktiven Realisten“ handele es sich demnach um eine „echte Avantgarde“108 , die das evolutionäre Potential des „Wertewandels“ verkörperte. Übersetzt auf die Unternehmensebene waren das Mitarbeiter, „die sich in aktiver Weise ‚einbringen‘ wollen, deshalb auch keineswegs immer bequem sind, die aber grundsätzlich Kooperations- und Loyalitätsbereitschaft zeigen.“109 Ziel eines Unternehmens müsse es demnach sein, die Wertesynthese der „aktiven Realisten“ zu fördern, so dass neue Motivationspotentiale erschlossen werden könnten, so die KlagesMitarbeiter Gerhard Franz und Willi Herbert in einem Aufsatz für das Wirtschaftsmagazin Harvard-Manager, welches aus einer Kooperation des Manager
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Vgl. Helmut Klages, Modelle, die nichts bewirken. Arbeitszeitverkürzung – Entlastung für den Arbeitsmarkt? (I), in: Blick durch die Wirtschaft (FAZ), 10.6.1983; ders., Die „sozialen Kosten“ sind erschreckend. Zur Frage der Arbeitszeitverkürzung (2), in: Blick durch die Wirtschaft (FAZ), 14.6.1983; ders., Flexibilisierung als Lösung. Zum Thema Arbeitszeitverkürzung (3), in: Blick durch die Wirtschaft (FAZ), 15.6.1983. Vgl. Helmut Klages, Der anspruchsvolle Mensch im Wandel. Synthese traditionaler und fortschrittlicher Werte, in: Blick durch die Wirtschaft (FAZ), 17.8.1984. Helmut Klages, Der Wertewandel in den westlichen Bundesländern, in: Biss Public: Wissenschaftliche Mitteilungen aus dem Berliner Institut für Sozialwissenschaftliche Studien 2 (1991), S. 99–118, hier S. 114. Helmut Klages, Wertedynamik. Über die Wandelbarkeit des Selbstverständlichen, Zürich u. a. 1988, S. 119. Gerhard Franz/Willi Herbert, Wertewandel und Mitarbeitermotivation. Eine Strategie zur Entwicklung von Motivationsproblemen, in: Harvard Manager 1/1987, S. 96–102, hier S. 98.
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Magazins mit der amerikanischen Harvard Business Review entstanden war und seit 1979 vierteljährlich erschien110 . Die Hoffnung auf die Gestaltbarkeit des „Wertewandels“ war in den 1980er Jahren nicht nur fester Bestandteil der Wirtschaftsberichterstattung, sondern auch in die Politik vorgedrungen. Ein Beispiel hierfür ist ein Kommissionsbericht der Landesregierung von Baden-Württemberg, das sich als Industrieland besonders durch den „Wertewandel“ in der Arbeitswelt herausgefordert sah und diesem eine eigene Arbeitsgruppe gewidmet hatte111 . Auch hier wurde die Synthese aus „Selbstverwirklichungs-Werten“ und „Pflicht- und Akzeptanzwerten“ als große Zukunftsaufgabe der Politik beschrieben112 . Angesichts dieses sich andeutenden Schulterschlusses aus sozialwissenschaftlicher Wertewandelforschung, Wirtschaft und Politik witterten zeitgenössische linke Kritiker hinter dem Wertewandelparadigma eine neokonservative Strategie, um von den Fragen der sozialen Ungleichheit und ökologischen Zerstörung abzulenken113 . Die „Entdeckung“ des „Wertewandels“ durch die Wirtschaftsmagazine betraf in den 1980er Jahren nicht nur die Ebene des Personalmanagements, sondern auch die der Konsum- und Produktebene. Das war allein schon deshalb wichtig, weil „es sich bei den Wertgewandelten um Angehörige höherer sozialer Schichten handelt, die oft als Meinungsführer gelten und insgesamt nicht als Konsumverweigerer bezeichnet werden können.“114 Aus diesem Grund war es aus Sicht der Marketingexperten und Werbefachleute unerlässlich, dass die Unternehmen den „Wertewandel“ in ihre Unternehmensplanung einbezogen: „Der Wertewandel ist demnach ein Einflussfaktor, den Unternehmensstrategen, Marktforscher, Werbefachleute und Personalplaner in ihr Kalkül einbeziehen müssen.“115 Über veränderte Wertvorstellungen entstünden neue Bedürfnisse, Erwartungen und Forderungen, die es im Rahmen der Unternehmenspolitik frühzeitig zu beachten gelte, erklärten Hans Raffée und Klaus-Peter Wiedmann vom Mannheimer „In110 111
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Gerhard Franz/Willi Herbert, Wertewandel und Mitarbeitermotivation. Eine Strategie zur Entwicklung von Motivationsproblemen, in: Harvard Manager 1/1987, S. 98f. Neben Helmut Klages gehörten der Arbeitsgruppe „Gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungen“ die Professoren Rudolf Wildenmann, Horst Baier, Karl W. Deutsch, Bruno Fritsch, Hermann Lübbe, Max Wingen und Wolfgang Zapf an. Vgl. Bericht der Kommission „Zukunftsperspektiven gesellschaftlicher Entwicklungen“ erstellt im Auftrag der Landesregierung von Baden-Württemberg, Stuttgart 1983. Bericht der Kommission „Zukunftsperspektiven gesellschaftlicher Entwicklungen“ erstellt im Auftrag der Landesregierung von Baden-Württemberg, Stuttgart 1983, S. 10. Horst-Dieter Zahn, Kultur und Technik in konservativen Strategien, in: Widersprüche 7 (1987), URL: http://www.widersprueche-zeitschrift.de/article379.html (Aufruf am 20.01.2016). Konsumgüter-Marketing (III), in: Wirtschaftswoche, 31.8.1984. Günter Müller/Michael Schmid, Umbruch im Handel. Sechs Thesen zu den Konsequenzen des Wertewandels, in: Harvard-Manager. Theorie und Praxis des Managements 4/1985, S. 104–107, hier S. 104.
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stitut für Marketing“ im Manager Magazin116 . Wertvorstellungen seien generell als Indikatoren für neue Verhaltensmaßstäbe und Konsumbedürfnisse zu begreifen. Von zentraler Bedeutung sei daher ein „gesellschaftsorientiertes Marketing“, bei dem „politisch-rechtliche, soziokulturelle und ökologische Aspekte das strategische Denken und Handeln prägen.“ Dabei wurde besonders auf die neuen alternativen Milieus gezielt: „Über die sich unmittelbar anbietende Suche nach Innovationsmöglichkeiten im Zeichen der Öko-, Bio- und Gesundheitswelle hinaus ist grundsätzlich die Frage aufzuwerfen, welche neuen Konsumverhaltenstrends sich ergeben können. Welche Auswirkungen hat etwa die Einschätzung arbeitsbezogener und humanitärer Ziele auf das Sparverhalten oder das Preisbewußtsein des Verbrauchers? [. . . ] Ergeben sich aus der Friedensbewegung neue Bedürfnisse und Verhaltensmuster beim Verbraucher?“117 Veränderte Verbraucherbedürfnisse aufgrund des Wertewandels waren ein großes Thema für die Werbewirtschaft. Wie sehr der sozialkulturelle Wandel eine Produktwerbung beeinflussen kann, wurde 1986 am Beispiel der Zigarettenmarke Camel diskutiert. „Gesellschaftlicher Wertewandel hat direkten Einfluß auf das Kaufverhalten und muß daher laufend in der Werbung aufgenommen werden“118 , stellte man im Handelsblatt bezüglich der sich verändernden Leitfigur der Marke fest. In einem ausführlichen Artikel in der Fachzeitschrift Werben + Verkaufen119 wurden anhand einer Geschichte des „Camel-Manns“ die sich verändernden Werte seit den frühen 1970er Jahren dargestellt. Und in der Tat: Aus dem unangepassten Abenteurer und Selbstverwirklicher jenseits aller Zwänge der Leistungsgesellschaft und mit Loch im Schuh war Mitte der 1980er Jahre ein urban-sauberer Held geworden, der für seine Abenteuer mit teurer Uhr, Alukoffer und Hubschrauber ausgerüstet war. Mit Helmut Klages ließe sich sagen: Der „Camel-Mann“ verkörperte jetzt den „aktiven Realisten“.
Fazit Werner Plumpe und Christian Kleinschmidt haben betont, dass man sich von der klischeehaften Vorstellung trennen sollte, dass bis 1968 die deutsche Wirtschaft in alten autoritären Mentalitäten verharrte, um sich dann aufgrund gesellschaftli-
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Hans Raffée/Klaus Peter Wiedmann, Wenn Werte wichtig werden, in: Manager Magazin, März 1984, S. 172–176. Ebd., S. 174f. „Camel“ hat neues Image. Wertewandel erzeugte eine neue „Leitfigur“, in: Handelsblatt, 12.6.1986. Wertewandel und Marketing: Beispiel „Camel“, in: Werben + Verkaufen, 1.8.1986.
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chen Drucks zu demokratisieren120 . Und in der Tat sind zentrale sozialkulturelle Paradigmenwechsel in der Wirtschaft früher anzusiedeln: Dass etwa „Führung“ nicht nur eine gottgegebene Eigenschaft oder eine über eine Hierarchie hergeleitete Aufgabe ist, sondern sich erlernen lässt, ist das Ergebnis harter Auseinandersetzungen in der Folge des Betriebsverfassungsgesetzes von 1952121 . Außerdem ist es sicher richtig, dass sozialwissenschaftliche Kritik und linksliberale Medien im Zuge von „1968“ die Unternehmer vormoderner und autoritärer erscheinen ließen, als sie es tatsächlich waren122 . Und es gibt weitere gute Gründe, Auseinandersetzungen mit Autorität, Hierarchie, Leistung und Führung in der längerfristigen Perspektive einer Geschichte der Arbeit im 20. Jahrhundert zu interpretieren. Die Anfänge eines Personalmanagements, das auf eine Humanisierung der Arbeit zur Effizienzsteigerung der Betriebe ausgerichtet war, sind dabei in den 1920er Jahren zu suchen123 . Konzepte der Mitarbeitermotivation und kooperative Führungsstile waren vereinzelt bereits während der Rationalisierungsbewegung der Weimarer Republik erprobt worden und erlebten einen Aufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg124 . Allerdings erscheint auch in dieser Perspektive die Zeit um 1970 als Zäsur, für die der Wechsel vom Human Relations-Ansatz zum Human ResourcesKonzept steht: Nicht mehr eine Verbesserung der zwischenmenschlichen Beziehung stand für den Arbeitserfolg im Vordergrund, sondern der Einzelne, seine Fähigkeiten, seine Wünsche und seine Kreativität wurden als Ressourcen entdeckt125 . Weil der Ort der Leistungserzeugung vom Unternehmen zum Einzelnen verschoben wurde, sah dieser Ansatz die Motivationsquelle auch nicht mehr in einer verbesserten Arbeitsumwelt (also Werksgemeinschaft, Sport- und Freizeitmöglichkeiten etc.), sondern in der Arbeit selbst, also „der produkti120
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Werner Plumpe, 1968 und die deutschen Unternehmen. Zur Markierung eines Forschungsfeldes, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 49 (2004), S. 44–65; Christian Kleinschmidt, Das ‚1968‘ der Manager. Fremdwahrnehmung und Selbstreflexion einer sozialen Elite in den 1960er Jahren, in: Jan-Otmar Hesse/Christian Kleinschmidt/Karl Lauschke (Hrsg.), Kulturalismus, neue Institutionenökonomik oder Theorienvielfalt – Eine Zwischenbilanz der Unternehmensgeschichte, Essen 2002, S. 19–31. Vgl. Morten Reitmayer, Elite. Sozialgeschichte einer politisch-gesellschaftlichen Idee in der frühen Bundesrepublik, München 2009, S. 307–376. Christian Kleinschmidt, Das ‚1968‘ der Manager. Fremdwahrnehmung und Selbstreflexion einer sozialen Elite in den 1960er Jahren, in: Jan-Otmar Hesse/Christian Kleinschmidt/ Karl Lauschke (Hrsg.), Kulturalismus, neue Institutionenökonomik oder Theorienvielfalt – Eine Zwischenbilanz der Unternehmensgeschichte, Essen 2002, S. 19–31, hier S. 30. Karsten Uhl, Humane Rationalisierung. Die Raumordnung der Fabrik im fordistischen Jahrhundert, Bielefeld 2014. Ruth Rosenberger, Experten für Humankapital. Die Entdeckung des Personalmanagements in der Bundesrepublik Deutschland, München 2008. Vgl. Sabine Donauer, Faktor Freude. Wie die Wirtschaft Arbeitsgefühle erzeugt, Hamburg 2015, S. 58–75. Das Buch basiert auf der Doktorarbeit der Autorin. Vgl. dies., Emotions at work – working on emotions: the production of economic selves in the twentieth century Germany, Berlin 2013.
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ven Verschmelzung des Einzelnen mit seiner angereicherten und vorgeblich bereichernden Tätigkeit“126 . Die Motivation zur Arbeit erfolgt in diesem Ansatz abnehmend über immaterielle Vergütung und zunehmend über persönliche Befriedigung und Selbstverwirklichung127 . Die hier dargestellten Ergebnisse bestätigen diesen Befund. Die Debatten um die Grenzen des in der Wirtschaft noch autoritär Sagbaren waren eine Reaktion auf den kulturellen Umbruch von 1968, auf den wahrgenommenen Generationswechsel in der Führung der meisten großen Unternehmen, vor allem aber auch auf Strukturveränderungen in der Wirtschaft. Der autoritäre Begründungszusammenhang von Leistung hatte sich gelöst. Als Leistungsanreiz und Motivationsquelle wurde zunehmend die Förderung von individueller Kreativität und Selbstverwirklichung gesehen. Das entsprach dem Zeitgeist und der neuen Angebotsorientierung der bundesdeutschen Wirtschaft. Denn zu Beginn der 1970er Jahre wurden Produktion und Konsum ökonomisch neu erfasst: Das zeigt sich im Aufstieg des Human Resources-Managements und dem Siegeszug des Marketings. Beide Ansätze gehen davon aus, dass nicht mehr nur die Grundbedürfnisse des Menschen zu befriedigen seien bzw. dass eine rein materielle Vergütung durch einen abnehmenden Grenznutzen gekennzeichnet sei. Die Bedeutung eines spezialisierten Marketings aufgrund des sich ausdifferenzierenden Konsums und kreativitätsfördernder Führungsstile war entsprechend das zentrale Thema der hier dargestellten Wirtschaftspresse der 1970er Jahre, innerhalb derer vor allem die neuen Wirtschaftsmagazine als Schnittstelle zwischen programmatisch-diskursiver Ebene und betrieblicher Praxis fungierten. Der „Wertewandel“ als diskursives Phänomen erreichte die Wirtschaftspresse erst in den 1980er Jahren. Dabei waren zentrale Annahmen und Begrifflichkeiten der sozialwissenschaftlichen Wertewandelforschung in den Gebrauch von Wirtschaftsjournalisten und Personalmanagern übergegangen. Auf Umfragedaten 126
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Sabine Donauer, Faktor Freude. Wie die Wirtschaft Arbeitsgefühle erzeugt, Hamburg 2015, S. 68. Vgl. auch dies., Job Satisfaction statt Arbeitszufriedenheit: Gefühlswissen im arbeitswissenschaftlichen Diskurs der siebziger Jahre, in Pascal Eitler/Jens Elberfeld (Hrsg.), Zeitgeschichte des Selbst. Therapeutisierung. Politisierung. Emotionalisierung, Bielefeld 2015, S. 343–371. Programmatisch für den Wechsel vom Human Relations-Ansatz zum Human ResourcesKonzept ist ein Aufsatz in der Harvard Business Review von 1965. Hier heißt es über den neuen Human Resources-Ansatz: „This approach represents a dramatic departure from traditional concepts of management. [. . . ] The magnitude of its departure from previous models is illustrated first of all in its basic assumptions concerning people’s values and abilities, which focus attention on all organization members as reservoirs of untapped resources. These resources include not only physical skills and energy, but also creative ability and the capacity for responsible, self-directed, self-controlled behavior.“ Raymond E. Miles, Human Relations or Human Resources, in: Harvard Business Review 4/1965, S. 148–163, hier S. 150. Zur frühen westdeutschen Rezeption des US-amerikanischen Paradigmenwechsels vgl. Rudolf W. Stöhr, Unternehmensführung auf neuen Wegen, Wiesbaden 1967.
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von Noelle-Neumann oder Inglehart musste dabei gar nicht notwendigerweise rekurriert werden. Zwar schrieben auch Soziologen für die Wirtschaftsmagazine, aber die Plausibilität des „Wertewandels“ bedurfte offenkundig keiner tiefgehenden wissenschaftlichen Begründung und die Diagnose deckte sich mit einer Vielzahl von Berichten aus der betrieblichen Praxis. Dabei bekam das Wertewandel-Narrativ eine erstaunliche Eigendynamik und wurde unter dem Motto „den Wertewandel produktiv gestalten“ diskutiert. Insbesondere das Personalmanagement und die Marketing-Institute hatten den „Wertewandel“ für sich entdeckt, der Wirtschaft den Schrecken vor einem „Werteverfall“ genommen und stattdessen die Potentiale des „Wertewandels“ für die Arbeits- und Konsumwelt betont. Und tatsächlich war in den 1980er Jahren aus Sicht der Wirtschaft das Wertewandel-Paradigma eben nicht nur ein Narrativ, sondern tatsächlich handlungsrelevant für die Personalpolitik und die Produktgestaltung. Während es also zu Beginn der 1970er Jahre aufgrund der Funktions- und Legitimationskrise des Produktionsregimes tatsächlich zu einem tiefgreifenden sozialkulturellen Wandel in der Wirtschafts- und Arbeitswelt gekommen war, hatte zu Beginn der 1980er Jahre der „Wertewandel“ als diskursives Phänomen seinen Erfolg als Gegenwartsanalyse und Zukunftsdiagnose. Dieser „reflexive Wertewandel“ half, die sich verändernde Kritik am Wirtschaftssystem zu verstehen und zu absorbieren. Während nach 1968 Systemkritik eine antikapitalistische Stoßrichtung hatte, war im Gefolge von Frauen-, Ökologie- und Friedensbewegung sowie der Alternativkultur die Systemkritik antiindustriell und fortschrittsskeptisch geworden. Das Wertewandel-Paradigma (im Sinne Helmut Klages’) konnte nun dazu dienen, jenseits der Verfallsdiagnosen einen Gestaltungsspielraum für die Personal- und Produktpolitik zu erlangen. Mit einem nicht fatalistisch, sondern voluntaristisch verstandenen „Wertewandel“ ließen sich nicht nur kritisch-produktive Mitarbeiter fördern, sondern auch sich verändernde Verbraucherbedürfnisse (z. B. Bio-Produkte, umweltfreundliche Waschmittel und Naturkosmetika128 ) prognostizieren. Aus dieser Sicht spricht somit einiges dafür, dass der „Wertewandel“ selbst Teil des neuen kapitalistischen Überzeugungs- und Legitimationsmodells geworden war, das die französischen Soziologen Luc Boltanski und Ève Chiapello als „neuen Geist des Kapitalismus“ beschrieben haben129 . Wirtschaftsjournalisten, Personalexperten, Arbeitspsychologen, Marktforscher, Werbefachleute und Unternehmer hatten in den 1980er Jahren aber nicht nur immer stärker auf den Wertewandel Bezug genommen, sondern – indem sie das taten – die Phänomene des Wertewandels als solche verstärkt. Die neue Dynamik des Kapitalismus ergab sich somit nicht nur durch eine neue sozialkulturelle Legitimationsbasis, sondern auch durch deren alltäglich normative Kraft im Wirtschafts- und Arbeitsleben. 128 129
Konsumgüter-Marketing (III), in: Wirtschaftswoche, 31.8.1984. Luc Boltanski/Ève Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2006.
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Vom „Fluch der Unterbelastung“ zur „Last der reifen Jahre“. Die Wertewandel-Debatte in der bundesdeutschen Presse zwischen 1950 und 1990 Wer in den 1980er Jahren den Wirtschafts-, Politik- oder Gesellschaftsteil einer deutschen Tages- oder Wochenzeitung aufschlug, las dort häufig Prognosen, die für die Zukunft der deutschen Wirtschaft nur wenig Hoffnung machten: Vom Verfall der „Arbeitsgesellschaft“ und dem Niedergang des Sozialstaats war allenthalben die Rede. Während die einen vom „Ende der Reformen“1 schrieben, titelten die anderen „Wenn der Gesellschaft die Arbeit ausgeht“2 . Politikwissenschaftler und Demoskopen stellten auf der Basis breiter Untersuchungen eine Werteverschiebung in der Arbeitswelt fest und boten in Gastbeiträgen für deutsche Qualitätsblätter große Deutungsrahmen dieser Entwicklung an. Ihre Diagnosen mögen für den aufmerksamen Zeitungsleser jener Tage kaum überraschend gekommen sein. Das Arbeitsethos der Deutschen war schon länger Gegenstand der medialen Berichterstattung. Bereits kurz nach dem Kriegsende begleiteten die Zeitungen und Zeitschriften die Entwicklung der bundesdeutschen Arbeitswelt aufmerksam. In einem waren sich kommunistische Kampfblätter und bürgerliche Presse in den ersten Nachkriegsjahren noch einig: ohne Fleiß und Anstrengung könne es das Land nie mehr auf die Beine schaffen. Die wirtschaftliche Entwicklung und insbesondere der Erfolg der Sozialen Marktwirtschaft in Westdeutschland, mit hohen Wachstumsraten und dem starkem konjunkturellen Aufschwung der 1950er und 1960er Jahren, schien in den Augen nicht weniger Journalisten ganz auf den Werten Fleiß, Sparsamkeit und Pflichterfüllung zu beruhen; eine Sicht, die zu einer der Leiterzählungen der deutschen Nachkriegsgeschichte werden sollte. Doch mit dem vielfach aufgegriffenen „Wertewandelschub“ der 1960er und 1970er Jahre, der gleichsam Wirtschaft und Gesellschaft veränderte, schienen jene Tugenden aus den Zeiten des Aufschwungs obsolet geworden zu sein3 . 1 2 3
Hermann Rudolph/Michael Naumann, Das Ende der Reformen, in: Die Zeit, 29.9.1980. Bernd Guggenberger, Wenn der Gesellschaft die Arbeit ausgeht, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31.1.1981. Bernhard Dietz/Christopher Neumaier/Andreas Rödder (Hrsg.), Gab es den Wertewandel? Neue Forschungen zum gesellschaftlich-kulturellen Wandel seit den 1960er Jahren, München 2014, S. 8. Kritisch zum Konzept des Wertewandelschubs siehe Bernhard Dietz/Christopher Neumaier, Vom Nutzen der Sozialwissenschaften für die Zeitgeschichte. Werte und Wertewandel als Gegenstand historischer Forschung, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 60 (2012), S. 293–304.
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Der Müßiggang, den die Frankfurter Allgemeine Zeitung bereits 1963 als „Aller Laster Anfang“ beschrieb, schien nun Einzug in den deutschen Fabrikhallen, Werkstätten und Handwerksbetrieben zu halten4 . Was einige der Zeitungen und Zeitschriften jedoch zunächst noch als substantielle Gefahr für die bereits erzielten wirtschaftlichen Erfolge der 1950er und frühen 1960er Jahre erkannten, veränderte am Ende nicht nur die Arbeitswelt, sondern auch die Medien selbst. Kein Zweifel: der Wertewandel der Arbeitswelt, die Verschiebung der Werteorientierung des Berufslebens, hatte in der bundesdeutschen Presselandschaft ein tief hallendes Echo hinterlassen. Dass die intensiv geführten gesellschaftlichen Debatten um das Verhältnis von Arbeits- und Freizeit der Bundesrepublik ebenfalls in den Zeitungen ausgetragen wurden, liegt nahe. Besonders die prominenten Gastbeiträge für deutsche Tagesund Wochenzeitungen von Elisabeth Noelle-Neumann oder Karl Otto Hondrich werden hierfür vielfach als Beispiele bemüht5 . Ihnen wird attestiert, eng mit dem Ziel verknüpft gewesen zu sein, die Hoheit über den gesellschaftlichen und gleichzeitig öffentlichen Diskurs zu Verschiebungen auf der Werteskala zu erlangen6 . Aber auch abseits der großen Gastbeiträge waren die Auswirkungen der Entwicklung zwischen den Zeilen der Zeitungen ablesbar. So bekam die Werteverschiebung, die sich vornehmlich in unterschiedlichen Privatheitsformen vollzog, eine öffentliche Dimension, indem sie die soziokulturellen Entwicklungen im Kontext der Werteverschiebung kommentierten7 . Mit Blick auf das Thema dieses Bandes ist es demgegenüber weit bemerkenswerter, dass die Bedeutung der (Massen-)Medien in der Debatte um den Wertewandel in der Arbeitswelt bisher nur in Ansätzen betrachtet wurde, jedoch die möglichen Erträge einer solchen Perspektive längst betont wurden. Insbesondere die Qualitätszeitungen griffen „normative Vorstellungen über grundlegende Elemente sozialer Ordnung“ auf und verliehen ihnen eine öffentliche Dimension8 . In den Zeitungen fand ein nicht unerheblicher Teil der öffentlichen Aushandlung kollektiv akzeptierter Wertvorstellungen statt. Dies gilt für die Felder Erziehung, Nation oder Sexualmoral wie für das Feld der Arbeit. 4 5 6
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o. A., Aller Laster Anfang?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.7.1963. Elisabeth Noelle-Neumann, Werden wir alle Proletarier?, in: Die Zeit, 13.6.1975; Karl Otto Hondrich, Machen soziale Reformen glücklich?, in: Die Zeit, 18.7.1975. Bernhard Dietz, Wertewandel in der Wirtschaft? Die leitenden Angestellten und die Konflikte um Mitbestimmung und Führungsstil in den siebziger Jahren, in: ders./Neumaier/Rödder (Hrsg.), Gab es den Wertewandel?, S. 169–197, hier S. 193, Anm. 98. Rödder verweist darauf, dass der Wertewandel eine Entwicklung war, die sich „in wesentlichem Maße im Bereich der Privatheitsformen“ abspielte, siehe ders., Werte und Wertewandel in Moderne und Postmoderne, Antrittsvorlesung an der Johannes Gutenberg Universität Mainz, 01.12.2005. Andreas Rödder, Wertewandel in historischer Perspektive. Ein Forschungskonzept, in: Dietz/ Neumaier/Rödder (Hrsg.), Gab es den Wertewandel?, S. 17–41, hier S. 18f.
Vom „Fluch der Unterbelastung“ zur „Last der reifen Jahre“
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Dieser Befund soll für die folgenden Ausführungen zum Anlass genommen werden, ausgewählte Blätter der bundesdeutschen Qualitätspresse einer problemorientierten Längsschnittanalyse zu unterziehen. Im Zentrum steht hier die Frage: Wie wurde in den westdeutschen Zeitungen und Zeitschriften über Werte der Arbeitswelt und deren Veränderung berichtet? Die bisher vorliegenden Ergebnisse der historischen Wertewandelforschung konzentrieren sich häufig auf die 1960er und 1970er Jahre, heben aber gleichzeitig die Notwendigkeit der längerfristigen diachronen Perspektive hervor9 . Ein flüchtiger Blick in Recherchedatenbanken einiger bundesdeutscher Blätter legt nahe, dass sich bereits in den 1950er Jahren die Zeitungen und Zeitschriften im westlichen Nachkriegsdeutschland intensiv mit den Themen Arbeitsethos und Verhältnis zwischen Arbeits- und Freizeit auseinander setzten. Sie griffen erste Ansätze der Werteverschiebung der Arbeitswelt auf, bevor sie zum Gegenstand breiter sozialwissenschaftlicher, demoskopischer und gesellschaftlicher Debatten wurde. Dem einleuchtenden Postulat, sich von den „methodischen und thematischen Beschränkungen“ zu lösen, die sich für die historische Wertewandelforschung durch die Orientierung an sozialwissenschaftlichen Studien ergeben kann, wird hier insofern entsprochen, als dass die Untersuchungsperiode über die 1970er und 1980er Jahre hinaus geht10 . Insbesondere die Betrachtung langfristiger Entwicklungen ist eines der zentralen und einleuchtenden Argumente der historiographischen Erforschung des Wertewandels, weshalb in diesem Beitrag ein langer Zeitrahmen, von 1949 bis 1990, gewählt wird11 . Durch eine diachrone Perspektive soll ein Längsschnitt durch die Berichterstattung dieser Jahre vollzogen werden. Die Quellenbasis bilden Zeitungsartikel aus dem wöchentlich erscheinenden Nachrichtenmagazin Der Spiegel, der Wochenzeitung Die Zeit und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (F.A.Z.) aus den Jahren 1949 bis 199012 . Angelehnt an die gängige Arbeitsweise der Mediengeschichte, werden die Einzelquellen nicht unter Anwendung quantifizierender Methoden interpretiert wie in den sozialwissenschaftlichen Wertewandelforschungen, sondern „mit der klassischen historischkritischen Methode der qualifizierenden, philologisch-hermeneutischen Textinterpretation“, wie sich dies in der historischen Wertewandelforschung als praktikabel erwiesen hat13 . Die einzelnen Artikel werden in der vorliegenden 9
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Jörg Neuheiser, Der „Wertewandel“ zwischen Diskurs und Praxis. Die Untersuchung von Wertvorstellungen zur Arbeit mit Hilfe von betrieblichen Fallstudien, in: Dietz/Neumaier/ Rödder (Hrsg.), Gab es den Wertewandel?, S. 141–169, hier S. 144. Dietz, Wertewandel in der Wirtschaft?, S. 196. Rödder, Werte und Wertewandel. Für alle drei untersuchten Medien liegt die Zahl der möglichen Einzelquellen (Artikel) bei rund sieben Millionen. Gerade darin liegt in den Augen der führenden Forscher des Feldes eine der zentralen Stärken der historischen Wertewandelforschung, vgl. Andreas Rödder, Werte und Wertewandel.
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Analyse als Quellen für die öffentliche Auseinandersetzung mit dem Thema verstanden und nicht „als Ausdruck grundlegender Mentalitätsveränderungen“14 . Es soll darum gehen, die Beiträge nicht als Indiz für die Werteverschiebung zu betrachten, sondern als Kommentierungen dieser. Zuvor noch einige Worte zur Auswahl der zu Grunde liegenden Quellen: Die F.A.Z. erscheint insbesondere wegen ihres klaren konservativen Profils, einer deutlichen ordnungspolitischen Position des Wirtschaftsressorts und letztlich wegen ihres wirkmächtigen Feuilletons als ein geeigneter Untersuchungsgegenstand. Bisherige Studien deuten darauf hin, dass der F.A.Z. seit den 1970er Jahren insbesondere wegen ihres Wirtschaftsressorts der Status eines Leitmediums für Unternehmer, leitende Angestellte und Wirtschaftswissenschaftler zukommt15 . Angesichts seiner Bedeutung in den 1960er und 1970er Jahren ist die Berichterstattung des Spiegel für die vorliegende Arbeit ebenfalls ein wichtiger Bestandteil der Quellenbasis. Nicht wenige Studien verweisen auf diese Bedeutung, die das Nachrichtenmagazin bei breiten und lang anhaltenden gesellschaftlichen Debatten einnahm16 . Die Zeit komplettiert die Auswahl wegen ihrer zahlreichen Gastautoren wie Elisabeth Noelle-Neumann, Siegfried Lenz oder Theodor Eschenburg. Dieser Umstand macht die Wochenzeitung aus einer intellektuellenhistorischen Perspektive interessant und damit auch für diese Arbeit17 . Alle drei Blätter verfügen über ein digitalisiertes Volltextarchiv. In einem ersten Schritt wurden allgemeine und offene Begriffe wie Arbeit, Ethos, Freizeit und Werte in die Suchfelder gesetzt und die Grundgesamtheit der gesamten Berichterstattung der drei Blätter aus den Jahren 1946 bis 1990 auf deren Häufung untersucht. Ausgehend von dem so entstandenen groben Bild wurde in einem zweiten Schritt diese Auswahl auf die Forschungsfrage hin beleuchtet, um so eine präzisere Auslese an Artikeln zu erhalten, die im engeren Sinne für das Thema der Arbeit interessant erscheinen. Aus ihnen wurden weitere Begriffe gewonnen, wie Arbeitsethos, Arbeitszeit, Faulenzen, Gammler, Müßiggang, Selbstentfaltung, Wertewandel, Wohlstand und es kristallisierten sich Autoren heraus, die sich häufiger mit dem Thema beschäftigten. Hinzu kamen Begriffe aus der Literatur wie Akzeptanzwerte, Pflichtwerte, Wertesynthese, Werteverfall oder Wertewan14 15
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Davor warnt etwa Neuheiser, „Wertewandel“, S. 148. Maximilian Kutzner, Das Wirtschaftsressort der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und die Medialisierung der Wirtschaftspolitik in den 1950er Jahren, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 101 (2014), S. 488–499. Lutz Hachmeister, Ein deutsches Nachrichtenmagazin. Der frühe „Spiegel“ und sein NS Personal, in: Lutz Hachmeister/Friedemann Siering (Hrsg.), Die Herren Journalisten. Die Elite der deutschen Presse nach 1945, München 2002, S.87–120. Karl-Heinz Janßern/Haug von Kuenheim/Theo Sommer, DIE ZEIT. Geschichte einer Wochenzeitung, München 2006; Christian Haase (Hrsg.), DIE ZEIT und die Bonner Republik. Eine meinungsbildende Wochenzeitung zwischen Widerbewaffnung und Wiedervereinigung, Göttingen 2008.
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delschub. Die Grundgesamtheit der Berichterstattung wurde in einem letzten Schritt auf die generierten Suchbegriffe hin untersucht und so eine subjektive und nicht repräsentative Auswahl (Sample) an Artikeln zusammengestellt, welche die Quellenbasis für die vorliegende Arbeit darstellt.
Die 1950er Jahre – Die Angst vor dem „Fluch der Unterbelastung“ In den ersten Nachkriegsjahren gehörte das Thema Arbeitsethos keineswegs zur täglichen Agenda der westdeutschen Zeitungen. Kaum ein Blatt verfügte damals über eine eigenständige Wirtschaftsredaktion oder eine größere Anzahl an hinreichend erfahrenen oder ausgebildeten Wirtschaftsjournalisten. Die F.A.Z. und die Zeit bildeten in dieser Hinsicht zwar eine Ausnahme, jedoch beschäftigten sie sich in ihren Anfangsjahren nur wenig mit dem Thema Arbeit. Die Berichterstattung über die Arbeitswelt im Nachkriegsdeutschland und ihre Veränderung kristallisierte sich in den 1950er Jahren vor allem an zwei Daten: der Diskussion um das Betriebsverfassungsgesetz 1951/52 und den ersten leichten Knick der Nachkriegsprosperität 1958. Die Erfolge der Wirtschaftspolitik Ludwig Erhards waren anfangs allenfalls für Experten des Fachs abzusehen, ebenso wie der damit verbundene Anstieg des Wohlstandsniveaus. In den ersten Nachkriegsjahren wurde die Bewirtschaftung der Industrie wie zu Kriegszeiten von den Alliierten zunächst beibehalten. Arbeit diente vor allem dazu, die notwendigen Lebensmittelkarten zu beziehen18 . Nach der Freigabe der Preise und der Währungsreform 1948 stieg die Zahl der Erwerbstätigen zunächst keinesfalls wie erwartet an, sondern entwickelte sich gegenteilig: 1950 lag der Anteil der Arbeitslosen bei zeitweise 10 Prozent, auch auf Grund des Zuzugs von Flüchtlingen aus den Ostgebieten19 . Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit wurde zu einem der vordringlichsten wirtschaftspolitischen Ziele neben der Verankerung der Sozialen Marktwirtschaft. Erst Mitte der 1950er Jahre entspannte sich die Situation auf dem Arbeitsmarkt schrittweise und schlug dem gegenüber bald in einen Arbeitskräftemangel um. Die Struktur der deutschen Wirtschaft änderte sich in den ersten Nachkriegsjahren zunächst wenig. Obwohl die großen Montanunternehmen an Rhein und Ruhr ihre einstige Stellung durch die alliierten Dekartellisierungs- und Entflech-
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Toni Pierenkämper, Kurze Geschichte der „Vollbeschäftigung“ in Deutschland nach 1945, in: Bundeszentrale Politische Bildung (Hrsg.), Vollbeschäftigung?, Aus Politik und Zeitgeschichte 62 (2012), S. 38–45, hier S. 49. Ebenda.
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tungsmaßnahmen verloren, blieben sie Anfang der 1950er Jahre der Kern der industriellen Nachkriegswirtschaft20 . Unter der Überschrift „Macht Arbeit Freude?“ präsentierte die Zeit 1949 die Ergebnisse einer EMNID Studie, in der 3000 Arbeiter zu ihrer Einstellung gegenüber ihren Arbeitsplätzen und zur Arbeit selbst befragt wurden21 . „Wenn der Deutsche erkennt, dass er arbeiten muss, um leben zu können, ist er erwachsen“, stellte der kurze Bericht heraus. Dass nur rund drei Prozent der Befragten die Arbeit als schwere Last ansehen würden, sei Ausdruck für den Fleiß der Deutschen. In der Tat entsprach der Bericht damit durchaus dem Tenor der noch spärlichen Berichterstattung der Zeit über Erwerbsarbeit in verschiedenen Branchen der bundesdeutschen Wirtschaft: Tugenden wie der Fleiß und der Wille der Deutschen zum Wiederaufstieg wurden allenthalben ins Zentrum vieler Kommentare, Berichte und Meldungen gestellt. Bevor in der bundesdeutschen Presse vom „Wunder“ in der Wirtschaft die Rede war, war die betriebliche Mitbestimmung ein Thema in den Zeitungen. Die Zeit sah darin 1951 vor allem einen „Neuen Weg zum Arbeitsethos“, da besonders durch die Einbindung der Betriebsräte auf gesetzlicher Grundlage eine höhere Bindung der Arbeitnehmer an das Unternehmen erzielt werde. Ganz nebenbei ermögliche dies den Arbeitern „individuelle Entfaltungsmöglichkeiten“22 . In der Diskussion um das Betriebsverfassungsgesetz von 1952 fand eine erste stärkere Beschäftigung mit dem Thema Arbeit und den damit verbundenen Werten in der Presse statt. Im Kern beruhte der Gesetzesentwurf auf dem Betriebsrätegesetz aus dem Jahr 1920. Vor allem die Gewerkschaften sprachen sich gegen den Gesetzesentwurf 1952 aus, da in ihren Augen die Mitbestimmung der Arbeitgebervertretungen in den Aufsichtsräten der Unternehmen zu wenig berücksichtigt worden sei23 . Die F.A.Z. kritisierte insbesondere das Vorgehen der Arbeitnehmerverbände. Der Spiegel schloss sich dieser kritischen Betrachtung der gewerkschaftlichen Linie und vor allem der Kritik an deren Streikabsichten an24 . „Die Gewerkschaften zum Beispiel sind bei der Verwirklichung ihrer wirtschaftspolitischen Forderungen anfangs ohne Frage zu weit gegangen“, titelte die F.A.Z.25 . Offenbar lag dem Blatt jedoch daran, die Stimmen der Arbeitnehmer zur aufflammenden Diskussion um Mitbestimmung zu Wort kommen zu lassen. „Unsere Leser werden 20 21 22 23 24 25
Werner Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte. Von 1945 bis zur Gegenwart, München 2004, S. 59–86. o. A., Macht Arbeit Freude? Fazit einer Umfrage, in: Die Zeit, 22.9.1949. o. A., Neuer Weg zum Arbeitsethos, in: Die Zeit, 22.2.1951. Walther Müller-Jentsch, List der Geschichte, in: Hans-Böckler-Stiftung (Hrsg.), Magazin Mitbestimmung: Respektiert und Bekämpft. 60 Jahre Betriebsverfassung 6 (2012). o. A., Die goldenen Sessel, in: Der Spiegel, 21.5.1952; o. A., Gespenst mit Schlips, in: Der Spiegel, 11.6.1952. Jürgen Eick, Gegen den politischen Streik, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.8.1952.
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den folgenden Artikel mit zwiespältigen Gefühlen zur Kenntnis nehmen, wahrscheinlich sogar mit Bestürzung. Natürlich sind viele der hier wiedergegebenen Ansichten der Arbeitnehmer falsch“, so die einleitenden Worte eines Beitrags des Jahres 195126 . Der Artikel entstand im Zuge der verschärften Debatte um die Regelungen und die generelle Gestaltung des Mitbestimmungsgesetzes und nahm ohne Zweifel die Position der Arbeitgeber ein. Vor allem die in ihren Augen überzogenen Forderungen der Arbeitnehmerschaft wurden kritisiert und auf den neu erreichten Wohlstand breiter Bevölkerungsschichten zurückgeführt. „Die Deutschen haben nach der Währungsreform im Wiederaufbau eine unerhörte dynamische Kraft entwickelt. Dieses rastlose Vorwärtsdrängen hat sich zunächst auf die Arbeit erstreckt, und es scheint sich jetzt auf die allgemeinen Zeitumstände zu verlagern. Man hat schier unmögliches in kürzester Zeit erreicht, und man glaubt nun erwarten zu können, daß sich binnen kurzem das Jammertal dieser Welt in ein Paradies verwandle. Bescheidenheit und Demut sind leider keine Tugenden unserer Nachkriegsjahre“, so der Artikel weiter27 . Angestoßen von der Diskussion um das Betriebsverfassungsgesetz, erkannten die Redakteure des Blattes bereits eine der entscheidenden Entwicklungen, die vor allem in den späteren Jahren zu einem der zentralen Argumente des Diskurses um Werteverschiebungen werden sollte: „Die materiellen Bedürfnisse, die jahrelang die Bevölkerung über Gebühr in Anspruch genommen haben, sind zum großen Teil befriedigt. Nun ist eine gewisse Leere in den Menschen entstanden, die nur mit nichtmateriellen Werten überwunden werden kann. Früher trugen die Menschen ihre Religion und ihre Vaterland im Herzen. Heute haben viele das eine und die meisten das andere verloren“, schrieb das Blatt bereits 1951 und nahm damit einen zentralen Gedanken der Wertewandeldebatte in den 1960er und 1970er Jahren bereits vorweg28 . Die Folgejahre standen dann ganz im Zeichen des Aufschwungs und fanden ihren ersten Höhepunkt am Ende des Jahrzehnts. Insbesondere 1958 entstand eine erste, von mehreren Zeitungen getragene Debatte um das Verhältnis der Deutschen zu ihrer Arbeit und zur Freizeit. In diesem Jahr war ein erster leichter Knick in der Wachstumskurve der Nachkriegswirtschaft zu verzeichnen, der die Bundesrepublik jedoch ungleich geringer traf als etwa die USA29 . In einer dreiteiligen Serie veröffentlichte Die Zeit 1958 einen Aufsatz des Wirtschaftswissenschaftlers und Soziologen Edgar Salin, der sich insbesondere mit Themen wie der zunehmenden Automatisierung der Arbeitsabläufe in der 26 27 28 29
o. A., Die Sozialen Spannungen. Wachsende Sozialkritik bei wachsendem Wohlstand, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.12.1951. Ebenda. Ebenda. Institut für Wachstumsstudien, Das Wachstum der deutschen Volkswirtschaft (IWS Papier Nr.1), S. 3. Online unter: https://web.archive.org/web/20131029195223/http://pdwb.de/ archiv/iws/iwspapier1.pdf
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Industrie und der damit verbundenen Entfremdung der Arbeiter mit dem Produkt auseinandersetzte. Daneben beschäftigte er sich jedoch als einer der ersten mit einen ganz eigenen Themenfeld: „Sehr viel schwieriger ist die andere Seite der Entfremdung zu beurteilen, nicht nur darum, weil wir über das wirkliche Verhältnis des Arbeiters von heute zu seiner Arbeit trotz vieler feldsoziologischer Untersuchungen sehr wenig wissen.“ 30 Salin fragte in diesem Zusammenhang, ob der „Rückgang an Arbeitszeit“ tatsächlich ein Fortschritt sei, angesichts des (kurzzeitig) nachlassenden wirtschaftlichen Wachstums. Die Freizeit als Teil des sich langsam einstellenden Wohlstands rückte nun stärker in den Fokus der medialen Berichterstattung. Jürgen Eick, Leiter der Wirtschaftsredaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, beschäftigte sich mit diesem Zusammenhang etwas näher in Form einer Besprechung von John Kenneth Galbraiths Buch „The Affluent Society“31 . Auf der gleichen Seite beschrieb Claus J. Küster die zunehmende Veränderung des Freizeitverhaltens der Deutschen: Durch das Übergreifen der Arbeit auf die Freizeit entwickle sich das „Steckenpferd zum Hobby“, indem man auch in der Freizeit „im Eilschritt der Tagesarbeit“ laufe32 . Bernd Heyden ging in seinem Kommentar auf den Seiten des Wirtschaftsteils der F.A.Z. gar so weit, von einem „Fluch der Unterbelastung“ zu sprechen und fragte den Leser ganz offen: „Entstehen nicht mehr Schaden und Unglück dadurch, daß man selbst zu wenig tut oder andere zu wenig tun läßt? Ganz Bestimmt. Nur spricht man nicht gerne davon“33 . „Müßiggang kann zu einer Strafe werden“, so titelte Die Zeit 1958. „Trotzdem geht das allgemeine Streben dahin, die Arbeitszeit immer mehr zu verkürzen, die Freizeit zu verlängern. Das Faulenzen bleibt offenbar seit jenem biblischen Tage der Inbegriff der eingebüßten Glückseligkeit und das Ideal einer erträumten Zukunft. Ein einziges Volk der Erde ist in tiefstem Grunde anders gesonnen: das deutsche. Es hat den Fluch in Wollust verwandelt, die Arbeitslust aufs äußerste gesteigert“, so das Blatt34 . Im Folgenden des Beitrags wurde der Kölner Kardinal Joseph Frings zitiert, der mehr Freizeit und Muße für die arbeitende Bevölkerung forderte. In der „Kunst des Faulenzens“ könne der Deutsche von den Südländern, „besonders von den Italienern“ viel lernen. Die F.A.Z. hatte angesichts des sich andeutenden Wandels des Verhältnisses vor Arbeits- und Freizeit aber auch die Stammleserschaft im Blick: die selbständigen Unternehmer. In dem ganzseitigen Beitrag „Urlaub. Beiträge für die 30 31 32 33 34
Edgar Salin, Der Mensch in der Wirtschaft des Westens 1–3, in: Die Zeit, 18.9.1958/25.9.1958/2.10.1958. John Kenneth Gailbraith, The Affluent Society, Cambridge 1958. Jürgen Eick, Gesellschaft im Überfluss/Claus J. Küster, Die Freizeit beginnt bei der Arbeit, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2.8.1958. Bernd Heyden, Der Fluch der Unterbelastung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9.12.1958. o. A., Unsegen der Arbeit, in: Die Zeit, 1.5.1958.
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betriebliche Praxis“ wurden wichtige Denkanstöße und Tipps für die Selbständigen gegeben, wie sie mit den neuen Forderungen ihrer Angestellten nach mehr Freizeit umzugehen hätten35 . Damit lässt sich insbesondere für das Jahr 1958 ein erster Höhepunkt der medialen Wertewandeldebatte der Arbeitswelt ausmachen. Angestoßen von wirtschaftlichen Entwicklungen wie dem ersten Knick der Nachkriegsprosperität, der zunehmenden Automation der Betriebe und durch das sich einstellende Wohlstandsniveau rückten vor allem die Freizeit, verstanden als Gegenstück zur Arbeit, und der Wohlstand als Folge des Fleißes in den Fokus der Berichterstattung. Werte der Arbeitswelt und ihre Bedeutung sowie Veränderung waren bereits in den 1950er Jahren Gegenstand der Berichterstattung in den bundesdeutschen Tageszeitungen. Entlang von wirtschaftspolitischen Debatten wie dem Betriebsverfassungsgesetz vollzogen sich erste mediale Bewertungen der mit Arbeit verbundenen Einstellung der Deutschen. Bereits in dieser frühen Phase erkannten einige Vertreter der Presse, welche fundamentale Entwicklung sich innerhalb der Werteskala vollzog, nicht nur in der Arbeitswelt. Der Blick auf die Berichterstattung der 1950er Jahre legt den Befund nahe, dass die Wertewandeldiskussion bereits früh über eine nicht unerhebliche (massen-)mediale Dimension verfügte, da sie über einen längeren Zeitraum in allen hier untersuchten Medien ausgetragen wurde. Der gängige Topos, den viele Zeitungen aufgriffen, war derjenige von den fleißigen Deutschen, die nach den Zerstörungen des Krieges mit viel Arbeitseifer wieder den Aufstieg schafften. In den Zeitungen hatte Arbeitsethos, vor allem wenn es mit Fleiß verbunden war, durchaus eine nationale Komponente in den 1950er Jahren wie auch in den folgenden Jahrzehnten.
Die 1960er Jahre – „Sind vierzig Stunden genug?“ Diese Frage stellte Albert Seyler sich und den Lesern 1960 in der F.A.Z.36 . Gemeint war damit freilich die wöchentliche Arbeitszeit. Diese lag 1960 vielfach noch bei 48 Wochenstunden. Die 1960er Jahre werden in der Forschung nicht selten als „Golden Age“ der deutschen Arbeitswelt mit einer „Vollauslastung des Erwerbspotenzials“ und anscheinend grenzenloser Prosperität beschrieben37 . Die Arbeitslosenrate lag zeitweise bei nur zwei Prozent, während die stetig steigende Produktion nach 35 36 37
Ludwig Kroeber-Keneth, Urlaub. Beiträge für die betriebliche Praxis, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.7.1959. Albert Seyler, Sind vierzig Stunden genug?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3.9.1960. Pierenkemper, Vollbeschäftigung, S. 39. Kritisch dazu Martin Werding, Gab es eine neoli-
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immer mehr Arbeitskräften verlangte. Zunächst konnte die gestiegene Nachfrage bis zum Mauerbau 1961 durch den Zuzug aus der DDR gestillt werden. Danach bedingte die verstärkte Anwerbung von Gastarbeitern vor allem einen Anstieg ausländischer Erwerbstätiger: 1966 lag deren Anteil bei 6,3 Prozent38 . Erst die leichte Krise der Jahre 1966/67 machte deutlich, dass sich neue Herausforderungen für die deutsche Wirtschaft ergaben. Die Bundesrepublik hatte in diesen Jahren noch ganz das Gesicht einer von Schwerindustrie geprägten Industriegesellschaft, in der sich erst später der Schritt hin zu einer vom tertiären Sektor geprägten Wirtschaft vollzog, wie in anderen Industrienationen39 . Das Normalarbeitsverhältnis, also die volltägliche, unbefristete Erwerbsarbeit, oft in einer langen Zeitspanne für den gleichen Arbeitgeber, markierte das vorherrschende Beschäftigungsverhältnis der männlichen Arbeitnehmer40 . Neben der rasanten Prosperität vollzog sich auf Seiten der Arbeitnehmer ein allmählicher Wandel: Konsum entwickelte sich in Folge neuer finanzieller Möglichkeiten breiter Schichten der Bevölkerung zu einem neuen Weg, dem eigenen Ich Ausdruck zu verleihen. Der Konsum wurde neben der Arbeit zu einem gesellschaftlich immer wichtigeren Teil des Alltagslebens und erhielt formative Kraft für das Selbstbild vieler Menschen in den westlichen Industrienationen41 . Der Anfang der später vielfach zitierten „Überflussgesellschaft“ lag in den soziokulturellen und wirtschaftlichen Entwicklungen der 1960er Jahre42 . Zudem machte das gesicherte Erwerbseinkommen neue Arten der Freizeitgestaltung möglich. Zwischen 1960 und 1975 fiel die durchschnittliche Wochenarbeitszeit eines männlichen Arbeitnehmers von 47,5 auf 42,2 Wochenstunden43 . Hinzu kamen neue technische Innovationen wie Wasch- und Spülmaschinen, die zusätzliche Freizeit neben der häuslichen Tätigkeit schaffen konnten. All die oben beschriebenen Entwicklungen der Arbeitswelt der 1960er Jahre
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berale Wende? Wirtschaft und Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik Deutschland ab Mitte der 1970er Jahre, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 56 (2008), S. 303–321. Ulrich Herbert, Geschichte der Ausländerbeschäftigung in Deutschland 1880–1980: Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Berlin 1986, S. 179–236. Andreas Rödder, Das „Modell Deutschland“ zwischen Erfolgsgeschichte und Verfallsdiagnose, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 54 (2006), S. 345–363, hier S. 347. Toni Pierenkämper, Der Auf- und Ausbau eines „Normalarbeitsverhältnisses“ in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, in: Rolf Walter (Hrsg.), Geschichte der Arbeitsmärkte. Erträge der 22. Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 11.-14. April 2007 in Wien, Stuttgart 2009, S. 77–112. Andreas Wirsching, Konsum statt Arbeit? Zum Wandel von Individualität in der modernen Massengesellschaft, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 57 (2009), S. 171–199, hier S. 172. Rödder, Modell Deutschland, S. 353. Entwicklung der Wochenarbeitszeit 1960 bis 2011, in: Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Statistisches Taschenbuch 2011. Statistisches Bundesamt 2012.
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und damit auch ihre fortschreitende Veränderung, blieben von den Zeitungen und Zeitschriften nicht unkommentiert. Vor allem das Thema Arbeitszeitverkürzung und Freizeit bestimmte zu Beginn der 1960er Jahre den medialen Diskurs. Im Beitrag von Seyler unter der Leitfrage „Sind 40 Stunden genug?“, versuchte er als einer der ersten Journalisten auf der Grundlage statistischer Erhebungen zu zeigen, dass der Arbeitseifer der Deutschen enorm gesunken sei. Er stellte kurz und knapp fest: „Der deutsche Arbeiter ist nicht mehr der Musterknabe an Arbeitseifer unter seinen europäischen Kollegen.“44 Der Autor war Wirtschaftsredakteur der F.A.Z. und zuvor beim Statistischen Amt des Saarlandes beschäftigt45 . Seyler erkannte in der Arbeitszeitverkürzung eine gefährliche Entwicklung: „Die deutschen Arbeiter haben in kürzester Zeit nachgeholt, was sie früher in Bezug auf Arbeitszeit und Freizeit versäumt hatten. Die effektive Arbeitszeit – die bezahlten wie geleisteten Stunden – ist in den Nachbarländern in der Vergangenheit langsamer und in weit besserer Übereinstimmung mit der Entwicklung der Produktivität herabgesetzt worden als in der Bundesrepublik. Auch was die weiteren Wünsche und Pläne betrifft, geht man in den Nachbarländern wirtschaftlich sinnvoller und maßvoller vor, als es bei uns anscheinend beabsichtigt ist.“46 Der Autor kritisierte damit insbesondere, dass sich die Zahl der Arbeitsstunden verringert habe, ohne dass dabei auf wirtschaftliche Notwendigkeiten geachtet würde. Dieser Kritik folgend beschrieb sein Redaktionskollege Jürgen Eick: „Seit Jahren wird in dieser Zeitung immer wieder die Frage aufgeworfen: ‚Sind wir noch so fleißig‘, wird die ‚weiche Welle‘ aufs Korn genommen, die augenzwinkernde Duldung von Bummelei, Schlendrian und unentschuldbarem Müßiggang im Betrieb – alles Dinge, die im Sog der Überbeschäftigung und ziemlich neu für dieses Land ihren Einzug gehalten haben“47 . Was Eick hier als „weiche Welle“ identifizierte, war nichts anderes als die sich abzeichnende Veränderung der Arbeitswelt, was in seinen Augen mit dem aufkommenden Wohlstand breiter Bevölkerungsschichten zusammenhing. Die F.A.Z. nahm in dieser Phase vor allem die Position eines kritischen Beobachters der Entwicklung ein. Mit großer Einheitlichkeit entdeckten die Autoren vor allem Gefahren, die in ihren Augen aus der Werteverschiebung der Berufswelt resultierten. „Unsere Väter sagten uns durch den Volksmund, Müßiggang sei aller Laster Anfang. Was wird unsere Generation den Enkeln als Volksweisheit auf den Weg geben, wenn es so weiter geht?“48 , so ein Kommentar auf den Wirtschaftsseiten der Zeitung aus dem Jahr 1962. 44 45 46 47 48
Albert Seyler, Sind vierzig Stunden genug?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3.9.1960. Ders., 90 Jahre alt, in: „Wirtschaft im Saarland“, 04/2011. Seyler, Sind vierzig Stunden genug?. Jürgen Eick, Wie uns die Auslandskunden sehen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7.7.1962. o. A., Aller Laster Anfang?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.6.1963.
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Weniger kritisch, wenngleich sehr aufmerksam, wurde die sukzessive Verringerung der Arbeitszeit von Zeit und Spiegel begleitet. Siegfried Lenz, dessen 1959 erschienener Roman „Brot und Spiele“ bereits vielfach als Kritik an der leistungsorientierten Arbeitsgesellschaft der 1950er und 1960er Jahre verstanden wurde, schilderte in einem Beitrag für die Zeit 1962 seine Sicht auf das Spannungsfeld zwischen Arbeits- und Freizeit. Er verteidigte und plädierte für den „Müßiggang“. In Zeiten der prosperierenden Wirtschaft und des steigenden Wohlstands, meinte der Schriftsteller entdeckt zu haben, dass „in gewissen Kreisen“ über den Herzinfarkt gesprochen werde „als handle es sich um einen Ritterschlag, um die Aufnahmegebühr in einen Orden der Rastlosen“49 . Für ihn war der Wohlstand aber gerade kein Grund dafür, dass sich die Einstellung der Erwerbstätigen zu ihrer Arbeit schrittweise ändere, sondern er sah darin einen Anreiz für das Festhalten an einem klaren Leistungsprinzip. Der Publizist und Vorreiter der Zukunftsforschung Robert Jungk folgte einer ähnlichen Argumentation wie Lenz, indem er prophezeite: „Eine seltsame Umkehrung kündigt sich an: Die Menschen haben sich stets vor dem ‚Fluch der Armut und der Arbeit‘ gefürchtet. Jetzt beginnen sie, den ‚Fluch des Reichtums und des Müßiggangs‘ zu fürchten. Wir sind auf das ‚Goldene Zeitalter‘ nicht vorbereitet“50 . Der Spiegel widmete der Freizeit 1964 ein ganzes Titelthema, was Mitte der 1960er Jahre in allen hier untersuchten Medien zu einem wiederkehrenden Thema wurde. „Selbst wenn massenhafte Mußebildung möglich wäre, könnte sie eher zur Gefahr werden für eine Industriegesellschaft, die auf Gedeih und Verderb von einer permanenten Ausdehnung der Produktion und des Konsums, von pekuniärer Konkurrenz und dem rastlosen Streben nach Karriere und Sozialprestige abhängt“, so das Nachrichtenmagazin durchaus kritisch51 . Ebenfalls wurden die Auswirkungen der Automation der Industrie stark diskutiert und vor allem vor deren Folgen für die Arbeitnehmer gewarnt52 . Die F.A.Z. hielt Mitte der 1960er unentwegt an der alten Erzählung fest. Nikolaus Benckiser erkannte in seinem Leitartikel für das Blatt 1966 auf Seite eins: „So viel heute über mangelnde Arbeitswilligkeit und Bestrebungen zur ständigen weiteren Verkürzung der Arbeitszeit geklagt wird, so berechtigt diese Klagen auch sind – so wenig werden bei den Mahnungen und Appellen moralische Töne angeschlagen. Die Argumente werden vielmehr fast ausschließlich aus dem Bereich der volkswirtschaftlichen Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit geholt. Das ist nicht ganz selbstverständlich. Denn es ist noch nicht so lange her, dass die allgemeine Vorstellung von Arbeit eine andere war als heute. Das biblische Gebot ‚Im Schweiße deines Angesichts. . . ‘ gab der Arbeit weitgehend losgelöst von 49 50 51 52
Siegfried Lenz, Müßiggang oder das aktive Nichtstun, in: Die Zeit, 30.3.1962. Robert Jungk, Richtung Zukunft, in: Die Zeit, 18.2.1962. o. A., Die Dame auf dem Tiger, in: Der Spiegel, 9.9.1964. Wie etwa in dem Heft mit dem Thema „Automation in Deutschland“ vom 1.4.1964.
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ihrem Zweck und Ertrag, vor allem einen religiösen Akzent“53 . Der Autor warnte davor, aus falschen volkswirtschaftlichen Schlussfolgerungen abzuleiten, die Arbeitszeit verkürzen zu müssen. Stattdessen stellte er heraus: „Aber im ganzen vermehrt die moderne technische Entwicklung eher die Arbeitsstellen, bei denen es auf Leistung und Verantwortung ankommt, als dass sie sie vermindert. Ist nicht von dieser Seite her eine Gegenwirkung gegen jene Tendenzen zu erhoffen und zu erreichen, die die Arbeitsleistung in der Volkswirtschaft insgesamt in gefährlichem Ausmaß zu vermindern drohen?“54 Ab Mitte des Jahrzehnts trat dann ein Phänomen in die Zeitungslandschaft, was einerseits als bedrohlich, andererseits aber als derart interessant erschien, dass ihm ganze Seiten und Titelgeschichten gewidmet wurden: der Gammler. Was genau damit gemeint war, blieb zunächst noch unscharf. Die F.A.Z. schenkte ihm 1965 als erstes Blatt größere Aufmerksamkeit. „Die echten und unechten Gammler. Beobachtungen einer Bürgerlichen“ war einer der ersten Artikel, der dem Gammler nun eine größere Bühne einräumte55 . Neben allerlei Beschreibungen der „verlotterten Landstreicher“, die „bisher geschickt von Wasser und Friseur ferngehalten wurden“, finden sich erste Erklärungsansätze für das Phänomen. Die Autorin mit dem Kürzel „el“ meinte gefunden zu haben, was die Jugend derart beeinflusst hatte56 : „Es zeigt sich ein gewisser Überdruss, eine gewisse Sattheit und Abgestumpftheit gegenüber allem, was sich anbietet. [. . . ] – also warum noch arbeiten?“. Der Spiegel machte die Gammler 1966 zur Titelgeschichte und fand nicht weniger drastische Beispiele für deren anstößiges Leben: „Ernst August Meves, 25, gelernter Bergknappe aus Lüneburg, dreht sich in der Berliner „Dicken Wirtin“ gelangweilt um und erbricht zwei Flaschen Helles über die Stuhllehne. Mit einem 40-Pfennig-Kamm, den er am Nachmittag bei Woolworth mitgehen ließ, fährt er schweigend durch seinen Bart. Das ist seine Arbeit“57 . Synonym zum Begriff der Gammler entwickelte sich die Zuschreibung vom „Provo“. „Das Volk, das sich zur Erhebung versammelt, besteht aus Provos, den militanten Gammlern Amsterdams. Wo zwei zusammenstehen, sollte wohl einer, so wie man da umeinander geschlungen steht, männlich sein und der andere weiblich: Nur: Wer ist wer? Haare wallen, Hosen beulen sich. Bärte allein sind dankbar begrüßte Seezeichen. Die sich hier sammeln sind gegen alles, auch
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Nikolaus Benckiser, Im Schweiße deines Angesichts, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2.8.1966. Ebenda. Die echten und unechten Gammler, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7.8.1965. Ob sich Elisabeth Noelle-Neumann hinter dem Kürzel „el“ verbarg, lässt sich nicht eindeutig rekonstruieren. Sie hielt jedoch ab Mitte der 1950er Jahre relativ engen Kontakt zur F.A.Z., insbesondere zu Erich Welter, Herausgeber des Wirtschaftsteils, dazu: Kutzner, Das Wirtschaftsressort der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. o. A., Gammler. Schalom alacheim, in: Der Spiegel, 19.9.1966.
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gegen jene Ausübung von Hygiene, die als Körperpflege bekannt ist“58 . Doch die Hygieneentsagung machte nur einen Teil der Provokation aus. Sie bestand in erster Linie in der Arbeits- und Konsumverweigerung der Gammler, die in nahezu allen Beiträgen hervorgehoben wurde. Dass sie keinen Besitz erstrebten, materielle Werte ablehnten und immaterielle (Selbstfindung, Selbstdarstellung) anstrebten, erkannten die Journalisten59 . Der Tenor war klar: Wer sich der von Arbeit, Konsum und sozialem Aufstiegsstreben geprägten deutschen Gesellschaft entzieht, der gehört nicht dazu. In den Augen weiter Teile der Presse gehörten sie nicht in das Bild der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft, denn sie definierten sich eben nicht über den Konsum, den der neue Wohlstand durch harte Arbeit möglich machte60 . In den Augen der Zeitungen grenzten die Gammler und Provos sich vor allem durch zwei Dinge vom Rest ab: durch ihr Äußeres, aber vor allem durch ihren Entzug aus den Logiken der Arbeitswelt der 1960er Jahre „Wohlstand durch Fleiß“. An der kritischen Kommentierung der Gammler lässt sich herauslesen, dass weite Teile der Presse noch verstärkt in dieser Logik dachten. Das einzige größere Blatt, welches die Gammler in der Mitte der 1960er Jahre nicht durchweg negativ sah, war die Süddeutsche Zeitung. „Alles hat sich gegen den Gammler und sein freies Leben verschworen“, titelte das Münchner Blatt 196661 . Bis in die 1970er Jahre hielten sich die Gammler recht hartnäckig in der Presselandschaft. Die Berichterstattung zum Thema Arbeitsethos in den Zeitungen der 1960er Jahre zeichnete sich dadurch aus, dass sich im Vergleich zu den 1950er Jahren die medialen Betrachtungsweisen allmählich thematisch weiteten, wenngleich dieser Prozess am Ende des Jahrzehnts erst verstärkt einsetzte. Wohlstand, Automation und der steigende Stellenwert der Freizeit als Ausgleich zur Arbeitszeit waren gängige Themen, an denen die Journalisten und Gastautoren die Veränderungen der Arbeitswelt erkannten. Deren Beurteilung war jedoch unterschiedlich. Während die F.A.Z. die Entwicklung in ihrer Gänze kritisch kommentierte und auch der Spiegel in dieser Phase noch skeptisch auf die Entwicklung des Arbeitsethos der Deutschen schaute, ließ die Zeit in Form namhafter Gastschreiber Positionen zum Thema zu Wort kommen, die diese Veränderung begrüßten. Einzig die Gammler als Aussteiger aus der Leistungsgesellschaft wurden in der Breite der Berichterstattung vor allem skeptisch kommentiert. Im Unterschied zu den 1950er Jahren gab es keine signifikante Häufung von Artikeln zu Werten der Arbeitswelt in einer bestimmten Phase.
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Gerhard Mauz, Die Verschwörung der Provos zu Amsterdam, in: Der Spiegel, 14.3.1966. o. A., Gammler. Schalom alacheim, in: Der Spiegel, 19.9.1966. In Anlehnung an Wirsching, Konsum statt Arbeit?. So beschrieb es die F.A.Z. 1966 in der Rubrik „Die Stimmen der Anderen“ siehe o. A., Der Riese und die Gammler, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1.7.1966.
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Noch war der Topos vom Wohlstand durch Fleiß durchaus beliebt in der ganzen Bandbreite der Schattierung medialer Berichterstattungen. Zum Ende des Jahrzehnts deutete sich an, dass sich die medialen Betrachtungswinkel von Werten der Arbeitswelt jedoch allmählich weiteten, ohne dass die Zeitungen von einem echten Wertewandelschub am Ende der 1960er Jahre erfasst worden wären, denn dieser setzte verstärkt erst in den 1970er Jahren ein.
Die 1970er Jahre – „Arbeit ist ein Monstrum“ Die Frage, ob die 1970er Jahre einen „Strukturbruch“ markierten oder ob diese im Kontinuum der Nachkriegsgeschichte zu betrachten sind, beflügelte zahlreiche jüngere zeithistorische Forschungen62 . Unabhängig davon war das Jahrzehnt die Phase vielschichtiger und tiefgreifender Entwicklungen der Arbeitswelt63 . Nach dem Ende der Kanzlerschaft Ludwig Erhards im November 1966 änderte sich vor allem der wirtschaftspolitische Kurs unter dem neuen Wirtschaftsminister Karl Schiller. Statt liberaler Reformen im Rahmen staatlicher Wettbewerbsordnung vollzog die Bundesregierung nun den Wandel hin zu einem keynesianisch inspirierten wirtschaftspolitischen Modell der konjunkturbasierten Planung64 . Für die 1970er Jahre stellt die Forschung dann jedoch den Übergang zu neoliberalen Wirtschaftsauffassungen fest. Die Abkehr vom 1944 eingeführten System von Bretton Woods im Jahr 1971 mit festen Wechselkursen und der freien Konvertierbarkeit der Währungen bedingte eine anhaltende Unsicherheit und Krisenstimmung auf dem Weltmarkt. Die Energiekrisen 1973 und 1979 und deren Ausformungen, wie der autofreie Sonntag, sind noch heute vielfach im kollektiven Gedächtnis verankert. Gleichzeitig zur krisengeschüttelten Wirtschaftslage arbeitete die sozial-liberale Koalition unter Willy Brandt und später Helmut Schmidt am Ausbau sozialstaatlicher Leistungen65 . Parallel dazu vollzog sich der strukturelle Wandel von der Industrie- hin zur industriellen Dienstleistungsgesellschaft66 . Die Begleiterscheinungen dieser Tertiärisierung waren Rationalisierungen in der industriellen Produktion und der 62
63 64 65
66
Anselm Doering-Manteuffel, Nach dem Boom. Brüche und Kontinuitäten der Industriemoderne seit 1970, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 55 (2007), S. 559–581, hier S. 560. Anselm Doering-Manteuffel/ Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2010. Abelshauser, Wirtschaftsgeschichte, S. 371–392. Hans Günther Hockerts, Metamorphosen des Wohlfahrtsstaates, in: Martin Broszat (Hrsg.), Zäsuren nach 1945. Essays zur Periodisierung der deutschen Nachkriegsgeschichte, München 1990, S. 35–46. Rödder, Modell Deutschland, S. 347.
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massenhafte Abbau von Arbeitsplätzen. Einstmals zentrale Industriebranchen der Wirtschaftswunderzeit rutschten in tiefe Krisen und mit ihnen ihre Beschäftigten. Was bereits in der ersten kleinen Wirtschaftskrise 1966 deutlich wurde, zeigte sich zu Beginn der 1970er umso stärker: Die immer weiter fortschreitende Internationalisierung erzeugte in der deutschen Wirtschaft einen starken „Anpassungsdruck“, dem die klassischen Industriesparten kaum gewachsen waren67 . Das auf Massenkonsum und Massenproduktion beruhende fordistische Produktionssystem brach zusammen und zog die erste Welle der Massenarbeitslosigkeit in der Bundesrepublik nach sich68 . Die Struktur der Arbeitswelt änderte sich fundamental: Viele Arbeiter in den klassischen Industriezweigen wurden durch den maschinellen und technologischen Fortschritt ersetzt, wodurch das Bild des „Industriearbeiters“ schrittweise aus der Alltagskultur verschwand69 . Das Auslaufen des Nachkriegsbooms bedeutete auch das Ende des Fortschrittsoptimismus, der in den Jahren des Wirtschaftswunders so viele Deutsche geprägt hatte70 . Abseits der tiefgreifenden strukturellen Veränderung der deutschen Wirtschaft und der Krisen auf dem Weltmarkt vollzogen sich nachhaltige gesellschaftliche Wandlungen in der Bundesrepublik der 1970er Jahre, die einen Bruch mit vielen Traditionen der Nachkriegsjahrzehnte darstellten. Das Verhältnis und die Konsistenz „gesamtgesellschaftlich gültiger Normen und Werte“ änderten sich grundlegend71 . Die Geburtenraten brachen ein, da sich die Sexualmoral veränderte. Die Kirchenbindung ließ nach. Als Gegenentwurf zur gehorsamsorientierten Kindererziehung setzten sich antiautoritäre Modelle durch. Unabhängig von der Diskussion, welchen Stellenwert man der sozialwissenschaftlich generierten These vom „Wertewandelschub“ in den 1970er Jahren beimessen mag72 : Die bundesdeutschen Qualitätszeitungen blickten in dieser Phase stärker als in den vorangegangenen Dekaden auf die Neugewichtung unumstößlich geglaubter Wertvorstellungen der Arbeitswelt und fanden darüber hinaus vielfarbige Kommentierungen dieser Entwicklung. Dies lag in besonderem Maße an den „Experten“ des Wertewandels, die nun stärker in die Öffentlichkeit traten. Fachleute aus Politik, Soziologie und Demoskopie traten an, das Phänomen 67 68 69 70
71 72
Pierenkemper, Vollbeschäftigung, S. 42. Werner Abelshauser, Nach dem Wirtschaftswunder. Der Gewerkschaftler, Politiker und Unternehmer Hans Matthöfer, Bonn 2009, S. 369ff. Manteuffel, Kontinuitäten, S. 564. Hans Maier, Fortschrittsoptimismus oder Kulturpessimismus. Die Bundesrepublik Deutschland in den 70er und 80er Jahren, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 56 (2008), S. 1–17. Rödder, Modell Deutschland, S. 355. Den Wertewandelschub im „Sinne einer beschleunigten Entwicklung“ hält Rödder für plausibel, siehe ders., Wertewandel, S. 17–39, hier S. 37. Gegenteilig wird der Befund beurteilt von Dietz/Neumaier, Nutzen.
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des Wandels von Normen und Werten in der Arbeitswelt zu erklären. Bereits lange vor Elisabeth Noelle-Neumanns Artikel „Werden wir alle Proletarier?“ in der Zeit vom 13.6.1975 tobte die mediale Schlacht um die Deutungshoheit des gesellschaftlichen Wandels73 . Der Spiegel nahm 1970 Bezug auf eine Umfrage des „Brüsseler Informationsbüros der Europäischen Gemeinschaft“, in der nach der konservativen oder progressiven Einstellung der westeuropäischen Bevölkerung gefragt wurde. In den Augen des Nachrichtenmagazins trat darin vor allem eines zu Tage: „Noch sind die Westdeutschen konservativer als die anderen Westeuropäer. Aber dank ihrer Zwanzigjährigen dürfen sie hoffen, die progressiven Nachbarn bald einzuholen“74 . Der oder die Autoren relativierten die Sicht durch die Befunde Ronald Ingleharts, der auf dem Internationalen Politologenkongress in München ebenfalls 1970 die Ergebnisse seiner Umfragen präsentierte75 . Er bescheinigte den deutschen unter 20-Jährigen eine überwiegend progressive Einstellung. Der Artikel im Spiegel bezog sich auf Inglehart, nach dessen Erkenntnissen die Gründe für die „Reaktion nicht in der deutschen Seele, sondern im politischen Bewusstsein der älteren Generation ganz Westeuropas liegen. So hat zum Beispiel ein 20jähriger Deutscher mit einem 20jährigen Italiener viel mehr gemein als mit einem 60jährigen Deutschen“76 . Ingleharts zentrale These der Präferenzverschiebung in den westeuropäischen Gesellschaften des letzten Drittels des 20. Jahrhunderts von „materialistischen“ hin zu „postmaterialistischen“ Werten griff der Spiegel in diesem Beitrag prominent auf. „Für die jüngeren, im Wohlstand aufgewachsenen Jahrgänge ist nach Inglehart der ökonomische Durst gestillt: Sie setzen ihre Energien für neue Ziele, darunter „radikale soziale Veränderungen“ (Inglehart) ein. Die Unterprivilegierten und die Älteren dagegen, die in ihrem eigenen Leben Not gelitten haben, wollen vor allem die einmal erreichte wirtschaftliche Sicherheit konservieren“77 . Dieser zentrale Gedanke im Schema Ingleharts, der für die Autoren wohl durchaus einleuchtend erschien, wurde um seine These vom daraus resultierenden Wahlverhalten der deutschen Jugend ergänzt. Der Politologe sagte voraus, dass vor allem die SPD davon profitieren würde, dass sich immer mehr junger Menschen mit ihr als Partei identifizieren könnten, da sie stärker für „postmaterialistische“ Werte stehe als die konservative Seite. „Da die Linksparteien demnach mehr Zulauf als Abgänge haben, müßten sie nach dem Inglehartschen Gesetz schließlich in ganz Westeuropa die Mehrheit gewinnen.“ Das Nachrichtenmagazin wandte diesen 73 74 75 76 77
Elisabeth Noelle-Neumann, Werden wir alle Proletarier?, in: Die Zeit, 13.6.1975. o. A.: In der Wüste, in: Der Spiegel, 19.10.1970. Ronald Inglehart, The Silent revolution in Europe. Intergenerational Change in Post-Industrial Societies, in: American Political Science Review 65 (1971), S. 991–1017. o. A.: In der Wüste, in: Der Spiegel, 19.10.1970. o. A.: In der Wüste, in: Der Spiegel, 19.10.1970.
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Gedanken sogleich auf die deutsche Tagespolitik an: „Die Untersuchung wurde im März dieses Jahres abgeschlossen – drei Monate vor den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfahlen, Niedersachsen und dem Saarland“78 . Edith Zundel, Sozialpsychologin und Ehefrau des späteren stellvertretenden Chefredakteurs der Zeit Rolf Zundel, befasste sich 1971 mit dem bereits von Inglehart angedeuteten „Generationenproblem“: „Die leise Revolution nennt Inglehart seine Untersuchung, einen Vergleich europäischer Industrienationen. Überraschend dabei ist, daß sich dies so deutlich nachweisen läßt: wo immer eine Generation in Sicherheit ohne wirtschaftliche Not aufwächst, sind ihr freie Meinungsäußerung und demokratische Partizipation wichtiger als Sicherheit, Ordnung und Preisstabilität“79 . Zundel sah die Folgen dieser Entwicklung vor allem im Zusammenleben unterschiedlicher Generationen in der Gesellschaft. „Inglehart nannte die ersten akquisitiven, die zweiten die post-bourgeoisen Bedürfnisse. Am deutlichsten „post-bourgeois“ ist dabei die jüngste Gruppe, die der 19- bis 25-Jährigen. Sie sind in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg aufgewachsen und haben materielle Not nie kennengelernt. Zwischen dieser und der älteren Generation liegt ein deutlicher Schnitt“, so die Autorin80 . Zwei Jahre später titelte der Spiegel in der Unterrubrik Soziologie „Arbeit ist ein Monstrum“ und fasste darunter die Ergebnisse einer Studie der KaiserPreussag Aluminium GmbH zusammen81 . Die Umfrage unter den Beschäftigten habe ergeben, dass Arbeit zunehmend als „Monstrum“ aufgefasst werde. „Arbeit, Leistung und Fortschritt, die Ideale der Wettbewerbsgesellschaft, werden immer mehr angezweifelt“, so der Beitrag. Vor allem die Arbeitszeit sei kritisch zu hinterfragen. Ohnehin sei die Produktion nun an ihrem Höhepunkt angelangt. Ein grundlegender Wandel der Wert- und Zielvorstellungen der Industriegesellschaft sei „ultimativ“ geboten, so der Artikel, der noch eine Reihe ähnlicher Studien von Unternehmen kommentierte. Die zitierten Beispiele zeichneten den Trend der Berichterstattung im Nachrichtenmagazin für die 1970er Jahre vor: Die Werteverschiebungen der Arbeitswelt wurden zunehmend weniger kritisch betrachtet, ja sogar in nicht wenigen Beiträgen nun begrüßt. An die Stelle der kategorischen Ablehnung von Arbeitszeitverkürzung und Selbstentfaltung trat eine immer stärkere Befürwortung und Thematisierung. Das Magazin veröffentlichte 1975 eine große Titelgeschichte und Serie zum Freizeitverhalten der Deutschen. Auch der Stress in der Schule durch Überforderung und Überbelastung wurde von dem Nachrichtenmagazin teils heftig angeprangert82 . 78 79 80 81 82
Ebenda. Edith Zundel, Je jünger, desto kritischer. Neueste Untersuchungen zum Generationenproblem: Jung und alt denken sich weiter auseinander, in: Die Zeit, 21.7.1972. Ebenda. o. A.: Arbeit ist ein Monstrum, in: Der Spiegel, 10.7.1972. Die vierteilige Serie wurde in den Heften 5 bis 9 des Jahres 1975 veröffentlicht. Thematisiert
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In diese sich langsam kontroverser ausgestaltende und sich vor allem auf Ingleharts Thesen stützende Debatte schlug Elisabeth Noelle-Neumanns viel zitierter Artikel „Werden wir alle Proletarier?“ 1975 fulminant ein83 . Er fiel zeitlich in die Phase nach der ersten Welle medialer Beschäftigung mit den Thesen Ingleharts und vor den ersten groß angelegten Studien des Instituts für Demoskopie Allensbach (IfD) zur Arbeitszeitverkürzung 1983 mit dem Titel „Arbeitszeitverkürzung. Eine repräsentative Bevölkerungsumfrage zur Resonanz der Forderung nach einer Verkürzung von Wochen- und Lebensarbeitszeit“84 . Die Studien wie auch der Artikel Noelle-Neumanns sind im Kontext der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung der vorangegangenen Jahre zu lesen. Mit beidem verbanden sich „politisch-kulturelle Prämissen“ die für die Deutungskontexte beider von erheblicher Bedeutung waren85 . In ihrem Beitrag für die Zeit beschrieb Noelle-Neumann den „Prozess der Erosion bürgerlicher Tugenden“ und entsprach damit dem Deutungshorizont vieler ihrer späteren Studien. Der Aufhänger ihrer Kritik waren festgestellte Veränderungen in den Erziehungsidealen zwischen 1967 und 1972. „Im raschen Absinken fanden wir, was 250 Jahre als bürgerliche Tugenden gepflegt worden war. Der Abbau vollzog sich in der Arbeiterschaft, aber darüber hinaus in allen Bevölkerungsschichten – und am radikalsten immer bei der jüngeren Generation [. . . ] starke Schwankungen in den Grundüberzeugungen würden eine Gesellschaft in ihrem Bestand gefährden. Wenn Veränderungen im Wertesystem derartige Ausmaße annehmen, empfindet das der Zeitgenosse als revolutionär – und er hat recht damit.“ In einem eigenen Absatz beschäftigte sie sich eingehender mit der Veränderung von Wertvorstellungen in der Arbeitswelt, vor allem mit der in ihren Augen gegensätzlichen Entwicklung von zunehmendem Wohlstand bei zunehmender Betonung von Freizeit als Gegensatz zur Arbeitszeit: „Die Vorstellung, daß materieller Besitzstand und materielle Sicherheit das Bewußtsein prägen, barg unausgesprochen die Erwartung, es müßte der Angleichung des Lebensstandards auch eine Hinwendung zu bürgerlichen Werten folgen [. . . ]. Umgekehrt ist eine Anpassung der Angestellten, selbst der Selbständigen, an das Werte-System der Proletarier festzustellen, am deutlichsten bei der jungen
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wurden vor allem die Folgen des veränderten Freizeitverhaltens der Deutschen für die Zukunft, vgl. o. A., Im Jahre 2000: Sehnsucht nach Arbeit, in: Der Spiegel, 24.2.1975. Elisabeth Noelle-Neumann, Werden wir alle Proletarier?, in: Die Zeit, 13.6.1975. Später in Buchform Dies., Werden wir alle Proletarier? Wertewandel in unserer Gesellschaft, Zürich 1979. Institut für Demoskopie Allensbach, Arbeitszeitverkürzung. Eine repräsentative Bevölkerungsumfrage zur Resonanz der Forderung nach einer Verkürzung von Wochen- und Lebensarbeitszeit, Allensbach 1983. Norbert Grube, Seines Glückes Schmied? Entstehungs- und Verwendungskontexte von Allensbacher Umfragen zum Wertewandel 1947–1990, in: Dietz/Neumaier/Rödder, Gab es den Wertewandel?, S. 95–119, hier S. 114.
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Generation“, schrieb sie. An diesem Punkt des Beitrags schien unzweifelhaft Noelle-Neumanns kulturkritische Sorge durch, dass auf den Verfall zentraler bürgerlicher Werte eine Schwächung des Westens in der Auseinandersetzung des Kalten Krieges folgen könne86 . Werte der Arbeit wirkten nach ihrer Auffassung damit zentral auf die große weltpolitische Auseinandersetzung der Zeit ein. Der Artikel provozierte nicht nur ein breites gesellschaftliches und wissenschaftliches Echo, sondern gleichfalls eine anhaltende mediale Diskussion.87 Nun war sie entbrannt: die breit geführte und von demoskopischen Erhebungen befeuerte mediale Debatte. Dem Artikel Noelle-Neumanns entgegnete Karl Otto Hondrich in einer der nachfolgenden Ausgaben der Zeit: „Soweit sich Wertvorstellungen der sozialen Klassen angleichen, geschieht dies nicht einfach durch Anpassung von oben nach unten („wir werden alle Proletarier“) oder von unten nach oben („Verbürgerlichung“); es zeichnet sich vielmehr eine neue Rangordnung der Werte ab, in der Freiheits- und Gleichheitswerte gegenüber materiellen Werten an Bedeutung gewinnen“88 . Hondrich war Soziologe und beschäftigte sich intensiv mit dem Spannungsfeld von Wirtschaft und sozialen Konflikten89 . Rund ein Jahr später, 1976, holte Noelle-Neumann dann erneut aus und beschwor nicht weniger als eine „Revolution“ des Wertesystems90 . Sie stellte zunächst fest, dass sich die Verschiebung der Werte in den Jahren zwischen 1972 und 1975 nicht signifikant weiterentwickelt habe und eher stagniere. Viel wichtiger als diese Feststellung war demgegenüber ihre Definition von „Werten“, zumal „bürgerlicher Werte“. „Mit dem Ausdruck ‚bürgerlich‘ zu hantieren, als sei es ein eindeutiger Begriff wie Tisch und Stuhl, hat Anstoß erregt“, gestand Noelle-Neumann ein. Sie teilte den Lesern in diesem Beitrag mit, was sie darunter verstand: „Der hohe Wert von Arbeit, von Leistung; Überzeugung, und sich Anstrengen, Glaube an Aufstieg und Gerechtigkeit des Aufstiegs; Bejahung von Unterschieden zwischen den Menschen und ihrer Lage; Bejahung des Wettbewerbs, Sparsamkeit als Fähigkeit, kurzfristige Befriedigung zugunsten langfristiger zurückzustellen; Respekt vor Besitz; Streben nach gesellschaftlicher Anerkennung, Prestige, damit verbunden; Anerkennung der geltenden Normen 86 87
88 89
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Grube, Verwendungskontexte, S. 116f. Jörg Neuheiser, Vom bürgerlichen Arbeitsethos zum postmaterialistischen Arbeiten? Werteforschung, neue Arbeitssemantiken und betriebliche Praxis in den 1970er Jahren, in: Jörn Leonhard/Willibald Steinmetz (Hrsg.), Semantiken von Arbeit: Diachrone und vergleichende Perspektiven, Köln u. a. (erscheint April 2016). Karl Otto Hondrich, Machen soziale Reformen glücklich?, in: Die Zeit, 18.7.1975. Vgl. Karl Otto Hondrich, Demokratisierung und Leistungsgesellschaft, Stuttgart 1972; ders./Randolph Vollmer (Hrsg.), Bedürfnisse im Wandel. Theorie, Zeitdiagnose, Forschungsergebnisse, Opladen 1983; ders./Jürgen Schumacher (Hrsg.), Krise der Leistungsgesellschaft? Empirische Analysen zum Engagement in Arbeit, Familie, Politik, Opladen 1988. Elisabeth Noelle-Neumann, Die Lust an der Revolution erlosch, in: Die Zeit, 23.4.1976.
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von Sitte und Anstand; Konservativismus, um das Erworbene zu behalten; in gemäßigter Weise auch Bildungsstreben“91 . Selbst wenn den bürgerlichen Werten attestiert wird, kein verbindlicher Wertekanon zu sein, sondern eher der Charakter von prinzipieller Anerkennung von Wertorientierungen als Grundlage des Zusammenlebens92 , so lag Noelle-Neumann durchaus viel daran, ihren subjektiven, wenngleich festen Kanon dem Leser zu präsentieren; verbunden mit der Absicht, damit die „öffentliche Meinung“ oder zumindest einen Teil von ihr hinter sich zu haben im medialen Diskurs. Doch statt in ihrem zweiten Beitrag zurückzurudern und die Frage-These „Werden wir alle Proletarier?“ zu relativieren, ging sie noch einen Schritt weiter: „Meine Kritiker haben die für die Zeit von 1962 oder 1967 und 1971 beschriebene Entwicklung ganz anders interpretiert als ich; sie erwarteten, die Verhältnisse hätten sich bis 1975 wieder „normalisiert“. Ich dagegen erklärte die Veränderungen als „revolutionär“, nicht in wenigen Jahren wieder rückgängig zu machen“93 . Zum Ende der 1970er Jahre hin entspannte sich die mediale Diskussion schrittweise. Die Wissenschaftler, wie Noelle-Neumann oder Hondrich, zogen sich einstweilen aus der Debatte heraus und überließen das Feld nun den Journalisten. Die Zeitungen selbst fanden zur Frage allmählich zu ihren eigenen Linien, die sie in der Berichterstattung über den Wertewandel der Arbeitswelt verfolgten. Die Arbeitslosen rückten ab 1977 stärker ins mediale Blickfeld. Sie wurden als eine der Begleiterscheinungen des sich vollziehenden Wertewandels gesehen. Mittlerweile lag die Zahl der Erwerbslosen kontinuierlich bei rund einer Million94 . Bereits 1975 entbrannte eine erste politische Debatte um die Leistungsbezüge und die Motivation der Arbeitslosen, angestoßen vom sozialdemokratischen Bundesarbeitsminister Walter Arendt, der im Streit um die Arbeitsmarktpolitik von Bundeskanzler Helmut Schmidt 1976 aus dem Regierungskabinett ausschied95 . Die mediale Debatte fiel mit dem Anstieg der Arbeitslosenzahlen in Folge der Rezession. Erst nach der Bundestagswahl 1976 beschäftigten sich die Zeitungen eingehender mit den Arbeitslosen und deren Motivation96 . Der Spiegel stieß die Debatte mit einer Titelgeschichte zum Thema „Arbeitslos – feines Leben auf fremde Kosten?“ an97 . „Muß ein gefeuerter Buchhalter sich als Pförtner verdingen, nur weil dieser Job gerade frei ist? [. . . ] Gewiß, in der Massenarbeitslosigkeit der zwanziger Jahre waren solche Fragen rasch be91 92 93 94 95 96 97
Ebenda. Andreas Schulz, „Bürgerliche Werte“, in: Andreas Rödder/Wolfgang Elz (Hrsg.), Alte Werte – Neue Werte. Schlaglichter des Wertewandels, Göttingen 2008, S. 29–36, hier S. 35. Elisabeth Noelle-Neumann, Die Lust an der Revolution erlosch, in: Die Zeit, 23.4.1976. Statistik der Bundesagentur für Arbeit (2014): Arbeitslosigkeit im Zeitverlauf. Frank Oschmiansky, Faule Arbeitslose? Zur Debatte über Arbeitsunwilligkeit und Leistungsmissbrauch, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 3. Februar 2003, S. 10–16, hier S. 10. Ebenda, S. 11ff. o. A., Arbeitslos – feines Leben auf fremde Kosten, in: Der Spiegel, 16.5.1977.
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antwortet“, so das Nachrichtenmagazin. Die zu Beginn des Artikels gestellte Frage „Sind die Deutschen zu einem Volk von Drückebergern und Faulenzern geworden?“ wiesen die Autoren entschieden zurück und betonten stattdessen, dass der moderne Arbeitsmarkt es vielen Erwerbstätigen schwer mache, in die gelernten Berufe wieder einzusteigen. Gerhard Ahl, Leiter des Arbeitsamts Dortmund, nahm in der Zeit Stellung zur Debatte und warnte davor, allzu voreilig über Arbeitslose und die Arbeitsämter zu urteilen. „Der ‚Nassauer‘, der das Netz der sozialen Sicherung mißbraucht und auf Kosten der Solidargemeinschaft der Versicherten lebt, wird mehr und mehr zur Zielscheibe der Aggressivität, und mit ihm logischerweise auch die Einrichtung, die ihm sein Nassauertum scheinbar ermöglicht, das Arbeitsamt [. . . ] Daß sich die Arbeitsämter um eine gerechte Beurteilung unter individuellen Aspekten bemühen, dient darum nicht einem Schonklima für,Drückeberger’; es ist ihre Aufgabe nach dem Gesetz und entspricht einer sozialen Notwendigkeit. Verketzungen lösen keine Probleme. Aber sie schaffen zuweilen neue“98 . Leidenschaftlich vertraten jetzt Spiegel und F.A.Z., dazwischen die Zeit, unterschiedlichste Thesen, was die Gründe für Arbeitslosigkeit und die anscheinende Unlust der Arbeitnehmer sei. Fast trotzig veranstaltete die F.A.Z. im Mai 1979 eine Rückschau auf 30 Jahre Soziale Marktwirtschaft und Bundesrepublik. Während die Anfangsjahre noch dynamisch gewesen seien, folge nun, so die Autoren, die „Last der reifen Jahre“. Während die Erhard-Jahre geprägt gewesen wären von Fleiß, Arbeit, Aufschwung und Wohlstand, drohe letzterer verloren zu gehen, da keiner mehr etwas leisten wolle, so der Beitrag99 . Damit nahm das Jahrzehnt seinen Ausklang und liefert aus der historischen Perspektive das Bild einer Dekade, in der intensiv um den Arbeitsmarkt und seine Werte gestritten wurde. Der Befund der vorangegangenen Abschnitte, dass es bereits vor den 1970er Jahren intensive mediale Debatten um Werteverschiebungen in der Arbeitswelt gab, muss hier erweitert werden um die Feststellung, dass die Debatte in den bundesdeutschen Zeitungen in den 1970er Jahren stärker und allmählich zu einem Dauerthema wurde. Sie zeichnete sich vor allem dadurch aus, dass die vielfach nur dünnen empirischen Befunde, die den Nährboden für die Debatten der Vergangenheit lieferten, nun durch breite Studien erweitert wurden und ungleich belastbarer schienen. Demoskopische wie sozialwissenschaftliche Daten wurden zum Aufhänger der Berichterstattung, ungleich stärker als in den Vorjahren. Die Experten selbst, die diese Studien entwarfen, durchführten und deuteten, traten nun als Autoren in Erscheinung. Der Spiegel bezog sich auf die Thesen Ingleharts, Noelle-Neumann schrieb selbst, ebenso wie Hondrich. Der bisher gängige Topos von Fleiß, Sparsamkeit und Wohlstand 98 99
Gerhard Ahl, Hunderttausend Drückeberger?, in: Die Zeit, 12.8.1977. Eckhard Kalwa, Auf das Wirtschaftswunder folgt die Last der reifen Jahre, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.5.1979.
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verschob sich in der Berichterstattung der Zeitungen und verlor schrittweise in den 1970er Jahren an Konsistenz. Der Spiegel entdeckte eine Verschiebung zu Gunsten einer Individualisierung und der Absage an materielle Werte, die Zeit argumentierte mal für den Wandel, mal dagegen, und die F.A.Z. erkannte in selbigem oft nicht weniger als die elementare Gefahr für den erarbeiteten Wohlstand der Nachkriegszeit. Einen Höhepunkt fand die mediale Debatte vor allem in Folge von Noelle-Neumanns Artikel „Werden wir alle Proletarier?“. Bei aller Kritik an ihren Ansichten muss ihr zumindest aus der medienhistorischen Perspektive zugestanden werden, eine breite Debatte über die Verschiebungen der Arbeitswelt angestoßen zu haben. Der „Strukturbruch“ und seine Folgen für die Wirtschafts- und Arbeitswelt in den 1970er Jahren bedingte eine starke Diskussion über Werte und deren Verschiebung für die deutsche Arbeitswelt, die auch in den 1980er Jahren anhielt und sogar noch stärker wurde.
Die 1980er Jahre – „Zeiten des Wertewandels sind gefährliche Zeiten“ Die anhaltende Krisensituation auf den Arbeitsmärkten und deren strukturelle Veränderungen während der 1970er Jahre wurden zu einem bestimmenden Thema der Politik im Folgejahrzehnt. Die Regierungsübernahmen von Margaret Thatcher 1979 in Großbritannien und von Ronald Reagan 1981 in den USA markierten jede für sich den Startpunkt tiefgreifender Veränderungsprozesse der einzelnen Volkswirtschaften. Derartige „radikale Reaktionen“, wie die unbedingte Stärkung von Marktmechanismen auch auf dem Arbeitsmarkt oder der Rückbau staatlicher Transferleistungen, blieben in dieser Form nach der Ablösung der sozial-liberalen Koalition durch die christlich-liberale 1982 in der Bundesrepublik aus. Die neue Bundesregierung unter Helmut Kohl setzte wie Reagan und Thatcher auf monetaristische Modelle der wirtschaftlichen Steuerung, wie auch die Konsolidierung des Haushalts und den Abbau sozialstaatlicher Leistungen. Nichtsdestoweniger waren diese Maßnahmen in der Bundesrepublik keinesfalls mit den Maßnahmen in Großbritannien und den Vereinigten Staaten vergleichbar100 . Der Bruch der Koalition von SPD und FDP unter Bundeskanzler Helmut Schmidt erfolgte in erster Linie auf Grund unterschiedlicher Auffassungen über Mittel und Wege, die Strukturkrise der 1970er Jahre zu überwinden: Während die Sozialdemokraten auf ein breites Beschäftigungsprogramm drängten, traten die Liberalen demgegenüber für Einsparungen im Sozialhaushalt ein und provozierten so den Koalitionsbruch101 . 100 101
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Im Laufe des Jahrzehnts nahm der Strukturwandelprozess in der deutschen Wirtschaft weiter an Fahrt auf, der bereits in den 1970er Jahren begonnen hatte. Der Anteil der Beschäftigten in der industriellen Produktion und der Landwirtschaft sank weiter ab, während immer mehr Arbeitnehmer in den Sektoren Dienstleistung und Informationsdienstleistung beschäftigt waren102 . Zum verstärkten Einsatz der Robotik in der industriellen Produktion kam in den 1980er Jahren der immer häufigere Einsatz von elektronischer Datenverarbeitung hinzu. Beides führte zu einer Steigerung der Arbeitsproduktivität bei gleichzeitigem Rückgang des Personaleinsatzes103 . Die Debatte um die „faulen Arbeitslosen“ wurde zu Beginn der 1980er Jahre während der wieder aufflammenden Beschäftigungskrise erneut geführt104 . Angesichts dieser inneren Anspannung und der hinzu kommenden äußeren Herausforderung in Form der Öffnung der deutschen Wirtschaft auf den Weltmarkt, vor allem für Investoren aus dem Ausland, erwies sich der deutsche Arbeitsmarkt als zu starr. Die Arbeitszeit war inzwischen in einigen Branchen auf 35 Stunden zurückgegangen und die Arbeitsverhältnisse waren für den globalen Wettbewerb zu wenig flexibel105 . Diese tiefgreifenden Veränderungen bildeten den Nährboden für die Debatte über die Frage „Geht der Arbeitsgesellschaft die Arbeit aus?“106 . Der Soziologentag 1982 in Bamberg griff diese Frage auf107 . Die zentralen Einzelaspekte kreisten dabei um die Folgen der neuen Kommunikations- und Informationstechnologien, die konstant hohe Arbeitslosenquote, die Arbeitszeitverkürzung auf 35 Stunden pro Woche und nicht zuletzt das Aufkommen einer neuen Freizeitkultur, ja vielleicht sogar einer „Erlebnisgesellschaft“108 . Helmut Klages und Peter Kmieciak präsentierten bereits 1979 ihr Buch „Wertewandel und gesellschaftlicher Wandel“109 . Ab 1980 begann Klages mit eigenständigen tieferen Analysen des Phänomens auf der Basis von EMNID und Allensbach Umfragen, bevor er eigene Daten erhob. Er entwarf zwischen „Pflicht- und Akzeptanzwerten“ einer102 103
104 105 106 107 108
109
Siehe Grafik in Frank Linde, Ökonomie der Information, Göttingen 2008, S. 12. Ingo Barkow, Der westdeutsche Arbeitsmarkt 196o-1990. Strukturwandel der Erwerbstätigkeit, Beschäftigung und Arbeitslosigkeit. Magisterarbeit, Johann-Wolfgang-Goethe Universität Frankfurt a.M. 2007, S. 80–83. Oschmiansky, Faule Arbeitslose, S. 10. Rödder, Modell Deutschland, S. 350. Der Gedanke geht auf Hannah Arendt zurück, die diesen erstmals 1958 formulierte, siehe Hannah Arendt, Vita Activa oder vom Tätigen Leben, Chicago 1958. Joachim Matthes (Hrsg.), Krise der Arbeitsgesellschaft? Verhandlungen des 21. Deutschen Soziologentages in Bamberg 1982, Frankfurt a.M. 1983. Dieter Sauer, Die Zukunft der Arbeitsgesellschaft. Soziologische Deutungen in zeithistorischer Perspektive, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 55 (2007), S. 309–328, hier S. 310f. Zum Begriff der Erlebnisgesellschaft siehe Gerhard Schulze, Die Erlebnisgesellschaft: Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt a.M. 1992. Helmut Klages/Peter Kmieciak (Hrsg.), Wertewandel und gesellschaftlicher Wandel, Frankfurt a.M. 1979.
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seits und „Selbstentfaltungswerten“ andererseits zwei Wertdimensionen110 . Er publizierte die Ergebnisse seiner Studien mitsamt Deutungen der „Wertesynthese“ 1984, die jedoch ungleich weniger in der bundesdeutschen Qualitätspresse diskutiert wurden als die Befunde und deren Deutungen von Inglehart und Noelle-Neumann111 . Abseits der These vom Ende der Arbeitsgesellschaft vollzog die Arbeit selbst einen tiefgreifenden Definitions- und Bedeutungswandel in den 1980er Jahren. Die Beschäftigungsverhältnisse änderten sich von fester, meist lebenslanger Anstellung in einem Betrieb hin zu flexiblen Arbeitsverträgen. Der Einsatz von Robotik und elektronischer Datenverarbeitung veränderte die Arbeitsorganisation am Arbeitsplatz selbst. Die Wochenarbeitszeit ging wie beschrieben zurück, während die Qualifikationsanforderungen durch neue Herausforderungen stiegen112 . Für die Zeitgenossen jedenfalls war die Krise der Arbeitsgesellschaft ein anhaltendes und viel diskutiertes Thema in den bundesdeutschen Tageszeitungen. Der bereits beschriebene Soziologentag zu Bamberg 1982 markierte keinesfalls den Startpunkt der Debatte. Einzig die F.A.Z. widmete dem Ereignis einen eigenen Artikel113 . Die Journalisten hatten sich längst die Frage nach der Krise der Arbeitsgesellschaft gestellt. Bereits 1962 rekurrierte der Spiegel auf den Begriff114 . Das Nachrichtenmagazin brachte es in einer Titelgeschichte aus dem Jahr 1980 auf die Formel: „Weniger arbeiten – besser leben. Neue Modell-Versuche in Fabrik und Büro“115 . In diesem Artikel bezogen sich die Autoren direkt auf den Begriff „Wertewandel“. „Die Lohnarbeit wird nicht mehr widerspruchslos akzeptiert. Dieser Wertewandel bedeutet gewiß nicht die totale Abkehr von der Arbeit. Doch die Veränderung zeigt an, daß eine wachsende Zahl von Menschen von der Arbeit mehr Befriedigung und Erfüllung erwartet. Diese Zeitgenossen sind nicht länger bereit, ihre Persönlichkeit am Büroeingang oder Werktor abzugeben. Sie wollen weniger und anders arbeiten, sie sind bereit, weniger zu verdienen – und wollen dafür mehr vom Leben haben“, so der Artikel116 . Der Politikwissenschaftler Bernd Guggenberger befand 1981 in der F.A.Z., dass sich die Gesellschaften der westlichen Industrienationen an einem Wendepunkt befänden: „Sie sind, bis ins Mark hinein, Arbeitsgesellschaften, Gesellschaften, die ihre Reichtümer und den Grad der erreichten Naturbeherrschung vor allem der Arbeit verdanken: sie bedienen sich aber andererseits in zunehmen110 111 112 113 114 115 116
Thome, Wandel, S. 54. Helmut Klages, Wertorientierungen im Wandel: Rückblick, Gegenwartsanalysen, Prognosen, Frankfurt a.M. 1984. Sauer, Arbeitsgesellschaft, S. 318. Konrad Adam, Kleine und große Krise, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.10.1982. o. A.: Sternen Musik, in: Der Spiegel, 24.10.1962. Titelseite, Weniger arbeiten – besser leben, in: Der Spiegel, 30.6.1980. Ebenda.
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dem Maße einer Technik, die menschliche Arbeit fortwährend ersetzt, überflüssig macht, einer der menschlichen Arbeitskraft überlegenen Technik, die einen wachsenden Teil der Bevölkerung zum „Müßiggang“ freistellt, ja geradezu nötigt“117 . Er meinte damit insbesondere die fortschreitende Technisierung und Automatisierung vieler Berufszweige. Bemerkenswert ist der Beitrag für die F.A.Z. insofern, als dass Guggenberger hier als Gastautor erstmals Stellung für und nicht gegen die Veränderungen in der Arbeitswelt bezog: „Wir sollten Glück nennen, was gegenwärtig alle Unglück heißen: die Chance, durch milderen Arbeitszwang für wichtigeres freigestellt zu werden: die „eigentlich menschlichen Vermögen“ jenseits der durch Arbeit und Notwendigkeit geprägten Welt des Lebenszwangs zu entfalten“118 . Damit warf das Blatt in Form eines Gastautors erstmals einen neuen Blick auf die Möglichkeiten, die sich durch die Veränderung der Arbeit ergeben könnten, nicht ohne einige Seiten weiter hinten in der gleichen Ausgabe Walter Euckens Aufsatz „Die Geistige Krise und der Kapitalismus“ aus dem Jahr 1926 anlässlich dessen 90. Geburtstags abzudrucken119 . Die Leser sahen den Beitrag Guggenbergers überaus kritisch und meldeten sich in Leserbriefen zu Wort. „Mit dem Sieg der Technik über die Arbeit könnten wir uns wieder mehr einer besinnlichen Freizeit zuwenden [. . . ] ob es jedoch langfristig für die Erhaltung der gegenwärtigen Lebensbedingungen vertretbar und verantwortbar ist, muss bezweifelt werden“, stellte Leserin Hannelore Hamel 1981 fest120 . Die Experten, die bereits in der Diskussion im Vorjahrzehnt verschiedene Meinungen zum Thema vertraten, schrieben nun zur „Krise der Arbeitsgesellschaft“. „Von der sinkenden Leistungsbereitschaft der Deutschen ist heutzutage viel die Rede. Sind vor allem Jugendliche nicht mehr bereit, hart zu arbeiten? Hat der Wohlfahrtsstaat jeglichen Anreiz zum Engagement genommen?“, fragte sich Karl Otto Hondrich, der einige Jahre zuvor der energischste Widersacher Elisabeth Noelle-Neumanns war, 1982 in der Zeit 121 . Der Politikwissenschaftler blieb den Lesern eine Antwort nicht schuldig. „Die These, dass Leistungsbereitschaft erschlaffe, ist also nicht haltbar. Das Prinzip der Entlohnung gemäß Leistung wird durch das Wohlfahrtsprinzip nicht unterhöhlt, sondern ergänzt. Die Mehrheit der Jugendlichen kehrt Wohlstandszielen nicht den Rücken, sondern erweitert sie durch andere Leistungsziele wie Umweltschutz. Steigender Wohlstand vernichtet nicht alle Anreize, sondern verbreitet und verstärkt sowohl 117 118 119 120 121
Bernd Guggenberger, Wenn der Gesellschaft die Arbeit ausgeht, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31.1.1981. Ebenda. Walter Eucken, Die geistige Krise und der Kapitalismus, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31.1.1981. Leserbrief von Hannelore Hamel, Zweifel am „Recht auf Faulheit“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.2.1981. Karl Otto Hondrich, Sie wollen etwas leisten, in: Die Zeit, 12.3.1982.
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das Bedürfnis, das Erreichte zu sichern, als auch ein besonderes Leistungs-Motiv: das Bestreben, sich an einer Aufgabe zu bewähren“122 . Die Presseberichterstattung zum Thema verdichtete sich in den Jahren 1983 und 1984 merklich. Immer breiter wurde das Themenfeld und immer weiter wurde das Thema in gesellschaftliche, wirtschaftliche und sogar philosophischhistorische Kontexte eingebettet. Die sinkende Leistungsbereitschaft wurde nun auf die Gruppe der Arbeitslosen bezogen. Im Bundestag tobte 1983 eine teils heftig geführte Debatte um die „Faulheit“ der Arbeitslosen123 . Bernd Guggenberger umschrieb das Problem mit den Worten: „Wir arbeiten nicht zuletzt deshalb so viel, weil unsere Gesellschaft einen so hohen Sozialbedarf hat“124 . In seinen Augen und denen vieler seiner Kollegen stand nicht weniger als der Fortbestand des gesamten Sozialsystems der Bundesrepublik durch den anscheinend dramatisch gesunkenen Arbeits- und Leistungswillen der Deutschen auf dem Spiel. Hermann Lübbe sah die Veränderung der Einstellung zu Arbeit weniger durch die Menschen als durch ihre Umwelt begründet. Der Philosoph glaubte erkannt zu haben, dass „hinter dieser Verschiebung von Relationen von beruflicher und von Berufspflichten entlasteter Arbeit“ sich „objektive Gegebenheiten und subjektive Motive von einer ökonomischen, sozialen und psychischen Mächtigkeit, die sie leicht als irreversibel erkennen lassen“ verbergen würden125 . Inzwischen differenzierte sich das Meinungsbild zum Wertewandel in den Zeitungen weiter aus. Die F.A.Z. vertrat weiterhin ihren konservativen Standpunkt, auch wenn dieser gelegentlich durch Gastbeiträge aufgelockert wurde, während Spiegel und Zeit sich in ihren Argumentationen zunehmend annäherten. So kehrte sich Noelle-Neumann von der Zeit als ihrem bisher bevorzugten Stammblatt ab und trat fortan vermehrt in der F.A.Z. als Gastautorin auf126 . Dort schrieb sie 1984, dem Jahr der intensivsten medialen Diskussion um die Veränderung der Arbeitswelt, vom „Wertewandel in die falsche Richtung“ und entsprach damit ganz der vorherigen Auffassung des Blattes127 . „Es könnte sein“, so beschloss sie ihre Ausführungen provokant, „dass beim an sich notwendigen Wertewandel in unserer Zeit in der Bundesrepublik häufiger eine falsche 122 123 124 125 126
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Ebenda. Oschmiansky, Arbeitslose. Bernd Guggenberger, Die Wiedergewinnung des Sozialen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.8.1983. Heinrich Lübbe, Der Wertewandel und die Arbeitsmoral, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.12.1983. Noelle-Neumann und die F.A.Z. verbanden vielfältige Verbindungen. Insbesondere zum 1981 verstorbenen Herausgeber des Wirtschaftsteils Erich Welter unterhielt sie eine enge Beziehung. Sie vermittelte auch einige ehemalige Mitarbeiter als Redakteure an die Zeitung. Elisabeth Noelle-Neumann, Die altmodischen Tugenden sind es, die den Meinungsführer machen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.2.1984.
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Richtung eingeschlagen worden ist, eine Richtung, die dem einzelnen nicht hilft, stärker zu werden, sondern ihn umgekehrt schwächt. Zeiten des Wertewandels sind gefährliche Zeiten“128 . Unter der Überschrift „Was ist faul an der Arbeit?“ berichtete die Zeit über die wissenschaftliche Diskussion um das Thema der Leistungsbereitschaft, insbesondere zwischen Noelle-Neumann und dem Berliner Nationalökonom Burkhard Strümpel. „Die Allensbacher Meinungsforscherin dagegen beklagt, dass Stück für Stück demontiert wird, was Menschen hilft, ihre Kräfte zu sammeln und zu entwickeln. Normen, Belohnungen und negative Sanktionen würden abgebaut“, wird die Meinungsforscherin in dem Artikel zitiert. Demgegenüber solle man dankbar sein für „das sinkende Engagement in der Berufsarbeit, weil dies die Voraussetzung für die Lösung des Beschäftigungsproblems dann biete, wenn es durch Wachstum nicht mehr zu bewältigen sei“129 . Der Spiegel thematisierte 1983 die Folgen des Wertewandels. „Mehr und mehr suchen die Deutschen ihr Glück im privaten Bereich, nicht an Maschinen und im Büro. Auch hierzulande wird nicht mehr gern, wie ein derzeit populärer Schlager spottet, in die Hände gespuckt, wir steigern das Bruttosozialprodukt’“130 . Ab 1984 war das Thema Wertewandel in der Arbeitswelt in ganzer Breite in der medialen Diskussion angekommen. Die Zeit widmete dem Thema den Titel einer eigenen Ausgabe. „Die Deutschen sind nicht mehr so fleißig – Na und?“, stellte Michael Jungblut, Leiter der Wirtschaftsredaktion, fest131 . Stattdessen brauche es ganz neue Werte, da die alten längst überholt seien. „Der deutsche Mythos der Arbeit gehört damit wirklich der Vergangenheit an. Denn in einer modernen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft hat er nichts mehr zu suchen. Wer ihn restaurieren wollte, würde dabei die Werte zerstören, die für die moderne Gesellschaft lebensnotwendig sind. Kreativität, Fähigkeit zur Teamarbeit, Verantwortungsbewusstsein und Entscheidungsfähigkeit sind Tugenden, die heute gefragt sind, nicht Geschaftelhuberei, Emsigkeit und sture Disziplin“132 . Der Wertewandel wurde hier nicht nur begrüßt, sondern als notwendig für die Arbeitswelt der Zukunft erkannt: Fleiß und Strebsamkeit wurden für obsolet erklärt, Teamfähigkeit und Kreativität demgegenüber zu neuen Maximen erhoben. So sah es auch Gerhard Schmidtchen, einer der eifrigsten Schreiber in der Debatte der Jahre 1983 bis 1984 und ehemaliger Kollege Noelle-Neumanns. „Veränderte Aufgaben und Techniken verlangen auch neue Tugenden im Beruf “, so der Soziologe133 . „Der industrielle Prozeß (industria gleich Fleiß) 128 129 130 131 132 133
Ebenda. Erika Martens, Was ist faul an der Arbeit?, in: Die Zeit, 24.6.1983. o. A., Erstmal klarkommen, in: Der Spiegel, 27.6.1983. Michael Jungblut, Kein Untergang des Abendlandes, in: Die Zeit, 5.10.1984. Ebenda. Gerhard Schmidtchen, Die neue Arbeitsmoral, in: Die Zeit, 5.10.1984.
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wird mehr und mehr in Kommunikationsprozesse einschließlich intelligenter Technologie überführt. Dem passt sich die Arbeitsmoral einer, man möchte sagen glücklichen Geschwindigkeit an. Restaurative Programme zur Wiederherstellung der Arbeitsmoral der industriellen Antike des 19. Jahrhunderts im Sinne reiner Unterordnungs- und Ausführungstugenden wären wirtschaftlich schädlich und würden das politische System eher erschüttern als stützen“, so die Meinung Schmidtchens, der damit Noelle-Neumann fundamental widersprach, sich jedoch wie seine ehemalige Chefin auf demoskopische Daten stützte134 . Damit war der Wertewandel deutlich und schlussendlich bei den Journalisten angekommen. Bald danach hatte die mediale Diskussion um den Wertewandel der Arbeitswelt in den 1980er Jahren ihren Zenit überschritten. Es rückten zunehmend die Begleiterscheinungen des Wertewandels und die absehbaren Folgen auf die Themenagenda, wenngleich sowohl die Qualität und Quantität der Beiträge stark abnahmen. Allem Anschein nach waren die Fronten geklärt, die Argumente ausgetauscht und andere Themen wie die Friedens- und Umweltbewegung, die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl oder der Niedergang der Ostblockstaaten wurden zu wichtigeren Themenfeldern, die weit mehr Potential zur breiten gesellschaftlichen Diskussion boten. Theo Sommers Artikel „Jenseits von Pendelschwung und Wellenschlag“ wirkte 1986 eher als ein Überblick über die gesellschaftlichen und den Arbeitsmarkt verändernden Prozesse der vorangegangenen 20 Jahre, denn als ein Beitrag zur Diskussion insgesamt135 . „Der Pendelschlag vom Pessimismus der Unheilspropheten in den späten siebziger Jahren zum neuen Zukunftsoptimismus der Mittachtziger, wie ihn sämtliche Meinungsumfragen belegen, ist eines – das Wellengekräusel an der Oberfläche, verursacht vom Auf und Ab flüchtiger Launen und Gefühle. Der Wertewandel, der viel beredete, ist etwas ganz anderes. Er reicht tiefer und hat sich von länger her angebahnt“, so Sommer. „Der Mensch wird in der Entfaltung seiner selbst freier werden, aber er wird seine Aktivitäten dort begrenzen lassen müssen, wo diese Entfaltung die Unversehrtheit seiner Welt und seines Wesens bedroht. Dies wird, das läßt sich mit einiger Sicherheit vorhersagen, zur Richtschnur eines neuen, Staat und Gesellschaft durchdringenden Engagements der einzelnen wie der künftigen Mehrheiten werden. Hier steckt der Kern des Wertewandels, der sich in unserer Gegenwart vollzieht“136 . Sommer resümierte den Wertewandel und verband damit sogleich einen Blick in die Zukunft. Im Zuge der Veränderung der Arbeitswelt wurde von den Zeitungen nun die Freizeit als Gegenstück zur Arbeitszeit wieder stärker thematisiert. Der Politikwissenschaftler Bernd Guggenberger avancierte für die F.A.Z. in den 1980er 134 135 136
Ebenda. Theo Sommer, Zwischen Pendelschwung und Wellenschlag, in: Die Zeit, 3.1.1986. Ebenda.
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Jahren allmählich zu einem dauerhaften Gastautor. Er sah die Freizeit auch als Herausforderung für die Beschäftigten an. „Die Langeweile wird in unserem Dasein an zwei ganz entgegen gesetzten Punkten zum Dauergast: dort, wo alles vorentschieden ist, und dort, wo alles offen ist. Beide Extremsituationen können als Kristallisationskern der Langeweile wirken: der Unterforderungs- oder der Überforderungslangeweile“137 . Nur ein Jahr später sah Guggenbergers Kollege Konrad Adam bereits einen Silberschweif am Horizont der Arbeitswelt. „Mehr Freizeit und weniger Arbeit, das mag die Formel sein, die von der faktischen, rein quantitativen Entwicklung gedeckt wird. Unübersehbar hat sie jedoch eine ideologische Gegenbewegung provoziert, durch die auch dieser Fortschritt wieder aufgehoben, zumindest aber doch geschmälert wird. Während die Freizeit, weil sie alle haben, zunehmend als vulgär erscheint, gerät die Arbeit in ein fast schon exquisites Licht“138 . In der Diskussion um die Freizeit und deren Gestaltung am Ende der 1980er Jahre finden sich einige thematische Parallelen zur gleichen Debatte der Vorjahrzehnte. Auf den Punkt gebracht, kreisten die Argumente um die Frage, was die Deutschen mit der neu gewonnen Freizeit anfangen und welche möglichen Folgen daraus erwachsen könnten. Die Berichterstattung der 1980er Jahre zum Wertewandel in Wirtschaft und Arbeitswelt zeichnete sich vor allem durch ihre vielen Themenbereiche aus, auf die der Wandel bezogen wurde. Egal, ob es um die sinkende Leistungsbereitschaft der Deutschen ging, die angebliche Faulheit der Arbeitslosen oder die Folgen des vermeintlichen Zusammenbruchs der Arbeitsgesellschaft – immer nahmen die Beurteilungen ihren Ausgangspunkt in der Werteverschiebung der Arbeitswelt. Auch eine begriffliche Veränderung stellte sich ein: In den 1980er Jahren war erstmals vom „Wertewandel“ in der Berichterstattung die Rede. Damit rückte der Begriff in einen größeren Diskursrahmen. Ein weiteres Merkmal vieler Beiträge der 1980er Jahre war die Betonung der Wendesituation, in der sich die Zeitgenossen befanden. Die Arbeitswelt stand am Wendepunkt, ebenso wie die gesamte Wirtschaft – so lautete die Diagnose nicht weniger Autoren dieser Tage. Ein Trend, der sich im Vorjahrzehnt anbahnte, war das mediale Auftreten der Experten. Philosophen (Hermann Lübbe), Demoskopen (Elisabeth Noelle-Neumann) oder Politikwissenschaftler (Karl Otto Hondrich, Bernd Guggenberger) äußerten sich prominent in ganzseitigen Aufsätzen zu den Veränderungen der Arbeitswelt. Inhaltlich bezogen sich viele Beiträge auf Umfragedaten, um damit mal für und mal gegen einen gewissen Aspekt des Wertewandels zu argumentieren. 137 138
Bernd Guggenberger, An den Grenzen der Freiheit, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.8.1988. Konrad Adam, Wer Zeit hat, macht sich verdächtig, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1.4.1989.
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Festzustellen ist, dass sich das Meinungsspektrum zum Thema unter den Journalisten weiter ausdifferenzierte. Die wichtigste Erkenntnis dürfte jedoch sein, dass der Wertwandel auf die Journalisten und nicht wenige der Gastautoren übergriff, was bedeutete, dass Selbstentfaltung, Selbstverwirklichung und Freizeit der Erwerbstätigen weit stärker gewichtet und ihre Bedeutung gegenüber der Arbeit als bloßer Broterwerb hervorgehoben wurde als noch in den 1970er Jahren, in denen sich dieser Trend anbahnte. Und so verschoben sich die bisher gängigen Topoi: Der bereits in den 1970er Jahren aufgeweichten Leiterzählung von Fleiß, Sparsamkeit und Arbeitseifer wurde eine neue anbei gestellt. Aus der Fülle der Artikel aus den 1980er Jahren zum Thema scheint heraus, dass viele der Autoren diesem Leitbild einen anderen Gedanken gegenüberstellten: Das in ihren Augen nahende Ende der Arbeitsgesellschaft machte ein neues Bild der Arbeit selbst notwendig – eines, welches individuelle Werte stärker in den Vordergrund rückte.
Fazit Wertewandel und mediale Öffentlichkeit gehören untrennbar zusammen. Die Zeitspanne vom Beginn der 1950er Jahre bis zum Ende der 1980er Jahre zeigt, dass die Presse die Werteverschiebungen in Wirtschaft und Arbeitswelt aufmerksam beobachtete und kommentierte. Wie wurde in den westdeutschen Zeitungen und Zeitschriften über Werte und deren Veränderung in der Arbeitswelt berichtet? Die zu Beginn dieses Beitrags gestellte klare Fragestellung verdient es, an diesem Punkt mit einer klaren Antwort bedacht zu werden. Drei Aspekte sind zentral: 1.)Aus der diachronen Perspektive heraus zeigt sich das Bild einer Presselandschaft, die sich immer stärker für die Werteverschiebungen der Arbeitswelt zwischen den 1950er und 1980er Jahren interessierte. Mit jedem Jahrzehnt wurde die Berichterstattung breiter und wurde der sich vollziehende Wandel auf immer mehr Bereiche bezogen. Dabei muss herausgestellt werden, dass bereits lange bevor sozialwissenschaftliche Studien den Wertewandelschub zu diagnostizieren glaubten, die Veränderung von Wertvorstellungen in der Arbeitswelt ein Thema in den bundesdeutschen Zeitungen war. 2.)Einhergehend mit dem stärker werdenden Interesse an dem Thema vollzog sich eine Ausdifferenzierung der Standpunkte innerhalb der Zeitungen. In den 1950er wie auch in den 1960er Jahren waren sich die Journalisten weitgehend einig darüber, dass eine Abkehr von Tugenden wie Fleiß und Strebsamkeit den Wohlstand der Nachkriegszeit gefährden würden. Dies änderte sich in den 1970er Jahren und noch stärker in den 1980er Jahren, in denen der
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Wertewandel schließlich in den Redaktionen ankam. Nach den 1960er Jahren war von alternativen Deutungen der Werteverschiebung zu lesen. Befeuert von den Befunden Ingleharts und provoziert von den streitbaren Thesen Noelle-Neumanns fanden die Zeitungen in den 1970er Jahren allmählich zu ihnen eigenen Linien der Beurteilung des Wertewandels der Arbeitswelt. 3.)Und damit änderten sich die gängigen Leiterzählungen der Presse. Der „Fleiß Topos“ der 1950er Jahre, der seine Konsistenz in den 1960er Jahren erhalten konnte und so zu einer bundesdeutschen Leiterzählung vom „Wirtschaftswunder“ werden konnte, wurde in den 1970er Jahren gesellschaftlich und medial auf seine Gültigkeit und Obsoleszenz hin geprüft. In den 1980er Jahren etablierte sich im medialen Diskurs dann ein Gegenentwurf: Das scheinbare Ende der „Arbeitsgesellschaft“ veranlasste Teile der Medienlandschaft dazu, dem „Fleiß Topos“ ein neues Bild der Arbeit gegenüberzustellen, eines, in dem sich Erwerbsarbeit und Freizeit nicht gegenüber standen und welches zur fundamentalen Veränderung der Arbeitswelt in den Augen der Zeitungsmacher viel besser passte als das alte Bild.
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Werbung und Wertewandel. Diskurse über Verbraucher und deren Verhalten Werbung und Wertewandel – Wertewandel durch Werbung? Als Schnittstelle zwischen Wirtschaft und Kultur ist Werbung ein wichtiger Kulturträger. Ihre Ästhetik und ihre strategische Ausrichtung gegenüber ihren Rezipienten sind abhängig vom jeweiligen gesellschaftlichen Kontext. Um Wirkung zu entfalten, muss sie sich den kulturellen Mustern und Werten ihres ‚Publikums‘ anpassen, da sich dieses sonst nicht angesprochen fühlt und sich nicht mit der Werbebotschaft identifizieren kann – eine Überlegung, die auch in den zeitgenössischen Diskussionen der 1970er Jahre eine Rolle spielte. Die Deutung der Verbindung von Werbung und einem Wandel von Werten, die zugleich eng mit der Frage nach dem Einfluss von Werbung verknüpft sind, war und ist umstritten. Zeitgenössische Überlegungen, wie der Einfluss von Werbung zu bewerten ist, sind auch Bestandteil dieses Beitrags. Die bisherige Forschung weist Werbung verschiedenste Rollen zu. Zum einen wird Werbung als Spiegel, Barometer und Resonanzkörper der Gesellschaft betrachtet. Demnach sei es möglich, die Wünsche und Bedürfnisse, auch den kulturellen Wandel einer Gesellschaft an deren Werbung abzulesen. Auf der anderen Seite wird Werbung als Mitgestalterin von den Mentalitäten der Gesellschaft beschrieben, sie sei nicht nur Abbild, sondern zugleich auch Vorbild1 . Werbung erzeugt Handlungsdispositionen, sie vermittelt Wert- und Normvorstellungen und kann Muster für das eigene Verhalten liefern. Sie stellt Wunsch- und Distinktionspotentiale zur Verfügung, macht Angebote für die soziale und individuelle Identitätsbildung,
Dieser Text hält sich an eine geschlechtergerechte Schreibweise. Allerdings verweisen Begriffe wie „Konsumenten“ und „Verbraucher“ nicht nur auf Personen, sondern auch auf diskursive Figuren, die kein Geschlecht haben, sondern linguistische Wesen sind. Dabei ist der Unterschied auch zwischen diesen beiden Ebenen fließend, sodass dieser Beitrag in der Regel eine geschlechtergerechte Formulierung wählt und dort, wo es unklar ist, zwischen einer weiblichen und einer männlichen Formulierung wechselt. Ich danke Steffen Henne und Philip Haas für hilfreiche Anmerkungen. 1 Siegfried J. Schmidt/Brigitte Spieß (Hrsg.), Werbung, Medien und Kultur, Opladen 1995, S. 41.
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ebenso kann sie als negative Projektionsfläche dienen2 . Werbung erschafft jedoch keine Scheinwelt, sondern eher eine „Hyperwelt“3 , in der sich auch Referenzen auf Wertwandlungen und Wertgenesen wiederfinden. Sie entfernt sich selten von herrschenden Werten und Normen, im Gegenteil: Sie dramatisiert kollektivhabituelle Ideale und Werte4 . Historische Analysen von Werbung verweisen auf ihr Potential, in bestimmten geschichtlichen Momenten Gesellschaft zu verändern, indem sie die Grenzen zwischen Wirtschaft und Kultur aufbricht und neu bestimmt. Ihre historische Entwicklung in westlichen Gesellschaften wurde als Wandlung von einem System kommerzieller Informationen zu einer zentralen Strategie für ökonomisches Management von Nachfrage gedeutet5 . Im vorliegenden Beitrag werden Diskurse untersucht, welche die sich wandelnden Inhalte von Werbung thematisieren und beeinflussten. Es wird keine Analyse von Werbeerzeugnissen wie etwa Anzeigen in Printmedien vorgenommen wie in bisherigen Untersuchungen zu Werbung6 . Stattdessen wird der Diskurs von Werbeschaffenden über ihre Erzeugnisse sowie der Einfluss sozio-politischer und ökonomischer Entwicklungen analysiert, welcher die Produktion von Werbung durchzieht. Als „a conception of the desirable“ bestimmte C. Kluckhohn im Jahr 1951 einen „Wert“7 . Das impliziert, dass Werte sich immateriell, als Vorstellungen, Ideen oder Ideale, auf individueller und kollektiver Ebene auswirken. Diese Auffassung markiert eine Abkehr von früheren Konzeptionen, die materieller konnotiert waren und Werte mit geschätzten oder erstrebten Objekten gleichgesetzt hatten8 . Werbung kann als eine Verbindung dieser beiden Wertkonzeptionen 2
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Guido Zurstiege, Die Gesellschaft der Werbung – was wir beobachten, wenn wir die Werbung beobachten, wie sie die Gesellschaft beobachtet, in: Herbert Willems (Hrsg.), Die Gesellschaft der Werbung, Kontexte und Texte, Produktionen und Rezeptionen, Entwicklungen und Perspektiven, Wiesbaden 2002, S. 121–138, hier S. 129. Herbert Willems/York Kautt, Theatralität der Werbung, Berlin 2003, S. 75. Ebenda. Paul du Gay/Michael Pryke (Hrsg.), Cultural Economy. Cultural Analysis and Commercial Life, London 2002, S. 150. Rainer Gries/Volker Ilgen/Dirk Schindelbeck, „Ins Gehirn der Masse kriechen!“ Werbung und Mentalitätsgeschichte, Darmstadt 1995; Rainer Gries, Produkte als Medien. Kulturgeschichte der Produktkommunikation in der Bundesrepublik und der DDR, Leipzig 2003; Peter Borscheid/Clemens Wischermann (Hrsg.), Bilderwelt des Alltags. Werbung in der Konsumgesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts, Festschrift für Hans Jürgen Teuteberg, Stuttgart 1995. Kritik am Vorgehen, Werbung von deren Produkten und nicht ebenso aus Perspektive der Produktion zu untersuchen, formuliert Liz McFall, Advertising: A Cultural Economy, London 2004. Clyde Kluckhohn, Values and Value Orientations in the Theory of Action, in: Talcott Parsons/ Edward A. Shils (Hrsg.), Toward a general theory of action, Cambridge 1951. Helmut Thome, Soziologische Wertforschung. Ein von Niklas Luhmann inspirierter Vorschlag für die engere Verknüpfung von Theorie und Empirie, in: Zeitschrift für Soziologie 32 (2003), S. 4–28, hier S. 6.
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gesehen werden. Sie verbindet abstrakte Ideale und Werte mit konkreten materiellen Objekten, zumeist dem zu verkaufenden Produkt. Sie versucht, Ideale und Werte bestimmten Objekten oder deren Nutzung zuzuschreiben und lädt damit nicht nur das Konsumobjekt, sondern auch den Konsumakt – den Kauf – symbolisch auf. Dieser Beitrag geht davon aus, dass diese Attribution von Produkten mit Ideen und Werten einem Wandel unterlag. Es werden daher Verschiebungen in den angestrebten Werten nachgezeichnet, jedoch nicht speziell jene Werteverschiebungen untersucht, die in den zeitgenössischen Studien von Ronald Inglehart und Helmut Klages festgestellt wurden9 . Vielmehr werden mögliche Verschiebungen in der Wertorientierung in ihrer Vielfältigkeit aufgezeigt, da sie sich nicht nur in direkten Äußerungen zu Schlagworten wie Individualisierung oder Selbstverwirklichung wiederfinden. Im Fokus der Untersuchung stehen Diskurse, die vorwiegend von Werbeschaffenden über das ‚Publikum‘ und den Inhalt ihrer Arbeit geführt wurden. Auf dieser Ebene werden gesellschaftliche, politische und ökonomische Entwicklungen und deren Auswirkungen auf die Werbebranche erörtert sowie Neuerungen und Veränderungen in der Branche selbst. Anhand dieser Quellen soll die Frage beantwortet werden, wie Werber Werte und Wertewandel beobachteten und verhandelten. Besonders interessant erscheinen in diesem Zusammenhang Beiträge zum beobachteten Verhalten und dahinter vermutete Norm- und Wertvorstellungen. Es ist davon auszugehen, dass die hier beschriebenen Einschätzungen auch Eingang in die Arbeit der Werbeschaffenden hatten, die natürlich mit den jeweiligen Kunden abgestimmt werden mussten und somit die eingangs dargestellten Funktionen der Werbewirkung ausübten. Die Quellengrundlage bilden Zeitschriften und Publikationen, die für Werbeschaffende verfasst wurden oder auch von ihnen selbst stammen. Um den breiteren Diskurs darzustellen, der auch von Positionen außerhalb der Branche beeinflusst wurde, wurden weitere relevante Publikationen wie Tageszeitungen und zeitgenössische Literatur hinzugezogen. Im Fokus stehen Zeitschriften, die sich mit dem Themenkomplex Werbung und Werbeindustrie befassen und sich ausdrücklich an „Entscheider“ in dieser Branche richten: In Deutschland ist dies zunächst Werben & Verkaufen, die bis heute am weitesten verbreitet ist. Ihr Konkurrent Absatzwirtschaft wird als einflussreicher angesehen, da sie aktuelle Geschehnisse ausführlicher thematisiert. Zudem bietet Letztere konkreten Rat für Werbeschaffende, etwa bezüglich der Frage, wie sich an aktuelle Trends anzupassen sei. Punktuell werden auch vergleichbare bri9
Ronald Inglehart, The Silent Revolution: Changing Values and Political Styles Among Western Publics, Princeton 1977; ders., The Silent Revolution in Europe: Intergenerational Change in Post-Industrial Societies, in: American Political Science Review 65 (1971), S. 991– 1071; später für Deutschland: Helmut Klages, Werteorientierung im Wandel. Rückblick, Gegenwartsanalyse, Prognosen, Frankfurt a.M. 1984.
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tische Publikationen mit einbezogen, um asymmetrisch-vergleichend eine Reihe von deutschen Besonderheiten deutlich zu machen. Insbesondere die Perspektive auf eine Gesellschaft, die schon lange vor der deutschen als „Consumer Society“ beschreiben wurde, ermöglicht es, deutsche Eigenheiten hervorzuheben10 . Der untersuchte Zeitraum umfasst die siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, wobei einige wichtige Einschnitte, speziell die Zäsur um 1973/1974, besonders hervorgehoben werden. Die siebziger Jahre waren eine besondere Dekade für die Werbeindustrie in Deutschland. Zwischen den Jahren 1971 und 1979 wurden die Werbeinvestitionen in Deutschland mehr als verdoppelt11 . Schon während der fünfziger und sechziger Jahre wuchsen die Werbeinvestitionen stetig, was mit dem konstanten wirtschaftlichen Wachstum in Verbindung stand. Dies lässt sich für die siebziger Jahre nicht ohne Einschränkung sagen, angesichts der wirtschaftlichen Flaute in der Mitte der siebziger Jahre. So wuchsen die Ausgaben für Werbung in den Jahren 1974 und 1975 ‚nur‘ um vier Prozent, während die Zuwachsraten in den folgenden Jahren im deutlich zweistelligen Bereich lagen12 . Weitere Höhenflüge erlebte die Werbewirtschaft dann in den achtziger Jahren, was mit der Einführung des Privatfernsehens verbunden war. Angesichts dieser Zahlen ist es erstaunlich, dass die siebziger Jahre für die Werbeindustrie als die „erste tiefe Depression ihrer Geschichte in der Bundesrepublik“13 bezeichnet wurden. Die Gründe dafür liegen weniger auf einer ökonomischen als auf einer moralischen Ebene und waren eng mit dem Auftreten des ‚Konsumerismus‘ verbunden. Dieser Begriff stand (noch) nicht für eine intensive, übersteigerte Form von Konsum. Er verwies vielmehr auf einen politischen Prozess und auf eine soziale Bewegung, die für Verbraucherinteressen und Verbraucherrechte eintrat14 . Wie das Eintreten für Verbraucherrechte auf einem beeinflussbaren und manipulierbaren Verbraucherbild basierte und wie sich dieses Bildes im Laufe des Untersuchungszeitraumes wandelte, wird im ersten Abschnitt thematisiert. Dieser Wandel ist der Hintergrund für weitere Debatten, welche die Werbebranche beschäftigten und auf die in den folgenden Abschnitten eingegangen wird. Eine zentrale Zäsur wird im zweiten Teil angesprochen: Die einsetzende wirtschaftliche Krise brachte Überlegungen hervor, wie Zielgruppen mit rationalen und 10
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Verschiedenste Beiträge datieren die „Geburt“ der Konsumgesellschaft in Großbritannien unterschiedlich, vgl. etwa: Neil McKendrick/John Brewer, The Birth of a Consumer Society: The Commercialization of 18th-Century England, London 1982. Jürgen Wilke (Hrsg.), Mediengeschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1999, S. 786. Ebenda. Nepomuk Gasteiger, Der Konsument. Verbraucherbilder in Werbung, Konsumkritik und Verbraucherschutz, 1945–1989, Campus, Frankfurt a.M. 2010, S. 209. Christian Kleinschmidt, „Konsumerismus“ versus Marketing – eine bundesdeutsche Diskussion der 1970er Jahre’, in: Christian Kleinschmidt/Florian Triebel, Marketing. Historische Aspekte der Wettbewerbs- und Absatzpolitik, Essen 2004, S. 249–260, hier S. 250.
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wirtschaftlichen Argumenten vom Kauf bestimmter Produkte überzeugt werden sollten. Gegen Ende des Jahrzehnts wandelten sich die Vermutungen, wie Verbraucher am besten zu adressieren seien. Emotionalere Fragen der Selbstverwirklichung und Individualisierung bestimmten die Diskussion. Konsumenten und insbesondere Konsumentinnen wurden als komplexe Individuen begriffen, die einer modifizierten Ansprache bedurften. Die Frage, wie dies gelingen könnte, wird im dritten Teil des Beitrags thematisiert. Marketing setzte sich als Instrument durch, mit dem Wünsche und Bedürfnisse besser erfasst und mittels Werbung angesprochen werden konnten. Im letzten Abschnitt wird resümiert, wie die Entwicklungen der siebziger Jahre den weiteren Aufschwung der Branche im folgenden Jahrzehnt vorbereiteten.
Vom Verbraucherschutz zum selbstbewussten Konsumenten Für das Verständnis der Werbediskurse ist das diesen zugrunde liegende Bild vom Verbraucher maßgeblich. Dieses Verbraucherbild wandelte sich im untersuchten Zeitraum fundamental. Während zu Beginn der siebziger Jahre Konsumkritik und die Vorstellung eines manipulierbaren Konsumenten dominierten, ließen diese Tendenzen ab Mitte des Jahrzehnts deutlich nach und ein Paradigmenwechsel bereitete ein neues Verbraucherbild vor. Dieses war eng verbunden mit den handlungsleitenden Werten, die für das Verhalten der Verbraucher als maßgeblich angesehen wurden. Zu Beginn der siebziger Jahre musste sich die Werbebranche mit einer erstarkenden Verbraucherschutz-Bewegung auseinandersetzen, die ihre Vorläufer in den USA und Großbritannien hatte. Dort hatten eine Reihe konsum- und werbekritischer Bücher wie Vance Packards The Hidden Persuaders (dt. Die geheimen Verführer), Kenneth Galbraiths The Affluent Society sowie Ralph Naders Unsafe at any Speed hohe Wellen geschlagen. Packard verfasste sogar eine Triology of Affluence15 . Sie warfen der Werbung gezielte Manipulation der Konsumentinnen und Konsumenten vor, die mit psychologischen Tricks operiere. Diese Kritik bezog sich auf Techniken des ‚Motivation Research‘, die – prominent mit dem Namen Ernst Dichter verbunden – in den USA die Angst vor unbewusster Beeinflussung geschürt hatten und auf dem Bild manipulierbarer Verbraucher beruhten16 .
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Vance Packard, The Hidden Persuaders, London 1957; ders., The Waste Makers, London 1960; ders., The Status Seekers, London 1969. Vgl. Stefan Schwarzkopf/Rainer Gries (Hrsg.), Ernest Dichter and Motivation Research, New Perspectives on the Making of Post-War Consumer Culture, Basingstoke 2010.
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Die deutsche Debatte um Werbung war im Vergleich zum britischen und amerikanischen Ableger stärker kapitalismus- als werbekritisch. Während es in Großbritannien eher darum ging, wie Werbung konsumentenfreundlicher zu gestalten war, wurde Werbung in der Bundesrepublik insgesamt in Frage gestellt17 . Der Einfluss der Frankfurter Schule auf die Werbekritik war in Deutschland unverkennbar. Zurückzuführen ist dies auf die Werke der Frankfurter Sozialwissenschaftler und deren Rezeption in der Studentenbewegung. In ihrer Dialektik der Aufklärung kritisierten Horkheimer und Adorno etwa die Praktiken, Produkte an spezielle Gruppen anzupassen, als konstitutiven Akt, der diese Gruppen erst produziere18 . In seinem 1970 publizierten Werk Der eindimensionale Mensch kritisierte Herbert Marcuse die Beeinflussung durch die Massenmedien und forderte die Abschaffung der Werbung19 . 1972 veröffentlichte Wolfgang Fritz Haug seine Kritik der Warenästhetik, in der er Verkaufsstrategien kritisierte, die Konsumentinnen und Konsumenten mehr versprachen, als Produkte jemals halten konnten20 . Im Kern wurde argumentiert, dass Werbung zur Entfremdung des Menschen von der gesellschaftlichen Wirklichkeit beitrage. Sie sei ein Werkzeug des Kapitalismus, das Menschen in den „Konsumterror“ zwinge. Eine vielfach vorgebrachte Kritik war, dass Werbung Verbraucher schlichtweg belüge. Zu dieser intellektuellen Werbekritik gesellte sich 1974 eine Studie der Arbeitsgemeinschaft Verbraucherverbände (AGV), die zeigen sollte, auf welche Weise Werbung die Verbraucher gezielt desinformierte. Gemäß dieser Studie, die britische und deutsche Werbung verglich, enthielten 46 Prozent der Werbeanzeigen „übertriebene“ Versprechungen. Sechs Prozent würden essentielle Informationen unterschlagen und sieben Prozent sogar falsch informieren. Die Verbraucherschützer forderten daher, dass Konsumenten besser aufgeklärt werden sollten, um sie gegen die leeren Versprechungen der Werbung zu immunisieren21 . Die Kritiker und Kritikerinnen der Werbung sahen die Konsumentinnen und Konsumenten als potentiell manipulierbar und gefährdet durch die Verführungen der Werbung. Sie formulierten daher drei zentrale Forderungen: erstens sei die Position der Verbraucher im Wirtschaftssystem generell zu verbessern; zweitens sollten Verkäuferinnen und Verkäufer die langfristigen Interessen der Konsumentinnen und Konsumenten berücksichtigen und nicht nur auf kurzfristigen Profit ausgerichtet sein; drittens sollten Werbetreibende akzeptieren, dass der
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William Fletcher, ‚How the ad game has altered in twenty years‘, in: Campaign, 21.09.1979; zu den Vorläufern der deutschen und amerikanischen Konsumerismus-Bewegung vgl. Kleinschmidt, „Konsumerismus“, in: Kleinschmidt/Triebel, Marketing. Theodor W. Adorno/Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a.M. 1971. Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch: Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, Neuwied 1970. Wolfgang Fritz Haug, Kritik der Warenästhetik, Frankfurt 1972. Gasteiger, Der Konsument, S. 205–207.
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Akt des Kaufens nicht alle Bedürfnisse der Konsumentinnen und Konsumenten befriedigen könne22 . Obwohl die Werbeschaffenden die Formierung der Verbraucherinteressen schon länger mit Argwohn beobachteten, gab ihnen ein besonderes Ereignis Anlass, über ihren Status nachzudenken: die sogenannte „Nürnberger Bombe“23 der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK). Die Umfrage der GfK zeigte 1974, dass nur noch die Hälfte der Befragten Werbung überhaupt für notwendig erachtete. Nur sechs Prozent glaubten, dass Werbung glaubwürdig sei. Eine weitere Umfrage verdeutlichte, wie sich das Image der Werbung verschlechtert hatte: Der Anteil der Konsumentinnen und Konsumenten, der Werbung prinzipiell ablehnte, hatte sich von 1970 bis 1975 von zehn auf 30 Prozent erhöht24 . Die Branche setze sich fortan intensiver, mitunter auch selbstkritisch, mit den Vorwürfen auseinander: „Aus einer Berufsgruppe harmloser Idioten, denen man allenfalls ihr hohes Einkommen verübeln konnte oder ihr gelegentliches Tendieren zur Scharlatanerie, ist in der Meinung der Bevölkerung oder jedenfalls derer, die sich dafür halten, das ‚Böse‘ schlechthin geworden“, kommentierte ein Autor der Absatzwirtschaft die Entwicklungen25 . Für Dankwart Rost, Präsident des Zentralausschusses der Werbewirtschaft, waren die Gegner der Werbung klar in zwei Lager zu unterteilen: Auf der einen Seite jene, die für ein anderes Wirtschaftssystem votierten und die Ansichten der Frankfurter Schule zum „Konsumterror“ und der „Ausbeutung des Konsumenten“ teilten. Auf der anderen Seite jene, die die amerikanische Verbraucherkritik auf Deutschland übertrugen, obwohl in Deutschland gänzlich andere Gegebenheiten herrschten, so Rost26 . Er verurteilte die Kritik als Gefährdung für den wirtschaftlichen Wohlstand, der gerade in Zeiten der Wirtschaftskrise ohnehin bedroht sei: „Wer jetzt auch noch den Verbrauch zivilisierter Menschen im 20. Jahrhundert verteufelt, sollte sich darüber im Klaren sein, daß er eine Krise erzeugt, die die Arbeitslosenquote erhöht und die Inflation fördert.“27 Die Diskussion um Werbung wurde zudem in der breiteren Öffentlichkeit ausgetragen; in zahlreichen Medien erschienen Beiträge zum Thema. Auch der 22
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Walther Scheel/Frank Wimmer, Kritik am Marketing, Einzelwirtschaftliche und gesellschaftliche Aspekte des Konsumerismus, in: Jahrbuch der Absatz- und Verbrauchsforschung 4 (1974), S. 287–304, hier S. 292–294. Werbers Kurskorrekturen, in: Absatzwirtschaft 4 (1974), S. 40. Gisela Stengel-Güttner, ‚Markenimage im Wandel – der kritische Verbraucher‘, in: Eckard Neumann/Wolfgang Sprang/Klaus Hattemer (Hrsg.), Werbung in Deutschland. Jahrbuch der deutschen Werbung 1975, Düsseldorf 1975, S. 19–22, hier S. 20. Harald Körke, Wie die Werber zu ihrem Ruf kamen, in: Absatzwirtschaft 2 (1974). Klimawechsel an der Werbebörse, in: Absatzwirtschaft 11 (1974). Zentralausschuß der Werbewirtschaft (ZAW) und Informationsgemeinschaft zur Feststellung der Verbreitung von Werbeträgern (IVW), in: Jahrbuch Werbung 1973/1974, Bonn 1974.
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Gesetzgeber unternahm Schritte, um die wahrgenommenen Gefahren, die von der Werbung ausgingen, einzudämmen: 1974 wurde Zigarettenwerbung in Fernsehen und Hörfunk verboten. Teile der SPD forderten, Werbung in Fernsehen und Radio generell zu verbieten. Die Werbeindustrie versuchte mit eigenen Mitteln, diesem werbekritischen Klima entgegenzuwirken. Während lange bekräftigt wurde, dass Werbung die Konsumentinnen und Konsumenten nur informiere, versuchten Werbetreibende ihren Ruf mit der Ausgabe von kostenlosen Testprodukten zu retten. Zudem wurden weitere Ansätze erprobt, die mit dem Argument der sachlichen Produktqualität überzeugen wollten, weniger mit emotionaler Ansprache. Einige Fernsehwerbespots zeigten jetzt, wie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und andere ‚Experten‘ interviewt wurden, um die Vorteile der jeweiligen Produkte zu erläutern. In ähnlicher Weise sollten wissenschaftliche Studien die Qualität der Produkte beweisen. Diese „informative Werbung“ sollte den Verbraucher offen über die Vor- und Nachteile bestimmter Produkte aufklären28 . Sie stellte das Produkt in den Vordergrund, das die Konsumentinnen und Konsumenten mit rationalen Argumenten überzeugen sollte. Neben solchen Ansätzen, die Werbung anders zu gestalten, ging die Werbebranche auch in Sachen Öffentlichkeitsarbeit in die Offensive. Führende Werbeagenturen formulierten gemeinsam mit Verlagen einige Pro-WerbungKampagnen. Selbstverständlich hatten die Verlage selbst ein vitales Interesse daran, dass mit der Werbung ihr wichtigster Geldgeber weiterhin bestehen blieb. Eine gemeinsame Kampagne des Axel Springer Verlags mit der Agentur Lintas sollte verdeutlichen: „Werbung ist für alle da“. Sie war in allen SpringerPublikationen zu finden. Die Welt fügte dem noch Beilagen hinzu mit dem Titel „Plädoyer für die Werbung“.29 Darin wurde die Kritik der KonsumerismusBewegten als ideologisch motiviert dargestellt, anstatt den Konsumentinnen und Konsumenten tatsächlich dienen zu wollen30 . Die Kampagne argumentierte ausführlich, wie Werbung Konsumentinnen und Konsumenten helfe. Einige verkürzte Auszüge verdeutlichen den Duktus: „Warum wir dem Winter einen warmen Empfang bereiten können. [. . . ] Werbung trägt dazu bei, unsere wirtschaftliche Potenz und unseren Wohlstand zu erhalten.“ „Warum die Werbetrommel bei der Sicherung von Arbeitsplätzen eine Geige spielt. [. . . ] Indem sie den Verkauf stimuliert, trägt Werbung zur Sicherung von Arbeitsplätzen bei.“ „Warum die Werbung weder lügt noch die ganze Wahrheit sagt. [. . . ] Werbung dient dem Unternehmen. Werbung will verkaufen. Das ist unsere primäre Aufgabe.“ 28 29 30
Vgl. Werbers Kurskorrekturen. Werber in der Schlankheitskur, in: Absatzwirtschaft 11 (1974). ‚An die Leser dieser Dokumentation‘, in: Plädoyer für die Werbung. Eine Dokumentation, Beilage zur Welt, 15.05.1974; WiWo Extra Werbung, in: Beilage zur Wirtschaftswoche, 18.03.1977.
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„Warum es nicht gelingen wird, den Engländern ihren Tee aus- und Kaffee einzureden. [. . . .] Werbung ist wirkungslos, wo sie sich nicht an den Wünschen der Menschen orientiert.“31
Die Pro-Werbung-Kampagnen beschrieben den Einfluss der Werbung als deutlich geringer als es Verbraucherschützerinnen und Verbraucherschützer taten. Laut den Werbeschaffenden selbst waren sie nur bedingt in der Lage, Konsumentscheidungen zu beeinflussen. Ihre Darstellungen zeichneten ein Bild der Konsumentinnen und Konsumenten als souveräne Entscheidungsträger und integraler Teil einer funktionierenden Wirtschaft. Diese unterschiedlichen, durchaus rivalisierenden Konzeptionen des Verbrauchers lassen sich während des gesamten Untersuchungszeitraums beobachten. Wie Nepomuk Gasteiger in seiner Untersuchung des Verbraucherbildes herausarbeitet, dominierten in den fünfziger und sechziger Jahren Vorstellungen, die Konsumentinnen und Konsumenten als beeinflussbar darstellten32 . In den fünfziger Jahren gewann die bereits erwähnte psychoanalytische Motivforschung Einfluss, die Konsumentinnen und Konsumenten als wenig rational und manipulierbar beschrieb. Autoren wie Vance Packard warnten vor bzw. kritisierten diese Methoden und trugen dazu bei, dass diese als umso wirkungsvoller angesehen wurden33 . In den sechziger Jahren etablierten sich differenziertere kommunikationswissenschaftliche Auffassungen, die das Kaufverhalten als potentiell beeinflussbar und nur teilweise steuerbar beschrieben34 . Diese Konzeption zeigt sich in den Stellungnahmen der Werbewirtschaft. Sie beharrte auf der Auffassung, die Verbraucher seien nur bedingt beeinflussbar. Was genau zur Entscheidung für oder gegen einen bestimmten Kauf beitrug, hing laut Verbraucherforschung der späten sechziger und früher siebziger Jahre wesentlich von der Art des Kaufaktes ab – man unterschied Kaufentscheidungen mit kognitiven Prozessen und solche mit affektiven35 . Entsprechend des veränderten Bildes der Konsumentinnen und Konsumenten änderten sich auch die zugeschriebenen Kaufmotive: Sie wandelten sich in der Vorstellung der Werbeschaffenden von beeinflussbaren Käuferinnen und Käufern, die sich mit jedem Werbeversprechen locken ließen, zu rational-agierenden Entscheidern, die den Wert eines Produktes gemäß seines Verwendungszwecks betrachteten. Zum Ende des Jahrzehnts änderten sich die den Kaufentscheidungen mutmaßlich zugrunde liegenden Motive erneut. Emotionalität und Idealismus spielten nun eine größere Rolle. 31 32 33 34 35
Werbung ist für alle da, in: Werben & Verkaufen, 4.10.1974. Gasteiger, Der Konsument, S. 37ff. Daniel Horowitz, The Anxieties of Affluence. Critiques of American Consumer Culture, 1939–1979, Amherst 2004, S. 108, 120. Gasteiger, Der Konsument. Ders., Vom manipulierbaren zum postmodernen Konsumenten. Das Bild des Verbrauchers in der westdeutschen Werbung und Werbekritik, 1950–1990, in: Archiv für Kulturgeschichte 90 (2008), S. 129–157.
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Ende der siebziger Jahre rezipierten Werbung, Medien und Öffentlichkeit neue wissenschaftliche Erkenntnisse aus den Verhaltenswissenschaften und der Kommunikationstheorie, die das Bild eines passiven Verbrauchers revidierten, der den Botschaften der Werbung ausgeliefert sei. Die bisherige ‚Senderorientierung‘ wurde zugunsten empfängerorientierter Kommunikationsmodelle aufgeben36 . Bis dahin hatten sich die Verteidigerinnen und Verteidiger der Werbung gegenüber den Angriffen in der Defensive befunden. Mit der Betonung der Kommunikationswissenschaft, dass Rezipientinnen und Rezipienten eine aktive und kreative Rolle in der Werbewahrnehmung hatten, konnten Werbebefürworterinnen und Werbebefürworter den Verbrauchern die Verantwortung für das Zulassen von Werbewirkung geben37 . Dies ebnete den Weg für einen neuen Blick auf die Werbung. In der öffentlichen Diskussion betonte die Welt die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse und erklärte den Konsumenten zum komplexen Subjekt mit vielen speziellen Bedürfnissen: „Der ‚geheime Verführer‘ ist ein Phantom, das die Dunkelheit und die Dünste der Gerüchteküche liebt. Knipsen wir das Licht an und lassen wir frische, klare Luft herein, damit der ‚geheime Verführer‘ endlich stirbt.“38 Jedoch ist der Stimmungswandel nicht allein auf neue wissenschaftliche Erkenntnisse zurückzuführen. Zunehmend wurde betont, dass Konsumentinnen und Konsumenten ihre Individualität aktiv mithilfe der symbolischen und kommunikativen Dimension von Konsumgütern gestalteten und sie bewusst zur „Selbstverwirklichung“ einsetzten39 . Wie unten gezeigt wird, waren die Schlagwörter Individualität und Selbstverwirklichung jedoch noch sehr begrenzt in ihrer Aussagekraft. Ein bleibender Aspekt, der die direkte Auseinandersetzung mit den Verbraucherschützerinnen und Verbraucherschützern überdauerte, war der Eindruck, dass Konsumentinnen und Konsumenten gegenüber Werbung generell durchaus kritisch eingestellt sein konnten. Die Werbeindustrie hatte den Eindruck, dass sie nicht nur für den Verkauf ihrer Waren ‚bessere‘ Werbung betreiben müsste, sondern auch, um die Branche insgesamt in ein besseres Licht zu rücken.
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Clemens Wischermann, Einleitung, Der kulturgeschichtliche Ort der Werbung, in: Peter Borscheid/Clemens Wischermann (Hrsg.), Bilderwelt des Alltags. Werbung in der Konsumgesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1995. Dirk Reinhardt, Von der Reklame zum Marketing. Geschichte der Wirtschaftswerbung in Deutschland, Berlin 1993, S. 6–8. S. Bauer, Einen psychologischen Kaufzwang gibt es nicht. Die geheimen Verführer sind tot, in: Die Welt, Sonderbeilage Kommunikation, 18.05.1977. Zusammenfassend: Rüdiger Szallies, Auf dem Weg in die Postmoderne? Wie Konsumenten differenzieren, in: Absatzwirtschaft, Sondernummer (Oktober 1989), S. 32–40, hier S. 33.
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Sparen und Selbstverwirklichung, Krise und Konsum Neben den Diskussionen um den Einfluss der Werbung selbst beschäftigte sich die Branche ausführlich mit den von ihr beobachteten Veränderungen im Konsumentenverhalten. Die Beiträge in den Publikationen für Werbeschaffende bezogen sich insbesondere auf wichtige Entwicklungen in Wirtschaft und Gesellschaft. Wichtige Themen waren etwa die Standpunkte der Verbraucherschützerinnen und Verbraucherschützer, von denen sie sich ausdrücklich abgrenzten, sowie die einschneidende ökonomische Krise, die Ende 1973 mit der Ölpreiskrise begann. Wie in zahlreichen Arbeiten zu den siebziger Jahren herausgearbeitet, wurde auch in der Werbebranche die Zäsur 1973/74 als Bruch angesehen, der eine neue Zeit einleiten würde40 . Die Ölkrise, die sich in eine Wirtschaftskrise wandelte, wurde in ihren Auswirkungen für die Branche und für das Konsumverhalten breit diskutiert. Zu Beginn der Krise Ende 1973 schien eine glimpfliche Lösung des Ölkonflikts noch denkbar. Trotzdem war es die „Angst des Jahres“ 1973, dass „Energie- und Rohstoffverknappung 1974 in eine echte Wirtschaftskrise führen können“41 . Während Ende 1973 noch Unsicherheit über die langfristigen Auswirkungen der Rohstoffkrise herrschte, wurde 1974 deutlicher, dass die Krise Kürzungen in den Werbeetats vieler Unternehmen mit sich bringen würde. Anfang 1974 setzte sich zunehmend die Gewissheit durch, dass mit der wirtschaftlichen Krise auch die „goldenen Sechziger“42 ein Ende finden könnten. Die 1960er Jahre galten bis dahin als die Hochzeit der Werbebranche. Angesichts der eingangs dargestellten Werbeausgaben lag allerdings retrospektiv gesehen die in wirtschaftlicher Hinsicht ‚goldene Zeit‘ noch vor ihr. Konkret konnte die Krisenerfahrung – je nach Branche der Kunden – sehr unterschiedlich ausfallen. Die Reaktionen auf die Krise waren abhängig von der Strategie der Auftraggeber. Dabei hing es von deren Auffassung ab, ob es ratsam sei, die Werbeausgaben in der wirtschaftlichen Baisse als eine der ersten Posten zu reduzieren oder ob mit Hilfe von Werbung versucht werden sollte, rückgängigen Verkaufszahlen entgegenzuwirken. Die Krisenerfahrung war trotz allem für die Werbebranche nachdrücklich. Die Zeit wurde als Überlebenskampf und Reifeprüfung der Branche stilisiert,
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Zur These des „Strukturbruchs“ und der Ära „nach dem Boom“ vgl. Anselm DoeringManteuffel, Nach dem Boom. Brüche und Kontinuitäten der Industriemoderne seit 1970, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 55 (2007), S. 559–581; ders./Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008. 1973: Erfolge, Blamagen, Spekulationen, in: Werben und Verkaufen, 21.12.1973. Werber in der Schlankheitskur.
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die zuvor scheinbar mühelos gewachsen war43 . Während es in den goldenen Zeiten vermeintlich einfach gewesen war, als Werber erfolgreich zu sein, würde die Krise nun zeigen, wer nur ein sogenannter „Boom-Manager“ sei44 . In dieser Zeit mehrten sich Artikel, die vom starken Konkurrenzkampf zwischen den verschiedenen Werbeagenturen berichteten. Kleine und mittelgroße Agenturen verschmolzen und die Tendenz zur Spezialisierung auf einzelne Branchen nahm zu. Auch wurde von verstärktem Konkurrenzkampf und Entlassungen innerhalb der Agenturen berichtet45 . Ende des Jahres 1974 bilanzierte das Jahrbuch der Werbung, dass das vergangene Jahr „eher in Moll gehalten“ war – mit verhaltenem Optimismus für das folgende Jahr 197546 . Die Krisenerfahrung beschränkte sich natürlich nicht nur auf die Werbebranche, sondern umfasste auch deren ‚Publikum‘. Der Kampf um die Konsumentinnen und Konsumenten wurde als zunehmend heftiger beschrieben47 . Als Reaktion wurden Anzeigen geschaltet, die den Kunden mit überzeugenden Argumenten praktisch zum Kauf zwingen sollten. Werbung sollte nicht schön sein, sondern erfolgreich. Werben & Verkaufen empfahl, Produkte mit sachlichen Attributen wie Qualität und Langlebigkeit zu bewerben und so den Kunden in der wirtschaftlich schwierigen Zeit zu überzeugen, auch wenn dies bedeute, dass Werbung nun „langweilig“ werde48 . Der Konsument sei zwar verunsichert, jedoch: „auch in mageren Zeiten sind die verwöhnten Wohlstandsbürger bereit, auf attraktive Impulse der Anbieter zu reagieren“. Um die Konsumenten für sich zu gewinnen, müsse man die Vorzüge der Produkte in den Vordergrund stellen. Werber sollten speziell die langfristigen Qualitäten ihrer Produkte anpreisen49 . Das Bild des beeinflussbaren Konsumenten ist hier deutlich erkennbar. Die Zeitschriftenartikel suggerierten, dass Konsumentinnen und Konsumenten potentiell kauflustig waren, wenn man sie mit guten, in dieser Zeit insbesondere nüchtern-sachlichen Argumenten überzeugte. Wie eine Umsetzung dieser Maßgaben aussehen konnte, wird anhand der Werbeanzeigen von Volkswagen deutlich. Neue Modelle wurden als „vernünftig“ beschrieben, der Dauerbrenner Käfer wurde als „Sparzeug“ deklariert, dessen Kauf „gerade jetzt“ die richtige Lösung sei50 . Auch in Großbritannien wurde mit ähnlichen Attributen geworben: „open 43
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So steuern Sie durch die Krise, in: Absatzwirtschaft 2 (1974). ‚Vorwort‘, in: Neumann/ Sprang/Hattemer (Hrsg.), Werbung in Deutschland; Management: Der Revisor geht um, in: Absatzwirtschaft 1 (1974). Peter Reichard, Hilflose Boom-Manager, in: Absatzwirtschaft 3 (1974). Wolfgang Scheuren, German Marketing goes through a violent upheaval, in: Adweek, 29.03.1974; JWT chalks up a first quarter loss, in: Adweek, 10.05.1974; Kaum Grund zum Jubeln, in: Werben & Verkaufen, 19.07.1974. Für ’75 überwiegt Optimismus, in: Werben & Verkaufen, 12.09.1974. So steuern Sie durch die Krise. C. M. Wülffing, Wird die Werbung eintönig?, in: Werben & Verkaufen, 19.04.1974. So steuern Sie durch die Krise. VW Käfer Anzeigen, in: ZAW (Hrsg.), Jahrbuch der Werbung 1974.
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a savings account“ war der Slogan zum Beetle51 . Nicht nur Volkswagen, auch andere Autohersteller priesen ihre Produkte mit Vernunftattributen an: Volvo warb mit „Mehr Sicherheit. Mehr Qualität.“, Peugeot mahnte zum „Umsteigen auf Vernunft“52 . Den Konsumenten wurde in der wirtschaftlichen Krise ein rationaleres Handeln zugeschrieben als zuvor und auch danach. Die Ausweitung des Massenkonsums nach Ende des Zweiten Weltkriegs hatte bereits lange vor Beginn der siebziger Jahre dazu geführt, dass Konsum für eine breite Masse nicht nur die Befriedigung von (Grund-)Bedürfnissen einschloss, sondern ebenso als Mittel der Distinktion diente53 . Die Konnotation von Produkten mit emotionalen Attributen hatte sich im Automobilbereich bereits in den sechziger Jahren etabliert. Sportlichkeit und Schnelligkeit waren etwa Produkteigenschaften, die BMW und Opel in dieser Zeit propagiert hatten54 . Daher ist die Versachlichung im Umgang mit dem Produkt Auto bemerkenswert und zeigt, wie deutlich die Krisenerfahrung die Wertorientierung – zumindest kurzfristig – veränderte. Mit dem sich wandelnden Bild des Verbrauchers erschienen Konsumenten in den Diskursen der Werbeschaffenden als zunehmend unberechenbarer und damit schwerer ansprechbar. Herbert Wetting, Inhaber eines Marktforschungsinstituts, beschrieb im Jahrbuch der Werbung 1975 die Eindrücke der Konsumenten: Seit dem Zweiten Weltkrieg hätten die Deutschen einen differenzierten Lebensstil entwickelt, sie seien „selbstbewußter, vernünftiger, kurz: mündiger geworden“. Der Entscheidungsprozess für ein Produkt sei daher nicht einfach zu beeinflussen: „Der Konsument muß vielmehr als Individuum gesehen werden, dessen individuelle Bedürfnisse und Motive die Ankerpunkte sind, an denen sich die Betrachtungen des Werbefachmannes zu orientieren haben.“55 Ein Artikel der Absatzwirtschaft charakterisiert die Konsumenten der siebziger Jahre folgendermaßen: „Die Konsumenten der siebziger Jahre wissen mehr und sind kosmopolitischer. Sie sind über nationale Trends in Geschmack, Stil und Produkten informiert, sie sind anspruchsvoller und fähiger zu unterscheiden. Ihr Lebensstil wird von der schnell wachsenden Vielfalt der Produkte und Dienstleistungen geprägt. Die Auswahl verfügbarer Produkte und Dienstleistungen 51 52 53
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Internationale Anzeige für den Käfer „Open a savings account“, in: Campaign, 28.11.1974. Anzeigen in: ZAW Jahrbuch der Werbung, 1974. Sabine Haustein, Vom Mangel zum Massenkonsum. Deutschland, Frankreich und Grossbritannien im Vergleich, 1945–1970, Frankfurt a.M. 2007; Axel Schildt/Detlef Siegfried, Introduction, in: Dies. (Hrsg.), Between Marx and Coca-Cola. Youth Cultures in changing European Societies, 1960–1980, New York 2006, S. 1–39. Ingo Köhler, Marketing als Krisenstrategie. Die deutsche Automobilindustrie und die Herausforderungen der 1970er Jahre, in: Hartmut Berghoff (Hrsg.), Marketinggeschichte. Die Genese einer modernen Sozialtechnik, Frankfurt a.M. 2007, S. 259–295, hier S. 273. Herbert Wettig: Psychologisch segmentierte Konsumenten – gibt’s die?, in: Sprang/ Neumann/Hattemer (Hrsg.), Werbung in Deutschland, S. 23–30.
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vergrößert sich stark und bietet damit eine größere Zahl von Alternativen für ihren Lebensstil.“56 Das hier gezeichnete Bild der Konsumentinnen und Konsumenten stellt einen Wandel in deren Einstellungen gegenüber dem Konsumangebot fest: Die Konsumentinnen und Konsumenten würden den Werbern auf Augenhöhe begegnen, was von der Werbung erfordere, auf die Kunden gezielter einzugehen. Es wird nicht davon ausgegangen, dass Verbraucher von den vielfältigen Möglichkeiten der modernen Konsumgesellschaften überfordert seien, sondern diesen souverän begegneten, sie für ihre eigenen Zwecke zu nutzen wüssten. „Lebensstil“ entwickelte sich zu einem zentralen Ansatzpunkt, um das Verhalten und die Wünsche der Konsumenten zu verstehen. Die Vorstellung, dass Verbraucher eine bestimmte Art zu leben verfolgten und dementsprechend die ‚passenden‘ Produkte zu diesem Lebensstil wählten, wurde zum Leitmotiv der Branche. Rasante (intellektuelle) Karriere machte der Begriff in den 1980er Jahren, etwa in den Arbeiten Ulrich Becks und Gerhard Schulzes. Sie vertieften die hier nur oberflächlich angeschnittenen Debatten mit ihren Überlegungen zur „Individualisierung“ und „Pluralisierung der Lebensstile“57 . In den hier untersuchten Diskursen werden diese beginnenden Überlegungen zur Wertorientierung auf das Kaufverhalten übertragen. Man vermutete, dass Konsumentinnen und Konsumenten auf Basis ihres Lebensstils zu Gruppen zusammengefasst und adressiert werden könnten. Lebensstile implizierten verschiedenste Spielarten der individuellen Selbstverwirklichung. Wie sich Selbstverwirklichung genau ausdrückte, darüber wurden verschiedene Überlegungen angestellt, und zumeist vermutete man darunter „Individualisierungswünsche“58 . Mit „Selbstbesinnung“ sei kein nach außen gerichteter demonstrativer Konsum gemeint, im Gegenteil: Dieser „demonstrative, naive Geltungsverbrauch“ sei der Fokussierung auf eigene Bedürfnisse gewichen59 . Die bekannten Schlagworte der in den Diskursen nicht explizit rezipierten Wertewandelforschung wurden selten mit konkreten Inhalten gefüllt. Offenbar wurde davon ausgegangen, dass die Leserinnen und Leser eigene Vorstellungen davon hatten. Die Segmentierung der Märkte in verschiedene Zielgruppen implizierte zugleich, genügend über die potentiellen Konsumenten zu wissen, um markante Charakteristika herausarbeiten zu können. Die im Rahmen des Marketing-Ansatzes zunehmend intensivierte Marktforschung wurde daher vorangetrieben, wie in den folgenden Abschnitten dargestellt wird. Ab den 56 57
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Verbraucher 1978: Individualisierungswünsche, in: Absatzwirtschaft 4 (1978). Ulrich Beck, Jenseits von Stand und Klasse? Soziale Ungleichheiten, gesellschaftliche Individualisierungsprozesse und die Entstehung neuer sozialer Formationen und Identitäten, in: Reinhard Kreckel (Hrsg.): Soziale Ungleichheiten. Soziale Welt, Sonderband 2, Göttingen 1983, S. 35–74; ders., Risikogesellschaft, Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a.M. 1986. Verbraucher 1978: Individualisierungswünsche, in: Absatzwirtschaft 4 (1978), S. 36–42. Ebenda.
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achtziger Jahren wurde dieser Ansatz mit der Entwicklung der „Sinus-Milieus“ weitergeführt. Zum Ende der siebziger Jahre wurden im Jahrbuch der Werbung die beobachteten Entwicklungen bilanziert: „Der Lebensstil der Mehrheit drückt sich in höherer Mobilität, mehr Freizeit, Ausgabenfreudigkeit, Gesundheitsstreben und mehr Individualismus aus. Zugleich zeigt sich ein Trend zu mehr sozialer Verantwortung und Absicherung sowie zu einem stärkeren Umweltbewußtsein.“60 Die Vermengung von strukturellen Bedingungen wie Freizeit und höhere Konsumausgaben sowie Werten wie Gesundheit und Individualismus als Lebensstil zeigt, dass für die Werbeschaffenden beide Dimensionen eng zusammen hingen. Nahezu als Widerspruch wurden soziale Verantwortung, Absicherung und Umweltbewusstsein als „Trends“ beschrieben, die eher temporären Charakter hätten. Der Text summierte zudem einige strukturelle Veränderungen, die sich steigernd auf den privaten Verbrauch auswirken sollten und neue Möglichkeiten des Konsums öffneten. Hierzu zählten die steigende Zahl der Ein-PersonenHaushalte, mehr Arbeitsplätze im Dienstleistungssektor und beim Staat, weniger in der Landwirtschaft. Besonders hervorgehoben wurde die „ungeheure Steigerung beim Einkommen der privaten Haushalte“61 . In den vergangenen zehn Jahren habe sich der private Verbrauch verdoppelt. Nicht zuletzt würden die Verbraucher mehr frei verfügbare Zeit haben. Das hier vom Verbraucher gezeichnete Bild sollte sich auch in den achtziger Jahren fortsetzen. Die Verbraucher schienen generell konsumfreudig, ihre möglichen Präferenzen im Konsum wurden mit der Kategorie der Lebensstile zu erfassen versucht. An Stelle des berechenbaren „Otto Normalverbraucher“ rückte der postmoderne, unberechenbare, divergierende Konsumstile pflegende „Markus Möglich“. Diesem wurde die Kompetenz zugeschreiben, seine Identität bewusst mit geeignet erscheinenden Konsumgütern zu konstruieren – er würde nur solche Produkte kaufen, die seine Individualisierungsbestrebungen unterstützten62 . Besonders gespannt und teilweise verunsichert beobachtete die Werbebranche Veränderungen im Verhalten von Frauen. Wie in zahlreichen Darstellungen der sechziger und siebziger Jahre beschrieben, setzten in dieser Zeit viele Veränderungen ein, die sich in Gestalt der „Entstandardisierung der Lebensläufe“ auswirken sollten63 . Für Frauen öffneten sich mit der zunehmenden Erwerbstätigkeit Möglichkeiten der Lebensgestaltung abseits von Haus und Herd. Neben 60 61 62 63
Werbung in den Achtzigern, in: Zentralausschuß der Werbewirtschaft, Werbung ’80, Bonn 1980. Werbung in den Achtzigern. Gasteiger, Der Konsument, S. 234. Andreas Wirsching, Erwerbsbiographien und Privatheitsformen. Die Entstandardisierung von Lebensläufen, in: Thomas Raithel/Andreas Rödder/Andreas Wirsching (Hrsg.), Auf dem Weg in eine neuen Moderne? Die Bundesrepublik in den siebziger und achtziger Jahren, München 2009, S. 83–99, hier S. 87.
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den ökonomischen Gründen trugen auch breitere Bildungschancen und die erstarkende Frauenbewegung zum Wandel der Geschlechterrollen bei64 . Vor diesem Hintergrund versuchte auch die Werbeindustrie, mehr über eine der wichtigsten, wenn nicht sogar die wichtigste Zielgruppe herauszufinden: die Hausfrauen. Der sogenannte „Hausfrauen-Report“ der Centralen Marketinggesellschaft der deutschen Agrarwirtschaft (CMA) wurde 1971 erstmalig durchgeführt und 1978 wiederholt65 . Zu Beginn des Jahrzehnts ergaben sich aus der Studie sechs verschiedene Gruppen: – – – – – –
Die durchschnittliche Hausfrau 28 % Die gleichgültige Hausfrau 23 % Die gesundheitsorientierte Hausfrau 17 % Die am Essen uninteressierte Hausfrau 14 % Die sparsame Hausfrau 9 % Der Gourmettyp 6 %66
Besonders bemerkenswert ist, dass offenbar die überwältigende Mehrheit der Frauen mit dem Begriff der ‚Hausfrau‘ zu beschreiben war. Die Reduzierung auf diese Rolle ist frappierend. Acht Jahre später ergab sich für die MartkforscherInnen ein völlig verändertes Bild: – – – – – –
Convenienceorientierte Berufstätige 23 % Gesundheitsmäßige Küchenmanagerin 23 % Treusorgende Hausfrau 19 % Außenorientierte Hobbyköchin 13 % Am Haushalt Uninteressierte 12 % Anspruchslose ältere Hausfrau 10 %67
Es erscheint sehr fraglich, ob sich in dieser relativ kurzen Zeit tatsächlich völlig neue Typen von Hausfrauen entwickelt haben konnten. Sinnvoller erscheint es, diese Studien als Quelle und Beleg dafür zu werten, dass die Rolle der Frau vielschichtiger wahrgenommen wurde68 . War sie zu Beginn der siebziger Jahre 64 65 66 67 68
Kristina Schulz, Der lange Atem der Provokation. Die Frauenbewegung in der Bundesrepublik und Frankreich, 1968–1976, Frankfurt a.M. 2002. Hausfrauen-Report, in: Absatzwirtschaft 12 (1973); Hausfrauen-Report: 2. Teil, in: Absatzwirtschaft 6 (1979). Hausfrauen-Report. Hausfrauen-Report: 2. Teil. Diese Überlegungen verweisen auf die Debatte um den Umgang mit sozialwissenschaftlichen Quellen, vgl.: Rüdiger Graf/Kim Christian Priemel, Zeitgeschichte in der Welt der Sozialwissenschaften. Legitimität und Originalität einer Disziplin, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 59 (2011), sowie: Bernhard Dietz/Christopher Neumaier, Vom Nutzen der Sozialwissenschaften für die Zeitgeschichte, Werte und Wertewandel als Gegenstand historischer Forschung, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 2 (2012), S. 293–304.
Werbung und Wertewandel
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auf ihre Aufgabe als Hausfrau reduziert, wurde sie 1978 in komplexeren Lebensumständen und vielfältigen Rollen und Interessen dargestellt. Zudem ist die Studie ein Beispiel für die zunehmende empirische Marktforschung, die sich von psychoanalytischen Methoden der Motivforschung abgrenzte. Zu Beginn der siebziger Jahre erschienen die Konsumentinnen und Konsumenten berechenbarer, eher steuerbar69 . Ende der siebziger Jahre ging es vor allem darum, die Konsumentinnen und Konsumenten in ihrer Lebenswirklichkeit zu erfassen und zu verstehen. Wie mit diesem neuen Fokus umzugehen sei, blieb jedoch eher unklar, wie das Fazit der CMA-Studie zeigt: „Die Hausfrau zeigt ein gegenüber den siebziger Jahren gänzlich geändertes Konsumverhalten, ist selbstbewußter, informierter geworden und bedarf einer modifizierten werblichen Ansprache.“70 Die Veränderungen, die „der Hausfrau“ zugeschrieben wurden, spiegelten auch die Veränderungen wider, die allgemein bei Konsumentinnen und Konsumenten wahrgenommen wurden: zunehmendes Selbstbewusstsein und vielschichtige, komplexe Lebensgestaltung. Allerdings scheint der Wandel im Hausfrauen-Bild besonders dramatisch und fast überraschend für die Werber. Die veränderte Rolle der Frau wurde nicht nur im Hausfrauen-Report aufgenommen. Die Absatzwirtschaft kritisiert die Art und Weise, in der Frauen als potentielle Konsumenten behandelt wurden. Oft seien Anzeigen in althergebrachten Geschlechterrollen verhaftet. Zwar hätten Werber erkannt, dass Frauen einen Großteil der Konsumentscheidungen im Haushalt treffen würden, jedoch würden sie sie trotzdem nicht ernst nehmen: „Weil sie verhältnismäßig große Kaufgewalt besitzt, ist die Frau in der Werbung ein stark umschmeicheltes Wesen. Doch von ihrer wahren Macht als Marktpartnerin ist fast nie die Rede.“ Weiter: „Die wahre Rolle der Hausfrau wird in der Durchschnittswerbung für die Frau nicht dargestellt. Durch Fragen nach ihrem Taschengeld scheint gelegentlich ihre Abhängigkeit vom Mann durch.“71 Die (Selbst-)Kritik war deutlich: Anzeigen patronisierten Frauen, indem sie sie vorwiegend als dekoratives Beiwerk behandelten und nicht als gleichberechtigte Konsumentin. Die Darstellung von Frauen sei eindimensional und ihr Leben sei in der Werbung auf Schönheit, die Behandlung ihrer Ehemänner oder das Erobern von Männern reduziert. Einige besonders eklatante Beispiele wurden genannt: Eine Anzeige des Schönheitsprodukts Endocil verbalisierte den Unterschied zwischen Männern und Frauen folgendermaßen: „Ein Mann darf Falten haben. Eine Frau nicht.“ Im ähnlichen Duktus empfahl ein Hersteller den Kauf seiner Kaffeemaschinen, denn so könne die Frau, die den ganzen Tag auf ihren „Helden“ gewartet habe, das Problem der „Unlust“ lösen72 . Ganz ähnliche werbekritische Beiträge finden sich in den britischen Fachmagazinen. Die sich 69 70 71 72
Gasteiger, Der Konsument. Hausfrauen-Report: 2. Teil. Die Frau, das oft verkannte Wesen, in: Absatzwirtschaft 11 (1974), S. 32–36. Ebenda.
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verändernde Rolle der Frau wurde in Großbritannien unter dem Stichwort der „New Woman“ diskutiert. Diese sei „[an] independent ‚do-it-yourself ‘ type of lady who’s living in a man’s world“, so das Werbermagazin Campaign. Es kritisierte viele Anzeigen als „blatantly sexist“ und die Ansprache der Frau als unzeitgemäß. Weiter wurde kritisiert, dass stereotype Bilder von Frauen die Werbung mit einem „patronizing girls-watch-tone“ dominierten. Stattdessen wurden kreative neue Ansätze gefordert, etwa ein Rollenwechsel der Geschlechter73 . Hervorgehoben wurden Kampagnen, die auf die Veränderungen angemessen antworteten, so etwa die des Britischen Autoherstellers British Leyland. Dieser kündigte 1974 an, sich auf eine neue wachsende Zielgruppe zu konzentrieren: „the girl who pays her own car and garage bills“. Zuvor hatte sich nur Werbung für Zweitwagen (auch) an Frauen gerichtet74 . Darüber hinaus wurde auch der eigenen Industrie Sexismus vorgeworfen. Sehr selten waren kreative Jobs mit Frauen besetzt, zudem würden sie in vergleichbaren Positionen deutlich weniger verdienen. Jedoch würden auch die Kunden der Werbeagenturen frauenfeindlich agieren, denn sie akzeptierten Frauen nicht in verantwortlichen Positionen75 . Der Wandel weiblicher Leitbilder war eine der Entwicklungen, die als sehr bedeutsam bewertet wurden, und sie stellte die Werbeindustrie vor besondere Herausforderungen. Die Frage nach einer adäquaten und damit wirksamen Adressierung selbstbewussterer und zunehmend zahlungskräftigerer Verbraucherinnen führte zu einer spürbaren Verunsicherung in der von Männern dominierten Werbebranche. Der Wandel im Bild der Hausfrauen erscheint als besonders deutliches Beispiel für generelle Veränderungen im Bild des Konsumenten. Als selbstbewusster und vielschichtiger nahmen die Werbetreibenden ihr ‚Publikum‘ wahr, was die Ansprache deutlich verkomplizierte. Während es zu Beginn des Jahrzehnts eher darum ging, die materiellen Bedürfnisse der Konsumenten zu erkennen und diese mit rationalen Argumenten anzusprechen, wurde zunehmend der Lebensstil in den Blick genommen und damit die eher emotionalen Bedürfnisse und Wünsche.
Marketing – Die Brücke zum Konsumenten Die Wahrnehmung eines zunehmend komplexeren und damit schwieriger zu begreifenden Verbraucherverhaltens gab neuen Ansätzen und Methoden Auftrieb, die helfen sollten, die Konsumenten ganzheitlicher zu erfassen. Neben empirischer Marktforschung, zu der etwa die Studie des Hausfrauen-Reports 73 74 75
R. Bingham, Sex Symbols, in: Campaign, 22.11.1974. British Leyland goes after the new women, in: Adweek, 11.01.974. Are clients to blame for agency sexism?, in Adweek, 01.03.1974.
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zählt, setzten sich zunehmend Konzepte des Marketings durch. Sie verfolgten einen breiteren Ansatz als reine Werbung, die den Kauf der hergestellten Produkte anregen sollte. Ein wichtiges Instrument für den Einsatz des richtigen ‚Marketing Mix‘, zu dem gemeinhin Produkt-, Preis-, Distributions- und Kommunikationsmaßnahmen gehören, war die Marktforschung, um potentielle Konsumentengruppen zu identifizieren und diese mit den passenden Werbemaßnahmen anzusprechen. Die schon angesprochene Segmentierung der Märkte war eine Folge dieser Praktik. Obwohl die These der „Marketingrevolution“ für die 1970er Jahre relativiert wurde76 , ist festzuhalten, dass sowohl der Begriff als auch die zentralen Gedanken während dieser Zeit in viele Unternehmen Eingang fanden. Die schwierige ökonomische Situation und sinkende Nachfrage machten in vielen Betrieben ein Umdenken möglich und erforderlich, um die eigenen Produkte besser verkaufen zu können77 . Laut Philip Kotler, dem amerikanischen „Marketingpapst“78 , sollte Marketing die Verbindung zwischen den Bedürfnissen der Gesellschaft und ihren industriellen Aktivitäten darstellen79 . Allerdings taten sich gerade kleine und mittelgroße Betriebe schwer mit der neuen Lehre. Auch wenn ‚Absatzwirtschaft‘ nun ‚Marketing‘ hieß, bedeutete dies nicht unbedingt die volle Implementation des Marketings, das sich mehr als langfristige Strategie denn als kurzfristiges Mittel versteht80 . Die Einführung des Marketing-Ansatzes konnte tiefgreifende Veränderungen zur Folge haben. Der Ansatz gibt vor, dass der Gedanke an die zukünftigen Konsumentinnen und Konsumenten in jedem Schritt der Produktion präsent sein muss. Dass die Werbemedien das Umdenken und die Implementierung des Marketings explizit unterstützten und forderten, überrascht nicht. Schließlich wertete das Denken in Absatzmärkten die Stellung der Marketing-Verantwortlichen deutlich auf. So war 1977 in der Absatzwirtschaft der Leitsatz eines Vorstandsmitgliedes von Daimler-Benz zu lesen: „Unternehmensziele sind jetzt Marketingziele“81 . Wie die darauf folgenden Veränderungen in der Praxis aussehen konnten, stellt Ingo Köhler am Beispiel der deutschen Automobilhersteller dar: Volkswagen und Opel stellten ihre Produktpalette um und erweiterten diese deutlich82 . Zum einen gab es mehr Modelle in verschiedenen Preisstufen, zum anderen konnten diese Modelle vielfach in Ausstattung und Design variiert werden. So sollte es besser möglich sein, auf individuelle Kundenwünsche einzugehen. 76 77
78 79 80 81 82
Hartmut Berghoff, Einleitung, in: Ders. (Hrsg.), Marketinggeschichte. Peter Borscheid, Agenten des Konsums: Werbung und Marketing, in: Heinz Gerhard Haupt/ Claudius Torp (Hrsg.), Die Konsumgesellschaft in Deutschland 1890–1990, Frankfurt a.M. 2009, S. 79–97. Kotler was here!, in: Absatzwirtschaft 12 (1973). Philip Kotler, Marketing management. Analysis, planning and control, London 1976. „Marketing“ – das unbekannte Wesen, in: Werben & Verkaufen, 04.10.1974. Daimler Benz – Sternstunde einer Langfriststrategie, in: Absatzwirtschaft 11 (1977). Köhler, Marketing als Krisenstrategie.
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Die zunehmende Implementierung des Marketings wurde abgesehen vom ökonomischen Handlungsdruck auch durch andere Aspekte begünstigt: Neben der wirtschaftlichen Krise hatte bereits zuvor das wachsende (Über-)Angebot den Absatz von Waren erschwert. Darüber hinaus trug der Eindruck, dass Konsumentinnen und Konsumenten komplexer und damit weniger berechenbar seien, dazu bei, dass Werber und Industrie zunehmend das Bedürfnis hatten, mehr über die eigenen potentiellen Kunden und Kundinnen zu wissen. Die Bedeutung des Konsumenten für den wirtschaftlichen Erfolg eines Unternehmens wurde deutlich aufgewertet. Herbert Meffert, der 1968 das erste Institut für Marketing an einer deutschen Hochschule gegründete hatte, drückte die neue Position des Verbrauchers 1975 so aus: „Überspitzt formuliert kann man sagen: Mehr als je zuvor ist der Verbraucher in der Lage, durch seine Kaufentscheidungen das Verhalten der Unternehmungen zu belohnen oder zu bestrafen. Marketing mit seinem Anspruch, den Wünschen und Bedürfnissen des Konsumenten bestmöglich zu entsprechen, ist somit letztlich eine notwendige Reaktion der Unternehmungen auf die wachsende Macht des Verbrauchers“83 , die in einen grundsätzlichen Wandel von der Produkt- zur Käuferorientierung mündete84 . Marketing kann somit als Reaktion der Werbeindustrie gedeutet werden, das wandelnde Verbraucherverhalten sowie die Konsumwünsche der Konsumenten besser zu erfassen und damit ansprechen zu können. Die damit einhergehenden intensivierten Praktiken der Marktforschung unter dem Einsatz wissenschaftlicher Expertise stellen einen Teilprozess der ‚Verwissenschaftlichung des Sozialen‘ dar85 .
Fazit und Ausblick: Werbung und Wertewandel in den Siebzigern Die vorliegende Untersuchung zeigt, auf welche Weise gesellschaftliche, politische und ökonomische Entwicklungen in den Diskursen der Werbepublikationen verhandelt wurden und welche handlungsleitenden Werte darin den deutschen Konsumentinnen und Konsumenten zugeschrieben wurden. Es wird deutlich, dass diese Werte sich im Untersuchungszeitraum mit Blick auf die Kauforientierung wandelten: Während zu Beginn der 1970er Jahre Werbung mit emotionalen Konnotationen als besonders erfolgreich beschrieben wurde, galten während 83 84 85
Heribert Meffert, Marketing heute und morgen. Entwicklungstendenzen in Theorie und Praxis, Wiesbaden 1975. Berghoff, Einleitung, in: Ders. (Hrsg.), Marketinggeschichte. Lutz Raphael, Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jh., in: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), S. 165–193; Berghoff, Einleitung, in: Ders. (Hrsg.), Marketinggeschichte.
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der Wirtschaftskrise sachliche, rationale Werte als Leitmotive für Werbung: Wirtschaftlichkeit, Langlebigkeit, Vernunft und Sicherheit waren die zentralen Wertorientierungen, die in der Zeit der Wirtschaftskrise als maßgeblich für die Kaufentscheidungen der Konsumentinnen und Konsumenten angesehen wurden. Die Produkte und ihre Qualitäten standen im Vordergrund. Zum Ende des Jahrzehnts änderten sich die Attribute, mit denen die zu verkaufenden Produkte beschrieben wurden. Zunehmend wurden die Schlagworte Individualität, Selbstverwirklichung und der eigene Lebensstil mit der Wertorientierung der Verbraucher in Verbindung gebracht. Die Produkte wurden mit emotionaleren Attributen versehen, um diesen neuen Werten zu entsprechen. Hinzu kamen strukturelle Bedingungen wie zunehmende Kaufkraft und mehr Freizeit, die als langfristige Basis für eine Verstetigung dieser Trends interpretiert wurden. Verbunden waren diese wechselnden Wertzuschreibungen mit einem sich wandelnden Bild des Verbrauchers selbst. Während zu Beginn des Jahrzehnts der Eindruck der manipulierbaren Verbraucherinnen und Verbraucher vorherrschte, wandelte sich dieses Bild bis zum Ende der siebziger Jahre grundlegend: Die schwer berechenbaren Konsumentinnen und Konsumenten schienen sich nur bedingt von Werbebotschaften beeinflussen zu lassen. Ihnen wurde zugeschrieben, sich ihre Identität mit den entsprechenden Konsumgütern zu konstruieren, statt Vorbilder aus der Werbung schlicht zu übernehmen. In der Wahrnehmung der Werbewirtschaft wurde ihr ‚Publikum‘ zunehmend komplexer und selbstbewusster, sodass es erforderlich schien, Marktforschung zu betreiben, um die eigenen Zielgruppen auszumachen und deren Bedürfnisse zu verstehen. Als das zeitgemäße Mittel, um Produktion und Konsumentinnen und Konsumenten zu verbinden, wurde die Einführung des Marketings als strategischer Ansatz propagiert. Insgesamt lässt sich also eine Aufwertung der Konsumentinnen und Konsumenten konstatieren, vorangetrieben von den wirtschaftlichen Umständen sowie der gewandelten Wahrnehmung der Verbraucherinnen und Verbraucher und ihrer Wertorientierung. Ihnen wurde zugestanden, das Verhalten von Unternehmen mit ihrem Konsumverhalten zu goutieren oder zu sanktionieren. Besonders zugespitzt sind die beschriebenen Tendenzen im Bild der (Haus-) Frau feststellbar: Während sie zu Beginn des Jahrzehnts vor allem auf ihre Rolle als Hausfrau und Köchin reduziert wurde, wurde sie einige Jahre später als vielschichtiger und selbstbewusster wahrgenommen. Diese Wahrnehmung machte eine veränderte Ansprache notwendig, die Frauen in ihren vielschichtigen Rollen und Aufgaben erfassen sollte. Wie in dieser Zusammenfassung finden sich in der Untersuchung viele Schlagworte und Entwicklungen wieder, die auch von der Wertewandelforschung aufgegriffen wurden. Deren Ergebnisse und Methoden wurden in den letzten Jahren von der Geschichtswissenschaft einer kritischen Prüfung unterzogen86 . 86
Es sei an dieser Stelle darauf verwiesen, dass auch in den Sozialwissenschaften Kritik an den Methoden und den Ergebnissen der Studien von Inglehart und Klages geübt wur-
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Allerdings hatten die Studien von Inglehart und Klages offenbar keinen Einfluss auf die beobachteten Diskurse, denn sie erschienen zu spät für den hier genannten Untersuchungszeitraum. Daher weisen die Quellen keine explizite Rezeption der prominenten Studien auf. Was in den Diskursen der Werber unter Schlagwörtern wie Selbstverwirklichung verstanden wurde, blieb zumeist sehr oberflächlich und mitunter diffus, wenn etwa strukturelle Bedingungen und Wertorientierung miteinander vermischt wurden. Dass sich jedoch die Zuschreibung von Werten in kurzen Zeiträumen ändern konnte, wurde ebenso gezeigt. Daher ist diese Untersuchung nicht als Bestätigung für die Erkenntnisse der Wertewandelforschung zu verstehen. Um eine der stärksten Thesen Ingleharts herauszugreifen: Der Übergang von der materiellen zur postmateriellen Orientierung ist nur schwer auszumachen87 . Zwar wurde Selbstverwirklichung als ein wichtiger Wert ausgemacht, jedoch ging es vielmehr um die materielle Ausgestaltung dieser Vorstellung. Dies ist sicherlich dem Kontext der Werbediskurse geschuldet, jedoch wurde deutlich, dass die Verbindung von ideellen mit materiellen Werten wichtig war. Entscheidend hierfür waren nicht zuletzt auch sozioökonomische Veränderungen. Werbetreibende waren und sind selbst aufmerksame Beobachter der Gesellschaft und versuchen, Trends früh zu erkennen und für sich zu nutzen. Eines der wichtigsten Themen für die Werbebranche war die Auseinandersetzung mit der Verbraucherschutzbewegung und der mir ihr verbundenen Kapitalismuskritik. Die Erfahrung, dass Werbung unter öffentlichem Druck stand und als überflüssig eingestuft wurde, trug zur beschriebenen Aufwertung der Verbraucherposition bei. Dass sich diese Bewegung zum Ende des Jahrzehnts deutlich abgeschwächt hatte und zudem die Branche mit dem Bedeutungszuwachs des Marketings starken Auftrieb erhielt, ließ die Werbetreibenden positiv in die Zukunft blicken. Die Werber nahmen eine konsumfreundliche Grundstimmung wahr. Zudem deuteten sie sich verändernde strukturelle Bedingungen in ihrem Sinne und erwarteten damit verbunden zunehmenden Konsum. Diese Stimmung sollte sich im folgenden Jahrzehnt fortsetzen und verstärken88 . Mit der Einführung des Privatfernsehens erhöhten sich die Werbeausgaben in den 1980er Jahren deutlich, sodass die Brutto-Werbeumsätze in verschiedenen Medienformen, die 1973 bei etwa fünf Milliarden DM lagen, sich bis 1987 auf 33,4 Milliarden DM gesteigert hatten. Rückblickend können daher die siebziger Jahre als moralischer Durchbruch für die Werbebranche angesehen werden, der sich jedoch nicht unbedingt auf Veränderungen in der Branche selbst stützte, sondern insbesondere auf die gesellschaftlichen und ökonomischen Bedingungen.
87 88
de, vgl. Thome, Soziologische Wertforschung; bereits früher Bernadette Kadishi-Fässler, Gesellschaftlicher Wertwandel: Die Theorien von Inglehart und Klages im Vergleich, in: Schweizerische Zeitschrift für Soziologie 19 (1993), S. 339–363. Inglehart, The Silent Revolution, S. 3. Andreas Wirsching, From Work to Consumption. Transatlantic Visions of Individuality in Modern Mass Society, in: Contemporary European History 20 (2011), S. 1–26, hier S. 20.
4. Alternative Ökonomie und Migration
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„Entwicklungshilfe“ als Beruf. Wandlungsprozesse der Arbeit im „Humanitären Feld“ in den 1960er und 1970er Jahren „Wertewandel“ in der Arbeitswelt: Das Beispiel der Entwicklungszusammenarbeit Der Bereich der Arbeitswelt ist für das Phänomen eines vermuteten „Wertewandels“ als Ausdruck beschleunigter oder verdichteter gesellschaftlicher Veränderungen in der Zeit der 1960er und 1970er Jahre ein besonders aussagekräftiges Themenfeld. In der Forschung standen die hier zu beobachtenden Veränderungen häufig im Schatten schon zeitgenössisch stärker fokussierter Aspekte wie dem Wandel in Sexualität und Geschlechterbeziehungen, Erziehung und Familie oder neuen Formen von Freizeit, Konsum und Jugendkultur. Gerade im Feld der Arbeit und dessen individuellen Erfahrungsräumen spiegeln sich jedoch besonders deutlich politische und ökonomische Veränderungen sowie die Implementierung neuer Wertvorstellungen und Deutungsdominanzen des persönlichen Alltags. Ähnlich wie in den gerade genannten Bereichen ist es dabei jedoch wenig zielführend, eine klare Unterscheidung zwischen ‚realen‘ Veränderungen von Arbeitszeiten, Arbeitsbedingungen oder Lohnentwicklungen einerseits und einer Diskussion und Inszenierung neuer Wertvorstellungen im diskursiven Raum andererseits zu treffen. Beide Aspekte waren vielmehr untrennbar miteinander verbunden: Der Begriff des „Wertewandels“ war sowohl eine Kategorie zur Beschreibung konkreter Veränderungsprozesse als auch eine diskursive Ressource, mit der schon zeitgenössisch bestimmte – reale oder antizipierte – Dynamiken normativ aufgeladen, legitimiert oder skandalisiert werden konnten. Der vorliegende Aufsatz greift diese Perspektive für den Bereich der Arbeit im „humanitären Feld“ der 1960er und 1970er Jahre auf und bezieht sich insbesondere auf das Gebiet der Entwicklungszusammenarbeit und der dort entstehenden „Freiwilligendienste“. Im Zentrum stehen die Darstellungen und Inszenierungsstrategien dieser Institutionen und ihrer Protagonisten, die sich vor allem über eine diachrone Distanzsetzung zu früheren Arbeitsweisen der Entwicklungszusammenarbeit definierten. Mit der Entwicklungszusammenarbeit gerät ein Arbeitsfeld in den Blick, das als äußerst charakteristisch für die vermuteten Wandlungsprozesse der 1960er
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und 1970er Jahre angesehen werden kann. Das gilt gleich auf mehreren Ebenen: Folgt man den gängigen soziologischen Interpretationen der 1970er Jahre, so wurde der „Wertewandel“ dort unter anderem mit einem gesteigerten Bewusstsein für globale Zusammenhänge und Formen von Solidarität und Empathie verbunden: Ronald Inglehart hat in diesem Sinne beispielsweise von einem „cosmopolitan sense of identity“ gesprochen, der bei ihm ein wichtiges Merkmal des Wandels zu postmateriellen Werten darstellt1 . Die wachsende Bedeutung, die Praktiken des Humanitarismus und der Entwicklungszusammenarbeit in den „langen“ 1960er Jahren erfuhren, lassen sich in diesen zeitlichen Kontext einordnen – und korrespondieren mit anderen Feldern, in denen globale Aufmerksamkeitsregime in diesem Zeitraum eine gesteigerte Bedeutung erhielten2 . Der Begriff des „Wertewandels“ lässt sich jedoch womöglich noch enger auf die konkreten Arbeitsweisen der Entwicklungshilfeinstitutionen beziehen. Zentrale Wandlungsprozesse, wie sie in den letzten Jahrzehnten für das Feld der Arbeitswelt beschrieben worden sind, lassen sich in diesem Bereich exemplarisch beobachten. Das gilt etwa für Formen der „prekären“ und kurzfristigen Beschäftigung, die hier schon früh an Bedeutung gewannen sowie für die Phänomene entgrenzter Arbeitszeiten und hoher räumlicher Flexibilität, die der Entwicklungsarbeit vor Ort oft inhärent waren. Solche Formen der unsicheren Beschäftigung korrespondierten darüber hinaus mit einem für den jeweiligen Ausbildungsstand oft unterdurchschnittlichen Lohnniveau3 . In zeitgenössischen Selbstbeschreibungen verwiesen Protagonisten dann auch häufig auf bestimmte „postmaterielle“ Werte, die sie mit ihrer Arbeit verbanden – so betonten sie die Dominanz intrinsischer Arbeitsmotivationen, beispielsweise durch das Gefühl, mit der eigenen Arbeit etwas „Gutes“ und „Sinnvolles“ zu tun, oder die eigene
1 2
3
Vgl. Ronald Inglehart, The Silent Revolution. Changing Values and Political Styles among Western Publics, Princeton 1977, S. 322. Dies gilt zum Beispiel für den Bereich des Konsums, wo über die Praxis des Konsumboykotts oder die Etablierung von „Dritte Welt-Läden“ neue Formen des globalen Protestes und des alternativen Konsums etabliert wurden (vgl. hierzu: Monroe Friedman, Consumer Boycotts: Effecting Change through the Marketplace and the Media, New York 1999, Ruben Quaas, Fair Trade: Eine global-lokale Geschichte am Beispiel des Kaffees, Köln 2015). Auch für die Bedeutung von NGOs im Bereich von Entwicklungszusammenarbeit, globaler Solidarität und Menschenrechte lassen sich die „langen“ 1960er Jahre als wichtige Schlüsselphase ausmachen. Vgl. für die BRD nur exemplarisch: Brot für die Welt (1959), Misereor (1959), Amnesty International (dt. Sektion: 1961), Welthungerhilfe (1962), informationszentrum 3. welt (1968), action medico (1968). Stephen Hopgood hat dieses Phänomen von „high quality of (. . . ) (relatively) cheap labor“ als zentrales Merkmal der Arbeit im „humanitären Feld“ in der Zeit vor dessen Professionalisierung und partiellen Kommerzialisierung beschrieben. Vgl. Stephen Hopgood, Saying ‚No‘ to Wal-Mart? Money and Morality in Professional Humanitarianism, in: Michael Barnett/Thomas G. Weiss (Hrsg.), Humanitarianism in Question: Politics, Power, Ethics, Ithaca 2008, S. 98–123, hier S. 120.
„Entwicklungshilfe“ als Beruf
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Tätigkeit mit dem Drang nach Reisen, Fremdheit und Abenteuer verbinden zu können. Sowohl die Phänomene eines prekären, flexiblen und sozial wenig abgesicherten Arbeitens als auch dieser Verweis auf Formen der „arbeitenden Selbstverwirklichung“ benennen demnach zentrale Aspekte, die bis heute als gängige Merkmale eines vermuteten Strukturwandels der Arbeitswelt gelten können4 . Eine Einordung dieser Phänomene in einen „Wertewandel“ als Phänomen der 1960er und 1970er Jahre erscheint für das Feld der Entwicklungszusammenarbeit demnach durchaus naheliegend, sollte aber auch nicht unkritisch übernommen werden. Darüber hinaus ist von zentraler Bedeutung, dass diese Entwicklung nicht allein – und womöglich nicht einmal in erster Linie – aus den Veränderungen konkreter Arbeitsbedingungen zu erklären ist, sondern ebenso durch die sich wandelnde Darstellung und öffentliche Inszenierung spezifischer Arbeitsfelder. Dies lässt sich auch auf die Arbeit im „humanitären Feld“ übertragen: Auch hier ist zu fragen, ob nicht gerade der Wandel der öffentlichen Inszenierung des Berufsfeldes, die Genese eines berufsspezifischen Habitus und anderer Formen der Selbstdarstellung ebenso wichtige Aspekte eines vermuteten „Wertewandels“ darstellten wie Veränderungen von Arbeitszeit, Arbeitsbedingungen oder Lohnniveau. Unter Einbeziehung dieses Vorbehalts wird der folgende Aufsatz fragen, in welcher Weise sich Prozesse des „Wertewandels“ – sowohl als Wandel von Praktiken als auch als Wandel des Sprechens über diese Praktiken – im Feld der Arbeit im „humanitären Feld“ finden lassen. Der Aufsatz wird sich dabei auf zwei Aspekte konzentrieren: Zum einen wird die Etablierung sogenannter „Freiwilligendienste“ in den Blick genommen, die ab den 1960er Jahren neue Zugänge zur Arbeit im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit etablierten und in der öffentlichen Darstellung z. T. sehr offensiv einen radikalen Bruch mit älteren Praktiken der Entwicklungszusammenarbeit proklamierten. Diese Entwicklung soll zum anderen eingebettet werden in die konzeptionelle Neuverortung der Entwicklungszusammenarbeit, wie sie in diesem Zeitraum in der Bundesrepublik unter dem Schlagwort der „Hilfe zur Selbsthilfe“ ausgedrückt und als neue Leit4
Vgl. als klassische Referenz: Richard Sennett, The Corrosion of Character. The Personal Consequences of Work in the New Capitalism, New York 1998. In ähnlicher Perspektive und nur exemplarisch für zahlreiche politisch-soziologische Interventionen der vergangenen Jahre: Ulrich Bröckling, Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt a.M. 2007. Zur langen Geschichte der Arbeit im Kontext des modernen Kapitalismus vgl. zuletzt in sehr kondensierter Form: Jürgen Kocka, Arbeit im Kapitalismus. Lange Linien der historischen Entwicklung bis heute, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 35–37 (2015), S. 10–17. Über die Veränderung und „Flexibilisierung“ von Arbeitszeiten „nach dem Boom“ vgl. Dietmar Süß, Stempeln, Stechen, Zeit erfassen. Überlegungen zu einer Ideenund Sozialgeschichte der „Flexibilisierung“ 1970–1990, in: Archiv für Sozialgeschichte 52 (2012), S. 139–162.
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linie inszeniert wurde. Für die Fragestellung des Aufsatzes ist diese Verbindung vor allem deshalb interessant, weil dieses Konzept sowohl eine Neujustierung der Ziele und Methoden der Entwicklungszusammenarbeit betonte als auch ein hiermit verbundenes neues Rollenmodell des idealen Entwicklungshelfers skizzierte, das sich sehr deutlich in neue gesellschaftlich-moralische Deutungsmuster einfügte, wie sie zeitgenössisch unter dem Schlagwort des Wandels hin zu „postmateriellen Werten“ verhandelt wurden. Der Aufsatz wird diesen Kontext vor allem für die 1960er und 1970er Jahre untersuchen. In einem ersten Abschnitt werde ich den allgemeinen Kontext eines Bedeutungs- und Zuschreibungswandels der Entwicklungszusammenarbeit innerhalb der 1960er darstellen und dabei insbesondere auf das Schlagwort der „Hilfe zur Selbsthilfe“ als Schlüsselbegriff eingehen (II); in einem zweiten Schritt werde ich die Gegenüberstellung von „Freiwilligen“ und „Experten“ als zentrales polarisierendes Deutungsmuster darstellen, anhand dessen dieser Deutungswandels inszeniert wurde (III); in einem dritten Schritt wird schließlich anhand von zeitgenössischen Erfahrungsberichten ein Einblick in die ambivalenten Erlebnisse und Wahrnehmungen von Freiwilligen gegeben, die sich selten bruchlos in das öffentliche Bild dieser Dienste einfügten (IV). Das Fazit wird die Frage wieder aufgreifen, ob der Begriff des „Wertewandels“ ein analytisches Werkzeug darstellen kann, um die dargestellten Prozesse zu beschreiben und in einen größeren historischen Kontext einzuordnen.
„Hilfe zur Selbsthilfe“ als Schlüsselbegriff kooperierender Entwicklungszusammenarbeit Die Veränderungen in der öffentlichen Darstellung der Entwicklungszusammenarbeit stehen in engem Zusammenhang zu allgemeinen Diskussionen über neue Ansätze sinnvoller Hilfsmaßnahmen für die Länder der sogenannten „Dritten Welt“5 . Auch hierfür lassen sich die 1960er Jahre als eine Schlüsselepoche charakterisieren. Wie die Forschung herausgearbeitet hat, stellten sie sowohl eine Hochphase klassischer Ansätze geplanter Modernisierung und Industrialisierung 5
Vgl. zur Geschichte der Entwicklungszusammenarbeit in der Bundesrepublik u. a.: Hubertus Büschel, Hilfe zur Selbsthilfe: Deutsche Entwicklungsarbeit in Afrika 1960–1975, Frankfurt a.M. u. a. 2014; ders./Daniel Speich (Hrsg.), Entwicklungswelten: Globalgeschichte der Entwicklungszusammenarbeit, Frankfurt a.M. u. a. 2009; Bastian Hein, Die Westdeutschen und die Dritte Welt. Entwicklungspolitik und Entwicklungsdienste zwischen Reform und Revolte 1959–1974, München 2005; Ulrich Menzel/Frank Nuscheler/Reinhard Stockmann, Entwicklungspolitik: Theorie – Probleme – Strategien, München 2010; Hendrik Grote, Von der Entwicklungshilfe zur Entwicklungspolitik: Voraussetzungen, Strukturen und Mentalitäten der bundesdeutschen Entwicklungshilfe 1949–1961, in: Vorgänge 43 (2004), S. 24–35.
„Entwicklungshilfe“ als Beruf
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der „Dritten Welt“ innerhalb der im Dezember 1961 von der UN ausgerufenen „Decade of Development“ dar6 . Parallel hierzu entstanden in diesem Zeitraum jedoch auch zahlreiche kritische Diskurse und Bestandsaufnahmen, die auf alternative, stärker lokal angepasste und damit langfristig wirkungsvollere Entwicklungskonzepte drangen. Diese Ansätze können als Reaktionen auf die wahrgenommenen Mängel und enttäuschten Erwartungen modernisierungstheoretischer Entwicklungskonzepte angesehen werden, die jedoch nicht vorschnell in eine klare zeitliche Abfolge gebracht werden sollten. Zwar legt die gängige Periodisierung anhand der Grenzpunkte von Walt Rostows „The Stages of Economic Growth“7 von 1960 und dem „Pearson-Report“8 von 1969 eine Entwicklung vom Modernisierungs- und Planbarkeitsoptimismus als Konsens der frühen 1960er Jahre hin zu einer allgemeinen Desillusionierung, Kritik und Selbstreflektion dieser Ansätze in den späten 1960er und 1970er Jahren nahe. In Wirklichkeit lässt sich jedoch erkennen, dass beide Tendenzen durchaus parallel existierten und darüber hinaus auch nicht immer klare Gegensätze markierten. Konzepte wie „Community Development“ oder „Hilfe zur Selbsthilfe“ setzten zwar andere Akzente und verfolgten andere Methoden, hatten aber oftmals ähnliche Vorstellungen vom Ziel einer umfassenden Entwicklung und Transformation der jeweiligen Gesellschaften. Hubertus Büschel ist genau diesen Ambivalenzen nachgegangen und hat das Konzept der „Hilfe zur Selbsthilfe“ jüngst einer ebenso detaillierten wie überzeugenden Analyse unterzogen9 . In Bezug auf dessen zeitgenössische Attraktivität verweist er vor allem auf zwei Deutungsmuster. Zum einen wurde das Konzept äußerst offensiv als die ‚gute‘ Entwicklungshilfe inszeniert und in einen dezidierten Gegensatz zu früheren Ansätzen einer von außen importierten Modernisierung gestellt. In Abgrenzung hierzu betonten die Protagonisten der „Hilfe zur Selbsthilfe“ Aspekte von Kooperation, Austausch und kultureller Gleichwertigkeit. Entwicklungszusammenarbeit sollte auf diese Weise nicht mehr als hierarchischer Wissenstransfer, sondern als kooperative Zusammenarbeit an lokal angepassten Lösungsstrategien verstanden werden. Darüber hinaus korrespondierte hiermit die Vorstellung, dass es sich bei der „Hilfe zur Selbsthil6
7 8
9
Vgl. die UN-Deklaration 1710: „United Nations Development Decade. A programme for international economic co-operation (I)“ vom 19.12.2012. Für den Wortlaut des Textes siehe: http://www.un.org/en/ga/search/view_doc.asp?symbol=A/RES/1710%20%28XVI% 29 (zuletzt eingesehen am 26.08.2015). Walt Whitman Rostow, The Stages of Economic Growth. A Non-Communist Manifest, Cambridge 1960. Lester B. Pearson, Partners in Development: Report of the Commission on International Development, New York 1969 (dt.: Lester B. Pearson, Der Pearson-Bericht: Bestandsaufnahme und Vorschläge zur Entwicklungspolitik / Bericht der Kommission für internationale Entwicklung, Wien 1969). Büschel, Hilfe zur Selbsthilfe.
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fe“ um einen völlig neuen Ansatz handele, der dezidiert mit früheren Praktiken der (kolonialen und nachkolonialen) Hilfe brechen würde10 . Gerade für viele neu unabhängig gewordene Staaten war eine solche Rhetorik äußerst anschlussfähig und markierte oftmals die einzige Form einer lokal akzeptierten diskursiven Einbettung von Praktiken der Entwicklungszusammenarbeit. Wie Büschel zeigt, waren die Traditionslinien in Wirklichkeit jedoch sehr viel durchlässiger. Demnach ließen sich die in der „Hilfe zur Selbsthilfe“ aktualisierten Ideen einer arbeitenden Aktivierung der lokalen Bevölkerung in einer langen historischen Linie von der kolonialen Gesellschaft der Zwischenkriegszeit über Vorstellungen der Erziehung zur Arbeit im 19. Jahrhundert bis in die Zeit der Aufklärung zurückverfolgen11 . Darüber hinaus sei auch die klare Abgrenzung der „Hilfe zur Selbsthilfe“ als einer kooperativen, auf lokale Bedürfnisse angepassten Hilfe alles andere als trennscharf. Vielmehr, so Büschel, beinhalteten auch diese Praktiken eine Reihe „struktureller Paradoxien“: So war „Freiwilligkeit“ ein zentrales legitimierendes Schlagwort, wurde in der konkreten Praxis jedoch leicht zu einer Pflicht zur freiwilligen Kooperation. Ebenso war auch die Negation von Hierarchien ein wichtiger Topos der Selbstdarstellung, blieb jedoch in der konkreten Praxis in dem Paradoxon gefangen, dass die lokalen Protagonisten zunächst zu jenen „Counterparts“ erzogen werden mussten, mit denen eine gleichberechtigte Kooperation vermeintlich überhaupt erst möglich und sinnvoll war12 . In den zeitgenössischen Debatten stellte die Rede von der „Hilfe zur Selbsthilfe“ jedoch schon bald ein zentrales Schlagwort dar, mit dem die Praktiken der Entwicklungszusammenarbeit erfolgreich in einen neuen diskursiven Rahmen eingeordnet werden konnten. Schon im Jahr 1964 konnte man im Spiegel mit einer gewissen Ironie lesen, dass „alle Bonner Hilfsbeflissenen (. . . ) bis zum Überdruß den Slogan ‚Hilfe zur Selbsthilfe“‘ wiederholen würden13 . Die diskursive Grenzziehung, die hierbei zu vermeintlich „alten“ Formen der modernisierenden Entwicklungshilfe hergestellt wurde, basierte dabei in zentraler Weise auch auf der Darstellung der Entwicklungshelfenden selbst. Nicht nur die Praktiken und Ziele der Entwicklungszusammenarbeit wurden demnach einer neuen öffentlichen Darstellung unterzogen, sondern auch die konkreten Arbeitsweisen der dort tätigen Protagonisten. Diese Darstellungsstrategien sollen in den folgenden Abschnitten einer detaillierteren Analyse unterzogen werden.
10 11 12 13
Ebenda, u. a. S. 79–115, S. 519–523. Ebenda, S. 116–178. Vgl. zu diesen „strukturellen Paradoxien“ ebenda, S. 179–181. Mit der Gießkanne, in: Der Spiegel 49 (1964), 2.12.1964, S. 47–65, hier S. 49.
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Experten und Freiwillige: polarisierte Inszenierungen des „Wertewandels“ in der Entwicklungszusammenarbeit Der angedeutete Kontext einer neu justierten öffentlichen Darstellung der Entwicklungszusammenarbeit fiel zeitlich zusammen mit der Etablierung von Freiwilligendiensten als neuer institutioneller Form der personellen Entwicklungshilfe, die eine Entsendung meist jugendlicher Akteure für einen in der Regel zweijährigen Einsatz in einem Land der „Dritten Welt“ ermöglichte. Diese „Freiwilligen“ waren auf doppelte Weise von Bedeutung: Auf der einen Seite wurden sie als Repräsentanten einer erneuerten, auf Gleichberechtigung und Enthierarchisierung beruhenden Entwicklungszusammenarbeit dargestellt. Vor allen Dingen aber entwickelte sich der hiermit verbundene Antagonismus von „Freiwilligen“ und „Experten“ zu einer besonders wirkmächtigen Metapher zur Inszenierung vermeintlich polar entgegenstehender Konzepte von Entwicklungszusammenarbeit. Dabei ist zu beachten, dass die Idee jugendlicher Freiwilligendienste alles andere als neu war. In Deutschland rekurrierte sie auf Konzepte des 19. Jahrhunderts und deren institutionelle Implementierungsversuche in der Zwischenkriegszeit, die dann in den Arbeitsdienstpflichten des Nationalsozialismus ihre Fortsetzung fanden14 . Auch in der Bundesrepublik hatte das Konzept schon eine längere Tradition, bevor es in den 1960er Jahren für das Feld der Entwicklungszusammenarbeit aufgegriffen wurde. Diese längeren Traditionslinien stehen dabei in einer gewissen Spannung zu den zeitgenössischen Proklamationen der Entwicklungsdienste als Orte eines neuen jugendlichen Idealismus. So hat Christine Krüger in ihrer in Kürze erscheinenden Habilitation gezeigt, dass Freiwilligendienste wie das „Freiwillige Soziale Jahr“ zunächst lange Zeit in konservativkulturpessimistischen Deutungsmustern verortet waren und als jugendliche Erziehungs- und Disziplinierungsorte aufgefasst wurden und sich erst in den frühen 1970er Jahren neuen Deutungsmustern öffneten. Auch die entwicklungspolitisch arbeitenden Freiwilligendienste sind demnach in diese Traditionslinie einer jugendpädagogischen Ausgangsmotivation einzuordnen15 . 14
15
Vgl. für diese längere Traditionslinie u. a.: Wolfgang Benz, Vom freiwilligen Arbeitsdienst zur Arbeitsdienstpflicht, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 16 (1968), S. 317–346; Peter Dudek, Erziehung durch Arbeit: Arbeitslagerbewegung und freiwilliger Arbeitsdienst 1920–1935, Opladen 1988; Klaus Kiran Patel, „Soldaten der Arbeit“. Arbeitsdienste in Deutschland und den USA 1933–1945, Göttingen 2003. Vgl. hierfür: Christine Krüger, In der Tradition der bürgerlichen Wohlfahrt? Freiwilligenarbeit von Jugendlichen nach 1945, in: Gunilla Budde/Eckart Conze/Cornelia Rauh (Hrsg.), Bürgertum nach dem bürgerlichen Zeitalter: Leitbilder und Praxis seit 1945, Göttingen 2010, S. 53–69. Die aus dem Forschungsprojekt hervorgegangene Habilitation
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Dezidiert entwicklungspolitisch arbeitende Freiwilligendienste entstanden seit den späten 1950er Jahren in mehreren nationalen Kontexten. Die Anfänge dieser Entwicklungen lassen sich in Großbritannien verorten, wo schon 1958 der „Voluntary Service Overseas“ gegründet wurde16 . Nur drei Jahre später entstand mit dem „Peace Corps“ auch in den USA eine äquivalente Institution17 . Beide Institutionen waren wichtige Referenzen für den „Deutschen Entwicklungsdienst“ (DED), der 1963 eingerichtet wurde und im Sommer 1964 die ersten „Freiwilligen“ nach Tansania entsandte. Der DED erhielt von Beginn an eine relativ hohe mediale Aufmerksamkeit, was nicht zuletzt daran lag, dass die Protagonisten sehr schnell in den skizzierten Kontext eines Grundsatzstreits unterschiedlicher Ansätze der Entwicklungszusammenarbeit verortet wurden. In vielen Fällen wurden die Protagonisten ganz explizit mit dem Konzept der „Hilfe zur Selbsthilfe“ verbunden und damit zugleich als Repräsentanten eines neuen Ansatzes der Entwicklungszusammenarbeit inszeniert. Zum Teil geschah dies in einer expliziten Abgrenzungsstrategie gegenüber jener Gruppe, die nun schlicht als „die Experten“ klassifiziert wurden. Während jene vermeintlich nur aufgrund der guten Bezahlung die Arbeit in einem Entwicklungsland aufgenommen hätten, wurden die neuen Freiwilligendienste als Sammelbecken einer neuen Gruppe von Entwicklungshelfern inszeniert, die in ihrer Tätigkeit allein durch Idealismus und moralisches Engagement angetrieben würden. In den zeitgenössischen publizistischen Veröffentlichungen wurde diese Dichotomie von „Experten“ und „Freiwilligen“ bereitwillig aufgegriffen. Mit ihr ließen sich in gewünschter Verdichtung und Polarisierung die Kritik an etablierten Formen der Entwicklungshilfe und die Forderung nach alternativen Konzepten artikulieren. Charakteristischerweise spielte dabei die Gegenüberstellung von materiellen und immateriell-idealistischen Motiven immer wieder eine zentrale Rolle. Schon in der Wahrnehmung des amerikanischen „Peace Corps“ wurde dieser Topos aufgegriffen und für den deutschen Kontext auf sehr charakteristische Weise in einen erinnerungspolitischen Deutungsrahmen verortet. So berichtete Thilo Koch als damaliger Korrespondent der Zeit in Washington von dessen Gründung und antizipierte zugleich eine ähnliche Institution für die Bundesrepublik. Der Begriff des (jugendlichen) „Idealismus“ spielte hierbei eine entscheidende Rolle:
16
17
(„Dienstethos, Abenteuerlust, Bürgerpflicht. Jugendfreiwilligendienste in Deutschland und Großbritannien im 20. Jahrhundert“) wird demnächst erscheinen. Der Autor dankt der Verfasserin für die Bereitstellung des Manuskripts. Für zeitgenössische Veröffentlichungen zu Aufbau und Motivation der Institution vgl. u. a.: Mora Dickson, A World Elsewhere. Voluntary Service Overseas, London 1964; David Wainwright, The Volunteers: The Story of Overseas Voluntary Service, London 1965; Michael Adams, Voluntary Service Overseas: The Story of the first ten Years, London 1968. Vgl. zur Geschichte des „Peace Corps“: Karen Schwarz, What you can do for your Country. An Oral History of the Peace Corps, New York 1991; Thomas Zane Reeves, The Politics of the Peace Corps and VISTA, University of Alabama Press 1988.
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„Der Aufruf “, so stellte Koch fest, „ist ein Appell an den Idealismus gerade in der jungen Generation. In Deutschland haben wir in böser Zeit erlebt, wie leicht sich die Begeisterungsfähigkeit und die Opferbereitschaft für große Gemeinschaftsideen mobilisieren lassen. Warum sollte sich das nicht auch einmal für eine gute Sache, eine Tat des Friedens und der Hilfe unter den Völkern erreichen lassen?“18
Ein knappes Jahr, nachdem der DED die ersten „Freiwilligen“ nach Tansania entsandt hatte, konnte man in der Zeit dann einen Bericht lesen, der diese Topoi von Idealismus und Selbstlosigkeit erneut aufgriff und zugleich schon zentrale Merkmale der medialen Darstellung der Arbeitsweise der Protagonisten etablierte: „Fünfzehn deutsche ‚Twens‘, 21 Jahre der jüngste und 29 Jahre der älteste, helfen mit – aber nicht als Aufseher oder Vorgesetzte. Sie haben keinen besonderen Status, sie machen sich die Hände schmutzig, sie unterweisen durch ihre Arbeit. Alle fünfzehn sind Fachleute: Autoschlosser, Automechaniker, Monteure, Elektriker. Aber sie sind hier nicht als hochbezahlte ausländische Experten engagiert, ihr Salär ist gering. Sie sind Freiwillige.“19
Der Entwicklungsdienst, so stellte der Autor weiter fest, sei „keine Sache für Schwärmer. Es ist vielmehr [. . . ] eine Aufgabe, die gewiß Verzicht verlangt, die aber auch Bereicherung bringt, in einem alles andere als materiellen Sinne.“20 In einer längeren zeitlichen Perspektive wurde diese Darstellung des „idealistischen“ Einsatzes der freiwilligen Entwicklungshelfer schließlich in einen moralisch aufgeladenen Gegensatz zu der vermeintlichen Mentalität und Arbeitsweise der Gruppe der sogenannten Entwicklungshilfeexperten gestellt. Der Spiegel berichtete beispielsweise ausführlich und mit klar verteilter Sympathie von dem unterschiedlichen Verdienst und Lebensstil von „Experten“ und „Freiwilligen“ in ihren Einsatzländern. Während es Helfer der „Deutschen Gesellschaft für technische Zusammenarbeit“ (GTZ) oder der Stiftungen der Parteien mit Zuschüssen auf bis zu 12.000 DM Monatsverdienst bringen könnten, würden DED-Freiwillige in Kenia inklusive Zuschläge monatlich 564 DM erhalten. GTZ-Experten würden in Dienstvillen mit Gärtner, Hausboy, Nachtwächter, Swimming-Pool oder gar Reitstall leben, während die Freiwilligen in einfachen Hütten hausten und mit kleinen „100-ccm-Pikipikis“ durch das Land führen.
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19 20
Thilo Koch, Tausendmal Albert Schweitzer. Das „Friedenskorps“ Kennedys formiert sich, in: Die Zeit 11 (1961), 10.3.1961, S. 2. Dieser erinnerungspolitische Kontext spielte als Motivation und Legitimationsmuster bei der Gründung des Deutschen Entwicklungsdienstes auch tatsächlich eine wichtige Rolle, vgl. hierzu: Hein, Die Westdeutschen und die Dritte Welt, S. 78. Hans Gresmann, Friedenskorps sucht Freiwillige. Der Deutsche Entwicklungsdienst gewinnt Profil, in: Die Zeit 12 (1965), 19.3.1965, S. 9. Ebenda.
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„Ihr Einsatz“, so der Autor, sei „Herzenssache, und die wird nicht honoriert.“21 Zwischen den beiden Gruppen, so der Autor weiter, hätten diese Ungleichheiten schon zu deutlichen Spannungen und Abgrenzungen geführt: „Viele DED-Freiwillige sehen denn auch in den hochdotierten Experten nur notorische Geldverdiener ohne soziale Motivation. GTZ-Profis werten ihrerseits das DED-Fußvolk als Amateure und spinnerte Weltverbesserer.“22 Die Zeit hatte dieses Thema schon zuvor aufgegriffen und zugleich als vermeintliche Erklärung für strukturelle Missstände und Defizite der Entwicklungszusammenarbeit herangezogen. Unter der Überschrift „Die ungeliebten Experten“ argumentierte der Autor des Artikels, dass die überdurchschnittliche Bezahlung der Experten, die sich an den Gehältern deutscher Auslandsdiplomaten orientieren würde, nicht nur finanzielle, sondern nicht zuletzt auch problematische soziale Auswirkungen auf die Experten habe: Während sie in Deutschland zur unteren Mittelschicht gehörten, so führte der Autor erklärend aus, würden sie im Gastland unmittelbar zur „gesellschaftlichen Spitzengruppe“ aufrücken und besser leben als die Oberschicht des jeweiligen Entwicklungslandes. „Der ohnehin fast unüberwindbare Abstand zur einheimischen Bevölkerung“ würde sich so ins „Überdimensionale“ steigern. Auf die Persönlichkeit und die Kontaktfähigkeit der Experten habe dies häufig äußerst negative Auswirkungen: „Vielen gelingt es nicht, den sprunghaften Zuwachs an Konsumkraft und Sozialprestige zu verarbeiten. Im eigenen Land kleiner, kaum bemerkter Untergebener, wird der GAWI-Experte draußen oft unvermittelt und unbeaufsichtigt zum Vorgesetzten. Ohne genügende fachliche und menschliche Vorbereitung fällt er plötzlich, nicht selten an den Schalthebeln der Macht, Entscheidungen, die sich im Gastland auf Jahrzehnte auswirken können. Viele Experten erwerben ein Elitebewußtsein, das sie zur Kooperation unfähig macht.“23
Diese Kritik, so der Autor, sei mittlerweile auch verstärkt aus den Entwicklungsländern selbst zu hören. Auch dort würde über Experten geklagt, die sich arrogant benähmen, durch eine häufig laxe Arbeitseinstellung die gesamte Arbeitsmoral negativ beeinflussten und generell durch ihre Anwesenheit die Unselbstständigkeit und „entwicklungspolitische Infantilisierung“ der lokalen Akteure forcierten24 . Die beiden Beispiele zeigen, wie die Entwicklungsexperten in den 1970er Jahren verstärkt als eine Gruppe portraitiert wurden, die schon aufgrund ihrer materiellen Ausstattung und eines hiermit verbundenen Lebensstils kaum fähig 21 22 23 24
Mit Reitstall. DED-Freiwillige rebellieren gegen das Zweiklassensystem in der bundesdeutschen Entwicklungshilfe, in: Der Spiegel 14 (1976), 29.3.1976, S. 124–126. Ebenda. Werner Dolph, Die ungeliebten Experten, in: Die Zeit 25 (1973), 15.6.1973, S. 54. Ebenda.
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war, die neuen Ideale von Kooperation, Nähe und gleichberechtigter Partnerschaft in die eigene Arbeit zu integrieren. Unverkennbar spielte hierbei jedoch auch eine in ihrer Pauschalität durchaus problematische normativ-moralische Grenzziehung zwischen vermeintlich allein materiell motivierten „Experten“ und postmateriell-idealistisch motivierten „Freiwilligen“ eine entscheidende Rolle. Man sollte diese Gegenüberstellung daher nicht zu bereitwillig reproduzieren. Gerade in der konkreten Arbeit vor Ort waren die Unterschiede oft weniger eindeutig als es diese dichotomen Gegenüberstellungen suggerierten25 . In vielen Fällen war es weniger die Praxis des Arbeitens selbst, für die diese Gegenüberstellung unter dem Schlagwort des „Wertewandels“ aussagekräftig erscheint, sondern die sich wandelnden Darstellungsweisen und Legitimationsstrategien, in denen sich die Entwicklungszusammenarbeit in dem dargestellten Zeitraum verorten musste.
Erfahrungsberichte und Selbstdarstellungen von Akteuren des „Deutschen Entwicklungsdienstes“ Anhand von Selbstbeschreibungen jugendlicher Protagonisten des DED soll im Folgenden genauer gefragt werden, in welcher Weise sich in den Freiwilligendiensten spezifische Aspekte eines Wandlungsprozesses in der Entwicklungszusammenarbeit vor Ort erkennen lassen. Gerade für das Konzept der „Hilfe zur Selbsthilfe“ hat Hubertus Büschel in diesem Sinne betont, dass es vor allem darauf ankomme, die lokale Praxis in den Blick zu nehmen, die häufig in Konflikt zu parallel proklamierten Zielen und Konzepten stand26 . Bezogen auf die Arbeit des DED hat auch Bastian Hein betont, dass die intendierten entwicklungspolitischen und pädagogischen Ziele oft nur unzureichend realisiert wurden: Häufig fehlten die adäquaten einheimischen Mitarbeiter, die unter dem Konzept der „Hilfe zur Selbsthilfe“ zu „Counterparts“ hätten ausgebildet werden sollen, viele der Freiwilligen fanden nur schwer Zugang zu der lokalen Bevölkerung 25
26
Dies galt auch für die arbeitsrechtlichen Bedingungen, die durch das „EntwicklungshelferGesetz“ von 1969 auf eine rechtlich sicherere Basis gestellt wurde. In dem Gesetz wurden u. a. Fragen der Haftpflichtversicherung, Krankenversicherung, Leistungen bei Berufsfähigkeit, Arbeitslosenbeihilfe und Assistenz bei der „beruflichen Wiedereingliederung“ in Deutschland geregelt, und somit – nicht zuletzt auch in Reaktion auf vermehrte Forderungen der „Freiwilligen“ selbst – eine gewisse Professionalisierung und Verrechtlichung der zunächst relativ ungesicherten Arbeitsbedingungen erreicht. Vgl. zu diesem Zusammenhang: Hein, Die Westdeutschen und die Dritte Welt, S. 155–159. Für die genauen gesetzlichen Regelungen des Gesetzes vgl.: http://www.gesetze-im-internet.de/bundesrecht/ehfg/gesamt.pdf (zuletzt eingesehen am 28.08.2015). Vgl. Büschel, Hilfe zur Selbsthilfe, S. 36–40.
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und schotteten sich eher in den homogenen Milieus der Entwicklungshelfer ab, und auch die oft unzureichende materielle Ausstattung verhinderte häufig ein effizientes und erfolgreiches Arbeiten27 . Als Quelle für die Selbstbeschreibungen der jugendlichen Akteure dienen im Folgenden zeitgenössisch vom DED veröffentlichte Briefsammlungen und Erfahrungsberichte, in denen „Freiwillige“ über ihre eigenen Erlebnisse während der Tätigkeit im Ausland berichteten28 . Bei den Dokumenten handelt es sich demnach nicht um neutrale Quellen, die einen ungefilterten Einblick in die Arbeit der jeweiligen Protagonisten garantieren, sondern um Formen der institutionellen Selbstdarstellung. Trotzdem zeichnen die individuellen Berichte kein geschöntes oder harmonisierendes Bild der eigenen Erfahrungen. In allen Veröffentlichungen finden sich stattdessen zahlreiche Beiträge, die zum Teil grundlegende Kritik an der eigenen Arbeit, den Entwicklungskonzepten und -zielen im Allgemeinen und der konkreten Arbeit und Organisationsweise des DED im Besonderen formulieren. Besonders aussagekräftig sind die Quellen, wenn man sie gegen den ursprünglichen Schreibanlass der Autoren liest. Statt der konkreten Erfolge und Misserfolge der eigenen Entwicklungstätigkeit steht daher im Folgenden die Frage im Mittelpunkt, in welcher Weise die Protagonisten die eigenen Arbeitsbedingungen beschrieben und mit Sinn versahen und wie sie die proklamierten Konzepte eines enthierarchisierten, partnerschaftlichen Arbeitens in der Praxis umsetzten. In der Mehrzahl der analysierten Berichte stand zunächst eine längere Reflektion über die eigene Motivation für die Tätigkeit als „Entwicklungshelfer“ im Mittelpunkt. Die Antworten der Protagonisten waren zwar inhaltlich heterogen, rekurrierten in den meisten Fällen aber doch auf einen Kernbestand an Motiven, die man in der Tat unter die Begriffe von „postmateriellen Werten“ oder einem „Cosmopolitan Sense of Identity“ (Inglehart) fassen könnte. Formulierungen wie „einen kleinen Beitrag dort zu leisten, wo Not und Elend größer seien als zu Hause“29 , „als Europäer einen Ausgleich für die Ausbeutung während der Kolonialzeit leisten zu können“30 , oder „mal was Neues zu sehen, ein fremdes 27 28
29 30
Vgl. Hein, Die Westdeutschen und die Dritte Welt, S. 171f. Verwendet wurden zu diesem Zweck folgende Veröffentlichungen: Hans Frevert/Hans Eich (Hrsg.), Freunde in aller Welt, Baden-Baden 1963; Deutscher Entwicklungsdienst (Hrsg.), Briefe von Freiwilligen des Deutschen Entwicklungsdienstes aus Tanzania, Libyen, Afghanistan, Indien, Chile, Bonn 1965; Eberhard Le Coutre (Hrsg.), Unterwegs zur einen Welt, Stuttgart 1970; Klaus Kühl/Helmut Wyers (Hrsg.), Was wollt ihr von uns? Erlebnisse und Einsichten junger Deutscher in Asien, Afrika, Lateinamerika, Tübingen 1970; Ulrike Ries (Hrsg.), Entwicklungshelfer. Deutsche in der Dritten Welt, Hannover 1971; Götz Hünemörder (Hrsg.), Berichte und Aspekte aus 25 Jahren „Dienste in Übersee“, Stuttgart 1985. Bericht von Heino Zell (Afghanistan), in: Ries, Entwicklungshelfer, S. 60. Bericht von Malte Koos (Tansania), ebenda, S. 146.
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Land nicht immer nur aus der Touristen-Perspektive zu erleben“31 skizzieren ein Repertoire an Deutungszuschreibungen, die sich in vielen der Erfahrungsberichte in ähnlicher Weise finden lassen. Schon etwas ironisch gewendet schrieb die junge Freiwillige Martha Mamozai, „mit großen Illusionen, aber ohne Kenntnisse der Landessprache“ sei sie zu ihrem Einsatz aufgebrochen32 . In der Formulierung radikaler, aber durchaus im Einklang mit den Aussagen anderer Protagonisten, verwies der in Bolivien eingesetzte Winfried Kurrath auf seine Unzufriedenheit mit dem Leben in Deutschland als wichtigste Motivation. Kurrath beschrieb sein gesichertes Leben als Sportredakteur mit „Vierzimmerwohnung“, „Sportwagen“ und „gutem Gehalt“, das er aus persönlicher Unzufriedenheit gegen das Leben als Entwicklungshelfer eingetauscht habe: „Ich wollte damals ändern, helfen und Abenteuer erleben, Strukturen anderen Lebens kennenlernen und die Scheißspießer und Scheißleere und den ganzen Scheißverein in Deutschland lossein.“33 In Anbetracht solcher Vorstellungen ist es wenig überraschend, dass die eigene Tätigkeit oft schon von Beginn an mit einem Prozess der Desillusionierung und einer Diskrepanzbildung zwischen individuellen Erwartungshorizonten und konkreten Erfahrungsräumen verbunden war34 . Nicht selten geschah dies schon mit der unmittelbaren Ankunft im Land – sei es, weil Natur und Landschaft nicht den präfigurierten visuellen Erwartungen entsprachen, die Städte nicht jene Exotik verströmten, die man sich ausgemalt hatte, oder die eigene Tätigkeit zunächst kaum mit dem eigenen professionellen Selbstbild korrespondierte. Von größerer Bedeutung war jedoch die Tatsache, dass solche Formen der Desillusionierung häufig auch auf den Kern dessen zielten, was die meisten Freiwilligen als Motivation für die eigene Arbeit formuliert hatten: die Vorstellung, mit der eigenen Tätigkeit eine von den lokalen Kräften gewünschte und mit Dankbarkeit aufgenommene Hilfe zu leisten. So berichtete der in Afghanistan eingesetzte Heino Zell beispielsweise von seinen ersten Erfahrungen vor Ort: „Mein Elan, meine Vorsätze und Vorstellungen stoßen überall auf Widerstand.“35 Die lokalen Kräfte, mit denen er als „Counterparts“ zusammenarbeiten sollte, hätten eine verblüffend erfolgreiche Obstruktionspolitik umgesetzt, die ihm die Arbeit zu Beginn sehr erschwert habe. Zwar endet Zells Erzählung damit, wie er diese Widerstände in einem längeren Prozess überwunden und zu einer konstruktiven Zusammenarbeit mit 31 32 33 34
35
Bericht von Manfred Dassio (Togo), ebenda, S. 158. Bericht von Martha Mamozai (Afghanistan), ebenda, S. 107. Bericht von Winfried Kurrath (Bolivien), ebenda, S. 240. Zum Konzept des Erwartungshorizontes und der Gegenüberstellung von „Erfahrung“ und „Erwartung“ vgl. Reinhart Koselleck, ‚Erfahrungsraum‘ und ‚Erwartungshorizont‘ – zwei historische Kategorien, in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 2006, S. 349–375. Bericht von Heino Zell (Afghanistan), ebenda, S. 64.
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seinen afghanischen Kollegen gefunden habe; bei anderen Protagonisten bleiben ähnliche Probleme jedoch die gesamte Zeit ihres Aufenthaltes über virulent. So vermerkte Wolfgang Bruckauf beispielsweise in ganz ähnlicher Weise, dass mit dem konkreten Projektbeginn „die Schwierigkeiten begonnen“ hätten. Im Gegensatz zu Zell kam er auch nach Ablauf seiner Tätigkeit zu einem eher resignierten Fazit seiner Tätigkeit: „Ich bin nach dieser zweijährigen Tätigkeit und anschließenden Überlegungen und Aufarbeitungen zu dem Ergebnis gekommen, dass ich nichts zur Entwicklung Afghanistans beigetragen habe.“36 In einigen Fällen erwuchs aus solchen Erfahrungen auch eine grundsätzliche Infragestellung des Sinns von Entwicklungshilfe überhaupt. Uwe Kopfstedt fasste seine Erfahrungen in Tunesien beispielsweise in einer in Versform arrangierten Analyse zusammen, die er unter die Überschrift „Meine Erfahrung“ stellte: „Wer nichts hat, kann nichts verlieren! Wozu hat die Entwicklungshilfe geführt? Entwicklungsländer sind Kolonien der Geberländer. Entwicklungsländer sind umworben. Beides hat dazu geführt, die Eigeninitiative der Entwicklungsländer zu bremsen, ja fast völlig zum Erliegen gebracht. Was tut das Gros der Bevölkerung? Es verwaltet Ideen und Sachen der Geberländer! Jegliches Streben nach Fortschritt ist gelenkt – von den Geberländern. Die Abhängigkeit ist allmächtig! (. . . ) So darf Entwicklungshilfe nicht weitergeführt werden! Doch wie ändern? Ein neues Zeitalter der Sklaverei ist im Anbruch – und ich nahm fast zwei Jahre daran teil. . . “37
Mit einer solchen Interpretation stand Kopfstedt keineswegs allein. In den Erfahrungsberichten lässt sich vielmehr erkennen, dass viele Protagonisten mit dependenztheoretischen Deutungsmustern operierten und die Entwicklungshilfe – auch, aber vermutlich nicht allein aus der konkreten eigenen Erfahrung heraus – als Mittel einer erneuten Konstruktion struktureller Abhängigkeiten definierten. Die schon zeitgenössisch wahrgenommene und in der Forschung differenziert herausgearbeitete „Politisierung“ des DED in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre lässt sich hier z. T. an konkreten Akteuren in den Blick nehmen38 . Für die Frage nach einer auf bestimmte Werte rekurrierenden Reflektion der eigenen Tätigkeit ist es jedoch entscheidender, dass eine solche Grundsatzkritik durchaus auch explizit auf die eigene Tätigkeit zurückprojiziert wurde, wobei die eigene Ausgangsmotivation häufig in ihr Gegenteil verkehrt wurde. Noch relativ 36 37 38
Bericht von Wolfgang Bruckauf (Afghanistan), ebenda, S. 87. Bericht von Uwe Kopfstedt (Tunesien), in: Kühl/Wyers (Hrsg.), Was wollt ihr von uns?, S. 169. Vgl. hierzu: Hein, Die Westdeutschen und die Dritte Welt, S. 179–189.
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abwägend formulierte Martha Mamozai diesen Prozess, in dem die in der Ausbildung erlernten Ideale und Ziele nach ihrer Wahrnehmung eine schleichende Entwertung erfahren hätten: „Ich glaube sagen zu können, dass ein großer Teil der anreisenden Entwicklungshelfer guten Willens ist ‚zu lernen und zu helfen‘. Wie lange hält dieser gut Wille an? Widerwärtigkeiten des Arbeitsalltags, Schwierigkeiten mit Verwaltungen, mit der Sprache, der Mentalität nagen an ihm. Nun kommt es darauf an, die Geister scheiden sich: aufgewärmte Vorurteile, Beschränkung der Arbeit auf den reinen Fachdienst, Resignieren auf der einen Seite, Bemühen, Verstehenwollen auf der anderen Seite.“39
Malte Koos sah dieselbe Entwicklung noch deutlich desillusionierter. Bezeichnenderweise bezog sich Koos in seiner Reflektion dabei explizit auf die Gruppe der „Experten“ als fest etablierte Negativfolie zur Beschreibungen der eigenen Tätigkeit. Zunächst stellte er fest, dass diese „Experten“ seine Arbeit in keiner Weise ernst genommen hätten. Die „älteren Entwicklungshelfer“ hätten seine Arbeit nicht nur in Frage gestellt, sondern deren Sinn im Ganzen verneint. Wichtiger war für ihn jedoch die Tatsache, dass mit der längeren Anwesenheit in Tansania und der dortigen Projektarbeit auch er selbst eine veränderte Einstellung zur eigenen Tätigkeit angenommen hätte, die er – explizit abwertend – als „Job-Mentalität“ charakterisierte: „In dieser ersten Zeit, in der ich mich vollständig meiner Projektarbeit im College widmete und widmen musste, bildete sich auch die entsprechende Fachidioten-Einstellung heraus. Wo war nun der Unterschied zwischen uns Freiwilligen und den sogenannten Experten?“40
In Abgrenzung zu seinen ursprünglichen Erwartungen stellte er schließlich fest: „Ideale hatten mich zur Entwicklungshilfe und den DED geführt. Durch die beschriebenen Vorgänge entwickelte sich ein reines Job-Denken. Wir waren da, um eine Lücke auszufüllen, einen Job zu tun – und damit Schluss. Unser Hauptproblem war die materielle Ausstattung und das Unterhaltsgeld vom DED.“41
Viele Freiwillige bezweifelten darüber hinaus, dass es ihnen gelungen wäre, die lokale Bevölkerung im Sinne der „Hilfe zur Selbsthilfe“ in die eigenen Projekte einzubinden und eine gleichberechtigte Partnerschaft herzustellen. In letzter Konsequenz fragten sich einige Protagonisten sogar, ob ihre Tätigkeit nicht womöglich sogar durch neue koloniale und rassistische Vorurteile geprägt gewesen sei. Christa Brandt, die ihren Freiwilligendienst in Sambia verbracht hatte, stellte
39 40 41
Bericht von Martha Mamozai (Afghanistan), in: Ries (Hrsg.), Entwicklungshelfer, S. 109. Bericht von Malte Koos (Tansania), ebenda, S. 152. Ebenda, S. 154.
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in diesem Sinne beispielsweise fest: „Auch meine Erziehung und Ausbildung hat es mir nicht ermöglicht, mich mit den zambianischen Dorfbewohnern zu solidarisieren, um Initiativen zu fördern, die wirklich ihre eigenen sind. Auch ich habe, trotz meines Bewußtseins, daß es so nicht sein soll, meine eigenen Ziele gesetzt und von den Zambianern erwartet, daß sie sich meiner Führung anvertrauen sollen. Wenn sie das nicht taten, lag die Versuchung nahe, zu denken, die Afrikaner seien dumm oder zumindest faul, verantwortungslos und somit selbst schuld an ihrer ‚Misere‘. Ich merkte, daß auch ich nicht frei von einem latenten Rassismus war. Ich merkte, daß ich es den Zambianern persönlich übelnahm, wenn sie meine – doch so gut gemeinte – Hilfe nicht akzeptierten.“42
Brandts Fazit ihrer Zeit in Sambia war ambivalent. Einerseits war sie der Meinung, dass sie mit ihrer Tätigkeit keine echte Entwicklungshilfe geleistet habe; zugleich stellte sie jedoch fest, dass die dort verbrachte Zeit für sie selbst einen wichtigen Lernprozess dargestellt habe: „In Zambia habe ich keine ‚Hilfe‘ leisten können. Aber ich habe dort Erfahrungen gemacht, die wichtig sind, wenn man wirkliche Entwicklungshilfe will. Und seit ich aus Zambia zurück bin, sehe ich auch die Bundesrepublik als Entwicklungsland, in dem z. B. 1,7 Prozent der Gesamtbevölkerung 71 Prozent des Gesamtproduktionsvermögens besitzen.“43
Brandts letzte Anmerkung deutet darauf hin, dass die zeitgenössisch formulierte Hoffnung, über die Praxis der Entwicklungszusammenarbeit eine sozialdemokratische Einhegung und Integration linker Kräfte zu erreichen, durchaus auch gegenläufige oder radikalisierende Folgen haben konnte44 . Für den Kontext der Ausgangsfrage dieses Abschnittes ist jedoch die Beobachtung entscheidender, dass ein Entwicklungsprozess hier explizit nur noch als selbstreferentieller Topos akzeptiert wird, der nicht mehr auf einen sozialen Wandel vor Ort, sondern allein auf einen Mentalitätswandel der Helfenden selbst verwies.
Fazit: Entwicklungshilfe als Beispiel eines „Wertewandels“ der Arbeitswelt? Insgesamt lässt sich in den dargestellten Berichten erkennen, dass die jugendlichen Protagonisten ihre Arbeitserfahrungen keineswegs ungebrochen 42 43 44
Bericht von Christa Brandt (Zambia), ebenda, S. 189. Ebenda, S. 193. Christa Brandt meldete sich nach ihrer Rückkehr auch in der zentralen Veröffentlichung des DED, dem „DED-Brief “ zu Wort, wo sie die aktuelle Praxis der Entwicklungshilfe in ähnlicher Weise als tendenziell neokolonialistisch und systemstabilisierend beschrieb und mit ihrem Artikel starke interne Diskussionen auslöste. Vgl. hierzu: Hein, Die Westdeutschen und die Dritte Welt, S. 212.
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als Ausdruck einer postmaterialistischen, auf persönlich-moralische Selbstverwirklichung gerichteten Tätigkeit beschrieben. Stattdessen war es häufig gerade die Diskrepanz zwischen solchen Deutungsmustern und den konkreten Erfahrungen vor Ort, die als Leitmotiv der Erzählungen fungierte. Viele Berichte kreisten daher um ein Narrativ der individuellen Desillusionierung. Sie beschrieben, wie sich die eigenen Ideale vor Ort abgeschliffen hätten, wie schwer sich Vorstellungen hierarchiefreier, auf gemeinsamer Kooperation basierender Arbeitsformen hätten realisieren lassen oder wie neue Überlegenheits- und Vorurteilsstrukturen das Denken und Arbeiten beeinflusst hätten. Gerade der konzeptionelle Kern der „Hilfe zur Selbsthilfe“, die partnerschaftliche Umsetzung der jeweiligen Projekte, wurde dabei häufig als besonders prekär wahrgenommen. Die hierbei artikulierten Enttäuschungserfahrungen stehen dabei keineswegs allein. Zuletzt hat Matthias Kuhnert in seinem Dissertationsprojekt die Kategorie der „Enttäuschung“ als zentral für die Erfahrungsräume von Protagonisten in NGOs im Feld von Humanitarismus und Menschenrechte herausgearbeitet.45 Dies verweist zum Teil auf die Überlegungen Helmut Klages’, der in seiner Charakterisierung der „reinen Idealisten“ ebenfalls deren Enttäuschungspotenzial in der gesellschaftlichen Realität hervorgehoben hat46 . Gerade Klages’ klassische These vom Wandel der Pflicht- und Akzeptanzwerte zu Selbstverwirklichungswerten deutet jedoch nochmal darauf hin, dass sich die Freiwilligendienste keineswegs eindeutig in die Teleologie eines beschleunigten Wertewandels einordnen lassen. Zwar fällt die Etablierung der entwicklungspolitisch arbeitenden Freiwilligendienste in der Tat in einen Zeitraum, in dem sich auch andere Freiwilligendienste von früheren jugenderzieherischen Motivlagen lösten und neue Deutungsmuster inkorporierten; allerdings lässt sich dieser Prozess nicht ungebrochen in das Narrativ eines Wertewandels einordnen. So argumentiert Christine Krüger in ihrer Arbeit zwar, dass Vorstellungen von „Dienst“ und „Opfer“ in den Broschüren der Institutionen und den Motiven der Freiwilligen weniger prominent wurden – in einen Wandel von Pflicht- und Akzeptanzwerten zu Selbstverwirklichungswerten, wie sie Helmut Klages formuliert hat, geht dies bei ihr aber nicht auf: Krüger spricht stattdessen von einer „pragmatischen Wende“, in der die Freiwilligendienste innerhalb der „Krise der Arbeitsgesellschaft“ 45
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Sein Dissertationsprojekt entsteht unter dem Projekttitel „Engagement, Erwartung und Enttäuschung bei britischen NGO-Aktivisten“ an der LMU München. Vgl. als erste Veröffentlichung: Matthias Kuhnert, Die Moral von Tee und Babymilch. Unternehmenskritik und Konzepte für ethisches Wirtschaften bei britischen Entwicklungsaktivisten, in: Jens Ivo Engels/Andreas Fahrmeir/Frédéric Monier/Olivier Dard (Hrsg.), Krumme Touren in der Wirtschaft. Zur Geschichte ethischen Fehlverhaltens und seiner Bekämpfung, Köln 2015, S. 43–59. Helmut Klages, Wertorientierungen im Wandel: Rückblick, Gegenwartsanalyse, Prognosen, Frankfurt a.M. u. a. 1984, S. 26–32.
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als eine pragmatische arbeitsbiographische Option wahrgenommen wurden – sei es, um Unterbrechungen im Arbeitsleben auszufüllen oder um über Auslandserfahrungen zusätzliches kulturelles Kapital zu akquirieren47 . Auch die zitierten Erfahrungsberichte der Freiwilligen spiegeln diese Differenzierung. „Idealismus“ spielte als Motiv zwar in der Tat eine große Rolle; dies stand aber in keinem Gegensatz zu der Vorstellung, mit der eigenen Arbeit einen sinnvollen „Dienst“ tun zu wollen – und dies durchaus in dem Deutungsmuster eines „aktiven Realisten“, der auf konkrete Ergebnisse der eigenen Arbeit insistierte bzw. deren Fehlen beklagte. Gerade jener Stolz auf die eigene Tätigkeit und die große Sensibilität gegenüber einer Anerkennung für die eigene Leistung, die Klages als zentrales Merkmal den durch Pflicht- und Akzeptanzwerte motivierten Akteuren zuschreibt, lassen sich in den Selbstdarstellungen der Jugendlichen an vielen Stellen wiederfinden48 . In einigen Fällen – wie beispielsweise bei Winfried Kurrath – wurde der Auslandseinsatz darüber hinaus explizit als Ausbruch aus der individualistisch-hedonistischen Kultur der Bundesrepublik gedeutet. Zumindest die Selbstdarstellungen der Akteure skizzieren demnach eine Ambivalenz: In vielen Fällen dominierte durchaus eine große Akzeptanz von Diensten und Verpflichtungen, für die jedoch eine „innengeleitete“ Sinngebung als grundlegend reklamiert wurde49 . Womöglich ist daher gerade in den subjektiven Enttäuschungserfahrungen der Ort zu suchen, an dem die Rede von einem „Wertewandel“ die größte Überzeugungskraft besitzt. Die Tatsache, dass so viele der Erfahrungsberichte in einem betont desillusionierten Gestus geschrieben sind, kann dabei als Indiz dafür interpretiert werden, dass hier ein Wandlungsprozess subjektiver Werte und Erwartungen mit einem Arbeitsfeld kollidierte, das diese Transformation nur verzögert oder in sehr viel geringerem Tempo mitvollzog. In diesem Sinne spiegeln die Erfahrungsberichte also nicht allein das Scheitern lokaler Projekte oder die Probleme neuer konzeptioneller Ansätze der Entwicklungszusammenarbeit; vielmehr sind sie auch als Ausdruck neuer subjektiver Erwartungen und gesteigerter Ansprüche in Bezug auf den Sinn und Wert der eigenen Arbeit zu interpretieren. Die Veränderungen in den konkreten Arbeitsformen, die sich hinter diesen Wandlungsprozessen verbargen, waren jedoch ambivalent. Auf der einen Seite bot die Arbeit in den Freiwilligendiensten – trotz aller Einschränkungen – durchaus Möglichkeiten, relativ eigenständig und ohne fest etablierte Hierarchien an eigenen Zielsetzungen zu arbeiten. Die Forderung, dass die eigene 47 48 49
Vgl. Krüger, Dienstethos (vgl. Fußnote 15). Vgl. hierzu Klages, Wertorientierungen im Wandel, S. 26f. Für die Unterscheidung, die dem zeitgenössischen konsum- und kulturkritischen Deutungsrepertoire entstammt vgl. David Riesman, The Lonely Crowd: a Study of the Changing American Character, New Haven 1950.
„Entwicklungshilfe“ als Beruf
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Tätigkeit – wie Malte Koos es in Bezug auf seine Arbeit in Tansania beklagte – nicht nur ein „Job“ sein dürfe, erfüllte sich zwar nicht in allen Fällen; sie zeigt aber, dass Vorstellungen einer „arbeitenden Selbstverwirklichung“ durchaus im Erwartungshorizont vieler Protagonisten verankert waren. Auffälliger sind aus heutiger Perspektive jedoch Phänomene, die sich aus einer anderen Richtung in den Wandel der westlichen Arbeitsgesellschaften im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts einfügen. So waren die dargestellten Freiwilligendienste durch die Betonung von Flexibilität und zeitlicher Entgrenzung der Arbeit sowie in der Tätigkeit vor Ort durch eine starke Verflüssigung der Grenze zwischen Arbeit und Freizeit gekennzeichnet – und sie waren darüber hinaus als eine auf zwei Jahre befristete Tätigkeit eine wenig abgesicherte Beschäftigungsform, die keine langfristige Perspektive auf dem Arbeitsmarkt bot. Noch bevor sich diese Vorstellung auf breiter Linie in anderen Feldern durchsetzen sollte, erschien die Arbeit hier als ein auf einen konkreten Zeitraum befristetes „Projekt“. Auch hier bietet sich auf den ersten Blick ein naheliegender Anknüpfungspunkt zu jüngeren Diskursen der Transformation lohnabhängigen Arbeitens im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts an. So hat Ulrich Bröckling in seiner Arbeit zum „unternehmerischen Selbst“ in zentraler Weise auf „das Projekt“ als paradigmatische Form einer arbeitenden Subjektivierung verwiesen50 . Pate für diese Interpretation standen nicht zuletzt Luc Boltanski und Ève Chiapello und deren Charakterisierung der „projektbasierten Polis“ als wichtigster Rechtfertigungslogik im „neuen Geist des Kapitalismus“51 . Die Freiwilligendienste besitzen hier durchaus Anknüpfungspunkte: Vor allem die von Bröckling skizzierte doppelte Verwendungsweise des „Projekt“-Begriffs lässt sich hier wiederfinden. Einerseits bildete die Entwicklungszusammenarbeit ein paradigmatisches Feld, in dem die Arbeit auf der Basis von „Projekten“, deren Beantragung und Evaluation zu einem gängigen Modell wurde; zugleich erschien jedoch auch den Protagonisten selbst die eigene Arbeit als ein biographisches „Projekt“, in dem sich die Jugendlichen bewusst für ein neues Tätigkeitsfeld und eine neue soziale Umgebung entschieden. Das Bestreben, den eigenen „Alltag zu verlassen“ und „neue Erfahrungen zu machen“, lässt sich in diesem Sinne als eine bewusste Strategie der arbeitenden Subjektivierung fassen. Die Sinnzuschreibungen, die hiermit einhergingen, changierten jedoch individuell: Auf der einen Seite wurde die Tätigkeit von vielen Protagonisten primär als „Ausbruch“ aus der eigenen Arbeitsund Konsumgesellschaft gedeutet. Zugleich konnte sie aber auch als Karriereschritt oder als Akquirierung kulturellen Kapitals wahrgenommen werden. Die sowohl von Bröckling als auch von Boltanski und Chiapello beschriebene Ver50 51
Bröckling, Das unternehmerische Selbst, vor allem S. 248–282. Luc Boltanski, Ève Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2003, u. a. S. 147– 187.
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bindung aus Selbstverwirklichungsversprechen und kapitalistisch verwertbarer Selbstdisziplinierung lässt sich hier also zumindest als Ausgangsfrage aufgreifen. Zuletzt gilt auch für das Konzept der „Hilfe zur Selbsthilfe“, dass hier neben dem Bezug auf konkrete Praktiken der Entwicklungszusammenarbeit zugleich verallgemeinerbare Erwartungen gegenüber dem Verhalten der arbeitenden Akteure und den Strukturen gemeinsamer Zusammenarbeit formuliert wurden. Insbesondere die Betonung von Kooperation, flachen Hierarchien und kultureller Offenheit als Merkmale einer neuen Praxis der Entwicklungszusammenarbeit lassen sich in parallele Entwicklungslinien einfügen, in denen auch in anderen Arbeitsfeldern die neue Bedeutung von „netzwerkenden“, „kollaborativen“ oder „kooperativen“ Arbeitsformen betont wurde. Zwar sind dies keine Kategorien, mit denen die Protagonisten selbst schon ihre Arbeitserfahrungen beschrieben hätten, und man sollte sie daher nur mit Vorsicht zur Analyse der dargestellten Phänomene heranziehen. Nichtsdestotrotz zeigt sich hierin möglicherweise ein Anknüpfungspunkt, um die zeitgenössische Polarisierung von Experten und Freiwilligen als unterschiedliche Protagonisten der Entwicklungszusammenarbeit aus einer anderen Richtung in den Blick zu nehmen und mit allgemeinen Entwicklungen eines „Wertewandels der Arbeit“ in Verbindung zu setzen.
Jörg Neuheiser
Utopische „Schulen unternehmerischer Tugenden“? Leistung, Qualität und Qualifizierung als Probleme des Alternativen Wirtschaftens in den 1970er und 1980er Jahren Alternative Formen des Arbeitens und die Vorstellung von Arbeit in selbstverwalteten Betrieben im Alternativen Milieu der siebziger und achtziger Jahre sind naheliegende Themen, wenn es darum geht, den durch die sozialwissenschaftliche Umfrageforschung festgestellten „Wertewandel“ auch jenseits von demoskopischen Daten in der sozialen Praxis des Arbeitslebens zu beobachten. Denn wer verkörperte die insbesondere von Ronald Inglehart und Helmut Klages beschriebenen neuen postmateriellen Selbstentfaltungswerte in der Arbeitswelt besser als jene, die seit den frühen siebziger Jahren begannen, neue Lebens- und Arbeitsvorstellungen in den Mittelpunkt von Projekten zu stellen, welche sich in Abgrenzung von traditionellen Leistungsidealen geradezu als „positive Negation der Arbeit“ im Sinne eines klassischen Arbeitsethos verstehen konnten1 ? Alternative Arbeit, das war – idealtypisch zusammengefasst – weniger eine Form der Erwerbsarbeit in Arbeitsverhältnissen als eine ganzheitliche Lebensweise, in der in kleinen, überschaubaren Gruppen gezielt versucht wurde, individuelle Autonomie und kollektive Selbstverwaltung gegen eine Unterwerfung unter klassische betriebliche Hierarchien, äußeren Leistungsdruck und kapitalistischen Produktivitätszwang zu stellen. Bewusst lehnte man eine fordistische Arbeitsteilung ab und forderte stattdessen die Aufhebung der Trennung von Kopf- und Handarbeit, um sich von der Monotonie des Fließbands ebenso abzugrenzen wie von einer reinen Schreibtischverwaltung und einer den Menschen zu Maschinen degradierenden beruflichen Spezialisierung. Ziel war deshalb eine neue Einheitlichkeit und innere Verbundenheit von Arbeit und Leben, in der die als künstlich erfundene Trennung zwischen Arbeitszeit und Freizeit überwunden werden sollte – es galt, neue Formen der sinnvollen Tätigkeit zu finden, in deren Rahmen sich individuelle Selbstverwirklichung und der politische Kampf gegen ausbeuterische kapitalistische Strukturen tagtäglich verbinden ließen2 . Kurzum: 1
2
Meinard Rohner, Wir Kinder der Tertiarisierung, in: Autonomie. Materialien gegen die Fabrikgesellschaft 2 (1976), S. 4–8, hier S. 6; zitiert nach Arndt Neumann, Kleine geile Firmen. Alternativprojekte zwischen Revolte und Management, Hamburg 2008, S. 14. Vgl. Detlef Siegfried, Die Entpolitisierung des Privaten. Subjektkonstruktionen im alternativen Milieu, in: Norbert Frei/Dietmar Süß (Hrsg.), Privatisierung. Idee und Praxis seit
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Wer sich in alternativen Projekten organisierte, der wollte „anders arbeiten – anders leben“3 . Schon früh wurden deshalb das Alternative Milieu als Ganzes, aber auch die Experimente mit alternativen Arbeits- und Lebensformen im Besonderen als Ausdruck sowohl des Wandels hin zu postmateriellen Werten als auch als klassisches Phänomen des Übergangs von der Industriegesellschaft zur postindustriellen Gesellschaft im Sinne Daniel Bells verstanden4 . Auch in der jüngeren Forschung zu neuen sozialen Bewegungen und zum Alternativen Milieu ist diese Deutung zentral: So hat vor allem Sven Reichhardt mit Blick auf die konkrete Sozialstruktur der alternativen Ökonomie ihren ausgeprägten Dienstleistungscharakter betont und in seiner Auswertung zahlreicher Lokalstudien detailliert nachgezeichnet, dass das eigentliche Feld der selbstverwalteten Arbeitsprojekte im Bereich der Gastronomie (alternative Kneipen), der Medien-, Kultur- und Bildungseinrichtungen (etwa Zeitschriften und Druckereien, Beratungsstellen, Jugendzentren, Kulturinitiativen) sowie des Handels (Naturkostläden) lag, während alternative Handwerksprojekte, Betriebe mit technischer Produktion oder
3
4
den 1970er Jahren, Göttingen 2012, S. 124–139, hier S. 129; Arndt Neumann, Kleine geile Firmen, S. 14–18; Frank Heider, Selbstverwaltete Betriebe in Deutschland, in: Roland Roth/ Dieter Rucht (Hrsg.), Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945. Ein Handbuch, Frankfurt a.M./New York 2008, S. 513–526. Für entsprechende Selbstbeschreibungen vgl. Walter Hollstein/Boris Penth, Alternativ-Projekte. Beispiele gegen die Resignation, Reinbek bei Hamburg 1980, bes. S. 13–27; Ferdinand W. Menne, Alltag und Alternative. Zur Diskussion um einen „Neuen Lebensstil“, in: Horst von Gizycki/Hubert Habicht (Hrsg.), Oasen der Freiheit. Von der Schwierigkeit der Selbstbestimmung. Berichte, Erfahrungen, Modelle, Frankfurt a.M. 1978, S. 104–126 und die Verteidigung der Karlsruher Stadtzeitung gegen Vorwürfe durch den lokalen Kommunistischen Bund Westdeutschlands: KVZ Kontra Stadzeitung, in: ebenda 8/9 (Juni/Juli 1978), S. 4–6. Zum Verhältnis der alternativen Arbeitsvorstellungen zu anderen zeitgleich stattfindenden Debatten um den Wandel von Arbeit und Arbeitsgesellschaft vgl. Dietmar Süß, Autonomie und Ausbeutung. Semantiken von Arbeit und Nicht-Arbeit in der Alternativbewegung der 1980er Jahre, in: Jörn Leonhard/Willibald Steinmetz (Hrsg.), Semantiken von Arbeit: Diachrone und vergleichende Perspektiven, Köln u. a. 2016, S. 347–369. So der Titel einer Sommerschule, die das Sozialistische Büro Offenbach und die Arbeiterselbsthilfe Frankfurt 1979 organisierten. Vgl. Arbeiterselbsthilfe Frankfurt a.M./Sozialistisches Büro (Hrsg.), Anders arbeiten – anders leben. Erfahrungen, Eindrücke, Ergebnisse, Offenbach 1979. Vgl. Joachim Raschke, Politik und Wertwandel in der westlichen Demokratie, in: Aus Politik und Zeitgeschichte – Beilage zur Wochenzeitung das Parlament 36 (1980), S. 23–45; Horst Nowak/Ulrich Becker, ‚Es kommt der neue Konsument‘ – Werte im Wandel, in: Form. Zeitschrift für Gestaltung 111 (1985), S. 14; Klaus Schaper, Sozial- und beschäftigungspolitische Aspekte neuer sozialer Bewegungen. Dargestellt am Beispiel von Selbsthilfegruppen und alternativ-ökonomischen Betrieben, in: Roland Roth/Dieter Rucht (Hrsg.), Neue soziale Bewegungen in der Bundesrepublik Deutschland, Bonn ²1991, S. 161–179.
Utopische „Schulen unternehmerischer Tugenden“?
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Landkommunen eine deutlich geringere Rolle spielten5 . Für Reichardt nahm die Alternativökonomie daher die „Entwicklung zur Wissensgesellschaft“ teilweise vorweg; ähnlich spricht Detlef Siegfried mit Blick auf die eher bürgerlichstudentische Herkunft der Aktiven von einer „Avantgarde der postindustriellen Gesellschaft“6 . Beide sehen im fundamentalen Wandel von materiellen zu postmateriellen Werten zudem eine Art gesellschaftlichen Basisprozess, in dem das Alternative Milieu insgesamt zu verankern ist7 . Darüber hinaus sind die alternativen Arbeitsprojekte wiederholt als Vorreiter einer Neuerfindung des Kapitalismus oder als Orte der praktischen Einübung einer neuer Managementkultur gedeutet worden, die wider Willen der Entstehung neuer ökonomischer Formen der Subjektivierung und der ausbeuterischen Selbststeuerung Vorschub geleistet haben. Vor allem Ulrich Bröckling verweist in diesem Zusammenhang auf die konkrete Bedeutung der Alternativprojekte als „Schulen unternehmerischer Tugenden“: Gerade weil in den Projekten Finanznot herrschte und die Arbeitsdisziplin ohne materielle Anreize oder Vorgesetzte sichergestellt werden musste, hätten die antikapitalistischen Sozialexperimente die Autonomisierungs-, Responsibilisierungs- und Nachhaltigkeitsprogramme der Jahrzehnte nach 1990 antizipiert, die von Bröckling und anderen Sozialwissenschaftlern seit einigen Jahren mit Stichworten wie der Entstehung von „Arbeitskraftunternehmern“ oder dem Leitbild des „unternehmerischen Selbst“ kritisch analysiert werden8 . Bröckling folgt damit der Argumentation von Luc Boltanski und Ève Chia5 6 7
8
Vgl. Sven Reichhardt, Authentizität und Gesellschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und achtziger Jahren, Frankfurt a.M. 2014, bes. S. 319–350. Zitat Reichhardt, ebenda, S. 329; Zitat Siegfried in ders., Die Entpolitisierung des Privaten, S. 129f. Vgl. Reichhardt, Authentizität und Gesellschaft, S. 83–86; Axel Schildt/Detlef Siegfried, Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik – 1945 bis zur Gegenwart, München 2009, S. 18 u. S. 368. Vgl. auch Dieter Rucht, Das alternative Milieu in der Bundesrepublik. Ursprünge, Infrastruktur und Nachwirkungen, in: Sven Reichardt/Detlef Siegfried, Das Alternative Milieu. Antibürgerlicher Lebensstil und linke Politik in der Bundesrepublik Deutschland und Europa 1968–1983, Göttingen 2010, S. 61–86, bes. S. 85; ders., Linksalternatives Milieu und Neue Soziale Bewegungen in der Bundesrepublik: Selbstverständnis und gesellschaftlicher Kontext, in: Cordia Baumann/Sebastian Gehrig/Nicolas Büchse (Hrsg.), Linksalternative Milieus und Neue Soziale Bewegungen in den 1970er Jahren, Heidelberg 2011, S. 35–59. Vgl. Ulrich Bröckling, Projektwelten. Anatomie einer Gemeinschaftsform, in: Leviathan 33 (2005), S. 364–383, hier: S. 370–371 (Zitat); ders., Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt a.M. 2007, S. 258. Der Begriff des „Arbeitskraftunternehmers“ stammt von Günter Voß/Hans Jürgen Pongratz, Der Arbeitskraftunternehmer. Eine neue Grundform der Ware Arbeitskraft, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 50 (1998), S. 131–158. Einen Überblick zur Diskussion findet sich in Jörg Neuheiser, Arbeit zwischen Entgrenzung und Konsum. Die Geschichte der Arbeit im 20. Jahrhundert als Gegenstand aktueller zeithistorischer und sozialwissenschaftlicher Studien, in: Neue Politische Literatur 58 (2013), S. 421–448.
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pello, die zunächst mit Blick auf französische Managementdiskurse in der Vereinnahmung der emanzipatorischen Kritik der 68er Generation den Schlüssel zu einem „neuen Geist des Kapitalismus“ sehen, der gezielt auf flache Hierarchien, die Entfesselung der Kreativität von Mitarbeitern, ein hohes Maß an quasiunternehmerischer Selbstverantwortung für die eigene Tätigkeit im Betrieb und die hohe Flexibilität des Individuums in Unternehmen und Wirtschaftsleben setzt9 . Für Deutschland hat Arndt Neumann die These vertreten, dass ehemalige Akteure des Alternativen Milieus wie Matthias Horx als wichtige Mittler gedient hätten, um die eigentlich antikapitalistischen Ideale der individuellen Autonomie, Selbstentfaltung und Kreativitätsnutzung in die Managementtheorien neoliberaler Unternehmensberater zu überführen10 . Auch wenn jüngere Studien deutlich machen, dass die Genealogie der vermeintlich neuen Managementpraktiken des „New Capitalism“ der Jahrtausendwende sehr viel weiter in das frühe 20. Jahrhundert zurückweist11 , hat die Vorstellung, dass sich von „1968“ über alternative Reformprojekte eine relative klare Linie zu neoliberalen Arbeitspraktiken im Zeitalter des globalen Finanzmarktkapitalismus ziehen lässt, große Verbreitung gefunden12 . Sofern sich derartige Annahmen auf empirische Untersuchungen alternativer Arbeitsprojekte stützen, beruhen sie allerdings hauptsächlich auf einer Analyse der selbstkritischen Stellungnahmen im Alternativen Milieu selbst, in dessen einschlägigen Zeitschriften Ende der siebziger Jahre eine breite Grundsatzde9 10 11
12
Vgl. Luc Boltanski/Ève Chiapello, Le nouvel esprit du capitalisme, Paris 1999. Vgl. Neumann, Kleine geile Firmen. Vgl. Karsten Uhl, Humane Rationalisierung? Die Raumordnung der Fabrik im fordistischen Jahrhundert, Bielefeld 2014; Sabine Christina Donauer, Emotions at Work – Working on Emotions: The Production of Economic Selves in Twentieth-Century Germany, Dissertation FU Berlin 2013, online: http://www.diss.fu-berlin.de/diss/servlets/MCRFileNodeServlet/ FUDISS_derivate_000000017981/Dissertation_Sabine_Donauer.pdf?hosts (letzter Abruf: 28.03.2016); dies., Job Satisfaction statt Arbeitszufriedenheit. Gefühlswissen im arbeitswissenschaftlichen Diskurs der siebziger Jahre, in: Pascal Eitler/Jens Elberfeld (Hrsg.), Zeitgeschichte des Selbst. Therapeutisierung, Politisierung, Emotionalisierung, Bielefeld 2015, S. 343–372. Vgl. etwa Hermann Kocyba, Die falsche Aufhebung der Entfremdung: über die normative Subjektivierung der Arbeit im Postfordismus, in: Matthias Hirsch (Hrsg.), Psychoanalyse und Arbeit. Kreativität, Leistung, Arbeitsstörungen, Arbeitslosigkeit, Göttingen 2000, S. 13–26; Andreas Reckwitz, Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Velbrück 2006, bes. S. 502–508; Stephan Malinowski/Alexander Sedlmaier, „1968“ als Katalysator der Konsumgesellschaft, in: Geschichte und Gesellschaft 32 (2006), S. 238–267; Jens Elberfeld, Von der Befreiung des Individuums zum Management des Selbst. Die unheimliche Karriere von Therapie, Beratung und Coaching seit 1968, in: Recherche. Zeitung für Wissenschaft 2010, online: www.recherche-online.net/elberfeld-beratung-coaching.html (letzter Abruf: 28.03.2016); Sabine Maasen, Einleitung, in: dies. u. a. (Hrsg.), Das beratene Selbst. Zur Genealogie der Therapeutisierung in den „langen“ Siebzigern, Bielefeld 2011, S. 7–33, bes. S. 26.
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batte über den Sinn alternativer Selbstversuche im Arbeitsleben tobte. Denn viele der neuen Projekte waren rasch gescheitert oder in ernste wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten. Gerade bei unterfinanzierten Initiativen oder Arbeitskollektiven erforderte ein wirtschaftliches Überleben rasche Erfolge am Markt, die sich letztendlich nur ergaben, wenn Betriebsabläufe verbessert, ein relativ hohes Maß an individueller Leistungsbereitschaft erreicht und ein qualitativ hochwertiges Produkt erzeugt werden konnte. Schon früh finden sich deshalb Stimmen, die den Frust über den oft beklagten „alternativen 16-Stunden-Tag“ mit der Erkenntnis konfrontierten, dass die Versuche, einen neuen Rhythmus von selbstbestimmtem Arbeiten und Leben zu finden, nicht selten unmittelbar in eine völlige Unterwerfung unter die ökonomischen Sachzwänge des eigenen Projekts führten und die Aufgabe aller alternativen Ziele erzwangen – es schlug die Stunde der „neuen Selbständigen“, der „Krämerseelen“ und der „alternativen Geschäftsführer“13 . Aufgrund genau dieses Mechanismus wurde darüber hinaus die politische Wirksamkeit der Projekte infrage gestellt. Viele Aktivisten der ersten Jahre, insbesondere auch in links-alternativen Zeitungsprojekten, wandten sich von ihren alternativen Betrieben ab und forderten eine neue Radikalisierung etwa im Sinne der Autonomen bzw. der Hausbesetzer. Ganz explizit erhoben sie dabei den Vorwurf, dass die Praxis der Alternativen zu einer Stabilisierung, Reform und Radikalisierung kapitalistischer Ausbeutung führe14 . Die innerhalb des Alternativen Milieus geführte Debatte über die Praxis der eigenen Arbeitsprojekte war jedoch Anfang der achtziger Jahre alles andere als beendet. Für viele Alternative begann erst jetzt der Einstieg in neue Betriebe, zugleich mehrten sich Vernetzungsbestrebungen und Initiativen zur Sicherstellung einer dauerhaften Finanzierung einzelner Projekte in großer Breite15 . Die damit einhergehende kritische Reflexion des eigenen Tuns jenseits der radikalen Aussteiger und derjenigen, die wie Matthias Horx den eigenen Weg aus dem alternativen Milieu ins neoliberale Beratergeschäft selbstgefällig zelebrierten, 13 14
15
Vgl. Neumann, Kleine geile Firmen, bes. S. 28–37 und S. 57–61; Rucht, Das alternative Milieu, bes. S. 79–80. Ein „Klassiker“ der Debatte ist etwa Karl-Heinz Roth, Die Geschäftsführer der Alternativbewegung, in: Pflasterstrand 71 (1980), S. 29–32. Roths Beitrag war ursprünglich bereits 1979 als Teil einer längeren Abhandlung erschienen und wurde im Frankfurter Pflasterstrand stark gekürzt abgedruckt. Vgl. ders., Moral, Gehirnwäsche und Verrat, in: ders./Fritz Teufel (Hrsg.), Klaut sie! (Selbst-)Kritische Beiträge zur Krise der Linken und Guerilla, Tübingen 1979, S. 50–119. In gekürzter Form erschien er auch in anderen wichtigen Zeitschriften des Alternativen Milieus. Vgl. etwa radikal 79 (1980), S. 10–12; Karlsruher Stadtzeitung 22 (Frühjahr 1980), S. 21–25. Ähnlich weit verbreitet war Wolfgang Kraushaar (Hrsg.), Autonomie oder Getto? Kontroversen über die Alternativbewegung, Frankfurt a.M. 1979. Vgl. Frank Heider, Kooperation und Gesellschaftsreform. Selbstverwaltete Betriebe in Hessen, in: Jan-Otmar Hesse/Tim Schanetzky/Jens Scholten (Hrsg.), Das Unternehmen als gesellschaftliches Reformprojekt. Strukturen und Entwicklungen von Unternehmen der „moralischen Ökonomie“ nach 1945, Essen 2004, S. 29–49.
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wird in der Diskussion über die gesellschaftliche Wirkung des alternativen Arbeitens aber kaum beachtet. In mancher Hinsicht neigen die bisherigen sozial- und geschichtswissenschaftlichen Analysen des Phänomens „Alternatives Arbeiten“ daher dazu, die selbstkritischen (und manchmal selbstzerfleischenden) linksalternativen Debatten der späten siebziger und frühen achtziger Jahre in großen Erzählungen über die vermeintlich alternativen Wurzeln der New Economy wiederaufleben zu lassen oder schlicht fortzuschreiben. Schaut man auf die reale Entwicklung vieler alternativer Betriebe und Projekte, liegt eine derartige Verbindungslinie dagegen alles andere als nahe. Zurecht weist etwa Sven Reichardt darauf hin, dass die tatsächliche Arbeitspraxis der Alternativprojekte nicht in einer Erfolgsgeschichte postmodernen unternehmerischen Handelns aufging, sondern von Ineffizienz, nervenaufreibenden Entscheidungsprozessen und dem ständigen Kampf um das eigene Überleben geprägt war16 . Der typische alternative Betrieb mauserte sich nicht zum innovativen Unternehmen mit besonders effizienten Managementmodellen, sondern erlaubte seinen Angehörigen eine gerade auskömmliche, oftmals über längere Dauer prekäre Existenz in mittleren bis unteren Lohnbereichen – und auch das nur, wenn er überhaupt seine Existenz sichern konnte. Im Folgenden wird daher der Blick auf alternative Projekte und regionale wie überregionale Netzwerke zur Finanzierung und Weiterentwicklung alternativer Arbeits- und Lebensformen nach der großen Ernüchterung der späten siebziger Jahre gerichtet. Die Quellengrundlage bilden alternative Zeitschriften, die sich wie „Contraste“ ab 1984 gezielt an selbstverwaltete Betriebe richteten17 , und Publikationen aus verschiedenen Netzwerkinitiativen, etwa bundesweite und regionale Rundbriefe sowie Selbstbeschreibungen von alternativen Projekten und Betrieben in diversen regionalen bis lokalen Alternativzeitungen und entsprechenden Berichten über Alltagsabläufe in klassischen Zeitungen und Presseorganen. Der zeitliche Schwerpunkt liegt bewusst eher auf der Mitte der achtziger Jahre; gezielt soll danach gefragt werden, wie die Aktiven in alternativen Projekten und diejenigen, die sich mit ihnen für ihre Finanzierung engagierten, auf die Kritik reagierten und welche Vorstellungen von Arbeit sie dabei leiteten. In einem ersten Schritt werden dazu die Versuche der eigenen Vernetzung, die 16
17
Vgl. Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft, S. 321; Reichardt ist grundsätzlich skeptisch gegenüber der These vom Pilotcharakter der alternativen Betriebe für die New Economy, bleibt in seinem Urteil aber ambivalent. Contraste erscheint seit Oktober 1984 als Monatszeitschrift, die sich gezielt an selbstverwaltete Betriebe wendet. Gegründet wurde sie im Umfeld des Verbands der selbstverwalteten Betriebe Hessen; der ursprünglich vorgesehene Titel „Wandelsblatt“ wurde nach einem Rechtsstreit mit dem Handelsblatt aufgegeben. Vgl. Elisabeth Voß, Contraste – Monatszeitung für Selbstorganisation. 25 Jahre engagierte Zeitungsarbeit, in: Bernd Hüttner/ Christoph Nitz (Hrsg.), Linke Kommunikation, Kommunikation mit links? Dokumentation der 6. Linken Medienakademie 2009, Hamburg 2010, S. 143–145.
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zu Beginn der achtziger Jahre einsetzende Debatte um die Annahme von „Staatsknete“ und das Auftreten alternativer Unternehmensberater als Dienstleister für das alternative Milieu in den Blick genommen, bevor anschließend Vorstellungen von Leistung, Qualität und beruflicher Qualifizierung untersucht werden, die im Umfeld der alternativen Betriebe eine zentrale Rolle spielten. Damit soll nicht nur geklärt werden, inwiefern die Entwicklung der alternativen Betriebe tatsächlich in die Richtung neuer Managementstrukturen der New Economy wies; darüber hinaus gilt es zu fragen, ob die Wertvorstellungen der alternativen Projektmitarbeiter wirklich als Ausdruck postmaterialistischer Ideale zu deuten sind und welches Bild vom Wertewandel in der Arbeitswelt entsteht, wenn man die vermeintlich charakteristischsten Protagonisten der „stillen Revolution“ genauer untersucht.
Vernetzung, „Staatsknete“ und alternative Unternehmensberater Alternative Arbeitsprojekte konnten sich seit etwa Mitte der siebziger Jahre relativ schnell und breit etablieren, freilich ohne in ihrer Gesamtheit einen substantiellen volkswirtschaftlichen Einfluss auszuüben. Schätzungen, die aufgrund der schwierigen Abgrenzung der „Alternativökonomie“ zwar notorisch ungenau sind, sprechen für die Mitte der achtziger Jahre von immerhin bis zu 200.000 Beschäftigten in rund 18.000 Projekten18 . Angesichts einer – ebenfalls nur vage – geschätzten Gesamtzahl von Menschen mit alternativen Wahlverhalten, Konsummustern und sozialen Habitus von maximal bis zu vier Millionen, scheint diese Beschäftigtenzahl nicht völlig unglaubwürdig19 ; allerdings verwiesen die sogenannten „Wirtschaftsweisen“ der Bundesregierung in ihrem Jahresgutachten für 1984/85 auf divergierende Vermutungen von lediglich zwischen 25.000 und 100.000 Beschäftigten im alternativ-ökonomischen Sektor20 . Lokalstudien aus den achtziger Jahren weisen jedoch zumindest für kleine Wirtschaftsräume wie etwa Westberlin, den Großraum Frankfurt und Freiburg Projekt- und Beschäftigtenzahlen nach, die hochgerechnet eher etwas höhere Schätzungen rechtfertigen21 . Vor allem aber dokumentieren sie, dass die größere Zahl der 18 19
20 21
Vgl. Wolfgang Walz, Für Alternativökonomie, in: Badische Zeitung, 13.02.1986, zitiert nach Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft, S. 323. Die Zahl von ca. vier Millionen wurde Anfang der achtziger Jahre von Soziologen geschätzt; vgl. dazu die differenzierte Auswertung von mehreren Umfragen zum Umfang des Alternativmilieus bei Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft, S. 41–43. Vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der Gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Chancen für einen langen Aufschwung. Jahresgutachten 1984/85, Stuttgart/Mainz 1984, S. 192. Vgl. Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft, S. 334–340.
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alternativen Betriebe erst in den achtziger Jahren gegründet wurde und sich zahlreiche Projekte entgegen der oft diskutierten Kurzlebigkeit einzelner Initiativen durchaus längerfristig behaupteten22 . Aus wirtschaftlicher Perspektive war das zentrale Problem der alternativen Projekte die fast immer nur kurzfristig gesicherte Finanzierung bzw. die üblicherweise sehr geringe Kapitaldecke, die es kaum erlaubte, größere Investitionen zu tätigen oder ökonomische Rückschläge zu verkraften. Schon mit den ersten Gründungen setzte deshalb eine intensive Suche nach Finanzierungsmöglichkeiten ein, die zunächst eng mit der Frage nach dem Nutzen verschiedener möglicher Rechtsformen für die Betriebe verbunden war, also der Entscheidung, ob man die selbstverwalteten Projekte zum Beispiel als Genossenschaft oder GmbH, Verein oder auch Stiftung aufbauen sollte23 . Unabhängig von der Wahl der Gesellschaftsform sahen viele Alternative die Lösung für die starke Unterfinanzierung der Projekte in der Vernetzung mit ähnlichen Initiativen und Betrieben und im Aufbau von Unterstützungsnetzwerken, die über Monatsbeiträge, Spenden und Einlagen von privaten „Investoren“ – gemeint waren eher idealistische Geldgeber, die kleine Beträge ohne realistische Aussicht auf Rendite bereitstellten – einen Kapitalstock aufbauen sollten, aus dem Finanzierungshilfen für finanzschwache Alternativprojekte etwa in Form von Startkapital oder Überbrückungsgeldern gezahlt wurden. Entsprechende Versuche hatte es bereits Anfang der siebziger Jahre gegeben; von größerer Bedeutung war allerdings erst die Gründung des Westberliner Netzwerks Selbsthilfe e. V. im Herbst 197824 . Das Berliner Netzwerk konnte relativ schnell nennenswerte Erfolge verbuchen und bereits in den ersten Jahren über ein Kapital von mehreren hunderttausend Mark verfügen, mit denen nach Kriterien, die auf den Verzicht von individuellem Gewinn, die Kooperation mit ähnlichen Projekten und auf eine langfristige Unabhängigkeit zielten, mehrere dutzend Initiativen unterstützt wurden25 . Nach ähnlichem Muster entstanden auch in anderen Teilen Westdeutschlands ähnliche Netzwerke, die sich 1987 zu einer Bundesarbeitsgemeinschaft Netzwerke zusammenschlossen; daneben wurden weitere Organisationen gegründet, die wie die Berliner STATTwerke oder das Frauennetzwerk Goldrausch nach letztlich ähnli22
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25
Vgl. Heider, Kooperation und Gesellschaftsreform, S. 44 (für Hessen); Hubert Münzer, Empirische Untersuchung der Organisationstruktur alternativer autonomer Betriebe, unveröffentlichte Diplomarbeit Universität Freiburg 1987, S. 17 (Archiv für Soziale Bewegungen Freiburg, ohne Signatur). Walter Hallstein und Boris Penth fassten 1980 Informationssendungen mit entsprechenden Hinweisen zusammen, die bereits 1977 im WDR-Radio gesendet worden waren. Vgl. dies., Alternativ-Projekte, S. 62–64. Vgl. zur Gründung des Netzwerks Selbsthilfe und zu alternativen Finanzierungsinitiativen generell Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft, S. 340–345; daneben Neumann, Kleine geile Firmen, bes. S. 50–56. Vgl. den Finanzplan 1980, in: Netzwerk Selbsthilfe, Rundbrief 9 (April 1980), S. 9–10.
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chen Maßstäben gezielte finanzielle Hilfen für alternative Projekte anboten26 . Neben solche vereinsgetragenen Förder- und Finanzierungsinstitutionen traten Anfang der achtziger Jahre verschiedene Ökofonds der Grünen auf Landes- und Bundesebene, die aus Abgaben grüner Europa-, Bundes- und Landtagsabgeordneter ebenfalls alternative Projekte und Betriebe förderten27 . Im Mai 1988 nahm schließlich in Frankfurt/M. die Ökobank ihre Geschäfte auf, nachdem bereits einige Jahre zuvor ein Förderverein die Gründung einer alternativen Bank aktiv betrieben hatte28 . Nicht zufällig fielen die entscheidenden Initiativen zur Gründung von Netzwerken in die späten siebziger und frühen achtziger Jahre, also genau die Phase, in der die radikaleren Akteure des Alternativen Milieus mit Blick auf die selbstverwalteten Betriebe und Alternativprojekte erstmals grundlegende Kritik an der Idee einer alternativen Ökonomie formulierten und die voranschreitende Kommerzialisierung und den Verlust der ursprünglich auf eine antikapitalistische Gesellschaftsveränderung orientierten Ideale der Betriebe heftig attackierten. Wollten die „Vernetzer“ die von den alternativen Betrieben aus ihrer Sicht ausgehenden wichtigen konkreten Reformimpulse massiv stärken und insbesondere dazu beitragen, die erkennbare wirtschaftliche Krise der Projekte zu überwinden, formierte sich auf der anderen Seite eine grundlegende Ablehnung, die in ihrer schärfsten Form auf eine bewusst antikapitalistische Verweigerung jeder Art von Arbeit hinauslief 29 . Entsprechend wurde zum Beispiel das Westberliner Netzwerk Selbsthilfe insbesondere in der verbreiteten Szenezeitschrift „radikal“ massiv angegriffen, wobei sich die Vorwürfe zunächst auf die Entscheidungsstrukturen im Netzwerk bezogen, weil der ausschlaggebende Vergabeausschuss drittelparitätisch aus den prominenten linken Gründern, Vertretern der zahlenden Netzwerkmitglieder und Vertretern der Kollektive besetzt war und damit von verschiedenen Alternativbetrieben als zu distanziert wahrgenommen wurde. Neben die Kritik einer mangelnden Beteiligung der eigentlichen Alternativprojekte an der Geldvergabe traten der Vorwurf einer Zentralisierung und Entdemo26
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Vgl. Jürgen Sosna, Netzwerk-Selbsthilfe. Eine Idee koordinierender Projektarbeit verändert sich, in: Roth/Rucht (Hrsg.), Neue soziale Bewegungen, S. 298–318; Franz-Josef Bartsch, Ein Jahr auf Bewährung. Bundesarbeitsgemeinschaft der Netzwerke gegründet, in: Contraste 34/35 (Juli/August 1987), S. 5. Vgl. Rolf Ebbighausen u. a., Die Kosten der Parteiendemokratie. Studien und Materialien zu einer Bilanz staatlicher Parteienfinanzierung in der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1996, S. 349–356. Vgl. Hans-H. Münkner, Was wurde aus der Ökobank? Beitrag zum Interdisziplinären Seminar an der Universität Marburg, 21.01.2012. Unter Mitarbeit von Bernd Steyer, Freiburg, Vorstandssprecher der Oekogeno eG. Universität Marburg 2012. Online verfügbar unter http://www.online.uni-marburg.de/isem/WS11_12/docs/oekobank.pdf (zuletzt geprüft: 31.03.2016). Vgl. etwa Titel der Karlsruher Stadtzeitung zum 1. Mai 1979: „Wir scheißen auf die Arbeit“, Nr. 18, April 1979.
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kratisierung der Alternativbewegung, vor allem aber die Warnung vor einer massiven Einflussnahme auf die Arbeitspraxis und Selbstverwaltungsstrukturen in den Projekten. Weil sich mit einer Orientierung an Dauerhaftigkeit und einer zunehmenden finanziellen Unabhängigkeit der geförderten Projekte auch ein Anspruch auf eine an Effizienz und Erfolg orientierte Arbeitsweise verband, sahen Kritiker das Netzwerk als „Integrations- und Disziplinierungsinstrument“ und verglichen die durch das Netzwerk ins kapitalistische System überführte „Lust am Wurschteln, Aufbauen, an weniger entfremdeter Arbeit, auch in kollektiven-nicht hierarchischen Formen“ unmittelbar mit neuen „von Seiten des Kapitals“ in Produktion und Management durchgeführten Experimenten mit kollektiven, nicht-hierarchischen Arbeitsformen30 . Für Arndt Neumann, der die kritischen Beiträge aus der „radikal“ ausführlich zitiert, ist damit der Tatbestand des Verrats erfüllt: Das Netzwerk wird für ihn zu einem entscheidenden Schritt auf dem Weg zu einem „Arrangement mit den grundlegenden Strukturen der kapitalistischen Gesellschaft“, aus der im weiteren die neoliberale Erneuerung der Managementstrukturen durch die Inkorporation der jetzt auf nicht mehr hinterfragte Effizienzsteigerung ausgerichteten neuen nicht-hierarchischen Arbeitsformen der Alternativen hervorging31 . Ist damit die Wirkung des Netzwerks und der anderen Unterstützungsinitiativen angemessen beschrieben? Tatsächlich drängten die für die Vergabe von finanziellen Hilfen Verantwortlichen auf Verlässlichkeit, stabile Strukturen und eine gewisse Professionalität in der Erledigung der anfallenden Aufgaben, die sich z. B. für die Büroorganisation des Netzwerks selbst in der Forderung nach einem „arbeitsorientierten Stil“ niederschlug, „d. h. die alltägliche Erledigung der laufenden Arbeit hat Vorrang gegenüber der Diskussion unterschiedlicher Auffassungen über Sinn und Zweck von Netzwerk“32 . Damit reagierten die Mitarbeiter des Netzwerks recht pragmatisch auf die im eigenen Kreis wie in zahlreichen anderen Alternativprojekten gemachte Erfahrung, dass die ausgeprägte Diskussionsbereitschaft unter den Aktiven im Alltag immer wieder dazu führte, dringende Entscheidungen aufzuschieben und Arbeitsprozesse nicht abzuschließen33 . Entsprechende Erwartungen wurden auch an antragstellende Projekte angelegt, wobei es schnell zu Enttäuschungen und Konflikten kam, weil die Zahl der Anträge und der beantragte Finanzbedarf die Möglichkeiten der 30
31 32 33
Vgl. benny (Alternative und Mitglied des Netzwerksvorstands), Zur politischen Perspektive von Netzwerk, in: radikal 61 (1979), S. 6–7, zitiert nach Neumann, Kleine geile Firmen, S. 54f. Neumann, Kleine geile Firmen, S. 56. Vorschläge für Grundsatzbeschlüsse, Netzwerk Selbsthilfe, Rundbrief 4 (Frühjahr 1979), S. 9. Das „Selbstverwaltungspalaver“, „Ausdiskutieren“ und die damit verbundenen „nervenraubenden Entscheidungsprozesse“ sind über zahlreiche Erfahrungsberichte und statistische Untersuchungen dokumentiert. Vgl. Reichhardt, Authentizität und Gemeinschaft, S. 339.
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Netzwerke überstiegen. Abgelehnte Antragssteller waren wenig überraschend oft anderer Meinung als die Beiratsmitglieder, wenn es um Einschätzungen der eigenen Effizienz und der Förderungswürdigkeit des Projekts ging34 . Beiräte und Vorstandsmitglieder reagierten auf diese Konflikte vor allem mit dem Versuch, getroffene Entscheidungen und Begründungen weitgehend transparent und öffentlich zu machen, etwa in dem in Rundbriefen und auf Mitgliederversammlungen nicht nur über geförderte Projekte, sondern auch über abgelehnte Anträge berichtet wurde und Kritiker des Netzwerks und der Vergabepraxis immer wieder Gelegenheit erhielten, die eigenen Positionen darzustellen35 . So druckten die Berliner Netzwerker in ihren frühen Rundbriefen nicht nur die kritischen Beiträge aus der „radikal“ erneut ab, sondern wählten Ende April 1979 mit Benny Härlin auch einen Delegierten des Redaktionskolletivs der „radikal“ in den eigenen Vorstand36 . Bis Ende der achtziger Jahre änderte sich an diesem Umgang mit ablehnenden Stimmen wenig. Das in Freiburg ansässige Netzwerk Dreyeckland, entstanden im Sommer 1980, publizierte zum Beispiel noch im Mai 1988 in seinem Rundbrief einen Beitrag „Gegen den Ökostaat“, der jede Form reformistischer linker Politik massiv angriff und insbesondere auch die alternative Wirtschaft als „nützlichen Idioten bei einer Neueinstellung der kapitalistischen Entwicklung“ bezeichnete37 . In „Contraste“ konnten die Leser der „Zeitung für Selbstverwaltung“ 1987 regelmäßig aus „fundamentalistischer“ oder autonomer Perspektive verfasste Warnungen davor lesen, dass alternative Projekte im Rahmen moderner Sozialtechnologien vor den kapitalistischen Karren gespannt oder zum Werkzeug einer in „Deutschland fanatischen Arbeitsethik“ missbraucht würden38 . Typisch für das Umfeld selbstverwalteter Betriebe war daher gerade nicht die einseitige Orientierung an unhinterfragten Effizienzkriterien, sondern die permanente Selbstkonfrontation mit der Möglichkeit, dass die eigenen Initiativen und Projekte falschen und prinzipiell schädlichen sozialen Entwicklungen Vorschub leisteten. Unhinterfragt blieb grundsätzlich nur wenig, besonders nicht die eigene Arbeitshaltung und das Verhältnis der Projekte zur Gesellschaft, die es zu 34
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Vgl. etwa Jugendhaus Meineringshausen (Berlin), Wir meinen, daß es für die Ablehnung keine rationalen Gründe gibt, in: Netzwerk Selbsthilfe, Rundbrief 10 (August 1980), S. 10– 11. Die Rubrik „Abgelehnte Projekte“ erschien über Jahre regelmäßig im Rundbrief des Netzwerks Selbsthilfe. Vgl. Netzwerk Selbsthilfe, Rundbrief 5 (Mai 1979). Vgl. P. M., Gegen den Öko-Staat – für ein Netz selbstbestimmter Gemeinschaften“, in: Netzwerk Dreyeckland, Rundbrief (Mai 1988), S. 5–12. Zitat aus Gerhard Kern, Sozialtechnologie oder die Kunst, noch das marodeste System aufrecht zu erhalten, in: Contraste 29 (Februar 1987), S. 5–7; vgl. auch Elmar Sing, Gegenwart der Selbstverwaltung, in: ebenda 24 (September 1986), S. 4; Artikel: Der Traum von der Autonomie, in: ebenda 30 (März 1987).
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verändern galt. Auch die Befürworter der Fortsetzung alternativer Experimente in der Arbeitswelt bewegten sich dauerhaft in einem Spannungsbogen zwischen der Selbstaufgabe aus grundsätzlichen Erwägungen und einer wirtschaftlichen Optimierung der eigenen Betriebsstrukturen. Gleichzeitig entwickelte sich in zahlreichen Projekten jedoch ein sehr konkretes Interesse an dauerhaften finanziellen Lösungen für die eigenen Probleme, das sich mit der gezielten Suche nach vorhandenem Wissen bzw. Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit unterschiedlichsten Stellen verband, welche als Geldgeber oder Unterstützer für bestehende Alternativbetriebe oder neu entstehende Initiativen fungieren konnten. Schon um 1980 wurde in diesem Zusammenhang die Frage nach der „Staatsknete“ zum Politikum im alternativen Milieu, als sich zeigte, dass insbesondere vor dem Hintergrund der neuen Massenarbeitslosigkeit verschiedenste Möglichkeiten bestanden, aus staatlichen Fördermaßnahmen etwa zur Unternehmensgründung oder zur Unterstützung von Kleinunternehmen bzw. mittelständischen Betrieben, im Bereich der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und im Kultur- und Bildungssektor Gelder für alternative Projektgründungen zu erhalten39 . Durch den wachsenden Einfluss der Grünen in Landesparlamenten und auf Bundesebene sowie einem zunehmenden Interesse am Bereich des „Neuen Genossenschaftswesens“ bei SPD und Gewerkschaften erweiterten sich derartige Möglichkeiten gegen Mitte der achtziger Jahre erheblich; auch innerhalb von CDU und FDP gab es Politiker, die bereit waren, alternative Projekte mit öffentlichen Geldern zu unterstützen40 . Zugleich führten die Aktiven im Alternativen Milieu einmal mehr eine Grundsatzdebatte darüber, ob die Annahme staatlicher Fördergelder als endgültige Bankrotterklärung der alternativen Idee oder als Zeichen von wachsendem Einfluss der Alternativbewegung auch auf klassische Bereiche gesellschaftlicher Politik- und Wirtschaftssteuerung gewertet werden sollte41 . In vielen Projekten dominierte allerdings eher das Bedürfnis nach Beratung und Hilfe bei Anträgen bzw. nach einem Überblick über bestehende Möglichkeiten der Finanzierungsförderung. Bereits in den frühen achtziger Jahren verbreitete sich die passende Fachliteratur, zu der unter anderem die alternativen Standardwerke der sogenannten „Karl
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Vgl. Peter Grottian, Steuergelder für Alternativprojekte? Von einem mutmaßlich grundsätzlichen gesellschaftlichen Konflikt, in: ders./Wilfried Nelles (Hrsg.), Großstadt und neue soziale Bewegungen, Basel u. a. 1983, S. 283–297. Die ersten öffentlichen Gelder in größerem Umfang bewilligte der damals CDU-geführte Berliner Senat 1982. Vgl. ebenda, S. 283; daneben die kritische Auseinandersetzung mit Berliner Finanzierungsstrategien in „Wirtschaftsstrategien für einen Stadtteil“, in: Contraste 16 (Januar 1985), S. 10–11 und verschiedene Berichte über SPD-Tagungen zum Thema Genossenschaftswesen, in: Contraste 17 (Februar 1985). Vgl. Rucht, Linksalternatives Milieu, S. 52.
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May-Reihe“ des Berliner Stattbuch Verlags zählten42 . Nicht nur diese Handbücher erreichten schnell hohe Auflagen und erschienen bis in die neunziger Jahre immer wieder in überarbeiteten Fassungen. Die Verfasser derartiger Publikationen können in Anlehnung an Karl Heinz Roths Grundsatzkritik an den alternativen Betriebserfahrungen der späten siebziger Jahre als „alternative Geschäftsführer“ oder alternative Unternehmensberater bezeichnet werden. Für Roth wie für andere radikale Kritiker im Milieu handelte es sich bei dieser Akteursgruppe um „besonders abstoßend[e]“ Figuren, die aufgrund ihrer vergangenen Rolle in Protestbewegungen in Positionen gelangt seien, von denen sie unter dem Vorwand der Überwindung der Unterkapitalisierung die kommerzielle Umwandlung alternativer Selbstverwaltungsprojekte in gewöhnliche Kleinunternehmen mit gängigen Arbeitgeber-Arbeitnehmerbeziehungen betrieben. Geprägt seien sie von den „gesellschaftlichen Normen des dynamischen leistungsbewußten Aufsteigers, welche die Alternativbewegung von allen Seiten umgeben“43 . Folgt man Arndt Neumann, gingen aus dieser Gruppe der „alternativen Geschäftsführer“ letztlich die „neuen Unternehmensberater“ hervor, die ihren offenen Bruch mit dem alternativen Milieu ab Mitte der achtziger Jahre mit dem bewussten Versuch verbanden, Erfahrungen und Prinzipien des alternativen Arbeitens für das moderne Unternehmensmanagement nutzbar zu machen44 . Dagegen lässt sich am Beispiel eines der führenden Mitglieder des selbstverwalteten Berliner Druckereikollektivs Oktoberdruck, Constantin Bartning, ein ganz anderes Bild der Unternehmensberater zeichnen, die typischerweise aus dem alternativen Milieu hervortraten. Bartnings Verbindung zu Oktoberdruck ist dabei von besonderer Bedeutung, weil die alternative Druckerei und ihre Krisen aufgrund der engen Vernetzung des Betriebs mit wichtigen Alternativzeitungen, insbesondere der „radikal“, immer wieder zum Thema in der Debatte um die Krise der Alternativprojekte wurden45 . Das 1974 gegründete Kollektiv erlebte in den siebziger und achtziger Jahren verschiedene zum Teil dramatische Umbrüche, die sich stets um den Aufbau verlässlicher innerer Strukturen, die 42
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Vgl. Arbeitsgruppe „Unter Geiern“, Unter Geiern. Ein Leitfaden für die Arbeit in selbstverwalteten Betrieben und Projekten, Berlin 1982; Klaus Esche/Bettina Sonderhauss, Der Schatz im Silbersee. Ein Finanzierungsleitfaden für selbstverwaltete Betriebe und Projekte, Berlin 1984; Matthias Neuling, Auf fremden Pfaden. Ein Leitfaden der Rechtsformen für selbstverwaltete Betriebe und Projekte, Berlin 1986. Vgl. Roth, Moral, Gehirnwäsche und Verrat, S. 116f. Vgl. Neumann, Kleine geile Firmen, S. 61–72. Vgl. etwa „Krise bei Oktoberdruck“, in: radikal 66 (14.9.1979); „Wie alternativ ist Oktoberdruck“, in: ebenda 70/71 (23.11.1973). Auch Roth, Moral, Gehirnwäsche und Verrat, S. 113, verweist auf die Auseinandersetzungen bei Oktoberdruck, die für Neumann, Kleine geile Firmen, S. 37, symptomatisch für den Wandel von einer Orientierung an Autonomie hin zum zentralen Einsatz einer an Effizienz orientierten Arbeitsorganisation in alternativen Projekten sind.
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Erhöhung der individuellen Leistungsbereitschaft der Beteiligten und finanzielle Schwierigkeiten drehten. Mehrmals gefährdeten die Konflikte im Kollektiv die Existenz des Unternehmens grundlegend; zwischenzeitlich führte Bartning die Druckerei als Alleinunternehmer, um sie nach der finanziellen Sanierung wieder in Selbstverwaltungsstrukturen zu überführen und selbst in eine Aushilfsrolle zurückzutreten46 . Insgesamt gehörte der 1948 geborene Bartning dem Kollektiv bis 1986 in wechselnden Funktionen an; bereits 1968 hatte er zu den Gründern von Agit-Druck gezählt, einem Druckereiprojekt, das im Umfeld der 68er Proteste entstanden war und als Vorläufer von Oktoberdruck verstanden werden kann. Im Juni 1986 schrieb Bartning in „Contraste“ einen längeren Selbsterfahrungsbericht, den die Zeitschrift im Zusammenhang mit der Frage nach der Gestaltung von Generationswechseln in alternativen Betrieben publizierte47 . Im Kern schildert sein Beitrag einen Prozess der fortschreitenden Professionalisierung innerhalb des Kollektivs, den er auf mehreren Ebenen verortet: Neben eine zunehmende technisch-qualitative Verbesserung der eigenen Druckerzeugnisse traten die rechtliche Klärung von Eigentumsverhältnissen bzw. der Gesellschaftsform der Druckerei, eine betriebswirtschaftliche Sanierung und die Einführung von ertragsabhängigen Einkommen der Belegschaft. Persönlich war diese Entwicklung für Bartning mit einem tiefgreifenden zwischenmenschlichen Lernprozess sowie einer bewussten Reflexion seiner eigenen Rolle als Gründungsfigur und langjähriger Mitarbeiter in einem Betrieb mit hoher personeller Fluktuation verbunden. Ironischerweise führten gerade die finanzielle Erholung und der persönliche Rückzug aus manchen Geschäftsbereichen sowie der Führungsrolle trotz einer deutlichen Reduktion der eigenen Arbeitszeit für ihn zu massiver Unzufriedenheit – Bartning beklagt in seinem Bericht die zunehmend fehlenden Spielräume für Kreativität, persönliche Initiative und seine individuelle fachliche Weiterentwicklung im Druckereibereich. Nur wenig später zog er die Konsequenzen aus seiner Selbstanalyse, verließ Oktoberdruck und machte sich als Unternehmensberater selbständig, jedoch ohne die Verbindungen zum alternativen Milieu zu kappen48 . In der Folge trat er als Organisator von Branchentreffen selbstverwalteter Druckereien auf, wurde zum Geschäftsführer in einem neu gegründeten Verein der selbstverwalteten grafischen Betriebe und war als externer Sanierer beim Druckereikollektiv Bundschuh in Freiburg 46
47 48
Vgl. Constantin Bartning, Kollektivkarriere, in: Contraste 20 (Mai 1986), S. 5. Vgl. auch ders., Lohnarbeit und Kollektiv, unveröffentlichtes Manuskript, Berlin 1981 (Archiv für soziale Bewegungen Freiburg, 2.1 I); ders., Ziele und Unternehmenskultur der kollektiven Selbständigkeit, in: Hans G. Nutzinger (Hrsg.), Ökonomie der Werte oder Werte in der Ökonomie? Unternehmenskultur in genossenschaftlichen, alternativen und traditionellen Betrieben, Marburg 1996, S. 111–142; Martina Fuchs-Buschbeck, 35 Jahre Oktoberdruck Berlin. Kollektiv und Selbstverwaltung, in: Contraste 293 (Februar 2009), S. 7. Vgl. Bartning, Kollektivkarriere. Vgl. Constantin Bartning, Einzelkämpfer, in: Contraste 32 (April 1987), S. 14.
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tätig, das im August 1987 Konkurs angemeldet hatte49 . Auch danach blieb er weiterhin als Autor bei „Contraste“ präsent und arbeitete über viele Jahre als Unternehmensberater für Kleinbetriebe und Freiberufler sowie als Vortragender im Bereich nachhaltiges Wirtschaften und kollektive Betriebe50 . Gerade seine in der Freiburger Belegschaft nicht unumstrittene Rolle bei der Neuausrichtung der Bundschuh-Druckerei lässt erkennen, welche Art von Wissen alternative Unternehmensberater wie Bartning und andere zunehmend professionell agierende alternative Managementprofis innerhalb der Netzwerke und alternativen Berufs- bzw. Branchenverbände vermittelten. In seinen eigenen Darstellungen beschrieb Bartning, dass das neue Konzept des Freiburger alternativen Betriebs auf „absolute Zuverlässigkeit“ und gute Kundenberatung, die stetige Steigerung der Qualität der eigenen Produkte und eine neue Organisationsform der Kollektivselbständigkeit setze. Kernstück der finanziellen Sanierung war der Kauf der bisherigen Druckmaschinen durch die im Berliner Netzwerk-Umfeld beheimatete Kollektiv Leasing Gesellschaft für selbstverwaltete Betriebe mbH und die direkte Wiedervermietung der Maschinen an die Druckerei; zudem wurde für die verbleibenden Mitarbeiter ein ertragsabhängiges Einkommen eingeführt, das auf einer genauen Abrechnung der individuell geleisteten Arbeitszeit und Arbeitsmenge beruhte51 . Genau diese Regelung erregte im Umfeld der Druckerei massiven Ärger: Aus Sicht der Kritiker wurde nämlich hier ein Leistungslohn festgelegt, der „noch nicht einmal den allgemein festgelegten Mindestlohn garantiert“ (gemeint war ein niedriger Einheitslohn, der in vielen Kollektiven allen Beteiligten unabhängig von der Ertragslage bezahlt wurde) und damit endgültig entlarve, dass „hinter Floskeln wie Selbstbestimmung oder Eigenverantwortlichkeit in der Arbeit [nichts anderes stecke als] die Wiederherstellung von Freude an der Arbeit – Arbeitsmoral oder anders: Die Durchsetzung des Arbeitszwangs.“52 Tatsächlich hatte Bartning das Kollektiv im Sanierungsprozess mit den harten ökonomischen Fakten des eigenen Konkurses konfrontiert. Die alternativen Beschäftigten wurden juristisch über Abläufe eines geordneten Konkursverfahrens informiert und über Finanzierungsmöglichkeiten innerhalb der Strukturen 49
50
51 52
Vgl. ders., Selbstverwaltete Grafische Betriebe organisieren sich, in: Contraste 35 (Juli/ August 1987), S. 6. Zur Pleite von Bundschuh vgl. Johannes Schradi, Das Loch im Bundschuh war nicht mehr zu flicken, in: Badische Zeitung, 16.9.1987. Vgl. die Homepage von Bartnings Unternehmensberatung: http://www.transferunternehmensberatung.de/index.html (Abruf: 11.04.2016); daneben den Hinweis auf einen im März 2013 gehaltenen Vortrag von Bartning zur kollektiven Selbstständigkeit bei der Gesellschaft für Nachhaltigkeit in Berlin, http://gfn-online.de/archiv/ (Abruf: 11.04.2016). Vgl. Constantin Bartning, Ende mit Schrecken, in: Contraste 36 (September 1987), S. 4 und ders., Bundschuh-Druckerei, in: ebenda 38 (November 1987), S. 2. Anon., schwarz auf weiß. zukunftsweisend – innovativ: auf dem Weg ins Freiburg 2000, undatiert [Januar 1988] (Archiv für Soziale Bewegung Freiburg 2.4.2 III).
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der alternativen Netzwerke aufgeklärt. Die neue Organisationsform betonte die Verantwortlichkeit der verbleibenden Beschäftigten für ihre Arbeitsleistung und das von ihnen erstellte Produkt, behielt aber kollektive Entscheidungsprozesse und vor allem das gemeinschaftliche Eigentum am Betriebskapital bei. Vermittelt wurden Marketinggrundlagen und betriebswirtschaftliches Basiswissen – dabei waren einfache Kenntnisse der Buchführung und die Akzeptanz von Arbeitsteilung aufgrund von handwerklicher und kaufmännischer Qualifikation die wichtigsten Punkte. Bartning bot den Bundschuh-Mitarbeitern letztlich das Wissen, das der fast zeitgleich neu entstandene Verband der selbstverwalteten grafischen Betriebe unter seiner Federführung alternativen Druckereien im gesamten Bundesgebiet offerierte: praktische Anweisungen im Bereich der kaufmännischen Betriebsführung, technische Fortbildungen zum Druckereiwesen und die Anleitung zur bewussten Reflexion der besonders schwierigen sozialen Beziehungen in Kollektivbetrieben53 . Auch in Freiburg dürften neben der Vermittlung von finanziellen Hilfen über die alternativen Netzwerke letztlich vor allem die Moderation der Entscheidungsprozesse im zerstrittenen Kollektiv und das Aufzeigen einer Perspektive über den Konkurs hinaus von Bedeutung gewesen sein. Die Mitarbeiter, die blieben, setzten ihren Kritikern entsprechend die Feststellung entgegen, dass der Betrieb „Grundlage für unseren Lebensunterhalt“ sei und „so geführt werden müsse, dass unsere jeweiligen materiellen Bedürfnisse durch unsere Arbeit gesichert werden können.“54 An anderer Stelle erläuterten sie in eigener Sache, dass die Absage an überhöhte Utopien schon seit 1983 Arbeitsgrundlage des Kollektivs gewesen sei; stattdessen habe eine freundlichere, rücksichtsvollere und vernünftigere Zusammenarbeit im Betrieb dem Einzelnen Kraft zur Kritik von und Praxis gegen die kapitalistischen Verhältnisse erlauben sollen. Nicht einmal das sei mehr möglich gewesen in einer Atmosphäre, in der endlose Debatten zur Verschleppung von Entscheidungen geführt hätten und erfahrene langjährige Drucker regelmäßig von neuen Mitarbeiten überstimmt worden wären55 . Auf der Grundlage der neuen Regelungen sollten nun diese bescheidenen Ziele wieder erreicht werden; dazu waren vor allem klare Verantwortlichkeiten und geregelte Entscheidungsprozesse notwendig. Der Schritt in die (kollektive) Selbständigkeit ließ sich aus Sicht derer, die ihn wagten, deshalb in erster Linie als Normalisierung von Arbeitsprozessen verstehen, deren Kern eher in der Absage an übertriebene Flexibilisierung und dem Wunsch nach innerbetrieblicher sowie rechtlicher Regulierung lag als in einer Blaupause für ein sich entwickelndes gesellschaftliches Leitbild des „unternehme53
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Vgl. Constantin Bartning, Frühlingstage in Berlin, in Contraste 34 (Juni 1987), S. 6; ders., Das erste Dutzend ist voll, in ebenda 38 (November 1987), S. 2. Besonders ausführlich schildert Bartning seine Vorstellungen zur Entwicklung von Kollektivbetrieben in ders., Ziele und Unternehmenskultur. Zitat aus dem Betriebskonzept der Neuen Bundschuh GmbH, in: Anon., schwarz auf weiß. Vgl. Erklärung einiger MitarbeiterInnen von Bundschuh, in: FabrikRundBrief 6 (Oktober 1987), S. 4–5 (Archiv für soziale Bewegungen Freiburg 2.4.2 II).
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rischen Selbst“. Die soziale Praxis des alternativen Arbeitens in Verbindung mit dem Selbstverständnis als politisches Projekt hatte die verbleibenden BundschuhBeschäftigten zur Neuentdeckung ihres Betriebs als Ort geführt, der in ihrer eigenen Sprache schlicht auf den Begriff „Arbeit“ gebracht werden konnte – mit deutlicher Distanz zu überhöhten Selbstverwirklichungsidealen oder Vorstellungen von alternativer Arbeit als ganzheitlicher Lebensform56 . In mancher Hinsicht folgte die Sanierung folglich einer dezidierten Produzenten- und Arbeitnehmerlogik; sie zielte insbesondere auf die Reduktion von Risiken und verzichtete auf demonstrative Figuren der Selbstmotivation und Selbstaktivierung. Ihr Modus war nicht der revolutionäre Aufbruch, sondern das desillusionierte „Dennoch“. Entgegen der Darstellung der Freiburger Kritiker offenbarte der Sanierungsprozess insgesamt daher nicht, dass die „Alternativbetriebe den Abbau von 150 Jahren erkämpfter, garantierter ArbeiterInnenrechte vorangetrieben“ hatten57 . Vielmehr lässt sich am Freiburger Beispiel ablesen, wie sehr die selbstverwalteten Betriebe versuchten, angesichts der Erfahrung mit ihren wirtschaftlichen Krisen und den schlechten Arbeitsbedingungen ihrer Mitarbeiter durch die Schaffung tragfähigerer wirtschaftlicher Grundlagen an die Errungenschaften sozialstaatlich und tarifvertraglich geregelter Arbeitsbedingungen anzuknüpfen. Der erste Schritt zur eigenen Rettung bestand in der Regel in der Bitte um Hilfe innerhalb des Alternativen Milieus selbst. Dort hatte sich eine Expertengruppe formiert, die mit ihrem Fachwissen kurzfristig eingreifen und insbesondere finanzielle Unterstützung vermitteln konnte. Im zweiten Schritt ging es dann um die Schaffung von betrieblichen Strukturen, die den wirtschaftlichen Zwängen, vor allem aber auch den sozialen Bedürfnissen der alternativen Beschäftigten entsprachen. Mit ihren alternativen Beratern, Sanierern und Verbänden diskutierten die Beschäftigten Mitte der achtziger Jahre – neben Fragen der Finanzierung – deshalb in erster Linie Themen wie die Altersvorsorge in alternativen Projekten, die Gestaltung von Generationswechseln, den Gesundheitsschutz am alternativen Arbeitsmarkt sowie die gezielte Weiterentwicklung der inneren Organisation, um zentralen Problemen des alternativen Arbeitslebens (hohe Arbeitsbelastung, Stress, ungeregelte und bisweilen lange Arbeitszeiten, gerechte Lohnstrukturen und die Einbindung aller Kollektivmitglieder in die gesetzlichen Kranken- und Sozialversicherungssysteme) gerecht werden zu können58 . Dabei handelte es sich prinzipiell um eher typische Existenzgründungsprobleme, die sich bei vie56
57 58
„Spätestens seit der Übernahme der Druckerei durch die Belegschaft im Jahre 1983 nahmen wir jedoch allmählich Abschied von der Druckerei als einem vermeintlich politischen „Projekt“ und begannen uns mit der minder utopischen Tatsache zu arrangieren, dass in der Druckerei vor allem Arbeit auf der Tagesordnung stand.“ Aus: ebenda, S. 5. Anon., schwarz auf weiß. Vgl. z. B. Schwerpunkt „Soziale Absicherung in Kollektivbetrieben“, in: Contraste 16 (Januar 1986); Schwerpunkt „Generationskonflikte/Generationswechsel“, in: ebenda 18 (März 1986) und 20 (Mai 1986); Gunar Seitz, Gesundheit und Selbstverwaltung, in: ebenda 28 (Januar 1987), S. 2.
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len (auch nicht-alternativen) Kleinbetrieben nach einer ersten enthusiastischen Gründerphase relativ schnell einstellen. Unbestreitbar lässt sich auch die Anpassung des „Traums vom Gegenmodell“ an die kapitalistische Marktökonomie beobachten, wie sie im Umfeld des Netzwerks Selbsthilfe schon Ende der achtziger Jahre als Normalform der Entwicklung alternativer Betriebe skizziert wurde59 . Ganz sicher aber ging aus den Antworten, welche die meisten selbstverwalteten Betriebe im Laufe der achtziger Jahre auf ihre wirtschaftlichen Probleme fanden, kein Signal zu einer neoliberalen Erneuerung des Kapitalismus oder zu einer Radikalisierung bestehender Motivations- und Personalführungsstrategien im Bereich der Produktivitätssteigerung aus. In erster Linie wollten die Alternativprojekte sich und ihren Mitarbeitern eine dauerhafte berufliche und soziale Perspektive geben. Ihr Arbeitsverständnis war in diesem Zusammenhang weniger von antikapitalistischer Arbeitsverweigerung oder von postmaterialistischen Selbstentfaltungsidealen geprägt als vom Traum guter Arbeitsbedingungen in selbstverwalteten Normalarbeitsverhältnissen, die durch einen zunehmend alternativ durchdrungenen Staat reguliert (und finanziert bzw. zumindest unterstützt) werden sollten. Alternative Unternehmensberater wie Constantin Bartning oder die Experten der Netzwerke agierten in der Krise des antikapitalistischen Experiments entsprechend nicht als Broker eines unternehmerischen Aufbruchs, der die Beteiligten in die strukturelle Überforderung der permanenten Innovation und Selbstoptimierung führte, die Ulrich Bröckling als zentrale Momente neoliberaler Selbsttechniken identifiziert. Legt man Bröcklings Begriffe zugrunde, erscheinen sie eher als Vertreter einer buchhalterischen „Rational-choice-Vernunft“, die die bisweilen selbstzerstörerische Dynamik alternativer Experimente bremsten und ihren revolutionären Impetus in einen sozial regulierten Reformismus überführten60 . Als solche waren sie vielleicht ebenfalls Agenten des Kapitalismus – seinen neuen Geist predigten sie nicht. Die Krise der alternativen Betriebe und ihre Bewältigung leistete folglich weniger Aufbauhilfe für die New Economy, sondern sorgte eher für die Wiederentdeckung eines alten Bekannten: des Märkte regulierenden Sozialstaats. 59
60
Sosna, Netzwerk Selbsthilfe, S. 305; vgl. auch Klaus Gretschmann, Schattenwirtschaft und Alternativökonomie – Wegbereiter einer dispositiven Wirtschaft?, in: Johannes Berger u. a. (Hrsg.) Selbstverwaltete Betriebe in der Marktwirtschaft, Bielefeld 1986, S. 61–77, bes. S. 69–70. Dass dieser Prozess der Anpassung relativ erfolgreich ablief, dokumentierte Mitte der neunziger Jahre eine Studie zu hessischen Alternativbetrieben, die mehrere hundert bereits neun Jahre zuvor befragte Betriebe erneut untersuchte: Nur wenige Betriebe waren komplett verschwunden, aber in weit über zwei Dritteln der Betriebe waren die Kollektivmitglieder und Beschäftigten inzwischen sozialversichert. Vgl. Heider, Selbstverwaltete Betriebe, S. 518. Vgl. neben Bröckling, Das unternehmerische Selbst, passim, besonders seine pointierte Zuspitzung der Figur des unternehmerischen Selbst in ders., Jeder könnte, aber nicht alle können. Konturen des unternehmerischen Selbst, in: Mittelweg 36/11 (2002), S. 6–26 (Zitat auf S. 17).
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Leistung, Qualität und Qualifizierung als Themen der alternativen Wirtschaft Selbst bei aller eingestandenen Ernüchterung wollten und konnten die Beschäftigten in alternativen Projekten aber ihren Anspruch auf Andersartigkeit nicht vollkommen aufgeben. Schon aus ökonomischen Gründen war das nicht ohne weiteres möglich, denn die Betriebe waren nicht zuletzt auf die positive Wahrnehmung angewiesen, die mit dem Anspruch auf „anderes Arbeiten“ einherging – sie mussten sich von klassischen Unternehmen unterscheiden, um ihre alternativen Kunden zu binden und forderten die Unterstützung und Solidarität aus dem Milieu nicht selten auch explizit ein61 . Umso schwerer wog der Vorwurf, es handele sich bei den Betrieben im Grunde um „stinkkommerzielle Läden“, die jeden Anspruch auf gesellschaftliche Veränderung aufgegeben hätten62 . Schlimmer noch war die Wahrnehmung, dass die „neuen Selbständigen“ der alternativen Szene nichts anderes vorlebten als die Realisierung vermeintlich neuer gesellschaftlicher Leitbilder wie „Leistung, Selbständigkeit und Verantwortlichkeit“, die insbesondere nach der Bonner Wende von 1982/83 zunehmend mit der Politik der schwarz-gelben Bundesregierung unter Helmut Kohl verbunden wurden63 . Vor diesem Hintergrund kamen die Akteure in Alternativprojekten nicht umhin, immer wieder ihr spezifisches Leistungsverständnis, die besondere Motivation zur Arbeit in alternativen Zusammenhängen und den eigenen Idealismus explizit herauszustellen. Zumindest in ihren Selbstbildern wollten die Alternativen der mittleren und späten achtziger Jahre nach wie vor anders leben und anders arbeiten. Angesichts der Veränderung der innerbetrieblichen Strukturen und der vielfältigen Erfahrung von Scheitern und Krisen konnte eine derartige Selbstdarstellung allerdings immer weniger glaubhaft auf das Ziel von individueller Selbstverwirklichung und Autonomie durch die ganzheitliche Erfahrung einer völlig neuen Arbeits- und Lebensform verweisen. Die Lösung lag dagegen in einem wachsenden Rekurs auf die Wirkung des eigenen Tuns, der um den Begriff der „Qualität“ in Verbindung mit einer starken Vernetzung mit den Kunden und der Wirkung der eigenen Produkte kreiste. In mancher Hinsicht war diese 61
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Vgl. z. B. Klaus Wagner, Echt Bio. Die Zukunft des Naturkosthandels, in: Contraste 33 (Juni 1987), S. 11. Die Abhängigkeit vom „Sympathisantenmarkt“ der alternativen Projekte beschreibt schon Joseph Huber, Wer soll das alles ändern. Die Alternativen der Alternativbewegung, Berlin 1980, S. 45–46. Für die Freiburger Bundschuh Druckerei etwa wurde umgekehrt zum Problem, dass gerade die alternativen Kunden besonders günstige Preise für ihre Druckerzeugnisse einforderten. Vgl. Schradi, Das Loch im Bundschuh. Anon., Ich bin klein, mein Herz ist rein, in: Karlsruher Stadtzeitung 20 (Oktober 1979), o. S. [S. 12]. Lutz Wende, Der Lockruf des Geldes, in: Contraste 37 (Oktober 1987), S. 7.
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Reaktion Mitte der achtziger Jahre bereits klassisch. Schon 1980 druckte die Karlsruher Stadtzeitung ein Interview mit „Ingrid und Ecki“, die gemeinsam mit anderen einen Bauernhof mit Kneipe gekauft hatten, um ökologische Landwirtschaft, Töpferei und Gastronomie zu betreiben, in der Praxis aber gezwungen waren, den Betrieb durch klassische Jobs und Nebenverdienste unter schwierigen Bedingungen aufrecht zu erhalten. Kritisch konfrontiert gestanden beide sofort ein, dass ihre momentane Lebensweise und ihre Ansprüche an alternatives Arbeiten nicht zusammenpassten, argumentierten dagegen aber mit der Bedeutung ihrer ökologischen Produkte bzw. der Hochwertigkeit ihrer Waren sowie der Vermittlung von Wissen um landwirtschaftliche Produktionszusammenhänge und einem „Bewusstsein“ für Natur gerade bei Jugendlichen in der Umgebung. Die dafür notwendige „viel Zeit und Arbeit“, die damit verbundenen hohen Kosten der Erzeugnisse und alle wirtschaftlichen Sachzwänge ließen sich so rechtfertigen; das Produkt und die dafür notwendige Arbeit erschienen als Wert an sich64 . Nicht nur den Gesprächspartnern der Stadtzeitung, die zunehmend kritischer über alternative Arbeitsprojekte berichtete und sich in der gleichen Ausgabe scharf gegen das neue Arbeitsethos der Alternativen abgrenzte, erschienen derartige Positionen paradigmatisch. Auch die meisten der vom Netzwerk Selbsthilfe oder vom Netzwerk Dreyeckland geförderten Projekte sahen bereits Anfang der achtziger Jahre ihre Wirkung weniger in der antikapitalistischen Organisationsform, sondern im besonderen Charakter ihrer Angebote und Produkte, und lassen „Ecki und Ingrid“ daher als typische Vertreter des Milieus erscheinen65 . In den sich professionalisierenden Netzwerken und alternativen Projektverbänden wurden derartige Produkt- und Qualitätsorientierungen zunehmend deutlicher. Der gesellschaftliche Anspruch zahlreicher Alternativbetriebe lag immer weniger auf einer grundlegenden Überwindung kapitalistisch-industrieller Strukturen, sondern in der von „einem langen Atem“ getragenen qualitativen Weiterentwicklung der Gesellschaft durch die Bereitstellung von vorbildlichen, oft naturnahen Produkten oder von Dienstleistungen, die in klassischen Strukturen etwa des staatlichen Bildungs- und Gesundheitssystems nicht erzeugt bzw. angeboten werden konnten. Das galt naturgemäß besonders für viele Bildungsund Selbsthilfeprojekte, die etwa im Gesundheitsbereich, in der Jugendarbeit oder in der Betreuung von Opfern sexueller Gewalt tätig waren66 , sowie für Naturkostläden oder andere Handelsinitiativen, die ohnehin vor allem die andere
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Gespräch mit Ingrid und Ecki, in: Karlsruher Stadtzeitung 22 (Frühjahr 1980), S. 7–11. Vgl. die zahlreichen Projektbeschreibungen in den frühen Rundbriefen des Netzwerk Selbsthilfe aus den Jahren 1979–1982 und die entsprechenden Rundbriefe des Netzwerk Dreyeckland von 1980 bis 1984. Vgl. Schaper, Sozial- und beschäftigungspolitische Effekte, bes. S. 166–175.
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Qualität der von ihnen vertriebenen Waren in den Mittelpunkt stellten67 . Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Netzwerke sah 1987 etwa in der „Beschränkung auf ökologische Produkte und umweltgerechte Produktionsweisen“ bei aller Professionalisierung und ökonomischer Ausrichtung einen der zentralen Kernpunkte der selbstverwalteten Betriebe, die bisher gewahrt wurden; aufgezählt wurden daneben ein gegenseitiges Kooperationsgebot, die Überwindung der Geschlechterdifferenzen und nur noch sehr allgemein: „keine Hierarchien“68 . Entsprechend betonten auch eher handwerkliche Betriebe wie selbstverwaltete Schreinereien, Druckereien oder die vereinzelten technischen Projekte immer stärker den alternativen Charakter ihrer Produktionsverfahren oder den ökologischen Wert ihrer Produkte, um sich von herkömmlichen Konkurrenzbetrieben abzusetzen69 . Die Besonderheit des eigenen Arbeitens und Lebens lag dementsprechend häufig kaum noch in der autonomen Selbstverwaltung, sondern in der Verbindung von hoher Leistungsbereitschaft, ebenso sinnvollen wie hochwertigen Produkten und dem eigenen politischen Engagement jenseits des Betriebs. Man wollte explizit „gute Arbeit“ leisten70 . Viele Pragmatiker hielten ihren immer gegenwärtigen Kritikern daher die Einzigartigkeit der Fähigkeiten und Produkte vor Augen, wenn es um die Verteidigung des eigenen Weitermachens in aus anderer Perspektive zunehmend „normalen“ kommerzialisierten Projekten ging. Die Qualität alternativer Produkte hing jedoch wesentlich mit Fragen der Qualifizierung zusammen, die für die Beschäftigten in Alternativprojekten im Laufe der achtziger Jahre zu entscheidenden Kriterien für deren besonderen Charakter wurden. Lange hatten Chaos, Schlamperei und Unzuverlässigkeit die Wahrnehmung alternativer Initiativen begleitet; in vielen Projekten und Betrieben arbeiteten oft relativ junge Autodidakten, die ihre Fachkenntnisse vor allem in der täglichen Arbeitspraxis erweiterten71 . Dass diese informelle Qualifizierung in vielen Alternativbetrieben oft erstaunlich gut funktionierte, war 67
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Für den Naturkosthandel stellte sich entsprechend früh das Problem, dass Bioprodukte auch in herkömmlichen Supermärkten verkauft werden konnten; in der „Contraste“ protestierten daher schon 1987 die Vertreter des Selbstverwaltungsgedankens gegen die einseitige Produktorientierung auch der kleinen Bioläden. Vgl. Jochen Reinalda, Naturkosthandel in der Zerreißprobe, in: Contraste 33 (Juni 1987), S. 10. Vgl. Gaby Elias, BAG Netzwerke: Machen wir’s in Partnerschaft, in: Contraste 39 (Dezember 1987), S. 13. Bei den Druckereien lässt sich dies etwa an den Aktivitäten des Vereins für selbstverwaltete grafische Betriebe ablesen. Allerdings stritten alternative Druckereien in Hessen 1987 noch ganz explizit um die Frage der inneren Strukturen und das eigene Verständnis als antikapitalistische Betriebe innerhalb der Alternativbewegung. Auch hier spielten allerdings Qualitätsaspekte eine Rolle. Vgl. Wie man sich bettet, in: Contraste 18 (März 1986), S. 10–11. So z. B. die Selbstdarstellung der Holzwerkstatt Gottenheim GmbH, in: Netzwerk Dreyeckland, Rundbrief 9 (Oktober 1981), S. 5. Vgl. Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft, S. 340.
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eines der Ergebnisse, die zwei „alternative Berater“ 1985 im Auftrag des Berliner Senats im Rahmen einer größeren Untersuchung zu Entwicklungspotentialen in Kreuzberg herausstellten. Denn die wirtschaftlichen Probleme zwangen die Beschäftigten nicht nur zur Auseinandersetzung mit Arbeitsmotivation und Leistungsbereitschaft, sondern auch zur gezielten Erweiterung von Fachkenntnissen und dem Erwerb von geeigneten Qualifikationen; die hohe Identifikation mit dem Betrieb erhöhte dabei die Motivation zur Fortbildung72 . Der eigene Anspruch, hochwertige Leistungen und Produkte anzubieten, gesellschaftliche Anreize und oft auch individuelle Lebensentwürfe der Beschäftigten verstärkten diese Entwicklung noch weiter. Gerade zu Beginn der achtziger Jahre waren staatliche Finanzierungs- und Fördermöglichkeiten für alternative Projekte in hohem Maße an Qualifizierungsmaßnahmen gebunden. Öffentliche Kredite und Finanzhilfen, insbesondere auch die Bewilligung von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, waren oft Teil von Programmen zur Bekämpfung der steigenden Arbeitslosigkeit und zielten häufig auf die vorübergehende Etablierung eines öffentlich geförderten „zweiten Arbeitsmarkts“, der die Projektbeschäftigten im Idealfall kurz- bis mittelfristig für den eigentlichen Arbeitsmarkt qualifizieren sollte73 . Vor allem bei der Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit schien Politikern und Arbeitsmarktexperten die Förderung von alternativen Projekten zumindest vorrübergehend sinnvoll. Ganz besonders galt das für die alternativen Projekte, die aus Selbsthilfeversuchen zur Überwindung von Arbeitslosigkeit entstanden waren oder gezielt Lehr- und Ausbildungsmöglichkeiten für arbeitslose Jugendliche schaffen wollten. Schon früh suchten derartige Ausbildungs- und Berufsförderungsprojekte über die Netzwerkinitiativen nach qualifiziertem Personal mit Meisterbrief oder Ausbildungsbefähigung sowie nach erfahrenen Erziehern und Sozialpädagogen, die bereit waren, sich auf die Arbeitsbedingungen in den oft gerade erst entstehenden Initiativen einzulassen. Verbunden mit dieser „Meistersuche“ war die Diskussion über die notwendige Qualität einer alternativen Ausbildung, die sich von klassischen Lehren unterscheiden sollte, zugleich aber dennoch die notwendigen Fachkenntnisse für eine formal anerkennungswürdige Qualifikation vermitteln musste74 . Auch unabhängig von formalen Ausbildungsgängen spielte die Frage 72
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Vgl. Uwe Abraham/Michael Makowski, Wirtschaftsstrategien für einen Stadtteil (Auszug), in: Contraste 16 (Januar 1986), S. 10–11. Zu ähnlichen Ergebnissen kam auch Gerhard Fröhlich, Paradoxe Lerneffekte? Qualifizierungsfunktionen alternativer Projekte, in: Henrik Kreutz (Hrsg.), Pragmatische Soziologie. Beiträge zur wissenschaftlichen Diagnose und praktischen Lösung gesellschaftlicher Gegenwartsprobleme, Opladen 1988, S. 183–193. Vgl. Grottian, Steuergelder für Alternativprojekte; Manfred Kaiser, „Alternativ-ökonomische Beschäftigungsexperimente“ – quantitative und qualitative Aspekte, in: Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung 18 (1985), S. 92–104. Beispiele für die „Meistersuche“ lassen sich in frühen Rundbriefen des Berliner Netzwerk Selbsthilfe finden. Vgl. etwa die Rubrik „Netzwerk-Vermittlungsdienst“, Rundbrief 5 (Mai
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der Qualifikation aller Mitarbeiter für alle Tätigkeitsbereiche innerhalb des Betriebs von Anfang an eine zentrale Rolle für das Selbstverständnis der meisten alternativen Projekte, weil aus Sicht der Beteiligten nur so vermieden werden konnte, dass Informationsvorsprünge bei Einzelnen und versteckte Hierarchien entstünden, die das Ideal der Selbstverwaltung in Frage stellten75 . Derartige Überlegungen erhielten im Zuge der Professionalisierung der alternativen Betriebe eine immer größere Bedeutung. Insbesondere in den neben den Netzwerkorganisationen entstehenden alternativen Branchenverbänden – außer über den bereits erwähnten Verein der selbstverwalteten grafischen Betriebe berichtete „Contraste“ allein in den Jahren 1986/87 über Vereinsgründungen oder Tagungen von selbstverwalteten Schreinereien, dem allerdings schon lange bestehenden Verband linker Buchhandlungen, dem neu entstehenden Bundesverband Naturkost sowie über etliche kleinere landes- oder bundesweite Vernetzungstreffen etwa von selbstverwalteten Festivalveranstaltern oder Tagungshäusern – wurden fachliche und betriebswirtschaftliche Fortbildungs- und Weiterbildungsangebote sowie die Frage der selbstverwalteten Ausbildung intensiv diskutiert76 . Jeder der Verbände sah in der Organisation von fachbezogenen Bildungsseminaren eine seiner zentralen Aufgaben und rechtfertigte seine Existenz (und die Einrichtung von Geschäftsführerpositionen) mit umfangreichen Seminarprogrammen. Gleichzeitig etablierten sich am ohnehin ausgedehnten alternativen Bildungsmarkt zunehmend auch eher praktisch-betriebswirtschaftliche Einrichtungen, die gezielt Seminarangebote für selbstverwaltete Betriebe schufen77 . Insbesondere die stärker handwerklich arbeitenden alternativen Branchen standen schließlich vor der Herausforderung, ihre Betriebe auch als Ausbildungsstätten zu etablieren. So diskutierte man auf „Schreinertreffen“ ausführlich über die betrieblichen Voraussetzungen, die für eine sinnvolle Gestaltung der Ausbildung erfüllt sein müssten, sah sich aber auch in der besonderen Verantwortung, durch alternative Formen der Ausbildung positiv für die „Zukunft des Berufs“ zu wirken. Ganz selbstverständlich erwarteten die Kollektive im Gegenzug für
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1979), S. 28. Den Begriff „Meistersuche“ benutzte das Berliner Handwerkskollektiv Werkhaus, das gemeinsam mit anderen Renovierungskollektiven einen Antrag auf Unterstützung für diese Suche stellte. Vgl. ebenda, S. 31. Für frühe Bemühungen um eine „alternative Ausbildung“ vgl. etwa die Selbstdarstellungen der Projekte „Foto-Ausbildungs-Kollektiv“ und Arbeitsgemeinschaft Bethanien e. V.“, in: Rundbrief 6 (Sommer 1979), S. 21–22. Vgl. K. Zehetner, Zur Geschichte und Aktualität betrieblicher Selbstverwaltung, in: Lothar Bertels/Hans-Günter Nottenbohm, . . . außer man tut es! Beiträge zu wirtschaftlichen und sozialen Alternativen, Bochum 1983, S. 7–19, bes. S. 19. Entsprechende Hinweise und Berichte finden sich in Contraste 16 (Januar 1986); 18 (März 1986); 24 (September 1986); 28 (Januar 1987); 33 (Juni 1987); 34/35 (Juli/August 1987); 36 (September 1987); 37 (Oktober 1987) und 38 (November 1987). Vgl. etwa Fritz Wartenpfuhl, Unser Beitrag zur Bildungsoffensive. Institut für Selbstorganisation und betriebliche Selbstverwaltung“, in: Contraste 36 (September 1987), S. 4 (dort auch Überblick über das Seminarprogramm).
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die besondere Einbeziehung der Lehrlinge in die Selbstverwaltung ein hohes Maß an Identifikation und den Verzicht auf „pünktlichen Feierabend“ sowie die Bereitschaft zu harter Arbeit („sich nicht alles so locker vorstellen“ bzw. „sich selbst auch ein bisschen als ‚klein‘ akzeptieren“)78 . Geht man zu weit, wenn man in derartigen Aussagen eine Hinwendung zu einem klassischen Berufsethos erkennt, das „Qualitätsarbeit“, die fachliche Qualifikation und die individuellen Fähigkeiten als zunehmend wichtigere Grundlagen eines alternativen Arbeitsethos erkennt, und sich von klassischen Vorstellungen etwa des Handwerkerstolzes nur wenig unterschied79 ? Zumindest für die stärker handwerklichen Betriebe im alternativen Bereich lässt sich das kaum bestreiten, aber auch in den weit zahlreicheren Projekten im Dienstleistungsbereich fand zumindest eine „Verberuflichung“ der alternativen Arbeit statt, die sich fast zwangsläufig aus dem ökonomischen Druck zur Steigerung der eigenen Effizienz und der Produktivität der Beschäftigten ergab. So zeigt etwa die bereits angeführte Studie aus Hessen aus den neunziger Jahren in Einklang mit vielen zeitgenössischen Selbstbeschreibungen alternativer Betriebe, dass es in den hessischen Alternativprojekten eine ausgeprägte Entwicklung hin zur Beschäftigung von Fachkräften mit klassischer bzw. einschlägiger Ausbildung, aber politisch linkem Profil gab. Bis 1994 war in den allermeisten Betrieben die fachliche Qualifikation zur wichtigsten Grundanforderung bei Neueinstellungen geworden, während persönliche und politische Kriterien in der neun Jahre früher durchgeführten Erststudie noch die entscheidende Rolle gespielt hatten80 . Ähnliches ließ sich auch anhand der Stellenanzeigen in der alternativen „tageszeitung“ (taz) feststellen81 . Schließlich scheint die wachsende Betonung der „Qualifizierung“ im Kontext der alternativen Projekte auch mit individuellen Selbstbildern der Aktiven verbunden gewesen zu sein, die mit dem Engagement in selbstverwalteten Strukturen und der Beteiligung am alternativen Leben stets auch den Anspruch an eine persönliche Weiterentwicklung, eine Erweiterung des Bewusstseins und ein Wachstum an menschlicher, aber eben auch beruflicher Kompetenz verbanden. So lassen sich die oben skizzierte Beschreibung des eigenen Lebenswegs und die 78 79
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Zitate aus: Schreinertreffen, in: Contraste 16 (Januar 1986), S. 13. Mit dem Hinweis auf „klassische Vorstellungen“ von Beruf, Arbeitsethos und Handwerksstolz ist nicht impliziert, dass derartige Konzepte im 19. und 20. Jahrhundert ihrerseits keine fundamentalen Wandlungsprozesse durchliefen. Die Nähe des „alternativen Arbeitsethos“ zu mit solchen Begriffen verbundenen Wertvorstellungen macht im Gegenteil weiterführende Studien zum langfristigen Wandel des Arbeitsethos notwendig. Vgl. Nina Verheyen, Bürgerliches Leistungsethos? Geschichtswissenschaftliche Korrekturen einer irreführenden Formel, in: Denis Hänzi (Hrsg.), Erfolg. Konstellationen und Paradoxien einer gesellschaftlichen Leitorientierung, Baden-Baden 2014, S. 45–61. Vgl. Heider, Selbstverwaltete Betriebe, S. 518. Vgl. Sosna, Netzwerk Selbsthilfe, S. 305–306.
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Selbstdeutung der „Kollektivkarriere“ von Constantin Bartning als „alternativer Bildungsroman“ lesen, dessen Elemente – die frühe Radikalisierung und der Bruch mit vermeintlich bürgerlichen Lebensläufen, das Zugeständnis persönlicher und politischer Fehltritte (im Falle Bartnings das eigene autoritäre Verhalten bei Oktoberdruck), und die spätere Anpassung oder Etablierung in Form einer individuell konsequenten Weiterentwicklung nicht zuletzt durch die Aneignung von Wissen und fachlicher Kompetenz – mit Blick auf die 68er Generation und die Alternativen der siebziger und achtziger Jahre insgesamt nicht untypisch wirken. Die Sehnsucht nach Wärme und Gemeinschaft sowie der „Erfahrungshunger“ der Alternativen, das Bedürfnis nach Authentizität auch in den Lebensund Arbeitsformen konnte bei aller expliziten Abgrenzung von „Leistungdruck, Mühe, Entbehrung, Selbstbeschränkung und Aufschub als Requisiten aus dem Arsenal bürgerlichen Wohlverhaltens“ relativ leicht in Verhaltensmuster kippen, in denen Fleiß und Selbstaufopferung im Namen der Sache, individuelle Fähigkeiten, Leistungsbereitschaft und der stete Zugewinn an Wissen und Handlungskompetenz zu zentralen Motiven der persönlichen Sinnstiftung wurden82 . Zumindest in den „Contraste“-Artikeln von Bartning erfolgten die persönliche Sinnstiftung und die Rechtfertigung der eigenen Entwicklung im hohen Maße über derartige Aspekte, wobei politische Beteiligung und berufliches Engagement, Persönlichkeitsentwicklung und fachliche Qualifikation insgesamt eine geschlossene Einheit auf dem Weg zu individueller und letztlich auch wirtschaftlicher Unabhängigkeit bildeten. Der nüchterne Begriff der Qualifizierung entsprach im Kontext der alternativen Projekte der ernüchternden Realisierung, dass der hohe Anspruch des „anders leben – anders arbeiten“ im Arbeitsalltag allzu oft klassische Arbeitstugenden erforderte, drückte gleichzeitig aber auch den nicht aufgegebenen Anspruch auf Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung aus.
Fazit Leistungsbereitschaft, eine Orientierung auf Qualitätsarbeit und individuelle Qualifizierung für eine zunehmend als Beruf gedachte Tätigkeit – das waren Tugenden, die in der sozialen Praxis der alternativen Projekte gegen Mitte der achtziger Jahre eine immer wichtigere Rolle spielten. Ihre wachsende Betonung folgte den Krisenerfahrungen vieler Einzelprojekte und der alternativen Ökonomie insgesamt, die schon in den späten siebziger Jahren zu einer Fundamentalkritik an alternativen Arbeitsexperimenten und zum verbreiteten Vorwurf geführt hatten, 82
Zu den für das alternative Milieu insgesamt kennzeichnenden Motive der Authentizität, Gemeinschaft, Wärme und des Erfahrungshungers vgl. Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft, passim; Zitat auf S. 120.
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dass die neuen ganzheitlichen Arbeits- und Lebensformen am Ende nichts anderes seien als neue und sogar radikalisierte Wege der kapitalistischen Ausbeutung. Da diese Kritik auch nach 1980 nicht abbrach, blieben die alternativen Arbeitstugenden gekoppelt an die permanente Selbstkonfrontation mit dem Vorwurf, den eigentlichen Idealen alternativer Arbeit nicht nur nicht gerecht zu werden, sondern geradezu diametral entgegengesetzt zu sein. Auch deshalb konnten die Antworten, die in vielen Alternativbetrieben auf ökonomische Sachzwänge und permanente Finanzierungsprobleme gefunden wurden, den Anspruch auf gesellschaftliche Veränderung und individuelle Emanzipation nicht hinter sich lassen. Fleiß und Leistung waren auch jetzt stets an „die Sache“ gebunden und dienten nicht in erster Linie persönlicher Bereicherung und Gewinnmaximierung, sondern dem Überleben eines Projekts, das es im Sinne aller Beteiligten und der sozialen Umwelt zu verstetigen galt. Qualitätsarbeit – ob verbunden mit der ökologischen Bedeutung der Produkte und alternativer Herstellungsverfahren oder mit der sozialen Relevanz der vielfältigen alternativen Bildungs-, Beratungsund Betreuungsangebote – zielte auf die Veränderung der Gesellschaft, in dem sie neue Angebote schuf, andere Konsumerwartungen bediente und in enger Beziehung mit denjenigen erbracht wurde, die ihre Produkte und Dienstleistungen kauften oder in Anspruch nahmen. Das Gebot der Qualifizierung galt der Fähigkeit der alternativen Betriebe, wirtschaftlich zu funktionieren und fachlichsachgerecht zu arbeiten; zugleich ermöglichte es individuelle Entwicklung und Selbstentfaltung, wenn auch in einer Form, die alle Hoffnungen auf eine individuelle Überwindung kapitalistischer Zwänge im Hier und Jetzt zugunsten einer langfristigen Reform von Lebensentwürfen und Arbeitsformen aufgegeben hatte. Kaum zu bezweifeln ist daher, dass das, was radikale Kritiker zunehmend als „alternatives Arbeitsethos“ verächtlich machten, zunächst wider Willen eher klassische Leistungsideale inkorporierte und in den praktischen Organisationsexperimenten der alternativen Projekte neue Wege eröffnete. Dabei spielten Momente wie die Überwindung formaler und starrer Hierarchien, die produktive Entfaltung der persönlichen Kreativität der einzelnen Mitarbeiters, also letztlich die effiziente Nutzung der „human resources“ des Unternehmens, und der Anspruch auf einen äußerst hohen Grad an Selbstorganisationsfähigkeit und Flexibilität seitens eines Teams, das sich der eigenen Verantwortung für das Betriebsergebnis jederzeit bewusst war, durchaus eine wichtige Rolle. Die Krisenerfahrung in vielen Projekten und die Antworten, die Alternativbetriebe auf die Herausforderung fanden, sich in einer auf Effizienz und Konkurrenz beruhenden Marktwirtschaft behaupten zu müssen, liefen aber letztlich nicht darauf hinaus, unternehmerische Tugenden unhinterfragt zu propagieren und allen Beteiligten gleich einem radikalisierten Existenzgründerseminar einzuimpfen. Vielmehr waren es gerade die Netzwerke, Branchenverbände und neuen Unternehmensberater innerhalb des alternativen Milieus, die in ihren Finanzierungs- und Sanierungsbemühungen zwar einerseits Effizienzorientierung und ökonomische
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Nüchternheit propagierten, andererseits aber Möglichkeiten aufzeigten, soziale Standards des vermeintlich zerstörerischen „Systems“ zumindest in greifbare Reichweite zu führen, auch wenn die prekäre Realität bei aller Stabilisierung und Verstetigung der ökonomisch rationalisierten Projekte in der Regel von ihren Beschäftigten verlangte, geringe Löhne und Sozialstandards auf längere Zeit zu akzeptieren. Mit ihrem Wissen um staatliche Finanzierungsmöglichkeiten und rechtliche Rahmenbedingungen förderten die neuen Netzwerke und Think Tanks der Alternativökonomie keine neoliberale Entfesselung unternehmerischer Energien, sondern folgten einer wachsenden Staatsorientierung innerhalb des alternativen Milieus, die nicht Zeichen eines Verzichts auf gesellschaftsverändernde Wirkung war, sondern sozialstaatliche Vorstellungen einschloss, welche auf Prinzipien der gesellschaftlichen Regulierung und Kontrolle unternehmerischer Freiheit beruhten. Mit Blick auf „den“ Wertewandel ergibt sich schließlich ein Bild, das sich nicht ohne weiteres in klassische Narrative der sozialwissenschaftlichen Wertforschung einordnen lässt. Unabhängig davon, ob man mit Ronald Inglehart eine „stille Revolution“ beobachtet, mit Elisabeth Noelle-Neumann den Verfall eines bürgerlichen Wertekanons beklagt oder entlang der Interpretation von Helmuth Klages einen Wertewandelschub zwischen 1965 und 1975 diagnostiziert – in jedem Fall geht die sozialwissenschaftliche Deutung der siebziger Jahre davon aus, dass sich ein fundamentaler Wandel der dominanten Einstellungen zu Arbeit und Leistung feststellen lässt, in dessen Verlauf „postmaterielle Werte“ oder „Selbstentfaltungswerte“ an Gewicht gewonnen, klassische Vorstellungen von Pflicht, Fleiß, Disziplin, Leistung, Verzicht aber nachdrücklich an Bedeutung verloren hätten83 . Darüber hinaus sind sich Historiker und Sozialwissenschaftler weitgehend einig, dass die Akteure und Anhänger der alternativen Milieus zumindest für die Bundesrepublik Deutschland diejenige soziale Gruppe bildeten, in der postmaterielle Werte eine besonders wichtige Rolle spielten und der zugleich für die Verbreitung und Verankerung entsprechender Werte eine zentrale Bedeutung zugesprochen werden muss. Betrachtet man die eingangs geschilderten idealtypischen Vorstellungen vom anderen Arbeiten und Leben als Ausgangspunkt der Entstehung der alternativen Ökonomie, lässt sich kaum bezweifeln, dass die alternativen Projekte durch und durch von postmateriellen Vorstellungen geprägt waren. Geht man aber mit Clyde Kluckhohns klassischer Definition von Werten als Vorstellungen von Wünschenswertem davon aus, dass diese sich nicht nur in expliziten Äußerungen wie z. B. in Programmschriften oder eben in Antworten auf die Fragekataloge demoskopischer Umfrageinstitute 83
Vgl. Ronald Inglehart, The silent revolution. Changing values and political styles among western publics, Princeton/New Jersey 1977; Elisabeth Noelle-Neumann, Werden wir alle Proletarier? Wertewandel in unserer Gesellschaft, Zürich 1977; Helmut Klages, Wertorientierungen im Wandel. Rückblick, Gegenwartsanalyse, Prognosen, Frankfurt a.M. 1984.
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niederschlagen, sondern ganz entscheidend auch in impliziten Vorstellungen und sozialen Praktiken verankert sind, rückt ein anderes Bild in den Vordergrund84 . Die ganz offensichtlich postmateriellen Diskurse über Selbstbestimmung, Partizipation und Demokratisierung im Alternativen Milieu wichen in der sozialen Praxis der Alternativprojekte ausgesprochen schnell eher materiellen Arbeitsidealen und Tugenden, die von den Beteiligten nicht nur als Folge von äußeren ökonomischen Zwängen widerwillig akzeptiert, sondern als angemessene Orientierungsmaßstäbe im Arbeitsprozess auch explizit rechtfertigt und eingefordert wurden. Kategorien wie Selbstdisziplin, Selbstaufopferung, Zuverlässigkeit und Pflichtbewusstsein erhielten im Zuge der Professionalisierung und der damit verbundenen Krisenbewältigung auf der Ebene der einzelnen Projekte wie innerhalb der sie umgebenden Netzwerke und Institutionen relativ rasch einen bemerkenswert hohen Stellenwert. Auch wenn diese Kategorien für die Beteiligten mit Vorstellungen von Selbstentfaltung und individueller Emanzipation durch eine Hinwendung zu Qualität und Qualifikation verbunden blieben, wäre diese Entwicklung falsch verstanden, wollte man in ihr letztlich lediglich eine „Wertsynthese“ erkennen, die Helmuth Klages bereits Mitte der achtziger Jahre als produktives Ergebnis des Wertewandelschubs prognostizierte, nämlich eine zu erwartende sinnvolle „Verkoppelung von Pflicht- und Akzeptanzwerten und von Selbstentfaltungswerten“85 . Vielmehr verweisen die Erfahrungen der Aktiven aus den alternativen Projekten weit grundsätzlicher auf das Spannungsverhältnis von individueller Selbstverwirklichung und einem Arbeitsethos, das in seiner klassischen Verbindung von Pflichterfüllung, Leistung, Disziplin und Aufstiegswillen durch fleißige Arbeit schon im 19. Jahrhundert immer auch auf die Emanzipation des Individuums gerichtet blieb und für den Einzelnen zugleich fast zwangsläufig in eine psychologische Überforderung führte86 . Beim Blick auf die soziale Praxis der alternativen Projekte findet sich jedenfalls weder ein klarer Beleg für einen auffällig tiefgreifenden Wandel der Arbeitsvorstellungen in Richtung Postmaterialismus noch für einen entscheidenden Durchbruch neoliberaler Subjekttechniken. Gerade dort, wo man die Vorreiter des Wertewandels vermuten könnte, stößt man insgesamt eher auf eine in mancher Hinsicht laute Revolution voller stiller Kontinuität. 84
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Vgl. Clyde Kluckhohn, Values and value-orientation in the theory of action: An exploration in definition and classification, in: Talcott Parsons/Edward A. Shiels (Hrsg.), Toward a general theory of action, Cambridge 1951, S. 388–433. Die Definition findet sich auf S. 395: „A conception, explicit or implicit, distinctive of an individual or a group, of the desirable which influences the selection from available modes, means and ends of action.“ Klages, Wertorientierungen im Wandel, S. 174. Vgl. Manfred Hettling/Stefan-Ludwig Hoffmann, Zur Historisierung bürgerlicher Werte. Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Der bürgerliche Wertehimmel. Innenansichten des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2000, S. 7–21; Manfred Hettling, Die persönliche Selbständigkeit. Der archimedische Punkt bürgerlicher Lebensführung, in: ebenda, S. 57–78.
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„Die Anderen“ und der Wertewandel. Japanische Bergarbeiter im Ruhrgebiet 1957–1965 „Ein Bergmann will ich werden, das ist ein Stand auf Erden, geachtet weit und breit. So ist mein ganzes Streben in meinem jungen Leben für jetzt und alle Zeit ein Echter auch zu sein, ich meid’ den falschen Schein. Kameradschaft will ich zeigen und abhold allem Feigen geb’ ich in Ehr’ als Unterpfand mein junges Herz dem Vaterland.“1
Mit diesem Gedicht schickte die Herner Bergwerksgesellschaft Hibernia AG in den 1950er Jahren ihre frisch ausgebildeten Knappen auf den Weg in ihr Berufsleben. Stolzes Standesbewusstsein, eine starke Identifizierung mit der eigenen Arbeit, lebenslange Hingabe an den einmal gewählten Beruf, Kameradschaft als zentraler Wert bergmännischer Tugend und der emotional aufgeladene Dienst an der imaginierten Gemeinschaft – repräsentiert durch das „Vaterland“ und den Staat, mit dem der Bergbau traditionell durch Privilegien und die staatliche Bergaufsicht verflochten war – sie, so wurde suggeriert, bildeten den Kern bergmännischer Arbeitstugenden. Sie zeichneten den „echten“ Bergmann aus. Arbeit nahm in dieser Vorstellung eine zentrale Position ein: Der Eintritt ins Berufsleben markierte die Grenze zum Erwachsenenleben. Sie machte den Jungen allmählich zum Mann und begleitete ihn sein ganzes Leben. Insofern implizierte die lebenslange Berufsausübung ebenso Treue wie Disziplin und die Bereitschaft, kontinuierlich Leistung zu erbringen. Ökonomische Motive spielten zwischen den hehren Idealen des Gedichts jedenfalls keine Rolle. Wo der Leistungswille aus der öffentlichen Anerkennung für den Beruf und dem eigenen Berufsstolz erwuchs, musste arbeiten lediglich um des Geldes willen als Herabsetzung der Berufswürde erscheinen. Diese gewissermaßen postökonomische Haltung verband sich gleichzeitig mit einer starken intrinsischen Leistungsmotivation, die auf die Vervollkommnung des Selbst hin angelegt war mit dem Ziel, einem 1
Bergwerksgesellschaft Hibernia (Hrsg.), Bergmännische Lehrzeit. Ausbildung und Erziehung zum berufsfreudigen und lebenstüchtigen Menschen, Herne 1954. Das Gedicht stammt von Hermann Katelhön.
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von außen – nämlich in diesem Fall von Unternehmensseite – vorgegebenen Idealtyp – dem „echten Bergmann“ – zu entsprechen. Die Frage, wie sich solche arbeitsbezogenen Werte wandelten2 , erhielt Anfang der 1970er Jahre durch die Studien des US-amerikanischen Politikwissenschaftlers Ronald Inglehart neue Relevanz und ist seitdem zu einem etablierten Forschungsfeld geworden. Inglehart ging davon aus, dass sich in den 1970er Jahren eine „stille Revolution“ vollziehe, da der Anteil von Menschen in industrialisierten Gesellschaften, die „postmaterialistisch“ eingestellt seien, immer weiter steige. Da Inglehart die Ursache für diesen homogenen Trend in der langen Periode wirtschaftlicher Prosperität vom Ende der 1940er bis in die 1970er Jahre hinein erkannte, nahm er an, dass der Anstieg postmaterialistischer Werte bereits zu Beginn dieses Zeitraums eingesetzt habe. Dementsprechend prognostizierte Inglehart neue Bedürfnisse der Beschäftigten, die die Anforderungen an die Unternehmen verändern würden. Die steigende Bedeutung von Zugehörigkeitsbedürfnissen gegenüber den Notwendigkeiten wirtschaftlichen Wachstums, von Forderungen nach sozialer gegenüber Forderungen nach wirtschaftlicher Gleichheit sowie die steigende Bedeutung von Selbstverwirklichung auf Kosten wirtschaftlicher Gewinne würden in der Arbeitswelt sowohl zu Forderungen von Arbeiterinnen und Arbeitern führen, Fließbandarbeiten eigenständiger zu organisieren und zu verrichten, als auch die Unzufriedenheit mit traditionell hierarchisch organisierten Unternehmensstrukturen ansteigen lassen. Beide Trends würden wiederum Humanisierungs- und Mitbestimmungsforderungen nach sich ziehen3 . Auch die deutsche Publizistin und Demoskopin Elisabeth Noelle-Neumann konstatierte zwischen der Mitte der 1960er und dem Beginn der 1970er Jahre einen „revolutionären“ Wandel von Arbeitswerten. Für Noelle-Neumann stand die kulturelle Hegemonie des Bürgertums auf dem Spiel, da die bis dahin geltenden gesellschaftlichen Grundwerte ausgehend von der Arbeiterschaft erodierten. Seit 250 Jahren, so Noelle-Neumann, hätten die „bürgerlichen Tugenden“ diese Funktion erfüllt. Nun würden sie wahlweise von diametral entgegengesetzten „neumodischen“ Werten, einer „Unterschichtsmentalität“ oder dem „Wertesystem der Proletarier“ abgelöst. Sie bewirkten „Arbeitsunlust, Ausweichungen vor 2
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Ich folge in diesem Beitrag der Wertedefinition von Andreas Rödder, die an den USamerikanischen Kulturanthropologen Clyde Kluckhohn anschließt. Rödder definiert „Werte“ „als allgemeine und grundlegende normative Ordnungsvorstellungen [. . . ], die für das Denken, Reden und Handeln auf individueller und kollektiver Ebene Vorgaben machen und die explizit artikuliert oder implizit angenommen werden können.“ Andreas Rödder, Wertewandel in historischer Perspektive. Ein Forschungskonzept, in: Bernhard Dietz/Andreas Rödder u. a. (Hrsg.), Gab es den Wertewandel? Neue Forschungen zum gesellschaftlichkulturellen Wandel seit den 1960er Jahren, München 2013, S. 17–40, hier S. 29. Vgl. Ronald Inglehart, The Silent Revolution. Changing values and political styles among Western publics, Princeton, N.J. 1977, S. 57, S. 69f., S. 83f.
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Anstrengung, auch der Anstrengung des Risikos. An die Stelle langfristiger Zielspannung treten der Drang nach unmittelbarer Befriedigung, Egalitätsstreben, Zweifel an der Gerechtigkeit der Belohnungen und Status-Fatalismus – Zweifel also an der Möglichkeit, durch Anstrengung den eigenen Status zu verbessern.“4 Ganz in der Tradition konservativer Kulturkritik sah Noelle-Neumann die Ursache dieses Prozesses in der Einführung des Fernsehens. Dieses mache die Menschen „träge“ und „traurig“, sie seien weniger aktiv und fleißig und würden ihre Fähigkeiten weniger entwickeln5 . Basierend auf den deutschen Zustimmungsraten zu bestimmten Erziehungszielen seit 1951 konzipiert(e) der deutsche Sozialwissenschaftler Helmut Klages den Wertewandel als schubartige Entwicklung. Sie habe um die Mitte der 1960er Jahre eingesetzt und zu einem tendenziell linearen Wandel von Pflicht- und Akzeptanzwerten zu Selbstentfaltungswerten geführt. Der Wertewandel stellt für Klages eine normale und notwendige Anpassungsleistung an die Erfordernisse modernisierter Gesellschaften dar. Hauptursache sei die gesellschaftliche Modernisierung, die einen Bedarf nach individualistischen Selbstentfaltungswerten mit sich bringe. Den konkreten Auslöser für den Wertewandel sieht Klages in der Erosion der „bewahrend-konservativen Rekonstruktionsmentalität“ der Adenauerzeit6 . Es ist verführerisch, die in diesen Wertewandelkonzepten implizierten, recht geschlossenen zeitlichen Werteblöcke mit den industriellen Produktionsregimen des Fordismus und des Postfordismus kurzzuschließen und sie in einen direkten Zusammenhang einerseits mit Rationalisierung und andererseits mit dem Aufkommen des Konzepts der Humanisierung der Arbeitswelt zu bringen, wie dies z. B. bei der These vom Strukturbruch der Fall ist7 . Dass Humanisierung und Rationalisierung jedoch keine Gegensätze waren, sondern sich ergänzten, da sie einem gemeinsamen Diskurs angehörten, hat Karsten Uhl überzeugend dargelegt. So hat er gezeigt, dass Unternehmen schon in der Hochphase des Fordismus zwischen den 1920er und 1970er Jahren ihren Beschäftigten gezielt Verantwortung und Handlungsfreiräume zugestanden, damit diese ihre persönlichen Potenziale einbringen und optimieren konnten, sich dabei aber gleichsam selbst zum Nutzen des Unternehmens disziplinierten. Dadurch knüpften Un4
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Elisabeth Noelle-Neumann, Werden wir alle Proletarier? Ungewöhnliche Wandlungen im Bewußtsein der Bevölkerung, in: Die Zeit 25 (13.06.1975), S. 4. Vgl. auch Elisabeth NoelleNeumann, Werden wir alle Proletarier? Wertewandel in unserer Gesellschaft, 2. Auflage, Zürich 1979, S. 11–13, S. 17–23, S. 52. Vgl. ebd., S. 72–95. Vgl. Helmut Klages, Werte und Wertewandel, in: Bernhard Schäfers/Wolfgang Zapf (Hrsg.), Handwörterbuch zur Gesellschaft Deutschlands, 2. Auflage, Opladen 2001, S. 726–737, hier S. 728–737, das Zitat S. 730. Vgl. Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008, S. 8–11.
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ternehmen an die Subjektivität ihrer Beschäftigten an, um ihre betriebliche Macht abzusichern, da dies nicht allein durch offene Disziplinierung erreicht werden konnte. Auf subtile Weise verwoben sich also Technologien des Zwangs und Technologien des Selbst, offene Disziplinierung und Disziplinierung durch Verantwortungsdelegation8 . Sabine Donauer hat ihrerseits darauf hingewiesen, dass die unternehmerische Hinwendung zu arbeitsbezogenen Gefühlen nicht wie oftmals postuliert ein Charakteristikum des Postfordismus sei, sondern die Sprache der Emotionen und der Produktivität seit Beginn des Kapitalismus miteinander verwoben gewesen seien. Von Beginn an hätten sich Unternehmen vor das Problem gestellt gesehen, mittels „emotional engineering“ für die Produktivität förderliche Gefühle – wie z. B. im vorliegenden Fall „Berufsstolz“ und „Kameradschaft“ – zu erzeugen. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass der Arbeit seit der Begründung der Arbeitswissenschaften zu Beginn des 20. Jahrhunderts zunehmend eine über ihre bloße Funktion des Broterwerbs hinaus gehende emotionale Bedeutung zugeschrieben wurde, und zwar in dem Sinne, dass erfolgreiche Arbeit die Quelle von Wohlbefinden, Glück und Zufriedenheit darstelle. In dieser Lesart war der seit den 1960ern konstatierte Wertewandel „not a newly emerging phenomenon but the result and prolongation of at least four antecedent decades in which companies and labor psychologists had promoted the concept that work had a function of meaning-making and creating positive emotions.“ Voraussetzung für die Durchsetzung eines solchen Konzepts war Donauer zufolge die „Entkörperlichung“ arbeitsbezogener Emotionen im Laufe des 20. Jahrhunderts9 . Die in den 1970er Jahren einsetzende Wertewandeldebatte war somit Ausdruck dieser Entwicklung, da sie arbeitsbezogene Emotionen nicht mehr mit Hilfe physischer, sondern psychischer Faktoren zu erklären suchte. Diese Ergebnisse lassen sich so interpretieren, dass die spezifische Qualität der Inglehartschen Wertewandelthese nicht darin lag, einen historisch einzigartigen Wandel von Werten festgestellt zu haben, sondern diesen der gesellschaftlichen Selbstreflexion nicht nur zugänglich gemacht, sondern ihn – zumindest vorübergehend – auch zum Bestandteil der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung gemacht zu haben. Im Anschluss daran geht es an dieser Stelle zunächst darum, das dichotome Wertewandelkonzept der sozialwissenschaftlichen Wertewandelforschung zu hinterfragen und damit einen Beitrag zu der Frage zu leisten, ob es den Wertewandel in Wirtschaft und Arbeitswelt gab oder, besser gesagt, auf welche Weise es ihn gab und inwiefern er quer zu den dargestellten Wertewandelnarrativen lag. 8 9
Vgl. Karsten Uhl, Humane Rationalisierung? Die Raumordnung der Fabrik im fordistischen Jahrhundert, Bielefeld 2014. Sabine Donauer, Faktor Freude. Wie die Wirtschaft Arbeitsgefühle erzeugt, Hamburg 2015, das Zitat S. 34.
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Damit verbunden ist zweitens ein Plädoyer für die Chancen und Potenziale einer qualitativen Geschichte des Wandels von Werten. Die Notwendigkeit eines solchen Unterfangens resultiert aus der methodischen Beschränktheit eines sozialstatistischen Ansatzes, in dessen Rahmen nur im Vorhinein festgelegte Parameter abgefragt werden können. Diese Festlegung birgt die Gefahr, das Ergebnis zu beeinflussen oder – im schlimmsten Fall – vorwegzunehmen10 . Ein qualitatives Vorgehen hat erstens den Vorteil, dass es sich nicht der für Umfragen vorgegebenen Kategorien bedienen muss und dadurch eine große Offenheit und Flexibilität besitzt. Zweitens ermöglicht es, sich von dem zeitlichen Korsett zu befreien, das einem die sozialstatistische Quellenbasis anlegt, und dementsprechend längere Zeiträume zu untersuchen, die vor die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts zurückreichen11 . Darüber hinaus lässt sich im Nachhinein nur mittels qualitativer Methoden feststellen, inwiefern sich Begriffsinhalte sowie die Beziehungen von Werten untereinander veränderten12 . Drittens hat das sozialwissenschaftliche Wertewandelparadigma die Handlungsfähigkeit historischer Akteure quasi entsorgt, indem dessen Verfechterinnen und Verfechter den Wertewandel in der Inglehartschen Lesart durch wirtschaftliche Faktoren, in der Klagesschen Variante durch eine lineare Modernisierung und in der Version Noelle-Neumanns durch medientechnischen Wandel eindeutig determiniert sahen13 . Stattdessen möchte ich – wie dies auch Uhl und Donauer getan haben – die Akteure wieder in die Geschichte einführen, indem ich davon ausgehe, dass Werte immer wieder als verbindliche Größen durchgesetzt werden müssen. Dies bedeutet auch, dass Werte permanent ausgehandelt werden und dem Spiel der Interessen und aktiven Wertsetzungen unterworfen sind.
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So ist es nicht verwunderlich, dass Ingleharts Postmaterialismus-Index mit der Entwicklung der Inflationsrate schwankt, da die Frage danach, wie wichtig die Bekämpfung der Inflation sei, Teil dieses Index ist. Vgl. Helmut Thome, Wertewandel in Europa aus der Sicht der empirischen Sozialforschung, in: Hans Joas (Hrsg.), Die kulturellen Werte Europas, 2. Auflage, Frankfurt a.M. 2005, S. 386–443, hier S. 398f. So argumentiert auch Peter-Paul Bänziger, Von der Arbeits- zur Konsumgesellschaft? Kritik eines Leitmotivs der deutschsprachigen Zeitgeschichtsschreibung, in: Zeithistorische Forschungen 1 (2015), S. 11–38, dessen Thesen zur Etablierung konsumgesellschaftlicher Phänomene bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Ergebnisse Karsten Uhls und Sabine Donauers untermauern. Vgl. Bernhard Dietz/Christopher Neumaier, Vom Nutzen der Sozialwissenschaften für die Zeitgeschichte. Werte und Wertewandel als Gegenstand historischer Forschung, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 60 (2012), S. 293–304, hier S. 303, die ebenfalls das erweiternde Potenzial einer historischen Wertewandelforschung betonen. Auch Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael sprechen davon, dass der von ihnen konstatierte Strukturwandel einen „Mentalitätenwandel“ geradezu erzwungen habe, blenden also in ähnlicher Weise die Akteure zugunsten determinierender Prozesse aus. Vgl. Doering-Manteuffel/Raphael, Nach dem Boom, S. 35.
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Die skizzierte Fragestellung wird beispielhaft anhand der Berichterstattung über ein Ausbildungsprogramm japanischer Bergarbeiter im Ruhrbergbau in den Jahren 1957 bis 1965 – also noch vor der Kernphase des sogenannten Wertewandelschubs – untersucht. Als Quellengrundlage wurde zum einen die Zeitungsausschnittssammlung der IG Bergbau und Energie (IGBE) im Archiv für Soziale Bewegungen zu der Rubrik „Ausländische Arbeitnehmer“ herangezogen, die eine Auswahl der regionalen und überregionalen Zeitungspresse abbildet14 . Zum anderen wurden die Betriebszeitschriften der drei am deutschjapanischen Bergarbeiterprogramm beteiligten Zechengesellschaften – Der Förderturm (Hamborner Bergbau AG), Unser Pütt (Essener Steinkohlenbergwerke) sowie Pütt und Hütte (Klöckner Bergbau AG Victor-Ickern) – ausgewertet. Die Werkzeitschriften waren ein wichtiges Kommunikations- und Informationsmittel der Betriebe, deren Reichweite die eigentliche Belegschaft überstieg. Die regelmäßige Leserschaft beschränkte sich nicht nur auf die Bergmänner, sondern umfasste auch deren Ehefrauen und Familienangehörige. Gleichzeitig stellten sie eine der wenigen Möglichkeiten dar, aus erster Hand Informationen über den eigenen Betrieb zu erhalten, sowohl für die Bergleute als auch für die Familienangehörigen, die sich mithilfe der Werkzeitschriften ein Bild von der Arbeit im Bergbau machen konnten15 . Die Analyse dieser Quellen und damit die qualitative Untersuchung von Wertewandel möchte ich mit einem Perspektivwechsel verbinden, der „die Anderen“ in den Fokus rückt, um zu Aussagen über den Wandel arbeitsbezogener Werte in der Bundesrepublik zu gelangen16 . Ich gehe dabei von der Prämisse aus, dass die Repräsentationen von Menschen, die als „fremd“ markiert wurden, mindestens ebenso viel über mehrheitsgesellschaftliche Werte aussagen wie über die der Beschriebenen – wenn nicht sogar mehr17 . Solchen Repräsentationen wohnen implizite Grenzziehungen und Zuschreibungen inne, die Entscheidungen treffen, die das Innen vom Außen trennen, das Zugehörige vom Nicht-Zugehörigen, das
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Vgl. Archiv für soziale Bewegungen (AfsB), IGBE-Archiv 11227, 13797 A und B, 13798 und 14997. Vgl. Anne Winkelmann, Die bergmännische Werkzeitschrift von 1945 bis zur Gegenwart. Mit einer Darstellung der Zeitschrift für Kunst und Kultur im Bergbau „Der Anschnitt“; Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Grades eines Doktors der Philosophie der Philosophischen Fakultät der Freien Universität Berlin, Berlin 1964, S. 77f. und S. 129–135. Vgl. Maren Möhring, Fremdes Essen. Die Geschichte der ausländischen Gastronomie in der Bundesrepublik Deutschland, München 2012, S. 466; Roberto Sala/Patrick Wöhrle, Fremdheitszuschreibungen in der Einwanderungsgesellschaft zwischen Stereotypie und Beweglichkeit, in: Oliver Janz/Roberto Sala (Hrsg.), Dolce Vita? Das Bild der italienischen Migranten in Deutschland, Frankfurt a.M. 2011, S. 18–36. Vgl. z. B. Edward W. Said, Orientalism, London, Reprinted with a new preface 2003, S. 20– 23.
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„Normale“ vom „nicht Normalen“, und die sich daher für die Beschreibung von Werten wie auch des Wertewandels im Bereich der Arbeit nutzen lassen18 . Mit anderen Worten tragen Repräsentationen von „Anderen“ dazu bei, das zu festigen, was Jan Assmann als kollektive Identität definiert, also „das Bild, das eine Gruppe von sich aufbaut und mit dem sich deren Mitglieder identifizieren. Kollektive Identität ist eine Frage der Identifikation seitens der beteiligten Individuen. Es gibt sie nicht ‚an sich‘, sondern immer nur in dem Maße, wie sich bestimmte Individuen zu ihr bekennen. Sie ist so stark oder so schwach, wie sie in Denken und Handeln der Gruppenmitglieder lebendig ist und deren Denken und Handeln zu motivieren vermag.“19
Bei der Interpretation der Quellen geht es daher um das kollektive Selbstbild, das sich Menschen von einer Eigengruppe im Vergleich mit einer als „fremd“ konstruierten Gruppe aufbauen. Wie „wir“ sind, wird dabei vorwiegend darüber definiert, wie „sie“ angeblich sind. Dies bedeutet, dass ein Spiegelbild erzeugt wird, in das unerwünschte oder übermenschliche Eigenschaften projiziert werden, Eigenschaften und Verhaltensweisen, die man sich selbst versagt und nicht zugesteht oder solche, die nach menschlichem Ermessen unerreichbar, daher unheimlich, aber gleichzeitig faszinierend sind20 . Damit ist die Unterscheidung von Es- und Über-Ich-Stereotypen angesprochen21 . Beide können zur Disziplinierung der Mehrheitsgesellschaft genutzt werden, indem sie Aus- und Einschlüsse rationalisieren und damit einerseits drohend, andererseits motivierend wirken. Die Bilder von „den Anderen“ sind daher Teil eines Kampfes um Wertsetzungen. Ihr Einsatz verweist auf aktuell umkämpfte, als gefährdet, schützenswert, funktional oder auch ablehnenswert angesehene Werte. Der spezifische Einsatz von Fremdbildern kann also als Indikator für Aushandlungsprozesse von Werten dienen und gibt Hinweise auf aktive Wertsetzungsbemühungen der beteiligten Akteure. Hierbei ist die Historizität von Fremdbildern zu berücksichtigen. Denn 18
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„Man könnte die Geschichte der Grenzen schreiben – dieser obskuren Gesten, die, sobald sie ausgeführt, notwendigerweise schon vergessen sind –, mit denen eine Kultur etwas zurückweist, was für sie außerhalb liegt; und während ihrer ganzen Geschichte sagt diese geschaffene Leere, dieser freie Raum, durch den sie sich isoliert, ganz genau soviel über sie aus wie über ihre Werte; denn ihre Werte erhält und wahrt sie in der Kontinuität der Geschichte; aber in dem Gebiet, von dem wir reden wollen, trifft sie ihre entscheidende Wahl. Sie vollzieht darin die Abgrenzung, die ihr den Ausdruck ihrer Positivität verleiht. Darin liegt die eigentliche Dichte, aus der sie sich formt. Eine Kultur über ihre Grenzerfahrungen zu befragen, heißt, sie an den Grenzen der Geschichte über eine Absplitterung, die wie die Geburt ihrer Geschichte ist, zu befragen. [. . . ].“ Michel Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt 1969, S. 9. Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, 5. Auflage, München 2005, S. 132. Vgl. Robert Miles, Rassismus. Einführung in die Geschichte und Theorie eines Begriffs, Hamburg 1991, S. 106. Vgl. Mark Terkessidis, Psychologie des Rassismus, Opladen 1998, S. 98f.
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Eigenschaften, die verschiedenen „Anderen“ zugeschrieben werden, sind nicht beliebig, sondern schließen an historisch überlieferte Repräsentationsschemata an, wie der britische Soziologe Robert Miles ausführt: „Darstellungsformen der Gegenwart sind immer das Produkt eines historischen Vermächtnisses und einer tätigen Umwandlung vor dem Hintergrund jeweilig herrschender Umstände, zu denen auch die Klassenverhältnisse gehören.“22 Daher stehen nun zunächst die deutschen Japan-Bilder als mentale Voraussetzungen der medialen Repräsentation der japanischen Bergarbeiter im Mittelpunkt.
Die Repräsentation japanischer Bergarbeiter im Ruhrgebiet (1957–1965) Historische Japan-Bilder in Deutschland
Am 21. Januar 1957 betraten die ersten 59 japanischen Bergarbeiter auf dem damaligen Flughafen Düsseldorf-Lohausen deutschen Boden. Ihnen sollten bis zum 3. März 1962 noch weitere 377 Arbeiter nachfolgen, von denen die letzten am 8. März 1965 nach Japan zurückkehrten23 . Die japanischen Bergarbeiter wurden in Deutschland bei der zur HBAG gehörenden Friedrich Thyssen Bergbau AG in Duisburg-Hamborn, den Essener Steinkohlenbergwerken (EStK) und der Klöckner Bergbau AG Victor-Ickern angelegt. Bei diesen Unternehmen arbeiteten sie in geschlossenen Gruppen auf Schacht Friedrich Thyssen 2/5, auf der Schachtanlage Consolidation in Gelsenkirchen und auf der Zeche Victor 3/4 in Castrop-Rauxel. Untergebracht waren sie in zecheneigenen Lehrlingswohnheimen. Im Ruhrgebiet sollten sie laut der zugrundeliegenden deutschjapanischen Regierungsvereinbarung vom November 1956 an drei Jahre lang in die Arbeitsweise „moderner“ Kohlenbergwerke eingeführt werden24 . 22 23
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Miles, Rassismus, S. 54. Eine detaillierte Übersicht über Größe, Ankunfts- und Abfahrtsdaten der einzelnen Gruppen, Aufteilung auf die Unternehmen sowie die Anzahl der Rückkehrer bietet Hiromasa Mori, Japanische Bergleute in Deutschland, in: Atsushi Kataoka/Regine Mathias u. a. (Hrsg.), „Glückauf “ auf Japanisch. Bergleute aus Japan im Ruhrgebiet, Essen 2012, S. 19–44, hier S. 26. Vgl. Abschrift der Verbalnote der japanischen Botschaft und Programm zur vorübergehenden Beschäftigung von japanischen Bergarbeitern im Ruhrkohlenbergbau vom 02.11.1956, 02.11.1956, Montanhistorisches Dokumentationszentrum (montan.dok) beim Deutschen Bergbau-Museum Bochum/Bergbau-Archiv, 138/3025, abgedruckt auch bei: Johannes Harumi Wilhelm, Von Japan nach Deutschland. Das Programm zur vorübergehenden Beschäftigung von japanischen Bergarbeitern im Ruhrkohlenbergbau, in: Peter Pantzer/ Sigrun Caspary (Hrsg.), Beiträge zur Japanforschung. Festgabe für Peter Pantzer zu seinem sechzigsten Geburtstag; Kommentar und Quellen, Bonn 2002, S. 339–373, hier S. 361–364.
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Die japanischen Bergarbeiter kamen im Ruhrgebiet an, deutsche Vorstellungswelten über Japan existierten bereits mehrere Jahrhunderte – und unabhängig von ihnen konnten die Bergarbeiter nicht beschrieben werden25 . Das über Japan angesammelte Wissen stand im kulturellen Gedächtnis der bundesrepublikanischen Gesellschaft bereit und ließ sich für die Repräsentation der japanischen Bergarbeiter aktivieren, reaktivieren und umschreiben. Exotisierende Topoi der Gegensätzlichkeit, Widersprüchlichkeit, Beispiellosigkeit und Unverständlichkeit Japans trugen insofern zum Interesse an den japanischen Bergarbeitern bei, als dass sie den Neuigkeitswert der Berichterstattung erhöhten26 . Ein weiterer wichtiger Topos, der die deutsche Vorstellungswelt über Japan prägte, war der Alt-Japan-Topos. Durch ihn wurde Japan als Idylle, (Natur-)Paradies, locus amoenus27 oder als Goldenes Zeitalter28 in einer Zeit des allgemeinen Verfalls beschrieben. Dort, abgeschieden vom Rest der Welt, lebten inmitten einer paradiesischen Natur und eines milden Klimas die Japanerinnen und Japaner in einem ursprünglichen Zustand der Ganzheit, in dem Mensch, Kunst, Gott und Natur eine harmonische Einheit bildeten. Sie lebten in einem statischen und zeitlosen Ideal- und Naturzustand. Dieser spiegelte wiederum die Ängste und Sehnsüchte der europäischen Autorinnen und Autoren angesichts der rasanten Industrialisierung in Europa wider, in deren Verlauf traditionelle vormoderne Lebens- und Produktionsweisen verschwanden. Die in der Idylle vorgefundenen Menschen jedoch wurden zu reinen Statisten, deren Eigenschaften sich von ihrer 25
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Dieser Aspekt wurde von den bisher erschienenen Untersuchungen über die japanischen Bergarbeiter im Ruhrgebiet bislang ausgeblendet und führte zu einer unkritischen Reproduktion der Darstellungen in zeitgenössischen Presseartikeln. Dementsprechend erklärt sie die als gut wahrgenommene Integration der japanischen Bergarbeiter mit deren positiven Eigenschaften, vernachlässigt aber die integrierende Wirkung der zu jener Zeit positiv konnotierten Japanbilder. Vgl. Mori, Japanische Bergleute; Annika Raue, Leben und Arbeiten am „Pütt“. Die Integration der japanischen Bergleute im Ruhrgebiet, in: Atsushi Kataoka/Regine Mathias u. a. (Hrsg.), „Glückauf “ auf Japanisch. Bergleute aus Japan im Ruhrgebiet, Essen 2012, S. 85–98. Auch wenn sie nicht die ersten Japaner waren, die in geschlossenen Gruppen eine längere Zeit in Deutschland verbrachten, so waren sie die ersten, die auch am Alltagsleben der arbeitenden Bevölkerung teilnahmen. Vgl. Thomas Pekar, Der Japan-Diskurs im westlichen Kulturkontext (1860–1920). Reiseberichte, Literatur, Kunst, München 2003, S. 217f.; Der deutsch-japanische Jugendführeraustausch, Reichs-Jugend-Pressedienst, 01.12.1938; Ryûkichi Ogushi, Der Jugendaustausch zwischen den Achsenmächten Deutschland und Japan, in: Klaus-Peter Horn/Michio Ogasawara u. a. (Hrsg.), Pädagogik im Militarismus und im Nationalsozialismus. Japan und Deutschland im Vergleich, Bad Heilbrunn 2006, S. 193–206. Vgl. Pekar, Japan-Diskurs, S. 142–159; Bill Maltarich, Samurai and Supermen. National socialist views of Japan, Oxford u. a. 2005, S. 95–121; Claudia Schmidhofer, Fakt und Fantasie. Das Japanbild in deutschsprachigen Reiseberichten, 1854–1900, Wien 2010, S. 410– 414. Vgl. ebd., S. 345–351, 353–355, 363–365, 371–385. Vgl. Pekar, Japan-Diskurs, S. 185–188.
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Umgebung ableiteten, da sie dem entworfenen Idealbild nicht widersprechen durften. Die Eigenschaften der Menschen wurden zur Essenz. Damit löste sich die Beschreibung Japans von realen Veränderungen ab und Japan wurde zum reinen Projektionsraum für das „ungelebte Leben“, für europäische Sehnsüchte und Idealvorstellungen29 . Die Arbeitswelt war in diesem arkadischen Zustand noch durch natürliche Arbeitsmaterialien wie Holz, Stroh und Bambus, durch Kunsthandwerk – also nicht entfremdete Arbeit –, durch auf Körperkraft angewiesene Transportmethoden und eine Einheit von Mensch und Natur gekennzeichnet, in der die Menschen ihren Lebensunterhalt der Natur abgewinnen mussten30 . Die Notwendigkeit, Nahrung zu produzieren, führte im Alt-Japan-Topos allerdings nicht zu einer Ausbeutung von Natur und Mensch, sondern zur Aneignung und Verschönerung, ja zur Potenzierung der Natur. So schrieb Ernst von Hesse-Wartegg im Jahr 1897: „Der ganze Distrikt ist eine entzückende Idylle, ein Olymp in Wirklichkeit, mit zufriedenen, höflichen, stillen, arbeitsamen Menschen, die aus der sie umgebenden Natur einen Garten gemacht haben.“31 Auch andere Japanreisende des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts wie Percival Lowell, Carl Deisenhammer und Josef Lehnert hoben in ihren Büchern die gartenähnliche Aneignung der japanischen Natur hervor, wenn sie die von den Bauern kultivierten Felder beschrieben. Ihre Berichte suggerierten ein besonders inniges Verhältnis der Japaner zur Natur und deuteten die Anlage der Felder als Beleg für großen Fleiß, Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit der japanischen Landbevölkerung – Eigenschaften, die sie bei ihren heimischen Landwirten vermissten32 . In der japanischen Bevölkerung – der Landbevölkerung, den Handwerkern und der Arbeiterschaft – vereinigten sich für die Reisebuchautoren des späten 19. Jahrhunderts zahlreiche bürgerliche Ideale. Sie alle „wurden als arbeitsam und fleißig, sauber und ordentlich, genügsam und bescheiden, fröhlich und gutmütig beschrieben, ihre Sitten und der allgemeine Umgangston galten als vorbildlich.“33 Trotz äußerer Widrigkeiten, mühsamer Arbeit und Armut legten
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Vgl. Schmidhofer, Fakt und Fantasie, S. 351; Pekar, Japan-Diskurs, S. 180f. Die Distanzierung von realen und veränderlichen Menschen zu einem vom europäischen Blick entworfenen Japanbild wurde nach Schmidhofer noch durch die zunehmende Theatralisierung der Japandarstellung verstärkt, da diese im Falle Japans der Inszenierung eines unveränderlichen makellosen und malerischen Schauplatzes diente. Vgl. Schmidhofer, Fakt und Fantasie, S. 359–363. Vgl. ebd., S. 366f. Ernst von Hesse-Wartegg, China und Japan. Erlebnisse, Studien, Beobachtungen auf einer Reise um die Welt, Leipzig 1897, S. 486, zit. nach Schmidhofer, Fakt und Fantasie, S. 368. Vgl. ebd., S. 374. Ebd., S. 450.
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sie einen unverbrüchlichen Optimismus an den Tag34 . In den Worten der JapanReisenden Emil und Leonore Selenka liest sich dies so: „Umsäumt von schaumumkränzten, grünenden Küsten, durchzogen von malerischen Gebirgen, durchrieselt von tausend Flüssen und Bächen, ausgeschmückt mit fruchtbringenden, von Bambussen und Nadelhölzern umrahmten Gefilden, bestrahlt von einer milden Sonne, gesegnet durch die Gunst des Inselklimas, bildet Japan die Wohnstätte gesitteter, freundlicher Menschen, die unverdrossen in Arbeit, verlässlich in bürgerlichen Tugenden, die höflichste Sprache sprechen, die zierlichsten Künste üben und einer sonnigen Lebensfreude sich ergeben.“35
Das Paradies stellte sich als ein bürgerliches dar. Durch die Verwirklichung bürgerlicher Tugenden, so lässt sich der Alt-Japan-Topos lesen, sollte es möglich sein, eine ideale Ordnung zu errichten. In dieser Ordnung gingen alle ihrer Arbeit nach und taten ihre Pflicht, sollte sie auch noch so hart sein. Trotzdem ließen sich in dieser Ordnung Arbeitsamkeit, Fleiß und Anstrengung mit Lebensfreude und Zufriedenheit verbinden – etwas, das in der eigenen Gesellschaft angesichts der sozialen Verwerfungen der ungebremsten Industrialisierung und der auf das Individuum wirkenden Zwänge der kapitalistischen Gesellschaft in unerreichbarer Ferne zu liegen schien. Im Alt-Japan-Topos wurden die strukturellen gesellschaftlichen Zwänge, die der Verwirklichung einer Utopie entgegenstanden, allerdings ignoriert. Ihre Errichtung wurde zur Frage essenzieller menschlicher Eigenschaften und rückte damit in den Möglichkeitsbereich individuellen Wollens und Handelns, unter der einen Bedingung, dass die Individuen in den europäischen Gesellschaften sich den bürgerlichen Tugendkodex zu eigen machten. Somit fungierte der Alt-Japan-Topos einerseits als eine angeblich reale Utopie. Als Sehnsuchtsort und als Vorbild bestätigte und überhöhte er andererseits im selben Atemzug die Geltung der bürgerlich-kapitalistischen Ordnung. Daher können die deutschen Japan-Stereotype auch als klassische Über-Ich-Stereotype gelesen werden. Eine wichtige Rolle für die spätere Wahrnehmung der japanischen Bergarbeiter spielte das Topos vom Land der Kinder. Japan galt vielen Europäerinnen und Europäern als das Land des kleineren Maßstabs, während das Verhalten der Japaner den Europäern häufig kindlich, harmlos und lebensfroh anmutete. Diese Wahrnehmung trug dazu bei, die Japaner selbst als Kinder darzustellen und ihnen weitere entsprechende Eigenschaften zuzuschreiben. Neugierde, Begeisterungsfähigkeit und naive Heiterkeit wurden als Ausdruck kindlicher Unreife interpretiert und fanden ihre Kehrseite in angeblich fehlender Ausdauer, Unbeständigkeit und Oberflächlichkeit. Die Japaner verfügten in den Augen eu34 35
Vgl. ebd., S. 453–455. Emil Selenka/Leonore Selenka, Sonnige Welten. Ostasiatische Reise-Skizzen; Borneo, Japan, Java, Sumatra, Vorderindien, Ceylon, Wiesbaden 1896, S. 301f., zit. nach Schmidhofer, Fakt und Fantasie, S. 366, 368.
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ropäischer Reisender des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts noch nicht über vollständig ausgereifte geistige Fähigkeiten und die notwendige Selbständigkeit. Zwar gestanden sie den Japanern großen Fleiß, Disziplin und eine außerordentliche Fähigkeit zum Auswendiglernen zu. Ein Durchdringen und Verinnerlichen von Lernstoffen wollten sie ihnen aber nicht attestieren36 . Die Folge dieser Infantilisierung war eine paternalistisch-wohlwollende Haltung und eine Pädagogisierung, durch die die Europäer die Vorstellung ihrer Überlegenheit aufrechterhalten konnten. Wurden die Japaner als unreife Kinder, als defizitäre Wesen gedacht, dann benötigten sie einen Lehrmeister, der sie von der Stufe des Kindes und der „Barbarei“ zur Stufe der geistigen Reife, in die „Zivilisation“ führte und sie dem europäischen Entwicklungsniveau anzugleichen half. Diese Rolle fiel natürlicherweise den Europäern und insbesondere den Deutschen zu, die häufig als Lehrende im Hochschul- und Militärbereich in Japan auftraten37 . Dieses Wahrnehmungskonstrukt führte bei den Europäern dann zur Verbitterung, als Japan sich aus der Rolle des Schülers emanzipierte und sich selbständig modernisierte38 . Dies hatte mit Beginn des Ersten Weltkriegs die Folge, dass man den Japanern Undankbarkeit und Missbrauch von Freundschaftsdiensten vorwarf39 . Die Emanzipation der japanischen „Schüler“ trug ihrerseits sicherlich nicht unwesentlich zu dem in Europa aufgekommenen Eindruck der Bedrohung bei, da sie die traditionellen Machthierarchien zwischen den Europäern und den außereuropäischen Völkern zu verändern drohte. Damit verweist die Darstellung der Japaner als Kinder und Zöglinge wiederum auf die ihr zugrunde liegende Funktion hin, nämlich das Unbekannte zu kontrollieren und die traditionelle Macht- und Werteordnung symbolisch abzusichern. Der Nationalsozialismus trug seinen Teil zu den deutschen Japan-Bildern bei. Deutschland und Japan wurden als Angehörige einer im Abstrakten angesiedelten Wertegemeinschaft verstanden, deren konkretes Handeln immer Ausdruck gemeinsamer Werte war40 . Die NS-Darstellungen funktionalisierten die Japaner, um soldatische Werte wie z. B. unbedingten Gehorsam, Pflichterfüllung und Aufopferung für eine imaginierte Gemeinschaft zu überhöhen, aber auch um Fleiß und körperliche Arbeit zu verherrlichen41 . Japan stand für das Soldatische 36 37
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Vgl. ebd., S. 417–419. Vgl. ebd., S. 419–421. Wenn die Japaner allerdings als rational kalkulierende Wesen oder z. B. als berechnende Geschäftsleute auftraten, kippte der Kind-Topos häufig sofort ins Negative, da sich die Europäer getäuscht und betrogen fühlten. Daraus resultierte auch die verbreitete Behauptung, dass Japaner ihre Gedanken und Gefühle hinter ihrer anerzogenen Freundlichkeit verbargen, die allerdings nur Heuchelei sei. Vgl. ebd., S. 421f. Vgl. ebd., S. 528. Vgl. Pekar, Japan-Diskurs, S. 196f. Vgl. Maltarich, Samurai and Supermen, S. 228f. Vgl. Till Philip Koltermann, Der Untergang des Dritten Reiches im Spiegel der deutsch-
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schlechthin. Die den japanischen Soldaten zugeschriebenen Tugenden machten sie während der letzten beiden Kriegsjahre in den Augen Vieler in der deutschen Bevölkerung zur letzten Hoffnung in einem schon verlorenen Krieg42 . Auch hier zeigt sich wieder die Funktion der Japaner als Projektionsfläche für Über-Ich-Stereotype. Arbeitskräftemangel und Verberuflichung im Ruhrbergbau
Zum Zeitpunkt der Ankunft der japanischen Bergarbeiter war der Ruhrbergbau einmal mehr geplagt von Sorgen um die Sicherung jungen Nachwuchses und um die Stabilisierung der stark fluktuierenden Belegschaften. Nachdem die Zahl der Schüler an Bergberufsschulen im Jahr 1955 mit etwa 40 000 einen historischen Spitzenwert erreicht hatte, sanken die Lehrlingszahlen wieder und brachen mit dem Beginn der Kohlenkrise im Herbst 1957 drastisch ein, so dass 1961 nur noch etwa 8 200 Schüler Bergberufsschulen im Ruhrgebiet besuchten43 . Den Unternehmen gelang es nicht mehr, ausreichend Nachwuchskräfte für die bergbauspezifische Ausbildung zu rekrutieren44 . Demgegenüber bewegte sich die Fluktuation auf einem konstant hohen Niveau45 . Obwohl sich während der Krise sowohl der Anteil der Kontraktbrüche als auch der Untertagearbeiter an den Abgängen verringerte und die Zahl der Abgänge zwischen 1957 und 1965 stetig schrumpfte, brachen den Bergwerken die Neuzugänge weg. Sie lagen nun dauerhaft unter der Zahl der Abgänge. Da gerade die voll leistungsfähigen Untertagearbeiter und Grubenhandwerker, die aufgrund der zunehmenden Mechanisierung immer gefragter waren, die Bergwerke verließen, suchte der
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japanischen Kulturbegegnungen, 1933–1945, Wiesbaden 2009, S. 97–103, 106–114, 141; Maltarich, Samurai and Supermen, S. 213f., 243–291. Vgl. Koltermann, Untergang, S. 145–152. Vgl. Dietmar Bleidick, Entwicklung der Montanberufe und des bergbaulichen Bildungswesens seit Ende des 19. Jahrhunderts, in: Dieter Ziegler (Hrsg.), Rohstoffgewinnung im Strukturwandel. Der deutsche Bergbau im 20. Jahrhundert, Münster 2013, S. 413–443, hier S. 439f. Vgl. zur Bergbaukrise Werner Abelshauser, Der Ruhrkohlenbergbau seit 1945. Wiederaufbau, Krise, Anpassung, München 1984, S. 87–117. Vgl. Karl Lauschke, Schwarze Fahnen an der Ruhr. Die Politik der IG Bergbau und Energie während der Kohlenkrise 1958–1968, Marburg 1984, S. 82–89, S. 91f.; Norbert Ranft, Vom Objekt zum Subjekt. Montanmitbestimmung, Sozialklima und Strukturwandel im Bergbau seit 1945, Köln 1988, S. 257–276. Symptom des Nachwuchsmangels war, dass das Durchschnittsalter der Belegschaften, das zwischen 1948 und 1957 gesunken war, seit 1957 wieder anstieg und sich die Altersstruktur zugunsten der älteren Jahrgänge verschob. Während das Alter der Untertagebelegschaften zwischen 1948 und 1957 von 37,7 auf 33,88 Jahre gesunken war, stieg es bis 1962 auf 36,73 Jahre an. Vgl. Lauschke, Schwarze Fahnen, S. 92–94. Vgl. Mark Roseman, Recasting the Ruhr, 1945–1958. Manpower, economic recovery and labour relations, New York/Oxford 1992, S. 254–261.
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Ruhrbergbau trotz des notwendigen Arbeitsplatzabbaus kontinuierlich nach jungen und qualifizierten Arbeitskräften46 . Von daher stand die Frage der Nachwuchsrekrutierung und -förderung stets in engem Zusammenhang mit der Fluktuation im Bergbau und den entsprechenden Bemühungen, die Belegschaften zu stabilisieren. Vor diesem Hintergrund diskutierte der Ruhrbergbau, welche Ursachen für die Fluktuation maßgeblich waren und welche Maßnahmen Abhilfe versprachen. Gerade in diesem Zusammenhang spielte zunehmend die Frage nach der Beschäftigung ausländischer Arbeitskräfte eine Rolle, deren Anteil an den Neuzugängen seit 1959 stetig stieg47 . Zu diesem Zeitpunkt setzte der Ruhrbergbau auf die staatliche Anerkennung der Berglehre als Ausbildung. Durch eine Berufsausbildung, so hoffte man, würden Lehrlinge ein starkes Berufsethos erwerben und dadurch eng an den Bergbau gebunden werden. Von zentraler Bedeutung für die Vermittlung des Berufsethos war der Mythos vom Bergmann früherer Zeiten, da dieser als wertmäßiger Maßstab herangezogen wurde48 . Hier setzte ein Diskurs an, für den das Phänomen der Belegschaftsfluktuation aus sozialer Anomie und persönlicher Unsicherheit resultierte. Diesen Standpunkt fasste eine Untersuchung des Instituts für Sozialforschung paradigmatisch zusammen, indem sie urteilte: „Es liegt nahe, Arbeitsplatzmobilität mit einer Tendenz zur unsteten Lebensführung, zur Aversion gegen feste und ungeregelte [sic!] Arbeit, zur Renitenz und alldem zusammenzubringen, was durch den Sammelnamen des Asozialen gedeckt wird.“49 Solche externalisierenden Diagnosen waren zumeist in Verfallserzählungen eingebettet, die eine vor- und frühindustrielle von einer industriellen Zeit un46 47
48 49
Vgl. Lauschke, Schwarze Fahnen, S. 82–89. Vgl. ebd., S. 92–99. Vgl. dazu auch Niederschrift über die Aufsichtsratssitzung der Essener Steinkohlenbergwerke AG am 9. Februar 1961 im Verwaltungsgebäude der Gesellschaft, [09.02.1961], Salzgitter AG-Konzernarchiv Mannesmann-Archiv, M 17.147, S. 5f.; Niederschrift über die Aufsichtsratssitzung der Essener Steinkohlenbergwerke AG am 20. März 1963 im Verwaltungsgebäude der Gesellschaft, [20.03.1963], Salzgitter AG-Konzernarchiv Mannesmann-Archiv, M 17.147, S. 4; Niederschrift über die Aufsichtsratssitzung der Essener Steinkohlenbergwerke AG am 29. November 1963 im Hotel „Kaiserhof “ in Essen, [29.11.1963], Salzgitter AG-Konzernarchiv Mannesmann-Archiv, M 17.147, S. 5; Niederschrift über die Aufsichtsratssitzung der Essener Steinkohlenbergwerke AG am 10. April 1964 im Hotel „Kaiserhof “ in Essen, [10.04.1964], Salzgitter AG-Konzernarchiv Mannesmann-Archiv, M 17.147, S. 4. und Niederschrift über die Aufsichtsratssitzung der Essener Steinkohlenbergwerke AG am 28. Juli 1964 im Kraftwerk Frimmersdorf II, Frimmersdorf, [28.07.1964], Salzgitter AG-Konzernarchiv Mannesmann-Archiv, M 17.147, S. 4. Auch Seidel sieht die Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte in Zusammenhang mit den Fluktuations- und Nachwuchsproblemen des Ruhrbergbaus stehen. Vgl. Hans-Christoph Seidel, Die Bergbaugewerkschaft und die „Gastarbeiter“ im Ruhrbergbau von den 1950er bis in die 1980er Jahre, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 62 (2014), S. 35–68, hier S. 41–43. Vgl. Roseman, Recasting the Ruhr, S. 167–179. Zit. nach ebd., S. 189. Vgl. weiter ebd., S. 188f.
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terschieden. Die erste Epoche sahen die Autoren gekennzeichnet durch kleine, teils familiäre Zechen, in denen die Arbeit in überschaubaren, handwerklich arbeitenden Teams geleistet worden sei. Diese seien durch ein ausgeprägtes Kameradschaftsgefühl zusammengehalten worden, das sich in der Vorherrschaft des Kameradschaftsgedinges ausgedrückt habe. Die Ausbildung habe durch das persönliche Abschauen von erfahrenen Hauern oder durch die Weitergabe von Wissen und Fertigkeiten vom Vater zum Sohn stattgefunden. Die Geisteshaltung der Bergleute sei durch ein gefestigtes Berufsethos, eine innige Bindung an und Stolz auf den Beruf geprägt gewesen. Diese hätten sich in einer kollektiven Identität manifestiert, die im Diskurs mit dem Ausdruck des „Standesbewusstseins“ belegt wurde. Gleichzeitig sei diese Periode eine Zeit der ruhigen, harmonischen und konstanten Wirtschaftsentwicklung gewesen, die daher ideal für die Entfaltung bergmännischer Traditionen geeignet gewesen sei. Die Bergleute genossen zahlreiche Privilegien wie z. B. Freizügigkeit, das Recht, Waffen zu tragen, die Befreiung vom Militärdienst sowie soziale Vorteile wie z. B. die Knappschaftskasse. Die enge Verbindung zum Staat bedingte ein hohes Maß an obrigkeitlicher Loyalität. Bergbau zu betreiben, war eine Art der Pflichterfüllung gegenüber der Gemeinschaft. Resultat war, dass die Bergleute auf ihren Beruf stolz gewesen seien, ein sehr hohes Ansehen genossen hätten und daher ihren Zechen treu gewesen seien. Diese Beschreibung gipfelte in den Merkblättern für den Bergmann, die ursprünglich für die Hauerausbildung gedacht waren, aber in den 1960er Jahren eine wesentliche Grundlage für den Unterricht der Berglehrlinge wurden, in dem Fazit: „Zusammenfassend ist zu sagen, daß der Bergmann zu den angesehensten Ständen seiner Zeit gehörte. Sein Ruf verbreitete sich weit über die Grenzen des Deutschen Reiches.“50 Die harmonische Ordnung dieser als Goldenes Zeitalter dargestellten Epoche sei im Zuge der Industrialisierung zunehmend verloren gegangen. Es seien größere Schachtanlagen entstanden, in denen die Arbeitsteilung eine Spezialisierung der Tätigkeiten unter Tage zur Folge gehabt habe, während sich die Abbaufronten vergrößert und die kleinen Kameradschaften sich zugunsten großer Belegschaften aufgelöst hätten. Die Folgen seien die Auflösung des Kameradschaftsgefühls, Anonymität, Vereinzelung der Arbeiter und die Fixierung auf die Höhe des Lohnes und somit auf den materiellen Ausgleich für die Arbeit gewesen. Dieser Prozess beinhaltete das Absinken zum ungelernten Bergarbeiter, wie den bereits
50
Ausbildungsabteilungen ver. Stein u. Hardenberg der Dortmunder Bergbau A. G. (Hrsg.), Merkblätter für den Bergmann. Bearbeitet von A. Funke mit Beiträgen eines Arbeitskreises der Schachtanlagen ver. Stein u. Hardenberg, Hagen 1955, Merkblatt 1. Vgl. auch [o.V.] (Hrsg.), Merkblätter für den Bergmann mit Berücksichtigung der Mechanisierung im Steinkohlenbergbau. Bearbeitet von Ausbildungsleiter Alfred Funke, erw. u. verb. Auflage, Hagen 1965, S. 1f. und Roland Treese, Vom Knappen zum Bergmechaniker. Zur Berufsund Bildungsgeschichte des Bergmanns, Bochum 1988, S. 198.
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zitierten Merkblättern für den Bergmann zu entnehmen ist: „Mit dem Allgemeinen Berggesetz vom 24. Juni 1865 vollzog sich aber ein grundlegender Wandel in der Struktur der Bergwerke. Aus den kleinen Zechen an der Ruhr, in denen von einer Belegschaft von einigen Dutzend Mann täglich 10 bis 20 t Kohle gefördert wurden – im Jahr 1850 waren es 198 Zechen –, haben sich moderne Großschachtanlagen mit Tagesförderungen von fünf- bis zehntausend Tonnen entwickelt und beschäftigen viele tausend Arbeiter. An die Stelle des in seinem Beruf fest verwurzelten heimischen Bergmanns ist vielfach der ungelernte Bergarbeiter getreten.“51
Daraus folgerte der langjährige Arbeitsdirektor der HBAG, Theodor Terhorst, für die gegenwärtige Situation: „Idealistische, auf dem Berufsethos beruhende Gedankengänge werden von der Masse der Menschen ziemlich schnell beiseite geschoben, wenn an anderer Stelle ein höherer Verdienst winkt. Das ist nicht nur im Bergbau so.“52
Einer der aus diesem Diskurs resultierenden Lösungsvorschläge war das Bestreben, Bergleute und allen voran die als pathologisch entwurzelt angesehene Generation der Kriegskinder in dörflich-familiäre Strukturen einzubinden. Auf diese Weise sollten sie von den Verlockungen und mutmaßlichen moralischen Gefahren der modernen Industrie- und Konsumgesellschaft abgeschirmt werden. Die jungen Bergleute sollten Halt in einer restaurierten, vermeintlich gottgegebenen natürlichen Ordnung finden. Dadurch sollte die Beziehung zum Beruf des Bergmanns auf eine feste Grundlage gestellt werden. Diese Konzeption schlug sich in den 1950er Jahren in der Gründung des Jugendheimstättenwerks (JHW) nieder, dessen Zweck „[. . . ] die Förderung der Errichtung und Unterhaltung von Siedlungen [ist], in denen jugendliche Flüchtlinge, Heimatvertriebene und erwerbslose auswärtige Jugendliche zu Haus- und Dorfgemeinschaften zusammengefaßt werden mit dem Ziel, ihre Eingliederung und Seßhaftmachung durch Familienerziehung, Berufsverbundenheit und Bekenntnis zum Berufsethos zu erreichen. Die Siedlungen, die den Namen ‚Pestalozzidorf ‘ führen, sollen auch den Sinn für das Eigenheim und die Kleinsiedlung wecken und den Jugendlichen neue Lebensfreude bringen.“53
Ein anderer praktizierter Lösungsvorschlag war die versuchsweise Einführung des inzwischen unüblichen Kameradschaftsgedinges anstelle des Einzelgedinges. Während die Strebbelegschaft im Kameradschaftsgedinge als Ganze für ihre Förderleistung entlohnt wurde und die einzelnen Arbeiter je nach Tätigkeit einen unterschiedlichen Prozentsatz des Durchschnittsgedinges erhielten, wurden 51 52 53
Ausbildungsabteilungen ver. Stein u. Hardenberg der Dortmunder Bergbau A. G., Merkblätter, Merkblatt 1. sowie [o.V.], Merkblätter, S. 1–2. Theodor Terhorst, Grundsatzfragen der bergmännischen Berufsausbildung, in: BergbauRundschau 7 (1955), S. 658–668, hier S. 662. Klaus-Dietrich Kramer, Die Erziehung zum Bergmannsberuf. Wie wirkt sich die Erziehung im Pestalozzidorf im Vergleich zur Erziehung im Berglehrlingsheim und im Elternhaus auf die Arbeit der Bergberufsschule und die Erziehung zum Bergmannsberuf aus?, [Dortmund] 1955, S. 3.
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die Bergarbeiter im Einzelgedinge nach ihrer individuellen Leistung bezahlt. Die Initiative für den Versuch ging von Arbeitsdirektor Terhorst und Werner Hoffmann aus, der parallel zu seinem Posten als technisches Vorstandsmitglied der HBAG die Bergwerksdirektion der Schachtanlage Lohberg leitete, wo der Versuch auch stattfand. Ziel war es, die Folgen für die Zusammenarbeit der Belegschaft und für andere Größen wie Leistung oder Unfallhäufigkeit zu testen. Dabei gingen Hoffmann und Terhorst von folgender Prämisse aus: „Wenn es sich bei dem Kameradschaftsgedinge auch eigentlich nicht um eine neue, sondern um eine uralte, traditionelle Entlohnungsform handelt, die dem Wesen echten Bergmannstums in geradezu idealer Form entsprechen sollte, so mußte doch bedacht werden, daß die Werte der bergmännischen Tradition vielfach verschüttet worden sind und sich an ihrer Stelle zuweilen Vorurteile recht fest verwurzelt haben. Hierzu gehört beispielsweise das Vorurteil, daß der ‚gute Bergmann alter Art‘ ausgestorben und deshalb das Einzelgedinge die gerechteste Art der Entlohnung des Bergmanns ist, daß die Einführung des Kameradschaftsgedinges zu Unzufriedenheit und Unfrieden mit entsprechendem Leistungsrückgang führen müsse, weil der weniger leistungswillige Arbeiter sich auf Kosten des leistungsstarken bereichern würde usw. usw.“54
Vordergründig ging es bei der versuchsweisen Einführung des Kameradschaftsgedinges also um die Wiederbelebung eines als „echt“ angesehenen und unabhängig von historischen Veränderungen existierenden „Bergmannstums“, das aus der Zeit stammte, als die Bergleute sich mutmaßlich noch an ihren Beruf gebunden fühlten. Im Kern handelte es sich jedoch um das bewusste Zugeständnis persönlicher Handlungsspielräume an die Arbeiter, das sie zur Selbstoptimierung und -disziplinierung im Sinne der Unternehmensziele bringen sollte. In diese Richtung deuten auch die Ergebnisse des Versuchs, durch die sich Hoffmann und Terhorst in ihren Einschätzungen bestätigt sahen. So habe die Einführung des Kameradschaftsgedinges zu einem reibungsloseren Arbeitsablauf, einem besseren Betriebsklima, höherer Förderleistung, größerem Gerechtigkeitsempfinden in der Belegschaft, höherer Wirtschaftlichkeit und Grubensicherheit sowie mehr Aufstiegsmöglichkeiten geführt. Am wichtigsten war für Hoffmann und Terhorst aber, „daß die Strebbelegschaft sich nach Überwindung der Anlaufzeit als eine Gemeinschaft zu fühlen begann, wenn auch dieser sich anbahnende Gemeinschaftsgeist immer wieder gewissen Belastungsproben ausgesetzt war, deren Überwindung den Einsatz von besonders tüchtigen Steigern und Fahrsteigern notwendig macht. Gerade die gemeinschaftsbildende Kraft des Arbeitseinsatzes aber war es, auf die der Versuch letzten Endes hinzielte.“55
Mit anderen Worten versprachen sich hier Mitglieder einer Unternehmensleitung von der teilweisen Restauration einer verklärten Bergbauepoche Abhilfe gegen die Folgen des ihrem Profitinteresse folgenden technikinduzierten Wan54 55
Werner Hoffmann/Theodor Terhorst, Die Strebbelegschaft als Kameradschaft, in: BergbauRundschau 9 (1957), S. 425–435, hier S. 426. Ebd., S. 435.
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dels der Bergarbeit. Andere Stimmen gaben sich realistischer und rückten die tatsächlichen Arbeitsbedingungen im Bergbau in den Mittelpunkt. Zunächst müssten die Unternehmer die in ihren Augen patriarchalische Menschen- und Unternehmensführung aufgeben, die die Kohleproduktion über die Bedürfnisse der Belegschaft gestellt habe, um den Bergbau attraktiver zu machen. Dies sollte geschehen, indem die Bergleute im Hinblick auf Lohn, Arbeitszeit, Urlaub, Gesundheits- und Altersversorung, Arbeitssicherheit, soziale Vorrechte, Umgangsformen im Betrieb und Qualität der Ausbildung die alleinige Spitzenstellung erhalten sollten56 . Auch hinter diesen Forderungen stand letztendlich das Bemühen, das Ansehen des Bergmannsberufs zu erhöhen, was allerdings im Unterschied zur Überhöhung des Bergmannsmythos auf mittelbare Weise über die Arbeitsbedingungen geschehen sollte57 . „Gastarbeiter“, japanische Bergleute und Berufsarbeit
Die Rekrutierung ausländischer Arbeitskräfte für den Bergbau, wie sie seit Ende 1954 im Raum stand, wurde vor diesem Hintergrund allgemein sorgenvoll betrachtet.58 Die Anwerbung „bedeutet aber trotz aller beschönigenden Worte und trotz des Hinweises auf seine angeblich zwangsläufige Notwendigkeit eine grundsätzliche Abkehr von dem Gedanken des hochwertigen Bergmannstums und einen Rückfall in das durch jahrelange und mühevolle Kleinarbeit beseitigt geglaubte ‚Helotentum‘. Der negative Weg [wie Terhorst die Anwerbung nannte; Anm. d. Verf.] würde nach meiner Überzeugung allem, was wir in der Nachkriegszeit an menschlicher Aufbauarbeit geleistet haben, einen vernichtenden Schlag versetzen, [. . . ].“59
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59
Vgl. Be., 150-Millionen-Kapazität an der Ruhr. Kohlenpolitische Fragen – Gibt es genug Bergleute, in: Bergbau und Wirtschaft 8 (1955), S. 522–524; Wilhelm Fild, Die Bundesrepublik hat noch Reserven an Arbeitskräften. Arbeitskräfteproblem im Bergbau noch nicht gelöst, in: Bergbau und Wirtschaft 8 (1955), S. 467–470, hier S. 470; Terhorst, Grundsatzfragen, S. 664; Wilhelm Fild, Ruhrbergbau könnte 132 Millionen Tonnen fördern, in: Bergbau und Wirtschaft 9 (1956), S. 238–240, hier S. 239f.; ders., Die Belegschaftsentwicklung im Ruhrbergbau. Untertagebelegschaft gestiegen – Abnahme bei den Übertagearbeitern, in: Bergbau und Wirtschaft 10 (1957), S. 84–87; Horst Niggemeier, Nachwuchsfragen im Bergbau, in: Bergbau und Wirtschaft 10 (1957), S. 226–230; Herbert Elsner, Der Mensch im Bergbau, in: Bergbau-Rundschau 9 (1957), S. 653–657. Vgl. Lauschke, Schwarze Fahnen, S. 98. Vgl. zur Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte für den Ruhrbergbau auch Seidel, Bergbaugewerkschaft und Hisashi Yano, Arbeitsmigration im Steinkohlenbergbau in der Frühphase der Bundesrepublik, in: Jan-Otmar Hesse (Hrsg.), Kulturalismus, Neue Institutionenökonomik oder Theorienvielfalt, Essen 2002, S. 253–272. Terhorst, Grundsatzfragen, S. 663f. Seidel vermutet, dass Terhorst mit dem Begriff „Helotentum“ besonders auf die mit Zwangsarbeitern während des Zweiten Weltkriegs gemachten Erfahrungen anspielte. Dies wird durch Yanos Überlegungen bestätigt. Vgl. Seidel, Berg-
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Auch Gewerkschaftsvertreter sahen die Arbeitsbedingungen im Bergbau und infolgedessen die Gewinnung qualifizierter Facharbeiter durch die Anwerbung hochgradig gefährdet60 . „Die Anderen“ verkörperten für sie jeweils negative Prinzipien, die genau für die Entwicklungen und Zustände standen, die man ablehnte und die abgeschafft werden sollten, da sie nicht dem Bergmannsmythos entsprachen. Ähnlich hatten die Arbeitgeber schon früher argumentiert und „the culturally and racially inferior Poles“ für den schlechten Umgangston unter Tage verantwortlich gemacht. Die Außenstelle Bergbau meinte Ende 1948, durch „die Anlegung der in den meisten Fällen kulturell tiefer stehenden Personen von außen, [. . . ] hat sich im Bergbau-Milieu ein Umgangston entwickelt, der vielen Arbeitswilligen als untragbar erscheint.“61 Diese Wahrnehmung erklärt auch, warum Mitte der 1950er Jahre immer wieder statt von „Anwerbung“ oder „Heranführung“ auch von der „Einschleusung ausländischer Arbeitskräfte“62 gesprochen wurde, als ob es darum ginge, heimlich Arbeitsmigranten anzustellen, die hinterrücks die Arbeitsbedingungen untergrüben. Einmütig hieß es daher: „‚Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn?‘ – an der Ruhr liegt es bestimmt nicht.“63 Ganz im Gegensatz dazu stand nun die Haltung des Ruhrbergbaus gegenüber den japanischen Bergarbeitern. Das IGBE-Vorstandsmitglied Heinrich Wallbruch grenzte die Anwerbung italienischer Arbeitskräfte ganz entschieden von der „Beschäftigung der japanischen Gastarbeiter“ ab. Denn bei diesen handele es sich nicht um ungeeignete Arbeiter, da sie bereits drei Jahre im japanischen Steinkohlenbergbau gearbeitet hätten und nun zur „beruflichen Vervollkommnung und zur Erweiterung ihrer Kenntnisse“ in den Ruhrbergbau kämen. Zudem verwies Wallbruch darauf, dass sie im Ruhrgebiet die „modernen Arbeitsmethoden und die hiesigen Arbeitsbedingungen kennenlernen und ihr Aufenthalt zu einer Vertiefung der japanisch-deutschen Freundschaft beitragen wird.“64
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baugewerkschaft, S. 42 und Yano, Arbeitsmigration, S. 254–259. Man kann es allerdings schon dreist und zynisch nennen, zeitgenössische Arbeitsmigranten pauschal abzulehnen und dies damit zu begründen, dass Arbeiter mit derselben Nationalität unter den Zwangsbedingungen eines menschenverachtenden Arbeitssystems sich für die Bergarbeit weder als geeignet noch als gewillt erwiesen. Vgl. Fild, Reserven, S. 469; Wilhelm Fild, Italienische Wanderarbeiter? Heranziehung ausländischer Arbeiter nicht notwendig, in: Die Bergbauindustrie 8 (1955), S. 158f., hier S. 159; Niggemeier, Nachwuchsfragen, S. 227; Heinrich Wallbruch, Italiener retten den Bergbau nicht. Zur Anlegung fremdländischer Arbeiter, in: Die Bergbauindustrie 9 (04.08.1956), S. 244f., hier S. 245; Fild, Ruhrbergbau, S. 239; Walter Arendt, Sicherung der Belegschaft für den Steinkohlenbergbau. Ein Problem von heute und morgen, in: Gewerkschaftliche Rundschau für die Bergbau- und Energiewirtschaft 17 (1964), S. 703–705, hier S. 703. Zit. nach Roseman, Recasting the Ruhr, S. 173, dort auch das vorhergehende Zitat. Fild, Ruhrbergbau, S. 239; Wallbruch, Italiener, S. 244. Be., 150-Millionen-Kapazität, S. 523. Wallbruch, Italiener, S. 245.
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Das deutsch-japanische Bergarbeiterabkommen schuf somit die passenden Bedingungen – die Begründung eines Ausbildungs- und Lehrer-Schüler-Verhältnisses sowie die Etablierung einer Wissenshierarchie zwischen der japanischen und deutschen Seite –, um die vorhandenen deutschen Japan-Stereotype anwenden zu können. Die japanischen Bergarbeiter boten sich aufgrund der Voraussetzungen des Bergarbeiterprogramms bestens als Projektionsflächen an, die genutzt werden konnten, um das verloren geglaubte bergmännische Berufsethos zu zelebrieren und den Bergbau als attraktives Arbeitsfeld erscheinen zu lassen. Die Rahmenbedingungen der ersten deutsch-japanischen Vereinbarung prägten die Berichterstattung der Zeitungen, wie z. B. in diesem frühen Bericht über das geplante Bergarbeiterprogramm: „Mehrere Bergbaugesellschaften im Revier werden sich demnächst mit der Frage befassen müssen, ob sie auf ihren Schachtanlagen japanische Bergleute einsetzen wollen. Diese Bergleute sollen auf den deutschen Zechen mit der modernen Kohlegewinnung vertraut gemacht werden, um dann später die hier gesammelten Erfahrungen in ihrem Mutterland zu verwenden. Auch die beiden Hamborner Bergbaugesellschaften werden zu dieser Frage Stellung nehmen müssen, denn gerade auf ihren Schachtanlagen werden die japanischen Arbeiter viel lernen können.“
Außerdem gelte gerade das Hamborner Ausbildungswesen als mustergültig65 . Der deutsche Bergbau wurde erstens der Moderne zugeordnet. Er wurde zudem als Vorbild für den japanischen Bergbau und als Quelle von Wissen betrachtet, 65
Japan will Bergleute auf Lohberg anlegen, Westdeutsche Allgemeine (Dinslaken-Wesel), 09.04.1956. Vgl. auch Japanisches Vorkommando trifft ein, Rheinische Post, 08.09.1956; 500 Bergleute kommen aus Japan, Der Mittag, 19.07.1956; 59 Bergleute kamen aus Japan und sagten erstes „Glückauf “, Ruhr-Nachrichten (Dortmund), 22.01.1957; Wacholder begrüßt Japaner, Westdeutsche Allgemeine, 22.01.1957; Zwischen den Sonntagen: Die Japaner sind da, in: Die Bergbauindustrie 10 (02.02.1957), S. 34.; Kumpels aus dem Land ohne Schlüssel, Rheinische Post (Düsseldorf), 07.04.1957; Ungarn, Japaner und Italiener in den Pütts, Rheinischer Merkur, 27.09.1957; Natzel, Japanische Bergarbeiter im Ruhrbergbau, in: Glückauf 93 (1957), S. 205f., hier S. 205; Japanische Bergleute kamen mit dem Flugzeug, Rheinische Post (Düsseldorf), 31.01.1958; Japaner träumen nachts vom Fujijama, in: Pütt und Hütte 1/2 (1958), S. 20; Von Japan nach Deutschland. 50 junge japanische Bergleute für drei Jahre Gastarbeiter auf unserer Zeche Consolidation, in: Unser Pütt 5 (1958), S. 10f., hier S. 10; Japanische Kumpel im Kohlenpott, Westdeutsche Rundschau (Wuppertal), 13.05.1958; Bilder aus einem fernen Land. Japanische Bergleute erzählen von ihrer Heimat – Dreijähriger Studienaufenthalt im Ruhrgebiet – Im Urlaub: Reisen durch Europa, in: Unser Pütt 5 (1958), S. 10f.; Kitamura holt seine Braut, Westdeutsche Allgemeine (Essen), 21.01.1961; Wieder japanische Bergleute in Castrop-Rauxel, in: Pütt und Hütte 5 (1961), S. 104; Auslandspraktikanten beim Hamborner Bergbau. Aufsatz für die Sonderausgabe Frühjahr 1961 der „Wirtschaftlichen Mitteilungen der Niederrheinischen Industrie- und Handelskammer Duisburg-Wesel“, in: Theodor Terhorst, Veröffentlichungen – Vorträge – Ansprachen vom 1. Juli 1953 bis Jahresende 1962, Bd. 3: Ausbildungsund Grubensicherheit, [April 1961–1962], montan.dok/BBA 18/522, S. 204.
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das sich die Japaner aneignen konnten, wenn sie den Willen dazu mitbrachten, so dass sie ihre Kenntnisse und Fertigkeiten „vervollkommnen“ konnten. Gleichzeitig stärkte das japanische Interesse das vorbildhafte Image des Hamborner Ausbildungswesens, rückte aber auch die Arbeitsverhältnisse auf deutschen Zechen allgemein in ein positives Licht: „Diese Anfrage geht, wie wir aus Bonn hören, auf die guten Eindrücke zurück, die Mitglieder des japanischen Arbeitsministeriums und der japanischen Botschaft bei der Besichtigung von westdeutschen Zechen gewonnen haben. Die Japaner sind offenbar davon überzeugt, daß sie vom westdeutschen Bergbau für ihre eigenen Zechenbetriebe noch einiges lernen können, zumal weil der Abbau der Kohlenflöze in Japan aus geologischen Gründen ähnlich große Schwierigkeiten wie in Westdeutschland macht.“66
Ein anderer Bericht erwähnte, dass man in der Entsendung der japanischen Bergleute ins Ruhrgebiet „eine öffentliche Anerkennung für den hohen Stand der deutschen Grubentechnik“67 und deren Fortschrittlichkeit68 erblicke. Die Zeitschrift Glückauf, das traditionsreichste Kommunikationsorgan des Ruhrbergbaus, interpretierte die Anlegung der japanischen Kumpel als Kennzeichen für „den weltweiten Ruf des Ruhrkohlenbergbaus und [. . . ] eine Anerkennung seines schon wieder erreichten hohen Standes in der Technik und im Ausbildungswesen.“69 Die Ruhrkumpel fungierten als Vorbilder, deren Arbeitsweise etwas qualitativ Besonderes zugeschrieben wurde. Dem IGBE-Verbandsorgan Die Bergbauindustrie zufolge hatten die Japaner die Aufgabe, „den deutschen Kumpeln ihre spezielle Art zu arbeiten ‚ab[zu]gucken‘ und nach Japan [zu] exportieren“70 . Der japanische Gedingeschlepper Noriyuki Matsuda resümierte angesichts des Abschiedes einer japanischen Gruppe von der Schachtanlage Friedrich Thyssen 2/5 im Förderturm, dass die zurückgekehrten Kumpel das Hauptziel ihres Aufenthalts erreicht und „[d]urch die Untertage-Arbeit [. . . ] die Technik des deutschen modernen Kohlenbergbaus gut kennengelernt“ hätten. Darüber hinaus hätten sie „durch die Zusammenarbeit mit den Kumpels den Fleiß des deutschen Volkes kennengelernt“ und „das Leben in dem regelmäßigen Sozialsystem in Deutschland“ erlebt. „Diese wertvollen Erlebnisse werden ihnen in ihrem ganzen Leben sicher den richtigen Weg zeigen.“71 Schließlich ließen sich auch die Beziehungen in der Belegschaft als vorbildlich und harmonisch darstellen. Nachdem Fritz Alexander, der Heimleiter des Berglehrlingsheims Kaspershof, eine japanische 66 67 68 69 70 71
Vgl. Japanische Bergleute wollen lernen, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.04.1956. 59 Bergleute kamen aus Japan und sagten erstes „Glückauf “, Ruhr-Nachrichten (Dortmund), 22.01.1957. Vgl. Japaner an der Ruhr – Chinesen in Breslau, Westfälische Zeitung, 25.01.1957. Natzel, Japanische Bergarbeiter, S. 205. Japaner wollen Beethoven hören, in: Die Bergbauindustrie 11 (22.02.1958), S. 67. Noriyuki Matsuda, „Der Abschied der Japaner aus dem lieben weltbekannten Industriegebiet an der Ruhr“, in: Der Förderturm 35 (1960), S. 9.
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Bergarbeitergruppe auf ihrer Rückreise nach Japan begleitet hatte, erklärte er, sie hätten wichtige Erfahrungen „in menschlicher Beziehung innerhalb des Betriebes [. . . ] [gemacht]: das Zusammenleben und -schaffen der deutschen Arbeiter am Arbeitsplatz, das Zusammenwirken von Betriebsleitung und Betriebsvertretung, das Verhältnis der Vorgesetzten zu Untergebenen und umgekehrt usw.“72
Was die Attraktivität der Ausbildung im Bergbau anging, spielte der Erwerb des Hauerstatus eine wichtige Rolle. Um diesen aufzuwerten, wurden die den japanischen Bergarbeitern in Japan mutmaßlich eröffneten Aufstiegsmöglichkeiten v. a. auf den im Ruhrgebiet erworbenen Hauerbrief zurückgeführt: „Dieser Hauerbrief schafft ihnen nun in der Heimat die Voraussetzung für höhere Positionen im heimischen Bergbau.“73 Die Urkunde verbürgte, dass sie als „sorgfältig“ und „gutausgebildete Fachmänner mit dem Hauerbrief nach Hause zurück [. . . ] kehr[t]en“, so dass dieser und die Bundesrepublik für einen Zugewinn an Qualifikation und für eine gute, gründliche Facharbeiterausbildung standen, die es den Rückkehrern ermöglichte, im japanischen Bergbau wieder Arbeit zu finden, da dort Fachkräftemangel herrsche74 . Aus dieser Sichtweise ergaben sich dann auch Artikelüberschriften wie „Stolze Heimkehr junger Bergleute“ mit dem Untertitel „Deutscher Hauerbrief zählt im Fernen Osten“75 , „Deutscher Hauerbrief ist in Japan sehr gefragt“76 oder eine Aussage wie „Ausnahmslos waren sie jetzt Hauer, irgendwie hob das ihr Selbstbewußtsein.“77 Daneben wurde der Hauerbrief mit sozialem Aufstieg assoziiert. Der Bergmann Hiroshi Juji hoffte, mit dem anschließenden Besuch der Bergvorschule und der Bergschule von der Gruppe der Arbeiter in den Bereich der unteren und mittleren Führungsebene zu wechseln78 . Sein sozialer Aufstieg war auch deutlich daran abzulesen, dass er nun seit fast drei Jahren mit einer „Beamtentochter 72 73 74
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Fritz Alexander, Meine Japan-Reise (I), in: Der Förderturm 35 (1960), S. 11–15, hier S. 11. Zwei Dutzend Nationen an der Ruhr, Die Zeit, 17.02.1961. Stolze Heimkehr junger Bergleute, Braunschweiger Zeitung, 08.04.1961. Das Solinger Tagblatt bezeichnete die Hauerlehre ebenfalls als eine „gründliche Ausbildung“. Japanische Bergleute bekamen Hauerbrief, Solinger Tagblatt, 15.06.1960. Auch die Kölnische Rundschau lobte die „gute und sorgfältige Ausbildung“ im deutschen Bergbau. Hauerbrief für japanische Bergleute, Kölnische Rundschau, 01.01.1961. Stolze Heimkehr junger Bergleute, Braunschweiger Zeitung, 08.04.1961. Auch nach der Hauerprüfung auf Schacht Friedrich Thyssen 2/5 zeigten die japanischen Junghauer „immer wieder“ ihre Hauerbriefe „voll Stolz herum[. . . ].“ Japanische Hauerprüfung auf Friedrich Thyssen 2/5, in: Der Förderturm 33 (1958), S. 18. Deutscher Hauerbrief ist in Japan sehr gefragt, Neue Ruhr-Zeitung (Duisburg), 18.01.1961. Dieser Artikel führte weiter aus: „In Hamborn haben bisher rund 100 Japaner die Hauerprüfung abgelegt bzw. stehen sie kurz vor der Prüfung. Der deutsche Hauerbrief ist bei den Japanern ein begehrtes Qualifikationspapier.“ Deutscher Hauerbrief für Japaner, Christ und Welt, 24.02.1961. Vgl. Ranft, Objekt, S. 246.
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verheiratet“ war79 . Und neben der Tatsache, dass jemand, der in Japan bereits als Grubenbeamter gearbeitet hatte, auf den Besitz des Hauerbriefs stolz sein konnte, bot dieser außerdem mehr Konsummöglichkeiten: „‚Und unser Uwe ist nun vier Monate alt‘, erzählt Hiroshi Juji, der in Japan bereits Grubensteiger war, stolz. Er verdient heute als Hauer 730 DM netto.“80 Im Anschluss vergaß der Artikel nicht zu erwähnen, dass Juji auch „bereits eine schöne eigene Wohnung und einen Wagen“ besitze81 . Zusätzlich seien hier die Worte des Arbeitsdirektors Theodor Terhorst erwähnt, die er bei der bereits erwähnten Abschiedsfeier der HBAG im Oktober 1963 an die scheidenden japanischen Bergarbeiter richtete: „Ihr verlaßt Deutschland mit dem deutschen Hauerbrief in der Tasche, also der Urkunde, die von jedem guten deutschen Bergmann geachtet und erstrebt wird.“82 Einerseits deutete sich hier die soziale Anerkennung an, die mit dem Erwerb des Hauerbriefs verbunden war oder – nach Terhorsts Ansicht – verbunden sein sollte und quasi die Aufnahme in die Gemeinschaft der anerkannten Bergleute bedeutete. Andererseits fungierte der Hauerbrief als Symbol für gute Bergmannsarbeit und handwerkliches Können. Dadurch schien er ein begehrenswerter Berufsabschluss zu sein, auf den sich die Aspirationen Vieler richteten und auf den es hinzuarbeiten lohnte. Auf einen anderen Aspekt idealtypischer Bergmannsarbeit wiesen die Festredner der Abschiedsfeiern besonders häufig hin, nämlich auf die Kameradschaft und Solidarität, die die japanischen Bergarbeiter im Betrieb geübt hätten und die ihnen die Wertschätzung der deutschen Kumpel eingetragen habe. Kameradschaft betrachteten die Redner als zentralen Wert, den sich die japanischen Bergleute auch in Japan bewahren sollten, da er die Grundlage dafür bilde, „die Freundschaft unter den Bergleuten der beiden Länder noch mehr“ zu festigen83 . 79
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Vgl. Kitamura holt seine Braut, Westdeutsche Allgemeine (Essen), 21.01.1961. Zu dieser Zeit kam es im Ruhrgebiet immer noch wie in den 1920er und 1930er Jahren vor, dass junge Männer ihren Bergarbeiterberuf Frauen gegenüber verheimlichten, weil sie glaubten, dass dies ihre Heiratschancen schmälere. Vgl. Roseman, Recasting the Ruhr, S. 169f. Vgl. auch Stolze Heimkehr junger Bergleute, Braunschweiger Zeitung, 08.04.1961, wo ebenfalls auf den hohen Lohn hingewiesen wurde, den die japanischen Bergleute häufig schon nach kurzer Zeit verdient hätten; Hauerbrief für japanische Bergleute, Kölnische Rundschau, 01.01.1961: „Jetzt sind viele von ihnen, auch die in Duisburg, Hamborn und Gelsenkirchen angelegten, gut verdienende Hauer.“ Kitamura holt seine Braut, Westdeutsche Allgemeine (Essen), 21.01.1961. 52 japanische Bergleute flogen in die Heimat zurück, in: Der Förderturm 38 (1963), S. 23–25, hier S. 23f. Vgl. auch Hauerbrief für japanische Bergleute, Kölnische Rundschau, 01.01.1961: „In diesen Wochen haben 53 von ihnen den deutschen Hauerbrief erworben. Er bescheinigt ihre volle Ausbildung.“ Japanische Hauerprüfung auf Friedrich Thyssen 2/5, in: Der Förderturm 33 (1958), S. 18. Vgl. auch [o.V.], Deutscher Hauerbrief für japanische Bergleute. Bei der Zechengruppe Consolidation bestanden 30 deutsche und 44 japanische Bergleute die Hauerprüfung, in: Unser
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Um dies gleich praktisch umzusetzen, fand im Anschluss an die Prüfungsfeier bei der HBAG jeweils ein „gemütliche[r] Kameradschaftsabend“ statt84 . Den Nachwehen des bergmännischen Grubenmilitarismus des Ruhrgebiets85 boten die japanischen Bergarbeiter einen passenden Anknüpfungspunkt für die Beschwörung von Kameradschaft, wurden ihnen doch besondere militärische Tugenden zugesprochen. An dieser Stelle gingen militärische sowie Pflicht- und Akzeptanzwerte eine Allianz ein.
Das deutsch-japanische Bergarbeiterprogramm und der Wertewandel Im Umfeld der Diskussionen am Ende der 1950er Jahre darüber, wie die Unternehmen des Ruhrbergbaus der Fluktuation in ihren Bergwerken Herr werden könnten, wurden die japanischen Bergarbeiter als Projektionsflächen vereinnahmt. Sie wurden den Lesern als Paradebeispiele für vorbildhafte Arbeitstugenden wie Fleiß, Disziplin, Höflichkeit, Pflichterfüllung und die immer wieder geforderte Kameradschaft präsentiert. Die Repräsentation der japanischen Bergarbeiter war geeignet, die Ausbildung im Ruhrbergbau erstrebenswert erscheinen zu lassen, indem erstens der Ruhrbergbau im Hinblick auf seine technische Entwicklung, die Ausbildungs- und Beschäftigungsbedingungen sowie das Betriebsklima als vorbildhaft dargestellt wurde, zweitens der Aufstieg zum Hauer als Aufstieg zum angesehenen und qualifizierten Facharbeiter beschworen und drittens die damit verbundenen Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs und vermehrten Konsums dargestellt wurden. Die japanischen Bergarbeiter legten in der Mediendarstellung eine vorbildhafte Beziehung zum Beruf und zur bergmännischen Tradition auch unter den Bedingungen der Modernisierung an den Tag. Die Pflege von Kameradschaft und Bergmannstradition wurde bspw. mit dem immer wiederkehrenden Ritual symbolisiert, dass die japanischen Bergarbeiter Neuankömmlinge mit einem „Glück auf “ oder dem Bergmannslied begrüßten, sich die Gruppen vor dem Rückflug mit dem deutschen Bergmannslied verab-
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Pütt 7 (1960), S. 4; Hauerprüfung und Abschiedsfeier gleichzeitig, in: Der Förderturm 36 (1961), S. 16; Japanische Hauerprüfung auf Friedrich Thyssen 2/5, in: Der Förderturm 38 (1963), S. 15 [o.V.], Friedrich Thyssen 2/5 hatte Hauerabschlussprüfung, in: Der Förderturm 38 (1963), S. 18. Vgl. auch 24 japanische Bergleute auf Friedrich Thyssen 2/5 bestanden die Hauerprüfung, in: Der Förderturm 34 (1959), S. 11. Vgl. Helmut Trischler, Partielle Modernisierung. Die betrieblichen Sozialbeziehungen im Ruhrbergbau zwischen Grubenmilitarismus und Human Relations, in: Matthias Frese/ Michael Prinz (Hrsg.), Politische Zäsuren und gesellschaftlicher Wandel im 20. Jahrhundert. Regionale und vergleichende Perspektiven, Paderborn 1996, S. 145–171.
„Die Anderen“ und der Wertewandel
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schiedeten oder zur Jubiläumsfeier eines Knappenvereins in Knappenuniform und Kimono erschienen86 . Da Über-Ich-Stereotype mit ihrem Effekt, die bürgerliche (Werte-)Ordnung symbolisch zu überhöhen, das deutsche Japanbild maßgeblich geprägt hatten, passten die japanischen Bergarbeiter hervorragend zu den Bemühungen von Arbeitgebern und Gewerkschaften, das Ansehen des Bergarbeiterberufs in der Öffentlichkeit zu heben, und ließen sich als Vorbilder jener Arbeitshaltungen nutzen87 . Sie nährten dadurch auch den Mythos vom ursprünglich berufsstolzen Bergmann im Sinne des eingangs zitierten Gedichtes. Die Repräsentationen der japanischen Bergarbeiter entsprachen auf diese Weise genau dem Bild des Bergmanns, wie die Unternehmen ihn sich idealerweise wünschten88 . Von daher verwundert es auch nicht, dass die Ruhrkohle mehr als zehn Jahre nach dem Ende des deutsch-japanischen Bergarbeiterprogramms gerade einen ehemaligen Teilnehmer des Programms als „ein gutes Beispiel für die echte Integration eines Japaners in deutsche Arbeits- und Lebensgewohnheiten“ darstellte89 . Der Mythos vom berufsstolzen Bergmann konnte allerdings keine Wirkung mehr entfalten. Er wirkte auf junge Bergleute nicht mehr anziehend und konnte das soziale Ansehen des Bergmannsberufs nicht heben90 . Auch die in der Repräsentation der japanischen Bergarbeiter enthaltenen Appelle an Fleiß, Pflichterfüllung, Treue und Kameradschaft sowie die Klagen von Unternehmensvertretern über den angeblich steigenden Stellenwert des bloßen Geldverdienens konnten nicht mehr verfangen und die Bergarbeiter in dem Sinne disziplinieren, dass sie die Zechen nicht verließen. Dies bedeutet aber nicht, dass die mit dem Bergmannsmythos verbundenen Werte an sich keine Anziehungskraft mehr besessen hätten. Vielmehr, so argumentiert der US-amerikanische Historiker Mark Roseman, habe es sich als ahistorisch erwiesen, den Bergmannsmythos zu propagieren, da er nicht mehr den Arbeitserfahrungen von jungen Berglehrlingen und Bergleuten sowie den materiellen Rahmenbedingungen entsprochen habe, die sie in den Zechen vorgefunden hätten91 . Der Nachwuchs im Bergbau war unter diesen Umständen nicht mehr bereit, sich an dem Idealtypus des „echten Bergmanns“ zu orientieren. Die Fluktuation und die Arbeitskräfteprobleme im Ruhrbergbau ließen sich denn auch nicht in den Griff bekommen, so dass 86
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Vgl. Knappenverein „Glückauf “ Friedrich Thyssen 2/5 feierte sein 50jähriges Jubiläum, in: Der Förderturm 33 (1958), S. 14–17; Japanische Bergleute kamen mit dem Flugzeug, Rheinische Post (Düsseldorf), 31.01.1958; 24 japanische Bergleute auf Friedrich Thyssen 2/5 bestanden die Hauerprüfung, in: Der Förderturm 34 (1959), S. 11; Japaner sangen zum Abschied „Glück auf “, Neue Rhein-Zeitung, 09.03.1965. Vgl. Roseman, Recasting the Ruhr, S. 170. Vgl. ebd., S. 188f. [o.V.], Hidea Eto arbeitet gern im Bergbau, in: Ruhrkohle 11 (1976), S. VIII. Vgl. Roseman, Recasting the Ruhr, S. 183–185. Vgl. ebd., S. 185–188.
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die Lehrlingszahlen weiter kontinuierlich sanken92 . Vor diesem Hintergrund dürften die gewerkschaftlichen Forderungen nach substanziellen Verbesserungen der Lohn- und Arbeitsbedingungen der Bergleute durchaus realistischer gewesen sein, während der Bergmannsmythos für die Zechengesellschaften zumindest den Nutzen gehabt hätte, sie von der Notwendigkeit besserer Löhne und Arbeitsbedingungen zu entlasten. Im Hinblick auf den Wertewandel und die Annahme weitgehend monolithischer Werteblöcke lässt sich daraus folgern, dass erstens traditionelle Pflichtund Akzeptanzwerte wie Fleiß, Pflichterfüllung und Treue keine unhinterfragten Selbstverständlichkeiten mehr waren. Ihre Bindekraft war nicht mehr so ausgeprägt, dass ihre Anrufung den Wechsel von Bergarbeitern in andere Industriezweige verhindert hätte. Zweitens schienen andere Industrien den Bergleuten nicht nur menschlichere Arbeitsbedingungen, sondern auch einen besseren Verdienst und darüber hinaus bessere Ausbildungs- und Aufstiegschancen zu versprechen. Es zeigt sich drittens also eine spezifische Mischung aus nachlassender Bindekraft „traditioneller“ Werte, instrumentell-ökonomischen Motiven, aber auch aus dem Streben nach der Vervollkommnung eigener Kompetenzen und nach der Gewährleistung eines humanen Arbeitsumfeldes. Diese Mischung liegt gewissermaßen quer zu den gängigen Wertewandelnarrativen und legt nahe, dass die Vorstellung monolithischer zeitlicher Werteblöcke differenziert werden muss, wie dies auch die erwähnten Analysen von Uhl und Donauer andeuten. Denn die etablierten Wertewandelnarrative verdecken viertens die zahlreichen Kämpfe, die um die Geltung von Werten ausgefochten wurden, und diejenigen Kämpfe, in denen Werte selbst und – was im Rahmen dieses Beitrages besonders betont wurde – „die Anderen“ als diskursive Ressourcen eingesetzt wurden. Gegenüber der determinierenden Kraft ökonomischer Faktoren verdecken die gängigen Wertewandelnarrative folglich die diskursiven und praktischen Gestaltungsmöglichkeiten der historischen Akteure. Insofern sollte die Vorstellung von dem Wertewandel vielleicht durch die Vorstellung einer Vielzahl von Aushandlungsprozessen, von vielen Wertewandlungen sozusagen und gleichzeitigen gegenläufigen Tendenzen ersetzt werden. Diese Vorstellung empirisch zu unterfüttern, eben darin liegt fünftens und schließlich das Potenzial einer historisch-qualitativen Untersuchung des historischen Wandels von Werten. Genau an diesem Punkt kann und sollte daher eine historische Wertewandelforschung ansetzen.
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Vgl. ebd., S. 189f. und Lauschke, Schwarze Fahnen, S. 87–89.
Die Autorinnen und Autoren Peter-Paul Bänziger, Dr. phil., geb. 1977, seit 2014 SNF-Ambizione- und MaxGeldner-Stipendiat am Departement Geschichte der Universität Basel; arbeitet an einer Habilitationsschrift mit dem Titel „Der betriebsame Mensch. Eine Geschichte des konsum- und arbeitsgesellschaftlichen Selbst, 1860–1940“ und ist Co-Leiter eines Teilprojekts des HERA-JRP „Disentangling European HIV/AIDS Policies: Activism, Citizenship and Health (EUROPACH)“; 2010–2013 Forschungsaufenthalte an den Universitäten Wien und Köln und an der Columbia University, New York City; Publikationen (Auswahl): Histories of Productivity. Genealogical Perspectives on the Body and Modern Economy (gemeinsam hg. mit M. Suter), New York 2016; Sexuelle Revolution? Zur Geschichte der Sexualität im deutschsprachigen Raum seit den 1960er Jahren (gemeinsam hg. mit M. Beljan, F. X. Eder und P. Eitler), Bielefeld 2015; Sex als Problem. Körper und Intimbeziehungen in Briefen an die „Liebe Marta“, Frankfurt a. M./New York 2010. Brigitta Bernet, Dr. phil., geb. 1973, seit 2016 wissenschaftliche Assistentin am Departement Geschichte der Universität Basel, 2015–2016 Oberassistentin an der Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Universität Zürich, 2012–2015 Koordination des Forschungsprojekts „Dealing with Human Capital“ am Institut für Geschichte der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich; Publikationen (Auswahl): Arbeit in der Erweiterung. Themenheft der Zeitschrift Historische Anthropologie 24/2 (gemeinsam hg. mit Juliane Schiel und Jakob Tanner), Köln/Weimar/Wien 2016; Ausser Betrieb. Metamorphosen der Arbeit in der Schweiz (gemeinsam hg. mit Jakob Tanner), Zürich 2015; Schizophrenie. Entstehung und Entwicklung eines psychiatrischen Krankheitsbildes um 1900, Zürich 2013. Bernhard Dietz, Dr. phil., geb. 1975, seit 2016 Research-Fellow an der Georgetown University Washington, 2010–2016 wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG-geförderten Projekt „Historische Wertewandelsforschung“ am Historischen Seminar der Johannes Gutenberg-Universität Mainz; Publikationen (Auswahl): Zur Theorie des „Wertewandels“. Ein Schlüssel für sozialen und mentalen Wandel in der Geschichte?, in: Peter Dinzelbacher und Friedrich Harrer (Hg.), Wandlungsprozesse der Mentalitätsgeschichte, Baden-Baden 2015, S. 25– 47; Gab es den Wertewandel? Neue Forschungen zum gesellschaftlich-kulturellen Wandel seit den 1960er Jahren (gemeinsam hg. mit Christopher Neumaier und Andreas Rödder), München 2014; Neo-Tories. Britische Konservative im Aufstand gegen Demokratie und politische Moderne (1929–39), München 2012.
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Die Autorinnen und Autoren
Maximilian Kutzner, M.A., geb. 1989, seit 2016 wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG-Projekt „Geschichte eines Leitmediums. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung von ihrer Gründung 1949 bis zur Gegenwart“ am Historischen Seminar der Julius-Maximilians-Universität Würzburg, 2014–2016 Promotionsstipendiat der Konrad-Adenauer-Stiftung sowie Mitglied im Promotionskolleg Soziale Marktwirtschaft, 2009–2014 Studium der Geschichte an der JustusLiebig-Universität Gießen; Publikationen (Auswahl): Köpfe Themen Netzwerke: Das Wirtschaftsressort der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in den wirtschaftspolitischen Diskussionen der 1950er Jahre, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 4 (2014), S. 488–499. Christian Marx, Dr. phil., geb. 1977, seit 2011 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsverbund „Nach dem Boom“, Teilprojekt „Europeanization of Multinationals Europäische multinationale Unternehmen zwischen Europäisierung und Globalisierung im Zeitraum zwischen 1965 und 1990“ (Universität Trier); Publikationen (Auswahl): Die Vermarktlichung des Unternehmens. Berater, Manager und Beschäftigte in der westdeutschen Chemiefaserindustrie seit den 1970er-Jahren, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 12 (2015); Paul Reusch und die Gutehoffnungshütte. Leitung eines deutschen Großunternehmens, Göttingen 2013 (= Moderne Zeit 25). Benjamin Möckel, Dr. phil., seit 2014 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere Geschichte der Universität Köln, 2013–2014 wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG-Forschungsprojekt „Die Wunschkindpille in der DDR: Empfängnisverhütung – Familienplanung – Geschlechterbeziehungen“ an der Universität Jena, 2013 Abschluss der Promotion; Publikationen (Auswahl): Erfahrungsbruch und Generationsbehauptung. Die ‚Kriegsjugendgeneration‘ in den beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften, Göttingen 2014; „Nutzlose Volksgenossen“? – Der Arbeitseinsatz alter Menschen im Nationalsozialismus, Berlin 2010. Jörg Neuheiser, Dr. phil., geb. 1974, seit 2009 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Geschichtswissenschaft, Seminar für Neuere Geschichte, der Eberhard Karls Universität Tübingen, 2008–2009 Projektmitarbeiter am DFGgeförderten Projekt „Historische Wertewandelsforschung“ an der JohannesGutenberg Universität Mainz; Publikationen (Auswahl): Krone, Kirche und Verfassung. Konservatismus in den englischen Unterschichten 1815–1867. (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 192) Göttingen 2010; Crown, Church and Constitution. Popular Conservatism in England, 1815–1867. Oxford/New York 2016.
Die Autorinnen und Autoren
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Markus Raasch, Dr. phil., geb. 1978, seit 2016 Vertretung des Arbeitsbereichs Zeitgeschichte der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (Prof. Dr. Michael Kißener), 2013–2016 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Historischen Seminar – Arbeitsbereich Zeitgeschichte (Prof. Dr. Michael Kißener) an der JohannesGutenberg-Universität Mainz, 2006–2013 wissenschaftlicher (Ober-)Assistent am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt; Publikationen (Auswahl): Der Adel auf dem Feld der Politik. Das Beispiel der Zentrumspartei in der Bismarckära (1871–1890), Düsseldorf 2015; Wir sind Bayer. Eine Mentalitätsgeschichte der deutschen Industriegesellschaft am Beispiel des rheinischen Dormagen (1917–1997), Essen 2007. Friederike Sattler, Dr. phil., seit 2016 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Goethe-Universität Frankfurt, 2012–2016 Lehrbeauftragte ebenda, 2006–2009 wissenschaftliche Mitarbeiterin des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam und Lehrbeauftragte der Universität Potsdam; Publikationen (Auswahl): Ernst Matthiensen (1900–1980). Ein deutscher Bankier im 20. Jahrhundert, Dresden 2009; Wirtschaftsordnung im Übergang. Politik, Organisation und Funktion der KPD/SED im Land Brandenburg bei der Etablierung der zentralen Planwirtschaft der SBZ/DDR 1945–1952, Münster/Hamburg/London 2002. Sebastian Seng, promoviert seit 2013 an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz im Rahmen der Historischen Wertewandelsforschung zum Thema Arbeitswerte im Spiegel von Migrationsdiskursen in der Bundesrepublik Deutschland (1950–2000). Jonathan Voges, Dr. des., geb. 1985, seit 2016 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Seminar der Leibniz Universität Hannover, 2013–2015 Promotionsstipendiat der Studienstiftung des Deutschen Volkes; Publikationen (Auswahl): „Gut hat’s Familie Selbermann, weil sie alles selber kann.“ Die ‚Do it yourself ‘-Bewegung in der Bundesrepublik Deutschland als soziales, kulturelles und ökonomisches Phänomen, in: Hessische Blätter für Volks- und Kulturforschung 52 (2016) [Im Erscheinen]; Die Angst vor der Datendiktatur. Die Volkszählung in den 1980er Jahren und ihre Gegner, in: Cornelia Rauh und Dirk Schumann (Hg.), Ausnahmezustände. Entgrenzungen und Regulierung in Europa während des Kalten Krieges, Göttingen 2015 (= Veröffentlichungen des Zeitgeschichtlichen Arbeitskreises Niedersachsen 28), S. 177–192. Carola Westermeier, M.A., geb. 1988, seit 2014 wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Sonderforschungsbereich „Dynamiken der Sicherheit“ an der Justus-Liebig-Universität Gießen; Publikationen (Auswahl): Sportlerinnen in den Medien: Zwischen Mannweib und Modelkörper, in: Frank Becker und Ralf
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Die Autorinnen und Autoren
Schäfer (Hg.): Die Spiele gehen weiter. Frankfurt a. M. 2014, S. 101–120; Vom „widerlichen Fressen für Voyeure“ zum „Minderheitenprogramm“. Der bundesdeutsche Frauenfußball in Presse- und Selbstdarstellung, in: Markwart Herzog (Hg.): Frauenfußball in Deutschland. Anfänge – Verbote – Widerstände – Durchbruch, Stuttgart 2013, S. 223–240.