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German Pages 274 Year 2014
Nadine Pippel Museen kultureller Vielfalt
Edition Museum | Band 4
Nadine Pippel (Dr. phil.) hat am International Graduate Centre for the Study of Culture der Justus-Liebig-Universität Gießen promoviert. Sie ist Referentin an der Graduiertenakademie der Leibniz Universität Hannover.
Nadine Pippel
Museen kultureller Vielfalt Diskussion und Repräsentation französischer Identität seit 1980
Diese Publikation wird gefördert durch einen Druckkostenzuschuss der FAZIT-Stiftung. Diese Arbeit wurde vom Fachbereich 05: Sprache, Literatur, Kultur der Justus-Liebig-Universität Gießen als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld
Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Satz: Nadine Pippel Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2549-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Vorwort | 7 1. Einleitung: Ansichten der französischen Identität | 9 2. Identitätskonstruktionen in Bewegung | 27 2.1 »La France a la passion de l’universel«: ›Universalité‹ und ›diversité‹ als dynamische Konzepte | 31
2.1.1 Der ›Schmelztiegel‹: Die Bedeutung von Migranten für die Konstruktion französischer Identität seit 1980 | 31 2.1.2 »L’universalité républicaine à l’épreuve«: Auf der Suche nach einer neuen ›universalité‹ | 37 2.1.3 ›Diversité‹ heute: Die Funktionalisierung eines Konzepts | 46 2.2 Integration der Frankophonie und Erweiterung französischer Universalität | 60
2.2.1 Zwischen ›Zentrum‹ und ›Peripherie‹: ›Un imaginaire postcolonial‹ | 60 2.2.2 Von der Frankophonie nach Frankreich: Das Konzept der ›diversité‹ | 69 2.2.3 Frankophonie, ›frankophoner Universalismus‹, ›diversalité‹: Postkoloniale Identitätsentwürfe | 88 3. Identitätskonstruktionen in neuen französischen Museen | 101 3.1 Ein Exempel universeller ›diversité‹: Das Musée du quai Branly | 105
3.1.1 »Une leçon d’humanité«: Politische Bestimmungen | 108 3.1.2 Ein ›heart of darkness‹: Zur Planung | 118 3.1.3 Sprachloser Kulturendialog: Die Dauerausstellung und die Wechselausstellungen »D’un regard l’Autre« (2006) und »Planète métisse« (2008/2009) | 138
3.2 Ein Exempel französischer ›diversité‹: Die Cité nationale de l’histoire de l’immigration | 171
3.2.1 »Leur histoire est notre histoire«: Politische Bestimmungen | 172 3.2.2 Die Cité »en tant que saga constitutive de l’État-nation«: Zur Planung | 185 3.2.3 ›Diversité française‹ oder ›assimilation comme toujours‹? Die Dauerausstellung und die Wechselausstellung »1931. Les étrangers en France au temps de l’Exposition coloniale« (2008) | 203 4. Schluss | 237 5. Anhang | 243 5.1 Abbildungsverzeichnis | 243 5.2 Literaturverzeichnis | 244
Vorwort
Diese Studie ist die überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die an der JustusLiebig-Universität Gießen entstanden ist. An erster Stelle gebührt Prof. Dr. Hartmut Stenzel, dem Erstbetreuer der Dissertation, großer Dank: für vielfältige konstruktive Anregungen, für das Interesse am Thema meiner Arbeit und die Ermunterung, den Schwerpunkt der Dissertation in einem frühen Stadium der Arbeit zu verlagern und anhand von Fallstudien neu aufzubauen. Auch meiner Zweitbetreuerin, Prof. Dr. Verena Dolle, danke ich herzlich für zahlreiche Verbesserungsvorschläge, die Eingang in die vorliegende Fassung gefunden haben. Darüber hinaus haben weitere Personen und Einrichtungen zur Entstehung dieser Arbeit beigetragen. Prof. Dr. Joachim Jacob hat mir hilfreiche Hinweise im Promotionskolloquium gegeben, Prof. Dr. Hubertus Büschel gute Anregungen in der Disputation und in kurzen Gesprächen ›zwischen Tür und Angel‹. Martin Lüthe danke ich herzlich für zahlreiche Gespräche zu postkolonialen Aspekten und besonders zum ›strategischen Universalismus‹. Dem International Graduate Centre for the Study of Culture der Universität Gießen danke ich für ebenso angenehme wie anregende Arbeitsbedingungen und die Unterstützung eines Rechercheaufenthalts in Paris, dem DAAD für die Förderung eines längeren Forschungsaufenthalts ebenfalls in Paris, dem DeutschFranzösischen Institut in Ludwigsburg für ein Recherchestipendium, das mir die Möglichkeit gegeben hat, wichtige Literatur und Dokumente für die Arbeit zu sichten. Der FAZIT-Stiftung danke ich für die großzügige Unterstützung der Publikation meiner Arbeit, den Fotografen Cyril Sancereau und Robert Mehl für die Bereitstellung von Fotos zum Musée du quai Branly und zur Cité nationale de l’histoire de l’immigration. Zuletzt und doch besonders danke ich Michael Bies für unzählige ebenso anregende wie begeisternde Gespräche zu meinem Dissertationsthema, die Durchsicht großer Teile meiner Arbeit – und überhaupt.
1. Einleitung: Ansichten der französischen Identität
Wie virulent in Frankreich noch immer die Frage ist, was die nationale Identität ausmache, hat sich zuletzt im November 2009 gezeigt. Nachdem Nicolas Sarkozy schon 2007 im Wahlkampf zur Präsidentschaftswahl das Thema der nationalen Identität geschickt lanciert hatte, indem er ankündigte, als Präsident ein Ministère de l’immigration, de l’intégration, de l’identité nationale et du co-développement einzurichten, das später auch tatsächlich entstanden ist, initiierte eineinhalb Jahre später der erste Leiter des neuen Ministeriums, Éric Besson, die große monatelange Debatte zur Frage, worauf die gegenwärtige französische Identität gründe. Darin kamen Personen des öffentlichen Lebens wie Journalisten, Wissenschaftler und Politiker und auch alle anderen Teile der Bevölkerung zu Wort, die Interesse an einer Beteiligung hatten. Geführt wurde die Debatte in frankreichweiten Diskussionsrunden und im Internet auf einer eigens eingerichteten Webseite zum ›grand débat sur l’identité nationale‹, die eine Bandbreite an Beiträgen und Einschätzungen zur nationalen Identität Frankreichs enthielt und durch orientierende Leitbegriffe wie ›citoyen‹ und ›nation‹, ›immigration‹ und ›intégration‹ oder ›assimilation‹ und ›diversité‹ ergänzt wurde. Die Auswahl dieser Begriffe verweist aber, wie Hartmut Stenzel gezeigt hat, auf eine deutliche Vorstrukturierung der Online-Debatte und damit auf eine Politisierung des Begriffs der ›identité nationale‹, der zunächst als neutral und gegeben hätte begriffen werden können. So versteht Stenzel die forcierte öffentliche Thematisierung der französischen Identität als eine Strategie, mit der diese Identität zu einer »›eigene‹ Traditionen sichernden Identitätskonstruktion« umgeformt wird, und die Entscheidung, den Begriff der ›diversité‹ in die Reihe der orientierenden Begriffe aufzunehmen, als eine bloße »Fassade […], hinter der die Zwangsjacke einer vereinheitlichenden nationalen Identität zum Vorschein
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kommt«.1 Insgesamt jedoch ist diese Affirmation von ›Vielfalt‹ bemerkenswert und prägend für Verhandlungen von französischer Identität besonders seit der Jahrtausendwende: Sie zeigt ein verstärktes Bewusstsein für die Notwendigkeit, sich nun für eine kulturell und ethnisch verstandene ›diversité‹ zu öffnen. Als Ausdruck eines solchen Bewusstseins kann beispielsweise die Entscheidung verstanden werden, Aimé Césaire im April 2011 mit einer Gedenktafel im Panthéon, der nationalen Grabstätte von Persönlichkeiten aus allen Bereichen der französischen Gesellschaft, zu würdigen. Der von Martinique stammende Dichter und Politiker Césaire studierte in den 1930er Jahren in Paris am Lycée Louis-Le-Grand und an der École normale supérieure. Dort lernte er Léopold Sédar Senghor kennen, mit dem er zusammen die ›négritude‹ begründete, eine antikoloniale Bewegung, die die Rückbesinnung auf die Werte der ›afrikanischen‹ Kultur forderte. Dabei verwendeten Césaire und Senghor weiter die französische Sprache und verstanden diesen Gebrauch als eine triumphierende Geste gegenüber der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich. Césaire kritisierte auch später noch fortwährend den Kolonialismus, wovon besonders sein Discours sur le colonialisme von 1955 zeugt, und kämpfte für die Autonomie Martiniques. Zuletzt hatte er sich 2005 geweigert, Sarkozy auf Martinique offiziell zu empfangen, um damit seinen Protest gegen den Gesetzentwurf zum »rôle positif de la présence française outre-mer« auszudrücken.2 Dass Césaire neben seinem intellektuell-philosophischen Engagement politisch tätig war und dadurch zu einer gern gesehenen Person des öffentlichen Lebens in Frankreich wurde, brachte ihm erhebliche Vorwürfe ein. Seine Tätigkeiten als Bürgermeister von Fort-de-France, der er von 1945 bis 2001 war, und schließlich auch als Abgeordneter der französischen Assemblée nationale riefen angesichts seiner fortwährenden Kritik am Kolonialismus meist Irritationen hervor. Kritiker verstanden seinen Gebrauch des Französischen als Verrat an den eigenen sprachlichen Wurzeln und bezichtigten Césaire einer ambivalenten Haltung, die sich zwischen der Position eines scharfen Kritikers des Kolonialismus einerseits und der eines gut integrierten Intellektuellen und Politikers andererseits bewege.
1
Stenzel, »Identität als politische Strategie und als ›Plastikwort‹«, S. 93, 99. Vgl. neben dem Aufsatz von Stenzel auch »Grand débat sur l’identité nationale«. Zu Sarkozys Wahlkampfstrategie vgl. Noiriel, A quoi sert »l’identité nationale«, S. 81-114.
2
»Le rôle positif de la présence française outre-mer«. Vgl. Césaire, Discours sur le colonialisme; »Aimé Césaire«; »›Seid stolz auf die eigene kulturelle Identität‹«; »Hommage national à Aimé Césaire au Panthéon«. Zur ›négritude‹ vgl. Kapitel 2.2.1.
1. E INLEITUNG | 11
Der Umgang mit Césaire ist in Frankreich allerdings, auch wenn dieser Sarkozy noch den Empfang auf Martinique verweigert hatte, bis heute überwiegend positiv. Dass der Kritiker anlässlich seines Todes im Jahr 2008 geehrt und später im Panthéon gewürdigt wurde, zeigt allerdings nicht nur das. Es belegt zugleich auch einen politisch motivierten Umgang mit Césaire als Integrationsbeispiel. Denn statt eine Aufarbeitung und Neuschreibung der Kolonialvergangenheit und ihrer Implikationen anzustoßen, erscheint seine Würdigung, wie der Historiker Driss Abbassi in Le Monde erläutert hat, als ein symbolischer Akt der Integration, der kurz vor den nächsten Präsidentschaftswahlen im Jahr 2012 wiederum wie ein strategischer Schachzug wirkt. 3 Mit Césaire als dunkelhäutiger Referenzfigur ist kulturelle Alterität jedenfalls exemplarisch anerkannt, affirmiert und sogar in das Panthéon integriert worden. Ein solcher affirmativer Umgang mit kultureller Fremdheit ist in Frankreich besonders seit der Jahrtausendwende zu beobachten, während zuvor lange ein anderer Diskurs den Umgang mit Alterität geprägt hatte. Dieser Diskurs hatte bis in die 1990er Jahre hinein auf der Vorstellung einer französischen Identität gegründet, die seit der Aufklärung als universell verstanden worden war und demzufolge auf dem Konzept der ›universalité‹ beruhte, das zunächst die Universalität menschlicher Anlagen und kultureller Möglichkeiten umfasste. In der Folge wurde das Konzept der ›universalité‹ jedoch entgegen dieser Annahme ›allgemeingültiger‹ Werte vor allem national verwendet und sein Geltungsbereich auf die französische Nation beschränkt. Besonders in der Kolonialzeit wurde dieses Konzept schließlich noch mit einem Überlegenheitsanspruch versehen, der sich in dem zivilisatorischen Unterfangen der ›mission civilisatrice‹ manifestierte und den französischen Kolonialismus legitimierte.4 Außerdem wurde das Konzept in der Dritten Republik (1871-1940) um ein weiteres Element ergänzt: um die vermeintlich historisch verbürgte nationale Einheit, die durch Mythen legitimiert wurde. In Identitätsdebatten der letzten Zeit wird dieses Narrativ, dieses Amalgam aus der Annahme universeller Werte einerseits und spezifisch französischer Geschichtsmythen andererseits, meist mit dem Begriff des ›roman national‹ zur Bezeichnung der sogenannten nationalen ›Meistererzählung‹ umschrieben. Bei der Einrichtung des eingangs erwähnten Ministeriums im Jahr 2007 fungierte es
3
Vgl. Abbassi, »Nicolas Sarkozy, la mémoire collective au secours d’un quinquennat
4
Vgl. Costantini, Mission civilisatrice. Zur ›mission civilisatrice‹ vgl. auch Kapitel
chaotique«. 2.2.1 und 3.1.2.
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denn auch als eine Leitidee, die die vermeintliche Kontinuität und historische Verbürgtheit der französischen Identität bezeugen sollte.5 Vor dem Hintergrund dieser doppelten, der universellen und der narrativen Begründung von französischer Identität wurde lange Zeit die Ausschließung des kulturellen ›Fremden‹ gerechtfertigt, das aufgrund seiner kulturell oder ethnisch begründeten Alterität als entgegengesetzt zum benannten Identitätsverständnis erklärt wurde. Auf konzeptueller Ebene zeigt sich das in dem dichotom verstandenen Verhältnis der Begriffe ›universalité‹ und ›diversité‹. Zwar war das Konzept der ›diversité‹ durchaus bereits verwendet worden, um beispielsweise innerfranzösische Differenzen in Form von regionalen Unterschieden zu beschreiben, wie Fernand Braudel es beispielsweise getan hat,6 doch erschien es lange Zeit noch nicht als ein konstitutives Element der französischen Identität. Vielmehr schien im differenziell, über die Abgrenzung vom kulturell ›Anderen‹ bestimmten Identitätsverständnis die Alterität von Migranten oder Bürgern der (ehemaligen) Kolonien als unvereinbar mit den als universell entworfenen französischen Werten. Auf der Grundlage dieses Verständnisses war der Umgang mit Fremden entweder von Ausschließung oder von der Forderung nach einer Assimilation geprägt, die sich in der sprachlichen und kulturellen Anpassung von Migranten an die französische Gesellschaft niederschlagen sollte und bis in die 1990er Jahre die Grundlage des französischen Integrationsmodells bildete.7 Der Diskurs um diese mehr assimilatorische als affirmative Identität wurde zunehmend in Frage gestellt und spätestens zur Jahrtausendwende deutlich aufgebrochen, als Frankreich sich zu einem Verfechter der international debattierten und von der UNESCO in einer Konvention festgehaltenen ›kulturellen Vielfalt‹ aufschwang. Damit ging eine Verlagerung von der Forderung nach Assimilation hin zu einer Affirmation von Pluralität einher. Sie wurde meist deutlich positiv konnotiert, doch es sind auch Nachteile erkennbar: Zum einen kann die Affirmation von Pluralität die gesellschaftliche Stigmatisierung von Migranten begünstigen, die in den Berichten über die Vorstadtunruhen von 2005 noch einmal besonders deutlich, teilweise durch sie auch erst bekräftigt geworden ist und die durch die Gleichsetzung von Immigration und Integration ebenfalls dem Titel
5
Vgl. Bouretz, La République et l’universel; Citron, Le mythe national; Krulic, »L’universalisme républicain«; Offenstadt, L’histoire bling-bling; Stenzel, »Identität als politische Strategie und als ›Plastikwort‹«; S. 97.
6 7
Vgl. Braudel, L’Identité de la France. Vgl. u.a. Wahnich, L’impossible citoyen; Noiriel, »Français et étrangers«; auch Bancel/Blanchard, »Le colonialisme, ›un anneau dans le nez de la République‹«.
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des neuen Ministeriums eingeschrieben ist.8 Zum anderen haben noch der USamerikanische Literaturwissenschaftler und -theoretiker Walter Benn Michaels und die an der École des Hautes Études en Sciences Sociales und in den USA tätigen Wissenschaftler Didier und Éric Fassin herausgearbeitet, welche homogenisierenden und andere Identitätsmerkmale ausgrenzenden Folgen die sogenannte positive Diskriminierung haben kann.9 Was die Identitätsdebatte von 2009 jedenfalls verdeutlicht hat, ist die Tatsache, dass mit dem französischen Bekenntnis zur ›Vielfalt‹ die Frage nach der Integration von Migranten noch immer nicht beantwortet worden ist. In diesem Spannungsfeld der schwierigen, teilweise gebrochenen Auseinandersetzung mit kultureller und ethnischer Alterität bewegt sich die vorliegende Arbeit. Dabei verfolgt sie die Frage, wie das geänderte und sich verändernde Verhältnis von französischer Identität und kultureller Alterität verhandelt und repräsentiert wird. Ausgehend von der skizzierten Beobachtung, dass der französische Identitätsdiskurs sich gegenwärtig vor allem über die Affirmation eines pluralistisch begriffenen frankophonen Verständnisses der eigenen Identität formiert, soll deshalb gezeigt werden, dass dieses pluralistische Verständnis meist nicht einer Öffnung gegenüber kulturell ›Anderen‹ und einer Veränderung des ›Eigenen‹ korrespondiert, sondern dass es der Fort- und Festschreibung der französischen Identität dient und als Ausdruck einer tiefen Verunsicherung und Krise der nationalen Identität begriffen werden kann.10 Dazu werden im ersten Teil der Arbeit die Prozesse der Identitätskonstitution und -revision in den dominanten Identitätsdiskursen Frankreichs und der Frankophonie seit den 1980er Jahren bis heute anhand der Definition und Verwendung der Konzepte ›universalité‹ und ›diversité‹ untersucht. Dabei soll nicht nur gezeigt werden, dass die Entwicklung der kulturellen und politischen Frankophonie, die sehr viel eher als Frankreich mit dem Konzept der ›diversité‹ arbeitete, entscheidend zur Öffnung gegenüber einem pluralistischen Verständnis beigetragen hat. Es soll auch sichtbar gemacht werden, dass die Affirmation der pluralistischen Identitätsdiskurse auf die Festschreibung einer vorgegebenen af-
8
Zur Stigmatisierung von Migranten durch das neue Ministerium vgl. Noiriel, A quoi sert »l’identité nationale«, S. 7. Vgl. auch ebd., S. 145-148; Kapitel 2.1.3.
9
Vgl. Michaels, The Trouble with Diversity; Fassin/Fassin, De la question sociale à la question raciale?; Kapitel 2.1.3. Zum Begriff und zur Anwendung der positiven Diskriminierung bzw. der ›affirmative action‹ in Frankreich vgl. Sabeg/Sabeg, Discrimination positive; Weil, La République et sa diversité, S. 77-102.
10 Zu den Begriffen der ›identitären Verunsicherung‹ und Krise vgl. Stenzel, »Identität als politische Strategie und als ›Plastikwort‹«.
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firmativen Identität zielt, dass dabei allerdings das für das kulturell ›Andere‹ offene Identitätsverständnis zu einem hegemonialen Entwurf umgeformt wird. In dem Sinne fungiert das Konzept der ›universalité‹ nicht mehr nur als Ein-, sondern ebenso sehr auch als Ausschlussprinzip, und die Verwendung der ›diversité kann wiederum als eine funktionalisierte verstanden werden, die neben der positiven Diskriminierung des ›kulturell Anderen‹ auch Prozesse der Marginalisierung und Ausgrenzung nach sich zieht. Um das jedoch zu vermeiden, sind gerade im frankophonen Diskurs neue Konzepte entwickelt worden, die über eine abendländisch geprägte ›universalité‹ hinausgehen sollen und die in der Arbeit untersucht werden. In der politischen Frankophonie fungiert vor allem der ›frankophone Universalismus‹ als Konzept einer frankophonen Identität, während in der frankophonen ›Peripherie‹ das Konzept der ›diversalité‹ entwickelt worden ist, das die Konzepte der ›diversité‹ und der ›universalité‹ miteinander verbinden und den Aspekt der Vermischung von Identitäten betonen sollte. Doch obgleich solche frankophonen Konzepte zunächst als sinnvoll erscheinen, um über eine französisch geprägte ›universalité‹ hinausgehen und die nationale Identität um ›Vielfalt‹ erweitern zu können, enthüllen sie auch einen Widerspruch in der Konstruktion der Frankophonie: Denn der erweiterte ›frankophone Universalismus‹ ist zwar an das Vorbild einer als offen und ›vielfältig‹ begriffenen Frankophonie angelehnt, zugleich aber als eine Einheit entworfen, die nach außen, insbesondere gegen den US-amerikanischen Sprach- und Kulturraum abgegrenzt wird. Die Affirmation der ›diversité‹, die mit dem ›frankophonen Universalismus‹ einhergeht, wird damit auch hier schon funktionalisiert, insofern die Öffnung gegenüber dem ›Anderem‹ letztlich auch der Verteidigung des ›Eigenen‹ dient. Nachdem also die Instrumentalisierung postkolonialer Diskurse und die stetige Revision, Formierung und Festschreibung der französischen und frankophonen Identität im ersten Teil der Arbeit aufgezeigt worden sind, werden im zweiten Teil Repräsentationen dieser Identitätsentwürfe und Entwürfe von Alterität in zwei neueren Pariser Museen untersucht: in der Cité nationale de l’histoire de l’immigration (Cité) und im Musée du quai Branly (Quai Branly). Der 2006 eröffnete Quai Branly ist als Museum konzipiert, das die Kulturen und Künste Afrikas, Asiens, der beiden Amerikas und Ozeaniens anhand von Objekten aus diesen Regionen repräsentiert. Obschon er als Inbegriff von ›Vielfalt‹ konzipiert wurde und die deutliche Affirmation kultureller Alterität sich hier überall niederschlägt, ist zugleich zu beobachten, dass die meist kolonialen Ursprünge und soziokulturellen Kontexte der Objekte im Quai Branly weitgehend ausgelassen und von einer reinen, wohlgeordneten Ästhetik in der Dauerausstellung überlagert werden.
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Eine ähnliche Widersprüchlichkeit wird an der 2007 eröffneten Cité sichtbar, die die Geschichte der Immigration nach und in Frankreich zu präsentieren versucht und immer wieder als Inbegriff der Öffnung gegenüber kultureller Alterität verstanden worden ist. Entgegen dieser reklamierten Toleranz und Affirmation des kulturell ›Fremden‹ geht die vorliegende Arbeit allerdings davon aus, dass in den Ausstellungen des Museums vor allem die ethnisch-kulturelle Zugehörigkeit zu homogenen Teilgruppen dargestellt wird und Migranten dadurch als an- und bereichernde Elemente einer dezidiert französischen Identität erscheinen. Die Analyse der Cité soll deshalb die hier realisierten Entwürfe der ›diversité‹ und der französischen Identität offenlegen, die möglicherweise der Konzeption und Intention des Museums widersprechen und ein hierarchisches Verhältnis zwischen dem Einwandererland Frankreich und seinen Migranten fort- und festschreiben. Dabei soll schließlich auch gezeigt werden, welche Implikationen des französischen Kolonialismus in der Darstellung des Museums nicht berücksichtigt werden. Dass diese kolonialen Implikationen ausgelassen werden und in der Cité wie auch im Quai Branly stattdessen das kulturell ›Andere‹ affirmiert wird, erlaubt den Vergleich zwischen den Museen. Deshalb sollen in der Untersuchung ebenso die Entsprechungen in der Konzeption und im zeitlichen und räumlichen Entstehungskontext beider Museen wie ihre Unterschiede thematisiert werden. So ist die räumliche Einordnung in den urbanen Raum der Hauptstadt besonders aufschlussreich und unterscheidet die Museen deutlich voneinander: Während die Cité am Rande der Stadt angesiedelt ist, steht der Quai Branly mitten im Zentrum von Paris. Auch der Umstand, dass ein auffälliges, innovatives und kostspieliges Gebäude für den Quai Branly gebaut worden ist, zeigt die Verschiedenheit dieses Projekts von dem der Cité, die sich in einem zur Kolonialausstellung im Jahr 1931 fertiggestellten Gebäude befindet. Die räumliche Unterscheidung wird übrigens dadurch noch bedeutsamer, dass dieser sogenannte Palais des Colonies bis 2003 Gegenstände aus den französischen Kolonien beherbergt hatte, die später in den Quai Branly überführt worden sind, dort aber unter Verschluss stehen. Der Quai Branly und die Cité erweisen sich somit aus mehreren Gründen als fruchtbare Gegenstände für die vorliegende Untersuchung. Zunächst sind sie in musealer Hinsicht symptomatisch und deshalb relevant. Im Hinblick auf ihre Form könnte man zwar einwenden, dass die Darstellung von Identitäten in Museen einer gewissen Festschreibung dieser Identitäten nie entgehen kann. Jedoch werden beide Museen als Meilensteine in der musealen Landschaft in Paris und Frankreich generell und teilweise auch als Ausdruck ihrer Erneuerung bewertet. Denn die museale Landschaft in der Hauptstadt hat sich seit der Jahrtausend-
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wende deutlich verändert: Museen wie das Musée des Arts Africains et Océaniens, das im heutigen Gebäude der Cité beheimatet war, und das am westlichen Pariser Bois de Boulogne gelegene Musée national des Arts et traditions populaires wurden geschlossen, das Musée de l’Homme wurde umstrukturiert. Neben dem Quai Branly und der Cité ist außerdem ein weiteres Museum geplant worden, das mit der Verhandlung kultureller Alterität befasst sein soll: das 2013 eröffnete Musée des Civilisations de l’Europe et de la Méditerranée in Marseille.11 Darüber hinaus sind beide Museen in inhaltlicher Hinsicht vergleichbar: Denn während in der Cité die Frage nach der Integration von kultureller Alterität in das französische Selbstverständnis ohnehin durch das repräsentierte Thema, die Migration nach Frankreich, gestellt wird, lässt auch die Darstellung der kulturellen Alterität im Quai Branly Rückschlüsse auf die Konzeption des ›Eigenen‹ und sein Verhältnis zum ›Anderen‹ zu. Der Quai Branly und die Cité werden denn auch meist als Institutionen verstanden, in denen sich das affirmative Bekenntnis Frankreichs zur Alterität und zur ›diversité‹ der ›Anderen‹ geradezu exemplarisch manifestiert und kulturelle Alterität in offener und differenzierender Weise verhandelt wird; sie gelten dadurch als Wegbereiter eines Paradigmenwechsels. Außerdem unterstreicht der Umstand, dass sie nicht nur als Museen, sondern ebenso sehr auch als Kulturzentren konzipiert worden sind, auch in der Form den Eindruck eines solchen Umschwungs. Die Überlegung, ob die beiden Einrichtungen diesen Umschwung wegweisend eingeläutet haben, wird insofern bedeutsam, als eine Konferenz im Louvre im November 2006 die Institution des Museums als einen Ort diskutiert hat, der kulturelle ›Vielfalt‹ und eine ›intégration sociale‹ repräsentieren kann. Denn dabei ist die erkennbare Verknüpfung dieser beiden Themenfelder, die sich nicht per se ausschließen müssen, doch deren Verhältnis zueinander hinterfragt werden kann, durchaus bemerkenswert. Sie lässt die These zu, dass die Affirmation der kulturellen Alterität durch die museale und damit kulturelle Repräsentation auch als eine gleichsam politische Strategie verstanden werden kann, die die soziale Integration von Fremden fördern soll, die aber offen lässt, wie die Förderung der kulturellen ›diversité‹ gewissermaßen automatisch eine ›soziale Integration‹ nach sich ziehen soll. Man könnte diese Integration auch als eine Forderung nach Anpassung verstehen, zumindest wenn man Gérard Noiriels Interpretation
11 Vgl. de l’Estoile, Le goût des Autres, S. 15-17; Dias, »Le musée du quai Branly: une généalogie«, S. 67; Lebovics, Bringing the Empire back home, S. 10-13; »Le Musée des Civilisations de l’Europe et de la Méditerranée«; www.musee-europemediterra nee.org/fr.
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des Begriffs ›Integration‹ als schönfärberischer Bezeichnung für ›soziale Assimilation‹ folgt.12 Neben der Affirmation von ›kultureller Vielfalt‹ verweist der sich in den Museen manifestierende gesellschaftliche und kulturpolitische Umbruch auch auf die historischen Gründe für Veränderungen im nationalen Identitätsdiskurs, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einsetzten. Nachdem das französische Selbstverständnis in der Dritten Republik noch weitgehend stabil erschienen war und die Annahme einer nationalen homogenen Einheit dominiert hatte, wie sie im bereits genannten Narrativ des ›roman national‹ deutlich wird,13 erschütterten die Unabhängigkeitsbewegungen in den französischen Kolonien nachhaltig diese Annahme: Zwischen 1954 und 1962 erfolgte der Ablösungsprozess der meisten Kolonien, der mit dem blutigen Algerienkrieg und der Entkolonisierung der Überseegebiete ohne Souveränitätstransfer, der heutigen DOMTOM-Gebiete, vorerst endete; die Komoren, Djibouti und Vanuatu wurden schließlich im Verlauf der 1970er und 1980er Jahre unabhängig.14 Der Verlust der weltweit vorhandenen Kolonien markierte den Beginn einer Reihe weiterer Krisen. Im Mai 1968 begünstigten der Aufbau Europas und die Studentenrevolten zusammen mit sozialen Unruhen und dem sich anschließenden Generalstreik die national-identitäre Verunsicherung. Die gesellschaftliche Umwälzung von ’68 führte nicht nur dazu, dass Charles de Gaulle die französische Nationalversammlung auflösen und im Juni desselben Jahres neu wählen ließ. Sie bewirkte letztlich auch, dass der Präsident, der mit den Anfängen der Fünften Republik unweigerlich verbunden ist, 1969 nach einem verlorenen Referendum zur angestrebten Regionalisierung sein Amt als Staatsoberhaupt niederlegte. Bis heute sind die Gründe für die Unruhen von 1968 umstritten, nicht aber der Umstand, dass sie weitreichende kulturelle, politische und wirtschaftliche Reformen nach sich zogen, die die identitäre Verunsicherung im Land verstärkt haben.15 Mit dem Ende der sogenannten Trente glorieuses, der französischen Wirtschaftswunderjahre, wurde diese Verunsicherung Mitte der 1970er Jahre noch
12 Vgl. »Détails de la manifestation de 10h à 18h«; »Le Musée, lieu de diversité culturelle et d’intégration sociale?«; Noiriel, Le creuset français, S. 341. 13 Vgl. Stenzel, »Identität als politische Strategie und als ›Plastikwort‹«, S. 97. 14 Vgl. von Krosigk, »Frankreich in der Welt«; Becker, Histoire politique de la France, S. 82-90. 15 Vgl. Becker, Histoire politique de la France, S. 118-125; Baier, »Der französische Mai ’68«. Zum Aufbau Europas vgl. Roman, »Identité nationale: parlons-en!«, S. 134-136.
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forciert. Der Ölschock von 1973/1974 und die mit ihr einhergehende Inflation bremste die Phase des Wachstums in Frankreich, das die Nachkriegszeit kennzeichnende Gesellschaftsmodell schien zu zerfallen, und die französische Selbstwahrnehmung mit dem in die Krise geratenen Wirtschafts- und Sozialmodell, der damit einhergehenden Arbeitslosigkeit und der Prekarisierung von Arbeit wurde erschüttert.16 Obschon die Krise zwar nicht allein in Frankreich zu beobachten war, schlug sie sich dort in besonderer Weise in der Sorge um den Verlust der eigenen Kultur und Werte nieder und wurde vor allem durch den USamerikanisch dominierten Globalisierungsschub weiter befeuert. Im Verlauf der 1980er und 1990er Jahre setzten denn auch Prozesse ein, die die bisherigen Orientierungsmuster des französischen Selbstbildes nach und nach aufbrachen und sie bis heute einer ständigen Konstitution und Revision unterwarfen, wie zuletzt die in dieser Arbeit besprochenen Museen zeigen.17 Aus diesem historischen Vorlauf der gegenwärtigen französischen Identitätsdebatten lassen sich zwei Einordnungen ableiten, die für die vorliegende Arbeit von Bedeutung sind. Wichtig ist zum einen die Positionierung der Untersuchungsgegenstände in der größeren Debatte um den vor allem in den USA ausgeprägten Multikulturalismus, die auch französische Debatten um Identität und den Umgang mit Alterität beeinflusst hat und in der es bis heute um die Frage geht, inwieweit ein monokulturalistisches Frankreich auf Forderungen nach der Anerkennung von kulturellen Differenzen eingehen kann und soll. Diese Debatte spiegelt nicht nur den Streit zwischen ›Multikulturalisten‹ und sogenannten ›Integrationisten‹ wider und mündet häufig in der medienwirksam formulierten Sorge vor dem sogenannten Kommunitarismus und der Fragmentarisierung der französischen Gesellschaft. Sie steht zugleich für die Suche nach einer Antwort auf die Frage, wie das Verhältnis von Individuum und Politik, von privatem und öffentlichem Raum neu gefasst werden kann, die durch zunehmende Forderungen nach Anerkennung kultureller Differenzen und Teilidentitäten virulent geworden ist vor dem Hintergrund einer Nation, die als ›universelle Nation‹ kulturell oder anders begründete Differenzen lange Zeit der Privatsphäre zugeschrieben und die politische Sphäre als eine homogene Einheit entworfen hat.18 In
16 Vgl. Becker, Histoire politique de la France, S. 138-141; Uterwedde, »Französische Wirtschaft und Gesellschaft«. 17 Zu den Identitätskrisen und Revisionsprozessen in Frankreich und in anderen Ländern vgl. Wieviorka, »Culture, société et démocratie«, S. 33-38. 18 Vgl. Khosrokhavar, »L’universel abstrait«, S. 113-151; Martuccelli, »Les contradictions politiques du multiculturalisme«, S. 61f. Vgl. auch Schnapper, Qu’est-ce que l’intégration?
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diesem politiktheoretisch und soziologisch zu analysierenden Feld kann die vorliegende Arbeit keine Konzeptionen entwerfen. Stattdessen will sie zeigen, wie der dominante Identitätsdiskurs, der sich in dem skizzierten Spannungsbereich bewegt, formiert und reformiert wird und wie dieser sich verändernde Diskurs strategisch verwendet wird, um kulturell oder anders begründete Identitäten zu marginalisieren und zu homogenisieren. Aus dem historischen Verlauf ergibt sich zum anderen das, was die Arbeit leisten kann und was sie nicht leisten möchte. So will sie sich nicht primär theoretisch, auf dem Feld der postkolonialen Konzepte oder Theorien, positionieren, sondern aufgrund ihrer Untersuchungsgegenstände, der Identitätsdebatten in Frankreich und der Frankophonie sowie der zwei neueren Pariser Museen, vielmehr als eine Untersuchung fungieren, die postkoloniale Themenfelder vor allem im Blick auf die Frage nach dem Umgang mit postkolonialen Identitäten, der sogenannten ›immigration postcoloniale‹, aufnimmt und zuspitzt. Vor diesem Hintergrund sollen die zu untersuchenden Identitätsdiskurse als solche verstanden werden, die mit ihren Debatten um den Kolonialismus und seinen Implikationen, ihren bis heute fortwirkenden kolonial beeinflussten hegemonialen Hierarchiestrukturen, postkolonial sind. In dieser Perspektive ist der gegenwärtige französische Umgang mit der nationalen Kolonialvergangenheit aufschlussreich. Denn nachdem diese nach der Entkolonialisierung der französischen Gebiete durchaus verhandelt, jedoch zwischen 1975 und 1990 in der Wissenschaft und in der Politik weitgehend tabuisiert worden ist, sind die Themen Kolonialismus und Postkolonialismus mit den zunehmenden Forderungen nach der Anerkennung kultureller Identitäten und dem ansteigenden wissenschaftlichen Interesse an einer Aufarbeitung in Frankreich wieder virulent geworden. Das hat sich beispielsweise in den kontroversen Reaktionen auf den 2003 veröffentlichen Livre noir du colonialisme von Marc Ferro, einem Sammelband zum französischen Kolonialismus und seinen Auswirkungen, gezeigt oder auch in der Debatte um den bereits genannten Gesetzentwurf zur ›positiven Rolle‹ Frankreichs in Übersee. Zuletzt wurde auch die Rede Sarkozys in Dakar im Juli 2007 kontrovers diskutiert, in der der neue Präsident die Afrikaner als ein ›naturverbundenes‹ und Zukunft und Fortschritt ablehnendes Volk darstellte.19 Diesen Debatten und den Forderungen nach der Anerkennung von Migranten aus ehemaligen Kolonialgebieten steht wiederum die zum Teil noch immer andauernde Ausblendung der französischen Kolonialvergangenheit entgegen. In
19 Vgl. Bernard/Jakubyszyn, »A Dakar, Nicolas Sarkozy appelle l’Afrique à ›renaître½ et à ›s’élancer vers l’avenir‹«.
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der nationalen Gedächtnistopografie fehlte sie lange Zeit, woran auch Pierre Noras Lieux de mémoire von 1992 nichts änderten, in denen allein die in Paris stattfindende Kolonialausstellung aus dem Jahr 1931 als Gedächtnisort des Kolonialismus berücksichtigt worden ist. Erst die Zusammenstellung des Australiers Robert Aldrich von kolonial beeinflussten symbolischen Orten, zu denen auch französische Symbolorte gehörten, konnte dem 2005 entgegenwirken.20 Vor dem Hintergrund dieser noch immer schwierigen Auseinandersetzung mit der französischen Kolonialvergangenheit und der Annahme, dass sie bis heute in französischen Identitätsdebatten fortwirkt, soll in der Arbeit davon ausgegangen werden, dass die Bewegungen im französischen Identitätsdiskurs erst dann vollständig und differenziert gezeigt werden können, wenn dabei mögliche koloniale oder postkoloniale Bilder, Strukturen und Prozesse berücksichtigt und verhandelt werden.21 Um vor diesem Hintergrund die steuernden Definitionen und Zuschreibungen in der Identitätsaushandlung und -repräsentation zu untersuchen, geht die vorliegende Arbeit diskursanalytisch vor. Dazu wird ein eher weiter Diskursbegriff verwendet, wie er maßgeblich durch Michel Foucault geprägt worden ist. Denn dieser nicht immer eindeutige Begriff hilft nicht nur zu zeigen, wie vermeintlich objektives Wissen in Gesellschaften organisiert ist, sondern zielt auch und insbesondere auf die Darstellung der Produktionsprozesse von Wissen und Wirklichkeit. Nach Foucault sind diese als Ergebnis sozialer Herstellungsprozesse zu begreifen und bezeichnen »geregelte und diskrete Serien von Ereignissen«.22 Demnach sind diejenigen Prozesse gemeint, die bestimmte epistemische Gegenstände, Phänomene und Konstellationen an Gestalt und Festigkeit gewinnen und sie schließlich zu dominierenden, vermeintlich objektiven ›Tatsachen‹ werden lassen, oder, wie man mit Foucault auch sagen könnte, zur »Wahrheit, in der wir gefangen sind und die wir ständig erneuern«.23 Diskurse sind deshalb unweigerlich mit Macht verbunden, indem sie über das, was sie definieren, und über das, was sie artikulierbar werden lassen und hypostasieren oder als unsagbar vernachlässigen, einen Objektivitäts- und Wahrheitsanspruch vertreten. In diesem Lichte, aber auch in dem Bewusstsein, dass die Vieldeutigkeit des Dis-
20 Aldrich, Vestiges of the Colonial Empire in France. 21 Vgl. Ferro, »La colonisation française« sowie ders., Le Livre noir du colonialisme. Vgl. Nora, Lieux de mémoire. Zur Kolonialausstellung vgl. auch Kapitel 3.2.2 und 3.2.3. Zur postkolonialen Geschichtsschreibung und Verhandlung in Frankreich vgl. Coquery-Vidrovitch, Enjeux politiques de l’histoire coloniale. 22 Foucault, Die Ordnung des Diskurses, S. 38. 23 Ebd., S. 39.
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kursbegriffs nicht unproblematisch ist, wie Achim Landwehr gezeigt hat,24 kann die Analyse der Diskurse für die vorliegende Arbeit fruchtbar gemacht werden. Im Folgenden wird deshalb davon ausgegangen, dass die französische Identität das Resultat fortwährender sozialer Produktionsprozesse ist, die es für den skizzierten Zeitraum an den genannten Untersuchungsgegenständen aufzudecken gilt. Diesem Umstand folgt auch die Auswahl des Materials, das das ›Wissen‹ und die ›Wirklichkeit‹ der Identitätsdiskurse manifestiert. Um die Vielschichtigkeit dieser Diskurse zu erfassen, muss eine Bandbreite verschiedener Dokumente und Dokumentgattungen betrachtet werden: politische Reden, Zeitungsartikel, Beiträge auf Internetseiten, wissenschaftliche Aufsätze bis zu Konzeptpapieren, erläuternden Texten, Ausstellungskatalogen sowie die sinnlichen Manifestationen des Identitätsdiskurses im Aufbau und in den Objekten der Ausstellungen. Den Urhebern und Verfassern dieses Materials kommt dabei eine besondere Rolle zu. Sie werden hier nicht als ›Begründer‹ des Diskurses, sondern lediglich als Sprecher und Akteure im Diskurs in den Blick genommen, die im Rahmen des Diskurses Änderungsmöglichkeiten vorschlagen und verhandeln, sich aufeinander beziehen und den Diskurs damit fortwährend perpetuieren. In der vorliegenden Arbeit sind es vor allem Wissenschaftler und Intellektuelle, aber auch Politiker und Akteure der Zivilgesellschaft und im Fall des Quai Branly und der Cité auch Vertreter der Museen, deren Äußerungen bedeutsam sind. Dabei ist beispielsweise die Tatsache aufschlussreich, dass sich die Brüder Yacine und Yazid Sabeg, von denen der letztgenannte der französischen Denkwerkstatt, dem Institut Montaigne, angehört und zudem von Sarkozy zum ›Kommissar für Vielfalt‹ ernannt worden ist, in einer detaillierten Analyse öffentlich zur ›positiven Diskriminierung‹ bekannten und sich damit an der Debatte um die Frage beteiligten, ob differenzierende Identitätsmerkmale von Migranten besonders hervorgehoben werden können und sollen. Wissenschaftlern wird in der Arbeit sogar eine doppelte Rolle zuteil. Einerseits sind sie als Intellektuelle des öffentlichen Lebens Akteure im Diskurs, andererseits versuchen sie mit dem wissenschaftlichen Material, das sie liefern und auf das in der vorliegenden Arbeit rekurriert wird, immer auch von einem Außerhalb des Diskurses auf diesen Diskurs zuzugreifen, ohne jedoch ganz außerhalb diskursiv präformierter Äußerungszusammenhänge stehen zu können. Es ist sogar davon auszugehen, dass den Wissenschaftlern vor allem in der Verhandlung der französischen Identitätsdebatten ein besonderes Gewicht eingeräumt werden muss, was zum einen am Untersuchungsgegenstand ›Identität‹
24 Vgl. Landwehr, Historische Diskursanalyse, S. 13-25, 65-79.
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selbst liegen mag, der ein wichtiges Thema in der Soziologie, der Politik- und Geschichtswissenschaft ist. Zum anderen liegt diese Dominanz in der Doppelrolle des französischen Wissenschaftlers begründet, der seit etwa 1900 als akademischer Vertreter und zugleich als meist ›männlich‹ verstandener ›Intellektueller‹ begriffen wird und als kritisch-moralische Instanz der Gesellschaft in Debatten eingreifen kann.25 In der Untersuchung des Quai Branly und der Cité wird Wissenschaftlern allerdings noch in anderer Hinsicht eine doppelte Rolle zuteil. Sie sind nicht nur Sprecher im Identitätsdiskurs, die der Konzeption der Museen zugrunde liegt, sondern zum Teil auch Mitglieder der sogenannten wissenschaftlichen Beiräte und tragen in dieser Funktion konkret zur Konzeption und Umsetzung auf der Repräsentationsebene bei. Um die Frage zu untersuchen, wie das geänderte und sich verändernde Verhältnis von französischer Identität und kultureller Alterität verhandelt und repräsentiert wird, werden in der Arbeit vier übergreifende Thesen verfolgt: Ausgehend von der skizzierten Beobachtung, dass der französische Identitätsdiskurs sich gegenwärtig vor allem über die Affirmation eines pluralistisch begriffenen Verständnisses der eigenen Identität formiert, sind die Thesen leitend, dass erstens dieses pluralistische Verständnis meist nicht einer Öffnung gegenüber kulturell ›Anderen‹ und einer Veränderung des ›Eigenen‹ korrespondiert, sondern der Fort- und Festschreibung der französischen Identität dient und dass seine Affirmation zweitens als Ausdruck einer tiefen Verunsicherung und Krise der nationalen Identität begriffen werden kann. Die Untersuchung der Repräsentationen von Alterität in den beiden behandelten Museen lässt sich drittens auf die These zuspitzen, dass diese Affirmationen kultureller Vielfalt vor allem die Auslassung von Themen wie der Kolonisierung, die die Auseinandersetzung mit kultureller Alterität unweigerlich nach sich zieht, gewissermaßen kompensieren. Daran zeigt sich viertens, dass die untersuchten Museen weniger als Wegbereiter eines Paradigmenwechsels in der französischen Museumslandschaft, sondern vor allem als Stabilisatoren in den Gesellschaftsdiskursen um die ›eigene‹, die französische Identität fungieren. Vor dem Hintergrund dieser Thesen gliedert sich die Arbeit in zwei große Teile, die sich der Verhandlung und der Repräsentation von Identität und Alterität widmen. Im ersten Teil geht es um die in Bewegung geratenen Konzepte der
25 Zum Begriff des Intellektuellen in Frankreich vgl. Winock, Le siècle des intellectuels. Vgl. auch Bourdieu, der in Die feinen Unterschiede Intellektuelle und ihren Kulturkonsum immer wieder von anderen Gesellschaftsschichten unterschieden und in Homo Academicus die universitäre Welt Frankreichs einer soziologischen Analyse unterzogen hat.
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›universalité‹ und ›diversité‹ sowie ihr Verhältnis zueinander und zwar zunächst in drei Teilkapiteln um die Verhandlung dieser Konzepte im französischen Diskurs.26 Zur historischen Einbettung betrachtet das erste Teilkapitel (2.1.1) die Bedeutung von Migranten für die französische Identitätskonstruktion seit 1980 und die ansteigende Bedeutung von Immigration für die Konstruktion der französischen Identität. Anschließend wird die Diskussion um das französische Integrationsmodell um 1990 wiedergegeben und gezeigt, wie der Fokus von der Forderung nach Integration, die an Migranten gestellt wurde, sukzessiv verlagert worden ist hin zur Berücksichtigung von Differenzen. Das zweite Teilkapitel (2.1.2) erörtert dann, wie das Konzept der ›universalité‹ durch den zunehmenden Fokus auf kulturelle Alterität auf den Prüfstand gestellt wurde. Anhand von wissenschaftlich geprägten Debatten und Überlegungen wird gezeigt, wie das Konzept zunächst zunehmend dogmatisch und abstrakt verwendet worden ist, bevor schließlich der Versuch unternommen wurde, es neu zu gestalten und für das nationale Selbstverständnis und für die Affirmation von Alterität fruchtbar zu machen. Das dritte Teilkapitel (2.1.3) widmet sich schließlich dem Begriff der ›diversité‹, seiner diskursiven Erzeugung und Verwendung in französischen Identitätsdebatten sowie den daraus folgenden Konsequenzen. Zunächst wird das Konzept der ›diversité‹ definiert und eingeordnet, bevor dann gezeigt wird, wie mit der Einführung des Begriffs eine zunehmende Ethnisierung von Migranten vollzogen worden ist. Es soll daran erläutert werden, wie in französischen Identitätsdebatten kulturelle Differenzen durchaus zugelassen, zugleich jedoch sozial entschärft und damit für den Fortbestand der nationalen Einheit anschlussfähig gemacht wurden. Ähnlich sollen auch die frankophonen Identitätsdebatten und die Identitätszuschreibungen und -aushandlungen in der Frankophonie in abermals drei Teilkapiteln untersucht werden. Dazu wird im ersten dieser Kapitel (2.2.1) die Idee und die Institution der Frankophonie näher bestimmt, und mithilfe ihrer zentralen Referenzfigur, des eingangs genannten Senghor, wird gezeigt, wie sich die Frankophonie von ersten Zusammenschlüssen in den 1960er und 70er Jahren hin zur Gründung der politischen Instanz der Frankophonie in den 80ern entwickelt hat. Dabei sollen die Entwicklung von Senghors Grundidee des sogenannten ›humanisme intégral‹ hin zur Affirmation ›kultureller Vielfalt‹ erläutert und die
26 In der vorliegenden Arbeit wird vor allem der Begriff ›universalité‹ verwendet, um die Verhandlung dieses Konzepts zeigen zu können. Der Begriff des ›universalisme‹ wird dagegen weniger genannt, da dieser lange Zeit als eine Ideologie fungiert hat und in diesem Sinne als weniger brauchbar erscheint, um die konzeptuellen Verschiebungen im Diskurs herauszuarbeiten.
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Bewegungen skizziert werden, die die Frankophonie zwischen ihrem Ursprung in der ›Peripherie‹ und ihrem politischen Zusammenschluss vollzogen hat, der von Frankreich gefördert wurde und heute entsprechend frankreichnah konzipiert ist. Im zweiten Teilkapitel zur Frankophonie (2.2.2) wird erläutert, wie das im frankophonen Identitätsdiskurs durchgängig positiv konnotierte Konzept der ›diversité‹ vom französischen Diskurs vereinnahmt wird, um die Schwierigkeiten einer Revision und Neubegründung der französischen Identität gewissermaßen zu kompensieren. Um das belegen zu können, wird in einem ersten Schritt die Verhandlung der ›diversité‹ in der politischen Frankophonie untersucht. Anhand der Äußerungen von Wissenschaftlern und der Generalsekretäre der zentralen frankophonen Instanz, der Organisation internationale de la Francophonie, zeigt die Untersuchung, wie im frankophonen Diskurs das Konzept der ›Vielfalt‹ meist zu einem ›humanisme‹ weitergedacht wird, um die Frankophonie als eine zukunftsweisende Modellgemeinschaft zu entwerfen. Im zweiten Schritt werden dann drei Berichte von französischen Abgeordneten konsultiert, die das Verhältnis zwischen Frankreich und der Frankophonie unter Berücksichtigung des Konzepts der ›diversité‹ unterschiedlich beschreiben. Die daran erkennbaren Verschiebungen im Diskurs legen zum einen die Bewegungen zur Affirmation der ›diversité‹ offen, zum anderen verweisen sie auf die Verflechtungen und Abhängigkeiten zwischen der Frankophonie und dem Hexagon. Das letzte der drei Kapitel (2.2.3) widmet sich schließlich der Verhandlung des Konzepts der ›universalité‹ in der Frankophonie. Es wird untersucht, wie das Konzept im Diskurs der politischen Frankophonie durch einen Mechanismus der Ein- und Ausschließung begründet wird und in dieser Ausrichtung vor allem eine Anlehnung an die französisch konturierten universellen Werte aufzeigt. Darüber hinaus wird analysiert, wie zugleich in der frankophonen ›Peripherie‹ das Konzept der genannten ›diversalité‹ entworfen worden ist, mit dem dieser Mechanismus durchbrochen werden sollte. Letzteres lässt denn auch ebenso den Versuch erkennen, die Frankophonie als eine emanzipierte, postkoloniale Gemeinschaft zu entwerfen, wie Verschiebungen und Widersprüchlichkeiten in den Diskursen. Solche Verschiebungen lassen sich auch in den Diskursen um die zwei genannten Museen erkennen. Der Quai Branly und die Cité werden deshalb analog zueinander mittels eines Dreischritts untersucht. Im Falle des Quai Branly werden zunächst die Entwicklungen des Projekts skizziert und seine politischen Bestimmungen diskutiert (3.1.1). Zwei Reden, die Jacques Chirac in der Planungsphase des Museums und anlässlich seiner Eröffnung gehalten hat und in denen er die Konzeption und die Aufgabe des neuen Museums darlegt, erlauben den Blick auf den für den Quai Branly definierten Begriff der universellen ›diversité‹. Es
1. E INLEITUNG | 25
kann gezeigt werden, dass dieser Begriff entgegen einer vermeintlich allumfassenden, transhistorischen Konzeption einer republikanisch-universellen Konzeption ähnelt und damit ebenfalls von der US-amerikanischen Globalisierung abgegrenzt wird. In einem zweiten Teilkapitel (3.1.2) werden der Bericht der Planungskommission und weitere in der Konzeptionsphase diskutierte Vorhaben wie beispielsweise das Gebäude erörtert, um die Frage beantworten zu können, wie der politische Anspruch, den Chirac für den Quai Branly definiert hat, mit der ästhetischen Umsetzung verknüpft ist. Im dritten Teilkapitel werden dann die Dauerausstellung, weil sie bereits mehrfach besprochen worden ist, nur kurz und zwei Wechselausstellungen ausführlich analysiert; eine weitere dritte Wechselausstellung, »Exhibitions, l’invention du sauvage«, wird in Ansätzen skizziert. Besonders die für die Untersuchung zentralen Wechselausstellungen »D’un regard l’Autre« und »Planète métisse« erscheinen schon den Titeln nach programmatisch. Im Folgenden soll für die erste Ausstellung gezeigt werden, wie eine differenzierte Darstellung der kulturellen ›Anderen‹ und ihrer historischen Kontextualisierung überlagert wird durch eine Ästhetisierung, die im auffälligen Erscheinungsbild des gesamten Museums gespiegelt wird, und eine letztlich französisch-universelle Einordnung und Bewertung der Ausstellungsobjekte. Bei der zweiten Ausstellung soll es darum gehen herauszuarbeiten, dass das kulturell ›Andere‹ und zugleich auch das ›Eigene‹ deutlich differenzierter dargestellt werden und dass das Konzept der ›diversité‹ hier zugleich mehr differenziell als universell erscheint. Diese Verschiebungen in den Diskursen um den Quai Branly sind auch in der Cité erkennbar. Anders als der Quai Branly, der die kulturelle Alterität als losgelöst vom europäischen und französischen ›Eigenen‹ repräsentiert, ist die in der Cité gezeigte Alterität von Migranten deutlich verschränkt mit eben jenem ›Eigenen‹, dem ›Französischen‹. Um zeigen zu können, ob und wie beide Felder verhandelt und miteinander verschaltet werden, wird in einem ersten Schritt ebenfalls die politische Konzeption der Cité dargelegt, und es werden nach der Darstellung der vergleichsweise langen Entstehungsgeschichte die Konzeption und Einbettung in den nationalen Identitätsdiskurs erörtert (3.2.1). Der Brief des ehemaligen Premierministers Jean-Pierre Raffarin an den späteren Leiter der Planungskommission, Jacques Toubon, und seine Rede zur Ankündigung der Einrichtung des Museums im Jahr 2004 erlauben sodann den Schluss, dass die Cité und die in ihr zu verkörpernde ›diversité‹ von politischer Seite aus deutlich republikanisch-universell entworfen worden sind und dass damit eine starre Beschreibung von Migranten und der französischen Nation anstelle ihrer offenen Verhandlung einherging.
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Diese Meistererzählung der französischen Immigrationsgeschichte wurde in der Planungsphase schon deutlich weniger republikanisch konzipiert, wie im zweiten Teilkapitel zur Cité (3.2.2) anhand des Berichts der Planungskommission gezeigt wird. Da, wo Raffarin die Kolonialvergangenheit ausgelassen hatte, versuchten die Planer des Museums, die eigene koloniale Vergangenheit kritisch zu verhandeln und mit der Wahl des Gebäudes umzudeuten. Ein solches Bemühen, Vorurteile abzubauen und ein neues, differenziertes Bild von Migranten wiederzugeben, ist auch in den Ausstellungen erkennbar, wie im dritten Teilkapitel erläutert wird (3.2.3). Obschon die Dauerausstellung das Konzept der ›diversité‹ thematisiert, ist zu erkennen, dass die ›Anderen‹ teilweise folkloristisch repräsentiert werden und damit wenig differenziert erscheinen. Dem entgegen steht die differenzierte und kritische Darstellung des ›Eigenen‹ und der ›Anderen‹ in der Wechselausstellung, in der die Immigrationsgeschichte zur Zeit der Kolonialausstellung von 1931 gezeigt wird. Solche Verschiebungen, die in der Untersuchung der verschiedenen Diskurse um die Cité sichtbar gemacht werden, korrelieren denn auch mit der Einordnung des Museums in den Pariser Stadtraum, wie am Ende des Kapitels und in Abgrenzung vom Quai Branly resümierend argumentiert wird. Diese Arbeitsschritte stecken abschließend noch einmal das Feld ab, in dem sich die vorliegende Arbeit bewegt. Die erkennbare Affirmation kultureller Alterität in den französischen und frankophonen Identitätsdebatten wie auch in den zwei Pariser Museen soll aufgezeigt und die Verschiebungen und Widersprüchlichkeiten, die in den jeweiligen Diskursen um die ›eigene‹ und die ›fremde‹ Identität erkennbar sind, sollen in der Untersuchung sichtbar gemacht werden. Schließlich soll auch herausgearbeitet werden, auf welche Weise die affirmativen Identitätsmuster verhandelt werden und ob sie das ›Eigene‹ wie auch das ›Andere‹ umdeuten oder in seinem Wesen bestehen lassen und gleichsam festschreiben. Nach dem Anthropologen Benoît de l’Estoile kann zuletzt auch gefragt werden, ob ›kulturelle Vielfalt‹ denn auch als neuer konstitutiver Wert für französische Identität taugen, ob sie gar ein neuer Universalismus sein kann.27
27 Vgl. de l’Estoile, Le goût des Autres, S. 26-31.
2.
Identitätskonstruktionen in Bewegung
›Identität‹ ist ein weites Feld. Sie wird als Begriff für ›personale‹ und ›kollektive‹ Identität verwendet und als Konzept für geschlechtsbedingte, kulturelle oder historisch bedingte Rollen benützt, wie Aleida Assmann und Heidrun Friese in ihrem viel beachteten Sammelband Identitäten gezeigt haben.1 Der Begriff selbst wurde Ende der 1940er Jahre das erste Mal als Konzept in der Individualpsychologie gebraucht und fortan in andere Disziplinen der Humanwissenschaften übernommen.2 In Bezug auf gegenwärtige Diskurse um kollektive Identitäten gehen Assmann und Friese davon aus, dass »Identität über kulturelle Symbole und diskursive Formationen befestigt wird«, die, wie Bernhard Giesen außerdem gezeigt hat, historisch veränderlich sind.3 Aus diesem Grund hat sich für kollektive Identitäten mittlerweile der Begriff der ›kulturellen Identität‹ eingebürgert, auf dem auch die Analyse von Identitätsdiskursen in dieser Arbeit beruht. Obschon es unterschiedliche Möglichkeiten gibt, kulturelle Identitäten zu definieren – mittels der Konzepte ›Universalität‹, ›Humanismus‹ oder ›Vielfalt‹ beispielsweise –, ist das Konzept der ›nationalen‹ Identität in der Theorie und Praxis von Gesellschaft und Politik am gebräuchlichsten. Um sich deshalb dem Begriff des ›Nationalen‹ anzunähern, ist die Konzeption von Benedict Anderson aufschlussreich. In seinem viel rezipierten Buch Imagined Communities von 1983 hat er die Nation als eine ›vorgestellte Gemeinschaft‹ beschrieben und damit das Phänomen der Nation, aber auch das der Nationalität und des Nationalismus als kulturell kodierte Phänomene herausgearbeitet. Dahinter steht die Idee, dass die Nation nicht per se vorhanden ist, sondern dass sie eine Gemeinschaft umfasst und von anderen Gemeinschaften abgrenzt, die sich vor allem
1
Vgl. Assmann/Friese, Identitäten.
2
Vgl. dies., »Einleitung«.
3
Ebd., S. 12. Vgl. Giesen, »Einleitung«.
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über kulturelle und als nationaltypisch empfundene Charakteristika bestimmen lässt.4 Zur Erfassung der in der vorliegenden Arbeit behandelten ›französischen Identität‹ kann der Nationenbegriff von Ernest Renan fruchtbar gemacht werden. In seiner bekannten Vorlesung an der Sorbonne im Jahr 1982 hat Renan die Nation als einerseits politische und andererseits kulturelle Gemeinschaft definiert. Wie er erklärte, gründet die kulturelle Gemeinschaft auf der gemeinsamen Vergangenheit, die besonders auf eine Begründung der Einheit über eine gemeinsame Sprache zielt und nicht, wie andere Nationen, eine ethnisch begründete Einheit meint. Mit der politischen Gemeinschaft bezieht sich Renan wiederum auf den in der Französischen Revolution erklärten Gesellschaftsvertrag und die damit verbundene freie Willensentscheidung und -bekundung eines jeden, zur französischen Nation zu gehören. Dadurch, dass Renan die gemeinsamen demokratisch-republikanischen Werte betont, die auf einem in der Revolution ausgeprägten Selbstverständnis gründen, ist erkennbar, wodurch sich die so definierte französische Nation von anderen Nationen unterscheidet.5 Renans Definition von Nation kann auch das Verständnis von der nationalen französischen Identität und das bereits genannte Narrativ des ›roman national‹ erklären. Dass die nationale französische Identität über die Gemeinschaft von ›Franzosen‹ begründet wird, ist als solches Phänomen zwar zunächst unproblematisch. Sie wurde jedoch in der Dritten Republik durch Geschichtsmythen angereichert und begründete für lange Zeit einen gewissen nationalen Überlegenheitsanspruch. Das führte in der Folge dazu, dass das in der Französischen Revolution festgeschriebene Prinzip der ›universalité‹ von moralischen Begriffen und kulturellen Überzeugungen dazu gebraucht wurde, um die Gemeinschaft der französischen Bürger zu definieren und von anderen Gemeinschaften abzugrenzen. Damit hat die Verknüpfung von Universalismus mit nationalspezifischen Geschichtsmythen erkennbar den Kern der ›universalité‹, die Allgemeingültigkeit, untergraben. Wo an dieser Stelle die nationale Identität charakterisiert wird, müssen auch die Identitäten bestimmt werden, von denen das französische Selbstverständnis meist abgegrenzt wird. In dieser Arbeit soll deshalb ausgehend von der durch Julia Kristeva und Stuart Hall gesetzten Annahme, dass ›Identität‹ eine differenziell gedachte Konstruktion und Beschreibung ist,6 auch die Konstruktion der
4
Vgl. Anderson, Imagined Communities.
5
Vgl. Renan, »Qu’est-ce qu’une nation?«, Einleitung.
6
Zur differenziell bestimmten Identität vgl. u.a. Kristeva, Étrangers à nous-mêmes; Hall, »The Work of Representation«.
2. I DENTITÄTSKONSTRUKTIONEN
IN
B EWEGUNG | 29
von Identität meist abgegrenzten Alterität berücksichtigt werden. Die vorliegende Untersuchung von Alteritätsdiskursen beschränkt sich dabei auf ethnischkulturellen Ausprägungen von Alterität und damit besonders auf die ›Fremdheit‹ von Migranten und Menschen mit ›fremder‹ Abstammung. Das soll in dem Bewusstsein erfolgen, dass der Begriff des ›Immigranten‹ und der des ›Franzosen‹ ontologisch und ambivalent verwendet werden können und ihr Gebrauch zur Essentialisierung von Identitäten führen kann. Für die Analyse der gesellschaftspolitischen Diskussion und Repräsentation von nationaler Identität und kultureller Alterität ist besonders das Konzept des Multikulturalismus relevant. Dieser Versuch, ein neues Modell für die Beschreibung von Gesellschaften zu entwerfen, wurde Anfang der 1990er Jahre zunächst im englischsprachigen Kulturraum definiert und von Intellektuellen wie Charles Taylor und Will Kymlicka beschrieben.7 Mit dem Begriff wurde die multikulturelle Realität in Gesellschaften beschreibbar gemacht und es ermöglicht, aus diesen Beschreibungen der Differenz und ›Kulturenvielfalt‹ Handlungsimplikationen für Kultur- und Integrationspolitik abzuleiten. In Frankreich wurde das Konzept erst später, in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre, lanciert und bis heute durch die Soziologen Alain Touraine und Michel Wieviorka verfochten. Sie haben den multikulturalistischen Ansatz als einen Mittelweg zwischen einer rigiden Identitätspolitik einerseits und einer Zersplitterung der kollektiven Identität in verschiedene Teilkulturen andererseits beschrieben. Zugleich haben sie ihn vom sogennanten ›harten Multikulturalismus‹ deutlich abgrenzt, der die Ghettoisierung verschiedener Kulturen meint und dessen Auswirkungen bis heute in US-amerikanischen Debatten diskutiert werden.8 In der Umsetzung des Multikulturalismus werden heute meist zwei Denkund Handlungsrichtungen unterschieden. Einerseits kann der Multikulturalismus als eine top-down-Strategie angewandt werden, die qua staatlicher Anordnung Toleranz verordnet, um die soziale Integrationsfähigkeit einer Gesellschaft aufrechtzuerhalten oder erst zu erreichen. Andererseits kann sie aber auch als sogenannte bottom-up-Strategie von einzelnen gesellschaftlichen Gruppen ausgehen, die sich diskriminiert oder die Teilhabe an sozialen Praktiken oder materiellen Gütern gefährdet sehen. Aus solchen Forderungen ist besonders in den USA, aber auch in vielen anderen Ländern die Strategie der ›affirmative action‹ oder ›positiven Diskriminierung‹ hervorgegangen.9
7
Vgl. Kymlicka, Multikulturalismus und Demokratie; Taylor, Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung.
8
Vgl. Kapitel 2.1.3.
9
Vgl. Radtke, »Nationale Multikulturalismen«; Kapitel 2.1.3.
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Charakteristisch für Debatten um Multikulturalität und die Frage, wie man mit multikulturellen Gesellschaften umgehen kann, ist der dem amerikanischen Diskurs entlehnte Begriff des ›melting pot‹. In seiner ursprünglichen Bedeutung, die John Hector St. John de Crèvecœur 1782 in seinem Essay Letters from an American farmer begründet hat, beschreibt der Begriff des Schmelztiegels die Assimilation und Integration von Migranten in die Kultur eines fremden Landes.10 In Frankreich wurde der Begriff erst 200 Jahre später aufgegriffen. Der Historiker Gérard Noiriel war mit seiner Monografie Le creuset français von 1988 der erste, der den Begriff zur Beschreibung der französischen Gesellschaft verwendet hat. Er hat sich allerdings ironisch darauf bezogen, insofern er mit dem Begriff den gesellschaftlich und politisch formulierten und an Immigranten gerichteten Anspruch auf bedingungslose Anpassung umschrieb, der lange Zeit das assimilatorisch ausgerichtete Integrationsmodell Frankreichs kennzeichnete.11 Was die Verwendung des Begriffs ›Schmelztiegel‹ in amerikanischen und französischen Diskursen verdeutlicht, ist die Einheit, auf die multikulturelle Gesellschaftskonzeptionen und -politiken abzielen, auch wenn sie die Förderung von ›Vielfalt‹ befürworten. Schließlich geht es in multikulturellen Gesellschaften immer auch darum, Integration möglichst gelingen zu lassen und eine soziale Einheit herzustellen oder zu erhalten. Demzufolge sind für die multikulturelle Konzeption von Gesellschaft einerseits die Förderung von ›Kulturenvielfalt‹ und andererseits die gleichzeitige Wahrung der sozialen Einheit charakteristisch. Anders formuliert und zusammengefasst wird diese Idee meist auch in dem griffigen Slogan ›unity in diversity‹, der in dieser Arbeit mehrfach genannt und dessen Diskurs hier näher bestimmt wird. Kritiker wie Frank-Olaf Radtke haben beispielsweise darauf verwiesen, dass diese doppelte Zielsetzung von multikulturellen Konzeptionen die Frage der Integration, die in vielen Gesellschaften und auch in Frankreich in die Jahre gekommen zu sein scheint, heute auf einer neuen Ebene verhandelt.12 Das wiederum könnte man zu einer strategischen Motivation weiterdenken. In dem Sinne wäre die Frage, wie Migranten beispielsweise integriert werden können, nicht nur aufgeworfen. Dergestalt wäre die Antwort auf die Frage, die Förderung von Kulturenvielfalt, eine vor allem bekannte, eine integrative oder gar assimilatorische Identitätspolitik in neuem Gewand.
10 De Crèvecœur, Letters from an American farmer. 11 Vgl. Kapitel 2.1.1. 12 Vgl. Radtke, »Nationale Multikulturalismen«.
2. I DENTITÄTSKONSTRUKTIONEN
IN
B EWEGUNG | 31
2.1 »L A F RANCE A LA PASSION DE L ’ UNIVERSEL «: ›U NIVERSALITÉ ‹ UND › DIVERSITÉ ‹ ALS DYNAMISCHE K ONZEPTE 2.1.1 Der ›Schmelztiegel‹: Die Bedeutung von Migranten für die Konstruktion französischer Identität seit 1980 Mit Beginn der 1980er Jahre begünstigten nationale und internationale Prozesse das allmähliche Aufbrechen der Orientierungsmuster, die bis dato das französische Selbstverständnis begründet hatten, und zugleich einen neuen Umgang mit Migranten: Als Einwanderer der zweiten und dritten Generation in Frankreich geboren wurden und sich teils dauerhaft dort niederließen, war Einwanderung nicht mehr allein ökonomisch begründet und die Integration von Migranten nicht mehr über die bisher gültigen, durch Arbeit gesicherten Integrationsmechanismen gewährleistet. Dadurch wurde in den 1980er Jahren die bereits angestoßene Verunsicherung der französischen Identität verstärkt, wovon zahlreiche Identitätsdebatten der Zeit zeugen, die die neue Bedeutung von Migranten in Bezug auf die französische Identitätskonstruktion und den Umgang mit Migranten thematisierten. In der Folge rückten Migranten vom Rande der Gesellschaft in die Mitte des öffentlichen Diskurses und wurden zunehmend als Bürde und weniger als hilfreiche Arbeitskräfte wahrgenommen.13 Sie fungierten meist sogar als Inbegriff von sozialer und kultureller Bedrohung und wurden als sogenannte »exogènes« bezeichnet, »incarnant en quelque sorte les ›nouvelles classes dangereuses‹ de la République«.14 Vor diesem Hintergrund erschien die bis dato vermeintlich funktionierende assimilatorische Integration, die »ebenso brutale wie effiziente Maschine der ›Naturalisierung‹«, sukzessiv als nicht mehr brauchbar, und es war nur eine Frage der Zeit, bis sie neu bestimmt wurde.15 Im Folgenden wird deshalb rekonstruiert, wie das französische Integrationsmodell sich entwickelt hat zu einem Modell, das kulturelle Alterität zunehmend anerkennt. Dabei werden zunächst Identitätsdebatten aus den 1980er Jahren exemplarisch erläutert, um zu zeigen, wie sie als Faktoren begriffen wurden, die in die erstmalige Festschreibung einer französischen Integration und seiner allmäh-
13 Vgl. Lapeyronnie, »Les grands instruments d’intégration«; Tribalat, »Immigration et identité nationale«. 14 Geisser, »L’intégration républicaine«, S. 623. Vgl. auch Blatt, »Immigrant Politics in a Republican Nation«, S. 45-48. 15 Leggewie, »SOS France«, S. 137.
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lichen Überarbeitung gemündet sind. Anschließend soll erläutert werden, wie dieser Diskurs sich hin zu einem Diskurs der Anerkennung und Förderung von ›kultureller Vielfalt‹ verlagert hat. Ab 1980 haben verschiedene Faktoren zu gesellschaftlichen Ängsten vor einer Bedrohung ›von außen‹ und vor dem Auseinanderfallen der gesellschaftlichen und sozialen Einheit geführt und sind in die Feststellung gemündet, dass die Integration von Migranten in der Weise, in der sie lange über Arbeit erfolgt war, nicht mehr funktionierte. Bereits 1981 hinterfragten die Anthropologen Hervé Le Bras und Emmanuel Todd die französische Einheit, als sie in ihrer Untersuchung L’invention de la France erläuterten, dass die ›eine und unteilbare‹ Republik soziologisch betrachtet alles andere als eine Einheit bilde, sondern dass sie auf »cent types distincts de structures familiales, cent modèles de comportements absolument indépendants les uns des autres« gründe.16 Wie sie weiter erklärten, sei Frankreich besonders als ein »[c]arrefour ethnique de l’Europe« zu begreifen, das den Franzosen schlechthin nicht aufweise, und der ›universelle Mensch‹ demzufolge einem nationalen Mythos der Französischen Revolution geschuldet. Todd und Le Bras haben mit ihrer Untersuchung dieses Narrativ zu dekonstruieren und die Vorstellung von einer anthropologischen ›Vielfalt‹ zu skizzieren gesucht.17 Diese Studie, die die Idee von der französischen Einheit hinterfragte, sorgte nicht allein für Aufsehen. Auch auf politischer Ebene wurde das Aufbrechen der französischen Identitätskonstruktion vorbereitet. Denn nachdem noch 1981 die Wahl des Sozialisten François Mitterrand zum Präsidenten eine politische Wende markiert hatte, änderte sich die politische Stimmung bald wieder. Mit der sozialistischen Niederlage in den Kommunalwahlen von 1983 gingen die Gründung im selben Jahr und der Aufstieg des rechtsextremen Front National einher, der mit Hilfe der Figur des ›Immigranten‹ die zunehmende gesellschaftliche Sorge vor einer Bedrohung durch ›Fremde‹ schürte.18 Darüber hinaus zeugte ein Titelblatt des Figaro Magazine von solcher medial forcierter Sorge, die zuweilen sogar in eine xenophobe Haltung gegenüber Migranten umschlug. 1985 zeigte die Zeitschrift auf ihrem Titelblatt die nationale Symbolfigur, die Marianne, in ein Kopftuch gehüllt, die mit der Frage »Serons-nous encore français dans trente ans?« versehen war.19
16 Le Bras/Todd, L’invention de la France, S. 8. 17 Ebd., S. 14. 18 Vgl. Weil, Qu’est-ce qu’un Français?, S. 255-261; Winock, La France politique, S. 535-552. 19 Vgl. Le Figaro Magazine.
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Diese gesellschaftlichen Ängste führten im Verlauf der Dekade zu einem veränderten Umgang mit ›Migranten‹. Es kamen aus verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen die Forderungen auf, kulturelle Alterität stärker als bisher wahrzunehmen, anzuerkennen und in das französische Identitätsverständnis zu integrieren. So verwendete der Historiker Gérard Noiriel 1988 in seiner Monografie Le creuset français die Metapher des ›Schmelztiegels‹, die dem amerikanischen Diskurs zum Begriff der Nation entlehnt und von angelsächsischen Wissenschaftlern bereits auf Frankreich angewendet worden war.20 Noiriel betonte besonders die Notwendigkeit, die Geschichte der Einwanderung differenziert zu beschreiben. Demzufolge sollten Migranten mehr in ihrer Gesamtheit als getrennt nach einzelnen Ethnien gezeigt und dadurch nicht mehr stigmatisiert werden. Wie er weiter ausführte, könne das dazu beitragen, Vorurteile gegenüber Migranten zu dekonstruieren, »à faire reculer les préjugés et les fantasmes qui ont jalonnés l’histoire de l’immigration depuis le XIXe siècle«.21 Über die Forderung nach einem Abbau von Vorurteilen gegenüber Migranten gingen verschiedene gesellschaftliche, migrantisch geprägte Gruppierungen noch hinaus. Seit Beginn der 1980er Jahre beanspruchten zahlreiche Bewegungen ein Recht, das mit dem republikanischen Selbstverständnis nicht vereinbar schien: die Anerkennung ihrer kulturellen Alterität. Zunächst demonstrierte 1983 die sogenannte Marche des Beurs, der Protestmarsch der zweiten Migrantengeneration aus dem Maghreb, der von Marseille quer durch Frankreich nach Paris führte, ›für Gleichheit und gegen Rassismus‹. 1989 sorgte schließlich die sogenannte Kopftuchaffäre für zahlreiche Diskussionen. Während Frankreich die Zweihundertjahrfeier der Französischen Revolution feierte, forderten muslimische Schulmädchen in Creil erstmals, verhüllt zum Schulunterricht erscheinen zu dürfen, und damit das Recht auf die Anerkennung ihrer kulturellen Andersartigkeit. Die Tatsache, dass die Mädchen durch den Leiter des Collège vom Unterricht ausgeschlossen wurden, löste eine landesweite Debatte aus, die bis in die
20 Vgl. Noiriel, Le creuset français. Zum Entstehungskontext und zur Bedeutung des Begriffs ›Schmelztiegel‹, vgl. Schnapper, Qu’est-ce que l’intégration?, S. 78-87; Kapitel 2.1. 21 Noiriel, Le creuset français, S. XI. Noiriel stellte auf der gleichen Seite in eben diesem Vorwort zur überarbeiteten, 2006 veröffentlichten Auflage aber auch fest: »Malheureusement, je suis bien obligé de reconnaître que ce but n’a pas été atteint«. Das Ziel, Vorurteile gegenüber Migranten abzubauen, erklärte er damit erkennbar als gescheitert.
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1990er Jahre hineinreichte und auch nach der Jahrtausendwende aufgegriffen und mit dem Kopftuchverbot von 2004 weiter kontrovers diskutiert wurde.22 Die Forderung der muslimischen Mädchen und die Ausführungen Noiriels sind aufschlussreich. Sie verdeutlichen die Dringlichkeit, die den 1980er Jahren angesichts der Suche nach einer Antwort auf die Frage empfunden wurde, wie die Gesellschaft mit Migranten umgehen sollte und wie diese in die französische Gesellschaft und Kultur integriert werden könnten. Politische Berichte hatten zwar schon in den 1970er und den frühen 1980er Jahren auf die Notwendigkeit der Eingliederung von Migranten, der ›insertion‹, hingewiesen, doch schien diese mehr die ökonomisch begründete, assimilatorische Integration von Migranten als ein eigenständiges Modell zu meinen. Auf politischer Ebene wurde das Konzept der ›Integration‹, das seit Ende des 19. Jahrhunderts bereits als sozialwissenschaftlicher Begriff verwendet worden war, erstmals im Verlauf der 1980er Jahre definiert und als Begriff etabliert.23 In diesem Zuge sollte beispielsweise auch das Staatsangehörigkeitsgesetz reformiert werden, wozu eine Kommission eingerichtet wurde, die später zum Haut Conseil à l’intégration umstrukturiert worden ist. Das besondere Verdienst des Haut Conseil war zum Ende der 1980er Jahre die Einführung eines politischen Integrationsmodells, das als Voraussetzung zum Erhalt der nationalen Identität definiert wurde und sukzessiv die negativ konnotierte Assimilation, also die ausgeprägte Anpassung an die Werte eben jener französischen Identität, ablösen sollte. Sodann bestimmt der Haut Conseil in seinem Bericht »Pour un modèle français d’intégration«, der 1991 verfasst und an den Premierminister übergeben wurde, erstmals in der französischen Geschichte den ›Immigranten‹, der zwischen ›Franzosen‹ und ›Fremden‹ verortet wurde.24
22 Vgl. Blatt, »Immigrant Politics in a Republican Nation«; Vélu, »Faut-il ›pactiser‹ avec l’universalisme?«. Zudem gab es nach 1989 noch weitere sogenannte Kopftuchdebatten, unter anderem im November 1993, wo der Conseil d’État wie schon 1989 für eine Fall zu Fall-Entscheidung plädiert hat. Vgl. »L’intégration républicaine fonctionne-telle encore face à la diversité culturelle?«. Das Tragen von Kopftüchern in Schulen wurde schließlich 2004 verboten. Vgl. u.a. Baudouin, »›Islam en France‹ ou ›islam de France‹«; Gaspard/Khosrokhavar, Le foulard et la République. 23 Vgl. Blatt, »Immigrant Politics in a Republican Nation«; Ferry/Sacchelli, »Introduction générale«; Noiriel, Le creuset français, S. I-XI. 24 Vgl. Kastoryano, La France, l’Allemagne et leurs immigrés, S. 25-36; Ribert, Liberté, égalité, carte d’identité, S. 17-20; Schnapper, Qu’est-ce que l’intégration?, S. 11-25. Der Bericht des Haut Conseil lag dem Méhaignerie-Gesetz vom 22. Juli 1993 zugrunde, auf dessen Grundlage Kindern mit ausländischen Eltern nicht automatisch die
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Obschon dadurch kulturell-ethnische Differenzen von Migranten stärker als zuvor berücksichtigt wurden, zielte das vom Haut Conseil definierte Integrationsmodell noch nicht auf die volle Anerkennung von Migranten. Vielmehr war es, wie Claus Leggewie erläutert, auf eine ausschließlich »national-identitäre Optik gerichtet: [auf die Frage,] ob und wie der Einbezug der Einwanderer in den hexagonalen Konsens gelingen könnte«.25 Vor diesem Hintergrund hat der Wissenschaftler David Blatt gezeigt, wie das hier erläuterte französische Integrationsmodell als eine Fortführung von Assimilierungstendenzen und als Reaktion auf die vermeintliche Bedrohung der hexagonalen Einheit von außen und gerade nicht als Ausdruck einer Öffnung gegenüber Migranten begriffen werden konnte. Wie Blatt erläutert, gibt die Entwicklung des Verbandes SOS Racisme die verschiedenen Positionen in der Debatte um Integration exemplarisch wieder. Der Verband hat sich in der ersten Hälfte der 1980er Jahre multiethnisch, gleichwohl moderater Art, verstanden, seit 1987 aber die Position vertreten, dass kulturelle Differenzen zugunsten des gesellschaftlichen Zusammenlebens überwunden werden müssten.26 Dieser Positionswechsel von SOS Racisme lässt ein Bekenntnis erkennen, das als konservativer Perspektivwechsel verstanden werden kann, da es das Augenmerk vor allem auf die nationale Einheit richtet und dadurch als eine »›réforme conservatrice‹ pour faire face aux ›nouveaux‹ défis de fragmentation du corps national« erscheint.27 Zum Ende der 1990er Jahre sollte dieser »euphémisme pour désigner l’assimilation sociale«, wie Noiriel das französische Integrationsmodell genannt hat, modifiziert werden.28 Während es im Jahrzehnt zuvor noch die Migranten gewesen waren, denen die Schwierigkeit bescheinigt worden ist, sich nicht zu integrieren oder nicht integriert zu werden, sah der Haut Conseil in den 1990er Jahren zunehmend die Verantwortlichkeit in französischen Gesellschaftsmustern begründet, weshalb er 1998 sogar die Selbstauflösung vorschlug. Dieser Vorschlag wurde zwar nicht umgesetzt, doch die Arbeit des Haut Conseil wurde durch Antidiskriminierungsinstanzen wie den Groupe d’études et de lutte contre les discriminations im Jahr 1999 und die Haute Autorité de lutte contre les dis-
französische Staatsangehörigkeit verliehen wurde, sondern diese im Alter von 16 bis 21 Jahren beantragt werden musste. Vgl. dies., La France de l’intégration, S. 237. 25 Leggewie, »SOS France«, S. 152. 26 Vgl. Blatt, »Immigrant Politics in a Republican Nation«, S. 46-50. 27 Geisser, »L’intégration républicaine«, S. 625. 28 Noiriel, Le creuset français, S. 341.
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criminations et pour l’égalité im Jahr 2005 ergänzt.29 Sie sollten über Migranten hinaus auf weitere gesellschaftliche Teil- und Randgruppen, auf »tous les exclus« wie beispielsweise »le jeune, l’asocial, l’exclu«,30 abzielen und fochten damit, wie die Politikwissenschaftlerin Sabine Ruß erläutert hat, einen »Kampf gegen Diskriminierung«.31 Eine solche verstärkte Wahrnehmung und Anerkennung von Randgruppen im Allgemeinen wie auch von Migranten im Besonderen ermöglichten es nicht zuletzt Patrick Weil und Philippe Bernard im Jahr 1998, sich für die Einrichtung eines Immigrationsmuseums einzusetzen.32 Mit der Jahrtausendwende gewann die »Forderung nach Anerkennung von Differenzen […] eine neue Qualität«.33 Während die Verschiedenheit der Migranten und ihrer Kulturen in den 1980er Jahren noch als Bedrohung begriffen worden war, wurden Einwanderer seit 2000 häufig als Inbegriff von ›Vielfalt‹ und meist als Stellvertreter von ›kultureller Vielfalt‹ verstanden.34 Ihnen wurde damit eine neue Rolle zuteil: Aus der Position der diskriminierten Einwanderer am Rand der Gesellschaft, in der sie in den 1980er Jahren am assimilatorischen Integrationsmodell meist gescheitert waren, wurden sie fortan in der öffentlichen Wahrnehmung berücksichtigt und stärker wahrgenommen. Die starke Beachtung von ethnischer ›Vielfalt‹ führte in der Folge zu einer gewissen Abkehr vom republikanischen Selbstverständnis, das bisher im Sinne des Gleichheitsprinzips Unterschiede nicht berücksichtigt hatte, und es wurde 2008 sogar diskutiert, den Wert der ›diversité‹ in die Verfassung aufzunehmen.35 Wie die vorangegangenen Beobachtungen erkennbar gezeigt haben, haben sich die Diskurse um nationale
29 Vgl. Haut Conseil à l’Intégration, Lutte contre les discriminations; Weil, La République et sa diversité, S. 75f. 30 Grange, »Que veut dire intégration?«, S. 41. Vgl. auch Costa-Lascoux, »L’immigration au gré des politiques«, S. 66-68. 31 Ruß, »›Equité, parité, diversité‹«, S. 77. 32 Vgl. Kapitel 3.2.1. 33 Ruß, »›Equité, parité, diversité‹«, S. 76. 34 Vgl. Lapeyronnie, »Les grands instruments d’intégration«; Ruß, »›Equité, parité, diversité‹«, S. 76-81. Hassan Arfaoui hat Migranten nicht bloß als Inbegriff, sondern stärker, gleichwohl nicht korrekt, als ›Metapher‹ für ›kulturelle Vielfalt‹ bezeichnet. Vgl. Arfaoui, »L’immigration, métaphore de la diversité culturelle«. 35 Zum Umstand, dass das vormals privat verstandene Konzept der ›diversité‹ im Verlauf der 1990er Jahre in den öffentlichen Raum gedrängt und zu einer politischen Angelegenheit wurde, vgl. Vélu, »Faut-il ›pactiser‹ avec l’universalisme?«, besonders S. 434, sowie die Einleitung dieser Arbeit. Zum Vorschlag, das Konzept der ›diversité‹ in die französische Verfassung aufzunehmen vgl. Kapitel 2.1.3.
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Identität und den Umgang mit kulturell ›Fremden‹ im Verlauf der 1990er Jahre hin zur Berücksichtigung von kultureller Alterität verlagert. Dadurch wurde um die Jahrtausendwende das Bild der homogenen französischen Identität aufgebrochen und eine Revision erforderlich. Vor diesem Hintergrund wird in den zwei folgenden Kapiteln gezeigt, wie durch den veränderten Umgang mit Migranten und kultureller Alterität die Konstruktion der französischen Identität verändert und angepasst worden ist. 2.1.2 »L’universalité à l’épreuve«: Auf der Suche nach einer neuen ›universalité‹ Das Konzept der ›universalité‹ wurde in den genannten und weiteren Debatten seit den 1980er Jahren fortwährend in Frage gestellt. Seine spezifisch französische Ausgestaltung wurde besonders von führenden Intellektuellen einer »épreuve« unterzogen, worauf auch der Untertitel »L’universalité à l’épreuve« der Monografie L’inégalité rasciste verweist.36 Die Sorge um den Verlust der universellen Konzeption mündete in der Folge nicht nur in die Übersteigerung des Konzepts, sondern seit den 1990er Jahren auch in den Versuch, das Konzept der ›universalité‹ in seinem republikanischen Entwurf zu modifizieren. Dass die dabei entstandenen neuen Modelle einer ›universellen‹ Identität kulturelle Alterität einzuschließen suchten und dass sie zugleich als pragmatische Entscheidungen verstanden werden konnten, wird im Folgenden gezeigt. Dazu werden in einem kurzen historischen Exkurs die republikanische Konzeption von ›universalité‹ und die damit verbundenen Schwierigkeiten skizziert, um anschließend die Übersteigerung und Neubestimmung des Konzepts zu erläutern. Die skizzierten Debatten um den französischen Umgang mit Migranten provozierten frankreichweit Sorgen und die Angst, das zentrale republikanische Prinzip der ›universalité‹ aufgekündigt zu sehen. So wurde die genannte Kopftuchdebatte beispielsweise als symptomatischer Ausdruck des Verlusts der französischen Besonderheit, der sogenannten ›exemplarité‹ oder ›exception‹, begriffen, die sich aus dem republikanischen Selbstverständnis, der »passion de l’universel«, speist.37 Um diese ›passion‹ zu verstehen, wie Pierre Bouretz sie definiert hat, muss man sich vor Augen führen, wie die ›universalité‹ lange Zeit in Frankreich konzipiert worden ist und welcher Stellenwert ihr zugewiesen wurde. Denn das Konzept wurde nicht, wie der Name zunächst suggeriert, als allgemeingültig begriffen, sondern vielmehr als eine besonders gelungene Aus-
36 De Rudder/Poiret/Vourc’h, L’inégalité raciste. 37 Bouretz, La République et l’universel, S. 11.
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prägung der in der Französischen Revolution definierten Werte. Die Erklärung der universellen Menschenrechte und die Republik als neue Staatsform ließen das Konzept der ›universalité‹ im 19. Jahrhundert mit der Nation korrelieren und das spezifisch Französische als eine universelle Konzeption erscheinen. Dadurch wurde Frankreich lange Zeit als ein »phare universel de la liberté« begriffen und als Verkörperung der ›civilisation‹ schlechthin aufgefasst.38 Vor diesem Hintergrund frappiert es nicht, dass die französische Verfassung bis heute jegliche Unterscheidungen nach Rasse, Religion oder ethnischer Herkunft ablehnt und diese identitätsstiftenden Merkmale der Privatsphäre zuschreibt.39 Je mehr die Anerkennung von kultureller Alterität im öffentlichen Diskurs der 1980er und 1990er Jahre thematisiert wurde, desto mehr wurden nicht nur Debatten um das Konzept der ›universalité‹ geführt. Es wurde in den Diskussionen auch häufiger und nachdrücklicher auf das französisch gedachte Konzept der ›universalité‹ zurückgegriffen. So stellte Brigitte Krulic fest, dass ein Rekurs auf das Konzept als Grundlage der ›französischen Identität‹ selbst noch im Jahr 2007 deutlich erkennbar in französischen Debatten erfolgte.40 Der Umstand, dass das Konzept der ›universalité‹ in jüngster Zeit wieder verstärkt Gegenstand der Diskurse um französische Identität war, führte in der Folge dazu, dass es in dieser Verwendung geradezu übersteigert und, wie man sagen könnte, radikalisiert wurde. Farhad Khosrokhavar, Soziologe an der École des hautes études en sciences sociales (EHESS), hat diese Übersteigerung wie folgt beschrieben: »Plus la crise de la conscience universaliste républicaine s’accentue, plus elle a tendance à formaliser, à surformaliser et à hypertrophier l’universel abstrait qui forme son principe de légitimation, mettant en cause jusqu’aux formes de compromis républicain qui prévalaient à la fin du XIXe et au début du XXe siècle. La matérialité disparaît au prorata de la radicalisation de cette conscience au point qu’à la fin il ne reste aucune trace du concret dans ses visées.«41
Dass die ›universalité‹ zu einer reinen Formsache gemacht wurde, führte allmählich zu einer Inhaltsentleerung und in der Folge zur Abstraktion des Konzepts. Dadurch wurde es, wie Khosrokhavar weiter ausgeführt hat, bald zu einem starren Identitätsentwurf, der einen Dialog zwischen Frankreich und den ›anderen‹
38 Ebd., S. 15. 39 Vgl. Bouretz, La République et l’universel, S. 38-42; Noiriel, »Français et étrangers«. 40 Vgl. Krulic, »L’universalisme républicain«. 41 Khosrokhavar, »L’universel abstrait«, S. 124f.
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Kulturen eher verweigert statt erlaubt hat.42 Vor diesem Hintergrund ist erkennbar, um Khosrokhavars Gedanken weiterzuspinnen, dass allmählich die Grenzen des Konzepts sichtbar wurden und dass die Schwierigkeit darin bestand, das Konzept konkret und dennoch allumfassend zu entwerfen. Am Beispiel der genannten Kopftuchaffäre kann das gezeigt werden. In der Debatte um das Kopftuch, das Schulmädchen aus Creil 1989 in der Schule zu tragen beanspruchten, und das 2004 gänzlich verboten worden ist, diente zumindest in den Anfängen der Affäre ein radikalisierter und inhaltsentleerter Universalismus der Rechtfertigung des Kopftuchverbots. So veröffentlichten im November 1989 fünf Intellektuelle, namentlich Elisabeth Badinter, Régis Debray, Alain Finkielkraut, Elisabeth de Fontenay und Catherine Kintzler, einen Appell im Nouvel Observateur. Darin plädierten sie dafür, das republikanische Prinzip der ›universalité‹ auch an Schulen aufrechtzuerhalten, und erklärten, dass das Kopftuch als religiöses Symbol verboten werden müsse, wenn man das universell-laizistische Prinzip der französischen Republik anwenden wolle.43 Dass an dieser Stelle der Laizismus, in dessen Namen andere religiöse Symbole wie die jüdische Kippa oder das christliche Kreuz durchaus zugelassen werden, derart streng ausgelegt wird, zeugt davon, dass das Prinzip der ›universalité‹ in der Kopftuchdebatte dogmatisch angewendet worden ist. Es wird deutlich, dass der mit diesem Konzept verbundene Anspruch, keine Unterscheidung hinsichtlich der Religion oder der ethnischen Herkunft vorzunehmen, bald zu einem formellen Anspruch geworden ist, besonders insofern das Verbot des Kopftuchs letztlich auf die Angst vor einem vermeintlichen Islamismus der Schulmädchen hinzudeuten scheint, wie Khosrokhavar ergänzend erläutert hat.44 Eine ähnlich begründete Reaktion zeigte auch der Conseil d’État, das oberste französische Verwaltungsgerichts, das in einer Stellungnahme vom 27. November 1989 erläutert hatte, dass das Tragen von religiösen Symbolen nicht per se mit dem laizistischen Prinzip der französischen Republik unvereinbar sei, aber sehr wohl, wenn es demonstrativ und mit Forderungen behaftet getragen würde und dadurch der Druckausübung, der Provokation, Bekehrung oder Propaganda diene.45 Anstelle aber eine Ethnisierung von gesellschaftlichen Konflikten zu vermeiden, indem das Konzept der ›universalité‹ zur Rechtfertigung einer formellen Gleichheit verwendet wird, haben die vermehrten Rückgriffe auf das Konzept der ›universalité‹ und seine radikale Verwendung erst die Zunahme von Forde-
42 Vgl. ebd., S. 122-151. 43 Vgl. Badinter u.a., »L’affaire du foulard islamique«. 44 Vgl. Khosrokhavar, »L’universel abstrait«, S. 125-128. 45 Vgl. Baudouin, »›Islam en France‹ ou ›islam de France‹«.
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rungen nach der Anerkennung kultureller Alterität und die Ein- und Ausschließung von gesellschaftlichen Gruppen begünstigt. Auch das ist an der Kopftuchdebatte erkennbar. Dem Soziologen Farhad Khosrokhavar zufolge kann beispielsweise durchaus angenommen werden, dass die Forderung nach der AkAkzeptanz des Kopftuchs im Schulunterricht nicht nur religiös, sondern letztlich auch ethnisch begründet war. Dergestalt fungiert sie als Indiz für eine zunehmende ›islamisation‹, wie Khosrokhavar sie auch genannt hat, und als eine Reaktion auf den Eindruck, der sich bei den Schulmädchen eingestellt haben muss: der Eindruck, dass vor allem ethnisch begründete Identitäten im republikanischuniversellen Selbstverständnis unberücksichtigt bleiben.46 Denn dass die Schulmädchen im Namen des universalistischen Prinzips der Laizität vom Unterricht und damit im erweiterten Sinne von der Gesellschaft ausgeschlossen wurden, kann, wie Khosrokhavar und andere Beobachter gezeigt haben, den Rekurs auf religiös oder ethnisch begründete Identitäten erst fördern. Das Konzept der ›universalité‹ konnte allerdings nicht nur im französischen Diskurs der Gesellschaft dazu dienen, Teilgruppen wie die der Schulmädchen im skizzierten Fall auszuschließen. Es hatte auch die Funktion, gesellschaftliche Teilgruppen zu bestimmen und von anderen Gruppen abzugrenzen, was sich in der Forderung nach Gleichbehandlung von Hetero- und Homosexuellen zeigte, die in das Gesetz zur zivilrechtlichen Partnerschaft von 1999, den Pacte civil de solidarité, gemündet ist. Die Verfechter dieser Forderung beriefen sich, anstatt ihre eigenen Unterschiede zu anderen Gruppen hervorzuheben, auf die Prinzipien der ›universalité‹ und der ›égalité‹ und erklärten, dass Unterschiede von Teilgruppen der Gesellschaft im Sinne des Universalismus berücksichtigt werden sollten und ihnen eine differenzielle Be- und Verhandlung erlaubt werden müsste.47 Bemerkenswert ist hieran, dass das Konzept der ›universalité‹ dazu verwendet wurde, den Identitäten einzelner gesellschaftlicher Gruppen Anerkennung zu verschaffen, und dass es damit der Aushandlung von Alterität diente. Mireille Rosello hat diesen Mechanismus, mit dem die Forderungen gesellschaftlicher Teilgruppen wie in den französischen Identitätsdebatten beschrieben werden können, mit der Wirkungsweise eines ›tactical‹ oder ›hybrid universalism‹ oder auch eines ›universalist multiculturalism‹ bezeichnet.48 Der Begriff führt, wie man vermuten kann, auf den in der postkolonialen Theorie verwendeten und von Gayatri Chakravorty Spivak definierten Begriff des ›strategic essentialism‹ zu-
46 Vgl. Khosrokhavar, »L’universel abstrait«, S. 121-123. 47 Vgl. Vélu, »Faut il ›pactiser‹ avec l’universalisme?«. 48 Vgl. Rosello, »Tactical universalism and new multiculturalist claims in postcolonial France«.
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rück, der die Essentialisierung von ethnisch begründeten oder Minderheitengruppen bezeichnet.49 An dieser Stelle verdeutlicht der Begriff, dass die vorgebrachten Argumente von gesellschaftlichen Teilgruppen als strategische Entscheidungen verstanden werden können, mit denen deren eigene Forderungen bestärkt werden können und deren eigene Identität überhaupt erst konstituiert werden kann. Über die Beobachtung hinaus, dass die ›universalité‹ zunächst zur Ausschließung von Teilgruppen wie der Schulmädchen und zugleich strategisch zur Definition und Eingrenzung von Teilidentitäten verwendet wurde, ist in den Identitätsdebatten auch erkennbar, dass das Konzept der Abgrenzung von anderen Kulturräumen dienen kann. Das verdeutlicht zum Beispiel der Diskurs um die ›exception culturelle‹. Der Begriff wurde 1993 im Rahmen der GATTVerhandlungen, in denen internationale Handelsbestimmungen liberalisiert werden sollten, als ein universell entworfener Ausdruck geprägt, mit dem kulturellen ›Produkten‹ fortan ein Sonderstatus eingeräumt wurde.50 Vor diesem Hintergrund kann der Begriff der Besonderheit in erster Linie als ein »handfester Protektionismus« verstanden werden, als eine kommerziell geprägte Form der lange verankerten französischen Vorstellung, die besondere Ausprägung einer ›exemplarité‹ zu sein.51 Zwar war das französisch angelegte Konzept der ›exception culturelle‹ nicht von Frankreich allein verteidigt worden, aber Frankreich hatte es stellvertretend für den gesamteuropäischen Kultursektor als ein Mittel entworfen, um die eigenen nationalen Interessen gegenüber US-amerikanischen Importbestimmungen zu behaupten.52 Eine solche Positionierung, die als Zeichen der Angst um den Verlust der eigenen Wirkkraft und weltweiten Einflussnahme gelesen werden kann, scheint erkennbar allein über die Ein- und Ausschließung möglich: einerseits über die Bestimmung der universell angelegten ›exception
49 Vgl. u.a. Barker, The Sage Dictionary of Cultural Studies, S. 189. 50 GATT steht für »General Agreement on Tariffs and Trade«. 51 Ritzenhofen, »Frankophonie versus kulturelle Globalisierung«, S. 38. Auch wenn die Idee der ›exception‹ an sich so neu nicht war, so war es die terminologische Konkretisierung der französischen ›Besonderheit‹ zu einer kulturellen, zu einer ›exception culturelle‹. Denn sie rekurriert auf die seit der Französischen Revolution verankerte Vorstellung von Kultur als Teil des öffentlichen Lebens. Vgl. Benhamou, Les dérèglements de l’exception culturelle; dies., »L’exception culturelle«. 52 Vgl. Wieviorka, »La désacralisation de l’identité culturelle«. Zur Erläuterung der nahezu kongruenten Begriffe ›exception française‹ und ›exception culturelle‹ vgl. Regourd, L’exception culturelle, S. 22f.
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culturelle‹, die letztlich national entworfen ist, andererseits über die Abgrenzung von den USA. Dass infolgedessen die nationale Ausrichtung des Konzepts der ›universalité‹ fortgeführt wurde, hat jedoch bewirkt, dass die im republikanischen Selbstverständnis angelegte Unvereinbarkeit von ›universalité‹ und ›diversité‹ aufrechterhalten wurde.53 Denn der Umstand, dass kulturelle Alterität, die im republikanischen Selbstverständnis bisher der Privatsphäre zugewiesen worden war, nicht nur durch die genannten Debatten um Forderungen von gesellschaftlichen Teilgruppen mehr als zuvor öffentlich wahrgenommen wurde, sondern auch durch die auf internationaler Ebene verankerte ›kulturelle Vielfalt‹ und Frankreichs Bekenntnis dazu stärker berücksichtigt und anerkannt wurde,54 hatte noch immer nicht die Frage gelöst, wie das Konzept der ›universalité‹ verfasst sein müsste, um kulturelle Differenzen zu berücksichtigen und gleichzeitig nicht abstrakt verwendet zu werden. Der Historiker René Remond sah in der Unvereinbarkeit beider Konzepte gar die »question du siècle«.55 Die Suche nach einer Antwort begann mit der Feststellung, dass die ›universalité‹ nicht mehr partikular oder national ausgerichtet sein sollte. In der Verknüpfung von ›universalité‹ und Nationalem habe sie ohnehin nie funktioniert, wie Wieviorka in einem Artikel in Le Figaro zur ›désacralisation‹ der französischen Identität erklärt.56 Der französische Soziologe nahm in der Suche nach einem geeigneten Identitätsmodell zwischen dem Konzept der ›universalité‹ und dem kulturelle Alterität umfassenden Konzept der ›diversité‹ eine zentrale Rolle ein. Er kritisierte einerseits die Forderungen nach der Anwendung eines ungezügelten Multikulturalismus, eines unablässigen »différentialisme à tout-va«, und andererseits die abstrakt begriffene ›universalité‹; vor dem Hintergrund seiner Kritik schlug er die Neubestimmung des Konzepts vor.57 Auch der französische
53 Vgl. Touraine, »Les Français piégés par leur moi national«; Zorgbibe, »La France se nomme ›diversité‹«. 54 Vgl. hierzu Kapitel 2.1.3. 55 Rémond, »›Le débat entre l’universalité de nos valeurs et le respect des différences sera la question du siècle‹«. 56 Wieviorka, »La ›désacralisation‹ de l’identité française«. 57 Wieviorka, »Silence et aveuglement sur l’identité française«. Die Sorge vor einer Fragmentarisierung der französischen Gesellschaft wird immer wieder formuliert, in den 1990er Jahren beispielsweise von Elisabeth Badinter. Vgl. Rosello, »Tactical universalism and new multiculturalist claims in postcolonial France«. 2006 stellte denn auch der Kommunikationswissenschaftler Dominique Wolton die Frage, wie die Anerkennung von ›kultureller Vielfalt‹ gelingen könne, ohne einen »processus de frag-
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Philosoph Pierre Bouretz skizzierte im Jahr 2000 die Perspektive einer neuen Ausrichtung der ›Universalität‹, als er schrieb: »[L]a question ne sera plus tant de savoir si la liberté fut en premier lieu française, anglaise ou américaine, mais d’engager avec ceux qui ont été privés du miracle de l’humanisme occidental un dialogue destiné à les accueillir […]. Universel de recoupement des conceptions communes de la liberté humaine plutôt qu’affirmation de l’universalité conquérante d’un fragment de l’humanité, cette figure pourrait trouver dans la France un messager de poids.«58
Anstelle einer spezifisch nationalen Konzeption der ›universalité‹ nach französischer, englischer oder amerikanischer Art plädiert Bouretz hier für die Besinnung auf den abendländischen, nicht nationalspezifischen Humanismus, mit dem alle Gesellschaften Zugang zu einer ›universellen‹ Freiheit hätten.59 Zugleich hat er diese neue ›universalité‹ als dialogisch konzipiert, ohne dass ihm zufolge Kulturen auf ihre Besonderheit oder eigene Geschichte verzichten müssen. Damit erlaubt diese neue Anlage des Konzepts erkennbar, was Wieviorka bereits 1996 angesprochen hat und was Bouretz an dieser Stelle ausführlich erklärt: die Anerkennung von kulturellen Differenzen mit universellen Werten zu verbinden.60 Erkennbar ist an der Erläuterung von Bouretz aber noch etwas anderes. Auf der Grundlage seiner Ausführungen könnte die Abkehr von der national entworfenen ›Universalität‹ und die Besinnung auf den abendländischen ›humanisme‹ auch als Ausdruck einer ethnozentrischen Perspektive verstanden werden. Denn dass Bouretz Frankreich als Botschafter bei der Verbreitung eines neuen, abendländischen ›humanisme‹ in den Ländern beschreibt, denen das ›miracle de l’humanisme‹ bisher vorenthalten worden ist, verdeutlicht die Schwierigkeit, diese neue universelle Konzeption anders als national oder über die Eingrenzung zu denken. Denn es ist zu erkennen, dass Frankreich auch nach der Überprüfung des Konzepts der ›universalité‹ weiterhin als Träger des Humanismus bestimmt wird. In diesem Zusammenhang ist aufschlussreich, dass der Mythos von der
mentation infini« auszulösen. Wolton, Demain la francophonie, S. 29. Im politischen Diskurs wurde diese Sorge zuletzt häufig von Nicolas Sarkozy vorgebracht. 58 Bouretz, La République et l’universel, S. 241f. 59 Den Wunsch, über einen spezifisch französischen Universalismus hinauszugehen, äußerten auch Intellektuelle der sogenannten frankophonen Peripherie. Das wird in Kapitel 2.2.3 diskutiert. 60 Vgl. Wieviorka, »›Le refus du multiculturalisme se nourrit de peurs et de méconnaissance‹«; Touraine, »Faux et vrais problèmes«, S. 302-313.
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europäischen Gemeinschaft in den 1990er Jahren vielfach sogar als eine Erweiterung des nationalen französischen Mythos verstanden wurde.61 Wie Medard Ritzenhofen erläutert, wurde Frankreich sogar eine »Vorkämpferrolle in Europa« zugewiesen, um dem ›amerikanischen Traum‹ ein europäisches Modell entgegenzusetzen.62 Einen Vorschlag, um den Vorwurf einer ethnozentrierten Perspektive zu vermeiden, unterbreitete Dominique Wolton. Der Wissenschaftler am Centre national de la recherche scientifique (CNRS) erklärte 2001 in einem Zeitungsartikel in der Zeitschrift Le Figaro, dass die ›universelle‹ Identität nicht auf das Hexagon beschränkt sei, sondern vielmehr eine »identité culturelle au sens large« meine, die die französischen Überseegebiete und die Frankophonie einschließen. Dergestalt könne die erweiterte Identität zu einem sogenannten »multiculturalisme tempéré« führen.63 Obschon Wolton diese erweiterte ›universelle‹ Identität in der Abgrenzung von den USA definiert und nicht anders näher bestimmt hat, schien diese erweiterte Identität im Sinne eines ›moderaten Multikulturalismus‹ eine gangbare Lösung zu sein. Anstatt das französische Identitätskonzept als bedroht zu begreifen, maß Wolton der von ihm genannten Ausschließung vor allem eine besondere, produktive Bedeutung bei. Er hob hervor, dass der erweiterten französischen Identität erst ebenso in der Abgrenzung von der US-amerikanischen Globalisierung wie in Bezug auf kulturelle Konflikte eine besondere Rolle zuteilwerde. Denn angesichts der steigenden Zahl von kulturell wie religiös begründeten Bürgerkriegen weltweit könne sie, wie er erläutert, als Schutzschild fungieren.64 Wie zu erkennen ist, erweist sich die von Wolton skizzierte Identität als ein strategischer Mittelweg, zumindest wenn man davon absieht, dass Woltons Identitätsentwurf gewisse Vereinnahmungstendenzen des frankophonen Sprach- und Kulturraums aufweist. Dieser strategische Mittelweg wurde auch von anderen Intellektuellen bereits seit den 1990er Jahren beschrieben und erschien vielen als der beste Weg, um den Vorschlag von Bouretz zur Neubestimmung der universellen Identität umzusetzen und die Anwendung einer starren ›universalité‹ einerseits und ein Übermaß von beliebigen Forderungen nach der Anerkennung kultureller Unterschiede andererseits zu vermeiden. Mithin plädierte Joël Roman 1996 für einen ›multiculturalisme tempéré‹,65 ein Jahr später verwendete auch Alain Touraine,
61 Vgl. Schubert, »›Banalisation‹«; Roman, »Identité nationale: parlons-en!«. 62 Vgl. Ritzenhofen, »Frankreich sucht nach neuer Größe«. 63 Wolton, »Du bon usage des identités nationales«. 64 Vgl. ebd. 65 Vgl. Roman, »Pour un multiculturalisme tempéré«.
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Begründer des Centre d’analyse et d’intervention sociologiques, eines Forschungsinstituts der EHESS, den Begriff. Wie Touraine erklärte, stehe der »multiculturalisme bien tempéré« dem abendländischen Universalismus nicht konträr entgegen, sondern sei vielmehr seine Kehrseite.66 Noch im Februar 2011 hat sich schließlich auch Michel Wieviorka auf diesen Mittelweg bezogen und für einen ›multiculturalisme tempéré‹ plädiert, den er vor allem als einen Weg für die politische Linke sah.67 Ähnlich und doch mit anderem Schwerpunkt konzipierte der Philosoph Alain Renaut diese Lösung. In seiner umfangreichen Monografie Un humanisme de la diversité von 2009 schlug er die ›Entkolonisierung‹ von Identitäten schlechthin vor. Wie er darin erläutert, kann das Konzept der ›universalité‹ erst, wenn es nicht mehr über die Umstände begründet wird, in denen Menschen geboren werden, aufwachsen und leben, näher bestimmt werden und als ein für alle Menschen gültiges und für ›Vielfalt‹ offenes Konzept fungieren. Zur Verdeutlichung dieser Grundidee bezeichnet Renaut seinen Identitätsentwurf sodann auch nicht mit dem Begriff der ›universalité‹. Er verwendet vielmehr den Begriff des ›humanisme‹, dessen Grundideen wie die Menschenrechte oder die Autonomie eines jeden Menschen, frei zu denken und zu handeln, er hervorhebt, und erweitert ihn zu einem ›humanisme de la diversité‹. Damit bezeichnet er die Offenheit des Konzepts gegenüber kulturellen Differenzen und grenzt es deutlich vom multikulturellen Nebeneinander in den USA ab.68 Zugleich erkennt und benennt Renaut auch die Gefahr, dass neben dem Konzept der ›Universalität‹ das der ›Vielfalt‹ um seiner selbst willen benutzt und dogmatisch gedacht werden kann. Dem hält er den Entwurf einer kritischen und zugleich wandlungsfähigen ›universalité‹ entgegen, die das Konzept der ›Vielfalt‹ berücksichtigt. Wie der Entwurf von Alain Renau letztlich realisiert werden kann, haben die skizzierten Diskurse und Debatten angedeutet: Auf der Grundlage einer sich wandelnden ›Universalität‹ müssten Identitäten, ebenso die ›nationale Identität‹ wie Teilidentitäten, jeweils strategisch im politischen Raum verhandelt werden unter der Bedingung, dass das ausgehandelte Ergebnis einer fortwährenden Revision unterworfen ist. Die Modelle, die besonders in den 1990er Jahren und seit der Jahrtausendwende den französischen Diskurs um ›universalité‹ geprägt haben und die lange Zeit dichotom gedachte Entgegensetzung von ›universalité‹ und ›diversité‹ durchkreuzen sollten, können somit erkennbar nur als Mittelwege zwischen universalistisch-philosophisch gedachten Identitäten einerseits und
66 Touraine, »Faux et vrais problèmes«. 67 Vgl. Wieviorka, »Quand la gauche va-t-elle défendre le multiculturalisme?«. 68 Renaut, Un humanisme de la diversité, S. 275-283, 340-349.
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multikulturellen Forderungen und Realitäten andererseits verstanden werden. Mithin hat Claus Leggewie das Konzept der ›universalité‹ als ein »regulierendes Prinzip« bezeichnet, »das die fruchtbare Gegenüberstellung der Differenzen erlaubt«.69 Wie Wieviorka an anderer Stelle erläuterte und wie man in diesem Zusammenhang weiterdenken kann, wäre das Konzept der ›universalité‹ damit endgültig als ›entkolonialisiert‹ und ›entweiht‹ begriffen und könnte es sogar ermöglichen, die französische Republik als einen sich wandelnden politischen Gestaltungsraum zu entwerfen.70 In diesem Sinne wäre das Konzept der ›universalité‹, um die Ideen von Leggewie und Wieviorka aufzugreifen und fortzuspinnen, von seinen (nationalen) Bestimmungen befreit und als Instrument und Grundlage, auf der Rechte für die ganze Menschheit und ihre Identitäten eingefordert werden können, bestimmt und für die Verhandlung des Konzepts der ›diversité‹ fruchtbar gemacht. 2.1.3 ›Diversité‹ heute: Die Funktionalisierung eines Konzepts »La prise de conscience nationale de la différence est là, reste à la traduire dans les actes«.71 Der Untertitel eines Zeitungsartikels in Libération, den der spätere Kommissar für Vielfalt und Chancengleichheit, Yazid Sabeg, 2006 geschrieben hat, gibt treffend den Stand jüngster Identitätsdebatten in Frankreich wieder. Der Diskurs um Migranten und deren Integration in die französische Gesellschaft war im Verlauf der 1990er Jahre zunehmend von der Erkenntnis geprägt gewesen, dass neue Mittel erforderlich seien, um Differenzen anzuerkennen und sie in das republikanische Selbstverständnis zu integrieren.72 Seither wird ›kulturelle Vielfalt‹ als ein Weg skizziert, auf dem auf internationaler Ebene und in Frankreich selbst ein Dialog zwischen Kulturen erreicht werden kann. Mit der Affirmation von ›Vielfalt‹ geht ein veränderter Umgang mit Repräsentanten ›kultureller Vielfalt‹, mit Migranten, einher. In Frankreich, wo ›Vielfalt‹ meist ethnisch verstanden und aus dem öffentlichen Raum ausgeklammert wurde, ist der lange Zeit stigmatisierte Migrant um die Jahrtausendwende zum
69 Leggewie, »SOS France«, S. 140. 70 Vgl. Wieviorka, »La ›désacralisation‹ de l’identité française«. Von dem Versuch, die französische Identität zu ›entsakralisieren‹ und zu konkretisieren, zeugt die Darstellung in der Cité nationale de l’histoire de l’immigration, wo der Begriff der ›universalité‹ kaum verwendet wird. Vgl. Kapitel 3.2.3. 71 Sabeg, »La leçon de diversité«. 72 Vgl. u.a. Lapeyronnie, »Les grands instruments d’intégration«; Kapitel 2.1.1.
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Inbegriff von ›Vielfalt‹ geworden.73 Dass im Namen dieses Konzepts aber ebenso wie im universalistischen Verständnis bestimmte Differenzen unberücksichtigt bleiben und dass Migranten allein über die ethnische Begründung begriffen werden, wird in diesem Kapitel gezeigt. Den folgenden Ausführungen liegt die These zugrunde, dass mit dem Konzept der ›diversité‹ vor allem kulturelle Differenzen zwar zugelassen und anerkannt, dass sie aber sozusagen entschärft werden, um den sozialen Zusammenhalt in Frankreich und die republikanische Einheit nicht zu gefährden. Auf der Suche nach einer näheren Bestimmung des Konzepts der ›diversité‹ stößt man heute noch immer auf Unklarheiten. Obgleich die Förderung von ›Vielfalt‹ seit der Jahrtausendwende bis heute vielfach als Schlagwort verwendet wurde, wird meist nicht definiert, was sich dahinter verbirgt. Als politischer Terminus wurde das Konzept in Frankreich erstmals zum Ende der 1990er Jahre verwendet, als das kulturell entworfene Konzept der ›diversité‹ das protektionistisch angelegte Konzept der ›exception culturelle‹ ablöste.74 Fortan wurde ›kulturelle Vielfalt‹ als Ziel französischer Kulturpolitik begriffen und auf internationaler Ebene in der ›universellen‹ Erklärung der UNESCO zur ›diversité culturelle‹ von 2001 und ihrer Konvention von 2005 als förderungswürdiger Wert verankert.75 Heute wird der Begriff vielfach um Begrifflichkeiten wie ›positive Diskriminierung‹, ›Antidiskriminierung‹ und ›Chancengleichheit‹ ergänzt oder beispielsweise auch in einer politischen, sozialen, ökonomischen oder medizini-
73 Vgl. Arfaoui, »L’immigration, métaphore de la diversité culturelle«. Vgl. auch Patrick Weil, der in seiner Monografie La République et sa diversité Immigrations-, Integrations- und Diskriminierungsprozesse in Frankreich beschrieben hat. 74 Zur protektionistischen Anlage der ›exception culturelle‹ vgl. Kapitel 2.1.2. 75 Dass Frankreich häufig als Pionier in den internationalen Verhandlungen um ›kulturelle Vielfalt‹ verstanden wurde, hat nicht nur der ehemalige Kultusminister JeanJacques Aillagon verdeutlicht, als er das Konzept unter Rückgriff auf die GATT-Verhandlungen und den in dem Zusammenhang entstandenen Begriff der ›exception culturelle‹ zu einer »ambition française« erklärt hat. Vgl. ders., »La Diversité culturelle, une ambition française«; Kap. 2.1.2. Dies belegte auch Jacques Chirac, der 2002 die ›kulturelle Vielfalt‹ als eine von drei Säulen der nachhaltigen Entwicklung bezeichnet und als ein Mittel für eine »mondialisation civilisée« konzipiert hat. Vgl. Jeudy/Hatzfeld, »Historique«; Chirac, »Une autre vision du XXIe siècle«. ›Kulturelle Vielfalt‹ und mit ihr der Kulturendialog bleiben auch nach der Konvention von 2005 ein wichtiges Thema auf internationale Ebene. Davon hat nicht zuletzt das Jahr 2008 gezeugt, das in Europa ins Zeichen des interkulturellen Dialogs gestellt wurde. Vgl. www.dialo gue2008.eu.
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schen Ausrichtung gebraucht.76 Die vielfältige und weit verbreitete Verwendung zeugt von der großen Akzeptanz des Konzepts, wovon auf zivilgesellschaftlicher Ebene beispielsweise die Charte de la diversité zeugt, die von Sabeg und Claude Bébéar, Leiter des Institut Montaigne, 2004 ausgegeben worden ist. Sie sollte die ›Vielfalt‹ in der Arbeitswelt spiegeln und Wege zur Bekämpfung von Diskriminierungen weisen. Auf politischer Ebene zeigte sich das Bekenntnis zur ›Vielfalt‹ an dem im Dezember 2008 eingerichteten und mit Sabeg besetzten Commissariat à la Diversité et à l’Egalité des chances.77 So hat Sabeg zu seinem Amtsantritt ›Vielfalt‹ als eine »réalité humaine, sociale et historique« bestimmt und dadurch der politischen Anerkennung des Konzepts Ausdruck verliehen,78 und auch Nicolas Sarkozy bezeichnete ›Vielfalt‹ in seiner Rede zur Ernennung Sabegs als eine Herausforderung, die Frankreich schon immer gekannt habe.79 Mit dem Bekenntnis von politischen Entscheidungsträgern, zivilgesellschaftlichen Einrichtungen, wirtschaftlichen Unternehmen und kulturellen Institutionen ist die Frage, wie das Konzept der ›diversité‹ präzise bestimmt werden kann, noch immer nicht beantwortet. Denn obwohl es zumindest in der kulturellen Ausrichtung politisch anwendbar gemacht worden ist, wurde es darüber hinaus kaum ausgestaltet. Während die Figur des ›Anderen‹ im gesellschaftlichen Konzept des genannten ›multiculturalisme tempéré‹ durchaus berücksichtigt worden ist, wurde der Begriff der ›diversité‹ in der Wissenschaft, besonders in der Soziologie oder Philosophie, bisher kaum definiert. Alain Renaut hat mit seiner Monografie Un humanisme de la diversité von 2009 als einer der ersten in Frankreich versucht, das Konzept der ›diversité‹ als Kategorie zu bestimmen, die mit universellen Werten vereinbar ist.80 Dagegen werden die einzelnen Anwendungsbereiche des Konzepts, wie Wieviorka in einem Bericht zum Konzept ›diversité‹ und zu seiner Anwendung erläutert, den er für das französische Bildungs- und Forschungsministerium erstellt hat, in der öffentlichen Diskussion um ›Vielfalt‹ nicht unterschieden. Vielmehr wird es dem Soziologen zufolge als
76 Vgl. Wieviorka, La Diversité, S. 50-52; Renaut, Un humanisme de la diversité, S. 2937; Sabeg/Sabeg, Discrimination positive. 77 Vgl. »Charte de la diversité en entreprise«; Renaut, Un humanisme de la diversité, S. 29-37; »Yazid Sabeg nommé commissaire à la Diversité et à l’Egalité des chances«. Vgl. auch die Einleitung dieser Arbeit, in der auf die Publikation von Yazid und Yacine Sabeg zur ›positiven Diskriminierung‹ verwiesen wird. 78 »5 questions à Yazid Sabeg«. 79 »Discours de M. le Président de la République«, S. 3. 80 Vgl. Renaut, Un humanisme de la diversité. Vgl. auch Wieviorka, La Diversité, S. 1419. Zum ›multiculturalisme tempéré‹ vgl. Kapitel 2.1.2.
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eine »notion à géométrie variable« verwendet, »qui peut inclure, ou non, les handicapés, les personnes âgées, ou tenir compte, ou non, des orientations sexuelles «,81 und verweist im Grunde auf zwei unterschiedliche Definitions- und Anwendungsdimensionen: einerseits auf kulturelle, religiöse, nationale und weitere Unterschiede und andererseits auf Antidiskriminierungspolitiken.82 Sonia Devillers hat ›Vielfalt‹ zudem als ein Mittel der Verschleierung von Unterschieden, eine »forme d’amolissement«, bezeichnet.83 Auch Daniel Sabbagh, der im Auftrag des von Sarkozy im März 2009 eingerichteten Comité pour la mesure et l’évaluation de la diversité et des discriminations Beobachtungen und Überlegungen zur ›diversité‹ und Diskriminierung zusammengestellt hat, unterschied ähnlich. Statt wie Wieviorka allerdings das Konzept der ›diversité‹ als Oberbegriff und Kategorie für die Anerkennung von Differenzen einerseits und die Kritik an Diskriminierungen andererseits zu begreifen, differenzierte Sabbagh zwischen beiden Bereichen. Während die Diskriminierung eine »pratique« darstelle, sei die ›diversité‹, wie er erläutert, »un attribut multidimensionnel des collectivités humaines, dont la promotion apparaît comme un objectif ›flou‹ et dont la valeur normative demeure incertaine«.84 Dass Sabbagh und andere ›Vielfalt‹ als ein vages Konzept begriffen haben, verdeutlicht nicht zuletzt, warum der Vorschlag von Sarkozy aus dem Jahr 2008, die Förderung von ›Vielfalt‹ in die französische Verfassung aufzunehmen, vielfach kritisiert worden ist. Denn wie Sabbagh erläutert, besteht mit der gleichzeitigen Ein- und Festschreibung des Konzepts in der Verfassung die Gefahr, dass manche gesellschaftliche Teilgruppen durch den Begriff der ›diversité‹ nicht berücksichtigt werden, und zugleich das Dilemma, dass ethnische Komponenten ein zu starkes Gewicht bekommen und dadurch andere, beispielsweise soziale Ungleichheiten ignoriert werden.85
81 Wieviorka, La Diversité, S. 19f. 82 Vgl. ebd., S. 13-23. 83 Devillers, »La diversité culturelle«. 84 Sabbagh, »Éléments de réflexion sur la mesure de la ›diversité‹ et des discriminations«, S. 3. 85 Vgl. ebd. Zur Gefahr der Überbewertung der ethnischen Komponente vgl. beispielsweise Ruß, die zu Sarkozys Vorschlag, die Förderung von ›Vielfalt‹ in die Verfassung aufzunehmen, geschrieben hat: »Wird der Begriff der Vielfalt tatsächlich Bestandteil der französischen Verfassung, so würde dies eindeutig eine Abweichung vom jahrhundertealten universalistischen Gleichheitsdiskurs bedeuten […]. Das Gewicht kulturell-ethnischer Kategorien lastet jedenfalls schon heute überdeutlich auf den Fragen sozio-ökonomischer Benachteiligungen«. Ruß, »›Equité, parité, diversité‹«, S. 82.
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Die Tendenz einer einseitigen ethnischen Konzeption der ›diversité‹ war und ist allerdings bereits erkennbar. Dazu haben zum einen die Forderungen von gesellschaftlichen Teilgruppen geführt, die ihre ethnisch begründeten Identitäten von der universalistisch angelegten französischen Gesellschaft ausgeklammert sahen.86 Zum anderen war durch die ethnische Färbung des Konzepts der ›diversité‹ auch in der Integrationspolitik und im öffentlichen Diskurs um Integration eine zunehmende Ethnisierung zu beobachten. Während Migranten bis in die 1970er Jahre meist noch wegen der Arbeit nach Frankreich gekommen und als »travailleurs immigrés« begriffen worden waren, wurden sie im Verlauf der 1980er Jahre zunehmend und seit der Jahrtausendwende sehr deutlich über ihre ethnische Zugehörigkeit näher bestimmt.87 Wie Pierre Bouretz erläutert hat, wurden besonders muslimische Einwanderer in doppelter Weise als Antagonisten der ›nationalen Identität‹ konzipiert – obschon der Haut Conseil noch im Jahr 2000 mit seinem Bericht L’Islam dans la République das Ziel der neuen Integrationspolitik positiv als gemeinschaftliches Projekt darstellte, das zu verbinden und nicht auszuschließen suchte.88 Wie Bouretz erklärt, sei die Identität dieser Einwanderer im Widerspruch zur eigenen, ›nationalen Identität‹ begriffen worden, insofern ihre meist muslimische Religion einerseits dem französischen Prinzip des Laizismus und andererseits der zwar laizistischen, aber zugleich katholisch beeinflussten französischen Kultur entgegenstehe. Damit aber wurden die häufig aus den ehemaligen Kolonien stammenden Migranten sukzessiv nicht mehr als »Autre immigré, l’Autre maghrébin, l’Autre banlieusard« verstanden wie meist noch in den 1980er Jahren, sondern vor allem über ihre Religion näher bestimmt und stärker als »Autre musulman« begriffen.89 Diese Entwicklung in der Verwendung des Begriffs der ›diversité‹ hin zu einer Ethnisierung von Migranten lässt mehrere Aspekte von Identitäten erkennbar unberücksichtigt: zum einen die Prozesshaftigkeit, die Identitäten innewohnt, und zum anderen Differenzen jenseits kulturell-ethnischer Unterschiede. Dass kulturelle Differenzen stets im Wandel sind, revidiert und neu gebildet werden, hat Wieviorka bereits 1999 betont, als er schrieb: »Or […] la différence culturelle est, dans nos sociétés, de l’ordre de la production, elle relève de processus
86 Vgl. Farhad Khosrokhavar, dessen Hinweis auf die zunehmende ›islamisation‹ gesellschaftlicher Teilgruppen in Kapitel 2.1.2 skizziert wurde. 87 Wieviorka, »Culture, société et démocratie«, S. 15. Vgl. auch Kapitel 2.1.1. 88 Vgl. Haut conseil à l’Intégration, L’Islam dans la République. 89 Geisser, »L’intégration républicaine: Réflexion sur une problématique post-coloniale«, S. 628. Vgl. Bouretz, La République et l’universel, S. 215-218; Geisser, »Ethnicité républicaine versus République ethnique?«.
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où les identités se décomposent et se recomposent, elle n’est pas nécessairement stabilisée.«90 Wieviorkas Annahme, dass kulturelle Unterschiede einem fortwährenden Prozess der Konstitution und Revision unterworfen sind, lässt sich in Bezug auf den Diskurs um das Konzept der ›Vielfalt‹ fortspinnen und auf die These zuspitzen, dass die bisher in den französischen Identitätsdebatten definierte kulturell-ethnische ›Vielfalt‹ nur eine arbiträre Auswahl und eine Momentaufnahme des Prozesses der Konstituierung von Identitäten, ebenso der ›eigenen‹ wie der ›fremden‹, sein kann, dass sie gleichwohl jene Identitäten fort- und festschreibt. Zugleich tendiert die einseitige Konzeption kultureller Alterität dazu, vielfältige identitätsstiftende Merkmale nicht zu berücksichtigen und Migranten allein auf ihre kulturell-ethnischen oder religiös-ethnischen Differenzen festzulegen.91 Damit unterbindet die Anerkennung einer auf diese Weise differenziell bestimmten Identität den Blick auf andere Identitätsentwürfe – auf die Identität eines Moslems, der als Mann, Ehemann oder Angestellter in einem französischen Betrieb in weiteren identitätsstiftenden Kontexten als allein dem ethnisch-religiösen verortet ist –, und Migranten werden aufgrund der einseitigen Konzeption von kultureller Alterität besonders über das Merkmal der Religion verstanden. Dieser verengte Fokus auf das Konzept der ›diversité‹ erinnert gewissermaßen an die Wirkungsweise der Forderungen von gesellschaftlichen Teilgruppen, die seit Ende der 1980er Jahre den öffentlichen Diskurs geprägt haben. Das kann die bereits besprochene Kopftuchdebatte erneut verdeutlichen. Die fünf genannten Intellektuellen haben in ihrem Appell im Nouvel Observateur nicht nur das Tragen des Kopftuchs in Schulen abgelehnt. Sie haben auch das Problem erläutert, das bei dem Rekurs auf verschiedene kulturelle Differenzen entstehen kann, als sie schrieben: »Le droit à la différence qui vous est si cher n’est une liberté que s’il est assorti du droit d’être différent de sa différence. Dans le cas contraire, c’est un piège, voire un esclavage«.92 Dass die genannten Intellektuellen diese Warnung aussprechen und erläutern, dass ein jeder Mensch sich auf religiöse Andersartigkeit berufen kann, diese Begründung der eigenen Identität jedoch nicht zur Pflicht für eine gesellschaftliche Gruppe und ihre Mitglieder erheben kann, zeigt die Schwierigkeit dieser und ähnlicher Forderungen: In dem Moment, in dem das Recht auf die Anerkennung einer bestimmten Alterität eingefordert wird, werden Differenzen innerhalb der Gruppe verunmöglicht und die Mitglieder dieser Gruppe auf das in den Vordergrund gestellte Merkmal von Alterität, die jeweilige kollektive Identität, festgelegt.
90 Wieviorka, »Le multiculturalisme, solution, ou formulation d’un problème?«, S. 424. 91 Vgl. u.a. Michaels, The Trouble with Diversity, S. 21-49. 92 Badinter u.a., »L’affaire du foulard islamique«.
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Wie bereits Sabbagh angedeutet hat, führt die einseitige kulturalisierte Konzeption von ›Vielfalt‹ dazu, dass andere gesellschaftliche Ungleichheiten wie soziale Unterschiede verschleiert werden. Um den Umstand zu bezeichnen, dass die nicht vollständig in die Gesellschaft integrierten Menschen aufgrund ihrer oft schlecht angesehenen und schlecht bezahlten Arbeit in eine prekäre Lage gedrängt werden und dadurch meist wenig an zentralen Gesellschafts- und Lebensbereichen wie dem Konsum, der Gesundheitsförderung oder der Schulbildung für ihre Kinder teilhaben können, ist der Begriff der ›fracture sociale‹ geprägt worden.93 Diese sozialen Ungleichheiten und ökonomischen Integrationsschwierigkeiten werden vor dem Hintergrund der Affirmation von ›Vielfalt‹ deshalb auch in erster Linie nicht mehr sozial verstanden, sondern zunehmend ganzen kulturell-ethnischen Gruppen zugeschrieben und soziale Probleme nicht nur mit Migranten verknüpft, wogegen sich beispielsweise der Protestmarsch »Ni putes ni soumises« von 2003 gewandt hat.94 Zugleich entsteht auch eine Überlagerung sozialer Fragen durch kulturelle Fragen, indem soziale Probleme verschleiert und über die ethnische Färbung gerechtfertigt werden. Walter Benn Michaels warnte beispielsweise in seiner viel beachteten Monografie The Trouble with Diversity davor und erklärte: »Stop thinking of poverty as a disadvantage, and once you stop thinking of poverty as a disadvantage then, of course, you no longer need to worry about getting rid of it«.95 Seine Warnung ist nachvollziehbar. Denn indem soziale Ungleichheiten durch das Konzept der ›diversité‹ positiv umgedeutet werden, verlieren sie, um mit Michaels zu schlussfolgern, ihre Brisanz und die Notwendigkeit, gelindert oder aufgehoben zu werden. Soziale Probleme können somit erkennbar im Namen der ›diversité‹ bestehen bleiben. Ähnlich trifft es auf die sogenannte ›fracture coloniale‹ zu. In Analogie zur Verschleierung sozialer Ungleichheiten bezeichnen die französischen Experten in postkolonialen Fragen, Pascal Blanchard, Nicolas Bancel und Sandrine Lemaire, mit dem Begriff die noch immer mangelhafte Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit.96 Zwar war die positive Diskriminierung von Migranten aus ehemaligen Kolonien seit der Jahrtausendwende das zentrale Schlagwort in der
93 Vgl. u.a. Wieviorka, »Culture, société et démocratie«, S. 14. 94 »Mouvement Ni Putes Ni Soumises«. 95 Michaels, The Trouble with Diversity, S. 20. In Frankreich haben vor allem die Wissenschaftler Didier und Éric Fassin auf die einseitige Wahrnehmung der Immigration als einer Rassenfrage zulasten der Berücksichtigung sozialer Komponenten hingewiesen. Vgl. dies., De la question sociale à la question raciale? 96 Vgl. Bancel u.a., La fracture coloniale; dies./Collignon, Mémoire coloniale, mémoire de l’immigration, mémoire urbaine.
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öffentlichen Diskussion, und Bewegungen wie die Indigènes de la République suchten in Manifesten ihr Recht auf Anerkennung und Aufarbeitung ihrer Geschichte einzufordern. Doch die Thematisierung der kolonialen Vergangenheit in französischen Identitätsdebatten ist noch immer ein problematisches Unterfangen.97 Migranten der sogenannten ›immigration postcoloniale‹ werden meist ghettoartigen Vororten zugeordnet, die, wie Bancel und Blanchard erklären, einem »nouvel espace colonial« oder einer »terra incognita« gleichen würden, »où seuls quelques journalistes téméraires osent encore ›pénétrer‹«.98 Mit Blick auf mediale Berichterstattungen ist erkennbar, dass eine solche Assoziationskette sogar noch forciert wird, insofern Migranten meist mit prekären Wohn- und Arbeitsverhältnissen wie in den Vorortunruhen von November 2005 oder auch mit polygamen Praktiken in Beziehung gesetzt werden.99 Wie zudem Alec G. Hargreaves gezeigt hat, gründet der stigmatisierende Blick auf Migranten auf einem Hierarchiegefälle, das an eine koloniale Logik erinnere. Während in der Kolonialzeit die Kolonisierten am unteren Ende des Gefälles gestanden haben, befinden sich heute Migranten auf diesem niedrigen Rang. Damit gehen Bilder und ein Vokabular zur Beschreibung der ›Anderen‹ einher, das auch als ›imaginaire colonial‹ bezeichnet wird und das mit der Entkolonisierung nicht aufgekündigt worden ist.100 Vielmehr werde heute, wie Bancel und Blanchard weiter erläutert haben, zwischen dem potenziell assimilierbaren ›type-étranger‹ und dem rebellischen ›type-immigré‹ als Nachfahren des in der Kolonialzeit entstandenen ›type-indigène‹ unterschieden, von denen meist die
97
Vgl. »Mouvement des Indigènes de la République«. Vgl. auch Bernard, »Des ›enfants de colonisés‹ revendiquent leur histoire« sowie »Nous, ›indigènes de la République‹«.
98
Bancel/Blanchard, De l’indigène à l’immigré, S. 81. Der Sammelbegriff der ›immigration postcoloniale‹ ist gängig, um die Nachfahren ehemals Kolonisierter von Migranten allgemein zu unterscheiden. Vgl. Hargreaves, »Entre stigmatisation et circonlocutions«; Hajjat, »Les usages politiques de l’héritage colonial«, S. 196f, sowie ders., Immigration postcoloniale et mémoire.
99
Vgl. Bissuel/van Eeckhout, »La polygamie et le regroupement familial au centre de la polémique«. Zu den Banlieue-Unruhen von November 2005 vgl. u.a. Hüser, »Die sechs Banlieue-Revolten im Herbst 2005«.
100 Vgl. Hargreaves, »Entre stigmatisation et circonlocutions«, S. 19. Alec G. Hargreaves hat seinen kritischen Beitrag zum ›négationnisme colonial‹ im Rahmen der Tagung publiziert, die in Vorbereitung auf die Cité im Jahr 2006 stattfand. Vgl. Kapitel 3.2.2. Zum Begriff des ›imaginaire postcolonial‹ vgl. ebd., S. 17f.; Bancel/ Blanchard, »De l’indigène à l’immigré«, S. 6.
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zweite Ausprägung, der ›type-immigré‹, den Diskurs präge.101 Die Beobachtung, dass Migranten vor allem über ihre kulturell-ethnische Identität bestimmt werden und dass diese einseitige Kennzeichnung auf ein stigmatisierendes Hierarchiegefälle verweist, erlaubt zusammenfassend die These, dass der Begriff der ›diversité‹ besonders die Verschleierung dieses Zusammenhangs anstelle seiner Durchbrechung fördert. Michaels hat beispielsweise darauf verwiesen, dass das klare Bekenntnis zur ›Vielfalt‹ Rassenunterschiede zwar mehr anerkennt als leugnet, aber trotzdem noch nicht beseitigt hat.102 Dass neben ethnischen oder ethnisch-religiösen Unterscheidungen andere wie geschlechtsspezifische oder materielle Unterschiede in der Konzeption von ›Vielfalt‹ unberücksichtigt bleiben,103 kann allerdings nicht nur zur Stigmatisierung und Diskriminierung von Migranten führen. Wie Hassan Arfaoui unter Rückgriff auf Michel de Certeau erläutert hat, kann dadurch auch eine besondere Beachtung von Migration, eine »fétichisation de l’immigration« entstehen und erkennbar zum Gegenteil dessen führen,104 worauf die französische Antidiskriminierungspolitik abzielt: Anstelle einer verstärkt positiven Beachtung und Förderung von Migranten, die das Bekenntnis zur ›diversité culturelle‹ nach sich ziehen sollte, und eines Bildes, das Migranten als sozial, ökonomisch und politisch heterogene Gruppierungen und auch als Individuen zeichnet, wurden und werden diese meist zuerst in ihrer ethnischen und religiösen Andersartigkeit festgeschrieben und von der französischen Identität abgegrenzt. Die Verlagerung in der öffentlichen Wahrnehmung und Identitätskonzeption hin zur gegenwärtigen Förderung von ›kultureller Vielfalt‹ führte seit den 1980er Jahren somit dazu, dass Stereotypen und ursprünglich aufzukündigende rassistisch motivierte Ungleichbehandlungen weitgehend andauerten. Weitere Stigmatisierungen und Diskriminierungen von Migranten waren die Folge, die zum Teile heute noch bestehen und besonders in der nicht seltenen Verknüpfung mit islamistischem Terrorismus verstärkt werden.105 Am Beispiel des 2007 eingerichteten Ministère de l’immigration, de l’intégration, de l’identité nationale et du co-développement wird diese Stigmatisierung exemplarisch deutlich. Der ebenso überraschenden wie letztlich erfolg-
101 Vgl. Bancel/Blanchard, »De l’indigène à l’immigré«. 102 Vgl. Michaels, The Trouble with Diversity, S. 21-49. 103 Zur Verschleierung anderer als der bereits skizzierten Differenzen vgl. Michaels, The Trouble with Diversity, S. 80-140, 171-190. 104 Arfaoui, »L’immigration, métaphore de la diversité culturelle«, S. 278. 105 Vgl. Michaels, The Trouble with Diversity; Sabbagh, »Éléments de réflexion sur la mesure de la ›diversité‹ et des discriminations«; Stora, Le Transfert d’une mémoire.
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reichen Ankündigung von Nicolas Sarkozy im Wahlkampf, ein neues Ministerium einzurichten, folgte nicht nur seine Wahl zum Präsidenten, sondern auch dieses Ministerium, das Migranten und die ›nationale Identität‹ stärker in das öffentliche Interesse rücken sollte, mittlerweile aber in ein Staatssekretariat für Immigration, Integration, Asyl und Entwicklungsarbeit umstrukturiert worden ist.106 Wie Gérard Noiriel als einer der Kritiker des Ministeriums erläutert hat, ist die Verknüpfung der ›nationalen Identität‹ mit der Integration von Migranten problematisch, da der Name des Ministeriums Migranten als Menschen bezeichne, die noch nicht in die französische Gesellschaft integriert sind, und suggeriere, dass es zu ihrer Integration erst eines Ministeriums bedürfe, das indes die nationale Identität definiert und vorgibt. Wie Noiriel weiter erklärt, kann ein solcher stigmatisierender Blick auf Migranten zu einer Spaltung »artificiel[le] entre ›eux‹ et ›nous‹« führen, die bisher noch nicht überwunden worden ist,107 sowie zu einer deutlichen Trennung zwischen der Identität von Migranten und der ›französischen Identität‹, die mit dem Bekenntnis zum Konzept der ›diversité‹ aufzukündigen versucht wurde.108 Über diese Stigmatisierung von Migranten als Folge einer einseitig entworfenen ›Vielfalt‹ hinaus ist ein strategischer Gebrauch des Konzepts erkennbar. Denn die Beobachtungen, dass die Kategorisierung des Migranten als ›Autre musulman‹ oder als ›type-immigré‹ einseitig konzipiert und dadurch Migranten und ihre Alterität homogenisiert, lassen sich in der These zuspitzen, dass mit dem Konzept der ›diversité‹ eine Kategorie entworfen worden ist, die es ermöglicht, eine – nationale – Einheit zu beschreiben, in der Differenzen zugelassen werden, die aber nach außen als mehr oder weniger abgeschlossenes Ganzes verstanden werden kann. Hassan Arfaoui hat 2004 beispielsweise erklärt: »La définition retenue de la diversité culturelle identifie [l’immigration] comme l’accord d’une unité sociale et d’une pluralité culturelle, protégée juridiquement et institutionellement, sur un espace donné«.109 Die kulturell-ethnische Anlage des Konzepts der ›diversité‹ ist demnach, um mit Arfaoui zu argumentieren, in einem abgezirkelten sozialen Raum möglich, in dem die Anerkennung von ›Vielfalt‹, von Unterschieden erlaubt wird. Diese Auffassung von einem Zusammenspiel zwischen ›Einheit‹ und ›Vielfalt‹ erlaubt sogar den Schluss, dass die Zunahme der öffentlichen Wahrnehmung und das Bekenntnis zur Anerkennung von Differenzen einen verstärkten Rückgriff auf das Konzept ›unité‹ be-
106 Vgl. »L’immigration, l’intégration, l’asile et le développement solidaire«. 107 Noiriel, À quoi sert »l’identité nationale«, S. 7; vgl. auch S. 145-148. 108 Vgl. Kapitel 2.1.1. 109 Arfaoui, »L’immigration, métaphore de la diversité culturelle«, S. 264.
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dingen. Vincent Geisser schreibt beispielsweise: »[D]iscours de la Différence et discours de l’Unité s’interpellent mutuellement, confortant une nouvelle version de notre roman national français«.110 Dass die Diskurse um kulturelle Unterschiede und soziale Einheit wie bei Geisser als einander bedingend verstanden werden, erklärt zwar noch nicht, wie die Ungleichheiten verschleiernde ›diversité culturelle‹ zur sozialen Integration beitragen soll – eine Forderung, die in den Identitätsdebatten meist genannt wird. Es verdeutlicht aber die Aufgabe, die dem Konzept der ›diversité‹ zugewiesen werden kann: die Aufgabe, eine französiche Meistererzählung und damit den sogenannten ›roman national‹ fortzuschreiben. In diesem Sinne wird das Zusammenwirken der ›Vielfalt‹ und der sozialen und staatlichen Einheit denn auch in der Dauerausstellung der Cité nationale de l’histoire de l’immigration gespiegelt.111 Brice Hortefeux, erster Minister für Immigration und nationale Identität, hat eine solche Vorstellung unterstrichen, als er anlässlich der Einrichtung der Cité in der Zeitung Libération äußerte: »[D]iverse mais unie, la France doit pouvoir à la fois enrichir et préserver son identité«.112 Als ein strategisches Element der nationalen Meistererzählung kann das Konzept der ›diversité‹ schließlich auch dazu dienen, neben der ›Einheit‹ das republikanische Prinzip der ›égalité‹ zu stärken. Mit Blick auf die Ausrichtung des Kommissariats für Vielfalt und Chancengleichheit wird das offenkundig. Denn anlässlich der Einrichtung des Kommissariats hat Sarkozy die Anerkennung von ›Vielfalt‹ für notwendig erklärt und erläutert, dass man gesellschaftlicher ›Vielfalt‹ am besten mit dem Prinzip der ›Gleichheit‹ begegnen könne.113 Eine solche Fokussierung auf das Gleichheitsprinzip läuft nicht nur erkennbar Gefahr, Unterschiede kulturell-ethnischer oder sozialer Art zu untergraben. Es kann auch dogmatisch verwendet werden. So hat beispielsweise Wieviorka in seinem Bericht an das französische Bildungs- und Forschungsministerium von 2008 diesen Umgang mit Identitäten noch als eine »obsession égalitaire« bezeichnet. Indem Differenzen im Sinne der ›Vielfalt‹ anerkannt, im Sinne der ›Gleichheit‹ aber für nicht unterscheidungswürdig gehalten werden, gerät demzufolge das Konzept der ›égalité‹ wie schon das der ›universalité‹ zu einem ausschließlich formellen Prinzip.114 Dass Sarkozy wiederum die Förderung von ›Vielfalt‹ im Sinne der
110 Geisser, »Ethnicité républicaine versus République ethnique?«, S. 23. 111 Vgl. Kapitel 3.2.3. Zum Begriff des ›roman national‹ vgl. die Einleitung dieser Arbeit. 112 Hortefeux, »Un musée vivant de la diversité française«. 113 Vgl. »5 questions à Yazid Sabeg«; »Discours de M. le Président de la République«. 114 Wieviorka, La Diversité, S. 55f.
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›égalité‹ erklärt, lässt die These zu, dass das Konzept in dieser politischen Verwendung vor allem als ein neuer Ausdruck des bekannten republikanischen Identitätsverständnisses verstanden werden kann, der bei der Bestimmung, Begegnung und Bewertung von Identitäten Unterschiede jeglicher Art unberücksichtigt lässt und damit erkennbar die Zielrichtung der Antidiskriminierungspolitik unterwandert, die sich aus der Affirmation von ›Vielfalt‹ ableitet. Sarkozys Rückgriff auf das Prinzip der ›Gleichheit‹ kann jedoch nicht nur als Ausdruck einer ›obsession égalitaire‹ verstanden werden, sondern zeigt auch die Grenzen des Begriffs ›diversité‹. Denn einerseits wurde mit dem Konzept eine Kategorie geschaffen, die die Forderungen nach Anerkennung von kultureller Alterität berücksichtigt und ethnische wie andere Differenzen benennt, aber auch stigmatisiert und marginalisiert. Andererseits erweist sich das Konzept der ›diversité‹ in der politischen Umsetzung als erkennbar problematisch. Insofern Sarkozy das Prinzip der ›égalité‹ als Identitätsgrundlage und Richtlinie des Kommissariats für Vielfalt und Chancengleichheit bestimmt, lässt er die Frage hinter sich, welche Unterschiede überhaupt verhandelt werden sollen, wenn es um den Umgang mit ›Vielfalt‹ geht. Das bezeugt wiederum, dass das Konzept der ›Vielfalt‹ als eine bald mehr ästhetisch legitimierte und weniger politisch begründete Kategorie oder, wie Renaut unter Rückgriff auf Wieviorka erläutert hat, als eine vage und weniger konzeptuell verankerte Kategorie fungiert.115 Die ›Vielfalt‹ wird dabei als gegeben verstanden und erkennbar affirmiert, um Frankreich als einen gegenüber Alterität aufgeschlossenen und sich wandelnden politischen und gesellschaftlichen Raum zu bestimmen, in dem besonders kulturelle Differenzen zugelassen werden. Indem ›Vielfalt‹ keine weitere Rolle in der Verhandlung kultureller oder anders gearteter Alterität spielen und das republikanische Selbstverständnis nicht delegitimieren soll, erfolgt ihre Affirmation in einer harmonisch entschärften Weise, die sich auch in der Repräsentation von Museen wie der Cité nationale de l’histoire de l’immigration manifestiert.116 Diese Beobachtungen lassen abschließend noch einmal die Frage aufwerfen, die bereits im vorherigen Kapitel diskutiert worden ist: die Frage, wie die Konzepte der ›diversité‹ und der ›universalité‹ im politischen und gesellschaftlichen Raum verhandelt und miteinander in Einklang zu bringen sind, ohne einer aus-
115 Vgl. Renaut, Un humanisme de la diversité, S. 12-14. 116 Vgl. Kapitel 3.2; Baur, Die Musealisierung der Migration, S. 164-192. Baur erläutert die Darstellung einer harmonisch geordneten ›Vielfalt‹ in Bezug auf das USamerikanische Immigrationsmuseum, das Ellis Island Immigration Museum in New York. Wie in der Analyse zur Cité gezeigt wird, trifft eine solche Repräsentation in Teilen auch auf das französische Immigrationsmuseum zu.
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schließlich formellen Verwendung aufzusitzen. Wie gezeigt wurde, können beide zur Bestimmung und Festlegung von Einheiten der Gesellschaft, der Nation oder auch gesellschaftlicher Teilgruppen verwendet werden. Das allerdings ist mit der Problematik verbunden, dass andere Gruppen oder identitätsstiftende Merkmale dabei unberücksichtigt bleiben. Diese Schwierigkeit konnte für beide Konzepte ebenso gezeigt werden wie der bald dogmatische Gebrauch: Wo die nationale Konzeption der ›universalité‹ in den 1990er Jahren zunehmend radikalisiert und abstrakt als Grundlage der nationalen Identität fungiert hat, wurde der republikanische Diskurs mit der vor allem seit der Jahrtausendwende geforderten Anerkennung von ›Vielfalt‹ sukzessiv ethnisch geprägt. Diese Ethnisierung hätte durchaus als Ausdruck von Offenheit und Toleranz gegenüber kultureller Alterität verstanden werden können, doch auch hier erfolgte der Rückgriff auf ›Vielfalt‹ besonders, um den sozialen Zusammenhalt und die republikanischen Einheit symbolisch aufrechtzuerhalten. In diesem Lichte wird deutlich, dass der Rückgriff auf das Konzept der ›diversité‹ zu einer ebenso pragmatisch-strategischen Möglichkeit werden kann, wie es schon für die Verwendung des Konzepts der ›universalité‹ gezeigt wurde: Während die französische Identität zunehmend als eine gegenüber kulturellen Differenzen offene Identität entworfen worden ist, konnten sich zugleich gesellschaftliche Teilgruppen auf das Konzept der ›universalité‹ berufen und in diesem Sinne ihre Forderungen nach der Anerkennung der eigenen Differenzen begründen.117 Diese Beobachtungen münden schließlich auch in der Frage, in welcher Weise das Konzept der ›diversité‹ verfasst sein müsste, um nicht im Dienst des traditionellen republikanischen Selbstverständnisses zu stehen. Für den Begriff der ›universalité‹ wurde bereits gezeigt, dass er in einer ›entweihten‹, der nationalspezifischen Konzeption enthobenen Form als Anlage einer neuen, Differenzen integrierenden Identität dienen kann. Da aber beide Konzepte, die ›universalité‹ und die ›diversité‹, als Grundlagen von Demokratien schlechthin begriffen werden,118 und auch die UNESCO ›kulturelle Vielfalt‹ in ihrer Konvention als universelles Gut bestimmt hat, muss die Frage auf das Konzept der ›diversité‹ ausgeweitet werden. Der Philosoph und Politikwissenschaftler Achille Mbembe hat dazu ein Modell entworfen, das beide Konzepte vereint. Zwar erinnert es zu-
117 Diese Wirkungsweisen hat Vincent Geisser mit den Verben ›ethniciser‹ und ›universaliser‹ beschrieben, indem er die Diskurse der zwei Verbände SOS Racisme und France Plus anlässlich eines medienwirksamen Konflikts zwischen den beiden Verbänden in Bezug auf den Golfkrieg von 1990/1991 erläutert hat. Vgl. ders., Ethnicité républicaine, S. 220f. 118 Vgl. Meyer-Bisch, »Diversité et Droits de l’Homme«.
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nächst an das von Hortefeux skizzierte Modell der ›nation diverse mais unie‹, doch betont Mbembe nicht die einende Komponente, die ›unité‹, die durch den Begriff der ›universalité‹ schon immer impliziert sei, wie er ergänzt. Vielmehr fokussiert er auf den Dialog zwischen Kulturen, Rassen und Nationen, den er als ein »Babel des races, des cultures, des nations« bezeichnet und deutlich von der meist ein- und ausschließend verwendeten ›Universalität‹ abgegrenzt hat.119 Eine solche Perspektive auf ein harmonisches Nebeneinander von ethnischen Gruppen hat sich in postindustriellen Gesellschaften als Gegenmodell zur kulturellen Uniformisierung weitgehend durchgesetzt.120 Diese Kongruenz der universell angelegten ›Vielfalt‹ und des friedlichen Kulturendialogs lässt abschließend die Frage aufwerfen, ob mit dieser humanistischen Haltung tatsächlich fremde Ausdrucksweisen und -formen anerkannt werden können, wie meist beansprucht wird. Schließlich kann diese Haltung auch zu einem Dilemma führen, das Bouretz am Beispiel der französischrepublikanischen Linken erläutert hat. Sie begreift sich als offen, sozial und humanitär ausgerichtet, doch ihr Bekenntnis zum Laizismus kann mit Forderungen der Migranten konfligieren, die ihre meist muslimische Religion auszuüben und gleichsam gute ›citoyens‹ zu sein suchen.121 Um ein solches Dilemma zu vermeiden, hat Stéphane Vibert ›Vielfalt‹ weniger im anthropologischen Sinne kulturell ausgelegt als vielmehr die von ihm selbst aufgeworfene und durch Artikel 2 der UNESCO-Konvention implizierte Frage, ob der Kulturenpluralismus eine politische Reaktion auf ›kulturelle Vielfalt‹ sein könne, verneint. Er begreift den Pluralismus vor allem als eine Vielheit von Meinungen, Glaubensrichtungen und Lebensweisen und verdeutlicht, wie diese Meinungsvielfalt die Sicht auf ›kulturelle Vielfalt‹ als einem harmonischen Miteinander konterkariert, insofern er auch zu Konflikten, kultureller Anpassung und Verlusten führen kann.122 Dem sich anschließenden Vorschlag Viberts zur ›Entkulturalisierung‹ des Konzepts der ›diversité‹ entspricht erkennbar die Unterscheidung, die der ehemalige Generalsekretär des Haut conseil à l’Intégration in Le Monde erläutert hat: Unter Rückgriff auf Jürgen Habermas differenziert Jacky Dahomay zwischen einer politischen und einer ethnischen Integration, von denen ausschließlich die politische Integration das Ziel von Integrationspolitik sein könne.123 Renaut hält indes dagegen, dass der politische Anwendungsbereich von ›Vielfalt‹
119 Mbembe, »La France à l’ère post-coloniale«, S. 50-52. 120 Vgl. Geisser, Ethnicité républicaine; Wicht, »La diversité culturelle«. 121 Vgl. Bouretz, La République et l’universel, S. 214-216. 122 Vgl. Vibert, »Le pluralisme culturel«. 123 Vgl. Dahomay, »Pour une nouvelle identité républicaine«.
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nur begrenzt und auf den Kampf gegen Diskriminierungen einer ethnischer ›Vielfalt‹ beschränkt sei, während die Zivilgesellschaft durchaus Mittel wie die Charte de la diversité für Unternehmen habe, die Anerkennung von ›Vielfalt‹ zu verhandeln.124 Dem Vorschlag Viberts korrespondiert aber auch der genannte, von Wieviorka entwickelte Vorschlag, die französische Identität zu ›entweihen‹, insofern die ›Entweihung‹, die Wieviorka auf das national angelegte Konzept der ›universalité‹ bezogen hat, zu einer Entweihung des Konzepts der ›diversité‹ weitergedacht werden kann. Diese Beobachtungen münden in die Schlussfolgerung, dass eine solche ›entweihte‹ und ›entkolonisierte‹ ›Vielfalt‹, um nochmals mit Renaut zu sprechen, womöglich mehr und vielfältige und nicht nur kulturellethnische Differenzen umfassen würde und von einem ›concept flou‹ zu einer konkreten Identitätsgrundlage entwickelt werden könnte.125
2.2 I NTEGRATION DER F RANKOPHONIE UND E RWEITERUNG FRANZÖSISCHER U NIVERSALITÄT 2.2.1 Zwischen ›Zentrum‹ und ›Peripherie‹: ›Un imaginaire postcolonial‹ Die Frankophonie wird bis heute weltweit als ein Sprach- und Kulturraum verstanden, der die Vorstellung von ›kultureller Vielfalt‹ und einem hierarchiefreien Dialog zwischen Kulturen exemplarisch verkörpern soll. Die Idee, sich um den Erhalt von ›Vielfalt‹ zu bemühen, lag schon der Einrichtung der Frankophonie in der Mitte des 20. Jahrhunderts zugrunde. Sie nahm hier im Zuge der Entkolonisierung in den ehemaligen Kolonien ihren Anfang und wurde im Verlauf der Zeit zu einer auch von französischer Seite maßgeblich unterstützten politischen Instanz, die heute immerhin 77 Mitglieder zählt, darunter 20 Länder mit Beobachterstatus.126 Mit Blick auf die heutige Ausrichtung der Frankophonie, ihre Einbindung in französische Identitätsdiskurse und die politische Zusammenarbeit mit Frankreich scheint es, als ob die Frankophonie dazu dient, die französische Einflussnahme in der Welt aufrechtzuerhalten und das Konzept der französischen Identität fortzuschreiben. Man kann sogar die These aufstellen, dass die Frankophonie
124 Vgl. Renaut, Un humanisme de la diversité, S. 343f. 125 Vgl. Kapitel 2.1.2. 126 Stand Januar 2013. Vgl. »Statut et date d’adhésion des 77 États et gouvernements de l’OIF«.
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ein wichtiges Element in der Fest- und Fortschreibung der nationalen Identität geworden ist, das genau zu einer Zeit, in der Frankreich der Sorge um den Verlust der französischen Identität mit der Affirmation einer vermeintlich integrierenden ›Vielfalt‹ begegnet ist. In diesem und in den folgenden Kapiteln wird deshalb gezeigt, dass die Frankophonie sich von einer Idee in der Peripherie, nämlich in den ehemaligen Kolonien, zu einer politischen Institution entwickelt hat. Es wird weiter gezeigt, dass mit dieser Entwicklung eine gewisse Verschränkung von französischen und frankophonen Identitätsdiskursen und Handlungsfeldern einhergegangen ist und auch weiter einhergeht. Dabei soll zunächst Léopold Sédar Senghor als Gründungs- und zentrale Referenzfigur der Frankophonie berücksichtigt werden. Die Motivation für die Gründung der Frankophonie wird heute unterschiedlich bewertet. Häufig wird sie als ein Mittel gesehen, das bestehende Beziehungen zwischen Frankreich und den ehemaligen Kolonien aufrechtzuerhalten erlaubte, und zugleich als ein Ersatz für die in der Kolonialzeit geprägte ›mission civilisatrice‹, den zivilisatorischen Führungsanspruch Frankreichs in den Kolonien. Dieser Vorstellung von der Frankophonie als einer Institution, die primär an Frankreich orientiert ist, steht ein Umstand allerdings entgegen: der Umstand, dass die Frankophonie im Gebiet der ehemaligen Kolonien und aus den Kolonien heraus und gerade nicht in oder durch Frankreich entstanden ist. Senghor symbolisiert das beispielhaft. Der Intellektuelle, der in Frankreich studiert hat und als einer der Gründerväter der Frankophonie bezeichnet wird,127 engagierte sich im Kampf um die Unabhängigkeit des Senegal und war maßgeblich an der Ausgestaltung des Konzepts der ›négritude‹ beteiligt. Dieses war durch den Schriftsteller und Politiker Aimé Césaire zwischen 1932 und 1934 lanciert und in der Folge als Konzept entwickelt worden, das in Anlehnung an die amerikanische Black Renaissance-Bewegung die Rückbesinnung auf ›afrikanische‹ Werte forderte und als Instrument im Befreiungskampf der Kolonien verstanden wurde.128 Nach der Entkolonisierung in der Mitte des 20. Jahrhunderts wurde Senghor 1960 der erste Präsident des Senegal und gründete in dieser Funktion zusammen mit dem Tunesier Habib Bourguiba und dem Nigrer Hamani Diori sowie dem kambodschanischen Prinzen Norodom Sihanouk die Frankophonie.129
127 Vgl. Hargreaves, »Entre stigmatisation et circonlocutions«; Tabouret-Keller, »La francophonie«. Vgl. auch Erfurt, Frankophonie, S. 121-127; »Une présence sur les cinq continents«. 128 Vgl. Senghor, »Qu’est-ce que la négritude?«; Césaire, »Discours sur la négritude«. 129 Vgl. »Une histoire de la Francophonie«. Zu Césaire vgl. die Einleitung dieser Arbeit.
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Der Begriff der ›francophonie‹ war allerdings nicht neu. Vielmehr war er bereits Ende des 19. Jahrhunderts durch den französischen Geographen Onésime Reclus verwendet worden, um Französischsprechende zu bezeichnen und in einem Terminus zusammenzufassen. Wie Ingo Kolboom gezeigt hat, manifestierte sich zu dieser Zeit der zweiten französischen Kolonialexpansion in dem Begriff der Wille, »der französischen Sprache und Kultur zu internationaler Geltung zu verhelfen […] sowie ein gewisses Sendungsbewusstsein der Französischen Republik« zu verkörpern.130 Anschließend ist der Begriff ›francophonie‹ in Vergessenheit geraten und wurde erst im Zuge der Entkolonisierung in einer Sonderausgabe der Zeitschrift Esprit von November 1962 aufgegriffen, an der auch Senghor mitarbeitete. Der Begriff wurde hier allerdings mit einem Großbuchstaben am Anfang versehen, um besonders einen Bruch mit dem alten, kolonial geprägten Begriff aus dem 19. Jahrhundert zu demonstrieren. In seinem Beitrag in Esprit, der mit »Le français, langue de culture« übertitelt war, nannte Senghor fünf Gründe, um das Französische als Kultur- und Idealsprache zu konturieren: Ihm zufolge wird das Französische nicht nur von Intellektuellen genutzt, es ist auch durch sein reichhaltiges Vokabular, seine präzise und nuancierte Syntax sowie seine Stilistik gekennzeichnet. Den letzten der fünf Gründe sieht Senghor im Verständnis vom Französischen als Sprache des französischen Humanismus, den er sodann näher erläutert.131 Wie Senghor selbst erklärt, hat er noch einige Jahre zuvor einen Vortrag mit dem Titel »L’Humanisme de l’Union française« gehalten, in dem er die Bereicherung des dezidiert französischen Humanismus anhand der Begegnung der französischen Kolonialherren mit den kolonisierten Völkern charakterisiert hat. Anstelle aber einer nationalspezifischen Konturierung von ›Humanismus‹ hatte Senghor nun in seinem späteren Beitrag in Esprit einen anderen, ›umfassenderen‹ Humanismus im Sinn. Die humanistische Idee in der Frankophonie beschreibt Senghor als einen sogenannten ›humanisme intégral‹, der auf den von Jacques Maritain 1936 entworfenen und christlich ausgedeuteten ›humanisme intégral‹ zurückgeht. Senghor beschreibt den frankophonen Humanismus als eine Idee, »qui se tisse autour de la terre: cette symbiose des ›énergies dormantes‹ de tous les continents, de toutes les races qui se réveillent à leur chaleur complémentaire«. 132 Wie hier unschwer zu erkennen ist, versteht Senghor den Humanismus als allumfassend.
130 Kolboom, »Frankophonie: Der lange Weg eines Begriffes zu politischen Bewegung«, S. 3; vgl. auch ders., »Francophonie«; »Une histoire de la Francophonie«. 131 Vgl. Senghor, »Le français, langue de culture«, S. 839-841. 132 Senghor, »Le français, langue de culture«, S. 844.
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In seinem Beitrag in Esprit konkretisiert er ihn zugleich auch zu einem Vermischungsphänomen und nennt die ›négritude‹, den ›arabisme‹ und die, wie er sagt, Franzosen »de l’Hexagone‹ als Bestandteile oder Vertreter des Humanismus.133 Vor dem Hintergrund dieser Beschreibung wird deutlich, welche Vorstellung von Vermischung Senghor der Frankophonie zugewiesen hat. So hat er beispielsweise geäußert: »[L]a Francophonie, c’est une symbiose de la raison classique, de la raison-œil et de la raison-nègre, de la raison-toucher. Elle tisse ainsi autour de la planète une nouvelle Noosphère, c’est-à-dire qu’elle est l’œuvre commune des peuples francophones qui sont de toutes les races et de tous les continents.«134
Indem Senghor hier die eher distanzierte ›raison‹ der Aufklärung mit einer gleichsam handgreiflichen Vernunft verbindet, vollzieht er einen Rückgriff auf die universellen Werte, die in der französischen Aufklärung definiert worden sind, die aber auch in der Bewegung der ›négritude‹ bedeutsam waren. Er bezieht sich zugleich auf eine ›diversité‹ ›de toutes les races et de tous les continents‹, die Senghor als universelle Konstante in der Frankophonie verkörpert sieht. Seine Idee von der ›Noosphère‹, einer weltumspannenden Gemeinschaft der Frankophonie, die er auch als einen »Commonwealth à la française« begriffen hat, scheint somit besonders auf einem Wechselspiel der Konzepte ›universalité‹ und ›diversité‹ zu gründen, das nicht zuletzt in aktuellen französischen Identitätsdebatten diskutiert worden ist und weiter diskutiert wird.135 Die Idee eines ›humanisme intégral‹, die Senghor an Frankreich angelehnt und als ideelle Grundlage für die französischsprachige Gemeinschaft definiert hat, bestimmte in den Anfängen der Frankophonie auch deren Ausrichtung: Der Erhalt des Französischen in den früheren Kolonien und neuen Staaten war zunächst mehr in kultureller und weniger in politischer Hinsicht maßgeblich. Zwar wurde die Frankophonie schnell auch in ersten politischen Zusammenschlüssen gefestigt, doch vollzog sich eine dauerhafte politische Institutionalisierung erst seit den 1980er Jahren: Zunächst fand 1960 die erste Conférence des Ministres de l’Éducation statt, die zu einer permanenten wurde. Weitere Zusammenschlüsse folgten, so 1961 die Association des universités, die 1999 zur Agence univer-
133 Vgl. ebd., S. 841-844. 134 Zitiert nach Déniau, Florilège de la langue française et de la francophonie, S. 142. 135 Parker, »Francophonie et universalité«, S. 700. Vgl. auch Farandjis, »Extrait de Présence Senghor«, S. 161-163.
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sitaire de la Francophonie geworden ist, im gleichen Jahr die Union africaine et malgache als erster Verband französischsprachiger afrikanischer Staaten, 1967 ein Zusammenschluss von Abgeordneten, aus dem 1998 die Assemblée parlementaire de la Francophonie hervorging, zudem eine zweite dauerhafte Conférence des Ministres de la Jeunesse et des Sports, die 1969 das erste Mal stattfand. Schließlich wurde am 20. März 1970 die Agence de coopération culturelle et technique gegründet, die, auch wenn sie den Begriff der Frankophonie vermied, zur wichtigsten zwischenstaatlichen Institution wurde. Sie verband das Französische mit dem Ziel, Solidarität und die Annäherung der Völker mithilfe des Kulturendialogs zu suchen, und mit ihr intensivierte sich die Zusammenarbeit der frankophonen Länder in den Bereichen Bildung und Kultur.136 Gleichzeitig war ihre Gründung mit der Hoffnung verbunden, die André Malraux 1969 anlässlich einer Konferenz in Niamey in Nigeria zur Vorbereitung der ACCT äußerte: die Hoffnung, dass die Gemeinschaft der Frankophonie anstelle der vormals einflussreichen französischen Kultur entscheidende Fragen der Menschheit beantworten könnte.137 Mit der Wahl François Mitterrands zum französischen Präsidenten im Jahr 1981 wurde die Frankophonie maßgeblich politisch und zugleich stärker an Frankreich ausgerichtet. 1984 gründete Mitterrand den Haut Conseil de la Francophonie, der als erste Instanz den Begriff ›Francophonie‹ im Namen trug und bis heute an Frankreich ausgerichtet ist. Der Hohe Rat trat zunächst einmal im Jahr zu einem vom französischen Präsidenten bestimmten Thema zusammen. 1986 fand der erste Frankophonie-Gipfel in Frankreich statt, zu dem die Staatsund Regierungschefs aus den Mitgliedsländern der Agence de coopération culturelle et technique (ACCT) nach Versailles eingeladen waren. Ein Jahr später wurde ein weiterer Gipfel in Québec abgehalten und fortan fanden die Frankophonie-Gipfel alle zwei Jahre an verschiedenen, meist französischsprachigen Orten der Welt statt. Die Einrichtung der Frankophonie-Gipfel auf Mitterrands Initiative hin führte, wie Jürgen Erfurt erklärt hat, zu einer Verstaatlichung der Frankophonie. Einerseits ist die ACCT damit als internationaler Zusammenschluss auf höchster politischer Ebene definiert, andererseits die Frankophonie
136 Vgl. Erfurt, Frankophonie, S. 123-131; »Une histoire de la Francophonie«; Kolboom, »Frankophonie«; »Historique de l’Assemblée parlementaire de la Francophonie«. 137 Vgl. »Discours prononcé par André Malraux«.
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enttabuisiert und institutionell in der Außenpolitik Frankreichs und der anderer frankophoner Mitgliedsländer verankert worden.138 Die zunehmende Bedeutung der Frankophonie auf internationaler Ebene symbolisieren die zweijährlich stattfindenden Gipfel bereits durch ihre wechselnden Bezeichnungen. Nachdem sie zunächst als Treffen der Staats- und Regierungschefs »ayant en commun l’usage de la langue française« deklariert worden waren, wurden sie 1993 anlässlich des Gipfeltreffens auf Mauritius zur »Conférence des chefs d’États et de gouvernement des pays ayant le français en partage« umbenannt. Diese kleine semantische Verschiebung deutet auf eine Veränderung im Selbstverständnis der Frankophonie hin, die fortan weltgeschichtliche Veränderungen wie das Ende des Kalten Kriegs oder das Scheitern zahlreicher sozialistischer Gesellschaften und eine Neupositionierung solcher Konkurrenten wie den USA und Frankreich gespiegelt hat. Vor diesem Hintergrund ist bemerkenswert, dass die nicht französischsprachigen Länder Rumänien, Bulgarien und Kambodscha 1991 in die Frankophonie aufgenommen worden sind, insofern diese Aufnahme zusätzlich auf eine Ausweitung und politische Verstetigung der internationalen Gemeinschaft hinzudeuten vermag. Noch weniger ausschließlich kulturell-sprachlich orientiert ist die politische Frankophonie seit 1997, als die zweijährlichen Gipfel in ›Sommets de la Francophonie‹ umgetauft worden sind. Mit der Verstetigung der politischen Instanz der Frankophonie auf internationaler Ebene ging in den 1990er Jahren eine Ausdehnung ihrer Handlungsfelder einher. Zunächst wurde auf dem Frankophonie-Gipfel von 1995 in Cotonou in Benin über das Amt eines Generalsekretärs entschieden, der zwei Jahre später in Hanoi gewählt worden ist. Inhaber des Amts wurde der frühere UN-Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali, dessen Wahl von Mitterrands Nachfolger Jacques Chirac maßgeblich beeinflusst worden war. Anlässlich des Gipfels in Hanoi trat zudem die Charte de la Francophonie in Kraft, ein Jahr später, 1998, wurde auf der Ministerkonferenz in Bukarest die Organisation Internationale de la Francophonie (OIF) gegründet.139 Die OIF mit Sitz in Paris sollte fortan vier zentrale Aufgaben verfolgen: erstens die Förderung der französischen Sprache und der kulturellen wie sprachlichen ›Vielfalt‹, zweitens die Förderung von
138 Vgl. Farandjis, »Ces hommes qui font et ont fait la francophonie«; Judge, »La francophonie: mythes, masques et réalités«; Ritzenhofen, »Frankophonie versus kulturelle Globalisierung«; Erfurt, »Frankophonie oder Frankophonien«; Erfurt, Frankophonie, S. 130-139. Die folgenden Absätze sind an Erfurts Analyse orientiert, wenn nicht anders vermerkt. Vgl. ebd. S. 130-150. 139 Vgl. »Une histoire de la Francophonie«; »Charte de la Francophonie«.
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Frieden, demokratischen Werten und Menschenrechten, drittens die Investition in Forschung und Bildung sowie viertens die Zusammenarbeit zur nachhaltigen Entwicklung.140 Obschon noch die zweite überarbeitete Frankophonie-Charta von 2005 die OIF als eine Nachfolgeinstitution der vor allem kulturell ausgerichteten ACCT begreift, was Erfurt einen »schlichte[n] Etikettenwandel« nennt, zielt die Einrichtung der OIF in erster Linie auf »einen strukturellen Umbau und eine Neuordnung der Machtverhältnisse«. Erfurt sieht die frankophonen Machtverhältnisse fortan beim Generalsekretär der OIF konzentriert, der auch dem 2002 durch Chirac aufgelösten und 2004 neu gegründeten Haut Conseil de la Francophonie vorsitzt.141 Die Bündelung der frankophonen Akteure unter einem Dach sollte nicht nur die Frankophonie als einflussreiche Institution in der internationalen Politik ausweisen. Mit der Ausdehnung ihrer Handlungsfelder ging nochmals eine stärkere Anbindung der Frankophonie an Frankreich einher. Schon 1993, als Frankreich sich im Rahmen der GATT-Verhandlungen für die Förderung der ›exception culturelle‹ aussprach, unterbreitete das Land dem Conseil permanent de la francophonie, einer Untergruppe der OIF, einen Projektentwurf, um gegen den ›angelsächsischen Imperialismus‹ vorzugehen. Sodann stimmte die Ministerkonferenz, die den Frankophoniegipfel im gleichen Jahr vorbereitete, trotz einiger kritischer Stimmen einmütig gegen die Liberalisierung von Kulturgütern und wies auf dem sich anschließenden Frankophoniegipfel die Förderung der ›exception culturelle‹ als ein frankophones Projekt aus. Im Blick auf diese enge Verzahnung von französischer und frankophoner politischer Position erstaunt wenig, dass das französische Kulturministerium für zwei Jahre, von 1993 bis 1995, in ein Ministère de la Culture et de la Francophonie umstrukturiert worden ist, dem übrigens Jacques Toubon vorstand, Urheber des Sprachgesetzes Loi Toubon und heutiger Präsident der Cité nationale de l’histoire de l’immigration.142 Schon bald aber verlagerte sich die Konzentration in der Frankophonie von der Verteidigung einer ›kulturellen Besonderheit‹ hin zur Förderung von ›kultureller Vielfalt‹. Unter der Ägide von Chirac, der Mitterrands Engagement für die Frankophonie fortführte und eine zentrale Rolle in der Förderung und Verteidigung der ›diversité culturelle‹ spielte, wurde die ideelle Frankophonie, wie der
140 Vgl. »L’Organisation internationale de la Francophonie«. 141 Erfurt, »Qu’est-ce que l’OIF?«, S. 12. 142 Vgl. »Création«; »Jacques Toubon«; Judge, »La Francophonie«; Miguet, »Francophonie et Europe«; Smith, »La famille francophone contre l’impérialisme anglo-saxon«; Yannic, »La francophonie et le dialogue des cultures«. Zur ›exception culturelle‹ vgl. auch Kapitel 2.1.2.
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Präsident 1999 auf dem achten Frankophonie-Gipfel in Moncton verlauten ließ, als »ein offensiver und moderner Kampf« konzipiert. Medard Ritzenhofen erklärt sogar, dass die Frankophonie erst mit der Globalisierung und ihrer kritischen Reaktion darauf an Bedeutung gewonnen habe.143 Mithin wurde schon 1995 anlässlich des Frankophonie-Gipfels in Cotonou die Förderung von ›kultureller Vielfalt‹ als vordringlichstes Ziel der Frankophonie neben dem Gebrauch der französischen Sprache definiert. Im Verlauf der Jahre sicherten mehrere frankophone Länder Frankreich Unterstützung der international diskutierten Förderung von ›kultureller Vielfalt‹ zu, allen voran Québec, gefolgt von Kanada und Belgien, aber auch von einigen nicht französischsprachigen Ländern wie Italien, Portugal, Mexiko oder Griechenland. 2001 wurde in Cotonou anlässlich eines Treffens der Kulturminister aus Ländern der Frankophonie eine weitere Erklärung herausgegeben, die nochmals die ›Förderung von kultureller Vielfalt‹ als wichtiges Ziel definiert hat. Diese Unterstützung führte am 2. November 2001 bei der UNESCO zur Déclaration Universelle sur la diversité culturelle, die vier Jahre später endgültig verabschiedet wurde. Bekräftigt wurde die Zusammenarbeit zwischen der Assemblée parlementaire de la Francophonie und der UNESCO im Bereich der Förderung von ›kultureller Vielfalt‹ schließlich auch durch ein weiteres Abkommen vom 4. Juli 2005, dem bereits im Jahr 2000 eine erste Vereinbarung vorangegangen war.144 In der Folge hat die politische Frankophonie das Konzept der ›diversité culturelle‹ vor allem humanitär konzipiert. Anlässlich des zehnten Staats- und Regierungstreffen in Ouagadougou in Burkina Faso wurde im November 2004 ein Cadre stratégique bestimmt, der die wichtigsten Ziele der Frankophonie für die folgenden zehn Jahre festlegte. Neben der Förderung der Sprache hat er die Menschenrechte als Grundlage der frankophonen Gemeinschaft bestimmt und erklärt, dass in ihrem Namen Armut bekämpft und eine nachhaltige Entwicklung gestärkt werden sollte. Spätestens mit der zweiten Frankophonie-Charta von 2005, die ebenfalls die Menschenrechte betonte, hat sich die Frankophonie endgültig als Wertegemeinschaft definiert und als solche die internationale Bedeutung erlangt, die sie im Verlauf ihrer institutionellen Entwicklung auch in politischer Hinsicht bekommen hat.145 Fortan fungierte sie als politische Instanz und
143 Zitiert nach Ritzenhofen, »Frankophonie versus kulturelle Globalisierung«, S. 36. Zur Förderung von ›kultureller Vielfalt‹ vgl. auch Kapitel 2.1.3. 144 Vgl. »Déclaration de Cotonou«; »Déclaration de Cotonou (15 juin 2001)«; »Signature d’un accord de coopération«; Yannic, »La francophonie et le dialogue des cultures«, S. 7-10. 145 Vgl. »Charte de la Francophonie«; »Cadre stratégique décennal«.
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als Wertegemeinschaft, als eine »francosphère«146 und »ressource culturelle pour penser le monde«,147 und sucht in dieser Doppelrolle bis heute, Senghors Vision von der weltumspannenden ›civilisation‹ mit konkreten politischen Ansprüchen zu verbinden. Zusammenfassend lässt sich hervorheben, dass die heutige Frankophonie als politische Instanz mit internationaler Wirkkraft und als Wertegemeinschaft gleichermaßen in direkter Linie mit ihren Anfängen in der frankophonen ›Peripherie‹ erscheint. Denn obschon – oder gerade weil – das anfangs stark einende Band heute weniger stark gewichtet ist und die gemeinsame Sprache mit der Aufnahme nicht-französischsprachiger Länder zugunsten der Idee einer Verkörperung von kultureller und teilweise auch sprachlicher ›Vielfalt‹ in den Hintergrund gerückt ist, wird die Vision Senghors von der weltumspannenden Gemeinschaft heute nicht nur mit der Affirmation des Konzepts der ›diversité culturelle‹ fortgeführt. Senghor dient noch immer als zentrale Referenzfigur, auf den sich die Frankophonie und Frankreich beziehen. Boutros-Ghali rekurrierte im Mai 2002 beispielsweise auf das von Senghor mit ausgestaltene Konzept der ›négritude‹, als er eine neu aufgelegte Lektüre dieses Begriffs mit dem Konzept der ›kulturellen Vielfalt‹ in Verbindung brachte und eine Alternative zur Globalisierung nannte.148 Auch die französische Cité nationale de l’histoire de l’immigration rekurriert in ihrer Dauerausstellung auf Senghor, indem sie ihn neben anderen prominenten Migranten als Beispiel für ›kulturelle Vielfalt‹ Frankreichs nennt. Nicht zuletzt war Senghor der erste ›Afrikaner‹, der 1983 in die Académie française berufen worden ist.149 Die augenscheinlich fortlaufende Entwicklung der Frankophonie von ihren Anfängen bis heute ist aber auch oft kritisiert worden. Ihrer zentralen Bezugsfigur Senghor wurde der Verrat an der Idee der ›négritude‹ und den mit ihr verbundenen Zielen vorgeworfen, nachdem dieser sich der Frankophonie zugewandt hatte. Wie der ausgewiesene Senghor-Experte János Riesz erklärt, hat Senghor einerseits das Konzept der ›négritude‹ nicht gänzlich aufgekündigt, sich aber andererseits mit seinem Beitrag in der Zeitschrift Esprit endgültig zur Frankophonie bekannt und dabei das Französische als eine ›langue vivante‹ bestimmt, wobei die Zeitschrift, wie Riesz ergänzend betont, sich stets von neokolonialistischen oder hegemonialen Absichten distanziert habe.
146 Yannic, »La francophonie et le dialogue des cultures«, S. 1. 147 Wolton, »Un atout pour l’autre mondialisation«, S. 369. 148 Vgl. Boutros-Ghali, Émanciper la Francophonie. 149 Vgl. »Léopold Sédar Senghor«. Zur Repräsentation Senghors in der Dauerausstellung der Cité vgl. Kapitel 3.2.3.
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Neben Senghor konnte aber auch Frankreich sich Vorwürfen nicht entziehen. Zwar zeigte sich Charles de Gaulle nach den Unabhängigkeitsbewegungen der ehemaligen Kolonien reserviert gegenüber der Idee einer weltumspannenden französischsprachigen Gemeinschaft, und der Begriff der Frankophonie wurde auf französischer Seite bis 1984, als Mitterrand den Haut Conseil de la Francophonie einrichtete, weitgehend vermieden, um den Verdacht des Neokolonialismus nicht zu erhärten. Gleichwohl ist Frankreich nach wie vor der größte Geldgeber der frankophonen Gemeinschaft und hat die letzten zwei Generalsekretäre der OIF, Boutros Boutros-Ghali und Abdou Diouf, gegen die Mehrheit der Mitgliedsländer durchgesetzt.150 Dass letzten Endes auch die im März 2011 eröffnete Maison de la Francophonie, die alle frankophonen Instanzen unter einem Dach beherbergt, mitten in Paris angesiedelt ist, vermag den Eindruck von einer zentral in Frankreich organisierten Frankophonie nur zu bestärken.151 2.2.2 Von der Frankophonie nach Frankreich: Das Konzept der ›diversité‹ »Die Frankophonie wird nicht länger als kultureller Block gesehen, sondern macht sich im Gegenteil zum Anwalt kultureller Vielfalt […]. Statt Dominanz wird Dialog gefordert, statt kulturellem Einheitsbrei ein reichhaltiges Menü bestellt, bei dem Frankreich – als Land des guten Geschmacks – allerdings Speisefolge und Tischordnung bestellt.«152
Was Medard Ritzenhofen hier anschaulich illustriert, zielt auf das ambivalente politisch-kulturelle Verhältnis zwischen Frankreich und der Frankophonie, das sich in Debatten um das Konzept der ›diversité‹ verstärkt gezeigt hat, und beschreibt ihr Verhältnis zueinander äußerst treffend. Zum einen hat die Frankophonie sich im Zuge ihrer Politisierung ausdifferenziert und gilt nicht mehr, um noch einmal mit Ritzenhofen zu sprechen, als ein ›kultureller Block‹, den vor allem die französische Sprache eint. Zum anderen nimmt Frankreich aber noch immer eine wichtige Stellung in der Frankophonie ein, was nicht zuletzt der Sitz der Maison de la Francophonie, der zentralen Instanz aller großen frankophonen Einrichtungen, mitten in Paris beispielhaft unterstrichen hat.
150 Vgl. Judge, »La Francophonie«, S. 30f.; Milhaud, »Post-Francophonie?«; Riesz, Léopold Sédar Senghor, S. 11f., S. 320-325. Frankreich hat anlässlich des Frankophonie-Gipfels im Oktober 2002 seinen Etat für die Frankophonie sogar noch um 20 Mio. Euro aufgestockt. Vgl. Duvernois, Rapport d’information, S. 10. 151 »La Maison de la Francophonie«. 152 Ritzenhofen, »Frankophonie versus kulturelle Globalisierung«, S. 36f.
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Dass die wichtige Rolle Frankreichs innerhalb der Frankophonie hauptsächlich strategisch motiviert ist, soll dieses Kapitel zeigen. Dabei ist erstens die These leitend, dass das pluralistische Verständnis aus der Frankophonie in den Diskurs zur französischen Identität übernommen worden ist. Das Konzept der ›diversité‹ wurde aber nicht nur vereinnahmt, um Frankreich zu positionieren und in internationalen Verhandlungen um die Förderung von ›kultureller Vielfalt‹ als Vorreiter auszuweisen. Es wurde auch in Frankreich wie in der Frankophonie als ein Schlagwort und teils in einer dogmatischen Weise verwendet, die das pluralistische Verständnis auf das Etikett der ›Vielfalt‹ zu reduzieren und zur Abgrenzung von anderen Sprach- und Kulturräumen zu gebrauchen scheint. Zweitens liegt diesem Kapitel die These zugrunde, dass diese Vereinnahmung des Alteritätsdiskurses von französischer Seite gerade dann erfolgt ist, als die Frankophonie begonnen hat, die eigene politische Institution für nicht französischsprachige Mitglieder zu öffnen, als sozusagen der Versuch unternommen wurde, die Frankophonie von Frankreich zu emanzipieren. Diese Überlegungen können drittens in der These zugespitzt werden, dass die Übernahme und Vereinnahmung des pluralistischen Verständnisses dazu dient, Frankreichs Rolle in Europa und der Welt zu festigen. Um das zu zeigen, soll die Verwendung des Konzepts der ›diversité‹ im Folgenden in zwei Schritten untersucht werden. Zum einen soll anhand der Konzeption der politischen Frankophonie gezeigt werden, wie hier der Begriff der ›diversité‹ seit den 1990er Jahren verwendet wird, wie er definiert und mit welchen weiteren Konzepten er in Verbindung gebracht worden ist, um das zu konstituieren, was man eine frankophone Identität nennen kann. Zum anderen wird anhand dreier Berichte von französischen Politikern gezeigt, wie französische Politiker das Konzept aufgenommen, wie sie es teilweise für französische Zwecke umgedeutet und damit für den französischen Diskus brauchbar gemacht haben. Die Emanzipation der politischen Frankophonie von der französischen Dominanz im frankophonen Diskurs setzte Anfang der 1990er Jahre ein. Früher als Frankreich verschrieb sich die Frankophonie dem Konzept der ›diversité‹, nämlich seit 1990, und verlieh dem eigenen pluralistischen Verständnis damit eine Bezeichnung. Das geschah zu einem Zeitpunkt, als im frankophonen Raum Migrations- und Globalisierungsphänomene unübersehbar wurden, als sich die Frankophonie verstärkt politisierte und als sie seit 1991 schließlich weitere Mitgliedsländer aufnahm, die nicht oder nicht in erster Linie französischsprachig waren wie Bulgarien, Kambodscha, Albanien oder Tschechien. In der Folge wurde zwar die gemeinsame Sprache, das Französische, nicht gänzlich aufgekündigt, sondern weiter als Verständigungsgrundlage der Frankophonie begrif-
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fen.153 Besonders hervorgehoben wurde jedoch das pluralistische Selbstverständnis, das die Frankophonie schon seit Senghors Konzeption in den Anfängen der Frankophonie kennzeichnet. Die Hervorhebung eines pluralistischen Selbstverständnisses in der Frankophonie zeigte sich seit Anfang der 1990er Jahre bereits in der Bezeichnung der frankophonen Treffen. Als Frankreich 1993 auf internationaler Ebene das Konzept der ›exception culturelle‹ verteidigte, wurde im gleichen Jahr der Begriff der ›diversité‹ anlässlich des Frankophoniegipfels in Grand-Baie auf Mauritius erwähnt, der unter dem Motto ›L’Unité dans la diversité‹ stattfand.154 Auch wenn das Motto noch vergleichsweise diffus war, insofern es die ›Einheit‹ in der ›Vielfalt‹ nicht näher bestimmte, deutete es bereits an, was im weiteren Verlauf der politischen Frankophonie von großer Bedeutung wurde: die Charakterisierung des frankophonen Selbstverständnisses mithilfe des Konzepts der ›diversité‹. Entsprechend wurden die nachfolgenden Frankophoniegipfel und politischen Entscheidungen besonders im Zuge der Entstehung der OIF im Jahr 1998 mit dem Begriff der ›diversité‹ versehen. Anlässlich des fünften Gipfels in Ouagadougou im Jahr 2004 stellte die politische Frankophonie einen Zehnjahresplan auf, den sogenannten Cadre stratégique décennal, der insgesamt vier Ziele umfasste, neben der Förderung der französischen Sprache auch die Förderung der kulturellen und sprachlichen ›Vielfalt‹. Ein Jahr später konkretisierte eine eigens ausgegebene frankophone Charta, die die ehemalige Agence de la Francophonie in eine neue Organisationsform überführte und ihr den Namen Organisation Internationale de la Francophonie verlieh, einige dieser Ziele. In Artikel 1 beanspruchte die Charta unter anderem, auf eine Intensivierung des interkulturellen Dialogs anzustreben.155 Deutlich wird weiter, dass die neue Ausrichtung der politischen Frankophonie seit den 1990er Jahren zweckbestimmt motiviert ist. Denn dadurch dass die Kulturen- und Sprachenvielfalt und ihre Förderung innerhalb der Frankophonie hervorgehoben werden, ist es gleichzeitig möglich und gängig geworden, diese positiv konnotierte ›Vielfalt‹ von Globalisierungsphänomenen abzugrenzen und mit ihrer Hilfe ein frankophones Gegenmodell zu entwerfen. Erkennbar wurde diese Tendenz beispielsweise, als Boutros-Ghali die Frankophonie zunächst ›ex negativo‹ und zwar als Gegenmodell zu Standardisierungs- und Homogenisierungstendenzen in der Globalisierung konzipiert hat. Anlässlich des Frankopho-
153 Vgl. »Cadre stratégique décennal«. 154 Vgl. »1993. Ve Sommet de la Francophonie. Maurice«. 155 »Charte de la Francophonie«, S. 2. Zur Frankophonie-Charta und zum Cadre stratégique décennal vgl. auch Kapitel 2.2.1.
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niegipfels von 1997 in Hanoi formulierte er die Botschaft der Frankophonie wie folgt: »[Le message essentiel de la Francophonie; N.P.] c’est d’abord celui de la diversité, car la Francophonie est, par elle-même, une réponse à la mondialisation à laquelle nous sommes confrontés. La Francophonie est, pour nous tous, une manière de dire que l’universalité n’est pas l’uniformité et que la globalisation n’est pas la banalisation. C’est un moyen d’exprimer et de célébrer la diversité des cultures.«156
Bemerkenswert ist die Botschaft von Boutros-Ghali in zweierlei Hinsicht. Zum einen frappiert der Verweis auf das Konzept der ›universalité‹, dessen Verwendung in der Frankophonie im Folgekapitel besprochen wird. Zum anderen fällt die Verwendung der Begriffe ›mondialisation‹ und ›globalisation‹ auf: Während Boutros-Ghali die ›mondialisation‹ als eine negativ konnotierte, der Frankophonie entgegengesetzte Projektionsfläche begreift, erweist sich die ›globalisation‹ bei ihm in einer positiven Weise als etwas Umfassendes und die Frankophonie, wie er an anderer Stelle beschreibt, als eine ›humanistische‹ Wertegemeinschaft.157 Diese Unterscheidung von ›globalisation‹ und ›mondialisation‹, die mit der humanistischen Ausrichtung der Frankophonie einhergeht, durchzieht den gesamten frankophonen Diskurs. Gleichwohl werden die Begriffe unterschiedlich konnotiert und verwendet: Im Bereich der politischen Frankophonie organisierte die Agence universitaire de la Francophonie im Jahr 2000 im Rahmen ihrer Hauptversammlung in Beirut eine Tagung, die schon in ihrem Titel »Mondialisation et Francophonie« die Globalisierung thematisiert und die hier noch weitgehend neutral gehaltene ›mondialisation‹ vor allem als eine Herausforderung betrachtet hat, die es anzugehen gelte.158 Im wissenschaftlichen Bereich hat 2004 der Kommunikationswissenschaftler Dominique Wolton einen Sammelband mit dem Titel Francophonie et mondialisation und im gleichen Jahr einen weiteren Band mit dem ähnlichen Titel, dem Titel Diversité culturelle et mondialisation, veröffentlicht, der unter der Herausgeberschaft von Abdou Diouf und in Zusammenarbeit mit der OIF entstanden ist. In beiden Publikationen wurde die ›mondialisation‹ als ein positiver Gegenentwurf zur ›globalisation‹ beschrieben.
156 »Les compétences du Parlement«. 157 Vgl. Boutros-Ghali, »La francophonie défend une vision humaniste du monde«, S. 41-52. 158 Vgl. Agence universitaire de la francophonie, Mondialisation et francophonie.
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Diesen Gegenentwurf nahm die OIF 2004 auf und führte ihn in ihrem Zehnjahresplan weiter aus. Im bereits genannten Cadre stratégique décennal hat sie das Modell einer ›anderen‹, ›humanen‹ Globalisierung entworfen und wie folgt definiert: »[L]a concertation entre les Etats et gouvernements francophones […] doit amener la Francophonie à formuler des propositions pour réguler et humaniser la mondialisation […]. La mondialisation, qui rapproche et rassemble, tend cependant à gommer les identités et à promouvoir l’uniformisation. La Francophonie continuera de figurer à l’avantgarde de ceux qui réaffirment le droit des Etats et gouvernements de définir et développer librement leur politique culturelle et les instruments de soutien qui y concourent.«159
An dieser Äußerung ist weniger die Sorge bemerkenswert, dass kulturelle Identitäten durch Globalisierungsphänomene sozusagen ausgelöscht würden, entspricht sie doch dem deutlichen Bekenntnis der Frankophonie zur Verteidigung ›kultureller Vielfalt‹. Auffallend sind vor allem der Anspruch der Frankophonie, die Globalisierung zu regulieren und zu humanisieren, und zugleich die Ambition, damit eine Vorreiterrolle einzunehmen. Denn bezeichnend ist das insofern, als dadurch die über das Konzept der ›Vielfalt‹ ausgerichtete Frankophonie näher bestimmt und gleichzeitig als eine Instanz entworfen wird, die weltweit Einfluss zu nehmen sucht. So hat auch der Wissenschaftler Michel Guillou die Frankophonie und die von ihr geprägte ›humane Globalisierung‹ als Gegenmodell zum befürchteten und häufig medial beschworenen ›choc des civilisations‹ entworfen.160 Im Jahr 2007 konkretisierte Guillou das frankophone Alternativmodell, indem er die ›humane Globalisierung‹ von der amerikanischen abgrenzte. Er schrieb: »Face au rêve américain, la Francophonie suscite un autre rêve, le rêve d’une mondialisation humaniste«.161 Diese Definition, in der die Frankophonie sozusagen als Inbegriff einer ›humanen Globalisierung‹ oder auch, wie Guillou an anderer Stelle schreibt, einer ›mondialisation plurielle‹ entworfen wird,162 erinnert nicht nur an Jacques Chirac, der schon 2001 davon gesprochen hat, dass die ›Globalisierung‹ ›humanisiert‹ werden sollte.163
159 »Cadre stratégique décennal de la francophonie«, S. 6. 160 Vgl. Guillou/Simard, »Francophonie, que deviens-tu«. 161 Guillou/Phan, La Francophonie, S. 2. 162 Zum Begriff der ›mondialisation plurielle‹ vgl. Guillou, »La francophonie, enjeu de la globalisation«, S. 447. 163 Vgl. Chirac, »Humaniser la mondialisation«.
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Es ist hierbei auch eine gänzlich positive Ausgestaltung des Konzepts ›humanisme‹ zu erkennen. Dem könnte man zugutehalten, dass bereits Senghor in seiner Definition der Frankophonie den Humanismus für wichtig erachtet hat. Dagegen lässt dies allerdings unberücksichtigt, dass der Begriff ›humanisme‹ in heutigen französischen Debatten meist abgelehnt wird, da er dort besonders, wie die Kritikerin Gabrielle Parker vor dem Hintergrund der kontroversen Debatte um das geplante Gesetz zur positiven Rolle Frankreichs in Übersee von 2005 erläutert hat, an die Verwendung des Konzepts als ein zivilisatorisches Argument in der Kolonialzeit erinnert.164 Was ungeachtet dieser Einschränkung deutlich erkennbar wird, ist die deutlich pluralistische Konzeption, die der Frankophonie zugewiesen wird und die sie sich auch selbst zuweist. Die pluralistische Zuschreibung wurde zuletzt von französischen Politikern um die Jahrtausendwende übernommen und ebenfalls zur Beschreibung der Frankophonie verwendet. Allerdings haben diese dabei nicht versucht, an eine ›humanistische‹ Ausrichtung anzuknüpfen und die Frankophonie im Sinne des Senghor’schen Humanismus zu definieren, wie das für die politische Frankophonie erkennbar ist. Wie im Folgenden gezeigt wird, ist vielmehr erkennbar, dass französische Politiker das differenzielle Verständnis der Frankophonie für ihre Beschreibungen der Frankophonie durchaus aufnehmen, es aber vereinnahmen und vor allem zu französischen Zwecken verwenden. Die folgenden Beobachtungen sollen deshalb davon ausgehen, dass das Konzept der ›diversité‹, indem es vereinnahmt und in einem rein französischen Interesse verwendet wird, weitgehend abstrahiert und entleert wird und bald einer affirmativen Floskel gleicht, die der Verfolgung französischer Ziele dient. Zugespitzt werden könnte das in der These, dass ein Dialog zwischen Kulturen, der mit dem pluralistischen Verständnis und dem Entwurf der ›diversité‹ meist zusammengedacht wird, im französischen Diskurs zu einer affimierten Formel gerinnt, deren Umsetzung nicht beabsichtigt ist oder beansprucht wird. Um das zu zeigen, werden im Folgenden drei Berichte von französischen Politikern beispielhaft besprochen. Ihre Berichte sind in den Jahren zwischen 1997 und 2004 entstanden, in denen französische Debatten das Konzept der ›diversité‹ entdeckt und die Diskussion für ein pluralistisches Verständnis von Identitäten geöffnet haben. Vor diesem Hintergrund lassen sie das Verhältnis von Frankreich zur Frankophonie näher bestimmen und die meist zweckgerichtete Konzeption von ›Vielfalt› untersuchen. Sie lassen schließlich auch die These belegen, dass das Konzept der ›diversité‹ erstens aus der Frankophonie Eingang in französische Identitätsdiskurse gefunden hat und dass zweitens die mit dem
164 Vgl. Parker, »Francophonie et universalité«.
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Konzept suggerierte Offenheit gegenüber kultureller Alterität umschlagen konnte in ein Ausschließungsmoment, in ein Moment, in dem sich das Konzept als inhaltsleer herausstellt und seine Verwendung als dogmatisch und strategisch verstanden werden kann. Charakteristisch für die Anfänge eines pluralistischen Verständnisses in Frankreich ist der Bericht von Yvette Roudy von 1997. Die Angehörige des Parti socialiste, die unter François Mitterrand mehrere Jahre lang Ministerin für Frauenrechte und bis 2002 Abgeordnete der französischen Nationalversammlung gewesen war, hat 1997 einen Bericht mit dem Titel La francophonie: de la culture à la politique zum Stand und Potenzial des Kulturellen und Politischen in der Frankophonie erstellt und der Nationalversammlung vorgelegt. Darin thematisiert Roudy die fehlende Glaubwürdigkeit, die sie der Frankophonie bescheinigt, und macht Vorschläge, mit denen die Frankophonie von ihrer besonders kulturell wirksamen Instanz in eine politisch aussagekräftige und agierende Einrichtung überführt und als eine »francophonie vivante et efficace« gestaltet werden kann.165 Ihre Beobachtungen und Vorschläge führt die Politikerin auf gut vierzig Seiten in insgesamt drei Teilen aus. In einem ersten Teil erläutert sie, dass das Französische als Bindeglied der frankophonen Länder zunehmend weggefallen ist, um im zweiten Teil, wie sie schreibt, die ›neue Frankophonie‹ in einer kulturellen und politischen Perspektive zu skizzieren. Im dritten und letzten Teil des Berichts zählt Roudy fünf Vorschläge für eine ›lebendige und effiziente Frankophonie‹ auf. Aufschlussreich ist besonders Roudys Konzeption von ›Vielfalt‹. In ihrem Bericht benennt die Politikerin ›kulturelle Vielfalt‹ nur an einer Stelle und geht hierauf nicht weiter ein, stattdessen betont sie die ›sprachliche Vielfalt‹.166 Um diese ›Vielfalt‹ näher zu erläutern, macht sie im ersten Teil ihres Berichts eine Bestandsaufnahme und untersucht die Rolle der französischen Sprache im frankophonen Sprach- und Kulturraum. Dabei nennt sie das Französische den gemeinsamen Nenner der Frankophonie, einen »lien encore vivace«, und beruft sich auf die Bezeichnung des Frankophoniegipfels als »›Conférence des chefs d’Etat et de gouvernement de pays ayant le français en partage‹«.167 Auch wenn das zunächst so klingt, als ob Roudy vor allem das Französische in der Frankophonie verbreitet sehen will, lehnt sie Hegemonieansprüche erkennbar ab, wenn sie weiter schreibt: »[L]a francophonie ne consiste pas à planter des drapeaux
165 Roudy, La francophonie, S. 14, Inhaltsverzeichnis. 166 Vgl. Roudy, La francophonie, S. 29. 167 Ebd., S. 7, Inhaltsverzeichnis. Zur Umbenennung der Frankophoniegipfel vgl. Kapitel 2.2.1.
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tricolores sur toute la planète!«168 Dass nicht die weltweite Verbreitung der ›drapeaux tricolores‹ und damit auch nicht die des Französischen beabsichtigt ist, verdeutlicht Roudy zudem an späterer Stelle, an der sie von der französischen Sprache zum ›multilinguisme‹ überleitet und betont, dass die Mehrsprachigkeit das eigentliche Ziel der Frankophonie sei.169 Was an dieser Stelle trotz Roudys Ablehnung von neokolonialen Hierarchiegefällen deutlich wird, ist der Umstand, dass Roudy die französische Sprache besonders betont und deren Rolle näher erläutert, während sie auf Mehrsprachigkeit kaum mehr als auf das Konzept der ›diversité culturelle‹ eingeht oder konkretisiert. Im Verlauf des Berichts bezieht sich Roudy immer wieder auf das Französische und beschreibt es als ein politisches Mittel. Sie warnt beispielsweise davor, fortwährend neue Mitgliedsstaaten in die Frankophonie aufzunehmen, wie es vor allem seit 1991 getan wurde, und begründet ihre Ablehnung wie folgt: »[P]lusieurs Etats ne respectent guère les valeurs dont la langue française se veut le champion: droits de l’homme, démocratie et développement«.170 Erkennbar ist an dieser Stelle, dass Roudy ihre Ablehnung gegen die beständige Aufnahme neuer, nicht-französischsprachiger Mitgliedsländer damit begründet, dass diese weder die französische Sprache noch die damit verbundenen Werte wie Menschenrechte achten würden. Dabei scheint es vor allem, als ob eben jene französische Sprache funktionalisiert wird: Indem Roudy die Menschenrechte, die Demokratie und die Entwicklungszusammenarbeit als Werte ausweist, die von der französischen Sprache exemplarisch verkörpert würden, definiert sie das Französische als Träger dieser demokratischen Werte und reichert sozusagen die Sprache um ideelle Werte an. Bemerkenswerterweise hat Roudy 2001 der Nationalversammlung einen weiteren Bericht zum Verhältnis von Menschenrechten und der Frankophonie vorgelegt, in dem sie die hier bereits angedeutete Verknüpfung ausgestaltet.171 Die Verknüpfung von französischer Sprache und ideellen Werten ist 1997 aber noch in anderer Hinsicht interessant. Roudy geht im weiteren Verlauf des Berichts nicht näher auf die demokratischen Werte oder auch die ebenfalls genannte Sprachenvielfalt ein, sondern hebt vielmehr den Bezug zwischen Frankreich und der Frankophonie hervor. Sie bezieht sich wiederholt auf deren enge Verschränkung und rückt am Ende des Berichts Frankreich endgültig in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen, wenn sie schreibt:
168 Ebd. 169 Vgl. Roudy, La francophonie, S. 27f. 170 Ebd., S. 26. 171 Vgl. Roudy, »Rapport d’information«.
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»La France doit s’appuyer sur la défense du multilinguisme, sur l’idée que la francophonie offre une voie culturelle originale, distincte du modèle américain, sans chercher à en être l’antithèse, ce que Stélio Farandjis, secrétaire général du [Haut Conseil de la Francophonie] qualifie de voie entre ›tout Coca-Cola‹ et ›tout ayatollah‹.«172
Bemerkenswert ist diese Stelle insofern, als Roudy hier verdeutlicht, welchen Zweck die Frankophonie für Frankreich erfüllen kann. Denn indem die Politikerin Frankreich ins Zentrum ihres Interesses rückt und darauf verweist, dass die Ausrichtung der Frankophonie als einer »voie culturelle originale« Frankreich dazu verhelfen könne, Sprachenvielfalt zu verteidigen, ohne diese gleichwohl zu erläutern, markiert Roudy die Frankophonie als eine für Frankreich strategische Möglichkeit, um in der Globalisierung einen anderen Weg, einen Mittelweg zu gehen. Sie verweist damit vergleichsweise offen auf die Übernahme und Vereinnahmung frankophoner Diskurse in französischen Debatten. Zugleich ist auch erkennbar, dass Roudy den frankophonen Mittelweg, den sie als eine Alternative zum amerikanischen Weg bezeichnet, nicht in völliger Abgrenzung zu den USA zu entwerfen sucht. Die Abgeordnete distanziert sich damit wiederum von essentialisierenden Debatten um die vermeintliche Entgegensetzung zwischen der amerikanischen und der islamischen Welt, die vor allem Samuel Huntington mit seiner Beschreibung des ›Kampf der Kulturen‹ geprägt und in gesellschaftliche Diskussionen eingebracht hat und die auch der langjährige Generalsekretär des Haut Conseil de la Francophonie mit der hier genannten Entgegensetzung von ›tout coca-cola‹ und ›tout ayatollah‹ bedient hat.173 Was Roudy an dieser Stelle angesprochen hat und als Thema zunächst nur anlegt, haben französische Politiker in späteren Berichten aufgegriffen und in unterschiedlicher Weise ausgestaltet und zugespitzt. In einem ein Jahr später erschienenen Bericht wird die Vereinnahmung des pluralistischen Verständnisses durch Frankreich bereits deutlicher. Der Abgeordnete Patrick Bloche, der seit 1997 der Assemblée nationale angehört und von 2004 bis 2012 auch Mitglied des Verwaltungsrats des Musée du Quai Branly gewesen ist,174 war von Premierminister Lionel Jospin beauftragt worden, die
172 Roudy, La francophonie, S. 28. 173 Vgl. u.a. Farandjis, Philosophie de la Francophonie, S. 39-49; Huntington, The Clash of Civilizations. Ein Jahr vor Huntington, 1995, hat der amerikanische Wissenschaftler Benjamin Barber ein weiteres Buch zum Thema publiziert, das zwei gegnerische Kräfte, den grenzüberschreitenden Kapitalismus und den Fraktionalismus, als Gefahren für die Demokratie diskutiert; vgl. Barber, Jihad vs. McWorld. 174 »Qui suis-je?«.
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Rolle Frankreichs und der Frankophonie im Internetzeitalter zu untersuchen, und präsentierte im Dezember 1999 einen 195 Seiten starken Bericht mit dem Titel Le Désir de France. La présence internationale de la France et de la francophonie dans la société de l’information. Für die viel beachtete Studie hat sich Bloche mit zahlreichen Akteuren aus dem Bereich der Informationstechnologien in Verbindung gesetzt, um zu untersuchen, wie sich Frankreich als Informationsgesellschaft auf internationale Anforderungen vorbereiten kann. Stärker als Yvette Roudy thematisiert Bloche fast ausschließlich auf Frankreich und dessen konzeptuelle Ausgestaltung als eine Informationsgesellschaft. Davon zeugen besonders der Obertitel seines Berichts, der seine Untersuchung als ein Anliegen Frankreichs ausweist, und das Vorwort, das den vier Abschnitten des Berichts vorangestellt und in konzeptueller Hinsicht aufschlussreich ist. Bloche fragt zuerst nach der Rolle Frankreichs in der Informationsgesellschaft, bevor er die Vision einer »société de l’information républicaine« als Idealvorstellung für Frankreich entwirft.175 Damit geht er zunächst ausschließlich von Frankreich aus, dessen Staatsbürgern er vergleichsweise wenig Interesse an der Frankophonie bescheinigt, bevor er auf die Frankophonie zu sprechen kommt. Diese konzipiert er als eine überholte Instanz, »souvent jugé[e] vieillot«, der »un nouveau souffle« verliehen werden müsse. Wie Bloche erklärt, sei ein solcher neuer Schwung mithilfe moderner Kommunikationstechnologien möglich.176 Um dem ›désir de France‹ weiter Gestalt zu verleihen, bezieht sich Bloche im Vorwort ähnlich wie Yvette Roudy besonders auf die französische Sprache. Er fragt nach dem Grund, aus dem in Frankreich das Unbehagen zu beobachten sei, im Zeitalter der Globalisierung ambitionierte Bestrebungen auf internationaler Ebene zu zeigen, und verweist darauf, dass dieses Unbehagen im nationalen Bewusstsein bereits verankert sei. Um diesem Unbehagen etwas zu entgegnen, definiert Bloche das Französische als eine Sprache der Klarheit und der ›Universalität‹, die schon seit langem internationalen Einfluss gehabt habe. Bloche erwähnt dabei auch weniger glorreiche Kapitel der französischen Vergangenheit und gesteht zu, dass die ›universelle‹ Botschaft, die Frankreich seit langem zu
175 Bloche, Le Désir de France, S. 8. 176 Ebd., S. 14. Michel Guillou und Jean-François Simard haben nochmals 2007 von der Notwendigkeit eines ›second souffle‹ gesprochen, die Guillou anlässlich des XII. Frankophonie-Gipfels in Québec ein Jahr später bekräftigt hat. Vgl. Guillou/ Simard, »Francophonie, que deviens-tu«; Guillou, »Sommet de la Francophonie à Québec«. Zum vergleichsweise geringen Interesse der Franzosen an der Frankophonie vgl. Bloche, Le Désir de France, S. 11f.
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verbreiten suche, auf zum Teil brutale Weise, wie er weiter schreibt, den Kolonien vermittelt und aufoktroyiert worden sei. Bemerkenswert ist, dass Bloche vor dem Hintergrund dieser Überlegungen das Konzept der ›diversité‹ auf eine eigenwillige Art einführt und erläutert. Statt von den Vorzügen der französischen Sprache überzuleiten zur ›Sprachenvielfalt‹, wie Roudy es getan hat, beschreibt er ›die‹ Franzosen, wie er sie nennt, und mit ihnen Frankreich als ›différents‹. Er erläutert weiter, dass diese Unterscheidung, diese ›différence‹, die erkennbar als Synonym des Konzepts der ›diversité‹ verstanden werden kann, die besondere Anziehungskraft Frankreichs ausmachen und ein »facteur de séduction« sein könne. Wie der Abgeordnete weiter schreibt, könne man deshalb das »droit à la diversité pour les peuples comme pour les individus« verteidigen.177 Bloche unterstreicht diese Gleichsetzung von Frankreich und der ›différence‹ noch, indem er auch auf den ehemaligen Kulturminister Jean-Jacques Aillagon rekurriert, der geäußert habe, Frankreich und das Französische »peuvent susciter un désir de différence dans un monde uniforme«.178 Was hier bemerkt werden kann, ist, dass Bloche in seine Überlegungen zur ›différence‹ die Frankophonie gar nicht mehr einbezieht, dass er vielmehr Frankreich und die französische Sprache als Urheber des Wunsches nach ›Vielfalt‹ in einer ›uniformen Welt‹ kennzeichnet. Das erlaubt die These, dass er dieses Konzept als eine bald französische Besonderheit begreift und damit ein der Frankophonie zugewiesenes Konzept für Pluralität für Frankreich vereinnahmt. Genauso bemerkenswert ist, dass Bloche die Frankophonie wiederum als einen Ausdruck des im französischen Diskurs entstandenen Konzepts der ›exception culturelle‹ begreift. Im ersten Teil des Berichts erläutert er das genauer und entwirft die Frankophonie als Gegenmodell zur ›uniformen Welt‹. Er schreibt: »[N]e courons pas le risque d’une banalisation des biens culturels. S’il faut évoluer, évoluons à partir du droit existant et de cette exception culturelle qui cimente l’espace francophone«.179 Dass Bloche das Konzept der einst in Frankreich verteidigten ›kulturellen Besonderheit‹ als Denkfigur für die frankophone Gemeinschaft ausgestaltet und festzuschreiben sucht, wie die Verwendung des Verbs ›cimenter‹ nahelegt, mag bereits erstaunen. Doch es frappiert noch mehr, dass er dieses Konzept, das im Rahmen der internationalen GATTVerhandlungen von 1993 im französischen Diskurs aufkam, zu einer Zeit thema-
177 Ebd., S. 6. Vgl. auch ebd. S. 5f. 178 Zitiert nach ebd., S. 6. 179 Ebd., S. 75.
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tisiert, zu der es in Frankreich bereits zugunsten des Konzepts der ›diversité culturelle‹ weitgehend aufgekündigt worden ist. 180 Entsprechend lehnt der Verfasser eines späteren Berichts, der Senator Louis Duvernois, die Konzentration auf das Konzept der französischen ›kulturellen Ausnahme‹ ab und erweitert Bloches ›désir de France‹ zu einem ›désir de France et de Francophonie‹.181 In seinem Rapport d’Information sur la stratégie d’action culturelle de la France à l’étranger von 2004 erläutert Duvernois vielmehr seine Überlegungen zur Frage, welcher Platz und Stellenwert der französischen Außenkulturpolitik in französischen Institutionen eingeräumt wird. Duvernois, Mitglied der UMP, ist seit 2001 Mitglied des französischen Senats und repräsentiert dort Franzosen außerhalb Frankreichs. Für den vorliegenden Bericht war er von der Kommission für kulturelle Angelegenheiten beauftragt worden, der unter anderen das damalige Mitglied des Senats und der spätere Begründer der sozialliberalen Gauche moderne, Jean-Marie Bockel, angehörte. Duvernois beschreibt in seinem Bericht die Notwendigkeit, eine einflussreiche Außenkulturpolitik aufzubauen, und unterbreitet Vorschläge, wie eine solche Kulturpolitik gestaltet sein könnte. Es ist bezeichnend, dass der Frankophonie mit Blick auf die französische Kulturaußenpolitik ein vergleichsweise großer Platz im Bericht eingeräumt wird. Vor diesem Hintergrund und auch angesichts des Umstands, dass Duvernois ein besonderes Interesse an der Frankophonie haben könnte, insofern er Franzosen außerhalb Frankreichs im Senat vertritt und auch die Kommission, der er angehört, unter anderem Anliegen der Frankophonie bearbeitet, ist sein Bericht für die vorliegende Betrachtung von Interesse.182 Der gut 130 Seiten umfassende Bericht gliedert sich nach der Einleitung und einer Aufzählung der wesentlichen Vorschläge in vier Abschnitte. Während die ersten 55 Seiten sich der Frankophonie und ihrer Bedeutung für die französische Kulturaußenpolitik widmen, behandeln die nachfolgenden Teile kulturpolitische Maßnahmen und Einrichtungen, den audiovisuellen Bereich mit Beispielen wie Radio France Internationale oder dem Fernsehsender TV5 sowie dem Bereich der kulturellen Bildung. Besonders am ersten Teil, der wiederum in drei Unterabschnitte unterteilt ist, kann man die ›Vereinnahmung‹ der Frankophonie zu französischen Gunsten bereits ablesen. In Teil A fragt Duvernois danach, welchen Zweck die Frankophonie für Frankreich heute noch erfüllt. Zur Beantwor-
180 Zur Definition und Verwendung des Konzepts der ›exception culturelle‹ in französischen Identitätsdebatten vgl. Kapitel 2.1.2 und 2.1.3. 181 Duvernois, Rapport d’Information sur la stratégie d’action culturelle de la France à l’étranger, S. 19. 182 »Duvernois, Louis«. Vgl. zudem Duvernois, Rapport d’Information.
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tung dieser Frage zeichnet er zunächst die historischen Anfänge der Frankophonie nach, bezieht sich sodann auf die Notwendigkeit, das Französische mithilfe der Frankophonie zu fördern, und führt schließlich von der französischen Sprache zum Konzept der ›diversité culturelle‹. In Teil B beschäftigt er sich einerseits mit den Gründen dafür, dass der französischen Außenpolitik eine klare Strategie und der Frankophonie eine angemessene institutionelle Verankerung in Frankreich fehle, und andererseits mit dem Wandel der politischen Frankophonie. In Teil C erläutert er schließlich die Ideen der Kommission, wie die Frankophonie mithilfe ihrer einzelnen Institutionen gestärkt werden kann. Mit Blick auf diese Struktur fällt auf, dass der Frankophonie eine wichtige und vergleichsweise aktive Rolle in der Gestaltung der französischen Außenkulturpolitik eingeräumt wird. Das ist nicht nur an der Rolle des ersten Teils erkennbar, der gänzlich der Frankophonie gewidmet ist und gleichberechtigt neben den restlichen drei inhaltlichen Abschnitten des Berichts, den kulturpolitische Maßnahmen, dem audiovisuellen Bereich und der kulturellen Bildung, zu stehen scheint.183 Erkennbar ist es auch zu Beginn des ersten Teils, der die Frankophonie behandelt. Darin drückt Duvernois sein Bedauern darüber aus, dass die Frankophonie durch die französische Außenpolitik zwischen 1974 und 1998 vernachlässigt worden ist, und unterstreicht sein Bedauern, indem er den ehemaligen Vizedirektor im Entwicklungsministerium, Albert Salon zitiert, der für die Frankophonie und das Französische zuständig war. Salon bekannte 1999 in der Zeitschrift Liberté politique, dass die Ausrichtung der vergangenen französischen Außenpolitik seit 1974 ihn dazu gebracht habe, die Frankophonie zu vernachlässigen und ihr allein symbolische Gesten der Anerkennung erwiesen zu haben. Er beschreibt anschließend, wie Frankreich die Frankophonie seit der Jahrtausendwende unterstützt hat: Der damalige französische Präsident Jacques Chirac hat im Oktober 2002 auf dem Frankophoniegipfel in Beirut angekündigt, dass Frankreich die Frankophonie mit zusätzlichen Fördergeldern in Höhe von 20 Mio. Euro jährlich unterstützen werde.184 Wie Duvernois hierzu betont, ist eine solche umfassende Förderung wichtig und weiterhin nötig, um der Frankophonie, wie er wiederum an späterer Stelle erklärt, eine »nouvelle dynamique« zu verleihen.185 Der Vorstellung davon, dass die Frankophonie von Frankreich gefördert werden müsse, korrespondieren in dem Bericht die vergleichsweise statischen Entwürfe der Frankophonie, des Französischen und der ›Vielfalt‹. Einerseits
183 Vgl. Duvernois, Rapport d’Information, S. 8f. 184 Vgl. ebd., S. 10. 185 Ebd., S. 44; vgl. auch S. 51.
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unternimmt Duvernois im ersten Unterabschnitt des ersten Berichtteils, Abschnitt A, der die Bedeutung der Frankophonie für Frankreich behandelt, auf zehn Seiten eine Bestandsaufnahme der Rolle des Französischen und skizziert die Notwendigkeit und die Maßnahmen, mit denen die Bedeutung der französischen Sprache aufrechterhalten werden sollen. Andererseits setzt Duvernois im Verlauf des ersten Teils erkennbar das Französische mit dem pluralistischen Verständnis der Frankophonie in Verbindung, indem er das Konzept der ›diversité culturelle‹ und den Kulturendialog der Frankophonie skizziert. Das mag nicht nur frappieren, weil Duvernois die eine Sprache, das Französische, mit dem pluralistisch angelegten Konzept der ›kulturellen Vielfalt‹ zusammenbringt, sondern auch insofern Duvernois das Konzept der ›Vielfalt‹ nicht an dieser Stelle des Berichts und auch an keiner anderen definiert. Wie man sagen könnte, setzt er das pluralistische Identitätsverständnis der Frankophonie vielmehr schon voraus und begreift es als evident. Dass Duvernois die Frankophonie, ›kulturelle Vielfalt‹ und die französische Sprache unhinterfragt miteinander verknüpft, wird bereits erkennbar. An anderer Stelle verdeutlicht er das sogar noch stärker. Schon im ersten Unterabschnitt des Berichtteils zur Frankophonie diskutiert er auf zehn Seiten die Notwendigkeit, ›kulturelle Vielfalt‹ mit dem Französischen und dessen Förderung in Verbindung zu setzen. Das macht er weniger in Abgrenzung zur ›standardisierten amerikanischen Kultur‹ als in dem Bewusstsein, dass das Französische sich für einen Austausch mit anderen Sprachen und Kulturen öffnen müsse, um ›verteidigt‹ werden zu können.186 Bemerkenswert ist hieran vor allem, dass Duvernois in der Folge auf ein Zitat des Literaturprofessors und Politikers Jacques Legendre rekurriert, der in einem Bericht an den Senat von 2003 die Sprache nicht nur als Kommunikationsmittel, sondern ebenso sehr auch als ›Träger von Kultur und Identität‹ beschrieben hat. Denn Duvernois liefert mit diesem Verweis die Begründung dafür, dass Maßnahmen angestrebt werden sollten, um ›Vielfalt‹, die er mal als sprachliche, mal als kulturelle beschreibt, zu fördern. Im weiteren Verlauf entwickelt er diese Maßnahmen sodann.187 Bemerkenswert ist gleichwohl, dass Duvernois die Notwendigkeit, Vielsprachigkeit zu fördern und zu vertreten, im Grunde der Frankophonie und nicht Frankreich zuschreibt. Auf den bereits genannten 10 Seiten erklärt er nicht nur: »[L]a francophonie ne peut exister que comme une polyphonie, même si elle est coordonnée«,188 was insofern frappiert, als die Erklärung, dass die Frankophonie
186 Vgl. ebd., S. 23-33. 187 Vgl. Duvernois, Rapport d’Information, S. 25. 188 Ebd., S. 25.
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nur in ihrer ›Mehrstimmig-‹ oder ›Mehrsprachigkeit‹ bestehen kann, fast trivial erscheinen könnte, wenn man bedenkt, dass die Frankophonie seit ihren Anfängen auf einem pluralistischen (Selbst-)Verständnis beruht. An diese implizite Forderung schließt Duvernois aber auch mit einem historischen Rückgriff in die französische Geschichte an und erklärt, dass die französische Sprache noch nie ›monolithisch‹ gewesen sei. Er nennt den Priester und Bischof Grégoire aus dem 18. Jahrhundert, dem zufolge zur Zeit der Revolution etwa drei Viertel der Franzosen nicht das vermeintliche Standardfranzösisch der Ile-de-France oder der Provinz Touraine gesprochen hätten.189 Dabei mag Duvernois indes verkennen oder auslassen zu erwähnen, dass der Frankophonie bereits seit ihren Anfängen ein pluralistisches (Selbst-)Verständnis zugrunde liegt und dass sie zugleich das Konzept der ›Vielfalt‹ vor Frankreich, nämlich bereits zu Beginn der 1990er Jahre, in ihren eigenen Diskurs aufgenommen und zur Beschreibung des frankophonen Selbstverständnisses verwendet hat. Was Duvernois hier aber wiederum erkennbar andeutet, ist das Verständnis von einer in diesem Fall sprachlichen ›Vielfalt‹, die durch eine Einheit zusammengehalten wird. Denn mit seinem Rückgriff auf die Beobachtung des Priesters Grégoire markiert der Senator Frankreich als eine solche Einheit, die in sich verschiedene Sprachen beinhalten kann, und identifiziert die Vorstellung von einer homogenen Gemeinschaft, deren Zusammenhang durch eine gemeinsame Sprache gestiftet wird, als einen ›Mythos‹.190 Auch die Frankophonie entwirft er letztlich als eine solche Einheit, in der ›Vielfalt‹ durchaus zugelassen ist. So begreift er im Anschluss an seinen historischen Rückgriff das frankophone Festival Francophonies als einen positiv verstandenen Ausdruck von ›Vielfalt‹. Den Namen des Festivals, das seit 1984 in Limoges stattfindet, nennt Duvernois nicht, und er erklärt auch nicht, dass das frankophone Festival heute vor allem Theaterkompagnien und Autoren eine Bühne bietet und Anfang der 1980er Jahre vom damaligen Direktor des Centre Dramatique National des Limousin, Pierre Debauche, gegründet worden ist, um im Zuge der Dezentralisierung einen kulturellen Wettbewerb fernab von Paris zu etablieren.191 Dagegen erläutert Duvernois, was ihm zufolge das Festival »Francophonies« ausmache. Deutlich wird dabei, dass er das Festival als Paradebeispiel für eine gelungene Einheit begreift, in der Heterogenität erwünscht und gefördert wird. Entsprechend positiv beschreibt er es wie folgt: »Le festival […] nous paraît être une vitrine colorée de la communauté francophone, privilégiant systématiquement le
189 Vgl. ebd. 190 Vgl. ebd. 191 »Un peu d’histoire«.
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pluriel sur le singulier et la complexité sur l’homogénéité«.192 Bemerkenswert ist diese Beschreibung in mehrererlei Hinsicht. Einerseits wird durch das Adjektiv ›colorée‹ und den Hinweis darauf, dass das Festival Komplexität anstelle von Homogenität wiedergebe, die Vorstellung suggeriert, dass das Festival auf einem pluralistischen Verständnis beruht. Diesen Eindruck verstärkt Duvernois dadurch, dass er den Erfolg des Festivals nicht zuletzt über den Mut der Festivalleitung begründet, Widersprüche innerhalb der frankophonen Gemeinschaft zu zeigen und in den Titeln der aufgeführten Inszenierungen zu spiegeln. Andererseits mag die Beschreibung des Festivals als einer ›vitrine‹, eines bunten Schaufensters, den Eindruck von einem abgeschlossenen Ganzen erwecken, das in sich wiederum heterogen sein darf. Dass diese Vorstellung einer, wie man sagen könnte, abgezirkelten Heterogenität nicht ganz unproblematisch ist, insofern dabei ›Vielfalt‹ zugelassen, aber sozusagen harmonisch entschärft wird, wurde bereits in Kapitel 2.1.3 gezeigt.193 An dieser Stelle ist zugleich deutlich zu erkennen, wie die Erweiterung des französischen Selbstverständnisses funktionieren kann: Es wird um den Wert der Alterität, der durch das Konzept der ›Vielfalt‹ vertreten wird, zwar erweitert, es beruht aber noch immer, wenn man das Bild des Schaufensters, des Glaskastens oder der Vitrine weiterdenkt, auf einer in sich geschlossenen, von anderen ebenfalls homogenen Räumen abgegrenzten Einheit. Vor diesem Hintergrund sind in dem Bericht von Duvernois nicht nur die vergleichsweisen langen Ausführungen zur Frankophonie und die Entwürfe der Frankophonie als eines in sich heterogenen Sprach- und Kulturraums nachvollziehbar, insofern sie die Erweiterung des französischen Diskurses um Alterität erlauben und erklären. Dass diese Erweiterung auch besonders einem Zweck dient, nämlich der Stärkung der französischen Außenpolitik, stellt Duvernois ebenfalls klar. In der gut eine Seite langen Einleitung beschreibt er sodann, worauf die französische Außenkulturpolitik seit der Jahrtausendwende primär abzielt: »Dès lors, il ne suffit plus de se livrer à des incantations sur l’›exception culturelle française‹, mais de favoriser la mise en place d’une ›stratégie d’influence‹ hors de France, indispensable à la défense de nos intérêts nationaux«.194 Dass Duvernois die Verteidigung des Konzepts der ›exception culturelle‹ ablehnt, wurde bereits genannt und ist erst einmal nicht weiter bemerkenswert. Be-
192 Ebd. Zum Festival vgl. www.lesfrancophonies.com. 193 Dass zudem das Bild der ›Vitrine‹ durchaus nicht unproblematisch ist, wird in den Kapiteln 3.2.2 und 3.2.3 in Bezug auf die Konzeption und die Ausstellungen der Cité nationale de l’histoire de l’immigration diskutiert. 194 Duvernois, Rapport d’Information, S. 7.
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achtenswert wird seine Formulierung allerdings, wenn man an anderen Stellen des Berichts die Äußerungen von Duvernois durchaus so lesen kann, als ob er den Rückgang des französischen ›rayonnement‹, des ›message français‹ und der Förderung von französischer Kultur und französischen Werten im Verlauf des 20. Jahrhunderts durchaus bedauert.195 Beachtlich ist das deshalb, weil es an das französische Selbstverständnis erinnert, das in der eigenen Kultur eine universelle Strahlkraft liegen sieht. An der zitierten Äußerung fällt schließlich auch auf, dass Duvernois eine einflussreiche Außenpolitik Frankreichs im Sinn hat. Diesem Anliegen verleiht die zentrale Stellung des Zitats in der relativ kurzen Einleitung ein besonderes Gewicht. In diesem Lichte wird die Rolle der Frankophonie innerhalb der französischen Außenpolitik mehr als deutlich. Indem Duvernois einen ganzen Abschnitt seines Berichts der Frankophonie und seinem Verständnis von ihr als einer pluralistisch zusammengesetzten Instanz widmet, bevor er in den drei nachfolgenden Teilen auf konkrete kulturpolitische Maßnahmen zu sprechen kommt, vereinnahmt er die Frankophonie, wie man sagen könnte, für französische Zwecke. Bestätigt findet man diesen Eindruck zu Beginn des ersten Teils, der die Frankophonie behandelt. Dort schreibt Duvernois ausgehend von Michèle GendreauMassaloux, der ehemaligen Direktorin der Agence universitaire de la francophonie: »Là où la France est seule, ›elle se regarde elle-même‹. Aussi, c’est la force de la francophonie de se présenter multiple pour attirer les regards sur la France«.196 Die hierdurch von Duvernois bestätigte Notwendigkeit, die Frankophonie in die geplante neue Kulturaußenpolitik Frankreichs einzubeziehen, könnte dabei zunächst einmal positiv gewertet werden, nämlich als der Versuch, die Frankophonie zu berücksichtigen. Indem Duvernois jedoch mit der Bemerkung fortfährt, dass die Stärke der Frankophonie, das heißt ihre pluralistische Anlage, dazu diene, ›die Blicke‹ auf Frankreich zu lenken, gibt er die vornehmliche Vereinnahmung des pluralistischen Verständnisses der Frankophonie für Frankreich deutlich zu erkennen. Die vorangegangenen Betrachtungen haben gezeigt, dass der Bericht von Duvernois so deutlich wie keiner der behandelten Vorgängerberichte die Aneignung des pluralistischen Diskurses der Frankophonie für französische Zwecke zeigt. Ihm geht es in erster Linie um die Neuausrichtung und Stärkung der französischen Außenpolitik, die er mithilfe der Frankophonie erreichen möchte, um damit die französische Bedeutung in der Welt gemäß der Idee der französischen Strahlkraft auszubauen. Entsprechend lässt Duvernois auch nicht unerwähnt,
195 Vgl. ebd., S. 24, 56, 63. 196 Ebd., S. 11.
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dass Frankreich in den internationalen Verhandlungen um die UNESCOKonvention zur ›Vielfalt‹ sozusagen eine Pionierrolle innehatte.197 Dagegen haben sich Roudy und Bloche in ihren Berichten noch nicht mit solchen konkreten politischen Zwecken der Frankophonie für Frankreich befasst. Was aber allen drei Verfassern gemein ist, ist der Umstand, dass sie das Konzept der ›diversité‹ aufgegriffen haben, ohne es zu definieren, und dass sie es mal der Frankophonie, mal Frankreich zugeschrieben haben. Während bei Roudy die Frankophonie Ende der 1990er Jahre als strategisches Mittel fungiert, um (sprachliche) ›Vielfalt‹ zu fördern und den frankophonen Raum von anderen Sprach- und Kulturräumen abzugrenzen, verweist Bloche bereits auf die Sorge, mit der die Aufnahme neuer Mitgliedsländer in die Frankophonie verbunden ist, und fordert, den frankophonen Raum zu ›zementieren‹. Eine ähnliche Funktion erfüllt auch das Bild des ›Schaukastens‹, das Duvernois verwendet, um der Vorstellung von einer negativ konnotierten Homogenität ein positives Beispiel für Pluralität entgegenzusetzen. Wie an den vorangegangenen Betrachtungen ebenfalls deutlich geworden ist, muss es bei dem Versuch, das Konzept der ›diversité‹ für politische Zwecke zu verwenden, zwangsläufig bei vergleichsweise abstrakten Begriffen bleiben. Während Yvette Roudy beispielsweise die frankophone ›voie originale‹ vom amerikanischen Modell abgrenzt, ohne das genaue Gegenmodell entwerfen zu wollen, sucht Bloche die Frankophonie von einem ›monde uniforme‹ abzugrenzen. Eine besonders abstrakte Verwendung des Konzepts der ›diversité‹ hat wiederum Duvernois deutlich gezeigt, indem er das Konzept als Entwurf vorausgesetzt und nicht näher definiert hat, indem er ferner das ›Plurale‹ und das ›Heterogene‹ einer ›Homogenität‹ vorgezogen und nicht mehr über ideelle Werte wie eine humanistische Anschauung zu definieren gesucht hat, wie sie beispielsweise in politischen frankophonen Bestimmungen und in Ansätzen auch bei Roudy erkennbar sind. Dabei ist in den vorangegangenen Betrachtungen noch nicht einmal berücksichtigt worden, dass es sich bei dem Konzept der ›diversité‹ im Grunde um einen ästhetischen Entwurf handelt, der zunächst von Intellektuellen wie Senghor als Identitätsbeschreibung für die Frankophonie entworfen und von Berufspolitikern in Frankreich, wie man sagen könnte, für die Beschreibung eines um Alterität erweiterten Identitätsverständnisses übernommen und vereinnahmt worden ist.198
197 Vgl. ebd., S. 75; Kapitel 2.1.3. 198 Zur vor allem ästhetischen Begründung des Konzepts der ›diversité‹ vgl. auch Kapitel 2.1.3 und 2.2.3.
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Positiv gewertet könnte man besonders den Bericht von Duvernois als einen Entwurf lesen, der das pluralistische Verständnis vom Etikett der ›diversité‹ zu lösen sucht. Indem das Konzept dort abstrahiert und nicht näher definiert wird, sondern vielmehr schon gesetzt ist, könnte man dem die positive Seite abgewinnen, dass die Vorstellung von ›Vielfalt‹ als Ziel bereits in der Politik und im politischen Selbstverständnis Frankreichs übernommen worden ist. Was jedoch bleibt, ist die Feststellung, dass Duvernois die Frankophonie für französische Zwecke vereinnahmt und in den Dienst der französischen Außenpolitik stellt, dass er wie keiner seiner Vorgänger so deutlich vor Augen führt, wie Frankreich sich die pluralistische Anlage der Frankophonie angeeignet hat. Der französische Wissenschaftler und Experte für frankophone Fragen, Michel Guillou, hat diese Vereinnahmung des frankophonen Diskurses bereits 1998 paradigmatisch vor Augen geführt, indem er sagte: »Il faut moderniser, innover, vendre pour mondialiser notre rêve [le rêve français; N.P.] […]. Nous avons besoin de la francophonie multilatérale car c’est notre rêve qu’elle mondialise«.199 Was Guillou hiermit belegt, ist nicht nur die Erkenntnis auf französischer Seite, das eigene Verständnis zu modernisieren. Es ist auch der Eindruck, dass diese Modernisierung nur mithilfe der pluralistischen Frankophonie gelingen kann, um wiederum den französischen Traum zu realisieren, den Guillou bemerkenswerterweise durch die weltweite Verbreitung verkörpert sieht. Dass diese Integration frankophoner Identitätsentwürfe und die Begründungsstrategien für die Zusammengehörigkeit der Frankophonie die Schwierigkeiten der Revision und Neubegründung der französischen Identität kompensieren sollen, zeigte Sarkozy anlässlich der jährlich stattfindenden Journée internationale de la Francophonie. Im März 2008 trug er neben dem Generalsekretär der OIF, Abdou Diouf, während der Feierlichkeiten in Paris eine Rede vor. Während aber Diouf in seiner Rede den Entwurf der Frankophonie um humanistische Referenzen anreicherte, skizzierte Sarkozy die Frankophonie vor allem als zusammengehörige Einheit und betonte abschließend die zentrale Stellung Frankreichs innerhalb der Frankophonie. Ihm zufolge kann das unabdingbare Vorantreiben einer offenen, modernen und energischen Frankophonie kulturelle ›Vielfalt‹ fördern. Damit hat Sarkozy nicht nur die Zweckgerichtetheit verdeutlicht, mit der französische Identitätsdiskurse sich auf die frankophone ›Vielfalt‹ beziehen, sondern im weiteren Verlauf auch gezeigt, dass eine andere Konkretisierung des Konzepts ›Vielfalt‹ kaum möglich ist. Denn um das Konzept der ›diversité‹ näher bestimmen zu können, thematisierte Sarkozy immer wieder die französische Sprache, die er als Identitätsgrundlage der Frankophonie entworfen
199 Guillou, »La Francophonie, enjeu de la globalisation«, S. 447.
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und deren Erhalt in internationalen Organisationen er als wesentliches Ziel der Frankophonie gefordert hat, um wiederum der englischsprachigen, homogenisierenden ›mondialisation‹ gerecht zu werden. Am Ende seiner Rede führte Sarkozy diese zweckgerichtete Vorstellung von der Frankophonie auf die Spitze, als er die Rolle Frankreichs in der Frankophonie betont, die den französischen Einfluss in der Welt gewissermaßen aufrechterhalten und weiter fördern sollte.200 2.2.3 Frankophonie, ›frankophoner Universalismus‹, ›diversalité‹: Postkoloniale Identitätsentwürfe Wo die Frankophonie zum Inbegriff von ›kultureller Vielfalt‹ gemacht und von Frankreich vereinnahmt worden ist, wurde sie auch mit dem Konzept der ›Universalität‹ in Verbindung gebracht, ebenso in französischen wie in frankophonen Diskursen: Schon 1987 schrieb Didier Lamaison einen Discours sur l’universalité de la Francophonie.201 2001 nannte der ehemalige Staatssekretär für frankophone Fragen der Regierung Lionel Jospins, Charles Josselin, anlässlich der jährlichen Journée de la Francophonie die ›universelle‹ Bestimmung den Kern der Frankophonie.202 Schließlich richtete auch der langjährige Generalsekretär des frankophonen Haut Conseil, Stélio Farandjis, sein Augenmerk auf das Konzept. Er aber konzentrierte sich besonders auf die Spannungen, die aus der Gleichzeitigkeit der Identitätskomponenten ›Universalität‹ und ›Vielfalt‹ erwachsen und die gerade die Frankophonie zu einer Herausforderung und gleichzeitig seine Anziehungskraft ausmachen würden.203 Vor diesem Hintergrund soll im Folgenden gezeigt werden, wie das Konzept der ›universalité‹ in der politischen Frankophonie als ein sogenannter ›frankophoner Universalismus‹ entworfen und verwendet worden ist, und wie es gleichzeitig in Form der sogenannten ›diversalité‹ Eingang in die ›frankophone Peripherie‹ gefunden hat. Dabei ist erstens die These leitend, dass diese Identitätsentwürfe sich durch die Ein- und Ausschlussmechanismen kennzeichnen, die bereits für die Debatten um Identität in Frankreich aufgezeigt wurden. Zweitens wird von der These ausgegangen, dass daran besonders die Dominanz Frankreichs deutlich wird wie auch die Schwierigkeit, das Konzept der ›universalité‹
200 Vgl. »Allocution de M. le Président de la République«; »Journée internationale de la Francophonie«. 201 Lamaison, Discours sur l’universalité de la francophonie. 202 Vgl. »Message de M. Charles Josselin«; auch »La coopération française entre ravalement et réforme«. 203 Parker, »Francophonie et universalité«, S. 695-708.
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vom französischen Universalitätsentwurf zu emanzipieren. In einem ersten Schritt werden deshalb zunächst universalistisch angelegte Identitätsentwürfe in der politischen Frankophonie diskutiert, in einem zweiten Schritt schließlich die von frankophonen Intellektuellen in der sogenannten ›Peripherie‹ entworfene Konzeption der ›diversalité‹ erörtert. Dass der Begriff der ›universalité‹ in der politischen Frankophonie als ein Bestandteil frankophoner Identität verstanden wird, wird meist positiv bewertet und selten hinterfragt. Olivier Milhaud hat die Verwendung des Konzepts in der Frankophonie deshalb auch eine »utopian vision of a world« genannt, »where the French language is shared and not imposed«.204 Das Konzept der ›universalité‹ wird in der Frankophonie vor allem in Abgrenzung vom republikanischen Identitätsentwurf aufgefasst und als ein Modell beschrieben, das zwei Konzepte vereinen soll: Es soll als ein »tissage des valeurs de l’idéal républicain français et de la civilisation de l’universel de Senghor« fungieren.205 Indem die Wissenschaftler Guillou und Thi-Hoi-Trang Phan hiermit einerseits das Senghor’sche Modell der allumfassenden ›universalité‹ nennen und es andererseits mit republikanischen Idealen verknüpfen, wird der ›frankophone Universalismus‹ erkennbar als ein Identitätsmodell entworfen, das über die französische ›Universalität‹ hinauszugehen beansprucht und das Konzept einer allumfassenden ›universalité‹ und die Frankophonie als »deux idées jumelles«, als eng miteinander verwoben erscheinen lässt.206 Bei genauer Betrachtung ist allerdings auch erkennbar, dass der so beschriebene ›frankophone Universalismus‹ besonders auf einer ›Anreicherung‹ des bereits bestehenden Konzepts der ›universalité‹, wie man sagen könnte, und weniger auf einem ›allumfassenden‹ Entwurf gründet. Dominique Wolton zeigt, dass diese Anreicherung vor allem über republikanische Prinzipien erfolgt: »La France? Elle est universaliste dans les mots et les valeurs, méfiante à l’égard de la diversité linguistique et culturelle [...]. Pourtant le lien entre culture, politique et droits de l’Homme que l’on y retrouve [dans la Francophonie; N.P.] est conforme aux idéaux universalistes français.«207
204 Milhaud, »Post-Francophonie«, S. 2. 205 Guillou/Phan, La Francophonie, S. 3. 206 Parker, »Francophonie et universalité: évolution de deux idées jumelles«, Aufsatztitel. 207 Wolton, »Un atout pour l’autre mondialisation«, S. 361.
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Wolton verdeutlicht hier, dass die Parallelisierung der französischen und der frankophonen Konzeption von ›universalité‹ nicht selbstverständlich ist, insofern er darauf verweist, dass französische Identitätsdiskurse sprachliche und kulturelle ›Vielfalt‹ lange Zeit unberücksichtigt gelassen haben. Er erläutert aber zugleich, dass die Bereiche des Kulturellen, Politischen und der Menschenrechte, die die Frankophonie als wichtige Tätigkeitsfelder festgelegt hat, nicht im Widerspruch, sondern eher im Einklang mit den universalistischen Werten Frankreichs stünden. Vor diesem Hintergrund ist es aufschlussreich, dass sich in den 1990er Jahren nicht nur Frankreich, sondern auch die Frankophonie der Förderung der universell angelegten ›exception culturelle‹ verschrieben hat. Aurélien Yannic, der Ansprechpartner des Forums zum Thema »Francophonie et Migrations Internationales«, das die OIF 2007 ins Leben gerufen und seitdem jedes Jahr unter einem anderen Thema stattfinden lassen hat, sieht diese Förderung nicht im Widerspruch mit der Förderung des Konzepts der ›diversité culturelle‹. Vielmehr begreift er beide Konzepte als gleichberechtigt nebeneinander. Sodann verteidigt er in einem Aufsatz, in dem er die Entwicklung in der Frankophonie von der französisch geprägten ›exception culturelle‹ zur UNESCO-Konvention zu ›kultureller Vielfalt‹ nachzeichnet, den frankophonen Rückgriff auf das Konzept der ›exception culturelle‹ und beschreibt es als eine »›seconde exception culturelle‹«.208 Wie er weiter ausführt, ist diese ›zweite kulturelle Ausnahme‹ nicht als eine rein französische, sondern als eine frankophone Idee zu begreifen, die die Verteidigung der Kultur, der kulturellen Güter und Werte einer rein wirtschaftlich intendierten Liberalisierung enthoben und ebenso den Kulturendialog wie die Schlichtung von politischen Konflikten zum Ziel habe.209 Dieser Identitätsentwurf der Frankophonie als einer ›zweiten kulturellen Ausnahme‹ kann auf zwei Weisen gedeutet werden. Dass die Frankophonie genauso wie Frankreich die Liberalisierungstendenzen kritisiert, die mit der Globalisierung einhergehen, lässt einerseits einen Reflex erkennen, der als ein bekannter französischer Reflex gegen die oftmals angloamerikanisch konzipierte Globalisierung verstanden werden kann. Hans-Jürgen Lüsebrink und andere formulieren diesen Gedanken wie folgt:
208 Yannic, »La francophonie et le dialogue des cultures«, S. 4. Vgl. »Réflexion stratégique«; »La cellule de réflexion stratégique de la Francophonie ouvre un forum de discussion sur le thème«. Zu Boutros-Ghalis Plädoyer vgl. Kapitel 2.2.2. 209 Vgl. Yannic, »La francophonie et le dialogues des cultures«, S. 3-9.
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»La critique francophone de la mondialisation, fondée sur une base commune des valeurs universelles [...], ne pourrait-elle pas s’expliquer surtout par une opposition fondamentale remontant précisément à la seconde moitié du 18ème siècle, une concurrence farouche ancrée dans le mouvement des Lumières et les deux Révolutions française et américaine, entre l’universalisme français et l’universalisme américain?«210
Lüsebrinks Beobachtung, dass die frankophonen Abgrenzungen von der angloamerikanischen Globalisierung französischen Abwehrmechanismen gegenüber den USA ähneln, kann man in der These zuspitzen, dass die frankophonen, als universell entworfenen Werte sich kaum von den republikanischen Werten unterscheiden, dass der hybride Entwurf der frankophonen ›universalité‹ vielmehr ein altes universalistisches Konzept in neuem Gewand ist. Schließlich wähnten sich beide Länder, Frankreich und die USA, seit ihren Revolutionen im 18. Jahrhundert als »Trägerinnen einer universellen Mission«.211 Insofern könnte man sogar kritisieren, dass die Frankophonie, da sie auf die in der Revolution begründeten, französisch beeinflussten universellen Werte zurückgreift, geradezu anachronistisch angelegt ist. Ein solcher Anachronismus im Umgang mit der Frankophonie ist beispielsweise bei Michel Guillou zu erkennen, der die Französische Revolution nicht als Beginn der französischen Werte, sondern vor allem als Entstehungszeit des ›frankophonen Traums‹ ausgemacht hat, indem er schrieb: »Pour autant, le rêve francophone issu de la Révolution française ne doit pas renoncer«.212 Andererseits lassen der Entwurf der Frankophonie als einer ›zweiten kulturellen Ausnahme‹ und damit die Orientierung an französischen Werten auch eine positive Deutung zu. Denn sie können ebenso als Versuch gewertet werden, die Frankophonie anders als über die Abgrenzung von der angloamerikanischen Globalisierung zu bestimmen. Immerhin bescheinigt Yannic dem Konzept der ›frankophonen kulturellen Ausnahme‹ die Möglichkeit, ›kulturelle Vielfalt‹ und den Dialog zwischen Kulturen zu fördern. In dieser Hinsicht wäre das Konzept zwar erkennbar vor allem ein Mittel zum Zweck und würde sich nicht von französischen Debatten unterscheiden. Es erscheint aber in der positiven Ausgestaltung, die Aurélien Yannic vorgenommen hat, als eine Möglichkeit, mit der die Frankophonie in ihrer universellen Anlage näher bestimmt werden kann.
210 Lüsebrink/Fendler/Vatter, »Introduction«, S. 13-14. 211 Ritzenhofen, »Frankophonie versus kulturelle Globalisierung«, S. 34. 212 Guillou, »La Francophonie, enjeu de la globalisation«, S. 449. Zur Warnung vor anachronistischen Tendenzen in der Frankophonie vgl. auch Karimi, »Un catalyseur de la différence«, S. 23f.
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Eine ähnlich positive Bestimmung der Frankophonie erfolgt über den Entwurf der Frankophonie als einer Gemeinschaft. Das suggeriert nicht nur der Titel der Monografie von Boutros Boutros-Ghali, Émanciper la Francophonie, der die Frankophonie als Gemeinschaft anlegt.213 Die Vorstellung von der Frankophonie als Einheit hat auch der Generalsekretär Stélio Farandjis betont, indem er die Frankophonie als ein »exemple vivant du mariage de l’unité et de la diversité« bezeichnet hat.214 Die Verknüpfung dieser beiden Elemente, dem Einheitsgedanken auf der einen und dem Konzept der ›diversité‹ auf der anderen Seite, ist gängig in der Frankophonie und findet sich beispielsweise im Titel des XII. Frankophonie-Gipfels in Québec wieder, der unter den Titel »L’unité dans la diversité« gestellt wurde. Wie erkennbar geworden ist, entkommt auch eine solche Konzeption nicht dem doppelten Dilemma, das in der Frankophonie beobachtet werden kann: Zum einen folgt die vermeintlich offene Konzeption von der ›Einheit in der Vielfalt‹ einem Prinzip der Ein- und der Ausschließung, das auch der harmonisierenden Entschärfung der ›Vielfalt‹ und der damit umfassten Differenzen dienen kann. Zum anderen unterscheidet sich die frankophone universelle Konzeption, die anders als die französische als eine tatsächlich allumfassende konzipiert worden ist, letztlich kaum von der französischen. Es ist damit erkennbar, dass die Identitätskonzeptionen, die in französischen und frankophonen Diskursen über Ein- und Ausschließungsmechanismen funktionieren, bisher noch nicht aufgebrochen worden sind. Wie die Wissenschaftlerin Gabrielle Parker erläutert, kann das erst von der ›frankophonen Peripherie‹ geleistet werden, die, so Parker, ein neues, hybrides Identitätsmodell zu entwerfen beansprucht, das den Bestandteil der ›universalité‹ zwar noch im Wort trägt, ihm aber in der inhaltlichen Bestimmung keine große Bedeutung beimisst. In diesem Sinne würde die sogenannte ›frankophone Peripherie‹ den Ein- und Ausschlussmechanismus des im frankophonen Zentrum entworfenen und angebotenen Modells aufkündigen.215 Ein Blick auf das Identitätskonzept antillanischer Intellektueller, die im Folgenden stellvertretend für die frankophone Peripherie diskutiert werden sollen, legt nahe, dass der von Parker formulierte Anspruch noch nicht ganz, aber in einer gewissen Weise durchaus verwirklicht worden ist. Édouard Glissant und Patrick Chamoiseau beschrieben 2007 beispielsweise ihre eigene Vision von Identität. In ihrer Kritik zur Definition der sogenannten nationalen Identität, in der sie sich ausdrücklich auf das von Nicolas Sarkozy 2007 eingerichtete Minis-
213 Boutros-Ghali, Émanciper la Francophonie. 214 Farandjis, »Repères dans l’histoire«, S. 52. 215 Vgl. Parker, »Francophonie et universalité«.
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tère de l’immigration, de l’intégration, de l’identité nationale et du co-développement bezogen, bezeichneten sie die Vorstellung von der sogenannten »unité-diversité humaine« als Modell einer idealen Identität.216 Eine solche Konzeption kann zunächst an das Wechselspiel von ›Vielfalt‹ und ›Einheit‹ erinnern, das als Grundlage der ideellen und politischen Frankophonie benannt worden ist. Sie verdeutlicht aber zugleich, dass die antillanische Peripherie durchaus versucht hat, ein anderes Identitätsmodell zu entwerfen, das sich von der von der zentral organisierten Frankophonie unterscheidet. Diesem Zweck sollte besonders das hybrid angelegte Konzept der ›diversalité‹ dienen. Das Konzept entwarfen zum Ende der 1980er Jahre Jean Bernabé, Raphaël Confiant und schließlich Chamoiseau im Éloge de la créolité, den sie neben Césaire vor allem Glissant und dessen literaturtheoretischen Konzept ›créolité‹ widmeten. In dem Éloge bestimmten die drei Verfasser mit dem Konzept der ›diversalité‹ eine Variante der ›créolité‹ und entwarfen es als ein hybrides Konzept, das die Identitätskomponenten ›diversité‹ und ›universalité‹ umfassen und miteinander verbinden sollte.217 Sodann haben Chamoiseau und Glissant das Konzept in ihrem bereits genannten Plädoyer von 2007 konkretisiert. Wie sie erläuterten, ist das Konzept der ›diversalité‹ allumfassend angelegt und unterscheidet sich in dieser Konzeption, wie sie ergänzen, vom südamerikanischen Vermischungskonzept des ›mestizaje‹, das sich auf die Vermischung von indianischer und europäischer Bevölkerung und Kultur bezieht. Wie die Ausführungen von Glissant und Chamoiseau nahelegen, darf das Konzept der ›diversalité‹ nicht mit einer universellen Konzeption verwechselt werden, die sie dezidiert ablehnen.218 Vielmehr beschreibt es eine »diversité plus complexe«, die über ›archaische‹ Merkmale wie Hautfarbe, Sprache oder Glauben hinausgehen soll. Eine solche ›komplexere Vielfalt‹ ist, so Glissant und Chamoiseau weiter, als eine »vraie diversité« zu begreifen, »[qui] ne se trouve aujourd’hui que dans les imaginaires: la façon de se penser, de penser le monde, de se penser dans le monde, d’organiser ses principes d’existence et de choisir son sol natal«.219 Glissant und Chamoiseau entwerfen das Konzept der ›diversali-
216 Glissant/Chamoiseau, Quand les murs tombent, S. 13. Zum neuen Ministerium vgl. Kapitel 2.1.3. 217 Vgl. Bernabé/Chamoiseau/Confiant, Éloge de la créolité; Parker, »Francophonie et universalité«. Zur Widmung an Glissant vgl. zudem Renaut, Un humanisme de la diversité, S. 319. 218 Zur Ablehnung des ›souci obsessionnel de l’universalité‹ bei den genannten frankophonen Intellektuellen vgl. Renaut, Un humanisme de la diversité, S. 322-326. 219 Glissant/Chamoiseau, Quand les murs tombent, S. 15f.
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té‹ an dieser Stelle als eine, wie man sagen könnte, ›allumfassende Vielfalt‹ und bald als ein Denk- und Wertesystem. Das Konzept ist damit erkennbar als ein Modell entworfen, mit dem das ›eigene‹ Verhältnis zur Welt beschrieben und dadurch als eine »diversité humaine«, um die Beschreibung des Wissenschaftlers Alain Renaut aufzugreifen, oder als eine »›harmonisation consciente des diversités préservées‹« begriffen werden kann.220 Um jedoch die Essentialisierung und Entleerung des Begriffs der ›Vielfalt‹, dem einen Bestandteil von ›diversalité‹, zu vermeiden, betont besonders Glissant in seinen Erörterungen zum Konzept der ›créolité‹ das Dialogische und Relationale und benennt damit Aspekte, die auch für das Konzept der ›diversalité‹ fruchtbar gemacht worden sind. Im Aufsatz »Le Même et le Divers«, den Glissant schon 1975 verfasst hat, und der 1981 in seinen Discours antillais aufgenommen worden ist, betont er besonders die Bedeutung der ›Relation‹ und beschreibt diese als einen fortwährenden, prozesshaften Dialog. Wie er weiter erläutert, sollen das ›Eine‹ und das ›Eigene‹ nicht der ›Vielfalt‹ entgegengesetzt werden, sondern das ›Eigene‹ vor allem mithilfe von ›Vielfalt‹ konstituiert und bestätigt werden. Anstatt das ›Eigene‹ als homogen und ›steril‹ zu begreifen, dem etwa der Gebrauch eines dogmatischen ›Universalismus‹ entsprechen würde, hebt Glissant den relationalen Charakter von Identität hervor, der ihm zufolge nicht eine Bestätigung des festgesetzten ›Eigenen‹, sondern die offene Beziehung zu Alterität und eine interkulturelle Vermischung nach sich ziehen könne.221 Diese relationale Ausrichtung, auf der das Konzept der ›diversalité‹ beruht, erläutert Confiant sodann näher. Dabei setzt er sich dezidiert von Senghor als ›Übervater‹ der Frankophonie ab und rekurriert auf Victor Segalen, der um 1900 als französischer Marinearzt und zugleich als Dichter, Ethnologe und Archäologe tätig war. Confiant schreibt: »La ›diversalité‹, suivant en cela les traces (et les stèles) de Victor Segalen, nous contraint à reconnaître que l’Autre vit en nous, que nous sommes partiellement lui et qu’à ce titre il a droit à notre respect le plus absolu.«222
Dass das Konzept der ›diversalité‹ auf den Stelen Segalens beruht, ist bemerkenswert. Schließlich sind dessen Stelen Prosagedichte, die in Anlehnung an die
220 Renaut, Un humanisme de la diversité, S. 311, zitiert nach Glissant, ebd., S. 328. 221 Vgl. ebd., S. 314-332; Glissant, Le Discours antillais. 222 Confiant, »Créolité et Francophonie«, S. 252. Zu Segalen vgl. ders., Essai sur l’exotisme.
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in China häufig vorkommenden, mit Inschriften versehenen Steindenkmäler den Geist des ›alten Chinas‹ spiegeln sollen. Sie gründen auf einer Konzeption von ›Vielfalt‹, die, wie Rainer G. Schmidt in seinem Beitrag in der deutsch-französischen Ausgabe der Stèles erläutert, der Logik des ›Entweder-Oder‹ entzogen sei und den Weg des ›Und-Und-Und‹ einschlage, »um die verschiedenen, sich manchmal auch widersprechenden Ströme des Selbst wahrzunehmen«.223 Die Stelen spiegeln damit die Ausrichtung des Konzepts ›diversalité‹ wider, die vor allem Glissant definiert hat: Sie verdeutlichen den Aspekt des Relationalen, indem sie von den subjektiven, inneren Differenzen im ›Eigenen‹ ausgehen, deren Kenntnis und Bewusstsein zur Anerkennung der inneren, ›eigenen‹ wie auch der äußeren, ›fremden‹ kulturellen Alterität führen soll. Nicht zuletzt bestärkt die skizzenhafte und unvollendete Form von Segalens Essai sur l’exotisme den Eindruck, dass Identitäten etwas Prozesshaftes innewohnt, das wiederum auch dem Konzept der ›diversalité‹ zugeschrieben wurde. Mit Blick auf den Umstand, dass die ›diversalité‹ auf der poetisch verankerten Konzeption Segalens von radikaler kultureller Fremdheit beruht, wird ein Aspekt besonders deutlich. Es ist zu erkennen, dass das Konzept der ›diversalité‹ vor allem ästhetisch begründet und legitimiert wird. Diesen Eindruck bekräftigt beispielsweise Glissants Beschreibung der ›diversalité‹. Denn er hat das Konzept vor allem als literaturtheoretische Kategorie entworfen und als eine ›harmonisation consciente‹ von ›Vielfalt‹ verstanden. Damit betont Glissant nicht nur erkennbar die Verknüpfung verschiedener kultureller Differenzen, sondern vor allem ein Miteinander, das man als konfliktfrei verstehen könnte. In diesem Lichte kann man schließlich auch fragen, ob die von Glissant harmonisch angelegte Konzeption zur Konstitution von Identitäten und zur konkreten Repräsentation von ›Vielfalt‹ taugen kann. Ausführlich wird dies in den Kapiteln zum Musée du Quai Branly und zur Cité nationale de l’histoire de l’immigration diskutiert. Es mag aber bereits hier in der primär ästhetischen Konzeption nach Glissant problematisch erscheinen. Der Versuch als solcher, ein erweitertes Konzept der ›diversité‹ in der Peripherie zu bestimmen und dem anderen frankophonen Identitätsentwürfen entgegenzusetzen, die stark an Frankreich orientiert sind, ist zumindest deutlich positiv zu bewerten: Es frappiert an dieser Stelle nicht nur, dass Segalen, der erst Mitte des 20. Jahrhundert publiziert wurde und bis heute in der (französischen) Ethnologie meist als Außenseiter behandelt wird, in der frankophonen Peripherie großen Anklang gefunden hat und dass mit ihm der Versuch unternommen wur-
223 Schmidt, »Das Stellen der Schrift bei Stelen«, S. 243; vgl. auch S. 244-246; Segalen, Stelen.
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de, einen ethnozentrischen Blick auf kulturelle Alterität zu vermeiden. Wie zugleich deutlich wird, wurde das Konzept der ›diversalité‹ konkreter bestimmt als das der ›diversité‹, das im frankophonen Diskurs weitgehend abstrakt geblieben ist und vielmehr um seiner selbst willen zu fördern gesucht wird. Wie die vorangegangenen Beobachtungen deshalb schlussfolgern lassen, ist das Konzept der ›diversalité‹ besonders dadurch konkretisiert worden, dass es in eine ästhetische Perspektive gesetzt und darüber näher bestimmt wurde. Es wird dadurch allerdings auch die Frage aufgeworfen, ob wiederum keine andere Bestimmung von Kategorien wie die der ›diversalité‹ als über die ästhetische Einordnung und Legitimation denkbar ist. Zugleich wird aber noch ein anderes Problem deutlich: Trotz des Versuchs, das Konzept der ›diversalité‹ zu konkretisieren, können bei der Umsetzung und Anwendung des Konzepts Ein- und Ausschlussmechanismen beobachtet werden, die bereits für die Anwendung der ›universalité‹ und der ›diversité‹ im frankophonen Diskurs gezeigt wurden. Dass Glissant und Chamoiseau in ihrem Plädoyer von 2007 die Identität als eine ›unité-diversité humaine‹ bestimmt haben und dass diese ›unité‹ als eine Weise, Gemeinschaft zu bestimmen, und gleichsam der Einschließung dienen könnte, erstaunt dabei noch nicht so sehr, zumal dem entgegengehalten werden kann, dass sie die Identität der frankophonen Gemeinschaft ausdrücklich nicht als eine Einheit perspektivieren. Vielmehr frappiert, dass auch das Konzept der ›diversalité‹ meist von Globalisierungsphänomenen abgegrenzt wird. Wie Glissant und Chamoiseau erläutern, ist diese Globalisierung, die sie als ›mondialité‹ bezeichnet haben, nich mit dem »marché-monde«, dem weltweiten Handelsmarkt, zu verwechseln.224 Vielmehr ist das auf ›mondialité‹ beruhende Identitätsmodell der ›diversalité‹ wegen seiner spezifischen Auffassung der Globalisierung klar vom Konzept der ›diversité‹ zu trennen. Confiant schreibt in einem Aufsatz zum Verhältnis von ›créolité‹ und Frankophonie: »En quoi ce néologisme [la diversalité; N.P.] se distingue-t-il de ›diversité‹? Pourquoi a-til été nécessaire de le forger? C’est parce qu’il y a risque que des esprits trop peu attentifs confondent mondialisation globalisée et mondialisation créole. La première valorise la ›diversité‹ telle que l’expriment spectaculairement les publicités de Benneton où sont juxtaposées ce qu’une idéologie aux relents racistes appelle ›les trois races‹: la blanche, la noire et la jaune [...]. Au contraire, la mondialisation créole valorise la ›diversalité‹, c’est-
224 Glissant/Chamoiseau, Quand les murs tombent, S. 15.
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à-dire le mélange, le partage des ancêtres et des identités, le non-cloisonnement des imaginaires.«225
Die hier vorgenommene Unterscheidung zwischen den verschiedenen Begriffen der ›mondialisation‹ weicht erkennbar von der Unterscheidung ab, die im Diskurs der politischen Frankophonie vorgenommen wird. Die zunächst wertneutrale ›mondialisation‹ ist bei Confiant erst in der Konkretisierung und Unterscheidung des Konzepts in zwei verschiedene Ausrichtungen näher bestimmt. Wie er erläutert, ist die sogenannte ›mondialisation globalisée‹ von der ›mondialisation créole‹ zu unterscheiden. Während die globalisierte ›mondialisation‹ eine Aufteilung in Rassen und ein klares Nebeneinander von Rassen impliziere, beanspruche die ›mondialisation créole‹ darüber hinauszugehen und kennzeichne sich besonders durch ihre Offenheit, durch den ›non-cloisonnement‹, und einen Vermischungsmoment. Wie hiermit deutlich geworden ist, wird das in der ideellen und politischen Frankophonie positiv konnotierte Konzept der ›diversité‹ und damit die ›mondialisation globalisée‹ von Confiant und anderen Intellektuellen der Peripherie dezidiert abgelehnt. Stattdessen ist das Konzept der ›diversalité‹ mitsamt der ›mondialisation créole‹ als Identitätsmodell bestimmt und für den Umgang mit kultureller Alterität in einer deutlichen Abgrenzung von der politisch und ideell bestimmten Kategorie entworfen worden. Näher bestimmt wird die hier positiv aufgefasste ›mondialisation créole‹ über die Abgrenzung von der ›mondialisation globalisée‹ hinaus allerdings nicht. Vielmehr werden vor allem das negativ konnotierte Konzept der ›diversité‹ und die dazugehörige Globalisierung zu einer amerikanischen konkretisiert. Durch eine solche ›ex negativo‹-Bestimmung erinnern diese Konzeptionen der ›diversité‹ und der mit ihr verbundenen Globalisierung an die Abgrenzung der schon genannten positiv konnotierten ›mondialité‹ vom ›marché-monde‹, besonders weil eben jener ›marché-monde‹, wie Glissant und Chamoiseau erläutern, nach US-amerikanischen Marktregeln funktioniert. Ähnlich wird aber auch das Konzept der ›diversalité‹ in der Abgrenzung von anderen Konzepten entworfen und näher bestimmt. So schreibt Confiant weiter: »L’utopie francophone doit s’inscrire résolument dans la créolisation et dans la diversalité. Dans la créolisation d’abord, comme modèle de mondialisation opposé au communautarisme anglo-américano-saxon […]. La Francophonie doit tourner le dos à cette globalisation et, tout en promouvant le français, déployer les mêmes effets en faveur du créole, du
225 Confiant, »Créolité et Francophonie«, S. 252.
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wolof, du bambara, du kikongo, du berbère, de l’arabe, du tahitien ou des langues kanak.«226
Dieser Entwurf der frankophonen Identität ist bemerkenswert. Zum einen enthält er nicht nur die Bestimmung der ›diversalité‹ und der mit ihr einhergehenden ›créolisation‹, die als eine positiv bewertete Variante der Globalisierung begriffen wird, sondern auch die Bestimmung des Gegenmodells als ein angloamerikanisches, das Confiant jedoch weniger mit der bereits benannten anderen, negativ konnotierten ›mondidalisation‹ als vielmehr mit einem kommunitaristischen Modell gleichsetzt, dem er die Vermischung entgegenstellt. Zum anderen rückt Confiant die Sprache und die damit einhergehende sprachliche ›Vielfalt‹ in den Vordergrund, die, wie seine Äußerung nahelegt, besonders der Konkretisierung des Konzepts der ›diversalité‹ dienen. Erkennbar ist hieran allerdings erneut das Dilemma, das bereits für französische Identitätsdebatten gezeigt wurde: Um die Identitätsentwürfe wie das der ›diversité‹ und ›diversalité‹ inhaltlich fassen und bestimmen zu können, werden weitere Konzepte benötigt, die in dieser Verwendung als funktionalisierte Konzepte erscheinen. Die vorangegangenen Beobachtungen lassen sich in der Schlussfolgerung bündeln, dass das Konzept der ›diversalité‹ im Gegensatz zum frankophonen Universalismus erkennbar konkretisiert wird. Der eine semantische Bestandteil von ›diversalité‹, das Konzept der ›universalité‹ wird zwar nicht näher bestimmt und ist, wie Glissant erläutert, nicht von Belang; es ist durch den Aspekt der Relation abgelöst worden.227 Mit dem Konzept der ›diversalité‹ wurden besonders das Dialogische und die Vermischung in den Blick genommen, die durch die Anerkennung von Vielfalt, ebenso im ›Eigenen‹ wie im ›Fremden‹, erst ermöglicht worden sind. Unter Rückgriff auf Segalen wird daraus gar eine Weltsicht entworfen, die ästhetischen Gesichtspunkten unterliegt. Während somit zwar beide frankophonen Konzepte, das des ›frankophonen Universalismus‹ und der ›diversalité‹, vor allem auf einem Moment der Ausschließung gründen, besteht der Unterschied zwischen beiden Konzepten darin, dass das in der frankophonen Peripherie entworfene Konzept der ›diversalité‹ überhaupt definiert wurde und es erkennbar auf den Versuch zurückgeht, ethnozentrische Perspektiven auf kulturelle Alterität aufzubrechen. Es ist daran schließlich auch das Bemühen zu erkennen, das letztlich ›humaner‹ erscheinende Identitätsmodell der ›diversalité‹ als ›universell‹ im ursprünglichen Sinn, als allumfassend zu entwerfen.
226 Ebd., S. 251. 227 Vgl. Glissant, »Le monde entier se créolise«.
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Vor diesem Hintergrund kann abschließend gefragt werden, ob das Konzept der ›diversalité‹ als ein emanzipatorisches Mittel taugen kann, um die Frankophonie vom ›Joch des kolonialen Erbes‹ zu befreien, wie Parker vorgeschlagen hat. Sie sah darin die Möglichkeit, über einen postkolonialen Entstehungs-, Entwicklungs- und Definitionskontext hinauszugehen und regelrecht zu einer »réinvention de la Francophonie à partir de la ›périphérie‹« zu führen.228 Der Versuch dazu ist daran erkennbar, dass das Konzept der ›diversalité‹ stärker als das der ›diversité‹ beispielsweise inhaltlich bestimmt wird. Man könnte dem jedoch das entgegenhalten, was bereits an anderer Stelle erläutert wurde: dass die zentral organisierte Frankophonie und die frankophone Peripherie die genannten Konzepte über das Moment der Ausschließung kongruent entworfen haben. Man könnte aber auch festhalten, dass hieran besonders die Anlehnung der politischen Frankophonie an Frankreich deutlich wird, dass es im Gegenzug nur die frankophone Peripherie vermocht hat, ihr Identitätsmodell näher zu bestimmen und zumindest ästhetisch zu begründen, während der frankophone ›Universalismus‹ weitgehend abstrakt geblieben ist. Das Konzept der ›diversalité‹ könnte allein deshalb schon emanzipatorisch eingesetzt werden, da es nicht auf den Gebrauch eines abstrakten oder dogmatischen ›Universalismus‹ zielt, sondern davon gerade abgesetzt wird. Während der ›frankophone Universalismus‹ auch als ein verfälschter Universalismus, als ein ›universalisme truqué‹ fungieren kann, der sich in dieser Form kaum von der Anwendung des französisch-republikanischen ›Universalismus‹ der Kolonialzeit unterscheidet,229 wird das Konzept der ›diversalité‹ nicht auf das Konzept der ›universalité‹ und weitere abstrakt gehaltene universelle Werte zurückgeführt, sondern in Bezug auf ›Vielfalt‹ und damit einhergehend den Dialog zwischen Kulturen konzipiert. Dergestalt kann man die Frankophonie als eine postkoloniale Gemeinschaft verstehen, als eine Gemeinschaft, die in Anlehnung an den von Pascal Blanchard und Nicolas Bancel definierten Begriff des ›imaginaire colonial‹ als die Verkörperung eines ›imaginaire postcolonial‹ bezeichnet werden kann.230 Dem stehen die meisten Entwürfe frankophoner Identität aber deutlich entgegen. Obschon diese die Förderung von sprachlicher und kultureller ›Vielfalt‹
228 Parker, »Francophonie et universalité«, S. 707. 229 Vgl. Manceron, Marianne et les colonies, S. 18-20; Lüsebrink/Fendler/Vatter, »Introduction«. 230 Zum Begriff des ›imaginaire colonial‹ vgl. Kapitel 2.1.3. Den Begriff des ›imaginaire post-colonial‹ hat zudem Laënnec Hurbon in Bezug auf das Musée du quai Branly eingeführt. Vgl. Hurbon, »Un imaginaire post-colonial?«; Kapitel 3.1.3.
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als vordringliches Ziel beinhalten, lassen sie die Frankophonie meist als eine Einheit erscheinen und damit die ›Vielfalt‹ ihrer zahlreichen Mitgliedsländer beispielsweise weitgehend unberücksichtigt.231 Die Vorstellung von einer frankophonen Einheit wird, wie gezeigt wurde, besonders, von der zentral organisierten politischen Frankophonie aufrechterhalten, die noch immer stark an Frankreich orientiert ist. Vor dem Hintergrund frappiert auch nicht der Name eines frankophonen Internetportals, das anlässlich der Journée internationale de la Francophonie von 2008 eingerichtet und als »portail des Lumières Francophones« bezeichnet worden ist.232 Dass die Frankophonie sich in ihrer Konzeption stark an Frankreich orientiert, kann natürlich als taktisch motiviert verstanden werden. Denn zum einen ist Frankreich noch immer der wichtigste Geldgeber der politischen Frankophonie. Zum anderen kann die frankophone Gemeinschaft als ein Mittel gesehen werden, mit dem das Konzept der ›universalité‹ und auch das positiv konnotierte Konzept der ›diversité‹ in französischen Identitätsdebatten aufrechterhalten und die Akzeptanz von ›Vielfalt‹ gefördert werden können.233 Anders gedeutet könnten die vorangegangenen Beobachtungen insofern positiv resümiert werden, als sie die Schwierigkeit zeigen, die Identität einer Gruppe anders als über Ein- und Ausschließungsmechanismen zu definiert . In diesem Sinne können die vorangestellten Identitätsentwürfe vor dem Hintergrund des genannten ›strategischen Universalismus‹ als Versuche verstanden werden, überhaupt eine begrifflich umrissene frankophone Identität zu entwerfen und aufzubauen.234 Die genannten Entwürfe haben darüber hinaus dazu beigetragen, den Umgang mit kultureller Alterität in das französische Selbstverständnis integrieren zu lassen, insofern die frankophone Gemeinschaft per se als eine beispielhafte Verkörperung von ›Vielfalt‹ verstanden wird. Dass kulturelle Alterität im französischen Verständnis nunmehr selbstverständlich geworden zu sein scheint, belegen eindrücklich zwei neue Pariser Museen: die Cité nationale de l’histoire de l’immigration und das Musée du quai Branly.
231 In Anlehnung an Milhaud, »Post-Francophonie«. 232 Parisot, »Franc-parler.org, le portail FLE«. 233 In Anlehnung an Milhaud, »Post-Francophonie«, S. 7. 234 Vgl. Kapitel 2.1.2, auch Müller/Ueckmann, »Einleitung. Kreolisierung als weltweites Kulturmodell?«.
3. Identitätskonstruktionen in neuen französischen Museen
Das Postulat der ›kulturellen Vielfalt‹ und des Dialogs zwischen Kulturen ist auch in der Konzeption von Museen und ihren Ausstellungen angekommen. Dabei haben sich Pariser Museen schon vor der Jahrtausendwende ›fremden Kulturen‹ gewidmet: das ethnologische Musée de l’Homme für Vorgeschichte und Anthropologie, das derzeit umgebaut wird, das Musée Dapper, das Kunst aus Afrika und mit afrikanischem Ursprung ausstellt, oder das 2005 geschlossene Musée des Arts et Traditions Populaires, das Objekte der ländlichen französischen Gesellschaft ausgestellt hat und dessen Bestände in das im Juni 2013 eingeweihte Musée national des Civilisations de l’Europe et de la Méditeranée in Marseille überführt wurden.1 Dezidiert damit beschäftigt haben sich neuere Pariser Museen, die in der Folge behandelt werden: Ebenso für die Cité nationale de l’histoire de l’immigration wie für das Musée du quai Branly ist der Anspruch auf die Darstellung von ›Vielfalt‹ und eines möglichst hierarchiefreien Dialogs zwischen dem ›Eigenen‹ und dem ›Fremden‹ von Beginn der Planungen bis zur Umsetzung formuliert worden. Damit reihen sich beide Museen thematisch in eine vor allem im 19. Jahrhundert begründete Tradition von Museen ein, die das ›Eigene‹ und das ›Fremde‹ behandeln. Traditionell besonders eng waren das Museum und die Nation miteinander verknüpft, was zur Entstehung zahlreicher Nationalmuseen geführt hat. In der Zeit, in der sich Nationen als vorgestellte politische Gemeinschaften im Sinne Benedict Andersons herausgebildet haben, waren Nationalmuseen einerseits Institutionen, in denen eine »gemeinsame […] Geschichte und Kultur« abgebildet und vermittelt wurde. Andererseits dienten sie insofern der Herausbildung einer vor diesem Hintergrund erst entwickelten gemeinsamen Identität,
1
Vgl. Segalen, La Vie d’un Musée; »Histoire des collections«.
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als sie die Geschichte und Kultur einer Nation mithhilfe der ausgestellten Objekte konstruieren und rekonstruieren.2 Das Wechselspiel von Abbildung und Herstellung einer nationalen Identität wurde deshalb besonders im 19. Jahrhundert ermöglicht. Denn obschon zwar das erste europäische Nationalmuseum, das British Museum, bereits 1759 in London eröffnet wurde – ihm folgten 1764 die Eremitage in St. Petersburg und 1793 der Louvre in Paris –, setzte erst im 19. Jahrhundert eine regelrechte Museumsexpansion ein.3 Um diese Entwicklung genauer zu erfassen, hat der Philosoph und Historiker Krzysztof Pomian zwei Typen von Nationalmuseen unterschieden. Den ersten Typ beschreibt er als ›universelles Museum‹, den er unter anderem im Louvre und im British Museum realisiert sieht. Dieser Typus ist als ein Museum konzipiert, das ein umfassendes Bild verschiedener Zeiten und Kulturen der Welt wiedergeben soll, das aber zugleich nationale Ambitionen in seinen Sammlungen spiegelt und damit als sogenanntes ›universelles Nationalmuseum‹, als Träger der menschlichen Zivilisation schlechthin angesehen werden kann. Als zweiten Typ des Nationalmuseums charakterisiert Pomian Museen, die auf die Darstellung der historisch bedingten Nation und nationalen Identität zielen. Die Geburtsstunde dieser Museen wird deshalb meist auf das 19. Jahrhundert, das Jahrhundert der Entstehung von Nationen, datiert.4 Als eine Untergattung der Nationalmuseen entstand im gleichen 19. Jahrhundert sodann auch der Typ des ethnologischen Museums, der sich vom Kunstmuseum wie dem Louvre methodisch und thematisch unterscheidet. Obwohl bereits seit dem 16. Jahrhundert bis in das 18. Jahrhundert hinein in Kunstkammern und Kuriositätenkabinetten Gegenstände fremder Kulturen bestaunt wurden, entwickelte sich das ethnologische Museum erst im Zuge der Ausdifferenzierung der modernen Wissenschaften im 19. Jahrhundert sowie der Institutionalisierung und Professionalisierung des Erforschens ›fremder‹ Kulturen in der entstehenden Ethnologie. In der Hochphase des Kolonialismus bestand die Funktion des ethnologischen Museums nicht zuletzt darin, durch ein ›Gegenbild‹ vermeintlich barbarischer und primitiver Kulturen das Gefühl ›eigener‹ nationaler Überlegenheit und Zivilisiertheit zu bestärken. Besonders zeugen davon die bis in das 20. Jahrhunderts hinein angebotenen, auf Spektakel angelegten Völkerschauen. Zugleich ist für die Definition und Abgrenzung des ethnologischen
2
Baur, Die Musealisierung der Migration, S. 59. Vgl. Anderson, Imagined Communi-
3
Vgl. Baur, Die Musealisierung der Migration, S. 57-60.
4
Vgl. Pomian, »Museum, Nation, Nationalmuseum«; Dori, »Museum und nationale
ties; Kapitel 2.
Identität«.
3. I DENTITÄTSKONSTRUKTIONEN
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Museums von anderen Museumstypen charakteristisch, dass mit diesem Museumstyp eine Trennung zwischen kunst- und ethnologisch orientierter Darstellung für lange Zeit etabliert wurde, die sich erst in der jüngeren Vergangenheit als unhaltbar erwiesen hat.5 Seit der Institutionalisierung und Professionalisierung von musealer Darstellung im 19. Jahrhundert ist viel über Museen reflektiert worden. Wissenschaftler wie Pomian und Tony Bennett haben maßgeblich die Entwicklung von Museen beleuchtet, André Malraux hat 1947 den Begriff des ›imaginären Museums‹ geprägt.6 Ausgehend von Intellektuellen wie Foucault, der seit den 1960er Jahren Mechanismen von diskursiver und institutioneller Macht herausgearbeitet hat, ist Anfang der 1980er Jahre jedoch eine »Krise der Repräsentation« in den Sozialwissenschaften entstanden, besonders in der Ethnologie, die auch Auswirkungen auf Debatten in und über Museen hatte.7 So hatte Clifford Geertz in The Interpretation of Cultures von 1973 »die kulturellen Ausdrucksformen des Menschen als selbstgesponnene Bedeutungsnetze« definiert und damit ein semiotisches Kulturverständnis begründet, das bis heute in den Kulturwissenschaften verwendet wird. Auch Stuart Hall hat sich seit den 1970er Jahren mit der Kodierung und Dekodierung kultureller Artefakte beschäftigt und in dem von ihm herausgegebenen Sammelband Representation von 1997 Ausstellungspraktiken als Phänomene aufgezeigt, die der Repräsentation, Klassifikation und Interpretation von Kultur und Geschichte unterliegen und Lesarten vom ›Eigenen‹ und ›Fremden‹ erzeugen.8 Hall und Geertz haben damit die ›Krise der Repräsentation‹ begünstigt, die sich auch auf Museen ausgewirkt hat. Vor dem Hintergrund dieser konstruktivistischen Annahmen, aber auch angesichts sozialpolitischer Veränderungen wurden Museen in der Folge nicht mehr als Orte einer ›authentischen‹ Darstellung begriffen, sondern als Institutionen, in denen die Ausstellung der versammelten Gegenstände gelenkt, vorstruk-
5
Vgl. Kramer, Alte Schätze und neue Weltsichten, S. 52-82; Lidchi, »The Poetics and the Politics of Exhibiting Other Cultures«; Pomian, Der Ursprung des Museums, bes. S. 91-108; vgl. auch Kapitel 3.1.1 und 3.1.2.
6
Vgl. Bennett, The Birth of the Museum; Malraux, Le Musée imaginaire; Pomian, Der Ursprung des Museums.
7
Vgl. u.a. Foucault, Die Ordnung des Diskurses. Der Ausdruck »Krise der Repräsentation« meint allerdings nicht den klassischen Repräsentationsbegriff, den beispielsweise Michel Foucault in seiner historischen Abhandlung zur Wissenschaftsgeschichte, in Die Ordnung der Dinge, beschreibt. Vgl. Foucault, Die Ordnung der Dinge.
8
Vgl. Hall, Representation; Simonis, »Geertz, Clifford«. Vgl. Baur, Die Musealisierung der Migration, S. 27-36.
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turiert und ausgedeutet werden. Diese selbstreflexive Wende, die New Museology, wurde in Frankreich Ende der 1970er Jahre unter anderem mit den Forderungen von Museologen verknüpft, die die Rolle von Museen zu überarbeiten forderten und deren Forderungen mit der Gründung zahlreicher sogenannter volkskundlicher Eco-musées einhergingen. Seit Anfang der 1980er Jahre ist die New Museology in der Form, in der sie heute meist verstanden wird, vor allem in der kanadischen und US-amerikanischen Museumswissenschaft vorangetrieben worden, bevor selbstreflexive Fragen schließlich auch in der Praxis von Museen gestellt wurden. In diesem Kontext wurde seit Anfang der 1980er Jahre nicht nur gefordert, dass Museen fortan mehr Fragen stellen als Antworten geben sollten. Angesichts der Kritik am Objektivitätsanspruch und der Neutralitätsrhetorik von Museen sowie an der Vorstellung, dass Museen als Deutungsmonopole und Hüter des kulturellen Gedächtnisses einer Gesellschaft fungierten, wurden zugleich Mechanismen der politisch, historisch und gesellschaftlich-kulturell bedingten Konstruktion und Anordnung von Ausstellungsobjekten aufgezeigt, die deutlich vorkonstruierte und -strukturierte Bilder vom ›Eigenen‹ und ›Fremden zur Folge hätten. In diesem Zuge hielten es die Vertreter der New Museology auch für unhaltbar, ›gesellschaftliche Minderheiten‹ wie Frauen, religiöse Minderheiten oder Menschen aus andere Kulturen vom kollektiven Diskurs in und um Museen auszuschließen, und forderten, gesellschaftliche Rand- und Teilgruppen in die Konzeption und Umsetzung von Museen einzubeziehen.9 Vor dem Hintergrund dieser musealen und museologischen Neuorientierung sind in den letzten Jahrzehnten zahlreiche neue Museumsformen entstanden, die einen regelrechten Museumsboom noch verstärkt haben. Neben den genannten, in ganz Frankreich verteilten Ecomusées zur gegenwärtigen Alltagsgeschichte und -kultur und den sogenannten Community-Museen sind besonders die neu entstandenen Migrationsmuseen charakteristisch. In New York wurde das Ellis Island Immigration Museum gegründet, in Melbourne das Immigration Museum und schließlich auch in Paris die im Folgenden behandelte Cité nationale de l’histoire de l’immigration.10
9
Vgl. u.a. Baur, Die Musealisierung der Migration, S. 53-56; Dori, »Museum und nationale Identität«, S. 216-219; Macdonald, »Museen erforschen. Für eine Museumswissenschaft in der Erweiterung«.
10 Zur Entstehung von Migrationsmuseen vgl. Baur, Die Musealisierung der Migration, S. 50-56; Hommes et migrations; UNESCO-IOM, MigrationInstitutions; Wonisch/ Hübel, Museum und Migration. Zur Entstehung der Ecomusées vgl. Korff, »Die ›Ecomusées‹ in Frankreich«. Zum sogenannten Museumsboom vgl. Benhamou/Moureau, »From Ivory Towers to Museums Open to the Community«.
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In die Tradition der New Museology, der daraus entstandenen neuen Museumsformen und des Museumsbooms schreiben sich die in dieser Arbeit behandelten Museen ein. Wenn man dabei die Annahme außer Acht lässt, dass Gegenstände der ›eigenen‹ Lebens- und Alltagswelt bereits durch die Ausstellung im Museum als ›fremde‹ Gegenstände begriffen werden können und dass kulturelle Alterität, wie in der vorliegenden Arbeit, als Oberbegriff für ›fremde‹ Kulturen verstanden werden kann,11 dann stellt sich die Frage, wo Möglichkeiten und Grenzen der Darstellung liegen, die aus einer notwendigerweise beschränkten westlichen Wahrnehmung und Wiedergabe in Frankreich konzipiert wird. Es soll deshalb untersucht werden, welchem Verständnis von kultureller Alterität, von den außereuropäischen Kulturen im Musée du quai Branly einerseits und von Migranten in der Cite nationale de l’histoire de l’immigration andererseits, die Darstellungen in den Museen folgen und wie dieses Verständnis vermittelt wird. Anhand der damit erzeugten Bilder, die in den folgenden Kapiteln herausgearbeitet werden, wird gezeigt, wie sich die museale Repräsentation von Alterität zum eingangs genannten und von den Museen stets proklamierten Postulat von ›kultureller Vielfalt‹ und vom ›Kulturendialog‹ verhalten.
3.1 E IN E XEMPEL UNIVERSELLER › DIVERSITE ‹: D AS M USEE DU QUAI B RANLY Die weitest reichenden Ideen entstehen oft in der Fremde. Im Urlaub auf Mauritius lernte Jacques Chirac 1992 den Kunstsammler Jacques Kerchache kennen und schätzen. Zwischen den beiden Männern entstand dort in der Fremde eine Freundschaft, die vom gemeinsamen Interesse an außereuropäischer Kunst geprägt war und die auch in Frankreich bis zum Tod Kerchaches im Jahr 2001 anhielt.12 Kerchache hatte die außereuropäischen Kunstwerke, das nötige Wissen darüber und das Vorhaben, die außereuropäischen Künste auszustellen, der 1995 frisch gewählte Präsident Chirac Macht und Mittel, um das Projekt zu konkretisieren.
11 Vgl. Korff, »Fremde (der, die, das) und das Museum«. 12 Vgl. u.a. Dupaigne, Le scandale des arts premiers. Bemerkenswert ist, dass Bernard Dupaigne von 1991 bis 1998 Direktor der ethnologischen Forschungsabteilung, des Musée de l’Homme war, dass er entsprechend emotional schreibt und z.T. vergleichsweise einseitig argumentiert. Vgl. ebd., bspw. S. 57.
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Prognostiziert hatte es dabei schon in den 1940er Jahren der renommierte Ethnologe Claude Lévi-Strauss.13 Im Juni 2006 nahm das Museum der außereuropäischen Kulturen und Künste in Form des Musée du quai Branly schließlich konkrete Gestalt an und stellt seitdem zwischen Seine und Eiffelturm, an der Grenze des historischen Paris, außereuropäische Kulturen und Künste, die sogenannten ›arts premiers‹ aus. Heute bietet das Museum einen virtuellen Weltrundgang von Ozeanien über Asien und Afrika bis hin zu den beiden Amerikas und hat seit seiner Eröffnung zahlreiche in- wie ausländische Besucher angezogen und den Quai Branly zu einem der meistbesuchten französischen Museen werden lassen.14 Zunächst allerdings hatte Chirac, der für sein Interesse an den sogenannten ›ersten Künsten‹ bekannt ist, noch nicht daran gelegen, ein Museumsprojekt des letztlich realisierten Ausmaßes in Angriff zu nehmen, mit dem er sich, wie die französischen Präsidenten vor ihm, in die Tradition der grands travaux einreihte.15 Vielmehr suchte er mit dem Plan, außereuropäische Künste auszustellen, seinem langjährigen Freund Kerchache eine Plattform zu bieten.16 Doch der Plan wuchs schnell über das ursprüngliche Vorhaben hinaus und wurde mit der Wahl Chiracs zum Präsidenten konkret. Noch im selben Jahr, am 14. November 1995, verkündete der französische Kulturminister Philippe Douste-Blazy, dass eine Kommission eingerichtet würde und mit ihr Wege ausgelotet werden sollten, um außereuropäische Künste im Louvre auszustellen. Das Vorhaben wurde teilweise scharf kritisiert. Der damalige Leiter des Louvre, Pierre Rosenberg, hat die Konzentration von Kerchaches Kunstobjekten im Louvre abgelehnt, und auch Lévi-Strauss, der das Museum ansonsten befürwor-
13 »The ten years of the Pavillon des Sessions«. 14 Unter den meist besuchten französischen Museen rangiert es auf Platz drei. Vgl. Coquery-Vidrovitch, Enjeux politiques de l’histoire coloniale, S. 157. Zum Aspekt des Weltrundgangs vgl. die Schlussbetrachtungen von Kapitel 3.1.3. 15 Diese etablierte Tradition, die ein Bauwerk meist monumentalen Ausmaßes in Paris vorsieht, um dem jeweiligen Präsidenten ein geradezu zeitloses Denkmal zu setzen, stand auch hinter dem umbenannten Centre Pompidou oder der Bibliothèque François Mitterrand. Vgl. Price, Paris Primitive, S. 33f.; Godelier, »Créer de nouveaux musées des arts et civilisations à l’aube du IIIe«; Dupaigne, Le scandale des arts premiers, S. 40-47. 16 Zur Beschreibung der beiden und ihrer Freundschaft vgl. Dupaigne, Le scandale des arts premiers, S. 1-22. Den Wunsch, das Sammlertalent Kerchaches anzuerkennen, äußerte Chirac implizit in seiner Rede zur Eröffnung der Dependance des Quai Branly im Louvre. Vgl. Chirac, »Discours de M. Jacques CHIRAC«, S. 3.
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tet hat, sprach sich gegen einen Standort im Louvre aus mit der Begründung, dass der Louvre bei weitem nicht universell und ohnehin viel zu groß sei.17 Nichtsdestotrotz begab sich kurz nach der Ankündigung Douste-Blazys eine Kommission unter der Leitung von Jacques Friedmann, einem engen Freund Chiracs, an die Arbeit. Im August 1996 legte die Kommission einen 45-seitigen Abschlussbericht vor, der die alte Unterscheidung zwischen Kunst und Ethnologie für obsolet erklärte und die Verknüpfung beider Felder in einem Museum für Künste und Kulturen vorschlug. Der Bericht sah außerdem eine begleitende Dependance im Louvre vor.18 Am 7. Oktober desselben Jahres verkündete Chirac schließlich die Einrichtung eines Museums für Kulturen und ›erste Künste‹, im Februar 1997 gab Premierminister Alain Juppé die Einrichtung einer Planungskommission unter der doppelten Leitung von Germain Viatte und Maurice Godelier bekannt. Es folgten nicht nur die genauen Planungen zum Museum, es wurden auch die Bestände der zwei in diesem Zuge geschlossenen Pariser Museen, dem Musée de l’Homme und dem Musée des Arts africains et Océaniens, in das neue Musée du quai Branly überführt und ein gänzlich neues Museum mitten in Paris gebaut, dessen Kosten sich auf 235 Millionen Euro summierten.19 Im Juni 2006 wurde der Quai Branly feierlich eröffnet. Der Generalsekretär der Organisation internationale de la Francophonie, Abdou Diouf, war ebenso zugegen wie Kofi Annan und Claude Lévi-Strauss, der als einer von wenigen Ethnologen ein Verfechter des Museums war und als sein wissenschaftlicher Pate fungieren sollte.20 Seither fir-
17 Vgl. Price, Paris Primitive, S. 35f. 18 Vgl. Friedman, Rapport de la Commission »Arts Premiers«, S. 6-8, 16-18. Der Wunsch, den Louvre um außereuropäische Kunst zu bereichern, war so neu nicht. Bereits 1909 plädierte Guillaume Apollinaire für ›exotische Meisterwerke‹ im Louvre. Vgl. Price, Paris Primitive, S. 34, sowie »The ten years of the Pavillon des Sessions«, S. 14. Auch Kerchache veröffentlichte 1990 ein befürwortendes Manifest, das von 148 nationalen wie internationalen Persönlichkeiten unterzeichnet wurde, unter ihnen Léopold Sédar Senghor, Maurice Godelier und Michel Leiris. Vgl. Kerchache, »Pour que les Chefs-d’œuvre du monde entier naissent Libres et Égaux«. 19 Vgl. de l’Estoile, Le goût des Autres, S. 353; Viatte, »Présentation des journées«. Das Musée das arts africains et océaniens befand sich im heutigen Gebäude der Cité nationale de l’histoire de l’immigration an der Porte Dorée. Vgl. Kapitel 3.2.2. 20 Vgl. Clément, »L’appel au monde«, S. 27. Die für viele Ethnologen überraschende Befürwortung des Quai Branly durch Lévi-Strauss folgte dessen Einsicht, dass Museen sich von der Vorstellung, authentische Lebenszusammenhänge herzustellen, verabschieden und vielmehr alle Objekte von Gesellschaften, d.h. neben kultischen Ob-
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miert das Museum unter den Namen Musée du quai Branly und Musée des arts et civilisations d’Afrique, d’Asie, d’Océanie et des Amériques. 3.1.1 »Une leçon d’humanité«: Politische Bestimmungen Zunächst ist der politische Entwurf des heutigen Musée du quai Branly relevant, um zeigen zu können, wie das erste neue nationale Museum Frankreichs nach der Jahrtausendwende politisch konzipiert worden ist. Dazu werden in diesem ersten Teil zwei Reden analysiert, die Chirac in der Vorbereitungs- und Planungsphase des Quai Branly gehalten hat. Es handelt sich dabei zum einen um eine fünf Seiten umfassende Rede, die der Präsident am 13. April 2000 zur Eröffnung der Dependance im Louvre gehalten hat, zum anderen um seine etwas kürzere, zwei Seiten lange Ansprache anlässlich der Eröffnung des Quai Branly sechs Jahre später. Beide Texte sollen daraufhin untersucht werden, wie Chirac das geplante Museum bestimmt, wie er insbesondere das Konzept der ›diversité‹ als Leitwert entwirft und ausdeutet und das Sammlungs- und Ausstellungsprojekt in die Pariser Museumslandschaft einbettet. Auf der Grundlage der Analyse dieser politischen Bestimmungen wird in den zwei sich anschließenden Kapiteln anhand der Planungsphase und der Ausstellungen im Quai Branly gezeigt, wie die für das Museum als Leitwert entworfene ›diversité‹ konzipiert und umgesetzt worden ist. Es soll gezeigt werden, dass das Konzept der vermeintlich neuen ›diversité‹ mehr als eine ethnozentrisch orientierte und weniger als umfassende, universelle ›Vielfalt‹ realisiert worden ist. Die erste zu untersuchende Rede hat Chirac sechs Jahre vor der Eröffnung des eigentlichen Museums gehalten, als der sogenannte Pavillon des Sessions, wie die Zweigstelle im Louvre genannt wird, eingeweiht wurde. Darin ordnete er das gesamte Projekt der Ausstellung von außereuropäischen Künsten und Kulturen, mit dem er die Dependance und das spätere Musée du quai Branly umfasst, in einen gesellschafts- und museumshistorischen Kontext ein und skizzierte das Ziel und die Ausrichtung des geplanten Museums. Dabei folgte Chirac einer dreiteiligen, nicht explizit markierten Struktur: In einem ersten Teil der Rede skizziert er Kunst und Kunstmuseen als einen wichtigen Bestandteil von Politik und verweist auf zahlreiche vorangegangene Debatten zu Museen. Damit nennt er schon zu Beginn die Künste und die Politik in einem Atemzug und führt diese Gleichsetzung im weiteren Verlauf zur Verbindung von Künsten und Kulturen
jekten auch »einen Sack Kaffee und einen Toyota« ausstellen müssten. Vgl. Mönninger, Ein Schauhaus für die Welt« sowie die Schlussbetrachtungen von Kapitel 3.1.2. Zur Organisation Internationale de la Francophonie vgl. Kapitel 2.2.
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im Museum hin. Diese Zusammenführung erlaubt ihm, im zweiten Teil der Rede auf die ehemals unterdrückten Kulturen hinzuweisen, denen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – und an dieser Stelle führt er die Zuhörer in die Gegenwart – mit Verständnis, Anerkennung und gegenseitigem Respekt begegnet worden sei. Diesem Kulturendialog ein Zeichen zu setzen, sei, wie er sagt, der Grund für die Einrichtung eines Standortes im Louvre. Anschließend führt Chirac zum Louvre als prestigeträchtigem Museum und zur Dependance im Louvre als einer symbolischen Anerkennung der ›arts premiers‹ aus, bevor er im dritten Teil einen Blick auf die Ausgestaltung des künftigen Quai Branly wirft. 21 Mit der historischen Einbettung des Museumsprojekts verleiht Chirac in seiner Rede dem gesamten Projekt eine quasi-logische und historisch belegte Notwendigkeit. Er greift nicht nur auf Museumsdebatten zurück und auf das Museum als einem »concept, une idée« voraus.22 Er führt auch den Louvre, das Musée d’Orsay und das Centre Pompidou sowie viele andere, nicht näher bestimmte Museen aus den französischen Provinzen als Belege für Museen an, die »porteurs d’un ensemble de messages forts« seien. Aufgrund dieser Einbettung und Zuschreibung kann er sodann das geplante Museum für die ›ersten Künste‹ als unabdingbar aufzeigen und im weiteren Verlauf seiner Rede das Ziel der Dependance im Louvre benennen: das Ziel, den außereuropäischen Künsten Anerkennung entgegenzubringen. Diese Anerkennung belegt Chirac erneut historisch. Zunächst rekurriert er auf die Kolonialzeit, in der Objekte dieser Künste auf meist grausame Weise entwendet und nach Europa gebracht worden seien, und bezieht sich anschließend auf die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, in der sich, wie er weiter erläutert, Beziehungen vom Okzident zu eben jenen Ländern etabliert hätten, die durch Respekt, gegenseitiges Verständnis, Dialog und Austausch gekennzeichnet seien. Daher ist es ihm zufolge nur eine logische Konsequenz, dass diese Beziehungen sichtbar gemacht werden und die ›ersten Künste‹ Platz in der französischen Museumslandschaft eingeräumt bekommen. An dieser historischen Einbettung ist die Gleichsetzung von Beziehungen politischer Art und ›ersten Künsten‹ bemerkenswert. Indem Chirac die beiden Bereiche nennt, die er bereits im ersten Teil seiner Rede in Beziehung zueinander gesetzt hat, durchbricht er die Trennung von politischem und kulturell-
21 Chirac bezeichnet zudem die Diskussion um den Begriff der ›arts premiers‹ als eine »querelle sémantique«. Chirac, »Discours de M. Jacques CHIRAC«, S. 2. Zur Diskussion um den Begriff vgl. auch Godelier, »Créer de nouveaux musées des arts et civilisations à l’aube du IIIe millénaire«. 22 Chirac, »Discours de M. Jacques CHIRAC«, S. 4. Im Folgenden sind alle Zitate der hier genannten Rede von Chirac entnommen.
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künstlerischem Bereich, die sich bisher in der bereits genannten Debatte um die dichotom verstandenen ästhetischen und ethnologischen Darstellungen in Museen niedergeschlagen hat.23 Sie sei eine »absurde querelle entre l’approche esthétique et l’approche ethnographique ou scientifique«, wie Chirac sie später explizit nennt und damit eine häufig geäußerte Kritik aufgreift, und solle im geplanten Museum überwunden werden. Vor diesem Hintergrund lässt sich folgern, dass an dem Wunsch, die ›ersten Künste‹ und das bisher ethnologische Interesse an fremden Kulturen zusammenzuführen, ein erstes Bekenntnis zur kulturellen Alterität und der Wunsch, sie im geplanten Museum auszudrücken, deutlich erkennbar sind. Über die Zusammenführung von ethnologischer und ästhetischer Darstellung hinaus weist Chirac dem Projekt eine politische Dimension zu. Er äußert beispielsweise: »C’est […] pour que ces civilisations soient abordées dans leur existence propre et leur historicité, pour témoigner de la contribution des régions les moins connues au génie de l’humanité que j’ai souhaité le futur Musée du Quai Branly, ainsi que la présence permanente au Louvre dans cette salle des Sessions, de ces chefs-d’œuvre lointains.«
Wie hier festzustellen ist, soll den ›Völkern‹, um die und um deren Kunstobjekte es im Museum geht, Anerkennung zukommen zu lassen, indem das Museum Wissen über sie vermittelt und, wie Chirac es formuliert, den Anteil ›fremder‹ Völker am Wesen der Menschheit aufzeigt. Eine solche Betrachtung verdeutlicht das Bestreben der nicht zuletzt auch politischen Anerkennung, die im Museum ausgedrückt werden soll, insofern der Präsident hervorhebt, dass die fremden Kulturen »des régions les moins connues« seien. Bemerkenswert ist hier zugleich der Begriff des ›génie de l’humanité‹. Obschon der an den Begriff der ›humanité‹ angelehnte Terminus ›humanisme‹ in Frankreich in jüngster Zeit meist vermieden worden ist, um nicht den Verdacht einer neokolonialen Haltung zu erwecken, und erst in der Frankophonie aufgegriffen wurde und dort bis heute positiv konnotiert wird, verwendet Chirac ihn hier in Bezug auf das Musée du quai Branly.24 Dass Chirac dabei auf die Rolle
23 Implizit verweist Chirac damit auf die Ausrichtung, die für den Quai Branly beansprucht wird: den Anspruch, mit jeglichem disziplinären Paradigma zu brechen. Vgl. Dias, »Le musée du quai Branly: une généalogie«, S. 76. Zum Anspruch der interdisziplinären Herangehensweise vgl. auch Kapitel 3.1.2. 24 Zur weitgehenden Ablehnung des Begriffs in Frankreich und zu seiner vergleichsweise positiven Einordnung in der Frankophonie vgl. Kapitel 2.2.2.
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des Museums verweist, die das zukünftige Museum ausfüllen und den Anteil am Wesen der Menschheit verdeutlichen soll, ist aufschlussreich. Schließlich konzipiert er das Museum damit als womöglich einzigen Ort, an dem die bisher unbekannten Kunstwerke der fernen Kulturen zugänglich gemacht und anerkannt werden, und weist dem Quai Branly damit einen Deutungsanspruch über den Stellenwert der ›chefs-d’œuvre lointains‹ zu, der nicht zuletzt dadurch, dass erst das Museum die Chirac zufolge notwendige Anerkennung der ›fremden‹ Kulturen leistet, auch ethnozentrisch im Sinne einer hierarchischen, durch das Museum vorgegebenen Ausdeutung verstanden werden kann. Die zweite zu untersuchende Rede, die Chirac zur Eröffnung des Quai Branly gehalten hat, bestimmt noch deutlicher als die erste die politische Dimension des geplanten Museums. Darin benennt der Präsident nach der Begrüßung, in der er unter anderem den anwesenden Claude Lévi-Strauss gesondert anredet, die Tragweite der Eröffnung des Museums: Sie sei von einer dreifachen Bedeutung, einer »portée culturelle, politique et morale«.25 Während Chirac in seiner Rede zur Eröffnung des Pavillon des Sessions die kulturelle und politische Bedeutung bereits hat anklingen lassen, ist die dritte, moralische Dimension in dieser zweiten Rede neu hinzugekommen. Chirac entfaltet sie im Verlauf seiner Rede, indem er auf das von ihm selbst definierte Ziel eingeht, außereuropäischen Völkern Anerkennung zuteilwerden zu lassen, und sein Augenmerk auf den gegenseitigen Respekt, das beiderseitige Verständnis zwischen Kulturen und den Kulturendialog richtet. Dabei greift er auf die Genese des Quai Branly zurück und skizziert das künftige Museum in groben Zügen, das ihm zufolge ›Vielfalt‹ mithilfe der Darstellung vielfältiger Sichtweisen abbilden soll. Im pathetisch angelegten Schluss, in dem Chirac noch einmal auf ›Vielfalt‹, Menschlichkeit und Werte rekurriert, thematisiert er explizit die eingangs von ihm ausgestaltete politische Dimension und bekräftigt dadurch die Notwendigkeit des Quai Branly. Besonders aufschlussreich ist vor allem der eigentliche Schwerpunkt in Chiracs Rede, die moralische Dimension des Museums. Da, wo Chirac von der ›kulturellen, politischen und moralischen Tragweite‹ spricht, erklärt er weiter, worum es im Quai Branly geht: um eine »incomparable expérience esthétique et en même temps […] une leçon d’humanité indispensable à notre temps«. Nachdem Chirac noch in seiner Rede zur Eröffnung des Pavillon des Sessions die Unterscheidung von ästhetischer und ethnologischer Herangehensweise als eine unsinnige ›querelle‹ abgetan hat, lässt er die ethnologische Herangehensweise an außereuropäische Kulturen und Künste in seiner zweiten Rede vollkommen un-
25 Chirac, »Allocution de M. Jacques Chirac«. Im Folgenden sind, wenn nicht anders angegeben, alle Zitate der hier genannten Rede Chiracs entnommen.
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berücksichtigt. Vielmehr nennt er erneut das Ziel des geplanten Museums, das in der Vermittlung einer ›unvergleichlichen ästhetischen Erfahrung‹ bestehen soll, und ergänzt es um ein weiteres moralisches Ziel: das Ziel der Vermittlung einer ›leçon d’humanité‹. Bemerkenswert ist daran der erneut verwendete Begriff der ›humanité‹ wie schon in der ersten Rede, der zunächst eine altruistisch konzipierte Perspektive auf andere Kulturen meint. Allerdings wird die Formulierung dadurch ambivalent, dass der Begriff der ›Menschlichkeit‹ mit dem der ›leçon‹ verbunden wird, da dieser an die zivilisatorisch angelegte Kolonialpolitik Frankreichs denken lässt. Denn der Generalgouverneur der französischen Kolonien, Marcel Olivier, hat beispielsweise noch die Kolonialausstellung von 1931 als eine »réconfortante leçon d’humanité« bezeichnet. Vor diesem Hintergrund könnte man sagen, dass Chirac, indem er diese Formulierung verwendet, eine gewisse Deutungshoheit für das Museum beansprucht und mit ihm ein quasi zivilisatorisches, zumindest ein didaktisches Ziel verbindet.26 Was die sogenannte ›Lehre der Menschlichkeit‹ in der Umsetzung genau beinhaltet, führt Chirac im weiteren Verlauf seiner Rede aus. Wie er schon zur Eröffnung des Pavillon des Sessions erläutert hat, soll das neue Museum außereuropäischen Völkern, die lange Zeit unterdrückt worden sind, dadurch Anerkennung entgegenbringen, dass es die unendliche ›Vielfalt‹ der Völker und der Künste zeigen soll. Was an dieser Erläuterung bemerkenswert ist, ist der Umstand, dass Chirac die ›fremden‹ Kulturen und Künste erneut in einem Atemzug nennt und ihrer Repräsentation die gleiche politisch motivierte Funktion zuweist. Diese beinahe Gleichsetzung bekräftigt er weiter, als er erklärt: »[I]l n’existe pas plus de hiérarchie entre les arts et les cultures qu’il n’existe de hiérarchie entre les peuples«. Schließlich verdeutlicht diese Äußerung, dass ›Vielfalt½ nach Chirac weitgehend hierarchiefrei angelegt ist und ebenso auf Künste wie auf Kulturen bezogen ist. Die hier benannte und hierarchiefrei verstandene ›Vielfalt‹ belegt Chirac im weiteren Verlauf nicht nur mit einem Rückgriff auf die Genfer »déclaration sur les droits des peuples autochtones«. Er bestimmt sie auch als Leitwert des Museums. Wie er ausführt, sollte das Museum die ›Vielfalt‹ der Kulturen in ihrer Tiefe und Komplexität wiedergeben, um die heute vorhandene ›Vielfalt‹ aufrechtzuerhalten, die er als »trésor« bezeichnet. Dazu soll die auf Vielschichtigkeit abzielende Repräsentation der außereuropäischen Kulturen und Künste, wie Chirac weiter zeigt, »un autre regard, plus ouvert et plus respectueux« erzeugen, »en dissipant les brumes de l’ignorance, de la condescendance ou de l’arrogance qui, dans le passé, ont été si souvent présentes et ont nourri la mé-
26 Zitiert nach de l’Estoile, »L’oubli de l’héritage colonial«, S. 94.
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fiance, le mépris, le rejet«. Es ist erkennbar – und wird im Diskurs um den Quai Branly häufig wiederholt –, dass das Museum dem ›kulturell Anderen‹ auf eine neue Art und Weise begegnen soll. Was darüber hinaus auffällt, ist der Umstand, dass Chirac mit seiner Äußerung erneut die ›Vielfalt‹ von Kulturen und Künsten affirmiert und sie anderen Werte- und Identitätsangeboten überstellt.27 Trotz des deutlichen Bekenntnisses zum Konzept der ›diversité‹ und ihres Entwurfs als zentralen Leitwerts des neuen Museums konzipiert Chirac den Quai Branly in seiner Rede zugleich auch als universell und versteht das Museum als Ausdruck der sogenannten universellen ›Vielfalt‹. Dementsprechend schreibt er dem neuen Museum nicht nur die umfassende Ausstellung einer »luxuriante, fascinante et magnifique variété des œuvres de l’homme« zu. Er erläutert dazu: »[Le musée; N.P.] proclame qu’aucun peuple, aucune nation, aucune civilisation n’épuise ni ne résume le génie humain. Chaque culture l’enrichit de sa part de beauté et de vérité, et c’est seulement dans leurs expressions toujours renouvelées que s’entrevoit l’universel qui nous rassemble.«
Was Chirac zunächst implizit andeutet, dann explizit benennt, ist der universelle Kern, auf dem das Konzept der ›Vielfalt‹ beruhen soll. So definiert er ›Vielfalt‹ als eine universelle Konstante, die zwar in jeder Kultur ihre eigenen Spezifika hervorbringe wie verschiedene künstlerische und kulturell geprägte Ausgestaltungen, aber er erklärt auch, dass sich erst in der Manifestation von ›Vielfalt‹, nicht im Volk, in einer Nation oder Kultur allein, das ›menschliche Wesen‹ in all seinen Facetten realisiere. Die stets wandel- und erneuerbare ›Vielfalt‹, die sich demgemäß in den unterschiedlichen künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten manifestieren soll und hier erneut mit dem vom ›génie de l’humanité‹ variierenden und noch abstrakteren Begriff des ›génie humain‹ versehen wird, versteht Chirac erkennbar als etwas Universelles, das die Menschen eint. Diese universell und vielfältig angelegte ›Lehre der Menschlichkeit‹ erinnert schließlich auch an die Anlage der Frankophonie, die als gleichermaßen dialogisch wie universell angelegte Gemeinschaft verstanden wird.28
27 So ist es auch kein Zufall, dass gerade Chirac derjenige war, der drei Jahre lang bei der UNESCO für die offizielle Unterstützung von ›kultureller Vielfalt‹ plädierte. Vgl. Kapitel 2.1.3. Zur Cité vgl. auch Kapitel 3.2. 28 Vgl. Kapitel 2.2.2 und 2.2.3. Vor allem in der frankophonen ›Peripherie‹ wird ›Vielfalt‹ unter Berufung auf Victor Segalen als eine universelle Konstante begriffen. Vgl. hierzu ebenfalls Kapitel 2.2.3.
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Seinem pathetischen Plädoyer für eine universell konturierte Vielfalt verleiht der Präsident am Ende seiner Rede noch einmal Nachdruck. Er erklärt: »Plus que jamais, le destin du monde est là: dans la capacité des peuples à porter les uns sur les autres un regard instruit, à faire dialoguer leurs différences et leurs cultures pour que, dans son infinie diversité, l’humanité se rassemble autour des valeurs qui l’unissent réellement.«
Bemerkenswert an dieser nochmaligen Erläuterung zur ›diversité‹ ist der Rückgriff auf den Dialog der Kulturen. Ihn versteht Chirac als den Antrieb von ›Vielfalt‹. Zugleich begreift er das Dialogische selbst als eine Aufgabe des Museums, die er anschließend an sein Plädoyer noch einmal unterstreicht. Wie er fortführt, soll der Museumsbesucher in diesem Sinn zum »porteur de ce message, un message de paix, de tolérance et de respect des autres« werden und dadurch zum Kulturendialog beitragen. Damit verdeutlicht Chirac abschließend noch einmal die von ihm eingangs genannte moralische Dimension des Quai Branly, die das Bekenntnis zur ›Vielfalt‹ und zum Kulturendialog umfasst und die Berücksichtigung kultureller Alterität zumindest impliziert. Dieser positiven Konnotation und Ausdeutung der ›diversité‹ und der damit einhergehenden Affirmation von Alterität steht in der gesamten Rede jedoch das Bild einer eher einseitigen und deutlich abgegrenzten Alterität entgegen. Es stellt sich der Eindruck ein, dass Chirac bald ausschließlich die kulturell ›Anderen‹ in ihrer Alterität meint und nicht, wie es der Forderung nach einem Kulturendialog entsprochen hätte, ›fremde‹ Kulturen im Sinne eines Dialogs und einer ›Durchmischung‹ von Kulturen. Zwar berücksichtigt er kulturelle Alterität durchaus, indem er beispielsweise die bereits genannte Anerkennung ›fremder‹ Kulturen ein zentrales Ziel des Museums nennt. Jedoch lässt er in seinen weiteren Ausführungen das ›Eigene‹ unberücksichtigt, deren Vertreter wiederum, wie man vermuten darf, zu den Verursachern der Gewalt an den Vertretern anderer Kulturen gehört oder zumindest deren Marginalisierung toleriert haben. Statt Täter deutlich zu benennen, erscheinen außereuropäische Völker bei Chirac nicht als Opfer der westlichen Kolonialmächte, sondern einer als abstrakt begriffenen Geschichte, wenn er sagt: »Il s’agissait pour la France de rendre l’hommage qui leur est dû à des peuples auxquels, au fil des âges, l’histoire a trop souvent fait violence. Peuples brutalisés, exterminés par des conquérants avides et brutaux. Peuples humiliés et méprisés, auxquels on allait jusqu’à dénier qu’ils eussent une histoire. Peuples aujourd’hui encore souvent marginalisés, fragi-
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lisés, menacés par l’avancée inexorable de la modernité. Peuples qui veulent néanmoins voir leur dignité restaurée et reconnue.«
An dieser Äußerung ist der Entwurf vom ›Eigenen‹ und ›Fremden‹ bemerkenswert. Schließlich richtet Chirac sein Augenmerk hier auf die außereuropäischen Völker und ihre in der Vergangenheit erduldeten Leiden, die als stark ›marginalisierte‹, ›gedemütigte‹, ›verwundete‹ oder ›ausgelöschte‹ Völker den bei Chirac abstrahierten Akteuren, der ›Geschichte‹, der ›Moderne‹ und den nicht näher bestimmten »conquérants avides et brutaux«, entgegenstehen. Diese Darstellung entspricht zwar Chiracs Wunsch nach einer Anerkennung der ›Anderen‹29 und trifft besonders zu, insofern die Verursacher der Verbrechen zugunsten der Thematisierung und Affirmation der ›Anderen‹ zurückgehalten werden. Dem steht allerdings entgegen, dass Chirac jeglichen Bezug zu Europa und damit zur Kolonialzeit unberücksichtigt lässt. Schließlich hat diese nicht nur zahlreiche Verbrechen gegen außereuropäische Völker umfasst, sondern auch zahlreiche Exponate des Quai Branly hervorgebracht. Indem Chirac mit dem Quai Branly also auf einen Kulturendialog zielt, fehlt es diesem allgemein formulierten Anspruch erkennbar an der Darstellung einer tatsächlichen Begegnung: der Begegnung zwischen Europa und den außereuropäischen Völkern. Entsprechend werden die ›Anderen‹ in der Perspektive Chiracs ausschließlich über ihre Alterität näher bestimmt, definiert und vom ›Eigenen‹ abgegrenzt. Doch über diese Funktionalisierung und Festschreibung der außereuropäischen Völker als vergleichsweise passiv entworfene Völker, die von der »avancée inexorable de la modernité« bedroht seien, geht Chirac sogar noch hinaus. Er definiert sie auch als vormoderne Identitäten, als geradezu zeitlose, zumindest aber als von der Moderne ausgeschlossene Völker, und lässt die ihnen innewohnende Prozesshaftigkeit weitgehend unberücksichtigt.30 Das wiederum konterkariert erkennbar den Wunsch, den Chirac in seiner ersten Rede angedeutet hat und in der zweiten explizit nennt: den Wunsch, die historische Tiefe und Komplexität der repräsentierten Völker abzubilden. Dieser homogenisierenden Bestimmung der außereuropäischen, ahistorisch dargestellten Völker sowie der fest- und fortgeschriebenen Trennung zwischen
29 Françoise Cachin verweist allerdings im Anhang des Berichts der FriedmanKommission darauf, dass das Museumsprojekt nur ein »geste de charité« sein könne »et non de justice«. Vgl. Cachin, »Esquisse d’un projet muséographique sur les arts ›autres‹«, Anhang 7, S. 1. Vgl. zur Friedman-Kommission zudem Kapitel 3.1.2. 30 Zur Festschreibung der ›Anderen‹ und zur Unterwanderung der Prozesshaftigkeit von Identitäten durch das Konzept der ›diversité‹ vgl. Kapitel 2.1.3.
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hilfsbedürftigen oder aber Unrecht erleidenden ›Anderen‹ und den abstrakten Verursachern des Leidens steht das positive Bild entgegen, das Chirac kurz vor Ende seiner Rede von Frankreich als einem Förderer des Kulturendialogs zeichnet. Während er die außereuropäischen Völker mehr als passive Opfer denn als eigenständige Akteure begreift und die ehemaligen Kolonialmächte und -herren nicht klar benennt, und während zudem die historischen Bedingungen, unter denen lange Zeit die Konfrontation mit den ›Anderen‹ stattgefunden hat, misst Chirac Frankreich eine wichtige Rolle in der Förderung des Kulturendialogs bei. Er erklärt: »Cette ambition [de faire progresser le dialogue des cultures et des civilisations; N.P.], la France l’a pleinement faite sienne. Elle la porte inlassablement dans les enceintes internationales et au cœur des grands problèmes du monde. Elle la porte avec ardeur et conviction, car elle est conforme à sa vocation, celle d’une nation de tout temps éprise d’universel mais qui, au fil d’une histoire tumultueuse, a appris la valeur de l’altérité.«
Bemerkenswert daran ist das Bild, das Chirac von Frankreich als einer universell angelegten und zugleich ›Vielfalt‹ fördernden Nation entwirft. So erinnert er nicht nur an die französische Pionierrolle in den internationalen Verhandlungen um die UNESCO-Konvention zur ›Vielfalt‹, insofern er Frankreichs wichtige Rolle in der Förderung eines Kulturendialogs hervorhebt. Er lässt auch an das französische Sendungsbewusstsein denken, mit dem die Nation lange und häufig ihre spezifische Kultur verteidigt hat. Obgleich Chirac an dieser Stelle also deutlich auf kulturelle Alterität zielt und diese als Wert definiert, den Frankreich schätzen gelernt habe, räumt er Frankreich in der Verteidigung dieses Wertes eine durchaus wichtige Rolle ein. Dabei rekurriert er nicht ohne Stolz auf die vorgeblich transhistorische ›universelle‹ Berufung seines Landes, die er mit dem Ausdruck »de tout temps« belegt. Dieser Rückgriff lässt zudem die von ihm entworfene ›diversité‹ nochmals als eine universelle ›diversité‹ erkennbar werden, die er zuvor in seiner Rede bereits skizziert hat. Dieser Entwurf einer universellen ›diversité‹, der trotz seiner dialogischen Anlage das kolonial geprägte Hierarchiegefälle zwischen dem ›Eigenen‹ und den ›Anderen‹ bestehen lässt, fungiert bei Chirac als Gegenmodell zum Konzept der ›mondialisation‹.31 Chirac begreift diese zwar nicht ausschließlich als die negativ konnotierte Standardisierung und Amerikanisierung, die häufig in der Frankophonie als Gegenbild fungieren und die auch der Präsident gewissermaßen als
31 Zur Konzeption frankophoner Identität über die Abgrenzung von der ›mondialisation‹ vgl. Kapitel 2.2.2 und 2.2.3.
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Bedrohung begreift. Sie würden sich ihm zufolge beispielsweise in der Verschärfung von ethnischen Konflikten niederschlagen. Vor allem aber verweist Chirac auf eine zweite Bedeutung der ›mondialisation‹, die mit seiner Definition von ›diversité‹ in Einklang steht und die er als eine »nouvelle exigence éthique« begreift: als den Menschheitstraum von einer weltweiten menschlichen Einheit. Die Herausforderung, diese Einheit zu repräsentieren, begegne das Museum mit der Ausstellung der ›anderen‹ Künste und Kulturen und dem dabei verfügbaren Angebot an Wissen, Werten und Vorstellungen. Wie Chirac ergänzt, könne es damit zu Offenheit und gegenseitigem Verständnis beitragen und das Konzept der ›diversité culturelle‹ zu einer universell entworfenen Alternative in der globalisierten Welt werden lassen.32 In dieser Deutung der ›diversité‹ wird, wie schon für die Konzeption der ›diversité‹ in der Frankophonie gezeigt wurde, eine Bewegung der Abgrenzung von der Globalisierung deutlich oder, wie de l’Estoile es formuliert hat, eine Abgrenzung von der »mondialisation ayant les traits de l’American Way of Life«.33 Abschließend lässt das Moment der Abgrenzung von Globalisierungsphänomenen feststellen, dass die universelle ›diversité‹ und der mit ihr einhergehende Kulturendialog in der Konzeption des Quai Branly nur über ihr Gegenbild und kaum anders bestimmt worden sind. Vielmehr dient der abstrakte Begriff der ›diversité‹, dessen Entleertheit schon für die französischen und frankophonen Identitätsdebatten gezeigt wurde, auch dem Quai Branly zur Bestimmung von Identität. Der Umstand, dass weitere Ausgestaltungen oder Konkretisierungen des Konzepts fehlen, auch wenn Chirac das Konzept der ›diversité‹ per se kulturell modelliert und ihm zugleich eine starke politische Motivation zuschreibt,34 mag die Schwierigkeit belegen, neue Identitätszuschreibungen für das Museum bereit zu stellen. Dabei bedingen die Abgrenzung nach außen, über die das Konzept der ›diversité‹ als Alternative zur standardisierenden ›mondialisation‹ entworfen werden soll, und die Festschreibung der außereuropäischen ›Anderen‹ in
32 Dass das Konzept der ›diversité culturelle‹ überhaupt erst mit der Globalisierung aufgekommen ist, hat Chirac an anderer Stelle eindrücklich belegt. Vgl. Chirac, »Une autre vision du XXIe siècle«; vgl. auch den Beginn von Kapitel 2.1.3. 33 De l’Estoile, »L’oubli de l’héritage colonial«, S. 95. Benoît de l’Estoile hat auch in der Konzeption des Musée de l’Homme den Rückgriff auf den ›pluralistischen Universalismus‹ beschrieben, der die ›Vielfalt‹ der Kulturen und Künste voranstellte, in dem Museum also, das zugunsten des Quai Branly geschlossen worden ist. Vgl. Kapitel 3.1.2. 34 Zu den verschiedenen Bestimmungen des Konzepts der ›diversité‹, unter denen ›kulturelle Vielfalt‹ eine herausragende Rolle spielt, vgl. Kapitel 2.1.3.
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ihrer Alterität einander: Es wird beabsichtigt oder unbeabsichtigt eine Grenze zwischen dem ›Eigenen‹ und den ›Anderen‹ markiert, die zudem durch die Bestimmung Frankreichs als universell berufener Nation unterstützt wird. Mangels anderer Möglichkeiten, die ›diversité‹ näher zu bestimmen, dienen beide dazu, die Abgrenzung wie die Festschreibung, das Konzept der ›diversité‹ auszugestalten. Der Rückgriff auf die ›diversité‹ kann zugleich aber auch als ein Beispiel für die politische Affirmation des Konzepts aufgefasst werden und die damit einhergehende und von Chirac definierte ›leçon d’humanité‹ als eine Strategie, mit der die traditionelle französische Identitätskonzeption trotz ihrer Erweiterung um den Wert der Alterität legitimiert wird. 3.1.2 Ein ›heart of darkness‹: Zur Planung Obschon Chirac die Konzeption des Quai Branly und die Bedeutung und Anerkennung fremder Kulturen weitgehend abstrakt bestimmt und in die Identitätskategorien eingeordnet hat, die auch in französischen und frankophonen Debatten diskutiert werden, war der eigentliche Ideengeber des Museumsprojekts sein Freund Jacques Kerchache. Er brachte die Idee, außereuropäische Künste in Paris auszustellen, ins Spiel und formulierte sie 1984 in einem Brief an François Mitterrand. Darin schlug er vor, jene fremden Künste im Louvre zu exponieren. In einem weiteren, ebenfalls von Kerchache initiierten Manifest, das Libération am 15. März 1990 abdruckte, plädierten zahlreiche namhafte Intellektuelle für eine achte Abteilung im Louvre, die die von Kerchache erwähnten Meisterwerke der Menschheit umfassen sollte. Damit war die Idee öffentlich lanciert. Konkretisiert wurde sie zunächst 1994 im Petit Palais in einer Ausstellung zur Kunst der Ureinwohner der Karibik, der Tainos, die ebenfalls von Kerchache organisiert war und von Chirac unterstützt wurde. Der damalige Pariser Bürgermeister bekannte sich schon 1995 im Wahlkampf um das Präsidentenamt zu der Idee und hatte als frisch gewählter Präsident auch die Möglichkeiten, das Projekt zu realisieren. Ein Jahr später übertrug Chiracs Premierminister Alain Juppé einem engen Freund Chiracs, Jacques Friedmann, die Leitung der Planungskommission. Sie bestand aus zwölf Mitgliedern und war für das Ausloten der Machbarkeit des Museums, die Definition der Museumsziele und erste konkrete Umsetzungsvorschläge verantwortlich. Als Jean-Hubert Martin und Claude-François Baudez, Mitglieder der Kommission, im Juli desselben Jahres ein Plädoyer für das Museum veröffentlichten und schließlich der Kommissionsbericht im September desselben Jahres vorgestellt
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wurde, stand das Projekt: Das Museum sollte Anfang der 2000er Jahre eröffnet und durch eine Dependance im Louvre unterstützt werden.35 Im Folgenden wird auf der Grundlage des Berichts dieser FriedmanKommission, in Teilen auch anhand des Plädoyers von Baudez und Martin sowie beispielhafter Fragen der restlichen Planungsphase gezeigt, zwischen welchen Gegenpolen sich der Quai Branly bis heute bewegt, um die politische Anerkennung von Alterität, die Chirac definiert hat, ästhetisch zu realisieren. Vorbote der teilweise als »faux débat« bezeichneten oder als unverständlich begriffenen Diskussion um diese dichotom aufgefassten ethnologischen und ästhetischen Ansätze war schon Kerchaches Brief an Mitterrand gewesen.36 Dass Kerchache in diesem Plädoyer die Ausstellung von »chefs-d’œuvre […] mis à nu, sans hutte, sans explication« im Sinn hatte, dass Kerchache zudem Ethnologen jede Kenntnis von Kunst, auch von außereuropäischer Kunst ab- und sich selbst zusprach und dass diese Ausrichtung nicht zuletzt bis in die Dauerausstellung hinein die dominante Tendenz war, rief bei Ethnologen heftige Kritik hervor.37 Sie fußte weniger auf der Ausstellung von ›primitiver‹ Kunst im Louvre als vor allem auf dem Begriff der ›arts premiers‹, der von Kerchache eingeführt und von Chirac und der Friedman-Kommission verwendeten wurde. Maurice Godelier kritisierte beispielsweise, dass dieser Begriff eine ursprüngliche Kunst impliziere, der jede Historizität abhanden gekommen und der einem eurozentrischen und damit rein ästhetischen, an der europäischen Ästhetiktradition orientierten Blick geschuldet sei – einem Blick, der dem Ethnologen fremd ist, der Objekten erst mit ihrem Nutzen einen ästhetischen Wert zuschreibt und beides erst im Zusammenhang denkt.38
35 Vgl. Dupaigne, Le scandale des arts premiers, S. 9-16, S. 247f.; Friedman, Jacques, Rapport de la Commission »Arts premiers« à monsieur le Premier ministre; Martin/ Baudez, Pour un musée d’arts et de civilisations. Dass die Idee, ein Immigrationsmuseum einzurichten, mit Noiriels Gründung der Association pour un musée de l’immigration im selben Jahr und mit der Lancierung der Idee zwei Jahre später in den gleichen Zeitraum wie die Idee für das Projekt des Quai Branly fällt, frappiert insofern, als beide Ideen Ausdruck eines stärkeren Bewusstseins für die Anerkennung von kultureller Alterität sind. 36 Ebd., S. 57. 37 Ebd., S. 14. Vgl. auch S. 17. 38 Überdies ist der Begriff der ›arts premiers‹ Godelier zufolge bei Anthropologen und anderen Sozialwissenschaftlern auf Kritik gestoßen, da er anstelle des Begriffs der ›arts primitifs‹ verwendet wird, jedoch im gleichen Sinn wie dieser Begriff verwendet wird. Vgl. Godelier, »Créer de nouveaux musées des arts et civilisations à l’aube du
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Die Kommission unter der Leitung von Jacques Friedman versuchte, diesen eurozentrischen Blick durch eine disziplinenübergreifende Herangehensweise zu ersetzen. Doch als wie schwierig sich diese disziplinenübergreifende Arbeit herausstellte, zeigt exemplarisch der zu besprechende Eklat um Maurice Godelier. Da die Vorstellungen des Anthropologen, der dem Planungskomitee zwischenzeitig angehörte, die Pläne des Museums durchkreuzten, verließ er das Komitee nach gut vierjähriger Tätigkeit. Es wird deshalb die starke Orientierung des Projekts an einer ästhetizistischen Darstellungsweise zu zeigen sein. Dabei soll die These begründet werden, dass das Museumsprojekt mit seiner geplanten ästhetizistischen Ausrichtung dem Anspruch auf ein Museum, das eine postkoloniale Perspektive reflektieren soll, kaum gerecht wird. Zunächst lotete die Friedman-Kommission Möglichkeiten eines Musée de l’Homme, des arts et des civilisations aus.39 Sie griff damit Chiracs Wunsch auf, außereuropäischen Künsten Anerkennung und »leur juste place dans les institutions muséographiques de la France« zuteilwerden zu lassen.40 Wie der Bericht erläutert, sollte zu diesem Zweck zunächst die Pariser Museenlandschaft umstrukturiert werden. Denn die im Bericht sodann folgende Bestandsaufnahme schrieb den zwei Pariser Museen für sogenannte ›erste Künste‹, dem Musée national des Arts d’Afrique et d’Océanie und dem Musée de l’Homme,41 chronische Schwierigkeiten zu und kritisierte, dass ihre Sammlungen im Bereich der ›ersten Künste‹ nicht an einem Ort gebündelt seien. Zudem sollte das neue Museum sich von der ausschließlich differenziellen und stark relativistischen Konzeption des
IIIe millénaire«. Wenn der Begriff das Gleiche impliziert, führt er Benoît de l’Estoile zufolge ebenso wie der Terminus des ›art primitif‹ dazu, historische Entwicklungen der Objekte und der ›Anderen‹ in einem einzigen Begriff zusammenzufassen und damit tendenziell zu homogenisieren. Vgl. de l’Estoile, Le goût des Autres, S. 18f., 339. 39 Friedman, Rapport de la Commission, Anhang 1 und 2. Dass der Aspekt des ›homme‹ aus dem späteren Museumsnamen verschwindet, dass er aber in der ersten Planung von 1996 noch als einer von drei Bestandteilen Gegenstand des Museums sein sollte, ist bemerkenswert. Schließlich zeugt das davon, dass auch die Vorstellung von einem besseren Musée de l’Homme, dem ethnologischen Museum in Paris, in der späteren Planungsphase aufgekündigt wurde, wie ursprünglich geplant gewesen war. 40 Friedman, Rapport de la Commission, Anhang 1. 41 Zugleich nennt der Bericht noch weitere Museen wie das Centre Georges Pompidou, das Musée d’Art moderne de la Ville de Paris, das Musée Picasso oder das Musée Dapper. Vgl. Friedman, Rapport de la Commission, S. 4. Der Vollständigkeit halber verweist der Bericht zudem auf das Pariser Musée des Arts et Traditions Populaires.
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ethnologischen Musée de l’Homme absetzen.42 Vor diesem Hintergrund erörterte die Kommission die Möglichkeiten und Vorteile eines neuen Museums für außereuropäische Kunst. Dieses sogenannte ›projet novateur‹ bestehe darin, so der erste Teil des Berichts, die bis dato existierende Trennung zwischen Kunstund ethnologischem Museum aufzuheben und die ›ersten Künste‹ an einem »lieu prestigieux«, in einem historisch und geographisch umfassenden Museum zu bündeln und durch eine ergänzende Ausstellung der schönsten Meisterwerke im Louvre zu begleiten.43 Im zweiten Teil des Berichts werden zwei Darstellungsmöglichkeiten für das Museum aufgezeigt, die in der Planungsphase des Quai Branly durchgespielt wurden. Ein erster Vorschlag zielte darauf, die Sammlungen der zwei genannten Museen in einem renovierten und umstrukturierten Musée de l’Homme zu bündeln. Diesen Vorschlag ließ die Kommission jedoch zugunsten eines zweiten Vorschlags fallen, der ein gänzlich neues Museum vorsah, das an die Stelle des genannten Museums und des Musée national des Arts d’Afrique et d’Océanie treten sollte. Die Sammlungen beider Museen sollten im Palais de Chaillot, bis dato Sitz des Musée de l’Homme und des Musée de la Marine, eingerichtet, um weitere Ankäufe ergänzt und von einer Zweigstelle im Louvre begleitet werden.44 Den Ausführungen zu den zwei Möglichkeiten folgen im Bericht abschließend sieben resümierende Vorschläge zum geplanten Museum. Der letzte dieser Vorschläge sieht ein Planungskomitee vor, das im Herbst 1996 unter der Leitung des Kommissionspräsidenten Friedman und der Direktoren Germain Viatte und Maurice Godelier eingerichtet wird.45 Ähnlich wie von Chirac wird der Quai Branly im Friedman-Bericht als ein »projet novateur« bestimmt und dessen großer Ehrgeiz betont.46 Auf den ersten Seiten erklärt der Bericht in der genannten Bestandsaufnahme ebenso das Musée de l’Homme wie das Musée national des Arts d’Afrique et d’Océanie für obso-
42 Vgl. Dias, »Le musée du quai Branly: une généalogie«. 43 Friedman, Rapport de la Commission, S. 2, Inhaltsverzeichnis. 44 Vgl. ebd., S. 32, S. 44f. Für das Musée de la Marine war ein Umzug in den Palais des Colonies vorgesehen, der durch die Schließung des Musée national des Arts d’Afrique et d’Océanie frei geworden war und heute die Cité nationale de l’histoire de l’immigration beherbergt. Vgl. Kapitel 3.2. Aufgrund der Lage dieses Gebäudes an der östlichen Peripherie von Paris wurde dieses Vorhaben jedoch aufgegeben. So befindet sich das Musée de la Marine heute noch immer im Palais de Chaillot im Zentrum von Paris. 45 Vgl. Viatte, »Présentation des Journées«. 46 Friedman, Rapport de la Commission, S. 6.
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let.47 In einem zweiten Schritt geht er auf die Notwendigkeit ein, ein ganz neues Museum einzurichten, indem er erklärt: »[I]l faut créer un musée résolument nouveau, appuyé sur une ambition forte et doté de structures et de moyens adéquats. On peut ainsi donner à la France le grand musée des arts non occidentaux qui lui manque et qui ne sera ni un pur musée ethnographique, ni un musée des Beaux Arts classique.«48
Diese Erläuterung ist bemerkenswert, da sie Frankreich als eine Kulturnation entwirft und das geplante Museum in diese Kulturnation einordnet. Es besteht dem Bericht zufolge die Notwendigkeit nicht nur in den bereits vorhandenen Pariser Museen und ihren disziplinären Beschränkungen, die im einen Fall ethnologisch, im anderen Fall klassisch-künstlerisch angelegt sind. Die hier skizzierte Notwendigkeit wird über eine vage »ambition forte« hinaus auch mit dem Wunsch begründet, Frankreich ein noch fehlendes Museum für außereuropäische Künste geben zu wollen. Damit wird der geplante Quai Branly, der diesen Mangel beheben soll, in seinen kulturgesellschaftlichen Kontext eingebettet und Frankreich als Kulturnation ausgewiesen, das zwar andere Museen besitzt, dem aber eben jenes Museum fehle. Die weiteren Ausführungen des Berichts knüpfen sodann einerseits an die Notwendigkeit an, den innovativen Charakter des geplanten Museums zu belegen, andererseits an die französische Tradition der Kulturnation. Zur Untersuchung dieser doppelten Notwendigkeit sind vor allem zwei Unterkapitel von Interesse, zunächst das erste Unterkapitel des Abschnitts »Une ambition forte pour un projet novateur«. Auf zwei Seiten erläutert der Abschnitt, warum das neue Museum disziplinenübergreifend sein soll. Um diese Frage zu beantworten, wird das geplante Museum noch einmal dezidiert von den beiden in der Bestandsaufnahme genannten Museen abgesetzt. Wie der Bericht erklärt, soll die Unterscheidung zwischen Ethnologiemuseen wie dem Musée de l’Homme einerseits und Kunstmuseen wie dem Musée national des Arts d’Afrique et d’Océanie andererseits überwunden werden, »pour présenter, à des publics variés, des collections couvrant un large périmètre spatial et temporal, grâce à une muséographie novatrice et à l’alliance au sein d’un même établisse-
47 Seitens des Musée de l’Homme gab es großen Widerstand gegen die neuen Pläne, die eine Umstrukturierung und am Ende die Schließung des Museums vorsahen. Vgl. de l’Estoile, Le goût des Autres, S. 17. Von solchen oder ähnlichen Widerständen ist über das Musée national des Arts d’Afrique et d’Océanie nichts bekannt. 48 Friedman, Rapport de la Commission, S. 6.
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ment, de fonctions diverses«.49 Hiermit sind die wesentlichen Eckpunkte des Museums wie das vielfältige Publikum und die geographisch wie historisch umfassenden Sammlungen nicht nur im Bericht benannt. Es wird auch die Neuartigkeit des Projekts belegt und angedeutet, worin diese Neuerung besteht: in der »alliance« von Kunst und Ethnologie, die durch die Zusammenlegung beider Museen gespiegelt wird. Wie der Bericht ergänzt, ist die Zusammenlegung aufgrund der Unzugänglichkeit dieser Museen und der für obsolet erklärten Unterscheidung zwischen beiden die einzig logische Konsequenz. Allerdings lässt diese Begründung der ›alliance‹ zwischen Kunst- und Ethnologiemuseum die Frage offen, ob hiermit auch ein anderer Kulturbegriff impliziert wird, ob möglicherweise auch die Entgegensetzung von Hochkultur und einer Kultur als Zeugnis fremder Lebenswelten gemeint ist, die durch die benannte Verknüpfung der zwei Museumformen aufgebrochen werden könnte. Von der Notwendigkeit, das Kunst- und das Ethnologiemuseum zusammenzulegen, leitet der Bericht über zum Ziel des geplanten Museums. Darin soll es darum gehen, »de montrer toute la complexité des systèmes de pensée des sociétés en cause, en abolissant les frontières des diverses disciplines des sciences de l’homme«.50 Wie festgestellt werden kann, folgt der hier skizzierte disziplinenübergreifende Ansatz der bereits genannten ›alliance‹ und dient dazu, die Komplexität der Kulturen der abzubildenden Gesellschaften zu zeigen. Zwei Seiten weiter wird diese hier noch vage ›complexité‹ sodann explizit als eine »pluralité socioculturelle« entworfen. Sie wird zudem in den zeitgenössischen gesellschaftlichen Kontext eingebettet, wenn erklärt wird: »[A] une époque où les tentations de repli hexagonal renaissent, et où les tensions liées à une perception nouvelle de la pluralité socioculturelle s’aiguisent, la création d’un musée ouvert sur la diversité des sociétés et des arts serait le moyen d’offrir aux jeunes générations une vision dépassionnée et ouverte des différences.«51
Dass das geplante Museum an dieser Stelle in seinen zeitgenössischen Kontext eingebettet wird, der dem Bericht zufolge angesichts einer neuen Perspektive auf die soziokulturelle ›Vielfalt‹ in der Gesellschaft durch Spannungen gekennzeichnet ist, verdeutlicht den ihm eingeschriebenen Anspruch: Der Quai Branly soll vor allem ein Museum sein, das sich offen gegenüber der ›Vielfalt‹ von Kulturen und Künsten zeigt. Dieser Anspruch korrespondiert nicht nur der schon
49 Ebd., S. 6. 50 Ebd. 51 Ebd., S. 8.
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von Chirac proklamierten Ausrichtung; er wird hier auch, statt für sich zu stehen, erst über den französischen soziokulturellen Kontext näher bestimmt. Dieser Kontext ist indes erkennbar negativ bestimmt. Wie der Friedman-Bericht erläutert, ist er angesichts der faktisch vorhandenen soziokulturellen ›Vielfalt‹ durch Spannungen und die Gefahr der Abschottung in der ›eigenen‹ Kultur gekennzeichnet. Das steht wiederum im Gegensatz zur positiven Konzeption einer ›Vielfalt‹ der Kulturen und Künste, die die Kommission für das neue Museum skizziert hat. Dieses Plädoyer für ein positiv konnotiertes Konzept der ›Vielfalt‹ wird sogar noch gesteigert. In einem zweiten Schritt bindet der Bericht es an die humanistische Tradition Frankreichs zurück, indem er festlegt: »Cette initiative [la création d’un musée ouvert sur la diversité des sociétés et des arts; N.P.] s’inscrirait dans la tradition humaniste française.«52 Neben der erneuten Anlehnung an Chiracs »leçon d’humanité« wird hiermit auch die Notwendigkeit deutlich, das Museum einzurichten, die die Kommission als logisch und damit unabdingbar ausweist: eine Notwendigkeit, die dem Bericht zufolge automatisch aus gesellschaftlichen Spannungen abgeleitet werden kann und an die humanistische Tradition Frankreichs anschließt. Diese Rückbindung an und die Einordnung in republikanische Wertvorstellungen, die zunächst in Form der humanistischen Tradition bestimmt werden, wird im Friedman-Bericht ein zweites Mal an der Stelle deutlich, an der der Bericht die Notwendigkeit eines ›lieu prestigieux‹ für das geplante Museum erläutert. Die Kommission begründet den diesem Projekt zugeschriebenen Anspruch wie folgt: »Le projet doit recevoir un cadre à la hauteur de son ambition.«53 Doch trotz dieses Anspruchs sieht der Bericht noch nicht das später neu entstandene Gebäude vor, sondern plädiert dafür, das geplante Museum im rechten Flügel des Palais de Chaillot einzurichten. Seine Vorteile liegen dem Bericht zufolge auf der Hand: das prestigeträchtige Gebäude des Palais, seine zentrale Lage und die Nähe zum Musée Guimet.54 Über diese offenkundigen Vorteile hinaus
52 Ebd. 53 Ebd., S. 15. 54 Das Musée Guimet existiert noch immer und widmet sich der Repräsentation asiatischer Kunst. Dass die asiatischen Sammlungen auch weiterhin dort bleiben und nicht in den Quai Branly überführt werden, war Wunsch der Friedman-Kommission. Vgl. Friedman, Rapport de la Commission, S. 8. Zudem hat sich der Bericht vom Gebäude an der Porte Dorée aufgrund seiner kolonialen Konnotation dezidiert abgesetzt, obgleich Françoise Cachin im Anhang des Friedman-Berichts die Porte Dorée durchaus als eine »piste à envisager« bezeichnet hat. Cachin, »Esquisse d’un projet muséogra-
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schreibt der Bericht dem vorgeschlagenen Gebäude aber auch eine symbolische Bedeutung zu: »L’implantation d’un musée d’arts et de civilisations en bordure du parvis des Droits de l’Homme renforcerait symboliquement son ambition pédagogique et humaniste.«55 Obgleich der Bericht zuvor die Vielfalt als primäre Ausrichtung des neuen Museums definiert hat und sich ferner dezidiert vom Anspruch eines universellen Museums abgrenzt, wie an anderer Stelle im Bericht ausdrücklich erklärt wird,56 erfolgt hier der Entwurf des späteren Quai Branly, indem dieser erneut an eine humanistische Ausrichtung geknüpft wird. Während dieser aber zuvor noch nicht näher bestimmt worden ist, legt der Hinweis auf den Palais de Chaillot als Ort der Erklärung der Menschenrechte von 1948 nahe,57 worüber der humanistische und pädagogische Anspruch definiert wird: über den dem Gebäude anhaftenden Geist der Menschenrechte. Der Bericht begründet die humanistische Bestimmung des Quai Branly indes nicht nur mit dem Gebäude. Wie ein späterer Abschnitt erörtert, sollte auch der humanistische Geist des früheren Museums für Vorgeschichte und Anthropologie, des Musée de l’Homme, bewahrt werden,58 da es als historisches Zeugnis ein
phique sur les arts ›autres‹«, S. 7. Dass das Gebäude heute dennoch die Cité nationale de l’histoire de l’immigration beherbergt und in diesem Zusammenhang von Raffarin ebenfalls als ein ›lieu prestigieux‹ bezeichnet worden ist, ist an dieser Stelle zumindest bemerkenswert. Ausführlich wird dies in Kapitel 3.2.1 besprochen. 55 Friedman, Rapport de la Commission, S. 15. 56 Vgl. ebd., S. 8. Ein universelles Museum »engloberait l’ensemble des établissements disposant de collections d’art non occidental« und würde auch die Auflösung des noch bestehenden Musée Guimet und des später geschlossenen Musée des Arts et Traditions Populaires bewirken. Davon aber setzt sich die Kommission ausdrücklich ab und beansprucht, kein universelles Museum zu planen. Mithin kann sie so auf den »Grand Louvre« rekurrieren, insofern sie auf dessen nicht-universellen Charakter ausdrücklich hinweist: »Le Louvre n’est pas […] un musée universel. Il n’a pas vocation à l’encyclopédisme«. Friedman, Rapport de la Commission, S. 16f., vgl. auch ebd., S. 8. 57 Vgl. »Déclaration universelle des Droits de l’homme«. 58 Zur humanistischen Anlage des Musée de l’Homme vgl. de l’Estoile, Le goût des Autres, S. 132-137. Entgegen dem Musée de l’Homme, dem im Friedman-Bericht beachtliche Aufmerksamkeit zuteil wird, entsteht der Eindruck, dass das Musée national des Arts d’Afrique et d’Océanie kaum Beachtung findet und eher als Element dient, um die Sammlungen des Musée de l’Homme zu ergänzen. Vgl. Friedman, Rapport de la Commission, S. 21. Heute gehören Teile des ehemaligen Museums an der Porte Dorée zu einer nicht-öffentlichen Sammlung, deren Objekte in Wechselausstellungen gezeigt werden wie beispielsweise in der in Kapitel 3.1.3 analysierten Wechselausstel-
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geeignetes Mittel sei, »pour transmettre une tradition d’appréhension dans sa totalité biologique, sociale et culturelle, dans sa diversité comme dans son universalité«.59 An dieser Erläuterung ist bemerkenswert, dass die Konzepte der ›universalité‹ und der ›diversité‹, von denen der zweite Begriff lange in den Konstruktionen der französischen Identität und auch in französischer Museen unberücksichtigt geblieben war, hier in einem Atemzug genannt werden60 und an Chiracs Auffassung der universellen ›Vielfalt‹ erinnern. Näher bestimmt werden sie dagegen nicht. Konkretisiert werden sie aber in dem eingangs genannten Plädoyer von Baudez und Martin, das den zweiten Vorschlag der Friedman-Kommission näher erläutert. Statt einem kolonial konnotierten »message de tolérance adressé à l’humanité« zu folgen, entwirft der Bericht die Konzeption des geplanten Museums, die die Konzepte ›universalité‹ und ›diversité‹ umfasst, als eine Konzeption, die beide in ein wechselseitiges Verhältnis bringt: »Si la France a longtemps pu se reposer sur l’ambition universaliste de sa culture, les profondes transformations en cours doivent lui apprendre à traiter les cultures étrangères sur un pied d’égalité et à abandonner l’attitude de supériorité qui l’a longtemps caractérisée. Il ne s’agit nullement d’abdiquer de notre culture et de nos valeurs mais d’établir des relations de réciprocité et d’échange avec les représentants de cultures étrangères.«61
Statt den Begriff der ›humanité‹ zu verwenden, den dieser zweite Bericht als kolonial bezeichnet, den aber die Friedman-Kommission durchaus verwendet hat, rekurriert dieser zusätzliche Bericht auf die französische »ambition universaliste«. Er formuliert den Wunsch, diese ›ambition‹ aufzukündigen, die übrigens auch schon Chirac benannt und die der Bericht der Friedmann-Kommission angedeutet hat, ohne dabei die eigene, französische Kultur und ihre Werte zu verneinen. Wie der Bericht erläutert, soll an die Stelle dieses universalistischen Anspruchs die Gleichbehandlung aller Völker treten, die zu wechselseitigen, dialogischen Kulturbeziehungen führen könnte. Vor diesem Hintergrund ist zu erkennen, dass dieser die Konzepte der ›universalité‹ und der ›diversité‹ einen-
lung »D’un regard l’Autre«. Vgl. »Quatre collections exceptionnelles«. Andere Teile sind in den Bestand der Cité nationale de l’histoire de l’immigration aufgenommen worden. Vgl. de l’Estoile, »L’oubli de l’héritage colonial«, S. 97f. 59 Friedman, Rapport de la Commission, S. 21f. 60 Zur Entwicklung der Konzepte als französische Identitätszuschreibungen vgl. Kapitel 2.1.2 und 2.1.3. 61 Martin/Baudez, Pour un musée d’arts et de civilisations, S. 7.
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den Zuschreibung der politisch motivierte Appell Chiracs, Beziehungen zwischen den Völkern hierarchiefrei zu gestalten, sowie die Losung des Museums, »Là où dialoguent les cultures«, entsprechen.62 Mithin können die vorangegangenen Beobachtungen in der These gebündelt werden, dass das Konzept der ›universalité‹ und die humanistische Ausrichtung des Quai Branly vor allem als Grundlage für das Konzept der ›diversité‹ dienen. Seine Bestimmung durch die Friedman-Kommission soll deshalb im Folgenden untersucht werden. Denn auch die Kommission hat wie schon Chirac in seiner Rede zur Eröffnung des Quai Branly das Konzept der universellen ›diversité‹ – mitsamt dem ›Fremden‹ und in der Abgrenzung vom ausschließlich französisch geprägten Konzept der ›universalité‹ – hervorgehoben. Es ist jedoch festzustellen, dass diese kulturelle Alterität in der Planungsphase auf unterschiedliche Weisen bestimmt worden ist, was sich auch in den diskutierten Bezeichnungen für das Museum und seine Gegenstände widerspiegelt. So standen Namen wie »grand musée des arts non occidentaux«, »musée d’arts et de civilisations« und »arts d’Afrique, des Amériques, d’Océanie et d’Asie« zur Auswahl, von denen letztlich keiner durchgesetzt wurde.63 Dass sich bis heute die Ortsbezeichnung im Namen des Museums, im Musée du quai Branly, gehalten hat, sieht die Wissenschaftlerin Sally Price als Zeichen dafür, dass der Quai Branly später in ein Musée Jacques-Chirac ebenso umgetauft werden kann wie das heutige Centre Pompidou.64 Was das Museum und seine auf die Repräsentation von ›Vielfalt‹ abzielende Darstellung umfassen soll, wurde in der Planungsphase allerdings entschieden und wird im Bericht der Friedman-Kommission explizit dargelegt. Wie der Bericht erklärt, ist die Repräsentation eines »vaste périmètre géographique et temporel« wünschenswert, der Afrika, Ozeanien, das indigene Amerika und komplementär zum Musée Guimet auch Asien umfassen soll.65 Darüber hinaus sah der Bericht im neuen Museum die Möglichkeit, traditionelle europäische Gesellschaften, Frankreich ausgenommen, zu exponieren, was letztlich jedoch nicht realisiert worden ist.66 Um die ›ersten Künste‹ zudem zeitlich umfassend abzu-
62 »Musée du quai branly. Là où dialoguent les cultures«. 63 Friedman, Rapport de la Commission, S. 6, 15, 44. 64 Vgl. Dupaigne, Le scandale des arts premiers, S. 190; Price, Paris Primitive, S. 112. 65 Friedman, Rapport de la Commission, S. 8. 66 Vgl. ebd., S. 9. Die traditionelle Kultur Frankreichs hingegen war zunächst im später geschlossenen Musée des Arts et Traditions Populaires ausgestellt. Schließlich beansprucht das 2013 in Marseille öffnende Musée des Civilisations de l’Europe et de la Méditérranée, die Völker Europas und des Mittelmeerraums zu repräsentieren, und
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bilden, fordert der Bericht eine »vision complète des formes d’arts premiers«,67 die die Entwicklung der ›ersten Künste‹ zeigt und von der Urgeschichte der Menschheit, besonders der mündlichen Kulturen, bis zum gegenwärtigen Stand der ›ersten Künste‹ reicht. Diese umfassende Schau der ›ersten Künste‹ sollte unter anderem durch Wechselausstellungen erreicht werden.68 Neben der Planung von Wechsel- und halbpermanenten Ausstellungen nimmt der Bericht auch die Idee einer Galerie des cultures du monde auf, die schon das museumspädagogische Konzept des Musée de l’Homme beinhaltet hat. Wie erläutert wird, sollten der in dieser Galerie vorgesehene Parcours durch voneinander abgegrenzte geographische Bereiche und die ergänzende Galerie des échanges die europäischen Kontakträume zu den Kulturen anderer Kontinente seit dem 15. Jahrhundert abbilden und von der Wunderkammer über das naturgeschichtliche Kabinett der Aufklärung sowie ethnografische und koloniale Museen bis hin zum Atelier des modernen Künstlers reichen.69 Dass diese Galerie indes im weiteren Verlauf der Planungsphase von Kerchache bewusst weggelassen und dass dies von Chirac gebilligt wird, ist bemerkenswert, hätte sie doch eine Reflexion zur Geschichte der europäischen Kontakträume einschließen können. Dadurch, dass sie aber in der Umsetzung unberücksichtigt bleibt, wird deutlich, dass in den Planungen des Quai Branly vor allem ein bestimmtes Bild kultureller Alterität entworfen wird, das bereits bei Chirac zu beobachten war: eine Perspektive, die Alterität in ihrer deutlichen Fremdheit und nur in dieser Fremdheit begreift. Es ist erkennbar, dass die so fortgeschriebene Trennung zwischen dem ›Eigenen‹ und den kulturellen ›Anderen‹ dem für den Quai Branly formulierten Anspruch widerspricht, den Dialog zwischen Kulturen zu verkörpern und zu vermitteln, den die Friedman-Kommission wiederum explizit nennt. Diese Beobachtungen zur Konzeption des Quai Branly durch die FriedmanKommission lassen erkennen, dass das geplante Museum zunächst vor allem konzeptuell und noch wenig inhaltlich geplant worden ist, insofern besonders Chiracs Anspruch auf die Repräsentation der Vielfalt und des Kulturendialogs aufgegriffen wurde. Der Bericht hat dazu ausführlich erläutert, wie das ›projet novateur‹ als ein postkoloniales Museum begriffen werden kann, insofern es die
könnte damit als Ersatz für das Musée des Arts et Traditions Populaires begriffen werden. In dessen Konzeption wurde zudem explizit auf den Quai Branly und die Cité rekurriert und der Kulturendialog als Ziel definiert. Vgl. »Expositions organisées au MuCEM«; die Einleitung dieser Arbeit. 67 Friedman, Rapport de la Commission, S. 9. 68 Vgl. ebd., S. 9-25. 69 Vgl. ebd., S. 28.
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längst überholte Trennung von Kunst- und Ethnologiemuseum aufzubrechen und beide Bereiche miteinander zu verbinden beanspruchte. Dieser Anspruch auf eine postkoloniale Perspektive wurde in den Planungen allerdings konterkariert, wie die sich anschließenden Überlegungen im Friedman-Bericht zeigen. Denn die Kommission hat den Quai Branly nach einer Bestandsaufnahme und der daraus abgeleiteten Notwendigkeit, ein Museum für außereuropäische Kulturen und Künste einzurichten, als ein deutlich humanistisches Projekt konzipiert, das der negativ konnotierten soziokulturellen ›Vielfalt‹ entgegengesetzt werden soll. Damit erweist sich das Bekenntnis zur gezielten Repräsentation von ›Vielfalt‹, die in der Planung des Museums wie schon in der französischen und frankophonen Identitätsverhandlung als ein offenes, dialogisches Konzept angelegt worden ist, als eine strategische Affirmation: Wie die bisherigen Beobachtungen schlussfolgern lassen, dient es dazu, die eigene französische Sicht auf kulturelle ›Andere‹ zu vermitteln, und scheint damit den Anspruch zu widerlegen, eine postkoloniale Perspektive zu verkörpern. Diese auf der Ebene der Planer bestimmte Konzeption des neuen Museums diente in der dann folgenden Vorbereitungsphase als Grundlage für die Realisierung des Quai Branly und wurde sukzessiv umgesetzt. So arbeitete eine weitere größere Kommission nach ihrer Einsetzung am 7. Oktober 1996 an der wissenschaftlichen und administrativen Vorbereitung des Museums.70 Unter der doppelten Leitung von Jacques Friedman als Präsident und der Direktoren Maurice Godelier, dem bereits genannten Anthropologen, sowie Germain Viatte, der zum damaligen Zeitpunkt Direktor des Centre Pompidouk war,71 widmeten sich acht Gruppen der Planung der Repräsentation einzelner Kulturräume in der Dauerausstellung sowie übergeordneter Themen. Ferner planten sie die museumsdidaktischen Angebote, die bereitzustellenden Dokumente, die kulturellen Aktivitäten und die Art der Aufbewahrung und Restaurierung der Ausstellungsobjekte des neuen Museums.72 Die Maßgabe war dabei nicht nur, ein vielfältiges Angebot zu schaffen, »un parcours toujours renouvelé de découverte et d’émerveillement, d’admiration et de respect, d’apprentissage du regard et de formation à la compréhension de l’autre«.73 In der Dauerausstellung sollten auch die Kulturräume übergreifenden Elemente gezeigt werden wie Formen, Figuren und Insti-
70 »M. Chirac annonce la création d’un grand musée des arts ›primitifs‹«. 71 Vgl. Godelier, »Créer de nouveaux musées des arts et civilisations à l’aube du IIIe millénaire«. 72 Vgl. Viatte, »Le musée du Quai Branly«. 73 Ebd., S. 308.
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tutionen von Macht oder auch die Lebenszyklen, Geburt, Initiation und Tod.74 Dass diese Elemente sich in Teilen in der letztlich umgesetzten Dauerausstellung wiederfinden, zeugt einerseits vom starken theoretischen Überbau der Ausstellung, der oft moniert worden ist. Andererseits deutet dies aber auch auf die ebenfalls viel kritisierte schwache Kontextualisierung ihrer Objekte hin, die in die genannten Kategorien und nicht in ihre jeweiligen historischen Kontexte eingebettet sind, was die Friedman-Kommission wiederum implizit mit ihrem Hinweis auf die notwendige Zusammenlegung von Kunst- und Ethnologiemuseum gefordert hatte. Dabei sorgte die Frage nach der Kontextualisierung dieser Objekte schon in der Planungsphase für Aufsehen. So verursachte der Umgang der Kommission mit dem Anthropologen Godelier, der für die wissenschaftliche Ausrichtung der Planungen in die Kommission geholt worden war, einen regelrechten Eklat.75 Godelier erklärte in einem Beitrag zu neuen Kunst- und Kulturenmuseen die »rencontre avec des chefs-d’œuvre« als wichtiges Ziel des Quai Branly, wobei er allerdings nicht die Kriterien erläuterte, nach denen die Qualität dieser »chefsd’œuvre« bemessen werden soll.76 Es ist erkennbar, dass Godelier damit zunächst eine Begegnung mit außereuropäischen Kulturen und Künsten vorschwebt. Mit Blick auf seine Konzeption des Quai Branly wird aber auch deutlich, dass er es dabei nicht belässt. Er hat vor allem ein »musée résolument postcolonial« im Sinn,77 das, wie man schlussfolgern kann, einerseits die Notwendigkeit beinhalten könnte, mit den Völkern zusammenzuarbeiten, die durch die dargestellten Objekte repräsentiert werden. Wie Godelier wiederum ergänzt, würde andererseits ein tatsächlich postkoloniales Museum den eigenen, europäischen Standpunkt reflektieren und relativieren, indem es historische Prozesse der Unterdrückung von nicht-westlichen Völkern durch die ehemaligen Kolonialmächte und die Aneignung derer ›fremden‹ Gegenstände kritisch zu beleuchten und eine »nouvelle vue de l’Autre et de soi-même« einzunehmen erlaube.78 In dieser postkolonialen Anlage weist Godelier dem geplanten Museum über die skizzierte Notwendigkeit hinaus eine wichtige symbolische und pädagogische Rolle zu. Um sie in der Dauerausstellung umzusetzen, entwickelt Godelier ein
74 Vgl. ebd., S. 309. 75 Vgl. Price, Paris Primitive, S. 49f. 76 Godelier, »Créer de nouveaux musées des arts et civilisations à l’aube du IIIe millénaire«, S. 301. 77 Ebd. 78 Vgl. Godelier, »Créer de nouveaux musées des arts et civilisations à l’aube du IIIe millénaire«, S. 301-303.
3. I DENTITÄTSKONSTRUKTIONEN
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zweiteiliges museumsdidaktisches Konzept. Zunächst entwirft er für jeden der vier Kulturräume drei Abschnitte, die erstens Kunstwerke, zweitens Lebens- und Denkweisen in ihrer historischen Entwicklung beleuchten und drittens Mittel zur Interpretation der Kulturen und Objekte an die Hand geben sollen. Darüber hinaus plant Godelier einen weiteren Ort in der Dauerausstellung, an dem transkulturelle Themen verhandelt werden sollten und der erkennbar der von der FriedmanKommission vorgesehenen Galerie d’échanges entspräche. Wie Godelier erklärt, würde die dabei nicht allein auf die außereuropäischen Kontinente konzentrierte Darstellung zunächst Europa und den Austausch mit außereuropäischen Völkern berücksichtigen und womöglich begünstigen. Sie würde dazu absichern, dass die Objekte stets in ihre Kulturzusammenhänge eingebettet blieben.79 Diese konkretisierte, kontextualisierte und damit postkoloniale Konzeption von Godelier wurde indes von Viatte, dem zweiten Direktor der Planungskommission und Kerchache gleichermaßen abgelehnt.80 Während Godelier es wichtig fand, »de ne jamais séparer les objets des sujets, les œuvres de leurs sociétés, les pratiques de leurs contextes«,81 war Kerchache davon überzeugt, dass eine solche kulturelle Kontextualisierung den Austausch zwischen Objekt und Betrachter beeinträchtigen würde und erst die Befreiung der Objekte von ›ethnografischer Übersetzung‹ die eigentliche Botschaft eines Meisterwerks preisgeben würde, dessen Qualitätskriterien ebenso er wie auch Godelier nicht näher bestimmt hat. Wie man annehmen kann, würde diese ästhetisierende und damit entkonkretisierende Perspektive einen mehr kolonialen als postkolonialen Blick auf die kulturellen ›Anderen‹ werfen lassen, den Godelier wiederum hervorhob. So warf der Anthropologe denn auch der Ausstellung der ›arts premiers‹ im Louvre eine ästhetizistische Perspektive und zugleich das Fehlen jeglicher didaktischen Aufbereitung vor. Kerchache beispielsweise wählte aus seiner Kunstsammlung die Objekte des Pavillon des Sessions mit nur einer kleinen Gruppe von Mitarbeitern unter rein ästhetischen Gesichtspunkten aus. Aufgrund dieser Dichotomisierung von ästhetisierender und ethnologisch-kontextualisierender Perspektive sah Godelier seine Einflussmöglichkeiten in einer Planung, der er das Fehlen jeglicher Programmatik vorwarf, zunehmend schwinden.82 Dieser
79 Vgl. ebd., Price, Paris Primitive, S. 51. 80 Vgl. u.a. Dupaigne, Le scandale des arts premiers, S. 88. 81 Godelier, »Créer de nouveaux musées des arts et civilisations à l’aube du IIIe millénaire«, S. 302. 82 Vgl. Dupaigne, Le scandale des arts premiers, S. 77-104. Es wird zudem kolportiert, dass der wissenschaftliche Rat beispielsweise nicht mit einer Arbeitsdefinition ausgestattet worden ist. Vgl. Price, Paris Primitive, S. 55.
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Eindruck wurde noch verstärkt, als Stéphane Martin im Dezember 1998 zum vorsitzenden Direktor des Planungskomitees ernannt worden ist. Im Januar 2001 verließ Godelier nach einem Zerwürfnis mit Martin das Komitee. Sein Weggang führte nicht nur zur personellen Neubesetzung durch den Lévi-Strauss-Schüler und Anthropologen Emmanuel Désveaux und ein Jahr vor der Museumseröffnung durch Anne-Christine Taylor, sondern auch zur Schwächung der wissenschaftlichen Planung insgesamt.83 In der Folgeplanung überlagerte die museologische Umsetzung in ästhetizistische Perspektiven zunehmend die ethnologische Dimensionierung des Museumsprojekts, was sich besonders in der Architektur des Gebäudes zeigte, die deshalb im Folgenden beschrieben und für die Analyse der Planungsphase fruchtbar gemacht werden soll. Die Wahl zur Gestaltung des neuen Gebäudes fiel schließlich, nachdem die Lage an der Seine beschlossen worden war, durch einen Wettbewerb im Jahr 1999 auf den renommierten Architekten Jean Nouvel, dessen Vorschlag vor allem durch seine Ästhetik bestach.84 Obgleich aber gerade diese bestechende Ästhetik charakteristisches Merkmal Nouvels ist, rief sie viel Kritik hervor. Michael Kimmelman etwa von der New York Times erinnerte das Gebäude in Anlehnung an Joseph Conrad an ein von westlicher Architektur stark abgesetztes »heart of darkness«.85 Diese Charakterisierung ist durchaus zutreffend. So ist der Quai Branly aus der Ferne kaum auszumachen, aus der Nähe wird seine ungewöhnliche Ästhetik deutlich. Es steht auf Stelzen und weist an seiner Fassade zum Seineufer hin verschiedenfarbige, in Ockertönen gehaltene Kästen auf; nach hinten zeichnet es die Krümmung der Rue de l’Université nach. Zusammen mit der Beleuchtung von Yann Kersalé und der Bepflanzung im Museumspark rund um das Gebäude sowie der Pflanzenwand zur Seine hin, die von Gilles Clément und Patrick Blanc gestaltet wurden, suggeriert der Gebäudekomplex etwas Unfertiges, das durch sukzessives Annähern erkundet werden muss. Wie Virginie de la Batut in einem Sonderheft von Télérama zum Quai Branly erklärt hat, soll diese Art der Annäherung Initiationsbewegungen nachvollziehen lassen und das Annähern an ein Dorf von Urvölkern, an ein Hüttendorf nahelegen, was auch im Innern des Gebäudes widergespiegelt werden soll.86
83 Vgl. Price, Paris Primitive, S. 52f.; de l’Estoile, Le goût des Autres, S. 522. 84 Vgl. Dupaigne, Le scandale des arts premiers, S. 94f.; Price, Paris Primitive, S. 111113; 85 Kimmelman, »A Heart of Darkness in the City of Light«. 86 Vgl. de la Batut, »Le monde sur un plateau«; zudem Mönninger, »Ein Schauhaus für die ganze Welt«.
3. I DENTITÄTSKONSTRUKTIONEN
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Abbildung 1: Kästen an der Vorderseite des Musée du quai Branly
Abbildung 2: Der bewachsene Teil der Frontfassade des Quai Branly
Abbildung 3: Ansicht von oben
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Die damit suggerierte und zugleich stereotype Kontextualisierung ist zwar im Sinne des Architekten, der über das Museum gesagt hat: »C’est un musée bâti autour d’une collection. Où tout est fait pour provoquer l’éclosion de l’émotion portée par l’objet premier«.87 Während Nouvel damit auf die Einbettung der Ausstellungsstücke in ihren Kontext abhebt, der besonders in der Ausgestaltung des Gebäudes und der Parkanlage des Quai Branly erkennbar werden sollte, kann sein Verweis auf die »éclosion de l’émotion« jedoch auch als ein Indiz für die eigentliche Ausrichtung der Architektur gesehen werden: Anstatt eine Kontextualisierung zu leisten, die das Dargestellte kritisch thematisiert und ethnologisch einbettet, ging Nouvel davon aus, dass die Objekte der ›arts premiers‹ aus sich heraus sprechen. Diese Auffassung entspricht erkennbar der Bestimmung der ›chefs-d’œuvre‹ durch Kerchache und der fehlenden Kontextualisierung im späteren Museum, auch wenn Nouvel mit seiner Äußerung sicher nicht darauf abgezielt hat. Ein solches Verständnis untermauert jedoch die stereotype Darstellung der außereuropäischen Völker, insofern diese mit Urvölkern und Hüttendörfern assoziiert werden und damit vor allem einem klischeehaften Bild vom kulturell ›Anderen‹ entsprechen. Vor diesem Hintergrund ist erkennbar, dass die Objekte weniger aus sich heraus sprechen als vielmehr die ›eigene‹, französische Sicht auf die ›Anderen‹ als die ›Anderen‹ selbst spiegeln. Die auf die Konzeption des Quai Branly abgestimmte Architektur widerspricht mithin dem Anspruch, eine postkoloniale Perspektive zu reflektieren, die beispielsweise Godelier gewünscht hat. Nicht nur die Architektur mitsamt der Parkanlage lässt an einen Dschungel und mit den in Erdtönen gefärbten Kästen an der Frontfassade an einen ›dunklen Kontinent‹ denken und gleicht mehr einem kolonialen als einem postkolonialen Bild vom kulturell ›Anderen‹. Auch Künstler dieses ›dunklen Kontinents‹, die aus den im Museum gezeigten Kulturen stammen, waren kaum an der Planung und Vorbereitung beteiligt; lediglich die Decke und Fensterrahmen des zum Quai Branly zugehörigen Bürogebäudes an der Rue de l’Université wurden von acht Aborigines eines australischen Künstlerverbands bemalt.88 Darüber hinaus wurden die eigens für den Quai Branly beschafften Ausstellungsobjekte zum Teil illegal gekauft und Bestände von Objekten in außereuropäischen Kulturen geplündert.89 Statt einen postkolonialen Anspruch zu verköpern, entspricht dies vor allem Beziehungen, die von
87 De la Batut, »Le monde sur un plateau«, S. 20. 88 Vgl. Price, Paris Primitive, S. 131-150; Lebovics, »Echoes of the ›Primitive‹ in France’s Move to Postcoloniality«. 89 Vgl. Price, Paris Primitive, S. 67-80; de Roux, »Du bazar aux beaux-arts«. Vgl. Dupaigne, Le scandale des arts premiers, S. 117-134.
3. I DENTITÄTSKONSTRUKTIONEN
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Dominanz und neokolonialen Hierarchien geprägt sind. Das lässt den Schluss ziehen, dass mit den Planungen des Quai Branly diese ungleichen Beziehungen zwischen dem ›Eigenen‹ und dem ›Anderen‹ fortgeschrieben statt aufgekündigt wurden. Wie die vorangegangenen Beobachtungen gezeigt haben, nahm die ästhetische Herangehensweise in der Planungsphase einen größeren Stellenwert als die ethnologische ein. Zwar betonten die Friedman-Kommission, die Planer und der Architekt, ästhetische und wissenschaftlich-ethnologische Perspektiven auf außereuropäische Kulturen und Künste gleichermaßen reflektieren zu wollen,90 und man könnte zudem einwenden, dass der Quai Branly damit als erstes französisches Museum überhaupt die Trennung von Kunst und fremden Kulturen aufzubrechen gesucht hat.91 Doch auch die Dominanz der letztlich abstrakten und ästhetischen Perspektive schlug sich in den Personalentscheidungen und den damit verbundenen Konsequenzen für die Konzeption des Museums deutlich nieder. Dadurch, dass Kerchache die Auswahl der Objekte des Pavillon des Sessions dominierte, verabschiedeten sich sukzessiv zahlreiche Experten nach dem Zerwürfnis mit Godelier aus der Beteiligung an der Vorbereitung des späteren Quai Branly und begleiteten hiermit die Verlagerung von der wissenschaftlichen und ethnologischen Planung auf die ästhetische.92 Zudem bekam Jean Nouvel entgegen der gängigen Museumspraxis nicht nur die Architektur des Gebäudes übertragen, sondern auch die Gestaltung der Vitrinen in der Dauerausstellung. Er ordnete die ethnografische Einordnung der ästhetisierenden Darstellung unter und durchkreuzte damit häufig die Pläne der Kuratoren zur Repräsentation einzelner darzustellender Kulturräume.93 Diese Konzeption schlägt sich auch in der klaren, reinen Ästhetik der ausgestellten Kunstwerke selbst nieder. Sie kommt bereits in der Leitidee des Quai Branly zum Ausdruck, die Lévi-Strauss zufolge darin besteht auszustellen, »tout ce que ces civilisations [extra-européennes; N.P.] ont produit de grand et de beau«.94 Ohne dass jedoch hier oder im Verlauf der Planungsphase Qualitätskri-
90 Die eine Perspektive wird je nach Schwerpunkt als ethnologische – wenn es beispielsweise um die Überwindung der Trennung von Kunst- und Ethnologiemuseum geht – oder als wissenschaftliche begriffen – wenn die konzeptuelle Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern im Vordergrund stehen soll. Vgl. Friedman, Rapport de la Commission, S. 6, 11. 91 Vgl. Dias, »Le musée du Quai Branly: une généalogie«, S. 76. 92 Vgl. zudem Dupaigne, Le scandale des arts premiers, S. 142f. 93 Vgl. Price, Paris Primitive, S. 146f, Dupaigne, Le scandale des arts premiers, S. 99. 94 Mortaigne, »Claude Lévi-Strauss, grand témoin de l’Année du Brésil. Entretien«.
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terien für das definiert worden wären, was »grand« und »beau« ist, wurden Objekte beschaffen und der ästhetischen Anordnung Nouvels unterstellt. Damit geht auch der Umstand einher, dass Objekte kaum näher erläutert und in ihren Kontext eingebettet wurden, wie es beispielsweise Godelier mit seiner Vision vom postkolonial angelegten Museum vorschwebte. Wie zu erkennen ist, kann die Darstellung dieser dialogisch angelegten, aber entkonkretisierten ›Vielfalt‹ der Objekte und Künste dazu führen, dass die Herkunftsgeschichte der Ausstellungsobjekte unberücksichtigt bleibt und zugleich die koloniale Vergangenheit von Chirac zwar erwähnt, aber positiv umgedeutet wird. Schließlich erinnert dieser sich an das Thema weniger aus der Sicht der Kolonialmacht, deren Taten er im Vagen gelassen hat,95 als vielmehr in Besinnung auf die »vocation universelle à la compassion des victimes de l’histoire«.96 Für die Konzeption der ›diversité‹ in den Planungen des Museums lässt diese Umdeutung schlussfolgern, dass die kolonial geprägten Beziehungen zu den außereuropäischen Kulturen und so auch die historischen Ursprünge zahlreicher Ausstellungsobjekte weitgehend ausgeblendet werden zugunsten einer als fragil und daher als förderbedürftig begriffenen ›Vielfalt‹, die eine rein ästhetische Perspektive einnehmen lässt. Diese Herangehensweise an die Darstellung des ›Fremden‹ im späteren Quai Branly konterkariert jedoch die genannten Ansprüche in zweifacher Hinsicht. Die Darstellung der entkonkretisierten, nur in ihrer Ästhetik wahrgenommenen ›Anderen‹, die als fragil und als ehemalige Opfer begriffen werden, wird zum einen dem dialogischen Anspruch der Planungen nicht gerecht. Zwar zielte Viatte als Leiter der Planungskommission noch explizit auf den Kulturendialog, der später auch im Eröffnungskolloquium des Quai Branly diskutiert wurde,97 und den Martin, vorsitzender Direktor der Kommission, anhand des Bildes einer »bridge between the West and the rest of the world« umschrieb.98 Doch der Dialog, der eine gleichberechtigte Kommunikation zwischen dem ›Eigenen‹ und dem ›Anderen‹ impliziert, wurde nicht nur dadurch verunmöglicht, dass in der Umsetzung kaum Repräsentanten der im Quai Branly dargestellten Kulturen und Künste beteiligt waren, sondern auch durch die vorgegebene und festschreibende Ästhetik, die eine offene Verhandlung mit dem ›Anderen‹ nicht erlaubt. Zum anderen wird der Anspruch, eine postkoloniale Perspektive zu reflektieren, von der dominierenden Ästhetik durchkreuzt. Zwar war der Quai Branly als ein postkoloniales Museum mit bald pädagogischem Impetus bestimmt worden,
95 Vgl. Kapitel 3.1.1. 96 De l’Estoile, »L’oubli de l’héritage colonial«, S. 93. 97 Vgl. Latour, Le dialogue des cultures. 98 Brothers, »For some, a museum hits close to the heart«.
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insofern er mit Blick auf den seit der Jahrtausendwende verstärkt betonten Kulturendialog auch als »musée de l’après-11 septembre 2001«99 oder von Godelier als ein »better Musée de l’Homme«100 bezeichnet worden ist. Seine Aufgabe lässt sich jedoch im Hinblick auf die von Chirac formulierte ›leçon d’humanité‹ und seinen Rückgriff auf die ›vocation universelle‹ vielmehr zu einer Art »postcolonial mission civilisatrice« zuspitzen:101 zu einem durchaus zivilisatorischen Anspruch, der im zeitlichen Sinn und im Hinblick auf die Darstellung von ›Vielfalt‹ als postkolonial begriffen werden kann. Diese Anlage vermag zwar, Martins hehre Hoffnung auf das »plus beau musée du monde« zu erklären.102 Dem Anspruch aber, ein tatsächlich postkoloniales Museum zu sein, stehen der zivilisatorische Gedanke und die ästhetisierte Alterität entgegen, die insbesondere in der ersten Wechselausstellung »D’un regard l’Autre« fortgeschrieben wird. 103 Diese Beobachtungen können in der These gebündelt werden, dass in der Entstehungsgeschichte, den Entwürfen und in der Umsetzung des Quai Branly zwei einander durchkreuzende und sich relativierende Intentionen sichtbar werden. Einerseits erfolgt in den Bestimmungen und Planungen des Museums das deutliche Bekenntnis zum Konzept der ›diversité‹ und zum Kulturendialog, womit der Anspruch bestimmt wird, ein Museum zu entwerfen, das eine postkoloniale Perspektive reflektiert. Andererseits sind aber auch humanistisch-kolonial angelegte Bestimmungen und die Auslassung der kolonial beeinflussten Herkunftsgeschichte der Ausstellungsobjekte erkennbar, die dem Anspruch auf einen Dialog und dadurch auf eine offene Verhandlung des ›Eigenen‹ und ›Anderen‹ widersprechen. Es ist in den vorangegangenen Ausführungen deutlich geworden, dass diese Affirmation von ›Vielfalt‹, die sich in der geplanten ästhetischen, entkonkretisierten Darstellung niederschlägt, die zweite kolonial geprägte Perspektive des Quai Branly überlagert und insofern strategisch verstanden werden kann. Diese Widersprüchlichkeiten sind aufschlussreich für den Umgang mit ›Fremden‹ in französischen Identitätsdebatten. Statt Vorurteile abzubauen, neues Wissen über die kulturell ›Anderen‹ bereitzustellen und damit den Dialog zwischen dem ›Eigenen‹ und dem ›Anderen‹ zu fördern, dient die Affirmation des Konzepts ›diversité‹ vor allem dazu, die Heterogenität der ›Anderen‹ harmo-
99
De Roux, »Un public nouveau pour le Quai Branly«.
100 Lebovics, Bringing the Empire back Home, S. 154. 101 Thomas, »The Quai Branly Museum«, S. 147. 102 Dupaigne, Le scandale des arts premiers, S. 183. 103 Vgl. Kapitel 3.1.3.
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nisch zu entschärfen und in das eigene Verständnis zu integrieren. Abschließend kann daher festgestellt werden, dass das Konzept der ›diversité‹ bald nur als ästhetische Grundlage dienen kann, dass es in dieser Verwendung aber offen lässt, wie der vielfach genannte Anspruch, einen Kulturendialog zu verkörpern, tatsächlich und im Hinblick auf die gesellschaftliche Verständigung von ›Eigenem‹ und ›Anderem‹ erreicht werden kann. 3.1.3 Sprachloser Kulturendialog: Die Dauerausstellung und die Wechselausstellungen »D’un regard l’Autre« (2006) und »Planète métisse« (2008/2009) Dass trotz des Ziels, eine universelle wie dialogisch angelegte ›Vielfalt‹ abzubilden, nicht auch das ›Eigene‹ und der Umgang mit ›Fremden‹ in die Dauerausstellung aufgenommen werden sollte, haben bereits die vorangegangenen Beobachtungen gezeigt. Dass dazu auch die Darstellung des Kulturendialogs weitgehend fehlt, findet sich mit Blick auf eben diese Ausstellung bestätigt. Zwar lautet das Motto des Museums, das beispielsweise auch auf der Internetseite des Quai Branly unter dem Museumsnamen gezeigt wird, »Là où dialoguent les cultures«.104 Zudem war der Dialog zentraler Gegenstand des von Bruno Latour geleiteten Kolloquiums »Le dialogue des cultures«, das 2006 anlässlich der Eröffnung des Museums stattfand.105 In der Dauerausstellung, die immerhin als das Kernstück des Museums bezeichnet werden kann, wird der Kulturendialog hingegen nicht thematisiert oder reflektiert. Vielmehr ist das Thema erst in der Wechselausstellung »D’un regard l’Autre« von 2006, mehr aber noch in einer zweiten Wechselausstellung von 2008/2009, der Ausstellung »Planète métisse«, in den Quai Branly aufgenommen und behandelt worden. Aus diesem Grund sollen neben der Dauerausstellung beide Wechselausstellungen Gegenstand der folgenden Analyse sein. Dabei wird es weniger um die vereinfachende Dichotomie von rein ästhetischer und ethnologisch-kontextualisierender Herangehensweise gehen als vielmehr darum, die Narrative herauszuarbeiten, auf denen die Ausstellungen beruhen. Es wird die Frage zu klären sein, ob insbesondere ein vom Okzident her geprägtes Bild des ›Anderen‹ aufgenommen oder ob es vielleicht aufgebrochen wird. Damit soll untersucht werden, ob im Museum Möglichkeiten für einen Kulturendialog gemäß der Losung »Là où dialoguent les cultures« aufgezeigt oder bereit gestellt wurden, um dem bereits
104 Vgl. »Musée du quai branly. Là où dialoguent les cultures«. 105 Vgl. Latour, Le dialogue des cultures.
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genannten Anspruch gerecht zu werden, ein postkoloniales Museum zu realisieren. Die Dauerausstellung jedenfalls widerlegt diesen Anspruch: zunächst in der Einrichtung und Anordnung, die die Anlage des einem ›heart of darkness‹ ähnlichen Gebäudes im Innern aufgreift.106 Nachdem die Besucher einmal dem muschelartig angelegten, halbrunden Weg vom Ticketschalter zum Eingang gefolgt und in das Innere des Museums gelangt sind, finden sie sich auf einem Plateau wieder, auf dem sich neben Informationsschaltern, Eingängen zum Lesesaal und der museumseigenen Mediathek eine dunkle, gläserne Säule befindet. Auf mehreren Etagen verteilt enthält sie Musikinstrumente der im Museum dargestellten Völker und bildet die Reserve des Museums, die gemäß einem Rotationsprinzip regelmäßig Eingang in die Dauerausstellung findet.107 Zur Ausstellung selbst gelangt man über einen neben der Säule befindlichen Aufgang. Dieser ist eine lange Rampe, die in ihrer Spiralform dem Architekten und Innengestalter Nouvel zufolge an eine Schlange oder einen Fluss erinnern lässt und zum Ausstellungsplateau hinaufführt.108 In der Dauerausstellung, die in erster Linie nach Kontinenten unterteilt ist, wird die spiralförmige Anordnung durch eine abgerundete halbhohe Wand aus Leder aufgegriffen, die sich durch die gesamte Ausstellung zieht. Auf Informationstafeln und Bildschirmen, die in die Lederwand eingelassen sind, werden anhand von Texten, Filmen und Interviews weiterführende Informationen zu den dargestellten außereuropäischen Künsten und Völkern gegeben. Zudem wird das Ausstellungsplateau auf der einen Seite durch kleinere, dunkle Räume ergänzt, die vom großen Hauptraum abzweigen und sich in den bereits genannten, von außen zu sehenden farbigen Kästen befinden. Auf der anderen Seite des weitgehend einer Kreisbewegung folgenden Parcours durch die Ausstellung ist durch einige der wenigen schmalen, getönten Fenster der Eiffelturm zu sehen. Insgesamt ist die Dauerausstellung in einem eher dunklen, teilweise schummrigen Licht gehalten, was den Eindruck von etwas weitgehend Abgeschlossenem erweckt. Dem unweigerlichen Dilemma, entweder ›alles‹ oder eine einzelne Kultur exemplarisch auszustellen, ist der Quai Branly mit einer doppelten Darstellungsform begegnet. Zunächst ist die Dauerausstellung in Sektionen unterteilt, die durch verschiedenfarbige Böden deutlich voneinander abgegrenzt sind und den
106 Zur Konzeption des Gebäudes als eines ›heart of darkness‹ vgl. Kapitel 3.1.2. 107 Zur Säule vgl. Viatte, »D’ailleurs et d’aujourd’hui«, S. 28. Zum Rotationsprinzip vgl. außerdem »Le plateau des collections«. 108 Vgl. Viatte, »D’ailleurs et d’aujourd’hui«, S. 29; auch Price, Paris Primitive, S. 145f.
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einzelnen Weltregionen entsprechen, von denen Europa ausgenommen ist: Ozeanien, Asien, Afrika, die beiden Amerika. Die gezeigten Objekte wie Pfeifen, Statuen oder Schmuckstücke sind größtenteils in gläsernen Vitrinen angeordnet, die mit kleinen Hinweisschildern zu den Objekten versehen sind, und werden an manchen Stellen durch besonders ausgesuchte Objekte ergänzt, die außerhalb und zwischen den Glasvitrinen exponiert sind. Zu Beginn eines jeden den Kontinenten zugeordneten Ausstellungsteils macht eine Weltkarte die geographische Einordnung der Kulturräume möglich. Darüber hinaus behandelt die Ausstellung entsprechend der Orientierung am ethnologischen Strukturalismus nach Lévi-Strauss transkulturelle Muster, insofern die Ausstellungsobjekte innerhalb der Sektionen, die den verschiedenen Weltregionen zugeordnet sind, weitgehend nach übergreifenden Mustern wie beispielsweise den Entgegensetzungen ›absence‹ und ›présence‹ oder ›rupture‹ und ›continuité‹ angeordnet sind. Die zweigleisige Anordnung der Ausstellungsobjekte nach transkulturellen Mustern und nach Kulturräumen lässt allerdings einen Aspekt marginal erscheinen: die Unterschiede zwischen einzelnen Ländern oder zeitlichen Epochen. Die Informationsschilder auf den sich aneinanderreihenden Vitrinen sind recht klein und tief angebracht und zudem wegen der Spiegelung oder der Dunkelheit in der Ausstellung teilweise kaum lesbar, sodass regionale oder zeitliche Unterschiede kaum bemerkt werden. Zugleich enthalten die Schilder keine Informationen, die über die Verwendung oder die Erwerbsgeschichte der gezeigten Objekte informieren würden. Dass Informationen zur Erwerbsgeschichte fehlen, ist symptomatisch für die Dauerausstellung und durchaus nicht unerheblich. Denn ein Großteil der exponierten Objekte stammt aus der Kolonialzeit und wurde von Vertretern der Kolonialmacht Frankreich oft gewaltsam entwendet. Dieser nicht zu unterschätzende historische Kontext bleibt in der Dauerausstellung allerdings weitgehend unberücksichtigt. Zwar informieren manche der in die Lederwand eingelassenen Texttafeln und Bildschirme über die Zeit der kolonialen Eroberungen, doch sie erläutern die historischen Umstände mehr in abstrakter Weise als in konkretem Bezug auf die ausgestellten Objekte und die damit abgebildeten Völker und Kulturen. Darüber hinaus werden die Informationen auf den Texttafeln und Bildschirmen aufgrund ihrer Anordnung in der Ledermauer, die die Ausstellung eher im Sinne eines ›roten Fadens‹ zu strukturieren als sie an geeigneten Stellen zu ergänzen scheint, zu Randinformationen, vor denen nur wenige Besucher verweilen. Die Vorgeschichte, die Kolonialzeit und auch die Sklaverei bleiben in der Dauerausstellung weitgehend unberücksichtigt – dies, obwohl zumindest Godelier noch den Anspruch formuliert hat, ein postkoloniales Museum einzurichten.
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Vor diesem Hintergrund ist erkennbar, dass die Auslassung von Informationen zur Kolonialzeit keine zeitlich-historische Einordnung der ausgestellten Objekte und der damit abgebildeten Völker ermöglicht. Einerseits werden auf den Informationsschildern an den Vitrinen nicht für alle gezeigten Kunstwerke die Jahreszahlen der Entstehung angegeben.109 Andererseits bestehen zwischen den verschiedenen Objekten und den durch sie repräsentierten Kulturen durchaus zeitlich bedingte Unterschiede, und es werden in manchen Vitrinen wie in einer Vitrine mit Grabmälern große zeitliche Sprünge vollzogen, was dem vergleichsweise homogenen zeitlichen Kontext der restlichen ausgestellten Objekten entgegensteht was nicht zuletzt aufgrund der kleinen Hinweisschilder kaum erkennbar ist. Darüber hinaus ist auch erst später bemerkbar, dass wichtige zeitliche Epochen wie die des alten Ägyptens und Mesopotamiens gar nicht ausgestellt werden.110 Diese Auslassung frappiert, wenn man berücksichtigt, dass Objekte aus dem Alten Orient dagen im Louvre ausgestellt sind, insofern diese Auslassung das eine Unterscheidung zwischen ›Hochkultur‹, die in der europäischen Kultur maßgeblich verankert ist und so auch im Louvre berücksichtigt wird, und den zeitlich nicht näher bestimmten ›arts premiers‹ im Quai Branly implizieren mag. Man kann vor diesem Hintergrund sagen, dass in der Dauerausstellung ein, wie de l’Estoile es formuliert hat, »écrasement de la temporalité« erfolgt111 – das, obwohl selbst Chirac noch die Notwendigkeit betonte, den historischen Kontext der außereuropäischen Künste und Kulturen zu berücksichtigen.112 Der fehlenden zeitlichen Einordnung der Kunstwerke steht der Eindruck von prähistorischen Völkern erkennbar entgegen. Die gesamte Inszenierung mitsamt des schummrigen Lichts, das in manchen der separierten Kästen außereuropäische Masken gruselig aussehen lassen, sowie der in rötlichen und braunen Tönen voneinander abgegrenzten Kulturräume erzeugt die Vorstellung von Völkern, die als vorzeitig und aus der Zeit gefallen begriffen werden könnten. Es scheint, als ob die lauten Hintergrundgeräusche, die aus manchen Räumen oder zwischen manchen Vitrinen als nicht näher erklärte Rufe, Gesänge oder auch Rasseln, Geklapper und Rauschen ertönen, den Eindruck von etwas ›Ursprünglichem‹ oder
109 Wo sie wiederum angegeben sind, ist mit einem genauen Blick zu erkennen, dass die meisten der Objekte aus dem 19. und meist frühen 20. Jahrhundert stammen und damit einen vergleichsweise kurzen Zeitraum umfassen, was den Anspruch auf eine zeitlich umfassende Darstellung der ›fremden‹ Künste erkennbar konterkariert. 110 Vgl. Bernand, »Aimer Branly«. Zur vielfach kritisierten, fehlenden Kontextualisierung vgl. auch Desvallées, Quai Branly: un miroir aux alouettes?, S. 143-162. 111 De l’Estoile, »L’oubli de l’héritage colonial«, S. 96. 112 Vgl. Kapitel 3.1.1.
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›Übernatürlichem‹ entstehen lassen sollen. Als andauernde Geräuschkulisse machen sie das konzentrierte Lesen der ausführlicheren Texte oder das Sehen und Zuhören vor den Bildschirmen in der genannten Lederwand zu einem erkennbar schwierigen Unterfangen. Eine solche a- oder sogar antihistorische Darstellung spiegelt sich auch im Begriff der ›arts primitifs‹, der zum Teil noch immer für die ausgestellten Künste und Kulturen im Quai Branly verwendet wird. Wie erneut de l’Estoile gezeigt hat, lässt dieser Terminus alle historischen Konstruktionen des ›Anderen‹ und seiner Objekte zeitlich zusammenschrumpfen und zu einem ahistorischen ›Anderen‹ werden.113 Den Eindruck von Ahistorizität jedenfalls vermag die Ausstellung der Objekte dadurch, dass sie in der Dauerausstellung zeitlich kaum genau eingeordnet werden, nicht aufbrechen. Diese Beobachtungen können deshalb in der These zugespitzt werden, dass die Ausstellungsobjekte statt kulturell ›Andere‹ in ihren ›fremden‹ Kontexten zu zeigen, als Vehikel einer universellen Ästhetik konzipiert werden, die die eigenen, vom Okzident geprägten Vorstellungen der ›Anderen‹ fort- und festschreiben.114 In diesem Zusammenhang lässt sich auch die Konzentration auf die Ästhetik als zentrales Merkmal der Dauerausstellung erklären. Dass die arabisch-muslimische und die jüdische Welt im Quai Branly vergleichsweise wenig in Erscheinung treten, mag in den vergleichsweise kleinen Beständen begründet liegen, die wiederum unter anderem religiösen Verboten von menschlichen Abbildungen in der muslimischen und jüdischen Religion geschuldet sind. Dieser Umstand kann aber auch auf eine starke Vorsortierung der ausgestellten Kulturen und Künste schließen, die von Mitarbeitern des Quai Branly berichtet wurde.115 In der Asiensektion etwa unterband Nouvel den Vorschlag der verantwortlichen Kuratorin, einen Spiegel hinter einer vietnamesischen Skulptur anzubringen, um den Einschlag amerikanischer Bomben auf der Rückseite der Skulptur zu zeigen, und begründete seine Entscheidung mit dem Erhalt der Gesamtästhetik im Ausstellungsraum. Er ließ auch eine Gottesstatue der Mayas aus einer repräsentativen, gläsernen Nische in eine dunkle Ecke stellen, da die Sicht auf den sich hinter dem Fenster abzeichnenden Eiffelturm frei bleiben sollte. Angesichts solcher Eingriffe ist erkennbar, dass die Ästhetik einer differenzierten wie ausgewoge-
113 Vgl. de l’Estoile, Le goût des Autres, S. 339f. Zur Diskussion des Begriffs vgl. Kapitel 3.1.2. 114 Vgl. hierzu Dias, »Le musée du quai Branly: une généalogie«, S. 77, sowie de l’Estoile, Le goût des Autres, S. 329. De l’Estoile erklärt diese Projektion auf die ›arts lointains‹ als charakteristisch für die Kunst des 20. Jahrhunderts. 115 Dupaigne, Le scandale des arts premiers, S. 79.
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nen Darstellung der kulturell ›Anderen‹ überwiegt und Unterschiede, auch Unterschiede kultureller Art, kaum auszumachen sind. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang der Vergleich mit dem Louvre, in dessen Räumlichkeiten immerhin ein kleiner Teil der außereuropäischen Objekte des Quai Branly ausgestellt ist. So soll die Keramik-Statue Chupicuaro die ambivalente Umsetzung der konzeptuellen Grundlage des Museums exemplarisch zeigen. Die Statue stammt aus Zentralmexiko und ist zwischen dem siebten und dem zweiten Jahrhundert vor Christus gefertigt worden. Sie ist in üppigen, weiblichen Formen gestaltet und in rötlichen Tönen und mit geometrischen Formen bemalt und soll die Fruchtbarkeit der Erde im stetigen Zyklus von Geburt und Tod symbolisiert haben. Bemerkenswerterweise dient sie im Quai Branly als Emblem, ist dort selbst aber gar nicht zu sehen. Stattdessen ist sie im Pavillon des Sessions, der Ausstellung des Quai Branly im Louvre, neben anderen ausgesucht schönen Exponaten ausgestellt. Erklärlich wird dieser Umstand, wenn man berücksichtigt, dass die Chupicuaro kein Objekt der großen ›klassischen‹, außereuropäischen Kulturen und kein aus den für den Quai Branly zusammengelegten Beständen ist, sondern vielmehr in einer Kultur angefertigt wurde, die keine schriftlichen Zeugnisse hinterlassen hat und eigens für den Quai Branly und seine Dependance im Louvre gekauft worden.116 Es ist erkennbar, dass sie damit eher zu den zeitlich stark heterogenen Objekten in der Dependance passt und sich als ausgesucht schönes Exponat in dessen sehr reine Gesamtästhetik einreiht. In Anbetracht der Verwendung der Chupicuaro als Emblem des Quai Branly, die im Motto »Là où dialoguent les cultures« häufig abgebildet ist, erscheint die Eingliederung der Statue in die sehr reine, klare Ästhetik des Louvre weniger plausibel. Denn mit ihr wird der Eindruck von Ahistorizität der Kunstobjekte verstärkt und die außereuropäische Kunst – von den außereuropäischen Kulturen ist ohnehin keine Rede mehr – endgültig durch eine okzidentale Brille betrachtet. In diesem Kontext ist auch kaum erklärlich, dass die im Pavillon des Sessions gezeigten Objekte eine größere Zeitspanne umfassen als der Großteil der Objekte im Quai Branly, dies aufgrund der fast puristischen Anordnung der Objekte in gläsernen, relativ weit voneinander entfernten Vitrinen von Besuchern jedoch nicht bemerkt wird. Das erscheint besonders paradox, insofern gerade für den Quai Branly beansprucht wird, die ›Vielfalt‹ der außereuropäischen Künste und Kulturen zu zeigen, die eine zeitliche ›Vielfalt‹ und eine differenziell bestimmte ›Vielfalt‹ der Unterschiede zwischen den Objekten einschließen würde, aber auch insofern die außereuropäischen Kulturen neben den aus ihren Kulturen her-
116 Vgl. de l’Estoile, Le goût des Autres, S. 369f. Vgl. »La Chupicuaro«.
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vorgegangenen Kunstwerken kaum berücksichtigt werden. Vielmehr scheint es, als ob der Quai Branly eher zu einem Kunst- als einem Kunst- und Kulturenmuseum geworden ist. Abbildung 4: Die Statue Chupicuaro
Dieser Eindruck von der Dauerausstellung steht der konzeptionellen Ausrichtung des Quai Branly, für den die Abbildung von ›Vielfalt‹ beansprucht worden ist, erkennbar entgegen. Zwar muss man berücksichtigen, dass mit der Entstehung der modernen Ethnologie zum Beginn des 20. Jahrhunderts und der gleichzeitigen Ausdifferenzierung zwischen ethnologischer und ästhetischer Darstellungsweise fremder Kulturen auch ethnologische Museen zunehmend Verfahren aus Kunstmuseen angewendet haben.117 Zugleich aber scheint es, als ob die Repräsentation von ›Vielfalt‹ im Quai Branly zum einen die Grenzen des Konzepts aufzeigt, die bereits in Bezug auf die französischen und frankophonen Identitätsdebatten untersucht wurden: die Grenzen, die in der Schwierigkeit bestehen, kulturelle Unterschiede zwischen verschiedenen Formen von Alterität zu berücksichtigen und Alterität anders als differenziell und abgegrenzt vom eigenen Identitätsverständnis begreifen und darstellen zu können. Zudem verdeutlichen die vorangegangenen Beobachtungen, dass die Darstellung der kulturell ›Ande-
117 Vgl. De l’Estoile, Le goût des Autres, S. 35, 293-304.
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ren‹ womöglich kaum anders als in einer okzidentalen Perspektive möglich ist, die sich schon in der Form des Museums mitsamt seiner gläsernen Vitrinen zeigt, sowie in einer sehr ästhetisierenden, dem Ursprungskontext enthobenen Weise, die das kulturell ›Andere‹ nur als ein ›exotisches Anderes‹ begreifbar macht. Darüber hinaus ist dem in der Planungsphase definierten Anspruch Staunen auszulösen in gewisser Weise gerecht geworden, weniger jedoch den ebenfalls genannten Ansprüchen, ein postkoloniales Museum einzurichten, das eine umfassende historische und gesellschaftskulturelle Einbettung der Exponate einschließen würde. Die Widersprüchlichkeiten im Quai Branly, die im Pavillon des Sessions geradezu beispielhaft kulminieren, sind damit deutlich geworden. Ob dieser Eindruck von der Darstellung einer ›exotischen Fremdheit‹ in der Dauerausstellung des Quai Branly in anderen Ausstellungen aufrechterhalten wird, bleibt zu untersuchen. Während die manchmal als Themenpark, als ›Disneyland‹ bezeichnete Dauerausstellung118 einen exotistischen Blick beizubehalten und ihre deutliche Abgrenzung der ›fremden‹ Künste und Kulturen die Auslassung Europas in der Darstellung erlaubt, wurden Europas Blick auf die Welt und seine Rolle in der Welt mit der Wechselausstellung »D’un regard l’Autre« ins Museum geholt. Bereits kurz nach der Eröffnung des Quai Branly fand sie unter der Leitung von Yves Le Fur von September 2006 bis Januar 2007 statt. Da sie als programmatische Ausstellung gilt und durch den Gegenstand ihrer Betrachtung, ihre europäische Perspektive und die Rolle in der Verhandlung außereuropäischer Alterität für diese Untersuchung interessant ist, wird sie im Folgenden Gegenstand der Analyse sein. Wie es im Katalog und in der Presseerklärung zur Ausstellung heißt, sollte die programmatische Wechselausstellung als ein »[v]éritable manifeste« angelegt und als »point de départ« fungieren.119 Denn Martin zufolge, dem heutigen Präsidenten des Quai Branly, sollte die Ausstellung dazu dienen, die ›vocation‹ des neuen Museums zu untermauern, das sich selbst als eine kleine Etappe in der Geschichte der Blicke des Okzidents auf kulturelle Alterität begreife, und sie sollte damit erkennbar die konzeptuelle Ausrichtung des Quai Branly zu konkretisieren helfen. Während es sich allerdings in der Presseerklärung zur Ausstellung vom August 2006 zunächst noch so anhörte, als ob eine »réflexion originale sur l’altérité« erfolgen sollte,120 bestimmte Martin im Vorwort des im selben Jahr veröffentlichen Ausstellungskatalogs das Ziel der Ausstellung dezidiert als ein
118 Vgl. Desvallées, Quai Branly: un miroir aux alouettes?, S. 149; Chaslin, »L’arche de Nouvel et le mythe du cargo«, S. 41. 119 Vgl. »D’un regard l’autre«; »Exposition temporaire. D’un regard l’autre«. 120 »Exposition temporaire. D’un regard l’autre«, S. 2.
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okzidentales: Wie er erläuterte, sollte darin die »manière dont les Européens ont regardé les autres peuples et les autres arts« gezeigt werden.121 Der Blick – der europäische – und der Gegenstand der Wechselausstellung – die ›Anderen‹ und die Kunst der ›Anderen‹ – wurden damit zwar definiert. Es bleibt jedoch fraglich, ob mit diesem Ziel, das durch die zusätzlich durch die Verbform in der Vergangenheit, »ont regardé«, auf eine vorgeblich abgeschlossene Geschichte des europäischen Blicks bezogen ist, am Ende und mit Blick auf die Dauerausstellung mit der zuvor genannten Reflexion zu kultureller Alterität einhergehen kann. Es muss im Folgenden also untersucht werden, ob die bereits skizzierte homogenisierende Verhandlung kultureller Alterität und mit ihr das Bild des ›Eigenen‹ in dieser und womöglich auch in der zweiten zu besprechenden Wechselausstellung aufgekündigt oder ob vielmehr das stark ahistorisch geprägte Bild dieser differenziell bestimmten ›Anderen‹ fortgeschrieben wird. Im Blick auf diese Fragen ist das, was in der Wechselausstellung erzählt wird und wie es erzählt wird, aufschlussreich. Dabei frappiert besonders, dass die gesamte Ausstellung einer historischen Chronologie folgt, die als Gegenentwurf zur vielfach konstatierten Atemporalität der Dauerausstellung begriffen werden kann. Umfassend von der Renaissance bis heute zeichnet die Ausstellung mit zahlreichen vielfältigen Objekten, die Geschichte des europäischen Blicks auf Afrika, Amerika und Ozeanien nach.122 Wie Le Fur erklärt, nähere sich die Ausstellung der außereuropäischen Kunst keinesfalls auf herkömmliche Weise. Vielmehr entkopple sie diese Kunst vom alleinigen ethnografischen Anspruch und verorte sich an der Schnittstelle zwischen schönen Künsten, Kunstgewerbe und Volkskunst. Dadurch erlaubt es die Ausstellung Le Fur zufolge, ein Tableau anzufertigen, das Einzel-, Kollektiv-, Kunst- oder Mentalitätsgeschichten umfasst, und kann, indem verschiedene und differenzierte Blicke auf die außereuropäischen Künste geworfen werden, zu einer Relativierung des eigenen Blicks führen. Die so verstandene Darstellung hat allerdings weniger das Ziel, eine Epoche umfassend wiederzugeben, als vielmehr ein Gefühl für die jeweilige historische Zeit zu stiften, die dem Besucher eine mögliche, gleichwohl okzidentale Interpretationsweise des ›Anderen‹ anbietet.123 Diese von Le Fur definierte Zielsetzung für die Wechselausstellung vermittelt nicht nur einen Eindruck dessen,
121 Martin, »[Préface]«, S. 8. 122 Die Auslassung Asiens und des gesamten Mittelmeerraumes erklärt Le Fur damit, dass sie zu weitläufig seien und schon seit sehr langer Zeit in Kontakt mit dem Okzident gestanden hatten, während die anderen drei großen Regionen von Europa aus über den Seeweg erkundet wurden. Vgl. Le Fur, »Songes d’horizons«, S. 13. 123 Le Fur, »Songes d’horizons«, S. 12-15.
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was in der Wechselausstellung gezeigt werden kann und was sie bezwecken soll. Sie erlaubt auch die Überlegung, ob mit den ›vielfältigen‹ Lesarten die ›Anderen‹ als zwar vielfältig, aber auch homogene Verkörperungen des ›Fremden‹ schlechthin dargestellt werden. Eine Antwort darauf sollen die folgenden Überlegungen geben. Um das von Le Fur skizzierte vielschichtige Tableau zu erstellen, ist die Ausstellung in fünf, chronologisch aufeinander folgende Abschnitte unterteilt, die jeweils weitere Unterabschnitte einzelnen Themen oder auch nur einzelnen Objekten widmen. Mithilfe des Leitmotivs des Seewegs, auf dem die außereuropäischen Künste sukzessive entdeckt, nach Europa gebracht und kategorisiert, angeeignet und ausgestellt wurden,124 widmet sich der erste Ausstellungsabschnitt mit dem Titel »Le théâtre du monde« der Zeit zwischen 1500 und 1760. Es werden einerseits Bilder des ›Anderen‹, andererseits Wunderkammern, in denen Objekte des ›Anderen‹ zusammengetragen wurden, behandelt und besonders die Entdeckungen in Afrika und Amerika thematisiert. Der zweite Ausstellungsteil, »L’histoire naturelle du monde«, diskutiert die Entdeckungen im pazifischen Raum, während sich der dritte Abschnitt, »Le Grand Herbier du monde« umfassenderen Sammlungen und ersten wissenschaftlichen Institutionen zwischen 1800 und 1850 widmet. Schließlich geht die vierte Sektion »La Science des peuples« auf die Aufnahme der außereuropäischen Völker in die Anthropologie ein und erläutert die Begriffe des ›Welttheaters‹ und der ›Naturgeschichte‹ sowie den Begriff der ›Wissenschaft der Völker‹ als jeweils historisch dominierende kulturelle und epistemische Formen der Reaktion auf zeitgenössische Globalisierungsphänomene und der Erschließung des ›Fremden‹. Der letzte Ausstellungsteil widmet sich allein dem ästhetischen Blick auf das ›Fremde‹ und zeigt im noch einmal hundert Jahre umfassenden, mit »Mutation esthétique« betitelten Abschnitt, wie Künstler und Intellektuelle, unter ihnen Pablo Picasso, Henri Matisse und Guillaume Apollinaire, die Herangehensweise an außereuropäische Künste endgültig verändert und ihnen einen Platz im europäischen Kunstdiskurs gesichert haben. Betrachtet man die in der Ausstellung vorgenommene Verlagerung von der epistemischen zur wissenschaftlichen und vor allem künstlerischen Erschließung der ›fremden‹ Welt, kann man bereits feststellen, dass diese Verlagerung andere fremde Phänomene wie alltagskulturelle Stereotype gänzlich unberücksichtigt lässt.
124 Zum Aspekt des Seewegs, »[c]et espace à franchir«, Le Fur, D’un regard l’autre, S. 16.
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Die »richesse« und der »intérêt incontestable […]«,125 die André Desvallées der Ausstellung in einer Monografie zum Quai Branly bescheinigt hat, sind an der Fülle und Bandbreite der in der Wechselausstellung gezeigten Objekte gut zu erkennen. Darin wurden neben Holzreliefs, Wandteppichen und Porzellan Gemälde und Zeichnungen gezeigt und im Ausstellungskatalog abgedruckt. Begleitet wurde das von einem separat gedruckten Ensemble aus etwa 150 ethnografischen Fotografien, der als einer der »points forts« der Wechselausstellung bezeichnet worden ist.126 Die in der Ausstellung gezeigten Objekte verweisen vor allem auf die künstlerischen Aneignungen und Umsetzungen außereuropäischer Kunstprodukte durch europäische Künstler. So zeigt die Ausstellung beispielsweise, dass Jean Frédéric Waldeck in seinem Gemälde »Ariane«, das in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden ist, den Theseusmythos in die Mayastadt Palenque verlegte, dass umgekehrt Théodore Chassériau in seiner »Étude d’un Noir nu« den ›Anderen‹ in michelangelesker Manier in die europäische Kunst der Mitte des 19. Jahrhunderts übertragen hat und dass zudem das »Théâtre des Voyages et des ›Actualités« im plakatartigen Stil des ausgehenden 19. Jahrhunderts gestaltet wurde.127 Es wird in der Ausstellung auch gezeigt, wie mit der Aneignung außereuropäischer Motive in der europäischen Kunst versucht wurde, dem Geschmack des französischen Publikums zu entsprechen. So erklärt der Ausstellungskatalog, wie das ausgestellte Panorama »Les sauvages de la mer pacifique« dem bourgeoisen Bedürfnis nach Exotismus nachkam, indem es eine fremde Landschaft und ›fremd› aussehende, zum Teil leicht bekleidete Menschen zeigt.128 Die historische Veränderlichkeit der europäischen Blicke wird in der Ausstellung besonders anhand der Figur des ›Wilden‹ gezeigt. Er symbolisierte ebenso Animalität und Brutalität wie Kraft, Unschuld und Fruchtbarkeit.129 Die aus dieser Zeit stammenden, allesamt in Europa gefertigten Darstellungen vom
125 Desvallées, Quai Branly: un miroir aux alouettes?, S. 139. 126 De Roux, »Révélations de la photographie ethnographique«. 127 Vgl. Le Fur, D’un regard l’autre, S. 158, S. 217 und S. 230f. 128 Vgl. ebd., S. 176f.; zu den mehr europäischen und weniger polynesischen Zügen dieses Bildes vgl. auch Kaeppler, »La danse polynésienne, dialogue interculturel«. 129 In der Ausstellung wurden für die Zeit der Renaissance noch weitere emblematische Figuren genannt wie der Kannibale, der Maure oder der Botschafter, auf die hier jedoch nicht näher eingegangen wird. Vgl. Le Fur, D’un regard l’autre, S. 38-45. Zur Entgegensetzung und Ausgestaltung des Mythos vgl. ebd., S. 24. Zur Darstellung des ›Wilden‹ in der Renaissance vgl. Viatte, »Le sauvage, homme sylvestre à la Renaissance«.
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›Anderen‹ bzw. ›Wilden‹ auf Glas, Teppichen, Holzreliefs oder Skulpturen geben ein Bild wieder, das auf der Entgegensetzung von Natur und Kultur beruht und Ende des 17. Jahrhunderts im Zuge des aufkommenden kartografischen Interesses in Kunst und künstlerischen Produktionen aufgenommen worden ist. In der Ausstellung wird das anhand der Figur der »Éve anatomique« gezeigt. Sie symbolisierte in der Renaissance Eva und zugleich, wie Françoise Viatte aufgezeigt hat, den ›Wilden‹; darüber hinaus symbolisierte sie Fruchtbarkeit. Ihr Bauch ist mit einer Klappe versehen, die geöffnet werden kann und hinter der sich die menschlichen Organe und der anatomische Aufbau vom Hals bis zum Lendenbereich verbergen. Sie zeugt damit von einem noch zaghaften wissenschaftlichen Versuch aus der Zeit der Renaissance, das anatomische Innenleben von Menschen begreifen und darstellen zu wollen.130 Dagegen weisen andere Abbildungen der gleichen und sich anschließenden Zeit, die in der Ausstellung auf die »Éve anatomique« folgen, schon den Anspruch auf, ein differenzierteres Bild vom ›Anderen‹ zu zeichnen. William Hodges beispielsweise versuchte in Rötelzeichnungen der 1770er Jahre, den ›Anderen‹ als einen Menschentypus und zugleich als Individuum darzustellen.131 Wiederum andere Zeichnungen der Zeit versahen den ›Anderen‹ mit ›exotischen‹ Attributen, wie das Bild einer tanzenden Tahitianerin in Anlehnung an den paradiesischen Mythos vom Garten Eden in der Ausstellung verdeutlicht.132 Diese doppelte Bewegung von Ausdifferenzierung einerseits und einer Fortschreibung des Stereotyps des ›Wilden‹ andererseits zog sich der Ausstellung zufolge durch die folgenden Jahrhunderte. Aquarelle von Léonce Angrand aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die traditionelles Leben in Peru nachzuzeichnen suchten, und Kreide- und Rötelzeichnungen, in denen Jules Émile Saintin und Charles Bird King Körperstudien von Indianern als weitere Ausgestaltung des ›Wilden‹ anfertigten,133 zeugten von dem Interesse, differenzierter und vor dem Hintergrund der Rassenlehre und der Phrenologie auch wissenschaftlich zu erfassen. Die Ausstellung belegt dies anhand dunkelhäutiger Torsos aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, unter denen sich auch die sogenannte »Vénus africaine« befindet, eine, wie Experten vermuten, im Jahr 1851 in Frankreich realisierte Büste von Charles Cordier, die im 19. Jahrhundert neben anderen Büs-
130 Vgl. Le Fur, D’un regard l’autre, S. 96. Vgl. Viatte, »Le sauvage, homme sylvestre à la Renaissance«, S. 35. 131 Vgl. Le Fur, D’un regard l’autre, S. 112f. 132 Vgl. ebd., S. 114f, 122, 124. 133 Vgl. ebd., S. 168-170.
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ten vom Muséum d’histoire naturelle erworben worden ist.134 Darüber hinaus wurde das Stereotyp des ›wilden Anderen‹ stark allegorisiert und in Entgegensetzung zu Europa aufgenommen und umgesetzt. Das verdeutlicht die Ausstellung beispielsweise mithilfe der Porzellanfigur »L’Europe et l’Amérique« von Claude Le Boitteux aus der Mitte des 18. Jahrhunderts. Sie zeigt die Figur Europas reich gekleidet und auf einem Pferd sitzend, während die Allegorie der neuen Welt lediglich mit einem Federrock bedeckt und in Begleitung einer Eidechse neben ›Europa‹ steht.135 In dieser dichotomen Darstellungsweise rekurrierte die Porzellanfigur auf die schon in der Renaissance vorhandene Entgegensetzung von Kultur und Natur. Auch die nachfolgenden Ausstellungsteile, »La Science des peuples« und »Mutation esthétique«, die die Zeit seit der Mitte des 19. Jahrhundert abbilden, folgen der doppelten Bewegung von Ausdifferenzierung einerseits und von Fortschreibung des Stereotyps vom ›Wilden‹ andererseits. Dabei fungiert insbesondere dieses Stereotyp als Hintergrundfolie für die weitere Ausstellung. Erläutert wird dies anhand der Figur der Schlangenbeschwörerin im gleichnamigen Bild von Henri Rousseau von 1907, das die ›Anderen‹ durch die Wahl des Motivs, die Schlangenbeschwörerin, mit ›exotischen‹ Attributen versehen hat.136 In dieser Form von ›Wildheit‹ erscheint der ›Andere‹ in der Ausstellung zudem in den ausgestellten Fotografien der Künstlergruppe Die Brücke im Atelier »de l’homme sauvage«. Darin wird der ›Wilde‹ als dunkelhäutiger, nackter, tanzender oder posierender Mann gezeigt, dem der Eindruck von Primitivität und Vorzeitigkeit anhaftet. Indem die Ausstellung diese Fotografien ausstellt, verdeutlicht sie erkennbar, wie in der Kunst des beginnenden 20. Jahrhunderts der ›Andere‹ mit stereotypen Bildern versehen wurde, und wie der Name des Ateliers dieses Stereotyp zusätzlich unterstreicht.137 Die historische Abfolge fortführend zeigt die weitere Ausstellung für das 20. Jahrhundert einen noch immer wissenschaftlichen und zunehmend ästhetischen Umgang mit dem ›Anderen‹, der noch oft vom Rekurs auf den stereotypenartigen ›Anderen‹ geprägt war. Die Kolonialausstellungen der 1920er und 1930er Jahre werden thematisiert und als Ausdruck des zeitgenössischen Kunstmarktes gedeutet. Daneben werden stellvertretend für das frühe 20. Jahrhundert Fotografien des Amerikaners Man Ray ausgestellt, die die kreative Aneignung und Vermischung von europäisch geprägter surrealistischer Kunst und außereuropäi-
134 Vgl. ebd., S. 224f. 135 Vgl. ebd., S. 137. 136 Vgl. ebd., S. 270f. 137 Vgl. ebd., S. 286f.
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schen Kunstobjekten symbolisieren sollen. Benoît de l’Estoile hat in Bezug auf die Surrealisten ergänzend argumentiert, dass diese in ihrer Thematisierung des ›kulturellen Fremden‹ vor allem auf die Funktion der Objekte abzielten, die diese im okzidentalen Kontext eingenommen haben, und weniger auf deren Rolle im ursprünglichen Kontext. 138 Wie die vorangegangenen Beobachtungen erkennen lassen, trifft die zunehmend ästhetisierende Herangehensweise in der künstlerischen Aneignung außereuropäischer Motive, die in der Ausstellung für die Zeit seit dem frühen 20. Jahrhundert behandelt wird, auch auf die Darstellungsform in der Wechselausstellung selbst zu. Das zeigt sich besonders daran, dass die Objekte exponiert werden, ohne dass weitere Erklärungen gegeben würden. Zwar erläutert Adrienne L. Kaeppler in einem kleinen Aufsatz im Ausstellungskatalog Objekte in ihrem kulturellen Kontext und erklärt beispielsweise, dass der Hüftschwung im polynesischen Tanz von unwissenden europäischen Beobachtern als erotisch aufgeladen verstanden wird, dass jedoch die Hände als eigentliches Ausdrucksmittel des Tanzes fungieren.139 Was an diesen Erläuterungen frappieren kann, ist der Umstand, dass sie in einem kleinen Text erscheinen, der die Ausstellung begleitet, nicht aber als Erklärung der gezeigten Bilder und Objekte selbst dienen. Damit steht der reichhaltigen, an Objekten vielfältigen Ausstellung erkennbar entgegen, dass jegliche Erklärungen zu den Objekten oder deren Einordnungen in die Ursprungskultur fehlen. Obwohl die Wechselausstellung auch noch durch das genannte Ensemble an ethnografischen Fotos begleitet wird, die seit dem 20. Jahrhundert zunehmend als Kunstwerke betrachtet worden sind,140 überwiegt der Eindruck einer ästhetisierenden Darstellungsweise. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die klare, fast sterile Anordnung der Ausstellungsobjekte, die, wie Desvallées erklärt, der hellen, sauberen Darstellung im Pavillon des Sessions gleich gekommen ist.141 Diese Beobachtungen lassen sich schließlich in der These bündeln, dass »D’un regard l’Autre« weitgehend die Art der Repräsentation aus der Dauerausstellung im Quai Branly übernommen hat. Denn indem die Wechselausstellung in der durchaus plausiblen und sinnvollen chronologischen Anordnung die künstleri-
138 Vgl. Le Fur, D’un regard l’autre, S. 320-335; de l’Estoile, Le goût des Autres, S. 329. 139 Vgl. Kaeppler, »La danse polynésienne, dialogue interculturel«. 140 »D’un regard l’Autre«. Vgl. »D’un regard l’Autre. Photographies du XIXe siècle« und Musée du quai Branly, D’un regard l’Autre. Photographies XIXe siècle; vgl. auch de Roux, »Révélations de la photographie ethnographique«. 141 Vgl. Desvallées, Quai Branly: un miroir aux alouettes?, S. 139f.
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sche Aneignung und Umsetzung behandelt hat, hat sie sich im Zuge der nicht ganz unproblematischen Frage, wie ethnologische und ästhetische Darstellung des ›kulturell Anderen‹ gewichtet werden, für die ästhetische Wahrnehmung, Deutung und Verhandlung des ›Anderen‹ entschieden. Wie die vorherigen Ausstellungsteile entspricht der letzte Teil »Mutation esthétique« dieser ästhetischen Gesamtperspektive in doppelter Hinsicht: ebenso auf der Ebene der gezeigten Objekte wie auf der Ebene der Repräsentation. Was dabei erstaunt, ist der Umstand, dass die europäische Kunst des 20. Jahrhunderts darin explizit als universell ausgewiesen wird, insofern die Ausstellung in diesem letzten Teil mit einer Sektion zum »Universalisme« endet. Denn während in der Ausstellung zuvor noch die europäischen Blicke auf den ›Anderen‹ als historisch wandelbar gezeigt wurden, konterkariert hier die nun universelle Bestimmung dieser Blicke den Anspruch, die historische Relativität der Blicke zu repräsentieren. Die Sektion widmet einen Teil den modernen Künstlern Henri Matisse und Pablo Picasso, einen weiteren den so genannten »Regards universels«. Der Rekurs auf Matisse und Picasso soll hier verdeutlichen, wie die außereuropäischen Künste durch die okzidentale Kunst der Moderne anerkannt wurden. Wie Le Fur erklärt, besteht eine große Ähnlichkeit zwischen moderner und ›primitiver‹ Kunst, die in der Wechselausstellung anhand von Matisses Werk »Polynésie, le ciel« verdeutlicht werden soll. So ist beispielsweise die Collage, die die künstlerische Umsetzung Matisses seiner Eindrücke von Polynesien zeigt, in der Ausstellung neben der »Sculpture de Nevimbumbao« ausgestellt. Die Statue aus Vanuatu ist ein Geschenk von Matisse an Picasso, das der Maler allerdings zunächst ablehnte und erst später in den Bestand seines kalifornischen Ateliers aufnahm. Die bunte, weibliche Figur, die aus Holz, Pflanzenfasern, Farbpigmenten und Tierzähnen besteht, erinnerte Matisse an die Werke Picassos, wie der Erläuterungstext in der Ausstellung ergänzt.142 Es ist bemerkenswert, dass das Objekt in der Ausstellung gezeigt und der Grund der Schenkung von Matisse an Picasso hier erzählt wird. Denn da es mit Picasso in Verbindung gebracht und in der Ausstellungssektion »Regards universels« ausgestellt ist, kann man auf die dahinterliegende Vorstellung des Museums schließen. Es scheint, als ob die ›Universalität‹ von ›moderner‹ und ›primitiver‹ Kunst hervorgehoben werden soll, insofern die Ausstellung an dieser Stelle ohne Erläuterung auskommt und die unterschiedlichen zeitlichen und räumlichen Entstehungskontexte nicht weiter beachtet, sondern vielmehr die Ähnlichkeit zwischen beiden Objekten ausstellt.
142 Vgl. Le Fur, D’un regard l’autre, S. 340f.
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Konkreter wird dieses Kunstverständnis in einem kleinen die Rubrik einleitenden Text. Darin heißt es unter Verweis auf das Musée imaginaire von André Malraux:143 »Les arts devaient être réunis pour tendre vers l’Universel. Les arts primitifs rejoignirent les arts sacrés des grandes civilisations. La question du chef-d’œuvre universel se posa en dehors des critères esthétiques de leurs auteurs rarement recueillis sur le terrain.«144
Den Gedanken von Malraux, dass die Kunst ›universelle‹, da allen Menschen gemeinsame und gleichsam ästhetische Empfindungen wachruft, greift die Ausstellung demzufolge auf und spinnt ihn fort, indem sie den Künsten, auch den ›arts primitifs‹, das Streben hin zu etwas, was Malraux als ›universell‹ definiert hat. Diese Beschreibung ist aufschlussreich: Insofern die Wechselausstellung auf diese Malraux’sche Definition rekurriert und die ›chefs-d’œuvre‹ als universell ausweist, erinnert sie an den Anspruch Kerchaches, die Objekte der Dauerausstellung des Quai Branly von ›ethnografischen Übersetzungen‹ befreit auszustellen, und zugleich an Godeliers Wunsch, ›chefs d’œuvre‹ zu präsentieren, ohne die Kriterien der Auswahl dieser Objekte zu benennen. Die Definition von Malraux enthält auch eine hierarchische Sichtweise auf die ›primitiven‹ Künste, insofern er annimmt, dass sich diese den ›großen Kulturen‹ anschließen würden. Die vorangegangenen Beobachtungen zur kulturellen Alterität in »D’un regard l’Autre« erlauben abschließend die These, dass die fremden Künste nicht universell, sondern besonders nach Maßgabe des europäischen Blicks bewertet und eingeordnet und damit als westlich geprägte ›arts primitifs‹ verhandelt wurden. Sehr deutlich zeigt das die letzte Rubrik ›Regards universels‹. Darin scheint es, als ob der Strukturalismus, der Grundlage der Dauerausstellung ist, auch hier Pate gestanden hat. Sechs außereuropäische Skulpturen aus Holz, die aus dem 19. und 20. Jahrhundert stammen, werden ausgestellt, aber nicht weiter erläutert. Vielmehr liegt es am Betrachter, die Ähnlichkeit zwischen den aufrecht stehenden Figuren aus Nigeria, dem Kongo, Papua-Neuguinea und von einer mikronesischen Insel einerseits, zwischen zwei Masken aus dem Kongo andererseits zu entdecken. Der gemeinsame Nenner der Skulpturen wird, wie die genannten vorherigen Erklärungen und das Fehlen jeglicher Erläuterung der Objekte selbst erkennen lassen, als ein universeller herausgestellt, der bei bloßer Betrachtung und Versenkung erkennbar sein soll. Bei genauer Betrachtung ist neben dem gemeinsamen Nenner allerdings auch erkennbar, wer nunmehr blickt: Die ›Re-
143 Malraux, Le Musée imaginaire. 144 Le Fur, D’un regard l’autre, S. 339.
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gards universels‹ sind offenkundig weniger universell als vielmehr okzidental geprägt. Da in dieser Rubrik schließlich allein außereuropäische Objekte gezeigt werden, ist die Strukturierung, wie gefolgert werden kann, eine dezidiert europäische. In diesem Kontext ist auch der Begriff der ›universellen Blicke‹ irreführend. Man muss eher davon ausgehen, dass hier nicht universelle Blicke gezeigt werden, sondern eine europäische Perspektive, die universell konzipiert wird. Dadurch wird nicht zuletzt der Anspruch der Ausstellung konterkariert: der Anspruch, die historische Wandelbarkeit der europäischen Blicke abzubilden. Am Ende von »D’un regard l’Autre«, wo der okzidentale Blick auf die ›Anderen‹ einmal mehr bekräftigt wird, erfolgt somit eine explizite Einordnung in den europäischen Kunstkontext. Die Ausstellung knüpft nicht nur ausdrücklich an das universelle Kunstverständnis von Malraux an, sondern, wie im Ausstellungskatalog erklärt wird, auch an die genannte Ausstellung »Primitivism in Modern Art« sowie die »Magiciens de la Terre« von 1989 im Pariser Centre Pompidou. Selbst der Eingang der ›ersten Künste‹ in den Louvre, so der Ausstellungstext, sei logische Konsequenz des universellen Maßstabs in der Kunst.145 Diese deutliche Einreihung in den universell-ästhetischen Diskurs der Kunst des 20. Jahrhunderts wird durch die Endstellung der »Regards universels« im letzten Teil der Wechselausstellung noch forciert. Damit und durch ihre Ähnlichkeit mit der strukturalistisch angelegten Dauerausstellung definiert diese Ausstellung programmatische Grundsätze und den Quai Branly zugleich als eine Etappe und als Meilenstein im ästhetischen Diskurs des ausgehenden 20. und noch jungen 21. Jahrhunderts.146 Dass in der ersten programmatischen Wechselausstellung des Quai Branly Historizität repräsentiert wird, spiegelt den Versuch des Museums, die Zeitlichkeit in den Blick zu nehmen, die in der Dauerausstellung gänzlich außer Acht gelassen wird. Zugleich zeugt es auch von dem Unterfangen, die Wandelbarkeit des eigenen Blicks, den Eurozentrismus, zu reflektieren. Wie zu erkennen ist, legen diese Beobachtungen und Überlegungen ein zwangsläufiges Dilemma offen: Dadurch, dass die skizzierte Zeitlichkeit in der Wechselausstellung auf dem europäischen Blick gründet, kann der ›Andere‹ allein aus der eigenen, vorgeprägten und mit Typisierungen besetzten Perspektive gesehen, bewertet und eingeordnet werden.147 Folglich steht die in der Ausstellung beanspruchte und er-
145 Vgl. Le Fur, D’un regard l’autre, S. 266, S. 339. 146 Nélia Dias begreift den Quai Branly sogar als eine Etappe in der Reihe der Entwicklungen, die das ›Museum des Anderen‹ seit 1827 beständig verändert hat. Vgl. dies., »Le musée du Quai Branly: une généalogie«. 147 Vgl. de l’Estoile, Le goût des Autres, S. 514-516.
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folgte Multiplikation der Blicke, die gemäß einem »jeu de miroirs« mehr über das Eigene als über den ›Anderen‹ aussagt,148 der letztlichen Festschreibung des ›Anderen‹ entgegen. Es ist damit erkennbar, dass das kulturell ›Andere‹ unberücksichtigt bleibt und in seiner Alterität weitgehend undifferenziert festgeschrieben wird, während die Kontinuität und die historische Differenzierung der europäischen Blicke durchaus gezeigt werden. Es kann zugleich festgehalten werden, dass, auch wenn das den Anspruch der Ausstellung auf ein ›jeu de miroirs‹ unterwandert, das eingangs genannte Bemühen um eine »réflexion originale sur l’altérité« im Wortsinn jedenfalls eingelöst worden ist: Die außereuropäischen Kulturen scheinen für die Ausstellung ausschließlich in ihrer Fremdheit von Interesse. In dieser Fremdheit wurden die außereuropäischen Kulturen zum Schluss der Ausstellung sogar als universell bestimmt und damit der europäischen Sichtweise und Bewertung untergeordnet. Einen solchen Zugriff auf außereuropäische Kulturen und ihre künstlerische Aneignung einen ›Blick‹ zu nennen, wie es auch der Ausstellungstitel nahe legt, erscheint indes euphemistisch. Schließlich lässt er die Aneignungsprozesse vieler Objekte außer Acht, die unter anderem in Plünderungen und illegalen Käufen bestanden, und macht glauben, dass die implizierte koloniale Vergangenheit sich auf einen »jeu de regards« beschränke.149 Dass damit die Historizität der Blicke auf den ›Anderen‹ einerseits und die wenig differenzielle Darstellung wie die universelle Bestimmung der ›Anderen‹ andererseits einander entgegenstehen, lässt am Ende der Analyse von »D’un regard l’Autre« den Schluss zu, dass weniger die Historizität und dadurch auch die Kolonialzeit, weniger der Dialog und mehr der Blick auf den kulturelle ›Anderen‹ als programmatische Grundsätze fungieren. Diese Beobachtungen lassen außerdem erkennen, dass die skizzierte Ausrichtung der Wechselausstellung dem Anspruch widerspricht, den noch Chirac für das Museum formuliert hat: den Anspruch, einen kulturellen Dialog beispielhaft zu verkörpern. Dieses Paradox belegt wiederum eindrücklich die Unentschiedenheit des Quai Branly ob seiner Ausrichtung, die sich nicht zuletzt auch in den Bezeichnungen für das Museum niederschlägt und von der Beschreibung eines »musée du regard sur l’autre« bis zu einer »passerelle entre les cultures« reichen.150
148 Snoep, »Jeux de miroirs«, S. 239. 149 De l’Estoile, »L’oubli de l’héritage colonial«, S. 97. Vgl. Kapitel 3.1.2. 150 »La place de l’art contemporain au musée du quai Branly«, S. 1, und »Claude LéviStrauss a 100 ans«, S. 3. Zum von Chirac formulierten Anspruch für den Quai Branly vgl. Kapitel 3.1.1.
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Ob die Festschreibungen des ›Anderen‹ in der Alterität, die in der Dauerausstellung erfolgt und für die Wechselausstellung »D’un regard l’Autre« zu erkennen war, fortgeführt werden, oder ob nicht vielmehr der Dialog, wie es der Museumsslogan »Là où dialoguent les cultures« suggeriert, und die Schnittstelle zwischen den Kulturen, die ›passerelle‹, in den Vordergrund rücken, die die starke Dichotomisierung von europäischer Perspektive und außereuropäischen Kulturen aufbrechen würde, soll im Folgenden mithilfe einer zweiten programmatischen Wechselausstellung, »Planète métisse«, gezeigt werden. Schließlich dient gemäß dem Anspruch, einen Kulturendialog abzubilden, der Dialog auch in dieser zweiten programmatischen Ausstellung als Leitbild, allerdings in anderer Form als der Form der dialogischen ›diversité‹. Wie der Titel »Planète métisse« zunächst suggeriert, wurde in dieser Wechselausstellung vor allem die Figur des ›métissage‹ ins Zentrum der Betrachtung gerückt. Wie sie als solche die gesamte Ausstellung durchzieht und in welcher Weise, wird in der folgenden Analyse untersucht. Die Ausstellung unterscheidet sich schon in ihrem Umfang und ihrer Ausrichtung von der vorangegangenen Wechselausstellung. »Planète métisse« wurde als eine gleichsam anthropologische wie programmatische Ausstellung konzipiert. Geleitet wurde sie von Serge Gruzinski, der als Historiker am CNRS und an der EHESS tätig ist und als Experte für das Konzept des ›métissage‹ gilt und dem Alexandra Russo von der Columbia University als Assistentin zur Seite gestellt wurde.151 Die vergleichsweise lange Laufzeit der Ausstellung, die von März 2008 bis Juli 2009 im Quai Branly zu sehen war, erlaubte ein vielseitiges Rahmenprogramm und bot unter anderem mit einer Filmreihe und einer eigenen Internetseite deutlich mehr als die erste programmatische Wechselausstellung des Quai Branly.152 Aber auch inhaltlich unterschieden sich beide Ausstellungen deutlich voneinander. Während in »D’un regard l’Autre« die europäischen Blicke auf die kulturell ›Anderen‹ gezeigt wurden, rückt in der Ausstellung »Planète métisse« die Figur des ›métissage‹ in den Mittelpunkt des Interesses und, wie die folgende Untersuchung zeigen wird, an die Stelle der im Quai Branly weitgehend einseitig verhandelten ›Vielfalt‹.
151 Vgl. Gruzinski, La pensée métisse; »Planète métisse. To mix or not to mix? Exposition d’anthropologie«. Als zweite Wechselausstellung auf dem Gebiet der Anthropologie folgt »Planète métisse« der ersten anthropologischen Wechselausstellung »Qu’est-ce qu’un corps?«. Vgl. »Planète métisse. To mix or not to mix? Exposition d’anthropologie«. 152 Vgl. »Planète métisse. To mix or not to mix«; »Planète métisse. Musée du quai Branly«.
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Ausgehend von der Frage »To mix or not to mix« und dem dahinter liegenden Anspruch, das Konzept des ›métissage‹ als zugleich altes und durch Kosmopolitismus und Kulturendialog erneut relevant gewordenes Konzept aufzuzeigen,153 folgt die Ausstellung einer vierteiligen Struktur: Der erste Ausstellungsteil »To mix or not to mix?« dient zunächst der Repräsentation von Phänomenen des ›métissage‹. Er soll damit ein Gespür für den ›métissage‹ und die Schwierigkeiten erzeugen, mit der die von verschiedenen Kulturen und Epochen beeinflussten Objekte gedacht werden können.154 Im sich anschließenden zweiten Ausstellungsteil »Chocs et rencontres des mondes« wird der ›métissage‹ in seiner geographischen und historischen Entwicklung behandelt. Dabei werden insbesondere die Anfänge der europäischen Eroberung im 15. und 16. Jahrhundert als Meilensteine in der Geschichte des Konzepts ›métissage‹ ausgewiesen und anhand von Kunstobjekten, die mit der Ankunft der Europäer gefertigt worden sind, dokumentiert. Der dritte Teil »La fabrique des métissages« zeigt die Leseweisen und die Aneignungen außereuropäischer Völker von europäischen Motiven, Bildern und historischen Situationen, der vierte und letzte Ausstellungsteil »Horizons métis?« stellt schließlich den ›métissage‹ am Beispiel der asiatischen und US-amerikanischen Filmproduktion als zeitgenössisches Phänomen heraus.155 Bemerkenswert an dieser vierteiligen Struktur ist, dass sie einen historischen Längsschnitt vollzieht, mit dem beansprucht wird, die unterschiedlichen Aspekte des Konzepts des ›métissage‹ exemplarisch zu zeigen, statt eine Fülle von Objekten zu präsentieren.156 Zugleich lässt sie erkennen, worauf die Ausstellung insbesondere gründet: Sie bestimmt die Figur des ›métissage‹ und buchstabiert ihre vielfältigen Facetten aus, die auch und insbesondere in eine Historisierung und Relationierung von Kulturen und ihren Objekten mündet. Vor dem Hintergrund dieser Beobachtungen soll die folgende Analyse ergründen, wie der ›métissage‹ in der Ausstellung repräsentiert wird. Ob etwa mit dem angedeuteten historischen Längsschnitt mehr der Kulturendialog thematisiert und das Bild des bisher ahistorisch bestimmten kulturell ›Anderen‹ aufgebrochen wird, soll dabei untersucht werden.
153 Vgl. Martin, »Préface«. 154 Vgl. »Planète métisse. To mix or not to mix? Exposition d’anthropologie«, S. 2 von 6. 155 Vgl. ebd., S. 2f. von 6. 156 Dass das Konzept des ›métissage‹ nur schlaglichtartig, lückenhaft und in keiner Weise erschöpfend behandelt werden kann, hat Stéphane Martin bereits im Vorwort angemerkt. Vgl. ders., »Avant-Propos«.
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Die Ausstellung beginnt im ersten Teil damit, den Begriff des ›métissage‹ kritisch zu hinterfragen. Dazu wird zunächst eine antike Marmorfigur des Bacchus aus dem 2. Jahrhundert nach Christus exponiert, die als eindeutig antik ausgewiesen wird. Daneben steht eine Grabfigur aus Indonesien aus dem 20. Jahrhundert, die, wie der Ausstellungskatalog erläutert, als ›primitiv‹ beschrieben werden kann. Ausgehend von diesen Exponaten und ihrem direkten Vergleich miteinander wird im weiteren Verlauf des ersten Ausstellungsteils hinterfragt, was die Unterscheidung zwischen den Objekten und ihren Attributen so eindeutig werden lässt. Es wird zugleich erklärt, dass solche Zuschreibungen nicht als monolithische Phänomene, sondern vielmehr als Phänomene und Ergebnisse von Vermischungen begriffen werden müssen.157 Um das zu illustrieren, sind im Ausstellungskatalog sodann Modefotografien aus den 1990er Jahren abgebildet und die Zuschreibungen, die mit dieser zeitlichen Einordnung einhergehen, als weitgehend kontingent ausgewiesen: Der darin gezeigte Seidenmantel von Chanel aus dem Jahr 1996 wird eindeutig als klassisch eingeordnet, während ein Federbolero von Gaultier von 1997 mit dem Attribut ›ethnisch‹ versehen wird. Obgleich der Federbolero damit zwar der Ausdruck einer kulturellen Vermischung sein soll, verweist er zugleich, so Gruzinski, auf die sophistische Pariser Kultur. Wie damit verdeutlicht werden soll, kann das Attribut ›ethnisch‹ der Ausstellung zufolge als ein kontingenter Begriff mit zwei unterschiedlichen Bedeutungen verstanden werden.158 Nachdem damit die Zufälligkeit der zunächst klar erscheinenden und meist dichotom gedachten Bestimmungen gezeigt worden ist, sollen im weiteren Verlauf des ersten Ausstellungsteils die Bilder »Cuadros de Castas« dazu dienen, die Bestimmungen des ›métissage‹ als das ›Exotische‹ aufzukündigen. Die Ende der im 18. Jahrhundert gefertigten und als Genre etablierten Gemälde zeigen Szenen aus dem von Spanien eroberten Mexiko. Sie zielen auf die Darstellung von ebenso biologischer wie kultureller Vermischung, was durch den Namen ›castas‹ belegt wird, der hier als ein ›croisement‹ verstanden werden kann.159 Eine solche doppelte Vermischung wird in den »Cuadros de Castas« anhand verschiedener Szenerien wie Bildern von Kindern mit ihren jeweils verschiedenhäutigen Eltern dargestellt. Carmen Bernand hat im Ausstellungskatalog für die Bilderreihe »Castas« drei Vermischungszyklen ausgemacht, die sich nicht nur in ihrer sozialen Zugehörigkeit voneinander unterscheiden, sondern auch in den unterschiedli-
157 Vgl. Gruzinski, »Planète métisse ou Comment parler du métissage«, S. 16. 158 Vgl. ebd., S. 17-19. 159 Vgl. Bernand, »Regards d’anthropologue sur l’ambiguïté des mélanges«, S. 33.
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chen Graden an sogenannter Zivilisiertheit, die ebenfalls in der Bilderreihe zu erkennen sind.160 Wie hier beobachtet werden kann, geht die Darstellung der »Cuadros de Castas« über die Repräsentation rein biologischer Vermischung hinaus und beansprucht, auch die Komplexität kultureller Vermischung wiederzugeben. Man könnte den Schluss ziehen, dass an die Stelle der stark vereinfachten Bestimmung, die in der ersten besprochenen Wechselausstellung die ›Anderen‹ als ›exotisch‹ festgeschrieben hat, in »Planète métisse« eine größere Differenzierung getreten ist, beispielsweise dadurch, dass das Bild der kulturell ›Anderen‹ hier anhand des Grades der Vermischung ausdifferenziert wird. Allerdings ist bei näherer Betrachtung der mexikanischen »Cuaodros de castas« auch erkennbar, dass deren ursprüngliche Funktion nicht genannt wird. Bisher konnte sie nicht eindeutig bestimmt werden, doch es sind zu ihrer Funktion verschiedene Vermutungen angestellt worden: Einerseits hat die Forschung den Bildern die Rolle zugeschrieben, im kolonisierten Mexiko als Mittel zur Erfassung der Bevölkerung und ihrer Vermischungsgrade fungiert zu haben. Andererseits versteht man sie auch als ›exotische‹ Andenken aus den Kolonien, die sich häufig in spanischen wiederfanden und die gleichzeitig die Einordnung in Klassen nach dem Grad der sogenannten Rassenvermischung, wie sie in den Kolonien vorgenommen wurde, zu legitimieren schienen. In diesem Sinne kann man die vergleichsweise ausführliche Thematisierung der »Cuadros de castas« in der Wechselausstellung auch als eine ideologisch gewertete und strategische Behandlung auffassen. Schließlich werden die Bilder positiv als Ausdruck eines ›métissage‹ dargestellt, doch gehen die Erklärungen nicht über die Erwähnung des engen Zusammenhangs von politischer Dominanz und hybriden Kulturproduktionen hinaus.161 In der Ausstellung scheinen sie besonders die Rolle der Veranschaulichung des Begriffs der ›Kulturenvermischung‹ auszufüllen. Wie Gruzinski aber an anderer Stelle betont, ist der ›métissage‹ weniger in einem Sinn von ›Vermischung‹ zu verstehen, in der Kulturen als ausschließlich nach außen abgeschlossene Entitäten zu begreifen wären. Vielmehr verwendet er den Begriff, um all jene Vermischungen zu benennen, die real oder in unseren Vorstellungen existieren und sich damit vom Religiösen hin zum Ökonomischen, vom Rechtlichen zum Politischen und vom Künstlerischen zum Konsumorientierten erstrecken können. Insofern es um eine solche Vermischung geht und weniger um Kulturen als in sich geschlossene Entitäten, werden Gruzinski
160 Vgl. ebd., S. 33-41. 161 Vgl. Bernand, »Regards d’anthropologue sur l’ambiguïté des mélanges«. Vgl. Jiménez del Val, »Pinturas de Casta«.
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zufolge nicht nur Gesellschaften verstanden, die historischen Veränderungen unterworfen sind und deren aus Kontakten entstehenden Vermischungen als weitgehend fragmentarisch und arbiträr begriffen werden können.162 Es kann damit auch, wie man weiter folgern kann, die Dichotomie zwischen Ländern und Kulturräumen aufgebrochen werden, die in der bereits besprochenen Wechselausstellung »D’un regard l’Autre« erfolgte und in der Dauerausstellung des Quai Branly aufrechterhalten wird. Davon zeugt in »Planète métisse« beispielsweise die Ausstellung des »Codex Borbonicus«. Der mexikanische Papyrus-Kodex, der aus dem 16. Jahrhundert stammt und die Ankunft der Europäer in Mexiko und damit die Begegnung von Kulturen abbildet, wird in der Ausstellung detailliert analysiert und es wird begründet, warum der Kodex als ein ›objet métis‹ verstanden werden kann. Er enthält auf einer Länge von mehr als vierzehn Metern Piktogramme, die Motive aus der Zeit vor der spanischen Eroberung wiedergeben, sowie kurze ergänzende Erläuterungen in spanischer Sprache. Wie der Ausstellungskatalog erklärt, wird der Kodex dadurch zu einem Beispielobjekt für das Konzept des ›métissage‹, dass die Piktogramme an ägyptische Hieroglyphen und zugleich an europäische Almanache der gleichen Zeit erinnern, die von Eroberern und Missionaren nach Mexiko gebracht wurden.163 In diesem Kontext kann er als ein Objekt verstanden werden, das vorspanische Elemente und die neue Zeitrechnung nach Art der europäischen Almanache miteinander verknüpft, und damit Gruzinski zufolge als ein ›objet métis‹, insofern er die vermeintliche Entgegensetzung von vorspanischer Kultur und spanischen Eroberern durchkreuzt. Wie die vorangegangenen Ausführungen gezeigt haben, ist in der Wechselausstellung »Planète métisse« an die Stelle der weitgehend dichotomen Perspektive der ersten Wechselausstellung eine Konzentration der Relationen getreten, wie unter anderem der Umstand belegt, dass der »Codex Borbonicus« gezeigt wurde. Gleichzeitig hat diese zweite Wechselausstellung die in der Dauerausstellung des Quai Branly angelegte dualistische Sichtweise weitgehend aufgekündigt. Denn statt die Welt in abgeschlossene Entitäten zu unterteilen, begreift sie
162 Vgl. Gruzinski, »Planète métisse ou Comment parler du métissage«. Carmen Bernand verweist auf die ablehnende Haltung mancher Anthropologen gegenüber dem Begriff des ›métissage‹, der, wenn er von Kulturen als Einheiten ausgeht, stark biologisch geprägt sei; diese würden den Begriff der ›branchements‹ bevorzugen. Vgl. Bernand, »Regards d’anthropologue sur l’ambiguïté des mélanges«, S. 42. 163 Vgl. Gruzinski, »Planète métisse ou Comment parler du métissage«, S. 21; Russo, »Le Codex Borbonicus, corps-document«.
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die vermeintlich ›fremden‹ Phänomene als schon immer ›vermischte‹ Phänomene, die von historischen Beziehungen, Verbindungen und Epochen zeugen.164 Von diesem Verständnis zeugt in der Ausstellung beispielsweise ein Vorleger aus Glasperlen: Er wurde im 19. Jahrhundert in Französisch-Guyana gefertigt und nimmt neben dem »Codex Borbonicus« einen wichtigen Platz in der ersten Ausstellungsrubrik ein. Die Glasperlen, mit denen er besetzt ist, wurden seit dem 17. Jahrhundert aus Amerika nach Guyana gebracht und dienten zwischen Eroberern und Eingeborenen als Tauschmittel für Sklaven oder bei amerikanischen Ureinwohnern auch als Mittel, um Schmuck herzustellen. Indem diese Erläuterungen in der Ausstellung über den geschichtlichen Hintergrund informieren, wird der Perlenteppich als stellvertretendes Objekt gesehen, dass vor allem komplexe kulturelle und ökonomische Vermischungen bezeugt, die mit der Einführung industrialisierter Produkte in den indianischen Kulturen Amerikas stattgefunden haben.165 Mit einem solchen Blick auf die Relationen geht in der Ausstellung »Planète métisse« eine besondere Beachtung der historischen Epochen einher. Während bereits die »Cuadros de castas«, die in der vorherigen Ausstellungsrubrik gezeigt werden, eine historische Repräsentation impliziert haben, ohne dass die kolonialen Implikationen deutlich gemacht worden wären, wird die historische Einbettung in der zweiten Sektion endgültig explizit. So erörtert Serge Gruzinski den ›métissage‹ in seinem den Ausstellungsteil einleitenden Text im Zusammenspiel mit dem Begriff der ›mondialisation‹. Ihren Beginn verortet er nicht erst, wie dem Kurator zufolge landläufig angenommen werde, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, sondern bereits zur Zeit der europäischen Entdeckungen fremder Länder. Dabei verweist Gruzinski jenseits einer ethnozentrischen Perspektive auf die Verbindungen zwischen verschiedenen außereuropäischen Ländern, die vom Fortschritt auf den Gebieten der Schifffahrt und der religiösen, militärischen und Handelsunternehmungen profitiert hätten. Wie zu erkennen ist, brechen Gruzinski und der zweite Teil der Wechselausstellung die landläufige Bestimmung von Globalisierung als einem Phänomen des 20. Jahrhunderts auf und verorten sie historisch und geographisch. Nach detaillierten Ausführungen zu dieser historischen und geographischen Einbettung entfaltet der Kurator seine Überlegungen sogar noch weiter. Was schon in der vorherigen Ausstellungssektion anhand des »Codex Borbonicus« und des guyanischen Perlenteppichs nahe gelegt wurde, deutet Gruzinski nicht nur als einen Ausdruck des Relationalen. Er begreift sie als Beziehungen, die als in die Ge-
164 Vgl. Gruzinski, »Planète métisse ou Comment parler du métissage«. 165 Vgl. van Velthem, »Des perles de verre: deux mondes en interaction«.
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schichte von Expansion und okzidentaler Herrschaft eingeschrieben begriffen werden müssten. Damit rekurriert er, wie ergänzend zusammengefasst werden kann, auf eine politisch-historische Dimension, die Gruzinski als unabdingbar für das Konzept des ›métissage‹ begreift und die Chirac in seiner Rede zur Eröffnung des Pavillon des Sessions als Ziel für den Umgang mit fremden Kulturen bestimmt hat.166 Von einer solchen Dimension zeugen auch die in Gruzinskis genannten Phänomene und dem Erläuterungstext folgenden Exponate: Der Aufschwung der brasilianischen Musik wird als unweigerlich verknüpft mit dem Sklavenhandel, der Kolonialisierung und dem Aufbau einer Sklavengesellschaft im portugiesisch besetzten Amerika dargestellt.167 An Musikobjekten wie der »Radio enveloppée« aus dem Südafrika des 20. Jahrhunderts und weiteren Objekten der Ausstellungssektion wird dazu der historische und zeitgenössische Einfluss verdeutlicht, den die europäischen Kulturen auf außereuropäische Kulturen ausgeübt haben und durch den Mischformen entstanden sind. Im zweiten Ausstellungsteil wird das am Beispiel der Musik, die Bernand als ein »creuset des métissages« begreift, detailliert erläutert.168 In der sich anschließenden dritten Ausstellungssektion »La fabrique des métissages« werden die Aneignungsprozesse und -kontexte repräsentiert, die Künstler veranlasst haben, bestimmte formelle und symbolische Entscheidungen zur Gestaltung ihrer Kunstwerke aus politischen, ökonomischen oder religiösen Gründen zu treffen.169 Das wird am Beispiel einer Holzstatue aus Nigeria verdeutlicht. Sie bildet die englische Königin Viktoria ab und steht in der Ausstellung neben einer Fotografie der Königin von Alexander Bassano. In diesem direkten Vergleich beider Objekte sollen, wie für die Ausstellung beansprucht wird, an den Gesichtszügen, der Körperhaltung und der Kleidung in den beiden Darstellungen der Königin Ähnlichkeiten zwischen den beiden Objekten erkennbar werden, zugleich aber die Gestaltung der Statue, ihr Material, Holz, sowie Stilisierungen und Vereinfachungen die Skulptur als eindeutig ›afrikanisch‹ ausweisen. Unterschiede fallen denn auch deutlich auf: Im Gegensatz zur Hand der Königin auf dem Foto ist die rechte Hand der Statue vom Körper losgelöst, die Spitzen und die kunstvolle Verzierung ihres Kleides sind nur angedeutet, und auch der Schleier, der auf dem Foto von der königlichen Krone bis zur Hüfte hi-
166 Vgl. Gruzinski, »Mondialisations et métissages«. Vgl. Kapitel 3.1.1 167 Vgl. ebd., S. 68. 168 Bernand, »Musiques métisses, musiques populaires«, S. 72. 169 Vgl. Russo, »A travers l’image«. Vgl. auch die Internetseite zur Ausstellung »Planète métisse. Musée du quai Branly«.
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nabhängt, hat der nicht näher benannte Bildhauer durch die bloße Abbildung der Krone ersetzt. Neben diesen Vereinfachungen und Stilisierungen ist bemerkenswert, dass die Krone und der Kopf mehr als ein Drittel der gesamten Skulptur einnehmen. Diese Proportionen sind gemäß Hélène Joubert, die die Holzskulptur und weitere Bilder der Königin Viktoria für die Ausstellung besprochen hat, der Bedeutung geschuldet, den der Kopf bei den Yorubas, einem Volksstamm in Nigeria, hat. Wie Joubert erklärt, verkörpert er sowohl die Persönlichkeit als auch das Schicksal, das sich, indem die Krone als Machtsymbol abgebildet ist, die individuelle Bestimmung der Person mit der kollektiven Bestimmung der Krone vermische. Dass der Kopf damit eine besondere Bedeutung zugewiesen bekommt, während der restliche Körper der Königin in der Statue nur angedeutet und fast abstrahiert wird, deutet Joubert als einen geradezu universellen Ausdruck der Yorubas von Macht, die durch Königin Victoria konkrete Gestalt angenommen habe. Die sie abbildende Statue ist damit nach Joubert Ausdruck eines ›métissage du pouvoir‹ und gründe auf einer Vermischung von englischer Motivik und afrikanischer Deutung.170 Indem an dieser Stelle in der Ausstellung eine historische und kulturelle Einordnung erfolgt, deren Fehlen in der Dauerausstellung des Quai Branly oft bemängelt worden ist, und die auch, wie gezeigt werden konnte, in der ersten programmatischen Wechselausstellung weitgehend außer Acht gelassen wurde, wird in dieser dritten Ausstellungssektion endgültig das kulturell ›Andere‹ in den Blick gerückt. Das stereotypenartige Bild des ›Anderen‹ in einer festgeschriebenen Alterität wird erkennbar in Frage gestellt und durch eine detaillierte Besprechung der Entstehungs- und Verarbeitungsprozesse von überwiegend außereuropäischen ›objets métis‹ ersetzt. Das lässt die These zu, dass fast eine Umkehrung der europäischen Aneignungsprozesse, die in der Wechselausstellung »D’un regard l’Autre« repräsentiert werden, vollzogen worden ist, insofern in »Planète métisse« vor allem die außereuropäischen Aneignungen europäischer Motive gezeigt werden.171 Zugleich wird in der Ausstellung auf den eigenen Umgang mit außereuropäischen Objekten verwiesen. Um das zu verdeutlichen, ist der »Codex Durán« auf-
170 Vgl. Joubert, »Images du pouvoir en miroir«, S. 108-111; die Internetseite »Planète métisse. Musée du quai Branly«. 171 Allein ein goldfarbener Teller aus dem Portugal des ausgehenden 16. Jahrhunderts bildet Palmen, Elefanten und mit Lendenschurz bekleidete Menschen ab und zeigt damit ein als ›außereuropäisch‹ erkennbares Motiv. Vgl. Gruzinski, »Mondialisations et métissages«, S. 64f.
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schlussreich. Darin werden Spanier auf einem Schiff bei der Ankunft eines zu erobernden Gebiets auf der linken Seite des Bildes gezeigt; auf der rechten Seite ist ein offensichtlich nur mit einem einfachen Tuch bekleideter Eingeborener zu sehen, der in einer Baumkrone sitzt und auf die Ankömmlinge zeigt. Auffällig ist daran weniger die Darstellung der Ankunft der europäischen Eroberer. Vielmehr ist bemerkenswert, dass der »Codex Durán« in der Ausstellung zusammen mit dem Gemälde »Entrée du Christ à Jérusalem« exponiert wurde, das den Chorgang von Notre-Dame in Paris schmückt.172 Diese Parallelisierung des außereuropäischen Kodexes mit dem europäischen Gemälde, das eine biblische Szene zeigt, kann denn auch als Versuch gedeutet werden, den Kodex dank der Parallelisierung beider Objekte zu ›übersetzen‹ und greifbar werden zu lassen, insofern damit ein Bewusstsein für zeitlich zwar unterschiedliche, doch ähnliche Geschehnisse geschaffen wird.173 Das Dilemma, dass die epistemische Erschließung des ›Fremden‹ womöglich ausschließlich eine Erschließung mit eigenen Mitteln sein kann, und die daraus folgende Notwendigkeit, sich außereuropäischen Objekten und Motiven mit eigenen Interpretationsmitteln zu nähern, sind damit in diesem Ausstellungsteil implizit reflektiert. Expliziert werden sie an einem weiteren in der dritten Ausstellungssektion gezeigten Objekt: an einer mit einem Gesicht bemalten Kokosnuss. Für die Kokosnuss ist weder der Entstehungskontext noch das, auf was sie sich bezieht, bekannt. Le Fur vermutet ihre Herkunft in Guyana, doch genau bestimmt werden kann sie nicht. Alessandra Russo, die das Objekt für die Ausstellung besprochen hat, zeigt dagegen mehrere mögliche Ursprungskontexte und Interpretationen auf. Ihr zufolge könnte das dargestellte Gesicht auf der Kokosnuss einen karibischen Dunkelhäutigen abbilden, der Maler selbst könnte ein europäischer Reisender oder auch ein Mensch in den Kolonien gewesen sein; es könnte zudem auch sein, dass die Kokosnuss ein Selbstporträt wiedergibt. Von diesen vielfältigen Möglichkeiten ausgehend zieht Russo die Analogie zu den Anamorphosen von Hans Holbein dem Jüngeren, zu den Bildern, deren Motive nur aus einem bestimmten Winkel zu erkennen sind. Dies ist insofern bemerkenswert, als Russo hier versucht, das außereuropäische Objekt mangels anderer Interpretationsmöglichkeiten in einen Kontext einzubetten. Dieser Versuch gelingt ihr, indem sie auf dezidiert europäische Gemälde zurückgreift und diese mit der Kokosnuss
172 Vgl. Gruzinski, »Mondialisations et métissages«, S. 60. 173 Vgl. Russo, »A travers l’image«, S. 95-97. Zugleich bekennt Russo, dass keine direkte Verbindung zwischen dem »Codex Durán« und der biblischen Szene bestehe. Vgl. ebd., S. 95.
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in Beziehung setzt. Die Kokosnuss wird so für die europäischen Betrachter, die der Quai Branly in erster Linie anzusprechen scheint, ›anschlussfähig‹.174 Begreifbar wird das Konzept des ›métissage‹ auch in der vierten und letzten Ausstellungssektion »Horizons métis«. Diese setzt den historischen Umgang mit ›objets métis‹ in der Gegenwart fort und schließt an Filmerfahrungen der Besucher an. In der Sektion werden asiatische und US-amerikanische Filme gezeigt und halb menschliche, halb tierische oder auch Maschinen ähnliche Figuren aus Science-Fiction-Filmen als zeitgenössische Phänomene des Konzepts des ›métissage‹ entfaltet. Die historische Betrachtung, die den ›métissage‹ als ein Verfahren mit historisch und fortlaufend wandelbaren Formen bestimmt hat, wird damit erkennbar fortgeführt. Eine historische Reflexion des ›Anderen‹ erfolgte auch in der Wechselausstellung »Exhibitions, l’invention du sauvage«, die im Folgenden nur schlaglichtartig beleuchtet werden soll. Sie fand von November 2011 bis Juni 2012 statt und thematisierte die Figur des ›Wilden‹ als westliches Konstrukt des ›Fremden‹. Die Ausstellung wurde nicht nur viel und über Frankreichs Grenzen hinaus beachtet, sondern auch im Februar 2012 mit dem Globe de Cristal, dem Preis der französischen Presse für Künste und Kulturen, als beste Ausstellung des Jahres geehrt.175 Initiiert wurde die Ausstellung von Lilian Thuram, dem ehemaligen französischen Fußballspieler, der für sein politisches Engagement gegen Rassismus bekannt ist und 2004 in den Haut Conseil à l’Intégration berufen wurde.176 Aufgrund seiner eigenen Erfahrungen mit Rassismen gegen ihn als Dunkelhäutigen beschäftigte ihn die Frage, wie rassistische Klischees Eingang in das kollektive Bewusstsein gefunden haben. Zusammen mit dem Historiker Pascal Blanchard und der Museumskuratorin Nanette Jacomijn Snoep, die auch an der Wechselausstellung »D’un regard l’Autre« beteiligt gewesen ist, hat Thuram die erfolgreiche Wechselausstellung kuratiert.177 Der Schwerpunkt der Ausstellung »Exhibitions« liegt auf den sogenannten ›Zoos humains‹.178 Sie zeichnet die Tradition dieser Völkerschauen nach, die im 19. Jahrhundert bis in das 20. Jahrhundert hinein in Europa, Japan und den USA stattfanden und ›exotische Fremde‹ zur Schau stellten. Ausgehend von Indianern, die Christoph Kolumbus und Hernán Cortés aus der sogenannten Neuen
174 Vgl. Russo, »A travers l’image«. 175 Vgl. Siegel, »Wer ist Ihr Wilder?«; Stüben, »Freakshow?«; »50 Pfennig für ›20 Sioux-Indianer, lebend‹«. Vgl. auch »Les globes de cristal«. 176 Vgl. »Liste intégrale«, S. 3. Zum Haut Conseil à l’Intégration vgl. Kapitel 2.1. 177 Vgl. Kapitel 3.2.3. Zu Pascal Blanchard vgl. außerdem Kapitel 2.1.3. 178 Vgl. Bancel u.a., Zoos humains et exhibitions coloniales.
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Welt mitgebracht haben, führt die Ausstellung »Exhibitions« anhand von fast 600 Objekten wie Gemälden, Skulpturen, Plakaten, Postkarten, Kleidung und Filmen durch die Jahrhunderte und veranschaulicht in lebendiger Weise, wie sich die Repräsentation des ›Exotischen‹ im Verlauf der Zeit etabliert und ausdifferenziert hat. Einen besonders großen Anteil hatten dabei die Welt- und Kolonialausstellungen, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts populär wurden und bis in die 30er Jahre des 20. Jahrhunderts hinein stattfanden. In Frankreich begann die Zeit der Völkerschauen mit der Weltausstellung von 1889, die mehr eine Schau der Völker war und neben anderen Ausstellungsstätten auch an dem Ort stattfand, an dem sich heute der Quai Branly befindet. Die dezidiert kolonialistisch angelegte Ausstellung von 1931 in Paris war denn aber auch die letzte in Frankreich; sie wird in der vorliegenden Arbeit in Bezug auf die Cité noch besprochen.179 Der Ausstellung »Exhibitions« ist die Beschäftigung mit dem Thema Kolonialausstellung, das für den Umgang mit kulturell ›Anderen‹ nicht unerheblich ist, in ihrer breiten historischen Anlage sehr gut gelungen. Sie ist letztlich sogar über den ursprünglichen und im Titel der Ausstellung angelegten Anspruch, die Erfindung des ›Wilden‹ wiederzugeben, weit hinausgegangen. Was zwar weniger thematisiert wird, ist zum einen, welchen entscheidenden Einfluss die Völkerschauen auf die Ausprägung einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit ›Fremden‹ und welche Folgen wie schwere Krankheiten sie für die verschleppten ›Fremden‹ hatten. Zum anderen ist auch unberücksichtigt geblieben, inwiefern kulturell ›Andere‹ wie die berühmte Variété-Tänzerin Josephine Baker, indem sie in einem Bananen-Röckchen in zahlreichen Pariser Revueshows auftrat, das französische Bedürfnis nach Exotik bedienten und welche Kritik an Völkerschauen geübt wurde, die sich unter anderem in einem Aufruf von Künstlern zum Boykott der Ausstellung von 1931 und einer Gegenausstellung im Bois de Boulogne manifestierte.180 Insgesamt kann jedoch festgehalten werden, dass »Exhibtions« die aus heutiger Sicht absurd reißerische Zurschaustellung vom kulturell ›Anderen‹ verdeutlicht und zugleich die dahinterliegenden Mechanismen herausschält, auf denen, wie man in der These bündeln kann, Identitätsdiskurse auch heute noch gründen. In diesem Zusammenhang ist auch die die Wechselausstellung abschließende Videoinstallation nachvollziehbar, auf der Homosexuelle, Dunkelhäutige und Asiaten, Obdachlose, Rollstuhlfahrer oder Behinderte Besuchern die Frage »Qui est votre sauvage?« auf den Weg geben.
179 Vgl. Kapitel 3.2.2 und 3.2.3. Vgl. Blanchard u.a., Exhibitions. L’invention du sauvage; »Exhibitions, l’invention du sauvage«; Taittinger, Exhibitions; 180 Vgl. die Dauer- und die Wechselausstellung der Cité, Kapitel 3.2.3.
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Abbildung 5: Das Ausstellungsplakat zur Wechselausstellung »Exhibitions«
Wie die vorangegangenen Beobachtungen gezeigt haben, steht in den beiden letztgenannten Wechselausstellungen die kulturgeschichtliche Reflexion des ›Wilden‹ und des ›métissage‹ der Repräsentation von außereuropäischer Kunst in der Dauerausstellung des Quai Branly deutlich entgegen. Indem die überwiegend außereuropäischen Objekte auf die vielfältigen Aneignungsprozesse, die historische Wandelbarkeit, die Vermischungen nach sich ziehen, und auf die Formen verweisen, die diese annehmen können, werden die ›Anderen‹ weniger in ihrer Alterität festgeschrieben als vielmehr differenziert dargestellt. Die starke Kontextualisierung, die die Ausstellung »Planète métisse« nicht zuletzt dadurch leistet, dass sie mehr Erläuterungstexte als die zuvor besprochenen Ausstellungen und eine geringere Anzahl an Objekten, dafür aber an exemplarisch ausge-
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wählten Objekten präsentiert, trägt zusätzlich zur Differenzierung der ›Anderen‹ bei.181 Diese erscheinen nicht als die in Entgegensetzung begriffenen ›Anderen‹, sondern stehen gleichberechtigt neben dem ›Eigenen‹, das hier, indem ebenso die ›eigene‹ wie die ›andere‹ historische Wandelbarkeit und die Beziehungen zueinander aufgezeigt werden, in den Blick gerückt wird. Auf die permanente und auch die erste programmatische Wechselausstellung »D’un regard l’Autre« traf diese Art der Repräsentation nicht zu. Obgleich diese erste Wechselausstellung die europäischen Blicke auf den ›Anderen‹ als historisch variabel reflektiert hat, fehlte ihr die Kontextualisierung der Ausstellungsobjekte, die in der zweiten programmatischen Ausstellung »Planète métisse« geleistet wurde. Vielmehr wurde die kritische Reflexion der historischen Variabilität durch die aufgezeigte Dichotomie konterkariert, indem die ›Anderen‹ vor allem als Ausdruck von Alterität in den Blick gerückt worden sind. Dass aber in der zweiten programmatischen Ausstellung »Planète métisse« eine historische Reflexion der Beziehungen und Verflechtungen zwischen europäischen und außereuropäischen Kulturräumen durchaus erfolgt, lässt erkennbar an die Galerie d’échanges denken, die Godelier für den Quai Branly vorgesehen hatte. Zugleich korrespondiert dieser Reflexion das Ziel der Friedman-Kommission, ein historisch und geographisch umfassendes Museum einzurichten, dem die Ausstellung »D’un regard l’Autre« zumindest in ihrer historischen Anlage nachgekommen ist. Benoît de l’Estoile hat eine solche Darstellung unter dem Begriff des ›musée de la relation‹ zusammengefasst und diese als einen fruchtbaren Ansatz herausgestellt, der, statt Alterität zu konstruieren und festzuschreiben, auf die historisch wandelbaren Bedingungen dieser Konstruktion von Alterität abzielen könnte. Das ist erkennbar ein Ziel, das auch die Ausstellung »D’un regard l’Autre« für die Veranschaulichung des historisch veränderten europäischen Blicks auf die ›Anderen‹ beansprucht hat. Wie de l’Estoile ergänzt, würde ein ›musée de la relation‹ ebenso die ›Anderen‹ wie auch das ›Eigene‹ als historisch wandelbar und als miteinander in Beziehung verstehen, was wiederum die Ausstellung »Planète métisse« anhand von exemplarischen Beispielen deutlich gezeigt hat.182
181 Im Vorwort wird darauf hingewiesen, dass einige Texte des Ausstellungskatalogs nicht in der Ausstellung selbst aufgeführt waren. Allerdings enthält auch die Internetseite ein paar Erläuterungen, die über den Umfang der Erläuterungen der anderen zwei besprochenen Ausstellungen hinausgeht. Vgl. Martin, »Avant-Propos«; zudem »Planète métisse. Musée du quai Branly«. 182 Vgl. de l’Estoile, Le goût des Autres, S. 538-540; auch Hurbon, »Un imaginaire postcolonial?«, S. 170f.
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In der Zusammenschau aller drei genannten Ausstellungen ist bemerkenswert, dass diese Relationierung und historische Perspektivierung insbesondere in der zweiten programmatischen Wechselausstellung und zumindest in Ansätzen auch in der ersten geleistet wurde, nicht aber in der Dauerausstellung. Vielmehr lässt die ästhetisierende und ahistorische Repräsentation in dieser permanenten Ausstellung das Konzept der ›diversité‹ als eines erscheinen, das die außereuropäischen Kulturen, außerhalb der ›eigenen‹ begreift und ›Vielfalt‹ als schützenswert konzipiert, wie Chirac beispielsweise in seinen Reden verdeutlicht hat. In dieser Konzeption und auch in der Ahistorizität, durch die ›Andere‹ in ihrer vorzeitigen Alterität festgeschrieben werden, ist das Konzept der ›diversité‹ harmonisch entschärft worden. So hat de l’Estoile eine solche Vorgehensweise, die auf die Repräsentation von Kulturenvielfalt abzielt, vor allem als eine Metapher »d’un empire unissant harmonieusement les diverses civilisations« verstanden.183 Bezeichnenderweise hat er das auf das Musée de l’Homme bezogen, von dem sich der Quai Branly abzusetzen suchte, doch dessen Repräsentation von ›Vielfalt‹ eine ähnlich harmonische ›Einheit‹ der außereuropäischen Kulturen und Künste herstellen lässt, wie die vorangegangenen Ausführungen gezeigt haben. Diesem harmonisch entschärften und neokolonial anmutenden Bild entspricht, dass die Dauerausstellung bisweilen auch als ein ›tour du monde‹ aufgefasst wird und mit dieser Formulierung an die Kolonialausstellung von 1931 erinnert, die mit dem gleichen Bild geworben hat.184 Eine historische Perspektivierung und Kontextualisierung dagegen würde die ›Vielfalt‹ der ›Anderen‹ stärker in den Blick rücken, als es im Quai Branly erkennbar ist. Ausgehend von einem europäischen Verständnis, das zumindest in den zwei Wechselausstellungen kritisch thematisiert wurde, erscheint in der Dauerausstellung die Bestimmung der ›Anderen‹ nach Maßgabe einer egalitären ›Vielfalt‹ als eine Bestimmung, die mehr universell als differenziell angelegt ist. Dieser universellen Bestimmung fehlt aber beispielsweise der Einbezug sozialer, wirtschaftlicher oder auch kolonialer Konflikte, der dem Anspruch auf ein tatsächlich ›postkoloniales Museum‹ gerecht würde.185 Stattdessen fungiert der so
183 De l’Estoile, Le goût des Autres, S. 135. 184 Vgl. ebd., S. 9. 185 Serge Gruzinski beispielsweise hat auf die Gefahr der Verschleierung sozialer und wirtschaftlicher Brüche für das Konzept des ›métissage‹ verwiesen. Vgl. Gruzinski, »Planète métisse ou Comment parler du métissage«, S. 20. Zudem hat Nélia Dias unter Rückgriff auf Homi Bhabha gezeigt, das besonders die Abstraktion einzelner Geschichten im Quai Branly dazu führe, dass die meist von Dominanz und Unterle-
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bestimmte pluralistische Universalismus, der die schützenswerte ›Vielfalt‹ der ›Anderen‹ einschließt, als Möglichkeit, mit dem das Konzept der ›universalité‹ zwar um das Konzept der ›diversité‹ erweitert, aber der universelle Anspruch beibehalten wird.186 Zugleich wird diese erweiterte Bestimmung im Diskurs um den Quai Branly bei Chirac, wie man sagen könnte, in der Abgrenzung von der Globalisierung begriffen, womit die Repräsentation der ›diversité‹ im Quai Branly mehr zu einer Abbildung des ›Eigenen‹ als zu einer differenziellen Darstellung des ›Anderen‹ wird. Wie beispielsweise das Eröffnungskolloquium suggeriert hat, sollte das Ziel des für den Quai Branly definierten pluralistischen Universalismus die Repräsentation eines Kulturendialogs sein. Mit Blick auf die inhaltliche Ebene, die Ebene der ausgestellten Objekte, bleibt allerdings unklar, worin dieser Kulturendialog bestehen soll. Dadurch, dass das ›Eigene‹ außer Acht gelassen wird und die Exponate insbesondere in der Dauerausstellung aus sich heraus sprechen sollen und dass zugleich Interpretationshilfen fehlen, die in »Planète métisse« die Objekte einzuordnen erlauben, bleibt der hier dargestellte Dialog, wie man sagen könnte, ein sprachloser: Die als universell begriffene Sprache der Objekte kann über die Ästhetik der Objekte hinaus keinen Aufschluss über das Werk, seinen Künstler und seinen Entstehungskontext geben, das dem Besucher das Verständnis erleichtern würde. Diese Beobachtungen lassen deshalb die These zu, dass auf der Formebene das ›Eigene‹ durchaus durchscheint, während es im sprachlosen Dialog auf der inhaltlichen Ebene nicht berücksichtigt wird. Schließlich ist die gesamte Anordnung der außereuropäischen Objekte in Glasvitrinen, nämlich die strukturalistisch begründete Einteilung der Objekte nach dichotomen Mustern und die Interpretation von kultischen und religiösen Gegenständen als Kunstobjekten, sehr europäisch geprägt. Abschließend lässt sich dies auf die These zuspitzen, dass eine solche europäische Präformierung die ›Anderen‹, über die nicht näher informiert wird, in ihrer Alterität darstellt und gleichsam festschreibt, womit ein Kulturendialog auf der Formebene nicht abgebildet wird. Wiederum werden die Kunstobjekte und die dahinter stehenden Völker zwangsläufig aus einer von Stereotypen geprägten Perspektive wahrgenommen.187 Dieser offenkundige Widerspruch spiegelt nicht nur die gesamte Perspektive des Quai Branly. Er verkörpert auch beispielhaft die Schwierigkeiten und Dilemmata, die in der französischen Verhandlung des ›Eigenen‹ und ›Anderen‹ zu
genheit geprägten Beziehungen unbeachtet bleiben. Vgl. Dias, »Musées et colonialisme: entre passé et présent«, S. 29f. 186 Vgl. u.a. de l’Estoile, Le goût des Autres, S. 26-31, 528f.; Kapitel 2.1.2 und 2.1.3. 187 Vgl. de l’Estoile, Le goût des Autres, S. 515f.
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beobachten sind: beispielsweise das Dilemma, den Universalismus, der lange Zeit das ›Eigene‹ zum Universellen zu machen suchte, mit dem vergleichsweise neuen Bekenntnis zur Anerkennung von Alterität zu vereinbaren, das sich in der Förderung von ›Vielfalt‹ niederschlägt und für das Sarkozys Vorschlag, das Konzept der ›diversité‹ in die französische Verfassung aufzunehmen, nur ein besonders prägnantes Beispiel ist. In der Analyse des Quai Branly hat sich gezeigt, dass der genannte Anspruch, ein postkoloniales Identitätskonzept zu entwerfen, nicht automatisch ein differenziertes Bild der ›Anderen‹, sondern meist ein entkonkretisiertes und deutlich ästhetisiertes Bild nach sich zieht. Mithin lässt diese affirmierte, bei Sarkozy egalitär angelegte und im Museum harmonisch vereinte ›diversité‹ im Quai Branly wie auch in den untersuchten Identitätsdebatten die traditionell verankerte Trennung zwischen dem ›Eigenen‹ und ›Anderen‹ und die stereotypen Bilder vom ›Anderen‹ bestehen. So ist das Konzept in seiner kulturellen Anlage meist zwar differenziell, aber in sich wenig differenziert bestimmt. Andere Ungleichheiten neben kulturellen Differenzen, Beziehungen und Verflechtungen, deren Beachtung dem häufig genannten Anspruch entspräche, einen Kulturendialog zu suchen und zu fördern, und deren Darstellung de l’Estoile für das Museum als solches gewünscht hat, die Verflechtungen also, die Glissant noch in der Konzeption einer neuen frankophonen Identität hervorgehoben hat, sind jedenfalls weitgehend unberücksichtigt geblieben.
3.2 E IN E XEMPEL FRANZÖSISCHER › DIVERSITÉ ‹: D IE CITE NATIONALE DE L ’ HISTOIRE DE L ’ IMMIGRATION Unliebsame Dinge werden oft am Rande verhandelt. Die Cité repräsentiert die französische Immigrationsgeschichte an der Peripherie der französischen Hauptstadt, an der Porte Dorée im östlichen Paris. Dass diese räumliche Einordnung das Thema der ›Immigration‹ marginalisiert und dass der Quai Branly im Unterschied zur Cité mitten im Zentrum der Stadt angesiedelt ist, wurde vielfach beanstandet. Doch war das nicht die einzige Kritik am Immigrationsmuseum. Seine Unterbringung im ehemaligen Palais des Colonies, der anlässlich der Pariser Kolonialausstellung von 1931 gebaut worden war, sorgte ebenso für Aufsehen wie seine fast unbemerkte Eröffnung am 10. Oktober 2007, zu der weder der neue Präsident Nicolas Sarkozy noch die Vertreter der zuständigen Ministerien bis auf Kulturministerin Christine Albanel gekommen waren; der erste prominente Be-
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sucher war ein paar Tage nach der Eröffnung Jacques Chirac.188 Zudem waren bereits im Sommer 2007 acht Wissenschaftler, die an der Planung und Umsetzung der Cité beteiligt gewesen waren, aus Protest gegen das im Mai zuvor gegründete und als stigmatisierend empfundene neue Ministerium für Immigration, Integration und nationale Identität aus dem Beirat des Museums ausgetreten – ein Umstand, der nicht minder für Kontroversen sorgte und die Cité schon vor ihrer Eröffnung mehrfach in die Schlagzeilen geraten ließ. 3.2.1 »Leur histoire est notre histoire«: Politische Bestimmungen Die Idee, ein Immigrationszentrum einzurichten, gab es allerdings schon länger und Frankreich war im Vergleich zu anderen Ländern nicht das erste, das die Notwendigkeit dazu erkannt hatte, wohl aber das erste, das in Europa ein Immigrationsmuseum von nationalem Rang aufbaute.189 Erstmals rückte 1988 der Historiker Gérard Noiriel die Idee mit seiner Monografie Le creuset français ins öffentliche Bewusstsein, in der er die assimilatorische Integration in Frankreich skizzierte. Ein Jahr später verwies er in Le Monde auf die schlechte Dokumentation von Immigrationsgeschichte in Frankreich und plädierte dafür, diese als selbstverständlichen Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses zu begreifen.190 So gründete er 1990 zusammen mit Zaïr Kedadouche, dem späteren Direktor für internationale Beziehungen des Haut Conseil à l’intégration, die Assocation pour un musée de l’immigration. Der Verband lancierte zwei Jahre später die Idee, ein Immigrationsmuseum einzurichten, zu dem sich die damalige Regierung allerdings noch nicht bereit zeigte.191 Erst im Anschluss an den Sieg der französischen, ethnisch gemischten Nationalmannschaft in der Fußballweltmeis-
188 Vgl. »Große Nation jetzt kleinlich«; auch Rotman, »La Cité de l’immigration ouvre à gauche«. Die beteiligten Ministerien sind namentlich das Ministerium für Immigration, Integration, nationale Identität und Zusammenarbeit (vgl. Kapitel 2.1.3), das Kulturministerium, sowie die beiden Ministerien für Bildung, nationale und höhere Bildung. Vgl. Blandin, »Ouverture polémique de la Cité nationale de l’Histoire de l’Immigration«. Zur Kritik an der Abwesenheit der zuständigen Politiker vgl. u.a. »Mémoire et polémique«. 189 Vgl. Baur, Die Musealisierung der Migration, S. 15. 190 Vgl. Noiriel, »L’immigration, enjeu de mémoire«; Noiriel, Le creuset français. Zum Begriff des ›creuset français‹ vgl. auch Kapitel 2.1.3. 191 Zu Zaïr Kedadouche vgl. »Haut Conseil à l’Intégration«. Zum Haut Conseil à l’Intégration vgl. Kapitel 2.1.3.
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terschaft von 1998 trugen Patrick Weil, Wissenschaftler am CNRS, und Philippe Bernard von Le Monde dem damaligen Premierminister Lionel Jospin die Idee vor, einen Ort zu schaffen, an dem die Geschichte der ›Immigration‹ nach und in Frankreich thematisiert wird. Auch Verbände machten sich für einen Gedenkort der Immigration stark, und im Dezember 2001 plädierten in Libération zudem zahlreiche Vertreter von Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur sowie Bürger von Marseille für ein Immigrationsmuseum in der Stadt.192 Jospin beauftragte im Juni desselben Jahres Driss el Yazami und Rémy Schwartz mit einer ersten Konzeption des Museums. Der noch 2001 vorgestellte Bericht »Pour la création d’un centre national de l’histoire et des cultures de l’immigration« verhalf schließlich dazu, das Projekt zu konkretisieren und lotete Möglichkeiten und Ziele eines Immigrationsmuseums aus. Im März 2003 betraute Jospins Nachfolger Jean-Pierre Raffarin den ehemaligen Minister für Kultur und Frankophonie und heutigen Präsidenten des Conseil d’orientation der Cité, Jacques Toubon; mit der Planung im April desselben Jahres wurde das Museum im Comité interministériel d’intégration endgültig beschlossen.193 Unter der Leitung Toubons wurde schließlich ein zweiter Bericht angefertigt und im April 2004 vorgelegt. Noch im Juli desselben Jahres verkündete Raffarin die Einrichtung des Immigrationsmuseums, im November 2005 konkretisierte ein dritter und letzter Bericht mit dem Titel »Projet scientifique et culturel« die Planungen der Cité. Die Eröffnung des Museums war ursprünglich für das Frühjahr vor den Präsidentschaftswahlen von 2007 geplant, in denen Sarkozy Chirac an der Spitze des Staates ablöste, doch fand sie aufgrund von verzögerten Bauarbeiten erst ein halbes Jahr später im Oktober 2007 statt. Heute beansprucht die Cité nationale de l’histoire de l’immigration, wie auf ihrer Internetseite erklärt wird, ein »élément majeur de la cohésion sociale et républicaine« zu sein. Von diesem Anspruch wird ihre Aufgabe abgeleitet, die in der Repräsentation der französischen Immigrationsgeschichte besteht und damit zu einem anderen Umgang mit Migranten führen, das heißt »les regards et les mentalités sur l’immigration en France« verändern soll.194 Auf der Grundlage
192 Vgl. »Appel à Jean-Claude Gaudin«; Baunay/Bechtold-Regnon, »Changer les regards sur l’immigration«, S. 60; Lebovics, Bringing the Empire back home, S. 171; »Un projet en germe depuis plusieurs années«; el Yazami/Schwartz, »Rapport. Pour la création d’un centre national de l’histoire et des cultures de l’immigration«, S. 5, Fußnote 1. 193 Vgl. »Un projet en germe depuis plusieurs années«; »Jacques Toubon«; »Conseil d’orientation de l’établissement public de la Porte Dorée«. 194 »Le projet«.
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dieses Anspruchs wird in den folgenden Kapiteln untersucht, ob in der Cité Vorurteile durch die museale Repräsentation ausgeräumt werden können, wie beansprucht wird. Dabei ist die These leitend, dass in der Umsetzung dieses Anspruchs ein Narrativ in der Dauerausstellung entworfen wird, das eine spezifisch französische ›Vielfalt‹ diskutiert und eine Erzählung anbietet, die dem in dieser Arbeit eingangs skizzierten assimilatorischen Integrationsmodell gleicht, anstatt zu helfen, die mit diesem Integrationsentwurf einhergehenden Klischees abzubauen. Dass dabei die repräsentierte Immigrationsgeschichte zu einer Geschichte der Integration wird und dass vor allem auf ein Identitätsbild rekurriert wird, das Frankreich als eine homogene Einheit anlegt und Migranten möglichst vollständig integriert, soll gezeigt werden. Zu diesem Zweck werden im Folgenden ein Brief und eine Rede von Raffarin zur Cité analysiert, die die national-identitäre Anlage des Museums verdeutlichen sollen. Dabei soll an verschiedenen Stellen der Vorgängerbericht von el Yazami und Schwartz einbezogen werden, der auf rund 80 Seiten erstmals die Möglichkeiten eines Immigrationsmuseums auslotete und Vorschläge unterbreitete, die in der späteren Planung und Umsetzung der Cité teilweise berücksichtigt worden sind wie bei der Benennung der Cité, die zunächst Centre national de l’histoire et des cultures de l’immigration genannt wurde.195 Der erste der im Folgenden zu besprechenden Texte von Raffarin ist die Lettre de mission vom 10. März 2003. In dem Brief betraute der Premierminister Jacques Toubon mit der Aufgabe, eine Planungskommission einzurichten und mit ihr gemeinsam konkrete Vorschläge für die Umsetzung eines Immigrationsmuseums zu erarbeiten. Anschließend an diesen Brief wird im Folgenden eine Rede des Premierministers diskutiert, die Raffarin anlässlich der Ankündigung des Museums am 8. Juli 2004 gehalten hat, nachdem der Bericht der Planungskommission vorgelegt worden war. Darin betonte er – in längeren Ausführungen und stärker als Chirac – die republikanischen Werte. Welche Bedeutung darin der ›Vielfalt‹ von Migranten beigemessen wurde, bleibt zu zeigen. Raffarins Brief skizziert in drei nicht klar markierten Abschnitten zunächst die Aufgaben, die Toubon als Leiter der Planungskommission erfüllen sollte, dann das geplante Museumsprojekt und bettet das Vorhaben schließlich in den politisch-gesellschaftlichen Kontext in Frankreich ein. Im ersten Teil entwirft er Frankreich als eine Nation, die schon seit langem auf der Vermischung verschiedener Nationalitäten beruht, dessen Integrationsmodell aber auf der Suche nach einem »nouveau souffle« ist, wie Raffarin weiter erklärt. Um vor diesem Hintergrund dem Beitrag von Migranten zur Geschichte der französischen Nation An-
195 Vgl. el Yazami/Schwartz, »Rapport«.
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erkennung entgegenzubringen, ist Raffarin zufolge ein Projekt von nationaler Größe nötig.196 Im zweiten Teil rekurriert Raffarin auf die Recherchen von el Yazami und Schwartz zur Machbarkeit eines Immigrationsmuseums und betraut Jacques Toubon mit der Vorbereitung des Museums. Dazu skizziert Raffarin vier inhaltliche Dimensionen des zukünftigen Museums: Ausgehend von den gesellschaftlichen Entwicklungen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts soll es erstens die großen Migrantenströme herausarbeiten, zweitens die Verbindung zwischen der Einwanderung und vielfältigen Aspekten der zeitgenössischen Geschichte wie politischen, sozialen ode demografischen Faktoren. Drittens soll es die umfangreichen Archive und Bestände zum Thema erschließen und viertens als ein »lieu vivant« fungieren, an dem auch Wechselausstellungen und Kunstveranstaltungen angeboten werden.197 Zur Vorbereitung dieser Dimensionen soll Toubon einen wissenschaftlichen und einen technischen Beirat zusammenstellen. Der wissenschaftliche Beirat soll aus Wissenschaftlern und Verbänden bestehen, die sich mit Immigrationsfragen befassen, und besonders auf der Grundlage der Dokumente des Haut Conseil à l’intégration arbeiten, der technische Beirat dagegen für die Budgetierung und die organisatorische Planung zuständig sein.198 Im letzten, dritten Teil beschreibt Raffarin in wenigen Sätzen die ›vocation‹ des Museums, das auf die bereits genannte Veränderung der Bewertung und Einordnung von Immigrationsphänomenen abzielen soll. Wie er weiter erklärt, gehe es um eine »›certaine idée‹ de la France et de la République qui est en jeu«. Hiermit und besonders mit seinem Rückgriff auf den von Charles de Gaulle eingeführten Begriff der ›certaine idée de la France‹ bettet der Premierminister das geplante Museum wie schon zu Beginn seines Briefs erkennbar in den republikanischen Diskurs ein.199 Diese national-identitäre Bestimmung des Projekts soll im Folgenden gezeigt und die Konzeption der ›Anderen‹ in Raffarins Ausführungen erläutert werden. Der Eindruck eines bereits angedeuteten republikanischen Entwurfs der Cité verdichtet sich zum Ende von Raffarins Brief, dessen gesamter Argumentationsgang von Beginn an diesen Eindruck vorbereitet. Die Vision des Premierministers ist bereits am ersten Satz ablesbar, der lautet: »La nation française s’est progressivement construite sur le rassemblement et le brassage d’individus ve-
196 Le Premier Ministre, »Lettre de mission du Premier Ministre à Jacques Toubon«, S. 1. 197 Ebd., S. 2. 198 Vgl. ebd. Zum Haut Conseil à l’intégration vgl. Kapitel 2.1.1. 199 Ebd., S. 3. Vgl. Charles de Gaulle: Une certaine idée de la France.
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nant de tous horizons réunis au sein d’une communauté de citoyens«.200 Hieran wird deutlich, dass Raffarin die Nation als eine staatliche Gemeinschaft begreift, die auf einem »brassage« beruht und vorab gegeben ist. Eine solche Auffassung des »rassemblement« ist insofern bemerkenswert, als man den Begriff auch als einen Rückgriff auf die von Braudel ausgehende Beschreibung einer ›diversité française‹ verstehen könnte, die vor allem regionale Unterschiede umfasst.201 Im weiteren Verlauf seiner Rede bestimmt Raffarin diese Ansicht näher. Kurz nach Beginn des Briefes betont er, dass es nötig sei, von Staatsseite aus die von ihm genannte ›Vielfalt‹ zusammenzuführen und zusammenzuhalten. Ausgehend von der Beobachtung, dass das Integrationsmodell à la française neuen Schwung brauche, nennt er Pluralisierungsphänomene, die ihm auf kommunitaristische Tendenzen hinzudeuten scheinen. Raffarin kann damit diese Veränderungen als bedrohlich ausweisen, indem er impliziert, dass sie die nationale Einheit gefährden. In diesem Kontext belegt er auch die Notwendigkeit des Museumsprojekts, die er folgendermaßen unterstreicht: »Seul un projet d’envergure nationale […] peut utilement contribuer à ressouder la cohésion nationale«.202 Dadurch, dass Raffarin hiermit die »cohésion sociale« als Ziel bestimmt, wird deutlich, dass er auch das geplante Immigrationsmuseum, das »projet d’envergure nationale«, als ein assimilatorisches Projekt begreift. Das wiederum gleicht erkennbar einem Vorhaben, das der Förderung von ›Vielfalt‹ und allen Pluralisierungstendenzen zum Trotz die Einheit der Nation zur Geltung bringen und den nationalen Zusammenhalt fördern soll. Diese deutlich republikanische Bestimmung des geplanten Museums wirft die Frage auf, wie Raffarin die kulturell ›Anderen‹ konzipiert, deren Geschichte im geplanten Museum gezeigt werden soll. Anstatt Migranten als Migranten zu benennen, fasst Raffarin sie in seinem Brief zunächst unter dem Begriff der ›étrangers‹ zusammen, den er im weiteren Verlauf konkretisiert. Der Terminus betont die Notwendigkeit der »reconnaissance de l’apport des étrangers à la construction de la France« und rekurriert damit auf den Bericht von el Yazami und Schwartz, die diese Notwendigkeit ebenso benannt haben.203 Insofern Raffarin jedoch auf den ›apport‹ der ›étrangers‹ abhebt, ist deutlich, dass Migranten
200 Ebd., S.1. 201 Zum Konzept der ›diversité française‹ vgl. Kapitel 2.1.1 und 2.1.3. Als weitgehend gegeben wird die französische ›Vielfalt‹ auch in der Dauerausstellung der Cité dargestellt, vgl. dazu Kapitel 3.2.3. 202 Le Premier Ministre, »Lettre de mission du Premier Ministre à Jacques Toubon«, S. 1. 203 Ebd., S. 1. Vgl. el Yazami/Schwartz, »Rapport«, S. 11.
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weniger in ihrer jeweils individuellen Herkunft, ihren Beweggründen zur Abreise und Einwanderung nach Frankreich sowie ihrer Lebensweise nach der Einwanderung erfasst werden sollen als vielmehr anhand des Beitrags, den sie zur französischen Gesellschaft geleistet haben und weiterhin leisten. Während die ›Anderen‹ somit nur wenig differenziert betrachtet werden, wird das Museumsprojekt dagegen deutlich nach republikanischer Maßgabe bestimmt. Denn was im Bericht von Schwartz und el Yazami noch die ›fierté‹ der Franzosen und der Migranten war,204 wird bei Raffarin nicht nur zum Stolz von Franzosen allein. Sie sind auch die einzige Zielgruppe, der gegenüber der Beitrag von Migranten zur französischen Geschichte verdeutlicht werden soll. So erklärt Raffarin: »[L’]ensemble des Français ont besoin de connaître et de s’approprier ce qui constitue l’essentiel du projet républicain, à la lumière de ses succès et de ses hésitations«.205 Hieran ist zu erkennen, dass Raffarin die zentrale Zielgruppe, das ›ensemble des Français‹, nicht weiter differenziert und damit auch nicht unterscheidet, ob er ›Franzosen‹ meint, die nach der republikanischen, egalitären Auffassung Frankreichs auch Migranten umfassen können, oder sich auf die meist implizierte Bestimmung von Franzosen als ›Français de souche‹ bezieht. Dass Raffarin aber noch einmal die Bestimmung des Projekts als ein dezidiert assimilatorisches »projet républicain« bekräftigt, wird hier bereits offensichtlich. Noch deutlicher wird dieser Wille zur Vereinheitlichung in der Rede vom 8. Juli 2004, in der Raffarin die Einrichtung eines Immigrationsmuseums ankündigt. Darin erläutert er in zwei großen Teilen die Bedeutung und Wichtigkeit eines Immigrationsmuseums für Frankreich. Gerahmt werden die beiden Teile von einer gut eine Seite langen Einleitung, die gespickt ist mit zahlreichen appellativen Personalpronomina ›nous‹, sowie einer Schlussbetrachtung. Im ersten Teil entwirft Raffarin die Vision Frankreichs als eines Einwanderungslands. Die Ausführungen dazu sind in fünf Unterabschnitte gegliedert, die die Geschichte der republikanischen Identität skizzieren. Raffarin entfaltet erstens die Prinzipien der Nationalität und der ›citoyenneté‹ und definiert diese als zentrale republikanische Grundlagen, als eine, wie er sagt, »vocation universelle«.206 Darauf aufbauend fragt er zweitens nach der Definition und dem Wesen desjenigen, den
204 Vgl. el Yazami/Schwartz, »Rapport«, S. 9, 24. 205 Le Premier Ministre, »Lettre de mission du Premier Ministre à Jacques Toubon«, S.1. Es fällt auf, dass Raffarin an dieser Stelle nicht von Erfolgen und Misserfolgen, sondern von Erfolgen und Zweifeln spricht, was eine französische Täterschaft nicht explizit nennt, sondern eher abschwächt. 206 »Discours du Premier ministre«, S.2.
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man als Franzose bezeichnet,207 und beleuchtet vor diesem Hintergrund drittens die Geschichte der Immigration nach Frankreich und in einem vierten Unterabschnitt Immigration heute. Im letzten Teil seiner Rede verweist Raffarin auf die Integrationspolitik der französischen Regierung seit 2002. Dadurch bekräftigt er noch einmal die eigene Integrationspolitik, die er bereits in seinem Brief an Toubon gelobt hat. Im zweiten großen Teil seiner Rede geht Raffarin schließlich auf die Cité selbst ein. Er thematisiert zunächst die Wahl des Namens und des Ortes der Cité und greift dabei potenzielle Kritik auf, indem er auf die positive Umdeutung des Gebäudes der Cité verweist. Er umreißt dann den Entwurf der Cité als ein kulturelles Projekt und erläutert schließlich die Prinzipien und die Programmarbeit des Museums. Um zeigen zu können, dass Raffarin das geplante Museum auch in seiner Rede als dezidiert republikanisches Projekt anlegt, sind im Folgenden besonders die Einleitung und der erste Teil von Interesse. Raffarin bezeichnet Frankreich in der Einleitung zunächst als »un choix humaniste«, als ein Land, das durch seine Offenheit und seine Dynamik und zugleich durch den Stolz auf seine Geschichte und Werte gekennzeichnet ist, wie er ausführt. Er skizziert Frankreich damit auf der einen Seite erkennbar als Alternative zum vielfachen Plädoyer für die Anerkennung kultureller Unterschiede und zum fremdenfeindlichen Diskurs auf der anderen.208 Die diesem ›humanistisch‹ konzipierten Land zugrunde liegenden republikanischen Werte führt der Premierminister sodann im ersten Teil seiner Rede genauer aus. Dabei korrespondiert seine detaillierte Erläuterung dem Bericht von el Yazamis und Schwartz, der ebenfalls deutlich an den republikanischen Werten Frankreichs orientiert ist.209 Wie die weiteren Ausführungen in der Rede zeigen, betrachtet Raffarin die Französische Revolution als den Zeitpunkt, zu dem sich die nationale Identität Frankreichs herausgebildet hat. Um das zu belegen, verweist der Premierminister nicht nur auf das Prinzip der Gleichheit, auf dem der nationale Identitätsdiskurs seit der Revolution gründet. Er rekurriert im zweiten Unterabschnitt des ersten Teils auch auf die »civilisation française« und auf das ebenso in französischen wie überseeischen Schulen lange Zeit vermittelte Prinzip von den Galliern als den eigenen Vorfahren. Den Ursprung des sprichwörtlichen »Nos ancêtres les
207 Ob Raffarin hiermit implizit auf Patrick Weils Studie Qu’est-ce qu’un Français? verweist, bleibt offen. Explizit hingegen rekurriert er auf die Französische Revolution, die mit der Bestimmung der ›nationalité‹ Raffarin zufolge eine Antwort auf die Frage »Qu’est-ce qu’un Français?« gegeben habe. Vgl. ebd., S. 2. 208 »Discours du Premier ministre«, S. 1f. 209 Vgl. el Yazami/Schwartz, »Rapport«, u.a. S. 5.
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Gaulois« siedelt er im 19. Jahrhundert an, »pas avant«.210 Obgleich der Premierminister dieses Prinzip nicht explizit ablehnt – schließlich hat er auch die Anfänge der Immigrationsgeschichte, die in der Cité gezeigt werden soll, im 19. Jahrhundert verortet –, entkräftet er es doch implizit. Raffarin skizziert vielmehr eine andere Identitätskonzeption als Grundlage der französischen Gesellschaft und bezieht sich dabei vor allem auf den Aspekt der ›Vermischung‹. Er erläutert beispielsweise: »C’est de ce brassage qu’est née la civilisation française, avec des hommes et des femmes qui ont choisi la France pour vivre leur destin, rassemblés autour des valeurs que sont la liberté, l’égalité et la fraternité«.211 Obgleich Raffarin die Nation wie schon in seinem Brief erneut als einen »brassage« begreift, den er in seinem Brief als eine Vermischung ›d’individus venus de tous horizons‹ angelegt hat, konkretisiert er diesen Begriff nun anhand der republikanischen Trias der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Daran anschließend entwirft er sein Bild des ›idealen Franzosen‹, indem er weiter ausführt: »Un Français aujourd’hui, c’est un citoyen qui a en partage ces valeurs [liberté, égalité, fraternité; N.P.], qui croit en l’universel et qui pense et qui raisonne dans notre langue«.212 Diese Definition des ›Franzosen‹ ist aufschlussreich. Schließlich betont Raffarin darin nicht nur erneut die wichtige Bedeutung der republikanischen Werte, insofern er ›den‹ Franzosen vor allem als einen ›citoyen‹ beschreibt, der diese republikanischen Werte teilt. Er bestimmt sie auch als universelle Werte, wenn er den Glauben an das Universelle zum Kennzeichen des ›idealen Franzosen‹ erklärt. Angesichts dieser Bestimmung des ›idealen Franzosen‹ bleibt noch offen, wie Raffarin die Rolle der Migranten definiert, deren Migrationsgeschichte das Museum darstellen soll. Am Ende des dritten Abschnitts im ersten Teil benennt er das erste Mal Migranten und erwähnt Migranten verschiedener Herkunft, darunter auch Migranten aus den ehemaligen Kolonien. Diese explizite Nennung mündet in zwei Konzessionen, die durch das zahlreich verwendete Pronomen ›je‹ vorbereitet werden: »Je m’incline devant leur mémoire [la mémoire des immigrés; N.P.]« und »La France leur rend hommage [aux immigrés; N.P.]«.213 Mithilfe dieser Zugeständnisse spricht Raffarin Migranten erkennbar die Anerkennung zu, die er bereits als Anspruch für die Cité in seinem Brief an Toubon festgehalten hat.
210 »Discours du Premier ministre«, S. 3. 211 Ebd. 212 Ebd. 213 Ebd., S. 4.
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In diesem dritten Unterabschnitt definiert er Migranten sodann näher. Er begründet sie besonders über ihre Arbeitskraft und erklärt: »[J]e veux citer les Polonais, les Belges, qui ont tant fait, dans le Nord et en Lorraine au moment de l’essor industriel de la France. Je veux citer les Italiens, les Espagnols qui, en Lorraine là-aussi mais encore à Marseille, en Aquitaine ont donné leur vie pour travailler en France, dans des conditions souvent difficiles […] que la France a fait venir en masse et à qui elle doit tant pour sa reconstruction et sa prospérité, après 1945.«214
Indem Raffarin hier die Arbeitsleistung einzelner Migrantengruppen hervorhebt, verdeutlicht er, woraus lange Zeit der ›apport‹ dieser Gruppen bestanden hat: daraus, in Frankreich zu arbeiten und zum wirtschaftlichen Wachstum beizutragen. Über diesen Einsatz wurden Migranten zu Franzosen, wie er abschließend bekräftigt: »Leur engagement [celui de leurs pères et mères; N.P.] a fait de vous [des immigrés; N.P.] des Français à part entière«.215 Hiermit rekurriert Raffarin implizit auf das von ihm bereits erwähnte republikanische Integrationsmodell, das Raffarin zufolge aus Migranten ›vollständige Franzosen‹ gemacht hat. Explizit benennt er es, indem er appellativ betont: »Prenons exemple sur le passé: l’intégration, ça marche!«.216 Dass der Premierminister die Integration hier im Rückgriff auf die Vergangenheit als erfolgreich beschreibt, korrespondiert den Ausführungen von el Yazami und Schwartz, insofern auch sie bekräftigt haben: »Toutes ces populations ont été intégrées dans une logique égalitaire et individuelle«.217 Die vorangegangenen Beobachtungen lassen sich auf die These zuspitzen, dass die Begründung der Integrationsfähigkeit von Migranten vor allem über die Arbeit dem von Raffarin in der Einleitung seiner Rede genannten Wunsch entgegensteht, Migranten nicht mehr ausschließlich als Arbeitskraft oder als Projektionsflächen sozialer Probleme zu begreifen.218 Entgegen seiner Bestrebung allerdings, mit der Cité neue Perspektiven auf und neue Bilder von Migranten zu schaffen, entwirft Raffarin auch im vierten Abschnitt seiner Rede das Bild eines eher hilfsbedürftigen Einwanderers. So erklärt er: »[La France] a accueilli ces trente dernières années des boat-people qui fuyaient la terreur«.219 Diesem Bild stellt er das Bild von Frankreich als
214 Ebd., S. 3f. 215 Ebd., S. 4. 216 Ebd., S. 3. 217 El Yazami/Schwartz, »Rapport«, S. 5. 218 Vgl. »Discours du Premier ministre«, S. 1. 219 Ebd., S. 4.
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einem großzügigen und offenen Gastgeberland entgegen, wenn er sagt: »Parce que, terre de tolérance, la France est fidèle à sa tradition de l’asile […]. Parce que, terre de prospérité, notre pays attire des hommes et des femmes à la recherche d’une vie meilleure«.220 Indem Raffarin an dieser Stelle die hilfsbedürftigen Einwanderer dem offenen Gastgeberland Frankreich geradezu plakativ entgegensetzt, begründet er erneut die Notwendigkeit des Museums. Zugleich macht er aber von einem Missverhältnis zwischen dem vermeintlich offenen Gastgeberland und den hilfsbedürftigen Einwanderern Gebrauch, das bereits für seinen Brief an Toubon angedeutet wurde: Raffarin entwirft Frankreich einerseits als geradezu statisch, wenn er auf die republikanischen Werte und die vermeintlich historisch belegte Integrationsfähigkeit Frankreichs rekurriert. Andererseits stellt er diesem fest gefügten Bild der französischen Nation das in seinen Ausführungen ebenfalls fest gefügte und im Diskurs verankerte Bild von hilfsbedürftigen oder arbeitenden Einwanderern gegenüber. Wie festzustellen ist, konterkariert Raffarin mit dieser Entgegensetzung den Anspruch des Museums, Vorurteile zu dekonstruieren und einen neuen Blick auf Immigration zu werfen. Weniger pathetisch als im ersten Teil bezieht Raffarin sich im zweiten Teil der Rede auf die Cité selbst. Im Hinblick auf die auch von ihm getragene Entscheidung, die Cité im ehemaligen Palais des Colonies einzurichten, greift er späteren Kritiken an der Wahl des Ortes vor, indem er erklärt, dass das im kolonialen Kontext entstandene Gebäude produktiv umgedeutet werden sollte. Zwar hatten noch el Yazami und Schwartz zu einem weniger prestigeträchtigen Ort geraten und gewarnt, »de ne pas trop ›marquer‹ le musée en choisissant un lieu emblématique d’une seule dimension de l’histoire de l’immigration«.221 Doch Raffarin erklärte, dass der Ort dank seiner Prestigeträchtigkeit der gegenwärtigen Immigrationsgeschichte eine gewisse Anerkennung zukommen lassen können, indem die Symbolik des kolonial markierten Gebäudes über eine erste Wechselausstellung im Jahr 2007 aufgebrochen werden sollte.222
220 Ebd. 221 El Yazami/Schwartz, »Rapport«, S. 31. Zur Wahl des Palais des Colonies vgl. Kapitel 3.2.2. 222 Vgl. »Discours du Premier ministre«, S. 6. Diese geplante Wechselausstellung fand nicht statt, wohl aber im September 2006 ein Kolloquium zur Verknüpfung der Themen Immigration und Kolonisierung. Vgl. Kapitel 3.2.3. Der Analyse und Demonstration dieser Verbindung von Immigration und Kolonialgeschichte widmet sich schon seit einigen Jahren besonders die Association connaissance de l’histoire de l’Afrique contemporaine. Vgl. u.a. el Yazami/Schwartz, »Rapport«, S. 7; zudem »Groupe de recherche Achac. Colonisation, immigration, post-colonialisme«.
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Im weiteren Verlauf führt Raffarin weiter aus, was die Cité repräsentieren soll. Anstelle von Ausstellungskollektionen soll die französische Immigrationsgeschichte Gegenstand der Cité sein. Den eigentlichen Beginn dieser Geschichte, deren Darstellung in der Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzen soll, verortet er in der Epoche der Französische Revolution und unterstreicht damit noch einmal erkennbar die republikanischen Prinzipien der ›citoyenneté‹ und ›nationalité‹, die er im ersten Teil seiner Rede ausgeführt hat und als Elemente der von der Revolution begründeten und bis heute fortlaufenden Geschichte Frankreichs begreift. Wie Raffarin weiter erläutert, ist diese Geschichte »à tous les publics« zu zeigen und nicht Franzosen ausländischer Abstammung allein, und die Cité als ein »lieu pour l’ensemble de la nation« zu konzipieren.223 Darüber hinaus soll sie, wie Raffarin im dritten Unterabschnitt des zweiten Redeteils auch erklärt, ähnlich wie die Cité de la musique oder der Cité des sciences et de l’industrie ein Kulturzentrum sein, »destiné[e] à rassembler notre nation autour de son histoire«. 224 Die in der Rede mehrfach benannte Geschichte definiert Raffarin erkennbar integrativ. Wie Raffarin im ersten Teil seiner Rede zeigt, soll die Geschichte von Migranten anerkannt werden; er betont schließlich: »Leur histoire est notre histoire«.225 Die Bestimmung ›ihrer‹ Geschichte als ›unserer‹ Geschichte erweist sich jedoch als erkennbar ambivalent, insofern sie einerseits als ein Zugeständnis an Migranten und andererseits als ein Wunsch nach (bedingungsloser) Assimilation aufgefasst werden kann. Wenn man die Entwürfe von Nation und Migranten in Raffarins Brief und in seiner Rede zusammendenkt, kann man allerdings annehmen, dass hier vor allem die zweite Bedeutung gemeint ist, da Raffarin schon am Ende des ersten Teils seiner Rede das Verbindende der Geschichte betont. Am Schluss des Teils skizziert er schließlich die eigentliche Idee des Museumsprojekts. Das geplante Museum soll zeigen, »ce qui rassemble plutôt que ce qui divise. Et aujourd’hui, l’histoire de l’immigration nous rassemble«,226 und damit erkennbar die Gemeinsamkeit betonen. Auch abschließend betont der Premierminister noch einmal die gemeinsame als eine integrative Geschichte, als er am Ende des zweiten Teils den Wunsch nennt, künftige Wechselausstellungen der Cité unter anderem Künstlern mit ausländischer Abstammung wie Pablo Picasso, Alberto Giacometti oder Constantin Brancusi zu widmen, die zu Lebzeiten nach Frankreich gekommen sind und dort gewirkt haben. Er erklärt: »Ils étaient eux
223 »Discours du Premier ministre«, S. 7. 224 Ebd. 225 Ebd., S. 2. 226 Ebd., S. 6.
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aussi des immigrés«.227 An dieser Begründung ist erkennbar, dass Raffarin besonders auf erfolgreiche Integrationswege verweist und diese als Beleg für den Erfolg des französischen Integrationsmodells anführt. Dass dieses Modell allerdings oft assimilatorisch verwendet wurde, benennt Raffarin nicht. Er skizziert zwar in der Schlussbetrachtung noch einmal den Zweck des benannten Integrationsmodells. Entsprechend aber der schon eingangs genannten ›cohésion sociale‹, die es zu bewahren gelte, erläutert er hier die vielfältigen Ansprüche der geplanten Cité: »Tirer les leçons de l’histoire et sortir des clichés, reconnaître l’apport des immigrés à la construction de la France, renforcer le lien entre les générations et la cohésion nationale, les ambitions de ce projet sont multiples. Elles sont aussi fondamentales car faire l’histoire de l’immigration, la présenter et la faire connaître, c’est le plus sûr moyen de connaître l’histoire de la France et mieux faire partager l’identité nationale.«228
Mit diesen abschließenden Erläuterungen zum Ziel des Museums, Vorurteile abzubauen und den Anteil von Migranten an der französischen Geschichte und Identität anzuerkennen, rekurriert Raffarin auf die schon von el Yazami und Schwartz genannten vielfältigen Ansprüche, die »missions scientifiques, culturelles et sociales«.229 Er verweist zugleich auf den Zweck, den er hinter der Repräsentation der gemeinsamen Geschichte sieht: Sie soll die nationale Identität miteinander teilen lassen. Wie allerdings die vorangegangenen Beobachtungen gezeigt haben, steht hinter diesem Anspruch besonders die Stärkung der nationalen Identität, demzufolge die Cité hier noch einmal als ein integratives und dem nationalen Interesse dienliches Projekt bestimmt wird. Diese integrative Konzeption des geplanten Museums impliziert abschließend eine Problematik, die in der Analyse des Briefes und der Rede von Raffarin angedeutet wurde: die Frage, ob nicht dem Anspruch, Vorurteile zu dekonstruieren, eine ebenso offene Repräsentation folgen muss. Schließlich steht in Raffarins Ausführungen diesem Anspruch das dargestellte Missverhältnis zwischen dem hilfsbedürftigen Einwanderer auf der einen und dem generösen Gastgeberland auf der anderen Seite deutlich entgegen. In dieser Entgegensetzung erschei-
227 Ebd., S. 8. Auch wenn bislang noch keine Wechselausstellung zu einem dieser Künstler angeboten worden ist, dienen sie in der Dauerausstellung als Beispiele für ›kulturelle Vielfalt‹. Vgl. Kapitel 3.2.3. 228 »Discours du Premier ministre«, S. 9. 229 El Yazami/Schwartz, »Rapport«, S. 22.
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nen beide als vergleichsweise statisch konzipiert: Einerseits wird für Frankreich die nationale Identität anhand der republikanischen Prinzipien fort- und festgeschrieben, andererseits werden Migranten vor allem als Beispiele für die Integrationsfähigkeit Frankreichs dargestellt, indem Raffarin auf die Arbeitskraft und -leistungen von Migranten und auf die erfolgreiche Integration von Picasso oder Brancusi rekurrierte. Dass hier der Fokus auf den Anteil von Migranten an der gemeinsamen, nationalen Geschichte gerichtet wird, lässt Migranten als solche aus dem Blick geraten. Dies zeigt beispielsweise die Kürzung des Namens der Cité, die Raffarin vorgenommen hat. Während el Yazami und Schwartz diesen als einen provisorischen markiert hatten, strich Raffarin in seiner Rede die ›cultures‹ aus dem Namen und ließ das geplante Museum zu einer Cité nationale de l’histoire de l’immigration werden.230 Damit hat Raffarin nicht zuletzt anhand des Namens belegt, dass er den Schwerpunkt der Cité auf dem Gebiet der gemeinsamen Geschichte sieht. Anstatt aber auf eine gemeinsame Geschichte abzuzielen, die auch Migrantenkulturen, ihre Herkunft und ihre Wege nach Frankreich einschließen würde, berief sich Raffarin auf die gemeinsame Geschichte, die ihm zufolge national-republikanisch angelegt ist und integrativ verfährt. Er betonte in seiner Rede auch: »Ce lieu doit permettre aux immigrés et à leurs enfants de connaître cette histoire pour que les ›mémoires d’immigrés‹ soient des mémoires partagées«.231 Vor dem Hintergrund dieser Äußerung lässt sich abschließend festhalten, was auch die vorangegangenen Beobachtungen gezeigt haben: Raffarin zufolge sollen Migranten mithilfe der Vermittlung einer gemeinsamen Geschichte integriert werden, während Migrantenkulturen weitgehend unberücksichtigt bleiben und sie ebenso wie Frankreich statisch entworfen werden. Zusätzlich unterstrichen hat Raffarin diese Perspektive durch seinen Ausspruch, der später teilweise als Motto für die Cité verwendet wurde: »Leur histoire est notre histoire«.
230 Vgl. »Discours du Premier ministre«, S. 7. Vgl. El Yazami/Schwartz, »Rapport«, S. 9. Auf der Webseite der Cité findet sich allerdings an der Stelle, an der die Dauerausstellung vorgestellt wird, der volle, um ›cultures‹ ergänzte und um ›musée½ geänderte Name: Musée de l’histoire et des cultures de l’immigration. Vgl. »Musée de l’histoire et des cultures de l’immigration«. 231 »Discours du Premier ministre«, S. 4.
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3.2.2 Die Cité »en tant que saga constitutive de l’État-nation«: Zur Planung Die Perspektivierung der nationalen und der Immigrationsgeschichte als einer gemeinsamen Geschichte, die Raffarin vorgeschlagen und entworfen hat, wurde in der Planungsphase konkretisiert. Unter der Leitung von Toubon erarbeitete die Vorbereitungskommission von April 2003 rund ein Jahr lang Möglichkeiten, Ziele und Inhalte des Immigrationsmuseums. Als im ersten Halbjahr 2004 der 250 Seiten starke Bericht an den Premierminister übergeben und noch im Juli desselben Jahres die Einrichtung des Museums verkündet wurde, stand das Projekt: Der im Januar gegründete Groupement d’intérêt public setzte den Bericht schließlich sukzessiv um. So fanden in der Folge regionale Treffen und zwei internationale Kolloquien statt, zudem wurden die wesentlichen kulturellen Aktivitäten der Cité festgelegt, und ein zweiter Bericht konkretisierte die Vorschläge der Planungskommission. Im Januar 2007 wurde aus dem Gip schließlich ein Établissement public à caractère administratif, das am 10. Oktober 2007 in Form der Cité eröffnet wurde.232 In der folgenden Analyse wird besonders der Bericht der Planungskommission unter Toubons Leitung untersucht. Auf dessen Grundlage und mit Rückgriffen auf den Bericht von el Yazami und Schwartz sowie den zweiten Planungsbericht »Projet scientifique et culturel« sollen im Folgenden die zentralen Identitätszuschreibungen, die für die Cité in der Planungsphase konstitutiv waren, untersucht und auf ihre Konzeption hin analysiert werden. Dabei gilt das Interesse der Umsetzung der von Raffarin entwickelten ›französische Vielfalt‹ und der Rolle, die Migranten zugewiesen bekamen, um dem Anspruch des Museums gerecht zu werden, Vorurteile zu dekonstruieren. Darüber hinaus soll auch gezeigt werden, dass die Konzeption des Museumsprojekts sich in der Planung von dem Entwurf des Museums durch Raffarin erkennbar unterschied. Die Planungskommission zielte beispielsweise darauf, den Zusammenhang von Kolonialzeit und die Geschichte der Einwanderung in Frankreich zu zeigen, während Raffarin, statt die Kolonialzeit zu benennen, das geplante Museum dezidiert republikanisch bestimmt hatte. Anders als im Quai Branly, dessen Planungsphase von nur wenigen Personen dominiert wurde, waren die Planungen der Cité deutlich von dem Versuch geprägt, Migrantenverbände und -experten in die Vorbereitung einzubinden. Bereits im Oktober 2001 hatten über fünfzig Migrantenverbände in Straßburg eine
232 Vgl. »Mission de préfiguration«; »Rapport au Premier ministre«; »La création de l’EPA«; »Les statuts du Gip«; »Les chantiers du Gip«.
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Unterstützung des Museums zugesagt und für die Einbindung in die Planungen des Immigrationsmuseums plädiert.233 In der einjährigen Vorbereitungszeit der Planungskommission wurde diese Beteiligung durch die Einrichtung dreier Gruppen realisiert: des Comité technique, des Conseil scientifique und des Forum des associations. Diese setzten sich aus einer Bandbreite an Experten zusammen, die teilweise auch in mehreren der Arbeitsgruppen vertreten waren, darunter Historiker und Befürworter des Projekts wie Noiriel und Kedadouche oder Bernard und Weil, die bereits 1998 beim Staatspräsidenten für die Einrichtung eines Immigrationsmuseums plädiert hatten. Darüber hinaus waren el Yazami und Schwartz beteiligt, ein Mitarbeiter des französischen Kulturministeriums, Pascal Murgier, sowie Nicolas Bancel und Pascal Blanchard der Association Connaissance de l’Histoire de l’Afrique contemporaine, die zur Kolonisierung, Immigration und zum Postkolonialismus forschen. An der Vorbereitung war zudem auch Françoise Cachin beteiligt, die schon Mitglied der Planungskommission des Quai Branly gewesen war. Nachdem die drei Gruppen etwa ein halbes Jahr lang eng zusammengearbeitet hatten, fand im November 2003 ein Kolloquium statt, in dessen Anschluss ein Comité de pilotage eingerichtet wurde. Darin arbeiteten sowohl Mitglieder der genannten Gruppen als auch weitere Experten am Abschluss der Vorbereitungen zur Cité.234 Neben der großen Anzahl an beteiligten Experten zeugt auch der 250 Seiten starke Bericht von der vielfältig beeinflussten und teilweise stark kontroversen Diskussion in der Planungsphase. In drei Teilen, die nebenbei bemerkt den Vorbereitungsbericht des Quai Branly an Ausführlichkeit weit überragen, werden die Methode, das Museumsangebot und das Veranstaltungsprogramm detailliert beschrieben; dem Bericht vorgeschaltet ist außerdem der besprochene Brief, in dem Raffarin Toubon mit der Aufgabe betraut hat, das anvisierte Immigrationsmuseum vorzubereiten. Die drei großen Teile des Berichts werden von einem Vorwort und einer Einleitung gerahmt, in der der Gegenstand und die Ziele der Cité skizziert werden, sowie von einem über hundert Seiten langen Anhang, in dem erstens die Zusammensetzung der genannten Gruppen, zweitens die Debatten während der Vorbereitung der Planungskommission sowie drittens Protokolle über Besuche anderer Immigrationsmuseen, weitere Treffen und die Anhörung von Experten abgedruckt sind. Das von Toubon verfasste Vorwort »La place des immigrés dans la construction de la France«, fasst den Bericht der Planungskommission auf zwei Seiten
233 Vgl. el Yazami/Schwartz, »Rapport«, S. 7. 234 Vgl. Toubon, »Mission de préfiguration«, S. 9, 113-131, 151. Zu Noiriel, Weil, Bernard und Kedadouche vgl. Kapitel 3.2.1; zu Cachin vgl. Kapitel 3.1.2.
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zusammen. Für die Anlage des Projekts ist es grundlegend, da Toubon im ersten Absatz zunächst skizziert, was die Cité darstellen und worauf sie abzielen soll. Im zweiten bis fünften Absatz fasst er die wesentlichen Schritte der Planungskommission zusammen und thematisiert dann das geplante Museum, das man ihm zufolge Musée de l’histoire et des cultures de l’immigration en France nennen könnte, sowie die spätere Dauerausstellung »Repères«. Im sechsten und siebten Abschnitt unterbreitet er Raffarin konkrete Vorschläge zur Umsetzung des Museums und bekräftigt im letzten achten Absatz die von ihm eingangs skizzierte Aufgabe des Museums. Über die bloße Repräsentation von Immigration hinaus sieht Toubon die Einrichtung des geplanten Immigrationsmuseums in eine zugleich kulturelle wie politische Dimension eingebettet. Er beginnt das Vorwort mit einem Rekurs auf die Ursprünge Frankreichs. Darin definiert er Frankreich als ein Land, das kein ›peuple premier‹ gekannt habe und seit der Revolution und dem Kaiserreich ein »grand pays d’accueil et d’immigration« sei, und erinnert damit erkennbar an Raffarins Beschreibung der ›diversité française‹, auf der auch Toubons unmittelbar folgende Ausführungen zu gründen scheinen. Denn Toubon begreift den Prozess der Vermischung, der mit dem Begriff der ›diversité française‹ umschrieben werden kann, ebenfalls als Grundlage der französischen Nation. Er führt diese Anschauung allerdings wie folgt weiter aus: »Cependant, les histoires individuelles ou collectives des immigrés, leurs trajectoires et leur destinées ont souvent été ignorées par l’Histoire«.235 Hiermit wird deutlich, dass Toubon den Aspekt der ›Vermischung‹, der ›Vielfalt‹, bereits in der französischen Nation angelegt sieht, dass er aber gleichzeitig auf den Umstand hinweist, dass die vielfältigen Geschichten von Migranten durch die Geschichte oft ignoriert worden seien. Er bekräftigt damit zwar implizit, doch deutlich erkennbar die Notwendigkeit, diesen Fehler nicht zu wiederholen und Migranten mitsamt ihrer individuellen und kollektiven Geschichten zu berücksichtigen. Dass die ›Histoire‹, hier mit einer Majuskel versehen, die Kollektivgeschichte Frankreichs meint, ist ebenso bemerkenswert wie die Tatsache, dass diese groß geschriebene Geschichte die Verursacher, sozusagen die Akteure, der Marginalisierung von Migranten ignoriert. Aus der dergestalt gesetzten und abstrakten Konzeption von ›diversité‹ leitet Toubon die Notwendigkeit ab, Migranten als Teil der französischen Republik anzuerkennen – einer Anerkennung, der er während einer Arbeitstagung der Planungskommission im November 2003 einen »aspect de réparation« zuschreibt. Denn das geplante Museum habe, wie er er-
235 Toubon, »Mission de préfiguration«, S. 9. Zu Raffarins Beschreibung der ›diversité française‹ vgl. Kapitel 2.1.3.
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klärt, zwangsläufig eine »portée politique«.236 Mit dieser politisch dimensionierten Anerkennung begründet Toubon auch die Aufgabe der Cité, indem er schreibt: »Cette nécessaire reconnaissance de la place des populations immigrées dans le destin de la République doit aider chaque Français à porter un regard véridique sur l’identité de la France d’aujourd’hui«.237 Wie zu erkennen ist, korrespondiert dieser Wunsch nach einem »regard véridique« Raffarins Anspruch auf die Dekonstruktion von Vorurteilen; in der dem Vorwort folgenden Einleitung konkretisiert Toubon diesen Anspruch. Ihm zufolge soll es im geplanten Immigrationsmuseum darum gehen, »de sortir la question de l’immigration du traitement social ou de la polémique politique où elle est habituellement confinée«.238 Dies verdeutlicht erkennbar über den Wunsch hinaus, einen neuen Blick auf Immigration zu richten, worauf im geplanten Immigrationsmuseum abgezielt werden soll: darauf, Vorurteile gegenüber Migranten zu entkräften. Entsprechend diesem politisch motivierten Anspruch, den auch schon Raffarin vorgetragen hat, soll die Cité, wie es im Vorwort weiter heißt, zum Zusammenhalt der Republik beitragen. So sieht Toubon in der bereits benannten Notwendigkeit, Migranten als feste Bestandteile einer auf ›Vielfalt‹ gründenden Nation, den hauptsächlichen Zweck des Museums begründet, der ihm zufolge daraus besteht, »de réconcilier les multiples composantes de la Nation autour des valeurs qui font sa force«.239 Wie das Verb ›réconcilier‹ erkennbar nahelegt, muss die per se vorhandene und von Toubon bereits bestimmte ›diversité française‹ mit einem Mittel versöhnt werden, nämlich den republikanischen Werten. Zusammenfassend deshalb an dieser Stelle festgehalten werden, dass die national-republikanische Anlage des Projekts hier eindrücklich definiert und an späterer Stelle bekräftigt wird – beispielsweise, wenn Toubon vom geplanten Museum als einem »point de repère national« schreibt.240 Abschließend fasst Toubon diese gleichermaßen symbolische, politische und kulturelle Anlage noch einmal zusammen. Im letzten Satz des Vorworts bestimmt er das Vorhaben, ein Immigrationsmuseum einzurichten, als ein »instrument de connaissance, de tolérance et d’intégration, de nature à renforcer la cohésion nationale d’un pays dont l’identité est faite plus que jamais de tradition, d’ouverture et de diversité«.241 Die Anlage des geplanten Immigrationsmuseums
236 Toubon, »Mission de préfiguration«, S. 189. 237 Ebd., S. 9. 238 Ebd., S. 13. 239 Ebd., S. 9. 240 Ebd., S. 10. 241 Ebd., S. 11.
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ist hiermit erkennbar gesetzt. Denn neben der Vermittlung von Wissen soll es Toleranz und Integration fördern, um den nationalen Zusammenhalt Frankreichs zu stärken. Toubon zufolge ist dieser Zusammenhalt durch eine Identität begründet, die auf Tradition, Offenheit und auf der schon zu Beginn des Vorworts erwähnten ›Vielfalt‹ beruht. In der Einleitung des Berichts der Planungskommission wird der nationale Zusammenhalt unter Rückgriff auf die nationale Identität konkretisiert. So wird gefragt, wie das geplante Museum als ein »repère identitaire« und »ciment national« fungieren könne, ohne zugleich – dies wird am Ende des Abschnitts zum nationalen Zusammenhalt als Warnung ausgesprochen – einem »repli identitaire ou nostalgique« zu folgen.242 Bemerkenswert an dieser Überlegung ist der Begriff des ›Anhaltspunkts‹ und mehr noch der des ›nationalen Zements‹, weil dadurch das Museumsprojekt sehr deutlich als ein identitätspolitisches ausgewiesen wird. Sie legt außerdem die Frage nahe, wie die Cité als Bezugspunkt der nationalen Identität dienen kann, auf die die Planungskommission zwei Antworten hat. Einerseits kann die historische Perspektive demzufolge dazu dienen, so der Bericht, die Immigrationsgeschichte als Bestandteil der französischen Geschichte zu begreifen. Das soll im Museum durch die Repräsentation sowohl von Einzel- als auch von Kollektivgeschichten realisiert werden, wobei der Schwerpunkt eher auf Immigrationsgeschichte als auf der Geschichte einzelner Migrantengruppen liegen soll. Wie Noiriel erklärt, könnte dadurch die historische Prozesshaftigkeit von Immigration thematisiert werden, und es könnte zudem den Besuchern der Kontakt mit fremden Kulturen ermöglicht werden. Damit stellt er die geplante Darstellung der Cité, die die gemeinsame Geschichte in den Mittelpunkt des Interesses stellen soll, ausdrücklich der Inszenierung des Quai Branly entgegen.243 Andererseits leiten die Planer aus der Überlegung, wie ein »repli identitaire ou nostalgique« vermieden werden kann, das Zielpublikum der Cité ab, das die gesamte französische Bevölkerung umfassen soll. An dieser Stelle rekurriert die Planungskommission auf den Bericht von el Yazami und Schwartz und stellt deren Ansatz der ›fierté‹ als fruchtbar heraus. Wie es bei ihnen und auch in der Einleitung von Toubon heißt, soll hiermit der Stolz ebenso der Franzosen wie der Ausländer und Bürger mit Migrationshintergrund, der Stolz darauf, zu Frankreichs Geschichte und Werten beigetragen zu haben, als Leitgedanke des
242 Ebd., S. 13f. 243 Vgl. Noiriel, »L’historien dans la Cité«, S. 15.
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Museums dienen.244 Bemerkenswert ist an dieser Stelle weniger der Rückgriff auf den Vorgängerbericht als vielmehr der Begriff der ›fierté‹. Denn er wird sowohl ›Franzosen‹ als auch Migranten zugeschrieben, ist aber zugleich ein deutlich aufgeladener Begriff, der das bereits genannte identitätspolitische Interesse an der Cité verdeutlicht, ohne dass erklärt würde, wie dieser Stolz aufgebaut werden kann und ob dieser überhaupt wünschenswert ist. Dass dabei erneut die gemeinsame Geschichte im Vordergrund der Planungen steht, wird genauso deutlich, wie eine auf ›diversité‹ gründende und zugleich auf nationalen Zusammenhalt abzielende Perspektive. Im Folgenden soll anhand einiger besonders charakteristischer Punkte des Planungsberichts aufgezeigt werden, wie diese Leitidee auch für die Darstellung im Museum realisiert werden soll. Neben der Einrichtung eines Dokumentationszentrums, eines Archivs und einer umfangreichen Internetseite, die Ende 2010 überarbeitet und vorgestellt wurde, sollte ein umfangreiches kulturelles Programm erstellt werden, das die Aktivitäten des Museums in die französischen Provinzen tragen und umgekehrt Veranstaltungen von Partnerinstitutionen spiegeln sollte. Dem Bericht zufolge kann die Cité dadurch zu einem »lieu ›fréquenté‹« werden.245 Als Kernstück des auch ›lieu visité‹ genannten Museums bezeichnet der Bericht die Dauerausstellung, deren zentrale Eckpunkte heute nicht nur in der Cité selbst, sondern auch auf seiner Internetseite aufgeführt sind. Darüber hinaus sollten Wechselausstellungen organisiert werden, von denen in der Vorbereitungsphase der Planungskommission zwei pro Jahr, mit der Eröffnung der Cité mindestens drei pro Jahr geplant waren, um zu zeigen, »ce qui réunit«.246 Die Dauerausstellung der Cité wurde durch die Planungskommission zweisträngig konzipiert. Sie sollte globale und französische Ereignisse aus der Geschichte abbilden und einem chronologischen Parcours folgen. Dafür sah die Kommission vor, den Parcous in sechs Sektionen einzuteilen, die zudem durch thematische Ausstellungsabschnitte und etwa ein Dutzend sogenannter Module ergänzt werden sollten. Nachdem zunächst der Zeitraum von 1850 bis heute für die chronologische Darstellung anvisiert worden war, dehnte die Planungskommission ihn auf die letzten zwei Jahrhunderte von 1800 bis heute aus. Dadurch sollte einerseits der Entwicklung der Immigration in Frankreich und Epochen
244 Vgl. Toubon, »Mission de préfiguration«, S. 13f.; auch el Yazami/Schwartz, »Rapport«, S. 24. 245 Toubon, »Mission de préfiguration«, S. 101. Zur Überarbeitung der Internetseite vgl. »Un nouveau site web pour la Cité«. 246 Toubon, »Mission de préfiguration«, S. 72. Vgl. auch ebd., S. 71, 102, »L’exposition permanente«.
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wie beispielsweise der Industrialisierung oder der Einrichtung einer modernen Staatsnation Rechnung getragen werden. Andererseits sollte diese umfassendere zeitliche Darstellung es ermöglichen, Migranten überhaupt als ›Fremde‹ zu begreifen, die nach Frankreich gekommen waren und im 19. Jahrhundert erstmals als Einwanderer verstanden wurden. Die Gefahr, dass diese Definition andere Bevölkerungsgruppen auslässt, die zu einer bestimmten Epoche nicht als ›Einwanderer‹ definiert wurden wie beispielsweise Bewohner der DOM-TOM oder Algerier, benennt die Planungskommission dabei explizit. Sie schlägt vor, mithilfe von Diskussionen, Wechselausstellungen und anderen kulturellen Veranstaltungen auf diese Bevölkerungsgruppen hinzuweisen. Wie zudem der Conseil scientifique in einer Sitzung von Juni 2003 erläutert, erlaubt es die umfassende zeitliche Darstellung seit dem 19. Jahrhundert,, die Migrantenströme nach Frankreich als ein modernes Phänomen darzustellen, das auch innerhexagonale Migrationen wie beispielsweise die der Bretonen, koloniale Migrationen oder Migrationen zur Zeit der gegenwärtigen Globalisierung umfassen würde.247 Die chronologischen Abschnitte sollen, so betont die Planungskommission, zusätzlich durch einen narrativen Faden gegliedert werden, der entsprechend dem genannten Fokus auf die gemeinsame Geschichte auf der Immigrationsgeschichte »en tant que saga constitutive de l’État-nation« gründen soll.248 Indem die Erzählung der nationalen Geschichte an dieser Stelle als eine solche ›saga constitutive‹ bezeichnet wird, der an die nationale Meistererzählung, den sogenannten ›roman national‹ erinnert,249 wird dem Anteil der Immigrationsgeschichte an der französischen Geschichte Anerkennung entgegengebracht und gleichzeitig eine gewisse Integrationsfähigkeit Frankreichs impliziert. Darüber hinaus verdeutlicht diese Konzeption, wie die Planungskommission der von Raffarin definierten Aufgabe der Cité an dieser Stelle weitgehend nachgekommen ist. Im Bericht der Kommission wird sie sodann genauer bestimmt: Anhand der geplanten sechs chronologisch strukturierten Sektionen sollten die Immigrationsgeschichte, die Beziehungen zwischen Migranten, ebenso zwischen Migranten und der Ankunftsgesellschaft, den staatlichen Anlaufstellen, den Unternehmen und den Herkunftsländern als eine ›saga constitutive‹ erzählt werden, um die wesentlichen Charakteristika einer jeweiligen zeitlichen Epoche der Immigrationsgeschichte in Frankreich veranschaulichen zu können. Ergänzende Module sollen außerdem charakteristische Aspekte der einzelnen Epochen aufgreifen, vertiefen oder an einzelnen Migrantengruppen exemplarisch verdeutlichen, beispielsweise
247 Vgl. Toubon, »Mission de préfiguration«, S. 51-56, 133f. 248 Ebd., S. 51. 249 Vgl. die Einleitung dieser Arbeit.
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an den aus Vietnam kommenden sogenannten ›boat people‹ aus den 1970er Jahren.250 Vor diesem Hintergrund sollte eine Geschichte zur Entstehung der Nation erzählt werden, die Immigrations- und Integrationsbewegungen gleichermaßen umfasst. Dazu schlägt die Kommission vor, die französische Erzählung entlang von vier Pfeilern zu entfalten. Erstens sollte Frankreich besonders für die Zeit von 1820 bis 1870 als eine ›terre d’asile‹, als ein Zuflucht gewährendes Gastgeberland bestimmt werden. Zweitens sind mehrere chronologische Sektionen geplant, die die Arbeitskraft von Migranten thematisieren, indem sie diese zur Zeit des industriellen Aufschwungs von 1870 bis 1914 oder zur Wirtschaftswunderzeit zwischen 1945 und 1974 behandeln. Drittens sollte die Integration zwischen 1919 und 1945 als Paradigma der gemeinsamen Geschichte dargestellt und die französische Identität viertens als eine auf ›Vielfalt‹, einem ›creuset‹ beruhende Identität repräsentiert werden.251 An dieser Differenzierung des narrativen Fadens wird das von der Planungskommission gesteckte Ziel insofern deutlich, als in der chronologischen Darstellung der Immigration nach Frankreich die Gemeinsamkeit der Geschichte in den Mittelpunkt rückt und nicht etwa die Unterschiedlichkeit von Migrantenkulturen gezeigt wird. Damit konterkarieren die Planungen einen Vorschlag, den el Yazami und Schwartz noch gemacht haben: die Thematisierung der kulturellen Unterschiede und vielfältigen Migrationswege, die in der französischen Bevölkerung auszumachen sind.252 Die vorangegangenen Beobachtungen zeigen, dass die dergestalt erzählte Geschichte der Immigration in Frankreich sich als eine, wie man sagen könnte, ›Beitrags-‹ oder ›Integrationsgeschichte‹ erweist.253 In diesem Sinne kann man festhalten, dass die Arbeitskraft und die Integration von Migranten im Zentrum der Betrachtung stehen und weniger eine durchmischte Gesellschaft, aber auch, dass Frankreich dagegen als die dem Integrationsprozess vorausgehende Einheit
250 Vgl. Toubon, »Mission de préfiguration«, S. 57-59. 251 Vgl. ebd., S. 60-64. 252 Vgl. el Yazami/Schwartz, »Rapport«, S. 58. 253 Den Begriff der ›Beitragsgeschichte‹ hat Joachim Baur in Bezug auf das ältere American Museum of Immigration verwendet, um einen Fokus in der Darstellung von Migranten zu beschreiben, der allein auf die Leistungen eben jener Migranten gerichtet ist, die zur amerikanischen Gesellschaft beigetragen haben. Im neueren Ellis Island Immigration Museum hat er hingegen eine stärkere Teilhabe von Migranten und dadurch nicht zuletzt eine positivere Bewertung ihres Anteils an der amerikanischen Kultur und Gesellschaft festgestellt. Vgl. Baur, Die Musealisierung der Migration, S. 137.
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fungieren soll, in die Migranten integriert werden. Dadurch würde diese Erzählung der Immigrationsgeschichte, wenn sie zu einer solchen ›Integrationsgeschichte‹ umgesetzt wird, jedoch nicht nur zu einem Missverhältnis zwischen dem Einwandererland Frankreich und den hinzukommenden Migranten führen. Migranten würden auch als Beiträger konzipiert, die über diese Funktion hinaus keinen Eingang in die chronologischen Sektionen finden. In dieser Hinsicht ist das Vorhaben, mit einem Aufruf, dem sogenannten ›appel à collecte‹, Bürgerinnen und Bürger zu bitten, der Cité Gegenstände zu überlassen, die von Immigration erzählen, zumindest nennenswert.254 Doch wäre der zunächst positiv zu wertende Appell in der Umsetzung des Museums die einzige Möglichkeit, mit der Migranten am Museum mitwirken können, könnte das den Eindruck einer ›Integrationsgeschichte‹ sogar noch verstärken, das sie vor allem auf die Darstellung von Integration abzielt und das genannte Missverhältnis von Migranten und dem Einwandererland Frankreich aufrechterhalten würde. Vor dem Hintergrund dieser Beobachtungen scheinen die thematischen Sektionen, die die chronologische Darstellung um einzelne Aspekte der Immigrationsgeschichte ergänzen sollen, diesem Missverhältnis zunächst entgegenzuwirken. Sie sollten auf zeit- und generationenübergreifende Themen, emblematische Orte von Immigration oder auf eine spezifische Frage abzielen, beispielsweise auf die Frage, wie man Franzose werden kann.255 So waren in der Planungsphase Abschnitte zu den Themen »Les politiques de l’immigration«, »Les artistes, les intellectuels, les scientifiques et le rayonnement de la France«, »Les femmes dans l’immigration«, »La France qui gagne«, »A l’école de la République«, »Français et langues de France«, »Des lieux de l’immigration« oder »La République et les religions« geplant. Bemerkenswert an dieser Reihe von Ausstellungsabschnitten ist der Versuch der Planer, Immigrationsgeschichte differenziert über die chronologische Darstellung hinaus darzustellen. Was jedoch auch deutlich wird, ist der Umstand, dass vor allem die Immigration und die Integration in Frankreich verhandelt werden sollen und weniger der Aspekt der Emigration als eine zweite Seite von Migration. Zwar wurde die Emigration in der Planungsphase durchaus diskutiert, beispielsweise von Stéphane Bienvenue des Verbands Peuplement et migrations, in der Realisierung der Dauerausstellung aber nicht durchgesetzt.256 Die Beobachtungen, dass hiermit einerseits die Immigration, andererseits die Integration wichtig für die Darstellung in der Cité befunden werden, lassen sich
254 Vgl. Toubon, »Mission de préfiguration«, S. 102. Vgl. Kapitel 3.2.3. 255 Vgl. ebd., S. 58. 256 Vgl. ebd., S. 168.
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in der These zuspitzen, dass die Dauerausstellung auf die Fort- und Festschreibung der französischen Identität abzielt. Dies lässt sich an der letzten chronologischen, 1974 einsetzenden Sektion zeigen, die diese Identität als eine auf ›Vielfalt‹ beruhende darstellen und die französische Strahlkraft, die französische Sprache und die Religionen in Frankreich anhand von Künstlern und Intellektuellen verhandeln soll. Denn eine solche Ausrichtung kann dazu führen, dass weniger einzelne Migrantenkulturen dargestellt werden als vielmehr Frankreich, das als eine in seinen Grundlagen bereits kohärente Einheit entworfen und in dieser Form durch Migration bereichert, aber nicht in Frage gestellt oder neu begründet wird. Dass dagegen Migranten in der öffentlichen Wahrnehmung Frankreichs vom Gegenspieler zum Inbegriff der im Planungsbericht angespielten ›Vielfalt‹ geworden sind, wurde bereits anhand der französischen Identitätsdebatten in Kapitel 2.1.1 gezeigt. Spätestens durch die Planung der Dauerausstellung ist dieser Perspektivwechsel auch in der Cité aufgegriffen und, insofern die affirmierte ›diversité‹ der Festschreibung der nationalen Identität dient, für die Repräsentation im Museum fruchtbar gemacht worden. Der Anspruch, diese dezidiert integrative Geschichte durchaus differenziert darzustellen, spiegelt sich in dem Vorhaben der Planer, auch die Prozesse der Kolonisierung und der Entkolonisierung zu thematisieren. Zum einen wird im Bericht überlegt, einen Abschnitt zum viel kritisierten Gebäude der Cité einzurichten, das alternativ auch in Form einer Wechselausstellung diskutiert werden könne – eine Überlegung, die im Folgenden noch besprochen wird. Zum anderen schlägt die Planungskommission ausdrücklich eine Rubrik zur Kolonisierung und Entkolonisierung vor, die sie für noch wichtiger als die anderen thematischen Abschnitte hält. Denn die Rubrik soll, indem sie die großen Etappen der kolonialen Eroberungen im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts skizziert und das kolonisierte Algerien über die Unabhängigkeitsbewegungen seit den 1920er Jahren bis hin zu den Unabhängigkeitskämpfen und ihren Einfluss auf gegenwärtige Immigration thematisiert, die Verquickung der Kolonisierung mit Immigrationsphänomenen aufzeigen.257 Dass diese im Bericht als wichtig erachtete Rubrik in der Dauerausstellung letztlich nicht umgesetzt wurde, ist aufschlussreich und wird durch den Planungsbericht oder nachfolgende Strategiepapiere jedenfalls nicht erklärt. Ungeachtet der womöglich politisch motivierten Auslassung dieser Sektion wurde 2006 eine Tagung zur Relation von Kolonisierung und Immigration veranstaltet. Darin diskutierten Experten die Zusammenhänge von Immigrationsgeschichte und Kolonialfragen und befassten sich beispielsweise mit den Bezie-
257 Vgl. ebd., S. 66f.
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hungen zwischen der Karibik und dem Hexagon, die im Zuge der sogenannten postkolonialen Migration relevant geworden sind. Die Tagung fand anstelle einer im Bericht der Planungskommission für 2006 vorgesehenen Wechselausstellung zum gleichen Thema statt. Die Wechselausstellung hingegen wurde nach Diskussionen in der Planungsphase zurückgezogen aus der Sorge, Immigration per se als ein kolonial beeinflusstes Phänomen darzustellen.258 Eine weitere Wechselausstellung zum Thema wurde im zweiten Bericht der Planungsphase, im »Projet scientifique et culturel«, für Oktober 2007 geplant. Sie sollte Migranten zur Zeit der Kolonialausstellung von 1931 repräsentieren und fand letztlich ein Jahr später statt.259 Diese Pläne sind jedoch aufschlussreich. Sie können einerseits als Versuch gesehen werden, Immigration differenziert und damit auch unter Einbezug von Kolonisierung und Entkolonisierung darzustellen. Die Auslassung der erstgenannten Wechselausstellung und der thematischen Sektion in der Dauerausstellung verdeutlicht aber andererseits die Unentschiedenheit angesichts der Frage, wie Immigration und Kolonisierung miteinander in Beziehung gesetzt oder überhaupt zusammen gedacht werden können. Statt demnach eine Offenheit beispielhaft zu verkörpern, die zumindest die auf ›Vielfalt‹ begründete Anlage des Museums nahelegen und auch die Behandlung der Kolonisierung einschließen würde, liegen die Immigrationsgeschichte und die mit ihr einhergehende Integration im Mittelpunkt des Interesses. Deutlich wird dies nicht zuletzt im Blick auf den Namen und das Motto der Cité sowie auf ihr Gebäude. Vom Centre de ressources et de mémoire, dessen Bezeichnung noch im Titel des Berichts der Planungskommission enthalten ist, wurde die Cité zum Musée de l’histoire et des cultures de l’immigration, womit der ursprüngliche Vorschlag von Toubon aufgegriffen wurde.260 Später wurde der Name verkürzt zu Cité nationale de l’histoire de l’immigration und entspricht damit der Bezeichnung, die Raffarin verwendet hat. Angesichts dieser Überlegungen ist festzuhalten, dass die erläuterte historische Anlage des Museums sich auch im Namen gespiegelt, wobei der Begriff der Cité im Unterschied zum Begriff ›musée‹ das geplante Zentrum stärker als dynamisch bestimme, so Raffarin, und zugleich auch angemessener das Erbe der Migration berücksichtige, wie
258 Vgl. ebd., S. 72, 214. Vgl. Green/Poinsot, Histoire de l’immigration et question coloniale en France. 259 Vgl. »Projet scientifique et culturel de la Cité nationale de l’histoire de l’immigration«, S. 30. 260 Vgl. beispielsweise Toubon, »Mission de préfiguration«, S. 136.
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Noiriel ergänzt.261 Seit 2013 wird das Museum auf der Internetseite schließlich auch Musée de l’histoire de l’immigration genannt.262 Die skizzierte Konzentration auf den Aspekt der Geschichte zeigt sich auch in dem von Raffarin gesetzten und von der Planungskommission aufgegriffenen Leitspruch. Obschon diese zunächst noch einen die ›Kulturen‹ einschließenden Namen favorisiert hatte, definierte sie in einer Sitzung des Conseil scientifique vom 24. Juni 2003 eine deutliche Botschaft für das geplante Museum, die die stark historische Perspektive verdeutlicht: »[L]eur histoire c’est notre histoire«. Obwohl noch das öffentliche Kolloquium im November 2003 unter diesem Motto stand, bezeichneten einige Mitglieder des Conseil scientifique, so der Bericht im Anhang, die Formulierung als »malheureuse«, da sie eine Trennung zwischen der nationalen und der Migrantengeschichte suggeriere.263 Auf diese Ambivalenz des Mottos verweist auch die Soziologin Brigitte Jelen. Sie erklärt, dass dieser Botschaft der Anspruch entgegensteht, die Migrantengeschichte in die Geschichte einer multikulturell angelegten Gesellschaft zu integrieren, insofern er weniger ›Migration‹ als ›Einwanderung‹ thematisiert. Das wiederum verstärkt den Eindruck einer sogenannten ›Beitrags-‹ und ›Integrationsgeschichte‹, wie man mit Jelen weiterdenken kann, und die Vorstellung von Migration als einem einseitigen Zufluss, wovor noch der Conseil scientifique gewarnt hat.264 Mit dem Namen der Cité besteht demnach erkennbar die Gefahr, dass die im Museum abgebildete Immigration anstelle einer Migration als einseitig und abgespalten von der französischen Geschichte und ausschließlich als Beitrag zu einem vorab feststehenden Ganzen der Nation und nicht als Teil einer Vermischung begriffen wird.
261 Vgl. Jelen, »›Leur histoire est notre histoire‹«; Noiriel, »L’historien dans la Cité«, S. 13. Zudem ist die Ablehnung des Begriffs ›musée‹ auch über die ministerielle Unterstützung erklärbar: Das Kulturministerium hatte zunächst Vorbehalte gegenüber dem geplanten Immigrationsmuseum, da es dadurch, dass es keine eigenständige Sammlung besitzt, nicht der gängigen Definition eines Museums entspreche. Heute ist es neben dem Ministerium für Inneres, Übersee, Gebietskörperschaften und Immigration, dem Bildungsministerium sowie dem Ministerium für Hochschulen und Wissenschaft für die Cité zuständig. Vgl. Blanc-Chaléard, »Une Cité nationale pour l’histoire de l’immigration«, S. 133; »L’institution«; Toubon, »Mission de préfiguration«, S. 215. 262 Vgl. www.histoire-immigration.fr. 263 Toubon, »Mission de préfiguration«, S. 135. Vgl. ebd., S. 148, 175. 264 Vgl. ebd., S. 136; Jelen, »›Leur histoire est notre histoire‹«.
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Noch mehr Diskussionen als der Name rief die Wahl des Ortes hervor. Sie warf die Frage auf, inwiefern die Rolle der Migranten und die nationale Anlage des Museumsprojekts in diesem Namen gespiegelt werden. Obschon die Diskussionen um den Ort hitzig geführt wurden und die Alternativvorschläge zahlreich waren, einigte sich die Planungskommission letztlich auf das heutige Gebäude der Cité an der Porte Dorée und entsprach damit Raffarins Wunsch nach einem ›lieu prestigieux‹. So erklärte Philippe Joutard, Historiker und Mitglied des Conseil scientifique, 12. Februar 2004 in der Sitzung des Comité de pilotage: »[I]l faut que le musée soit un lieu innovant, ›aimable‹, révolutionnaire, incontournable, en un mot ›glamour‹«.265 Diese Charakterisierung als ›glamourös‹ trifft insofern erkennbar zu, als das Gebäude der Cité ein imposanter Bau im Art déco-Stil ist. Innovativ ist der Ort dagegen nur bedingt, da die Cité in einem historischen und keinem neuen Gebäude untergebracht ist – im Palais des Colonies, der anlässlich der Kolonialausstellung von 1931 gebaut worden war. Abbildung 6: Die Frontfassade der Cité
Von diesem Entstehungskontext zeugen noch heute Reliefs an der Außenfassade und Wandmalereien im Innern des Gebäudes, die Szenen aus den ehemaligen Kolonien wiedergeben. Im Anschluss an die Kolonialausstellung wurde im Palais des Colonies erst ein Überseemuseum, dann ein Museum für Afrika und
265 Toubon, »Mission de préfiguration«, S. 217.
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Ozeanien eingerichtet, bevor er 2003 geschlossen und seine Bestände in den Quai Branly überführt wurden.266 Während er aber für den Quai Branly mit dem Hinweis auf die Bedeutung des Gebäudes als Repräsentation des empire colonial abgelehnt worden war, hat sich die Planungskommission der Cité bewusst dafür entschieden. Mit der Einrichtung des Museums im Palais des Colonies sollte der Versuch unternommen werden, seine symbolische Bedeutung produktiv umzudeuten.267 Diesem Zweck sollten besonders das kulturelle Rahmenprogramm und die Wechselausstellungen dienen. Unterstützt werden sollte die Umdeutung des Gebäudes durch einen Umbau, den die Architekten Patrick Bouchain und Loïc Julienne konzipierten. Beide waren darauf bedacht, die ursprüngliche Architektur von Albert Laprade weitgehend zu erhalten, den Palais des Colonies aber gleichzeitig heller zu gestalten und während der gesamten Umbauarbeiten öffentlich zugänglich zu halten, wovon nicht nur Besucherführungen zeugen, die während des Umbaus stattfanden, sondern auch der noch immer existierende Internetblog zu den Umbaumaßnahmen der Cité.268 Darüber hinaus wurde die von Wandmalereien im Innern des Gebäudes verzierte Salle des fêtes direkt von der Eingangshalle aus erreichbar gemacht und in den darin befindlichen doppelten Fußboden wurden Einbuchtungen mit Sitzbänken eingelassen, sodass der Raum für kulturelle Veranstaltungen genutzt werden kann und heute auch dafür genutzt wird. Die Ausstellungsräume wurden verändert und Landschaftsgemälde an den Wänden der Salle des fêtes restauriert, zudem wurden ein Museumsshop und eine Cafeteria in der Eingangshalle eingerichtet. In diesem Lichte wird deutlich, dass diese Umbauten, die im wörtlichen und übertragenen Sinne mehr Transparenz spiegeln sollen, von dem Versuch zeugen, die kolonialen Prägungen im Innern des Gebäudes aufzubrechen. Die Außenansicht des Gebäudes ist hingegen noch immer in weitgehend kolonialem Stil verfasst. Zwar ist die Figur der Athena, die während der Kolonialausstellung die Besucher vor der Eingangspforte begrüßt hatte, bereits nach 1931 abmontiert worden und ziert heute einen Brunnen am Platz der Porte Dorée, doch die imposanten Säulen und die Frontfassade wurden beibehalten. Wie die Internetseite der Cité erklärt, repräsentierten die Reliefs an der Frontseite, die eine reichhaltige, exotische Flora und Fauna abbildet, die »richesse humaine«
266 Vgl. Kapitel 3.1.2. Vgl. auch Murphy, Un palais pour une cité. 267 Vgl. Toubon, »Mission de préfiguration«, S. 138; Toubon, »Préface«, in: Un palais pour une cité. 268 Vgl. »C’est le chantier!«; Murphy, Un palais pour une cité, S. 56.
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und eine »diversité culturelle«.269 Dass diese Charakterisierungen genannt werden, ist bemerkenswert. Man könnte zunächst den Eindruck bekommen, dass mit den positiv konnotierten Zuschreibungen des sogenannten ›menschlichen Reichtums‹ und des Konzepts der ›Vielfalt‹ der koloniale Entstehungskontext des Gebäudes überlagert wird. Der Rückgriff darauf könnte aber auch als eine Fortführung kolonialer Hegemonialstrukturen gewertet werden, insofern auch der Kolonialausstellung von 1931, zu deren Anlass das Gebäude gebaut worden ist, auf die Demonstration von ›Vielfalt‹, der ›Vielfalt‹ in den Kolonien, abzielte. In diesem Sinne könnte man die Umschreibung des Gebäudes mit dem Begriff der ›diversité‹ auch als eine Fortführung der kolonialen Vorstellung vom ›kulturell Anderen‹ verstehen, die nicht mehr Kolonisierte, sondern Migranten zum Inbegriff des ›Anderen‹ macht. Den Eindruck, dass solche taktischen Funktionalisierungsprozesse die Sicht auf die im Museum repräsentierende Immigration prägen, erweckt zumindest Patrick Bouchain, einer der beiden Architekten des Umbaus. So verglich er den Palais des Colonies mit einer Bahnhofshalle, »où on peut accueillir tout le monde«, und auch mit einem Leuchtturm, wenn er erklärt hat: »Lorsqu’on s’exile et on n’a rien avec soi, le lieu de la rencontre doit être grand […]. On a besoin d’un phare et le palais peut le représenter«.270 Diese Bilder erzeugen erkennbar das Ungleichgewicht, das bereits in Raffarins Rede angelegt war: Auf der einen Seite stellt Bouchain das französische Migrationsmuseum und damit stellvertretend die französische Nation als einen für »tout le monde« offenen Ort und eine Art Rettungsanker dar, auf der anderen Seite entwirft er Migranten als bedürftig. Dieses Missverhältnis ist in dem Bild des Leuchtturms sogar noch offenkundiger, da die Definition eines Migranten, der »rien avec soi« habe, dessen Ursprungskultur komplett ausblendet und leugnet. Aufgrund solcher Assoziationen und der Bedeutung des Gebäudes als Inbegriff des Kolonialreichs wurde die Wahl des Palais des Colonies vielfach kritisiert, besonders durch die Befürworter eines dezidiert der Kolonialzeit gewidmeten Museums,271 aber letztlich mit Blick auf die geplante produktive Umdeutung beibehalten.
269 »La Cité au Palais de la Porte Dorée«. Vgl. »Le bas-relief de la façade du Palais de la Porte Dorée«; »L’Exposition coloniale de 1931«. 270 »Porte Dorée: l’émancipation d’un projet«, S. 57; zum vorangegangenen Zitat S. 58. 271 Vgl. u.a. »Le projet scientifique et culturel«, S. 8. Zum Vorschlag oder vielmehr zur Unmöglichkeit, ein Kolonialmuseum einzurichten vgl. Aldrich, »Le musée colonial impossible«. Aldrich erwähnt in seinem Beitrag auch das zwischenzeitig geplante Mémorial national de la France d’outre-mer in Marseille, das im Grunde ein städtisches Museum für Kolonialgeschichte werden sollte, aber zahlreiche Kritik und De-
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Der durchaus bestehenden Gefahr einer marginalisierenden und hegemonialen Perspektivierung der Immigrationsgeschichte sollte neben der Umdeutung des Palais des Colonies auch die Einfügung der Cité in den Pariser Stadtraum entgegenwirken. Entsprechend den Vorstellungen der Planungskommission und mehrerer staatlicher Stellen, die das Gebäude vorgeschlagen hatten, sollte das Gebäude – anders, als es beim Quai Branly der Fall gewesen war – schon vorhanden sein und sich ›intra-muros‹ in Paris selbst befinden.272 Die Einrichtung des Museums in Paris, so el Yazami und Schwartz in ihrem vorbereitenden Bericht, »désenclaverait le concept d’immigration précisément trop souvent lié à des territoires en marge«.273 Dadurch, dass das Thema ›Immigration‹ in der Hauptstadt und nicht in einem Ort in der Provinz verhandelt würde, sollte ihm demzufolge die von Raffarin und der Planungskommission gewünschte Würdigung zukommen. In diesem Sinne schrieb auch Toubon im Bericht wie folgt: »Il faut […] un lieu prestigieux, central, dans Paris, qui dise symboliquement que l’immigration est partie intégrante de l’histoire nationale«.274 Indem er Immigration hier als eine »partie intégrante« der nationalen Geschichte kennzeichnet, betont Toubon die besondere Bedeutung der Immigration, die ihr als Bestandteil der nationalen Geschichte zugestanden werden soll. Abgesehen davon, dass Toubon indirekt auf das assimilatorische Integrationsmodell Frankreichs verweist, kann man an dieser Stelle jedoch festhalten, dass die Cité zwar in der Hauptstadt statt der französischen Provinz eingerichtet wurde, dass sie aber zugleich und anders als der Quai Branly an der Pariser Peripherie und nicht im kulturellen Zentrum der Hauptstadt liegt. Das Gebäude und auch der Name des Museums entsprechen somit erkennbar der spezifischen nationalen Konzeption der im Planungsbericht skizzierten ›Vielfalt‹. Indem ein Ort gewählt wurde, der von der kolonialen Vergangenheit durchdrungen ist, wurden Kolonialfragen als Teil der als übergeordnet begriffenen Immigrationsgeschichte aufgenommen und mit eben dieser Geschichte in Beziehung gesetzt. Auch die Umbauarbeiten und die geplante, durch eine Tagung ersetzte Wechselausstellung zeugen von dem Versuch, das Thema differenziert und offen für Kolonialfragen zu verhandeln. Doch lassen die vorange-
batten hervorgerufen hat. Vgl. ebd., S. 559f. Mittlerweile ist das Vorhaben, das Museum einzurichten, wieder aufgegeben worden. 272 Vgl. Toubon, »Mission de préfiguration«, S. 141. Zum Vorschlag von staatlicher Seite, das Museum im Palais des Colonies einzurichten vgl. ebd., S. 39. Zu den verschiedenen Vorschlägen vgl. ebd., S. 136. 273 El Yazami/Schwartz, »Rapport«, S. 34. 274 Toubon, »Mission de préfiguration«, S. 135f.
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gangene Beobachtungen noch einen anderen Schluss zu: Zunächst hebt der Name die französische Geschichte als eine hervor, die vorgeblich auf ›Vielfalt‹ gründet und in die Migranten integriert werden. Dann aber repräsentieren das in der Planungsphase aufgegriffene Motto »Leur histoire est notre histoire« und die Fokussierung auf die Immigration statt auf die Migration die Geschichte der Einwanderung als einseitig und abgespalten von der nationalen (Erfolgs-)Geschichte. Zuletzt lässt auch die periphere Einordnung in den Pariser Stadtraum auf einen Umgang mit Migration ›am Rande‹ schließen und erlaubt die These, dass die Geschichte der nicht problemfreien Integration marginalisiert wird. Die Cité steht somit in einem deutlichen Gegensatz zum Quai Branly, in dem eine künstlerisch repräsentierte und als universell verstandene ›diversité‹ sowohl geographisch als auch kulturell-gesellschaftlich ins Zentrum gerückt wurde. Im Vergleich mit den politischen Bestimmungen der Cité kann abschließend festgehalten werden, dass das Museum in der Planungsphase deutlich anders als von Raffarin gedacht entworfen wurde. Während der ehemalige Premierminister die Kolonialzeit gänzlich auslassen wollte und stattdessen die republikanischen Werte und deren Ausgestaltung in der Cité betont hatte, rekurrierten die Planer weit weniger auf die republikanische Konzeption. Toubon definierte die Cité vielmehr über den nationalen Zusammenhalt und den Entwurf von ›Vielfalt‹, die er in der gemeinsamen Geschichte begründet sah. Insbesondere die Ausstellungen, die diese Geschichte wiedergeben sollten, bezeugen den Versuch, eine differenzierte Perspektive auf Immigration einzunehmen. Mit der Dauerausstellung sollte beispielsweise eine ›Migrationsvielfalt‹ gezeigt werden, die auch innerhexagonale und postkoloniale Migrationen oder auch die gesteigerte Mobilität zur Zeit der Globalisierung einschließen würde,275 womit der Forderung Raffarins gerecht geworden wäre, Migranten zu entstigmatisieren und ein neues Bild von ihnen zu schaffen. In diesem Sinn könnte die Konzeption der französischen Immigrationsgeschichte in der Planungsphase zunächst als durchaus offen und multikulturell verstanden werden. Wie jedoch bereits für die Identitätsdebatten seit den 1980er Jahren in Kapitel 2.1 gezeigt wurde, funktioniert diese spezifisch französische ›diversité‹ deutlich über eine tendenziell homogenisierende Integration von Migranten statt über eine Repräsentation von kulturellen Unterschieden. Diese Wirkungsweise schlägt sich in der Planung der Cité nicht nur im genannten Missverhältnis zwischen Migranten und dem Einwanderungsland nieder, das erzeugt wird, wenn mehr die Geschichte von Immigration als die der Migranten erzählt werden soll. Sie zeigt sich auch in der Erzählung der bereits genannten
275 Vgl. Toubon, »Mission de préfiguration«, S. 134.
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›Beitragsgeschichte‹, die an die Stelle der Geschichte von einer multikulturellen Nation tritt. Wie die Analyse offengelegt hat, steht dem das für die Cité konzipierte Modell deutlich entgegen. Schließlich wird Frankreich, wie man sagen könnte, als eine Einheit entworfen, in der gleichwohl eine spezifisch französische ›Vielfalt‹ zugelassen wird.276 Die vorangegangenen Beobachtungen lassen aber vor allem den Schluss zu, dass diese positiv konnotierte und zugleich harmonisch entschärfte ›Vielfalt‹ anstelle der Kolonisierung verhandelt wurde, dass sie sogar an deren Stelle gerückt ist. So bestanden in der Planungsphase durchaus der Versuch, das Thema der Kolonisierung einzubeziehen, und zugleich die Schwierigkeit, diese mit gegenwärtiger Immigration in Beziehung zu setzen. Dass das Konzept der ›diversité‹ die Verhandlung der Immigrationsthematik zu überlagern droht – und dies soll auch für die Repräsentation im Museum überprüft werden – und dass damit die Integration nach französischer Maßgabe in den Vordergrund rückt, mag verdeutlichen, dass die Planungen die Erzählung einer einseitigen Geschichte von der französischen ›Vielfalt‹ vorsahen: In der Umsetzung wäre das die Geschichte von einer französischen ›diversité‹, die schon per se im Verlauf ihrer Geschichte integriert hätte. Misslungene Integrationen, Transitmigrationen oder andere Phänomene würden dagegen weitgehend ignoriert. Diese geplante und dann umzusetzende Repräsentation der französischen ›Vielfalt‹ ist nicht zuletzt aufschlussreich im Hinblick auf die gesamtgesellschaftliche Verhandlung des Themas Migration. Insofern das Konzept schließlich dazu dient, die Geschichte einer uneingeschränkt positiv konnotierten französischen Identität zu erzählen, und insofern dabei unliebsame Aspekte ausgelassen werden, gleicht dies einer politisch motivierten Setzung und einer Marginalisierung, die Sarkozy mit der Einrichtung des Ministeriums für Immigration, Integration und nationale Identität symbolisch verstärkt und gegen die acht Wissenschaftler durch ihren Austritt aus dem wissenschaftlichen Beirat des Museums protestiert haben.277 Dass aber eben jener Präsident in der Planungsphase der Cité als Experte für innenpolitische Fragen bei zwei Anhörungen zugegen
276 Die Idee von der zusammenhaltenden Einheit ist an Baurs Bild einer Vitrine und seiner Argumentation zum New Yorker Immigrationsmuseum, dem Ellis Island Immigration Museum, orientiert. Er beschreibt diese Vitrine als einen »Schaukasten«, der die Dinge so anordnet, dass sie »kulturell vielfältig und zugleich harmonisch vereint« erscheinen. Baur, Die Musealisierung der Migration, S. 345. Dieses Bild von der ›Vielfalt in der Einheit‹ lässt sich auch für die Frankophonie aufzeigen, vgl. Kapitel 2.2. 277 Vgl. Kapitel 2.1.3; Noiriel, À quoi sert »l’identité nationale«, S. 139-148.
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war, frappiert dabei ebenso sehr wie seine Abwesenheit zur Eröffnung des Museums.278 Denn diese Geringschätzung steht nicht zuletzt dem Anspruch Raffarins entgegen, mit der Cité eine neue, nicht entstigmatisierende Perspektive einzunehmen. 3.2.3 ›Diversité française‹ oder ›assimilation comme toujours‹? Die Dauerausstellung und die Wechselausstellung »1931. Les étrangers en France au temps de l'exposition coloniale« (2008) Die Dauerausstellung mit dem Titel »Repères« ist dem Ziel verpflichtet, ein neues, offenes Bild der französischen Immigrationsgeschichte zu zeichnen. Aus diesem Grund werden Kollektiv- und Einzelgeschichten aus der französischen Immigrationsvergangenheit im Museum wiedergegeben, die den Besuchern mehr angeboten als aufgedrängt werden sollen und die sie sich eigenständig und vor dem Hintergrund des eigenen Interesses und Wissens erschließen können solleb. Entsprechend heißt es im Ausstellungskatalog zum museumspädagogischen Ziel der Cité: »Ces approches, différentes mais complémentaires, aident à comprendre sans imposer de vérités et ouvrent à la connaissance sans exclure de nouvelles thématiques. Elles tentent de rendre lisible cette histoire, placent le visiteur en situation de questionnement, voire de remise en cause de ses représentations sur le phénomène migratoire.«279
Insofern die Ausstellung damit offene Angebote bereitstellen soll, die um ein Vielfaches erweitert werden können, fordert sie vor allem ihre Besucher auf, das eigene Vorwissen einzubringen und zu ergänzen. Deshalb soll die Vermittlung der gezeigten Geschichte nicht monologisch erfolgen, sondern gründet dem Ausstellungskatalog zufolge auf einem »dialogue«.280 Im Folgenden wird gezeigt, wie dieser dialogische Anspruch, der dem politischen und planerischen Anspruch auf Offenheit und den Abbau von Vorurteilen entspricht, in der Dauerausstellung umgesetzt wurde. Betrachtet werden sollen dafür besonders die Einteilung und Gestaltung der Ausstellungssektionen. Es soll damit herausgefunden werden, ob und wie die das Konzept der ›diversité‹ in
278 Vgl. Toubon, »Mission de préfiguration«, S. 222f., Anhang 3. 279 La Cité nationale de l’Histoire de l’Immigration, Guide de l’exposition permanente, S. 9. 280 Ebd., S. 8.
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der Dauerausstellung bestimmt wird, welche Rolle Migranten einschließlich ihrer Kulturen und Geschichten zugewiesen bekommen, welche ›Einwanderer‹ überhaupt gezeigt werden und wie schließlich auch das Einwanderungsland Frankreich in diesem Zuge konzipiert wird. Dazu ist zunächst ein Blick in die Dauerausstellung nötig. Der Weg dorthin führt durch die imposante Eingangspforte des Palais des Colonies und eine große Halle zu einer ebenso eindrucksvollen Treppe. Bevor die eigentliche Ausstellung beginnt, ist in der ersten Etage ein Gang mit orientalisch aussehenden Glasfenstern und einem Gemälde mit dem Titel »Sans titre« zu sehen, einem Ensemble aus vier einzelnen Bildern, auf denen ein junger Mann mit in den Hosentaschen steckenden Händen und gesenktem Kopf zu sehen ist281, der Blick der Besucher gleitet anschließend zur Balustrade oberhalb des großen Veranstaltungssaals, der mit kolonialen Motiven dekoriert ist.282 Bis auf den Audioguide, der die Wandbemalung kommentiert, erfahren Besucher an dieser Stelle noch nichts über Immigration. In der zweiten Etage wird dies nachgeholt. Große, von der Decke hängende Tafeln geben im sogenannten »Prologue« einen Überblick über weltweite Migrantenströme in den letzten zweihundert Jahren, eine Wandtafel erläutert zudem den Gegenstand der Ausstellung. Das gegenüberstehende Kunstobjekt von Kader Attia von 2008, das den Titel »La machine à rêve« trägt und eine modisch gekleidete dunkelhäutige Frau vor einem Süßigkeitenautomat zeigt, soll dem Ausstellungskatalog zufolge die Gespaltenheit von Migranten zwischen der eigenen Herkunft und dem Wunsch nach Zugehörigkeit zur neuen Wahlheimat veranschaulichen. Rechts und links zweigen Räume ab.283 Ein Blick in den linken Raum, der sich als eine Empore oberhalb des Veranstaltungssaals im Erdgeschoss erweist, zeigt die Objekte, die Migranten über den bereits genannten ›appel à collecte‹ der Cité zur Verfügung gestellt haben, sowie Bildschirme mit Videoausschnitten von Gesprächen mit Migranten und mit Informationen zu allgemeinen Fragen nach Einwanderung, Integration und den republikanischen Werten.284 Im rechten Raum beginnt die eigentliche Ausstellung. Wie der Ausstellungskatalog erläutert, soll sie »du collectif au particulier, de la vision globale du ›Prologue‹ aux événements ponctuels de l’histoire récente« führen.285 Dieses Vorha-
281 Vgl. ebd., S. 4f. 282 Vgl. Kapitel 3.2.2. 283 La Cité nationale de l’Histoire de l’Immigration, Guide de l’exposition, S. 112f. 284 Zum sogenannten ›appel à collecte‹ vgl. Kapitel 3.2.2. 285 Toubon, »Préface«, in: Guide de l’exposition permanente, S. 3.
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ben, Einzelgeschichten mit der kollektiven Immigrationsgeschichte zu verknüpfen, scheint zunächst zu gelingen. Dem Über- und Einblick dienen neun Ausstellungssektionen, die in sich weitgehend chronologisch geordnet sind und drei thematischen Bereichen zugeteilt werden können.286 Die Sektionen »Émigrer«, »Face à l’État«, »Terre d’accueil« und »France hostile« thematisieren mögliche Stationen der Einwanderung von der Abreise aus dem Heimatland über die Beweggründe von Migranten für die Reise nach Frankreich bis hin zur Ankunft und Konfrontation mit dem französischen Staat und einer manchmal aufgeschlossenen, manchmal feindlichen Öffentlichkeit. Anschließend wird in den Sektionen »Ici et là-bas«, »Lieux de vie«, »Au travail«, »Enracinements« und »Sport« gezeigt, wie sich Migranten in Frankreich eingerichtet, organisiert und eingebracht haben. Der letzte Bereich der Ausstellung ist mit »Diversité«287 übertitelt und zeigt die Beiträge, die aus den jeweiligen Religionen, Kulturen und Sprachen der Migranten nach Frankreich gebracht wurden und dort gleichsam zu einem Teil des, wie die Ausstellung es nennt, ›patrimoine français‹ geworden seien. Wie es von der Planungskommission vorgesehen war, werden neben dieser chronologischen Übersicht auch die Geschichten einzelner Migranten und Migrantengruppen mit einer erstaunlichen Vielfalt an Ausstellungsobjekten, Darstellungsarten und Geschichten erzählt, die dem im Ausstellungskatalog festgehaltenen Anspruch auf historische, anthropologische und künstlerische Objekte entspricht.288 Es wird beispielsweise auf die Chemikerin Marie Curie rekurriert, die, nachdem sie als erste Frau einen Lehrstuhl an der Sorbonne inne- und zwei Nobelpreise in Physik und Chemie verliehen bekommen hatte, rassistischen An-
286 Vgl. ebd. 287 Während die Unterabschnitte »Religions« und »Cultures« der Rubrik »Diversité« im Ausstellungskatalog genannt werden, ist die Rubrik selbst nicht aufgeführt. Zu den Gründen dieser Auslassung des Begriffs der ›diversité‹ ist nichts bekannt; auch die Übersicht über die Dauerausstellung auf der Internetseite der Cité erlaubt keinen Aufschluss, obschon sie zumindest semantisch auf den Begriff verweist: »La troisième et dernière partie porte un éclairage sur les apports successifs de cultures d’origines très diversifiées au travers de la langue, des pratiques religieuses, des arts, de la littérature, de la musique mais aussi autour des objets de la vie quotidienne«. Vgl. »Repères«. Diese Auslegung vom Begriff der ›diversité‹ als einem Sammelbegriff für den Beitrag der äußerst vielfältigen Migrantenkulturen ähnelt in gewisser Weise der eingangs genannten ›Vielfalt‹ der Migrantenwege und -geschichten. 288 La Cité nationale de l’Histoire de l’Immigration, Guide de l’exposition permanente, S. 3.
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feindungen ausgesetzt war. Wie die Ausstellung zeigt, ist ihr jedoch nach ihrem Tod im Jahr 1934 und mit der Überführung ins Panthéon im Jahr 1995 nationale Anerkennung entgegengebracht worden.289 Über die Darstellung dieser und zahlreicher anderer, durch Dokumente und persönliche Ansichten angereicherter Geschichten hinaus widmen sich die »Repères« auch den Geschichten ganzer Migrantengruppen. Es wird beispielsweise die Maison russe bei Paris als Möglichkeit dargestellt, mit der Migranten in Frankreich ein Leben nach russischer Art aufrechterhalten hätten.290 Auch wenn die Sektionen nicht immer deutlich voneinander abgetrennt sind, ist ihre Gliederung, die die gesamte Immigrationsgeschichte ebenso wie Einzelschicksale umfasst, bemerkenswert. Denn sie weicht von der durch die Kommission geplanten Einteilung ab, die zunächst keine Rubrik vorgesehen hatte, die Migration als ein Emigrationswege einschließendes Phänomen darstellen würde. In der Dauerausstellung sind dagegen gleich zwei Rubriken den Lebensorten und Lebenswegen fernab Frankreichs gewidmet: Zum einen werden in der Rubrik »Ici et là-bas« Lebensorte in Frankreich und den Herkunftsländern der Migranten thematisiert, zum anderen werden in der Sektion »Émigrer« einzelne Schicksale abgebildet und die politischen, wirtschaftlichen oder kulturellen Beweggründe für den Aufbruch nach Frankreich verdeutlicht. Besonders eindrucksvoll gibt dies in der Sektion zur Emigration die einer Bildergeschichte ähnliche Fotoarbeit »Kingsley. Carnet de route d’un immigrant clandestin« des Kameruners Olivier Jobard aus dem Jahre 2003 wieder. Darin wird auf 16 Fotos der lange und beschwerliche Weg von der heimlichen Ausreise im Heimatland bis zur illegalen Einreise nach Frankreich gezeigt, wo die ›carte de séjour‹ das Ziel der Mühen gewesen sei.291 Dass diese Fotoarbeit in der Cité ausgestellt wird, ist aufschlussreich. Denn ihre Ausstellung kann als Versuch angesehen werden, Immigration als ein vielschichtiges Phänomen darzustellen, das bereits mit den Vorbereitungen im Heimatland und der sich anschließenden Reise und erst mit der Ankunft im Zuwanderungsland Frankreich beginnt.
289 Vgl. ebd., S. 88f. 290 Vgl. ebd., S. 104-108. 291 Vgl. ebd., S. 36f.
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Abbildung 7: Ausstellungsobjekt von Olivier Jobard
Was wiederum mit dieser nachträglich geplanten Rubrik zur Emigration aus dem Blick gerät, sind die Bedingungen von Auswanderung und damit ihre Komplexität. Das Phänomen der Emigration beispielsweise, die einen kurzen oder längeren Aufenthalt in Frankreich, eine erneute Ab- oder Weiterreise oder auch ein Pendeln zwischen Frankreich und den Herkunftsländern umfasst, wird hier nicht berücksichtigt.292 Stattdessen wird der Schwerpunkt auf die verschiedenen Gruppen von Migranten mit ihren Einzelschicksalen gerichtet, deren gemeinsames
292 Noiriel hat schon in in den 1980er Jahren auf die Vielschichtigkeit von Immigration hingewiesen, indem er schrieb: »Les discours lénifiants sur ›le modèle républicain d’intégration‹ ne prennent en considération que la petite fraction des immigrants qui se sont définitivement fixés en France. Ils occultent ainsi le fait que la majorité d’entre eux ne sont pas restés dans l’hexagone. Ils sont retournés dans leur pays ou ont émigré ailleurs, de leur propre initiative, ou parce que l’État français les a renvoyés, pour des raisons économiques et parfois politiques. La France est le premier pays à avoir utilisé systématiquement le recours à l’immigration pour lutter contre les ›rigidités‹ du marché du travail«. Ders., Le creuset français, S. XI. Zur Vielschichtigkeit vgl. auch Jelen, »›Leur histoire est notre histoire‹«.
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Ziel die Ankunft und Niederlassung in Frankreich gewesen ist. Allein die Rubrik »Face à l’État« bezeugt den Versuch, die problematische Seite der Einwanderung zu zeigen, indem dort die Plakatreihe mit dem Titel »Urgent« ausgestellt wird, die die Künstlerin Ghazel zwischen 1997 und 2007 angefertigt hat, um gegen ihre geplante Ausweisung aus Frankreich zu protestieren.293 Wie man bereits hier festhalten kann, bleibt die Dauerausstellung abgesehen von diesem Exponat auf die Geschichte der Migrationsbewegungen als einer Einwanderungsgeschichte fokussiert und das Phänomen der Migration, das ein Ein- und Auswanderung, Binnen- und Transitwanderung umfassen kann, erscheint, wie zu erkennen ist, nicht seiner vollständigen Bedeutung entsprechend dargestellt.294 Wie die vorangegangen Beobachtungen gezeigt haben, wurde im Anschluss an die Planungen der Kommission Toubons die Rubrik der Emigration in der Umsetzung des Museums hinzugenommen. Was mit Blick auf die Vorbereitungen und Planungen für die Dauerausstellung hier allerdings noch nicht thematisiert wurde, ist der Umgang mit den Themen Kolonisierung und Entkolonisierung. Denn im Gegensatz zum neu hinzugenommenen Themenfeld der Emigration wurden sie in der Dauerausstellung gänzlich weggelassen. So gibt es weder eine Rubrik, die beispielsweise Besonderheiten der gegenwärtigen ›immigration postcoloniale‹ zeigen und dadurch Migranten aus ehemaligen Kolonien die beanspruchte Anerkennung zuerteilen würden, noch einen Abschnitt, der das geschichtsträchtige Gebäude kritisch beleuchten und seine symbolische Umdeutung vermitteln würden.295 Es gab dazu bislang auch noch keine Wechselausstellung, wohl aber die erwähnte Tagung der Cité aus dem Jahr 2006, in der Immigration und Kolonisierung miteinander in Beziehung gesetzt wurden.296 Seit 2012 ist die Cité zusammen mit dem im gleichen Gebäude untergebrachten Aquarium zu einer öffentlichen Einrichtung zusammengeschlossen, um das Erbe des Palais de la Porte Dorée, wie das Gebäude genannt wird, aufrechtzuerhalten und zu würdigen.297 Wie das letztlich ausgestaltet wird, bleibt abzuwarten. Denn
293 Vgl. La Cité nationale de l’Histoire de l’Immigration, Guide de l’exposition permanente, S. 68f. 294 Zu den verschiedenen Dimensionen von Migration vgl. auch Baur, Die Musealisierung der Migration, S. 361. 295 Zum Begriff der ›immigration postcoloniale‹ vgl. Kapitel 2.1.3. 296 Vgl. Kapitel 3.2.2. 297 Vgl. »L’institution«. Auf diese Erweiterung der Cité kann in der vorliegenden Arbeit aus Zeitgründen leider ebenso wenig eingegangen werden wie auf die im Sommer 2013 lancierte Imagekampagne der Cité, die auf die Beiträge von Immigranten zur
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die übrigen Beobachtungen lassen vor allem feststellen, dass trotz der genannten Tagung eine umfassende kritische Thematisierung von Kolonisierung und Entkolonisierung bisher noch nicht geleistet worden ist. Es schien vielmehr, als ob in der Dauerausstellung die Themen der Kolonisierung und Entkolonisierung durch die Thematik der ›Vielfalt‹ überlagert oder sogar ersetzt und als ob an die Stelle dieser historisch notwendigen und doch nicht erfolgten Einordnung das neu entworfene Konzept der ›Vielfalt‹ getreten ist. In den »Repères« nennt zunächst die Wandtafel im Prolog das Konzept der ›Vielfalt‹ und beschreibt es als eine ›diversité des courants et des origines des immigrants‹. Dass an dieser Stelle wie auch an anderen Stellen in der Ausstellung der wesentlich weniger geläufige Begriff des ›immigrant‹ und nicht des ›immigré‹ verwendet wird, ist bemerkenswert, insofern er weniger aufgeladen und Assoziationen an Migranten aus sogenannten unterentwickelten Ländern zu wecken scheint. Feststellbar ist an dieser Stelle aber auch, dass der Prolog eine erste Definition von ›Vielfalt‹ nahelegt, die im Verlauf der Ausstellung aufgegriffen und im Ausstellungsabschnitt zur ›diversité‹ selbst ergänzt wird. Im Folgenden soll deshalb untersucht werden, wie diese ›diversité‹ definiert und umgesetzt wurde. Dazu sind die das Konzept thematisierenden Ausstellungsabschnitte und die Rolle aufschlussreich, die Migranten darin zugewiesen bekommen. Die bereits genannte und in den »Repères« eingangs ausgestellte Beschreibung der ›Vielfalt‹ als einer ›Vielfalt‹ der Herkünfte und Immigrationswege wird im Verlauf der Ausstellung kaum explizit aufgegriffen. In der Sektion »Lieux de vie« ist zwar von der »diversité des générations et des origines« die Rede, in der Sektion »Sport« von einer ›Vielfalt‹, die, in Anführungszeichen gesetzt, als Sammelbegriff für Migranten aus den Vorstädten dient und hier den Anteil dieser Migranten am Sieg der französischen Nationalmannschaft bei der Fußballweltmeisterschaft von 1998 meint.298 Erst in der letzten gleichnamigen Ausstellungsrubrik wird die Definition der ›diversité‹ implizit ergänzt, indem der Blick der Besucher insbesondere auf die kulturelle und religiöse ›Vielfalt‹ gelenkt wird, die anhand von Interviewmaterial, Videoaufnahmen und Tafeln mit Beschreibungen von Religionen und kulturellen Persönlichkeiten dargestellt und erfahrbar gemacht wird. An dieser Stelle ist zu erkennen, dass die in den »Repères« gezeigte ›Vielfalt‹ eine schon gesetzte und präformierte ›Vielfalt‹ ist, die vermittelt werden soll.
französischen Geschichte verdeutlichen soll. Zur Imagekampagne vgl. »Nouvelle campagne de communication«. 298 Vgl. La Cité nationale de l’Histoire de l’Immigration, Guide de l’exposition permanente, S. 119, 207.
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Dabei ist die kulturell-ethnische Markierung des Konzepts ›diversité‹ deutlich erkennbar, insofern sie mithilfe von Migranten und im letzten Ausstellungsteil besonders über Kultur und Religion näher bestimmt wird. Die Ausstellung knüpft somit nicht nur an zeitgenössische Identitätsdebatten an, in denen Migranten als Inbegriff dieser positiv konnotierten ›diversité‹ erscheinen. Sie steht auch dem Anspruch der Planungskommission entgegen, die noch für die Erzählung einer ethnienfreien Nation plädiert hat. Toubon beispielsweise erklärte anlässlich eines Kolloquiums im November 2003: »L’émigration et l’immigration sont de tous les temps et de tous les pays, elles appartiennent à la nature de l’humanité, l’histoire nous le montre évidemment. La France nous en donne un exemple éclatant. La France est un État-nation. Elle n’est pas une ethnie, pas un peuple«.299 Dieser Anspruch, kulturell-ethnische Differenzen nicht anzuerkennen, wie es das republikanische Selbstverständnis vorsieht, wird in der Ausstellung allerdings nur teilweise deutlich. Zwar wird dort die kollektive Erzählung der Immigrationsgeschichte mit individuellen Geschichten verknüpft und eine eindeutig ethnisch-kulturelle Perspektive vermieden, doch neben wenigen anderen Informationen wie der Jahreszahl oder auch der genauen Herkunft wird die Nationalität stets genannt und als Differenzkriterium gesetzt. Diese ethnisch-kulturelle Bestimmung der ›Vielfalt‹ wird republikanisch eingebettet. Auf der Webseite der Cité und auf den Bildschirmen in der sogenannten Galerie des Dons, einem abseits gelegenen Abschnitt der Dauerausstellung, wird in der Rubrik »Questions contemporaines« die ›diversité culturelle‹ aufgeführt. An der dortigen Erläuterung, in der das Konzept den republikanischen Prinzipien entgegenstellt wird, ist bemerkenswert, dass ›Vielfalt‹ ausschließlich in Bezug auf die Frage, wie das Verständnis von ›kultureller Vielfalt‹ in Schulen vermittelt werden kann, näher umrissen wird. Daneben werden aber vor allem die republikanischen Werte erläutert, auf denen Frankreich der Ausstellung zufolge gründet, und die das heutige Integrationsmodell à la française ausmachen würden.300 Es heißt dort: »La nation française se confond donc avec [ses valeurs républicaines; N.P.] et avec un projet politique qui fait abstraction des appartenances ethniques ou religieuses et qui fonde la communauté politique sur l’adhésion à des valeurs civiques communes et partagées.
299 Tandonnet, »Le défi de l’immigration«, S. 78. 300 »Diversité culturelle et principes républicains – Quels sont les principes républicains?«.
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Ces principes républicains fondent, aujourd’hui encore, le modèle d’intégration à la française.«301
Dass hiermit das französische Integrationsmodell als beispielhaft herausgearbeitet wird, frappiert, da es schließlich seit 1990 massiv kritisiert und reformiert wurde. Anstelle des Kulturendialogs, in dessen Zeichen die Cité das Jahr 2009 gestellt hat,302 und der Offenheit, die die Cité gegenüber Migranten zu symbolisieren beansprucht hat, wird in diesem abseitigen Ausstellungsteil eine positiv konnotierte Integration herausgestellt. Es ist damit zu erkennen, dass die Cité auf einer positiven, wenngleich auch kaum näher bestimmten Konzeption von Integration gründet, die auf die republikanischen Werte zurückgeht und eine ebenfalls kaum konkreter definierte ›Vielfalt‹ umfasst. Doch auch wenn die somit gesetzte ›diversité‹ über die republikanischen Werte begründet wird, werden ihre Charakteristika nicht durch sie überlagert, wie es noch für die politischen Integrationsbestimmungen in Kapitel 3.2.1 herausgestellt wurde. Vielmehr dienen die republikanischen Prinzipien in der Dauerausstellung dazu, die unter das Konzept der ›diversité‹ subsumierten Migranten als integriert und in die republikanische Gemeinschaft eingebunden darzustellen. Das Bild der homogenisierenden Hülle, die ›Vielfalt‹ im begrenzten Rahmen der Staatshülle durchaus zulässt, beschreibt an dieser Stelle erkennbar die republikanische Auffassung von den verschiedenen Kulturen, die durch die staatliche Einheit zusammengehalten werden.303 Im Hinblick auf diese Einbettung des Konzepts der ›diversité‹ in das republikanische Narrativ kann schließlich gefragt werden, wie das Konzept in der Ausstellung an prominenterer Stelle als der der »Questions contemporaines« wiedergegeben wird. An der Methodenvielfalt, die sich in dem Anspruch auf historische, anthropologische und künstlerische Objekte manifestiert, und der Perspektivenvielfalt, mit der einzelne Migrantenschicksale und staatliche Entscheidungen vermittelt werden, lässt sich bereits der Versuch ablesen, ein vielfältiges Bild der französischen Immigrationsgeschichte zu zeichnen. Dazu werden beispielsweise in der Rubrik »Terre d’accueil, France hostile« anhand von Karikaturen oder Marionetten um 1900 Stereotypen von Migranten gezeigt und
301 »Quels sont les principes républicains?«. 302 »Cité nationale de l’histoire de l’immigration: Colloque de lancement de l’année européenne du dialogue interculturel«. 303 Vgl. hierzu besonders Kapitel 2.1.1.
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damit Themen wie Rassismus oder auch Fremdenfeindlichkeit von französischer Staatsseite durchaus verhandelt.304 Eine offene Verhandlung, die neuralgische Punkte der Immigrationsgeschichte einschließen würde, findet in der Rubrik der »Diversité« wiederum nicht statt. Vielmehr werden in dieser Rubrik zur Religion, Sprache und Kultur erfolgreiche Integrationsgeschichten erzählt und unter anderem in dem der Kultur zugeordneten Teil berühmte Migranten wie Pablo Picasso, Frédéric Chopin, Heinrich Heine und Eugène Ionesco oder auch Léopold Sedar Senghor genannt. Dass Senghor aufgeführt und im Ausstellungskatalog mit einem großen Foto hervorgehoben wird, kann mit Blick auf seine gewisse, bereits herausgestellte Widersprüchlichkeit frappieren. Denn Senghor hat nicht nur in Frankreich studiert, gelebt und gearbeitet, er hat auch schon früh, 1933, die französische Staatsbürgerschaft erhalten, später eine ›Französin‹ geheiratet und ist 1983 als erster ›Afrikaner‹ in die Académie Française aufgenommen worden. In diesem Kontext erscheint die Aufnahme Senghors in die Dauerausstellung der Cité durchaus strittig. Denn wo ihm in der Frankophonie noch die ambivalente Haltung zu Frankreich vorgeworfen wurde, scheint es, als ob seine Assimilation an die französische Sprache und Kultur mehr als positiv bewertet wird, als ob er zugleich jedoch trotz seiner französischen Staatsbürgerschaft als ›Immigrant‹ verstanden wird. Über das Bemühen hinaus, eine besonders erfolgreich verlaufene Integration zu zeigen, wird damit deutlich, dass in der Dauerausstellung eine deutliche Trennung zwischen ›Franzosen‹, die durch ihre Geburt als ›Franzosen‹ ausgewiesen sind, und ›Immigranten‹ erfolgt. Ähnlich ambivalent kann man die Darstellung von Josephine Baker sehen. Die amerikanische Sängerin, die in den sogenannten Années folles, den 1920er Jahren, eine beliebte Sängerin und Revuetänzerin in Paris war, wird ebenfalls genannt und in einem Interview wiedergegeben, das von ihrer Musik gerahmt ist. Bemerkenswert ist weniger, dass Baker in dem Interview auf ihren Stolz verweist, die französische Staatsbürgerschaft angenommen zu haben, als dass die dunkelhäutige Sängerin der zeitgenössischen Lust am Exotismus entsprach und diese gezielt adressierte.305 Es erfolgt allerdings keine wirkliche Einordnung in den zeithistorischen Kontext Bakers, der die Bedingungen ihrer erfolgreichen Integration und das Wechselspiel zwischen dem Bedürfnis nach exotistischen Dar-
304 La Cité nationale de l’Histoire de l’Immigration, Guide de l’exposition permanente, S. 80f., 84-87. 305 Vgl. La Cité nationale de l’Histoire de l’Immigration, Guide de l’exposition permanente, S. 228-236. Vgl. auch die folgende Analyse zur Wechselausstellung »1931« und Kapitel 3.1.3.
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stellungen und Bakers exotistischem Angebot zeigen und beleuchten würde. Sie wird vor allem als eine erfolgreich integrierte ›Migrantin‹ dargestellt, aber bleibt in dieser Rolle der ›Migrantin‹, die eine Trennung zwischen ›Franzosen‹ und ›Migranten‹ suggeriert, verhaftet. Dadurch, dass die Rubrik »Diversité« ein besonderes Augenmerk auf Berühmtheiten richtet, erweckt sie erkennbar den Eindruck, dass die kulturellen ›Leistungen‹ von Migranten entscheidend für ihre Integration in Frankreich gewesen sind. Zwar werden in der gleichen Rubrik zum Unterthema Kultur anhand einer Videoinstallation mit dem Titel »Mother Tongue« von Zineb Sedira die Identitätskonflikte behandelt, die aufgrund verschiedener Sprachen im Zuge von Immigration entstehen können. Auf drei nebeneinander gesetzten Bildschirmen sind dabei die drei Gespräche zwischen Großmutter, Mutter und Tochter gleichzeitig zu sehen,306 was den Versuch bezeugt, das Thema der Immigrationsgeschichte und mit ihr einhergehende Identitätskonflikte umfassend und nicht ausschließlich in Bezug auf berühmte Migranten zu behandeln und es für Besucher anschaulich und anschlussfähig zu machen. Dem steht allerdings entgegen, dass die vermittelten Identitäts- und Immigrationskonflikte abseitig erst am Ende der Ausstellung gezeigt werden und damit auch im übertragenen Sinne abseits der französischen Gesellschaft zu stehen scheinen, dass die Ausstellung damit hauptsächlich eine einseitige Erzählung wiedergibt, in der vor allem die anreichernden Beiträge von Migranten relevant sind. Darüber hinaus bleibt in der Rubrik »Diversité« offen, ob die skizzierte Thematisierung von kultureller und religiöser ›Vielfalt‹ und sprachlicher Integrationsschwierigkeiten nicht eigentlich mehr ›Franzosen‹ im Sinne der ›Français de souche« ansprechen und ihnen die gelungenen Integrationen, aber auch bestehende sprachlich bedingte Integrationsschwierigkeiten verdeutlichen soll und weniger ein Verständnis für die mit Migration einhergehenden Schwierigkeiten gegenüber Besuchern mit Migrationshintergrund vermitteln. Der Eindruck einer überwiegend einseitigen Erzählungwird mit Blick auf die Leitidee der Ausstellungsrubrik bestärkt. Ihre in der Ausstellung angegebenen Fragen, »Quel est le patrimoine des immigrés? Quel est le patrimoine national issu de l’immigration? Comment l’histoire de l’immigration participe-t-elle à l’histoire et à la culture françaises?«,307 verdeutlichen die zentrale Bedeutung des Begriffs des ›patrimoine‹. Als Inbegriff des nationalen Kulturguts wird er hier mit der Integration von Migranten verknüpft und lässt damit auf das Verständnis
306 Vgl. La Cité nationale de l’Histoire de l’Immigration, Guide de l’exposition permanente, S. 240f. 307 Ebd., S. 2.
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einer gelungenen Integration dieser Migranten in die französische Nation schließen. Denn zunächst mag der Begriff ›patrimoine‹ die Idee suggerieren, dass die kulturellen Güter von Migranten und Immigration in die Vorstellung von der nationalen Identität und Geschichte einbezogen werden, doch steht einer solchen Lesart die letzte der drei Fragen entgegen. Indem sie nach der Teilhabe von Migranten an der französischen Geschichte und Kultur fragt, entwirft sie diese ›eigene‹ Geschichte als ein feststehendes Gefüge. Die Teilhabe der Migranten, die hier mit dem Verweis auf das jiddische Theater in der Hauptstadt, dem Théâtre des Bouffes-Parisiens, oder auch den durch Migrantenströme aus der Auvergne und Italien geprägten bal-musette belegt wird,308 wird zu einem Element dieser einseitigen Geschichte. Damit werden erneut Beiträge von Migranten herausgestellt, die im Sinne Raffarins als ein ›enrichissement‹ der französischen Kultur und Gesellschaft verstanden werden können, ohne dass deren republikanisches Fundament in Frage gestellt oder revidiert würde. Wie man festhalten kann, erscheinen die französische Gesellschaft und Geschichte in der Cité als weitgehend statisch verfasst. Diese Erzählung einer einseitigen Geschichte hat zwei Konsequenzen. Erstens werden, indem die genannten kulturellen Bereicherungen hervorgehoben werden, die Differenzen in den Migrantenkulturen, durch die ›Fremdes‹ nach Frankreich gebracht worden ist, zwar nur impliziert, zugleich aber als Differenzkriterium ignoriert. Die Migrantenkulturen, die zur kulturellen Bereicherung Frankreichs beigetragen haben, werden in dieser Darstellung, wie man sagen könnte, zu einer geradezu gefälligen Bereicherung. Dies wird im Ausstellungsabschnitt »Rencontres« besonders deutlich, der ebenfalls der Darstellung der Kulturen zugeordnet ist. Darin hängen in einem abgeschirmten Bereich Objekte wie Teekannen, Decken oder Wasserpfeifen von der Decke, die als Anleihen aus anderen Kulturen gelten sollen und mittlerweile feste Bestandteile des französischen Kulturguts geworden sind, zudem Küchenutensilien, die die Handelsbeziehungen, die Kontakte mit oder die Einreise von Migranten widerspiegeln sollen, und schließlich Objekte von Migranten, die nunmehr auch in Frankreich gebräuchlich geworden sind.309 Ebenso wie der bal-musette oder das jiddische Theater sollen diese Objekte, die für Besucher durchaus einen großen Wiedererkennungswert besitzen, für die vielfältigen Einflüsse von Migranten sensibilisieren, die sukzessiv die französische Kultur beeinflusst haben. Was allerdings auch erkennbar ist, besteht bei den Objekten die Gefahr, dass ihre Darstellung allzu folkloristisch gerät. Nicht umsonst verwendete ein Zeitungsartikel in Libé-
308 Vgl. ebd., S. 231. 309 Vgl. ebd., S. 244.
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ration vom 29. Oktober 2007 den Begriff des »bric-à-brac folklorique« zur Charakterisierung der Cité.310 Diese Beschreibung ist nachvollziehbar, denn die spärlichen Informationen, die unter den von der Decke hängenden Objekten auf Bildschirmen gegeben werden, tragen kaum zur Einordnung der Objekte oder zum Wissen über die Objekte bei. Aus dieser folkloristischen Darstellung von Objekten in dem Abschnitt »Rencontres« ebenso wie in der sogenannten Galerie des Dons, die mittels des bereits erwähnten Aufrufs an die Öffentlichkeit zusammengestellt wurden, resultiert zweitens, dass neuralgische Punkte von Immigration und ihrer Geschichte nicht thematisiert werden, während die benannten Erfolgsgeschichten durchaus Gegenstand der Ausstellung sind. In der Rubrik zu den »Cultures« wird zwar eine »La chute« genannte Serie von Fotografien des Künstlers Denis Darzacq exponiert, wozu wurden Hip-Hop-Tänzer in ihrer Schwerelosigkeit fotografiert wurden, was, wie es im Ausstellungskatalog heißt, Fall und Auftrieb zugleich zeigen solle.311 Darüber hinaus leistet die Ausstellung auch die zeitliche Einordnung der Fotografien, die im Anschluss an die Vorstadtunruhen von 2005 entstanden sind. In der Dauerausstellung ist damit ein zentraler und konfliktträchtiger Punkt der jüngsten Immigrationsgeschichte angesprochen. Allerdings wird dieser Aspekt, insofern er ausschließlich in der Rubrik »Cultures« thematisiert wird, allein auf kultureller Ebene verhandelt, während die gesellschaftlichsoziale und politische Tragweite der Vorstadtunruhen und der ihnen zugrunde liegenden Alteritäten keinen Platz in der Dauerausstellung gefunden hat; Alterität wird auch hier erkennbar kulturalisiert. Die Darstellung in den »Repères« ist somit durch zwei Dichotomien, auf diachroner und auf synchroner Ebene, geprägt. Indem besonders die Erfolgsgeschichten von Migranten gezeigt und neuralgische Punkte vor allem ›kulturell‹ verhandelt werden, erscheinen Migranten auf der diachronen Ebene von ehemals marginalisierten zu ›guten‹ Einwanderern umgedeutet, wie es auch auf die französischen Identitätsdebatten seit 1980 zutraf, wo sie fortan dazu dienten, das Konzept der ›diversité‹ beispielhaft zu verkörpern.312 Auf der synchronen Ebene wird, indem Migranten anhand ihrer kulturellen Beiträge dargestellt werden, eine Trennung zwischen dem ›Eigenen‹ und den ›Fremden‹ markiert: Zu den ›Fremden‹ gehört der, der sich erfolgreich integriert hat, während die Geschichten der
310 Le collectif ›qui fait la France‹, »La Cité de l’immigration, un bric-à-brac folklorique«. 311 Vgl. ebd., S. 242f. 312 Vgl. Kapitel 2.1.3.
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Migranten unberücksichtigt bleiben, die nicht integriert und womöglich wieder ausgewiesen worden sind. Wie die vorangegangenen Beobachtungen gezeigt haben, findet sich mit der Analyse der »Repères« der Eindruck eines einseitig begründeten, eines republikanisch eingebetteten Konzepts der ›diversité‹ bestätigt. Zwar wurde noch der ambivalente Museumsslogan »Leur histoire est notre histoire« in der Umsetzung fallen gelassen, denn er hätte weniger die gemeinsame Geschichte betont und womöglich die Geschichte der ›Anderen‹ von der ›eigenen‹ abgegrenzt. Doch wird in der Dauerausstellung ein bestimmtes, vorgegebenes Bild von Migranten gezeichnet, das bereits in Raffarins Rede, wenngleich in anderer Form, deutlich wurde. Wo bei ihm die Beziehung zwischen dem einerseits generösen Gastgeberland Frankreich und dem andererseits hilfsbedürftigen Einwanderer deutlich statisch entworfen worden ist, zeigt die Dauerausstellung trotz des Versuchs, Migranten in einer differenzierten Weise darzustellen, diese als ›fremde‹ Elemente, die erst einmal der Bereicherung des ›Eigenen‹ zu dienen scheinen. So lässt der Rückgriff auf das Konzept der ›diversité‹ Migranten nicht heterogen und dadurch differenzierter, sondern vor allem deren Beiträge als wichtig für die Stärkung der nationalen Identität erkennen. Die Darstellung dieses national begründeten Konzepts der ›diversité‹, das hier die französische Integrationsfähigkeit und die damit einhergehende statische Betrachtung von Migranten und dem Gastgeberland Frankreich bezeugt, führen tendenziell zu einer homogenisierenden und damit essentialisierenden Darstellung.313 Frankreich wird am Rande der Ausstellung ausdrücklich, in der Ausstellung selbst weniger stark republikanisch konzipiert, Migranten werden hingegen als mehr oder weniger homogene, als zu integrierende Gruppen dargestellt. Obschon Migrantenherkünfte, -kontexte und -wege veranschaulicht werden, bleibt es bei Einwanderern aus bestimmten Nationen, was die nationale Einordnung der Ausstellungsobjekte in den Bild- und Objektunterschriften zeigt, die meist neben dem Namen des Gezeigten und teilweise weiteren Erläuterungen aufgeführt ist. Es ist erkennbar, dass in der Dauerausstellung besonders die Nation oder auch die Ethnie als Differenzkriterium fungieren, ohne dass sie als solches markiert wären. Die ethnisch-kulturellen Differenzen von Migranten werden demnach impliziert und beispielsweise in Form der folklorisierend anmutenden Objekte wiedergegeben und festgeschrieben. Für eine analoge Stelle in der Analyse des Ellis Island Immigration Museum in New York argumentiert Joachim Baur, dass Differenzen zwar nicht allein bedeutend, dass sie aber sehr wohl wichtig seien in der Verhandlung von Migrantenkulturen: wichtig, um ein multikulturel-
313 Vgl. hierzu Kapitel 2.1.3 sowie Thomas, »The Quai Branly Museum«, S. 149.
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les anstelle eines homogenen Bildes einer Gesellschaft zu zeichnen.314 Diese Differenzierung trifft auf die Dauerausstellung der Cité nicht zu. Anstatt ein Nebeneinander von Kulturen zu entwerfen, konzipieren die »Repères« die Nation als ein vordefiniertes Ganzes und damit als eine Einheit, in die die zwar implizit differenziellen, aber dennoch weitgehend homogen dargestellten Identitäten von Migranten integriert werden. Die vorangegangenen Beobachtungen haben für die Darstellung der Immigrationsgeschichte in Frankreich das Bemühen um eine umfassende Verhandlung der Thematik gezeigt, aber auch verdeutlicht, was der Dauerausstellung fehlt und wo eine noch differenziertere Darstellung besonders von Migrantengruppen hätte hilfreich sein können. Es hätten beispielsweise die unterschiedlichen Gründe genannt werden können, aus denen Menschen zu Migranten geworden sind; dazu würden dann die innerhexagonale Migration und Migrationen aus den ehemaligen Kolonien oder auch aus den DOM-TOM-Gebieten gehören. Darüber hinaus fehlt erkennbar die historische Erzählung und Einbettung bestimmter Migrantengruppen, die beispielsweise hätte zeigen können, dass Migranten teilweise schon nach Frankreich gekommen waren, bevor eine große Anzahl ihrer Landsleute nach Frankreich übergesiedelt ist,315 und damit eine stärkere Differenzierung in der historischen Darstellung hätte leisten können. Der Anspruch auf eine dialogische Darstellung, die das für die Dauerausstellung nachgezeichnete homogene Narrativ womöglich hätte aufbrechen können, findet sich in der Ausstellung kaum umgesetzt. Zwar überlässt es der vergleichsweise lose Parcours der »Repères« den Besuchern, einzelne Immigrationsgeschichten zu entdecken, doch erst am Ende der Ausstellung ermöglichen es interaktive Bildschirme, einzelne französische Wörter als vormals fremde, durch Immigration in das Französische übernommene Wörter zu erfahren. Zudem bekommen die Besucher erst nach der eigentlichen Ausstellung die Möglichkeit, räumlich stark abgegrenzt von der Dauerausstellung im Erdgeschoss, per Videokamera ihre eigene Sicht auf und Erfahrung mit Immigration zu doku-
314 Vgl. Baur, Die Musealisierung der Migration, S. 163f. Auch Brigitte Jelen und der Journalist Michael Kimmelman sehen in der Cité die Darstellung einer homogenen Erzählung von Frankreich verkörpert. Vgl. Jelen, »›Leur histoire est notre histoire‹«; vgl. Kimmelman, »France’s unconvincing ode to immigrants«. 315 In Anlehnung an die Analyse von Anouk Cohen, »Quelles histoires pour un musée de l’immigration à Paris!«, S. 405, von Benoît de l’Estoile, »L’oubli de l’héritage colonial«, und Jelen, »›Leur histoire est notre histoire«, S. 113.
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mentieren; diese Videoaufnahmen werden an der äußeren Wand der ›Aufnahmebox‹ abgespielt.316 Auch die Beschaffung zahlreicher Ausstellungsobjekte wird dem dialogischen Anspruch der Cité kaum gerecht. Obschon die Teilhabe von Migranten durch künstlerische Objekte und die Teilhabe der Besucher an der Gestaltung mit dem sogenannten ›appel à collecte‹ gewährleistet zu sein schien, wurde dabei stark selektiert, wie Anouk Cohen berichtet: »Les objets que vous avez choisi ne sont pas acceptables et ne correspondent pas à l’image du musée; ces objets parlent du pays d’origine alors qu’on veut davantage insister sur la vie qu’ils ont construite en France«.317 Dass Objekte mit der Begründung, dass sie nicht dem Bild der Cité entsprächen, zurückgewiesen wurden, belegt den Eindruck von einem Narrativ, das die republikanische Integrationsgeschichte und nicht die Immigrationsgeschichten aus den jeweiligen Heimatländern erzählt. Die in der Ausstellung kurz skizzierten Lebenswege der Migranten, die Gaben für die Galerie des dons gegeben haben, verschaffen dem kaum Abhilfe.318 Die weitgehend statischen Identitätsentwürfe, die in der Dauerausstellung für ›Migranten‹ und das Einwanderungsland Frankreich entworfen werden, wurden damit jedenfalls nicht aufgekündigt. Doch auch wenn der dialogische Anspruch in der Beschaffung von Ausstellungsobjekten kaum eingelöst wurde und auch wenn dazu Migranten in der Dauerausstellung als Beiträger zur nationalen Immigrationsgeschichte gezeigt werden, bleibt die Frage bestehen, ob die statischen Identitätsentwürfe und die mit ihr einhergehenden Leerstellen auf die Verhandlung der Immigrationsgeschichte in der Cité generell zutrifft. Aus diesem Grund soll die Wechselausstellung »1931. Les étrangers au temps de l’Exposition coloniale« analysiert werden, die als erste von der Cité selbst konzipierte Wechselausstellung von Mai bis September 2008 stattgefunden hat. Dabei ist besonders die Verhandlung der Kolonisierung von Bedeutung, vor allem weil sie in der Planungsphase anvisiert worden war, in der Dauerausstellung aber nicht thematisiert wurde. Die Ausstellung ist in zweierlei Hinsicht bemerkenswert.319 Zum einen wurde sie von mehreren Kuratoren konzipiert, wie es auf die besprochenen Wech-
316 Die Videoaufnahme wird auch vom Museum selbst nicht mehr als Teil der Ausstellung betrachtet. Vgl. »Présentation de l’exposition«. 317 Cohen, »Quelles histoires pour un musée de l’immigration à Paris!«, S. 405. 318 »La galerie des dons«. 319 Die hier besprochene Wechselausstellung ist die erste selbst entworfene Wechselausstellung der Cité. Kurz zuvor jedoch, vom 14. November 2007 bis zum 13. Januar 2008, zeigte die Cité eine weitere Wechselausstellung, die durch den Verband
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selausstellungen des Quai Branly bis auf die Ausstellung »Exhibitions. L’invention du sauvage« nicht zutraf: Jacques Hainard, Direktor des Ethnografiemuseums in Genf, fungierte als Hauptkurator. Er wurde unterstützt durch Laure Blévis, Soziologin an der Universität in Paris-Nanterre, Nanette Jacomijn Snoep, Anthropologin und Mitarbeiterin des Quai Branly, Hélène Lafont-Couturier, Kunsthistorikerin und heute museumspädagogische Leiterin der Cité, sowie Claire Zalc, Wissenschaftlerin am CNRS. Die Kuratoren selbst bestimmten diese vielschichtige Besetzung als Ausdruck eines pluridisziplinären Ansatzes.320 Zum anderen ist bemerkenswert, dass die Wechselausstellung das in französischen Identitätsdebatten meist gemiedene und kritisierte Thema der Kolonialvergangenheit und dessen Kristallisationspunkt, das Jahr 1931, herausgegriffen und thematisiert hat. Das Hauptziel der Ausstellung »1931« war es, dieses Jahr in seiner ganzen Vielschichtigkeit zu repräsentieren. Denn wie die Kuratoren erklären, seien im Jahr 1931 die Beziehungen von Immigration und Kolonisierung schlagartig deutlich geworden. Auf der einen Seite hatte es 1931 die fulminante Feier der französischen Eroberungen in Form der Kolonialausstellung gegeben, die das Pariser Leben maßgeblich beeinflusste, auf der anderen Seite die von der Öffentlichkeit kaum thematisierte Einwanderungsbevölkerung, die besonders während des Ersten Weltkriegs zum Arbeiten nach Frankreich gekommen war und meist aus französischen Kolonien stammte. Damit hatte die Zahl der Migranten in Paris in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts deutlich zugenommen, was in Paris die Entstehung fremdenfeindlicher Stimmungen und Bewegungen begünstigte. Vor diesem Hintergrund sollte »1931« erstens die Beziehungen zwischen Immigration und Kolonisierung im Alltag zeigen, zweitens über die Kolonialausstellung hinaus das Leben von Migranten in den Städten, auf dem Land und in ein-
Aperture organisiert worden war. Sie stellte Fotografien aus dem frühen 20. Jahrhundert aus, die Migranten in Ellis Island, dem ehemaligen Kontrollpunkt von Migranten bei der Einwanderung in die USA, zeigten, der heute übrigens das New Yorker Pendant zur französischen Cité geworden ist. Vgl. »Ellis Island – portraits d’Augustus Sherman«; auch Toubon, »Préface«, in: 1931. 320 Vgl. »1931. Les étrangers au temps de l’Exposition coloniale«; Blévis/Lafont-Couturier/Snoep/Zalc, »Introduction«, S. 12. Nanette Jacomijn Snoep war auch an der Wechselausstellung »Exhibitons. L’invention du sauvage« im Quai Branly beteiligt. Vgl. Kapitel 3.1.3.
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zelnen Pariser Stadtteilen präsentieren und drittens die Widersprüchlichkeiten der Zeit herausarbeiten.321 Der pluridisziplinäre Ansatz der Kuratoren sollte diesem Anspruch auf eine möglichst komplexe Repräsentation der Beziehungen zwischen Immigration und Kolonisierung Rechnung tragen. Unterstützt wurden die Kuratoren deshalb durch eine Vielzahl an Wissenschaftlern und Experten aus unterschiedlichen Disziplinen, die die Ausstellung zusätzlich mit Exponaten und Erläuterungstexten versehen haben. Der Schwierigkeit, den Spektakelcharakter der Kolonialausstellung und zugleich den Alltag von Migranten im Jahr 1931 zu zeigen, kamen die Kuratoren mit einer Fülle an Objekten wie Plakaten, Ausweispapieren, Statistiken, Fotografien, Zeitungsausschnitten und Objekten der künstlerischen Avantgarde nach. Ein Teil davon war aufwändig restauriert und das erste Mal überhaupt seit 1931 für die Öffentlichkeit sichtbar gemacht worden, darunter vierzig Malereien und Skulpturen aus der nicht-öffentlichen Sammlung des Quai Branly. Darüber hinaus verwiesen die Kuratoren in der Ausstellung auch auf die Leerstellen, die insbesondere im Blick auf Migranten kolonialer Herkunft entstanden sind. Denn obschon diese Migranten in Form von Stereotypen im kollektiven Gedächtnis vorhanden seien, fehlte es vielfach an Objekten und Zeugnissen der Zeit, die abseits von Klischees Aufschluss über ihren Lebensalltag in Frankreich geben könnten.322 Die Texte, die neben den Exponaten im Ausstellungskatalog abgebildet sind und darin einen großen Raum einnehmen, geben die Struktur von »1931« deutlich wieder. Um die Repräsentationen der Kolonialausstellung zu hinterfragen,323 ist die Ausstellung in sieben Teile gegliedert, die jeweils aus mehreren Aufsätzen bestehen: »L’envers du décor«, »La crise«, »Mobilisations«, »L’oppression des papiers«, »Les uns et les autres«, »L’étrange étranger« und »Et après?«. Im ersten dieser Teile werden die Ausstellung von 1931 und die Frage besprochen, wie sogenannte ›indigènes‹ in den 1930er Jahren in Frankreich, besonders in Paris, gelebt haben und inwiefern sie als ›Eingeborene‹ definiert wurden. Die zwei-
321 Vgl. Blévis u.a., »Introduction«, S. 12-15. Die möglichen Beziehungen zwischen den Phänomenen Immigration und Kolonisierung wurden ausführlich auf der Tagung »Histoire de l’immigration et question coloniale en France« im September 2006 diskutiert. Dabei plädierte Nancy Green dafür, diese Beziehungen als keine direkten Relationen zu verstehen, sondern eher als Bereiche, die strukturelle Ähnlichkeiten aufweisen würden. Vgl. Green, »Colonisation et immigration, quels liens?«. 322 Vgl. Blévis u.a., »Introduction«, S. 15-17; auch Kapitel 3.1.2. 323 Vgl. ebd., S. 15. Vgl. auch »1931. Les étrangers au temps de l’Exposition coloniale«.
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ten, dritten und vierten Teile thematisieren die gesellschaftlichen und politischen Diskurse über Migranten zur Zeit der Kolonialausstellung. Gegenstand dieser Teile sind beispielsweise der Umgang mit Migranten im Gefolge der Wirtschaftskrise und im Zuge der Arbeitslosigkeit, die Politisierung von Migranten und Gegenbewegungen zur Kolonialausstellung und auch die Frage nach der Einbürgerung von Migranten. Die zwei sich anschließenden Teile beleuchten das alltägliche private Leben der ›Fremden‹. In »Les uns et les autres« werden gesellschaftliche Reaktionen auf Migranten, fremdenfeindliche und antisemitische Stimmungen und der fotografische Blick auf Ausländer der Zeit thematisiert, Mischehen diskutiert und anhand von Einzelbeispielen das Leben von Ausländern in Frankreich gezeigt. In »L’étrange étranger« wird der Blick auf die Künstler unter den Migranten geworfen und die Aneignung exotistischer Motive in Chansons oder in der Mode diskutiert. Im letzten siebten Teil der Ausstellung wird schließlich die Frage nach den Auswirkungen des Umgangs mit Migranten in den 1930er Jahren und der Kolonialausstellung gestellt. Bemerkenswert an dieser Struktur ist die Bewegung vom Großen ins Kleine. Sie spiegelt sich nicht nur in der Abfolge der genannten Teile, die von der Kolonialausstellung ausgehend über die politische und gesellschaftliche Verhandlung hin zur privaten Verhandlung des Themas der Einwanderung in den 1930er Jahren geht. Auch die Beiträge und Objekte innerhalb der Teile folgen dieser Bewegung, indem ein Leittext die Stoßrichtung des jeweiligen Teils bestimmt und durch weitere Texte und Exponate und oft auch durch Einzelbeispiele ergänzt wird. Im letzten Teil »Et après« wird deshalb die Bedeutung der Kolonialausstellung für die weitere Verhandlung und die Geschichte von Immigration dargestellt, wo beispielsweise der Beitrag zur Erfindung des Schnellkochtopfs in Frankreich in den 1930er Jahren die Explosivität dieser Zeit bildlich verdeutlichen soll.324 Diese vergleichsweise umfassende Aneignung des Themas beinhaltet auch die vielfältigen Facetten, in denen Immigration in den 1930er Jahren das gesellschaftliche, alltäglich-private und politische Leben in Frankreich maßgeblich und nachhaltig beeinflusst hat und das Thema der Kolonisierung, das in der Dauerausstellung der Cité vermieden worden war, wird hier detailliert gezeigt. Es wird einerseits die Kolonialausstellung selbst thematisiert, andererseits werden das Leben und auch die Wahrnehmung der sogenannten ›indigènes‹ während der Ausstellung diskutiert. Dieser bemerkenswert offene Umgang mit der in der Dauerausstellung unterlassenen Erzählung der Kolonialgeschichte ist viel-
324 Schinz, »Explosives, les années 1930?«.
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fach, unter anderem in Le Monde, positiv hervorgehoben worden.325 Es scheint, als ob das republikanisch-integrative Narrativ, das die Dauerausstellung der Cité deutlich bestimmt, in der Ausstellung »1931« durch die Darstellung der Verbindungen von Immigration und französischer Kolonialvergangenheit ersetzt worden ist. Inwiefern diese Vermutung zutrifft und wie Kolonialgeschichte und Immigration hier thematisiert und miteinander in Beziehung gesetzt werden, soll im Folgenden untersucht werden. Im Katalog zu »1931« wird die Kolonialgeschichte zunächst anhand der Ausstellung diskutiert, die von Mai bis November 1931 in Paris stattfand. Zwei Beiträge, einer im Teil »L’envers du décor«, ein weiterer zum Abschluss der Ausstellung im Teil »Et après«, versuchen, sich dem Inhalt und der Bedeutung der Ausstellung zu nähern; Bilder ergänzen diese Schilderung eindrücklich. Im ersten dieser Beiträge geht der Historiker Michel Pierre auf die Vorgänger der Ausstellung von 1931, die Weltausstellung von 1889 auf dem Pariser Champ-deMars und die Kolonialausstellung von 1906 in Marseille ein, dazu auch auf den Palais des Colonies im Detail und die Aussteller der Kolonialausstellung. Dabei unternimmt er einen fiktiven Rundgang über das 110 Hektar große Gelände, das, wie Steve Ungar in einem Aufsatz zur Kolonialausstellung schreibt, vier Bereiche umfasst habe: den Frankreichs, der überseeischen Territorien, der nationalen Pavillons und des Museums für Kolonien, des bereits besprochenen Palais des Colonies.326 Darüber hinaus versucht Michel Pierre, die Bedeutung der Kolonialausstellung für die Zeit zu begreifen, die ihm zufolge einer »fête permanente« und einer »féerie d’eau et de lumière« gleichgekommen und aufgrund zahlreicher Tänzer, Künstler oder Schauspieler aus den Kolonien zu einem ›exotischen‹ Spektakel geworden ist.327 Unterstützt wird die Schilderung Pierres durch Bilder, die den Palais des Colonies, die Eintrittskarte zur Kolonialausstellung sowie Aufnahmen der Gebäude zeigen und die verschiedenen Ländern zugeordnet sind. Im zweiten Beitrag, »Restes et traces d’une illusion«, rekurriert Nanette Jacomijn Snoep noch einmal auf die Auswirkungen und Überreste der Kolonialausstellung. Nach einer kurzen Beschreibung der heutigen Porte Dorée beleuchtet sie die Kolonialausstellung von zwei Seiten. Sie zeigt zum einen auf, wie verschiedene Protest- und Unabhängigkeitsbewegungen das Modell der französischen Kolonialherrschaft schon 1931 zunehmend in Frage gestellt haben. Zum
325 Herzberg, »Colonies et émigrés de 1931«. 326 Ungar, »L’Exposition coloniale (1931)«, S. 261. 327 Zu den Zitaten Pierre, »L’Exposition coloniale internationale de 1931«, S. 27. Zu den restlichen Informationen vgl. ebd., S. 20-27.
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anderen verdeutlicht sie den pompösen Charakter der Ausstellung, die die Faszination erklären vermag, von der Michel Pierre in seinem Beitrag gesprochen hat: Snoep sieht die Ausstellung ebenfalls als eine Fortführung von Kolonial- und Weltausstellungen, die sich in eine lange Tradition von Triumphmärschen einschreibe, wie sie schon im Mittelalter im Rahmen von Krönungen, militärischen Siegen oder eines Friedensvertrags veranstaltet worden seien. Besonders auffallend an der Kolonialausstellung von 1931 waren ihr zufolge die sogenannten ›tableaux vivants‹, die Eingeborenen oder auch exotische Tieren gezeigt haben, und überdimensionierte Ausstellungsexponate wie Dioramen, Schaukästen und bühnen. Denn sie gaben Szenerien aus den französischen Kolonien in meist stilisierter Form wieder und dienten damit der Entgegensetzung von vermeintlich primitiven Gesellschaften und der okzidentalen Moderne.328 Snoep betont in ihrem Beitrag zu »1931« die Ambivalenz der Kolonialausstellung. Denn trotz ihrer statischen Konzeption von ›Zivilisation‹ und ›primitiver Gesellschaft‹ ist die Ausstellung von 1931 kein reiner ›Kitsch‹, sondern in doppelter Weise inszeniert gewesen. Auf der einen Seite stellte sie Snoep zufolge monströsen Pomp und Prunk sowie exotistische Szenerien zur Schau, auf der anderen Seite war sie durch eine eklektische Darstellungsweise und erste Kritik am Kolonialismus und Unabhängigkeitstendenzen geprägt. Die eklektische Ausstellungsweise ist Snoep zufolge unter anderem an dem Verbleib zahlreicher Ausstellungsobjekte und -gebäude erkennbar, die heute vielfältig genutzt werden und deren Exponate weit verstreut sind. Die Dioramen beispielsweise wurden größtenteils in den Quai Branly überführt, nur vier von ihnen sind im Palais des Colonies verblieben.329 Es sind heute im Quai Branly auch Masken und Kostüme von Tänzern, die die ›afrikanische‹ Volksgruppe Dogon zur Kolonialausstellung getragen hat, neben anderen Masken ausgestellt, die wiederum im Rahmen der ethnografischen Dakar-Djibouti-Expedition Anfang der 1930er Jahre gesammelt wurden. Das ist, nebenbei bemerkt, ein Umstand, der in der Dauerausstellung des Quai Branly an entsprechender Stelle unterschlagen und allein auf der Internetseite des Museums genannt wird.330
328 Vgl. Murphy, Un palais pour une cité, S. 32-35. 329 Vgl. Snoep, »Restes et traces d’une illusion«, S. 166-173. 330 Vgl. »Masque zoomorphe«. Zur Dakar-Djibouti-Expedition vgl. de l’Estoile, Le goût des Autres, S. 186-195. Unter dem Begriff des ›art nègre‹ ist das zu begreifen, was im Kapitel zum Quai Branly als ›art primitif‹ besprochen wurde. Allerdings verwendet Snoep, so scheint es, den Begriff nicht trennscharf. Denn der ›art nègre‹ umfasst die oft als Kunst verstandenen Objekte, die meist im Zuge kolonialer Eroberungen mitgebracht wurden und die Maler wie Matisse oder Picasso als Grund-
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Diese heutige Verwendung der Masken regt Snoep zu einer Reflexion zum Verhältnis von Kunstwerk und ›authentischem‹ Objekt an. Sie untermauert das mit dem Hinweis, dass Sammler des sogenannten ›art nègre‹ eine nicht unwichtige Rolle bei der Bestückung der Ausstellung von 1931 gespielt und damit einen gewissen Anspruch auf Authentizität unterwandert hätten. Es ist erkennbar, dass Snoep mit dieser Reflexion ebenso wie mit ihrem Verweis auf die Ambivalenz der Ausstellung von 1931 einen durchaus kritischen Blick auf die Kolonialthematik wirft, der in der Dauerausstellung der Cité gänzlich fehlt. Sie ermöglicht es damit, dass auch in der restlichen Wechselausstellung hinter die Fassade der Kolonialausstellung geschaut und das Thema differenziert dargestellt wird. Thematisch anknüpfend an Michel Pierres Beitrag wirft der erste Teil von »1931« die Frage nach dem Status und Leben der ›indigènes‹ auf, die für die Dauerausstellung der Cité bereits als Leerstellen herausgearbeitet werden konnten. Die Soziologin Laure Blévis befasst sich in ihrem Beitrag »Des ›indigènes‹ en métropole?« mit den unterschiedlichen Behandlungen und juristisch-administrativen Einordnungen, die Eingeborene der alten Kolonien wie der französischen Antillen, Französisch-Guyana oder des Senegal und der neuen, im 19. Jahrhundert eroberten Kolonien wie Algerien oder La Réunion in der Zwischenkriegszeit erfahren haben. Während die Einwohner der alten Kolonien, wie Blévis erklärt, im Zuge der Abschaffung der Sklaverei von 1848 zu französischen Bürgern geworden seien, wurden die Einwohner der neuen Kolonien als Franzosen, nicht aber als ›citoyens‹ definiert. Die komplexe Frage nach dem Status, den die ›indigénes‹ in der Zwischenkriegszeit eingenommen haben, kann über die Ausstellung von 1931 hinaus, wie Blévis zu Beginn ihres Beitrags erklärt, auf die zunehmende Präsenz von Migranten in den 1930er Jahren verweisen. Sie kann zugleich auch das große Interesse an der Vielschichtigkeit der Einwanderungsbevölkerung verdeutlichen, die mit der Frage nach dem Status von ›Eingeborenen‹ ins öffentliche Bewusstsein gerückt ist.331 An dieser Stelle von »1931« wird das Konzept der ›diversité‹ in die Wechselausstellung eingeführt. In einem direkt anschließenden Beitrag erläutert es der Anthropologe Benoît de l’Estoile, der sich besonders durch seine Monografie Le goût des autres für das Thema empfohlen hat, genauer.332 De l’Estoile zeichnet zunächst das Bild nach, das die Kolonialausstellung der Darstellung von 1931
lage für ihre Werke verwendet haben. Wenn Snoep dagegen die Masken und Kostüme der Tänzer mit dem Begriff des ›art nègre‹ umfasst, scheint dies dem Begriff nicht ganz gerecht zu werden. 331 Vgl. Blévis, »Des ›indigènes‹ en métropole?«, S. 28-35. 332 Vgl. Kapitel 3.1.3.
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zufolge vermitteln sollte: den Eindruck eines harmonischen Nebeneinanders der Eingeborenengesellschaften, der sich, so kann ergänzt werden, in dem Bild vom »tour du monde en un jour« wieder finden lässt, das 1931 zur Werbung für die Ausstellung verwendet wurde.333 De l’Estoile sieht in diesem Bild die in der Zwischenkriegszeit deutlich gewordene Notwendigkeit verkörpert, die Vielschichtigkeit von Migranten zu berücksichtigen. Er betont dabei, dass es nicht auf einem assimilatorischen Universalismus gründe, wie man in der Rückschau annehmen könnte. Vielmehr sei der Anspruch, die Vielschichtigkeit und damit die ›diversité‹ zu zeigen, einem pluralistisch-universalistischen Verständnis entsprungen. Wie de l’Estoile erklärt, fungierte dieses Verständnis 1931 als Antwort auf die Kritik an der Kolonisierung und diente der Festigung der Kolonialherrschaft, und er zeigt an anderer Stelle, dass der Umgang mit außereuropäischen Kulturen im Quai Branly heute noch auf solch einer Konzeption basiert.334 Mit der Kolonialausstellung entstand dadurch, wie de l’Estoile weiter aufzeigt, eine neue, zum Teil auch widersprüchliche Verhandlung des ›kulturell Anderen‹. Nicht nur die Schausteller kolonialer Herkunft prägten das Bild der Kolonialausstellung, sondern auch die große Zahl an ebenfalls aus den Kolonialgebieten stammenden Besuchern. Diese Besuche von kolonialen Migranten sind de l’Estoile zufolge jedenfalls Teil der Inszenierung des französischen Kolonialreiches, der Idee einer ›plus grande France‹, gewesen. Darüber hinaus erkennt de l’Estoile auch eine Veränderung in der Darstellungsart, die die ›indigènes‹ nicht mehr in ihrer Wildheit festgeschrieben hat. Die lange Zeit übliche statische Ausstellung der ›indigènes‹ war aufgekündigt und zu einer dynamischeren Darstellung verändert worden, in der die Eingeborenen bei der Ausübung von Kunst oder Tanz und als Beispiel für die Bildungserfolge der französischen Kolonisierung gezeigt wurden. De l’Estoile bemerkt allerdings auch, dass diese veränderte Darstellungsart, die auf eine Veränderung im Umgang mit dem kulturell ›Anderen‹ schließen lassen könnte, konterkariert worden sei durch eine weitere Ausstellung am westlichen Rand von Paris. Dass im Bois de Boulogne fernab der Porte Dorée zur gleichen Zeit sogenannte Kanaken aus Neukaledonien aus- und als Kannibalen dargestellt wurden, hat erkennbar dem Bild widersprochen, das die Kolonialausstellung von den indigenen Bevölkerungen zu vermitteln suchte: ein zeitgenössisches, ein vergleichsweise aktives Bild. Indem de l’Estoile darauf verweist, nimmt er eine differenzierte Bewertung der Kolonialausstellung vor, die erkenn-
333 Blévis u.a., »Introduction«, S. 17. 334 Vgl. de l’Estoile, »Les indigènes des colonies à l’Exposition coloniale de 1931«, S. 36f. Vgl. auch ebd., Le goût des Autres, S. 35, S. 51, und Kapitel 3.1.3.
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bar die gesamte Wechselausstellung »1931« durchzieht.335 Mit dieser differenzierten Darstellung sind die Veränderungen, die sich im Umgang damit ergeben haben, in die Zeit der Kolonialausstellung historisch eingeordnet. Das Konzept der ›diversité‹, das de l’Estoile als erster in der Wechselausstellung benennt, ist demzufolge als ein Modell entworfen, das durch eine Vielschichtigkeit im Umgang mit dem Thema Kolonialausstellung und zugleich durch eine Vielfältigkeit der Beiträge gekennzeichnet ist. Sie reichen von gesellschaftlich-politischen Fragen nach der Volkszählung von 1931 über die Mobilisierung und die Arbeitslosigkeit von Migranten sowie dem Umgang der französischen Polizei mit Migranten bis hin zu Einzelbeispielen. Italiener werden als arbeitende Migranten im Paris und New York der Zwischenkriegszeit ebenso beleuchtet wie der Migrant François Kollar, der zunächst Handwerker bei Renault war und dann aus Europa und den Kolonialgebieten stammende Arbeiter in Paris fotografierte. Aus diesen unter dem Titel »La France travaille« 1985 publizierten Fotografien sticht besonders die eines marokkanischen Minenarbeiters hervor, die, so bemerkt die Beiträgerin Marianne Amar, als einzige Fotografie mit der Angabe der Nationalität versehen ist und zudem deutlich die Dunkelheit der Minenarbeit und zugleich eine große Körperpräsenz des Minenarbeiters zum Ausdruck bringt.336 Darüber hinaus illustriert der Beitrag von Sarah Frioux-Salgas den Widerstand, der um das Jahr 1931 gegenüber stereotypenartigen Bildern von Dunkelhäutigen bestand. Frioux-Salgas beschreibt die junge Intellektuelle Paulette Nardal aus Martinique, die als Kulturmittlerin zu den Diasporas dunkelhäutiger Migranten in Paris, unter ihnen Léopold Sédar Senghor oder Aimé Césaire, fungierte. Nardal versuchte dem Ausstellungskatalog zufolge, die Rechte der Dunkelhäutigen aufzuwerten »en essayant de briser la ›boîte aux accessoires exotiques‹ pleine de ›doudous antillaises‹, de ›tirailleurs souriants‹ ou de ›zoos humains‹«.337
335 Vgl. de l’Estoile, »Les indigènes des colonies à l’Exposition coloniale de 1931«, S. 36-40; Ungar, »L’Exposition coloniale«. Zur veränderten Darstellung von sogenannten ›Eingeborenen‹ ergänzt de l’Estoile in seiner Monografie, dass die indigenen Künste zur Zeit der Kolonialausstellung, anders als heute stereotypenartig und in drei Manifestationen wahrgenommen und verstanden wurden: als Kunstobjekte, als Handwerk und in Form von sogenannten Spektakeln. Vgl. ebd., Le goût des Autres, S. 92. 336 Vgl. Amar, »François Kollar et le mineur marocain, destins croisés«. 337 Frioux-Salgas, »Paulette Nardal ou la volonté de briser ›la boîte aux accessoires exotiques‹«.
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Dieser Wunsch nach einer Subversion der ›boîte aux accessoires‹, der exotistischen Darstellung von Migranten kolonialer Herkunft, wurde 1931 noch deutlicher in einer Gegenbewegung, auf die die Wechselausstellung verweist. Sie wurde von militanten Linken, Kommunisten, Gewerkschaftsmitgliedern, Arbeitern und Studenten, aber auch von zahlreichen Intellektuellen wie André Breton, Paul Éluard oder Louis Aragon getragen. Aus Protest gegen die Kolonialausstellung veröffentlichten sie Le Véritable guide de l’Exposition coloniale und ein Traktat mit dem Titel »Ne visitez pas l’Exposition Coloniale«. »1931« stellt diese beiden Dokumente neben weiteren Dokumenten aus und verdeutlicht damit die zeitgenössische Kritik an der Kolonialausstellung. Ein Plakat beispielsweise, das in der Wechselausstellung gezeigt wird, bildet die hierarchischen Verhältnisse der Kolonialausstellung genau umgekehrt ab. Zahlreiche dunkelhäutige, vermutlich eingeborene Menschen besichtigen darauf eine ausgestellte Szenerie von Weißen.338 Abbildung 8: Plakat zur Kolonialausstellung
Abbildung 9: Die ›andere‹ Kolonialausstellung
Dementsprechend wird im Ausstellungsteil »L’étrange étranger« auf Künstler und die Verhandlung von Migranten in der Kunst rekurriert. In einem ersten Beitrag mit dem Titel »Les artistes étrangers au début des années 1930« werden detailliert die Entstehung und der Niedergang der sogenannten École de Paris dar-
338 Vgl. Leclerq, »En marge du bois de Vincennes«, S. 86-88.
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gestellt, die fast komplett aus ausländischen, in Montmartre oder Montparnasse lebenden Künstlern bestand, sowie deren Ablösung durch die Surrealisten Ende der 1920er Jahre.339 In einem weiteren Beitrag in »1931« wird die Befassung der künstlerischen Avantgarde mit den überseeischen Künsten, dem sogenannten ›art nègre‹, thematisiert, die die Beiträgerin Snoep noch als Beleg für die eklektische Darstellungsweise der Kolonialausstellung verwendet hat. Es wird gezeigt, wie die Russin Marie Vassilieff um 1930 Büsten aus Metallschrott und weiteren Materialien produzierte, die der ›primitiven Kunst‹ entlehnt waren, und sie anschließend fotografierte. Dass diese sogenannten ›portraits-poupées‹ in der Wechselausstellung präsentiert werden, zeugt von der bereits genannten Absicht der Kuratoren, Migranten eine aktivere Rolle zuteilwerden zu lassen, als es die Dauerausstellung – und auch die Kolonialausstellung – vermochte, die den ›art nègre‹ ausgeklammert und die ›kulturell Anderen‹ auf eine tendenziell folklorisierende Weise dargestellt hatte.340 Darüber hinaus wird aber auch die Aneignung exotistischer Motive durch Migranten deutlich, die im Zuge der Kolonialausstellung die 1930er Jahre geprägt haben, beispielsweise der italienische Künstler Leonetto Cappiello. Wie Isabelle Renard im Ausstellungskatalog ausführt, sind zwei Werbeplakate von Cappiello kritisiert worden: zunächst die Darstellung einer Kuh, die eine Rindsbouillon bewarb, die an in der Kolonialausstellung gezeigte Trophäen erinnert. Ein zweites Plakat sei aus dem gleichen Grund abgelehnt worden, da der zur Werbung für eine Margarine abgebildete Dunkelhäutige an Josephine Baker habe denken lassen.341 Wie sich allerdings auch Migranten besonders kolonialer Herkunft das Pariser Interesse am ›Exotischen‹ zu eigen gemacht haben, zeigt in der Wechselausstellung ein weiterer Beitrag. Darin werden ›exotische‹ Tänzerinnen und Tänzer der 1930er Jahre neben und über Josephine Baker hinaus besprochen, die in der Dauerausstellung der Cité allein benannt wird. Renard zufolge waren für viele Migranten die sogenannten Music Halls nicht nur eine Möglichkeit zum Arbeiten; ihre Beliebtheit verbreitete auch vormals fremde Tänze in Paris und ließ französische Tänzerinnen und Tänzer unter exotistischen Pseudonymen auftreten. Mit dieser Darstellung werden in »1931« die Einflüsse von Migranten kolonialer Herkunft in einer differenzierten Weise aufgezeigt, die in der Dauerausstellung der Cité fehlt.342
339 Vgl. Krebs, »Les artistes étrangers au début des années 1930«, S. 134-139. 340 Vgl. Murphy, »Les poupées ›nègres‹ d’une Russe à Paris«. 341 Vgl. Renard, »Leonetto Cappiello, un Italien de Paris«. 342 Vgl. Décoret-Ahiha, »Danseurs et danseuses exotiques dans le Paris des années 1930«.
3. I DENTITÄTSKONSTRUKTIONEN
IN NEUEN FRANZÖSISCHEN
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Wie zu erkennen ist, zielt die Wechselausstellung auch auf die Repräsentation der wechselseitigen Beeinflussung in kulturgeschichtlicher Perspektive ab. Davon zeugt die Darstellung der Rolle der ›indigènes‹ in französischen Chansons und in der Pariser Mode. Während die Mode der Zeit um 1931, die auch im Pavillon der Stadt Paris zur Kolonialausstellung exponiert war, als eine Mode gezeigt wird, die zahlreiche exotistische Elemente verwendet hatte, dient die Besprechung der Chansons dazu, über die bloße Aneignung exotistischer Motivik und die damit einhergehende Folklorisierung hinaus das Potenzial der Figur Josephine Bakers zu zeigen, die das westliche Bedürfnis nach ›Exotik‹ gezielt bediente. So erläutert der Beiträger Yves Borowice, dass Baker, die in die Rolle unterschiedlicher Sängerinnentypen wie Sängerinnen aus Indochina, Afrika oder von den Antillen geschlüpft ist, eine aktive, eine ironisierende Rolle eingenommen habe, um Klischees von Dunkelhäutigen zu bespielen und aufzubrechen.343 An diesen Besprechungen wird deutlich, dass die Wechselausstellung der Cité um ein vielschichtiges und differenziertes Bild bemüht ist. Dies ist ihr in den kulturgeschichtlichen Beiträgen ebenso gelungen wie in den überblicksartigen historisch-politischen Ausstellungsteilen. Oft zeigen die Beiträge ebenso kulturelle, oft auch individuelle Perspektiven wie die gesellschaftlichen Auswirkungen oder politischen Reaktionen auf die koloniale Zurschaustellung und die damit verknüpften Diskurse. Es werden Themen verhandelt, die in der Dauerausstellung nicht oder nur am Rande auftauchen. Darüber hinaus werden die gezeigten Gegenstände in den kulturgeschichtlichen Kontext eingebettet und es wird ein differenziertes Bild der Kollektivgeschichte wiedergegeben, wenn beispielsweise die Wirtschaftskrise Ende der 1920er Jahre und die damit verbundenen prekären Umstände von Migranten erläutert werden, die wiederum rassistische Stimmungen nach sich gezogen haben. Besonders deutlich wird die differenzierte Repräsentation in dem Ausstellungsteil, der das Nebeneinander- und Zusammenleben verschiedener Migrantengruppen zeigt, sowie die deutlich fremdenfeindliche Stimmung und die subtile Einteilung in ›gute‹ und ›schlechte‹ Migranten in Fotografien der Zeit.344 Darüber hinaus ist diese Differenzierung auch am Phänomen der Emigration erkennbar, die, wie die Wechselausstellung zeigt, unterschiedliche Formen annehmen kann. Wie Philippe Rygiel erläutert, können dies die von französischer
343 Vgl. Borowice, »L’indigène au prisme de la chanson«. Vgl. Örmen, »Une élégante leçon de géographie«. Vgl. auch die Besprechung von Baker in der Wechselausstellung »Exhibitions« des Quai Branly (vgl. Kapitel 3.1.3) und in der Dauerausstellung der Cité. 344 Vgl. About, »Regards photographiques sur les étrangers en France autour de 1930«.
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Staatsseite erzwungenen Rückfahrten von Migranten in ihre Heimatländer sein, die als zulässiges Mittel gesehen wurden, um die Arbeitslosigkeit von Migranten nicht tragen zu müssen.345 Darunter fallen aber auch die Migranten und Flüchtlinge, die Frankreich als Durchgangsstation begriffen haben und in ihr Herkunftsland zurückgekehrt oder weitergefahren sind. Dies wird in der Wechselausstellung anhand des sogenannten ›passeport Nansen‹ illustriert, der es in den 30er Jahren erlaubte, zwischen Staaten hin- und herzureisen.346 Abschließend kann festgestellt werden, dass die aufgezeigten Leerstellen der Dauerausstellung in der Wechselausstellung der Cité deutlich an- und differenziert besprochen werden. Der »regard ironique habituellement porté aujourd’hui sur l’Exposition coloniale« wird aufgegriffen, jedoch auf konsequente Weise dekonstruiert, und das Thema der Einwanderung in Frankreich zur Zeit der Kolonialausstellung wird differenziert und umfassend, wenn auch sicherlich nicht erschöpfend behandelt. Eine differenzierte Darstellung der Kolonialvergangenheit und der Zusammenhänge zwischen der Kolonialausstellung und der Verhandlung von Migranten der Zeit, zu denen unter anderem auch Migranten kolonialer Herkunft gehörten, ist jedenfalls festzustellen.347 Während in der Dauerausstellung diese Zusammenhänge und damit die Frage nach der Verhandlung der sogenannten ›indigènes‹ bis heute gänzlich ignoriert werden, wurden in der Wechselausstellung Migration und Migrationskreisläufe deutlich thematisiert. Es wurde auch gezeigt, dass das Phänomen der Migration auch die Auswanderung aus dem Gastgeberland umfassen kann. Dieser Aspekt der Emigration wurde in den »Repères« zwar nicht vollkommen unberücksichtigt gelassen, er wurde aber auf die Geschichte der Einwanderung beschränkt, die in der Rubrik »Émigrer« die Gründe für die Auswanderung und Reise nach Frankreich und daran geknüpfte Migrantenschicksale aufzeigt. Zudem könnte man mit dem Namensgeber der Mediathek der Cité, Abdelmalek Sayad, argumentieren, dass jeder sogenannte Immigrant zugleich automatisch Emigrant ist, insofern er mit der Entscheidung zur Einwanderung immer auch aus einem Land auswandert.348 Mit Blick auf die Dauerausstellung ist dagegen zu erkennen, dass die Erzählung der französischen Immigrationsgeschichte diesen Aspekt der Migration wie einige weitere in den Hintergrund rücken lässt. Diese Erzählung lässt die ›Vielfalt‹ von Migranten, die in der Cité konkretisierte französische ›Vielfalt‹, zu einer homogenen und homogenisierenden und
345 Vgl. Rygiel, »Les renvois d’étrangers durant les années 1930«. 346 Vgl. Blévis/Zalc, »Pays d’accueil ou terre de transit?«. 347 De l’Estoile, Le goût des Autres, S. 67. 348 Vgl. Cohen, »Quelles histoires pour un musée de l’Immigration à Paris!«, S. 402.
3. I DENTITÄTSKONSTRUKTIONEN
IN NEUEN FRANZÖSISCHEN
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damit zu einer republikanischen werden. Wie die Analyse der Dauerausstellung gezeigt hat, wird mit der Ausblendung der kolonialen Vergangenheit Frankreichs auch der ethnische Charakter ausgelassen und das Differenzierungsmerkmal der Ethnien vielmehr unter dem homogenisierenden Konzept der ›diversité française‹ subsumiert. Dass Joachim Baur für eine analoge Analyse das Bild der Vitrine verwendet hat, um diese homogenisierende Wirkungsweise zu beschreiben, und dass Pascal Blanchard und Éric Deroo das gleiche Bild verwendet haben, um auf die Kolonialausstellung von 1931 zu rekurrieren, ist kein Zufall.349 Herman Lebovics hat die harmonisierende Erzählung einer Einheit im Blick auf die Kolonialausstellung beispielsweise wie folgt beschrieben: »La barrière entre l’ici et l’ailleurs, entre la France métropolitaine et les colonies, est effacée; c’est une représentation pittoresque d’un empire français centralisé, diversifié sur le plan ethnique mais unifié sur le plan politique«.350 Diese Schilderung von einer ethnisch vielfältigen, aber politisch einheitlichen Abbildung des französischen Kolonialreiches ist nicht so weit entfernt von der Repräsentation der Cité in der Dauerausstellung. Vor dem Hintergrund dieser Beobachtung kann man denn auch die These aufstellen, dass die Dauerausstellung gewissermaßen eine Fortsetzung der politischen und kulturellen Ausgrenzung der kulturellen ›Anderen‹ ist. Schließlich werden in der Cité ethnische Unterschiede in Form von Leihgaben exponiert, geraten dabei aber etwas folkloristisch, während die einende Komponente, die Integration in die französische Gesellschaft und Kultur, besonders hervorgehoben wird. Neuralgische Punkte, Konfliktherde, für die die Unruhen in den französischen Vorstädten von 2005 ein Beispiel hätten sein können, oder die benannten ethnischen Differenzen werden hingegen ausgelassen, die zwar nicht allein wichtig, aber durchaus relevant sind. All dies geschieht im Sinne der französisch konzipierten ›Vielfalt‹, die, wie gezeigt wurde, als gegeben begriffen wird und republikanisch angelegt ist. Obschon die Dauerausstellung der Cité zwar den Versuch bezeugt, die ›Vielfalt‹ an Migrationserfahrungen wiederzugeben, werden Konfliktpunkte oder auch die Frage nach der Einordnung der sogenannten ›indigènes‹ zugunsten der nationalen Meistererzählung ausgelassen. Wie Anouk Cohen mit einem Rückgriff auf Vincent Viet erklärt, enthält diese Meistererzählung durchaus eine universalistische Komponente,351 und das Bestreben, (Im-)Migrationserfahrung als eine allgemein-universelle Erfahrung von Migration darzustellen, ist an manchen Stel-
349 S. oben. Vgl. Blanchard/Deroo, »Contrôler: Paris, capitale coloniale (1931-1939)«, S. 355. 350 Lebovics, La »Vraie France«: les enjeux de l’identité culturelle, S. 74. 351 Vgl. Cohen, »Quelles histoires pour un musée de l’Immigration à Paris!«, S. 404.
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len der Dauerausstellung auch erkennbar zu beobachten, beispielsweise dann, wenn die Konzepte der ›diversité‹ und ›universalité‹ nicht so häufig verwendet werden, wie es in der vorliegenden Arbeit für die Planungen und Umsetzung des Quai Branly gezeigt werden konnte. Indem aber der in den »Repères« gesetzte Begriff ›diversité‹ vor allem integrativ und damit national-republikanisch angelegt, und indem die Immigration anstelle der Migration Gegenstand des Museums ist, wird die universelle Dimension zugunsten einer national-identitären und national-universellen aufgehoben. Die Affirmation und Darstellung des Konzepts der ›diversité‹ ist damit erkennbar strategisch oder intentional motiviert. Auf die besprochene Wechselausstellung trifft dies hingegen nicht zu. Darin wurde das Konzept der ›universalité‹ gar nicht, das der ›diversité‹ nur zur Beschreibung der Kolonialausstellung verwendet, die aus Legitimationsgründen vom Konzept der ›Vielfalt‹ Gebrauch gemacht hat. Indem in »1931« kritisch darauf rekurriert wurde und der Begriff in der restlichen Wechselausstellung nicht zur Beschreibung der wechselseitigen Beeinflussungen zwischen Kolonialausstellung und Immigration verwendet worden ist, fand vor allem eine differenzierte Darstellung statt. So wurden die Immigration und die Kolonialausstellung nicht in die nationale Geschichte eingebettet, wie es in der Dauerausstellung geschieht. Vielmehr erfolgte eine kulturgeschichtliche Verhandlung der Thematik, die etwa die künstlerische Avantgarde oder die Beeinflussung der Mode der Zeit aufgegriffen hat. Dass sie zudem die Leerstellen der Dauerausstellung diskutiert hat, erlaubt den Schluss, dass die Ausstellung »1931« als Kompensation dieser Auslassungen in den »Repères« fungieren kann und möglicherweise auch soll. In der Wechselausstellung wurde darüber hinaus deutlich, dass das Interesse an den kulturellen ›Anderen‹ von 1931 in französischen Identitätsdebatten in der Affirmation von kultureller ›Vielfalt‹ fortgesetzt wird, wie Benoît de l’Estoile bereits ausführlich erläutert hat.352 Demzufolge fragt der Historiker Michel Pierre am Ende seines Beitrags: »La question demeurant, par ailleurs, de savoir si l’Exposition coloniale, par la fascination qu’elle a exercée sur ses visiteurs […], a pu ouvrir à une forme de découverte de l’autre, à un intérêt réel pour les cultures d’ailleurs, à une ouverture sur le monde, ou si cela n’a pas dépassé la curiosité stérile d’un exotisme convenu.«353
352 Vgl. de l’Estoile, Le goût des Autres. 353 Pierre, »L’Exposition coloniale internationale de 1931«, S. 27.
3. I DENTITÄTSKONSTRUKTIONEN
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Die Frage, ob die Kolonialausstellung kulturelle Alterität greif- und erfahrbar werden ließ, ist vor dem Hintergrund der Repräsentation der Kolonialausstellung in der Cité ebenso wie der Dauerausstellungen in der Cité und im Quai Branly, aber auch angesichts der zeitgenössischen französischen Identitätsdebatten zum Konzept der ›diversité‹ berechtigt – nicht nur, wenn der Quai Branly zu einem ›tour du monde en un jour‹ einlädt, den auch schon die Kolonialausstellung von 1931 beworben hat.354 Wie gezeigt wurde, bedeutet die Hinwendung zum ›kulturell Anderen‹, die mit der Bekundung zum Konzept der ›Vielfalt‹ manifest wird, nicht automatisch eine Abkehr von einer ethnozentrischen, universalistischen Perspektive, wie die Vorstellung von der Entdeckung der ›Anderen‹ in Pierres Beitrag zunächst suggerieren könnte. Vielmehr wird damit das Konzept der ›diversité‹, das mal universell wie im Quai Branly, mal französisch-homogen wie in der Cité angelegt ist, essentialisiert. Diese Essentialisierungen können und sollen der Stärkung des nationalen Zusammenhalts dienen. Obschon die Cité, anders als der Quai Branly, nicht als ein ›Disneyland‹ begriffen wird, ist sie dem Quai Branly auch über diese essentialisierende Wirkungsweise hinaus in gewisser Weise ähnlich.355 Beiden ist ein umfangreiches kulturelles Rahmenprogramm gemein, das die ›Vielfalt‹ der Thematik im Allgemeinen zu beleuchten und damit möglicherweise die essentialisierenden Wirkungsweisen der Dauerausstellungen im Besonderen zu unterwandern sucht. Im Quai Branly wurde 2006 beispielsweise eine Filmreihe veranstaltet, in der die Zusammenhänge von französischer Identität und Immigration thematisiert wurden.356 Dass diese Themen im Quai Branly diskutiert wurden, die dort normalerweise zugunsten der Abbildung einer universell angelegten ›diversité‹ ausgeklammert werden, zeugt von dem Versuch, den Vorwurf des ethnozentrierten Blicks auf die außereuropäischen Kulturen in Teilen zu entkräften. Darauf lässt auch die Cité aufgrund der Fülle an thematischen Wechselausstellungen schließen, die von der Ausstellung zu fotografischen Blicken auf den New Yorker Einwanderungsort, Ellis Island, hin zur Ausstellung von Bildern der Anderen in Deutschland und Frankreich reichen.357
354 Vgl. Blévis u.a., »Introduction«, S. 17. Vgl. Kapitel 3.1.3. 355 Joachim Baur verwendet den Begriff ›Einwanderer-Disneyland‹, um das amerikanische Pendant zur Cité, das Ellis Island Immigration Museum, zu charakterisieren. Vgl. ders., Die Musealisierung der Migration, S. 135. Zur Bezeichnung des Quai Branly als ›Disneyland‹ vgl. Kapitel 3.1.3. 356 Vgl. »Regards comparés«. 357 Vgl. »Ellis Island«; »L’exposition ›À chacun ses étrangers‹«.
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Bemerkenswert an den Wechselausstellungen und dem weiteren Rahmenprogramm der Cité ist die große Teilhabe von Verbänden. Diese ist daran erkennbar, dass Wechselausstellungen wie »Générations«, die die Geschichte maghrebinischer Einwanderer erzählt, vom Verband Génériques ausgeliehen oder dass eine weitere zu spanischer Immigration, »Portraits de migrations«, hors les murs in Saint-Denis gezeigt worden sind.358 Baur hat unter Berufung auf Mary Stevens sogar darauf verwiesen, dass die Cité sich von einem regierungsnahen Projekt zu einer »Plattform für kritische Opposition« verändert habe.359 Während dieser Eindruck im Hinblick auf die Dauerausstellung nicht zutrifft, die im Übrigen im Gegensatz zum Quai Branly auffallend wenig besucht wird, lässt zumindest die besprochene Wechselausstellung dank ihrer differenzierten Darstellungsweise eine Öffnung gegenüber den Leerstellen der »Repères« erkennen. Diese Öffnung erlaubt den Schluss, dass die Dominanz der politischen Bestimmungen, die im Fall des Quai Branly nur wenige Verantwortliche das Museum hat planen lassen, für die Cité in dem Maß nicht mehr erkennbar ist. Von der stark republikanischen Anlage des Projekts, die Raffarin formuliert hatte, über die Planungsphase, die weniger durch die Dominanz einzelner Verantwortlicher als durch die Wahl des Ortes und den Rücktritt von acht Mitgliedern des wissenschaftlichen Beirats auffiel, hin zur Dauerausstellung, der es an manchen Stellen an Differenzierung und Thematisierung mangelt, ist die Cité heute über Wechselausstellungen wie »1931« durch eine Vielfältigkeit gekennzeichnet, die besonders mithilfe der kompensatorisch wirkenden Wechselausstellungen und das weitere Rahmenprogramm erreicht wird. Allerdings ist zu fragen, ob diese Entwicklung weg von der politischen Dominanz mit der Einordnung der Cité in den Pariser Stadtraum korreliert. Denn obschon die Cité ähnlich wie der Quai Branly über eine multikulturelle Anlage im Chirac’schen Sinne gekennzeichnet ist, konterkariert die Einrichtung des Mu-
358 Vgl. »Portraits de migrations«; »Générations«; auch Sitruk, »La Cité nationale de l’histoire de l’immigration«. 359 Baur, Die Musealisierung der Migration, S. 358. Baur bezieht sich hiermit auf die unveröffentlichte, ihm zur Verfügung gestellte Dissertation von Mary Stevens mit dem Titel Re-Membering the Nation. The Project for a Cité Nationale de l’Histoire de l’immigration (2008). In einem Zeitschriftenbeitrag deutet Stevens die in ihrer Dissertation herausgearbeitete und von Baur aufgegriffene These an, vgl. dies., »Immigrants into Citizens: Ideoloy and Nation-Building in the Cité nationale de l’histoire de l’immigration«.
3. I DENTITÄTSKONSTRUKTIONEN
IN NEUEN FRANZÖSISCHEN
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seums an der Pariser Peripherie diese Gemeinsamkeit.360 Schließlich steht, auch wenn die Öffnung gegenüber den ›kulturell Anderen‹ in einer differenzierten Weise und zudem die Historisierung der Verhandlung der ›Anderen‹ der Cité etwas besser als dem Quai Branly gelungen ist, das Immigrationsmuseum weniger im Zentrum – ebenso im Stadtraum wie in der öffentlichen Wahrnehmung. Es scheint, als ob die Repräsentation einer universellen ›Vielfalt‹, die jedoch ebenso essentialisierend wirken kann wie die einer französisch konzipierten ›Vielfalt‹, auf breitere Zustimmung gestoßen ist, als ob die ästhetizistische Verhandlung gänzlich fremder Kulturen, nämlich der außereuropäischen Kulturen im Quai Branly, eher möglich ist als die historisierende Verhandlung der Kulturen, die der französischen wesentlich näher stehen, die gar schon in die französische Gesellschaft und Kultur aufgenommen wurden. Anders herum könnte der Einordnung der Cité an der Pariser Peripherie aber auch insofern positiv Rechnung getragen werden, als sie als Versuch gewertet werden kann, Migranten von dort aus zu integrieren, wo sie sind: an der Peripherie. Dort am Rande werden somit womöglich unliebsame Dinge verhandelt, zugleich aber ein Raum für die kritische Opposition geschaffen, die im Zentrum nicht möglich ist. Überkreuzt wird diese Lesart wiederum von der Auffassung, die man von den eigentlichen Adressaten der Cité gewinnen kann. Schließlich stellt sich in der Dauerausstellung der Eindruck ein, dass vor allem (weiße) ›Franzosen‹ angesprochen werden und ihnen die nationale Meistererzählung präsentiert werden soll – dies, obschon die Planungskommission mit der Cité noch alle ›Franzosen‹ anzusprechen intendiert und Raffarin vor allem Migranten die gemeinsame Geschichte zu zeigen geplant hat. Diese Fortführung des ›roman national‹ an der Pariser Peripherie erweist sich demnach in doppelter Hinsicht als widersprüchlich: Einerseits wird diese Erzählung, die sich primär an ›Franzosen‹ zu richten scheint, am Rande der Stadt angeboten. Andererseits werden in dieser nationalen Geschichte, die die an eben jenem Rand befindlichen Migranten beachten möchte, neuralgische Punkte von Immigration aus- und mit ihnen Migranten unberücksichtigt gelassen. Dadurch wird auch am Rande die Geschichte der nationalen Identität fortgesponnen, die vor allem der Vergewisserung eben jener (weißen) Franzosen dienen soll.
360 Zur multikulturellen Ausrichtung von Chiracs Politik vgl. Kimmelman, »France’s unconvincing ode to immigrants«. Zur Einordnung in den Pariser Stadtraum vgl. Pippel, »›Fremde‹ Kulturen in Paris«.
4. Schluss
Die vorangegangenen Beobachtungen haben gezeigt, dass die Konstruktion ›französische Identität‹ in den letzten Jahren viel diskutiert worden ist. Sie führte zu zahlreichen Publikationen, zu einem neuen Ministerium und gab Anlass zur öffentlichen und medienwirksamen Debatte um die Frage, was die nationale Identität ausmacht. All das erfolgte vor dem Hintergrund einer zunehmend multikulturellen Gesellschaft in Frankreich, die spätestens in den 1990er Jahren die Neustrukturierung der französischen Identitätskonstruktion und die Integration von kultureller Alterität begünstigt hatte. Während sich seitdem Forderungen von gesellschaftlichen Teilgruppen auf die Anerkennung ihrer Differenzen mit den Versuchen in Wissenschaft und Medien paarten, das mit der französischen Identität gepaarte Konzept der ›universalité‹ zu modifizieren und in seinem Verhältnis zur ›diversité‹ neu zu konzipieren, glich die politische Reaktion auf die multikulturelle Gesellschaft mehr einer ›Renationalisierung‹ als einer Neubestimmung.1 So ist denn auch das Ministère de l’immigration, de l’intégration, de l’identité nationale et du co-développement, als die ›identité nationale‹ aus seinem Namen gestrichen und nicht etwa das Konzept der ›diversité‹ aufgenommen wurde, in ein reines Ausländerministerium umstrukturiert worden, wie man sagen könnte.2 Die eingangs genannte, lange dichotom gedachte Paarung der Konzepte ›diversité‹ und ›universalité‹ wurde damit jedenfalls nicht aufgebrochen. Dabei hat es durchaus Versuche gegeben, diese Entgegensetzung aufzulösen. In den untersuchten französischen und frankophonen Identitätsdebatten wurden die ›diversité‹ und die ›universalité‹ deutlich thematisiert, diskutiert und im einen Fall erstmals in das nationale Selbstverständnis integriert, im anderen Fall
1
Zum Begriff der ›Renationalisierung‹ vgl. den Beitrag von Aikaterini Dori, die den Begriff von Ulrich Beck übernommen hat. Vgl. dies., »Museum und nationale Identität«, S. 217.
2
Vgl. hierzu Kapitel 2.1.3.
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einer Revision unterzogen. Die dabei gezeigte Funktionsweise der Ein- und Ausschließung war beiden Konzepten gemein, gleichwohl in unterschiedlicher Gewichtung. Dass die französische und die frankophone Identität durch die Festschreibung der eigenen Gemeinschaft und die Abgrenzung von anderen Kulturräumen definiert wurde, ist an sich nicht besonders bemerkenswert, da Identitäten in der Moderne immer zuerst differenziell wahrgenommen und bestimmt werden. Bedeutsam ist jedoch, wie die Ein- und Ausschließungen gewichtet und begründet sind. Während in der politischen Frankophonie ein ›frankophoner Universalismus‹ als Identitätsmodell entworfen worden ist, der deutlich vom amerikanischen Identitätsmodell abgegrenzt und gleichzeitig in Anlehnung an den französischen Universalismus verstanden wurde, hat die frankophone Periphere stärker auf ein Konzept abgezielt, das mehr inhaltlich als über die Orientierung an Frankreich und die Ablehnung vom US-amerikanischen Kulturraum begründet ist. Diese ›diversalité‹ oder auch eine solche universell verstandene ›diversité‹, wie sie in frankophonen und französischen Identitätsdebatten vorgeschlagen wurde, hätte als brauchbarer Lösungsansatz verstanden werden können. In ihrer offenen und dialogischen Anlage mag das Konzept der ›diversité‹ durchaus dazu gemacht sein, über die abendländisch geprägte ›universalité‹ hinauszugehen und in der Verwendung ›Vielfalt‹ anzuerkennen. Ihre ›allumfassende‹, insbesondere in der politischen Frankophonie humanitär angelegte Konzeption wird allerdings dann fragwürdig, wenn man bedenkt, dass auch das Konzept der ›diversité‹ nicht frei von Ausschließungen ist. Denn es bringt die Diskriminierung und Stigmatisierung ebenso mit sich wie die Verschleierung anderer identitätskonstituierender Merkmale als des ethnisch-kulturellen. Diese Beobachtungen lassen jedenfalls den Schluss zu, dass die teils dogmatische Integration der ›diversité‹ in den französischen und frankophonen Identitätsdiskurs zu einer politischen Affirmation um ihrer selbst willen, zu einer, wie man sagen könnte, ›repressiven Toleranz‹ (Marcuse) führt. In diesem politisch motivierten Gebrauch wird das Konzept der ›diversité‹ besonders über die Ein- und Ausschließung begründet und wird damit zu einer weitgehend inhaltsleeren, also abstrakten Kategorie. Für die politische Verwendung kann das, wenn beispielsweise der soziale Zusammenhalt allein mit der Förderung von kultureller ›Vielfalt‹ zu erreichen versucht wird, die genannten Konsequenzen wie die Verschleierung anderer Ungleichheiten haben – abgesehen davon, dass die Frage offen geblieben ist, wie diese Einheit ausschließlich mit einer kulturellen ›Vielfalt‹, mit einer sozusagen kulturaliserten Alterität, erreicht und aufrechterhalten werden soll. Wenn man aber Victor Segalens Auffassung des ›Diversen‹ berücksichtigt, kann das Konzept der ›diversité‹
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jedoch auch noch anders verstanden werden: als eine ästhetisch begründete Kategorie. Als vordergründig politisch motiviert und zugleich hintergründig ästhetisch legitimiert erweist sich die Affirmation von ›diversité‹ in den Museen. Das legt schon der Umstand nahe, dass die Konzepte ›universalité‹ und ›diversité‹ in Museen, dem Inbegriff von abendländischer Hochkultur, und nicht in anderen kulturellen Formen verhandelt werden. Obschon der Quai Branly und die Cité auch als Kulturzentren und nicht ausschließlich als Museen angelegt worden sind, bleibt die Feststellung, dass beide insbesondere über die Dauerausstellungen und die darin angebotenen Erzählungen vom ›Eigenen‹ und ›Anderen‹ wahrgenommen werden und einen Wiedererkennungseffekt erzeugen. Gerade der Quai Branly orientiert sich in der Ausstellung seiner ausgesucht schönen Exponate an einer reinen, wohlgeordneten Ästhetik, die deutlich europäisch geprägt ist. Diese sorgsam arrangierte ›Vielfalt‹ lässt sich auch in den Inhalten beider Museen wiederfinden. Im Quai Branly fungiert die affirmierte ›Vielfalt‹ als Leitidee und damit, wie man sagen könnte, als ein neuer Universalismus, wenn auch im doppelten Sinn. Denn neben der tatsächlich ›allumfassenden‹ Anlage dieses Universalismus sind auch die Einordnung der meist in der Kolonialzeit beschafften Objekte in das europäische Kunstverständnis und die Marginalisierung der ›Anderen‹ zu erkennen, die weitgehend zeit- und kontextlos repräsentiert werden. Eine ethnozentrische Perspektive lässt schließlich an die besonders in der Kolonialzeit reklamierte ›leçon d’humanité‹ denken, die Chirac in Bezug auf den Quai Branly expliziert hat. In der Cité dagegen wird ›Vielfalt‹ positiv als Ausdruck einer pluralistischen Gesellschaft dargestellt, dabei aber allein auf kultureller Ebene thematisiert. Dass hier auf das Konzept zurückgegriffen und dieses in das republikanische Narrativ eingebettet wird, kann denn auch als Fortführung des ›roman national‹ verstanden werden. Das lässt den Schluss zu, dass bei allen Nuancierungen, die für die Repräsentationen in den Wechselausstellungen gezeigt wurden, die hauptsächlichen Erzählungen der Museen vom ›Eigenen‹ und ›Anderen‹ und von der Affirmation der universellen, meist humanitär angelegten ›diversité‹ als Beispiele jener erwähnten ›repressiven Toleranz‹ taugen. In dieser Gestalt tendiert das Konzept der ›Vielfalt‹ in den Museen und Identitätsdebatten dazu, auf die Repräsentationsebene beschränkt zu bleiben, anstatt einen Dialog im tatsächlichen Umgang mit den kulturell ›Anderen‹ oder auch mit konfliktträchtigen Punkten wie den Herbstunruhen von 2005 und der französischen Kolonialvergangenheit herbeizuführen oder auch die besonders im Quai Branly erkennbare mangelnde Bereitschaft, Angehörige der ausgestellten Kulturen an der Konzeption und Umsetzung der Ausstellungen mitwirken zu lassen.
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Dabei allerdings wird das Konzept in dieser oftmals allzu deutlichen Affirmation schon gesetzt statt zu erreichen gesucht und dient wie schon in den Identitätsdebatten auch in den Museen als allein kulturell begründetes Differenzkriterium, neben dem andere Unterscheidungsmerkmale unberücksichtigt bleiben.3 Einen Paradigmenwechsel haben der Quai Branly und die Cité jedenfalls nicht eingeläutet. Auch wenn Kritiker wie Benoît de l’Estoile in Anlehnung an das British Empire and Commonwealth Museum in Bristol vorgeschlagen haben, die Museen des ›Anderen‹ hin zu Museen der Beziehungen von Kulturen zu verlagern,4 sind die zwei neuen Pariser Museen vor allem mit der Darstellung eben jener kulturellen Alterität befasst und nur am Rande, in manchen Wechselausstellungen, mit dem Dialog zwischen dem ›Eigenen‹ und dem ›Anderen‹. Berücksichtigt man den von Sarkozy im Januar 2009 angekündigten und mittlerweile wieder verworfenen Plan, eine Maison de l’histoire de France einzurichten, könnte man sogar sagen, dass weniger ein Paradigmenwechsel eingeläutet wurde als vielmehr die Konstruktion der französischen Identität fortgeschrieben werden sollte. Denn das zunächst geplante und kontrovers diskutierte Pariser Museum schien noch einmal stärker national ausgerichtet zu sein. Statt die historischen Verflechtungen der Gegenwart mit der Vergangenheit zu thematisieren, wie beispielsweise de l’Estoile vorgeschlagen hat, sollte das neue Museum die Geschichte Frankreichs nachzeichnen. Heftige Proteste hat dabei die Wahl des Ortes ausgelöst, der Archives nationales im Pariser Stadtteil Marais, die den zunächst erwogenen Invalides oder etwa dem Château de Vincennes in der Nähe der Cité vorgezogen worden sind, aber auch die Anlage des Projekts wurde kritisiert, dessen Narrativ der Entwicklung der Staatsnation folgen und damit die französische Geschichte als eine kohärente Erzählung zeigen sollte. Kritiker befürchteten eine allzu einseitige, neonationalistische Geschichtsschreibung, die vor allem aus wahltaktischen Gründen erfolge.5 Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht, dass François Hollande das Projekt im Sommer 2012 wieder verworfen hat.
3
Vgl. u.a. Baur, Die Musealisierung der Migration, S. 155f.
4
Vgl. de l’Estoile, Le goût des Autres, S. 534-540, 549-551.
5
Vgl. »Remise de l’avant-projet«; Beaucarnot u.a., »La Maison de l’histoire de France ne doit pas s’ériger au détriment des Archives nationales«; Offenstadt, L’histoire bling-bling, S. 119-131; Babelon u.a., Quel musée de l’histoire pour la France?; Nora, »Lettre ouverte à Frédéric Mitterrand sur la Maison de l’histoire de France«; Pippel, »Ein präsidiales Großprojekt. Eine Maison de l’Histoire de France für die nationale Identität«.
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In diesem Lichte ist die Funktion der behandelten neuen Pariser Museen mehr als deutlich geworden. Über die rein museale Repräsentation der ›Fremden‹ hinaus wirken sie als Spiegel und zugleich als Stabilisatoren gesellschaftlicher Debatten um französische Identität und kulturelle Alterität. Dabei stellen sie nicht nur die ›fremden‹ Künste und Kulturen aus, sie verdeutlichen vor allem auch die ›eigene‹ französische Sicht auf die ›Anderen‹. Zugleich lassen sie die Schwierigkeiten erkennen, ein primär ästhetisch definiertes Konzept wie das der ›diversité‹ für den gesellschaftlichen Umgang mit pluralistischen Phänomenen fruchtbar zu machen. So mag es auch an eben diesen Grenzen des Konzepts liegen, dass mittlerweile wieder eine Abkehr von der Fokussierung auf ›Vielfalt‹ und eine gewisse Rückbesinnung auf republikanische Werte beobachtet werden kann. Dass beispielsweise die Cité das Konzept der ›diversité‹ in seiner Ausstellung benennt, es zugleich aber als eine ›Vielfalt‹ entwirft, die in die Vorstellung einer nationalen Einheit integriert wird, ist hierfür ebenso aufschlussreich wie der sozialistische Wahlkampf im Jahr 2012, in dem Hollande die Förderung von ›Vielfalt‹ zugunsten einer stärker republikanischen Ausrichtung seiner Partei gegenüber Sarkozys Wahlkampf von 2007 in den Hintergrund treten ließ.6 Dass diese Rückbesinnung – der eigentlich nur die Aufkündigung von Sarkozys zwischenzeitlich geplantem, neonationalistischem Museumsprojekt entgegensteht – zuweilen auch mit einer Rückkehr zur alten Vorstellung der ›mission civilisatrice‹ einhergehen kann, darauf lässt der Umstand schließen, dass der Louvre derzeit die Eröffnung einer Dependance in Abu Dhabi vorbereitet und damit den Versuch unternimmt, die in ihm zusammen- und ausgestellte Kunst in die Welt zu tragen. Angesichts dieser Entwicklung französischer Identitätsdiskussionen und -repräsentationen bleibt abzuwarten, ob das Mittelmeermuseum in Marseille, das im Juni 2013 eröffnet worden ist und übrigens das einzige nationale Museum außerhalb von Paris vorstellt, mit der Darstellung der Begegnungen von Kulturen einen ganz anderen Weg einschlägt. Beispiellos wäre es.
6
Vgl. Pippel, »Statt der nationalen Identität«; Noiriel, A quoi sert »l’identité nationale«, S. 81-114.
5. Anhang
5.1 ABBILDUNGSVERZEICHNIS Abbildung 1: Kästen an der Vorderseite des Musée du quai Branly, Quelle: Robert Mehl. Abbildung 2: Der bewachsene Teil der Frontfassade des Quai Branly, Quelle: Robert Mehl. Abbildung 3: Ansicht von oben, Quelle: Christelle NC/fotolia.com. Abbildung 4: Die Statue Chupicuaro, Quelle: Télérama hors série. Quai Branly. Le musée de l’Autre, Paris (Juni) 2006, S. 80. Abbildung 5: Das Ausstellungsplakat zur Wechselausstellung »Exhibitions«, Taittinger, Exhibitions. L’invention du sauvage. Hors-série BeauxArts Éditions, November 2011, Titelbild. Abbildung 6: Die Frontfassade der Cité, Cyril Sancereau. Abbildung 7: Ausstellungsobjekt von Olivier Jobard, La Cité nationale de l’Histoire de l’Immigration, Guide de l’exposition permanente, hg. von La Cité nationale de l’Histoire de l’Immigration, Antwerpen: Deckers Snoeck 2009, S. 36f. Abbildung 8: Plakat zur Kolonialausstellung, Laure Blévis, Hélène LafontCouturier, Nanette Jacomijn Snoep und Claire Zalc (Hrsg.), 1931. Les étrangers au temps de l’Exposition coloniale, Paris: Gallimard/Cité nationale de l’histoire de l’immigration 2008, S. 15. Abbildung 9: Die ›andere‹ Kolonialausstellung, Laure Blévis, Hélène LafontCouturier, Nanette Jacomijn Snoep und Claire Zalc (Hrsg.), 1931. Les étrangers au temps de l’Exposition coloniale, Paris: Gallimard/Cité nationale de l’histoire de l’immigration 2008, S. 88.
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