Mr. Münsterberg und Dr. Hyde: Zur Filmgeschichte des Menschenexperiments [1. Aufl.] 9783839406403

Dieses Buch thematisiert den Zusammenhang zwischen der Kinematographie als wissenschaftlichem Medium zur experimentellen

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German Pages 318 Year 2015

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Table of contents :
INHALT
Einleitung: Die Kinematographie des Menschenversuchs
Vom literarischen Mysterium zum psychoanalysierten Hollywood-Mythos: Die Verwandlungen von Dr. Jekyll und Mr. Hyde
Das abgedrehte Symptom. Psychiatrisch-kinematographische Repräsentationen von Kriegshysterikern 1917/18
Dr. Mabuse: Sensationen ohne Subjekt
Schauen wir uns an! Axiome der filmischen Menschwerdung (Sowjetunion 1925-1930)
Film als Menschenexperiment. Dziga Vertovs »ENTHUSIASMUS. DONBASS SYMPHONIE« (1930)
Figurationen des Unsichtbaren. Mediale Selbstreflexivität in »THE INVISIBLE MAN«
»GERMANIN« (1943). Ein Selbstversuch mit Fliegen
Parole Emil. Reeducation im Familienlabor
On the Threshold of Fiction: Zur Rhetorik des Dokumentarischen im Menschenversuchsfilm
Mind Control und Montage. THE IPCRESS FILE« – »A CLOCKWORK ORANGE« – »THE PARALLAX VIEW«
Experimentelle Soziologie in den Filmen von Atom Egoyan(»CALENDAR«, »NEXT OF KIN«, »OPEN HOUSE«)
›They are Infected – with Rage‹. Mediengewalt in »28 DAYS LATER«
›Return to Normality‹. Anmerkungen zu Danny Boyle und George A. Romero
Abbildungsnachweise
Autorinnen und Autoren
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Mr. Münsterberg und Dr. Hyde: Zur Filmgeschichte des Menschenexperiments [1. Aufl.]
 9783839406403

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Marcus Krause, Nicolas Pethes (Hg.) Mr. Münsterberg und Dr. Hyde

2007-09-17 14-04-31 --- Projekt: T640.kumedi.pethes-krause / Dokument: FAX ID 02bb158011786544|(S.

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2007-09-17 14-04-31 --- Projekt: T640.kumedi.pethes-krause / Dokument: FAX ID 02bb158011786544|(S.

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Marcus Krause, Nicolas Pethes (Hg.) Mr. Münsterberg und Dr. Hyde. Zur Filmgeschichte des Menschenexperiments

2007-09-17 14-04-31 --- Projekt: T640.kumedi.pethes-krause / Dokument: FAX ID 02bb158011786544|(S.

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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2007 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung & Innenlayout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildungen: aus dem Film THE IPCRESS FILE (UK 1965, Steven S.A./Koch Media GmbH) entnommen. Lektorat & Satz: Marcus Krause, Nicolas Pethes und Réka Török Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-640-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

2007-09-17 14-04-31 --- Projekt: T640.kumedi.pethes-krause / Dokument: FAX ID 02bb158011786544|(S.

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INHALT MARCUS KRAUSE & NICOLAS PETHES Einleitung: Die Kinematographie des Menschenversuchs ..................7 MARCUS KRAUSE Vom literarischen Mysterium zum psychoanalysierten Hollywood-Mythos: Die Verwandlungen von Dr. Jekyll und Mr. Hyde ......................... 33 JULIA B. KÖHNE Das abgedrehte Symptom. Psychiatrisch-kinematographische Repräsentationen von Kriegshysterikern 1917/18............................................... 57 UTE HOLL Dr. Mabuse: Sensationen ohne Subjekt..................................... 77 BARBARA WURM Schauen wir uns an! Axiome der filmischen Menschwerdung (Sowjetunion 1925-1930) ..................................................... 99 BERND STIEGLER Film als Menschenexperiment. Dziga Vertovs »ENTHUSIASMUS. DONBASS SYMPHONIE« (1930) ....................................................131 HENRY M. TAYLOR Figurationen des Unsichtbaren. Mediale Selbstreflexivität in »THE INVISIBLE MAN«..........................................................153

BRITTA LANGE »GERMANIN« (1943). Ein Selbstversuch mit Fliegen .......................171 REMBERT HÜSER Parole Emil. Reeducation im Familienlabor ..............................193 NICOLAS PETHES On the Threshold of Fiction: Zur Rhetorik des Dokumentarischen im Menschenversuchsfilm .......................217 ARNO METELING Mind Control und Montage. THE IPCRESS FILE« – »A CLOCKWORK ORANGE« – »THE PARALLAX VIEW« ..............................231 MARKUS STAUFF Experimentelle Soziologie in den Filmen von Atom Egoyan (»CALENDAR«, »NEXT OF KIN«, »OPEN HOUSE«) ................................253 CHRISTINA BARTZ ›They are Infected – with Rage‹. Mediengewalt in »28 DAYS LATER« ...........................................277 TORSTEN HAHN ›Return to Normality‹. Anmerkungen zu Danny Boyle und George A. Romero ..................295 Abbildungsnachweise .........................................................307 Autorinnen und Autoren .....................................................311

DIE

EINLEITUNG: KINEMATOGRAPHIE DES MENSCHENVERSUCHS MARCUS KRAUSE & NICOLAS PETHES

Film und Experiment Die Entwicklung des Kinematographen am Ende des 19. Jahrhunderts war nicht nur eine Errungenschaft der Wissenschaft, sie war vor allem auch eine Errungenschaft für die Wissenschaften der Zeit, deren empirische Beobachtungen der Film apparativ perfektionierte und es ihnen erlaubte, auch das Phänomen der Bewegung von Organismen aufzuzeichnen. Insbesondere für die Vermessung und Beobachtung des Menschen in der Phrenologie, der Kriminalanthropologie, der Chirurgie sowie der experimentellen Psychiatrie und Psychologie ermöglichte diese ›Realaufzeichnung‹ bewegter Bilder die Erstellung eines optischen Archivs des Menschen.1 Die Filmkamera kam daher zunächst in medizinischen und psychologischen Laboren zum Einsatz,2 und die ersten Kinotheorien wie z.B. Hugo Münsterbergs The Photoplay von 1916 heben immer wieder den wissenschaftlichen – vor allem wahrnehmungspsychologischen – Beitrag des neuen Mediums hervor. Zugleich vollzog dasselbe neue Medium aber in kürzester Zeit den »eleganten Sprung aus Experimentalanordnun-

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Vgl. Lisa Cartwright: Screening the Body. Tracing Medicine’s Visual Culture, Minnesota 1995; zum epistemologischen Primat der Beobachtung in den Wissenschaften vom Leben im 19. Jahrhundert vgl. Christoph Hoffmann: Unter Beobachtung. Naturforschung in der Zeit der Sinnesapparate, Göttingen 2006, zur Positionierung des Beobachters durch Medientechniken vgl. Jonathan Crary: Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert, Dresden, Basel 1996. Vgl. die Ausführungen bei Friedrich A. Kittler: Grammophon Film Typewriter, Berlin 1986, S. 216 ff., zu Hans Hennes: »Die Kinematographie im Dienste der Neurologie und Psychiatrie«, in: Medizinische Klinik (1909), S. 2010-2014, sowie Oskar Polimanti: »Der Kinematograph in der biologischen und medizinischen Wissenschaft«, in: Naturwissenschaftliche Wochenschrift, 26 (1911), Nr. 49, S. 769-774 und Wolf Czapek: Die Kinematographie. Wesen, Entstehung und Ziele des lebenden Bildes, Berlin 1911. 7

MARCUS KRAUSE & NICOLAS PETHES

gen in Unterhaltungsindustrie«.3 Das Kino wurde noch während des zweiten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts zum Massenmedium, und als solches versucht es, nachdem die Faszination, die der technische Apparat auf das Publikum ausübte, erschöpft ist und die an experimentelle Aufzeichnungen angelehnte Tricktechniken eines Cinema of Attractions ausgereizt sind,4 seine Zuschauer mit spektakulären Plots zu locken. Der Menschenversuch scheint dabei – denkt man an Klassiker wie FRANKENSTEIN (1931), DR. JEKYLL AND MR. HYDE (1931) oder THE ISLAND OF DR. MOREAU (1933) – von Beginn an eine besondere Faszination auszuüben.5 Den epistemologischen Zusammenhang mit der medizinischen oder psychologischen Experimentalpraxis geben solche Filme aber auf den ersten Blick auf, indem sie sich auf populäre Topoi der Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts wie den Mad Scientist6 oder den künstlichen Menschen7 beziehen. Wissenschaft spielt seither im Kino scheinbar nur noch die Rolle eines narrativen Hintergrunds oder inhaltlichen Motivs, als welche sie bis heute – weniger als ›Science Fiction‹ denn als ›Science on Screen‹ mithin – auch meist untersucht wird.8 Der vorliegende Sammelband bleibt aber nicht bei einer Motivgeschichte des Menschenversuchs im Film stehen, sondern fragt, ob sich für das Kino unterhalb des »eleganten Sprungs« von der Wissenschaft zur Populärkultur Verbindungslinien nachweisen lassen, anhand derer die Verwandtschaft des Films mit experimentellen Praktiken der Menschenbeobachtung auf einer strukturellen oder formalen Ebene kenntlich geblieben ist: Die nachfolgenden Beiträge behandeln wissenschaftliche Experimentalfilme ebenso wie Spielfilme, innerhalb derer die experimentelle Beobachtung von Menschen nicht nur ein Motiv oder den Plot abgeben, sondern die Möglichkeiten des filmischen Mediums zur Menschenbeobachtung mit thematisiert. Untersucht wird mithin eine spezifische Selbstreferenz, die das filmische Narrativ eines Menschenversuchs 3 4

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Kittler: Grammophon Film Typewriter (Anm. 2), S. 220. Vgl. hierzu Tom Gunning: »The Cinema of Attractions: Early Film, its Spectator and the Avant-Garde«, in: Thomas Elsaesser (Hg.): Early Cinema. Space Frame Narrative, London 1990, S. 56-62. Vgl. Udo Benzenhöfer/Wolfgang U. Eckart (Hg.): Medizin im Spielfilm des Nationalsozialismus, Tecklenburg 1990 und Udo Benzenhöfer (Hg.), Medizin im Spielfilm der fünfziger Jahre, Pfaffenweiler 1993 sowie die z.T. auf die Filmographien dieser beiden Bände gestützte Filmliste unter www. germanistik.uni-bonn.de/content/forschung/kgmv/pages/filmliste. David Skal: Screams of Reasons. Mad Scientist and Modern Culture, New York 1998. John Turney: Frankenstein’s Footsteps. Science, Genetics and Popular Culture, New Haven, London 1998. Aylish Wood: Technoscience in Contemporary Film. Beyond Science Fiction, Manchester 2002. 8

EINLEITUNG: DIE KINEMATOGRAPHIE DES MENSCHENVERSUCHS

zu seinem Medium unterhält, und die zeigt, daß die zwei Gesichter des Films – das wissenschaftliche von Münsterberg und das populäre von Hyde – tatsächlich in einem spiegelbildlichen Verhältnis zueinander stehen und die Kinematographie des Menschenversuchs vom Menschenversuch der Kinematographie nicht zu trennen ist.

Mr. Münsterberg und Dr. Hyde »My analysis of this soul, the human psyche, leads me to believe that man is not truly one, but truly two. One of him strives for the nobilities of life. This, we call his good self. The other seeks an expression of impulses that bind him to some dim animal relation with the earth. This, we may call the bad. […] Now, if these two selves could be separated from each other, how much freer the good in us would be. What heights it might scale. And the so-called evil, once liberated, would fulfill itself and trouble us no more. I believe the day is not far off when this separation will be possible. In my experiments, I have found that certain chemicals have the power…«9

Mit diesen, im Off ausklingenden Worten charakterisiert der Psychologiedozent Dr. Jekyll in Rouban Mamoulians Verfilmung der Erzählung von Robert Louis Stevenson sein visionäres Forschungsprojekt. Visionär ist dieses Projekt nicht nur, weil es auf die Ausweitung der mentalen Fähigkeiten des Menschen zielt, sondern auch insofern es ein visuelles Medium wie den Film an die Grenzen der Darstellbarkeit führt: Das Selbstexperiment des Dr. Jekyll mit einer bewußtseinserweiternden, damit aber auch personenverändernden Droge, kann sich im Film nur in Gestalt einer sichtlichen physiognomischen Mutation des Hauptdarstellers niederschlagen: Vor einem Spiegel beobachtet der ambitionierte Dr. Jekyll seine Verwandlung in den primitiven Mr. Hyde, und dem Zuschauer des Films erschließt sich die experimentalpsychologische Modifikation anhand der Oberfläche der Bilder.10 Ein Film über einen Menschenversuch wie DR. JEKYLL AND MR. HYDE erzählt damit nicht nur die Geschichte eines Experiments sondern reflektiert zugleich auch die epistemologische Problematik der Darstellbarkeit der experimentellen Erforschung des Menschen. Das Projekt einer Visualisierung der Seele, das Mamoulians Film von 1931 verfolgt, berührt sich damit unmittelbar mit den zeitgenössischen Theorien über die Technik des Films. Der »difference between an object of our know9 DR. JEKYLL AND MR. HYDE, Regie: Rouben Malmoulian (1932). 10 Vgl. zum Übergang von der literarischen Fassung der Geschichte zu den verschiedenen filmischen Versionen des Jekyll and Hyde-Stoffs im Kontext des psychologischen und psychoanalytischen Subtexts der Versuchsanordnung den Beitrag von Marcus Krause in diesem Band. 9

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ledge and an object of our impression«11 bildet den Kern der Kinotheorie von Hugo Münsterberg, die er 1916 unter dem Titel The Photoplay veröffentlicht. Denn Münsterberg versteht sämtliche Effekte und Erzähltechniken des Kinos als Überlagerung des tatsächlich Gefilmten durch den Seheindruck – am basalsten im Fall der Bewegungswahrnehmung, die auf der Abfolge unbewegter Einzelbilder beruht, aber auch im Fall der Montage von Bildern und Szenen, die der Zuschauer z.B. im Fall von Rückblenden als Erinnerungen versteht. Im Kino, so Münsterbergs These, ist es stets der mentale Akt der Rezeption, der den Eindruck von Tiefe, Bewegung, Aufmerksamkeit oder Vergangenheit zu den diesen Effekte gegenüber neutralen, tatsächlich zu sehenden Bildern hinzukonstruiert.12 Diese Stoßrichtung von Münsterbergs psychologischer Theorie des Kinos illustriert anschaulich die Tatsache, dass die Wertung der beiden Figuren Dr. Jekyll und Mr. Hyde als gut bzw. böse ausschließlich auf der Kompetenz der Kinobesucher beruht, die entsprechenden Ikonisierungen zu decodieren.13 ›Psychologisch‹ ist diese Theorie, weil sie nicht nur den Prozess der Filmrezeption als »mental mechanism«14 im Sinne der beschriebenen Konstruktionsleistungen begreift, sondern auch, weil dasjenige, was das Bewusstsein des Rezipienten konstruiert, selbst psychischer Prozesse (wie Imagination, Erinnerung) und Zustände (z.B. Emotionen, Affekte) betrifft. Das Publikum von DR. JEKYLL AND MR. HYDE sieht die Montage der Bilder des Mannes vor und im Spiegel, es ergänzt diese Bildfolge um die Tiefenstruktur des moralphilosophischen Diskurses, den Dr. Jekyll einige Einstellungen zuvor im Hörsaal der Universität über die Möglichkeiten, die menschlichen Geisteskräfte zu steigern, gehalten hat, und es sieht dieses Vermögen, gesehene Bilder mit erinnerten Vorstellungen zu ergänzen und emotional aufzuladen, zugleich in Dr. Jekylls Visionen und Mr. Hydes Erschrecken vor seiner eigenen Gestalt abgebildet. 11 Hugo Münsterberg: The Photoplay. A Psychological Study. Neuausgabe unter dem Titel The Film. A Psychological Study. The Silent Photoplay in 1916, hg. von Richard Griffith, New York 1970, S. 19; in der dt. Übersetzung Hugo Münsterberg: Das Lichtspiel. Eine psychologische Studie und andere Schriften zum Kino, hg. von Jörg Schweinitz, Wien 1996, S. 42. 12 Ebd., S. 30, dt. S. 50. 13 Allerdings versteht Münsterberg im zweiten Teil seiner Studie alle genannten Effekte nicht etwa als eine Imitation von darstellerischen Formen des Theaters, sondern betont das eigenständige und beispiellose ästhetische Potential des Films: Im Unterschied zum Schauspiel, das an die physische Präsenz von Darstellern in einem konkreten dreidimensionalen Raum gebunden ist und in der klassischen Dramaturgie keine Zeitsprünge in die Vergangenheit vorsieht, ist der Film gänzlich frei von den Restriktionen von Raum und Zeit. 14 Münsterberg: The Photoplay (Anm. 11), S. 30, dt. S. 50. 10

EINLEITUNG: DIE KINEMATOGRAPHIE DES MENSCHENVERSUCHS

Der experimentalwissenschaftliche Gehalt eines Spielfilms liegt damit, so soll der vorliegende Band zeigen, zum wenigsten in seinem Plot. Experimentalwissenschaftlich ist der Film vielmehr, insofern seine apparativen, technischen und rezeptiven Eigenheiten Verfahrensweisen der menschlichen Psyche zugleich vorführen und – aufgrund dieser visuellen Objektivierung – analysierbar machen. Aufgrund dieses Zusammenhangs kann eine frühe Kinotheorie wie diejenige Hugo Münsterbergs den Spielfilm noch ganz explizit als experimentelles Medium begreifen: »Die innere Psyche, die die Kamera ausstellt, muss in solchen Aktionen der Kamera selbst liegen.«15 Bereits in den 1920er Jahren wird diese epistemologische Beobachtung des Kinos zunehmend von ästhetischen Diskursen überlagert, so dass Friedrich Kittlers Gleichung – »Kino ist ein psychologisches Experiment unter Alltagsbedingungen, das unbewusste Prozesse des Zentralnervensystems aufdeckt«16 – lediglich für einen relativ beschränkten Zeitraum Gültigkeit beanspruchen kann. Dass diese Frühgeschichte der Filmtheorie in der Kinokultur aber insofern nachwirkt, als der Spielfilm in Versuchsanordnungen wie derjenigen Dr. Jekylls das Medium zur Popularisierung von dessen epistemologischer Struktur nutzt, ist bei Münsterberg durchaus mitbedacht: »Among the scientists the psychologist may have a particular interest in this latest venture of the film world. The screen ought to offer a unique opportunity to interest wide circles in psychological experiments and mental tests and in this way to spread the knowledge of their importance for vocational guidance and the practical affairs of life.«17

Tatsächlich lässt sich aber beobachten, wie sich das psychologische Interesse am Film in der Weimarer Republik von seiner Wahrnehmung als unmittelbares Medium der experimentellen Psychologie auf ein neues Feld verschiebt. Diese Verschiebung ist in einem eigentümlichen Widerspruch von Münsterbergs Ausführungen angelegt: Einerseits manifestiert der Film in Gestalt der konstruktiven Entwürfe von Tiefe, Vergangenheit und Emotionen die Überlegenheit des menschlichen Geistes gegenüber der materiellen Welt: »The mind has triumphed over matter.«18 Andererseits betont Münsterberg mehrfach, wie passiv das Bewusstsein den Filmbildern dennoch gegenübersteht:

15 Hugo Münsterberg: »Warum wir ins Kino gehen«, in: ders., Das Lichtspiel (Anm. 11), S. 107-114, hier S. 114. 16 Kittler: Grammophon Film Typewriter (Anm. 2), S. 240. 17 Münsterberg: The Photoplay (Anm. 11), S. 12, dt. S. 37. 18 Ebd., S. 95, dt. S. 90. 11

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»The intensity with which the plays take hold of the audience cannot remain without strong social effects. It has been reported that sensory hallucinations and illusions have crept in; neurasthenic persons are especially inclined to experience touch or temperature or smell or sound impressions from what they see on the screen. The associations become as vivid as realities, because the mind is so completely given up to the moving pictures. The applause into which the audiences, especially for rural communities, break out at a happy turn of the melodramatic pictures is another symptom of the strange fascination. But it is evident that such a penetrating influence must be fraught with dangers. The more vividly the impressions force themselves on the mind, the more easily must they become starting points for imitation and other motor responses. The sight of a crime and of vice may force itself on the consciousness with disastrous results. The normal resistance breaks down and the moral balance, which would have been kept under the habitual stimuli of the narrow routine life, may be lost under the pressure of the realistic suggestion.«19

Film ist also auf der einen Seite dokumentarisches Material im Zuge der Erforschung psychischer Vorgänge, auf der anderen Seite selbst Stimulus für ein solches Forschungsprojekt: DR. JEKYLL AND MR. HYDE thematisiert nicht nur die Abgründe der menschlichen Psyche, deren Potential der erstgenannte mit wissenschaftlichen Mitteln ergründen will. Der Film zeigt auch die Untaten des zweiten und könnte durch seine suggestive Vorführung von Verbrechen möglicherweise zum Auslöser von Nachahmungstaten werden.20 Während dieses zweite Verständnis einerseits in den Kontext der Unterstellung suggestiver, wenn nicht gar hypnotischer Wirkungen des neuen Mediums gehört,21 ruft es andererseits auch den unmittelbaren Zusammenhang der experimentellen Psychologie in Münsterbergs Umfeld auf: Zwei Jahre vor seinem Kinobuch hatte Münsterberg mit Grundzüge der Psychotechnik das deutschsprachige Standardwerk der Arbeitspsychologie vorgelegt, das die von Frank and Lilian Gilbreth initiierten Bewegungsstudien zur Analyse und Effizienzsteigerung automatisierter industrieller Arbeitsroutinen weiterdenkt. Das zentrale Verfahren der Psychotechnik ist dabei der Test: die Überprüfung der Präzi19 Ebd., S. 95, dt. S. 100. 20 So argumentiert zeitgenössisch unter vielen anderen Albert Hellwig: Schundfilms. Ihr Wesen, ihre Gefahren und ihre Bekämpfung, Halle 1911 und mit ihm ein Gutteil der – zunehmend ihrerseits experimentell verfahrenden – Medienwirkungsforschung zum Zusammenhang von Medienkonsum und sozial schädlichem Verhalten bis heute: Vgl. Nicolas Pethes, Spektakuläre Experimente. Allianzen zwischen Massenmedien und Sozialpsychologie im 20. Jahrhundert, Weimar 2004, S. 51-82. 21 Stephan Andriopoulos: Besessene Körper. Hypnose, Körperschaft und die Erfindung des Kinos, München 2000. 12

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sion und Effektivität von Arbeitsabläufen. Der Film wird von Münsterberg von vornherein als ein Testmedium vorgesehen – etwa in Gestalt eines Fahrsimulators, in dem der Fahrschüler vor der Filmprojektion einer zufahrenden Strecke sitzt und die richtigen Reflexe einüben kann,22 und in Form der Kurzfilmserie, die Münsterberg 1916 unter dem Titel TESTING THE MIND für Paramount produzierte und im Rahmen von Intelligenztests einsetzte: Münsterbergs Test-Filme konfrontierten die Zuschauer mit einem kurzen Quiz, »testing attention, memory, constructive imagination, capacity for making quick estimates etc«23 – all dem also, was den Filmen ohnehin schon zugrunde liegt und woran die menschliche Wahrnehmung wieder Anschluss gewinnen muss. Folglich gilt: In der Theorie testet ein Film das Bewusstsein, weil seine technologischen Grundlagen kognitiven Prozessen entsprechen und diese Prozesse damit sichtbar macht. In der Praxis gestattet es der Film aber darüber hinaus, die Reaktionen des Publikums auf die visuellen Reize zu testen und die Test-Ergebnisse anschließend in die Untersuchung von Arbeitsabläufen und Eignungsqualifikationen einfließen zu lassen.24 Der Film ist hier ein Instrument arbeitspsychologischer Experimente. Aber wie die Adaption von Münsterbergs Theorien in der Kinodebatte der Weimarer Republik zeigt, ist die Koinzidenz auch in diesem Fall weder schier biographisch zufällig noch auf einen bloßen instrumentellen Zusammenhang zu reduzieren: Wenn Walter Benjamin in seinem Essay Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit die Testhaltung des Kameramanns und Kinopublikums gegenüber dem Schauspieler betont, dann nicht, weil das Kino in seinen Nahaufnahmen 22 Vgl. Hugo Münsterberg: Grundzüge der Psychotechnik, Leipzig 1914, S. 415: »Man hat denn auch bereits Apparate hergestellt, welche die Bremsvorrichtung des Automobils reproduzieren und es ermöglichen, den einzelnen zu prüfen, wieviel Tausendstel der Sekunde nötig sind, um bei plötzlich auftauchenden Hindernissen zweckmäßig zu reagieren. Es wurde vorgeschlagen, sogar kinematographische Bilder als Reize dafür zu benutzen. Wer nicht eine natürliche Reaktionsfähigkeit besitzt, soll dann nicht die Lizenz als Chauffeur erhalten.« 23 »Margaret Münsterberg on ›The Photoplay‹«, in: Alan Langdale (Hg.), Hugo Münsterberg on Film, New York, London 2002, S. 165-170, hier S. 168. 24 Genau in diesem Sinne entwickelte Münsterberg – teils bereits vor seiner Kinotheorie, teils im Anschluss an die dort entwickelten Erkenntnisse – verschiedene Berufseignungstests sowie Versuchsreihen zur Psychologie der Werbung, zu Fragen der Aufmerksamkeitsspanne, der Ermüdung und dem Problem der Monotonie am Arbeitsplatz. Vgl. hierzu Hugo Münsterberg: Psychology and Industrial Efficiency, Boston, New York 1913, zur Definition und Schilderung der verschiedenen Gebiete der angewandten Psychologie vgl. ders.: Grundzüge der Psychotechnik (Anm. 22), zur Begründung der Arbeits- und Organisationspsychologie vgl. ders.: Die Psychologie und das Wirtschaftsleben, Leipzig 1912. 13

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und Zeitlupen eine besonders kritische Perspektive erlaubt,25 sondern weil seine apparative Struktur, das Ablaufen einer Serie von Einzelbildern über eine Rolle, der Segmentierung, Geschwindigkeit und Taktilität von Herstellungsprozessen in modernen Fabriken entspricht: »So unterwarf die Technik das menschliche Sensorium einem Training komplexer Art. Es kam der Tag, da einem neuen und dringlichen Reizbedürfnis der Film entsprach. Im Film kommt die chockförmige Wahrnehmung als formales Prinzip zur Geltung. Was am Fließband den Rhythmus der Produktion bestimmt, liegt beim Film dem der Rezeption zugrunde.« 26

Auch hier gleicht der Film weniger einem arbeitspsychologischen Berufseignungstests, als dass er mit dessen Ablauf zusammenfällt. Und es ist nur konsequent, dass Benjamin auf der Basis einer solchen technischapparativen Parallele vom Schockzustand des Zuschauers nicht in dem Sinne spricht, in dem das Horrorszenario eines Schauerfilms sein Publikum in Angst und Schrecken versetzt. Einmal mehr ist auch der Schock eine wissenschaftliche, dieses Mal an Freuds Traumatheorie angelehnte, Kategorie, die aus der ständigen Überforderung des Wahrnehmungsapparats angesichts des schlagartigen Wechsels der Bilder in Montagen und Zooms entspringt – und mithin eine wahrnehmungspsychologische Aussage über den Umgang des Menschen mit der veränderten Umwelt der technisierten Moderne zu treffen erlaubt. Indem der Film diesen Umgang aber nicht darstellt, sondern selbst provoziert und mithin der Schock ist, den er zugleich auch darstellt, ist die Filmmontage wiederum selbst diejenige experimentalpsychologische Aussage, die man ihr folglich nicht erst nachträglich durch eine Inhaltsanalyse zu entnehmen braucht. Im Unterschied zu den frühsten Kinotheorien von Altenloh und Gaupp27 wissen Benjamin und Münsterberg ebenso wie Jekyll und Hyde: Der Blick auf die Leinwand oder in den Spiegel dient nicht der Ablenkung 25 Walter Benjamin: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, in: ders.: Gesammelte Schriften Bd. 1, Frankfurt/Main 1974, S. 431-469. 26 Walter Benjamin: »Über einige Motive bei Baudelaire«, in: ders.: Gesammelte Schriften Bd. 1, Frankfurt/Main 1974, S. 605-654, hier S. 630 f. 27 Emilie Altenloh: Zur Soziologie des Kino. Die Kino-Unternehmung und die sozialen Schichten ihrer Besucher, Jena 1914 und Robert Gaupp: »Der Kinematograph vom medizinischen und psychologischen Standpunkt«, in: Dürerbund. Flugschrift zur Ausdruckskultur 100 (1912), S. 1-12. Die wichtigsten frühen Standpunkte und Erörterungen zum ›neuen‹ Medium Film finden sich versammelt in Jörg Schweinitz (Hg.): Prolog vor dem Film, Nachdenken über eine neues Medium, Leipzig 1992 und in Anton Kaes (Hg.): Kino-Debatte. Texte zum Verhältnis von Literatur und Film 19091929, Tübingen 1978. 14

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und Entspannung, sondern erzeugt ganz im Gegenteil einen Zustand höchster Aufmerksamkeit und Geistesgegenwart. Aus diesen Gründen löst ein Film wie DR. JEKYLL UND MR. HYDE weniger den wissenschaftlichen Anspruch von Münsterbergs Photoplay ein, als dass er den theoriegeschichtlichen Ort dieses Ansatzes in Erinnerung ruft. In diesem diskurshistorischen Sinn gehen, wie der Titel des vorliegenden Sammelbands suggeriert, die experimentelle Wissenschaft vom Menschen und die neue Ästhetik des Films eine spezifische Allianz ein: Erstens auf der Ebene der technologischen Grundlagen, die mit der Kameratechnik nicht nur den wissenschaftlichen Anspruch exakter Beobachtung mit dem Bedürfnis der neuen Kinokultur nach massenhafter Reproduktion und Vorführung koppelt, sondern in Gestalt der Projektion der gefilmten Bilder dem gleichen Erkenntnisziel verpflichtet ist, das Dr. Jekyll auf der Handlungsebene des Films verfolgt: die Erforschung der Struktur der menschlichen Psyche nämlich. Zweitens auf der Ebene der filmischen Dokumentation wissenschaftlicher Forschung, die am Beginn des 20. Jahrhunderts nicht nur in Gestalt von Lehrfilmen ein zentrales Medium der Popularisierung von Wissenschaft darstellte, sondern als Zitat dieses dokumentarischen Gestus auch die Darstellung wissenschaftlicher Praktiken im Spielfilm prägt: DR. JEKYLL AND MR. HYDE, um bei diesem Beispiel zu bleiben, bildet wissenschaftliche Diskurse, Rituale und Praktiken ab, wenn der Film den Weg des ehrgeizigen Forschers Jekyll aus dem Vorlesungssaal in sein Privatlaboratorium verfolgt. Zugleich entwirft er in Gestalt der Thematisierung von gut und böse, Genie und Wahnsinn, Kontrolle und Kontrollverlust eine spezifische »knowledge narrative«, d.h. die Projektion von Unterscheidungen, die die wissenschaftliche Forschung und ihre Wahrnehmung in der Öffentlichkeit prägen, auf einen erzählerischen Handlungszusammenhang.28 Münsterbergs noch im Geist der naturwissenschaftlichen Herkunft der Kinematographie entstandene Filmtheorie erinnert aber daran, dass noch die trivialsten Formen solcher Wissenschaftsreferenzen in Gestalt von Schnitttechniken, Montagen, Überblendungen und visuellen Effekten Fühlung zum experimentalwissenschaftlichen Interesse der Psychologie bewahren. Mithin gilt: Der Plot eines Menschenversuchs im Spielfilm erzählt stets die Herkunftsgeschichte des Mediums selbst und wird in Gestalt dieser epistemologischen Metanarration von der experimentalwissenschaftlichen Struktur des Kinematographie überlagert.

28 Andrew Tudor: Monsters and Mad Scientists. A Cultural History of the Horror Movie, Oxford, Cambridge 1989, S. 83 ff. 15

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Die Filmgeschichte des Menschenversuchs Mad Scientists Motivgeschichtlich kulminiert die Filmgeschichte des Menschenversuchs in den unzähligen Adaptionen und Weiterführungen von Mary Shelleys Gothic Novel von 1818, Frankenstein, or: The Modern Prometheus von Thomas Edisons erstem Versuch 1910 über die klassische Verfilmung von James Whale von 1931 bis zu Kenneth Branaghs Version 1994.29 Zumal filmhistorisch ist Frankensteins aus einem Amalgam aus mittelalterlicher Alchemie, Renaissanceanatomie und modernem Elektrophysiologie geborenes Geschöpf ein „governing myth of modern biology“,30 der das kulturelle Imaginäre der Lebenswissenschaften im 20. Jahrhundert begleitet und strukturiert hat. Wie John Turney zeigen konnte, bezieht der Stoff seine Attraktivität aus der Möglichkeit, ihn auf immer neue Technologien zu übertragen, die der Beherrschung der Natur oder Eingriffen in den menschlichen Körper dienen. Aber nicht nur als ein solches Basisnarrativ der zweiten Evolution des Menschen, sondern auch in der durch Boris Karloffs Darstellung geprägten Ikonisierung des künstlich geschaffenen, aber sozial dysfunktionalen Wesens ist Frankenstein die zentrale popkulturelle Referenz für Menschenversuche. Zugleich entsteht innerhalb der Frankenstein-Filme auch die Ikone des genialen Wissenschaftlers, dessen Hybris auf eine autonome Schöpferrolle zielt, der aber im Zuge dieser Grenzüberschreitung zwangsläufig den Blick für die moralischen und sozialen Konsequenzen seiner bahnbrechenden wissenschaftlichen Leistungen verliert. Das die entsprechenden Filme prägende negative Stereotyp vom Wissenschaftler, der Versuchspersonen seinen Zwecken unterordnet und instrumentalisiert, speist sich aus dem Diskurs des Vitalismus und Antivivisektionismus des 19. Jahrhunderts.31 Entgegen der Tradition, den Wissenschaftler als Pionier und Helden im Dienste der Menschheit zu verstehen,32 wird der in der Frankenstein-Tradition stehende Forscher zum amoralischen und wahnsinnigen Verbrecher.33 Dieser Mad Scientist wird auf diese Weise zu einem zentralen Protagonisten der Filmgeschichte des 20. Jahrhunderts. Im Kontext des ex29 Vgl. www.frankensteinfilms.com. 30 Turney: Frankenstein’s Footsteps (Anm. 7), S. 5. 31 Barbara Elkeles: Der moralische Diskurs über das medizinische Menschenexperiment im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1996. 32 Im Kontext des NS-Films ROBERT KOCH: BEKÄMPFER DES TODES (Deutschland 1939), GERMANIN (Deutschland 1943). Vgl. aber auch SEMMELWEIS – RETTER DER MÜTTER (DDR 1950) oder SAUERBRUCH – DAS WAR MEIN LEBEN (BRD 1954). 33 Turney: Frankenstein’s Footsteps (Anm. 7), S. 50. 16

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pressionistischen Films in Deutschland taucht die Figur in Paul Wegeners GOLEM (1914/1920), Otto Ripperts HOMUNCULUS (1916) sowie vor allem in Gestalt des titelgebenden Hypnotiseurs in Robert Wienes DAS CABINET DES DR. CALIGARI (1920) auf. Dr. Caligari erprobt die Möglichkeit, einen Menschen durch bloße Suggestion zum Serienmörder zu machen, sein Wahnsinn wird am Ende des Films gewissermaßen institutionell verbürgt, insofern Caligari seine Geschichte als Insasse einer Nervenheilanstalt berichtet – welche madness ihn zu einem ›unzuverlässigen Erzähler‹34 des Films (und seine Experimente möglicherweise zu bloßen Halluzinationen) erklärt. Caligaris Projekt spiegelt aber nicht nur die zeitgenössische experimentelle Parapsychologie in ihrem Spannungsfeld zwischen Magie und Wahnsinn,35 sondern auch den kritischen Diskurs über das junge Medium Kino, dem unterstellt wurde, in der gleichen Weise suggestiv auf seine Zuschauer zu wirken, wie der Hypnotiseur auf seine Versuchsperson.36 DAS CABINET DES DR. CALIGARI führt auf diese Weise bereits die narrative Grundstruktur des Mad Scientist vor Augen, dessen Versuch, die Wissenschaft vom Menschen über die bestehenden Grenzen hinaus zu erweitern in den Verlust der Wahrnehmung der Realität einerseits, der Kontrolle über die eigene Versuchsanordnung andererseits umschlägt. Frankensteins Rachefeldzug gegen seinen Schöpfer, ebenso wie der Aufstand der vivisektionistisch vermenschlichten Tiere auf der ISLAND OF LOST SOULS, um einen weiteren Menschenversuchs-Klassiker, die 1933 erstmalig erfolgte Verfilmung von H.G. Wells Roman The Island of Doctor Moreau, zu zitieren, sind Ikonen des luddistischen Phantasmas vom Aufstand der Produkte des Menschen gegen ihren Schöpfer, wie es bis hinein in die Regeln der Robotik bei Isaac Asimov zu verfolgen ist. Der Skandal, Leben zu schaffen, der in gegenwärtigen filmischen Visionen zur Humangenetik und Klontechnologie erneut aufgegriffen wird,37 generiert ein Narrativ, indem wissenschaftliche Grenzüberschreitungen von vorwissenschaftlichen Anthropologika in ihre Grenzen zurückverwiesen werden.

34 Ansgar Nünning (Hg.): Unreliable Narration: Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur, Trier 1998. 35 Vgl. Die Nachweise in Nicolas Pethes: »L’aliéné ne raisonne plus expérimentalement? Ludwig Staudenmaiers Experimentalmagie zwischen Okkultismus und Psychoanalyse«, in: Torsten Hahn/Jutta Person/Nicolas Pethes (Hg.): Grenzgänge zwischen Wahn und Wissen. Zur Koevolution von Experiment und Paranoia 1850-1910, Frankfurt, New York 2002, S. 293-314. 36 Vgl. Andriopoulos: Besessene Körper (Anm. 21). 37 Z.B. THE CLONUS HORROR (USA 1979), MORELLA (USA 1997), GATTACA (USA 1997), THE SIXTH DAY (USA 2000). 17

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»Mad science and mad scientists have emerged in part to bridge the cultural chasm between hard science and wild superstition. The mad scientist’s demeanor is evidence of our intuitive knowledge that something is missing in a purely scientific model of the universe; he brings to science passion, drama, catharsis.«38

Experimentalfilm und Science Fiction Während Filme wie FRANKENSTEIN und ISLAND OF LOST SOULS sich mit Experimenten hauptsächlich inhaltlich auseinandersetzen, indem sie den spektakulären Konsequenzen von Menschenversuchen für Versuchspersonen und Experimentatoren nachspüren und nach der ethischen Verantwortung der Wissenschaft fragen, lässt sich das Verhältnis eines Films wie DAS CABINET DES DR. CALIGARI zur Kategorie des Experimentellen nur als zweifaches beschreiben, denn Dr. Caligari führt nicht nur im Film Versuche durch, sondern auch der Film selbst kann als experimentell gelten, da die Übergänge zwischen den Halluzinationen seiner Protagonisten und der normalen (expressionistischen) Darstellungsweise bzw. Realität des Films derart fließend sind, dass der gesamte Film auch als Experiment mit der Formensprache des Kinos und somit mit der Wahrnehmung des Zuschauers gelten kann. Der Film wird sich über das psychiatrische Interesse bzw. den Wahnsinn seiner Figuren selbst zum Thema und reflektiert in den Verhaltens- und Wahrnehmungsweisen seiner Protagonisten seine eigene Medialität. DR. CALIGARI kann somit als Vorläufer der Avantgarde des Experimentalfilms gelten, die sich in den 1920er und 30er Jahren mit Namen wie Man Ray, Hans Richter, Marcel Duchamp, Fernand Leger und Joris Ivens verbindet39 und auf jegliche Spielfilmhandlung verzichtet,40 um 38 Vgl. Skal: Screams of Reason (Anm. 6), S. 315. 39 Eine gute Übersicht über diesen frühen Experimentalfilm bietet die Zusammenstellung auf der DVD Avant Garde – Experimental Cinema of the 1920s & 1930s. 40 Natürlich wird in den 20er Jahren auch in narrativen Filmen weiterhin mit den Möglichkeiten des Mediums experimentiert. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang der deutsche Expressionismus, in dem die expressionistische Stilistik gegenüber seinem Vorgänger DR. CALIGARI viel deutlicher im Dienst der Handlung steht, und der französische Impressionismus, der in seinen Versuchen einer adäquaten Darstellung der menschlichen Psyche und ihrer Emotionen eine Vielzahl filmischer Ausdrucksmöglichkeiten (wie Flashbacks, das Anpassen des Schnittrhythmus an das Empfinden der Protagonisten, die Verwendung extremer Winkel und Entfernungen zur Wiedergabe subjektiver Sichtweisen, etc.) für die unterschiedlichsten mentalen Zustände experimentell erschloss, die später auch in das narrative Hollywoodkino Eingang finden sollten. Vgl. John D. Barlow: German Expressionist Film, Boston 1982 und Richard Abel: French Cinema: The First Wave, 1915-1929, Princeton 1984. 18

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sich ganz der Zurschaustellung bzw. Dekonstruktion von Wahrnehmungsmustern zu widmen.41 Dass solche Wahrnehmungs- und Formexperimente, wie sie der dadaistische und auch der surrealistische Film unternahmen,42 erst seit den 20er Jahren als im engeren Sinne experimentell, d.h. als unterschiedlich zu einem normalen, nicht-experimentellen Umgang mit dem Medium Film ausgemacht werden konnten, ist weitgehend dem Umstand geschuldet, dass sich erst seit dieser Zeit filmische Darstellungskonventionen, gegen die dann verstoßen werden konnte, überhaupt etabliert hatten. Zuvor war auch diejenige Kinematographie, die gar nichts anderes wollte, als eine Geschichte zu erzählen, so sehr mit den eigenen apparativen Möglichkeiten bzw. Unmöglichkeiten und der Frage, welche Mittel in dem noch recht jungen Medium Film für eine kontinuierliche Narration eingesetzt werden konnten, beschäftigt, dass bis in die späten 1910er Jahre hinein von einem nicht-experimentellen Kino kaum die Rede sein kann. Das frühe Kino experimentiert im strengen Sinne mit der kinematographischen Technik und ist zur Erforschung dessen, was diese Technik zu leisten imstande ist, entsprechend auch auf allerlei Zufälle angewiesen. Einen solchen Zufall, der zur Entdeckung des Stopptricks führte, schildert Georges Méliès in der folgenden Anekdote:

41 Vgl. zur Geschichte der kanonischen Avantgarde und ihren verschiedenen Ausprägungen A.L. Rees: A History of Experimental Film and Video. From the Canonical Avant-Garde to Contemporary British Pratice, London 1999, S. 15-76. 42 Dass ein Großteil des avantgardistisch-experimentellen Kinos der 20er Jahre sich eher grundsätzlich mit Fragen der visuellen Wahrnehmung und meist weniger mit den spezifischen Möglichkeiten der Kinematographie beschäftigt, wird bereits durch die Tatsache deutlich, dass es mit denselben Bezeichnungen klassifiziert wie die entsprechenden Bewegungen in der bildenden Kunst und der Literatur. Deutlich stärker mit den Problemen des Films und seinen spezifischen medialen und narrativen Möglichkeiten beschäftigen sich dann die Nachkriegsbewegungen des italienischen Neorealismus, der Nouvelle Vague und des New Hollywood. Dass aus diesen Beschäftigungen ein Kino ganz neuer Art, sogar ein vollkommen anderer Bild-Typus hervorgegangen ist, ist bekanntlich die These der Kino-Bücher Gilles Deleuze’, auf die hier leider nicht näher eingegangen werden kann (zum Experimentalfilm und auch der Experimentalität der Nouvelle Vague vgl. besonders Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt/Main 1997, S. 244-277). Vgl. Millicent Marcus: Italian Film in the Light of Neorealism, Princeton 1986, James Monaco: The New Wave: Truffaut, Godard, Chabrol, Rohmer, Rivette, Oxford 1976, Jim Hillier: The New Hollywood, New York 1994, Paul Arthur: A Lind of Sight. American Avant-Garde Film since 1965, Minnesota 2005. 19

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»Wollen Sie wissen, wie mir die Idee kam, in der Kinematographie Tricks zu verwenden? Wirklich, das war ganz einfach! Ein Panne des Apparats, dessen ich mich anfangs bediente (ein ganz einfacher Apparat, in dem der Film oft zerriß oder hängenblieb und nicht weiterlaufen wollte), hatte eine unerwartete Wirkung, als ich eines Tages ganz prosaisch die Place de l’Opéra photographierte.«43

Das Kino Méliès’ ist es schließlich auch, welches (z.B. mit LE VOYAGE LUNE) die ersten Muster für die beiden Filmgenres liefert, welche besonders aus dem Formenreichtum des Experimentalfilms schöpfen bzw. deren Existenz ohne die Spezialeffekte, die sich den verschiedenen Filmexperimenten verdanken, gar nicht möglich wäre, für den Horror-44 und den Science Fiction-Film.45 Besonders im Science Fiction-Film werden diejenigen tricktechnisch erzeugten Bilder, die sich im Experimentalfilm als Reflexion der (medialen) Bedingungen von Wahrnehmung, als Wahrnehmbarmachen von Wahrnehmung beschreiben lassen, nicht nur narrativ integriert, sondern bilden häufig die eigentlichen Höhepunkte, um die herum sich der Plot des Films organisiert. Dabei verlieren solche Bilder allerdings ihr reflexives Potential bzw. negieren es sogar, indem sie (besonders im Horror-Film) unbewusste, emotionale Reaktionen zu erzeugen bzw. (besonders im Science Fiction-Film) über den sensationellen Charakter ihrer Oberflächenästhetik zu faszinieren versuchen, so dass die medienexperimentelle Avantgarde zum tricktechnischen Spektakel wird. Bevor das Genre mit Kubricks 2001: A SPACE ODYSSEY 1968 seinen B-Movie-Status verlieren und filmkritische Akzeptanz erlangen konnte, kombinierten die Filme der 50er und frühen 60er Jahre, deren Plots sich vor allem aus im Kalten Krieg wurzelnden apokalyptischen DANS LA

43 Georges Méliès: »Die kinematographischen Bilder [1907]«, in: Helmut H. Diederichs (Hg.): Geschichte der Filmtheorie. Kunsttheoretische Texte von Méliès bis Arnheim, Frankfurt/Main 2004, S. 31-43, hier S. 38. 44 Vgl. zum Zusammenhang des Bildmaterials des Experimental- und des Horrorfilms, der besonders offensichtlich mit Blick auf die berühmte Szene wird, in der in Buñuels Un Chien Andalou ein Auge mit einem Rasiermesser durchschnitten wird, Joan Hawkins: Cutting Edge. Art Horror and the Horrific Avantgarde, Minnesota 2000. 45 Entsprechend ist es auch kein Zufall, dass sehr viele Filme aus einem der beiden Genres und insbesondere diejenigen, die sich mit Menschenversuchen befassen, genauso gut auch dem anderen Genre zugeordnet werden könnten. Zum Verhältnis von Horror- und Science Fiction-Film vgl. auch Vivian Sobchack: Screening Space. The American Science Fiction Film, New York 1999, S. 26-43. Da sich die Genres bzgl. ihrer Sujets nicht unterscheiden lassen, fasst Sobchack den Unterschied zwischen den Genres in einem einfachen Merksatz zusammen, der die Differenz mittels der Wirkung auf den Zuschauer zu fassen versucht: »Ultimately, the horror film evokes fear, the SF film interest.« 20

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Szenarien und Invasionsängsten speisten, diese beiden Umgangsweisen mit tricktechnischen Bildern, indem in ihnen sowohl Angst als auch Faszination vor dem Fremden artikuliert wird (man denke z.B. an THE DAY THE EARTH STOOD STILL, THE WAR OF THE WORLDS, THE THING oder INVASION OF THE BODY SNATCHERS). 2001: A SPACE ODYSSEY ist dann vielleicht der erste Science Fiction-Film, dem es gelingt, die Special Effects so vollständig in seine allgemeine Ästhetik zu integrieren, dass tricktechnisch erzeugte und ›normal‹ gefilmte Bilder voneinander ununterscheidbar werden. Handlung und Thematik des Films stehen zumindest bis zum letzten Abschnitt des Films der Tricktechnik gleichberechtigt gegenüber. In den letzten Sequenzen des Films wird der Kontakt des Astronauten Bowman mit der außerirdischen Intelligenz und seine daran anschließende Bewusstseinsveränderung allerdings in hermeneutisch derart uneinholbaren Bildkaskaden abgebildet, dass die Form der filmischen Darstellung, der Versuch, veränderte, verzerrte, erweiterte menschliche Wahrnehmungsweisen kinematographisch erfassbar zu machen, gegenüber dem, was erzählt werden soll, dermaßen in den Vordergrund tritt, dass man sich des Eindrucks nicht erwehren kann, erneut Zuschauer eines Experimentalfilms zu sein.46

Voyeurismus Der enge Bezug zwischen wissenschaftlichen Versuchsanordnungen und Kinematographie schlägt sich mithin auf mehreren Ebenen nieder: im gemeinsamen Interesse an psychologischen Prozessen, in Gestalt der Ikonisierung der Wissenschaft, und hinsichtlich der Erprobung filmischer Darstellungsformen. Aus methodischer Perspektive ist dieses Wechsel46 Die meisten der Filme, die sich des Versuchs annehmen, Bewusstseinsund/oder Wahrnehmungsveränderungen – seien sie mittels Drogen, Sinnesentzug, Hypnose oder Elektrostimulation hervorgerufen – tricktechnisch aufwändig abzubilden, weisen ähnliche Inkongruenzen auf. So sind die entsprechenden Szenen in Filmen wie ALTERED STATES (1980) oder BRAINSTORM (1983) – wie die Schlusssequenz in 2001 – formal so unterschiedlich von der Darstellung der restlichen Handlung des Films, dass sie an diese kaum anschließen können und zum heterogenen Selbstzweck geworden sind , und das, obwohl – anders als bei 2001 – der bewusstseinsverändernde Menschenversuch in diesen Filmen im Zentrum der Narration steht. Vergleichbare Schwierigkeiten stellen sich den Filmen, die sich von TRON (1982) bis MATRIX REVOLUTIONS (2003) mit Fragen der virtuellen Realität auseinandersetzen. Dabei scheinen Filme wie SOLARIS (1972) oder EXISTENZ (1999), die das Spannungsverhältnis von Simulation und Wirklichkeit nicht formalästhetisch/tricktechnisch auflösen, der Komplexität des Themas am ehesten gewachsen. Zur Experimentalität virtuelle Subjekte vgl. Scott Bukatman: Terminal Identity. The Virtual Subject in Postmodern Science Fiction, Durham, London 1993. 21

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verhältnis in der Schnittmenge, die den kinematographischen Apparat mit der experimentellen Beobachtung verbindet, begründet: Dass die Filmkamera den Schauspieler nicht nur aufzeichnet, sondern seine Leistung im Vollzug dieser Aufzeichnung »einer Reihe von optischen Tests« unterwirft, hat bereits Walter Benjamins auf Münsterberg gestützte Analogisierung von Film- und Psychotechnik betont: »Der Aufnahmeleiter im Filmatelier steht genau an der Stelle, an der bei der Eignungsprüfung der Versuchsleiter steht.«47 Insofern der vorliegende Band vorschlägt, dass derartige Konstellationen zwischen Wissenschafts- und Mediengeschichte dem Film nicht nur zugrunde liegen, sondern auf der Ebene seiner Bilder und Erzählungen sichtbar werden, sind Szenarien, die derartige Blickrelationen zwischen Protagonisten eines Spielfilms inszenieren, von unmittelbarem Interesse für die Filmgeschichte des Menschenversuchs. Hierzu gehört der vielfältige Rekurs auf voyeuristische Beobachtungen bei Alfred Hitchcock, am prominentesten in REAR WINDOW (1954), in der der Beobachtungsposten des – nicht zufällig – Photographen Jeff durch dessen Körperbehinderung einerseits, der stabilen ›Kadrierung‹ seines Blicks durch den Fensterrahmen andererseits zur zentralen Perspektive der subjektiven Kamera wird. Jeffs Versuch, die Ereignisse im Nachbarhaus auf der Basis seiner – mit Hilfe eines Teleskops gewonnenen – Beobachtungsdaten zu rekonstruieren, spiegelt die Rolle des hinsichtlich seiner Eingriffsmöglichkeiten passiven, hermeneutisch aber hochaktiven Filmzuschauers in den Film selbst hinein. Weitere Hitchcock-Klassiker sind von der gleichen Struktur geprägt, wenn man beispielsweise in PSYCHO (1960) nicht nur sieht, wie Norman Bates durch ein verstecktes Guckloch Marion in ihrem Zimmer beobachtet, sondern die Kameraführung selbst zum Instrument des voyeuristischen Begehrens des Zuschauers wird, der Zeuge heimlicher Begegnungen wie derjenigen zwischen Sam und Marion ist oder Lilas Abstieg in den Keller aus ihrer eigenen angstvoll-tastenden Perspektive gezeigt bekommt.48 Den wissenschaftlichen Kontext dieser Blickführung thematisiert zeitgleich explizit ein Film wie Michael Powells PEEPING TOM (1960), in der der – wiederum – Kameramann Mark Lewis mit Hilfe dieser Apparatur ein frühkindliches Trauma ausagiert: Als Kind wurde Mark, wie der Zuschauer am Ende des Films durch Dokumentarfilmvorführungen in Marks privatem Kino erfährt, sadistischen psychologischen Experimenten unterworfen, innerhalb derer ihn sein Vater gezielt erschreckte, um die neurologische Erscheinungsform kindlicher Angst studieren zu kön47 Benjamin: »Das Kunstwerk im Zeitalter« (Anm. 25), S. 468. 48 Vgl. William Rothman: Hitchcock. The Murderous Gaze, Cambridge u.a. 1982. 22

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nen. Zum Zweck der authentischen Dokumentation dieser Experimente filmte Marks Vater seinen Sohn in der Rolle als Versuchsperson und etabliert auf diese Weise in der Binnenerzählung des Films die Konstellation aus filmendem Experimentator und gefilmter Versuchsperson. Auf der Handlungsebene des Films bemüht sich Mark, diese traumatischen Erfahrung zu kompensieren, indem er sich selbst an die Stelle des Versuchsleiters versetzt und mit Hilfe seiner Kamera die »Augen der Angst« (so der deutsche Titel des Films) auf Film zu bannen versucht. Da die höchste Stufe der Angst die Todesangst ist, filmt Mark seine weiblichen Opfer, während er sie tötet, und diese Verbindung materialisiert sich insofern technisch, als das Mordinstrument eine bayonettartig am Kamerastativ befestigte Stichwaffe ist. Hinzu kommt ein Spiegel, den Mark seinen Opfern vorhält und in dem diese folglich ihre eigene Todesangst zu sehen bekommen, was den zu filmenden Effekt der Panik in ihren Augen noch weiter steigern soll, vor allem aber die mediale Struktur von Voyeurismus und optischen Techniken innerhalb des Films selbst reflektiert. Am Ende tötet sich Mark mit dieser komplexen Vorrichtung selbst, so dass er im Angesicht seiner eigenen Todesangst im Spiegel hinter der Kamera stirbt und auf diese Weise die Positionen von Beobachtendem und Beobachtetem, Filmendem und Gefilmtem, Experimentator und Versuchsperson für einmal zusammenfallen lässt.49 Powells weniger wegen seiner augenscheinlich gezeigten als in der beschriebenen Weise strukturell implizierten Gewaltsamkeit skandalisierter Film etabliert auf dieser Weise einen Zusammenhang zwischen dem psychologischen Interesse an den Abläufen in der Black Box der menschlichen Seele und den Experimenten ihrer Visualisierung sowie zwischen der Medialität dieser Experimente und der Geschlechterdifferenz und Gewaltsamkeit, auf der die entsprechende Beobachtungsrelation gründet.50 Filmhistorisch ist dieser Zusammenhang für das Serial KillerGenre vom M – EINE STADT SUCHT EINEN MÖRDER (1931) bis SCREAM (1996) ebenso zentral wie für die Pornographie.51 Solche Filme führen 49 Vgl. Nicolas Pethes: »Der Voyeur des Sehens. Serienmorde und die mediale Inszenierung des gespiegelten Blicks«, in: Lydia Hartl u.a. (Hg.): Die Ästhetik des Voyeurs, Heidelberg 2003, S. 166-176. 50 Vgl. Claudia Oehlschläger: Unsägliche Lust des Schauens. Die Konstruktion der Geschlechter im voyeuristischen Text, Freiburg 1996. 51 Linda Williams: »Pornografische Bilder und die ›körperliche Dichte des Sehens‹«, in: Christian Kravagna (Hg.): Privileg Blick. Kritik der visuellen Kultur, Berlin 1997, S. 65-97 sowie zu den epistemologischen und quantifizierenden Dimensionen des Porno-Diskurses Pascal Eitler: »Pornographie als Experiment? Visualisierung und Therapeutisierung der Sexualität nach 1968«, in: Nicolas Pethes/Silke Schicktanz (Hg.): Sexualität as Experiment? Identität, Lust und Reproduktion zwischen Science und Fiction, Frankfurt, New York 2008 (im Druck). 23

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die grundsätzliche diskursive und mediale Steuerung des Blicks vor Augen, die auch der psychoanalytischen Film- und Geschlechtertheorie den Ansatzpunkt liefert, demzufolge es stets der aktive Mann ist, der sich im voyeuristischen Blick auf die als mangelhaft konstituierte Frau seiner imaginären Ganzheit versichert52 – und damit in der Tat eine Grundkonstellation auch des medizinischen Menschenversuchs inszeniert.53 Aber nicht nur die experimentelle Dimension der Kamera-Schauspieler-Dyade vermag der Menschenversuchsfilms zu reflektieren, sondern auch das gesamte Dispositiv des Kinos aus Apparatur, Leinwand und Zuschauerraum.54 So wird der Jugendbandenführer Alex in Stanley Kubricks Burgess-Verfilmung A CLOCKWORK ORANGE (1971) mit Filmen über Gewalttaten konfrontiert, nachdem ihm ein Übelkeit auslösendes Serum verabreicht wurde, so dass sein Körper den Reflex der Übelkeit mit dem Stimulus der Gewaltdarstellung zu verbinden lernt. Die Szene von Alex’ Konditionierung ist in mehrfacher Weise auf das Dispositiv des Kinos bezogen: Das Experiment findet nicht in einem Laborraum, sondern in einem Filmvorführsaal statt. Die Versuchsperson Alex ist dabei einerseits Zuschauer, insofern er im der ersten Reihe des Zuschauerraums sitzt und die gezeigten Filme nicht nur sieht, sondern aufgrund der Anschnallgurte und der Klammervorrichtungen an seinen Augen geradezu zu sehen gezwungen ist. Andererseits steht er unter Beobachtung der auf den oberen Sitzreihen versammelten Wissenschaftler, die Alex’ Reaktionen minutiös protokollieren und kommentieren. Auf diese Weise zeigt A CLOCKWORK ORANGE weniger ein behavioristisches Experiment, als dass es dessen mediale Bedingungen reflektiert: Dass Alex im Film Gewaltfilme sieht, und dass diesen Gewaltfilmen ein wissenschaftlich kalkulierbarer Effekt auf ihn als Zuschauer zugesprochen wird, ist für das Verständnis des Films von Kubrick insofern von Interesse, als A CLOCKWORK ORANGE selbst unmittelbar nach seinem Erscheinen für die exzessiven Gewaltdarstellungen im ersten Teil von Alex’ Bandengeschichte kritisiert und in der Folge indiziert wurde.55 52 Vgl. Laura Mulvey: »Visual Pleasure and Narative Cinema«, in: Screen 16 (1975), Nr. 3, S. 6-18; Kaja Silverman: The Acoustic Mirror. The Female Voice in Psychoanlysis and Cinema, Bloomington 1988. 53 Vgl. Katja Sabisch: Das Weib als Versuchsperson. Wege und Abwege der venerologischen Forschung im 19. Jahrhundert, Bielefeld 2008 (im Druck). 54 Zu diesem aus Foucaults ebenfalls an Beobachtungskonstellationen interessierten Analytik der Macht in die psychoanalytische Filmtheorie eingespeisten Konzept Jean-Louis Baudry: »Das Dispositiv: Metapsychologische Betrachtungen des Realitätseindrucks (Platons Höhle und das Kino)«, in: Psyche 48 (1994), S. 1047-1074. 55 Vgl. Joseph Morgenstern: »TV-Brutalität schädigt auch normale Kinder«, in: epd/Kirche und Fernsehen 23 (1972), Nr. 8, S. 1: »Hinter dem fahlen Licht des Fernsehgeräts tobt die Gewalt in den Straßen und ist in Mode bei 24

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Diese Kritik basiert auf der nahezu unüberschaubaren empirischen Forschung zur Auswirkung von Mediengewalt auf das Verhalten ihrer Nutzer.56 Ihre Grundlage sind sozialpsychologische Experimente, in denen Probanden mit Gewaltfilmen konfrontiert und ihre Reaktionen und anschließendes Verhalten protokolliert werden – also eben die Versuchsanordnung, die in A CLOCKWORK ORANGE gezeigt wird. Indem der Film im Film seine eigene Rezeption vorführt und diese Rezeption im Rahmen einer kinematographischen Inszenierung eines Menschenversuchs abbildet, reflektiert er sowohl die ihm unterstellten Auswirkungen als auch den Medienbezug der zeitgenössischen Psychologie.

Paranoia und Mind Control A CLOCKWORK ORANGE ist in seiner Epoche nur einer von auffällig vielen Filmen, die sich mit wissenschaftlichen Experimenten und ihren katastrophalen Folgen auseinandersetzen. Der Science Fiction-Film der 70er Jahre greift experimentelle Szenarien in ihrer ganzen Bandbreite auf. Im Anschluss an A CLOCKWORK ORANGE werden nicht nur Versuche, das Verhalten von Individuen experimentalwissenschaftlich zu kontrollieren, filmisch aufbereitet, sondern besonders diejenigen Regulierungs- und Steuerungsversuche, die sich auf größere Gemeinschaften bzw. die ganze Gesellschaft richten, werden immer wieder als verunglückte Sozialexperimente, die zu dystopisch-totalitären Kontrollgesellschaften führen, thematisiert (z.B. George Lucas’ Erstling THX 1138 (1971), SOYLENT GREEN (1973) oder auch – in der utopischen Variante – ZARDOZ (1974)). Neben ersten Problematisierungen der anthropologischen Differenz von Mensch und Maschine, welche Michael Crichtons WESTWORLD (1973) anhand des gescheiterten Experiments eines mit Androiden bevölkerten Vergnügungsparks inszeniert, behandelt das Genre auch zunehmend ökologische Fragen und Ängste (wie man sich dieses Themas auch im Weltall und unter dem Einsatz spektakulärer Tricktechnik widmen kann, zeigt Douglas Trumbulls SILENT RUNNING (1971)). Mit Blick auf die Kinematographie des Menschenexperiments ist in diesem Zusammenhang besonders Saul Bass’ einziger Film PHASE IV (1974) interessant. PHASE IV handelt von der wissenschaftlichen Beobachtung einer in den Steppen Arizonas ansässigen Ameisenpopulation, deren verändertes Verhalten einen unerklärlichen Sprung in ihrer Evolution vermuten lässt. den Kinofilmen. Innerhalb der letzten paar Monate hat sich ein auffallend neuer Konsensus über die Kinofilm-Gewalt gebildet, und zwar über die Ultragewalt, um einen Ausdruck des modischen Sadisten aus Kubricks ›A Clockwork Orange‹ zu gebrauchen.« 56 Vgl. Anm. 20. 25

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Nicht nur ist der Biss der Ameisen für Säugetiere aller Art – einschließlich des Menschen – plötzlich tödlich geworden, darüber hinaus bekämpfen sich die verschiedenen Ameisenstämme nicht mehr gegenseitig, sondern gehen organisiert und intelligent gegen die in Arizona lebenden Farmer vor, so dass weite Landstriche bereits vollkommen entvölkert und menschenleer sind. Dass es sich bei dem Film nicht um einen typischen Ableger der Big Bug Movies handelt, wird schon durch die schlichte Tatsache deutlich, dass die Ameisen zwar ihr Verhalten, nicht aber ihre Größe verändert haben. Die Ameisen in PHASE IV sehen nicht anders aus, als Ameisen eben aussehen. Anders als die Filme, in denen atomar vergrößerte Insekten die Hauptrolle spielen, lehnt sich PHASE IV auch nicht an Katastrophenfilme an und ist entsprechend wenig daran interessiert, so viel Zerstörung und panisch schreiende Menschen wie möglich abzulichten. Gegenstand des Films sind vielmehr, wie der Titel es in seiner Anspielung auf klinische Studien, die in vier Phasen abgewickelt werden, bereits andeutet, experimentalwissenschaftliche Beobachtungsverhältnisse. Die Ereignisse in Arizona alarmieren nämlich den Biologen Hubbs und den Kommunikationswissenschaftler Lesko, die in der Wüste ein hermetisch abgeschlossenes Laboratorium errichten, um gefahrlos das Verhalten der Ameisen erforschen, ihre Intelligenz und ihre Anpassungsfähigkeit testen, um Kommunikationsmöglichkeiten mit den Ameisen erschließen zu können. Der Film verzeichnet nun in quasidokumentarischem Gestus die Eskalation eines wissenschaftlichen Experiments, in dem Hubbs seine Kontrolle über das Experiment und damit auch über die Ameisen dadurch festigen bzw. herstellen möchte, dass er die Insekten mit immer aggressiveren Methoden zu Reaktionen zu zwingen sucht, selbst aber immer unkontrollierter seinem wissenschaftlichen Ehrgeiz und seinem wahnhaftem Erkenntnisdrang verfällt. Die Aufnahmen, welche die Wissenschaftler bei ihren Verrichtungen in der zunehmend klaustrophobisch erscheinenden Forschungseinrichtung und ihren Versuchen, die Oberhand über die Situation innerhalb und außerhalb des Laboratoriums zu behalten, zeigen, werden mehrfach durch Miniaturaufnahmen à la MIKROKOSMOS unterbrochen, die die Perspektive der Ameisen simulieren. Der Film endet mit dem Sieg der Ameisen: Hubbs geht den Ameisen in die Falle und stirbt; Lesko und die junge Farmerstochter Kendra, die im Labor Unterschlupf gefunden hatte, werden in das Zentrum des Ameisenbaus gelockt und scheinen dazu auserkoren, unter der Kontrolle der Ameisen und ebenso ›verändert‹ wie diese zu den Ahnen eines neuen Geschlechts zu werden. Das Experiment, welches die beiden Wissenschaftler durchgeführt zu haben meinten, wird von diesem Ende ausgehend, als Teil eines größeren Experimentes les- und sichtbar, in dem

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nicht die Ameisen von den Menschen, sondern die Menschen von den Ameisen getestet worden sind. Der Zuschauer, der mit Hubbs und Lesko das Verhalten von Ameisen beobachtet zu haben glaubt, hat tatsächlich immer schon diese Beobachtungen beobachtet, hat sich immer schon in der Position der Ameisen befunden. Die Perspektive der Kamera war immer schon die Perspektive der Ameisen. PHASE IV führt einerseits vor, mittels welch fragiler Blickordnungen Subjekte und Objekte von Beobachtungen und Experimenten konstruiert werden, und macht andererseits klar, dass experimentale Formationen immer auch Machtverhältnisse sind, die, wenn sie überhaupt solche Positionszuschreibungen erlauben, erst vom Ende eines Versuchs her entscheidbar werden lassen, wer Herr und wer Knecht des Versuchs gewesen ist. Nicht nur in PHASE IV, auch in allen anderen genannten Science Fiction-Filmen stellt sich für die Protagonisten immer wieder heraus, dass nicht sie es sind, welche die Situation kontrollieren, sondern dass unheimliche und unbekannte Agenturen über ihr Leben bestimmen. Neben verschiedenen weiteren Science Fiction-Filmen, die dieser paranoiden Grundstimmung Ausdruck verleihen (wie z.B. ROLLERBALL (1975), CAPRICORN ONE (1978), INVASION OF THE BODY SNATCHERS (1978) oder ALIEN (1979)), bildet sich in den 70er Jahren mit dem Conspiracy Thriller ein eigenes Genre heraus,57 das sich mit Verschwörungen besonders staatlicher und wirtschaftlicher Institutionen befasst. Menschenversuche spielen in den Filmen des Genres vor allem als Mind Control-Experimente58 eine zentrale Rolle, in denen – ganz in der Tradition von Frankenheimers THE MANCHURIAN CANDIDATE (1962) – unauffällige und unbescholtene Bürger zu gefährlichen Attentätern programmiert werden. Während in dem Sci Fi-Conspiracy-Crossover THE DAY OF THE DOLPHIN (1973) zwar die wissenschaftliche Seite solcher Experimente eingehend thematisiert wird, es sich bei den programmierten Killern, die die Yacht des amerikanischen Präsidenten in die Luft sprengen sollen, aber um Delphine handelt, bleiben die wissenschaftlichen Hintergründe der Menschenversuche in den Conspiracy Thrillern meist recht unterbelichtet. Exemplarisch wird dies in THE PARALLAX VIEW (1974), dem mittleren Teil von Alan J. Pakulas Paranoia Trilogie, sichtbar, denn die Mind Control-Prozeduren werden zwar ausgiebig gezeigt, die Wirkungsweise 57 Vgl. zur Übersicht über den Conspiracy Thriller Arno Meteling: »Das Argus-Prinzip. Beobachtung und mediale Latenz im amerikanischen Verschwörungsfilm«, in: Plurale. Zeitschrift für Denkversionen 6 (2006), S. 97-117. 58 Zu den wissenschaftshistorischen Grundlagen dieses Paradigmas vgl. Marcus Krause: »Kontrollieren«, in: Nicolas Pethes/Birgit Griesecke/Marcus Krause/Katja Sabisch (Hg.): Menschenversuche. Eine Anthologie 17502000, Frankfurt/Main (erscheint 2008). 27

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des Bilderrausches, der dem Protagonisten (und dem Zuschauer) des Films vorgeführt und mittels dessen er zum Attentäter programmiert werden soll, wird aber nicht einmal andeutungsweise erläutert. Mit den Mind Control-Experimenten werden in den Conspiracy Thrillern weder die ethischen Implikationen von Menschenversuchen noch die Aufgaben und Grenzen der Wissenschaft problematisiert, vielmehr steht der Menschenversuch vollständig im Dienst einer politischen Kritik an den Kontrollphantasmen der Machthabenden auf der einen und am unreflektierten Gebrauch von Massenmedien auf der anderen Seite. Die Annahme, dass die menschliche Psyche durch das Vorführen von Bildern manipuliert werden kann, ohne dass sie sich später dieser Manipulation bewusst sein müsste, eröffnet nicht nur den Drehbuchschreiben Hollywoods unerschöpfliche Erklärungsmöglichkeiten für die Frage, warum selbst die umfassendsten Verschwörungen geheim bleiben können, sondern erlaubt es dem Film auch, seine eigenen medialen Funktionsweisen selbstreflexiv zu thematisieren und dem Zuschauer seine eigene Position vor der Leinwand oder dem Fernsehschirm vorzuführen. Die Menschenversuchs- und Verschwörungsszenarien der 70er Jahre, deren Inszenierung mit Brian de Palmas BLOW OUT (1981) ihr vorläufiges Ende findet, werden in der Populärkultur der 90er Jahre auf vielfältige Weise wiederbelebt. Ein frühes Beispiel hierfür ist Adrian Lynes JACOB’S LADDER (1990), der in seiner Verhandlung von LSD-Experimenten, die das amerikanische Militär im Vietnam-Krieg zur Förderung des Kampfeswillen an eigenen Soldaten durchgeführt hat, sowohl auf das klassische Narrativ des ohne das Wissen der Probanden von staatlichen Institutionen organisierten Menschenversuchs als auch ästhetisch auf die Versuche, (in diesem Fall paranoisch-psychotische) Wahrnehmungsveränderungen und psychische Funktionsweisen (in diesem Fall der Wiederkehr traumatisch verdrängter Erinnerungen) im Medium Film darzustellen, rekurriert. Die politischen Bezüge, die in den Filmen der 70er Jahre recht eindeutig herzustellen waren, bleiben in den 90er Jahren wie z.B. in der CONSPIRACY THEORY (1997) oder ENEMY OF THE STATE (1998) jedoch meist außerordentlich diffus bzw. im postmodernen Verweisungsspiel gefangen und richten sich entweder gegen den militärischindustriellen Komplex bzw. gegen eine Gruppe geheimer Verschwörer, für die in der politischen Wirklichkeit keine Entsprechung auszumachen ist, oder diese Bezüge sind wie in Oliver Stones Filmen JFK (1991) und NIXON (1995) überdeterminiert. Menschenversuche und experimentale Anordnungen spielen in den Fernsehserien X-FILES (1993-2002) und LOST (2004-) immer wieder eine handlungstragende Rolle. CUBE (1997) und DARK CITY (1998), in dem eine ganze Stadt Gegenstand eines Versuchs ist und unter dem Einfluss von Bewusstseinskontrolle steht, sind

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EINLEITUNG: DIE KINEMATOGRAPHIE DES MENSCHENVERSUCHS

Beispiele für eine kafkaeske, abstrakt-surreale Aufbereitung des Menschenversuchs. Besonders CUBE ist als Beispiel für die Kinematographie des Menschenversuchs interessant, da der Film mit der Experimentalanordnung, die er darstellt, quasi identisch ist, indem er zum einen seine Handlung vollständig auf die Verhaltensbeobachtung der in einem Würfelkomplex gefangenen Charaktere beschränkt und zum anderen seine Topographie (durch die Reduktion der Optik, die CUBE mittels der sehr schlichten Geometrie und Farbgebung erreicht, und durch ihre Abgeschlossenheit gegenüber Außeneinflüssen) den Räumlichkeiten eines Laboratoriums stark angleicht. Indem der Zuschauer auf der einen Seite keinerlei Informationsvorsprung gegenüber den gefilmten Personen hat, ihm auf der anderen Seite aber das Verhalten aller Charaktere aus souveräner Distanz vorgeführt wird, changiert die Perspektive CUBES beständig zwischen der Perspektive eines Versuchsleiters und derjenigen einer Versuchsperson. Aber nicht zuletzt dadurch, dass der Film einen nicht geringen Teil seiner Spannung aus der Frage bezieht, welche der Versuchspersonen durch welche Todesart umkommen wird, wird der Zuschauer zum Komplizen derjenigen, die die Experimente durchführen. Dieses Paradigma des kinematographischen Sozialversuchs, zu dem auch THE ISLAND (2005) zu zählen wäre, weicht an der Wende zum 21. Jahrhundert zunehmend Filmen, die das zu dieser Zeit meistdiskutierte und neue humanexperimentelle Feld zum Gegenstand haben: biotechnologischen Eingriffe auf dem Feld der Humangenetik. Insbesondere die Figur des Klons wird hier zur neuen Ikone der technischen Reproduzierbarkeit des Menschen,59 und das Kino belegt in Filmen, die an das populärliterarische Genre des Medical Thriller angelehnt sind,60 einmal mehr sein Vermögen, das Unsichtbare zu visualisieren. Von der Mind Control im Kontext einer behavioristischen Psychologie verschiebt sich die Kinematographie des Menschenversuchs damit zur Gene Control bei der Produktion des posthumanen Menschen. Ob diese Versuche noch solche am Menschen sind und mithin der Film, der den Menschenversuch in der Weise, wie es hier vorgeschlagen wird, begleitet hat, noch derselbe bleiben kann, wird zu sehen sein.

59 Vgl. Dorothy Nelkin/Susan Lindee: DNA Mystic. The Gene as a Cultural Icon, New York 1995. 60 Vgl. Andriopoulos: Besessene Körper (Anm. 21), sowie Nicolas Pethes: »Terminal Men. Biotechnological Experimentation and the Reshaping of ›The Human‹ in Medical Thrillers«, in: New Literary History 36 (2005), S. 161-186. 29

MARCUS KRAUSE & NICOLAS PETHES

Aufbau des Bandes Das hiermit skizzierte systematische Schema zum Wechselverhältnis zwischen Kinematographie und Humanexperiment entfalten die nachfolgenden Beiträge in einem historischen Durchgang: Einleitend stellt der Beitrag von Marcus Krause die Frage, auf welche Weisen und in welcher historischer Abfolge das Kino seine Ursprünge im Menschenversuch in Erzählungen verwandelt und seine Experimente mit der eigenen Apparativität endgültig narrativ integriert, indem er die Evolution eines der erfolgreichsten Kinomythen, des Mythos von Dr. Jekyll und Mr. Hyde, von Stevensons Erzählung über John S. Robertsons berühmter Stummfilmversion von 1920 bis zu Rouben Malmoulians und Victor Flemings Hollywood-Klassikern von 1932 bzw. 1941 nachzeichnet. Julia Köhne zeigt, wie der Einsatz der Filmkamera in der Psychiatrie der 1910er Jahre auf inszenatorischen und technischen Aspekten des Films beruht, insofern das Krankheitsbild der Kriegsneurose durch diese Filme generiert wird, während das hysterische Zucken der Patienten mit den Sprüngen zwischen den Einzelbildern der noch unausgereiften Technik korreliert. Diese wissenschaftshistorische Vorgeschichte der Kinematographie kehrt im expressionistischen Film in Deutschland, wie Ute Holl am Beispiel von Fritz Langs DR. MABUSE, DER SPIELER von 1922 vorführt, als Zerlegung der Identität in Einzelbilder und assoziationspsychologisch fundierte Reflexion von Wahrnehmungsprozessen auf die Leinwand zurück. Die ästhetisch-politische Dimension dieses experimentellen Einsatzes der Filmkamera dominiert zeitgleich auch im russischen Film: Bernd Stiegler rekonstruiert Dziga Vertovs Konzept vom Film als »schöpferisches Laboratorium« im Kontext des sozialistischen Projekts einer Erziehung des Zuschauers, Barbara Wurm verortet diesen Prozeß der filmischen Menschwerdung in den psychotechnischen und verhaltenspsychologischen Filmen der Zeit anhand des Spannungsverhältnisses zwischen dem wissenschaftlichen Konzept der Reflexologie und dem Darstellungsprinzip der Montage. In Hollywood schließlich thematisiert FrankensteinRegisseur James Whale in seiner H.G. Wells-Verfilmung THE INVISIBLE MAN (1933) anhand des mit diesem Titel angezeigten Selbstexperiments eines Mad Scientist zugleich die Grenzen der filmischen Darstellbarkeit, wie Henry M. Taylor argumentiert. Filmische Versuchsanordnungen umfassen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts mithin stets motivische und formale Aspekte der entsprechenden Filme. Aber auch eine vermeintlich lediglich motivische Referenz auf heroische Selbstversuche in der kolonialmedizinischen Schlafkrankheitsforschung wie der Propagandafilm GERMANIN (1943) steht, wie Britta Lange nachweist, in unmittelbarem Zusammenhang mit den Tricktechniken, wie sie zeitgleich in wissenschaftlichen Werbefilmen für 30

EINLEITUNG: DIE KINEMATOGRAPHIE DES MENSCHENVERSUCHS

die Impfstoffe der Bayer AG zum Einsatz kommen. Aus amerikanischer Sicht steht zu dieser Zeit bereits die Therapie dieser Propaganda auf der Tagesordnung, und die bevorstehende Umerziehung der nationalsozialistischen Bevölkerung wird 1944 im Film TOMORROW THE WORLD in einer amerikanischen Kleinfamilie modellartig vorweggenommen, so Rembert Hüser in seiner Beschreibung des Gesellschaftsversuchs, das Ende des Kriegs als ›neue Zeit‹ zu inszenieren. Parallel zum Export demokratischer Werte arrangierte die CIA aber unter dem Projektnamen Operation Paperclip zugleich einen systematischen Import von Fachwissen aus dem Dritten Reich. Anhand von ON THE THRESHOLD OF SPACE (1956) zeigt Nicolas Pethes, wie ein Spielfilm über die Raumfahrtforschung in den USA deren extreme Experimente in einer Kombination von authentischem Dokumentarmaterial und dessen narrativer Rahmung zu vermitteln versucht und damit die für den Menschenversuchsfilm grundlegende Relation zwischen wissenschaftlichen Fakten und fiktionalen Szenarien zu analysieren erlaubt. Ebenfalls auf ›reale‹ Menschenversuche, nämlich auf das Geheimprogramm MK-Ultra, in dem die CIA mit Techniken zur Bewusstseinskontrolle experimentierte, um u.a. Versuchspersonen ohne deren Wissen zu Attentätern zu ›programmieren‹, beziehen sich Filme wie THE IPCRESS FILE (1965), A CLOCKWORK ORANGE (1971) und THE PARALLAX VIEW (1974). Anhand dieser drei Filme analysiert Arno Meteling, auf welche Weisen sich in solchen filmischen Darstellungen Beeinflussungstechniken und Techniken der Kinematographie medienreflexiv verschränken und den Zuschauer somit sowohl mit der Beobachtungsposition eines Versuchsleiters als auch mit der Position des Opfers medialer Bewusstseinskontrolle identifizieren. Experimentalanordnungen, die sich ebenfalls auf die Nutzung von Medien beziehen, aber viel alltäglicherer Natur sind und nicht auf die Beeinflussung der menschlichen Psyche zielen, werden in Atom Egoyans Filmen OPEN HOUSE (1982), NEXT OF KIN (1984) und CALENDAR (1993) arrangiert. Wie Markus Stauff in seinem Beitrag vorführt, gelingt es diesen Filmen zum einen, in quasi-experimentellen soziologischen Versuchsanordnungen sichtbar zu machen, wie der Umgang mit Medien wie Fotografien, Tonbändern, Videos oder dem Anrufbeantworter das Funktionieren sozialer Beziehungen und persönlicher Erinnerungen beeinflusst. Zum anderen lassen Egoyans Filme im formalexperimentellen Zusammenspiel des forschenden Verhaltens ihrer Charaktere und spezifischen filmischen Inszenierungsformen die Differenzen dieser Medien untereinander und besonders zum Film und seinen Gesetzmäßigkeiten der Darstellung erkennbar werden. Mediendifferenzen spielen auch für den Zombiefilm und seine Versuchsanordnungen eine entscheidende Rolle. Wie die Analyse von Christina Bartz besonders anhand von Danny Boy-

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MARCUS KRAUSE & NICOLAS PETHES

les 28 DAYS LATER (2002) deutlich macht, allegorisiert das Genre des Zombiefilms, indem es andere Massenmedien wie Presse und Fernsehen zitiert und die Ansteckung durch Zombies zu derjenigen durch Mediengewalt in Beziehung setzt, die Mediennutzung seiner Zuschauer und reflektiert auch den eigenen Ort in einer Medienkultur, die dem Zuschauer seit den 80er Jahren mit dem Video bzw. der DVD einen aktiven und experimentierenden Umgang mit dem Medium Film erlaubt. Diese Überlegungen greift Torsten Hahn in seinen Anmerkungen zu 28 DAYS LATER und George A. Romeros DAY OF THE DEAD (1985) auf und ordnet die (Sozialisierungs-)Experimente, welche die Menschen in diesen Filmen an den Zombies (und an sich selbst) vornehmen, in einen biopolitischen Kontext ein.

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VOM

MYSTERIUM ZUM P S Y C H O A N A L Y S I E R T E N H O L L Y W O O D -M Y T H O S : D IE V ERWANDLUNGEN VON D R. J EKYLL UND M R. HYDE LITERARISCHEN

MARCUS KRAUSE Obwohl dem Jahr 1886 für die technologische Entwicklung der optischen Medien keine besondere Relevanz zukommt,1 nimmt es für die Geschichte der Kinematographie eine entscheidende Stellung ein. Im Januar dieses Jahres – also neun Jahre, bevor in amerikanisch-französischer Koproduktion (durch Edisons erste Filmkamera und den ersten Filmprojektor der Brüder Lumière) das Kino ›erfunden‹ worden sein wird – wurde nämlich erstmalig eine Erzählung veröffentlicht, die das Ausgangsmaterial für eines der erfolgreichsten Szenarien der Filmgeschichte liefern sollte: Robert Louis Stevensons Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde. Seit der ersten sechzehnminütigen Version von 19082 sind bis zum 1

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Die Große Medienchronik (hg.v. Hans H. Hiebel, Heinz Hiebler, Karl Kogler u. Herwig Walitsch, München 1999) verzeichnet für dieses Jahr nur einen einzigen Eintrag: »Das Zootrop von J.E. Marey (›Pigeon in flight‹) simuliert den Flug der Vögel. Dazu verwendet er Plastiken von Vögeln mit verschiedener Flügelstellung« (ebd., S. 323) und damit nur eine der vielen Etappen in Mareys und Muybridges Erkundung der Bewegung durch die Chronophotographie. Nachdem Eadweard Muybridge 1878 für seine berühmte photographische Zerstückelung der Bewegung des Pferdes noch ebenso viele Kameras nebeneinander stellen musste, wie er Bewegungssegmente ablichten wollte, entwickelte Marey 1882 die erste einzelne Kamera, die nacheinander mehrere Bilder aufnehmen konnte und 1888 die erste Kamera, die für solche Aufnahmen nicht mehr starre Platten, sondern flexiblen Film einsetzte. Diese Version ist genauso wie Friedrich Wilhelm Murnaus JANUSKOPF – EINE TRAGÖDIE AM RANDE DER WIRKLICHKEIT (mit Conrad Veidt als Dr. Warren/Mr. O’Connor und Bela Lugosi als dessen Diener) verschollen. Die Umbenennung von Dr. Jekyll/Mr. Hyde in Dr. Warren/Mr. O’Connor ist Murnaus Versuch geschuldet, den Erwerb von Verfilmungsrechten zu umgehen. Ein Versuch, den Murnau bei seiner Verfilmung von Bram Stokers Dracula NOSFERATU (juristisch erfolglos) wiederholte. 33

MARCUS KRAUSE

heutigen Tag nahezu 100 Verfilmungen von Stevensons viktorianischnaturwissenschaftlicher Variation des romantischen Doppelgängermythos angefertigt worden.3 Als Klassiker – also als Prototypen, die den Kino-Mythos von Dr. Jekyll und Mr. Hyde begründen und die Referenz bilden, auf die sich die anderen Verfilmungen als Modifikationen beziehen – gelten gemeinhin die drei Verfilmungen von 1920 (unter der Regie von John S. Robertson und mit John Barrymore in der Titelrolle), 1931 (unter der Regie von Rouben Malmoulian und mit Fredric March in der Academy Award prämierten Titelrolle) und 1941 (unter der Regie von Victor Fleming und mit Spencer Tracy in der Titelrolle sowie Ingrid Bergman und Lana Turner in den weiblichen supporting roles). Diese drei klassischen Kino-Versionen zeigen in ihren Differenzen zu Stevensons literarischer Vorlage, wie sich die Kinematographie von ihren Ursprüngen als medizinischem Aufzeichnungsmedium4 und wahrnehmungsphysiologischem Erkenntnismittel5 einerseits und von ihrer Faszination mit der eigenen Medialität,6 von dem Experimentieren mit den eigenen Möglichkeiten der Abbildung von Darstellbarem und (mittels Tricktechniken) Undarstellbarem im Cinema of Attractions anderer3

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Vgl. Charles King: [Themes and Variations], in: Robert Louis Stevenson: Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde. Norton Critical Edition, hg. von Katherine Linehan, New York 2003, S. 157-163, hier S. 158: »There have been at least 88 film and television adaptations, including shorts and some less-traditional variations. Since 1908, there has not been a period of longer than five years without a version of the story, and multiple versions in the same year are not uncommon.« Kings Text ist 1997 unter dem Titel »Dr. Jekyll and Mr. Hyde: A Filmography« im Journal of Popular Film and Television veröffentlicht worden. Seit 1997 sind laut Internet Movie Database wenigstens noch elf weitere Versionen produziert worden. Vgl. hierzu Lisa Cartwright: Screening the Body. Tracing Medicine’s Visual Culture, Minneapolis, London 1995. Zur Archäologie des Verhältnisses von filmischen Techniken, Subjektivität im Kino und der experimentellen Erforschung menschlicher Wahrnehmung vgl. Ute Holl: Kino, Trance und Kybernetik, Berlin 2002. Nicht nur für die Kinomacher selbst, auch für das Publikum steht im frühen Kino der Apparat viel eher als das gezeigte Programm im Mittelpunkt der Faszination. Wie gewaltig der Unterschied zwischen der Faszination für die Apparatur und der Faszination für die von der kinematographischen Apparatur aufgezeichneten Bilder sein kann, macht Alexander Kluges Geschichte »Solarkamera Jupiter« klar (in: Alexander Kluge: Geschichten vom Kino, Frankfurt/Main 2007, S. 15-18). Die Solarkamera ist zwar in der Lage, authentische Bilder von einer Sonnenfinsternis herzustellen; diese Bilder sind aber nicht spektakulär genug, um beim Publikum Anklang zu finden. Interessant sind einzig die Größe und die aufwändige Verarbeitung der Kamera, nicht die Bilder, die sie produzieren kann. Diese sind mittels einer herkömmlichen Kamera und einfacher Tricktechnik besser, d.h. spektakulärer und somit beim Publikum erfolgreicher, herzustellen. 34

DIE VERWANDLUNGEN VON DR. JEKYLL UND MR. HYDE

seits zunehmend emanzipiert und sich zum populären Massenmedium entwickelt.7 Von einem »elegante[n] Sprung aus Experimentalanordnungen in Unterhaltungsindustrie«,8 wie Friedrich Kittler ihn in Grammophon Film Typewriter konstatiert, kann dabei aber nur eingeschränkt die Rede sein, da die Experimentalanordnungen die Unterhaltungsindustrie, wie zu sehen sein wird, noch lange über die von Kittler angesprochene Stummfilmzeit hinaus begleiten werden. Erst in den 1940er Jahren wird der experimentelle Ursprung, den das Kino mit Blick auf seine Apparatur und seine Wahrnehmungstäuschungen in wissenschaftlichen Versuchsszenarien hat, in Unterhaltung – und das bedeutet für das HollywoodKino in Narration – aufgegangen sein. Die Experimentalanordnungen bleiben dem Kino dann vorrangig nur noch als spektakuläres Thema, als Sujet erhalten, das zu so dramatischen wie emotionalen Verwicklungen Anlass gibt. Die Wissenschaftler vor der Kamera werden gegenüber der Wissenschaft in der Kamera zunehmend dominant. Besonders erfolgreich, weil besonders verwicklungsreich sind dabei diejenigen Versuchsanordnungen, in denen sich der Mensch selbst begegnet (sei es im engeren Sinne wie bei dem Fall Jekyll/Hyde, in dem der Wissenschaftler seinem psychologischen Anderen begegnet, sei es im generischen Sinne wie in den Fällen Frankenstein und Moreau, in denen der Wissenschaftler sich selbst in Gestalt seines Geschöpfes als anthropologischem Gegenüber begegnet). Folgt man Kittlers anhand von Rudolf Wienes CABINET DES DR. CALIGARI (1920) entwickelter Analyse des kinematographischen Dispositivs, entspricht vor allem der Selbstversuch à la Jekyll/Hyde der epistemischen Grundordnung sowohl der Medientechnologien als auch der Humanwissenschaften der Zeit:

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Vgl. zur Konzeption des frühen Kinos als Kino der Attraktionen gegenüber dem (späteren) Kino der narrativen Integration Tom Gunning: »The Cinema of Attractions: Early Film, its Spectator and the Avant-Garde«, in: Thomas Elsaesser (Hg.): Early Cinema. Space Frame Narrative, London 1990, S. 56-62. Friedrich A. Kittler: Grammophon Film Typewriter, Berlin 1986, S. 220. Dass Kittlers Rede vom ›eleganten Sprung‹ im Dienste der Polemik die ›Jahrmarktsbelustigung‹, also die Experimente, die das frühe Kino mit seinen eigenen Formbildungen unternimmt, genauso überspringt wie die angefeindete ›Filmgeschichtsschreibung‹ die experimentalwissenschaftlichen Grundlagen jeder filmischen Ästhetik, sei hier noch einmal explizit betont. Dem narrativen Spielfilm, der in den 1910er Jahren zunehmend dominiert und dessen grundlegende Kontinuitätsprinzipien sich bis 1920 grundsätzlich durchgesetzt haben, unterliegen sowohl diejenigen Experimentalanordnungen, welche die Humanwissenschaften dem Kino überliefert haben, als auch diejenigen, welche dem Kino seine eigene Technologie, seine eigene Apparatur aufgegeben hat. 35

MARCUS KRAUSE

»Wenn die professoralen Medientechniker der Gründerzeit an ihre Experimente gehen, spielen sie […] zugleich Versuchsleiter und Versuchsperson, Täter und Opfer, Psychiater und Irre, ohne daß die Speichertechnik diesen Unterschied noch festhalten könnte oder wollte. Dr. Jekyll und Mr. Hyde, Stevensons fiktives Doppelgängerpaar von 1886, sind nur Decknamen wirklicher Geheimräte.«9

Aber auch wenn die visuelle Speichertechnik in Form der Kamera den Unterschied zwischen Versuchsleiter und Versuchsperson im CABINET DES DR. CALIGARI nicht festhalten kann (oder will), da der Anstaltsdirektor und Dr. Caligari von ein- und demselben Schauspieler gespielt werden, das Kino führt diesen Unterschied in demselben Jahr mit Robertsons Verfilmung von DR. JEKYLL AND MR. HYDE (1920) wieder ein. Zwar werden natürlich auch Dr. Jekyll und Mr. Hyde von ein- und demselben Schauspieler gespielt, aber sowohl die Schauspielkunst John Barrymores als auch die Trick- und Schminktechniken des Films sind auf nichts anderes ausgerichtet als darauf, Jekyll und Hyde voneinander trotz personaler Identität unterscheidbar werden zu lassen. Die Verbindungen zwischen den beiden Gestalten derselben Person soll der Zuschauer gerade nicht in erster Linie durch äußere, visuelle Gemeinsamkeiten, sondern vor allem durch die Entfaltung des inneren Konflikts, den Jekyll aufgrund der Taten seines alter ego durchlebt, herstellen. Alle drei klassischen Verfilmungen von Dr. Jekyll and Mr. Hyde beziehen ihre Spannung daraus, dass sie die Spaltung zwischen Jeykll und Hyde, die visuell vorliegt, psychologisch zu reintegrieren und (melo-)dramatisch zu entfalten versuchen. Zur Herstellung solcher psychischen Bezüge und Zusammenhänge bedienen sich die Filme in unterschiedlichem Maße eines wissenschaftlichen Paradigmas, welches selbst im Kino die Visualisierung seiner theoretischen Annahmen gefunden zu haben meint: der Psychoanalyse. Dass die Faszination, die für das Kino von der Figur des Doppelgängers ausgeht und die bereits 1913 in der Doppelgestalt von Max Macks DER ANDERE und Stellan Ryes DER STUDENT VON PRAG ihren Ausdruck findet, nicht einfach dem kontingenten Interesse von Filmregisseuren geschuldet ist, sondern der »Besonderheit der Kinotechnik, seelisches Geschehen bildlich zu veranschaulichen«, bemerkte bereits Otto Rank in seiner Studie Der Doppelgänger.10 Die vielen Doppelgänger auf der Leinwand folgen aus den Gesetzmäßigkeiten des neuen medialen Dispositivs der Ki-

9 Ebd., S. 222. 10 Otto Rank: Der Doppelgänger. Eine psychoanalytische Studie [1925], Wien 1993, S. 12. 36

DIE VERWANDLUNGEN VON DR. JEKYLL UND MR. HYDE

nematographie,11 nach denen in der Wirklichkeit des Lichtspiels umgesetzt wird, was Literatur und Psychoanalyse nur vorstellen bzw. denken können und was Wahrnehmungsphysiologie und Psychotechnik experimentell erforscht haben.12 Das Kino ist der Traum eines jeden Psychoanalytikers: »Vielleicht ergibt sich, daß die in mehrfacher Hinsicht an die Traumtechnik gemahnende Kinodarstellung auch gewisse psychologische Tatbestände und Beziehungen, die der Dichter oft nicht in klare Worte fassen kann, in einer deutlichen und sinnfälligen Bildersprache zum Ausdruck bringt und uns dadurch den Zugang zu ihrem Verständnis erleichtert.«13

Umgekehrt bietet der Bezug auf die Psychoanalyse dem Kino die Möglichkeit, sich von seinem experimentalwissenschaftlichen Ursprung und der Dominanz der eigenen (Trick-)Technik zu emanzipieren. Durch psychoanalytische Erklärungsmuster und die Analyse bildlicher Darstellungs- und Symbolisierungstechniken, wie Freud sie beispielhaft in seiner Traumdeutung vorgelegt hat, wird es möglich, diesen Ursprung narrativ zu integrieren sowie die (verdichtende und verschiebende) Tricktechnik psychologisch zu motivieren.14 In welchen Etappen dies geschieht soll im Folgenden durch einen Vergleich der literarischen Vorlage Stevensons mit den drei bereits genannten Verfilmungen von 1920, 1932 und 1941 nachvollzogen werden.

11 Ein Jahr nach Ranks Studie kam mit Georg Wilhelm Pabsts GEHEIMNISSE EINER SEELE (1926) das klassische Beispiel für eine explizite Aufnahme psychoanalytischer Kategorien in einen Spielfilm in die Kinos. Vgl. hierzu Hermann Kappelhoff: »Jenseits der Wahrnehmung – Das Denken der Bilder. Ein Topos der Weimarer Avantgarde und ein ›psychoanalytischer‹ Film von Georg Wilhelm Pabst«, in: Harro Segeberg (Hg.): Die Perfektionierung des Scheins. Das Kino der Weimarer Republik im Kontext der Künste. Mediengeschichte des Films Band 3, München 2000, S. 299-318. 12 Vgl. zu dieser These den klassischen Aufsatz Friedrich A. Kittlers: »Romantik – Psychoanalyse – Film: eine Doppelgängergeschichte«, in: ders.: Draculas Vermächtnis. Technische Schriften, Leipzig 1993, S. 81-104. 13 Rank: Der Doppelgänger (Anm. 10), S. 7 f. 14 Einen guten Überblick über das Verhältnis von Psychoanalyse/Psychologie und Kino vermitteln die Bände Thomas Ballhausen/Günter Krenn/Lydia Marinelli (Hg.): Psyche im Kino. Sigmund Freud und der Film, Wien 2006 sowie Kristina Jaspers/Wolf Unterberger (Hg.): Kino im Kopf. Psychologie und Film seit Sigmund Freud, Berlin 2006. 37

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Literatur: Stevensons Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde (1886) Wer mit Dr. Jekyll und Mr. Hyde zunächst durch die Filme bekannt gemacht worden ist und Stevensons Erzählung erst mit dem im Kino oder vor dem Fernseher erworbenen populären Wissen über den Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde liest, wird in mehrfacher Hinsicht überrascht. Nicht nur erkennt der unterhaltungsindustriell informierte Leser einen Großteil der Figuren (inklusive Jekyll und Hyde) kaum und den Plot der Geschichte überhaupt nicht wieder, nicht nur sucht er in der Erzählung vergeblich nach den Frauenfiguren, die die Motivationen Jekylls und Hydes in den Verfilmungen so maßgeblich beeinflussen, sondern darüber hinaus fragt sich jeder, der das Buch zum Film nach dem Film vor Augen nimmt, wie die Erzählung überhaupt verfilmt werden konnte. Stevensons Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde präsentiert sich nämlich so literarisch, wie Literatur zum Ende des 19. Jahrhunderts sich überhaupt nur präsentieren kann, und das bedeutet: ›unverfilmbar‹, ganz dem Symbolischen verhaftet, sich jeglichem Imaginären15 so weit wie möglich entziehend.16 Die Handlung des Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde wird demgemäß durch allerlei kinountaugliche Schriftstücke, Dokumente und Briefe, durch die klassischen Medien des Symbolischen, des Signifikanten vorangetrieben. So wird Dr. Jekyll dem Leser mit einem Schriftstück, nämlich seinem Testament, in dem er im Falle seines Ablebens einem gewissen Mr. Hyde sein gesamtes Vermögen vermacht, in strenger Signifikanten- und Sekretärslogik vorgestellt: »Henry Jekyll, M.D., D.C.L., 15 Zur Frage, was sich aufgrund der Unvermittelbarkeit von Auge und Blick wiederum dem Imaginären und somit auch der Verfilmbarkeit entzieht, vgl. Georg Christoph Tholen: »Der Verlust (in) der Wahrnehmung. Zur Topologie des Imaginären«, in: texte. psychoanalyse. ästhetik. kulturkritik. Heft 3 (1995), S. 46-75. 16 Vgl. Friedrich A. Kittler: Aufschreibesysteme 1800 • 1900, München 1995, S. 314: »Gegenüber Medien, die Imaginäres und Reales am Diskurs bedienen und von U-Literaten auch ihrerseits bedient werden, bleibt der Literatur nur noch eine andere Option. […] Ab 1900 entsteht eine E-Literatur, in der ›das Wort‹ etwas »Überdeutliches« und d.h. rein differentieller Signifikant wird. Nach dem Verzicht auf imaginäre Effekte und reale Einschreibungen bleiben Riten des Symbolischen. […] Seit dem 28. Dezember 1895 gibt es eben ein unfehlbares Kriterium für E-Literatur: ihre Unverfilmbarkeit.« Dass Stevensons ›Riten des Symbolischen‹ bereits 1886 umsetzen, was Kittler mit dem Datum der ersten öffentlichen Filmvorführung der Gebrüder Lumière ansetzt, macht deutlich, wie sehr sich die ›Ordnung der Sichtbarkeit‹ und damit eben auch der Schreibbarkeit bereits in der Nachgeschichte der Photographie bzw. der Vorgeschichte der Kinematographie, also vor aller Projektion des Imaginären auf die Realität von Leinwänden, geändert hat. 38

DIE VERWANDLUNGEN VON DR. JEKYLL UND MR. HYDE

LL.D., F.R.S.« (13).17 Dieser Logik entspricht auch, dass – im Gegensatz zu den Verfilmungen – nicht der Arzt Dr. Jekyll, sondern der mit Jekyll befreundete Anwalt Mr. Utterson als Fokalisierungsinstanz der Erzählung dient. Und es ist weiterhin konsequent, dass nicht graphic violence – nämlich der von Hyde begangene Totschlag an einem achtjährigen Mädchen, dessen Bericht Stevensons Schilderung des seltsamen Falls beginnen lässt – Mr. Utterson dazu motiviert, diesem Mr. Hyde nachzuspüren, sondern ein juristisches Dokument – eben die bereits erwähnte letztwillige Verfügung Jekylls – ihn in Rage geraten und die »Search for Mr. Hyde« (12) beginnen lässt: »This document had long been the lawyer’s eyesore. It offended him both as a lawyer and as a lover of the sane and customary sides of life, to whom the fanciful was the immodest« (13).18 Dieser Ansicht Uttersons entspricht, dass nicht die Phantasie, die Imaginationskraft ihn erstmals an eine Identität von Dr. Jekyll und Mr. Hyde denken lässt, sondern dass es ein »Incident of the Letter« (24) ist, der ihn Verdacht schöpfen lässt. Ganz anders als bei Poes Meisterdetektiv Dupin, der 45 Jahre vor dem Fall ›Dr. Jekyll‹ gemäß seiner Einsicht, dass »the ingenious are always fanciful, and the truly imaginative never otherwise than analytic«,19 die Morde in der Rue Morgue noch unter Zuhilfenahme seiner eigenen Einbildungskraft aufklären konnte, ist Mr. Utterson auf seinen Bürovorsteher Mr. Guest angewiesen, um dem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Durch seine Tätigkeiten im Büro erkennungsdienstlich geschult stellt Mr. Guest zwischen der Handschrift auf einem Brief Mr. Hydes und derjenigen auf einer Einladungskarte Dr.

17 Robert Louis Stevenson: Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde [1886], in: Stevenson: Dr. Jekyll and Mr. Hyde (Anm. 3), S. 7-62, hier S. 13. Im Folgenden wird Stevensons Erzählung nur mit Seitenangaben in Klammern zitiert. Die Buchstaben bedeuten: Doctor of Medicine, Doctor of Civil Law, Doctor of Law, Fellow of the Royal Society. Es ist also nicht eindeutig zu bestimmen, ob sich der Titel im Titel der Erzählung auf den Doktor der Medizin oder des Rechts bezieht. Da es aber der Erzählhaltung des Textes entspräche und der ›Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde‹ zudem mit dem streng juristischen »Henry Jekyll’s Full Statement of the Case« (47) schließt, sowie alle offenen Fragen mit einem versiegelten Geständnis (vgl. 62) klärt, ist zu vermuten, das mit dem ›Dr.‹ im Titel der Doktor des Rechts bezeichnet ist. 18 Auch die Erfindung der Mixtur, die Jekyll in Hyde verwandelt, verdankt sich einer übersteigerten Imaginationskraft. Zumindest, wenn man Jekylls altem Studienfreund und wissenschaftlichem Gegenspieler Dr. Lanyon Glauben schenkt: »But it is more than ten years since Henry Jekyll became too fanciful for me. He began to go wrong, wrong in mind« (14). 19 Edgar Allan Poe: »The Murders in the Rue Morgue« [1841], in: ders.: Poetry and Tales, New York 1984, S. 397-431, hier S. 400. 39

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Jekylls »a rather singular resemblance« fest: »the two hands are in many points identical: only differently sloped« (28). Dass der Identität von Jekyll und Hyde überhaupt auf die Spur zu kommen ist, dass es sich bei Stevensons Text also um eine mystery story handelt, ist vielleicht der signifikanteste Unterschied zwischen der Erzählung und ihren späteren Verfilmungen, denn in diesen steht die Tatsache, dass sich Jekyll und Hyde denselben Körper teilen, ja niemals in Frage, bilden doch gerade die Verwandlungen und Rückverwandlungen die tricktechnischen und emotionalen Höhepunkte, auf die die Handlungsstränge der Filme zusteuern. Während im Kino also die Sichtbarmachungen der Einheit der Differenz von Jekyll und Hyde die Dreh- und Angelpunkte des filmischen Geschehens bilden, ist es für die literarische Vorlage und das Voranschreiten ihres Plots konstitutiv, dass jede Form solcher Sichtbarkeit wenn schon nicht ganz aus dem Text, so doch an sein Finale (vor Jekylls abschließendes Statement) geschoben wird. Denn anders als in den Verfilmungen – in denen das Mysterium darin besteht, wie und wann die Metamorphosen statthaben, und der Konflikt darin, ob Dr. Jekyll Mr. Hyde als Phantom seiner selbst und Inkarnation seines triebhaften Bösen bezwingen kann – kommt die Erzählung, deren Mysterien sich vollständig aus der Kraft des Symbolischen, aus den Verschiebungen von Erzählperspektiven, der Verschachtelung von diegetischen Ebenen und der Verkettung von signifikanten Dokumenten speisen,20 in dem Moment an ihr Ende, in dem sich Mr. Hyde mit dem Schlusswort »behold!« (47) vor den Augen Dr. Lanyons in Dr. Jekyll verwandelt. Auch wenn sich diese Manifestation wiederum in einem Schriftstück unter der Überschrift »Dr. Lanyon’s Narrative« (41) vollzieht (einem Schriftstück, das dem Leser erst präsentiert wird, als Mr. Utterson sich zur ungestörten Lektüre des Dokuments in sein Büro zurückzieht, also nachdem bereits alles zu spät, alles bereits passiert ist),21 genügt solch eine narrativ vermittelte Evidenz aus zweiter Hand, um den Fall ›Jekyll/Hyde‹ im bzw. für das Medium der Literatur endgültig abzuschlie20 Diese Verschachtelungen und Verkettungen werden im Text durch einen »large envelope« symbolisiert, der »several enclosures« (40) enthält, die aber natürlich nicht wirklich etwas abschließen, sondern stattdessen rekursiv aufeinander verweisen und nur durch die unvermeidbare Linearität des gedruckten Buches in eine geordnete Abfolge gebracht werden. 21 Die Rahmenerzählung, die von Mr. Uttersons Versuchen, dem Geheimnis um die Identität Mr. Hydes und den seltsamen Verhaltensweisen seines Freundes Dr. Jekyll auf die Spur zu kommen, berichtet, endet mit den Worten: Utterson »trudged back to his office to read the two narratives in which this mystery was now to be explained« (41). An dieses Ende der Rahmenerzählung schließen sich übergangslos und ohne weitere Rahmung der Abdruck der erwähnten Dokumente ›Dr. Lanyon’s Narrative‹ und ›Henry Jekyll’s Full Statement of the Case‹ an. 40

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ßen22 und somit zu erfüllen, was die »matter-of-fact person«23 Utterson bereits zu Beginn ihrer Ermittlungen prophezeite: »If he could but once set eyes on him [Mr. Hyde], he thought the mystery would lighten and perhaps roll altogether away, as was the habit of mysterious things when well examined« (15). Im Aufschreibesystem 1900, unter dessen Bedingungen die Erzählung Stevensons entstanden ist, wird – so die Erkenntnislage technischer Medientheorien – »die Ersatzsinnlichkeit Dichtung ersetzbar, natürlich nicht durch irgendeine Natur, sondern durch Techniken.«24 »Der Film entwertet die Wörter, indem er ihre Referenten, diesen notwendigen, jenseitigen und wohl absurden Bezugspunkt von Diskursen, einfach vor Augen stellt.«25 Ob die Neuordnung der verschiedenen Massen- und Verbreitungsmedien um 1900 tatsächlich eine Entwertung und nicht doch eher eine Aufwertung der Wörter zur Folge hat, sei dahingestellt. Fest steht, dass der Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde den veränderten medientechnologischen und -soziologischen Bedingungen Rechnung trägt und exakt im Sinne der These Kittlers auf jede (visuelle) Referenz zu verzichten sucht. Besonders augenfällig wird die totale Abwesenheit jeglichen Augenfälligen in den Beschreibungen der Erscheinung und der Gestalt Mr. Hydes. So antwortet Mr. Enfield, mittels dessen Erzählung Hyde eingeführt wird, auf Mr. Uttersons Frage »What sort of a man is he to see?«: »I never saw a man I so disliked, and yet I scarce know why. He must be deformed somewhere; he gives a strong feeling of deformity, although I couldn’t specify the point. He’s an extraordinary looking man, and yet I really can name nothing out of the way. No, sir; I can make no hand of it; I can’t describe him. And it’s not want of memory; for I declare I can see him this moment.« (11 f.)

Dass weder die mangelnde poetische Phantasie Mr. Enfields noch das Fehlen eines Mr. Hydes Deformationen adäquatem Vokabular dafür verantwortlich gemacht werden können, dass sich die Gestalt Mr. Hydes einer beschreibbaren Sichtbarkeit entzieht, wird nach dem Mord, den dieser an Sir Danvers Carew begeht, deutlich. Zwar wird Hyde bei dem 22 Stevensons Text kann nur deswegen noch mit ›Henry Jekyll’s Full Statement of the Case‹ fortfahren und abschließen, weil dieses Statement bereits vor dem Ende des Erzählens, dem Ende der Rahmenerzählung verfasst worden ist. 23 Vladmir Nabokov: »Robert Louis Stevenson: ›The Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde‹«, in: ders.: Lectures on Literature, San Diego, New York, London 1980, S. 179-205, hier S. 192. 24 Kittler: Aufschreibesysteme 1800 • 1900 (Anm. 16), S. 310. 25 Ebd. 41

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Mord beobachtet, aber von der Dienerin, die ›alles gesehen‹ hat, heißt es (wie in den Geschichten, die kaum zehn Jahre später über die Zuschauer erzählt werden, die den ersten öffentlichen Filmvorführungen beiwohnen): »At the horror of these sights and sounds, the maid fainted«. Ihre Beschreibung Hydes als »particularly small and particularly wickedlooking« (22) ist kaum aussagekräftiger als diejenige Mr. Enfields. Als dann »handbills« (24) in Umlauf gebracht werden sollen, um nach dem Mörder zu fahnden, fällt auf, dass von dem Mörder Hyde, der sich in der Regel ungesehen durch die nebligen Straßen Londons schleichen kann, da er nach Aussagen von Jekylls Diener »mostly comes and goes by the laboratory« (18), kein Fahndungszettel angefertigt werden kann, denn: »he had never been photographed« (24). Die Gestalt aus Dr. Jekylls Labor entzieht sich nicht nur den klassischen Aufzeichnungs- und Speichermedien des menschlichen Geistes, sondern entwischt darüber hinaus auch modernen technischen Medien wie der Fotographie. Dass sich die Erscheinung Mr. Hydes jeder genaueren visuellen Repräsentation bzw. Beschreibung seiner Person verweigert, findet auch in dem einzigen spezifischeren Merkmal, mittels dessen alle Augenzeugen Mr. Hyde charakterisieren, Ausdruck: Mr. Hyde wird einhellig als außergewöhnlich klein beschrieben. Es scheint, dass sich u.a. deswegen niemand von Mr. Hyde ein genaues Bild machen kann, weil dieser so klein ist, dass man ihn schlicht übersieht. So überraschend es angesichts der Ikonographie erscheinen mag, die sich in Film, Fernsehen und Comic bis heute in unzählbaren Bildern des Dr. Jekyll/Mr.Hyde-Mythos angenommen hat und Mr. Hyde stets als mindestens ebenso groß wie Dr. Jekyll, meist aber eher als größer, gewaltiger und kräftiger vor- und darstellt (vgl. Abb. 1): der erste Auftritt Edward Hydes in Alan Moores postmodernem Pastiche viktorianischer Populärkultur The League of Extraordinary Gentlemen): Dass Mr. Hyde in der literarischen Vorlage Stevensons ein »dwarf« (36) ist, ergibt sich logisch aus Anlage und Forschungsziel der Jekyllschen Selbstversuche. Anders als die späteAbb. 1: Mr. Hyde in Alan Moores The ren Verfilmungen suggerieren, stehen League of Extraordinary Gentlemen sich in der Erzählung mit Dr. Jekyll

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und Mr. Hyde nicht das Gute und das Böse eines Menschen gegenüber, denn die Droge, die Jekyll in langwierigen Experimenten entwickelt, spaltet den Menschen nicht in zwei gleiche Teile auf, sondern gibt lediglich den »lower elements in [the] soul« (50) körperliche Gestalt, so dass der gesamten Person, dem »incongruous compound« (52) mit dem Namen Dr. Jekyll eine Manifestation der bösen Anteile mit dem Namen Mr. Hyde gegenübertritt. Dem ganzen Menschen tritt ein Teil, das »pure evil« (51) seiner selbst entgegen. Dieses Verhältnis von Teil (Hyde) zum Ganzen (Jekyll) lässt auch die geringe Körpergröße Hydes erklärbar werden. Dr. Jekyll erläutert: »The evil side of my nature […] was less robust and less developed than the good which I had just deposed. Again, in the course of my life, which had been, after all, nine tenths a life of effort, virtue and control, it had been much less exercised and much less exhausted. And hence, as I think, it came about that Edward Hyde was so much smaller, slighter and younger than Henry Jekyll.« (51)

Da ein solches Größenverhältnis (und insbesondere der Umstand, dass das Gefährliche, Brutale und Böse, das Mr. Hyde verkörpern soll, durch einen Zwerg dargestellt werden soll) den Gesetzen visueller Darstellungslogik entgegensteht und zudem die technischen Möglichkeiten der Kinematographie vorerst unterläuft, kommt es bei den Zuschauern in den Kinosälen erst gar nicht an. Der Mr. Hyde des Kinos ist immer schon genauso groß wie Dr. Jekyll. Und dieser Repräsentation der äußeren Gestalt passt sich auch die Darstellung des Innenlebens der beiden Figuren an: Von der ersten Verfilmung an ist Mr. Hyde nicht nur genauso groß wie Dr. Jekyll, er ist auch genauso böse wie dieser gut ist.

Zwischenspiel auf dem Theater: Mansfields Dr. Jekyll and Mr. Hyde (1887-1907) Bevor aber die Transformation Dr. Jekylls in Mr. Hyde zum ersten Mal auf die Kinoleinwand projiziert werden sollte, nahm sich ein anderes visuell darstellendes Medium des Stevensonschen Menschenversuches an. Bereits ein Jahr nach Veröffentlichung des Buches erfuhr Dr. Jekyll and Mr. Hyde am 9. Mai 1887 seine Uraufführung als Theaterstück.26 Die Titelrolle spielte der durch Shakespeare-Darstellungen und Operetten berühmte Richard Mansfield (1857-1907), welcher – trotz der Skepsis 26 Vgl. zu dieser Uraufführung und vor allem zu den Veränderungen, die Sullivan für seine Bühnenadaption gegenüber dem Original vornimmt C. Alex Pinkston, Jr.: »The Stage Premiere of Dr. Jekyll and Mr. Hyde«, in: Stevenson: Dr. Jekyll and Mr. Hyde (Anm. 3), S. 152-157. 43

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Thomas Sullivans, der die Theateradaption der Erzählung schreiben sollte und die Möglichkeit einer schauspielerischen ernstzunehmenden Darstellung von Jekyll/Hyde grundsätzlich bezweifelte – der festen Überzeugung war, dass er mit der Rolle seine darstellerischen Fähigkeiten zur Geltung und seine Karriere auf eine neue Stufe bringen könnte. Mansfields Einschätzung sollte sich als die richtige erweisen: Bis zu seinem Todesjahr 1907 tourte er zwanzig Jahre lang mit seiner Interpretation des Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde außerordentlich erfolgreich durch die Vereinigten Staaten und Großbritannien. Allerdings verdankte sich der Erfolg nicht allein Mansfields Schauspielkunst. Auch wenn diese von der Kritik allseits gelobt wurde, verwendete Mansfield während der Aufführung allerlei Special Effects und bediente sich insbesondere verschiedener Lichtspiele, um seine darstellerische Performance zu unterstützen und die Dramatik des Geschehens besser zur Geltung zu bringen. Während Jekyll/Mansfield seinen Monolog über das verzweifelte und gefährliche Dasein des genialischen Wissenschaftlers »before the red glow of the fireplace« hält, um »Jekyll’s Faustian preoccupation with unknown and demonic forces«27 anzudeuten, finden die Szenen mit seiner Verlobten Agnes, die Sullivan gegenüber Stevensons Vorlage eigens einfügte, um den Publikumserwartungen an das Theater besser entsprechen zu können, vor einer angemessen romantischen Ausleuchtung der Bühne statt: »the lights dimmed, and warm-colored calciums slowly gave way to blues, suggesting a setting sun«.28 Besonderes Augenmerk galt aber naturgemäß den Metamorphosen von Dr. Jekyll in Mr. Hyde und umgekehrt. Die Verwandlungsfähigkeit Mansfields beeindruckte Zuschauer wie Kritiker derart, dass viele den (heimlichen) Einsatz von Make-up und sogar das Gesicht entstellender Säure vermuteten, obwohl Mansfield stets beteuerte, dass er keinerlei Hilfsmittel zur Darstellung von Mr. Hyde einsetzte. Tatsächlich war aber das einzige Blendwerk, das bei den Aufführungen Mansfields zum Einsatz kam, dasjenige, welches an den Scheinwerfern des Theaters befestigt war: »It is possible that those who believed they saw a change in make-up were actually responding to a change in light. […] [A]ll Hyde’s appearances were lit with green calciums. […] [W]hen Hyde underwent a change to Jekyll […], a spezial warm light was made to fall on Mansfield as Jekyll.«29

27 Ebd., S. 154. 28 Ebd. 29 Ebd., S. 155. 44

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Durch solche Lichtspiele wird deutlich, dass das Theater auf dem Weg von den Augentäuschungen der Taschenspieler und Zauberkünstler zu den Tricks eines Kino-Magiers wie Méliès30 nicht nur in einem dramaturgischen, sondern auch in einem technischen Sinne eine maßgebliche Etappe bildet.31 Dies wird mit Blick auf die Fotografie bzw. eine bestimmte Fotografie (Abb. 2), die von Richard Mansfield zu Werbezwecken aufgenommen wurde, noch offensichtlicher. Die zwei Hälften der Doppelrolle, die Mansfield auf dem Theater so grandios, aber dennoch nur in zeitlichem Nacheinander spielen konnte, werden mittels Doppelbelichtung in räumliche und zeitliche Kontiguität gesetzt. Auf diese Weise antizipiert die Werbung für das Theater einen derjenigen kinematographischen Taschenspielertricks (eben die Mehrfachbelichtung oder auch die Überblendung), der gerade in Abb. 2: Werbefotografie für die Bühden Dr. Jekyll and Mr. Hyde-Filmen nenadaption von Dr. Jekyll and Mr. Hyde, Boston 1887 immer wieder zum Einsatz gebracht wird.

Kino I: Robertsons DR. JEKYLL AND MR. HYDE (1920) 1908, also ein Jahr nach Mansfields letztem Auftritt im Theater, ist es dann soweit: Dr. Jekyll und Mr. Hyde erobern die Leinwand. Bis 1920 ist die Geschichte von Dr. Jekylls Selbstversuch bereits in 17 verschiedenen Versionen auf Zelluloid gebannt worden, die sich allesamt nicht auf Ste30 Vgl. Kittler: Grammophon Film Typewriter (Anm. 8), S. 183, der mit Blick auf die Trägheit des menschlichen Auges und die Erforschung des Nachbildeffekts bzw. die Implementierung dieses Effekts im kinematographischen Apparat formuliert (dabei aber eben die Augentäuschungen, die das Kino aus Theater und Photographie übernehmen konnte, vernachlässigt): »Das System möglicher Augentäuschungen mußte aus einem Wissen von Magiern und Zauberkünstlern wie Houdini zu einem Wissen von Physiologen und Ingenieuren werden.« 31 Vgl. Zum Übergang theatraler Aufführungspraktiken zu Filmtechniken Johann N. Schmidt: »Vom Drama zum Film. ›Filmische‹ Techniken im englischen Bühnenmelodram des neunzehnten Jahrhunderts«, in: Harro Segeberg (Hg.): Die Mobilisierung des Sehens. Zur Vor- und Frühgeschichte des Films in Literatur und Kunst. Mediengeschichte des Films Band 1, München 1996, S. 261-277. 45

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vensons prosaische Vorlage, sondern auf die Bühnenadaption Mansfields beziehen und entsprechend auch weniger an einer narrativen Umsetzung des Wissenschaftlerdramas und seinen symbolischen Verschiebungen als an der eigenen Faszination für das Doppelgängermotiv und seiner filmtechnischen Umsetzung interessiert sind.32 Die Attraktion ist das Medium selbst. Dass ein einziger Trick, nämlich die Fähigkeit, den unbewussten Anderen in die Realität eines Massenmediums projizieren und damit eine psychoanalytische Metapher auflösen und in die optische Tat umsetzen zu können, für eine abendfüllende Unterhaltung nicht hinreicht, machen diese Filme aber auch klar: Die meisten sind kaum länger als eine Viertelstunde.33 Narrativ integriert34 und somit spielfilmtauglich wird dieser Trick dann erstmals 1920 mit John Stuart Robertsons Verfilmung von DR. JEKYLL AND MR. HYDE. An die Seite des einen Tricks, der spektakulären Verwandlung und Verdopplung von Dr. Jekyll, treten mehrere weitere Tricks. Der erste dieser Tricks, der den Zuschauer in eine andere Welt führt, scheint so alt wie die Optik selbst zu sein und lässt den Zuschauer durch das optische Medium blicken, das seit dem 17. Jahrhundert emblematisch für wissenschaftliche Verfahren der Sichtbarmachung des Unsichtbaren und des Unbegreifbaren einsteht, nämlich durch das Mikroskop. Der Film zeigt nicht nur Dr. Jekyll bei der Arbeit, beim Blick durch das Mikroskop (Abb. 3), sondern verlässt die heterodiegetische Ebene und zeigt, was Dr. Jekyll im Mikroskop sieht (Abb. 4). Dadurch, dass dieser Blick mehrfach wiederholt und auch gezeigt wird, was Jekylls wissenschaftlicher Kritiker Dr. Lanyon im Mikroskop sieht (näm32 Zur Geschichte des frühen Kinos und zur Archäologie des Repräsentationsmodus des Hollywood-Kinos vgl. Noël Burch: Life to those Shadows, Berkeley, Los Angeles 1990. 33 Vgl. zur Transformation solcher Kurzfilme in das Erzähl-Kino in den 1910er Jahren Harro Segeberg (Hg.): Die Modellierung des Kinofilms. Zur Geschichte des Kinoprogramms zwischen Kurzfilm und Langfilm (1905/06-1918), München 1998. 34 Mit dem ›Kino der narrativen Integration‹ ist das Gegenmodell zum ›Kino der Attraktionen‹ angesprochen, welches weniger Gewicht auf das Darstellen und eben mehr auf die Narration legt und das Spektakuläre, das Theatrale, das Performative und das Showhafte, welches das frühe Kino kennzeichnet, in das Imaginäre seines Erzählens zu integrieren sucht. Vgl. zur Entwicklung des klassischen Erzählkinos André Gaudreault: »Showing and Telling: Image and Word in Early Cinema«, in: Elsaesser, Early Cinema (Anm. 7), S. 274-281 sowie umfassender und vor allem mit dem Hinweis, dass der Wandel zum narrativen Kino mit einer Neuformatierung des Zuschauers einhergeht Thomas Elsaesser: »Wie der frühe Film zum Erzählkino wurde. Vom kollektiven Publikum zum individuellen Zuschauer«, in: ders.: Filmgeschichte und frühes Kino. Archäologie eines Medienwandels, München 2002, S. 69-93. 46

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lich – gemäß den Kriterien der Objektivität wissenschaftlicher Bildlichkeit – genau dasselbe wie Jekyll), vermittelt der Film die Illusion, dass die Kinematographie durch eine solche (populäre) Sichtbarmachung der (wissenschaftlichen) Sichtbarmachung offenbaren könne, was die Wissenschaftler in ihren geheimen Laboratorien erforschen. Die Tatsache, dass letztlich unerkennbar bleibt, was das Mikroskop vergrößert, scheint gegenüber der Tatsache, dass überhaupt etwas erkennbar ist, was dem bloßen Auge ohne optische Hilfsmittel nicht wahrnehmbar wäre, sekundär. Das mikroskopische Bild lässt der Film vollkommen unkommentiert. Seine Existenz alleine ist offensichtlich sensationell genug, um wissenschaftliche Forschung in ihrer ganzen Evidenz vor Augen zu stellen.

Abb. 3: Der Wissenschaftler bei der Arbeit

Abb. 4: Medien in Medien – Das Kino als Medium der Mikroskopie, die Mikroskopie als Medium des Unfassbaren

Um auch Dr. Jekylls Motivationen, die schließlich stark genug sind, um ihn zu einem außerordentlich gefährlichen Selbstversuch zu verleiten, ähnlich evident präsentieren zu können, bedient sich der Film einer Sensation ganz anderer Art. Hatte bereits die Theateradaption Sullivans gegenüber dem »all-male pattern«35 der Erzählung mit Jekylls Verlobter Agnes (im Film Millicent Carew) eine Frauenfigur eingeführt, die die Inszenierung melodramatischer Verwicklungen erlaubte, geht Robertsons DR. JEKYLL AND MR. HYDE noch einen Schritt weiter, indem er mit der Tänzerin Miss Gina eine weitere Frau in das Liebesleben Jekylls einarbeitet. Dr. Jekyll und sein alter ego Mr. Hyde stehen im Film nun nicht mehr einer geliebten Verlobten gegenüber, sondern einer Geliebten und einer Verlobten. Die Dualisierung Jekylls verdoppelt sich in der Dualisierung seines weiblichen Gegenübers, denn vergleichbar zu der Stellung, die Mr. Hyde Jekyll gegenüber als sein verdrängter, gewalttätiger und triebhafter Persönlichkeitsanteil einnimmt, präsentiert der Film auch Miss Gina, die italienische Varieté-Tänzerin. Während die Verlobte stets keusch und hochgeschlossen dargestellt wird, die meiste Zeit auf ihren

35 Nabokov: »Dr. Jekyll and Mr. Hyde« (Anm. 23), S. 194. 47

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geliebten Jekyll wartet und dieses Warten mit der Lektüre von Briefen und Telegrammen ihres Verlobten – also in der klassischen Ikonographie der liebenden Frau des 18. und 19. Jahrhunderts (Abb. 5) – überbrückt, wird Miss Gina mit tiefem Ausschnitt und ausladenden Tanzbewegungen vor allem mit ihrem Körper identifiziert (Abb. 6) und repräsentiert so die Erfüllung allen sexuellen Begehrens, welches Dr. Jekyll in seiner Verlobung nicht erfüllt sieht. Das unsichtbare und unbewusste homosexuelle Begehren, welches dem Text mit seinem absoluten Mangel an Frauenfiguren und seiner ständigen Thematisierung männlicher »bonds« unterliegen mag,36 hat sich im Film in bewusste und sichtbare heterosexuelle Phantasien verwandelt.

Abb. 5: Die Verlobte bei der Lektüre – Medien in Medien 2

Abb. 6: Die Geliebte beim Tanz – Kino der Attraktionen

Der Film verliert zwar auf der einen Seite gegenüber der Erzählung an Komplexität, indem er Jekylls unbewusstes Begehren und all die symbolischen Verrätselungen, die der Text aus dem Geheimnis der Identität von Jekyll und Hyde entstehen lässt, in plane Sichtbarkeit überführt und die moralischen Fragen, die sich Dr. Jekyll mit Blick auf sein Experiment bezüglich seiner Motivation und Verantwortung als Wissenschaftler stellen muss, zugunsten seiner (in der Figur der Tänzerin Gina darstellbaren) sexuell unerfüllten Wünsche als Triebfeder des Selbstversuchs verabschiedet. Auf der anderen – der visuellen – Seite gewinnt Robertsons Film aber gegenüber der Erzählung an Komplexität, da er die Duplizierung des begehrenden, männlichen Subjekts verdoppelt, indem er dem Doppel Jekyll/Hyde nicht nur ein begehrtes, weibliches Objekt gegenüberstellt, sondern dieses Objekt wiederum in Millicent/Gina dupliziert. Auf diese Weise vervielfachen sich die Beziehungen, die Jekyll als Ausgangspunkt all dieser Spaltungen und Verdopplungen zu sich selbst als Wissenschaftler, Verlobter und Verliebter unterhält, ins Unüberschauba-

36 Vgl. zu einer solchen Interpretation der Erzählung Katherine Linehan: »Sex, Secrecy, and Self-Alienation in Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde«, in: Stevenson: Dr. Jekyll and Mr. Hyde (Anm. 3), S. 204-213. 48

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re, da sowohl Jekyll als auch Hyde mit jeweils beiden Frauenfiguren interagieren, so dass die Dublette Millicent/Gina nicht einfach als Spiegelung, als seitenverkehrte, Subjekt und Objekt vertauschende Übertragung der Dublette Jekyll/Hyde (bzw. moralische Vernunft/triebhaftes Begehren) symbolisch aufgelöst werden kann. Die Verhältnisse, welche die vier Figuren zueinander unterhalten, zeitigen vielmehr Wirkungen im Realen (und das bedeutet für den Film als Medium des Imaginären: im Plot – Jekyll begehrt Gina; Hyde beginnt ein Verhältnis mit Gina; Jekyll entfernt sich von Millicent; Gina sucht Hilfe bei Jekyll; Hyde ist eifersüchtig auf Jekyll usw.), die so verwickelt sind, dass Ordnung nur noch durch den Tod Hydes und seine anschließende Rückverwandlung in Jekyll, die inzwischen zum ikonographischen Klassiker geworden ist, wiederhergestellt werden kann. So komplex die Realität der Projektionen im Film die Figuren- und Begehrenskonstellation werden lässt, welche in Stevensons Text geheim, unbewusst oder teilweise auch schlicht nicht existent ist, so simpel wird der Film, wenn er selbst für solche Konstellationen Symbole, wenn er für Jekylls Unbewusstes Bilder zu finden versucht. Wie um zu demonstrieren, dass optisch und psychisch Unbewusstes eben doch nicht einfach so kongruent ist, wirken die Überblendungen, die der Film vornimmt, um Jekylls Innenleben nach außen zu stülpen, vollkommen unmotiviert und bleiben ohne Zusammenhang zum restlichen filmischen und schauspielerischen Geschehen. Die Visualisierung des inneren Kampfes zwischen Über-Ich und Ich (Abb. 7) bzw. des Sieges des Es über das Ich (Abb. 8) sind noch zu eindeutig erkennbar Zitate aus dem Schatz der populären Psychoanalyse, als dass sie diegetisch integriert und als etwas anderes als bloßer Spezialeffekt verstanden werden könnten.

Abb. 7: Das Ich und das Über-Ich: Überblendung von Dr. Lanyon

Abb. 8: Das Ich und das Es: Überblendung der Hyde-Spinne

Kino II: Malmoulians DR. JEKYLL AND MR. HYDE (1932) Auch für die Verfilmung Rouben Malmoulians aus dem Jahr 1932 spielen Spezialeffekte eine entscheidende Rolle. Der vielleicht wichtigste Effekt betrifft den Ton, denn dieser muss nun nicht mehr live während der 49

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Aufführung produziert werden, sondern findet erstmals auf dem Zelluloid selbst seinen Ort: Malmoulians DR. JEKYLL UND MR. HYDE ist die erste Tonfilm-Version des viktorianischen Selbstversuchs. Auf diesem vielleicht zweitgrößten Spezialeffekt der Filmgeschichte (nach der Tatsache, dass sich die Bilder überhaupt bewegen) lässt es der Film aber keineswegs beruhen, denn Malmoulians Verfilmung geizt auch nicht mit visuellen Effekten. So beobachtet der Zuschauer zu Beginn des Films Dr. Jekyll auf dem Weg von seiner Residenz in den Vorlesungssaal, in dem er die Grundlagen seines Persönlichkeitsexperiments erläutern wird, nicht aus einer Außenperspektive, sondern nimmt die durch die Verwendung der subjektiven Kamera und einer Kreisblende simulierte Sicht Dr. Jekylls ein. Ins Bild gesetzt wird zunächst nicht der Protagonist des Films, vielmehr setzt der Film in der langen Kamerafahrt sich selbst bzw. die apparative Bedingung seiner Möglichkeit in Szene. Der ›Point of View-Shot‹, der in der Theorie illusionistisch wirken soll, indem er die Realitätssättigung des Kinos durch die Vorführung einer Innenperspektive steigert, bringt seine mediale Verfasstheit auf die Leinwand und wirkt damit anti-illusionistisch, weil der gezeigte Ausschnitt offensichtlich nicht dem Blickwinkel eines Menschen, sondern nur demjenigen der kinematographischen Maschine entsprungen sein kann.37 Derjenige, aus dessen Perspektive angeblich geschaut wird, ist zunächst nur als Stimme präsent. Ins Bild – und das bedeutet im Kino ›zur Welt‹ – kommt Dr. Jekyll mittels des ältesten Tricks des imaginären Registers, mit der Hilfe eines Spiegels (Abb. 9). Beklagt Dr. Jekyll in Stevensons Erzählung noch: »There was no mirror […] in my room«,38 gehört der Spiegel spätestens seit Malmoulians Version zum festen ikonographischen Bestandteil aller Dr. Jekyll und Mr. Hyde-Verfilmungen. Der Spiegel symbolisiert in diesen Verfilmungen aber nicht nur das Wechselspiel von Verkennen und Erkennen (ein Spiel, welches Lacan in seinem Aufsatz über das Spiegelstadium bekanntlich als Dialektik zwischen moi und je, zwischen der Gestalt einer ›orthopädischen Ganzheit‹ und dem Wissen über das Ungenügen des zerstückelten Körpers gegenüber einer dermaßen projizierten Realität beschrieben hat), sondern verkörpert darüber hinaus die Verwandlungen von Jekyll in seinen triebhaften Anderen, Hyde. 37 Dass die Illusion der subjektiven Perspektive nicht trägt, ist auch der Tatsache geschuldet, dass der subjektiven Kamerafahrt nicht – wie üblich – eine Aufnahme eines schauenden Protagonisten, die die entsprechende Blickperspektive etabliert, vorangestellt ist. Vgl. zu Fragen der Relation der Perspektive des Filmpersonals und der Kameraperspektive Edward Branigan: Point of View in the Cinema: A Theory of Narration and Subjectivity in Classical Film, New York 1984. 38 Stevenson: Dr. Jekyll and Mr. Hyde (Anm. 3), S. 50. 50

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Der Spiegel verkörpert diese Metamorphosen sogar im buchstäblichen Sinne, da er tatsächlich der filmische Ort dieser Metamorphosen ist, denn die Verwandlungen finden nicht vor der Kamera, sondern stets im Spiegel, den die Kamera filmt, statt. In den beiden klassischen Verfilmungen von 1932 und 1941 finden alle Verwandlungen in medialer Verdopplung, im Spiegel und vor der Kamera statt (vgl. Abb. 10, 13 und 14), so dass der Zuschauer nicht die Verwandlung selbst beobachtet, sondern beobachtet, wie sich Dr. Jekyll bei seiner Transformation beobachtet. Dass die Verwandlung als Spiegelszene inszeniert wird, die in Malmoulians Version noch eigens dadurch hervorgehoben wird, dass eine vor dem Spiegel aufgestellte Kerze – im Gegensatz zu Jekyll/Hyde, vom dem nur dessen Spiegelbild zu sehen ist – doppelt, als reale und gespiegelte im Filmbild wiedergegeben wird (vgl. Abb. 9 (in Jekylls Haus) und 10 (in Jekylls Labor)), setzt in der Realität des Films um, was die Psychoanalyse in der Theorie des Spiegelstadiums als imaginären Mechanismus beschreibt. Das Verhältnis von Jekyll und Hyde, in dem je nach Perspektive unklar ist, wer wen als ungenügend empfindet, wer als wessen Verkehrung zu gelten hat, lässt das Spiegelstadium als Identifikationsprozess erkennbar werden, »als eine Identifikation […] im vollen Sinne, den die Psychoanalyse diesem Terminus gibt: als eine beim Subjekt durch die Aufnahme eines Bildes ausgelöste Verwandlung«.39

Abb. 9: Das Kino im Spiegelstadium 1: Das Verkennen

Abb. 10: Das Kino im Spiegelstadium 2: Die Verwandlung

Was solche Verwandlungen von Psychoanalyse in Film und umgekehrt deutlich machen, ist, dass das Diktum Kittlers, nach dem »Freud […] das Unheimliche der Romantik in Wissenschaft und Méliès in Unterhaltungsindustrie«40 überführt hat, tatsächlich nur für das frühe Kino Gül39 Jacques Lacan: »Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint. Bericht für den 16. Internationalen Kongreß für Psychoanalyse in Zürich am 17. Juli 1949«, in: ders.: Schriften I, Weinheim, Berlin 1991, S. 61-70, hier S. 64. 40 Kittler: Grammophon Film Typewriter (Anm. 8), S. 230. 51

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tigkeit beanspruchen kann. Im klassischen Hollywoodkino dagegen ist die Wissenschaft als das Unheimliche zur Unterhaltungsindustrie geworden, d.h. sowohl das psychisch Unbewusste, auf das sich die Romantik und die Psychoanalyse beziehen, als auch das optisch Unbewusste, welches den Forschungsgegenstand der Psychophysiker bildet, deren Erkenntnisse sich wiederum die Spezialeffekte der Kinomagier von Méliès bis Hitchcock zunutze machen, sind in einen Plot integriert. DR. JEKYLL UND MR. HYDE geht sogar insofern noch einen Schritt weiter, als der Film das psychisch wie das optisch Unbewusste nicht nur in einen Plot integriert, sondern beide zum Plot selbst macht, denn das Narrativ des Films lebt ausschließlich von der Sichtbarmachung bzw. der Gestaltwerdung von Jekylls verdrängtem Triebschicksal in Hyde einerseits und der trick- bzw. schauspieltechnischen Entfaltung dieser Differenz und ihrer Transformationen andererseits. Kann bereits in diesem Zusammenhang kaum noch von einem Unbewussten die Rede sein, da die in der Theorie im Unbewussten zu verortenden Mechanismen und Gestalten auf der Oberfläche ausgestellt werden und nicht mehr im Dunkel der Psyche, sondern im Licht des Projektors operieren, so gilt dies in noch größerem Maße für die Objekte des Jekyll/Hydeschen Begehrens. Gina und Millicent heißen elf Jahre nach Robertsons Verfilmung zwar Ivy und Muriel, bilden aber auch 1932 immer noch die Dreh- und Angelpunkte des Geschehens. Gegenüber ihren Vorgängerinnen im Stummfilm ist ihre Attraktionskraft allerdings deutlich erhöht worden. Neuerungen in der Tricktechnik ermöglichen es, das Verhältnis der beiden Gegenspielerinnen besser in Szene zu setzen und vor allem die jeweiligen Reize Ivys bzw. Muriels können nun in Nahaufnahmen viel besser zur Geltung gebracht werden als noch 1920. Der 1927 (im Film NAPOLEON) erstmals in der Filmgeschichte eingesetzte Split Screen erlaubt es nun, die beiden Frauenfiguren, obwohl sie sich an verschiedenen Orten aufhalten (Muriel im großbürgerlichen Salon und Ivy in der von Mr. Hyde finanzierten Mätressenwohnung), zur selben Zeit auf die Leinwand zu bringen und derart als Verdopplung des Doppelgängerpaars Jekyll/Hyde und gleichzeitig als Spaltung des Liebesobjekts eindeutig vor Augen zu führen. Während Ivy noch den Brief, mit dem der Philanthrop Jekyll ihr 50 Pfund zugeschickt hat, um sein Gewissen zu beruhigen, in der Hand hält, macht Jekyll seiner Verlobten Muriel in der zweiten Bildhälfte eine Liebeserklärung und versucht, ihr sein merkwürdiges Verhalten und seine langen Abwesenheiten zu erläutern (vgl. Abb. 11). Entsprechend dieser Verdopplung/Spaltung, dieser Dichotomie zwischen romantischer Liebe und unerfülltem sexuellem Begehren auf der Seite der Verlobten und der Geliebten als reinem Lustobjekt, als Gegen-

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DIE VERWANDLUNGEN VON DR. JEKYLL UND MR. HYDE

stand der Jekyll/Hydeschen Triebabfuhr werden den beiden Frauen je unterschiedliche visuelle Attribute in Close Ups zugeordnet. Während von der Verlobten Muriel vor allem Nahaufnahmen vom Gesicht und insbesondere von den tiefen und traurigen Augen (die in einer Szene auch aus der subjektiven Sicht Jekylls gefilmt werden) zu sehen sind, werden von Ivy vor allem ihre sekundären bis primären Geschlechtsmerkmale in Großaufnahme nahezu pornografisch ins Bild gesetzt (vgl. Abb. 12).41

Abb. 11: Dr. Jekyll zwischen Ivy und Muriel – Die Verdopplung des Doppelgängerpaars im Split Screen

Abb. 12: Dr. Jekyll untersucht Ivys Oberschenkel – Kino der Attraktionen 2

Die Sequenz, in der Jekyll Ivy kennen lernt und auf ihr Zimmer begleitet, um sie ›ärztlich zu behandeln‹, endet mit einem Close Up ihres hin- und herschaukelnden Beines und eines Strumpfbandes, welches geradezu als Demarkationslinie fungiert und zur Grenzüberschreitung einlädt. Diese Aufnahme wird im Film immer wieder als visuelles Symbol der triebhaften Anteile Jekylls zitiert und figuriert als solches auch in den Verwandlungsszenen. In diesen Szenen wird der Blick in den Spiegel immer wieder von der ›subjektiven Sicht‹ Jekylls unterbrochen, deren durch die Wirkung des Trunks gestörte Wahrnehmung durch eine karusellartige Drehung der Kamera um ihre Achse – die die Konturen des Raums verschwimmen lässt – und verschiedene Überblendungen – deren Material sich aus Erinnerungen Jekylls bzw. Rückblenden speist – simuliert wird. Ganz in der Tradition von Robertsons Stummfilm symbolisieren die Überblendungen den Kampf zwischen Über-Ich und Es, in dem die männlichen Figuren (Dr. Lanyon, Muriels Vater und Jekylls Butler) an die Moral und das Verantwortungsbewusstsein zu appellieren scheinen, während die weiblichen Figuren (die zur Geduld mahnende Muriel und die ewig lockende Ivy) wohl Jekylls unterdrücktes Begehren verkörpern sollen. Schluss- und Höhepunkt dieses phantasmagorischen Kampfes ist 41 Entsprechend fielen viele solcher Szenen in den USA dem Schnitt der Zensur zum Opfer. In Deutschland wurde der Film während des NS-Regimes ganz verboten. Für die Wiederaufführung des Films im Jahr 1935 entfernte Paramount freiwillig 14 Minuten. 53

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das bereits erwähnte schaukelnde Bein Ivys. Es ist das letzte, was Jekyll vor seinem inneren Auge betrachtet, bevor er im Spiegel sieht, dass er sich in Hyde verwandelt hat. Ganz im Gegensatz zu der Stummfilmversion, in der die Figuren des Über-Ichs und des Es in den realen Raum projiziert werden (Abb. 7 und 8) und die somit Jekyll (oder auch den Kinozuschauer) als Psychotiker darstellt, sind alle Figurationen psychischer Instanzen, welche die Version von 1932 in das Kamerakarussell einblendet, eindeutig im Innenraum von Jekylls Vorstellungen verortet. Die psychoanalytischen Anklänge des Films mögen somit zwar stellenweise ein wenig albern anmuten, sind aber diegetisch integriert und brechen nicht aus dem narrativen Gefüge der Filmhandlung aus.

Kino III: Flemings DR. JEKYLL AND MR. HYDE (1941) Dennoch musste Malmoulians Film aus dem Bewusstsein des Publikums verdrängt werden und aus den Kinosälen verschwinden. 1941 erwarb Metro-Goldwyn-Mayer die Rechte für den Film und sorgte dafür, dass er bis 1967 auf keiner Leinwand (und keinem Bildschirm) mehr gezeigt wurde, so dass MGMs Remake unter der Regie von Victor Fleming und mit Spencer Tracy in der Titelrolle auf keine Konkurrenz stoßen konnte. Legte die Fassung von 1932 noch großen Wert auf kinematographische Innovationen, spielen Spezialeffekte und filmtechnische Sensationen in der Version Flemings kaum mehr eine Rolle. Sie treten vollständig in den Dienst der Handlung bzw. hinter die schauspielerischen Darbietungen zurück. Der Trailer zum Film bewirbt ihn zwar noch als Jahrmarktsattraktion und verhüllt sogar jeden Auftritt von Mr. Hyde, so dass dieser während des ganzen Trailers nicht sichtbar wird, um mit dem Hinweis zu schließen: »We have deliberately camouflaged the appearance of ›Mr. Hyde.‹ After you have seen Spencer Tracy’s startling characterization, please do not reveal it to your friends, lest you lessen their enjoyment of new show season’s first dramatic hit!«

Die Differenz zwischen Spencer Tracys Darstellung von Dr. Jekyll und seiner Interpretation von Mr. Hyde stellt sich aber als deutlich weniger dramatisch dar, als durch die Ankündigung im Trailer zu vermuten gewesen wäre, und beruht lediglich auf den schauspielerischen Fähigkeiten Spencer Tracys und einigen wenigen Make-Up-Effekten (vgl. Abb. 13 und 14). Dem Urteil Borges’ über die Verfilmung von 1941, nach dem Flemings Adaption »mit unheilvoller Untreue die ästhetischen und moralischen Entgleisungen der Version (der Perversion) Mamoulians wieder-

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DIE VERWANDLUNGEN VON DR. JEKYLL UND MR. HYDE

holt«,42 kann also nur eingeschränkt zugestimmt werden. Zwar ist der Plot in beiden Filmen im Großen und Ganzen der gleiche und auch die Figurenkonstellation, in der Jekyll/Hyde zwei Frauen gegenüberstehen, ist die gleiche geblieben. Dennoch sind sowohl ästhetisch als auch moralisch deutliche Unterschiede erkennbar, denn es sind weder die überraschenden Spezialeffekte und technischen Tricks noch die offensiv zur Schau gestellten Reize der Schauspielerinnen, durch die Flemings Fassung seine Attraktivität bezieht, vielmehr versucht der Film sein Pathos und seine Dramatik einzig aus psychologischen Konflikten zu generieren. Diese Veränderung zu Malmoulians Fassung findet nicht nur in der Besetzung der weiblichen Hauptrollen mit Lana Turner als keusche Verlobte und Ingrid Bergmann als verruchte Geliebte,43 sondern vor allem – wen sollte es überraschen – in den Verwandlungsszenen ihren Ausdruck.

Abb. 13: Kino im Spiegelstadium 3 – Mr. Hyde ist die Krawatte verrutscht

Abb. 14: Kino im Spiegelstadium 4 – Dr. Jekyll rückt die Krawatte zurecht

Die Verwandlungsszenen verfügen so souverän über psychoanalytische Deutungsmuster und bedienen sich bei der Komposition ihrer Sequenzen so routiniert bei Mechanismen wie der Verdichtung und der Verschiebung, als sei Freuds Traumdeutung nie etwas anderes als eine Art ›picture show‹ und als sei das Kino nie etwas anderes als eine Art ›showing cure‹ gewe42 Jorge Luis Borges: »Dr. Jekyll und Edward Hyde, verwandelt«, in: ders.: Kabbala und Tango. Essays, Frankfurt/Main1991, S. 286 f., hier S. 286. Als Entgleisung empfindet Borges im Grunde, dass es sich bei den Filmen um Filme, die das Sujet nach ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten bearbeiten, und nicht um Literatur handelt. Sein Hauptvorwurf lautet nämlich, dass die Identität von Jekyll und Hyde nicht bis zum Ende geheim bleibt, und sein Lösungsvorschlag lautet: »zwei Schauspieler« (ebd., S. 287). 43 Da die Befriedigung sexueller Phantasien nicht mehr so im Vordergrund steht, bringt der Film als Motivation für Jekylls Selbstversuch mit dem psychisch Kranken, der zu Beginn des Films einen Gottesdienst durch seine lästerlichen Ausbrüche stört und zu dessen Heilung Jekyll verschiedenste Anstrengungen unternimmt, auch eine neue Variante ins Spiel, die neben den wissenschaftlichen Erkenntnisdrang, den persönlichen Ehrgeiz und das verdrängte sexuelle Begehren die therapeutische Philanthropie setzt. 55

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sen. Aus dem Vortex der Transformation, die Jekylls Psyche bei der Verwandlung in Hyde durchlebt, steigen die beiden Frauenfiguren, die sein Begehren bestimmen, auf. Jekyll treibt mit der Peitsche ein Gespann aus zwei Pferden an, aus denen natürlich sogleich Beatrix Emery und Ivy Peterson werden (Abb. 15). Ein Rebus, bei dem ebenso unklar bleibt, wer wen antreibt, wie bei dem Rebus, das bei einer weiteren Verwandlung Verwendung findet und in dem zunächst sowohl die Verlobte als auch die Geliebte in eine Champagnerflasche eingeblendet werden, bis sich die Flammen im Hintergrund überschlagen und schließlich Ivy Peterson vor lauter feuriger Leidenschaft zum Korken wird, den Jekyll/Hyde zieht und somit das Schaumgetränk zur ekstatischen Explosion bringt (Abb. 16).

Abb. 15: Kino und/als Psychoanalyse 1 – Die Frau als Reittier des Mannes: Das Gespann Ivy/Beatrice

Abb. 16: Kino und/als Psychoanalyse 2 – Kurz vor der orgiastischen Explosion: Ivy als Korken

Der wissenschaftliche Selbstversuch Jekylls, dessen ethische Dimensionen und praktischen Konsequenzen in den Vorgängerversionen zumindest am Rande noch eine Rolle spielten, wie auch die apparativen Vorraussetzungen des Kinos, mit denen zuvor noch so extensiv experimentiert wurde, sind beide in Flemings Film nur noch Vorwand für die melodramatische Erkundung der psycho-sexuellen Konstellationen der drei Stars des Films. Der Verwandlungstrunk ist wie der Bilderrausch zum MacGuffin eines Kinos der großen Emotionen geworden. Das Lichtspielwissen des Menschenversuchs ist zeitgleich mit dem Experiment der Kinematographie im Melodrama angekommen und untergegangen.44 44 Im Jahr 1959 kommt der Mythos von Dr. Jekyll und Mr. Hyde wieder in Europa (und der kinematographischen Avantgarde) an. Jean Renoirs für das Fernsehen produzierte LE TESTAMENT DU DOCTEUR CORDELIER verzichtet nicht nur auf jegliche Form psychologischer Erklärungsmuster und inszeniert seine kontinentale Variante des Mr. Hyde, Monsieur Opale, als Halbstarken, der gegen die gesellschaftlichen Zwänge der 50er Jahre rebelliert, sondern folgt auch der Empfehlung Borges’ und kehrt insofern dem psychoanalytisch-imaginärem Kino den Rücken und zu Stevensons Vorlage zurück, als bis zum Tonbandgeständnis am Ende des Films unklar bleibt, dass Dr. Cordelier und M. Opale dieselbe Person sind. 56

DAS

ABGEDREHTE

SYMPTOM.

PSYCHIATRISCH-KINEMATOGRAPHISCHE REPRÄSENTATIONEN VON KRIEGSHYSTERIKERN 1917/18 JULIA B. KÖHNE Soldatische ›Kriegshysterie‹ und wissenschaftlicher Film Im Verlauf des Ersten Weltkriegs tauchte eine in diesem Umfang und in dieser Intensität zuvor nicht gekannte Krankheit der eingesetzten deutschen Soldaten und Offiziere auf: die ›Kriegshysterie‹. Mit dem Begriff wurden nicht die gleichnamigen Zustände einer durch den Kriegsausbruch euphorisierten Masse benannt, sondern psychiatrische Krankheitsbilder männlicher Hysterie wie Motilitätsstörungen, Geh-, Sitz- und Stehstörungen, Zittern, Tics, Lähmungserscheinungen, aber auch Sprachstörungen und Dämmerzustände. Für die Militärmediziner stellten diese Störfälle ein wissenschaftliches und kulturelles Rätsel dar. Weder die Militär- noch die Sanitätsamtführung hatten in Bezug auf den Krieg mit diesen massenhaften Zeichen für männliche Schwäche gerechnet. In der ätiologischen Interpretation der Krankheitserscheinungen kamen die Kriegspsychiater – je nach medizinischer Schulrichtung – zu unterschiedlichen Erklärungsmustern. Nahmen die einen den Krieg und seine traumatisierenden Einflüsse auf den menschlichen Körper und die Psyche als Ursache an, so sahen die anderen die Schlacht nur als Auslöser für in den betroffenen Soldaten ohnehin schlummernde Krankheitsdispositive, wie angeborenen Schwachsinn, vererbte Schizophrenie oder Zeichen von allgemeinem degenerativen Kulturverfall. Mit psychoanalytischen Parametern operierende Militärärzte verstanden die körperlichen Signifikationen der Hysteriker als Aufzeichnungen der auditiven und visuellen Ereignisse des Krieges. Sie deuteten das Zittern beispielsweise als vom Körper gespeicherte und wieder abgespielte Erschütterungen, die sich durch Granateinschläge, das permanente Artilleriefeuer oder die enervierende Geräuschkulisse der neuen Waffengattungen im Körper festschrieben. Aber nicht nur die Neuheit, sondern auch die Anzahl der auftretenden Kriegshysteriefälle wurde in den Schriften der Militärärzte 57

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(Zeitschriftenartikel, Monographien und Patientenakten) hervorgehoben. Nach einigen Kriegsjahren gingen die Hysteriefälle in die Hunderttausende. Dies stellte ein ernsthaftes logistisches Problem für die Militärführung und eine unerwartete Herausforderung für die vielfach erst kurzfristig eingesetzten Militärmediziner dar. Die Rolle der Militärärzte1 war insofern besonders, da sie sich in Bezug auf ihr Selbstverständnis in einem ethischen Dilemma befanden. Einerseits hatten sie den Hippokratischen Eid geschworen, jederzeit für das Wohl des Patienten zu sorgen, andererseits standen sie gegenüber dem Kriegsministerium in der Pflicht, die erkrankten Soldaten so schnell wie möglich wieder »einsatzfähig für die Front« bzw. »felddienstfähig« zu machen. Sie schickten die Rekonvaleszenten vielfach in die Situation zurück, die als vermeintliche Ursache im Zentrum der kriegshysterischen Störung stand: die hochtechnisierte moderne Schlacht. Der Druck, unter dem die Militärärzte standen, schlug sich in ihren Wissensstrategien und -techniken nieder. Sowohl die Neurologie, die Psychiatrie als auch die Psychologie versuchten, sich in der Beantwortung der Kriegshysterikerfrage als anerkannte Formen medizinischer Forschung zu etablieren. Zu den Technologien des Wissens gehörte neben den Medien Schrift und Photographie vor allem das erst zwei Dezennien alte Verfahren der medizinischen Kinematographie.2 Es wurde zur Diagnostizierung und visuellen Fabrikation3 kriegshysterischer Symptome eingesetzt. Der erste Teil des Essays geht der Frage nach, inwiefern die medialen Bedingungen des Films den Darstellungsmodus kriegshysterischer Krankheitsbilder prägten. Wo lagen die Grenzen der Strategien der Visualisierung? Die den zweiten Teil strukturierende Frage ist nicht nur, wie die Kriegshysteriker von den Militärärzten inszeniert wurden, sondern auch wie die bewegte Repräsentation einer erfolgreichen Heilung konzipiert wurde. Obwohl bekannt war, dass eine Genesung häufig gar nicht oder nur temporär erreicht wurde, diente die spezifische filmische Formensprache offensichtlich dazu, die Potenz der psychiatrischen Therapie (Hypnose, Suggestion und nicht dargestellter Elektroschock) evident zu machen, die Symptome abzudrehen. Vorgeführt 1 2

3

Von dieser Doppelrolle zeugt auch ihre Betitelung als »Arztsoldaten« oder »Sanitätsoffiziere«. Der vorliegende Essay ist Teil meiner Dissertation zum Thema Kriegshysteriker. Strategische Bilder und mediale Techniken militärpsychiatrischen Wissens, 1914-1920, eingereicht an der Humboldt-Universität zu Berlin im Februar 2005. Erscheint in der Reihe Abhandlungen zur Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften, Matthiesen Verlag, Frühjahr 2008. Die Kriegshysterie wird in diesem Ansatz nicht als etwas Vorfindliches aufgefasst, sondern als Effekt der ärztlichen Reaktion auf die körperlichen Erscheinungen der Soldaten. 58

DAS ABGEDREHTE SYMPTOM

werden Elemente des in der Inszenierung entstehenden kinematographischen Kodes und die Funktionalität der Filme anhand von zwei deutschen Kompilationsfilmen: einem von Ferdinand Kehrer aus dem Jahr 1917 und einem von Max Nonne von 1918. Durch die Analyse von psychiatrischen Aufnahmen mit dem kinematographischen Apparat wird das kreative Verhältnis von Technik und Wissenschaft betont.

Kinematographie als wissenschaftliches Verfahren Das wissenschaftliche Verfahren der psychiatrischen Kinematographie wurde 1897 von dem Berliner Nervenarzt Paul Schuster begründet. Auf der 69. Versammlung der Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte in Braunschweig am 22. September 18974 führte er erstmalig Aufzeichnungen von Patienten mit Bewegungsstörungen vor. Das neue Filmgenre neurologischer und psychiatrischer Krankheitsbilder und dessen Demonstration auf medizinischen Kongressen entfaltete sich in den folgenden zwei Jahrzehnten stetig. Neben Kehrer und Nonne stehen hierfür in Deutschland Namen wie A. Westphal und H. Hennes (Bonner Universitäts-Nervenklinik), Krapf (Dresden), E. Kraepelin und K. Weiler (Deutsche Forschungsanstalt für Psychiatrie in München). Während des Ersten Weltkriegs entstanden Ansätze von Sammlungen der Medizinfilme.5 Eine institutionelle Zentralisierung, eine systematische Archivierung und effektive Formen der Kooperation bei der Herstellung und beim Vertrieb der Filme wurden aber erst im Rahmen der am 18. Dezember 1917 gegründeten „Universum-Film Aktiengesellschaft“ (Ufa) realisiert.6 4

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Podoll und Lüning weisen diese Vorführung als »erste Anwendung der wissenschaftlichen Kinematographie im Bereich der klinischen Medizin« aus. Vgl. K. Podoll/J. Lüning: »Geschichte des wissenschaftlichen Films in der Nervenheilkunde in Deutschland 1895-1929«, in: U.H. Peters/H. Heinrich/J. Klosterkötter/B. Neundörfer (Hg.): Fortschritte der Neurologie – Psychiatrie. Mitteilungsblatt der Viktor von Weizsäcker Gesellschaft, Stuttgart/New York, Vol. 66, Heft 1 (März 1998), S. 124. In seinem Artikel »Filmarchivierung für Forschung und Lehre. Erste Überlegungen und Ansätze 1895-1932« berichtet Friedrich Terveen 1977 ausführlich über die Entstehung von Sammlungen. Der Aufsatz ist im Jahrbuch des Vereins für die Geschichte Berlins, Der Bär von Berlin. Vol. 26 publiziert worden (S. 99-112, besonders ab: S. 101). Die Forderung des Nervenarztes Max Lewandowsky nach der Gründung eines kinematographischen Archivs seltener Bewegungsstörungen am 28. September 1912 blieb zunächst Zukunftsphantasie. Erst ab 1918 fanden die medizinischen Filme in großem Umfang Eingang ins medizinische Filmarchiv der Kulturabteilung der Ufa. (Curt Thomalla: »Ein psychiatrischneurologisches Filmarchiv«, in: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie/Originalien, hg. von O. Foerster/R. Gaupp/W. Spielmeyer, Bd. 45, 1919, S. 97) 1923 wurde das medizinisch-kinematographische Universitätsinstitut für Unterricht und Forschung an der Berliner Charité eröffnet. 59

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Am 1. Juli 1918 wurde eine ›Kulturabteilung‹ mit einem medizinischen Filmarchiv unter der Leitung von E. Krieger und C. Thomalla eingerichtet.7 Zu Zeiten des Krieges fehlte es an einem regelmäßigen »Erfahrungstausch«8 der Kliniken untereinander und an einer Zentralstelle, welche die Einführung der Kinematographie als Forschungs- und Lehrmittel für die medizinische Wissenschaft organisierte.9 Insgesamt war die medizinische Kinematographie – anders als die kommerziell ausgerichtete Filmindustrie – bis zum Ende des Ersten Weltkriegs relativ »unorganisiert«10. Dafür, dass die medizinische Kinematographie zunächst nur »amateurmäßig und sporadisch«11 betrieben wurde, lagen nach Weiser verschiedene Gründe vor. Der Hauptgrund wurde in den hohen Kosten ausgemacht, die zur Herstellung der Filme für die Universitäten und Anstalten anfielen.12 Weitere Gründe bestanden darin, dass man wegen Geldmangels auf die autodidaktischen Fähigkeiten der Ärzte angewiesen war und dass die eingesetzte Technik und damit auch die Bildqualität häufig mangelhaft waren. In der industriellen fiktionalen Kinematographie13 wurde dagegen arbeitsteilig verfahren. Die Aufnahmen im Erzählkino wurden so genannten »Aufnahmeoperateuren [heute Kamerafrauen oder -männer, J.K.] anvertraut«, die sich nach Weiser zu den bestbezahlten Leuten der Filmindustrie zählen konnten.14 Aber nur teilweise konnten sich die Anstalten und Krankenhäuser den Einsatz dieser Fachleute leisten.

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Vgl. Podoll/Lüning (Anm. 4.): »Geschichte des wissenschaftlichen Films«, S. 124. Ebd., S. 11. Martin Weiser: Medizinische Kinematographie, Berlin 1918/19, S. 3. Vgl. ebd., S. 3-4; Weiser spielt hier auf die Stellung der wissenschaftlichen Kinematographie zu Zeiten der Kriegstagung 1917 in München an, auf der einige Filme vorgeführt wurden. Ebd.: »Die medizinische Kinematographie muß aus dem heutigen Stadium des gelegentlichen Angewandtwerdens endlich einmal herauskommen und muß in das Stadium der systematischen Anwendung und des organisierten Ausbaues eintreten.« Ebd. S. 1. Siehe auch Emil Kraepelin: »Psychiatrische Bewegungsbilder.«, in: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie, Vol. 85, 1923, S. 609613. Auf Seite 610 spricht er von »ungeheuerlich hohen Kosten«. Siehe zur Entwicklung des frühen deutschen kommerziellen Films bis 1912 Corinna Müller: Frühe deutsche Kinematographie. Formale, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklungen 1907-1912, Weimar/Stuttgart 1994. »Auf diese Weise kommt der Operateur auf ein Jahreseinkommen von 60100.000 Mk. (pro Arbeitstag sind das 500 Mk.)«. Vgl. Weiser: Medizinische Kinematographie (Anm. 8), S. 2. 60

DAS ABGEDREHTE SYMPTOM

Allgemeine Vor- und Nachteile des Filmens Die Erfindung des Films als wissenschaftliches Forschungsinstrument seit dem Ende des 19. Jahrhunderts brachte einige Vorteile. Der Psychiater Hans Hennes beschrieb 1910 die besondere Funktion der Kinematographie für die »Erforschung pathologischer Veränderungen der Körperbewegungen in der Neurologie und Psychiatrie«.15 Das Innovative am Einsatz der Kinematographie innerhalb der Hysterieforschung war, dass sie die Bewegungen in Form »lebender Bilder«16 konservierte und abspielbar machte. Die wissenschaftlichen Filme waren ›Archive‹ unterschiedlichster Bewegungsformen, deren genaue Abläufe erforscht und studiert werden konnten. Die Vorteile wurden vor allen Dingen in Abgrenzung zur Photographie ausgemacht,17 so dass man von einem Paradigmenwechsel innerhalb der Darstellungstradition der Hysterie sprechen kann, an den damals große Erwartungen geknüpft waren. Der Film lieferte eine Kombination aus photographischer Manifestation und Bewegungsstudie. Er fing nicht nur die Zitterbewegung ein, sondern fixierte auch das Ergebnis der Therapie: die ausbleibende Bewegung. Das heißt, Heilung war auch erst seit Verwendung der filmischen Technik als fehlende Bewegung darstellbar geworden. Die filmischen Repräsentationen der Kriegshysteriker sind als Beispiele dieses Medienwechsels von der Photographie zur Kinematographie lesbar. Der Film diente aber nicht nur zur ›lebendigen‹ Darstellung, sondern auch zu deren zeitunabhängigen Zugänglichkeit. Den Beschreibungen Hennes’18 folgend war der essentiellste Vorteil, dass das Krankenmaterial stets zur Demonstration bereit war. Dabei konnte die »Tücke des Objekts«,19 bzw. die des Vorführeffekts ausgeschaltet werden. Im öffentlichen Demonstrieren von Symptomatiken war man zuvor auf das Mitspielen der Patientinnen und Patienten angewiesen. Damit der Arzt nicht vor versammelter Kollegschaft selbst als Übertreibender oder Scharlatan seiner wissenschaftlichen Thesen angesehen wurde, griff man häufig zu SchauspielerInnen. Die Unsicherheit des Arztes gegenüber der Funktionalität des Patienten als Patient

15 Hans Hennes: »Die Kinematographie im Dienste der Neurologie und Psychiatrie nebst Beschreibungen einiger seltener Bewegungsstörungen.«, in: Medizinische Klinik. Offizielles Organ der Deutschen Gesellschaft fuer Innere Medizin, Nr. 51, 1910, S. 2010. 16 Vgl. ebd. 17 Franz Paul Liesegang: »Bewegungswahre Wiedergabe von kinematographischen Aufnahmen«, in: Die Kinotechnik. Zeitschrift fuer die Technik im Film, Nr. 1., Berlin 1919, S. 4. 18 Hennes: »Die Kinematographie im Dienste«, S. 2010 ff., Anm. 15. 19 Franz Paul Liesegang: Wissenschaftliche Kinematographie. Einschließlich der Reihenphotographie, Leipzig 1920, S. 296. 61

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nahm Weiser auf und schrieb über die ›Unverläßlichkeit‹ der Patientinnen und Patienten: »Wie oft kommt es nicht dem Vortragenden vor, dass ein Kranker in der Vorlesung versagt, ein Manischer hat plötzlich seine Stimmung gewechselt, ein Katatoniker führt plötzlich seine stereotypen Bewegungen nicht mehr aus. […] Derartige Vorkommnisse, die dem klinischen Lehrer oft störend in den Weg treten, korrigiert der Kinematograph in fast vollkommener Weise. Der Aufnehmende hat es in der Hand, in aller Ruhe für die Aufnahme den geeigneten Zeitpunkt abzuwarten. Ist die Aufnahme einmal gemacht, so ist das Bild jederzeit zur Reproduktion bereit, der Film ist eben stets ›in Stimmung‹, Versager gibt’s nicht«.20

Wer die wissenschaftliche Kinematographie nutzte, war also nicht mehr darauf angewiesen, dass die Patienten die gewünschten Symptome an der richtigen Stelle aufführten. Gewartet werden musste nur noch auf den richtigen Moment der Aufnahme, die dann immer zur Verfügung stand. Als weiteren Vorteil erlaubte es das neue Medium, als gefährlich geltende Kranke, die den Rahmen einer Schaudemonstration sprengen würden, zu zeigen. Neben der Zeit konnten räumliche Hindernisse überwunden werden, so dass mehrere Patienten, die sich in unterschiedlichen Gegenden aufhielten und nicht nahe zusammen zu bringen waren, vergleichbar wurden. Der Film half aber auch bei der Diagnose. Bewegungsabläufe und ihre Phasen konnten näher erforscht werden. Zu Studienzwecken konnte die filmische Aufführung wiederholt werden. Ärzte waren nicht mehr auf die eine korrekte Beobachtung eines Symptoms angewiesen. Die Vergänglichkeit von Symptomdemonstrationen stellte sich nicht mehr als Problem dar, da dasselbe Symptom immer wieder vorgeführt werden konnte. Der Film verdoppelte und expandierte das ärztliche Auge und ergänzte das gesprochene Wort: »Von einer ganzen Anzahl, besonders pathologischer Bewegungen kann man wohl sagen, dass sie nur ganz außerordentlich schwer und auch bei der größten Genauigkeit nur unvollständig zu beschreiben sind. Es wird in vielen Fällen nicht möglich sein, eine bestimmte Bewegungsanomalie durch Worte genügend deutlich vor Augen zu führen, weil das, was die Vorstellung von der direkten Wahrnehmung unterscheidet, die sinnliche Lebhaftigkeit, der Beschreibung abgeht«.21

20 Weiser: Medizinische Kinematographie (Anm. 8), S. 131. 21 Ebd. 62

DAS ABGEDREHTE SYMPTOM

Durch die spezifischen Möglichkeiten des filmischen Sehens, wie länger dauernde Aufnahmen, Wiederholung, Anhalten des Films zum näheren Studium und später auch Effekte wie Zeitraffer und Zeitdehnung, konnte man denselben Patienten in verschiedenen Stadien der Krankheit filmen und diese Aufnahmen vergleichen.22 Vor dem Hintergrund dieser Verfahren wurde der Film im medizinischen Kontext als ein Medium gesehen, das es erlaubte, die ›wesentlichen‹ Züge einer Störung herauszufinden. Die Kinematographie erlaubte es, das Nebensächliche und Zufällige einer Störung auszuschalten und das »immer wiederkehrende mit besonderer Deutlichkeit einzuprägen«.23 Die Tatsache, dass es sich um stumme Filme handelte, wurde ebenfalls als Vorteil wahrgenommen. Der Tonlosigkeit wurden besondere Eigenschaften in Bezug auf das Studium der Bewegungsstörungen zugeschrieben. E. Herz behauptete 1926/27 kurz vor dem Ende der Stummfilmära: »Der stumme Film schneidet […] aus dem allgemeinen Symptombild gerade die Teile heraus, die wir einer besonderen Betrachtung unterziehen wollen; er gestattet uns, das motorische Verhalten, den Gang der Bewegungsmaschinerie genau zu studieren und unabhängig von dem Gesprochenen zu werten«.24

Behauptet das Zitat eine Unabhängigkeit des Filmbildes vom gesprochenen Wort, so wurde von den Ärzten darüber hinaus betont, das Sehen spiele eine so große Rolle bei der klinischen medizinischen Ausbildung, dass ihm das Primat gegenüber dem Wort zukäme. Der Film komme dem »natürlichen Sehen am nächsten« und könne das »mündliche Dozieren« an Eindrücklichkeit übersteigen. Krankheitsbilder seien kaum durch einfache Bilder und Erklärungen zu beschreiben. Letztlich überzeugend sei nur das »lebendig im Film Gesehene«.25 Den Vorteilen, die der filmischen Erfassung medizinischer Symptome immer wieder zugeschrieben wurden, standen auch einige Schwierigkeiten gegenüber. So ist daran zu erinnern, dass allen normalkinematographischen Apparaten aus der Zeit des Endes des Ersten Weltkriegs gemein war, dass sie je nach Schnelligkeit des Kurbelns zwischen 16 und 22 Siehe Kraepelin: »Psychiatrische Bewegungsbilder« (Anm.12), S. 610 f. 23 Ebd. 24 E. Herz: »Allgemeine Bemerkungen zum Studium der Bewegungsstörungen bei Geisteskranken.«, in: Medizin und Film 1 (1926/27), S. 137-138, hier S. 137. 25 Zitate in Anführungszeichen bei Johannes Justus Lüning: Geschichte der medizinischen Kinematographie in der Nervenheilkunde in Deutschland 1895-1929. Eine bibliometrische und inhaltsanalytische Untersuchung, Berlin 1998, S. 18 f. 63

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20 Bildern pro Sekunde aufnahmen.26 Dem entsprach eine Filmlänge von 32 bis 40 cm pro Sekunde oder von 20 bis 24 Metern pro Minute.27 Das bedeutete, dass Bewegungen nicht in all ihren Phasen dargestellt werden konnten. Eine kontinuierliche Aufnahme der Realität war technisch nicht möglich. Die Wirklichkeit wurde vielmehr in intervallhaften Ausschnitten präsentiert. Eine geschlossene Wahrnehmung der Bewegung wurde zusätzlich durch das davon unabhängige Ruckeln des Films bei der Wiedergabe verhindert. Die Wahrnehmungstäuschung lief noch nicht perfekt ab, wie bei den 25 Bildern beim modernen Film (bzw. 24 Bildern beim Video). Trotzdem war die Darstellung der »Bewegung in toto« immer schon das Ideal der wissenschaftlichen Kinematographie.28 Zu der Fragmentierung, die generell alle filmischen Repräsentationen der Zeit kennzeichnet, trat im Fall der Kriegshysterieforschung ein für diese spezielles Problem hinzu. Es gab kriegshysterische Motilitätsstörungen, wie die Zitterbewegungen, die so schnell abliefen, dass sie die Aufnahmemöglichkeiten des kinematographischen Apparates überstiegen. Da die Kinematographie nur 16 bis 20 Bilder pro Sekunde filmte und somit immer nur Einzelbilder aus der periodischen Phasenbewegung ablichtete, blieben Teile der Komplexität und Charakteristik der kriegshysterischen Zitter- oder Schüttelbewegungen, der Muskelkontraktionen und -relaxionen unabgebildet. Martin Weiser machte darauf aufmerksam, dass dies für das Einfangen eines kontinuierlichen Bewegungsablaufs bedeutete, dass allzu schnelle Bewegungen nicht in allen Phasen des Bewegungsablaufes darstellbar waren. Es war nur möglich, Phasenabschnitte, Ausschnitte aus dem vollständigen Bewegungsablauf ›einzufangen‹. Um eine nahezu scharfe Abbildung der Bewegung zu erreichen, musste die Belichtungszeit sehr kurz gewählt werden und die Aufnahme in der hellen Mittagssonne erfolgen. Der wissenschaftliche Film lieferte demnach kein »naturgetreues Abbild« des hysterischen Symptoms.29 1919 machte Weiser diese Mangelerfahrung so deutlich: »Von der Wiedergabe des wundervollen Muskelspiels, so wie es mit freiem Auge sehr gut wahrnehmbar war, konnte gar keine Rede sein. Hie und da sah man eine gewisse Unruhe im Bilde, das war alles«.30

26 Eine exakte Identifizierung der bei den behandelten Filmen verwendeten Aufnahmegeräte und -techniken ist leider nicht möglich. 27 Diese Angaben sind abgeleitet von H. Joachim: Die neueren Fortschritte der Kinematographie, Leipzig 1921, S.10. 28 O. Polimanti: »Der Kinematograph in der biologischen und medizinischen Wissenschaft.«, in: Naturwissenschaftliche Wochenschrift, Vol. 26, Neue Folge 10, Nr. 49, 1911, S. 769-774, hier 769 f. 29 Weiser: Medizinische Kinematographie (Anm. 8), S. 37 ff. 30 Ebd., S. 41. 64

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Die Repräsentationslücke war durch die Phasenverschiebung der ablaufenden hysterischen Bewegung und der Bewegung des Films bei der Aufnahme noch größer als bei normalen Bewegungen. Die Doppelung der technischen Darstellungsgrenze und der ruckweise ablaufenden Bewegungen der Hysteriker gingen über das hinaus, was die normale Filmkamera leisten konnte. Die Kriegshysterie als ‚Krankheit der Zeitlichkeit’ forderte das neue Medium heraus und brachte seine allgemeinen und besonderen Darstellungsgrenzen zum Vorschein. In Einführungstexten in die Kunst der wissenschaftlichen Kinematographie, die in den 1910er Jahren erschienen, wurde immer wieder das möglichst genaue Verhältnis des Gegenstands in Bewegung zu Zeit, Licht, Filmmaterial und den Apparaten behandelt. Die technisch korrekte Filmaufnahme war eine komplizierte Operation, bei der der Aufnehmende den Apparat durch verschiedene Leistungen unterstützen musste, damit die technische Fragilität der Aufnahme und des Abspielens in der Filmrezeption, das heißt an der Oberfläche, nicht störend bemerkbar war. Er musste durch exaktes Kurbeln eine genaue Taktung der Aufnahmegeschwindigkeit erzeugen. Die filmische Wahrnehmung der kriegshysterischen Bewegung brachte das Zusammenspiel dieser fein aufeinander abgestimmten Faktoren durcheinander. Die technische Mangelhaftigkeit verhinderte, dass die Darstellung lückenlos vonstatten ging. Durch seine Zuckungen machte der motilitätsgestörte Kriegszitterer das dem Medium damals inhärente Zitterphänomen sichtbar und bildete auf diese Weise das Problem der neuen Medientechnik ab. Der Hysteriker mit seinen aus der Normalzeit gefallenen Körperbewegungen gab ein anderes Zeitmaß an. Er spiegelte damit die Probleme der Technik des Filmens wieder, die mit der »Verschmelzungsfrequenz« und dem Ideal der »bewegungswahren Wiedergabe von kinematographischen Aufnahmen«31 zusammenhingen. Seine Zeitprobleme wurden teilweise mit den gleichen Vokabeln beschrieben wie die Zeitprobleme des Films und die technischen Funktionen der Gegensteuerung: »Zittern«, »Zucken«, »Flimmern«, »Sprunghaftigkeit«, »Ruckeln«, »Stocken«, »Stottern«, »Hemmung« und »Unschärfe«.32 Genau wie bei der filmischen Apparatur wurde durch diese Vokabeln der Störung angezeigt, dass unter der Oberfläche des Sichtbaren etwas nicht stimmte. Erst der geheilte Kriegshysteriker machte die Grenzen der Medialität und der Wahrnehmung vergessen. Beim Kriegshysteriker konnte die Ursache der Störung – je nach Auffassung der jeweiligen medizinischen Schulrichtung – entweder in der Physis/Organik, der Psyche oder dem Unbewussten gefunden werden. Therapeutisch 31 Liesegang: »Bewegungswahre Wiedergabe« (Anm. 17), S. 36 f. 32 Ebd., S. 1, 5, 37, 39, 106 und S. 107 und Weiser: Medizinische Kinematographie (Anm. 8), S. 30 und S. 48. 65

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musste deswegen tief in den Organismus eingegriffen werden, damit dieser hinterher wieder richtig tickte und seine Bewegungsabläufe wenigstens nahezu mit der von der menschlichen Wahrnehmung geforderten Gleichmäßigkeit übereinstimmten. Oftmals geschah dies durch die Applikation von Elektrizität. Die therapeutischen Phantasien der Ärzte liefen folglich in analogen Bahnen zur Wahrnehmung der zeitlichen Formprobleme der Symptome. Die Zuckungen, die die faradischen Bürsten auslösten, sollten den zitternden Organismus in die Normalzeit zurückholen.33 Im Weiteren möchte ich die Filme nicht als historisch-positivistische visuelle Zeugnisse des Phänomens ›Kriegshysterie‹ verstehen, sondern in einem filmsemiotischen Zugriff – trotz der technisch bedingten Darstellungslücken – deren zeichenhafte Implikationen und Repräsentationen untersuchen. Es geht also nicht um die Frage nach dem angeblichen »optisch gebotenen Wahrheitsgehalt der Filmaufnahmen«.34 Vielmehr stehen Fragen im Mittelpunkt wie: Was lassen die Filme über die wissenschaftlichen Strategien und Systeme zur Feststellung und Überwindung der Symptome der Kriegshysteriker wissen?35 Welche Erkenntnisse über die psychiatrische Wissenschaft und ihre Wissens- und Therapieordnung können durch ihre Re-Lektüre gewonnen werden?

Psychiatrisch-kinematographische Repräsentationen von ›Kriegshysterikern‹ 1917/18 Über die ›Biographie‹,36 Funktion, Aufführungspraxis und die Rezeption der vorliegenden Filme ist wenig bekannt; es gibt auch so gut wie keine spezifische Sekundärliteratur zu ihnen. Es könnte sich theoretisch also sowohl um Aufklärungs- oder Propagandafilme als auch um Erziehungs-, Lehr-, Forschungs- oder Dokumentarfilme handeln. Am wahrscheinlichsten ist es, dass die vorliegenden Filme produziert wurden, um sie für die ärztliche Weiterbildung einzusetzen, also um Sanitätsoffizierskollegen auf Tagungen über den eigenen Umgang mit der Kriegshysterie und

33 August Laqueur/Otto Müller/Wilhelm Nixdorf: Leitfaden der Elektromedizin einschließlich Licht- und Wärmeanwendungen für den praktischen Arzt und den Elektroingenieur, Halle/Saale 1928, S. 41-44. 34 Terveen: Der Bär von Berlin (Anm. 5), S. 101. 35 Die Filmbilder werden als eigenständige Formen- oder Filmsprache gelesen, die etwas über die Akte und Einstellungen der sie herstellenden Militärärzte und weniger über die Patienten selbst aussagen. 36 Wolfgang Martin Hamdorf: »Film als Quelle.«, in: Mitteilungen aus dem Bundesarchiv, 1995, Bd. 3, Heft 1, S. 84. 66

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ihre Heilung zu informieren.37 Zum anderen wurden sie vermutlich einem Laienpublikum von Soldaten und Offizieren während des Ersten Weltkriegs vorgeführt, um ebenfalls Heilbarkeit zu demonstrieren.

A. Ferdinand Kehrer Die wissenschaftlichen Filme von Ferdinand Kehrer und Max Nonne enthalten formalisierte Elemente, die zwei Realitätsbehauptungen beinhalten: die Realität des Symptoms und die Realität der Heilung des Symptoms. Die einzelnen Fälle der Kompilationsfilme lassen sich in drei Phasen unterteilen: Symptom – Therapie – Geheilt-Sein (Abb. 1-3). Durch diesen Dreischritt wurde die angebliche Heilung signifiziert. In einem ersten Schritt demonstriert der Kehrersche Film die zu behandelnden Symptome in verschiedenen Räumen, auf der Straße und im Lazarettzimmer.38 In Anwesenheit des Arztes, der Krankenschwester und/oder der Assistenten werden die Gliedmaßen von Patienten mittels diagnostischer Instrumente stimuliert. Die Taubheit der zitternden Oberarme wird beispielsweise durch Abklopfen mit Hämmerchen veranschaulicht. Unempfindlichkeit gegen Schmerz wird durch das Stechen der betroffenen Glieder mit Spritzennadeln gezeigt. Oder die Symptome werden durch das Bestreichen des Kopfes (wippähnlicher Zustand) allererst herbeigeführt, wie dies auch schon in wissenschaftlichen Filmen über weibliche Hysterie um die Jahrhundertwende praktiziert wurde. Zweitens folgt die Repräsentation des therapeutischen Eingriffs in Hypnose, durch Wortsuggestionen oder Bestreichen der betroffenen Glieder mit faradischen Bürsten. In Kehrers Film kommt noch eine weitere Sequenz hinzu, die mit zur Therapiedarstellung gehört. Mittels Exerzierübungen unter Anleitung des Militärarztes oder eines Assistenten wird der Patient langsam in einen geheilten Zustand überführt. Als Drittes ist der Geheilte zu sehen. Eine Besonderheit des Kehrerschen Films sind die zusätzlichen Freiübungen, die etwa 50 Patienten auf freiem Feld machen und die ihre Heilung manifestieren.

37 Johannes Justus Lüning: Geschichte der medizinischen Kinematographie in der Nervenheilkunde in Deutschland 1895-1929. Eine bibliometrische und inhaltsanalytische Untersuchung, Berlin 1998, S. 19. 38 RESERVE-LAZARETT HORNBERG (UND TRIBERG) IM SCHWARZWALD. BEHANDLUNG DER KRIEGS-NEUROTIKER um 1917, angefertigt vom NationalHygiene-Museum in Dresden mit Hilfe des Chef-/Stabsarztes der Anstalt Dr. Ferdinand Kehrer, 4:70 min. 67

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Abb. 1-3: Dreischritt: Symptom – Therapie – Geheilt-Sein, Kehrer 1917, s. Anm. 38

Welche narrativen und bildlichen Strukturen lassen sich in den kurzen Filmepisoden nachzeichnen? Die Montage der gezeigten Filmszenen verdeutlicht das auffälligste Charakteristikum der Filme über die Kriegshysteriker: die filmsprachliche Neuerung des Vorher-nachher-Effekts. Der Effekt verweist auf einen scheinbar automatischen Wechsel von ungeheilt zu geheilt. Die Struktur der Kompilation beinhaltet – ganz entgegen der Krankenvorgeschichte – eine zeitliche Umkehrung, den Übergang von der Krankheit in den gesundeten Zustand. Dieses ‚Zurückspulen’ ist vermutlich auch eine Phantasie, die erst durch den Film möglich wurde. Die Rezidivneigung der Kriegsneurotiker, die Rückfallquote derer, die im Anschluss an die Therapie nicht symptomfrei blieben, wird ob des Heilungsprimats nicht repräsentiert. Die Patienten werden auf Liegen und Stühlen gezeigt, die mit weißen Laken abgedeckt sind. Dies verstärkt optisch, bewusst oder unbewusst eingesetzt, die schüttelnden und zitternden Bewegungen. Sie werden meist in Frontalansicht gezeigt, wobei ihre Körper immer ganz im Bild sind. Nicht so die Körper der Personnage um sie. Bei den Behandlungsmethoden, von denen nur die Therapieformen: Hypnose und Hypnose in Verbindung mit Suggestionstherapie und Gewalt- und Zwangsexerzieren gezeigt (Elektroschocks werden nur angedeutet), erhalten die Patienten Instruktionen von einer oder mehreren Stimmen aus dem Off. Szenisch ist das erkennbar, indem der erste Patient den Instrukteur ansieht und auf Zuruf, ohne dass dieser freilich im Film zu hören wäre, die militärischen 68

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körperlichen Übungen ändert oder beschleunigt. Das Bildmaterial verweist also selbst immer wieder auf Leerstellen, auf das, was nicht gezeigt wird. Diese Zeichen bzw. Lücken lassen sich teilweise mithilfe schriftlicher Texte der Militärmediziner kommentieren. Zusätzliche Informationen etwa über den therapeutischen Plan des handelnden Arztes können dem Text »Zur Frage der Behandlung der Kriegsneurosen« vom 17. März 191739 des Regie führenden Psychiaters und Neurologen Kehrer entnommen werden. Kehrer gehörte zu den bedeutendsten Militärärzten auf dem Gebiet der Kriegshysterieforschung und vor allem -therapierung. Im Text gibt er an, dass er im Ersten Weltkrieg etwa »1000 Neurotikerfälle mit überwiegend hysterischem Gepräge« behandelt habe, wobei seine Spezialbehandlung, die er etwas vage ›Psychopädagogik‹ nennt, angeblich zwischen fünf und sechs Wochen dauerte (der zeitliche Faktor wird im Film ebenfalls nicht repräsentiert). Bevor ich diese Kur etwas näher beschreibe, aber zunächst ein Kommentar, der Einblick in Kehrers ärztliches Geltungsbewusstsein gibt. Im März 1917 meinte er, »der Krieg habe uns [die Militärärzte, J.K.] mit eherner Notwendigkeit gezwungen, […] [die verschiedenen Methoden, J.K.] mit der ganzen Energie und Stoßkraft, die uns von unserem militärischen System induziert wird, an großen Massen zur Anwendung zu bringen. Aus dieser Notwendigkeit ergab sich der Antrieb nichts unversucht zu lassen« (1).

Es entspräche »nicht der Schwere des geschichtlichen Augenblicks, die Wahl der Methodik von ästhetischer Weichfühligkeit oder pseudomoralischer Bedenklichkeit abhängig zu machen« (2). Nochmal Kehrer im Originalton: »Bedenken wir, dass gerade auf uns Nervenärzte die entscheidende Verantwortung fällt, die Reste vom nervösen Zeitalter, die vom Frieden her in den Köpfen spuken, zu zerstören und gegebenenfalls auch unseren Feldgrauen zum Bewusstsein zu bringen, dass die Zeit zu ernst ist, um psychasthenischer Reizbarkeit oder körperlich nervöser Missgestimmtheit nachzugehen« (15).

Der Versuch, die Kriegshysteriker – wenn auch nicht zur Felddienstfähigkeit – wenigstens zu »brauchbaren Arbeitern hinter der Front« zu ma-

39 Ferdinand Kehrer: »Zur Frage der Behandlung der Kriegsneurosen.«, in: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie/Originalien, hg. v. O. Foerster/R. Gaupp/W. Spielmeyer, Vol. 36, 1917, S. 1-22. Im Folgenden sind in diesem Unterkapitel die Ausschnitte aus dem Kehrer-Text in Klammern hinter den Zitaten eingefügt. 69

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chen, versteht sich also als ernsthaft (2). Der Erfolg der Hysteriebehandlung hänge von der »Sicherheit des therapeutischen Handelns« ab und davon, die angewendete Methode auf das »Niveau einer ärztlichpsychologischen Kunst« zu erheben (2). Eine Kunstform also, die gegen die ›Theatralik‹ und die ›Schauspielkunst‹ der Hysteriker gerichtet wird. Ähnlich dem Vorgehen Nonnes, das im nächsten Textabschnitt vorgestellt wird, setzt Kehrer ganz auf die Wirkung der Persönlichkeit des Arztes. Der Film gibt weiterhin Einblicke in die »unmittelbarste, straffste und tiefgreifendste Form der Einwirkung auf den Willen«: die Methode des Gewalt- oder Zwangsexerzierens. Sie sollte in wenigen Minuten oder Stunden das leisten, was sonst teilweise über Wochen hinweg nicht erreicht werden konnte. Das Ideal war die Heilung in einer Sitzung. Kehrer beschreibt die Behandlungsmethode, die aus einer Mischung von körperlichen Übungen (Stechschritt, Trampeln, Kniebeugen, Laufen, Gehen und Stramm-Stehen), die er auch »Kopffreiübungen« nennt (17), Suggestion und der Androhung oder Verabreichung von galvanischen Stromschlägen bestand: »Ohne körperliche Zwangsmaßnahmen oder körperliche Einwirkungen wirken wir nur durch den militärischen Befehl; unter Schlag auf Schlag folgenden Kommandos von tunlichster Präzision lassen wir ohne Rücksicht auf die besondere Art der hysterischen Erscheinung die verschiedensten Exerzier- und Freiübungen in raschem Wechsel ausführen. Zweckmäßig wird dabei der Antrieb zur gewollten Bewegungsfolge ab und zu dadurch unterstützt, dass der Arzt sie vor- oder als Schrittmacher mitmacht« (8).

Der Arzt gleicht hier einem militärischen Drillmeister. Das wichtigste Ziel der »strengen aktiven Kur« ist für Kehrer »das Durchsetzen der militärischen Autorität bis in alle Einzelheiten« (14). Auch hier ist die Folie für den Therapieentwurf das Ideal militärischer Strukturierung, das gegen die Diffusität der Hysteriker gesetzt wurde. Die Behandlung durch Suggestion wurde durch das Versetzen in einen willenlosen hypnotischen Zustand präpariert. Hierzu eigneten sich aber nur die Patienten, die für die charismatische Ausstrahlung des Arztes und die hypnotische Suggestion grundsätzlich empfänglich waren. In den Szenen werden die magischen Elemente des Heilaktes sichtbar. Kehrer brachte in dem Zeitschriftenartikel einen metaphorischen Vergleich, der die Motivation erklärt, Stromstöße einzusetzen und damit die Magie zu unterbrechen.

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»Ich habe seinerzeit den Vergleich mit der Methode angeführt, die ein Reitkünstler anwenden muß, um ein durch schlechtes Reiten an zahlreiche Unarten gewöhntes gutes Reitpferd durch genaue Einfühlung und Dosierung aller ‚Hilfen’ (Reitreglement!) wieder in die korrekten Gangarten zu bringen. […] Nur im Notfalle wird, wie vom Reiter der Sporn, so hier der schmerzhafte galvanische Schlag zur Anwendung gebracht« (8).

Der Vergleich mit der Zähmung des Pferdes war anscheinend so eindrücklich, dass er von Nonne, der die Methode ebenfalls anwendete, vier Monate später in einem Artikel aufgegriffen wurde: »Ich betone nochmals, dass während dieser Zeit der faradische Strom nur ab und an und kurz zur Anwendung kommt, etwa wie der Sporn des Reiters beim faulen oder störrischen Pferd«.40

Kehrer wendete elektrische Ströme ohne Einwilligung des Patienten an, wobei das ausschlaggebende Moment auch hier die Suggestion war. Er unterschied zwischen dem galvanischen Strom und dem sich aus galvanischen Elementen speisenden faradischen Wechselstrom (monotone Hammergeräusche). Beim scheinbar »mystisch aus der Elektrode fließenden Strom aus der großen galvanischen Bürste sei der entscheidende Moment die genau dosierbare Schmerzerregung mit dem Strom.« (9) Die Apparate wurden teilweise nur als »Symbol oder Suggestivum« herangezogen, »indem zur Einleitung der Kur die stromlosen Elektroden mit der Versicherung auf die Wirbelsäule gesetzt werden, dass zunächst einmal durch Elektrizität das Rückenmark beruhigt werden müsse«. Mithilfe einer Einzelbildanalyse lässt sich feststellen, dass der Prozess der ›Entzitterung des Patienten‹ im Film zweimal durch einen Schnitt unterbrochen wurde. Vermutlich wurden die Schnitte nicht offen gezeigt; stattdessen wurden beispielsweise Schwarzbilder eingefügt, um eine tatsächliche Applikation von elektrischen Strömen oder die tatsächliche lange Dauer des Heilungsprozesses zu verbergen. Ausgeklammert wird filmisch weiterhin, dass die Patienten durch eine 2-3-wöchige Isolationskur auf die Eingriffe ›vorbereitet‹ wurden und dass es eine 5-wöchige Nachbehandlung gab. Zu dieser gehörten so genannte Freiübungen, die ›draußen in der Natur‹ stattfanden. Die Teilnahme an diesen militärisch-gymnasti-

40 Max Nonne: »Über erfolgreiche Suggestivbehandlung der hysterieformen Störungen bei Kriegsneurosen.«, in: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie/Originalien, hg. v. O. Foerster/R.Gaupp/W. Spielmeyer, Vol. 37 (1917), S. 196. 71

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schen Übungen wurde vom Sanitätsamt vorgeschrieben und gehörte mit zum therapeutischen Plan.41

B. Max Nonne Der Nonnesche Kompilationsfilm präsentiert bei einer Gesamtlänge von unter sieben Minuten insgesamt 14 Fälle von Kriegshysterie.42 Pro Patient wurde ungefähr eine halbe Minute Filmmaterial verwendet, die in fünf Sequenzen unterteilt ist. Die hauptsächliche Abweichung gegenüber dem Format des Kehrer-Films besteht im schriftlichen Kommentartext. Dieser benennt zunächst das Symptom. Nach der Symptomdarstellung in Anwesenheit des Arztes taucht der Kommentar »Nach der Heilung« auf. Darauf folgt die wenige Sekunden dauernde Geheilt-Sein-Einstellung mit Arzt (Abb. 4). Dieses alternierende Montageverfahren ist im Vergleich zum Kehrer-Film streng standardisiert und kehrt bei jedem Patienten nur mit geringfügigen Veränderungen wieder. Ist der Film Kehrers durch Differenzen in der Länge der einzelnen Filmstücke oder der Einstellungswinkel gekennzeichnet – oder was die Präsenz des Arztes oder des Pflegepersonals angeht –, so fällt der Film Nonnes bereits auf der Darstellungs- und Montageebene durch Uniformität und formale Strenge auf.

Abb. 4: Imaginierte Heilung, Nonne 1918, s. Anm. 42

Wie sehen die Inszenierungsweisen der Kriegshysteriker im Nonne-Film aus? Zunächst fällt auf, dass die Hysteriker aus jeglichem sozialen Um-

41 Siehe Anordnung vom Stv. Generaloberkommando. I. AK: Bayrisches Hauptstaatsarchiv: San A 176. (Nr. 34232 Sanitätsamt, München 9.10. 1918). 42 FUNKTIONELL-MOTORISCHE REIZ- UND LÄHMUNGS-ZUSTÄNDE BEI KRIEGSTEILNEHMERN UND DEREN HEILUNG DURCH SUGGESTION IN HYPNOSE von 1918, produziert vom Königlichen Bild- und Filmamt in Berlin, der Vorläuferfirma der Universum Film AG, aufgenommen im Allgemeinen Krankenhaus Hamburg-Eppendorf durch Dr. Max Nonne, 6:38 min. 72

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feld herausgelöst dargestellt sind. Sie werden isoliert in geschlossenen Lazaretträumen gezeigt, nicht anonymisiert. Warum aber werden die Patienten beinahe nackt vorgeführt? Sie sind nur mit Unterhosen bekleidet. Die vollständige bzw. hier relative Nacktheit des Patienten hat keinen einsehbaren medizinischen Sinn. Worin besteht die Zweckmäßigkeit dieser Art der Patientendarstellung, wenn nicht in der besseren Demonstrierbarkeit der Symptome?43 Eine Aussage von Johannes Kirchhof aus dem Jahr 1943 könnte Aufschluss geben: »Da in den allermeisten Fällen nicht die Umwelt des Kranken interessiert, sondern nur an seiner persönlichen Wiedergabe uns liegt, ist es von grundsätzlicher Bedeutung, ihn aus all den Zufälligkeiten heraus zu isolieren. Das Ideal in dieser Hinsicht ist die Darstellung des unbekleideten Körpers in einem durch eigene Grenzen und durch Schattenbildung nicht auffallenden Raume«.44

In dem Zitat wird deutlich, dass nicht die Darstellung der Persönlichkeit des Kranken interessierte, sondern die ›Objektivierung von Krankheit in der Darstellung‹. Deswegen ist ausschlaggebend, wie die Kranken in Szene gesetzt wurden, wie sich der Arzt in dieser Szene positionierte und in welchem Verhältnis die beiden Personentypen zueinander standen. Auffallend ist, dass durch das Verhältnis ›angezogen-ausgezogen‹ ein eindeutiges Gefälle zwischen Arzt und Patient entstand und mit ihm eine sofortige Identifizierbarkeit der jeweiligen Machtposition. Nonne äußerte sich zu diesem Thema auf verfängliche Weise: »Ich habe die Kranken sich stets ganz nackt ausziehen lassen, da ich finde, dass dadurch das Gefühl der Abhängigkeit beziehungsweise Hilflosigkeit erhöht wird.«45 Durch seine physische Anwesenheit in zwei Dritteln der Szenen gab sich Nonne – als Verkörperung des medizinischen Systems – insgesamt eine beinahe ebenso hohe Aufmerksamkeit wie dem vorgeführten Patienten. Der Arzt beschrieb die Krankheit zunächst mittels des Kommentartextes (wie zum Beispiel: »schwere allgemeine Muskelkrämpfe nach Verschüttung«) und demonstrierte sie dann am Körper. Seine Hände werden im Film als heilende inszeniert, indem sie den kranken Körper bestreichen und dadurch seine gestörte Zeitlichkeit verändern. Die Zitterbewegungen werden ruhiger, teilweise verschwinden sie völlig unter 43 Ulf Schmidt: »Der medizinische Film in der historischen Forschung«, in: Mitteilungen aus dem Bundesarchiv, Vol. 3, Nr. 1, 1995, S. 83. 44 Johannes Kirchhof: »Bedeutung und Formgebung des Films in Neurologie und Psychologie«, in: Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift, Vol. 45, Nr. 29/30, S. 182. Zitiert nach Schmidt: »Der medizinische Film« (Anm. 43). Kirchhof produzierte eine ganze Reihe medizinischer Lehrfilme in Berlin. 45 Nonne: »Über erfolgreiche Suggestivbehandlung« (Anm. 40), S. 201. 73

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den Berührungen des Mediziners. Die Mundbewegungen von Nonne weisen darauf hin, dass er zu den Patienten sprach, während er sie entweder am Hinterkopf, in der Bauchgegend oder an anderen Körperstellen entweder streichend oder klopfend berührte. Die Berührungen differieren je nach Krampf- oder Lähmungsart. Der Arzt bestimmte also sowohl die Krankheit, als auch den Zeitpunkt der Heilung (In der abgebildeten Filmszene wird dies durch einen gezielten Druck auf die Schulter des Patienten unterstrichen.). Die refrainartige schriftliche Ansage »Nach der Heilung« markiert den Wendepunkt in diesem Prozess, der nach dem immer gleichen Muster inszeniert wurde, mit einer scheinbar untrüglichen Sicherheit. Nach einer These des Filmwissenschaftlers Martin Loipendinger ersetzten Zwischentitel und Zwischentexte den Filmvorführer. Sie übernahmen die kommentierende Funktion der gesprochenen Sprache, die die Fallbeispiele einleitete und strukturierte. Als Unterbrechungen der Bilder waren sie in den Film einmontiert.46 Die ideelle Aussage schien zu lauten: Ungeachtet der Schwere oder Art ihrer kriegshysterischen »Verwundungen« können alle Patienten geheilt werden. Dem entgegen stehen Nonnes schriftliche Darstellungen von angeblichen Heilungszahlen. Im Text »Neurosen nach Kriegsverletzungen (Zweiter Bericht)«47 arbeitete der Arzt noch mit den Medien der Photographie, der Röntgenaufnahme und der Liste. Auf die Heilungsergebnisse bezogen spricht die Liste beispielsweise eine ganz andere Sprache. In ihr tauchen durchaus auch ungeheilte Fälle auf. Im Text gab er bis 1916 – bei berücksichtigten 301 Patienten – eine Heilungsquote von insgesamt 61,2 Prozent an.48 Ähnlich wie Kehrer berichtete Nonne hier in schriftlicher Ausführung, er habe »in den bei weitem meisten Fällen Symptomfreiheit in der ersten Sitzung erzielt«.49

Conclusio Die untersuchten Filme sind in ihrer historischen Validität mehr als reine Sozialallegorien oder Dokumente der Militärmedizingeschichte. Durch

46 Martin Loipendinger: »Plädoyer für eine Zukunft des frühen Kinos«, in: Ursula von Hampicke/Evelyn Keitz (Hg.), Früher Film und späte Folgen. Restaurierung, Rekonstruktion und Neupräsentation historischer Kinematographie, Marburg 1998, S. 79. 47 In: »Verhandlungen der Gesellschaft deutscher Nervenärzte« 8. Jahresversammlung (Kriegstagung) gehalten zu München, am 22. und 23. September 1916. 1917 veröffentlicht. 48 Max Nonne: »Neurosen nach Kriegsverletzungen (Zweiter Bericht)«, in: Verhandlungen der Gesellschaft deutscher Nervenärzte. 8. Jahresversammlung (Kriegstagung) gehalten zu München, am 22. und 23. September 1916, Leipzig 1917, S. 94. 49 Nonne: »Über erfolgreiche Suggestivbehandlung« (Anm. 40), S. 203. 74

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ihre spezifischen Formensprachen liefern sie neue Zeichensysteme zur Signifizierung einer Pathologie, der ›Kriegshysterie‹ und ihrer Heilung. In der Analyse konnte gezeigt werden, dass das Medium Film immer wieder selbst ›Fehler‹ produzierte, auf technischer und semiotischer Ebene, die die Geschlossenheit der Darstellung aufhoben. Das Paradox besteht darin, dass die Bilder die Grenzen der Abbildbarkeit der Kriegshysterie selbst in sich tragen. Dennoch suchten die Militärärzte durch sie den Mangel, die Brüchigkeit und die Unfähigkeit der Wissenschaft, ein »Allheilmittel« gegen die Hysterie zu bieten, zu überdecken.50 Mit Blick auf die Assoziation zwischen »zuckendem Hysteriker« und »zuckendem Film«, die der erste Teil des Essays nahe legt, lässt sich annehmen, dass die Nicht-Heilung des Hysterikers auch deswegen verborgen werden musste, da andernfalls auch die technische Nicht-Heilbarkeit, die Mangelhaftigkeit des Films zu dieser Zeit sichtbar geworden wäre. Nicht nur der Hysteriker, sondern auch der Film sollte als heilbar imaginiert werden. Die im zweiten Teil analysierten Filmbilder und ihre Evidenz fungierten wie ein Antidot gegen die Grenzen wissenschaftlicher Darstellungs-, Erkenntnis- und Heilmöglichkeit. In ihnen sind gleichermaßen rationale wie magische Elemente des Heilaktes gebunden, die zusammen genommen die therapeutischen Erfolge der zwei Militärärzte repräsentieren sollten – eingebettet in den ideologischen Hintergrund der Militärführung. Die eingesetzte Formensprache sollte zur Legitimation und Popularisierung der psychiatrischen Wissenschaft als eigenständige und potente Wissensform dienen und das Ansehen der Ärzteschaft und des neuen Mediums steigern. Die Frage, wie leistungsfähig und erfolgreich die psychiatrische Kinematographie als ›Heilerin‹ der kollektiven Störfaktoren ›Kriegshysteriker‹ tatsächlich gewesen ist, habe ich versucht einer kritischen Lesart zuzuführen.

50 Ulf Schmidt: »›Der Blick auf den Körper‹. Spezialhygienische Filme, Sexualaufklärung und Propaganda in der Weimarer Republik«, in: Michael Hagner (Hg.): Geschlecht in Fesseln. Sexualität zwischen Aufklärung und Ausbeutung im Weimarer Kino 1918-1933, München 2002, S. 3: »Der Film suggeriert, dass die Medizin alle Voraussetzungen bietet, damit das Einzelindividuum von der Krankheit zur Gesundheit gelangen kann.« 75

DR. MABUSE: SENSATIONEN

OHNE

S U BJ E K T

UTE HOLL 1. Ein Bild der Zeit »Sie sind tief eingetaucht in Illusionen und Traumbilder, ihr Auge gleitet nur auf der Oberfläche der Dinge herum und sieht Formen, ihre Empfindung führt nirgends in die Wahrheit, sondern begnügt sich Reize zu empfangen und gleichsam ein tastendes Spiel auf dem Rücken der Dinge zu spielen.«1

Nietzsches Beschreibung einer Kultur der Täuschungen und Illusionen, die sich als gesellschaftliche Währung jenseits jeden Wahrheitsanspruchs etablierten, lässt zunächst an das zerstreute Kollektiv eines gebannt dämmernden Kinopublikums denken; sein Text allerdings, geschrieben in der Morgendämmerung neuer Medien, 1872, kann kein Kino kennen. Dennoch rekurriert Nietzsche, wenn es um Kommunikation, auch um Wörter, geht auf »die Abbildung eines Nervenreizes«,2 und erkennt in der Sinnlichkeit jeder Wahrnehmung die unabdingbare Verschränkung von Physis und Wissen, die für ihn der Kunst als dem Leben gleichkommt.3 In dieser Verschränkung folgte ihm bereits die frühe Kinotheorie, wenn sie die Wahrnehmung des Kinos, jenseits von Wahrheit und Lüge, als Agencement von Apparaturen und mentalen Leistungen diagnostiziert, denen ein selbstbewusstes Ich unweigerlich hinterher hinken muss. Von Diagnosen kann insofern die Rede sein, da zuerst Mediziner und Psychologen und dann Juristen – schneller als alle Kunsthistoriker – das Kinosehen zu ihrer Sache machten. Psychologen und Psychophysiker, Gestalttheoretiker und Reflexologen wechseln, auf Nietzsches Trajektorie, aus den Laboratorien ins Geflimmer des Kinos: dazu gehören nicht nur Assistenten aus Wilhelm Wundts Leipziger Institut wie Dr. Paul Linke, der Filme drehte, um seine These von der »Identitätstäuschung« in der 1

2 3

Friedrich Nietzsche: »Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne« [1872], in: ders., Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinare, München 1967-1977, S. 876. Ebd., S. 878. Vgl. dazu Heide Schlüpmann: Friedrich Nietzsches ästhetische Opposition, Stuttgart 1977, S. 41 ff. 77

UTE HOLL

Wahrnehmung unter Beweis zu stellen,4 der Stabsarzt und Neurologe Dr. Martin Weiser, ein Schüler Ewald Herings, der das erste Handbuch für filmende Mediziner schrieb, Vladimir von Bechterevs Leningrader Schüler Dziga Vertov und Michail Romm, sondern insbesondere Dr. Hugo Münsterberg, der 1912 mit kinematographischen Testvorrichtungen für Kraftfahrer experimentierte und sich mit Studiotechniken vertraut macht, bevor er im Kino landete, und zwar, trotz aller Theorie, als Verfallener der Lichtspiele,5 und auch Rudolf Arnheim gehört dazu, der die Laboratorien der Frankfurter Gestaltpsychologen, wo er zur Ausdrucksbewegung geforscht hatte, verließ, um Filmtheoretiker und -kritiker zu werden. Die Liste der Doktoren hinter der Kamera und im Kinosessel ist sehr viel länger. Entscheidend ist, dass sie alle im Dunkel der Projektion die Wirkungen eines Scheins wiederentdeckten, der bereits in ihren eigenen Experimenten die Organisation positiver Daten gestört und dadurch neue Parameter menschlicher Wahrnehmung für die Versuchsanordnungen gewonnen hatte. Wenn das Kino neue Menschenbilder in die Welt setzte, waren es definitiv zuerst Psychologen und Mediziner, die dessen Herausforderungen an ihre Wissenschaft annahmen und Täuschungen, Schein und Illusion über ein psychologisches Sehen im Sinne von Goethes Farbenlehre hinaus als psychophysische Sachverhalte ernst nahmen. Das Wissen des Kinos nimmt so seinen Weg über die Physis und hat die Experimentalanordnungen, die im Laufe des 19. Jahrhunderts Seele und Wahrnehmung auf den Prüfstand positivistischer Naturwissenschaften gestellt hatten, immer schon implementiert. Im expressionistischen Film und im Kino der zwanziger Jahre kehrt die gemeinsame Geschichte von Kino und Medizin, von Psyche und Physis, und auch die von Wahnsinn und Wissen als Motiv der Filmgeschichten selbst zurück. Illusionen und Traumbilder, die die flimmernden schwarzweißen Oberflächen der Kinoleinwand produzieren, treiben den Riss zwischen Zeichen und Dinge, oder, genauer, zwischen Reizen und 4

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»Dr. Paul Linke/Jena [...] bricht mit den alten, rein physiologischen Anschauungen, welche das Bewegungsproblem lediglich durch das Nachbildphänomen und die Verschmelzung erklären wollen. Nach Paul Linke ist das Sehen von Bewegungen bei der Kinematographie eine Identifikationstäuschung«, heißt es im Juli 1917 in Heft 7 der Photographischen Korrespondenz. H. Lehmann: »Über neue kinematographische Theorien und Apparate« Autoreferat über einen in der Dresdner naturwissenschaftlichen Gesellschaft ›Isis‹ am 30. März 1916 gehaltenen Vortrag. zitiert nach Martin Weiser: Medizinische Kinematographie. Dresden, Leipzig 1919, S. 43. Vgl. dazu Jörg Schweinitz: »Psychotechnik, idealistische Ästhetik und der Film als mental strukturierter Wahrnehmungsraum: Die Filmtheorie von Hugo Münsterberg«, in: Hugo Münsterberg: Das Lichtspiel. Eine psychologische Studie (1916) und andere Schriften zum Kino, hg. von Jörg Schweinitz, Wien 1996, S. 9-26. 78

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Weltbild in die Körper hinein: nicht nur in die der Filmfiguren, sondern auch in die Körper der Zuschauenden. Wissen konstelliert sich damit im Intervall der Wahrnehmungen. Als »tastendes Spiel auf dem Rücken der Dinge« ließe sich auch das Spiel von DR. MABUSE bezeichnen, eines, in dem er sein ›Selbst‹ aufs Spiel setzt und, wie jeder Spieler, verliert, weil das Spiel triumphiert. Das BILD DER ZEIT, das der erste Teil von Fritz Langs erstem MABU6 SE-Film verspricht, ist insofern weniger Psychogramm der Gesellschaft als Autogramm der Wahrnehmung, ihrer medialen Reorganisation und ihrer entfesselten Phänomene. Es führt sowohl die Formen filmischer Illusionierung vor, als auch die Effekte, die sie auf Körper haben können, zeigt die Trancetechniken, verweist auf ihre Genealogien, und lässt sie zugleich, unterhalb bewusster Wahrnehmungsschwellen, auf die Kinogänger einwirken. DR. MABUSE agiert zwischen den Zeiten. Was an diesem Film modern ist, verweist auf die Mediengeschichte des 19. Jahrhunderts und ist im Jahre 1922 ungefähr 50 Jahre alt: Es protokolliert die Experimentalanordnungen, die mediale Funktionen ins Ich implementieren und zeigt, dass die Wahrnehmung des Menschen schon lange dort war, wo Mabuses Trance, das Kino, sie hinhaben will. Modern ist der Film, weil er die Medien selbst zum Einsatz bringt und ihre Analyse daher immer nur denen gestattet, die ihnen schon verfallen sein werden. Auch 1922 noch, das zeigen die MABUSE-Kritiken, ging man ins Kino um zu testen, wie es bestellt ist um die Implementierung des Ich ins Andere, um auszuhandeln, wer Herr und wer Knecht ist im Hause der Kommunikation, und wer Spion darin. Was registriert und kritisiert wird am Kino der ersten Jahre, was von Anfang an Grund genug war, ins Kino zu gehen, war seine Sensation und seine Trance: Erregung und Beruhigung, Spannung und Entspannung, Lust und Unlust, – die gleichen Parameter übrigens, mit denen Wilhelm Wundt Emotionalität überhaupt messen und klassifizieren wollte. Die Möglichkeit des Sehens und der eigenen Affizierbarkeit, der Triumph der Sinnenreizung über Deutung und Bedeutung ziehen Kinogänger und Kinogängerinnen in die Säle. Hell und Dunkel choreographieren die Wahrnehmung, »Tempo und Rhythmus«7. Bereits 1908 kommentiert Jacob van Hoddis, wie er sich gehen lässt, mit allen anderen, in die Serien buchstäblich schwachsinniger Attraktionen: »Und in den dunklen Raum – mir ins Gesicht – Flirrt

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Vgl. Karin Bruns: Kinomythen 1920-1945. Die Filmentwürfe der Thea von Harbou. Stuttgart, Weimar 1995, S. 72. Vgl. die Mabuse-Kritik aus dem Roland 1.6.1922, zit. nach: Hätte ich das Kino! Die Schriftsteller und der Stummfilm, Katalog zur Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum, Marbach a.N., Stuttgart 1976, S. 334. 79

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das hinein, entsetzlich! Nach der Reihe!«8 heißt in seinem Couplet, das den Eindruck des unzusammenhängenden Filmprogramms nur durch Reim und Versmaß in Eins zwingt. Im Konzept des Seriellen, das auch im DR. MABUSE alle möglichen Attraktionen – Exotik, Sex, Sucht und Verbrechen – nummernartig hinter einander schaltet, verweist Fritz Langs Film auf das frühe Kino und seine Geschichte, und lässt die Attraktivität der Attraktionen als Magie des Medialen sichtbar werden: man begnügt sich, ›Reize zu empfangen‹ und empfängt zugleich ein ›Bild der Zeit‹. Der Schein – als empirischer aber auch als Schein vernünftiger Urteile, dieser »natürlichen und unvermeidlichen Illusion [...], die selbst auf subjektiven Grundsätzen beruht und sie als objektive unterschiebt«9 – hat sich mit dem Kino in allerhand Zwischenformen ausdifferenziert, die Urteile über Wahrheit und Lüge bodenlos werden lassen: Flackern, Flirren, Flimmern und Vibrieren sind ästhetische Kategorien geworden, auch wenn hartnäckige Psychophysiker solche Formfragen für ihr Ressort reservieren wollten: »Hat beispielsweise der Neuimpressionist die Überzeugung, daß der genußvolle Landschaftseindruck, den sein Bild erzeugen soll, nur dann zustande kommt, wenn von dem Gesamtbild ein gewisses Flimmern ausgeht, so steht er als Psychotechniker vor der ganz nüchternen und an sich gar nicht ästhetischen Frage, wie die psychologische Wirkung des Flimmereindrucks erzielt werden kann.«10

Nicht Fabeln, Formen oder Farben, sondern Erregungsfrequenzen konnten mit dem Ende des 19. Jahrhunderts zur Qualität von Kunstwerken erhoben werden: »ein gewisses Flimmern« eben. In dem Maße, wie Wahrnehmung experimentalpsychologisch zerlegt und in ihren Einzelfunktionen untersucht worden war, wurde Kunst analysiert in der Art, wie sie Nerven affizierte. Filmkritiker gingen schnell dazu über, die Wirkung von Licht und Schatten, von Raum und Bewegung im Kino zu beschreiben. Die spürbare Wirksamkeit der sinnlichen Reizungen im Kino kassierte den Unterschied von »Kintopp und Wirklichkeit.«11 Auf dieser Ununterscheidbarkeit basiert Mabuses Macht.

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Zit. nach ebd., S. 2. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, Werkausgabe Bd. 3, hg. v. Wilhelm Weischedel, Band I, S. 311. 10 Hugo Münsterberg: Die Grundzüge der Psychotechnik. Zweite, mit ergänztem Literaturverzeichnis versehene Auflage. Leipzig 1920, S. 73. 11 Vgl. die Mabuse-Kritik aus dem Roland des 1.6.1922, zit. nach: Hätte ich das Kino (Anm. 7), S. 334. 80

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DR. MABUSE, DER SPIELER, uraufgeführt am 27. April 1922 im UfaPalast am Zoo, war zuerst Feuilletonroman, Nummern als Cliffhanger, Ullsteins Einstiegdroge für Fortsetzungs-Junkies in die Berliner Illustrirte, zugleich Ullsteins größter Erfolg in der Filmproduktion. Erich Pommers geniale Filmfirmen-Gründungen, nachkriegs-kapitalisiert und inflations-kalkuliert, machen selber Spieler: in der Uco-Film GmbH, Tochter aus dem guten Hause der Decla-Bioskop, werden die feinfühligen, kunstsinnigen Autoren-Filmer Dr. Murnau, Lang, Froelich, zu Spielern auf dem globalen Markt der Unterhaltungsindustrie, zu Devisenfängern, zu Seelenverkäufern, – zuletzt auch zu Händlern ihrer eigenen schlemihlhaften Doppelgänger. Auf den Oberflächen, in den Inszenierungen ihrer Filme, im NOSFERATU (1921), den Uco-Produktionen SCHLOSS VOGELÖD (1921), PHANTOM (1922) und eben den MABUSE-Filmen ist dieser Prozess angedeutet. Durchgeführt aber ist er erst auf der Ebene der filmischen Verfahren: unter der samtenen Oberfläche des Spieltisches lässt sich, mit Nietzsche, der kinematographische Seziertisch mitsamt seinen Kombinationsregeln ertasten: Die Geschichte des Kinos in den Laboratorien der Psychologen und Psychotechniker des 19. Jahrhunderts. Gleichzeitig zeigt sich auf den Kinokörpern aber auch, dass unterhalb dieser Oberflächen keine Seele zu erwarten ist, sondern eine vermessenen Physiologie, deren Effekte von Medien aufgehoben sind. Und die deshalb mit den Medien im Nach-Krieg liegen. Das Wissen dieser Filme zeigt sich hinter dem Rücken ihres ›Narrativs‹. Das macht jede Geschichte des Kinos so komplex, will man nicht haltmachen, wo es – ganz richtig – heißt, ›Mabuse ist Aufklärung und Gegenaufklärung zugleich‹.12 Eine Dialektik der Aufklärung ist hier vielleicht nicht die richtige Metapher: Macht man im Kino das Licht an, ist nichts mehr zu sehen, und die Frage, ob der Gang ins Dunkel des Kinos in Termen der Verschuldung und der Unmündigkeit verhandelt werden kann, unterschreitet die Komplexität von MABUSES faszinierenden und in der Tat nicht gerade befreienden Dimensionen. MABUSE ist Fesselungskünstler, er fasziniert. Die Frage, ob Kino Täuschung oder Enttäuschung ist, beschäftigt die Filmwissenschaft nicht erst seit DR. MABUSE. Sie wurde zum Vexierspiel schon mit Dr. Münsterbergs grundlegendem ›Photoplay‹ aus dem Jahr 1916.13 Münsterberg, Philosoph und Begründer der Psychotechnik, weist darin eine homologe Verschränkung von Mind und Movies nach, so wie Dr. Merleau-Ponty, viele Jahre später, im Kino das Analogon zu einer 12 Klaus Kreimeier: Die Ufa-Story. Geschichte eines Filmkonzerns, München 1992, S. 106 13 Hugo Münsterberg: Das Lichtspiel. Eine psychologische Studie (1916) und andere Schriften zum Kino, hg. von Jörg Schweinitz, Wien 1996. 81

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neuen Psychologie entdeckt, die »darauf verzichtet, Körper und Geist zu unterscheiden«14, und darin nicht nur die durch den Leib konstituierte Identität von Wahrnehmung und Welt, sondern sogar die »neue Auffassung der Wahrnehmung des Anderen«15 realisiert sieht. Der Psychotechniker und der Phänomenologe, beide im strengen Sinne Doktores der »Verhaltensforschung«16, sind sich darin einig, dass das Kino, Täuschung und Enttäuschung zugleich, die Verschränkung von Wahrnehmung und Welt freilegt und als Imaginäres auf den Leinwänden weithin sichtbar macht. So unterschiedlich ihre Annäherungen an das Kino sind: darin, dass es die Wahrnehmung simuliert und die Welt für den Betrachter organisiert, stimmen sie überein. Und beide werden sich auf Goethe beziehen, um die Funktionen technischer Medien in dieser Projektion dem mentalen Weltverhalten menschlicher Wesen unterzuordnen. DR. MABUSE ist der medienhistorische Mephisto dieser Konstellation: er führt den faustischen Menschen vor, wie das 19. Jahrhundert ihre Seele kassierte – und bannte sie mit dieser aufklärerischen Geste zugleich an die Macht des Kinos. Nicht einmal Fritz Lang konnte aufhören, MABUSE-Filme zu drehen, die den jeweils neuesten Einbruch technischer Medien in die Wahrnehmung der Welt als Wahrheitsspiel der Macht ins Werk setzten.

2. Bilder vom Selbst Schicksal, Spiegel, Zufall, Zocken: wie wird ein ›Selbst‹ gemacht im Zeitalter technischer Reproduzierbarkeit? Mit der allerersten Einstellung des Films lässt sich DR. MABUSE, DER SPIELER in die Karten schauen: er zieht eine Serie von Porträts, eine Serie von Entstellungen und Verstellungen seiner selbst. Welche Rolle hier allerdings ein ›Selbst‹ spielen soll, lässt sich nicht sagen, denn Rudolf Klein-Rogge, Schauspieler und Protagonist des Films, sitzt uns nach dem ersten Umschnitt an seinem Schminktisch gegenüber, an der Grenze von extra- und innerdiegetischem Raum, wie es üblich ist in Stummfilmproduktionen, die den Star zuerst in einer langen PR-Einstellung zeigen, bevor er in seiner Rolle aufgehen und als Person verschwinden wird. Wir selbst sitzen, wenn uns nicht alles täuscht, in dieser backstage-Konstellation exakt an der Position des Spiegels. Aber wir täuschen uns. Ein paar Einstellungen weiter und nach Zwischenschnitten auf den koksverschnupften Butler Spoerri 14 Maurice Merleau-Ponty: »Das Kino und die neue Psychologie«, in: ders.: Sinn und Nicht-Sinn, München 2000, S. 65-82. Ursprünglich ein Vortrag am Pariser Filminstitut IDHEC, 1945. 15 Ebd. S. 71 16 Vgl. Hugo Münsterberg: Grundzüge der Psychotechnik, Leipzig 1914/ 1920 sowie Maurice Merleau- Pont: Die Struktur des Verhaltens, Berlin/ New York 1976. 82

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werden wir durch eine Kreisblende auf Klein-Rogge-Mabuse-Selbst starren und uns exakt in der Position der Kamera wiederfinden, der Königsmacherin der Subjektiven, nicht backstage, sondern hors-champ, also eng verbunden mit der Illusion des Kinos und seiner Maschinerie. Fritz Langs doppelte Bildrahmen und -Böden eröffnen zugleich ikonografische Oberflächen, ikonologische Subtexte und legen zeichenhafte Spuren, die das Medium selbst in den Blick rücken. Der Fokus aufs Medium jedoch wird zur Entrückung der Zuschauenden, irritiert uns gerade da, wo wir der Sache und den Sachverhalten auf die Spur zu kommen meinen. Das Kartenspiel im ungesicherten Raum der ersten Einstellung scheint Hinweise auf Möglichkeiten der Identifizierung im Film zu geben, teilt Indizien mit und manövriert uns in die Detektivposition, die, nach Béla Balász, Kinosehen begründet: »Der Film hat mit dem Detektiv angefangen. Denn der Detektiv bedeutet die Romantik des Kapitalismus. Das Geld ist die große Idee, um die der Kampf geht. Das Geld ist der vergrabene Märchenschatz, der heilige Gral und die blaue Blume der großen Sehnsucht.«17

Der Detektiv mithin markiert die Kino-Hoffnung, alle Abstraktionen des Kapitalismus’ zurück zu führen ins Sinnlich-Konkrete. Insofern das Kino den Menschen aus dem unsinnlichen Gutenberg-Imperium entlässt in die physische Präsenz einer neuen visuellen Kino-Welt, verspricht es doch, so Balázs, nicht nur eine anthropologische Wende, sondern könnte Revolution realisieren. Der neue Mensch der Kinokultur wird in seinen Gesten und Gebärden »überhaupt keine Begriffe, sondern unmittelbar sein irrationales Selbst« zeigen, »... und was sich auf seinem Gesicht und in seinen Bewegungen ausdrückt, kommt von einer Seite der Seele, die Worte niemals ans Licht fördern können.«18 Fritz Lang hingegen zeigt mit Dr. Mabuses Maschen, dass die Seele aus der Silberschicht vor allem den Spielern zur Verfügung steht, den Schurken und Gaunern der Welt. Dieses filmische Wissen war es genau, das Fritz Lang später einem Dr.

17 Béla Balázs: »Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films« in: ders., Schriften zum Film, 1. Band, hg. von H. Diederichs u.a., München, DDRBerlin, Budapest 1982, S. 43-143, hier S. 132. Dass Balász als Räterevolutionär und als Dramatiker dieser blauen Blume als blaues Licht so gehörig auf den Leim gegangen ist, hat sicher was mit einer gewissen Binarität seines Denkens – selbst und anderes, abstrakt und konkret, kalkuliert und sinnlich – zu tun. Vgl. dazu Hanno Loewy: Béla Balazs. Märchen, Ritual und Film, Berlin 2003. 18 Ebd., S. 52. 83

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Goebbels, der es durchaus zu schätzen wusste, nicht zur Verfügung stellen wollte und flüchtete nach Paris. Zwei Momente des Medialen überlagern sich, nicht nur bei Balázs, sondern insbesondere in der maliziös somnambulen Mabuse-Dramaturgie von Fritz Lang und Thea von Harbou, die den Roman für das Kino adaptiert hatte: erstens die technisch-reale Zerlegung von Identität durch den Film, der das Selbst in diskrete und normalerweise nicht wahrnehmbare Einzelaspekte zerlegt und für einer Analyse vor jedem Bewusstsein freigibt, einem optisch Unbewussten, wie Walter Benjamin es für eine revolutionäre kollektive Kunst stark machen wollte.19 Und zweitens die synthetische Herstellung, die Animation der Einzelbilder zu eben dem ›irrational‹ bildhaften Selbst, von dem Balázs schreibt, und das es in seiner spezifisch physischen Präsenz vor dem Kino und seinen Bildern nicht geben konnte. Dieses nur medial existente ›Selbst‹ ist jedoch die Voraussetzung für alle bildhafte Identität im Imaginären, die vom Bild des Fotografischen ausgeht, und schließlich, in den Herstellungs- und Produktionsprozessen technischer Medien, die Voraussetzung für Verdopplung und Simulation in den Identitätsprozeduren gesellschaftlicher Räume und Institutionen. Weil es im Fotografischen kein Original gibt, sondern nurmehr Kopien und Varianten, ist die filmische Produktion von Identität immer auch eine von medial marodierenden Doppelgängern. Zum ersten Aspekt, mit dem DR. MABUSE als Spieler an den Anfang der Filmgeschichte verweist, gehört, dass ein charakteristisch Seelenhaftes von Filmschauspielern und -schaupielerinnen sich überhaupt nicht anders denn in Serien von Einzelbildern zeigen lässt: am Grunde jeder Filmvorführung liegt die aus intermittierenden Einzelbildern hergestellte Bewegungsillusion. Bevor die Bilder aber in Bewegung versetzt wurden, gehörte die Serienfotografie im 19. Jahrhundert zu den ersten Praktiken, Charakteristisches und Typisches – beides ja noch Begriffe aus der Buchkultur – aus der Serialisierung und Überblendung von Fotografien zu deduzieren: ein absolut abstraktes Verfahren, Sinnlich-Konkretes herzustellen, oder, mit Balázs, ›Zeichenkapital‹ in einen ›Märchenschatz‹ zu verwandeln. Das geschah systematisch zuerst im Archiv der Pariser Polizei, wo der Direktor des fotografischen Dienstes der Präfektur von Paris, Alphonse Bertillon, solche Daten-Serien für die europäische Polizei ver-

19 »Seitdem Filmkameras, – zum begreiflichen Leidwesen der Lebensphilosophie – mit Flügelscheiben und Malterserkreuz die Körper vorm Sucher zerhacken, um ihre 24 Bilder pro Sekunde zu schießen, ist Lacans zerstückelter Körper eine Positivität.« Friedrich A. Kittler: »Romantik – Psychoanalyse – Film: eine Doppelgängergeschichte«, in: ders.: Draculas Vermächtnis, Leipzig 1993, S. 81-104, hier S. 94. 84

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bindlich gemacht hatte.20 Eine Person wurde fotografisch auf eine Porträtansicht und einen kurzen Moment der Pose, auf einfachste ZeitRaum-Koordinaten und die Schattierungen fotografischer Oberflächen reduziert: die rationale Wurzel des ›irrationalen Selbst‹. Zunächst wurden im Verfahren des Indizienparadigmas minimale physiognomische Differenzen im Namen der Identifikation und der Wahrheit ermittelt.21 Durch Vielfachbelichtungen von Individuen ließen sich solche Aufnahmen serienweise zu Composite Portraitures synthetisieren, die der EugenikerAnthropologe Francis Galton als familiäre, der Polizist Alphonse Bertillon als kriminelle Gruppen zusammenstellte, so dass dadurch Typen sichtbar wurden, deren charakteristische Devianz und also mögliche Identifikation auf den ersten Blick festgestellt, archiviert und zu Fahndungszwecken telegrafisch in alle Welt übertragen werden konnte.22 Es konnte damit sogar spekuliert werden. Im Handbuch für Untersuchungsrichter als System der Kriminalistik, das der Professor für Strafrecht Hans Gross 1892 zum ersten Mal herausgab und das medientechnisch erneuerte Auflagen bis 1977 erfuhr, heißt es in der fünften Auflage von 1922, die also im gleichen Jahr erschien wie DR. MABUSE: »Man kann sich sogar denken, dass man die Photographie eines Menschen schaffen kann, der in derselben Erscheinung heute nicht mehr existiert. Ich erinnere an jene Kombinations- oder Typenphotographien, die vor einiger Zeit von sich reden machten. [...] Sagen wir, ich habe einen Verhafteten, und will, etwa wegen einer wichtigen Agnostizierung, wissen, wie der Mann vor 6 Jahren ausgesehen hat. Gelingt es nun, eine Photograhie von ihm aufzutreiben, die 20 Vgl. hierzu Thorsten Lorenz: »Der kinematographische Un-Fall der Seelenkunde«, in: Friedrich A. Kittler/Manfred Schneider/Samuel Weber (Hg.): Diskursanalysen 1. Medien, Opladen 1987, S. 108-128, hier S. 108 ff. sowie Georges Didi-Huberman: Erfindung der Hysterie. Die photographische Klinik von Jean-Martin Charcot, München 1997, S. 67: »Denn das Einverständnis zwischen Salpêtrière und Polizeipräfektur war ausgezeichnet, verschwiegen und einwandfrei: die photographischen Techniken waren dieselben und sie erfüllten auch dieselben Hoffnungen (denn die Techniken zeugten auch von Kunst: Die ersten Identitätsphotographien waren so schmuck wie Familienporträts ...)«. 21 Vgl. dazu Carlo Ginzburg: »Spurensicherung. Der Jäger entziffert die Fährte, Sherlock Holmes nimmt die Lupe, Freud liest Morelli – die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst«, in: ders.: Spurensicherungen. Über verborgene Geschichte, Kunst und soziales Gedächtnis, Berlin 1983, S. 61-96. 22 Vgl. Allan Sekula: »The Body in the Archive« in: OCTOBER 39, 1986, S. 1-64. S. 17 und Tom Gunning, »Tracing the Individual Body: Photography, Detectives and the Early Cinema«, in: Leo Charney/Vanessa R. Schwartz (Hg.): Cinema and the Invention of Modern Life, Berkeley/Los Angeles/London 1995, S. 15-45. 85

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10 Jahre alt ist, so lasse ich den Mann in derselben Grösse, Haltung, Haar und Barttracht wie auf der 10 Jahre alten Photographie aufnehmen und aus der alten und neuen Photographie ein Kombinationsbild machen. Die Expositionsdauer beider Photographien muss natürlich dem Verhältnisse ihres Alters entsprechen.«23

Absolut sensationelle Reduzierungen der Expositionsdauer gelangen einem anderen Pionier visueller Ermittlungskultur, Albert Londe. Er war Leiter des fotografischen Dienstes an der Pariser Psychiatrie Salpêtriére, wo er das Verfahren der Instantan-Fotografie entwickelt hatte, um Serien von Hysterikerinnen aufzunehmen. Londe zeigte, dass mit entsprechenden Vielfachbelichtungen auch in der Neurologie etwas sichtbar gemacht werden konnte, was nur dank des fotografischer Verfahren existierte, sich aber als Wahrheitsgenerator in der klinische Praxis einsetzen ließ: die facies, der typische Ausdruck einer materiell nicht nachweisbaren Krankheit. Die klinische Diagnose solcher Krankheit setzt die technischen Dienste des Fotolabors voraus, da sie – im einzelnen Fall verborgen – überhaupt nur in der seriellen Überblendung vieler verzerrter und leidender Gesichter sichtbar wird.24 Als Fotograf beanspruchte Londe daher die Meriten, neue diagnostische Verfahren in der Medizin begründet zu haben, für die die bloßen Augen der Ärzte blind bleiben mussten. Die Fotoplatte war die materielle Grundlage der Klassifikation von »Affectionen sine materia«, wie Charcot – in Freuds Übersetzung – die Neurosen und Hysterien nannte.25 Techniker und Ingenieure waren es nach Londe, die den medizinischen Blick durch die Serientypen aus dem Fotolabor geprägt haben, eine Praxis der medialen Abduktion nach Perice: Regel und Fall werden aus dem Verfahren der Ermittlung intuitiv erfaßt. Londes Trickbilder wurden dann dem Gedächtnis der Mediziner übertragen, wie er schreibt: »gravés dans la mémoire du medicin«. Das Krank-

23 Hans Gross: Handbuch für Untersuchungsrichter als System der Kriminalistik. Fünfte, umgearbeitete Auflage, I. Teil, Wien, 1922, S. 294. 24 Vgl. Albert Londe: »La photographie dans les arts, les sciences et l’industrie«, Conférence faite au Conservatoire National des Arts et Métiers, le 18 mars 1888, Paris 1888, S. 23: »Dans un autre ordre d’idées, le chirurgien, le médecin constatent au moyen de la photographie l’étendue des lésions, leur aspect; ils en notent les modifications et complètent ainsi de la manière la plus claire leurs observations. Il est même certaines affections qui donnent au malade une physiognomie toute spéciale, qui ne frappe pas l’observateur dans un cas isolé, mais qui devient typique si on la retrouve chez d’autres personnes atteintes de la même maladie.« 25 Jean-Martin Charcot: Poliklinische Vorträge. Aus dem Französischen übersetzt von Sigmund Freud. Bd. 1 Schuljahre 1887/88, Leipzig/Wien 1893, S. 13. 86

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heitsbild kommt aus der Dunkelkammer.26 In den fotografischen Büchern der Salpêtrière wurden beispielsweise die Hysterikerinnen nicht nur klassifiziert, sondern in serienweisen Anordnungen der Bilder wie in Fotoromanen animiert, zum Ausdruck, zum Tanzen gebracht. Die serienfotografischen Ermittlungsverfahren des 19. Jahrhunderts erscheinen wie Blaupausen für die Filmdramaturgie von Fritz Lang und Thea von Harbou in den Stummfilmen des MABUSE-Zyklus. Bereits das Personal, das die Filme bevölkert, weist darauf hin: »Schieber, Spieler, Dirnen«, wie Wenk meint, Gauner, Hysterikerinnen und Hypnotisierte, die als Tänzerinnen auftreten oder als Medien in mesmeristischen Sitzungen – in der Parallelmontage von Petit Casino und theosophischer Séance werden alle drei nacheinander in dasselbe Rund überblendet. Dr. Mabuses eigene Masche ist lediglich, dass er die erkennungsdienstlichen Verfahren invertiert und mit den Mitteln des Fotografischen serienweise falsche Identitäten und reproduzierbare Typen herstellt. Seine Verstellungen funktionieren am besten, wenn er tatsächlich als Doppelgänger von existierenden – im Film existierenden – Figuren auftritt, beispielsweise in seiner Verdopplung des Bürochefs im Excelsior Hotel: kein Mensch kann die beiden unterscheiden, weil die Differenz nur in der Erzählung markiert ist, im Physischen des Kinos sind Bürochef und Mabuse identisch, Doppelgänger. Genau an diesen Stellen ist es wieder das Spiel der Unentscheidbarkeit, mit dem DR. MABUSE die Kinozuschauer konfrontiert bzw. ihre Wahrnehmung spaltet. Mit den zu Mabuse komplementären Maskeraden des Staatsanwalts Wenk, der seinerseits unter falscher Identität die einschlägigen Lokale der Stadt aufsucht, wird darüber hinaus die Symmetrie von Erkennung und Verkennung, von Legalität und Illegalität, ins Werk gesetzt, wie sie das Bild des Nachkriegsdeutschland im Kino von Fritz Lang prägt. DR. MABUSES Büro, das sich selbst vom Boudoir zur Bibliothek verwandelt und umgekehrt, wäre jedenfalls als Laboratorium für filmische Identitätsillusionen zu begreifen, die sich in die Gedächtnisse der Zuschauer einschreiben sollten: ein Labor, das die fotografischen Dienste der Neurologie und die einer Polizeizentrale in die Machenschaften eines Filmstudios überführt. Mabuse nutzt in seinen maskierten Betrugstouren durch die Stadt in seinem Spiel, was eigentlich zur filmischen, das heißt zur medialen Ver26 Albert Londe: La photographie médicale. Application aux sciences médicales et physiologiques. Vorwort J.-M. Charcot, Paris 1993. S. 5: »C’est ainsi, en particulier, que dans les maladies du système nerveux, on a pu établir des types rigoureusement définis qui correspondent à des affections déterminées. Ces types restent gravés dans la mémoire du medicin et nous en connaissons qui, à la seule inspection d’un individu entrevu dans la rue ont pu faire un diagnostic qui a été pleinement confirmé par l’examen ulterieur.« 87

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änderungen des Ausdrucks gehört: seine Geschwindigkeitsveränderung bewirkt Ausdrucksveränderungen. Der Trick, der aus dem Kino bekannt ist – der zeitgerafft zapplige Chaplin wirkt stets lustig, eine Zeitlupe hingegen transformiert Banales in Heroisches – und dort genuin medial generiert ist, wurde systematisch in den Laboratorien der Gestaltpsychologen untersucht.27 Mabuse wiederum verkehrt das Verhältnis von Medium und Körper im Dienste seiner Transformationen: als er beispielsweise, von Wenk entdeckt, als komischer, kauziger alter Zocker den Spielsalon verlässt, wackelt er ruckartig davon, als liefe der Film plötzlich schneller – was sich in den handgekurbelten Filmen von 1922 nicht ausschließen ließe. Hier aber simuliert Klein-Rogge den Effekt für den Moment der Flucht. Man könnte sagen, Mabuse inkorporiere das Wissen, das das Kino aus den Laboratorien gewonnen hat, und damit die Medienfunktion selbst. Wenn Dr. Mabuse im Film als Börsenspekulant, als Psychoanalytiker, als Hypnotiseur oder selbst als Detektiv auftritt, realisiert er im Prinzip immer dasselbe: aus diskreten, diskontiniuierlichen Daten, die er sammelt, aus Spuren, die er sichert, Symptomen, die er registriert, oder Indizien, die er findet, setzt er ein kontinuierliches Bild zusammen, allerdings nicht, um es selbst für wahr zu halten, wie es gute Detektive tun würden, sondern um wiederum andere damit zu täuschen. Die Konstruktion eines solchen kohärenten aber korrupten ›Bildes der Zeit‹ verlangt, dass Mabuse über die durch Medien vermessene Welt verfügt: seine Macht ergreift er gerade nicht über den Menschen, sondern über Datenverarbeitung und Nachrichtentechniken. Im Film werden Kommunikationsmedien, Transportmedien, Speichermedien und ihre Verschaltungen systematisch zum Imperium Mabuses zusammengesetzt: die rasante erste Episode eines Raubüberfalls, bei dem ein Handelsvertrag entwendet wird, zeigen das deutlich: Telefon, Telegraf, Eisenbahn, Auto, die Zeitung als Massenmedium, die Börse und sogar Geldscheine, echte und gefälschte, als zirkulierendes Übertragungsmedium gehorchen einem imperativen Impuls, der sich durch akustische, optische und haptische Kanäle gleichermaßen als allgemeines Äquivalent fortsetzt, um schließlich im Fall der Aktie zu kulminieren. In Takt der Stoppuhr, diesem Instrument, das bereits die Abläufe der experimentalpsychologischen Laboratorien koordinierte, sind Mabuses Angestellte diesem mit allen Transport- und Übertragungsmitteln rasenden Datenfluss unterworfen. Wie alle Figuren im Film – denen Mabuse immer wieder aufgrund ihrer Verspätungen droht – sind sie durch ihre Affinität zu Sensationen, möglichen Nerven27 »Die bloße Geschwindigkeitsveränderung bewirkt zugleich eine grundlegende Ausdrucksveränderung.« Rudolf Arnheim: Kritiken und Aufsätze zum Film, hg. v. Helmut H. Diederichs, Frankfurt/Main 1979, S. 41. 88

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reizungen, an Mabuses Imperium gekoppelt. Die Gräfin mit dem sprechenden Namen Dusy Told spricht es auf der Couch des Spielsalons aus: » ... wir brauchen Sensationen ganz besonderer Art, um das Leben zu ertragen.« Zwischen den Coups, die sich den Medienverschaltungen verdanken, bleibt durch Überblendung nur Mabuses sich transformierendes Porträt, das nichts als einen stechenden Blick von Bild zu Bild konserviert, so dass das Imperium Mabuses hypnotischem Willen unterstellt scheint – andererseits aber zeigt die Sequenz der Aktienmanipulation, dass nur der Film, die Kunst der Einstellung, der Dauer, der Überblendungen, kurz, die Montage in der Zeit, die verschiedenen Medien koordiniert. Das Kino selbst wird als Herren- oder Meistermedium dieser Verschaltung ins Bild gerückt. Mabuse scheint ›Master of Communication‹ zu sein28, aber soviel wir sehen verdankt er ihr vor allem seine Existenz, ist ihr Untertan, Subjekt. Die Macht eines Selbst, wie sein Bild, unterliegt unter Medienbedingungen einem Anderen.

3. Bilder der Wahrnehmung Genauso wie Dr. Mabuse seine eigene proteushafte Gestalt durch Maskeraden her- und herausstellt, verweist auch der Film DR. MABUSE deutlich auf seine diversen Masken und Blenden, um das Medium und die Mittel der Übertragung selbst in den Blick zu rücken. Eine Verengung des Blickfeldes wird am Anfang jeweils neuer Sequenzen oder Einstellungen gezeigt und das heißt, in Kontext eines je neuen Spiels des Dr. Mabuse. Außerdem moderiert die Kreisblende jeweils ein Anstarren und Fixieren unter den Figuren und ist in verschiedenen Formen im Kontext des Hypnotisierens eingeführt: zuerst nimmt Mabuse den reichen Erben Hull ins Visier seines Opernglases und lässt auch die Zuschauenden durch diese Maske den Mann isoliert im Publikum erscheinen, bevor Mabuse ihn fixiert und Hull in verlangsamte Bewegungen, Anzeichen der Entrückung verfällt. Am Ende dieser Episode schließlich, wenn Hull das Spiel verloren hat, wird seine verlorene Subjektive selbst als Kreisblende simuliert. In Dr. Münsterbergs Systematik der filmischen Mittel, die mentale Leistungen simulieren, wären diese Blenden und Masken Formen einer unmittelbaren Übertragung von filmischen auf psychophysische Prozesse. Im Unterschied zu theatralischen Mitteln, die Münsterberg in gewissen Übertragungsfunktionen des Kinos ebenfalls entdeckt, bezeichnet er die genuin filmischen Formen als Implementierungen von mentalen Vorgängen, die er unwillkürlichen Wahrnehmungsleistungen vergleicht, da »der leitende Einfluß [...] hier von außen (kommt).«29 Insofern die Wahrnehmung gelenkt, das Bewusstsein von außen gesteuert ist, lässt sich ei28 Vgl. Tom Gunning: The Films of Fritz Lang, London 2000, S. 94 ff. 29 Münsterberg: Das Lichtspiel (Anm. 13), S. 51. 89

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ne direkte Kopplung von Mind und Maschine im Kino konstatieren: »(Münsterbergs) Psychotechnik, statt wie die Psychoanalyse nur Ähnlichkeiten zwischen Film und Traum zu vermuten, kann jedem einzelnen der unbewußten Mechanismen einen Spielfilmtrick zuordnen.«30 Nicht zufällig ist für den am Repertoire Griffiths geschulten Psychotechniker31 das prominenteste Beispiel für solche unbewußten Prozesse die Großaufnahme. Sie simuliert präzis die drei physischen Veränderungen, die Münsterberg für den sogenannten Vorgang der Aufmerksamkeit verlangt: »Was sind die wesentlichen Vorgänge im Bewußtsein, wenn wir unsere Aufmerksamkeit einem Gesicht in der Menge zuwenden oder einer kleinen Blume in der weiten Landschaft? [...] Während die von unserer Aufmerksamkeit erfaßten Eindrücke an Deutlichkeit gewinnen, werden alle anderen weniger deutlich, weniger klar, weniger ausgeprägt, weniger detailliert. Sie verblassen. Wir bemerken sie nicht mehr, sie finden in unserem Bewußtsein keinen Halt und verschwinden. [...] Wir fühlen, daß sich unser Körper auf eine Wahrnehmung ausrichtet. Unser Kopf neigt sich beim Hören einem Geräusch zu, unsere Augen fixieren einen Punkt in der Außenwelt. Wir spannen alle unsere Muskeln an, um mit unseren Sinnesorganen den bestmöglichen Eindruck zu empfangen. Die Linse unseres Auges ist exakt auf die richtige Entfernung eingestellt.«32

Im Kino wird diese ganze Anstrengung einfach durch die Kamera übernommen. Sie richtet unseren Blick aus, verengt ihn, erweitert ihn und verschaltet Welt und ein Wissen, das sich in Münsterbergs englischen ›mind‹ viel besser zwischen Wahrnehmung und Bewusstsein verorten lässt. Mit der Großaufnahme ist es »als wäre die Außenwelt in unser Bewusstsein eingewoben und als sei sie nicht entsprechend ihren eigenen Gesetzen geformt, sondern durch das Agieren unserer Aufmerksamkeit.«33 Nicht für das Kino, auch für die Bühne gilt, dass Aufmerksamkeit unwillkürlich von Sensationen, billigen Tricks und Reizen angezogen wird, von allem, was laut, glänzend und ungewöhnlich ist oder blinkt und flimmert. Während die Inszenierung auf dem Theater sich jedoch Mühe geben muss, die Aufmerksamkeit in der Wahrnehmung der Zuschauer bewusst zu lenken – auf der Varietébühne der Folies-Bergères im DR. MABUSE ist das grotesk in zwei phallischen Riesennasen kari30 31 32 33

Friedrich A. Kittler: Grammophon Film Typewriter, Berlin 1986, S. 241. Vgl. Schweinitz: »Psychotechnik« (Anm. 5), S. 12 ff. Münsterberg: Das Lichtspiel (Anm. 13), S. 54 f. Ebd., S. 57. Schweinitz’ Übersetzung von ›mind‹ mit Bewusstein beugt sich dem notwendigen »Turn« jedes kulturellen Transfers. 90

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kiert, an denen die Tänzerin Cara Carozza herumturnt –, kann das Kino mithilfe der verschiedenen Techniken der Kamera und der Montage die Führung und Irreführung der unwillkürlichen Aufmerksamkeit unterhalb der bewussten Wahrnehmungsschwelle selbst ansteuern. Besser als jedes Handbuch für Filmregisseure zählt Münsterberg die Mittel auf, mit denen sich die Welt unwillkürlich im Kopf der Zuschauenden organisiert: Kamerabewegung und -fahrten, Kamerawinkel und Brennweiten, Ausstattung und Kadragen und eben alle möglichen Blendenformen, wie DR. MABUSE sie vorführt – runde und rechteckige, vertikale und horizontale, schnelle und langsame. Wenn es nicht abgefilmtes Theater bleiben will, muss Kino unmittelbar als unbewusste Lenkung und Affektation der Nerven und damit als dramaturgische Regie über die mentalen Funktionen zum Einsatz gebracht werden. Damit ändert sich auch Vorstellung und Charakter von Assoziationen, die in der Psychophysik noch als Konnexe von Nervenreizen verhandelt und in der Psychoanalyse dann ins Reich des Symbolischen transponiert wurden. Der Film, in seinen Sensationen zugleich physische und pychische Operation, kennt verschiedene Mittel der Montage, Assoziationen in Zeit und Raum von außen her zu organisieren: »Vorgänge, die so weit von einander entfernt sind, daß wir nicht bei ihnen allen zur selben Zeit physisch anwesend sein könnten, verschmelzen in unserem Blickfeld gerade so, wie sie von unserem eigenen Bewusstsein zusammengebracht werden.«34

Ganz selten nur geht Münsterberg in seinen Beschreibungen des Kinos über das Repertoire der Parameter aus dem Labor hinaus und konzediert, dass das Kino etwas darstellen kann, was in seiner Struktur den experimentellen Psychologen offenbar noch nicht verständlich und jedenfalls nicht darstellbar war, nämlich eine Form von gespaltenem Bewusstsein: »Diese innere Teilung, dieses Bewußtsein kontrastierender Situationen, dieser Wechsel von divergierenden Erfahrungen in der Seele kann sich nirgends darstellen außer im Lichtspiel.«35 Zwar geht Münsterberg nicht so weit wie die sowjetischen Konstruktivisten oder Dziga Vertov, der im Kino menschliche Wahrnehmung prinzipiell auf kinematomorphe hin transzendiert findet, aber immerhin erkennt auch er Momente einer Wechselwirkung von medialem und psychologischem Sehen. Anlässlich der Bewusstseinsspaltung verhandelt Dr. Münsterberg schließlich, was Dr. Mabuses Macht begründet: Suggestion und Hypnose. 34 Münsterberg: Das Lichtspiel (Anm. 13), S. 62. 35 Ebd. 91

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»Ein interessantes Seitenlicht fällt auf diese Beziehung zwischen dem Bewußtsein und den gefilmten Szenen, wenn wir uns einem psychischen Vorgang zuwenden, der ziemlich eng verwandt ist mit jenen, die wir bereits erwogen haben, nämlich der Suggestion. Die Ähnlichkeit besteht darin, daß eine suggerierte Vorstellung, die in unserem Bewußtsein erwacht, aus demselben Material wie Erinnerungen oder Phantasien aufgebaut ist. [...] Erinnerungen und Phantasien werden [...] als unsere subjektiven Beifügungen empfunden. Wir glauben nicht an ihre objektive Realität. Suggestionen hingegen werden uns aufgezwungen. Die Außenwahrnehmung ist nicht nur ein Ausgangspunkt, sondern wirkt als beherrschender Einfluß. Die assoziierte Vorstellung wird nicht als unsere Schöpfung empfunden, sondern als etwas, dem wir uns zu unterwerfen haben. Nur ein Extremfall ist der des Hypnotiseurs, dessen Wort im Bewußtsein der hypnotisierten Person Vorstellungen erweckt, denen diese nicht widerstehen kann. Sie muß sie als wirklich hinnehmen«.36

DR. MABUSE, DER SPIELER, den Dr. Münsterberg, der 1916 starb, nicht mehr sehen konnte, geht, was die Konstruktion von Wirklichkeit im Kino angeht, noch einen Schritt weiter. Er zeigt, beispielsweise anlässlich der Hypnotisierung des Staatsanwalts von Wenk, dass auch dann, wenn der Spuk auf dem Feld des Sichtbaren nicht als wirklich hingenommen wird, man sich ihm nicht oder wenigstens nur mit Mühe entziehen kann. Das gilt für die Hypnose so gut wie für das Kino. Gemäß der surrealistischen Formel »Je sais, mais quand même« verweist Mabuse auf das Changieren von Bewusstem und Unbewusstem im Wirkungskreis von Medien: ihre Analyse, die Durchschaubarkeit ihrer Funktionen, schließt ihren Impakt auf das Subjekt gerade nicht aus. Wenn Wenk am Spieltisch hypnotisiert wird, ist es nicht mehr nur eine kadrierende Blende, sondern ein optischer Trick, der Mabuse aus dem Kreis der Spielenden, die um ihn herum unscharf werden, isoliert, und ihn anschließend durch eine Kamerafahrt, ganz wie Münsterberg es beschrieben hatte, ins Feld der Aufmerksamkeit rückt. Genau diesen durchaus sichtbaren Trick, der als Manipulation der Gefühle der Zuschauenden und als Angriff auf die ›Seelenschicht‹ funktioniert, führt Balázs als Beispiel für Intensivierungen der Wahrnehmung im Film an: »Wohl gebraucht heute schon fast jeder Regisseur die Bewegung als Ausdruck einer Intensitätssteigerung. Etwa in der Darstellung des Blickes von einem Hypnotiseur, dessen Augen er anwachsend auf einen zukommen läßt, daß man den Eindruck hat, von den Augen überfahren zu werden.«37

36 Ebd., S. 63. 37 Balázs: »Der sichtbare Mensch« (Anm. 17), S. 96. 92

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Das Kino stellt Suggestion und Hypnose nicht einfach nur dar, sondern hat seine eigenen historischen Mittel, diese den Körpern zu übertragen. Staatsanwalt Wenk unterliegt der ganzen audiovisuellen Halluzination, sieht die Schrift, die Mabuse ihm suggeriert, und hört den Befehl, Karten aufzunehmen – ganz wie wir – auch wenn er sich einen Rest an Willen und Widerstand wahren kann und nicht dem Befehl der Leinwand gemäß handelt – ganz genau wie wir, die KinogängerInnen in unseren Sesseln, die den audiovisuellen Halluzinationen folgen ohne selbst zu handeln. Die Logik der Kinoreizungen und -sensationen funktioniert, genau wie das am Medienimperium im Falle der gefälschten Baisse an der Börse vorgeführt ist, unabhängig von Glauben und Wollen der Beteiligten, solange DR. MABUSE ihr Begehren und ihre Ängste ins Geschehen verwickeln kann. DR. MABUSES Spiel ist die Herstellung von Übertragung, und dessen Voraussetzung die Kenntnis der Medien, die diese in den Dienst nimmt. In seinem Auftritt als Psychoanalytiker bedient er sich der Metapher eines ungestörten Kanals, um die Kongruenz von technischen Medien, Psychoanalyse und Macht ins Bild zu setzen: »Wenn es mir gelingt, den Kontakt zwischen Arzt und Patienten so herzustellen, daß störende Einflüsse von dritter Seite absolut ausgeschlossen sind, dann hege ich die feste Überzeugung, daß in Zukunft 80% aller Nervenerkrankungen durch Psychoanalyse zu heilen sind ...«.

Im Begriff der Übertragung hat Sigmund Freud im Kontext der Hysterieforschungen eine solche unbedingte Bindung im Arzt-Patienten Verhältnis zur Grundlage der gelingenden Therapie erklärt. Gleichzeitig integriert er die Widerstände von seiten der Patientinnen in dieses prinzipiell entstörte Verhältnis. In einem Vortrag, den er 1906 vor Juristen in Wien hielt und den Hans Gross später veröffentlichte, unterscheidet Freud Strategien der Psychoanalytiker von denen der Ermittlungsrichter: »In der Psychoanalyse hilft der Kranke mit seiner bewußten Bemühung gegen seinen Widerstand, denn er hat ja einen Nutzen von dem Examen zu erwarten, die Heilung; der Verbrecher hingegen arbeitet nicht mit Ihnen, er würde gegen sein ganzes Ich arbeiten.«38 Dr. Mabuse operiert an der Grenze dieser Strategien, verwickelt seine Opfer in Übertragungsverhältnisse und demontiert das Ich. Und im Kontext der Hypnose verfährt die Blicklogik von Fritz Langs Film ähnlich: Die Übertragung der Hypnose funktioniert über den Blickkurzschluss mit der Kamera, dritte Instanzen der Kontrolle sind ausgeschlossen. Kein koordinierter Raum im Mabuse38 Sigmund Freud: »Tatbestandsdiagnostik und Psychoanalyse« [1906], in: ders.: Gesammelte Werke, hg. von Marie Bonaparte u.a., Sechste Auflage 1976, Band VII, Werke aus den Jahren 1906-1909, S. 3-15, hier S. 12. 93

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Film gestattet eine nachvollziehbare Blicklogik, nirgends bildet sich ein überschaubares, filmisch hergestelltes Feld des Schuss-Gegenschuss jenseits von Mabuses Regie. Mabuse beherrscht das Feld des Sichtbaren und immer wieder werden wir Zuschauer durch Mabuses Blicke in die Kamera in dieses Feld hinein gezogen. Das Kinopublikum ist mit Dr. Mabuse nicht nur »in die Subjektposition des Hypnostisierten versetzt«, sondern das Subjekt unter Medienbewegungen wird als prinzipielles Opfer von Verrückung und Verschiebung auf den Seziertisch der Übertragung gelegt.39 So wie Staatsanwalt Wenk verliert sich jedes nur juristisch verfasste Subjekt, sobald es, im Prozess des Sehens, als Spion im Haus des Anderen, seinen festen Ort der Beobachtung in der Dialektik von Herr und Knecht, Sehen und Angeschautwerden, aufgeben muss.40 Der Befund ist eine Rückkopplung von Medium und Wissen: Mabuse ist Meister der Medien, verdankt ihnen aber gleichzeitig seine Existenz. So wird der Fall Mabuse nie aufgedeckt, denn er ist kein Einzelfall, sondern Symptom eines Netzes, das die Medien und die Körper in einer Mikrophysik der Macht verbindet. Folgerichtig scheint auch, dass einzig die Gräfin Told, die sich »begnügt [...] Reize zu empfangen und gleichsam ein tastendes Spiel auf dem Rücken der Dinge zu spielen«, die um die Verfassung ihrer Physis (»wir haben träges Blut«) und Psyche weiß, und die als einzige nicht meint, Mediennetze in den Griff kriegen zu können, immun bleibt für Übertragungen spiritueller oder technischer Art, genauso wie sie sich als unfähig und unwillig erweist, polizeiliche und juristische Taktiken zu bedienen. Die Told leistet der Übertragung Widerstand – wie Freud das von den Hysterikerinnen wünschte – und steht damit zunächst in der Tradition der frühen Heldinnen des Kinos, die in der fotogenen Verschaltung mit dem Medium keine höherer Wahrheit oder Macht sondern einfach den Moment physischer Präsenz und darin eine Wahrheit des Körperlichen, der Sexualität und der sinnlichen Sensationen suchten, die sich

39 Vgl. Bruns: Kinomythen (Anm. 6), S. 74: »Das Kinopublikum wird per Kameraperspektive und -bewegung in die Subjektposition des Hypnotisierten hineinversetzt.« Bruns hat in ihrem exzellenten Buch über die Filmentwürfe Thea von Harbous ein sehr detailliertes Inventar der Inszenierungen von Hysterie und Hypnose gegeben, Korrespondenzen zwischen den filmischen Adaptionen Langs und medizinischen Diskursen hergestellt und die Verschränkungen filmischer Hypnose- und Hysteriedarstellungen mit Verfahren nachrichtentechnischen Verschaltungen aufgezeigt. Vgl. dazu insbesondere S. 43 ff. 40 Zum juristischen Diskurs im Kontext der Hypnose vgl. Stefan Andriopoulos: Bessesene Körper. Körperschaften und Hypnose in Literatur, Film, Recht und Medizin um 1900, München 2000, S. 99 ff. 94

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der kategorischen Repräsentation von Weiblichkeit widersetze.41 Kein Wunder auch, dass Mabuse der Gräfin Told verfällt. Allerdings wäre Mabuse kein Drehbuch von Thea von Harbou, wenn nicht diese Genealogie durchschnitten würde und die Gräfin Told am Ende gegen die Sensationen der Zeit und gegen die ganze Logik des Films plötzlich und unerwartet ›die Liebe‹ jenseits des Wissens um Blicklogik und Übertragungen entdecken würde. Sobald sie ihren Draht zu den Sensationen vergisst, fällt sie, ohnmächtig, in Mabuses Machtbereich.

Mabuses Einsatz Mit dem Kino verlieren die optischen Medien den Status eines Königswegs zur Wahrheit. In der Tat hat 1922 die Kraft der Augenzeugenschaft, wie fotografische Verfahren sie seit der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht zuletzt durch harte juristische und medizinische Einsätze beanspruchen konnten, nachgelassen.42 Die Allianz von Film und Massenmedien spielte dabei eine entscheidende Rolle: Nach dem Ersten Weltkrieg ist »Filmtechnik als grandioses Mittel des Massenbetrugs [...] in den Horizont des öffentlichen Bewußtseins« gerückt.43 Massenmedien sind nun aber nichts, was das Subjekt, so sehr es sich auch in bürgerlich schöne Isolation zurückziehen mag, vermeiden kann: die Geschichte seines Selbst, auch wenn es weder Schieber, Dieb noch Dirne ist, ist längst als identisches davon geprägt. Das Problem der Massenmedien und der im Krieg verfeinerten Nachrichtentechniken erfasst die eine Seite der Krise. Die andere betrifft die Vermessung und Normierung mentaler Leistungen, wie sie in den psychophysischen Laboratorien des 19. Jahrhunderts in Einzelfunktionen zerlegt, kombiniert und berechenbar wurden: Nicht nur als synthetische, kritische Instanz findet sich das Subjekt danach wieder, sondern zugleich als objektiviertes der Analysen, wie sie insbesondere im Ersten Weltkrieg optimiert worden waren. Die empirisch-transzendentale Doublette Mensch, die Foucault in der Moderne um 1800 antrifft, ist zur Spielmarke geworden, zum allgemeinen Äquivalent, zum Einsatz in einem Machtpoker, das Identität als höchste Währung im Kampf um gesellschaftliche Ordnung und Disziplin kennt. Die Unterscheidung von Sein und Schein, Täuschung und Enttäuschung, Lüge und Wahrheit, Gut 41 Vgl. dazu weitergehend Heide Schlüpmann: Die Unheimlichkeit des Blicks. Das Drama des frühen deutschen Kinos, Frankfurt/Main 1990. 42 Vgl. dazu Tal Golan: »Sichtbarkeit und Macht: Maschinen als Augenzeugen«, in: Peter Geimer (Hg.): Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, Frankfurt/Main 2002, S. 171-210. 43 Heide Schlüpmann: »Wahrheit und Lüge im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit. Detektiv und Heroine bei Joe May«, in: Hans-Michael Bock/Claudia Lenssen (Hg.): Joe May. Regisseur und Produzent, München 1991, S. 45-60, hier S. 46. 95

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und Böse und sogar Ich und Anderer ist zum Relais eines Wahrheitsspiels geworden, das mit technischen Medien operiert, deren Funktionen jedoch, wie den Zwerg im Schachautomaten, im Dekor der Geschichten verschwinden lässt. Sogar im MABUSE-Film, in dem es vor technischer Telekommunikation nur so wimmelt. Das Verhältnis von Bildern und Welt folgt einer Logik, die, in einer medialen Genealogie jenseits jeder sinnlichen Erfahrung, jenseits der Körper und ihrer Empfindlichkeit, nicht einfach nur arbiträr, sondern abstrakt ist und berechenbar – auch wenn das entsprechende Kalkül weder sichtbar noch nachvollziehbar wird. Das Kino des DR. MABUSE verhält sich ganz genauso wie die Zahlen der Börsenkurse zu den Dingen, die nur als Waren noch etwas ausrichten in der Welt. Und etwas hinrichten. MABUSE manipuliert sie und verfällt ihnen dann. Denn die fallenden Börsenkurse, die weiß auf schwarz notiert und blitzschnell wieder weggewischt und überschrieben werden, lassen sich nicht ausschließlich nach der Logik des Finanzkapitals erklären, sondern nur dann, wenn ihre Trajekte durch die begehrenden und begehrlichen Körper hindurch verfolgt werden. Fritz Langs Dr. MABUSE, DER SPIELER beginnt damit, das Verhältnis zwischen Macht, Medien und Körpern als Geschichte des Kinos zu inszenieren. Vor dem Ersten Weltkrieg hatte es eine Reihe von kleinen Filmproduktionen und insbesondere von Darstellerinnen gegeben, die immer wieder das inkongruente Verhältnis von Sehen und Gesehenwerden, von Medien und Wahrheit, von Begehren und Begierde und die Verschränkung von Ich und Anderen hervorgehoben hatten, die der Welt am Draht eine Vielfältigkeit von Blicken und Beziehungen entgegensetzten, und die die Bilder aus den Archiven der Psychiatrien und Gefängnisse aus den Fängen abstrahierender Diagnosen befreien und als Ästhetik eines Körperlichen aus der Heimlichkeit der Laboratorien ins öffentlich Unheimliche des Kinos bringen wollten.44 Das scheint spätestens mit der Gründung der Ufa schwierig geworden zu sein. Die Filmproduktionen des Nachkriegsdeutschlands setzen auf die technischen Finessen des Mediums und vernachlässigen die listigen Formen einer Medienanalyse der Sensationen, die den Übergang in die Körper nicht als paranoide Übertragung perhorresziert. Die Sensationen aber sind ihr allgemeines Äquivalent, und nur listige unter kritischen Kritikern erkannten die Chance, darin den Anfang eines Kollektivs zu sehen, das bürgerlichen Selbsten misstraut, solange sie in der Verkennung dahindämmern, jenseits von Massenmedien, Kapital- und Nachrichtenströmen Herr ihrer Identitäten und Selbste zu sein. Die Wahrheit des Kinos ist, dass es diese Illusionen mit jedem Film sichtbar macht. Eine Gesellschaft jenseits von Staatsan44 Dazu gehören Asta Nielsen und Urban Gad genauso wie der frühe Murnau. Vgl. dazu Schlüpmann: Die Unheimlichkeit des Blicks (Anm. 41). 96

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wälten, Detektiven und spionierenden Gräfinnen wäre zugleich erst durch die Anerkennung der Geschichte des Films, seiner Verschränkung mit der Psychophysis des 19. Jahrhunderts möglich, wenn Übertragung als Verteilung von Energien auf medialen — und nicht auf SchlachtFeldern praktiziert würde: »Soweit der Film durch Sensation das Erbe der Volkskunst von Schauerballade und Zehnpfennigroman unterhalb des etablierten Standards der bürgerlichen Kunst bleibt, soweit vermag er gerade durch Sensation auch jene Standards zu erschüttern, und eine Beziehung zu kollektiven Energien herzustellen, die der gepflegten Literatur und Malerei gleichermaßen unzugänglich sind.«45 Das Kino als Kraftfeld erinnert seine Geschichte in den Psychiatrien und Gefängnissen. Darin deutet DR. MABUSE eine wahre Geschichte des Kinos an, verbirgt aber gleichzeitig die Wahrheit des Kinos dabei. Eben das ist Mabuses Bluff.

45 Theodor W. Adorno/Hanns Eisler: Komposition für den Film, München 1969, S. 61. 97

SCHAUEN

W I R UN S A N !

A XIOME DER FILMISCHEN M ENSCHWERDUNG (S OWJETUNION 1925-1930) BARBARA WURM 1. Vor dem kinoglaz-Spiegel (DER MANN MIT DER KAMERA) Ein Mensch wird geboren. Vierzehn Einstellungen, etwa 90 Sekunden lang. Die Geburt selbst wird davon in sieben Einstellungen gezeigt, insgesamt etwa 45 Sekunden lang, im dritten Akt von Dziga Vertovs ýELOVEK S KINOAPPARATOM (DER MANN MIT DER KAMERA, 929). Drei Mal sieht man das schmerzverzerrte, schweißüberströmte Gesicht der gebärenden Mutter, beim vierten Mal die Geburt selbst, gegrätschte Beine also und dazwischen das herausschlüpfende Neugeborene, danach das Kind, wie es gewaschen wird, zur Mutter gebracht und schließlich von der Mutter geküsst. Sieben Schritte zur Menschwerdung, ganz im Lacan’schen Sinn, als Zäsur, als Riss einer ursprünglichen Einheit. Auch im Film herrschen die (Ein-)Schnitte vor, wird die Geburtsszene jeweils von ganz anderen Szenen (des Sozialen) unterbrochen: von einem Leichenzug, von einer Hochzeitsfahrt in der Kutsche, später von Straßenbahnen im Großstadtgewirr, Fahrstühlen und Telefonzellen (stete Eintritte und Austritte auch hier, im Großen wie im Kleinen). Und immer wieder im Bild, mindestens genauso oft wie die Mutter und ihr Kind, ist – als Überblendung über einer gespaltenen Häuserfront – ein Kameraobjektiv zu sehen, das von einem Kameramann eingerichtet wird. Er kurbelt – während das Kind geboren, gewaschen und geküsst wird. Willkommen im Reich der symbolischen Ordnung: Das ist die Message dieser Sequenz, in der ebenso rasant wie kunstvoll zwei parallele Serien so montiert werden, dass sie am Ende, in der Wahrnehmung, nicht mehr so leicht auseinander zu dividieren sein werden. Dennoch aber markieren sie die fundamentale doppelte Spaltung des Subjekts, dessen Welt nicht mehr nur eine her

Vgl. hierzu auch: Yuri Tsivian: »Einige Überlegungen zur Struktur des Films DER MANN MIT DER KAMERA«, in: Natascha Drubek-Meyer/Jurij Murašov (Hg.): Apparatur und Rhapsodie. Zu den Filmen des Dziga Vertov, Frankfurt/Main u.a. 2000, S. 9-45, hier S. 40 f. 99

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kömmlicher biologischer und sozialer Rituale ist, sondern auch eine der Verkehrtechnologien und der (damals) neuen Medien. Film im Film, selbstreflexives oder Meta-Kino – viel ist davon zu lesen und im sowjetischen Kino der 920er Jahre besonders viel davon zu sehen. 924 inszeniert der Kameramann und Regisseur Jurij Željabužskij mit PAPIROSNICA OT MOSSEL’PROMA (DAS ZIGARETTENMbDCHEN VOM MOSSEL’PROM, 924) eine wunderbare Komödie über die Leidenschaften eines Kameramanns inmitten der sowjetischen Kino-Bohème. 927 entstehen anlässlich des Besuchs der Hollywood-Stars Douglas Fairbanks und Mary Pickford in der UdSSR der Spielfilm POCELUJ MƠRI PIKFORD (DER KUSS DER MARY PICKFORD) sowie der dazugehörige Animationsfilm ODNA IZ MNOGICH (EINE VON VIELEN). Diesen Etüden des Spektakels stehen aber auf der anderen Seite auch solche Meta-Filme gegenüber, die auf die Kinematographie als Apparatur und Institution des Wissens verweisen, nicht zuletzt des Wissens vom Menschen.2 929 etwa, im gleichen Jahr wie Dziga Vertovs Manifest des experimentellen Films, markieren Lilja Brik und Vitalij Žemþužnyj mit dem halbdokumentarischen STEKLJANNYJ GLAZ (DAS GLASAUGE) den selbstreflexiven Höhepunkt eines kinotollen Jahrzehnts.3 Was hier im ersten Teil vorgeführt (d.h., im Unterschied zu Vertov, repräsentiert) wird, ist die epistemische Macht des Kameraauges, das »alle Winkel des Erdballs sichtbar« macht, »auch unter Wasser sieht«, und »im Dienste der Wissenschaft« steht, wie es in den Zwischentiteln heißt. Man sieht Spezialkameras für die operative Entfernung einer Feile aus dem Magen eines Häftlings ebenso wie die Mikroaufnahmen von Blutzellen oder die großstädtische und ethnische Vielfalt einer Welt, die mit einem Schlag global wird. Der zweite Teil des Films führt dann polemisch die Tricks und Machenschaften des bourgeoisen Mainstream-Kinos vor, dem die wahre proletarische Kinematographie gegenübergestellt wird. Der Schlusstitel lautet: »Und nur im Lande des aufbauenden Sozialismus zeigt das Glasauge mutig das echte Leben – das angestrengte Schaffen und die riesigen Siege des befreiten Proletariats.« Das Glasauge – oder wie es Vertov präziser nennt: das Kinoauge (»kinoglaz«) regiert die Welt; eine Welt, die – das zeigt ýELOVEK S KINOAPPARATOM als Grundlagenexperiment zum Leben in/als filmische(r) 2

3

Zur frühen Filmgeschichte als Geschichte eines medizinischen und physiologischen Forschungsinstruments vgl. Lisa Cartwright: Screening the Body. Tracing Medicine’s Visual Culture, Minnesota 995. Vgl. zu diesem Film auch: Anke Hennig: »faktur und fRaktur. Transformatoren ästhetischer Erfahrung im Film«, in: Sonderforschungsbereich 626 (Hg.): bsthetische Erfahrung: Gegenstände, Konzepte, Geschichtlichkeit. Berlin 2006; unter: http://www.sfb626.de/veroeffentlichungen/online/ artikel/95/. 100

AXIOME DER FILMISCHEN MENSCHWERDUNG

Wahrnehmung überdeutlich – ohne Medien nicht(s) ist. Zum Programm des kinoglaz, das sich allerdings über die mit den Namensetiketten »Vertov« oder »kinoki« versehenen Arbeiten hinaus auch auf viele andere Nicht-Spielfilmformen der 920er Jahre erstreckt, gehören zunächst die frühen Ausgaben der Kinopravda (922-925) ebenso wie die drei ersten nach dem kinoglaz-Prinzip entstandenen Langfilme – 924 der Namenspatron KINOGLAZ. ŽIZN’ VRASPLOCH (KINOAUGE. DAS ÜBERRUMPELTE LEBEN) mit seinen berühmten Rückwärtsläufen, in denen aus Fleisch Ochsen werden und aus Brot Weizen, sowie 926 ŠAGAJ, SOVET! (VORWbRTS, SOWJET! – einer Art ›Kinoglaz goes Moskau‹) und ŠESTAJA ýAST’ MIRA (EIN SECHSTEL DER WELT – dem Pendant ›Kinoglaz goes USSR‹). Kinoglaz entwickelt darüber hinaus in den Schriften und der Filmpraxis bald ein Eigenleben. Es ist ein denkendes und wirkendes Auge, oder auch: eine sehende Gehirnmaschine. Das reziproke Zusammenspiel von Außen und Innen, das den als physiologisch verstandenen Sehprozess definiert, sorgt dafür, dass es – kinoglaz und sein Ich, das nichts anderes ist, nichts anderes kann als »Ich-Sehe« (russ. vižu), wie es in diesen Filmen oft ostentativ zu lesen ist – dass nur kinoglaz selbst neue, versiertere Theorien vom Sehen und damit vom Leben hervorbringen kann. Kinoglaz ist ein Generator, der mit seinem eigenen Output rückgekoppelt ist. Als eine solche kybernetische Maschine kann kinoglaz vor allem eines: rechnen und konvertieren. Es kann Perzeptions- und Übertragungsgeschwindigkeiten herunterbrechen (oder auch beschleunigen), es kann das Chaos der sinnlichen Ein- und Ausdrücke des modernen Menschen decodieren und analysieren. Es kann – und Vertov nennt in dem Vortrag, mit dem er Europa 929 bereiste (»Was ist Kino-Auge«)4 zwei Filme als die schärfsten Visualisierungen dieser Theorie: ODINNADCATYJ (DAS ELFTE JAHR, 928) und ýELOVEK S KINOAPPARATOM – es kann Intervalle produzieren (weil es nämlich da, wo welche sind, diese in der mechanischen Analyse auch wahrnimmt – im Unterschied zum menschlichen Auge, das gerade aufgrund der Negativität des Dazwischen überhaupt erst Bewegung sehen kann).5 Nach diesem Programm bestreitet das kinematographische Auge »die visuelle Vorstellung von der Welt durch das menschliche Auge und schlägt das eigene ›Schauen‹ vor«.6 In Kooperation mit der Montage arbeitet der mechanische Einäuger an der Menschwerdung als Wahrneh4 5

6

Vgl. Dziga Vertov: »Was ist ›Kinoauge‹?« [Typoskript], Vertov-Sammlung im Österreichischen Filmmuseum, Wien, ÜD 22. Zur experimentellen Technik- und Wahrnehmungsgeschichte und ihrer Bedeutung für das neue filmische Sehen, insbesondere Vertovs epistemologisches Seh-Projekt vgl. Ute Holl: Kino, Trance und Kybernetik, Berlin 2002. Vertov: »Was ist ›Kinoauge‹?« (Anm. 4). 101

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mungsexperimentalisierung – kein Bild zeigt das so deutlich, wie das immer wieder kehrende Motiv aus ýELOVEK S KINOAPPARATOM – ein Mono-kinok/o, ein Monaden-glaz aus geschliffenem Glas, in dem sich diverse Schichten spiegeln und – auf einer Fläche verschmelzend – ineinander ›stapeln‹ . Es sind nicht viele und verschiedene Welten, keine zur Wahrnehmung und zum Empirischen transzendenten Denkräume, es ist eine Welt, eine Fläche – der Einschreibung und Aufzeichnung –, die, wie Jacques Rancière es nennt, der Aufteilung des Sinnlichen, der partage du sensible Rechnung trägt.7 Genau deshalb ist die über das Kino vollzogene Reorganisation einer Wahrnehmungskultur ein genuin aisthetisch/politisches Projekt – weder Geste des l’art pour l’art, noch Politdekret allein. Die Erziehung der Massen erfolgt im Zeitalter der Neuen Menschen über das Neue Sehen, über die Erziehung ihrer Wahrnehmung und vor der Leinwand: Hatte bereits Hugo Münsterberg in seiner psychotechnischen Filmtheorie The Photoplay (96) angemerkt, dass der »Umstand, dass täglich Millionen im Bann der Vorführungen auf der Leinwand stehen, […] unbestreitbar« sei,8 so klang das sechs Jahre später bei Vertov ähnlich: »Hunderttausende, Millionen Analphabeten oder die, die sich einfach vor dem geräuschvollen vorwärtsbewegenden ›Heute‹ verstecken – die Bürger der RSFSR werden ihre Wahrnehmung [vor] der leuchtenden Filmleinwand erziehen müssen.«9 In der Schlussszene von Vertovs ýELOVEK S KINOAPPARATOM wird dieAbb. : ýELOVEK S KINOAPPARATOM (929, R. se pädagogische NeurahDziga Vertov) mung des Lernens im Kinosaal auch vorgeführt – als Schnappschuss hinein in den Kinosaal, auf die Menge der (neu) sehenden Bürgerinnen und Bürger. Sie, die ZuschauerInnen, ihre Reaktionen, ihre Reflexe, ihre unbeabsichtigten Gebärden, ihr flüchtiges Verhalten, ihre unverstellten Gesten, 7 8 9

Vgl. Jacques Rancière: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, hg. von Maria Muhle, Berlin 2006, S. 30. Vgl. Hugo Münsterberg: Das Lichtspiel. Eine psychologische Studie, hg. von Jörg Schweinitz, Wien 996, S. 00. Dziga Vertov: »Die fünfte Folge der ›Kinopravda‹«, in: ders. [Dsiga Wertow]: Aufsätze, Tagebücher, Skizzen, hg. von Hermann Herlinghaus, Berlin (Ost) 967, S. 58-59. 102

AXIOME DER FILMISCHEN MENSCHWERDUNG

– sie sind das (utopische ebenso wie ideale) Datenmaterial, dem sich der Nicht-Spielfilm in rigoroser Abwendung vom Ausdrucksrepertoire und den Posen der Schauspieler zuwendet. Sie, die ZuschauerInnen, schauen auf die Leinwand wie auf eine neue Tafel und werden dabei beobachtet, wie sie sich selbst beobachten. Sie blicken in einen kinoglaz-Spiegel, in dem sie sich erstmals unverstellt sehen.

Abb. 2/3: ýELOVEK S KINOAPPARATOM

Gerade dokumentarische »Filme über sich selbst«0 sind es, die den Menschen und den Kinoapparat (Kamera und Leinwand), immer wieder zusammen zeigen. Ohne Aufzeichnungs- und Projektionsverfahren wäre da nicht etwas (anderes), sondern vielmehr nichts. Die russische Präposition »s« vor dem »kinoapparat« im Titel von Vertovs Film bedeutet »mit«, sie ist komitativ, nicht instrumental (»durch«). In den Händen des Kameramannes verliert sich das Gerät nicht. Es löst sich nicht auf, während es eine neue Welt generiert. Es bleibt als Apparat erhalten, entweicht der Verborgenheit, taucht immer wieder auf, kommt – in der Montage – selbst ins Bild. Ein Medium, das anwesend ist, während es Sein schafft. Ebenso verhält es sich auch auf der Seite der Rezeption – die Leinwand bleibt sichtbar, sie bildet eine Fläche, auf der die Gesichter beim Sehen gesehen werden, auf der sich die ZuschauerInnen selbst beim Zuschauen sehen. Über den Generator des kinoglaz werden die Blicke des Menschen auf ihn selbst rückgekoppelt. Die Menschwerdung hat einen doppelten Ursprung, der (selbstreflexiv) zu einem gemeinsamen verschmilzt, zu einer Welt des Sozialen, der nun auch Kameras, Filmrollen und Schneidetische angehören – ebenso wie Kinosäle und Leinwände. Vertovs kinoglaz sorgt stets dafür, dass der Wahrnehmungsprozess selbst ins Bild kommt und geht damit einen entscheidenden Schritt weiter als der Montage-Pionier Lev Kulešov, der die Montage als jenes Mittel bezeichnete, durch das »bei der Projektion die Aufmerksamkeit der Zu0 Vgl. F.T. Meyer: Filme über sich selbst. Strategien der Selbstreflexion im dokumentarischen Film, Bielefeld 2005. 103

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schauer organisiert« werde. Dieser Konfiguration des Menschen korrespondiert bei Vertov stets die (vom Menschen selbst via kinoglaz) zu beobachtende Beobachtung des Menschen. Fünf intrinsisch auf einander rückgekoppelte Perspektiven sind es, die ein zeitgenössischer Kritiker in ýELOVEK S KINOAPPARATOM ausmacht: »ýELOVEK S KINOAPPARATOM führt Beobachtung des Lebens durch und zeigt auf der Leinwand die Ergebnisse seiner Beobachtungen. Wir sehen die Ereignisse gleichzeitig mit bloßem, unbewaffnetem Auge und vom Gesichtspunkt des Mannes mit der Kamera, d.h. des Künstlers. Die Beobachtung der Reaktion des Zuschauers, der sich im Zuschauerraum befindet, ist die dritte thematische Linie. Die Schnittmeisterin Vertovs sichtet das auf den Film gebannte Leben – die vierte Blickrichtung auf die Welt. Der unsichtbare Kameramann beobachtet den Mann mit der Kamera. Das ist der fünfte Blickpunkt.«2 Die Idee, unverstellte Reaktionen des Publikums auf projizierte Filme selbst wieder zu filmen, setzte für Vertov erstmals 926 mit der Arbeit an ŠESTAJA ýAST’ MIRA ein – für diesen Film schickte er ein dutzend Kameraleute in alle Regionen des Landes, die Bildmaterial einholen sollten, das zur Hälfte aus Menschen beim Betrachten ihrer selbst auf der Leinwand bestehen sollte. Von einem weiteren zeitgenössischen Kritiker, dem Formalisten Viktor Šklovskij, wurde dies polemisch kommentiert: »Er [Vertov] ist für den nicht-fiktionalen, nicht-ästhetischen Film. Seine Gruppe ist offenbar gegen den Schauspieler. Da aber der NichtSchauspieler sich vor der Kamera nicht zu betragen weiß, entsteht ein neues Problem: Allen beibringen, wie man sich filmen lässt. Eine komplizierte Methode, die Wand in den Nagel zu schlagen.«3 Von diesem anderen Problem des kinematographischen Menschversuchs – sich beibringen zu lassen wie man sich filmen lässt – handelt tatsächlich eine Vielzahl jener Formen des frühen sowjetischen NichtSpielfilms, die Vertovs Projekt des kinoglaz flankieren. Sie sollen im folgenden ausführlicher thematisiert werden. Was sich in diesen Szenen (des Beobachtens) der filmischen Menschwerdung in Bezug auf das Verhältnis Medien-Mensch abzeichnet, kann mit Joseph Vogl auch als spezi Vgl. Lev Kulešov: »Iskusstvo, sovremennaja žizn’ i kinematografija«, in: Kino-Fot  (922), S. 2. 2 K. Feldman: »V sporach o Vertove«, in: Kino i kul’tura 5-6 (929), S. 220, zit. n. Dziga Vertov: »Künstlerische Visitenkarte (Tvorþeskaja kartoþka)«, in: Dziga Vertov: Die Vertov-Sammlung im Österreichischen Filmmuseum, hg. vom Österreichischen Filmmuseum, Thomas Tode und Barbara Wurm, Wien 2006, S. 79-58, hier S. 22 f. 3 Viktor Šklovskij: »Wohin schreitet Dziga Vertov?«, in: Poetika kino. Theorie und Praxis des Films im russischen Formalismus, hg. von Wolfgang Beilenhoff, Frankfurt/Main 2005, S. 285-288, hier S. 286 und S. 288. 104

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fisch medientechnische Problematik betrachtet werden: »Sie [die Medien] gewinnen ihren Status als besonderes, d.h. systematisierbares Objekt gerade dadurch, dass sie das, was sie speichern und vermitteln, jeweils unter Bedingungen stellen, die sie selbst schaffen und sind.«4 In der Aufmerksamkeit auf die ZuschauerInnen, durch die sich die sowjetische Filmpraxis (sowie -theorie und -kritik) der 920er besonders auszeichnet, verschränken sich die beiden Funktionen des Films als Experimentalanordnung und Massenmedium. Das Kino, das damals längst zum vordersten Aushängeschild einer Spektakelkultur geworden war, wird durch die versuchte Re-Etablierung dokumentarischer Drehverfahren noch einmal zum Ort der Aushandlung des Verhältnisses von »Beobachten und Konfigurieren«, jenem »Konnex«, der nach Nicolas Pethes zwei Experimentaldispositive herausgebildet hat: Auf der einen Seite »indem die Kamera den Menschen aufzeichnet, um sein Verhalten zu dokumentieren; auf der anderen Seite, indem man die Reaktionen derjenigen Menschen beobachtet, die solche Aufzeichnungen zu sehen bekommen. Der Film kann also erstens ebensosehr den Menschen beobachten, wie er zum Ausgangspunkt für die Beobachtung seiner Zuschauer wird, und an beide Experimentaldispositive kann zweitens die Frage gestellt werden, ob es das jeweilige mediale Dispositiv ist, dessen Visualisierungsstrategien die fraglichen Menschenbilder determiniert oder ob nicht bereits die Versuchsanordnungen selbst bestimmten anthropologischen Vorannahmen folgen.«5 In der Theorie und Praxis des kinoglaz werden diese beiden Dispositive miteinander verlinkt. Aber sie lassen sich als auf einander bezogen auch in den vielen anderen kleinen Formen des Nicht-Spielfilms der 920er Jahre nachzeichnen, deren Bandbreite vom wissenschaftlichen Filmeinsatz im Bereich der Arbeitswissenschaften, der Psychotechnik oder der objektiven Psychologie (Reflexologie) über populärwissenschaftliche Filme bis hin zu Kulturfilmen und agitatorischen »Kino-Plakaten« und »Kino-Memos« reicht. Auch hier deutet sich eine erste, filmhistorisch zentrale Verschränkung jener Verschiebung vom »Interesse vom Menschen auf der Leinwand zum Menschen als Zuschauer des Geschehens auf der Leinwand« an, die vom frühen wissenschaftlichen Film

4 Joseph Vogl: »Apokalypse als Topos der Medienkritik«, in: Jürgen Fohrmann/Arno Orzessek (Hg.): Zerstreute Öffentlichkeiten. Zur Programmierung des Gemeinsinns, München 2002, S. 33-4. 5 Nicolas Pethes: »Der Test des Großen Bruders. Menschenexperiment Massenmedium«, in: Annette Keck/ders. (Hg.): Mediale Anatomien. Menschenbilder als Medienprojektionen, Bielefeld 200, S. 35-372, hier S. 353. 105

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über Münsterberg bis hin zu Walter Benjamins Theorie des optischen Unbewussten reicht.6

2. Messung, Zerlegung, Normierung. Die »visuelle Einstellung« der Arbeitswissenschaften (CIT) In der selben Ausgabe der konstruktivistischen Filmzeitschrift Kino-Fot von 922, in der Dziga Vertov das Manifest My (Wir) veröffentlichte und Lev Kulešov von der Orientierung auf den Zuschauer schrieb, verkündete der prominenteste tayloristische Filmdenker und ArbeitsgymnastikTheoretiker der Sowjetunion, Ippolit Sokolov, dass das Kino die »neue Wissenschaft« sei – und die Leinwand die neue »Tafel des Jahrhunderts« (russ. skrižal’ veka).7 Die Leinwand, aufgespannt in Kinosälen und auf Theaterbühnen, aber auch in Filmstudios, Proberäumen und Schauspielerlabors8 sowie den Laboratorien der Psychotechnik und der Arbeitswissenschaften, wird zu jener Einschreibe- und Projektionsfläche, auf der sich der Mensch des industriellen Zeitalters erstmals selbst als »in Einzelabschnitte zerlegbare Apparatur begreift«.9 Für Sokolov war das Kino nicht nur das die Zeitung ablösende neue Massenmedium schlechthin, sondern gleichzeitig das privilegierte Forschungs- und Analyse-Instrument der Wissenschaft. Seine ebenfalls 922 erschienene Studie System der Arbeitsgymnastik (Sistema trudovoj gimnastiki) rief die dezidiert »taylorisierte«, »psycho-physiologische«, d.h. ökonomisierte und rationalisierte Ausrichtung der Sport- und Arbeitsgymnastik aus, die er im Staatlichen Institut für Rhythmische Erziehung, im BewegungsLaboratorium der Experimental-Station des Vsevobuþ (Allgemeine militärische Ausbildung) sowie am Zentral-Institut für Arbeit (CIT) praktizieren ließ.20 Als wegweisend für ein zukünftiges Kino der Pädagogik 6 Vgl. ebd., S. 364. 7 Ippolit Sokolov: »Skrižal’ veka«, in: Kino-Fot  (922), S. 3. 8 Zur Etablierung der experimentellen Biomechanik in den SchauspielStudios von Lev Kulešov und Vsevolod Mejerchol’d vgl. Jörg Bochow: Vom Gottmenschentum zum neuen Menschen. Subjekt und Religiosität im russischen Film der zwanziger Jahre, Trier 997. 9 Pethes: Test des Großen Bruders (Anm. 5), S. 356. 20 Vgl. Ippolit Sokolov: Sistema trudovoj gimnastiki. Moskva 922. S. 5 f. Zu Sokolov vgl. auch: John E. Bowlt: »Ippolit Sokolov and the Gymnastics of Labor«, in: Experiment 2, 996, S. 4-42. – Vgl. hier auch zum Zusammenhang zwischen der tayloristischen Gymnastiktheorie und der Idee des russischen Physiologen Ivan Seþenov vom »human body as a working machine« (S. 44). Sokolovs Vorstellung einer »Industrialisierung der Gestik« kam der Film mit seinen mechanischen Grundlagen wesentlich näher als jede auch noch so streng durchrationalisierte Bewegungs-Instruktion der Theater-Arbeiter. Bis in die 950er Jahre beschäftigte er sich mit Film – 953 erschien seine Dissertation über den Beitrag der Wissenschaft und Technik zur Entwicklung der Kinematografie. 106

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und der Propaganda galten die amerikanischen Time and Motion Studies, die den Menschen der Maschine angenähert hatten.2 Der Film erschien als jenes Medium, das das neue Weltempfinden (Industrialisierung, Beschleunigung) vermitteln konnte und gleichzeitig an der biopolitisch motivierten Generierung des Neuen Menschen Teil hatte: »Erst auf der Leinwand haben wir zum ersten Mal den mechanischen ScharnierMensch-Automaten der neuen Industrie-Epoche wahrgenommen. Während die Physiologen Chauveau, Treves, Seþenov oder Amar die lebende Maschine im menschlichen Organismus untersucht haben, so hat der Mensch erst auf der Leinwand begonnen, taylorisiert zu gehen und taylorisiert zu gestikulieren. […] Heute muss das Kino die Technik und die Arbeit unsere Epoche darstellen, im fieberhaften Tempo der vorüberzischenden Automobile, Lokomotiven, Flugzeuge, Anlagen und Arbeitsgriffen des Arbeiters«.22 Diese visuelle Zerlegung der arbeitenden Physis des Menschen wurde in der Sowjetunion der frühen 920er Jahre am Zentral-Institut für Arbeit (CIT) betrieben, der Keimzelle der NOT, der wissenschaftlichen Arbeitsorganisation (russ. nauþnaja organizacija truda). Unter der Leitung von Aleksej Gastev wurde hier technisches und wissenschaftliches Know-how, Medieneinsatz und Menschenvermessung auf nahezu geniale Weise miteinander verbunden. Das CIT etablierte die Idee des scientific management für alle Arbeitsbereiche und baute die ersten experimentellen Laboratorien zum Studium von Arbeitsbewegungen sowie für Psychotechnik auf.23 Grundlage aller weiteren Analyse- und Trainingsschritte war die fotografische, chrono-zyklografische und filmische Aufzeichnung und Reproduktion von Arbeitsmotorik im Labor Nr. , dem FotoKino-Laboratorium.24 Erst danach wurden daraus biomechanische Formeln abgeleitet, physiologische Analysen erstellt, psychotechnische Tests entwickelt und schließlich alle Daten noch einmal ausgewertet, um im Verbund unterschiedlicher Wissens- und Mediensysteme exakt den »Normal[wert] der Arbeitsbewegungen« zu ermitteln.25

2 Vgl. die nach 93 zweite Übersetzung von Frank Bunker Gilbreths Motion Studies: F. Džil’bret: Izuþenie dviženij, Moskau 924. 22 Sokolov: Skrižal’ (Anm. 7), S. 3. 23 Vgl. Irina Sirotkina: »Istorija central’nogo instituta truda: voplošþenie utopii?«, in: Voprosy istorii estestvoznanija i techniki 2, 99, S. 67-72; Siegfried Zielinski: Archäologie der Medien. Zur Tiefenzeit des technischen Hörens und Sehens, Reinbek bei Hamburg 2002, S. 262-29. 24 Vgl. zu diesem Abschnitt ausführlicher: Barbara Wurm: Gastevs Medien. Das »Foto-Kino-Labor« des CIT, in: Torben Philipp/Matthias Schwartz/ Wladimir Velminski (Hg.): Laien, Lektüren, Laboratorien. Wissenschaften und Künste in Russland 850-950, Frankfurt/Main u.a. 2007 [im Druck] 25 Vgl. Aleksej Gastev: Struktura uþenoj raboty CIT’a, Moskau 92, S. 2. 107

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Die Laboratorien des CIT wurden so zur vorrangigen Instanz der Umsetzung jenes biopolitischen Programms, das – nach Michel Foucault – in der Verbindung von Disziplinierung (des Körpers) und Regulierung (der Bevölkerung) liegt, und mit dem die Norm der Disziplin und die Norm der Regierung zur Grundlage der Normalisierungsgesellschaft wurden.26 Der Neue Mensch ließ sich im CIT auf seine kleinsten konstitutiven Elemente herunter brechen, seine biomechanischen Werte als Zahlenreihe oder Vektoren-Pool anschreiben, seine Normierung auf Papier bewerkstelligen (in Statistiken und Diagrammen). Aber da Daten, Formeln und Tabellen nur von Experten gelesen und ausgewertet werden können, die Disziplinen aber auch auf Selbst-Disziplinierung und SelbstRegulierung setzen, mussten den nicht-repräsentativen und numerisch operierenden Methoden auch solche der Veranschaulichung an die Seite gestellt werden. Der Arbeiter musste sich selbst beim Arbeiten sehen können, er sollte die Koordination seiner Bewegungen und seine Körpertechniken selbst an dem Bildmaterial schulen, das das Foto-Kino-Labor, genauer, der Filmtechniker am CIT, Nikolaj Tichonov, und der Biomechaniker Nikolaj Bernštejn von ihm produzierten. Der (statistische) Normalwert der Arbeitsbewegung muss im (anschaulichen) Normal der Arbeitsbewegung eine Entsprechung finden. Beide Dispositive, jenes vom Menschen auf der Leinwand und jenes vom Menschen als Zuschauer müssen korreliert werden. Anders als bei Vertov funktioniert die Rückkoppelung hier aber nicht als mise-en-abyme des sich beim Beobachten beobachtenden Zuschauers, sondern in der Verschränkung von Daten (des Nicht-Repräsentativen) mit Formen der Repräsentation und der Veranschaulichung. Die filmische Aufzeichnung liefert nicht nur das Ausgangsmaterial für die Analyse, sondern funktioniert gleichzeitig als Medium der Sichtbarmachung bisher nicht wahrgenommener Bewegungsabläufe. Über die Experimentalanordnung, die sich zwischen Kamera und Objekt sowie zwischen Testperson und Versuchsleiter entfaltet, wird der Arbeiter zu einem wesentlichen Faktor der (Selbst-)Auswertung des festgehaltenen Materials. Wenn die Analyse in Instruktion münden soll, muss der gestestete und evaluierte Arbeiter sich letztlich selber testen und beobachten können. Er studiert sich selbst, um dabei wiederum studiert werden zu können (etwa dahingehend, ob sich denn der bisherige Input, der ihm über die technischen Bilder seiner Arbeitsbewegungen zugeführt wurde, als produktiv erwiesen hat). Insofern bestimmt er das Geschehen im Labor, den Einsatz der konkreten Medientechniken und das Eingreifen (und letztlich die Evaluierung) der Versuchsleiter entscheidend mit. 26 Vgl. Michel Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft, Frankfurt/Main 200, S. 298 f. 108

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Die Arbeitsstudien, die im Foto-Kino-Labor des CIT vom Leiter des Moskauer »Instituts für wissenschaftliche Aufnahmen« (russ. Institut nauþnoj s’emki), Nikolaj Tichonov,27 und vom Verfasser eines Grundlagenwerks zur Biomechanik,28 Nikolaj Bernštejn, produziert wurden, basierten auf der Zusammenführung unterschiedlicher Wissensbereiche. Psychoneurologische Kenntnisse trugen zur Entwicklung gezielter Methoden der filmischen Aufzeichnung der Arbeitsbewegungen ebenso bei wie physiologisches und biomechanisches Wissen (das sich andererseits selbst auch aus dem aufgezeichneten Datenmaterial speiste). Auf der anderen Seite war es aber auch die fundierte filmtechnische Ausbildung und der kreative Erfindergeist Tichonovs, die zur Perfektionierung der visuellen Analyse beitrugen. Erst in der engen Kooperation und der systematischen Abstimmung der beiden Interessensgebiete konnte eine virtuelle Montage und Modellierung des arbeitenden Menschen entwickelt werden: Aus dem Biologen und Psychologen, der Bernštejn war, wurde über den Umweg gemeinsam erarbeiteter Visualisierungstechniken ein Bioingenieur.29 Die Rückkoppelung auf den Arbeiter wurde grundsätzlich durch zwei spezifische Konfigurationen des medialen Dispositivs gewährleistet – einerseits durch das Konzept der »visuellen Einstellung« (russ. zritel’naja ustanovka), das in einer Abbildung zu Aleksej Gastevs Text über die so genannte »Arbeitseinstellung« (russ. trudovaja ustanovka) auftaucht,30

Abb. 4: »Visuelle Einstellung« – Grafik zur »Analyse der Werkbankeinstellung des Arbeiters«

27 Zu Tichonovs Tätigkeiten am CIT sowie zu den Arbeiten des Foto-KinoLabors am CIT vgl. Krikor Kekþeev: »Izuþenie raboþich dviženij pri pomošþi metoda ciklogramm«, in: Organizacija truda , 92, S. 62-64. 28 Vgl. Nikolaj Bernštejn: Obšþaja biomechanika. Osnovy uþenija o dviženijach þeloveka, Moskau 926. 29 Tatsächlich beschreibt Bernštejn in seinem Handbuch der Biomechanik den menschlichen Körperbau als »Montage der menschlichen Maschine«, die die Zergliederung der Körperabschnitte und -teile ebenso voraussetzt wie sie die »Montage« des Hüftbereiches oder der Bewegungsnerven umfasst – vgl. ebd., S. 20-395. Zum »Bioingenieurswesen« vgl. die Einleitung ebd., S. V. 30 Vgl. Aleksej Gastev: Trudovaja ustanovka, Moskau 924. 109

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und andererseits das technische Verfahren des »Chrono-Zyklogramms«, wie es von Tichonov/Bernštejn angewandt wurde.

Abb. 5: »Russischer Taylorismus« – Arbeiter, Nikolaj Bernštejn und Nikolaj Tichonov (von links nachrechts) bei Filmarbeiten

Das Schema zur »Analyse der Einstellung des Arbeiters an der Werkbank« in Abb. 4 verzeichnet links, in Verbindung mit den Arbeitshänden, die »Nerven-Muskel-Koordinations-Einstellung«, während die Beschreibung auf der rechten Seite die »visuelle Einstellung« notiert, verbunden mit den Augen des Arbeiters. Was durch die In-Bezug-Setzung von Händen und Augen bzw. Tun und Wahrnehmen über einen nach außen verlegten Blickpunkt aufgebaut wird, ist dem Setting des Monitoring nicht unähnlich. Offenbar sollte der Arbeiter noch während des Arbeitsprozesses seine Handgriffe an dem durch die visuelle Einstellung geleisteten Output profilieren bzw. ausrichten. Erst die in direkten (›natürlichen‹) und indirekten (›medialen‹) Blick aufgespaltete Perspektive auf die Schnittstelle von Motorik und Maschine hatte – vermittelt über die hier nicht sichtbare neurophysiologische Schaltzentrale des Gehirns – Rückwirkungen auf das, was die Arbeitshand tut. Im Unterschied dazu funktioniert der rückgekoppelte Anschluss an das Testobjekt Arbeiter im Fall des Chrono-Zyklogramms dadurch, dass dieses zwar Signale festhält, die diskreten Zeichencharakter haben, andererseits aber eine anschauliche Komponente aufweisen. Auf diese Weise können sowohl die Versuchsleiter als auch die Testperson selbst das Ergebnis (die Chrono-Fotografie) funktional auswerten. Die an Frank Gilbreths micro-motion method angelehnte, nach den Worten des Kameramannes Tichonov jedoch in Russland »selbstständig entwickelte« Aufzeichnungstechnik funktionierte so als automatisiertes Selbstschreibesystem, das »viele Spezialverfahren« einführte, »die es erlauben, das dabei erhaltene Zyklogramm zu vermessen und so exakte Zahlendaten für die

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Auswertung und den Vergleich zu erhalten.«3 Auf der anderen Seite konnte aber auch der Arbeiter selbst seine Bewegungen beim Meißeln und Hämmern über den visuellen Output, den die visuelle Einstellung der Chrono-Zyklografie lieferte, kontrollieren. Auch der Blick auf sich selbst, die genaue, aufmerksame, analytische Beobachtung der eigenen Bewegungsabläufe soll dabei geschärft werden.

Abb. 6: »Russischer Taylorismus im Institut von Gastjeff« – Chronozyklogramme

Es ist die biopolitisch motivierte Steigerung von (Selbst-)Kontrolle und Produktivität aber auch die Etablierung von Gesundheitsmaßnahmen und Sicherheitsdispositiven wie der Arbeitshygiene, die am CIT als filmtechnisch vermittelte Disziplinierung und Normierung des Neuen Menschen (der »lebendigen Maschine«) umgesetzt wird. Auffällig ist dabei, dass Aleksej Gastev und sein Team eine entscheidende Bedeutungsverschiebung des Begriffs der Einstellung vollziehen – aus einem psychologischen Willenskonzept wird hier ein physiologisch-mediales Dispositiv, das an das Kino als neuer »Tafel des Jahrhunderts« gemahnt und damit in den Blick auf sich selbst eine Instanz der Analyse des Unbewussten zwischenschaltet. Oder wie Aleksej Gastev das in der gängigen Terminologie der Reflexologie ausdrückt: »›Einstellung‹ in jener am CIT gebräuchlichen Bedeutung ist die in der ›lebendigen Maschine‹ anzutreffende Zusammenführung bestimmter unbedingter und bedingter Reflexe in einen Arbeiter-Werkkomplex, der für die erfolgreiche Ausführung von Arbeitsoperationen jedweden Berufs notwendig ist.«32

3 Nikolaj Tichonov: »Chronofotografija«, in: Orga-Kalendar’ CIT, Moskau, S. XLVIII f. 32 Aleksej Gastev: »Ustanovka«, in: Orga-Kalendar’ CIT, S. XLV. 111

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3. »Schauen wir auf uns selbst« oder: Wie man über die Straße geht (Psychotechnik im/und Film) Es ist den Schleichwegen und Sackgassen der historischen Filmforschung (aber auch der ablehnenden Haltung gegenüber dem CIT im Stalinismus) geschuldet, dass ausgerechnet von jener Institution, die zu Beginn der 920er eine so enorme wissenschaftliche Produktivität aufwies, vermutlich kein Bewegtbildmaterial überliefert ist. Dennoch lassen sich im Staatlichen Russischen Archiv für Film- und Fotodokumente (RGAKFD) einige wenige Filme finden, die im direkten Bezug zu den arbeitswissenschaftlichen, physiologischen und psychotechnischen Arbeiten am CIT stehen. Auch in einem neueren Dokumentarfilm, der die Anfänge der Psychoanalyse in der Sowjetunion verfolgt und dabei u.a. Footage aus Dziga Vertovs KINOGLAZ (924) und dem wohl zentralen sowjetischen Film über Menschenversuche, Vsevolod Pudovkins MECHANIKA GOLOVNOGO MOZGA (MECHANIK DES GEHIRNS, 925/26) verwendet, befindet sich – leider unbenanntes – Filmmaterial, das medizinische und psychotechnische Praktiken der Arbeitsforschung belegt.33

Abb. 7: Nicht identifizierter arbeitswissenschaftlicher Film

In dieser Szene werden zunächst vier brzte und ihre Untersuchungsinstrumente vorgestellt. Die Zwischentitel erläutern, dass es um die Erforschung der Arbeitsbedingungen bzw. um den »Einfluss der Arbeit auf die Arbeitenden« geht. Auf einige Einstellungen in der Totalen, die einen Blick in einen mit Apparaten und Werkbänken vollgestopften Raum frei geben, folgen zunächst Nahaufnahmen von Versuchsleiter/Arzt und Pipetten. Erst eine kleinere Szene kausal zusammen hängender Einstellungen lässt erkennen, dass hier ein Versuchsleiter in die Hände klatscht und damit dem Arbeiter ein Signal gibt, die Arbeit umgehend zu unterbre33 TROTZKIS TRAUM. DIE ANFbNGE DER PSYCHOANALYSE 2000, R. Regine Kühn, Eduard Schreiber) 112

IN

RUSSLAND (D

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chen. Der Arbeiter richtet sich auf, nimmt die Schutzbrille ab und wird darauf hin sogleich von zwei brzten umringt, die offenbar über Pulsmessungen seinen Ermüdungszustand feststellen. Die Perspektive ist eine schildernde, distanzierte, objektive; es geht hier lediglich um das Dokumentieren bzw. Vorführen einer spezifischen und aufwendig konstruierten Labor-Einrichtung für die kinematographische Aufzeichnung und Speicherung von Ermüdungsstudien.34 Der umgekehrte Fall – geringe Komplexität des untersuchten Phänomens an der Oberfläche bei hoher Reflexion der filmischen Vermittlung – liegt hingegen bei dem 925 entstandenen Kulturfilm KAK CHODIT’ PO ULICE (WIE MAN ÜBER DIE STRASSE GEHT) vor.35

Abb. 8: KAK CHODIT’ PO ULICE (925, R. Michail Verner)

Mit dem Film griff die Moskauer Stadtverwaltung (Mossovet) einen Vorschlag des Leiters des CIT Aleksej Gastev auf, den großstädtischen Fußund Straßenverkehr psychotechnisch zu regulieren, d.h. die aufgrund der zunehmenden Unfälle notwendig gewordene Sicherheit der Bevölkerung durch die Einbeziehung der Kamera und der Montage zu gewährleisten. Michail Verners KAK CHODIT’ PO ULICE, gedreht von einem der wichtigsten Kameramänner Dziga Vertovs, Aleksandr Lemberg, und produziert von Kul’tkino, einer auf populärwissenschaftliche und Kulturfilme spezialisierten Abteilung des staatlichen Studios Goskino, versuchte sich an 34 Es könnte sich um den Film UTOMLENIE I BOR’BA S NIM (ERMÜDUNG UND DER KAMPF GEGEN SIE) von J.E. Genika handeln, einer populärwissenschaftlichen Studie von 927. 35 Vgl. zu diesem Abschnitt: Barbara Wurm: »Beschleunigte Blicke, erschütterte Verortung. (Fort-)Bewegungs-Filme und die Experimentalisierung des Sehens im frühsowjetischen Kino«, in: Christine Gölz/Wolfgang Kissel (Hg.): Flüchtige Blicke, Bielefeld 2007 [in Druck]. 113

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der Umsetzung dieser biopolitischen Aufgabe. Denn das Kino wurde Mitte der 920er Jahre, wie schon im zweiten Abschnitt ausführlich beschrieben, als optimales Medium betrachtet, Bewegungsanalyse und Instruktion miteinander zu verbinden. Daher ist es kein Zufall, dass Walter Benjamins Ausführungen zum »optischen Unbewussten« im KunstwerkAufsatz, die mit dem normalen Gang des Menschen einsetzen, ganz auffällig mit der psychotechnischen Orientierung dieses Kulturfilms korrespondieren: »Ist es schon üblich, daß einer vom Gang der Leute, sei es auch nur im Groben, sich Rechenschaft ablegt, so weiß er bestimmt nichts von ihrer Haltung im Sekundenbruchteil des Ausschreitens. […] Hier greift die Kamera mit ihren Hilfsmitteln, ihrem Stürzen und Steigen, ihrem Unterbrechen und Isolieren, ihrem Dehnen und Raffen des Ablaufs, ihrem Vergrößern und ihrem Verkleinern ein. Vom Optisch-Unbewußten erfahren wir erst durch sie, wie von dem Triebhaft-Unbewußten durch die Psychoanalyse.«36

Der Film avanciert zum Analyseinstrument auch der elementaren Formen der Fortbewegung. Wie viele Kulturfilme seiner Zeit gehört KAK CHODIT’ PO ULICE zu jener Reihe von analytischen Ratgebern, die die einzelnen Aufgaben- und Leistungsbereiche des sozialen Wesen Mensch durch Lehrprogramme des »Wie man … macht« zu beantworten versucht: »Während manche Filme lehren, wie man sich unter der Dusche zu waschen hat, zeigen anderen, wie man gehen muss«, stellt Oksana Bulgakowa in ihrer Studie zum sowjetischen Kino als Schule der Körpertechniken in Bezug auf die Kulturfilme Aleksandr Medvedkins BEREGI ZDOROV’E (HÜTE DEINE GESUNDHEIT, 930) und Verners filmischer Anleitung für Fußgänger lakonisch fest.37 Die Liste wäre allerdings endlos fortsetzbar, denn vom Torfabbau über die Traktorbedienung bis hin zu »Wie man sein Zimmer aufräumt« oder »Wie man eine Kuh melkt« wurden sämtliche als für das Menschsein relevant erachteten Tätigkeiten filmisch begleitet.38

36 Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt/Main 963, S. 36. 37 Oksana Bulgakova [Bulgakowa]: Fabrika žestov, Moskau 2005, S. 49. Bulgakowa nennt noch einige andere (in der Mehrzahl Spiel-)Filme der Zeit, die alle das problematische Gehen bzw. Überqueren von Straßen zum Thema haben. KAK CHODIT’ PO ULICE ist nicht, wie hier behauptet wird, verloren gegangen, sondern im RGAKFD, Krasnogorsk, einsehbar. 38 Vgl. den Überblick zur Kulturfilm-Produktion des für dieses Genre aktivsten Studios Mežrabpom-fil’m: Kul’turfil’my proizvodstvo nauþnogo otdela akcionernogo obšþestva »Mežrabpom-fil’m«, Ɇoskau 928. 114

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Auch im Hinblick auf die bei Benjamin beschriebenen epistemischen Veränderungen des apperzeptiven Apparats weist die Message dieser zwischen Lehrfilm und Bewegungsstudie angesiedelten dramatischen Szenerie im Straßenverkehr augenscheinliche Parallelen auf: »Das Bedürfnis, sich Chockwirkungen auszusetzen, ist eine Anpassung der Menschen an die sie bedrohenden Gefahren. Der Film entspricht tiefgreifenden Veränderungen des Apperzeptionsapparates – Veränderungen, wie sie im Maßstab der Privatexistenz jeder Passant im Großstadtverkehr, wie sie im geschichtlichen Maßstab jeder heutige Staatsbürger erlebt.«39 Andererseits lässt sich das knapp zehnminütige kino-plakat – wie die Genrebezeichnung lautet, ebenso wie der Filmeinsatz in den Laboratorien des CIT mit dem Disziplinierungs- und Regierungsprojekt in Zusammenhang bringen, das Jonathan Crary als Projekt einer institutionellen Macht beschreibt, die ein spezifisches Interesse am Funktionieren von Wahrnehmung hat, »in dem Sinn, dass das Subjekt produktiv, lenkbar, kalkulierbar und darüber hinaus sozial integriert und anpassungsfähig wird.«40 Konsequent setzt der Film nach einer kurzen Erläuterung der Verkehrssituation Moskaus auch mit einem optischen Instrument ein – einer Lupe.

Abb. 9: KAK CHODIT’ PO ULICE

Da die Straßen der Metropole von den neuen und alten Verkehrsmitteln überschwemmt werde und die Bevölkerung die Zwei-Millionen-Grenze erreiche, könne man in den Zeitungen täglich von Unfällen lesen, bei denen wöchentlich, so ein Zwischentitel, vier Menschen im Straßenverkehr sterben und 46 verletzt würden. »Warum?«, fragt der Film, »gibt es in New York in Relation zur Bevölkerungsdichte nur die Hälfte der 39 Benjamin: Kunstwerk (Anm. 36), S. 39. 40 Jonathan Crary: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur, Frankfurt/Main 2002, S. 6. 115

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Unfälle?« Die Antwort leitet eine Lupe ein: »Schauen wir auf uns selbst!« – »Wie gehen wir über die Straße?« Die Lupe wird von einem Gesicht überblendet und diese Doppelbelichtung in einem dritten Schritt mit einer Straßenansicht kombiniert.

Abb. 0: KAK CHODIT’ PO ULICE

Gleich darauf folgt eine Szene, in der in Großaufnahme die Beine und Füße der Passanten beim einfachen Gehen auf dem Trottoir stolpernd und aufeinander tretend gezeigt werden. Denn trotz des gesteigerten öffentlichen Verkehrsaufkommens setzen die Fußgänger ihre unkontrollierten Bewegungsabläufe fort, sie laufen quer über die Straße, unbeirrt von kreuzenden Pferdefuhrwerken, Automobilen oder Straßenbahnen. Eine drastische Unfallsszene schildert, wie ein Mann von einem überholenden Automobil niedergefahren wird und im nächsten Augenblick schwer verletzt auf der Straße liegt. Darauf hin werden von der Regierung städtepolizeiliche Maßnahmen ergriffen und die Bevölkerung über Plakate von den neuen Verhaltensregeln informiert. Der Text dieser Veröffentlichungsblätter wird nun im Film spielerisch umgesetzt: Prinzipiell, so ein den bewegten Bürgersteig überblendendes Schrift-Insert, benütze man das auf der rechten Seite gelegene Trottoir, in Ausnahmefällen auch das linke, dort jedoch halte man sich wiederum auf der rechten Seite. Auch genaue Anweisungen über das Überqueren von Straßen werden gegeben, wobei hier dokumentarische Beobachtungen des Fußgängerverhaltens, nachinszenierte Szenen, wandernde Zwischentitel sowie einfache Animationen eines Signal-Straßenplans (mit Punkten und Pfeilen, die die richtige Richtung beim Überqueren von Straßen ausweisen) eingesetzt werden. Die Message des Films lautet: Wer Unfälle (bzw. den Unfallstod) meiden will, wer möchte, dass »Kopf, Hände und Füße« (dargestellt als Dreifachbelichtung) »ganz« bleiben, der halte sich an die Grundregel: »Geh so, dass man dich nicht anrempelt und zerquetscht.«

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AXIOME DER FILMISCHEN MENSCHWERDUNG

Abb. : KAK CHODIT’ PO ULICE

Auf der Ebene der filmischen Verfahren ist KAK CHODIT’ PO ULICE ein Beispiel dafür, dass sich verfremdende, die Aufmerksamkeit steigernde Techniken durchaus mit den Prinzipien der Disziplinierung und Regulieren kombinieren lassen. So gibt es etwa einen doppelten split screen mit unterschiedlichen Einstellungsgrößen (links unten und in Großaufnahme durcheinander geratende Beine, in der Mitte eine großstädtische Straßenszene in Totale und rechts oben eine vorbeiflitzende Straßenbahn in Halbtotale), wandernde Schriftzeilen, Überblendungen von Bild und Titel, aktiv eingesetzte Auf- und Abblenden oder Einstellungslängen, die eine geordnete Wahrnehmung – ganz wie im Fall von Vertovs Experimenten – absichtlich unterlaufen. Im Fall der Schilderung des Unfalls aus der Perspektive eines Autofahrers, der schließlich einen hinter der Straßenbahn auf die Fahrbahn springenden Mann überfährt, liegt die Einstellungsdauer bei einigen wenigen Zehntelsekunden. Selbst der flüchtige Blick auf den neuen Geschwindigkeitsrausch wird hier zu einem Kontrollorgan, das nicht-flüchtige Blicktechniken erzeugen soll. In der zeitgenössischen Filmkritik wurde der Film als Beispiel für die (dem westlichen Unterhaltungs- und Spektakel-Kult entgegen gesetzte) positive sowjetische Tendenz zur »agitatorischen« und »propagandistischen« Kinematographie betrachtet und besonders seine plakathafte Aufmachung hervorgehoben.4 Die filmischen Methoden, die hier zum Einsatz kommen, werden in der Rezension als gelungene Realisation des »Überrumpelungsprinzips« verstanden, was die einflussreiche Rolle von Vertovs methodischen Dogmen für das Kulturfilm-Schaffen belegt. Das Prinzip der »Überrumpelung«, so der Regisseur, mache jedoch viele komplizierte Kamera- und Einstellungstechniken erforderlich. Um eine Straßenszene authentisch drehen zu können, »musste aus Kellern hinauf, aus Balkonen herunter und aus speziell angefertigten Hütten heraus ge4 G.D.: »Kak nado chodit’ po ulice«, in: Sovetskij ơkran 3 (925), S. 7. 117

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filmt werden, in denen sich, unbemerkbar für die darum herum versammelte Öffentlichkeit, der Kameramann befand. Für die Montage des Films wurde das Prinzip der Plakat-Methode angewandt, bei der sich mit jeder neuen Einstellung der Eindruck der vorangehenden verstärkt.«42 Der zentrale Angelpunkt der psychotechnischen Methode des Films liegt in der Verbindung von objektiven und objektivierenden Einstellungen (inklusive der animierten Diagramme), die Orientierung ermöglichen sollen, mit solchen, die eine Szene aus der subjektiven Perspektive (der Fußgänger ebenso wie der Autofahrer) schildern, die im Gegensatz dazu das Chaos der Eindrücke simulieren sollen. KAK CHODIT’ PO ULICE steht damit in jenem breiteren Kontext des psychotechnischen Filmeinsatzes, der Mitte der 920er Jahre in der Sowjetunion einen Höhepunkt erreicht hatte – zumindest auf dem Papier43 und parallel zur Etablierung der Arbeitswissenschaft und insbesondere der Berufseignungstests. Die Begeisterung für den psychotechnischen Einsatz der Kinematographie lässt sich besonders in den einschlägigen Filmzeitschriften der Zeit nachvollziehen. Adressiert an ein Massenpublikum, das vermutlich eher über die Erlebnisse von Mary Pickford und Douglas Fairbanks im Lande der Bolschewiki lesen wollte, wurde hier von einem in Paris präsentierten psychotechnischen Transportlabor nach Vorbild Hugo Münsterbergs berichtet, das über Fahrsimulatoren das Reaktionsvermögen und die Konzentrationsfähigkeit der angehenden Straßenbahnfahrer testete;44 oder davon, wie auch die Anwärter auf einzelne Bereiche innerhalb der Filmproduktion nach psychotechnischen Test-Verfahren vermessen wurden – die Sehschärfe der Kameraleute, das Rhythmusgefühl der Schnittmeister, die Bewegungskoordination der Schauspieler.45 Am Ende solcher Untersuchungen stand oftmals die statistische Erfassung der Testpersonen anhand ihrer »Nerven und Reflexologie«.46

4. Das »Verhalten des Menschen« oder: Die Mechanik des Gehirns (Reflexologie im/und Film) Wie sich dieser auf »Nerven und Reflexologie« bezogene psychophysiologische Diskurs überhaupt durchsetzt, sei nun anhand des Filmes MECHANIKA GOLOVNOGO MOZGA (DIE MECHANIK DES GEHIRNS, 925/ 26) skizziert, des damals viel diskutierten und bis heute (zu Recht) be42 Ebd. 43 Die tatsächliche psychotechnische Filmproduktion muss als eher marginal angesehen werden, folgt man der Überblicksdarstellung zum wissenschaftlichen Kino in der Sowjetunion: Lazar’ Sucharebskij: Nauþnoe kino, Moskau 926. 44 Vgl. V.G.: »Tejlorizacija truda i kino«, in: Sovetskij ơkran 5 (925), S. . 45 Vgl. K.G. »Psichotechnika v kino«, in: ebd., S. 7. 46 Ebd. 118

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rühmt-berüchtigten populär-wissenschaftlichen Films Vsevolod Pudokins über das »Verhalten der Tiere und des Menschen« (russ. povedenie þeloveka), wie der Film mit dem Untertitel heißt. Die Verbindung von Kinematographie und Menschenversuch, dokumentarischem Film und experimenteller Sozialtechnik hat – zumindest in der Sowjetunion – nirgendwo sonst eine solche Direktheit und Explizität erfahren (und das, obwohl sich gerade der kinematographische Anteil merkwürdig zurück nimmt). Aus historischer Perspektive stellt das in diesem Film überlieferte Bildmaterial heute einen der ›spektakulärsten‹ und ›sensationellsten‹ Belege für die Genese des Neuen Menschen aus dem Geiste (und dem Laboratorium) wissenschaftlicher Experimentalanordnung dar, er liefert vermeintlich evidente Bilder, ja sogar die materiale Grundlage für die metaphorisch so hoch aufgeladene (und oft unpräzise) Rede von der Disziplinierung des sowjetischen Menschen im Labor der Revolution.47 Dabei handelt der Film bei genauerer Betrachtung und im Vergleich zu den bisher diskutierten anderen Axiomen der kinematographischen Menschwerdung innerhalb der russischen Avantgarde weder von Disziplinierung noch – worauf die markante Verwendung des Archivmaterials in dem bereits erwähnten Dokumentarfilm TROTZKIS TRAUM verweist – von der Geschichte der Psychoanalyse.48 Die vordergründige Evidenz des Films könnte damit in Zusammenhang stehen, dass DIE MECHANIK DES GEHIRNS im Unterschied zu Vertovs kinoglaz-Methode, aber auch zu den psychotechnischen Filmen der Zeit, auf die Einbeziehung subjektiver Perspektiven, auf das aktive Eingreifen der Kamera in das Geschehen fast gänzlich verzichtet. Ziel des Filmes war es nämlich ausdrücklich und im Sinne eines Objektivismus, »Pawlows Lehre vom bedingten Reflex als Grundlage der so genannten psychischen Tätigkeit des Menschen zu popularisieren«.49 Auf ganz gru47 Vgl. Torsten Rüting: Pavlov und der Neue Mensch. Diskurse über Disziplinierung in Sowjetrussland, München 2002. Rüting setzt sich mit der Diskursivierung der Lehre Pavlovs im späten Stalinismus und nach Stalins Tod auseinander, wobei so gerade in der Projektion auf die institutionelle Forschungsarbeit der 920er Jahre immer wieder Begriffe wie Labor, Experiment oder Disziplinierung in teilweise unscharfer, ausschließlich rhetorischer Weise verwendet werden. 48 Weder hier noch in dem 995 entstandenen russischen Reflexologie-Potpourri von Igor’ Alimpiev hiPFiziFiziologija russkoj žizni (Die Physiologie des russischen Lebens) wird Pudovkins Film im Abspann zitiert. 49 Vsevolod Pudovkin: [»DIE MECHANIK DES GEHIRNS«] [925], in: ders.: Die Zeit in Großaufnahme, Berlin 983, S. 44; vgl. dazu: Amy Sargeant: »Russian Physiology and Pudovkin’s THE MECHANICS OF THE BRAIN (THE BEHAVIOUR OF ANIMALS AND MAN), in: dies.: Vsevolod Pudovkin. Classic Films of the Soviet Avant-Garde, New York 2000, S. 29-53; Margarete Vöhringer/Michael Hagner: »Vsevolod Pudovkins Mechanik des Gehirns – 119

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selige Weise kommt dabei aber auch noch ein weiterer Aspekt ins Spiel: Pudovkins Film, der so harmlos als Vermittler wissenschaftlicher Erkenntnisse auftritt, zeigt dabei die brutalsten Formen des Menschenversuchs. In der Überschreitung der Grenze von Tier und Mensch, für die sich die hier gezeigten Versuchsleiter in den Laboratorien für physiologische Experimente bewusst entschieden haben (und mit ihnen die Volkskommissäre der UdSSR), filmt Pudovkins Kameramann Anatolij Golovnja gleichsam hinter den Kulissen nicht nur der Laborarbeit – beispielsweise durch die markante Einbeziehung des Gucklochblickes der Versuchsleiter –,

Abb. 2: MECHANIKA GOLOVNOGO MOZGA (925/26, R. Vsevolod Pudovkin)

sondern auch der Grauzonen des wissenschaftlich fundierten Projektes der sowjetischen (Neuen) Menschwerdung aus dem Geiste der Konditionierung. Denn die geschilderten Menschenversuche unter der wissenschaftlichen Leitung der Professoren L.N. Voskresenskij und D.S. Fursikov, die physiologischen Experimente und Operationen im Laboratorium der Pavlov-Akademie und am Institut für Hirnforschung der kommunistischen Akademie, die Tieraufnahmen unter Assistenz von I.N. Danilov, Direktor des Leningrader Zoos, die Experimente mit bedingten Reflexen an Kindern unter der Leitung von Professor N.I. Krasnogorskij und schließlich die Aufnahmen »von Kindern in ihrer natürlichen Umgebung« durch Professor A.S. Durnovo – wie sie alle im Vorspann zum Film aufgeführt werden – werden deshalb so ausführlich gezeigt, weil sie

Film als psychophysisches Experiment«, in: Horst Bredekamp/Gabriele Werner (Hg.): Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik. Bd. 2,: Bildtechniken des Ausnahmezustandes, Berlin 2004, S. 82-6; Hennig: »faktur und fRaktur« (Anm. 3). 120

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erst in Bezug aufeinander jene universelle Anwendbarkeit der Theorie der bedingten Reflexe Ivan Pavlovs belegen, die der Film untermauern möchte. Diese steht in direktem Zusammenhang mit dem marxistischen Dogma des Materialismus, der im letzten Zwischentitel auf den Punkt gebracht wird: »Die Lehre von den bedingten Reflexen stellt die Grundlage für das materialistische Verständnis des Verhaltens von Tieren und Menschen dar.« Pudovkins Interesse, so auch Anke Hennig, sei durch sein Bemühen motiviert, »den Dualismus von Materie und Bewußtsein in einer Materialität des Denkens aufzuheben.50 Pudovkin erklärt die Pavlov’sche Theorie zu einer materialistischen Theorie des Bewußtseins, die sowohl die Kategorie des Geistes als auch die der Psyche ersetzt; beide gebraucht er in den Zwischentiteln seines Films in Anführungsstrichen.«5 Die materialistische Grundlage des Seins liegt, wie aus dem linearen Narrativ hervor geht, im Gehirn, im Rückenmark und in den Nervenbahnen; das Verhalten des Menschen lässt sich vollständig auf den Entwicklungszustand der Gehirnteile zurückführen und ist »das Ergebnis der Funktionen des Nervensystems«. Der Film führt die gesamte Terminologie und Logik der Reflexologie ein – Signale, motorische Reaktionen, Reizübertragung über Empfindungsnerven und schließlich unbedingte Reflexe –, und führt sie anhand von animierten Gehirnteilen, Froschexperimenten oder der berühmten Speichelabsonderungsproduktionmaschine mit Pavlovs Hunden vor. Unbedingte Reflexe, so erklären die Zwischentitel, seien durch »maschinelle Exaktheit und Zielgerichtetheit der Funktion« charakterisiert. Diese »zielgerichteten Reflexe« (»das Streben nach Beherrschung des jeweiligen reizausübenden Gegenstandes«) führt Pudovkin nun in den Koordinaten einer evolutionären Logik (vom einfachen, »primitiven« zum komplexen Nervensystem) vor. Von den niederen Arten im Tierreich über die Primaten zu Kindern, Behinderten, Gehirnverletzten, Syphiliskranken und schließlich gesunden Kindern; vom Reflex einer gebärenden Mutter über den Reflex des saugenden Kindes bis hin zu einer Kleingruppe Vierjähriger, die es aufgrund psychosozialer Kombinatorik zu Wege bringen, einen Ring von der Wand zu holen, der weit oben hängt. Dass

50 Vgl. dazu auch die Reaktion Lenins auf Avenarius’ These, wonach »das Seiende […] als Empfindung zu denken sei, welcher nichts Empfindungsloses mehr zugrunde liegt«: »Also existiert die Empfindung ohne ›Substanz‹, d.h., der Gedanke existiert ohne Gehirn! Gibt es nun wahrhaftig Philosophen, die imstande sind, diese hirnlose Philosophie zu verteidigen?« – Lenin, W.I.: Materialismus und Empiriokritizismus [909], Berlin 973, S. 40. 5 Hennig: »faktur und fRaktur« (Anm. 3). 121

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der Reflexologie die Nähe zur prekären Sozialtechnik eingeschrieben ist, kommt spätestens an dieser Stelle deutlich zum Ausdruck. Das Scharnier dieses fließenden Übergangs von Tier zu Mensch stellen die Experimente zum »bedingten Reflex« mit Hunden, Affen und schließlich mit einem Kind dar, die der Pudovkin als wissenschaftlicher Berater zur Seite stehende Professor Krasnogorskij durchführte.52 Lapidar wird erklärt, dass sich bei diesem ersten Testkind infolge einer Krankheit eine Speichelfistel gebildet hat. Vermutlich ist das der Grund, warum das etwa 2-jährige Mädchen an der besagten Stelle in der Wange mit einem Speichelmesser verschaltet wird, der ähnlich wie im Fall der Hunde die unterschiedliche Speichelproduktion bei »Fütterung durch feuchtes Brot« und durch Zwieback misst. Auch ein zweites, wesentlich jüngeres Kind

Abb. 3: MECHANIKA GOLOVNOGO MOZGA

wird an die Futtermaschine gehängt und mit einem Registrierapparat auf dem Kopf versehen, der direkt (durch ein »Röhrensystem«) mit einem Kymographen (»Schreiber«) verbunden ist. Das Reiz-Signal: Nahrung – ein kleines Stückchen Keks, das in den Mund des Kindes fällt. Reflex: das Kind schluckt (»unbedingter Reflex«). Zweites Signal: Hautreizung durch Gummibalg – hervorgerufen durch einen »Experimentator in einer isolierten Zelle« (Abb. 2). Schließlich erfolgt durch die »Kombination von Hautreiz und Nahrung« die Herausbildung eines »bedingten Reflexes«. Alle Verhaltensweisen des Menschen werden auf diese Weise schließlich auf unbedingte oder bedingte Reflexe zurückgeführt (Motorik, Gesichtssinn, Gehörsinn, Empfindung, Orientierung, Kooperation, 52 Interessanterweise fehlt genau diese Episode in jener Fassung, die das russische Staatsfilmarchiv (Gosfil’mofond) derzeit zur Verleihkopie kürt. 122

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etc.). Denn – wie es in einem eingeblendeten Pavlov-Zitat heißt – »Das ganze Leben, die ganze Kultur entsteht durch den Zielreflex … durch Menschen, die nach einem sich im Leben gesetzten Ziel streben«. Pudovkin will ganz im Sinne des populärwissenschaftlichen Genres der Popularisierung des spezifischen Wissens der Reflexologie dienen. Die filmische Erschließung der Lehre von den Reflexen verspreche, so Pudovkin in einem der zahlreichen schriftlichen Kommentare zu diesem Film, »vielfältige Möglichkeiten, Momente wissenschaftlich wertvoller Experimente aufzunehmen, die nur mit Hilfe des Objektivs einer Filmkamera fixiert werden können«.53 Es galt dabei freilich, die rhetorische Überzeugungsarbeit in die Auswahl der Einstellungen und die Montage zu verlagern und so Aufmerksamkeit für ein teils trockenes, teils komplexes Wissensgebiet zu erzeugen. Es ist auch dem Dogma der Erzeugung anschaulicher Evidenzen geschuldet, dass Pudovkin selbst seine Entscheidung für die explizit fingierte Inszenierung zuvor beobachteter Szenen rechtfertigt. Es sei erlaubt, eine wissenschaftliche These synthetisch zu generieren, wenn dies nur der Plausibilisierung der These diene: »Um dem Filmzuschauer eine bestimmte Episode klar und überzeugend zu vermitteln, bedarf es der Montage.«54 Die Diskussion des Anteils und der Beteiligung der Kinematographie an den explizit geschilderten Menschenversuchen wird allerdings durch die vielfältigen anderen Diskussionen rund um den Einsatz bestimmter filmischer Verfahren in Bezug auf Montage, Evidenz und rhetorischer Überzeugung zunächst in den Schatten gestellt. Hier ging es um die Beschaffung und Entstehung des Bildmaterials, um die Frage, wie ein populärwissenschaftlicher Film überhaupt auszusehen habe, insbesondere die Vermeidung der Vulgarisierung des Wissens, bis hin zur vielzitierten bußerung Pudovkins, dass es notwendig war, »die gesamte Materie mit spezifisch filmischer Logik darzustellen, also die einzelnen Schlußfolgerungen zu synthetisieren, zu einem bestimmten Ganzen zusammenzubringen: Es mußte die Organisierung des wissenschaftlichen Materials gefunden werden.«55

Im Zusammenhang damit wandte sich Pudovkin nämlich explizit gegen Dziga Vertovs kinoglaz-Methode der Überrumpelung: 53 Pudovkin: MECHANIK DES GEHIRNS (Anm. 49), S. 44. 54 Vgl. Vsevolod Pudovkin: »Die Montage eines wissenschaftlichen Films« [925], in: ders.: Die Zeit in Großaufnahme (Anm. 49), S. 45-48. 55 Vgl. Vsevolod Pudovkin: »Über ›DIE MECHANIK DES GEHIRNS‹« [926], in: Die überrumpelte Wirklichkeit. Texte zum sowjetischen Dokumentarfilm der 20er und der frühen 30er Jahre, ausgewählt von Hans-Joachim Schlegel, hg. vom Leipziger Dokumentarfilmfestival, Leipzig 2003, S. 4. 123

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»Denn wenn man einfach nur verfolgt, wie sich die Ereignisse völlig unabhängig von unserer Willenseinwirkung entwickeln und dies dann so auf der Leinwand zeigt, dann liefert man dem Zuschauer ja lediglich Rohmaterial. Um einen laufenden Prozeß komprimiert zeigen zu können, muß sich der Regisseur mit seinem Willen in ihn einmischen. Er wird mit der Aufnahme etwa erst in der Mitte dieses Prozesses beginnen, sie anhalten, sie mehrmals wiederholen usw. Im Leben macht man gewöhnlich erst mehrere Erfahrungen durch, bevor man zur letztgültigen kommt. Deshalb erweist sich ein Experiment im Film als eine Vereinigung mehrerer Fragmente.«56

Auffällig ist hier nicht nur die polare Positionierung zu und Polemik gegen Vertov. Vielmehr steht auch die mehrfache Bezugnahme auf die Instanz des »Willens« und des Eingreifens durch den Regisseur im markanten Widerspruch zur Theorie der totalen Einspeisung menschlichen Verhaltens in bedingte und unbedingte Reflexe. Der Film bezieht also indirekt Stellung zu den vermittelten Inhalten. Dennoch distanziert sich der Autor aber nicht davon, sondern versucht als Filmemacher (mit wesentlich mehr Einsatz als Ivan Pavlov selbst, der die Mitarbeit an dem Film verweigerte) durch die Montage eine synthetische Rahmung für vereinzelt stattfindende Experimentalanordnungen zu schaffen. Dies ist eine äußerst zweischneidige Strategie. Denn einerseits werden, wie Margarete Vöhringer und Michael Hagner argumentieren, »durch die extreme Annäherung der Filmtechnik an die Reflexologie und ihre szientifischen und anthropologischen Ideale […] Bilder produziert, die in ihrer protokollarischen Genauigkeit und Objektivität die kalte Konstruktion des Experimentalisierungsgeschäfts festhalten.«57

Andererseits treten gerade im Bericht und den Hintergrundinformationen zum Drehablauf jene Widersprüche zu Tage, in die sich nicht nur die einzelnen Versuchsanordnungen in den Labors verwickelt sehen (und die selbstverständlich im Film ausgeblendet werden, wie scheiternde Projekte etwa), sondern auch die Experimentier-Settings des Kinematographen am Set, im Studio.

56 Ebd. 57 Vöhringer/Hagner: »Vsevolod Pudovkins MECHANIK DES GEHIRNS« (Anm. 49), S. 9. Auch in dieser intensiven Auseinandersetzung bleibt letztlich unklar, ob es sich bei den filmischen Mitteln Pudovkins auch formal um psychotechnisch bzw. psycho-physiologisch motivierte Verfahren handelt. Ich würde diese These zumindest in Frage stellen, da ich beispielsweise in der Bildgestaltung oder Kadrierung keine Ansatzpunkte dafür erkennen kann. 124

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Die Kamera, das wird an jener Stelle deutlich, die den Kymographen fokussiert, hat als mobiler und mit den motorischen Reaktionen der Testpersonen nicht direkt verbundener Aufzeichnungsapparat zwar den Nachteil, keine unmittelbare Übertragung des Reiz-Reaktionsgeschehens leisten zu können; sie hat aber den Vorteil, ein Geschehen aus mehreren Perspektiven einzufangen und als zweites Aufmerksamkeitszentrum für die Testperson (neben jenem, das der Versuchsleiter oder seine Apparatur darstellt) auch die oft unfreiwilligen Öffnungen innerhalb vollständig durchgeplanter »Szenen des Experiments« festzuhalten.

Abb. 4: MECHANIKA GOLOVNOGO MOZGA

So zeigt sich etwa gerade in der Szene mit dem Kleinkind in der Futtervorrichtung (Abb. 4), dass das Kind immer wieder verunsichert und ›Hilfe suchend‹ in die Kamera blickt. Diese frontalen Blicke in die Kamera hat Gertrud Koch am Beispiel eines NS-Euthanasiefilms als widerständige Blicke des Lebens gegen den phobischen Blick der Kamera bezeichnet: Die »experimentell konstruierte Aufzeichnung« der NS-Eugeniker und ihrer Kameras als Methode der diffamierenden Ausstellung »unwerten Lebens«, die als phobischer, böser und damit im Sinne von Lacans fascinum als mortifizierender Blick funktioniert, funktioniere in diesem Moment eben nicht mehr, weil er an seine medialen Grenzen stößt. Diese Grenze »verläuft zwischen dem mortifizierenden, faszinierten Blick durch die Kamera und den frontal in die Kamera Blickenden. Anstatt wie auf Fotos, die als die heimlichen Vorläufer anzusehen sind, zum toten Objekt zu erstarren, bleiben sie im Bewegungsbild des Films in Bewegung. Damit aber werden sie zu höchst lebendig scheinenden Wesen, deren direkter Blick weder um Tötung fleht noch diejenigen Merkmale missen lässt, die wir mit dem Begriff der ‘Person’ verbinden, wie z.B. subjektive Emotionen, Fähigkeit zu Glücks- und 125

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Schmerzempfindungen und einem eigenen Willen. Die Unmöglichkeit, in diesen vorgeführten Personen teleologisch Tote zu sehen, verweist auf den blinden Fleck dieses Blickes selbst: dass, wo er töten möchte, Leben sein muss.«58

Wenngleich es im Fall von Pavlovs Experimenten nicht um Tötung, sondern um die Experimentalisierung des Reflexes geht, funktioniert auch hier der Blick des Kindes in die Kamera als ›Desavouierung‹ der experimentell konstruierten Aufzeichnung. Während Pudovkin dies hier zulässt, streicht er andere Fälle des Nicht-Funktionierens des Experimentalverlaufs aus: So, wenn er berichtet, dass die dokumentarisch aufgezeichneten Bewegungen des Seelöwens überhaupt keine reflexologische Logik hätten erkennen lassen, weshalb besagter Seelöwe wie ein Schauspieler hätte animiert werden müssen, bestimmte Bewegungen durchzuführen. Oder – nun doch in Bezug auf das Kind und zwar in Blickrichtung auf eine bruchlos funktionierende Montage: »Für einen organischen Übergang von einer Totalen zur Großaufnahme einer Bewegung mußten wir ein Kind dazu bringen, dieselbe Bewegung wie in der Totalen zu machen.«59 Auch die bewusste Verwendung von künstlichem Licht wurde zum Problem: So wurden sämtliche im Studio aufgenommenen Experimental-Szenen, bevor sie tatsächlich gedreht wurden, »um bei der Aufnahme jegliche Anormalität, jedweden Einfluß ungewöhnlicher Umstände (etwa Irritationen durch künstliche Beleuchtung) auszuschließen, […] zuvor mehrmals bei Studiobeleuchtung durchprobiert. Auf diese Weise wurde dieses Licht zu einer organischen Versuchsbedingung.«60

Erst in diesen Offenbarungen, erst in der Konfrontation mit der Artifizialität des Filmbildes kommen Momente des Widerstreits gegen das sozialtechnische Programm der Steuerung und Kontrolle, von dem der Film selbst handelt, zum Vorschein. Es war nicht mehr um Disziplinierung im psychotechnischen Sinn gegangen, und es ging Pudovkin auch nicht – wie das für Lev Kulešov oder Dziga Vertov unbestritten ist – um die Überzeugung und das Vorführen, dass sich die visuelle Wahrnehmung auf einen neurophysiologischen Übertragungsprozess reduziert, der in einem Bezug zur Montage steht, die bestimmte Impulse oder Signale generiert. Vielmehr ging es um die Synthetisierung heterogener Experimen-

58 Vgl. Gertrud Koch: »Der phobische Blick. Zur Körper- und Stimminszenierung im Euthanasie-Propagandafilm«, in: Helmar Schramm u.a (Hg.): Bühnen des Wissens. Interferenzen zwischen Wissenschaft und Kunst, Berlin 2003, S. 332. 59 Pudovkin: Über »›DIE MECHANIK DES GEHIRNS‹« (Anm. 55), S. 4. 60 Ebd. 126

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talanordnungen, die aber in ihrer filmischen Durchführung ebenfalls an ihre Grenzen stieß.

5. Epilog: Menschwerdung (vor der Kamera und im Kino) Es sind die oft kurzen Film-im-Film-Szenen, die in den sowjetischen populärwissenschaftlichen Filmen der 920er Jahre darauf verweisen, dass auch das Kino als biopolitisch zentrale Institution der Menschwerdung und des Menschenversuchs angesehen wurde, integriert in die jeweiligen Experimentalanordnungen. Dies sei abschließend an zwei sehr unterschiedlichen kolonialen Filmprojekten gezeigt, einem Hygienefilm aus den 30er Jahren, POL’ZUýAJA SMERT’ (DER SCHLEICHENDE TOD), sowie der doppelten ‘Buchführung’ einer Expedition zu den »Waldmenschen« im Ussuri-Gebiet. POL’ZUýAJA SMERT’ thematisiert die Notwendigkeit körperlicher Hygiene im Rahmen der sanitären Maßnahmen, die in usbekischen Sowchosen gegen den grassierenden Flecktyphus getroffen wurden. Zwar gibt es Redner und Aushänge, die die Menschen mit den neuen Verhaltensregeln im Alltag vertraut machen sollen, die wirksamste Vermittlung wird in diesem Film jedoch einem Film zugesprochen, dessen Vorführung nun in der Sowchose minutiös vorbereitet wird. Ein dafür extra eingeführter Projektionsapparat wird aufgestellt, eine provisorische Leinwand und Werbeplakate werden aufgehängt. Die einzelnen Handgriffe orientieren sich dabei ganz offensichtlich auch an Dziga Vertovs KinoSaal-Setting aus ýELOVEK S KINOAPPARATOM. Was nun folgt, ist die Instruktion zu (Selbst-)Disziplin als Filmsehen, bei dem es neben expliziten Handlungsanweisungen und Merkformeln gerade die unfreiwillige Übertragung (im Sinne der affectio) ist, durch die es neben dem Lehren und Lernen auch zu körperlichen Reaktionen kommt, die wiederum den eigentlichen Ausschlag für das Umdenken hinsichtlich des Hygiene-Verhaltens der Menschen gibt. Erst als Zuschauer, erst vor der Leinwand, lässt sich der Zugriff auf die Versuchspersonen konsequent bewerkstelligen. Die Augen eines Zuschauers in POL’ZUýAJA SMERT’ beginnen regelrecht zu strahlen, als endlich der Filmstreifen eingespannt ist und das große Flimmern auf dem weißen Bettlaken beginnt. Der Aufklärungsfilm wird von einem Vortrag begleitet. Unauffällig kratzt sich der Zuschauer immer wieder. Wieder treffen seine Augen auf das Filmbild, wo mittlerweile eine Palette von Läusen animiert wird, die als Träger des Flecktyphus entlarvt werden. Doch erst das tatsächliche mikroskopische Wimmeln der Läuse sorgt letztlich für die endgültige Übertragung der Botschaft: viele Zuschauer beginnen sich zu kratzen, das Leuchten in den

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Augen nimmt kein Ende, die somatische Affizierung drückt sich mimisch und gestisch aus. Eine besondere zusätzliche Qualität erreicht der Film aber im zweiten Teil. Hier nämlich trifft die phantasmagorisch-virtuelle Kontagion nicht nur das Unterbewusste eines offenbar auf mögliche materielle Katastrophen vorbereiteten Träumers. Der Traum selbst, seine Bilder manifestieren sich als von Flecken und Blendungen infizierte Filmstreifen. Wie in Luis Bunuels und Salvador Dalis 930 gedrehtem surrealistischen Manifest L’AGE D’OR, der deshalb als wissenschaftliche Hybridisierung und Vulgarisierung beschrieben wurde,6 erhält auch hier das Insektenwesen via das mikroskopische bzw. nach-animierte Bild Einzug in die imaginäre Welt des Traums und des Films. DER SCHLEICHENDE TOD führt performativ vor, wovon er erzählt: die Szene der Ansteckung ist ein Manöver, das einerseits den biopolitischen Auftrag der Zeit erfüllt, dabei gleichzeitig aber das Kino in eine Instanz der Biopolitik verwandelt. Die Auflösung der Konturen, das Amorphe, Undefinierte, Unerkennbare und Unabschließbare des imaginären Gewimmels, die Hypertrophie der Lichtflecken und Blendungen – all die sensations (Deleuze) – vermitteln Eindrücke von der Realität, indem sie subjektive Empfindungen filmisch objektivieren. Sie ereignen sich in einer medialen Wirklichkeit, die nun zum integralen Bestandteil der biopolitischen Kampagnen wird. »In der Sensation vollzieht sich mithin eine spannungsvolle Verschmelzung dessen, was wir sehen, mit dem, wie wir sehen.«62 Selbst diese Erkenntnis jedoch – das ist die Lehre der Ausdifferenzierung des Hygiene- und Ansteckungstopos in der Sowjetunion der 20er und 30er Jahre – lässt sich wieder einspeisen in den uneinholbaren Diskurs des biopolitischen Programms. BEREGI ZRENIJA (SCHÜTZE DEIN AUGENLICHT) lautet demonstrativ der Titel eines Kulturfilms aus dem Jahr 929 – dem Jahr, in dem auch ýELOVEK S KINOAPPARATOM in die Kinos kam. Er empfiehlt die Vermeidung von Blickgift durch psychophysiologisch getestete Verfahren und die gezielte Anwendung »hygienischer Maßnahmen für unser Auge und unsere Aufmerksamkeit« – dazu gehören neben der Bekämpfung von Tripper, Pocken und Trachomen auch Schutzbrillen am Arbeitsplatz, die Vertiefung der Augenheilkunde und schließlich die Hemmung und Zügelung allzu ambitionierter Sinnesstörungen, wie sie der Experimentalfilm der sowjetischen Filmavantgar-

6 Vgl. Oliver Gaycken: »Das Privatleben des SCORPION LANGUEDOCIEN: Ethologie und L’AGE D’OR (930)«, in: montage/av 4/2/05 (Gebrauchsfilm (). Godards Geschichte(n)), S. 44-5. 62 Gottfried Boehm: »Unbestimmtheit«, in: Peter Geimer (Hg.): Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, Frankfurt/Main 2002, S. 246. 128

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de in den Momenten der Störung und der Provokation unfreiwilliger Ansteckung vorgeführt hatte. Dennoch bleiben die Filmkameras unbestrittener Bestandteil der Expansionen ins Reich des Wissens vom Menschen. Ebenfalls 929 kamen jene beiden Filme Aleksandr Litvinovs ins Kino, die ein Jahr zuvor, im Zuge einer wissenschaftlichen Forschungs-Expedition des Ethnologen V.K. Arsen’ev zu den Udegen im Ussuri-Gebiet entstanden waren: Der ethnographische Film LESNYE LJUDI (WALDMENSCHEN) und, parallel dazu gedreht, die Tagebuchaufzeichnungen und Kommentare des Regisseurs zur filmischen Entstehung des genannten Films, PO DEBRJAM US63 SURIJSKOGO KRAJA (DURCHS DICKICHT DES USSURI-GEBIETS). Dieser Tagebuchfilm zeigt, wie das Team unter den schwierigsten Bedingungen die Ausrüstung durch ›unbetretene‹ Landschaften transportierte und wie die Indigenen sich nur zögerlich mit der für sie so ungewohnten Drehsituation anfreundeten. Herausragend ist dabei eine Szene, in der klar wird, dass es die Neugier der Kinder der Familie ist, die die Integration des Filmteams ermöglicht. Sie, die zuerst schamhaft vor der Kamera stehen und diese mit unsicheren Blicken adressieren, freunden sich mit der Apparatur selbst an, indem sie sich nun gegenseitig drehen. Der Blick durch das Kameraobjektiv wird zum Vertrauensakt der schwierigen first contact-Szene. Der andere Film, LESNYE LJUDI, ist hingegen bar dieser Hintergrundinformationen und Meta-Kommentare. Er erzählt auf einfühlsame Weise vom Leben der Udegen und kommt im letzten Teil auch auf die konkreten Formen der Kooperation zwischen dem russischen Wissenschaftler und einem Mann zu sprechen, der als Vermittler zwischen dem kolonialen Zivilisierungsprozess und der indigenen Kultur fungiert. Gemeinsam gehen sie schließlich »zum ersten Mal ins Kino«, wie es in einem Zwischentitel heißt. Dort läuft der andere Film Litvinovs, PO DEBRJAM USSURIJSKOGO KRAJA, in dem der Mediator, Suntsaj Geoik, sich selbst auf der Leinwand erkennt. Er springt auf, gestikuliert nervös umher, freut sich, fällt dabei dem Ethnologen (der sich ein gewisses Schmunzeln nur schwer verkneifen kann) beinahe um den Hals und kann sich vor lauter Aufregung kaum beruhigen. Immer wieder zeigt er mit dem Finger auf die Leinwand. Wie er, der ›Primitive‹, in der Konfrontation mit dem neuen Medium (aus)sieht und wie er reagiert, konnten nur die Zuseher von LESNYE LJUDI sehen, nicht er selbst. Vielleicht aber doch – denn ýELO63 Vgl. u.a. Aleksandr Derjabin: »Aleksandr Litvinov und der sowjetische Expeditionsfilm«, in: Die überrumpelte Wirklichkeit (Anm. 55), S. 59-62; Oksana Sarkisova: Envisioned Communities: Representations of Nationalities in Non-Fiction Cinema in Soviet Russia, 923-935, Budapest [Diss., Typoskript] 2005, S. 267 f. 129

BARBARA WURM VEK S KINOAPPARATOM, der Film Dziga Vertovs, der die filmische Menschwerdung noch einmal von allen Seiten beleuchtet, könnte ja auch in diesem Kino auf dem Programm gestanden haben.

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FILM ALS MENSCHENEXPERIMENT. D Z I G A V E R T O V S »E N T H U S I A S M U S . D O N B A S S S Y M P H O N I E « (1930) BERND STIEGLER Dziga Vertovs erster Tonfilm ENTHUSIASMUS. DONBASS SYMPHONIE1 aus dem Jahr 1930 beginnt mit einer eigentümlichen Einstellung: Wir sehen eine junge Frau unter einem Baum sitzen, die sich einen Kopfhörer aufsetzt.

Abb. 1: Dziga Vertov, ENTUZIASM (SIMFONIJA DONBASSA), 1930. Coverabbildung der DVD

Und dann hören wir das, was diese Frau hört. Wir sehen sie beim Hören, und es ist fast so, als ob wir uns selber dabei betrachten sollen, wie wir sie beim Hören sehen, und sehen dann sogleich Bilder, bei denen wir uns fragen, ob sie auch sieht, was wir sehen: Bilder zu der klassischen Musik, mit der der Film beginnt und die dann von Kuckucksrufen und Glockenschlägen abgelöst wird. »Wir sehen«, so Oksana Bulgakowa, »quasi das,

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Dziga Vertov: ENTUZIASM (SIMFONIJA DONBASSA), 1930 (1972), 65’, bzw. in der nicht restaurierten Fassung 1930, 65’. Restauriert von Peter Kubelka, Österreichisches Filmmuseum (Wien) 2005 (= Edition filmmuseum 01). 131

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was die Person im Film hört, so als ob die Wahrnehmungskanäle umgepolt wären. Das Auge und das Ohr tauschen die Plätze.«2 Die Frau hat mittlerweile – bei der nächsten Einstellung – die Kopfhörer wieder abgesetzt und lauscht der musique concrète der Geräusche, Geräuschen, die von Naturlauten in Glockengeläut, d.h. in kulturelle Zeichen übergehen.3 Und dann ertönt plötzlich eine Stimme aus dem Radiogerät, das vor ihr steht, die die Frau und den Zuschauer zur Aufmerksamkeit aufruft: »Achtung! Achtung! Hier spricht Radio Leningrad.« Die Frau setzt wieder die Kopfhörer auf und nun erfährt sie und erfahren wir, was wir hören und was wir bereits gehört haben: den Marsch »Der letzte Sonntag« aus der Donbass Symphonie – und das ist der Film, den wir gerade sehen. Die Frau hört ein zweites Mal die Musik, die bereits zu Beginn ertönte, und ein zweites Mal beginnt das Vexierspiel zwischen Hören und Sehen – nun aber in einer Mise-en-abyme-Konstellation, die die Tonspur des Films, den wir sehen, im Film als Radioübertragung in Szene setzt. Die Donbass-Symphonie, die wir sehen werden und deren Beginn wir bereits sehen, wird bereits im Radio ausgestrahlt und ist dort hörbar. Und der Film beginnt ein zweites Mal.

Abb. 2: Filmstill aus Dziga Vertov, ENTHUSIASMUS

Er wird uns einerseits in recht kruder Agitpropmanier (und in starker Abbreviatur meinerseits) erst die Überwindung der Religion als Wodka für das Volk – so suggeriert es uns zumindest eine Parallelmontage von

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Oksana Bulgakowa: »Vertov und die Erfindung des Films zum zweiten Mal«, in: Natascha Drubek-Meyer/Jurij Murašov (Hg.): Apparatur und Rhapsodie. Zu den Filmen des Dziga Vertov, Frankfurt/Main u. a. 2000, S. 103-118, hier S. 104. Zur Musik in Vertovs Film ENTHUSIASMUS vgl. Richard B. Wegdewood: Dziga Vertovs ENTHUSIASM: Musique Concrète in 1930; unter: http://sym posium.music.org/cgibin/m_symp_show.pl?id (12.01.2007). 132

Dziga Vertovs »ENTHUSIASMUS. DONBASS SYMPHONIE« (1930)

Gläubigen und Betrunkenen – und einer Verwandlung der orthodoxen Kirchen in Klubs für die Arbeiterjugend und Kinos vor Augen und vor Ohren führen, um dann detailliert die Bewältigung einer Produktionskrise in der Donbass-Region zu schildern, bei der es dank des Enthusiasmus der Stoßarbeiter und einer gemeinsamen Tat der Werktätigen erst zu einer Übererfüllung des Fünfjahresplans kommt und dann auch noch die Stahlarbeiter bei der Ernte helfen. Vertov selbst beschreibt den Film als den Weg von den Schatten der Vergangenheit mit einem »revolutionären Sprung« zum Fünfjahresplan des sozialistischen Aufbaus.4 ENTHUSIASMUS wird andererseits aber auch eine komplexe visuellauditive Symphonie aufführen, bei der die gesellschaftliche Analyse und das sozialistische Programm auf Phänomene der Wahrnehmung, des Rhythmus, der Serie, der Synchronizität und Asynchronizität, der Komposition und nicht zuletzt der Montage heruntergebrochen und in spezifischer Weise eingesetzt werden. Der Übergang vom Stumm- zum Tonfilm korrespondiert auf besondere Weise mit dem Pathos des revolutionären Umbruchs, das diesen – wie auch alle anderen Filme Vertovs – auszeichnet.5 Ich möchte diese Eingangssequenz von Vertovs ENTHUSIASMUS als komplexe Experimentalanordnung deuten, als filmische Inszenierung eines Experiments. Dabei folge ich einer Selbstbeschreibung Vertovs, der sein eigenes Filmschaffen explizit als »schöpferisches Laboratorium«6 bezeichnete. In diesem Experiment geht es, wie wir sehen werden, um eine Reihe von überaus implikationsreichen Fragen, die in den wenigen Sekunden der Eingangssequenz von ENTHUSIASMUS bereits angedeutet sind. Es geht um die Beziehungen zwischen Bild und Ton, Natur und Kultur, Radio und Kino, Beobachtung und Beobachtetem und um jene zwischen der Tradition und der industriellen wie medialen Revolution. Es geht aber auch um die Funktion der Massenmedien wie Radio und Film, um die Rolle der Montage, um die Beziehung zwischen den Figuren im Film und dem Zuschauer, um neue Formen des Hören- und Sehenlernens und nicht zuletzt um den Film als eine, so Ilja Ehrenburg über

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Dziga Vertov: »Donbassymphonie« (»Enthusiasmus«), in: ders.: Schriften zum Film, München 1973, S. 126. Zu Vertov vgl. Dziga Vertov. Die Vertov-Sammlung im Österreichischen Filmmuseum, hg. vom Österreichischen Filmmuseum und Barbara Wurm, Wien 2006; Hermann Herlinghaus (Hg.): Dsiga Wertow: Aufsätze, Tagebücher, Skizzen, Berlin (Ost) 1967; film. Eine deutsche Filmzeitschrift 4 (1965), S. 56-60. Ein detaillierter Überblick über die Publikationen von und über Vertov findet sich in: Thomas Tode/Alexandra Gramatke (Hg.): Dziga Vertov: Tagebücher/Arbeitshefte, Konstanz 2000, S. 245-262; dort auch eine »Bio-Filmographie« (S. 201-244). Vertov: Tagebücher (Anm. 5), S. 71. 133

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Vertov, »Laboranalyse der Welt«.7 Dabei ist es keineswegs selbstverständlich, den Film als Experiment und, um Ute Holl zu zitieren, den Kino-Apparat als »epistemologisches Gerät«8 zu bestimmen. Um dies tun zu können, müssen erst einmal die epistemologischen Grundlagen dieser Bestimmung rekonstruiert werden. Es geht, mit anderen Worten, um die Frage, welches erkenntnistheoretische Programm dem Film und seiner spezifischen Ästhetik als Aufgabe zugewiesen wird. Erst so werden wir die Experimentalanordnung der Eingangssequenz von ENTHUSIASMUS mit all ihren Implikationen angemessen deuten können. Das ist für die wenigen Seiten, die mir hier zur Verfügung stehen, ein breitgefächertes Programm, dem ich mich über einige »Haupt- und Nebenwege«, die aber wie dem gleichnamigen Bild Paul Klees zueinanderfinden, nähern möchte. In einem ersten Schritt werde ich mich auf einige wenige – allerdings durchweg prominente – Reaktionen auf Vertovs Filme konzentrieren, um herauszufinden, wie die Zeitgenossen sie gesehen und gehört haben, wie sie auf sie gewirkt haben. Diese Stimmen formulieren bereits pointierte Beobachtungen, die ich dann im Kontext von Vertovs programmatischen Texten zur Filmtheorie detaillierter analysieren und erweitern werde. In einem dritten Schritt versuche ich schließlich seine Konzeption des Films als schöpferisches Laboratorium im Zusammenhang der Experimente der russischen Hirnforscher und Psychologen Pawlow und vor allem Bechterew, bei dem Vertov eine Zeitlang studierte, zu deuten. Dabei geht es um nichts Geringeres als um den Traum von einem neuen Menschen. Der Begriff »Experiment« wird in dieser Analyse aus unterschiedlichen Perspektiven untersucht, bevor dann am Ende des Textes die Konzeption des Films als Menschenexperiment gewissermaßen eine Synthese dieser Perspektiven darstellt. Während es zu Beginn um den Film als Experiment im Sinne der ästhetischen Avantgarde geht, konzentrieren sich die weiteren Überlegungen auf den Film als Experiment in ästhetischer wie epistemologischer Hinsicht, die ohne den Bezug auf Bechterew und Pawlow unvollständig bliebe.

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Ilja Ehrenburg: Materialisierung der Phantastik (1927): »Die Arbeiten Vertovs […] sind eine Laboranalyse der Welt, kompliziert und quälend […].« Und weiter: »Die ›Kinoki‹ nehmen die Realität und verwandeln sie in gewisse Grundelemente, vielleicht in ein Alphabet des Films. Inzwischen ist jedem klar, daß die ›Kinoki‹ das Alphabet des Films nicht um des Alphabets willen geschaffen haben. Sie haben es gezeigt, um die Wahrheit zu zeigen.« Zit. nach: Vertov, Tagebücher (Anm. 5), S. 27. Ute Holl: Kino, Trance und Kybernetik, Berlin 2002, S. 288. 134

Dziga Vertovs »ENTHUSIASMUS. DONBASS SYMPHONIE« (1930)

1. Wie haben die Zeitgenossen Vertovs Filme gehört und gesehen? Eine Reaktion auf eine Aufführung seines neuen Films notiert Vertov nicht ohne Stolz in seinem Notizbuch: es ist die von Charles Chaplin: »Ich hätte nie gedacht«, schreibt Chaplin, »daß industrielle Töne sich so organisieren lassen, daß sie schön erscheinen. Ich halte Entusiasm für eine der aufregendsten Sinfonien, die ich je gehört habe. Mister Dziga Vertov ist ein Musiker. Die Professoren sollten von ihm lernen und nicht mit ihm streiten. Gratuliere. Charles Chaplin.«9

Chaplin spricht – und das mag durchaus überraschen – nicht von den Bildern und auch nicht von der überaus komplexen Interferenz von Bild und Ton, sondern einzig von den Tönen und genauer von den industriellen Tönen. ENTHUSIASMUS scheint in den Augen Chaplins nur aus Tönen zu bestehen, und Vertov wird nicht als Regisseur, sondern eben als Musiker, als Komponist gewürdigt, der Industrie in Kunst und industrielle Töne in Musik zu verwandeln vermag. Vertov seinerseits war, das sei angemerkt, überaus stolz darauf, »zum ersten Mal in der Welt dokumentarisch die Geräusche und Klänge des industriellen Reviers (Klänge der Schächte, Werke, Züge usw.) fixiert«10 und »die erste industrielle Sinfonie der Welt«11 geschaffen zu haben – was in der Tat seinerzeit eine höchst ungewöhnliche Leistung darstellte, da gemeinhin die Tonspur des Films im Studio erstellt wurde.12 Und Zeitgenossen berichten, daß Vertov auch später bei den Aufführungen die Tonübertragung persönlich überwachte. Während der Probe stellte er sie auf normale Lautstärke, aber während der Aufführung setzte er die Lautstärke so hoch, daß das Gebäude unter dem Ansturm der Geräusche zu zittern schien.13 Genau umgekehrt fällt Hans Richters Beschreibung von Vertovs Filmen aus. Obwohl er durchaus auf Experimente, wie etwa Walter Ruttmanns MELODIE DER WELT (1929) und seiner Tonmontage WEEKEND (1930) hinweist,14 beschreibt er Vertovs Arbeit als eine Sammlung 9 Zit. nach: Vertov: Tagebücher (Anm. 5), S. 22. 10 D. Vertov: »Wir erörtern den ersten Tonfilm von ›Ukrainfilm‹: ›Donbassymphonie‹«, in: ders.: Schriften zum Film, S. 124. 11 Vertov: Tagebücher (Anm. 5), S. 164. 12 Vgl. dazu ausf. Michel Chion: Un art sonore, le cinéma. Histoire, esthétique, poétique, Paris 2003. 13 Vgl. Thorold Dickinson/Catherine de la Roche: Soviet Cinema, London 1948, zit. nach: D. Vertov: Tagebücher (Anm. 5), S. 23. 14 Auch bei Ruttmann findet sich das Motiv des Laboratoriums. Vgl. dazu ausf. und mit weiteren Hinweisen Thomas Elsaesser/Malte Hagener: »Wal135

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von Bildern, die Vertov wie Spuren eines Tatorts sichere.15 Erst in der Komposition dieser bildlichen Elemente entdeckt Vertov, so Richter, eine »Kontinuität oder Musikalität der Bewegungsvorgänge« und bringt »Bewegungsverwandtschaften« bildlich zum Klingen: »Traf es sich aber einmal, daß zusammenpassende Bewegungsrhythmen zufällig aufeinandertrafen, so ›klang‹ das Bild, und es entstand etwas einer Melodie Vergleichbares.«16 Nun sind es die Bilder, die auch ohne Ton zu klingen beginnen und zwar aufgrund einer Form der visuellen Rhythmisierung, die die eigentliche Entdeckung der Montage ist. »Auf dieser rhythmischmusikalischen Grundlage«, so Richter, »entstand der erste reine Filmstil, eben die Montage.«17 Die Entdeckung der Montage ist der Rhythmus und die Zeit als das Elementare des Films.

Abb. 3: Plakat für Vertovs ENTHUSIASMUS, Lithographie, 62 x 88,5 cm.

ter Ruttmann: 1929«, in: Stefan Andriopoulos/Bernhard Dotzler (Hg.): 1929. Beiträge zur Archäologie der Medien, Frankfurt/Main 2002, S. 316349. 15 Vgl. zum Topos des Tatorts auch die einschlägigen Passagen in: Walter Benjamin: »Kleine Geschichte der Photographie«, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. II.1 hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/Main 1991, S. 368-385. 16 Hans Richter: »Revolutionäre Technik«, in: Der Kampf um den Film (1939), München 1976, S. 34-37, zit. nach dem Wiederabdruck in: Klemens Gruber (Hg.): Verschiedenes über denselben. Dziga Vertov 18961954, Wien/Köln/ Weimar 2006, S. 32 f., hier S. 32. 17 Hans Richter: »Der Mann mit der Kamera«, in: ders.: Köpfe und Hinterköpfe, Zürich 1967, S. 115-188, zit. nach dem Wiederabdruck in: Gruber: Verschiedenes (Anm. 16), S. 17-19, hier S. 18. Richter vergleicht Vertovs Arbeit mit seinen eigenen Experimenten und jenen Viking Eggelings und hebt die Bedeutung der einschlägigen Publikationen in der AvantgardeZeitschrift G hervor, deren Herausgeber er war. 136

Dziga Vertovs »ENTHUSIASMUS. DONBASS SYMPHONIE« (1930)

Auch Rudolf Arnheim widmete Vertovs ENTHUSIASMUS eine Besprechung mit dem Titel »Die Russen spielen«.18 Arnheim interessiert sich hierbei allerdings weder für die Bilder noch für die Töne, sondern vielmehr für eine spezifische Haltung, die der Zuschauer einnehmen muß, um den Film angemessen und im Wortsinn »enthusiastisch« betrachten zu können. ENTHUSIASMUS beansprucht, so Arnheim, als ein Film ohne Handlung, bei dem die Gestaltung allein über die Montage bestritten werden soll, stark »die Nerven der Zuschauer«.19 Und weiter: »Zum ersten Mal empfindet man, daß das deutliche Manko einer solchen Filmvorführung nicht auf der Leinwand, sondern im Zuschauerraum zu suchen ist.« Der Film benötigt die Resonanz eines Zuschauers, der seine eigene Arbeit, seine eigene Wirklichkeit dort gestaltet findet. Und so habe Vertov, wie Arnheim von einem Gespräch mit ihm berichtet, ein Film vorgeschwebt, »dessen Figuren ins Publikum hineinzulaufen schienen oder leibhaftig hineinliefen.«20 Der Enthusiasmus der Figuren muss, um wirken zu können, sein Korrelat im »tätigen Enthusiasmus der Zuschauer« haben, und genau dieser bleibe aus, wenn der Film eben in Berlin und Paris und nicht wie bei der Erstaufführung Anfang 1930 in Kiew anlässlich des Jahrestages der Oktoberrevolution aufgeführt wird.21 Ohne diesen spezifischen Kontext erweise sich der Film, so Arnheim polemisch, als das mehr gewollte als gekonnte Ergebnis eines »Amateurbastlers der Philosophie«.22 Siegfried Kracauer schließlich entdeckt in Vertovs Film eine »Glorifizierung des Lebens, insoweit dieses Bewegung, Rhythmus ist«23 und schließt dabei auf den ersten Blick an Richter an. Gleichwohl hat diese Beobachtung eine besondere Pointe, da Kracauer in einer Besprechung von DER MANN MIT DER KAMERA die Bedeutung des Rhythmus wieder aufnimmt, diesen aber als »Rhythmik eines Ganzen«24 bestimmt, die 18 Rudolf Arnheim: »Die Russen spielen«, in: Die Weltbühne, Nr. 39, 29.9. 1931, S. 485-489, zit. nach dem Wiederabdruck in: Klemens Gruber: Verschiedenes (Anm. 16), S. 29 f. 19 Ebd. 20 Ebd. 21 Vgl. Thomas Tode: »Ein Russe auf dem Eiffelturm. Dziga Vertov in Paris«, in: Drubek-Meyer/Murašov: Apparatur und Rapsodie (Anm. 2), S. 4372, hier S. 62. Hier (S. 65 f.) werden auch einige zeitgenössische Reaktionen aufgeführt. 22 Arnheim: Die Russen spielen (Anm. 189, S. 30. 23 Siegfried Kracauer: »›Marseiller Entwurf‹« zu einer Theorie des Films«, in: ders.: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit (Werke, Bd. 3), Frankfurt/Main 2005, S. 521-779, hier S. 729. 24 Siegfried Kracauer: »Der Mann mit dem Kinoapparat«, in: ders.: Kleine Schriften zum Film, Bd. 2, 1928-1931 (Werke, Bd. 6.2), Frankfurt/Main 2004, S. 247-251, hier S. 247. 137

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immer auch mit dem Kollektivleben verbunden sei. Dem Film geht es um eine spezifische Interpretation der Wirklichkeit und um eine besondere Form der Übersetzung. Zum einen »gewinnt Wertow durch die Montage dem Zusammenhang der Wirklichkeitssplitter einen Sinn ab« und interpretiert das Nebeneinander, »indem er es darstellt«.25 Der Rhythmus der gestalteten Phänomene ist, so könnte man sagen, der Effekt der filmischen Montage, die diese Gegenstände interpretiert. Der Film konstruiert durch diese Verbindung von Einzelphänomenen ein Ganzes. Zum anderen zielt diese Interpretation der Gegenstände auf eine Bemächtigung des Kollektivs, die gerade durch die Beziehung zwischen dem Gegenstand und dem »Kinoauge« geleistet werden soll. Der Rhythmus des durch die Kamera eingefangenen und konstruierten Lebens hat sein Korrelat im Kollektiv: »Das Kino-Auge erfüllt bei ihm«, so Kracauer, »eine metaphysische Funktion. Es greift unter die Oberfläche«26 und wirft zugleich »uralte Fragen [auf], die den Sinn der Kollektivexistenz so gut wie den des einzelnen Menschen betreffen«.27 Der Film durchbricht die Oberfläche der dargestellten Gegenstände, um so eine Übersetzung zwischen Individuellem und Allgemeinem zu leisten. Ziehen wir eine erste Zwischenbilanz: Bei Vertov haben wir es offenbar erstens mit Filmen zu tun, bei denen Bilder zu Tönen und Töne zu Bildern werden können. Ob nun aber für die Zuschauer die Bilder oder die Töne überwiegen, in beiden Fällen sind die Montage und der Rhythmus entscheidende Faktoren für den, so könnte man sagen, synästhetisch-performativen Effekt der filmischen Symphonie, der durch das Drehen an den Lautstärkereglern noch unterstützt wird. Wir sind zweitens mit einer Art Wechselwirkung von Film und Betrachter konfrontiert, die Arnheim auf den Begriff der Resonanz brachte. Vertovs ENTHUSIASMUS versucht sich an einer Überwindung der Distanz zwischen Film und Betrachter. Diese Wechselwirkung kann drittens als doppelte Bewegung einer Assoziation betrachtet werden: Einerseits leistet der Film eine Interpretation der einzelnen Gegenstände, indem er sie in ein rhythmisches Ganzes überführt. Im Film werden so auch die Gegenstände, die Welt der Dinge und der Industrie, der leblosen Materie mit der Lebenswirklichkeit des Menschen, mit dem Organischen und nicht zuletzt auch mit dem Leben des Kollektivs assoziiert. Andererseits unternimmt der Film im Gegenzug auch eine Übersetzung vom Besonderen zum Allgemeinen, vom Individuum zum Kollektiv, gerade indem er die Oberfläche der Erscheinungen durchbricht. 25 Ebd., S. 248. 26 Ebd., S. 249. 27 Ebd., S. 250. 138

Dziga Vertovs »ENTHUSIASMUS. DONBASS SYMPHONIE« (1930)

Vertovs Filmtheorie nimmt alle diese Elemente in vielerlei Hinsicht auf und spitzt sie zu.

2. Vertovs Filmtheorie Dziga Vertov macht keinen Hehl aus dem revolutionären Anspruch seiner Filme – und das ist durchaus auf mehreren Ebenen zu verstehen. Es geht ihm in allen Bereichen seiner filmischen Arbeit um Revolution: um eine Revolution der Kunst, der Wahrnehmung, des Menschen und auch der Gesellschaft. Und dabei konnte er sich auf Lenin berufen, der die besondere Bedeutung des Kinos für die Revolution unterstrich und zu einer »Kinofizierung«28 aufrief.29 Und so fasst Vertov auch seine Beschreibung der Entstehung der DONBASS SYMPHONIE in revolutionäre Pathosformeln: »Wir zogen aus zum Sturm der Klangwelt des Donbass.«30 »Tief unter der Erde kriechend, in Schächten, auf Dächern dahinrasender Eisenbahnzüge drehend, haben wir endgültig mit der Starrheit der Tonaufnahmekamera Schluß gemacht und zum ersten Mal in der Welt dokumentarisch die Geräusche und Klänge des industriellen Reviers (Klänge der Schächte, Werke, Züge usw.) fixiert«31

und dabei nicht die »simpelste Deckung von Bild und Ton«, sondern »komplizierte Wechselwirkungen von Bild und Ton«32 erreicht. Diese emphatische Selbstbeschreibung der filmischen Entdeckungsreise in die Industrielandschaft des Donbass folgt gleichwohl dem Kompass seiner frühen Filmtheorie, deren zentrale Elemente in diesen wenigen Zeilen versammelt sind: die Mobilität, die der Starrheit gegenübergestellt wird, die Bedeutung des Dokumentarischen, für die sich Vertov zeitlebens konsequent einsetzte, und schließlich die komplizierten Wechselwirkungen, die die Montage in Bild und nun auch Ton auszuloten sucht.

28 So die schöne Formel von Michael Hagner und Margarethe Vöhringer in ihrem Aufsatz: »Vsevolod Pudovkins MECHANIK DES GEHIRNS – Film als psychophysisches Experiment«, in: Michael Hagner: Der Geist bei der Arbeit. Historische Untersuchungen zur Hirnforschung, Göttingen 2006, S. 124-142, hier S. 124. 29 Vgl. dazu die ausführliche Dokumentation: Günther Dahlke/Lilli Kaufmann (Hg.): LENIN über den Film. Dokumente und Materialien, München 1971. Vgl. auch Information Nr. 1 (1975), herausgegeben von der Hochschule für Film und Fernsehen der DDR: W.A. Lunatscharski über den Film. 30 Vertov: Schriften zum Film (Anm. 4), S. 123. 31 Ebd., S. 124. 32 Ebd., S. 125. Vgl. auch Rudolf Arnheim: Film als Kunst, Frankfurt/Main 2002. 139

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Bereits in seiner Propagierung der Kinoki-Bewegung fasste er den Film als Eindringen in die Fülle der Phänomene mittels der Bewegung: Der Kameramann ist immer unterwegs und überall und jederzeit im Wortsinn aufnahmebereit. Er zeichnet die vielfältigen kinetischen Phänomene kinematographisch auf und dies erst einmal ohne vorgefassten Plan, ohne Handlungsanweisung und vor allem ohne Drehbuch, das ihm einen festen Ablaufplan auferlegen würde. Paradoxerweise könne nur so vermieden werden, dass man sich im Chaos der Erscheinungen verliere; nur so könne man sich, im Gegenteil, in den Verhältnissen, in die man geraten ist, zurechtfinden.33 Bewegung verspricht Orientierung, und zwar post hoc mittels der Organisation durch die Montage – einer Organisation, die sich wiederum einer Arbeit der Bilder verdankt, die das bewegliche technische Auge aufgezeichnet hat.

Abb. 4: Vladimir und Georgii Sternberg, Plakat für Dziga Vertovs THE MAN WITH A MOVIE CAMERA (1929), Lithographie 103 x 72 cm.

Und so zeigen uns Filme wie DER MANN MIT DER KAMERA (1929) oder KINO-AUGE (1924) in einer anderen Mise-en-abyme-Struktur einerseits den irrlichternden Weg eines Mannes mit seiner Kamera durch die unaufhörliche Flut des Großstadtlebens, in dem er in immer neuen bis dahin ungesehenen Einstellungen und Blickperspektiven das Leben und die Bewegung in Bildern einzufangen sucht: Man sieht ihn auf einem fah33 Vgl. Vertov: Schriften zum Film (Anm. 4), S. 11. 140

Dziga Vertovs »ENTHUSIASMUS. DONBASS SYMPHONIE« (1930)

renden Zug, im Auto, auf den Dächern, usw. Andererseits wird aber auch die Kamera mit ihren technisch-ästhetischen Möglichkeiten in den Blick genommen. Vertov zeigt den Schnitt des Films am Schneidetisch und in einer Montage, die den Weg vom Brot zurück auf das Weizenfeld in eine Sequenz fasst. Er zeigt den Blick auf die Linse und durch sie und bestimmt diese in emphatischer Weise als Objektiv: Bereits in dem frühen Manifest »Kinoki-Umsturz« von 1922 proklamiert Vertov diese Befreiung der Kamera aus der Unterwerfung unter das Auge, die er durchaus mit anderen Theoretikern seiner Zeit wie etwa Rodtschenko oder auch Moholy-Nagy teilt.34 »Der Ausgangspunkt ist: die Nutzung der Kamera als Kinoglaz, das vollkommener ist als das menschliche Auge, zur Erforschung des Chaos von visuellen Erscheinungen, die den Raum füllen.«35 Diese visuellen Erscheinungen verlaufen aber, so will es seine Theorie, eben nicht chaotisch, sondern unterliegen ihrerseits bestimmten Regeln und Gesetzmäßigkeiten, die darzustellen die Aufgabe des Films und genauer der Montage ist. Sie hat das »System scheinbarer Ungesetzmäßigkeiten« in den Blick zu nehmen, und in ihm die Erscheinungen als »System aufeinanderfolgender Bewegungen«36 zu erforschen und zu organisieren. Es geht darum, dank der dem Objektiv in Bewegung zugeschriebenen Objektivität ein objektives Gesetz der Erscheinungen zu visualisieren und dem menschlichen Blick als filmisch organisierte Erscheinung zurückzugeben. Oder, in den Worten Vertovs, um eine Organisation der »Details zu einer gesetzmäßigen Montageetüde«,37 die eine »neue Wahrnehmung der Welt« ermöglichen soll: Die bekannte Welt erweist sich im Durchgang durch das Objektiv als eine nur vermeintlich bekannte, die mittels der filmischen Transformation anders, in neuer Gestalt und mit nun sichtbar gewordenen Regeln erkannt werden kann: »So dechiffriere ich aufs neue die euch unbekannte Welt.«38 Film ist somit eine visuelle und zugleich experimentelle Entzifferungskunst der Gesetze des Lebens: »Im Prozeß der Beobachtung und Aufnahme klärt sich nach und nach das Chaos des Lebens. Nichts ist zufällig. Alles ist gesetzmäßig und erklärbar.«39

34 Vgl. dazu ausführlich Jan Sahli: Filmische Sinneserweiterung. László Moholy-Nagys Filmwerk und -theorie, Marburg 2006. 35 Vertov: Schriften zum Film (Anm. 4), S. 15. 36 Ebd., S. 17. 37 Ebd. 38 Ebd., S. 20. 39 Ebd., S. 121. 141

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Die Montage wird dabei ihrerseits als ein mehrstufiger Prozess der Abstraktion40 und Selektion beschrieben, bis, so Vertov, »die aus dem Leben gerissenen Teilstücke zu einer visuell-sonnerfüllten rhythmischen Reihe […], zu einer visuell-sinnerfüllten Formel, zu einem extraktförmigen ›ich sehe‹« organisiert werde können.41 In einer ersten Phase dient die Montage einer Bestandsaufnahme aller dokumentarischen Gegebenheiten, die dann in einer zweiten als reflektierte Beobachtungen zusammengefasst werden. Bereits diese Beobachtung wird dabei als Analyse vorgestellt, die dann, indem die langen Sequenzen in kleine Abschnitte unterteilt werden, in eine analytische Synthese und schließlich, wenn die einzelnen Abschnitte neu zusammengesetzt werden, in eine Synthese der Analyse übergeht. In einer dritten und abschließenden Phase ergibt sich dank der montierten Teilstücke eine »rhythmische Reihe, in der alle Sinnverkettungen mit den visuellen Verkettungen zusammenfallen«42 und so eine »visuelle Gleichung«, »eine visuelle Formel«43 entsteht. Im Übergang von der zweiten zur dritten Phase kommt auch dasjenige Moment zum tragen, das von Filmtheoretikern wie Jacques Aumont,44 aber auch in den Kinobüchern von Gilles Deleuze als theoretischer Zentralbegriff Vertovs ausgemacht wird: das Intervall. Das Intervall ist eine »zwischenbildliche Bewegung«, eine »zusammengesetzte Größe«.45 Es kann eine zeitliche (als Dauer, die sich zwischen zwei Augenblicken erstreckt), räumliche (als Abstand zwischen zwei Punkten) oder musikalische Dimension (als Beziehung zwischen zwei Tönen) annehmen. Das Intervall ist eine relationale Kategorie, eine Logik der Leerstelle, die Eisenstein mit anderer Zielrichtung auch für seine Montagetheorie und insbesondere für seine Konzeption einer dialektischen Montage nutzen wird.46 Das Intervall, so Gilles Deleuze, dient zur »Herstellung einer

40 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Dokumentation über die Beziehung von Malewitch zum Film und dem dort abgedruckten Aufsatz von Malewitch über Vertov: »Painterly Laws in the Problems of Cinema«, in Margarita Tupitsyn (Hg.): Malewich and Film, New Haven/London 2003, S. 147-159. 41 Vgl. Vertov: Schriften zum Film (Anm. 4), S. 77. 42 Ebd., S. 78. 43 Ebd., S. 79. 44 Jacques Aumont: Les théories des cinéastes, Paris 2005, S. 12-15 und S. 96-98. 45 Vertov: Schriften zum Film (Anm. 4), S. 79. 46 Sergeij M. Eisenstein: Jenseits der Einstellung. Schriften zur Filmtheorie, Frankfurt/Main 2005. Diese Auswahl versammelt die wichtigsten Texte Eisensteins zur Montagetheorie. Vgl. dazu auch das instruktive Nachwort von Felix Lenz sowie dessen Dissertation: Sergej Eisenstein: Montagezeit, Rhythmus, Formdramaturgie, Pathos (Univ.-Diss., Johann Wolfgang Goethe Universität Frankfurt/Main 2005; erscheint 2007). 142

Dziga Vertovs »ENTHUSIASMUS. DONBASS SYMPHONIE« (1930)

Wechselbeziehung zwischen zwei weit auseinander liegenden, aus der Perspektive menschlicher Wahrnehmung inkommensurablen Bildern«47 und ist »ein Ort der Konfrontation, der Gegenüberstellung«.48

Abb. 5: Sechs Filmstills aus Vertovs Das elfte Jahr (1928)

In dieser spezifischen Filmlogik setzt Vertov auf die »Wirkung durch Fakten«, die konsequent von einer »Wirkung durch Fiktion«49 abgesetzt wird. Vertov geht es in seiner kinematographischen Wahrheitssuche – denn als solche wird sie apostrophiert – um eine radikale Revolution der Wahrnehmung und mit ihr der Denkweise, oder, vorsichtiger formuliert, um Übergänge: von den Naturerscheinungen zu den Gesetzmäßigkeiten des (industriellen und gesellschaftlichen) Lebens, vom theatralischen zum kinematographischen Gesetz und schließlich vom Attrappenreich der Filmfabrik ins nun geordnete, montierte und rhythmisch organisierte Chaos der Phänomene soll uns der Film führen. Er führt eine ›»Theorie der unmittelbaren Erkenntnis‹«50 als theoria vor: eine Welt der Fakten

47 Gilles Deleuze: Kino 1. Das Bewegungs-Bild, Frankfurt/Main 1989, S. 116; vgl. auch Vertov: Schriften zum Film (Anm. 4), S. 60-64 und S. 115-120. 48 Deleuze: Kino 1 (Anm. 47), S. 118. 49 Vertov: Schriften zum Film (Anm. 4), S. 77. 50 Vgl. Deleuze: Kino 1 (Anm. 47), S. 20. 143

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und nicht eine der Fiktion. Und diese Konzeption des Films bestimmt Vertov in strikter Analogie zu naturwissenschaftlichen Experimenten.

3. Der Film als »schöpferisches Laboratorium« und der Traum von einem Neuen Menschen Während Pudowkins Auseinandersetzung mit Pawlow durch den Film DIE MECHANIK DES GEHIRNS51 aus dem Jahr 1926 eine gewisse Berühmtheit erlangt hat und zuletzt von Michael Hagner und Margarete Vöhringer detailliert untersucht worden ist,52 gilt das – mit Ausnahme der Arbeit von Ute Holl – für Vertovs Rezeption der Reflexologie nicht. Allerdings finden sich in Vertovs Tagebüchern gleich mehrere explizite Hinweise auf den Modellcharakter der psychiatrischen Forschung für seine eigenen Filme. »Ich arbeite«, stellt Vertov etwa fest, »wie das Laboratorium Pawlows und nicht wie eine Abteilung der Filmchronik«53 –, und deutet zugleich seine eigene Arbeit als konsequenten Werdegang »vom primitiven Abhören der Wahrheit zu Versuchen, Gedanken zu lesen; von Selbstversuchen im Leningrader Psychoneurologischen Institut (Aufzeichnung von Gedanken, Reaktionen, Verhaltensformen) zu Reflexionen über die Überrumpelungsaufnahmen zur Erlangung der Wahrheit«.54

Auch als er später massiven Restriktionen ausgesetzt ist und sich mit der Forderung konfrontiert sieht, seine Produktionsweise umzustellen und vorab Drehbücher vorzulegen, schreibt er über sich in der dritten Person und beobachtet sich, wie er nicht beobachten darf: »Beobachten – alle Schüler Pawlows, überhaupt alle Gelehrten und Schriftsteller dürfen es, aber er [nämlich Vertov, B.S.] darf es nicht. Ihm sagt man, er müsse alles ins Szenario schreiben, das Szenario sei primär. Doch er hält die Materie, die Natur, das auf dem Filmstreifen gesammelte Filmmaterial für primär. Er geht von Filmbeobachtungen aus, um sie dann bildhaft zu organisieren. Aber man zwingt ihn, sich der umgekehrten Ordnung zu unterwerfen, der standardisierten Produktionsordnung für gewöhnliche Schauspielerfilme: vom Szenario (am Schreibtisch entstanden. Lebensfern) zur Natur, verpflichtet, die Natur den Forderungen des ›Szenarios‹ gewaltsam zu unterwerfen.«55

51 Vgl. dazu Wsewolod Pudowkin: Die Zeit in Großaufnahme. Aufsätze, Erinnerungen, Werkstattnotizen, Berlin 1983, S. 44-51. 52 Hagner/Vöhringer: Pudovkins MECHANIK DES GEHIRNS (Anm. 28). 53 Vertov: Tagebücher (Anm. 5), S. 42. 54 Vgl. ebd., S. 162. 55 Vertov: Tagebücher (Anm. 5), S. 85. 144

Dziga Vertovs »ENTHUSIASMUS. DONBASS SYMPHONIE« (1930)

Vertov hingegen schwebte das genau umgekehrte Verfahren vor und das war zugleich der Ansatzpunkt für den im strengen Sinn experimentellen Charakter seiner Filme: der Übergang von der Analyse zur Synthese. Bevor er als Regisseur begann, studierte Vertov am Petrograder PsychoNeurologischen Institut und besuchte dort auch Vorlesungen Wladimir Bechterews.56 In dieser Zeit beginnt er bereits 1917 mit ersten künstlerischen Experimenten: mit Aufzeichnungen von Geräuschen, die er als »Laboratorium des Gehörs« bezeichnet und die eine Nähe zu Majakowski und Chlebnikow und zu zahlreichen synästhetischen Experimenten der Avantgarde verraten.57 In einem ersten Filmexperiment lässt er sich bei einem Sprung aus einer Höhe von eineinhalb Stockwerken mit dem Ziel aufnehmen, dass, so Vertov, »mein ganzer Flug, mein Gesichtsausdruck, all meine Gedanken usw. zu sehen wären«.58 Yves Klein wird 30 Jahre später ein zweites Mal einen solchen Sprung ins Leere unternehmen, der einen ähnlichen programmatischen Charakter hat.59 Vertov fasst dieses Experiment in programmatischer Weise als Versuchsanordnung, die zeigen soll, dass mit Hilfe des überlegenen KameraAuges eine Objektivität der Beobachtung erreicht werden kann, die dem natürlichen, gewöhnlichen Auge notwendig verschlossen bleibt. Man sieht, so Vertov emphatisch, die »Wahrheit«.60 Und dies gleich in mehrfacher Hinsicht: Erstens gestatte es der Film, insbesondere durch die Techniken der Zeitrafferaufnahme, den Menschen zu demaskieren, ihm die Maske herunterzureißen, die er gewöhnlich trägt.61 Das ist genau die Funktion seiner filmischen Arbeit, die er zeitlebens in strikter Opposition zum Spielfilm versteht, bei dem es ja gerade auf die schauspielerischen Fähigkeiten 56 V. Listow: »Vertov als Schriftsteller«, in: Drubek-Meyer/Murašov: Apparatur und Rhapsodie (Anm. 2), S. 187-194, hier S. 188. 57 Um nur einige wenige Künstler zu nennen: Raoul Hausmann im Umkreis des Dadaismus, Arnolda Ginna und Bruno Cora in dem des italienischen Futurismus, weiterhin Alexander Scriabin, Wassily Kandinsky, Alexander Laszlo, sowie die filmischen Experimente Viking Eggelings, Laszlo Moholy-Nagys, Oskar Fischingers, Hans Richters und Walther Ruttmanns. 58 Vertov: Schriften zum Film (Anm. 4), S. 54. 59 Vgl. Tupitsyn: Malewich and Film (Anm. 40), S. 102 f. 60 Vertov: Schriften zum Film (Anm. 4), S. 55. 61 Helmuth Plessner hat aus dieser Beobachtung bekanntlich in »Grenzen der Gemeinschaft« eine Apologie der Distanz entworfen, die zu den zentralen Texten der Neuen Sachlichkeit zählt. Vgl. Helmuth Plessner: Grenzen der Gemeinschaft, Frankfurt/Main 2001; dazu Wolfgang Eßbach/Joachim Fischer/Helmuth Lethen (Hg.): Plessners ›Grenzen der Gemeinschaft‹. Eine Debatte, Frankfurt/Main 2001. Plessner hat sich auch früh mit Pawlow auseinandergesetzt. Vgl. dazu: »Die physiologische Erklärung des Verhaltens. Eine Kritik an der Theorie Pawlows (1935)«, in: ders.: Conditio humana (Gesammelte Schriften VIII), Frankfurt/Main 2003, S. 7-32. 145

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der Darsteller ankommt, die im Film eine Rolle zu spielen haben. Vertov hingegen geht es um ein Sichtbarwerden und Sichtbarmachen des Unverstellten, Unmaskierten. Vertov bezeichnet dies als Befreiung des Menschen zu einem neuen Leben. Zweitens folgt diese Theorie der Demaskierung einer Logik der Oberfläche, da alles auf der Oberfläche erkennbar, lesbar und entzifferbar werden soll. Das Unsichtbare soll mit Hilfe des objektiven Kino-Auges sichtbar gemacht werden können und selbst Gedanken sollen anhand der Bilder ablesbar werden. Diese wiederum müssen qua Montage und anderer filmischer Verfahren in spezifischer Weise organisiert werden, um überhaupt eine Erkenntnis vermitteln zu können. Um etwas sichtbar machen zu können, muss es notwendig relational dargestellt werden, muss Teil eines Organisationskontextes sein, der den einzelnen Segmenten ihre Stellung zuweist. Drittens strebt Vertov eine neue Korrespondenz an, die sich über die Rezeption des Films auch auf den Betrachter überträgt. Wenn Vertov davon spricht, dass der Film ein »Austausch von Gehirn zu Gehirn«62 ist, meint er genau das: ein Gedankenlesen des Betrachters, das über eine filmische Übertragung ermöglicht wird: »Entweder müssen die Gedanken unmittelbar, ohne Übersetzung in Worte, von der Leinwand übertragen werden, oder die Worte laufen synchron mit den Gedanken, um deren Wahrnehmung nicht zu stören. […] Der Zuschauer liest die Gedanken und erfaßt sie, bevor sie sich in Worte hüllen. Das ist ein lebendiger Kontakt mit der Leinwand.«63

Auch hier finden wir das Theorem der Unmittelbarkeit, nun in Gestalt einer vorsprachlichen, vorbegrifflichen Wahrnehmung. Die Filmsprache in Bild und dann – seit ENTHUZIASM – auch in Ton soll genau diese neue Korrespondenz als Synthese umsetzen. Was sich zu Beginn seiner filmischen Arbeit noch auf den Selbstversuch beschränkte, wird kurze Zeit später auf das russische Volk insgesamt ausgeweitet. Bereits 1921 entwickelt er einen Automobilkinematographen, ein Kino-Auto, mit dem er wissenschaftliche Filme auf dem Land vorführt, um neue landwirtschaftliche Techniken vorzustellen, und beginnt zugleich, in großem Umfang Aufnahmen des Alltagslebens anzufertigen und zu sammeln. Diese Aufnahmen sind die Grundlage seiner frühen Filmchroniken, finden aber auch teilweise Verwendung in seinen späteren Filmen. »Ein Laboratorium ist notwendig«, konstatiert er.

62 Vertov: Schriften zum Film (Anm. 4), S. 142. 63 Ebd. 146

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»Man muß Vorbilder für das Neue schaffen. Das Gehirn wachrütteln. Die Gewohnheiten durchbrechen. Aus dem Winterschlaf wecken. Der Einbildungskraft freien Lauf lassen. Dann werden dieselben Menschen nicht wiederzuerkennen sein.«64

Der Film hat nicht nur eine aufklärerische Funktion, sondern soll in programmatischer Weise zur Konstruktion eines neuen Menschen beitragen. Er ist Analyse und Synthese und findet seinen Gegenstand im Alltag. Wenn Vertov fordert, man müsse »von der Arbeit am poetischen Film mit allgemeinen Informationen übergehen zur Arbeit an Filmen über das Verhalten des Menschen«,65 so bestimmt er damit nicht nur den Gegenstand, sondern auch das Ziel seiner filmischen Arbeit. Um diese durchführen zu können, entwickelte Vertov ein regelrechtes mobiles Laboratorium, das neben einem Arbeitszimmer des Regisseurs, einen Operationssaal, ein Informations- und Organisationsbüro sowie ein Autorenfilmarchiv und ein bewegliches Aufnahme-Aggregat vorsah.66 In Vertovs schöpferischem Laboratorium geht es um eine Analyse des menschlichen Verhaltens, das dann über die Mittel des Films zu einer regelrechten Verhaltenslehre weiterentwickelt wird. Dabei knüpft Vertov an Theoreme der Reflexologie Bechterews und Pawlows an. Der Film soll dazu dienen, einen »befreiten Menschen«67 in einer befreiten Gesellschaft zu schaffen. Es geht nicht um die »Errettung der äußeren Wirklichkeit« (Kracauer), sondern um die Konstruktion einer neuen Wirklichkeit, die dann in der Übertragung von Gehirn zu Gehirn Erkenntnisprozesse beim Betrachter auslöst und – idealiter – Reflexe ausbildet.68 Der Film analysiert Verhalten, um fortan verhaltensbildend zu wirken. Mit Pawlow und Bechterew teilt Vertov die Vorstellung, dass die Gesetze des Lebens und der Psyche an der Oberfläche aufgefunden und objektiv dargestellt und analysiert werden können. Und mit beiden teilt 64 Vertov: Tagebücher (Anm. 5), S. 77. Vgl. auch Vertov: Schriften zum Film (Anm. 4), S. 81: »Für Dokumentarfilme, die menschliches Verhalten darstellen, taugen die üblichen Verfahren und Schemen des Produktionsprozesses nicht. Sie bedürfen eines anderen Aktionsplans, den der Entwurf eines schöpferischen Laboratoriums darlegt.« 65 Ebd., S. 71. 66 Vgl. dazu ebd., S. 70 f. sowie »Über die Organisation eines schöpferischen Laboratoriums«, in: Vertov: Schriften zum Film (Anm. 4), S. 58-63. 67 Ebd., S. 62. 68 Auch Norbert M. Schmitz betont diesen konstruktiven Grundzug von Vertovs Filmtheorie (»Die Geburt des Films aus dem Geist des Films«, in: Drubek-Meyer/Murašow: Apparatur und Rapsodie (Anm. 2), S. 73-88, bes. S. 75 f. Wolfgang Beilenhoff nimmt hingegen eine Affinität beider Positionen an: Vgl. Nachwort, in: Vertov, Schriften zum Film (Anm. 4), S. 138-157, hier S. 144 f. 147

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er die Überzeugung, dass diese Gesetze in Gestalt von Prozessen, von Relationen fassbar werden.69 Für Bechterews Schriften ist diese emphatische Objektivität Programm. »Frei von Bestrebungen und Versuchen, in die subjektive Welt der Träume und Phantasien einzudringen«, heißt es etwa in der »Objektiven Psychologie oder Psychoreflexologie«, »gibt uns die Psychoreflexologie Prosa an Stelle von Poesie, denn sie betrachtet die neuropsychologischen Funktionen ausschließlich von ihrer Außenseite und führt sie auf Assoziationsreflexe verschiedenen Charakters zurück«.70

Damit ist zugleich ein Zentralbegriff von Bechterews Theorie benannt: der Assoziationsreflex. Assoziationsreflexe sind diejenigen psychischphysiologischen Phänomene, die »die Kluft zwischen den objektiv beobachtbaren Erscheinungen und der subjektiven Welt […] ausfüllen«71 und zugleich einen gegenwärtigen, aktualen Eindruck mit früheren in Beziehung setzen.72 Das gesamte psychische Leben ist nichts anderes als ein Spurenkomplex, der das Verhalten bestimmt. Bechterew hat keinerlei Interesse an einem psychischen Innenleben des Individuums, sondern ist vielmehr der Überzeugung, daß sich psychische Vorgänge vollständig in objektiven Erscheinungen artikulieren und als solche analysierbar werden.73 Zentrale Begriffe der abendländischen Tradition, wie »Subjekt«, »Gefühl«, »Wille«,74 »Verstand« aber auch »Gedächtnis«, sind hinfällig oder werden als komplexe Assozia69 Vgl. Holl: Kino, Trance und Kybernetik (Anm. 8), S. 253: »Nicht Wesen, sondern Relationen zum Gegenstand der Wissenschaft zu erheben, war die epistemologische Wende, aus der Bechterew die Grundzüge einer avantgardistischen Wissenschaft vom Menschen bildete.« »Vertov«, so Holl weiter, »transformierte Bechterews These, assoziierte Reflexbewegungen seien überindividuell, nicht-anthropomorph und lassen sich durch technische Apparate überbrücken und koppeln, in Kino-Technik: In seinem MANN MIT DER KAMERA wird kollektive Reflexologie filmisch realisiert.« (S. 168) In Bechterews Schriften finden sich zahlreiche Bezüge auf Hugo Münsterberg – allerdings nicht auf seine wichtige Filmtheorie (Hugo Münsterberg: Das Lichtspiel. Eine psychologische Studie (1916) und andere Schriften zum Kino, hg. von Jörg Schweinitz, Wien 1996). 70 Wladimir Bechterew: Objektive Psychologie oder Psychoreflexologie. Die Lehre von den Assoziationsreflexen, Leipzig, Berlin 1913, S. IV. 71 Ebd. Vgl. auch ders.: Die kollektive Reflexologie, Halle/Saale 1928. 72 Vgl. Bechterew: Objektive Psychologie (Anm. 70), S. 136. 73 Vgl. ebd., S. 21: »Die Psychoreflexologie entäußert sich auch aller metaphysischen, der subjektiven Psychologie entlehnten Ausdrücke, wie Wille, Verstand, Wunsch, Trieb, Gefühl, Gedächtnis.« 74 Die Unterscheidung zwischen willkürlich und unwillkürlich, bewusst und unbewusst ist hinfällig. Unterschieden wird vielmehr zwischen unmittelbaren und mittelbaren Nachahmungen. Ebd., S. 217. 148

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tionsreflexe umgedeutet. Der Mensch als Erfahrungstier ist nichts anderes als ein Assoziationskomplex. Die Psychoreflexologie als neue Methode ist in diesem Sinne Studium der »Beziehungen zwischen den äußeren Einflüssen und den äußeren Erscheinungen der Neuropsyche«.75 Alle Prozesse – individuelle, kollektive und solche der Reaktionen auf die Umwelt – sind in Bechterews Theorie energetische Prozesse, und alle psychischen Prozesse sind durch den Nervenstrom miteinander verbunden. »Die peripheren Aufnahmeapparate sind nach meiner Theorie eine Art Transformatoren von äußeren Energien«,76 die äußere Energie in psychische Energie verwandeln. Das Auge und das Ohr sind Transformatoren, Umspannungswerke, die äußere in innere Energie verwandeln. Bechterew deutet auch Phänomene wie Massensuggestion als energetische Prozesse von Assoziationsreflexen77 und zögert nicht, seine Theorie auf gesellschaftliche Phänomene zu übertragen, die vor allem mittels der Statistik analysiert werden. An die Stelle von individuellen rücken nun die kollektiven oder sozialen Reflexe. Ein wichtiger Bezugspunkt seiner Theorie ist dabei auch Gabriel de Tarde und seine Theorie der Imitation, die auch in der Soziologie und Kulturtheorie gerade eine Neuentdeckung erfährt.78 Wie muss man sich nun einen konkreten Ablauf eines Assoziationsreflexes vorstellen? Zu Beginn steht ein bestimmter äußerer Eindruck. Dieser löst einen Prozess aus, der an bestimmte bereits gespeicherte Reflexspuren anknüpft, die man in traditioneller Terminologie als Erfahrung bestimmt hätte.79 Das Verschwundene ist nämlich der Theorie Bechterews zufolge nicht vollständig verschwunden, sondern hat eine Spur hinterlassen, die wiederbelebt werden kann. »Jeder Eindruck, gleichgültig, wodurch er hervorgerufen wird, läßt in den Nervenzentren eine gewisse Spur zurück, die unter gewissen Umständen wiederbelebt werden kann und dann als Assoziations- oder Psychoreflex erscheint.«80

Die Verknüpfung von beiden führt schließlich zur Ausbildung der äußeren Reaktion.81 Sämtliche Formen von Symbolisierungssystemen – ange75 Bechterew: Objektive Psychologie (Anm. 70), S. 8. 76 Ebd., S. 43. 77 Vgl. dazu Bechterew: Die kollektive Reflexologie (Anm. 71), und ders., Suggestion und ihre soziale Bedeutung, Leipzig: A. Georgi 1899 sowie ders.: Die Bedeutung der Suggestion im sozialen Leben, Wiesbaden 1905. 78 Vgl. Gabriel de Tarde: Die Gesetze der Nachahmung, Frankfurt/Main 2002 sowie Bechterew: Objektive Psychologie (Anm. 70), S. 216. 79 Vgl. ebd., S. 217: »Die Erfahrungen sind ja eigentlich nichts anderes als aufgespeicherte Spuren.« 80 Ebd., S. 105. 149

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fangen bei Empfindungen und Vorstellungen und bis hin zur Sprache und zu Bildern – sind in dieser Theorie eine Art von Interfaces, die Beziehungen zwischen dem Organismus und den Außenreizen nicht nur herstellen, sondern ihnen eine feste Form geben, um dann als Spuren abgespeichert zu werden, die fortan in Gestalt von Assoziationskomplexen das Verhalten organisieren und steuern. Pawlow, dessen wissenschaftliche Arbeit in der Sowjetunion auf ungewöhnliche und in vieler Hinsicht paradigmatische Weise gefördert und fortgesetzt wurde,82 geht mit seiner spekulativen Annahme der Vererbbarkeit bedingter Reflexe über Bechterews Theorie der Assoziationsreflexe noch hinaus. Pawlow nahm an, dass die bedingten Reflexe, die im Gegensatz zu den unbedingten nicht vererbt werden, sondern Konsequenz einer aktiven Konditionierung sind, ihrerseits vererbt werden können. Mit diesem »Psycholamarckismus« wäre garantiert, dass das Verhalten des Individuums nicht nur gesteuert, ja dezidiert programmiert werden kann, sondern dass die neu ausgebildeten Verhaltensweisen auch an die künftigen Generationen weitergegeben werden können: individuelle Lernprozesse mit kollektivem Ausgang. Die Forschungen und Theorien Bechterews und Pawlows zielen auf die Programmierung eines Neuen Menschen. Die Theorie der Reflexologie unternimmt, wie Torsten Rüting formuliert, »Experimente zur Schöpfung des neuen Menschen im ›Laboratorium der Revolution‹«.83 Der Film soll in den Augen Vertovs Analoges leisten: Sein »schöpferisches Laboratorium«84 ist, so Vertov, »das Ende der Vernichtung unserer Saat, ist der Beginn einer schöpferischen Pflanzstätte, eines schöpferischen Gartens«.85 Und er ist sich sicher, »daß wir dem Land herrliche Früchte aus diesem Garten geben werden«.86 Der Vergleich mit den Früchten hinkt ein wenig, da Vertov weniger auf organische als auf technische Neuzüchtungen zielt. »Ich bin Kinoglaz«, heißt es bereits im frühen Manifest »Kinoki-Umsturz«, »ich schaffe einen Menschen, der voll81 Vgl. ebd., S. 32. 82 Vgl. dazu die detaillierte und instruktive Darstellung in: Torsten Rüting: Pavlov und der Neue Mensch. Diskurse über Disziplinierung in Sowjetrussland, München 2002. 83 Ebd., S. 169. Vgl. auch Jörg Bochow: Vom Gottmenschentum zum neuen Menschen. Subjekt und Religiosität im russischen Film der zwanziger Jahre, Trier 1997. 84 Vertov: Schriften zum Film (Anm. 4), S. 65 ff. 85 Ebd., S. 70. 86 Vertov nimmt dabei eine bei den Biokosmisten weit verbreitete Metapher auf. Vgl. dazu: Boris Groys und Michael Hagemeister (Hg.): Die Neue Menschheit. Biopolitische Utopien in Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Frankfurt/Main 2005, und insbes. die ausführliche Einleitung von Michael Hagemeister, ebd., S. 19-67. 150

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kommener ist als Adam.«87 Dieser neue Adam ist »ein elektrischer Jüngling«, der aus der »gemeinsamen Aktion von befreiter und perfektionierter Kamera und strategischem menschlichen Gehirn«88 hervorgehen soll. Am Leitfaden der Theorien Bechterews und Pawlows soll der Film einen neuen Menschen schaffen, einen Menschen, der mit der Maschine verschwägert ist. »Vom sich herumwälzenden Bürger über die Poesie der Maschinen zum vollendeten elektrischen Menschen«89 führt der filmische Aufklärungsprozeß und die filmische Verhaltensschule. Der Film ist ein Menschenexperiment: »Wir verbinden den Menschen mit der Maschine. Wir erziehen neue Menschen.«90 Und weiter: »Mit offenen Augen, des maschinellen Rhythmus bewußt, begeistert von der mechanischen Arbeit, die Schönheit chemischer Prozesse erkennend, komponieren wir das Filmpoem aus Flammen und Elektrizitätswerken.«91

ENTHUSIASMUS endet zwar nicht mit einem Elektrizitäts-, wohl aber mit einem Stahlwerk und der gemeinsamen Ernte. Und die Eingangssequenz zeigt uns einen jener Neuen Menschen, die bereits mit anderen Augen sehen und anderen Ohren hören – mit, wie Vertov sagen würde, KinoAugen und Radio-Ohren – und der uns zugleich als Zuschauer und Zuhörer für jene Revolution der Denkungs- und Wahrnehmungsart vorbereiten soll, die der Film dann programmatisch umsetzt. Wer Ohren hat zu hören, der höre, und wer Augen hat zu sehen, der sehe – das sagt uns der Film und führt uns zugleich den neuen Adam vor Augen, den neuen Menschen, der die Wirklichkeit bereits in anderer Weise wahrnimmt, erkennt und erlebt – als eine neue Schöpfung, in der Bilder und Töne in programmatischer Weise eingesetzt werden – als ein Programm, das uns als Zuschauer neu programmieren soll.

87 Vertov: Schriften zum Film (Anm. 4), S. 19. 88 Ebd., S. 22. 89 Ebd., S. 8. Vgl. dazu auch Sven Spieker: Dziga Vertovs Filmauge aus protheischer Sicht (DER MANN MIT DER KAMERA), in: Drubek-Meyer/Murašow: Apparatur und Rapsodie (Anm. 2), S. 147-169. 90 Vertov: Schriften zum Film (Anm. 4), S. 8. 91 Ebd., S. 8 f. 151

FIGURATIONEN DES UNSICHTBAREN. MEDIALE SELBSTREFLEXIVITÄT IN »THE INVISIBLE MAN« HENRY M. TAYLOR Gemäß einer – im wahrsten Sinne des Wortes – oberflächlichen Auffassung ist der Film das Medium des Sichtbaren schlechthin, auf das der enorm ressourcenintensive Kino-Apparat komplett ausgerichtet zu sein scheint. Dieses Verständnis greift jedoch zu kurz. Denn das erhabenste Ziel des Mediums ist nicht die Repräsentation des Sichtbaren, sondern vielmehr die Vermittlung und Evokation dessen, was jenseits davon liegt. Ein spezieller Fall, mit dem wir uns hier beschäftigen wollen, liegt vor, wenn das physisch Unsichtbare als körperlich Anwesendes im Feld des Sichtbaren zur Darstellung gelangen soll. Derartiges zu zeigen, bedeutet fürs Hollywood-Kino das Paradoxon einer Erhöhung des Produktionsaufwandes. Das historisch zentrale Beispiel hierfür liefert der auf dem gleichnamigen, 1897 veröffentlichten Roman von H. G. Wells basierende Film THE INVISIBLE MAN (DER UNSICHTBARE, USA 1933). Neben FRANKENSTEIN (USA 1932) und BRIDE OF FRANKENSTEIN (FRANKENSTEINS BRAUT, USA 1935) gilt dies als eine der bedeutendsten Regiearbeiten des gebürtigen Briten James Whale (1889–1957). Nachfolgend soll untersucht werden, wie der Film insgesamt als Versuchsanlage begriffen werden kann und gerade die Produktion der Unsichtbarkeit – als Ergebnis eines vor Erzählbeginn situierten und daher selbst unsichtbaren Selbstexperiments eines mad scientist – zu einer erhöhten medialen Autoreflexivität führt. Whales zwischen Drama und Komödie oszillierender Klassiker ist auch deshalb von Interesse, als er eine regelrechte Flut von Anschlussproduktionen und Remakes ausgelöst hat.1

1. Das Rätsel des mysteriösen Fremden Großteils britisch in der Besetzung, beginnt THE INVISIBLE MAN in recht getreuer Anlehnung an Wells’ Roman mit einem Enigma. In einer verschneiten Winternacht kommt über die südenglischen Downs ein myste1

Eine Stichwort-Suche nach »invisible man« in der Internet Movie Database (www.imdb.com) führt zu 58 Film- und Fernsehproduktionen, am 9.3.2007. 153

HENRY M. TAYLOR

riöser Fremder ins abgelegene Dorf Iping. Die bereits zu konstatierenden starken, entfernt auf den deutschen Expressionismus rekurrierenden Schwarzweißkontraste werden über weite Strecken der Narration, vor allem in mit diesem Fremden assoziierten, nächtlichen Szenen die visuelle Gestaltung bestimmen. Gesellschaftlicher Mittelpunkt von Iping ist das Pub »The Lion’s Head« (bei Wells »The Coach and Horses«). Drei szenische MiniEpisoden in der Gaststätte bereiten dem bevorstehenden Einbruch des Fantastischen einen fruchtbaren Boden. Die anwesenden Figuren, alle Männer und vorwiegend kauzige, ländliche Typen, sind in verschiedene charakteristische Pub-Aktivitäten involviert, die jeweils mit einer Pointe enden. Am Tresen unterhält ein älterer Mann seinen Gesprächspartner mit einer auftrumpfenden Lügenschichte über ein Vorkommnis im Dorf, sehr zum gemeinsamen Vergnügen; ein Pianist lässt sich für seine populäre Musikdarbietung beklatschen, bevor ein anderer Gast eine Münze ins mechanische Klavier wirft und das vorgetäuschte Spiel zum allgemeinen Gelächter auffliegt; ein kleiner, mit seinen schiefwinkligen Gesichtszügen beinahe entstellt wirkender Besucher, mit Beret und Pfeife, konzentriert sich ernst auf sein Darts-Spiel und wirft prompt ein unwahrscheinlich treffsicheres bulls-eye. Einen beat später, als materialisiere sich das Reale einer der fantasievollen Geschichten dieses Milieus, betritt der Fremde das Lokal. Von Kopf bis Fuß drapiert, mit Hut und dunkler Schutzbrille, sowie einen schweren Koffer tragend, erscheint er plötzlich im Türrahmen und zieht die Blicke aller furchtsam zurückweichenden Gäste auf sich.

Abb. 1-3: Halbtotal – nah – groß: Der Unsichtbare betritt das Pub

Mit drei kurzen, sukzessive näher geschnittenen Einstellungen – einer Wiederaufnahme des doppelten cut-in an die Figur im Schneesturm und als Stilmittel von den russischen Formalisten der 20er Jahre geprägt –, wird die seltsame Gestalt ähnlich eingeführt wie das Monster in FRANKENSTEIN (und tatsächlich war zuerst Boris Karloff für die Titelrolle vorgesehen gewesen).2 Damit tritt in die Fiktion schockartig ein qualitativ neues, auf der Grenzverwischung zwischen Leben und Tod basierendes 2

Vgl. den Audio-Kommentar von Filmhistoriker Rudy Behlmer auf der deutschsprachigen DVD des Films (822 454 7, Universal Studios © 2004). 154

FIGURATIONEN DES UNSICHTBAREN

Horror-Moment ein. Wie bei Frankensteins Monster macht sich auch hier der Effekt des Unheimlichem primär und symptomatischer Weise an den Augen fest, den Organen des Sehens, nun jedoch nicht durch die nach oben verdrehten, weißen Augäpfel, sondern durch das Gegenteil der kompletten Verdeckung, welche die Augen des Fremden durch die opaken Schutzgläser je als schwarzes, abgründiges, totes Rund erscheinen lassen. Abrupt bricht denn auch die volkstümliche Klaviermusik ab. Der von Claude Rains mit einem penetrierend englischen Akzent und markant-gebieterischer Stimme (»the greatest voice in the world«)3 gespielte Fremde verlangt ein Zimmer mit Kamin und eine Stube, sehr zum Erstaunen der schrulligen Landlady (Una O’Connor), da Zimmer normalerweise nur im Sommer vermietet werden. Doch der einschüchternde Fremdling bekommt seinen Wunsch erfüllt, auf die Schnelle wird im oberen Stock eine Unterkunft bereit gemacht. Sich zum Fenster hin abwendend, weigert sich der Gast, Hut oder Mantel abzulegen, und befiehlt förmlich, ihm Essen aufzutragen. Er wolle hier seine Ruhe haben und allein gelassen werden. Wieder im Pub, bedient die Wirtin das neugierige Getuschel der Dorfbewohner; in der Gerüchteküche wird gemutmaßt, der Fremde sei aus dem Gefängnis ausgebrochen und sein einbandagiertes Gesicht kaschiere einen schrecklichen Unfall. Somit ist bereits eine Mystery- oder Rätselstruktur der Erzählung angelegt, sowohl innerdiegetisch hinsichtlich der neugierigen Pubgäste als auch in der Beziehung zwischen Film und Zuschauer. Was hat es mit diesem merkwürdigen Gast und seiner eigenartigen Verkleidung auf sich, was ist seine Geschichte? Wir wissen ja, dass es hier um einen unsichtbaren Mann geht, und der Vorspann hat uns in der Hauptrolle Claude Rains versprochen (in seinem amerikanischen Spielfilmdebüt). Anders als in Wells’ Roman, wo der Unsichtbare primär durch Nebenfiguren fokalisiert wird oder über erhebliche Strecken der Narration abwesend ist, wird es im Film vor allem darum gehen, uns das Unsichtbare sehen zu lassen. Neben dem Rätsel ist damit auch Antizipation und eine auf Neugier fußende Spannung angelegt. Als Motivationsquelle wissenschaftlicher Forschung unentbehrlich, ist die Neugier in diesem Wissensplot zunächst die der diegetischen Nebenfiguren und der Filmzuschauer; später wird uns dann auch jene fatale curiosity der Titelfigur offenbart werden. Eine erste Aufdeckung der schrecklichen Wahrheit des noch namenlosen Fremden erfolgt nach gut sieben Minuten Leinwandzeit. Als die Landlady zum zweiten Mal seine Stube betritt, verzieht sie ihr Gesicht in Schaudern. Was hat sie Verstörendes gesehen? Wir wissen es noch nicht; ein Umschnitt zeigt den Fremden, der blitzschnell eine weiße Serviette 3

Vgl. Behlmers Audio-Kommentar zu Whales Wertschätzung von Claude Rains. 155

HENRY M. TAYLOR

vor seinen Mund hochhält; ein äußerst seltsames Gebaren, das zunächst auf einen entstellenden Unfall verweist. Als die Wirtin wieder den Raum verlassen hat, folgt eine Nahaufnahme des Gastes im Profil. Der Unbekannte setzt die Serviette ab und gibt zu erkennen, dass – nichts da ist, nur Luft, sein ganzer Unterkiefer ist unsichtbar; zu sehen an dessen Stelle ist vielmehr die hintere Raumwand.

Die komische Unheimlichkeit dieser Einstellung basiert einerseits auf ihrer kurzen Dauer (unter zwei Sekunden), einem kurzen Lüften des Vorhangs gleich; andrerseits auf dem Umstand, dass hier ein Körperteil schlichtweg zu fehlen scheint, als sei es gleichsam wegrasiert worden. Es ist die Hybridität dieses amputiert scheinenden, weder vollständig anwesenden noch abwesenden Körpers, mit seiner Schnittstelle von Sicht- und Unsichtbarkeit, die hier die irritierende Wirkung bestimmt. Vielleicht mehr als alle anderen nachfolgenden Bilder des Unsichtbaren ist diese kurze Szenen-Koda am verstörendsten. Es ist das Reale, das sich in diesem Moment zu erkennen gibt, im Sinne Jacques Lacans, das nicht existiert, aber Wirkungen zeitigt. Während wir es diegetisch mit einem unsichtbaren Körperteil zu tun haben, ist die Tatsache eines Trickeffektes im Bild zugleich in hohem Maße sichtbar, wobei gleichzeitig die Gemachtheit sich zu kaschieren versucht: Wir sollen sehen können, dass hier ein besonderer Effekt erzielt wurde, ohne dabei den Trick als solchen zu durchschauen. Das Fantastische soll möglichst realistisch, um nicht zu sagen: naturalistisch daherkommen. Die Unsichtbarkeit in der Diegese ist also gekoppelt mit hoher Sichtbarkeit im Diskurs. Im Zeitalter digital bearbeiteter und generierter Bilder mag der erzielte Trick primitiv erscheinen, aber seinerzeit operierte der Leiter der special effects, John P. Fulton, geradezu experimentell an der äußersten Grenze des Machbaren. Fulton wendete ein travelling matte-Verfahren an, bei dem jene Körperteile von Rains, die im Film unsichtbar sein sollten, in schwarzes Tuch gewickelt und gefilmt wurden, wobei das fertige Bild als composite mehrerer Aufnahmen resultierte.4 4

Vgl. Audio-Kommentar von R. Behlmer. 156

FIGURATIONEN DES UNSICHTBAREN

2. Weiße versus schwarze Wissenschaft Was es mit der misslichen Lage des Fremden auf sich hat, und weshalb er ein Zimmer in einem abgelegenen Dorf mietet, erfahren wir in den folgenden Szenen im Hause seines Mentors, des renommierten Wissenschaftlers Dr. Cranley (Henry Travers). Cranley, ein ruhig-besonnen und gutmütig-väterlich wirkender älterer Herr im weißen Kittel, führt in seinem großbürgerlichen Haus ein chemisches Labor; seine Reputation basiert auf der erfolgreichen Erforschung chemischer Substanzen zur Verlängerung der Haltbarkeit von Lebensmitteln: eine praktische Wissenschaft ohne dunkle Geheimnisse. Bezeichnend ist hier die Inszenierung seines großräumigen, hellen, vom Setting her ins Wohnzimmer integrierten Labors. Charakteristisch für diese »weiße«, anerkannte, »gute« und ungefährliche Naturwissenschaft ist einerseits die klare Trennung von souverän forschendem Subjekt (dem Wissenschaftler) und erforschtem Objekt (der äußerlichen Substanzen) ohne riskante (Selbst-)Experimente; andrerseits die Integration dieser Wissenschaft ins bürgerliche Heim, als Labor physisch in einem erkerähnlichen, nach außen ragenden Halbrund situiert, das aber noch eindeutig zum Hause gehört. Dieses aus heutiger Sicht amateurhaft und wenig realistisch wirkende Labor ohne klare räumliche Grenzen zwischen beruflicher und privater Sphäre zeichnet sich durch nichtentfremdetes, gesellschaftlich integriertes wissenschaftliches Arbeiten und Forschen aus – eine wohl schon zur Entstehungszeit von Wells’ Roman illusionäre Vorstellung, die aber in der populärkulturellen Fantasie noch nachwirkte. Cranleys – natürlich blonde – Tochter Flora (Gloria Stuart) kommt eine breite, gewundene Treppe hinunter ins Labor ihres Vaters, wobei die großzügigen Räume nicht voneinander abgetrennt sind (was auch mit den technischen Erfordernissen des Filmsets, das heißt der Notwendigkeit von weitschweifigen Kamerafahrten zu tun hatte). Flora macht sich Sorgen um ihren Verlobten Jack Griffin, von dem seit fast einem Monat jegliche Nachricht fehlt. Wir erfahren von Cranley, dass sich sein Schützling für eine unbestimmte Zeit abgesondert in die Isolation begeben hat, um ein eigenes, schwieriges Experiment durchzuführen. Das sei an sich nichts Ungewöhnliches, versucht ihr Vater sie zu beruhigen. Doch Flora, larmoyant und dem Klischee der »weiblichen Intuition« gehorchend, besteht auf ihren dräuenden, in Träumen eingegebenen Ahnungen. Als Zuschauer schließen wir hier natürlich sofort darauf, dass Floras Verlobter nur der unbekannte Fremde in Iping sein kann (der romantische Subplot fehlt in Wells’ Vorlage komplett und dient hier dazu, den Unsichtbaren stärker zu vermenschlichen und Mitleid zu erwecken).

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Dass sich Griffin auf Abwege der Wissenschaft begeben hat, macht sein für Cranley arbeitender Rivale, Arthur Kemp (William Harrigan), Flora in einem anschließenden Gespräch klar, dabei zugleich um ihre Liebe buhlend: »He meddled in things men should leave alone. Your father’s a scientist. He’s discovered more about preserving food than anyone. Jack and I were employed to help him. That’s a plain, straightforward job. It’s not romantic, but it saves hundreds of deaths and stomachaches. […] [Jack] worked in secret. He kept a lot of stuff locked in a big cupboard in his laboratory. He never opened it until he’d barred the door and drawn the blinds. Straightforward scientists have no need for barred doors and drawn blinds.«

Mit Griffins Grenzüberschreitung ist das Motiv der im Sozialimaginären situierten »schwarzen Wissenschaft« und des mad scientist eingeführt. Der overreacher, Prometheus ähnlich, eignet sich in Übertretung der symbolischen Ordnung verbotenes oder verdrängt-alchimistisches Wissen an – vor allem über die künstliche Erzeugung des Lebens – und bringt reale Monster hervor. Das paradigmatische Grundmotiv hierfür ist bekanntlich in der romantischen Literatur zu verorten, namentlich in Mary Shelleys Frankenstein (1818), wo der Transgressor aus Leichenteilen und durch Elektrizität ein synthetisches Monstrum zum Leben erweckt.5 Vor allem seit Robert Louis Stevensons Horror-Novelle The Strange Case of Dr Jekyll and Mr Hyde (1886) hatte der overreacher eine neue Erscheinung angenommen: Nun führte ein fatales Eigenexperiment zur unumkehrbaren, monströsen Metamorphose des Wissenschaftlers selbst. Wir ahnen, dass hier ein ähnlicher Fall vorliegt.

3. The Invisible Man als Versuchsanlage An dieser Stelle sei ein knapper genretheoretischer Exkurs erlaubt. Für den Philosophen Noël Carroll ist der Horrorfilm durch die Präsenz eines Monsters definiert, das meist fantastischer Natur und Abscheu erregend ist.6 Carroll unterscheidet zwei narrative Grundmuster: den komplexen Entdeckungsplot (complex discovery plot) und den Plot des SichÜbernehmenden (overreacher plot). Der Entdeckungsplot besteht aus vier Phasen: im Auftakt (onset) erfährt zunächst das Filmpublikum von

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Vgl. Eva Horn: »Abwege der Forschung. Zur literarischen Archäologie der wissenschaftlichen Neugierde (Frankenstein, Faust, Moreau)«, in: dies./Bettine Menke/Christoph Menke (Hg.): Literatur als Philosophie – Philosophie als Literatur, Paderborn 2006, S. 153-171. Vgl. Noël Carroll: The Philosophy of Horror, or, Paradoxes of the Heart, New York/London 1990, S. 12-42. 158

FIGURATIONEN DES UNSICHTBAREN

der Anwesenheit eines Monsters, gefolgt von dessen Entdeckung (discovery) durch einzelne Figuren oder eine Gruppe in der Diegese; erst nachdem es ihnen gelungen ist, auch die Autoritäten von der Existenz des Monsters zu überzeugen, das inzwischen weitere Opfer gefordert hat (confirmation), tritt die letzte Phase ein, die Konfrontation (confrontation) der Ordnungskräfte oder deren Delegation mit dem ungeheuerlichen Wesen, die meist erst nach mehreren Anläufen erfolgreich sind, das heißt, das Monster endgültig besiegen (oder auch nicht). Auch das Narrativ des overreacher oder mad scientist besteht aus vier Phasen: der Vorbereitung des Experiments; dessen Durchführung; der Ansammlung von Hinweisen, dass das Experiment zum Bumerang geworden ist; sowie schließlich die Konfrontation mit dem aus dem Experiment hervorgegangenen Monstrum.7 Interessant im vorliegenden Fall ist, dass wir es – wie schon in Wells’ Roman – mit dem Thema des overreacher zu tun haben, die Erzählung jedoch die Struktur des Entdeckungsplots aufweist. Der unheimliche Fremde als mad scientist tritt den Zuschauern und dem diegetischen Personal immer schon in der Form des aus einem fehlgeleiteten Experiment hervorgegangenen Monsters gegenüber, dessen Genese im narrativen Verlauf dann rückwirkend erklärt und motiviert wird. Die eigentümliche Kombination beider Horror-Narrative hängt also zum einen damit zusammen, dass der overreacher sich selbst in ein Ungeheuer verwandelt hat; und zum anderen damit, dass THE INVISIBLE MAN nicht nur als Horror-, sondern auch als Science-Fiction-Film zu begreifen ist. Wells verstand ja sein Buch, wie sein gesamtes frühes Werk, als scientific romance, hier mit der Betonung auf ›scientific‹, und auch Whales Film ist durchaus bemüht – wenn auch viel knapper als die Vorlage –, den fantastischen Effekt der Unsichtbarkeit nicht nur zu zeigen, sondern, zumindest dem Anschein nach, wissenschaftlich zu begründen (wiewohl es sich dabei natürlich nur um eine quasi- oder pseudowissenschaftliche Erklärung handeln kann, die sich auf die Wirkungen der fiktiven Droge monocane abstützt, siehe unten). Zum positivistischen Verfahren der exakten Wissenschaften – hier haben wir es mit der Chemie zu tun – gehört immer auch das praktische Experiment, die experimentelle Überprüfung vorgängiger Hypothesenbildung. Für die Science Fiction hingegen ist das Gedankenexperiment in der Form von »was wäre, wenn … ?« prägend. Beginnend mit einer zumeist fantastischen Prämisse, einer Unmöglichkeit, einer Tatsache, die mit dem vorherrschenden Wissenschaftsdiskurs nicht zu vereinbaren ist, jedoch durchaus eine mentale Extrapolation aktueller Tendenzen sein mag, beschäftigt sich die SF mit den möglichen Konsequenzen und Im7

Ebd., S. 99-125. 159

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plikationen, die aus der Grundannahme folgen. Da sie sich mit Welten auseinandersetzt, die zumindest in einem zentralen Punkt von der uns bekannten abweichen, also mit alternativen Welten – in denen sich etwa eine Person physisch unsichtbar machen kann –, unterhält sie eine besondere Nähe zur Ontologie. Wie ist, nach welchen Gesetzmäßigkeiten funktioniert ein solches alternatives Universum, was würde passieren, wenn jemand sich visuell unsichtbar machen könnte, welche Konsequenzen hätte das? Und welche Rückschlüsse erlaubt dies ex negativo auf die uns bekannte Welt? Anders als in der »weißen« Wissenschaft, wo der Experimentator durch die klare Trennung von Subjekt und Objekt die Herrschaft über das experimentelle System bewahrt und gewissermaßen darüber steht – sich außerhalb des Systems befindet –, ist der overreacher im vorliegenden Falle eines Selbstversuchs mitten im experimentellen System situiert, als dessen wesentlicher Teil und ohne wirklich die Kontrolle innezuhaben; diese hat vielmehr der Film, der selbst als Versuchsanlage fungiert. THE INVISIBLE MAN führt ein fantastisches Element – den Unsichtbaren – in seine Welt ein und spielt dann die Konsequenzen durch, die daraus resultieren, die Implikationen, welche die Unsichtbarkeit mit sich bringt, die Gesetzmäßigkeiten und Spielarten, die diese nunmehr alternative Welt bestimmen und dem Filmpublikum in sukzessivem Nachvollzug offenbart werden.

4. Spielregeln der Unsichtbarkeit Nach Floras melodramatischer Zurückweisung von Kemps Avancen wechselt der Schauplatz zur Stube des Fremden in Iping. Vor seinem Arsenal an chemischen Instrumenten und Reagenzgläsern in einem Fläschchen rührend, wiederholt er verzweifelt, »There’s a way back, you fool, there must be a way back!« Doch die Experimente im mad scientist-Plot sind immer Reisen ohne Wiederkehr. Sein zunehmend erratisches und aufbrausend-cholerisches Verhalten bei Störungen durch andere – aggressiv wirft er die Landlady aus seinem Zimmer, die in hysterisches Schreien ausbricht, und ihr Mann wird von ihm kurzum die Treppe hinunter gestoßen – führt zum Eklat und zur Intervention des ironisch reservierten Dorfpolizisten, mit zahlreichen neugierigen Bewohnern im Schlepptau. In einem launischen Umschlag, der seinen monomanischen Größenwahn aufflackern lässt, konfrontiert der Fremde die Eindringlinge mit dem Dilemma seiner Unsichtbarkeit und entfernt seine Gesichtsbandagen mit irrem Gelächter, nunmehr ein verkörpertes Gespenst. Seine Widersacher weichen gleichsam vor dem Nichts zurück.

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Bald auf ein herumtanzendes weißes Hemd reduziert, das, wie die andern im Verlauf der Handlung sich autonom bewegenden Objekte, an die fliegenden Hüte in Hans Richters avantgardistischem Kurzfilm VORMITTAGSSPUK (D 1928) erinnert, macht sich Griffin über seine Verfolger lustig, in einer stark Slapstick-betonten Szene, bei welcher der Polizist aus Versehen mit seinem Stock nicht Griffin, sondern einen der Dorfbewohner niederschlägt; im Nu ist der Fremde komplett unsichtbar und nur mehr durch seine Stimme und von ihm bewegte und geworfene Objekte präsent. Doch seine Invisibilität ist eine komplexe Angelegenheit. Einerseits erlaubt sie ihm ungeahnte neue Möglichkeiten der Macht, wie er dem zum Narren gehaltenen Polizisten und den Dorfleuten mit seiner phallisch-kastrierenden Stimme wahnhaft deutlich macht: »Are you satisfied now, you fools? It’s easy, really, if you’re clever. A few chemicals mixed together, that’s all, and flesh and blood and bone just fade away. A little of this [ein Fläschchen mit dunkler Flüssigkeit ist zu sehen] injected under the skin of the arm every day for a month. An invisible man can rule the world. Nobody will see him come, nobody will see him go. He can hear every secret. He can rob and wreck and kill!«

Die Grandiosität dieser letzten Zeilen bedarf keiner weiteren Erläuterung. Wie wir in einer späteren Szene erfahren, als Dr. Cranley zusammen mit Kemp Griffins Labor absucht und eine Notiz findet, hat der junge Forscher mit einer gefährlichen Substanz, monocane, experimentiert, einem aus Indien stammenden Stoff zum Bleichen, der jedoch, wie Cranley mit paternalen Sorgenfalten zu bedenken gibt, auch zum Wahnsinn führt. Im Namen monocane klingt zugleich cocaine mit seiner euphorisierenden Wirkung an, als auch die Monomanie des selbstzentrierten mad scientist, der in einer Verwerfung eines grundlegenden Verbots, des »Namens des 161

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Vaters«, die symbolische Ordnung verlassen hat. Aus bescheidenen sozialen Verhältnissen stammend, wie wir später im Gespräch Griffins mit seiner Verlobten erfahren, hat der Aufsteiger ein unerhörtes Experiment gewagt, um alle Welt zu beeindrucken und sich Floras Zuneigung zu sichern – dabei tragischerweise verkennend, dass diese ihn auch ohne seine übermenschlichen Anerkennungsbemühungen liebt. Doch so sehr Griffins Unsichtbarkeit seinen infantilen, die eigene ›Kastration‹ leugnenden Allmachtsfantasien neues Potenzial eröffnet, so sehr hat sie eine Kehrseite. Um sich vor Kälte und Niederschlag zu schützen, ist er gezwungen, seine Invisibilität unter Kleidungsstücken zu verbergen, das heißt sich von Kopf bis Fuß einzuhüllen, zu bandagieren und eine schwarze Schutzbrille zu tragen; gerade diese Verkleidung jedoch macht ihn in höchstem Maße auffällig. Ebenso sichtbar in und an ihm sind unverdaute Speisen, Ruß und Niederschlag auf seiner Haut oder er selbst bei Nebel; und im Schnee hinterlässt er Fußspuren. Unsichtbar ist also lediglich sein nackter Körper bei trockenem Wetter. So legt er hier einen Striptease der besonderen Art hin.

5. Von der wörtlichen zur figurativen Unsichtbarkeit Nachdem der Bobby und die Dorfbewohner nach dem ersten Schock die Flucht angetreten haben, wird Griffin beim Ausziehen seiner Hose interessanterweise diskret von hinten gezeigt, als gälte es auch noch den Gedanken an seinen nackten Körper zu unterdrücken. THE INVISIBLE MAN wurde denn auch in späteren Jahren als metaphorischer Kommentar auf das Verhältnis Hollywoods zur Nacktheit gelesen: diese konnte und durfte während der Zeit des Production Code (1930–66) nicht auf der Leinwand gezeigt werden und blieb daher in den Filmen ausgespart.8 Nicht nur Nacktheit jedoch war im klassischen Hollywood tabu, sondern auch Homosexualität; die zahlreichen Schwulen in der Filmindustrie (unter ihnen auch Regisseur James Whale) blieben folglich für das breite Publikum ebenfalls ›unsichtbar‹. Das Hollywood-Kino mit seinem organisch-positivistischen Grundverständnis zeichnet sich auch dadurch aus, dass kulturelle Metaphern wörtlich genommen werden und physische Gestalt annehmen; ein Gutteil des fantastischen Films verdankt sich eben dieser Allegorese. Fahren wir auf der metaphorischen Interpretationsschiene weiter, drückt sich in der Gestalt des auffällig verhüllten Fremden bei Whale auch eine Form sozialer Unsichtbarkeit, oder vielmehr Nichtrepräsentierbarkeit des gesellschaftlichen Aufsteigers der Moderne aus, der mit der tradierten Klassentypologie nicht mehr gefasst werden kann. Dementsprechend unterscheidet sich dieser Fremde sowohl von den auf rustikale Typen re8

Vgl. die Dokumentation auf der DVD des Films. 162

FIGURATIONEN DES UNSICHTBAREN

duzierten Nebenfiguren im Pub, den gewöhnlichen Leuten, als auch von der großbürgerlichen Sphäre Dr. Cranleys. Analog zu den Meisterverbrecher-Filmen Louis Feuillades und Fritz Langs, namentlich der FANTÔMAS-Serie (F 1913–14) und DR. MABUSE, DER SPIELER (D 1922), wo es allerdings um Verkleidungen, nicht um physiologische Transformation geht, wird der Klassenschranken transzendierende, soziologisch nicht eindeutig zu verortende Aufsteiger – ein ›Mann ohne Eigenschaften‹ – zur gefährlichen Figur der Metamorphose.

Abb. 11-14: René Navarre als FANTÔMAS

Die Metaphorik lässt sich auch auf die oben erwähnte ›schwarze Wissenschaft‹ beziehen. Philipp Sarasin hat in diesem Zusammenhang den Topos des mad scientist untersucht, der vor allem seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem bedeutenden Fantasma der Populärkultur wurde. Wiewohl der verrückte Wissenschaftler als faustische, sich verpönt-verdrängtes Wissen aneignende Figur bereits in der frühen Neuzeit auftaucht, weist seine neue Prominenz in der Moderne doch auf eine aktualisierte Bedeutung hin. Bemühte sich noch angesichts der in der zweiten Jahrhunderthälfte sich vollziehenden Institutionalisierung, Ausdifferenzierung und Spezialisierung der (Natur-)Wissenschaften eine Populärwissenschaft, die wachsende Kluft zur interessierten bürgerlichen Öffentlichkeit mit effekthascherischen Präsentationen von Forschungsergebnissen affirmativ zu überbrücken, so fungierte in der Populärkultur der Topos des mad scientist einerseits als Entlastungsfantasie, andrerseits als Möglichkeit, Fortschrittsrisiken und diffuse soziale Ängste zu fokussieren und indirekt zum Ausdruck zu bringen. Die einem breiteren Publikum gegenüber zunehmend nichtkommunizierbar werdenden Verfahren einer an Macht gewinnenden, den Alltag mit ihren technologischen Produkten immer stärker durchdringenden Wissenschaft lassen diese als dunkel-unheimlich erscheinen und finden in der Gestalt des verrückten Wissenschaftlers eine anschauliche Verkörperung. Man könnte auch sa163

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gen, die moderne Naturwissenschaft lässt sich nicht mehr ›ins bürgerliche Heim‹ integrieren; für die Öffentlichkeit ist sie als solche unsichtbar geworden.9

6. Mediale Selbstreflexivität: Der Unsichtbare als Meisterverbrecher Mit der unsichtbaren Nacktheit des unsere Sympathie genießenden Protagonisten – tragischer Antiheld und Monster in einem – ist ein starkes selbstreflexives Moment verknüpft. Was macht eine filmische Figur aus, wie ist sie konstruiert? Was geschieht, wenn sie lediglich auf ihre Stimme oder ihre Objekteinwirkungen reduziert wird? In Bezug auf die Filmbilder gibt es ontologisch gesehen keinen Unterschied zwischen einem nicht abgebildeten, abwesenden Repräsentationsobjekt einerseits und einem anwesenden, aber unsichtbaren Körper andrerseits; der Film kann uns keine Körper in ihrer voluminösen Dreidimensionalität präsentieren, sondern eben nur Bilder, nur Abbildungen von Körpern. Die unsichtbare Figur kann also letztlich immer nur durch Kontiguität, metonymisch zur Darstellung gelangen, indirekt durch ihre noch sichtbare Bekleidung als Erweiterung ihres Körpers, oder durch Gegenstände, die sie in Bewegung versetzt. So wird der Unsichtbare vollends zu Lacans objet petit a, zum Realen, das nicht positiv gefasst werden kann als Realität, sondern nur ex negativo aus seinen Spuren und Wirkungen. Er wird zur frei flottierenden Stimme mit diegetisch ambiger, uneindeutiger Verortung. Zunächst sind Griffins Effekte in Iping noch vorwiegend komischer Natur: Bei seiner Flucht scheint sich ein Fenster wie von Geisterhand zu öffnen, Bewohner erhalten unsichtbare Schläge, Türen fliegen von selbst auf, Biergläser nehmen ein autonomes Leben an und ein Fahrrad fährt ohne Fahrer davon, bevor es auf einer Gruppe von Verfolgern landet. Griffins Stimme – »Here’s your blooming bicycle, you can do what you like with it« – unterscheidet sich hier akustisch bezeichnenderweise nicht von einem Voice-over, der im klassischen Dokumentarfilm voice of God genannt wird: Als sei er selbst der Filmregisseur, wird der Unsichtbare effektiv zur strukturierenden Absenz der Totalität des Dorfes, zum negativen Fokalisierungspunkt, da niemand vor ihm sicher ist und alle Bewohner in ihrem Schrecken vor dem Unfassbaren geeint sind. Diesbezüglich lässt sich Griffin auch als Ausschluss-Symptom des Sündenbockmechanismus’ begreifen, durch den sich Gemeinschaften neu formieren.10 Bald schon gelangen dessen von harmlosen Streichen zu Terror 9

Vgl. Philipp Sarasin: »Das obszöne Genießen der Wissenschaft. Über Populärwissenschaft und ›mad scientists‹«, in: ders.: Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, Frankfurt/Main 2003, S. 231-257. 10 Vgl. René Girard: Der Sündenbock, Zürich/Düsseldorf 1998. 164

FIGURATIONEN DES UNSICHTBAREN

eskalierende Taten in die Massenmedien und damit an eine breitere Öffentlichkeit. Abends bei sich zuhause, bei einer Pfeife und Lektüre, horcht Kemp auf, als im Radio ein sensationeller Bericht gesendet wird: Im kleinen Dorf Iping sei eine Art Epidemie ausgebrochen, deren Ausdruck die Wahnvorstellung sei, ein Unsichtbarer lebe mitten unter ihnen. Kemps gemütlicher Abend ist bald zu Ende, wie wir als Zuschauer durch die uns privilegierende Erzählperspektive wissen: wie von selbst hat sich die Tür zu seinem Wohnzimmer geöffnet und geschlossen, begleitet von einem kalten Windzug; der Unsichtbare ist näher bei Kemp, als dieser durch die Radionachricht zu meinen glaubt! Das Gerät schaltet sich ›von selbst‹ aus und Griffins Stimme spricht die Durchsage zu Ende, ohne dass Kemp, vor dem Unsichtbaren zurückweichend, wirklich wüsste, woher sie kommt: entkörperlicht, wird diese Stimme im Verlauf der weiteren Handlung zum Indikator einer potenziell allgegenwärtigen Bedrohung. Kemp zur Kollaboration erpressend, erzählt Griffin dem verblüfften Gesprächspartner von seiner fünfjährigen, mühseligen und von Fehlschlägen begleiteten Arbeit am Experiment, bevor er seine Epiphanie erlebte. [Kemp:] »But why, why do it, Griffin?« [Griffin:] »Just a scientific experiment at first. That’s all. To do something no other man in the world had done. But there’s more to it than that, Kemp. I know it now. It came to me suddenly. The drugs I took seemed to light up my brain. Suddenly, I realised the power I held, the power to rule, to make the world grovel at my feet. [Kichert.] We’ll soon put the world right now, Kemp. You and I.«

Von den Dorfbewohnern Ipings daran gehindert, die Wirkung des monocane rückgängig zu machen (soweit dies überhaupt möglich gewesen wäre), hat Griffin seine psychischen Besetzungen von externen Objekten abgezogen und auf sein Ich zurückgeführt; dergestalt von Größenwahn gezeichnet, den auch die Liebe zu Flora nicht mehr in Schach halten kann, sinnt er nur mehr auf Rache an der Welt und will zu diesem Zweck Kemp zu seinem Instrument, seinem sichtbaren »Partner« machen. [Griffin:] »We’ll begin with a reign of terror. A few murders here and there. Murders of great men, murders of little men, just to show we make no distinction. We might even wreck a train or two. Just these fingers around a signalman’s throat, that’s all.«

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Dieses Terror-Regime ist eine psychologische Verbalisierung des Programms der Meisterverbrecher in FANTÔMAS, DR. MABUSE, DER SPIELER oder Langs im gleichen Jahr wie Whales Film entstandene Anschlussproduktion DAS TESTAMENT DES DR. MABUSE (D 1933). Im Unterschied zum vorliegenden Fall wird in diesen Thrillern jedoch die Motivation der jeweiligen Titelfigur von der Narration nicht expliziert, sondern vorausgesetzt. Dies hängt auch damit zusammen, dass wir es bei Whale mit einer einzelnen Figur zu tun haben, die immer nur an einem spezifischen Ort lokalisiert ist, wiewohl Unsichtbarkeit ihr die Möglichkeit bietet, unerkannt zuzuschlagen.

Abb. 15: Allmächtiger Börsengeist – DR. MABUSE, DER SPIELER

Demgegenüber beruht die Wirkungsmacht der fantasmischen Meisterverbrecher Fantômas oder Mabuse einerseits auf ihrem Verkleidungsund Verstellungsvermögen, ihrem mannigfachen sozialen Rollenspiel, sowie, im Falle Mabuses, auf einem von der Titelfigur als narrativem Verknüpfungsprinzip geradezu hypnotisch kontrollierten Netzwerk verschworener Helfershelfer, das letztlich auch als Allegorie auf die ›magische‹ Erschließung gesellschaftlicher Totalität durch die Operationsweise moderner Telekommunikations- und Massenmedien zu begreifen ist.11 Wiewohl Whales Unsichtbarer also durch seine diegetische, physische Lokalität stärker ›territorialisiert‹ ist als die explizit allegorische, als verkörperter Zeitgeist fungierende Mabuse-Figur – und damit von der Anlage vergleichsweise ›bieder‹ ausfällt –, entwickelt THE INVISIBLE MAN in seiner zweiten Hälfte gleichwohl interessante Parallelen zu den Meisterverbrecher-Filmen, in denen alle gesellschaftlichen Übel einem personalen Zentrum zugerechnet werden.

11 Vgl. auch Fredric Jameson: »Totality as Conspiracy«, in: ders.: The Geopolitical Aesthetic. Cinema and Space in the World System, Bloomington, London 1992, S. 7-84, hier S. 10. 166

FIGURATIONEN DES UNSICHTBAREN

Finale Nachdem Griffin einen Polizisten getötet hat, erkennen die Polizeioberen den Ernst der Lage und planen eine Großfahndung nach dem Unbekannten. [Der Chef der Polizei:] »Now, we shall comb the country for 20 miles round. We’ve got a terrible responsibility. He’s mad and he’s invisible. He may be standing beside us now. [Die Untergebenen schauen sich um.] But he’s human and we shall get him.«

Der bei allen Schwierigkeiten der bevorstehenden Aufgabe ungebrochene Optimismus der Gesetzeshüter ist als Ausdruck des letztlich sicheren, eindämmbaren Horrors im klassischen Erzählkino zu begreifen (im Gegensatz zum zunehmend unsicheren, unkontrollierbaren Horror in der Postmoderne). Er ist damit auch ein Zeichen der kollektiven Zuversicht, in der Gesellschaft würden Rechtstaatlichkeit und Demokratie auch angesichts ernster Herausforderungen obsiegen.12 Spätestens jetzt wird der in der ersten Filmhälfte dominierende Mystery-Plot vom Thriller- und Suspense-Plot überlagert, da nun die Fronten abgesteckt sind und Wissensneugier von der antizipierten Konfrontation abgelöst wird. In einer anschließenden Klammersequenz wird die Bevölkerung im Radio informiert und gewarnt, man möge alle Türen und Tore abschließen, um dem Wahnsinnigen kein Versteck zu bieten; dabei verbindet der anonyme männliche Voice-over transdiegetisch die heterogenen Lokalitäten aufmerksamer ZuhörerInnen: Leute in einem Tanzlokal; ein altes Ehepaar zu Hause mit Kopfhörern; eine Gruppe von Kindern in einem Heim; einen jungen Mann, der einen Knüppel ergreift und das Haus verlässt; sowie einen Greis mit dem Ohr am Hörfunk. Das Medium Radio fungiert hier deutlich als Homologie zur potenziellen Ubiquität des Fremden. Eine schnelle Folge von Einstellungen verriegelter Schlösser in alternierendem Dutch tilt und eine verbarrikadierte Tür beschließen die Montage, eine wachsende Verunsicherung und Panik quer durch die Bevölkerung signalisierend. Während Griffin schläft, alarmiert Kemp telefonisch zuerst die Polizei und dann Dr. Cranley. Flora, als Prinzip des Guten ganz in weiß gekleidet, besteht darauf, sofort zu Kemp zu fahren und, von der heilenden Kraft ihrer Liebe überzeugt, mit Griffin zu sprechen.

12 Vgl. Andrew Tudor: Monsters and Mad Scientists. A Cultural History of the Horror Movie, Oxford/Cambridge, MA 1989, hier vor allem S. 27-87 und S. 211-224. 167

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Doch schon während er Flora unter vier Augen die Motivation zu seinem Experiment schildert, steigert er sich in machtbesessene Rage. Sein Wandel zum bösen, gewalttätigen Rächer wird alsbald verschärft durch die herbeigeeilte Polizei, die in einem Cordon um Kemps Haus herum den Unsichtbaren einzufangen trachtet, jedoch heillos überfordert ist und – in einer erneuten Slapstick-Reprise – das Entkommen des Gesuchten mit der Hose eines Polizisten nicht verhindern kann. Am Tag nach seiner Flucht stößt er zwei Leute eines Suchtrupps in eine Schlucht, bringt einen Zug zum Entgleisen und raubt am helllichten Tag eine Bank aus. Bei einer Pressekonferenz berichtet der Kommissar von 120 Toten, die auf Griffins Konto gehen; seine Präsenz wurde an unzähligen Orten gemeldet; hunderttausend Leute stehen im Einsatz. Während in den MabuseFilmen die generalisierte Gefahr aus einer umfassenden Verschwörung resultiert, verdankt sich hier die zunehmende Paranoia dem Umstand, dass der Unsichtbare jederzeit und überall auftauchen kann. Mehrfach betont der Polizeichef, dass der Unsichtbare womöglich just in diesem Moment neben ihnen stünde. Bald schon lässt sich nicht mehr unterscheiden, welche Verbrechen – Raubüberfälle etwa – auf das Konto des Unsichtbaren gehen und welche nicht: er könnte überall dahinter stecken. Mit der soziologischen Totalisierung des Phänomens spielt sich das filmische Geschehen in Alternierung von Griffins Tatorten und der Polizei ab; die lokalisierte Sphäre der Handlung von Dr. Cranley und Flora ist in Abwesenheit geraten. Von einem Bauern alarmiert, der Griffin in seiner Scheune gehört hat, realisieren die Gesetzeshüter ihre letzte Chance: Ein Schneesturm verspricht, den Gesuchten sichtbar zu machen und ihnen zum Erfolg zu verhelfen. Nächtens wird der ländliche Schober weiträumig umstellt und ein Feuer gelegt, um den Unsichtbaren hinaus zu treiben, wo er im Schnee Fußspuren hinterlässt. Von Schüssen der Polizei getroffen, bleibt er am Boden liegen. Im Krankenhaus am Sterben, kann Griffin noch ein paar letzte Worte an Flora richten: »I meddled in things that man must leave alone«, was zugleich auch als warnende Botschaft des Films fungiert, Wissenschaft dürfe sich nicht verselbständigen. Im Tod erscheint Griffins Kopf zunächst als Totenschädel, um zuletzt die Züge eines gleichsam Schlafenden anzunehmen. Wollten wir seit seinem ersten Auftauchen das Ant168

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litz des Fremden sehen, wird uns dieser Wunsch erst am Film-Ende gewährt, als sei die ganze Narration eine einzige, lang hinausgezögerte Offenbarung des Gesichtes von Claude Rains.

Mit dem Frieden im Tode ist die Gefahr gebannt, die Sichtbarkeit des Fremden hat ihn reterritorialisiert, und der frei flottierende Ton ist wieder an seinen »rechtmäßigen« Platz zurückgeführt worden. Somit verweist THE INVISIBLE MAN letztlich auf die Kluft zwischen dem Lokalisierten des Bildes einerseits und dem Unsichtbar-Entgrenzten des Tons – vor allem der Stimme – andrerseits. Nicht allzu lange nach der Einführung des Tonfilms (1927–29) entstanden, thematisiert Whales Film damit nicht zuletzt die Tatsache, dass Bild- und Tonspur ontologisch getrennt sind und in der Produktion »verheiratet« (married) werden müssen. Der konstruierte, synthetisch-kodifizierte Bezug zwischen Bild und Soundtrack musste früher oder später im Kino dramatisiert werden, insofern der Ton grundsätzlich auch unabhängig vom Visuellen eine eigene Funktion einnehmen und sich verselbständigen könnte. Deshalb ist THE INVISIBLE MAN auch als Reflexion dieser Kluft zu verstehen, wobei der Horroreffekt hier durch personale Zuschreibung diegetisiert und damit innerhalb des fantastischen Genres in letzter Instanz gebändigt wird.

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EIN

»G E R M A N I N « (1943). S E L B S T V E R SU C H M I T F L I E G EN BRITTA LANGE

In dem NS-Film GERMANIN. DIE GESCHICHTE EINER KOLONIALEN TAT, uraufgeführt im Mai 1943, hatte Luis Trenker seine letzte Rolle in einer deutschen Produktion vor Kriegsende. Für den Ufa-Film spielte er unter der Regie von Max W. Kimmich, einem Schwager des Propagandaministers Joseph Goebbels, einen ehemaligen deutschen Arzt. Dr. Hofer reist als Abenteurer und Tierfänger vor dem ersten Weltkrieg durch das deutsch kolonialisierte Afrika. Dort stößt er auf ein deutsches Forschungslaboratorium, in dem Prof. Achenbach (Peter Petersen) gemeinsam mit seiner Assistentin Anna Meinhardt (Lotte Koch) über die Schlafkrankheit forscht. Die Schlafkrankheit, die im tropischen Afrika vorkommt, wird von ›Trypanosomen‹ genannten Erregern ausgelöst und durch die Tsetsefliege übertragen. Die Infizierten leiden unter Drüsenschwellungen, Konvulsionen, Bewegungsstörungen und, im Endstadium, an geistiger Umnachtung. Ohne Behandlung führt die Krankheit zum Tod. Im Spielfilm GERMANIN behandeln Achenbach und Meinhardt erkrankte Schwarze mit Arsenpräparaten, suchen jedoch zugleich nach einem ungefährlicheren Medikament. Von diesem Erfolg hängt die Rettung Afrikas und der deutschen Kolonien dort ab. Als in Europa der erste Weltkrieg ausbricht, entzünden englische Truppen das deutsche Labor. Achenbach, Meinhardt und Hofer fliehen mit den in letzter Sekunde geretteten Forschungsergebnissen und ein paar eingefangenen Tsetsefliegen ins Deutsche Reich. In Berlin gelingt es Achenbach gegen Kriegsende, das gesuchte Heilmittel gegen die Schlafkrankheit zu komponieren: Germanin. Nach der Laborarbeit muss das Mittel in der Praxis – und das heißt: am Menschen – erprobt werden. Im Nachkriegsdeutschland jedoch gibt es keine Schlafkranken. Seine afrikanischen Kolonien hat Deutschland mit dem Krieg verloren, und Großbritannien macht die Einreise in die britischen Kolonien in Afrika von einer Erfolgsmeldung abhängig: Erst

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soll ein Mensch mit Bayer 205 geheilt werden. Achenbach erklärt sich daher bereit, einen Selbstversuch durchzuführen. Um das Heilmittel Germanin zu testen, will er sich selbst über die aus Afrika mitgebrachten Tsetsefliegen infizieren. Unerwartet aber kommt ihm Dr. Hofer zuvor, der Fräulein Meinhardt im Berliner Labor Achenbachs aufsucht und dort vom Plan des Professors erfährt. Der Film nähert sich seinem ersten Höhepunkt. Die von Theo Mackeben komponierte Filmmusik, das ›Tsetsemotiv‹, erklingt. Es wird immer lauter. Als Fräulein Meinhardt das Labor verlässt, betritt Hofer zielstrebig den ›Brutraum‹, verschließt die Tür von innen und nähert sich dem Kasten, in dem die infektiösen Insekten herumschwirren. Das musikalische ›Tsetsemotiv‹ steigert sich bis zum ›Fortissimo‹. »Man sieht, wie Hofers Arme von oben in den Kasten eindringen, tiefer und tiefer, bis zum Ellbogen. Viele Tsetsefliegen lassen sich gierig auf Hofers Hände und Unterarme nieder, saugen sich fest, bleiben sitzen ...«1 Hofer ist mit der Schlafkrankheit infiziert, der erste Höhepunkt des Filmes in großer Dramatik – einer medizinischen wie dramaturgischen Krisis – erreicht. Der Fortgang der propagandistisch-antibritisch aufgeladenen Geschichte ist absehbar: Prof. Achenbach injiziert Germanin, und Hofer gesundet. Daraufhin erklären sich die Briten bereit, die deutschen Ärzte nach Afrika einreisen zu lassen. Unter hohem Einsatz, immer wieder sabotiert durch englische Militärs, kämpft Achenbach dort erfolgreich gegen die Schlafkrankheit. Er rettet Massen an Schwarzen und sogar, mit der letzten Ampulle Germanin, seinen britischen Widersacher, was ihn letztlich das Leben kostet. Am Ende erliegt der deutsche Retter selbst der Schlafkrankheit. Das kolonialrevisionistische Opus2 inszeniert eine national aufgeladene Heilsgeschichte, die Heil beziehungsweise Heilung ebenso auf der gesundheitlichen wie auf der politischen Ebene verspricht. Sie rechtfertigt über den Erfolg der Tropenmedizin die Aufhebung der ›Kolonialschuldlüge‹ und die Wiedereroberung von Kolonien durch Deutschland. Diese Konstruktion, die Legitimation von Kolonialismus über die deutsche Tropenmedizin, wurde bereits während des ersten Weltkriegs ver-

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Drehbuch zu GERMANIN. DIE GESCHICHTE EINER KOLONIALEN TAT von Hans Wolfgang Hillers nach dem Manuskript von Wolfgang M. Kimmich, S. 103. Stiftung Deutsche Kinemathek Berlin, SDK 6704. Zu den kolonialen Implikationen des Films vgl. Stephan Besser: »Germanin. Pharmazeutische Signaturen des deutschen (Post)Kolonialismus«, in: Alexander Honold/Oliver Simons (Hg.): Kolonialismus als Kultur. Literatur, Medien, Wissenschaft in der deutschen Gründerzeit des Fremden, Tübingen, Basel 2002, S. 167-195. 172

»GERMANIN« (1943). EIN SELBSTVERSUCH MIT FLIEGEN

wendet.3 Der NS-Spielfilm GERMANIN präsentiert weniger die Erfindung des Germanins, als vielmehr seine Anwendungsgeschichte, die mit dem Lohn deutscher pharmazeutischer Forschung abschließt: den Massenheilungen. Der Selbstversuch stellt in dieser Erprobungsgeschichte eine strategisch wichtige Schaltstelle dar, die die großflächige Erprobung in Afrika ethisch rechtfertigt. Von dem Knotenpunkt der Trenker-Szene hängt die folgende filmische Handlung ab.

Wahrheit und Fiktion Die propagandistischen Umstände, unter denen der Ufa-Film entstand, provozierten eine Verzerrung der tatsächlichen Entstehungs- und Erprobungsgeschichte von Germanin – erfunden gegen Ende des Ersten Weltkriegs, zunächst Bayer 205 genannt, heute auch als Suramin bezeichnet. So erklärte die Ufa 1942, der Film verfolge »keinerlei wissenschaftliche Ziele und soll[e] auch keine geschichtliche Darstellung medizinischer Entdeckungen und Erfindungen sein, sondern er [werde] aus politischen und propagandistischen Gründen hergestellt.«4 Nicht erst aus heutiger Perspektive also sind eine ›fiktive‹ und eine ›wahre‹ Geschichte des Medikaments Germanin zu unterscheiden. Bereits im Archivmaterial aus der Zeit vor der Herstellung des Spielfilms GERMANIN wird immer wieder explizit die Frage nach den ›wirklichen‹ Fakten behandelt. Durch den Spielfilm wurde eine Debatte auf die Spitze getrieben, die schon länger schwelte und sich in den Akten des Bayerarchivs und des Bundesarchivs deutlich abzeichnete. Von der ›Wahrheit‹ abweichende Erzählungen entstanden in der Geschichte von Germanin durch starke persönliche, wirtschaftliche und vor allem kolonialpolitische – beziehungsweise nach dem Versailler Vertrag von 1919 kolonialrevisionistische – Interessen. Die bereits in der Geschichte geführte Debatte um die ›wahre‹ Geschichte demonstriert, dass die deutsche Tropenmedizin immer schon ein Gegenstand politischer Diskussion war und von dieser nicht zu trennen ist. Die Be- und Ausnutzung der Kolonien ist selbst Teil der ›wahren‹ Geschichte – hatten doch politische Interessen erst die tropenmedizinische For3

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Vgl. dazu Wolfgang U. Eckart: »›Der größte Versuch, den die Einbildungskraft ersinnen kann‹ – Der Krieg als hygienisch-bakteriologisches Laboratorium und Erfahrungsfeld«, in: ders./Christoph Gradmann (Hg.): Die Medizin und der Erste Weltkrieg, Pfaffenweiler 1996, S. 299-319, hier S. 319. Bereits 1918 entstand auch ein deutscher Spielfilm, der das Thema der Tropenmedizin in Afrika zum Thema machte: DER LETZTE AUGENBLICK, Deutsche Kolonialfilm GmbH (Deuko), Deutschland 1918, mit Bruno Ziener, Ursula Stein, Kai Henning und Lupu Pick. Schreiben der Ufa, Herstellungsgruppe Kimmich, Produktionsleiter Lehmann, an Frau Dr. Hedwig Roehl vom 3.6.1942; Bayer-Archiv, 271/2.1 Personalia, Akte Röhl. 173

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schung angeschoben, um die afrikanischen Kolonien vor den Seuchen zu retten und damit als attraktiven Standort zu erhalten. Im NS-Film GERMANIN wurde die ›wahre‹ Geschichte mit fiktiven Elementen durchflochten, zu denen auch der entscheidende Selbstversuch eines deutschen Arztes gehört. Um die komplizierte Verstrickung von Fakten und Fiktion zu illustrieren und die dramaturgische Konstruktion des Selbstversuchs zu erläutern, soll hier, vor der näheren Beschäftigung mit dem filmischen Menschenexperiment, zunächst ein kurzer Abriss der ›wahren‹ Geschichte von Bayer 205 alias Germanin folgen. Ähnlich wie der vorausgegangene NS-Film ROBERT KOCH (1939) von Hans Steinhoff inszenierte der Film Kimmichs das Thema der deutschen Tropenmedizin als nationale wie koloniale Erfolgsgeschichte anhand der Figuren großer deutscher Ärzte. Während der Film ROBERT KOCH, zu dem der Arzt und Schriftsteller Hellmuth Unger wie zu GERMANIN die Romanvorlage lieferte, die Identität der fiktionalen Figur mit dem deutschen Arzt eindeutig benennt, ist diese Identifikation in GERMANIN komplizierter. Die Entdeckung und Erprobung des Heilmittels verteilt sich auf mehrere historische Personen, die weniger bekannt und charismatisch als Robert Koch waren. Dennoch lassen sich die Hauptfiguren in GERMANIN mit realen Persönlichkeiten in Verbindung bringen. Vorbild für die Figur Prof. Achenbachs ist Prof. Friedrich Karl Kleine (1869-1951) vom Preußischen Institut für Infektionskrankheiten Robert Koch in Berlin, der viele Jahre in Afrika die Schlafkrankheit bekämpfte. Anna Meinhardt entspricht der technischen Assistentin Kleines am Institut, Hanna Ockelmann, die später seine Frau wurde. Dr. Hofer kann als eine Mischung aus Kleines langjährigen Mitarbeitern identifiziert werden, Dr. Max Reinhard Taute und Stabsarzt Dr. Walter Fischer, die beide mit Kleine vor Kriegsausbruch in Afrika geforscht hatten. Die Entdeckungs- und Erprobungsgeschichte des Germanins stellt sich im Film als geschickte Fiktionalisierung von Fakten dar. Beim Studium von Nagana, der Schlafkrankheit bei Tieren, hatte der Brite Sir David Bruce (1855-1931) zwischen 1894 und 1897 in Afrika herausgefunden, dass Nagana von der Glossina morsitans, der Tsetsefliege, übertragen wird. Der Erreger der tierischen Variante der Schlafkrankheit wurde nach Bruce als ›Trypanosoma brucei‹ benannt. Den Erreger der menschlichen Schlafkrankheit beschrieb er 1903 als ›Tryponosoma gambiense‹. Robert Koch (1843-1910), der 1906/07 gemeinsam mit Friedrich Karl Kleine in der Kolonie Deutsch-Ostafrika über die menschliche Schlafkrankheit forschte, gelang es, die Erreger zu isolieren. Kleine hielt sich zwischen 1908 und 1914 in Deutsch-Ostafrika auf, um die Schlafkrankheit zu bekämpfen. 1909 konnte er zeigen, dass die Erreger sich erst über

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einige Wochen in der Glossine entwickeln müssen, bevor sie übertragen werden können. Diese Entdeckung brachte ihm Ruhm in der Fachwelt ein. Als Bruce 1913 beobachtete, wie in Njassaland die Schlafkrankheit unter den Menschen ausbrach, fragte er sich, ob ›Trypanosoma brucei‹ ebenfalls den Menschen infizieren würden. So schrieb er im Mai 1913 an den deutschen Kollegen: »My dear Kleine, [...] we do not know if T. brucei can not also infect man. The best way to prove this would be to inject a dozen or so criminals, or allow infected flies to feed on them. This I am afraid cannot be done in Nyasaland.«5

Kleine bestritt, dass ›Trypanosoma brucei‹ auch den Menschen infiziere, und ging auf den Vorschlag, Menschenversuche an ›Verbrechern‹ zu machen, nicht ein. Den Beweis erbrachte der bei ihm weilende deutsche Stabsarzt Dr. Taute in einem ›heroischen Selbstversuch‹. Taute »ließ sich durch Glossina-morsitans-Fliegen stechen, die Trypanosoma brucei beherbergten. Er blieb gesund!« Daraufhin machte er weitere Versuche an Menschen, die zum selben Ergebnis führten: »Er impfte sich und seinen Assistenten Dr. Huber sowie 129 Eingeborene mit Trypanosoma brucei: Keine der Versuchspersonen erkrankte oder hatte in der Folge Trypanosomen im Blut!«6 Nachdem die Infektionswege der Schlafkrankheit geklärt waren, musste ein Heilmittel gefunden werden. Vor dem Krieg verwendeten Koch und Kleine sowie ihre britischen Kollegen hochgiftige Mittel wie Atoxyl, die Arsen und Antimon enthielten. Bei der Suche nach einem ungefährlichen Medikament orientierte sich die Forschung an Paul Ehrlichs Versuchen, aus Farbstoffen künstliche Heilmit5

6

Brief von Sir David Bruce, Scientific Commission of the Royal Society, an Friedrich Karl Kleine vom 3.5.1913; Robert-Koch-Institut Berlin, Archiv, Teilnachlass Friedrich Karl Kleine. Vgl. Herbert Kunert: »Friedrich Karl Kleine«, in: ders.: Friedrich Karl Kleine. Ein deutscher Tropenarzt. Einführung von Herbert Kunert, Hannover 1949, S. 9-23, hier S. 15. Kleine selbst formuliert: »Zudem hatte Taute vergebens versucht, das Trypanosoma brucei auf sich selbst zu übertragen. Er erkrankte nicht.« Friedrich Karl Kleine: Leiter der Schlafkrankheitsbekämpfung in Deutsch-Ostafrika (1908-1914), in: ebd., S. 46-65, hier S. 63. 175

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tel zu entwickeln, die gegen die Erreger von Krankheiten wie Malaria, Schwarzwasserfieber und Schlafkrankheit wirkten. 1911 wechselte Ehrlichs ehemaliger Assistent Wilhelm Roehl zu den Farbenfabriken der Firma Bayer in Elberfeld, wo unter Heinrich Hörlein ein chemotherapeutisches Institut eingerichtet wurde.7 In langen Versuchsreihen experimentierten Röhl, der allerdings im Weltkrieg an die Front einberufen wurde, und die Chemiker Richard Kothe und Oskar Dressel in Elberfeld mit Harnstoffverbindungen. Noch während des Krieges gelangten Kothe und Dressel zum Erfolg. Beim 205. Versuch war die gesuchte Verbindung im Oktober 1916 gefunden8 und erhielt daher den Namen Bayer 205. Die erste Erprobung von Bayer 205 an einem Menschen erfolgte 1920, die erste erfolgreiche Behandlung eines Menschen Mitte 1921 im Hamburger Institut für Schiffs- und Tropenkrankheiten. Ein nach Liverpool eingereister Brite, der sich in Afrika mit der Schlafkrankheit infiziert hatte, konnte in Hamburg geheilt werden. Auf diesen Erfolg wurde das Auswärtige Amt aufmerksam, informiert von Geheimrat Stuhlmann, dem Direktor des Hamburger Weltwirtschaftsarchivs. Bayer 205, so schrieb er sowohl an Reichsaußenminister Walter Simons und Geheimen Regierungsrat Rudolf Asmis im Auswärtigen Amt als auch an Carl Duisberg, den Direktor der Firma Friedrich Bayer, sei »der Schlüssel zum tropischen Afrika« und dieser sei »in deutscher Hand«.9 Duisberg aber lehnte eine vorschnelle Vereinnahmung für koloniale Zwecke – die sowohl ehemalige Kolonialbeamte als auch das Auswärtige Amt forcierten – ab, nicht zuletzt, weil der Versailler Vertrag vorsah, dass 25% jeder erfolgreichen chemischen Produktion

7

8

9

Zu den Einzelheiten der Erfindung und Erprobung von Bayer 205 vgl. Horst-Bernd Dünschede: Tropenmedizinische Forschung bei Bayer, Düsseldorf 1971, Kapitel Germanin, S. 15-54. Dies zumindest bezeugen die Laborjournale. In der Schrift Über die Erfindung des Germanin, des Mittels gegen die Schlafkrankheit aus dem Jahr 1936 jedoch gibt Dressel als Datum der Erfindung den Herbst 1917 an. Vgl. Richtigstellung Dressels von 1936, in: Bayer-Archiv, 166/8, Germanin, Wissenschaftliche Unterlagen ab 1925. Schreiben Stuhlmanns an Herrn Meyer-Gerhard, den Ministerialdirektor für Wiederaufbau, vom 25.4.1921, sowie an Carl Duisberg. Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, R 1001/6055, Kolonial-Zentralverwaltung (beim Reichsministerium für Wiederaufbau), Akten betreffend 205 Bayer, Heilmittel Germanin, April 1921-September 1935, Bl. 1-12. Stuhlmann war ein ehemaliger Kolonialbeamter, das Hamburger Weltwirtschaftsarchiv der Nachfolger des Hamburger Kolonialinstituts. In seinem Schreiben bezog sich Stuhlmann auf ein Manuskript von Hans Zache mit dem Titel Der Schlüssel Afrikas in deutscher Hand, das wenig später im Hamburger Weltwirtschaftsarchiv veröffentlicht wurde. 176

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in Deutschland den Siegermächten zufiel.10 Er schlug vor, das Mittel Bayer 205 etwa ein Jahr lang in Afrika zu testen und es bei Erfolg danach auf den Markt zu bringen. Aus Propagandazwecken regte jedoch Asmis vom Auswärtigen Amt im Juni 1921 an, das Präparat in Germanin umzubenennen. Bayer ließ es zwar sofort unter diesem Namen gesetzlich schützen, verwendete jedoch während der Erprobungsphase weiter die Bezeichnung Bayer 205. Kleine, inzwischen Geheimer Regierungsrat, erklärte sich bereit, die von Bayer finanzierte Afrika-Expedition zu leiten, und konnte sich auf Einladung der britischen Regierung gemeinsam mit Walter Fischer und Hanna Ockelmann im Oktober 1921 nach Rhodesien einschiffen. In der britischen Kolonie führte das Team Versuche mit Bayer 205 an Tieren durch, die jedoch nicht sehr erfolgreich waren. Schlafkranke Menschen musste Fischer erst mühsam suchen, so dass die Expedition Ende 1922 einer Einladung der belgischen Regierung in den Kongo folgte. Hier schließlich konnte der Beweis erbracht werden, dass das Präparat Bayer 205 frisch infizierte Menschen bei konsequenter Fortführung der Therapie hundertprozentig von der Schlafkrankheit heilte. Inzwischen waren diverse medizinische Publikationen über Bayer 205 erschienen, die seine Wirksamkeit bestätigten. Nach der 1923 erfolgreich beendeten Expedition wurde Germanin 1924 der Öffentlichkeit übergeben. Auf der politischen Ebene jedoch verhielt sich Duisberg weiterhin abwartend. Bezüglich der ›Kolonial-Mandate‹ hielt er es zwar für selbstverständlich, »mit allem Nachdruck auf die grossen kulturellen Verdienste« hinzuweisen, »die sich Deutschland durch die Schaffung dieses Mittels erworben hat«, riet aber entschieden davon ab, »dass man auch nur den Versuch macht, Bayer 205 als Druckmittel«11 gegen die Siegermächte zu benutzen. Das Auswärtige Amt dagegen erwiderte diplomatisch: »Als politisches Propagandamittel dürfte der Name ›Germanin‹ weitaus besser wirken, als ›Bayer 205‹. [...] Jeder Farbige, der ›Germanin‹ erhält, muß wissen, daß es ein deutsches Mittel ist.«12

Die Schlafkrankheit im Film In der Folge wurde der Name Germanin in der Öffentlichkeit durchgesetzt und Bayer, nunmehr unter dem Dach der 1925 gegründeten I.G. Farben, produzierte das Mittel im großen Stil. Kleine unternahm weitere 10 Vgl. Protokoll einer Besprechung von Rudolf Asmis, Geheimrat Eltester und Carl Duisberg im Berliner Hotel Adlon am 31.5.1921; Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, R 1001/6055, Bl. 40/41. 11 Schreiben Carl Duisbergs an Geheimrat Eltester vom 8.1.1924; Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, R 1001/6055, Bl. 96/97. 12 Schreiben Geheimrat Eltesters an Duisberg vom 12.1.1924; Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, R 1001/6055, Bl. 98 f. 177

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Reisen in Sachen Schlafkrankheit nach Afrika: 1926 im Rahmen der Internationalen Schlafkrankheitsexpedition des Völkerbundes und 1929/30 im Auftrag der deutschen Notgemeinschaft der Wissenschaft. Auf diese Reise nahm er auch einen Kinematographen mit. Dies war, zum späteren Bedauern der I.G., bei der Expedition von 1921-23 vergessen worden. Damals hatte die Deutsche Lichtbild-Gesellschaft bei Duisberg angefragt, ob Kleine »etwa mit einem Film-Apparat ausgerüstet ist, oder ob er mit irgendeiner Filmfirma ein Abkommen getroffen hat«, und falls nicht, ob er »irgendwie kinematographisch geschult wäre«, so dass man ihm »nachträglich einen Aufnahmeapparat und das erforderliche Quantum von Negativfilmen nach Rhodesien zusenden« könnte. Duisberg musste alles verneinen: Kleine und Fischer hatten lediglich eine Fotokamera dabei, und für die Nachsendung eines Kinematographen war es zu spät.13 In den Jahren 1929/30 aber produzierte Kleine über 30 Minuten Filmmaterial, das Ankunft und Abreise zeigt, Märsche und Fahrten durchs Landesinnere sowie im weitesten Sinne ›typische‹ ethnografische Szenen: Aufnahmen etwa von Fischfang und Ernte sowie von den Missionsschulen und Gottesdiensten. Bezüglich der Schlafkrankheitsbekämpfung filmte Kleine den »Bau eines Laboratoriums am Tanganyika See«, die Infizierung von Tieren durch Tsetsefliegen und ihre Behandlung mit »Antimosan, dem neuen Mittel der I.G. Farbenindustrie«, die reihenweise Untersuchung von ›Eingeborenen‹, die Blutentnahme und die Behandlung Schlafkranker mit Bayer 205 durch subkutane und intravenöse Injektion. Auch eine Aufnahme durch das Mikroskop, »Erreger der Schlafkrankheit im Blut (Trypanosoma gambiense)«, hat Kleine – vermutlich im Nachhinein – hineinmontiert. In seinem Reisefilm jedoch bleibt sie eine Ausnahme. Über die Symptomatologie und Behandlung hinaus zeigt der Arzt das Ergebnis seiner Arbeit: »Mit Bayer 205 geheilte

13 Schreiben der Deutschen Lichtbild-Gesellschaft e.V. an die I.G. Farben vom 11.1.1923, sowie Antwort Duisbergs vom 19.1.1923; Bayer-Archiv, 166/8, Germanin/Bayer 205, Afrika-Expedition. Bei einem Vortrag über diese Expedition am Kolonialen Gedenktag 1924 zeigte Kleine sowohl Lichtbilder als auch kinematografische Aufnahmen. Um welche Filme es sich dabei handelte, ist nicht bekannt. Vgl. gedruckte Einladungskarte zum Kolonialen Gedenktag am 8.5.1924 in Köln zu einem Vortrag von Prof. Dr. Kleine: Der deutsche Kampf gegen die Schlafkrankheit mit ›Bayer 205‹. Erfahrung und Erlebnisse auf meiner letzten Schlafkrankheits-Expedition 1922/23 im tropischen Mittel-Afrika. Mit Lichtbildern und kinematographischen Aufnahmen; Bayer-Archiv, 166/8, Germanin/Bayer 205, AfrikaExpedition. 178

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Schlafkranke«, die auf sein Kommando losrennen, ohne noch irgendwelche motorischen Störungen aufzuweisen.14 Als damalige Hauptfigur in der deutschen Tropenmedizin verwendete Kleine, entgegen dem Bestreben des Auswärtigen Amtes, immer noch den Namen Bayer 205. Nach seiner Rückkehr aus Afrika 1931 erstattete er der I.G. Farben Bericht und riet, den Namen Germanin, gegen den er »schon immer war«, in Zukunft in der »Propaganda« des Unternehmens (»Etiketten, Drucksachen etc.«) nicht mehr zu verwenden. »In ganz Afrika heisse das Präparat ›Bayer 205‹ und nicht Germanin.«15 Wenig später präsentierte Kleine in Berlin seinen »neuen Film, in dem Bayer 205 wie Antimosan erwähnt werden«, und lud Prof. Hörlein, inzwischen Vorstandsmitglied der I.G. Farben vormals Friedrich Bayer, mit dem Hinweis ein: »Mehrere Bilder aus dem alten Ihnen vielleicht bekannten Film, sind in dem neuen aufgenommen.«16 Inzwischen war die I.G. selbst dazu übergegangen, sich mit dem ›Propaganda‹-Medium des Films zu befassen. Waren frühere Filme in der Filmstelle der ebenfalls unter dem Dach der I.G. agierenden Firma Hoechst produziert worden, bearbeitete ab 1931 eine eigene »werbewissenschaftliche Unterabteilung« der Pharmaabteilung in Leverkusen Filmmaterial. 1933 entstand eine selbständige »Filmzentrale«, die außer wissenschaftlichen auch populäre Filme herstellte und in Leverkusen als »Filmstelle« der »Zentralabteilung für Populäre Propaganda« (Zepro) angegliedert wurde. Zwischen 1932 und 1938 erstellte sie zahlreiche Filme im eigenen Werk oder ließ sie durch externe Gesellschaften wie die Ufa produzieren.17 1931 bearbeitete Bayer erstmalig Filmmaterial zur Schlafkrankheit, das Prof. Johannes Zschucke auf der westafrikanischen, spanisch regierten Insel Fernando Póo aufgenommen hatte. Es wurde unter dem Titel DIE SCHLAFKRANKHEIT DES MENSCHEN mit Zwischentiteln versehen und stellt sich als ein klassischer, im ethnografischen Feld aufgenommener Film dar, der in vielem Kleines Aufnahmen ähnelt. Er zeigt ein afrikanisches Dorf und das Lagerleben der Ärzte sowie die Behandlung der Schlafkranken in einem Lager bei Sta. Isabel. Im Besonderen führt dieser Film die Symptomatologie der Schlafkrankheit vor: 14 Die Original-Filmrollen sowie eine durch Sebastian Dieckmann realisierte Digitalisierung des Materials befinden sich im Archiv des Robert-KochInstituts in Berlin. 15 Bayer-Werke, Bericht Nr. 13, Leverkusen, 5.2.1931, hier S. 6; BayerArchiv, 166/8, Germanin/Bayer 205, Afrika-Expedition. 16 Schreiben F.K. Kleines an Direktor Hörlein, I.G. Farben, vom 12.3.1931; Bayer-Archiv, 166/8, Bayer 205, Afrika-Expedition. 17 Vgl. Hermann Weintraud: Chronologische Darstellung der Entwicklung der Bayer-Filmstelle; Bayer-Archiv: 1/6.6.31, Filmstelle, S. 10. 179

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»1. Stadium: Fieber, Drüsenschwellung, Drüsenpunktion. Übergang zum 2. Stadium: Castellani’sches Syndrom (Zungentremor) [...], Ausgeprägtes 2. Stadium: Schwere Ataxie der unteren Extremität, Erlöschen der Knie-HackenReflexe. [...] Typische Geisteskrankheit [...] Endzustände: Völliger Stupor bei relativ gutem Allgemeinzustand [...]«18

Der Film endet mit der Therapie, der »Massenbehandlung mit Bayer 205 [Germanin]«. Die erkrankten Schwarzen stehen in einer langen Reihe vor einem Tisch an, auf den sie einer nach dem anderen ihren Unterarm legen. Drei weiße Ärzte in Kitteln führen die Injektionen durch. Der Andrang der Patienten mag ein Vor-Bild für den Spielfilm GERMANIN gewesen sein, in dem die Bilder des massenhaften Zustroms von Schwarzen zur Behandlung ins Monumentale – eine Art Sternmarsch in der Steppe – gesteigert werden. Dem für die interne Vorführung bestimmten Bayer-Film von 1931 folgte vor 1935 ein weiterer so genannter »wissenschaftlicher Demonstrationsfilm« unter dem Titel GERMANIN, ein Stummfilm mit deutschen, englischen und spanischen Zwischentiteln. Aus der schriftlichen Zusammenfassung des heute nicht erhaltenen Films erschließt sich, dass er hauptsächlich die Erreger der Schlafkrankheit präsentierte. Der erste Teil des Films zeigt das »chemotherapeutische Laboratorium« der I.G. Farben in Elberfeld: »Käfige mit Kanarienvögeln und Gläser mit weißen Mäusen«19 – die Stätte des Wirkens nebst den Versuchstieren, die Kulisse und Ausrüstung für das Experiment. Auf dieses Panorama der Bedingungen folgt ein analytischer Teil mit Aufnahmen durch das Mikroskop, in dem sich das Experiment im Beweis einlöst. Damals so genannte ›Mikrofilme‹ oder Mikroaufnahmen zeigen die Trypanosomen als zappelnde Würmchen im Blut bereits erkrankter Tiere. In den nächsten Einstellungen werden gesunde Tiere mit den Erregern geimpft. Die folgenden Mikroaufnahmen zeigen wiederum Trypanosomen im Blut »und liefern den Beweis für eine erfolgreiche Injektion«. Einigen Tieren wird Bayer 205 verabreicht, woraufhin sie gesunden. Abschließend demonstrieren nochmals Mikroaufnahmen ›den Erfolg‹ der Behandlung: Das Blut ist frei von Trypanosomen. Der Film GERMANIN scheint die analytische und labortechnische Ergänzung zum Bayer-Demonstrationsfilm von 1931 zu bilden. Zeigte das erste Werk vor allem die Symptomatologie und die Behandlungsmethoden von pragmatischer Seite, konzentrierte sich der zweite Schlaf18 Zwischentitel zum Film SCHLAFKRANKHEIT DES MENSCHEN (1931). 19 Beschreibung des wissenschaftlichen Demonstrationsfilms Nr. 31, GERMANIN (Länge normal 165 m, nicht erhalten), nach: Dr. Schamoni: Bayer-Filme. Aufstellung Jahreswende 1935/36; Bayer-Archiv: 92/1.2. 180

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krankheitsfilm auf die Diagnostik und den Blick durch das Mikroskop auf die Erreger. Auch technisch bedeutete dies eine Innovation, denn erst 1929 hatte die Filmstelle Hoechst erste Aufnahmen durch ein Mikroskop herstellen können.20 In dem 1934 produzierten Ufa-Kulturfilm MALARIA etwa wurde für die Darstellung der Erreger wieder auf Trickaufnahmen zurückgegriffen. Dramaturgisch handelt es sich bei der Bayer-Produktion GERMANIN vom Beginn der 1930er Jahre um einen Beweis- und Erfolgsfilm. Für den Betrachter war allerdings nicht nachvollziehbar, ob das unter dem Mikroskop sichtbare Blut tatsächlich vom zuvor gezeigten Tier stammte – dies hätte nur ungeschnittenes Filmmaterial leisten können. Das Format des diagnostischen Beweisfilms nahm auch die Ufa auf, die zu Beginn der 1930er Jahre einen Kulturfilm mit dem Titel DIE SCHLAF21 KRANKHEIT UND DEREN ERREGER herstellte.

Die bisher genannten Dokumentarfilme mit mehr oder weniger stark ausgeprägten wissenschaftlichen Ansprüchen zeigten, ganz im Genre eines medizinischen Films, die Erreger nebst Entstehungskontext und die Symptome der Schlafkrankheit sowie ihre Therapie mit Bayer 205 und Therapieerfolge. 1937 trat Germanin (vielleicht zum ersten Mal) in einem Film mit fiktiven Szenen auf. Der Regisseur Walter Ruttmann,22 der im Expressionismus und vor allem über den Film SINFONIE EINER GROßSTADT (1927) bekannt geworden war und von 1935 bis zu seinem Tod im Jahr 1941 als Angestellter in der Werbefilm-AG der Ufa arbeitete, erhielt 20 Vgl. Hermann Weintraud: Chronologische Darstellung der Entwicklung der Bayer-Filmstelle; Bayer-Archiv: 1/6.6.31, Filmstelle, S. 5. 21 1937 durfte dieser Film nicht mehr vorgeführt werden. Vgl. Gerd Albrecht: »Medizin und Mediziner im Film des Dritten Reiches«, in: Udo Benzenhöfer/Wolfgang U. Eckart (Hg.): Medizin im Spielfilm des Nationalsozialismus, Tecklenburg 1990, S. 4-21, hier S. 14. Bereits 1921 hatte die DeuligFilm GmbH eine kurze filmische Dokumentation unter dem Titel DIE SCHLAFKRANKHEIT UND DEREN ERREGER produziert (Länge: 123 m, Format 35 mm, Zensur Nr. B 01983 vom 22.4.1921). 22 Zu Ruttmann vgl. Jeanpaul Goergen: Walter Ruttmann. Eine Dokumentation, Berlin 1989. 181

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den Auftrag, einen so genannten ›Wertwerbefilm‹ für Bayer herzustellen. 1937 entstand so auf dem Gelände der Bayer-Werke der Tonfilm IM ZEI23 CHEN DES VERTRAUENS, der weniger für ein spezifisches Produkt warb, als für die Forschungs- und Therapieergebnisse aller Bayer-Produkte und die perfekten Dienstleistungen der Firma. Der Film kombiniert von Schauspielern dargestellte Szenen von Forschern, Kranken und Ärzten mit ästhetischen Aufnahmen der Produktionsvorgänge im Werk. Nachdem die Arbeiter auf den ›Krieg‹ gegen eine ›Welt von Feinden‹ – Krankheiten – eingeschworen worden sind, ergeht sich die Kamera an den Details der Produktion, einer regelrechten Sinfonie der Fabrik. Anhand der Vorbereitung einer Tropenexpedition wird eine Konferenz der führenden Figuren bei Bayer vor einer Weltkarte (mit konzentrisch vom Bayerkreuz in Leverkusen ausstrahlenden Schmerzwellen) inszeniert, in der alle wichtigen Arzneimittel der Firma besprochen werden. Die zwischengeschalteten Szenen mit leidenden Patienten sind stark ästhetisiert. Die Kranken zeigen keine Symptome außer Schwäche. Ihre Therapie nimmt zwar den wichtigsten Platz ein, der medizinische Teil jedoch tritt hinter dem vertrauensvollen Auftreten der Ärzte zurück. Die Injektionen werden nur verdeckt gezeigt. Am Ende des vor allem für die Auslandswerbung bestimmten Films steht eine Szenenfolge, die die weltweite Aktivität der Firma Bayer verdeutlichen soll: »Ein Neger an der Signaltrommel verbreitet die Nachricht: Schlafkrankheit am Kilimandscharo. Höchste Gefahr! Der Morse-Apparat gibt die Meldung weiter an das Werk in Leverkusen. In kurzer Frist werden die notwendigen Packungen ›Bayer 205‹ verladen.«24

Eine Tricksequenz beschließt den Film: Das Bayer-Flugzeug, das erste eigene Flugzeug eines deutschen Unternehmens, »fliegt über die Pyramiden Ägyptens, über die Götterbilder Asiens, über den ganzen Erdball«, um Hilfe – Germanin alias Bayer 205 – zu bringen. Hoffnungsvoll schaut eine schwarze Frau mit Kind, stellvertretend für die bedürftige ›Welt‹, nach oben. Die Fiktion ist ins Dokumentarische eingetreten. Schwarze fungieren nicht, wie in den Dokumentarfilmen von Bayer und Kleine, als Studienobjekte, die Symptome aufführen und therapiert werden, sondern als 23 Von dem Film IM ZEICHEN DES VERTRAUENS (Länge 320m) gibt es heute nur noch eine Kopie im Bundesarchiv-Filmarchiv (M 21318, VHS-Kassette B 58896). Eine verkürzte Fassung produzierte die Ufa 1938 als Kulturfilm unter dem Titel IM DIENSTE DER MENSCHHEIT, von dem auch eine englisch synchronisierte Fassung hergestellt wurde. 24 Broschüre zu IM ZEICHEN DES VERTRAUENS (1937, Regie: Walter Ruttmann); Bayer-Archiv: 1/6.6.31, Filmstelle. 182

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Vertreter einer fremden Kultur und als Opfer, die keine Symptome zeigen, sondern auf die Hilfe durch deutsche Medikamente hoffen, die vom Himmel kommt. Die Schwarzen sind nicht erkrankt, sondern stellen Emotionen – Vertrauen und Hoffnung – aus. Wie die weißen Patienten, die Zahnmedizin oder Malariamedikamente von Bayer brauchen, sind sie Schauspieler, zwar namenlos, aber mit intakten Körpern.

Die Entstehung des Spielfilms GERMANIN Ebenfalls im Jahr 1938 erschien auf der deutschen Bühne der Kultur das Buch Germanin. Geschichte einer deutschen Großstadt von Hellmuth Unger.25 Seine Beschreibung der Entdeckung und Benennung von Germanin rief sofort Gegenreaktionen in Politik und Wissenschaft hervor: Rudolf Asmis, inzwischen Deutscher Generalkonsul, korrigierte in der Presse die Geschichte der Namensgebung.26 Als im Januarheft 1939 der Werkzeitung der I.G., Von Werk zu Werk, eine lobende Rezension von Ungers Buch mit einem Leseauszug erschien, meldete sich auch Oskar Dressel intern bei der I.G. zu Wort. Er verlangte eine öffentliche Richtigstellung des Erfindungsdatums und der beteiligten Personen, worauf er jedoch letztlich verzichtete.27 Bereits 1939 äußerte Unger gegenüber der I.G. die Absicht, »im Auftrage der Ufa ein Film-Manuskript zum Thema Germanin zu schreiben«. Er sollte daraufhin Einblick in Dressels Schrift Über die Erfindung des Germanin, des Mittels gegen die Schlafkrankheit erhalten, jedoch nur so weit, als es nach Ansicht der I.G. »zum Verständnis der Erfindungsgeschichte des Germanin notwendig« erschien.28

25 Hellmuth Unger: Germanin. Geschichte einer deutschen Großstadt, Berlin: Verlag der deutschen Ärzteschaft 1938. Zu Unger vgl. u.a.: Claudia Sybille Kiessling: Dr. med. Hellmuth Unger (1891-1953). Dichterarzt und ärztlicher Pressepolitiker in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus (= Abhandlungen zur Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften, Heft 89), Husum 1999. 26 Rudolf Asmis: »Warum Germanin?«, in: Deutsche Allgemeine Zeitung, Nr. 45/46 vom 28.1.1939; sowie später, nachdem er alle Akten noch einmal studierte hatte, Dr. Dr. Rudolf Asmis: »Das Germanin und die hohe Politik. Wie der Name für eine Arznei gefunden wurde«, in: Velhagen & Klasings Monatshefte, Februarheft 1941, S. 141-144. 27 Vgl. Richtigstellung Dressels von 1936, sowie Schreiben Dressels an die Direktion der I.G. Farbenindustrie vom 3.2.1939; beides in: Bayer-Archiv, 166/8, Germanin, Wissenschaftliche Unterlagen ab 1925. Er betont hier auch, dass sowohl Dr. Ossenbeck als auch Dr. Wilhelm Roehl weder an den Versuchen beteiligt waren noch darüber korrespondierten. Vgl. außerdem Schreiben seiner Tochter Jutta Dressel an die I.G. vom 9.2.1939; BayerArchiv, 271/2.1. Personalia, Akte Dressel. 28 Vgl. Akten-Notiz über den Besuch des Herrn Dr. Dressel, datiert 4.3.1939; Bayer-Archiv, 271/2.1. Personalia, Akte Dressel. 183

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Auch wenn Unger die Originaldokumente eingesehen hatte, spiegelte sich letztlich nichts davon in Kimmichs Manuskript. Im Gegenteil: Das im Endeffekt nicht von Unger verfasste Drehbuch wurde mit weiteren Informationen versehen, die sich wiederum nicht in der Romanvorlage fanden, jedoch zum Teil Abwandlungen historischer Begebenheiten darstellen – darunter auch der Selbstversuch. Zu vermuten ist daher, dass Kimmich sich Zugang zu Berichten und Unterlagen Kleines verschafft hatte.29 Tatsächlich betrieb der Regisseur viel Aufwand, um größtmögliche Authentizität bei den medizinischen wie afrikanischen Szenen herzustellen. Da er die Außenaufnahmen aufgrund der Kriegssituation nicht in Afrika drehen konnte, griff er auf das verbündete Italien zurück. Im Oktober 1941 meldete Kimmich dem Vorstand der Ufa, er könne die Dreharbeiten in Rom durchführen.30 Des Weiteren bemühte er sich, schwarze Komparsen zu engagieren. Nachdem jedoch bei der kolonialrevisionistischen Produktion CARL PETERS (1941) eine Reihe farbiger Komparsen gegen die Bavaria Film geklagt hatte31 und das öffentliche Auftreten schwarzer Deutscher weitgehend verboten worden war, musste Kimmich auf andere Strategien zurückgreifen. Er erreichte über Goebbels, Reichsleiter Martin Bormann und eine spezielle ›Führergenehmigung‹, dass 300 im Straflager Luckenwalde bei Berlin verbliebene kriegsgefangene Schwarze vor ihrem Abtransport nach Südfrankreich für einige Wochen zu seinen Dreharbeiten nach Italien geschickt wurden.32 Die Rolle des ›Negerkönigs‹ Wapunga übernahm der Schauspieler Louis Brody, der als einer der ganz wenigen Schwarzen in der Nazizeit in Deutschland blieb, arbeiten konnte und überlebte.33 Die weiblichen Komparsinnen dagegen wurden laut der Autobiografie Luis Trenkers aus dem deutsch besetzten 29 Wolfgang U. Eckart: »›Germanin‹. Fiktion und Wirklichkeit in einem nationalsozialistischen Propagandafilm«, in: Benzenhöfer/Eckart (Hg.) (Anm. 21): Medizin im Spielfilm des Nationalsozialismus, S. 69-82, hier S. 77 f. 30 Notiz in der Vorstandssitzung der Ufa vom 8.10.1941; Bundesarchiv Berlin, R 109/I/1034b, Ufa-Vorstandsprotokolle ab 15.1.1942. 31 Vgl. die Abrechnungsakten zum Film CARL PETERS durch die Bavaria-Film aus dem Jahr 1941; Bundesarchiv Berlin, R 109/I/2725. 32 Vgl. Vorlage für Reichsleiter Bormann vom 13.8.1941 sowie zugehörige Schreiben; Bundesarchiv Berlin, NS 18/349, Reichspropagandaleiter, Bl. 716. Etwa 80.000 afrikanische Kriegsgefangene waren bis zum Januar 1941 bereits nach Bordeaux abgeschoben worden, da auf Hitlers Befehl keine Schwarzen auf deutschem Boden bleiben sollten. Lediglich 500 Schwarze waren zu diesem Zeitpunkt noch für »tropenmedizinische Studienzwecke« im Stalag Luckenwalde interniert. Vgl. Ernst Klee: Auschwitz, die NSMedizin und ihre Opfer, Frankfurt/Main 1997, S. 256 f. 33 Zu Brody vgl. die Arbeiten von Tobias Nagl u.a.: »Von Kamerun nach Babelsberg – Louis Brody und die schwarze Präsenz im deutschsprachigen Kino vor 1945«, in: Ulrich van der Heyden/Joachim Zeller (Hg.): Kolonialmetropole Berlin. Eine Spurensuche, Berlin 2002, S. 220-225. 184

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Paris geholt.34 Über die Außenaufnahmen heißt es, sie hätten »im Süden«35 stattgefunden, wahrscheinlich also in Kalabrien.

Kimmich jedoch bezog sich nicht nur auf schriftliche und bildliche Informationen zu Germanin, sondern verschaffte sich einen Gewährsmann. Luis Trenker schildert, dass Kleine, der eigentlich in Afrika lebte, 1939 nach Berlin kam und infolge der Kriegssituation nicht mehr ausreisen konnte. »In seiner Berliner kleinen Zweizimmerwohnung spürten ihn die Dramaturgen des Propagandaministeriums auf und schickten ihn als Fachberater zu Kimmich nach Rom. Aber schon nach ein paar Tagen kam er zu mir, um mir seine sachlichen Sorgen vorzutragen. ›Herr Trenker, das ist ja ungeheuerlich; was in diesem Drehbuch steht, ist ja alles nicht wahr. Die Engländer haben uns doch immer und überall geholfen und nicht unsere Arbeit erschwert oder gar bekämpft! Ich weiß nicht, worin meine Beratung bestehen soll; es ist ja alles nicht wahr, was im Drehbuch steht!‹«36

Kleine wurde im Film nicht nur in der Figur des Achenbach dargestellt, sondern zusätzlich – als Arzt und Experte für Afrika – bei der Produktion 34 Luis Trenker: Alles ist gut gegangen. Geschichten aus meinem Leben [1965], Gütersloh 1972, S. 422-424. 35 Wolfgang M. Kimmich: »Germanin entstand im Süden«, in: Germanin. Ufa Bild- und Filminformationen, Berlin o.J., S. 10. 36 Trenker: Alles ist gut gegangen (Anm. 34), S. 420. 185

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in Italien bezüglich historischer und medizinischer Details befragt. So diente er auch der Witwe Roehls als Ansprechpartner, die sich 1942, als die Dreharbeiten bereits im Gange waren, beschwerte, dass ihr verstorbener Mann in der Produktion nicht erwähnt würde. Kleine antwortete diplomatisch: »Ich selbst habe mit dem Film nur insofern etwas zu tun, als ich über technisch medizinische Angelegenheiten (Art der Blutentnahme, Injektionen usw.) und über Afrikaechtheit befragt wurde. Ob man meine Ratschläge berücksichtigt, hängt von Faktoren ab, auf die ich keinen Einfluss besitze.«37

Ebenso kommentierte Prof. Hörlein von der I.G. Farben: »Hinzuzufügen brauche ich nur, dass auch wir mit dem Film nicht das mindeste zu tun haben.«38 Kleine schien bereits bei den Vorgesprächen Böses geahnt zu haben, denn wie er Frau Roehl mitteilte, hatte er sich von der Ufa schriftlich zusichern lassen, dass sein Name nirgendwo im Zusammenhang mit dem Spielfilm erscheinen würde. Seine Ahnung bewahrheitete sich. Er diente als Gewährsfigur für Inhalte, über die letztlich Kimmich bestimmte. Sogar ein (wahrscheinlich stark zusammengefasster) Text von Kleine wurde in der Broschüre zum Film GERMANIN abgedruckt: »Die ersten praktischen Versuche mit ›Germanin‹ in Afrika«.39 Auch Luis Trenkers Erwartungen an die Produktion lösten sich nicht ein. Zunächst hatte er mit der Ufa einen Vertrag ausgehandelt, nach dem er sowohl zur Mitarbeit am Drehbuch zu dem Film Bayer 205 verpflichtet wurde, als auch als Hauptdarsteller im Film fungierte.40 Nach mehrmaligem Umdisponieren jedoch kam es anders. Inzwischen kritisch von den NS-Behörden beäugt, wurde Trenker auf die Rolle des Abenteurers reduziert, die Achenbach alias Petersen alias Kleine den Vortritt ließ. Dennoch übernahm seine Figur, Hofer, die Rolle des Beweises, des he37 Schreiben Friedrich Karl Kleines an Frau Dr. Hedwig Roehl vom 7.5.1942; Bayer-Archiv, 271/2.1 Personalia, Akte Röhl. 38 Schreiben von Prof. Hörlein an Frau Dr. Hedwig Roehl vom 23.7.1942; ebd. 39 Friedrich K. Kleine: »Die ersten praktischen Versuche mit ›Germanin‹ in Afrika«, in: Germanin. Ufa Bild- und Filminformationen, Berlin o.J., S. 78. 40 Vertragsangebot Luis Trenkers an die Ufa vom 26.1.1942; Faksimile der heute im Bundesarchiv Berlin befindlichen Akte in: Florian Leimgruber (Hg.), Luis Trenker, Regisseur und Schriftsteller. Die Personalakte Trenker im Berlin Document Center, Bozen 1994. Diesen Bedingungen entspricht auch ein Ankündigungsplakat, das Trenker vor einer Vision des afrikanischen Kontinents zeigt. Vgl. Plakat zu KAMPF UM GERMANIN (Drehbuch: Hans Sassmann, Herstellungsgruppe Kimmich), Stiftung Deutsche Kinemathek Berlin, Schriftgutarchiv. 186

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roischen Selbstversuchs, die den Forscher-Arzt für die wissenschaftliche Beobachtung freistellt.

Der Selbstversuch Dem Menschenversuch gehen im Rahmen des Spielfilms GERMANIN zwei Inszenierungen des Tierversuchs voraus. Im afrikanischen Urwald hält Achenbach Versuchstiere in Käfigen, Labortiere, die gleichzeitig als pars pro toto für Afrika stehen. Die Aufnahmen von seinem Berliner Labor, in dem er mit weißen Mäusen experimentiert, erinnern an die BayerDokumentation GERMANIN vom Beginn der 1930er Jahre. An den ersten medizinischen Versuch von Germanin am Menschen im Spielfilm koppelte sich außerdem ein realer Tierversuch bei den Dreharbeiten. Nach Trenkers Bericht wurde bei einem Spezialgeschäft in Berlin eine Kiste mit einigen Tausend lebender Fliegen bestellt. »Wirklich wurde eine solche Brut auf dem Flughafen Tempelhof verladen, die dann wenige Stunden später in der römischen Filmstadt Cinecittà eintraf. Aber die Fliegen waren ausnahmslos tot.«41 Dasselbe wiederholte sich beim zweiten Versuch. Die gesamte Filmbelegschaft in Rom Fliegen fangen zu lassen, erwies sich als unrentabel. Wieder musste Kleine als wissenschaftlicher Experte fungieren. »Der lachte sehr, als er von der Sache hörte, und meinte: ›Kinder, die Fliegen haben ein viel zarteres Gehirn als ihr. Denen platzen die Blutgefäße in Höhen von über dreitausend Meter. Keine Fliege wird den Transport im Flugzeug überstehen. Ihr müsst euch die Dinger mit der Bahn kommen lassen.‹ So geschah es, und nach drei Tagen konnte die Szene gedreht werden, in der ich, alias Doktor Hofer, von einer wimmelnden Brut ›Tsetsefliegen‹ mit der Schlafkrankheit infiziert und durch einige Injektionen mit ›Bayer 205‹ nach heftigem Fieber wieder geheilt wurde.«42

Der Selbstversuch, den Dr. Hofer schließlich im Spielfilm durchführt, unterscheidet sich in mehrfacher Hinsicht von den vorigen filmischen Verarbeitungen der Anwendung von Bayer 205. Die dokumentarischen Filme von Kleine und Zschucke zeigen Injektionen an Tieren und schlafkranken Schwarzen. In GERMANIN von 1942/43 ist das allererste Versuchsobjekt für die Injektion ein Weißer. Durch diese Individualisierung wird – deutlicher als in den Dokumentarszenen – die allgemein für die Medizin valente Frage aufgeworfen, ob beziehungsweise ab wann und unter welchen Bedingungen die Erprobung eines neuen Medikaments an Menschen ein Menschenversuch 41 Trenker: Alles ist gut gegangen, (Anm. 34), S. 421 f. 42 Vgl. ebd. 187

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ist. Daraus folgt die moralische Frage, ob, an wem und unter welchen Bedingungen ein solches Experiment durchgeführt werden muss, kann oder darf. Da dem Arzt keine Erkrankten für das Experiment zur Verfügung stehen, liegt die Idee nahe, das Mittel an sich selbst auszuprobieren. Damit vermeidet er einerseits die ethisch-moralische Problematik des Menschenversuchs an anderen. Der medizinische Selbstversuch dagegen ist moralisch rechtfertigbar – etwa mit dem Argument, dass er »aus dem Verantwortungsbewusstsein des Arztes erfolgt«.43 Andererseits versichert sich der Arzt zugleich über das Therapeutikum am eigenen Leib. Strukturell fallen bei einem solchen Selbstversuch Subjekt und Objekt zusammen. Der Arzt wird zu seinem eigenen Studienobjekt, an dem er Reaktionen beobachtet und dokumentiert, sofern er dazu (noch) in der Lage ist.

Wie an der Figur Achenbachs überdeutlich wird, ergeben sich daraus jedoch neue Probleme: ein ethisches und ein strukturelles. Erstens ist auch der Menschenversuch an sich selbst prekär – er steht rechtlich ähnlich im Halbdunkel wie der Selbstmord und verstößt gegen den hippokratischen Eid. Zweitens hat er gravierende strukturelle Folgen. Sollte das Therapeutikum nicht wirken und der Arzt unheilbar krank bleiben beziehungsweise werden oder gar sterben, ist er nicht nur als Individuum, sondern auch als Forscher ausradiert. Sein Wissen mag zwar in Aufzeichnungen niedergelegt sein, seine Erfahrung jedoch würde zumindest teilweise für die Forschung ungenützt verlöschen. Das Ergebnis aller43 Vgl. Bernd Karger-Decker: »Ärztliche Selbstversuche heute noch sinnvoll?«, in: ders.: Ärzte im Selbstversuch. Ein Kapitel heroischer Medizin, Leipzig 1965, S. 307-311, hier S. 307. 188

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dings, ob tödlich oder nicht, würde die Medizin bereichern. So sind die Selbstversuche von Ärzten durch den Verlauf der Historie – etwa John Hunters Experimente mit Trippergift, William T.G. Mortons Versuche mit Chloroform44 oder, im Kontext von Bayer, die wahrscheinlichen Selbstversuche Adolf Eichengrüns mit Aspirin und die Einnahme von Sulfonamiden durch Gerhard Domagk im Jahr 1945 – jeweils doppelt heroische Taten: Die Mediziner riskieren nicht nur das eigene Leben, sondern auch den Fortgang der Forschung. In der durch den NS-Film GERMANIN inszenierten Erfolgsgeschichte verschränken sich somit verschiedene Ebenen des Prekären in einer ungebrochen heroischen Tat. Statt eines Menschenversuchs an einem infizierten Schwarzen wird ein Experiment an einem gesunden Weißen im Selbstversuch durchgeführt. Dieses Menschenexperiment zeichnet sich im Wesentlichen durch drei Besonderheiten aus. 1. Dem Experiment mit dem Therapeutikum muss die künstliche Produktion der Krankheit vorgeschaltet werden. In der Fiktion geht der Selbsttherapie eine Selbstinfektion voraus. Zwei Momente der Injektion – des Gifts und des Gegengifts – erhöhen die Spannung und das Opfer. Die historisch ›wahre‹ Dramaturgie des Selbstversuchs funktioniert noch anders: Taute nimmt 1913 eine potentielle Selbstinfektion mit ›Trypanosoma brucei‹ vor, die jedoch realiter nicht erfolgt, da es sich um den ›falschen‹ Erreger handelt. 2. Achenbach sieht sich zu dem Selbstversuch weniger moralischethisch als politisch verpflichtet, da ihm ›die Engländer‹ den Zugang nach Afrika und damit zu bereits kranken Versuchsobjekten verwehren. Auch der Einwurf von Geheimrat Wißberg (Carl Duisberg, dargestellt von Rudolf Blümner) – »Das Bayerkreuz gilt in der ganzen Welt als ein Zeichen des Vertrauens!«, ein deutlicher bildlicher wie rhetorischer Bezug auf den Ruttmann-Film IM ZEICHEN DES VERTRAUENS – bringt den britischen Verhandlungspartner nicht davon ab, einen Menschenversuch zu verlangen. Achenbach wird also (kolonial-)politisch gezwungen, für seine Mission der Heilung potentiell ein Menschenopfer zu erbringen. Allerdings müsste an dieser Stelle im Film weder zwingend ein weißer Mensch geopfert werden noch ein Selbstexperiment erfolgen – ebenso wäre es denkbar und innerhalb der Rechtslage des NS-Staates möglich gewesen, den Versuch etwa an einem ausländischen Kriegsgefangenen durchzuführen. Dass dennoch ein gesunder weißer Deutscher infiziert wird, unterstreicht die Größe der deutschen Forscher. Sie erscheinen selbstlos und ethisch-moralisch makellos, indem sie sich potentiell selbst für die nationale Angelegenheit opfern. Da der erste Versuch mit Germanin jedoch zum Tod führen kann, tritt an Achenbachs Stelle als erstes 44 Vgl. ebd. 189

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Versuchsobjekt Hofer. Achenbachs Rolle wird zum Teil auf Hofers Figur übertragen. Er fungiert als »Christus medicus«, als aufopferungsvolle Arztgestalt, die fest an ihre Forschungsergebnisse glaubt und auf Drängen der Ungläubigen sein Leben aufs Spiel setzen muss. Der erste Versuch mit Germanin darf im Spielfilm allein deshalb nicht schief gehen, weil dann die Geschichte zu Ende wäre. Durch die erfolgreiche Heilung Hofers jedoch kann sie sich fortsetzen und eröffnet der Figur Achenbachs eine zweite Möglichkeit, ihre Heldenhaftigkeit unter Beweis zu stellen. Nach dem medizinischen Erfolg erfährt die Rolle des »Christus medicus«45 gegen Ende des Spielfilms eine pompöse Überhöhung. Achenbach steht mit vorgestreckten Armen und ruft in die Steppe, aus der Tausende Schwarze herbeiströmen: „Ihr braucht keine Angst zu haben! Ich werd euch heilen!“ Wenig später opfert er die letzte verbliebene Ampulle Germanin, um den erkrankten britischen Colonel, seinen Widersacher, zu retten. Inzwischen ist er bereits selbst infiziert – und stirbt, weil der Nachschub an Medikamenten nicht rechtzeitig kommt. Seine Mission jedoch ist erfüllt, sodass Achenbachs Selbstopfer nun den Fortgang der Heilsgeschichte nicht mehr bedroht, sondern sie lediglich durch ein patriotisches Selbstopfer pathetisch krönt. Diese Wendung erscheint wie eine kolonialpolitische Variante der Dolchstoßlegende: Achenbach bleibt im Felde der Medizin unbesiegt und erliegt nur der mangelnden Versorgung. Sein Tod und sein anschließend über den Wassern schwebendes Antlitz verkörpern den Gegenbeweis zur ›Kolonialschuldlüge‹. Auch deshalb galt der Film GERMANIN im Dritten Reich als »staatspolitisch und künstlerisch wertvoll« und wurde »zur Vorführung am Karfreitag, am Bußtag und am Heldengedenktag« empfohlen.46 3. Der Selbstversuch wird durch den Spielfilm aufgezeichnet – während sich die filmische Dokumentation eines Selbstversuchs in der Realität sowohl als ethisches und wie auch als strukturelles Problem darstellt. Ethisch gesehen bewegen sich Selbstversuche am Rande der Legalität, weshalb ein mediales Zeugnis, als Beweis gewertet, die ausführenden Personen oder Institutionen unter Umständen in Bedrängnis bringen könnte. Strukturell stellt sich die Frage, wie das Versuchssubjekt und zugleich -objekt den Verlauf des Experiments dokumentieren kann, wenn es von einer Krisis geschüttelt wird. Es könnte Medien einschalten, die es nicht weiter betreuen muss: ein Tonaufzeichnungsgerät, eine Foto- oder Filmkamera. Da jedoch Anwendung und Wirkung eines Medikaments zeitlich oft so weit auseinander liegen – Stunden, Tage, Wochen –, können sie nicht zusammenhängend, auf ungeschnittenem Material, dokumentiert werden. Zwar wären solche Medien medizinisches Beweis45 Eckart: »›Germanin‹« (Anm. 29), S. 77 f. 46 Vgl. die Berliner Zensurkarte, Prüf-Nr. 58972 vom 11.5.1943 190

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material, jedoch könnten sie zugleich politisch verwendet (oder auch gestohlen) werden. Den zuletzt genannten Problemen geht der Spielfilm GERMANIN durch eine einfache Konstruktion aus dem Weg: Statt des Forscher-ArztChristus Achenbach infiziert sich Hofer. Dies ermöglicht der Figur Achenbachs einerseits, sein eigenes Leben sicher zu bewahren und die Fortsetzung seiner Forschung zu garantieren, und andererseits, Hofers Krankheitsgeschichte zu beobachten und zu verwerten. Achenbachs Blick übernimmt die Funktion der Beobachtung und der Analyse. Als die Symptome einsetzen, kann der Arzt diese protokollieren, dem Infizierten das Heilmittel spritzen und dessen Genesung überwachen. Er stellt die im wissenschaftlichen Experiment nötige Beobachtungsinstanz dar. Der Arzt wahrt seine Rolle – ohne dass die Dramatik des Selbstexperiments verloren geht, da sie sich auf eine Nebenfigur verschiebt. Alles, was Achenbach analytisch und interpretierend sieht, sieht auch der Zuschauer. Die Filmkamera ersetzt nicht das Auge des Arztes, sondern verdoppelt es. Sie versteckt nichts vor dem Zuschauer, aber sie deckt auch nichts auf, was der Arzt nicht sehen kann – und unterscheidet sich daher von jenen Filmkameras, die bei medizinischen Experimenten in Labors und Spitälern zu wissenschaftlichen Zwecken eingesetzt wurden. Zugleich werden in GERMANIN aber doch Formate aus wissenschaftlichen Filmen verwendet. Sie sind allerdings nicht als solche – als unterschieden von den fiktionalen Szenen – gekennzeichnet. Zum einen handelt es sich um Aufnahmen, die die Trypanosomen in mikroskopischer Vergrößerung zeigen: bei der Erfindung des Germanins zu Anfang, im Zeichen des Sieges, und bei Achenbachs Infektion gegen Ende, im Zeichen des Unterliegens. Sie ähneln den Aufnahmen aus den wissenschaftlichen Demonstrationsfilmen der Firma Bayer vom Beginn der 1930er Jahre. Zum anderen beinhaltet der Spielfilm von 1943 dokumentarische Aufnahmen von infizierten Schwarzen mit den typischen Symptomen – Konvulsionen, Zuckungen, Kopfverrenkungen, Siechtum. Vermutlich wurden sie in afrikanischen Lagern gedreht, ihre Herkunft ist jedoch ungeklärt. Im Spielfilm GERMANIN dienen die dokumentarischen Aufnahmen zur Illustration der erschreckenden Krankheitssymptome. Sie erstaunen angesichts der Tatsache, dass der Ufa-Film DIE ERREGER DER SCHLAFKRANKHEIT seit 1937 nicht mehr vorgeführt werden durfte und der Bayer-Film IM ZEICHEN DES VERTRAUENS lediglich ästhetisierte und fiktive Aufnahmen von Kranken und Schwarzen zeigte. Dramaturgisch erhöht die Dokumentation des Grauens das fiktive Opfer Hofers und Achenbachs um ein Vielfaches – und verstärkt gleichzeitig das kolonialrevisionistische Argument.

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BRITTA LANGE

Der Propagandafilm von 1943 zeichnet sich durch eine für den Zuschauer schwer wahrnehmbare Konstellation aus. Die Kamera verdoppelt den ärztlichen Blick auf ein menschliches Selbstexperiment nebst Behandlung und Heilung im Spielfilm. Zugleich fungiert sie als enthüllender ärztlicher Blick auf die Krankheitserreger unter dem Mikroskop und die Symptome der Infizierten im Dokumentarfilm. Die Expeditionskamera – im Feld oder im Labor – wird unmerklich mit der Fiktionskamera in deutschen Filmstudios vertauscht. Feld und Labor verschwimmen in der Fiktion, die ihrerseits mit Fakten verwoben ist. Hatte sich die deutsche Seuchenmedizin bereits in Soldaten und Gefangenenlagern des ersten Weltkriegs ein gigantisches Labor und Experimentierfeld erschlossen,47 fanden in den KZs des Nationalsozialismus grausame medizinische Menschenversuche statt. Diese realen Versuche an ›Fremdrassigen‹ spiegeln sich verzerrt, unter positiven Vorzeichen, in dem Spielfilm von 1942/43. Die Massenheilungen in GERMANIN muten zynisch an in dem Wissen, dass die schwarzen Statisten durch ihre Rolle in einem Erfolgsfilm über die deutsche Tropenmedizin für einige Wochen realen tropenmedizinischen Menschenversuchen entkamen. Auch die Gewinnerposition Hofers, des Weißen, dessen Leben gerettet wird, nimmt sich vor diesem Hintergrund wie reiner Hohn aus. Ist Trenker alias Hofer zwar nicht wie ursprünglich vorgesehen die Hauptfigur in GERMANIN, verkörpert er doch die strukturell interessanteste Rolle. Durch den Selbstversuch nimmt er Achenbach das Problem der Beobachtung ab – und zeigt zugleich, dass das Objekt des Selbstversuchs sich nicht selbst beobachten kann, nicht Subjekt sein kann. Nach Infektion, Symptomen, Injektion des Heilmittels und Bettruhe steht Hofer unerwartet von seinem Lager auf und stört eine Besprechung zwischen Achenbach und seiner Assistentin mit der Frage: »Verzeihen Sie, Herr Professor, ich wollte nur fragen, wie das Experiment eigentlich ausgegangen ist?« Er selbst ist die Antwort – und der lebende Beweis des Erfolgs.

47 Vgl. dazu Eckart: »›Der größte Versuch‹« (Anm. 3). 192

PAROLE EMIL. REEDUCATION

IM

FAMILIENLABOR

REMBERT HÜSER 1944 wird im Wohnzimmer der amerikanischen Professorenfamilie Bruckner gehört. Der Sound, der aus der neuen alten Welt herüber klingt, ist mit nichts zu vergleichen. Er ist mechanisch, abrupt und eigentümlich artikuliert. Vor allem ist er überbetont. Überbetont unpersönlich. »You are most formal. We’re not used to that in America.«1 Aber Bruckner klingt nicht nur merkwürdig beim ersten Reinhören, er sieht auch merkwürdig aus: »›Mit seinem römischen Imperatorenschädel, seinem Adlerauge und seiner kühl geschwungenen Nase gemahnte er an den Typus der Frührenaissance, mit welchem auch seine schöne, weiche Hand und die langen, dünnen Finger harmonisierten.‹ So schildert ihn Franz Schalk. […] Franz Xaver Müller spricht von einer Art ›Rotationskörper, bei dem sowohl der Süd- wie der Nordpol besonders kräftig entwickelt waren.‹«2 »Mit einer einzigen Ausnahme hören wir übereinstimmend: Bruckners Auge war blau. […] Da es nur eine blauäugige Menschengruppe gibt, ist diese Feststellung von größter Wichtigkeit. […] Anton Bruckner war in erster Linie Germane.«3

1 2

3

James Gow/Arnaud d’Usseau: Tomorrow the World, Chicago 1942, S. 26. Im Film ist der zweite Satz weggelassen. Josef Mayr-Kern: »Probleme um das authentische Brucknerbild«, in: Anton Bruckner in Lehre und Forschung. Symposion zu Bruckners 150. Geburtstag. Linz/Donau, September 1974, hg. von der Arbeitsgemeinschaft der Musikerzieher Österreichs (AGMÖ), Bd. VII, Regensburg 1976, S. 59-71, hier S. 61. Reinhold Zimmermann: Um Anton Bruckners Vermächtnis. Ein Beitrag zur rassischen Erkenntnis germanischer Tonkunst, Stuttgart 1939, S. 9 and 13. »Allerdings wird man beim Auftreten von Blonden innerhalb nichtnordischer Bevölkerungsgruppen immer eine gewisse Vorsicht walten lassen müssen, ehe man sich bei der Diagnose für nordische Rasse entscheidet. […] Es ist […] theoretisch durchaus denkbar, daß auch einzelne ursprünglich weiter nach Norden abgedrängte Gruppen aus dem zentraleuro193

REMBERT HÜSER

Folgt man der Regieanweisung des Broadwayhits TOMORROW THE WORLD, die Leslie Fentons gleichnamige Independent-Produktion im Verleih von United Artists von 1944 mit Rufzeichen für die Leinwand adaptiert, hat Bruckner so auszusehen: »EMIL BRUCKNER is twelve, blonde. He wears a threadbare black suit and knickerbockers«.4 Das klingt erst einmal halbwegs normal. Bruckner heißt also Emil und nicht Anton und ist noch ein Kind. Die Deutschen haben nicht viel Geld zu dieser Zeit und investieren nicht in neue Anzüge. (Wir erfahren erst später, was Emil unter seinem Anzug trägt.) Gut, Emil ist blond, unter Spannung und etwas ungelenk, aber das sind eine ganze Menge Jungs. Nur, warum klingt er so merkwürdig, wenn das alles so normal ist? Irgendwie will das nicht so ganz passen. Wie kommt ein so schräger Sound in einen kleinen abgewetzten Jungen? Dass man Bruckner sehen kann, während man ihn hört, hat seinen Grund darin, dass in diesem Film die Bruckner-Schallplatte nicht von einem Gerät, sondern von einem Jungenkörper abgespielt wird. Was Emil sagt, wenn es drauf ankommt, klingt wie fremde Rede nonstop. Aufgenommen und einprogrammiert von jemand anderem. Wie kleine Jungen klingen sollten, klingt Emil nicht. »MIKE Is that the end of the phonograph record? […] Sit down, Emil. We have got to find out, how this thing happened to you.« Nun ist Emil in diesem Film nicht einfach Emil. Ob mit oder ohne Sprung, mit oder ohne Sprachfehler, Emil wird immer mehr als Emil sein. Er ist nur zufällig der erste seiner Art, dem wir die Tür aufmachen. Unsere Begegnung mit ihm nimmt 12 Millionen zukünftige Begegnungen vorweg. »What would YOU do with Emil? We didn’t ›dream up‹ Emil – he is real, terribly real! See what happens when he becomes a guest in a typical American home. And remember, there are 12 million more in Germany like him, sworn to destroy you and all you hold dear! What would you do with Emil?«5

Klar ist mittlerweile, dass wir, wenn wir ihn schon nicht töten wollen,6 zumindest irgendwie an diese Schallplatte herankommen müssen. ›Ope-

4 5 6

päischen Kurzkopfgürtel eine partielle Depigmentierung erfuhren« (Egon Freiherr von Eickstedt: Rassenkunde und Rassengeschichte der Menschheit, Stuttgart 1934, S. 362f .). J. Gow/A. d’Usseau: Tomorrow the World (Anm. 1), S. 25. »TOMORROW THE WORLD!«, [Anzeige], in: Senior Scholastic, Vol. 45, No. 15 (January 15, 1945), S. 29. »JESSIE We are at war, aren’t we? He is the enemy. He is a Nazi just as I knew he would be. Ah. If it was up to me, I would exterminate the entire German race. […] I can just see what is going on in this house, when I am gone« (Aunt Jessie, in: TOMORROW THE WORLD). 194

PAROLE EMIL

ration Stimme‹ wird zur gleichermaßen zivilen wie militärischen Aufgabe. Der Welt vorgeführt im Medium Film. »In March of 1944, OWI German specialist Dr. W. D. Patterson set forth the contours of American film policy to reeducate Germany, a country he described as the ›problem child of history.‹ ›With respect to film,‹ he declared, ›Germany will present the same conditions of control as a scientific laboratory. […] Through this powerful medium, which many people regard as the most powerful of any medium available to modern man, we shall be able to say anything we want to the German people.‹«7

In TOMORROW THE WORLD! wird es die Aufgabe der Familie sein, den Fremdkörper Schallplatte im Körper des möglichen Feindes zu zerstören. Der deutsche Sound wird im amerikanischen Familienlabor einer Bearbeitung unterzogen. Herauskommen soll am Ende dies:

Der Film zeigt uns Emil zu Beginn als einen Jungen, den man in einen Anzug gesteckt hat, um Eindruck zu machen. Besuch bei Tante und Onkel halt. Aber da steht er schon bei uns mitten im Flur, macht den Mund auf und einen Diener und schlägt die Hacken zusammen. Was ist das für ein Junge, den Hollywood als Versuchsballon auf Reisen schickt? Der das Deutschland von 1944 repräsentiert und uns in Amerika besuchen kommt? Welchen Eindruck sollen wir bekommen? Klar, erst einmal das 7

Jennifer Fay: »Germany is a Boy in Trouble«, in: Cultural Critique 64 (Fall 2006), S. 196-234, hier S. 220. 195

REMBERT HÜSER

Übliche: Nazis erkennt man auf den ersten Blick und einen hört man aus hunderten heraus. Nazis könnten gar nicht weiter weg von uns sein. Treffen wir mal auf einen, müssen wir ihn von Grund auf überholen. Um beim schäbigen Anzug anzufangen: Wir werden Emil einen neuen kaufen müssen. »LEONA Mike, you must remember to buy Emil some clothes. I think he looks rather well in long trousers.« In TOMORROW THE WORLD! wird sich unser erster Eindruck sehr bald bestätigen. Erste Gefühle trügen selten: Der Protagonist des Films, Emil Bruckner, ist ein Monster. Eines, das wie andere Monster aus dem Bilderbuch auch, ein Kompositum ist. Emil Bruckner ist aus verschiedenen Teilen zusammengesetzt. Das macht sein Name, der ein sprechender Name ist, zuallererst deutlich. Da ist zum einen der Vorname des Kindes, einer der weltweit beliebtesten der deutschen Kinderliteratur: »Erstens: Emil persönlich. Da ist, erstens einmal, Emil selber. In seinem dunkelblauen Sonntagsanzug. Er zieht ihn gar nicht gern an und nur, wenn er muß. Blaue Anzüge bekommen so leicht Flecken. Und dann macht Emils Mutter die Kleiderbürste naß, putzt und bürstet und sagt stets: ›Junge, Junge! Du weißt doch, daß ich Dir keinen andern kaufen kann.‹«8

Emil hat keinen Vater, nicht viel Geld und tobt gerne herum. Emil ist okay. Aussage Nummer 1: Emil ist ein »richtiger Junge«. Nichts besonderes, er heißt nicht Petersilie9, er ist der Junge von nebenan. »Emil« meint »du und ich«. Der Name klingt »gut«.10

8

Erich Kästner: Emil und die Detektive, hg. von Lilian L. Stroebe and Ruth J. Hofrichter, New York 1933, S. 1. 9 »Euch kann ich’s ja ruhig sagen: Die Sache mit Emil kam mir selber unerwartet. Eigentlich hatte ich ein ganz anderes Buch schreiben wollen. Ein Buch, in dem, vor lauter Angst, die Tiger mit den Zähnen und die Dattelpalmen mit den Kokosnüssen klappern sollten, und das kleine schwarzweiß karierte Kannibalenmädchen, das quer durch den Stillen Ozean schwamm, um sich bei Drinkwater & Co. in Frisco eine Zahnbürste zu holen, sollte Petersilie heißen. Nur mit dem Vornamen natürlich. Einen richtigen Südseeroman hatte ich vor«, in: Erich Kästner: Emil und die Detektive. Ein Roman für Kinder. Hamburg 2006, S. 4. 10 »There is no need to tell you that we like this story and believe you will like it too or we would not have translated it for you. But there is need for a word about the German names. […] In the story about Emil we think Mr. Kästner has entertained himself in naming his people. Some of the names have no special meaning, but some of them have – and they all have a good German sound. […] Then you must remember that e is often pronounced like long a and that i is often pronounced like long e so that Emil is pronounced as if it began with a long a. It’s a good name« (May Massee: »This Explains About Some of the Names«, in: Erich Kästner: Emil and the De196

PAROLE EMIL

Beim zweiten Teil von Emils Namen haben wir ein eher ungutes Gefühl. Emil heißt nämlich Bruckner. Ganz so wie der symbolische Vater des N.S. Sounds: »Punkt 11 Uhr erklingt der Präsentiermarsch. Der Führer ist an der Walhalla eingetroffen. Auf seiner Fahrt vom Bahnhof zur Walhalla bereiteten die Männer und Frauen der bayrischen Ostmark dem Führer aus tiefster Dankbarkeit für seinen Besuch begeisterte Kundgebungen. Aus dem ganzen Bayrischen Grenzlande waren Tausende herbeigeströmt, um den Führer zu begrüßen. Nach dem Abschreiten der Ehrenkompanie der Wehrmacht betritt der Führer den Säulengang der Walhalla. Die Fanfarenklänge gehen förmlich unter in dem Orkan des Jubels, der dem Führer entgegenbrandet, als er die Freitreppe hinabsteigt und sich auf die Ehrentribüne begibt. Nach der Rede von Dr. Goebbels übergibt der Präsident der Bruckner-Gesellschaft, Prof. Auer (Wien) dem Führer und Reichskanzler namens der Bruckner-Gesellschaft die Bruckner-Medaille mit den Worten: ›Wir bitten Sie, als Erster die Ehrenmedaille der Internationalen Brucknergesellschaft entgegenzunehmen.‹ […] Der Führer begibt sich mit seiner engsten Begleitung in die Halle, in die Heimat der Großen und Ewigen seines Volkes. Der feierliche Weiheakt im Innern der Walhalla nimmt seinen Anfang. Auf der Empore spielt das Münchener Philharmonische Orchester unter Leitung von Prof. Dr. von Hausegger die ›Feierliche Musik‹ aus Bruckners VIII. Symphonie. Der Präsident der Reichsmusikkammer, Prof. Dr. Raabe, nimmt die Enthüllung der Bruckner-Büste vor. Als einziger der mehr als 200 Büsten ist die Statue von Anton Bruckner mit der Hakenkreuzfahne umkleidet, zum Zeichen, daß diese Büste die erste ist, die im Dritten Reich auf den Beschluß des Führers in dieser Ehrenhalle der großen Deutschen Aufstellung gefunden hat.«11

Als es vorbei ist mit Adolf Hitler, als am 1. Mai 1945 sein Tod bekanntgegeben wird, spielt der Rundfunk Bruckners Adagio der siebenten Sinfonie (dessen Coda ursprünglich Wagner erinnern sollte).12 Gut, aber was kann der 1896 gestorbene, erzkatholische Anton Bruckner dafür, was die

tectives. A Story for Children. Übersetzt von May Massee, Garden City, New York 1935, S. ix-xi, hier: S. ix-x). 11 »Anton Bruckner zog in die Walhalla«, in: Hakenkreuzbanner. Mannheim, 7.6.1937, zit. nach: Joseph Wulf: Musik im Dritten Reich. Eine Dokumentation, Frankfurt/Main/Berlin/Wien 1983, S. 156 f. 12 »Der adlige Schmerz dieser unsagbar einfachen Melodie läßt sich nur mit der erhabensten Antike oder wiederum mit Eddaklängen vergleichen: kein aufgelöster fassungsloser Schmerz, sondern die hoheitsvolle Fassung, wie sie dahingegangenem Heldentum ziemt, ich nenne […] das cis-MollAdagio aus Bruckners VII. Symphonie« (Richard Eichenauer: Musik und Rasse, München 1937, S. 193). 197

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Nazis aus ihm gemacht haben? Das kann man doch nicht ihm ankreiden. Aussage Nummer 2: Emil Bruckner kann nichts dafür, was aus ihm gemacht worden ist. Emil ist heute so. Morgen kann er ganz anders sein. Wir können ihn wieder hinkriegen. »Erstens: Emil persönlich. Da ist er wieder! Seit wir ihn zum letzten Mal sahen, sind mehr als zwei Jahre vergangen. Er ist inzwischen größer geworden. Und einen neuen Sonntagsanzug hat er auch. Mit langen Hosen natürlich!«13 Emil ist ein Projekt. Im ersten Weltkrieg hatten die Propagandafilme aus Hollywood die Deutschen als Hunnen gezeigt (»huns«, ein Wortspiel mit dem deutschen Vornamen »Hans«), die Säuglinge ihren Müttern entreißen und ins Feuer werfen. Als die Parameter der deutschen Politik sich fünfundzwanzig Jahre später diesem Bild mehr und mehr anzunähern beginnen, schwenkt Hollywood um. »Through 1941 Hollywood films made a distinction between the Nazis and the German people. […] This approach was both a Hollywood formula and a requirement of the production code. Evil Germans had to be balanced by a few good Germans.. […] The PCA demanded that Hollywood continued to enforce a fairness doctrine, no matter how evil the regime. […] Germans were – well, more like Americans. They were Europeans and many Americans had German ancestors. […] Americans listened to Beethoven and Brahms as performed for the NBC Symphony every Sunday afternoon, they respected Goethe, Schiller, and Thomas Mann, and they lauded German science. […] A 1942 public opinion poll indicated that 40 percent of Americans believed Jews had too much power in the United States. Eighteen percent agreed with Hitler’s measures against the Jews, to the extent that those measures were known at the time. […] The Germans were not, as the Japanese became, the Other.«14

1944 – das Jahr, in dem TOMORROW THE WORLD! produziert wird – geht es in der amerikanischen Filmindustrie schon längst nicht mehr um den Krieg. Die Filme dieser Jahre werden bereits explizit für die Nachkriegszeit konzipiert. Für sie gelten andere Regeln.15 13 Erich Kästner: Emil und die drei Zwillinge. Die zweite Geschichte von Emil und den Detektiven, Zürich 1935, S. 17. 14 Clayton R. Koppes/Gregory D. Black: Hollywood Goes to War. How Politics, Profits and Propaganda Shaped World War II Movies, Berkeley/Los Angeles 1990, S. 34 f. und 282 f. 15 Auch im Hinblick auf die Produktion, die zunehmend unabhängiger von der Vorfinanzierung durch die Studios wird: »The rebellion was ›touched off inadvertently by the Treasury Department‹ in that Hollywood filmmakers and artists, ›dismayed by wartime tax rates, went into business for themselves as independent producers in order to pay capital gains tax rather than 198

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»The U.S. government saw Hollywood movies as a means of effectively deprogramming the Axis-dominated populace – thus giving the term ›postwar reconversion‹ a rather interesting connotation. The government encouraged Hollywood to consider the postwar political stakes as well. One good example occurred in January 1945, when the OWI and the Office of Censorship denied an export license to UA’s TOMORROW THE WORLD (1944) […] In the OWI’s view, the picture’s portrayal of the Nazis was simply ›too sympathetic.‹«16

Was für das Inland gut ist, ist noch lange nicht automatisch auch für das Ausland gut. Filme mit Nazis mit Potential, mit einem Potential, das die Amerikaner zu verunsichern vermag (»LEONA He found the weak spot in all of us«), sollte man in diesen kritischen Zeiten tunlichst nicht exportieren. Übersee-Nazis sind nicht einfach nur ein Projekt. Ein wenig mehr Unmissverständliches, ein deutlicheres Othering scheint angebracht.17 income tax.‹ This invariably entailed setting up a so-called single picture corporation – that is, a film production company created to produce a single feature. After the film’s release, the company would be dissolved, its stocks sold, and the profits taxed at the capital gains rate of 25 percent. […] Lester Cowan, for instance, used Domestic Insurance, Inc. of Chicago to finance ›Tomorrow the World‹ (1944)« (Thomas Schatz: Boom and Bust. American Cinema in the 1940s, Berkeley/Los Angeles/London 1999, S. 181 ff.). 16 Ebd. S. 159. 17 »A most curious thing has been happening on our usually chauvinistic screen. Our very real enemies, the Germans have been getting a sizable break. As a matter of fact, they have been getting a sweet lot of sympathy. And if that isn’t curious in wartime, we’d jolly well like to know what is. 199

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Dabei müsste doch eigentlich allein die reichlich überdrehte deutsche Importstimme ausreichend gewesen sein. Der Titel des Films TOMORROW THE WORLD! adressiert die Nachkriegszeit. Als erkennbares Zitat eines der größten NS-Hits auf Schallplatte bezeugt er gleichermaßen Hollywoods Selbstbewusstsein wie seine transformative Kraft. Mit diesem Film, sagt der Film, ist die Zeit ein für allemal vorüber, in der man bei ›Morgen die Welt‹ zuerst an Nazis denken muss. Wir – Hollywood – sind die Zukunft, und um Euch unsere Macht zu zeigen, eignen wir uns eben mal mit Leichtigkeit deren alten Slogan an. Nazilieder? Ein Kinderspiel! Das Marschlied mit der Welt am Ende findet sich 1934 im Singkamerad, dem Schulliederbuch der deutschen Jugend, herausgegeben von der Reichsamtsleitung des nationalsozialistischen Lehrerbundes. »Es zittern die morschen Knochen/der Welt vor dem roten Krieg./Wir haben die Schrecken gebrochen/für uns war’s ein großer Sieg./Wir werden weitermarschieren,/wenn alles in Scherben fällt,/denn heute gehört uns Deutschland/und morgen die ganze Welt.«18

Da ist sie, die Welt. Noch ganz. 1944 kann hiervon nicht mehr die Rede sein. Selbst die Nazis hatten das anderthalb Jahre zuvor bereits eingesehen und waren einsilbig geworden. ›LTI – Notizbuch eines Philologen‹ zitiert genüsslich die Fassung des Marschlieds, wie sie in ›Das deutsche Lied; Lieder der Bewegung, herausgegeben vom Winterhilfswerk des deutschen Volkes, 1942/3‹ abgedruckt ist: »Der Refrain lautete jetzt: ›[…] und heute, da hört uns Deutschland, und morgen die ganze Welt‹. […] Man muß sich das merken. Genau zwischen ›gehö-

[…] Next there was an outpouring of climactic sympathy for the penitent little Nazi (when he got what he wanted) in ›Tomorrow the World‹. […] [I]t is just the accumulation of such unintentional compassion for the foe that builds up a fatal bewilderment of purpose in the public mind. And besides – what were those ›good Germans‹ doing when the Nazis came to power? […] Can you imagine how a hungry Frenchman would react to a Hollywood film showing a nice American family being sweet to a little Nazi brute? Can you imagine how sympathetically that Frenchman would accept the kid’s remorse. It is all well and good to think of measures for rehabilitating the people of Germany after the war. But why go romantically soft about them in our movies while we’re fighting them?« (Rosley Crowther: »Ein Volk in Films: ›Hotel Berlin‹. Another Example of an Odd Benevolence on Our Screen«, in: The New York Times vom 11. März 1945, S. XI). 18 Zit. nach Victor Klemperer: Die unbewältigte Sprache. Aus dem Notizbuch eines Philologen. LTI, Darmstadt 1966, S. 273. 200

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ren‹ und ›hören‹ läuft der Grenzstrich im nazistischen Selbstbewußtsein. Der Ausfall dieser Silbe bedeutet, in Projektion auf die Ebene des nazistischen Liedes, Stalingrad.«19

Bei seiner Aneignung und Umcodierung der NS Parole geht Hollywood in der Politik der kleinen Auslassungen noch einen Schritt weiter und streicht für den Titel des Films kurzerhand das Verb, das näher bestimmt, welche Rolle der Welt in Zukunft zugewiesen wird. Die Welt von morgen wird einfach hingestellt. Uns allen gezeigt. Das hier ist ›Tomorrow the World!‹. Heute ist morgen. Tomorrow the World sieht so aus! Inklusive ihrer ganzen Produktpalette. »A small sign bearing the words ›Sorry, we can’t buy them either‹ commiserates with window shoppers who may view but not touch, buy or order the six precious household articles included in the display scheduled to be unveiled today by Lewis & Conger. Arranged to keep up with ›Tomorrow the World‹, the current movie, the window exhibit of items definitively promised for the postwar era is scheduled to continue for a month. On public exhibition for the first time is the only sample of an automatic electric steam iron, brought to the display in a taxi by the president of the Silex company. […] A wooden model painted silver acts as ›stand-in’ for the forthcoming Duo-Chef, a streamlined electric appliance that should enable kitchenette cooks to prepare one dish on the tubular cooking element built into one end of the platform, and toast two pieces of bread at the other end. Carefully arranged are six jars labeled Drax, a white liquid developed by Johnson’s to make all washable fabrics stain resistant and water repellent. […] The famous Grey Pearl rose, developed by Jackson & Perkins, was scheduled for inclusion in ›Roses of Tomorrow‹, a display of new varieties that rose growers expect to have available in 1947 and 1948. However, the four sample roses were unable to endure long enough for public exhibition, and were at last reports sad and withered spectacle.«20

Was das Schauspiel der Welt von morgen im Titel des Films betrifft, so ist aus dem nationalsozialistischen ›gehören‹, das in ›hören‹ zurückgenommen worden war, das Hollywoodsche ›zeigen/sehen‹ geworden. Damit wird nicht allein ein Titel überschrieben, sondern in der Umkodierung eine Medienkonkurrenz etabliert und das eigene Medium als Leit-

19 Vgl. ebd., S. 274 f. 20 »Post-War Articles for Homes on View: Automatic Electric Steam Iron Among the Items to Be Displayed Today«, in: The New York Times vom 6. Januar 1945, S. 14. 201

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medium behauptet. Das deutsche Radio hat dem amerikanischen Film zu weichen. Die Zeile ganz zu streichen hätte nicht dieselbe Kraft gehabt.21 Das Rundfunkwesen, der »vierte Kriegsschauplatz« des Dritten Reichs, über den »Millionen deutscher Menschen so von einer Stelle aus erfaßt«22 werden konnten, ist für das Verständnis des Nationalsozialismus zentral. Der Nationalsozialismus ist von Anbeginn an eine Radiokultur. 1933 war in Hilf mit!, der Zeitschrift der Hitlerjugend mit einer Auflage von 5 Millionen, ein »Brief eines auslandsdeutschen Jungen aus Amerika« erschienen: »Lieber Fritz! […] Die Amerikaner glauben noch alle die wüsten Hetzgeschichten, die ihnen die Juden und ihre Presse erzählen. […]. Und nun haben wir gestern abend spät – bei Euch muß es ja vormittags gewesen sein – am Radio die Übertragung des Tages von Potsdam gehört. Zuerst kam nach dem Ansager ganz leises Orgelspiel, dann wurde ein Choral gesungen, und dann begann Hindenburg zu sprechen. Wir hatten einige Bekannte bei uns, auch Bob, der in der 72. Straße ganz nahe bei uns wohnt, war mit da. Er konnte zwar nicht verstehen, was Hindenburg sagte, aber wir anderen haben es ihm übersetzt. Wir hörten ganz deutlich die tiefe Stimme des alten Feldmarschalls und wie er sagte: […]. Und dann sprach Adolf Hitler. Ich selbst hatte ihn noch niemals sprechen gehört. Seine Stimme kam ganz klar herüber, so gut hat der deutsche Rundfunk übertragen. Es war als ob er mitten im Zimmer stände und hier spräche. Ich habe mir gleich aufgeschrieben, was er gesagt hat: […] Wir waren in tiefster Seele ergriffen. Vater war aufgestanden und ging mit langen Schritten im Zimmer 21 »One of Hollywood’s favorite debatable topics, the value of a Broadway play title to a motion picture, has been brought to the surface again by Lester Cowan, who is filming the James Gow-Armand d’Usseau play, ›Tomorrow the World.‹ He revived the dormant controversy two weeks ago when he announced that he would change the title of his film to ›The Intruder.‹ The United Artists producer was prompted to make the change, he stated, because he expects the war in Europe to be over and interest in anti-Nazi pictures at low ebb by the time his films gets into release. Also he feels the play title would be confusing to the majority of movie-goers, particularly in the hinterlands, since the menace the title might have carried some months ago has been removed by Allied victories. Moreover, radical changes have been made for the film in the character of the 14-year-old protagonist. […] When his title change announcement brought a squall of protest from the play’s authors, its producer and the local trade press, Mr. Cowan decided to let the exhibitors, who will have to sell the picture to the public, settle the issue« (Fred Stanley: »Film Title Dilemma«, in: The New York Times vom 3. September 1944, S. XI). 22 Karl Cerff: Chef des Kultur- und Rundfunkamtes der Reichsjugendführung auf der ersten NS-Funkausstellung in Berlin, zit. nach: Michael Buddrus: Totale Erziehung für den totalen Krieg. Hitlerjugend und nationalsozialistische Jugendpolitik, München 2003, S. 114. 202

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auf und ab, so sehr war er innerlich bewegt. Und wie dann Adolf Hitler zu Hindenburg sprach, als wir hier drüben in Amerika hörten, wie sich in der Garnisonskirche fern in Potsdam die ganze Festversammlung von ihren Sitzen erhob, um den alten Hindenburg zu ehren, da wären uns beinahe die hellen Tränen gekommen. Wir hörten den Führer deutlich sagen: […]. Wir haben das alles hier gehört, auch den Vorbeimarsch nachher, die schmetternde Musik und die Ansage all der Regimenter, der SS und SA, die vorübermarschierten; wir haben das Salutschießen der Geschütze gehört und das Deutschlandlied und HorstWessel-Lied. Du machst Dir ja gar keinen Begriff, was das für uns hier draußen bedeutet. […] Bob war auch ganz ergriffen, er meinte, das sei so feierlich gewesen wie damals, als Washington die Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten ausgerufen hätte, und gab mir immer wieder die Hand. Er ist eben ein anständiger Bursche, dabei ein überzeugter kleiner Amerikaner. […] Lieber Fritz! Du glaubst gar nicht, wie wir hier draußen oft hungern nach Büchern und Nachrichten aus Deutschland. Ihr müßtet uns Jungen hier draußen in der weiten Welt viel mehr schicken. Zeitschriften, Zeitungen und Bücher, damit wir wissen, wie es wirklich in Deutschland aussieht und damit wir uns auch mit Euch freuen können. Ihr habt es ja leicht. Ihr könnt solche Tage alle miterleben. […] Heil Hitler! Dein Rudi.«23

Der fiktive Brief aus Hilf mit! liest sich wie eine Kurzzusammenfassung nationalsozialistischer Kulturpolitik. Es ist kein Zufall, dass sie in einem von gerade mal zwei Artikeln zu finden ist, die in dieser Zeitschrift Amerika adressieren. Die Medienkonkurrenz zwischen Radio und den Printmedien liegt hier die traditionelle Unterscheidung von Schrift und Rede zugrunde. Weil Rede unmittelbar zur Wahrheit ist, ist Radio, das die Stimme live überträgt, jedweden Druckerzeugnissen überlegen.24 Als Vermittler des Rufs ist es Radio, das die Struktur des Diktats in alle Wohnzimmer bringt. ›Adolf Hitler spricht, wir sind bewegt und zeichnen auf, was er gesagt hat‹. Am Ende siegt der Klang der lebenden Stimme des Führers über die toten Buchstaben der jüdischen Presse (Dass dieses Argument selbst gedruckt ist, wird dadurch aufgefangen, dass es im Medium eines privaten Briefs erscheint.). 23 »Der Tag von Potsdam. Brief eines auslandsdeutschen Jungen aus Amerika aus dem Jahre 1933«, in: Hilf Mit!, Vol. 1 (21. März 1933), S. 164, zit. nach: Gerhard Weiss: Hilf Mit! Propaganda in the Classroom, University of Wisconsin Presentation, 5. April 2006. 24 »Dass ›die Stimme über uns [ist], ehe sie in uns schwingt‹, gehört ebenso zum phonozentrischen Argumentationsbestand des NS wie die Annahme: ›Wem der Schallraum gehört, dem gehören auch die Herzen.‹« (Cornelia Epping-Jäger: »Stimme. Die Spur der Bewegung«, in: Gisela Fehrmann/Erika Linz/Cornelia Epping-Jäger (Hg.): Spuren. Lektüren. Praktiken des Symbolischen, München 2005, S. 133). 203

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Hilf mit! Schickt mehr! Wir hungern nach deutschen Nachrichten. 1944 hat Hollywood ein Einsehen und antwortet auf Rudis Brief. Statt einfach Ronald Reagan, Greer Garson oder Spencer Tracy über den Atlantik zu schicken, sendet die amerikanische Propaganda einen jungen Propagandisten der Gegenseite, »a pocket edition of ›Mein Kampf‹«,25 in die Vereinigten Staaten, um erst einmal den Amerikanern zu zeigen, wie es in Deutschland aussieht. Für die Rolle des Emil in diesem filmischen Laborversuch in Sachen Reeducation wird ein Radiosprecher gecastet: »He has succeeded in raising the reputation of child actors from its normal level to one practically equal to Booth. He is, of course, Skippy Homeier, the Skippy standing for George Vincent, with a Jr. afterward. He lives in Queens, where his father deals in an archaic commodity called tires and from which during the last two years he has sallied forth to take part in hundreds of radio programs. For his part in ›Tomorrow the World‹ he uses a German accent, a matter which taken in connection with his name has caused some sceptics to say that is the way he talks. No. Mrs. Homeier observes that her family has been talking American for 300 years, and Mr. Homeier’s for the last five generations, although it was German before that. Skippy has been speaking American his twelve years.«26

In der Radiosprecherkartei aus dem Jahre 1941 finden sich auf der Karteikarte des 11jährigen Homeier die folgenden Angaben: »HEIGHT: 4’9’’, WEIGHT: 65. VOICE RANGE: 6-12, DIALECTS: Hillibilly, Negro, Tough English Irish, TYPES: Little Boys, juveniles, comedy and incidental songs.«27 ›Deutsch‹ scheint keine ausgesprochene Spezialität von Skippy zu sein. Und das braucht es auch nicht. Emil Bruckner hat nämlich gar keinen deutschen Akzent in TOMORROW THE WORLD!. Es gibt Elemente eines deutschen Akzents, die in das Stimmprofil des Repräsentanten der Radiokultur aufgenommen worden sind, was seine Stimme im Film jedoch vor allem auszeichnet, ist ihr Grad an Überdrehtheit. Ihr Wechsel ins Undefinierbare. Sie ist so überstilisiert, dass sie nichts anderes mehr konnotiert als bloß ›Akzent‹ (aka ›fremd‹). Einen konkreten Akzent dieser Art gibt es nicht. So etwas haben wir noch nie gehört. Niemand spricht hier so. Wenn Emil den Mund aufmacht, ist er so fremd wie man nur fremd sein kann. Das Ziel des Reeducation-

25 Lewis Nichols: »Post-War Planning. ›Tomorrow the World‹ Cites the Case of a Reforming Nazi Child«, in: The New York Times vom 25. April 1943, S. XI. 26 Vgl. ebd., S. XI. 27 »Skippy Homeier«, unter: http://home.socal.rr.com/councilorbluffer/OTRArtists/Skiph.jpg. 204

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Spektakels lässt sich damit reformulieren: Die Familie muss dem Nazi allererst das Sprechen beibringen. Mit einfach Die-Schallplatte-Zerstören ist es dabei jedoch noch nicht getan. Gelöscht werden muss nicht einfach nur die Nazisemantik, sondern jedwede kulturelle Differenz. Erst wenn Emil am Ende des Films akzentfrei Englisch spricht, haben wir gewonnen.28 Dann darf Emil sich mit der Familie an den Frühstückstisch setzen. (Einen neuen Tag beginnen). Der Professor in der großen Universitätsstadt im Mittleren Westen, der bereit ist, seinen deutschen Neffen zu adoptieren,29 ohne zuvor einen Blick auf ihn geworfen zu haben, öffnet das Telegramm: »Emil Bruckner arriving by plane 11:30 a.m. You have my deepest sympathy.« Aber da steht sein Untersuchungsobjekt schon längst vor ihm. Es ist das Spiel mit mehreren Ankünften, mit Ankommen und Nochnicht-Ankommen, mit dem Unterschied zwischen Im-Hausflur und Auf28 »We can see how the film connects questions of ethnic otherness to citizenship in its depiction of Leona Richard […]. Leona is established early in the film as Mike’s beautiful, blonde, light-eyed fiancée, and as both an esteemed teacher and child psychologist. […] In fact, throughout the film her Jewishness is so inconsequential, so incidental, that were it not for Emil’s vituperations it would remain invisible. […] Even her last name, Richards, is ethno-ambigous. Significantly, it is Leona who explains to Emil the first rule of American citizenship that she demonstrates so well: ›In this country it doesn’t matter where you come from. We’re all equal, all alike. We’re all American.‹ […] These structured gaps around Leona’s Semitism make it more prominent because it is the answer to the questions the publicity begs, and it provides the thin psychological motivation for Emil’s evildoing. We may read the press book as preparing American audiences to discover these Semitic indicators so that they may reflect on the extent to which they do not perceive any difference between the Jewish and other characters […]. The press book features photographs of Betty Field in the outfit she wears in the film for display in ladies’ sections of department stores. The Jewish part of Field’s character, however, is evacuated in the promotion so that all women could identify themselves as Leona and buy clothing that would turn them into visions of her. Tomorrow the World thus attempts to manage the tension between the racially and ethnically overembodied character and the commodifying trademark of the star« (Fay: »Germany is a Boy in Trouble« (Anm. 7), S. 209 ff.). 29 Was an NOBODY’S CHILDREN erinnert, den Spielfilm aus den ColumbiaStudios von 1940 in der Regie von Charles Barton, der Adoption mit Radio kurzschließt. »The film was inspired by Walter White Jr.’s popular humaninterest radio series, which ran from 1939 to 1941. The radio version of Nobody’s children was dedicated to finding loving homes for the orphaned and abandoned kids under the care of the Children’s Home Society of Los Angeles. White himself appears in the film in the ›framing‹ scenes, ostensibly taking place during one of his broadcasts« (Hal Erickson: »NOBODY’S CHILDREN«, unter: www.allmovie.com/cg/avg.dll?p=avg&sql=1:104222 [01.03.2007]), die in einer Art Wohnzimmer aufgenommen wird. 205

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der-Treppe, woraus der Film seine Eingangsdynamik bezieht. Zunächst einmal haben wir Emil verpasst. Das Haus ist völlig aufgelöst, als Vater nach Hause kommt. Schwester, Tochter und die deutsche Hilfe sitzen weinend am Wohnzimmertisch. »›He was kidnapped.‹ ›Nonsense.‹« Am Bahnhof war Emil jedenfalls nicht. So einer wie Emil kommt auch nicht einfach mit der Eisenbahn. Viel entscheidender als der aufgeschobene Emil ist, dass der Film die Schlüsselszene der Psychogenese des Nationalsozialismus: »Vater kommt nach Hause« nimmt und variiert, um Emil einzuführen. »Es ist […] müßig, nach biographischen Vorbildern für die Familienwelt von Hitlerjunge Quex zu suchen; es sei denn, man nähme das Wort von der ›Hitlerjugend‹ so wörtlich wie dies der Psychoanalytiker Erik H. Erikson in der Vorlage für Batesons NS-Familienanalyse tat. Erikson analysierte 1942 die von Hitler für sich selbst in Mein Kampf entworfene Familiengeschichte, weniger als biographisches Dokument als durch ihre Umschrift zum ›myth-making‹, das es Hitler erlaubte, auf den Code der deutschen Familie zuzugreifen.«30

Erikson zufolge ist es die tägliche Rückkehr des Vaters am Feierabend, die in einer Serie von Spaltungen ein Maß an Verunsicherung in die vermeintlich sichere Struktur des Elternhauses hineinträgt, die sich selbst der Architektur mitteilt (da die Rückkehr des Gravitationszentrums die Räume und Spielräume der Familienmitglieder neu zuschneidet). »When the father comes home from work, even the walls seem to pull themselves together«31 In TOMORROW THE WORLD! braucht sich die Architektur des Elternhauses nicht länger auf der Hut zu sein. Der Film hat seinen Erikson parat und wohl auch Gregory Bateson’s Zwischentitel zu Hitlerjunge Quex gelesen. Worauf er aus ist, ist, dieses Wissen in einer Spielfilmstruktur anzuwenden, das die Diagramme und die Stopps wieder in Narration überführen wird. Kann das gut gehen? Hat Hollywood Bateson’s Lektion gelernt? Wenn ja, was davon? Wie geht es zum Beispiel mit dessen Reflexion auf die projektiven Verfahren selber um? »Das Feindbild des Feindes zu entwerfen, leidet unter einer Verdoppelung: man kann nur das einem selber feindliche Feindbild entwerfen. Wie kann man da zu brauchbaren Ergebnissen kommen, wird man nicht immer nur die Verzerrun-

30 Erhard Schüttpelz: »Vor der Re-Education (1943)«, in: Die Moderne im Spiegel des Primitiven, München 2005, S. 235 f. 31 Erik Homburger Erikson: »Hitler’s Imagery and German Youth«, in: Psychiatry. Journal of the Biology and the Pathology of Interpersonal Relations, Vol. 5, No. 4, (November 1942), S. 475-493, hier: S. 478. 206

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gen des Gegners weiter verzerren? […] Wenn es um Projektionen ging, welche Projektionsmethode war hier gefordert? […] Durch seine Interviews mit Emigranten fand Bateson etwa heraus, daß es in der deutschen Familie – im Gegensatz zur amerikanischen oder britischen Familie – einen ›Exhibitionismus des Parierens‹ gab, dem die Söhne mehr als die Töchter ausgesetzt wurden: es galt als ehrenvoll, mehr gehorchen zu müssen. Und die Unterwürfigkeit der entstehenden Beziehung wurde dadurch neutralisiert, daß jeder Befehl idealerweise sofort und ohne Verhandlungen – ohne Widerrede – ausgeführt wurde. […] Diese Einschätzung Batesons hat Margaret Mead 1944 für die Diagnose der Re-Education auf eine Kurzformel gebracht: ›Developmentally, the child vis-àvis the parents is expected to be dependent, submissive and exhibitionistic, to exhibit its submissiveness in hand-shaking, heel-clicking, ›correct‹ behavior.‹«32

Es ist dieser Exhibitionismus, den TOMORROW THE WORLD! auszuhebeln versucht. Der Film zeigt verschiedene Ansätze, die deutsche Dressur aufzufangen und ausfasern zu lassen und unterfüttert dies mit einer medialen Hypothese. Da es, vergleichbar zur Struktur der Dunkelkonzerte,33 bei gleichzeitiger Ausblendung des Bildes der Stimme des symbolischen Vaters im Radio bedarf, um den Reflex des Exhibitionismus des Parierens, der im Elternhaus eingeübt wird, zu stabilisieren und auf Dauer stellen zu können, bedarf es eines neuen Mediums, das in der Kombination von Tonspur und Bildspur alternative Vaterstimmen und alternative Reaktionen auf sie zugleich vorzuführen imstande ist.34 Zum Paradebeispiel für 32 Ebd., S. 247 f. 33 »The 1937 Regensburg ceremony placed Bruckner as a god in the holy temple of Valhalla. His music would be the sacred language and Nazism the mystical religion. […] His symphonies, especially in those spiritual slow movements […], were deemed a religious experience, and only those who shared the same blood and soil could fully comprehend the message. Nowhere is this phenomenon better exemplified than in the Viennese Dunkelkonzerte of the early 1940s, in which the darkened Wiener Konzerthaus was transformed into a sacred space where listening to Bruckner became tantamount to attending church. […] before intermission (in a partially darkened hall) Mozart’s Regina coeli, after intermission (in a fully darkened hall) Bruckner’s Ninth« (Bryan Gilliam: »The Annexation of Anton Bruckner: Nazi Revisionism and the Politics of Appropriation«, in: The Musical Quarterly 78:3 (Autumn 1994), S. 595 f.). 34 Die Anlage des Films denkt die projektiven Verfahren soweit mit, wie es ein Propagandafilm zulassen kann. Er überläßt es jedoch verschiedenen Epitexten des Films, die alternative Enden auszuagieren: »Yet, if the democratic character could be learned and imitated, it could also be faked and even parodied. Suspicion of Emil’s rehabilitation unsettles the end of TOMORROW THE WORLD and prompts Comic Cavalcade to draw (literally) an alternate conclusion. If Emil dissimulates his democratic mentors and eva207

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den deutschen Exhibitionismus des Parierens wird die Stimme des Feindes, die anderen Interessen als den eigenen gehorcht, fremd gesteuert ist. Emils schräger Akzent ist das Geräusch gewordene Hackenzusammenschlagen und Dienermachen, das Kommunikation verhindert. ›Vater kommt nachhause‹ und ›Emil findet ein Zuhause‹ sind im Film direkt hintereinandergeschaltet. Vater hat den Vortritt, weil er die zentrale Figur der Umerziehung ist. Er selbst ist die entscheidende Zutat der Versuchskonstellation. In Amerika muss ein anderer Vater nach Hause kommen als in Deutschland, wenn die Umerziehung funktionieren soll. Sonst können wir das ganze Modell vergessen. »I think the difference lies in the German father’s essential lack of true inner authority – that authority which results from an integration of cultural ideal and educational method.«35

Getestet wird im Familienlabor nicht eigentlich der Hitlerjunge, sondern die Überlegenheit der eigenen Vaterinstanz. Die Figur des Emil Bruckner hat die Funktion eines Litmustests. Die Herausdestillierung von Emil aus Bruckner zielt ab auf die Wiedergewinnung der warmen Farben Rot, Gelb und Orange, die nur durch die Zutat von Schwarz zu braun und kalt hatten werden können.36 Nur wenn Emil sich dem schwarzen Loch in seiner Psyche stellt, den Verlust seiner beiden deutschen Väter – des im Konzentrationslager gestorbenen Widerstandskämpfers Karl Bruckner und des Führers aus dem Radio – anerkennt, kann er dem neuen Modell kooptiert und von Vater Nummer drei adoptiert werden. Das Vatermodell wird dabei auf den neuesten Stand gebracht. »MIKE It was Karl, the des punishment by cunningly parroting their stories and reproducing their affect, how can we discern the difference between authentic conversion and mimetic aptitude? When is democracy real, and when is it merely performed? And, when Hollywood films are the instruments of pedagogy – when these democratic characters are indeed a fiction – can we even speak of a real outside of performance?« (Fay: »Germany is a Boy in Trouble« (Anm. 7), S. 223). 35 Erikson: »Hitler’s Imagery and German Youth« (Anm. 31), S. 478. 36 »Ob sich die SA wirklich nicht bewusst war, zu welchen derb-drastischen Assoziationen beispielsweise ihr Sturmlied ›Wir sind des Führers braune Haufen‹ herausforderte? Der Farbpsychologe Benjamin Jan Kouwer scheint diese Annahme zu stützen, wenn er die Farbe Braun in seiner Dissertation ›Colors and their Character‹ aus dem Jahr 1949 folgendermaßen deutet: ›Es ist stark, kraftvoll, derb, schwer, gesund […]. Braun wird deshalb auch als Farbe des Männlichen angesehen […]. Es wird auch mit dem Inferioren in der Natur verbunden, mit allem, das nicht durch Kultur ›angehoben‹ wurde, sondern auf seinem ursprünglichen niederen Niveau verblieb [...] es symbolisiert die niedrigen Aspekte des Lebens selbst‹« (Arnold Rabbow: dtv-Lexikon politischer Symbole. A-Z, München 1970, S. 46). 208

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philosopher, who persuaded me to become a chemist. He believed that the philosophers of the future must be men of science – men of action.« Die Naturwissenschaften haben die Geisteswissenschaften abgelöst. Das Bild des Lehrer/Vaters, das Emil anfangs zerschlitzt hatte, ist am Ende wieder restauriert. Es hängt aber nicht mehr an der Wand, sondern lehnt seitlich an einer Kommode. Die neue Vaterinstanz ist inhaltlich nicht ausgeführt. Vater USA heißt nicht von ungefähr »Frame«. In einem Film, der vor allem auf die Ebene des Sounds abhebt, macht ihn der Vorname Mike (die Kurzform von Microphone) zum Sprecher. Ein Sprecher, mit dem man sich identifizieren können soll.37 Im Film wird die Figur des Vaters vergleichsweise beiläufig eingesetzt. Die Kinozuschauer werden ihn nicht ohne weiteres als die Figur wahrnehmen, um die sich alles dreht. Mike Frame ist ironisch (»LEONA Mike, please. He has no humour. Let me ask him a few questions«) und von Beginn an darauf aus, die deutsch-amerikanischen Respekt- und Höflichkeitsbarrieren nach allen Regeln der Kunst der Proxemik abzubauen. Den Jungen aus Deutschland strukturell aufzulockern. Schon bei der ersten Face to Face Kommunikation mit dem Hitlerjungen geht es ihm darum, ein Moment sozialer Distanz in ein Moment privater Distanz umzuwandeln. Seine Antwort auf Händedruck (sein eigenes verlegenes Eingangsangebot) und Hackenzusammenschlagen (das man ›unter sich‹ hier nicht braucht) ist, sie zunächst als die anerzogenen Gesten zu akzeptieren, ja selbst andeutungsweise die Hacken zusammenzuschlagen, sie aber zugleich daran anschließend in die Geste eines Freundschaftsangebots zu übersetzen. (Womit zugleich im Kontext des ersten Verstehens, des Ersten-Englisch-Hörens und Redens, die Arbitrarität jedweder kultureller Zeichen betont wird.) Vaterframe knufft Emil mit beiden Händen an den Schultern und hält ihn kurz fest. Eine Umarmung, die sofort wieder loslässt, um gar nicht erst Unwohlsein aufkommen zu lassen. In Amerika ist Vater dein Freund. Dass er gegen Ende des Films die Fassung verliert und Emil um ein Haar erwürgt, spricht letztlich auch für ihn. Vaterframe ist keine Maschine, er ist emotional und macht Fehler. Wenn es hart auf hart kommt, besitzt er aber (und auch gerade deshalb) die nötige Autorität. »MIKE As a matter of fact, it’s about time that you and your people in Germany woke up to the fact that we can be just as tough as you can – and a lot

37 »The boy’s reeducation is presented to us not as an education per se but as a rational confrontation with and correction to Nazi propaganda (though significantly, Emil is now reciting a version of history we have heard Mike explain at least twice before)« (Fay: »Germany is a Boy in Trouble« (Anm. 7), S. 204). 209

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tougher. We are going to keep Emil here. LEONA We all have things to learn, Emil.«

Emil Bruckners Ankunft im Klangraum der Familie zeigt, dass sein Projektstatus von der Form der Ankunft, die ihm vorausgeht, abhängig ist. Resultierte in Deutschland die Heimkehr des Vaters mehr oder minder direkt in der zukünftigen Ankunft eines Mitglieds der Hitlerjugend, suggeriert die gemeinsame Ankunft von verliebtem Mann und Frau in den USA, die Emil Bruckners Ankunft einleitet, dass es in den USA eine Reihe von Optionen gibt, die andere Ergebnisse haben können. Vaterframe, der Professor an der Universität im Mittleren Westen, und seine Partnerin, die jüdische Highschool-Lehrerin, die ein Angebot aus Chicago als Leiterin einer Experimental School erhalten hatte (von dem sie am Telefon erzählt – wieder eine Bild-Ton-Konstellation, die die Überlegenheit des Films betonen soll: der Film lässt uns die Mienen der beiden Liebenden vergleichen, die sich hören, aber nicht sehen – waren beschwingt von einem Spaziergang zurückgekommen, auf dem sie beschlossen hatten, einander zu heiraten. Leona wird das Jobangebot ablehnen, bei Mike einziehen und die Familie komplettieren, d.h. die fehlende Mutter ersetzen. Nun gilt es einzig noch die Schwester des Professors einzuweihen, die bislang die Frau des Hauses war. »LEONA Don’t you think it’s a little bit sudden for Jessie?« Das Kriterium des Blutes ist nicht was zählt in den USA. Die Kamera nimmt Vaterframe und uns mit ins Haus. Noch vor Emils Ankunft sind die amerikanischen Universitäten und Highschools im Film ein Bündnis eingegangen. Der Aufbau der zukünftigen Familie erwächst unmittelbar aus dem Kriegseinsatz. Mike Frame ist Chemieprofessor und arbeitet in einem Universitätslabor an einem militärischen Geheimprojekt. »PAT He is the most important man in the college. Colonel Jenkins came all the way from Washington just to see what Mike is working on. […] Between you and me, the army figures they cannot win the war without Mike«.

Die Herstellung der Chemie von morgen ist die Metapher, die dem Film unausgesprochen zugrunde liegt. Dass die Highschool-Lehrerin aufgrund ihrer Veröffentlichungen das Angebot erhält, eine Laboratory School in Chicago zu leiten, ist für Zeitgenossen ein deutlicher Hinweis. Die Laboratory Schools in Chicago, die vor allem mit der US Navy eng zusammenarbeiteten, hatten im Zweiten Weltkrieg eine besondere Bedeutung in der Organisation der amerikanischen Heimatfront. Nicht nur, dass Navy Radio Operators gleichermaßen von University of Chicago und Laboratory School Lehrern ausgebildet

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wurden, in den Laboratory Schools von Chicago fanden sich auch die Kinder der Wissenschaftler, die am streng-geheimen ›Manhattan Projekt‹ arbeiteten, das zum Bau der ersten Atombombe führte. »For those children, their home lives reflected additional tensions of war. ›I never knew what my father was doing. There was so much secrecy,‹ recalled Nella Fermi Weiner, ‘46, daughter of Enrico Fermi who led the Chicago group involved in the project. But some things were obvious. John Compton, ‘43, whose father Arthur Holly Compton was also a top scientist on the project, remembered that his father traveled with a bodyguard wherever he went and used a fictitious name.«38

Man muss sich daher weder wundern, dass es zwei Seeleute auf dem Campus sind, die Leona auf dem Weg zu ihrem zukünftigen Mann hinterher pfeifen, noch wie Leona auf sie reagiert: »Oh. Thank you!« Danke, Navy! Emil, der ganz wie der Führer bei seinem großen Filmdebüt vier Jahre nach Ausbruch des Weltkrieges, 11 Jahre nach dem Anfang deutschen Leidens, ein Jahr vor dem Beginn der deutschen Wiedergeburt, nach Amerika geflogen war, wird als erstes von Frieda, der deutschen Haushaltshilfe, am Fenster gesehen, als er gerade aus einem Taxi aussteigt: »Doctor! Doctor, das Kind! […] is here. Ganz allein.« Friedas Rückfall in die Muttersprache bündelt die gesamte Versuchsanordnung: Was in den nächsten 75 Minuten auf die Kinozuschauer zukommen wird, dreht sich um Therapie und Reeducation, alte und neue Immigrationen und die Frage der Assimilation, und, last but not least, die Familie im Spannungsfeld zwischen dem fremden und dem vertrauten Idiom. Noch zu Kriegszeiten sehnt sich Amerika nach Frieda. Der Blick der Kamera durch die Küchengardine hindurch auf den Neuankömmling hatte uns mit der Familienperspektive vertraut gemacht. Die Tochter, die sich schon lange auf den Gast gefreut hat, darf ihn identifizieren. »That’s him, alright? Emil.« Die halbe Familie wird komplettiert durch einen Satz neuer Mitglieder. Ein Nazi und eine Jüdin ziehen zeitgleich in den Container ein. Pat, die Tochter des Hauses hat innerhalb weniger Augenblicke einen gleichaltrigen Bruder, der zugleich Nazi, und eine jüdische Ersatzmutter, die zugleich ihre Lehrerin ist. Pat zeigt Emil sein neues Kinderzimmer.

38 William Harms and Ida de Pencier: »Schools Support Fight for Democracy«, in: Experiencing Education. 100 Years of Learning at The University of Chicago Laboratory Schools, http://www.ucls.uchicago.edu/about/history/ee/chapter5_1.pdf (01.03. 2007). 211

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»EMIL ›A radio!‹ PAT ›Best one in the house. Mike decided to let you have it as a special treat.‹ EMIL ›You call your father by his first name?‹ PAT ›Sure, why not?‹ EMIL ›Oh.‹ […] But Herr Doktor, your father is a very important man, not so?‹«

Dass die Entdeckung des Radios die Rede auf den Vater bringt, ist präzise. Der Exhibitionismus des Parierens der Deutschen wird durch die Übertragung der Vaterführerstimme durch das Radio eingeübt. Die Deutschen sind durch das Radio konditioniert. Aber selbst das beste Radio hat in den USA keine Chance gegen Vaterframes Lässigkeit. Emil Bruckner ist also bei uns eingezogen. Jetzt können wir alle Bruckner kucken.39 Es wird ernst. 1944 wird im Wohnzimmer der amerikanischen Professorenfamilie Bruckner gespielt. Der kleine Bruckner, der eben an der Tür noch so übersteif und förmlich seine Kinderstube ausgepackt hatte, schaut um die Ecke am Treppenvorsprung, ob die Luft rein ist. Er hat sein neues Kinderzimmer im ersten Stock und sich gerade umgezogen. Als er die Treppe hinunter schleicht, während die Familie nebenan am Frühstückstisch sitzt, sehen wir sie alle zum ersten Mal das Zeichen des Feindes: die HJ-Uniform. Bruckner hatte sie (die ganze Zeit über) unter seinem Anzug gehabt. Was bislang nur Vermutung war, ist jetzt gewiss. Stimme und Äußeres können abgeglichen, in Deckung gebracht werden. Ein Hakenkreuz, das, wie wir bereits erfahren haben, auch noch hässlich klingt, spaziert die Treppe hinunter in unser Wohnzimmer. Emil Bruckner hat sich gehäutet. Deutsche haben 1944 die Naziuniform als Unterwäsche. Der Austausch der Höflichkeiten kann ein Ende haben. Wollen wir etwas erreichen, müssen wir dem Nazi an die Wäsche gehen. Noch hat die allgemeine Öffentlichkeit keine Ahnung von der Größenordnung dieser Aufgabe. Der Nazi-Catwalk auf der Schautreppe hatte innerhalb unseres Hauses stattgefunden. Emil Bruckner ist eine innere Angelegenheit. Die Live-Übertragung des bösen Sounds kann nur von der amerikanischen Familie unterbrochen werden. Mit unserer Bekanntschaft mit dem offiziellen Emil, mit Bruckner in Uniform, lässt sich anhand der Studiostills, mit der United Artists den Film bewirbt, der weitere Plotverlauf des Films abkürzen. Anders als im Film, hat Emil im Schaukasten (nach außen hin) zumeist die Uniform an, was Verwechslungen erspart. Das Happy End des Laborexperiments fin39 »Zur Verdeutlichung und Bekräftigung des über ›das Bild‹ Anton Bruckners Gesagte wäre die Beigabe einer möglichst lückenlosen Bildreihe erwünscht und angebracht. Und zwar eine Doppelreihe von Bildern. Die erste Reihe müßte alle Lichtbilder aus den verschiedenen Lebensaltern des Meisters enthalten, die zweiten alle Kunstwerke, die Bruckner darstellen« (Reinhold Zimmermann: Um Anton Bruckners Vermächtnis. Ein Beitrag zur rassischen Erkenntnis germanischer Tonkunst, Stuttgart 1939, S. 14). 212

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det ausformuliert ebenfalls nur im Schaukasten statt. Emil ist konvertiert und hat einen neuen, schicken Anzug. Und Vater, Nazi, Tochter, Jüdin sind eine glückliche Familie. Um das zu erreichen, waren zwei Katalysatoren erforderlich: a) die jüdische Lehrerin und Kinderpsychologin (der in mehrfacher Hinsicht ›natürliche‹ Feind des Jungen), die parallel zu ihm die gelungene Assimilation vorführt und ihn in die Familie nachzieht.

b) die Tochter, das gelungene Produkt der amerikanischen Erziehung, die zwar um ein Haar heimtückisch von Emil erschlagen wird, aber weder nachtragend noch Opfer sein will. Emil Bruckner, der Vampir, sieht ein, dass er keine Macht über sie ausübt.

Die Vorkonditionierung des Kinopublikums durch die Fotografien in den Schaukästen, die als Studiostills ohnehin selten von Szenen stammen, die sich tatsächlich in einem Film befinden, bestätigt, dass ein Film wie dieser so nicht erzählt werden kann. Um das, was Emil Bruckner aus- bzw. 213

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böse macht, angemessen zu verstehen, reicht es nicht, ihn zu sehen. Man muss ihn hören. Ein Hitlerjunge ist erst einmal nur eine kaputte Stimme. Das Radio, das Gerät der Bewegung, das als Medium vom Film abgelöst worden war, wird am Ende auch auf der Figurenebene substituiert. Nachdem der Nazi vom Vater fast erwürgt, von der Jüdin gerettet und von der Tochter, wie sich herausstellen wird, nicht verstoßen worden ist, erhält er stellvertretend von der Jüdin das Geburtstagsgeschenk von ihrer zukünftigen Tochter, die zu der Zeit noch mit einer Kopfverletzung im Bett liegen muss. Es ist die Uhr mit Leuchtziffernblatt, die Emil sich immer so sehr gewünscht hatte. Die spezielle Widmung auf der Karte, die dem Geschenk beiliegt und die Emil laut vorliest, hat sich natürlich Vaterframe ausgedacht: »EMIL ›For Emil who will now know the time but who has yet to learn the score.‹ LEONA ›Oh, that’s very good, isn’t it? I wouldn’t be surprised if Mike has helped her write that.‹« Das kleine Memo in der Geschenkverpackung, der Zwischenbericht des Chemikers aus dem Forschungslabor, schließt die Zukunft auch weiterhin mit der Stimme kurz. Nur zu wissen, wie spät es ist, ist nicht genug. Man muss auch immer das Endergebnis in Erfahrung zu bringen haben. Wissen, wie die Partitur der Stimme aufgebaut zu sein hat. Dass es eine Uhr ist, die das Radio ersetzt – genau gesagt, eine Harman Armbanduhr, die man auch im Preisausschreiben zum Film gewinnen kann –, macht symbolisch Sinn. Zum einen handelt es sich bei ihr um ein ursprünglich für das Militär konstruiertes Objekt (was das Leuchtzifferblatt noch einmal betont), das eine neue Bedeutung für die Nachkriegszeit erhalten hat. Zum anderen, und weit wichtiger noch, koppelt sie die neue Zeit an den einzelnen Körper. Das Problem der Einstimmung der Körper wird aus dem Raum der Familie herausverlagert. Die neue Zeit ist eine, die man auch draußen mit sich herumträgt. Die man jederzeit abrufen kann. Harmons berühmter Firmenslogan lautete »Time will tell«. »MICHAEL ›Sit there! Give us that record about your father. In 1918, Karl Bruckner--------‹ EMIL ›In 1918, Karl Bruckner betrayed Germany on the home front […] He was one of those ---------- [He falters]‹.« Emils Platte, die die falsche Geschichte über seinen Vaters speichert und die wir nur kurz anzuspielen brauchen, um zu sehen, wie weit er in seiner eigenen Geschichte ist, bekommt nicht zuletzt deshalb einen Sprung, weil mittlerweile, in Minute 78 des Films, einiges an Zeit verstrichen ist, seit Emil zum ersten Mal in die USA gekommen ist. Zeit, die er mit der Familie und quasi-live auch mit uns im Kinoraum verbracht hat. So etwas lässt auch noch den verstocktesten Nazi aus der Spur geraten. Die Nazi-Leier hat ein Ende. Frühstücken! Und wie sah die Welt von morgen von 1944 nun tatsächlich aus?

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a) Am 30. Oktober 1947 wird Ring Lardner Jr., der Drehbuchautor von TOMORROW THE WORLD!, vom House of Unamerican Activities Committee vorgeladen. Er verweigert die Aussage und wird zu 12 Monaten Gefängnis verurteilt. Als einer der sogenannten Hollywood Ten stand er bis Mitte der 60er Jahre auf Hollywoods Schwarzer Liste. b) 1949 wird die Untersektion I der Special Awards Kategorie der Academy Awards revidiert, die 1944 eingeführt worden war und die als Kriterium für die Berücksichtigung von ›Filmen aus allen Ländern‹ festgelegt hatte »that they must be shown in Los Angeles within the award year, must be in English or with English subtitles.« Der neue Passus D, der zur Etablierung eines eigenen Foreign Language Film Awards überleitet, lautet nun: »Foreign Language Film Award. This award is intended to honor films first made in a language other than English.«40 »[O]ne sees an important configuration emerging here, a configuration in which films are characterized as being made ›in‹ certain languages (English serves as the ›unmarked‹ term) and destined for a rather specific form of exhibition (that is, in a commercial theater, in a certain country, during a particular business cycle).«41

Die neue Kategorie des fremdsprachigen Films wird konzeptualisiert als eine, die nur den Sound und nicht die filmischen Codes betrifft. Sprache meint immer nur Rede. »Once expelled from the cinema, foreignness echoes, that is, it returns as sound. […] Once foreignness is reduced to the speech of foreigners, the vocal sounds delivered as dialogue on the soundtrack and translated in the subtitles, language is, as it were, spoken for. […] [L]anguage […] is surrendered […] to the paradigm of speech and regarded as essentially irrelevant to any other aspect of the cinema, but certainly irrelevant to any conception of the codes operating to stitch the dialogue into the soundtrack and to cement the soundtrack and the image track together.«42

c) 1968 gibt es ein Wiedersehen mit Skippy Homeier in einer beliebten Fernseh-Familienserie. Skippy ist älter geworden, läuft aber noch immer mit einer Hakenkreuzbinde durch die Welt. Es ist eine Welt von morgen,

40 Beide Zitate nach: John Mowitt: »Foreignness and Language in Western Cinema«, in: Re-Takes. Postcoloniality and Foreign Film Languages, Minneapolis/London 2005, S. 47. 41 Vgl. ebd., S. 47 f. 42 Vgl. ebd., S. 63 f.

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die wir zu sehen bekommen, und Skippy macht den Amerikanern nach wie vor zu schaffen. Die Geschichte geht diesmal so: Um die verfeindeten Partien auf einem verarmten Planeten vereinigen zu können, war ein eigens dorthin abgesandter amerikanischer Historiker ausgerechnet auf die Idee gekommen, das historische Modell des Nationalsozialismus zu reaktivieren, das doch in ähnlichen Umständen schon einmal erfolgreich in der Wiederherstellung von Ordnung gewesen sei. Da die Idee des Nationalsozialismus im Grunde gar nicht so schlecht, seine Implementierung jedoch fehlerhaft gewesen sei, müssten sich diese Fehler in der historischen Distanz nicht automatisch wiederholen. Der Geschichtsprofessor irrte sich, worauf Melakon (Skippy Homeier) die Macht übernehmen konnte. Gewissermaßen als Strafe wird der Professor hypnotisiert und muss als Marionette in Fernsehdirektübertragungen in einer Dr. MabuseKonstellation Homeier seine Stimme leihen, der im Hintergrund die Fäden zieht. Dank des Einsatzes von Captain Kirk, Spock und Pille kann dieser Kreislauf jedoch durchbrochen und der Planet endgültig vom Nationalsozialismus befreit werden. Die Folge PATTERNS OF FORCE aus der zweiten Raumschiff Enterprise Staffel wurde zunächst nicht im Fernsehen gezeigt (auch nicht im Zuge der Reruns der 80er Jahre), war jedoch unter dem Titel SCHABLONEN DER GEWALT auf Video und DVD erhältlich. Österreich, du hast es besser! Der ORF strahlte in den 80er Jahren eine Originalversion mit Untertiteln aus.

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ZUR

ON THE THRESHOLD OF FICTION: RHETORIK DES DOKUMENTARISCHEN MENSCHENVERSUCHSFILM

IM

NICOLAS PETHES Tritt man an, das Motiv des Menschenversuchs in Spielfilmen auf die wissenschaftshistorische Frühgeschichte des Mediums zurückzuführen, so wechselt man implizit auch das Genre: Der Einsatz der Filmkamera in der medizinischen und psychologischen Forschung im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts1 bezog sich auf das Vermögen der photographischen Aufnahme, die Wirklichkeit nicht nur abzubilden, sondern als sie selbst zu speichern. Diese Fähigkeit zur ›Realaufzeichnung‹ korrelierte aufs beste mit den Ansprüchen eines durch immer feinere Messapparaturen und -techniken gesteigerten Empirismus in den Wissenschaften vom Leben um die Jahrhundertwende. Die entsprechenden Filme dienten daher auch in erster Linie der unmittelbaren Präsentation physiologischer Prozesse. Der Film erschien als ideales Medium zu deren Dokumentation und die unmittelbare Evidenz seiner Bilder schienen allenfalls zu didaktischen Zwecken – im Fall von Lehrfilmen – der begleitenden Kommentierung zu bedürfen.2 Der im vorliegenden Band einleitend angesprochene »Sprung« der Kinematographie aus den Laboren der Medizin und Experimentalpsychologie in die neue Massenunterhaltung des Kinos, den Friedrich Kittler in seiner Archäologie der Mediengeschichte festgehalten hat, ist mithin nicht nur ein institutioneller aus dem Labor ins Kino bzw. systemischer aus der Wissenschaft in die Populärkultur. Das Kino materialisiert in seinen Bildern ja überdies die Bilder einer vormals literarischen Einbildungskraft und wird zum Medium der Epen der Moderne.3 Es handelt

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Vgl. die Nachweise in der Einleitung zu diesem Sammelband, S. 7, Anm. 2. Vgl. die Beiträge von Julia B. Köhne und Barbara Wurm in diesem Band. Vgl. zu diesem Übergang den Beitrag von Marcus Krause in diesem Band sowie Torsten Hahn: Fluchtlinien des Politischen. Das Ende des Staats bei Alfred Döblin, Köln/Weimar/Wien 2003, S. 240-270. 217

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sich daher stets auch um einen Sprung vom Genre der Dokumentation in dasjenige der Fiktion eines Spielfilms. Dieser Zusammenhang ist für die Filmgeschichte des Menschenversuchs von zentralem Interesse: Denn zum einen sind es gerade Filme wie FRANKENSTEIN, DR. JEKYLL AND MR. HYDE oder ISLAND OF LOST SOULS, die als Spielfilme über Menschenexperimente die Funktion derartiger moderner Epen übernehmen (nicht allein die Tatsache, dass es sich in allen drei Fällen um Literaturverfilmungen handelt, stützt diese Beobachtung). Zugleich zeichnen alle diese Filme aber ein mehr oder weniger realistisches Bild der wissenschaftlichen und apparativen Grundlagen der Erforschung des lebenden Menschen und kreieren auf diese Weise in den Szenen, die den Wissenschaftler bei der Arbeit zeigen, einen dem wissenschaftlichen Dokumentarfilm vergleichbaren Bildhintergrund. Aber nicht nur im Zusammenhang mit der Frage nach der Funktion wissenschaftlicher Plots oder Referenzen im Kino ist bereits früh festgestellt worden, dass der Sprung aus dem Labor ins Kino nicht vollständig ist bzw. in seinem Vollzug die Sphären der Abbildung des Realen und der Bebilderung der Fiktion eher verbindet als strikt trennt. Denn auch ein Spielfilm, so etwa die Kinotheorie Siegfried Kracauers, zeichnet zwangsläufig Reales auf, auch wenn es sich dabei um bloße Kulissen bzw. gezielt schauspielernde Akteure handelt. Das, was der Kinozuschauer zu sehen bekommt, ist nichtsdestotrotz exakt dasjenige, was sich vor der Kamera abgespielt hat, und in dieser Hinsicht bleibt das Kino der physischen Realität verpflichtet und der Film ihr Dokument.4 In der gegenwärtigen Filmtheorie spielt diese Relation zwischen Fiktion und Dokumentation nach wie vor eine wichtige Rolle.5 Denn obgleich beide Kategorien als Genrebezeichnungen eindeutig scheinen, ist dennoch deutlich, dass ihre Unterscheidung kaum vollständig anhand immanenter Darstellungsformen eines Films bzw. der Intentionen seines Regisseurs möglich ist. Schon John Griersons kanonische Definition des Dokumentarischen als »creative treatment of actuality«6 zeigt, wie die Darstellung des Realen hier mit Kategorien des Ästhetischen konzeptualisiert wird. Umgekehrt weisen Filmtheorien wie diejenige von Bill Nichols darauf hin, dass Spielfilme den Eindruck einer realistischen Narration gewinnen, indem sie sich den in einer Gesellschaft vorherrschenden und konventionalisierten Darstellungsformen der Wirklichkeit anschlie-

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Siegfried Kracauer: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit, Frankfurt/Main 1964. Vgl. Eva Hohenbeger (Hg.): Bilder des Wirklichen. Texte zur Theorie des Dokumentarfilms, Berlin 1998. John Grierson: »The First Principle of Documentary«, in: Forsyth Hardy (Hg.): Grierson on Documentary, London 1966, S. 147. 218

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ßen.7 Geht man davon aus, dass auch als Dokumentationen gedrehte Filme dieser Konvention verpflichtet sind, wenn sie als Dokumentationen wahrgenommen werden wollen, so wird man die konstruktiven, selektiven und interpretatorischen Aspekte ihrer ›Realaufzeichnung‹ nur schwer von der Hand weisen können.8 Anhand dieses chiastischen Verhältnisses, innerhalb dessen das Dokumentarische ebenso inszeniert, wie das Fiktive dokumentiert, ist die Zuordnung der Genres möglicherweise schlicht rezipientenabhängig.9 Behält man sich aber den Anspruch einer Filmanalyse vor, wird man versuchen müssen, das Konzept der Realität so zu differenzieren, dass die verschiedenen Bezugsweisen, die Filme auf Wirklichkeit einerseits technisch vornehmen, andererseits diskursiv oder inszenatorisch behaupten, unterscheidbar und beschreibbar werden. Dieser Ansatz erlaubt es, filmische Bilder nicht als essentiell ›dokumentarisch‹ oder ›fiktional‹ zu klassifizieren, sondern als einen Diskurs über die indexikalische Funktion von Bildern und die pragmatischen Bedingungen ihrer Lesbarkeit – mit einem Wort: als einen Diskurs über das Bild der Wirklichkeit – zu verstehen.10 Im Fall des Menschenversuchsfilms, so wird im folgenden zu sehen sein, ist dieser Diskurs insofern intensiviert, als das Bild der Wirklichkeit nicht nur im allgemeinen Sinne auf die Relation zwischen apparativer Aufzeichnung (durch die Kamera) und Mimesis (des Lebens durch die erzählte Handlung) zielt, sondern den wissenschaftlichen Anspruch eines Menschenversuchs, den Menschen in seinen unmittelbaren Reaktionen auf experimentelle Stimuli zu zeigen, reflektiert. Anders als im Fall anderer wissenschaftlicher Praktiken als Kinostoff kommt der Film im Fall der Darstellung eines Menschenversuchs nicht umhin darauf zu rekurrieren, dass das Filmen eines Versuchsablaufs die Kamera an die gleiche Position rückt, an der der medizinische oder psychologische Experimentator aufgrund der Fundie-

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Vgl. Bill Nichols: Representing Reality. Issues and Concepts in Documentary, Bloomington 1991. 8 Vgl. am Beispiel ethnographischer Dokumentarfilme Elisabeth Mohn: Filming Culture. Spielarten des Dokumentierens nach der Repräsentationskrise, Stuttgart 2002. 9 Vgl. Brian Winston: Claiming the Real, London 1995 und Dirk Eitzen: »When is a Documentary? Documentary as a Mode of Reception«, in: Cinema Journal 35 (1995), S. 81-102. 10 Vgl. Frank Kessler: Fakt oder Fiktion? Zum pragmatischen Status dokumentarischer Bilder, in: montage a/v 7 (1998), Heft 2: »Lust am Dokument«, S. 63-78 sowie zuletzt ausführlich Angela Keppler: Mediale Gegenwart. Eine Theorie des Fernsehens am Beispiel der Darstellung von Gewalt, Frankfurt/Main 2006, S. 158-181. 219

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rung der Wissenschaften vom Leben im Paradigma der optischen Beobachtung steht.11 Auf diese Weise reflektiert der Spielfilm über einen Menschenversuch unbeschadet seiner Fiktionalität den Modus, in dem das Bild des Menschen im 20. Jahrhundert konstruiert wird. Dokumentarisch ist der Spielfilm damit nicht hinsichtlich dessen, was er zeigt, sondern wie er es zeigt. Auch der Spielfilm bleibt auf diese Weise auf den epistemischen Anspruch des motivisch gezeigten Menschenversuchs bezogen. Ein auffälliges Beispiel für diesen Zusammenhang ist der 20thCentury Fox-Film ON THE THRESHOLD OF SPACE von Robert D. Webb aus dem Jahr 1956. Der Film erscheint ein Jahr bevor der sowjetische Sputnik-Satellit dem amerikanischen Pioniergeist beim Wettlauf um das All eine erste Niederlage einbrachte und atmet noch den ungebrochenen Optimismus und Heroismus dieser letzten Ausweitung der frontier. Auf den Zusammenhang experimenteller Forschung mit dem Pioniergeist der amerikanischen Kolonialgeschichte verweist der Film explizit, wenngleich er für die spezifischen Anforderungen der experimentellen Weltraumforschung einschränkt: »This Columbus needs to be a doctor«. Dieser Arzt ist Captain Jim Hollenbeck, der den Einfluss extremer Höhen und Geschwindigkeiten auf den menschlichen Organismus in wagemutigen Selbstversuchen testet, indem er aus über zehn Kilometer Höhe Fallschirmsprünge aus Flugzeugen unternimmt, in einem raketenbetriebenen Schlitten Überschallgeschwindigkeit erreicht und schließlich in einer Kapsel mit einem Ballon bis an die Grenzen der Stratosphäre und mithin wortwörtlich an die Schwelle zum Weltraum reist. Diese Heldentaten erzählt der Film mit den genrespezifischen Stereotypisierungen: Guy Hamilton in der Rolle des Jim wird mit gebrochenem Arm aus dem Wasser gefischt und mit blutendem Gesicht aus der Kapsel befreit, bewahrt aber stets das gelassene Lächeln des Wissenschaftlers, mit dem er auch die Sorgen seiner tapferen frisch vermählten Frau Pat (Virginia Leith) vertreibt. Aber der Film unterscheidet sich zugleich substantiell von anderen Vertretern des Genres. In der zeitgenössischen Rezeption galt er sogar als »Colorful proof that science can be stranger and

11 Vgl. Jonathan Crary: Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert, Dresden/Basel 1996 sowie Walter Benjamin: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, in: ders.: Gesammelte Schriften Bd.1, Frankfurt/Main 1974, S. 431-469, hier S. 450: »Der Filmdarsteller spielt ja nicht vor einem Publikum sondern vor einer Apparatur. Der Aufnahmeleiter steht genau an der Stelle, an der bei der Eignungsprüfung der Versuchsleiter steht.« 220

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more interesting than science-fiction«.12 Diesen Attraktivitätsvorteil der Wissenschaft gegenüber der Fiktion versucht ON THE THRESHOLD OF SPACE in denjenigen Szenen zu nutzen, die die Versuchsverläufe selbst zeigen: Vor der ersten Einstellung, die einen menschlichen Körper über mehrere Kilometer im freien Fall zeigt, wird die Apparatur, die eine solche Versuchsbeobachtung überhaupt erlaubt, in die Filmerzählung eingeführt: Jims Vorgesetzter zeigt seinem Team einen Film, in dem das unkontrollierte Schlenkern der Extremitäten einer Versuchsperson im freien Fall deutlich zu sehen ist. Jim stellt sich in der Folge selbst als »guinea pig« für derartige Sprünge zur Verfügung, um den Gründen für diesen Kontrollverlust auf den Grund zu gehen und Techniken zu seiner Vermeidung entwickeln zu helfen. Entscheidend ist aber, dass auch seine Absprünge in der gleichen Weise in den Film hineinmontiert werden, wie die exemplarische Vorführung eines Probeabsprungs durch den Projektleiter. Denn diese Vorführung simuliert den dokumentarischen Gestus der Präsentation eines Absprungs weniger, als dass sie tatsächlich eine derartige Dokumentation ist. Das ist möglich, weil der Spielfilm ON THE THRESHOLD OF SPACE auf den Stützpunkten der US Air Force in Eglin, Florida und Holoman, New Mexico gedreht wurde. Diese Drehorte gestatteten es nicht nur, Originalschauplätze, technisches Inventar sowie echte Soldaten als Statisten in den Film einzubringen, sondern auch die Forschungsarbeiten des Weltraumprojekts selbst: Die Bilder der fallenden Versuchspersonen in ON THE THRESHOLD OF SPACE sind nämlich weder Stunts noch Simulationen, sondern Dokumentationen der tatsächlichen Belastungstests in Eglin und Holoman. Das Vorbild für die Filmfigur Jim war Captain Joseph Kittinger, der sich den im Film vorgeführten Experimenten unterzog und daher als einer der Pioniere für die Mercury- und Apollo-Projekte der USRaumfahrt gilt.13 Webbs Film erzählt damit nicht nur Kittingers Geschichte, sondern zeigt sie in Ausschnitten selbst. Auf der einen Seite wird man daher ON THE THRESHOLD OF SPACE als Beispiel für die Integration von Spiel- und Dokumentarfilmmaterial ansehen können, insofern die dokumentarischen Aufnahmen – nach ihrem erstmaligen, durch die sichtbare Kameraprojektion reflektierte, Auftreten – durchweg bruchlos in die Filmnarration hinein geschnitten werden: Von einer Einstellung auf das Flugzeug, in

12 So A.H. Weiler in seiner Rezension »Supersonic Age Pioneers: ›On the Threshold of Space‹ Bows at Globe. Film Is Tribute to Air Force’s Technicians« in der New York Times vom 30. März 1956. 13 Vgl. David DeVorkin: Race to the Stratosphere. Manned Scientific Ballooning in America, Berlin 1989 und Craig Ryan: The Pre-Astronauts: Manned Ballooning on the Threshold of Space, Annapolis 1995. 221

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dem Captain Jim in seinem falschirmgerüsteten Spezialsitz sitzt, wird auf einen Projektmitarbeiter geschnitten, der Datum, Gegenstand und Personal des Experiments mit zum Himmel gerichteten Augen auf Tonband spricht (d.h. ›dokumentiert‹), während aus dem Off der Countdown heruntergezählt wird. Bei »zero« sieht man zunächst, wie der Sitz im Innern des Flugzeugs durch die dafür vorgesehene Luke fällt, anschließend wird unmittelbar auf die dokumentarischen Aufnahmen des fallenden Captain Joseph geschnitten, der vor stahlblauem Himmel seine Salti dreht und mit den Armen rudert, bis sich der Fallschirm zu öffnen beginnt und das Versuchsobjekt auf offener See landet. Von diesem ›dokumentarischen‹ Aufprall schneidet der Film sofort zurück zur ›fiktiven‹ Crew auf dem Projektschiff, die Captain Jim birgt und nach seinen Eindrücken befragt. Belegt ON THE THRESHOLD OF SPACE damit, wie unmittelbar Filmhandlung und Wissenschaftsfilm im Falle der Kinematographie des Menschenexperiments korrelieren können, insofern der Spielfilm auf der Ebene der syntagmatischen Verkettung der Bilder keinen Bruch zwischen Spielfilm und Dokumentation markiert? Oder erweist der Spielfilm hier gar der Experimentalwissenschaft seine Referenz, indem er nicht nur dem aufopferungsbereiten Heroismus der Weltraumforscher ein Denkmal setzt, sondern zugleich implizit eingesteht, dass deren extremes Forschungsfeld mit den Mitteln des Spielfilms nicht zu erreichen sei und dem Vorsprung der Wissenschaft vor der Populärkultur schon allein dadurch Rechnung zu tragen ist, dass Hollywood seine Filme mit freundlicher Unterstützung der Air Force und ihres Filmmaterials produziert? So sehr diese Annahme den patriotischen und fortschrittsoptimistischen Geist des Films widerzuspiegeln scheint, so wenig halten die Dokumentarmontagen ihr auf den zweiten Blick stand. Auffallend ist vor allem, dass die Sequenzen mit dem fallenden Kittinger keinesfalls bloß ›dokumentarisch‹ sind. Vielmehr sind sie unterlegt mit dramatischer Filmmusik, die nicht nur die Anspannung der Versuchsbeobachter und die Gefahr, in der die Versuchsperson im wahrsten Sinne des Wortes ›schwebt‹ zum Ausdruck bringen, sondern zwangsläufig auch das Rauschen des Windes und andere ›reale‹ Begleitumstände des Falls übertönt bzw. ersetzt. Diese Hinzufügung legt nahe, dass Webb dem authentischen Wert des dokumentarischen Materials weit weniger vertraute, als es den Anschein hat. Und tatsächlich sind ja die Bilder eines fallenden Körpers für sich genommen alles andere als aussagekräftig, geschweige denn unmittelbar evidente Versuchsergebnisse. Was immer dem menschlichen Körper und Wahrnehmungssystem unter den extremen Bedingungen eines Sturzes aus solcher Höhe zugemutet wird, es erschließt sich nicht dem schieren visuellen Nachvollzug dieses Sturzes. Und tatsächlich fällt die

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Wahl auf den Arzt Jim Hollenbeck als Versuchsperson im Film ja aufgrund der Erwägung, dass er als Fachmann in der Lage sei, seine Erfahrungen zu objektivieren und zu verbalisieren. In der Folge schließen an die ›dokumentarischen‹ Sturzsequenzen regelmäßig Szenen an, in denen Jim seine Erfahrungen kommentiert und auswertet. Man wird also festhalten müssen, dass die authentischen Versuchsdokumentation in ON THE THRESHOLD OF SPACE auf zweierlei Weise supplementiert wird: durch die dramatische Musik als genrespezifischer Code und durch die retrospektive Narrativierung. Es handelt sich damit in beiden Fällen um eine Supplementierung, die einen Medienwechsel vom ›dokumentarischen‹ Bild in die (emotive) Musik und die (explikative) Sprache vornimmt. So sehr der ›reale‹ Captain Joseph Kittinger im Film die Rolle des Stuntman für den ›fiktiven‹ Captain Jim Hollenbeck übernimmt, so sehr fungiert letzterer umgehrt als ›Stuntman‹ bei der Erläuterung dessen, was Kittingers Stunt nicht zu zeigen imstande ist. Der Spielfilm ON THE THRESHOLD OF SPACE, der sich in seiner Referenz an die Leistungen der US-amerikanischen Weltraumforschung aus deren Versuchsdokumentationen selbst bedient, ist daher nicht nur als Medium der Popularisierung dieser Leistungen zu sehen. Vielmehr sind es erst die Darstellungsformen des Spielfilms, die den originalen Dokumentarbildern einen narrativen Rahmen verleihen. Ohne diesen Rahmen erschlösse sich die Intensität des an sich sinnlosen Herumwirbelns der Versuchspersonen im freien Fall auf der zweidimensionalen Fläche der Leinwand nicht – heutige Zuschauer erinnern die Fallsequenzen ohnehin stark an das gänzlich Unspektakuläre von Golfübertragungen, bei denen die Kamera in ähnlich hilfloser Weise versucht, der Flugbahn des Balls zu folgen, ohne dessen Bewegung in der Kamerafahrt stillzustellen, wie die US Air Force 1955 in der Wüste von New Mexico dem Zappeln ihrer Versuchspersonen. Mit dieser Umkehr des vermeintlichen Bedingungsverhältnisses zwischen Dokumentation und Fiktion, zwischen wissenschaftlichem Menschenversuch und seiner Erzählung im Spielfilm, ist ein zentraler systematischer Aspekt von Webbs Film angesprochen. Hinzu kommt aber noch der historische Kontext der Versuchsanordnung, die eine extreme Grenzerfahrung, wie ein Sprung aus mehreren Kilometern Höhe sie darstellt, betrifft. Dieser historische Kontext bleibt bei Webb von einer Ausnahme abgesehen gänzlich unerwähnt. Diese Ausnahme ist die Szene, in der der neue Projektleiter Jim seine Skepsis gegenüber den extremen Experimenten mitteilt: »One accident and all human experimentation will be stopped as it was back in ‘45«. Die Experimente, die 1945 beendet wurden, sind diejenigen in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern. Zu diesen Experimenten zählten auch die so genannten Unter-

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druckversuche, die der Stabsarzt der Luftwaffe Dr. Sigmund Rascher in Dachau durchführte. In einem Brief an Heinrich Himmler vom April 1942 führt Rascher aus: »Es gilt die Frage zu klären, ob die theoretisch ermittelten Werte über die Lebensdauer des Menschen in sauerstoffarmer Luft und niedrigem Druck mit den im praktischen Versuch gewonnen Resultaten übereinstimmen. Es besteht die Behauptung, daß ein Fallschirmspringer bei Absprung aus 12 km Höhe durch den Sauerstoffmangel schwerste Schädigungen, wahrscheinlicherweise den Tod erleide.«14

Für diese »Höhenflugforschung« zwang Rascher annähernd 200 zumeist jüdische Häftlinge in eine Unterdruckkammer und simulierte dort extreme Höhen- sowie Sinkversuche, bei denen seine Opfer orientierungslos wurden, schrieen, zitterten, das Bewusstsein verloren und starben. Der Tod der Versuchspersonen wurde dabei nicht als Unfall, sondern, insofern er die Grenze der Belastbarkeit markierte, als ausdrückliches Versuchsziel angesehen, das zudem eine Obduktion erlaubte, anhand derer ein Befund über die organischen Folgen von Unterdruck und Sauerstoffmangel möglich war. Die Unterschiede zu den Projekten in Eglin und Holoman 15 Jahre später sind offenkundig – hinsichtlicht der historisch nicht vergleichbaren Rahmenbedingungen des Lagers, dem Kontext weiterer ›terminaler Experimente‹ in der NS-Medizin, und auch, insofern Rascher zwar auch Arzt und Luftwaffenoffizier in einem war, seine Selbstversuche aber im Unterschied zu den filmischen Heroen just abbrach und durch Häftlinge fortführen ließ, als ihm die Belastungen zu groß wurden. Aber es gibt dennoch Parallelen, zu denen nicht zuletzt die Tatsache gehört, dass auch Rascher seine Versuche filmisch dokumentierte.15 Vor allem aber existieren unmittelbare Verbindungslinien von den Versuchen im Dritten Reich zur US-Weltraumforschung: Die Entwicklung der unter dem Namen V-2 bekannt gewordenen Rakete bildete bekanntlich die Grundlagen für die Raumfahrtprojekte nach dem Krieg, insofern der CIA unter dem Codenamen Operation Paperclip den Leiter des deutschen Raketenprogramms Wernher von Braun und sein Team in die USA transferierte und mit der Fortsetzung seiner Arbeiten für die US Army, ab 1958 dann für die NA-

14 Alexander Mitscherlich/Fred Mielke (Hg.): Medizin oder Menschlichkeit. Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses, Frankfurt/Main 1960, S. 22. 15 Ebd., S. 31. Einzelbilder aus Raschers Film lagen beim Nürnberger Ärzteprozess 1947 als ›Exhibit 41‹ vor und sind heute in der Gedenkstätte Dachau zu sehen. 224

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SA, beauftragte.16 Seine Arbeiten bewarb von Braun später ebenfalls unter Verwendung des Films, und zwar in seinen für Walt Disney produzierten Fernsehsendungen »Man In Space« (1955), »Man and the Moon« (1956) sowie »Mars and Beyond« (1957). Die entscheidende, strukturelle Parallele zwischen den NS-Versuchen und dem Szenario von ON THE THRESHOLD OF SPACE betrifft aber die angesprochene Frage nach der Darstellbarkeit der Grenzerfahrungen, denen die Versuchspersonen unterzogen wurden. Was im Fall des Spielfilms von 1956 wie eine bloße Referenz an Wissenschaftlichkeit wirken mag, wird im Zusammenhang mit den Versuchen in den Konzentrationslagern als prinzipielles Problem der Vermittelbarkeit und Zeugenschaft diskutiert: Die Quelle, aus der oben die Unterdruckkammerversuche nachgewiesen wurde, ist die Dokumentation der Nürnberger Ärzteprozesse, die 1948 zum ersten Mal von Alexander Mitscherlich und Fred Mielke publiziert wurde. Auch in schriftlicher Form ist das Genre der Dokumentation mithin für den Menschenversuch zentral, und im Zusammenhang mit der NS-Medizin ist es möglicherweise sogar die einzig denkbare Darstellungsform: Da sich angesichts der verbrecherischen Experimente sinnstiftende Verfahren der Narrativierung oder anderweitiger Rahmungen verbieten, ist die Erinnerung an den Holocaust an bloße Dokumentation verwiesen. Im Zusammenhang der Gerichtsverhandlungen, die bemüht waren, die begangenen Verbrechen aufzudecken und zu bestrafen, wurde dabei ein weitere Spielart des Dokumentierens wichtig, die Zeugenaussage: Der Holocaust als ganzer und die KZ-Experimente als einer seiner Bestandteile wurden anhand von Aussagen der Täter, vor allem aber der überlebenden Opfer bekannt. Obgleich die Zeugenaussage über Erlebtes berichtet und mithin dokumentarischen Wert beanspruchen darf, ist ihr Stellenwert in der Diskussion über Auschwitz aber keineswegs unumstritten. Auf der einen Seite steht ein Projekt wie Steven Spielbergs Shoa Foundation, das knapp 50 Jahre nach Kriegsende – und das heißt: im Angesicht der immer weiter abnehmenden Zahl unmittelbarer Augenzeugen – Überlebende des Holocaust interviewt und diese Interviews als Bilddokumente archiviert. Und Giorgio Agamben hat zuletzt argumentiert, dass die »Wirklichkeit«, die ein authentisches Zeugnis vermittle, gar notwendig zu der nackten »Wahrheit« statistischer Dokumentationen zu treten habe.17 Dagegen stehen allerdings auf der anderen Seite Einwände wie derjenige von Jean-François Lyotard, die zu bedenken geben, dass es aus Ausch16 Vgl. Wolfgang W.E. Samuel: American Raiders: The Race to Capture the Luftwaffe’s Secrets, Jackson 2004. 17 Giorgio Agamben: Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge, Frankfurt/Main 2003. 225

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witz gar keine Zeugenaussagen der Opfer geben könne, insofern diese Opfer ermordet worden und damit ohne Stimme seien. Von den Gaskammern sei keine Erzählung möglich, insofern man zwar über deren Anlage und Ausstattung, nicht aber über die Ereignisse, die sich in ihnen vollzogen haben, berichten könne.18 Ähnliches ließe sich auch für die Unterdruckkammern sagen, deren zu Tode gekommene Opfer keine Auskunft mehr über die Experimente, die an ihnen vorgenommen wurden, zu geben vermocht haben. Die Aporie, auf die Lyotard damit hinweist, ist eine Undarstellbarkeit, die aber nicht in ein Verschweigen oder Vergessen umschlagen dürfe. Folglich gilt es, Darstellungsformen zu finden, die dieser Undarstellbarkeit gerecht zu werden versuchen, d.h. die das Unerzählbare unter Berücksichtigung dieser Unerzählbarkeit in Erinnerung halten. Angesichts dieser Aporie haben sich insbesondere in der Literatur nach 1945 Schreibverfahren entwickelt, die die Simultaneität von Undarstellbarkeit und Darstellung in einer spezifischen Anlehnung an dokumentarische Genres umzusetzen bemüht waren. Das Szenario einer Gerichtsverhandlung mit Zeugenaussagen wurde dabei – denkt man an Rolf Hochhuths Stellvertreter oder Peter Weiß’ Die Ermittlung – zum Schema einer dokumentarischen Dramatik, in der an die Stelle von Repliken des Dramenpersonals Aussagen von Zeugen traten. Und in den Prosatexten von Alexander Kluge wurde das andere Verständnis der Dokumentation, die photographische Aufzeichnung, aufgegriffen und in eine Konstellation mit erzählten Passagen gestellt, die den Belegcharakter der Bilder eher in Frage stellte als ausnutzte. 19 Diese Techniken nutzen in gleicher Weise auch Spielfilme über die Menschenexperimente im Dritten Reich. So beruhen sowohl Yves Simoneaus Fernsehfilm über die Verfilmung der Kriegsverbrecherprozesse in Nürnberg (2001) als auch Roland Suso Richters Film NICHTS ALS DIE WAHRHEIT (1999), die das de facto ausgebliebene Verfahren gegen Joseph Mengele imaginiert, zu großen Teilen auf Gerichtsszenen, in denen die zur Anklage stehenden Verbrechen durch Zeugenaussagen rekonstruiert werden. Zwar montiert auch NUREMBERG in die Gerichtsverhandlung die filmische Dokumentation der Auschwitz-Befreiung ein, über die Menschenversuche erfährt man aber hier wie in NICHTS ALS DIE WAHRHEIT nur durch die Zeugenaussagen von Überlebenden, deren zitternder

18 Jean-François Lyotard: Streitgespräche oder »Sprechen nach Auschwitz«, Bremen 1981. 19 Vgl. Nicolas Pethes: »Liebesversuch/Sterilisationsexperiment. Das Lager als Labor zwischen Archiv und Literatur«, in: Birgit Griesecke/Marcus Krause/Nicolas Pethes/Katja Sabisch (Hg.): Kulturgeschichte des Menschenversuchs im 20. Jahrhundert, Frankfurt/Main 2008 (im Druck). 226

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Körper und gebrochene Syntax sprechende Belege für die Undarstellbarkeit des Erlebten sind. Auch wenn der Vergleich nun um so weiter hergeholt erscheinen mag, bedient sich auch ON THE THRESHOLD OF SPACE vergleichbarer Darstellungstechniken: Auf die Montage eines tatsächlichen Dokumentarfilms (footage) folgt die Befragung der Versuchsperson (interview), die bemüht ist, die erlebte Grenzerfahrung in Worte zu fassen. Footage und Interview sind auf diese Weise die beiden Modi des Dokumentarischen, die der Film für die Rekonstruktion eines Menschenversuchs zugleich zur Verfügung stellt und einsetzt. Es handelt sich aber in beiden Fällen um dokumentarische Modi, die die Grenze des Darstellbaren eher bestätigen als überwinden: Was die Heldengeschichte ON THE THRESHOLD OF SPACE noch in einem Narrativ über wissenschaftliche Pionierleistungen aufhebt, tritt in weiteren Menschenversuchsfilmen gerade dann am deutlichsten in seiner Undarstellbarkeit zutage, wenn dokumentarisches Material benutzt oder simuliert wird: Das gilt für die Berichte über einen weiteren humanexperimentellen Forschungszweig der CIA, die Konditionierungsversuche, die unter dem Decknamen Operation Artichoke im Projekt MK Ultra im Kontext des Vietnamkriegs vorangetrieben wurden: Weder die Originalaufnahmen eines mit LSD behandelten und hypnotisierten Soldaten (footage) noch die nachträgliche Befragung eines angeblichen Opfers der Experimente (interview) dokumentieren mehr als die Sprachlosigkeit der Versuchspersonen.20 Diese Sprachlosigkeit ist Kehrseite einer Rhetorik des Dokumentarischen, deren Authentizitätsgehalt weniger auf der garantierten Referenz auf Wirklichkeit, sondern auf der Inszenierung bestimmter Bildarten (die unscharfen und unfokussierten Bilder fallender Körper), Gesprächssituationen (die Verhöre von Augenzeugen z.B. im Gerichtssaal) und Sprechweisen (die Ungenauigkeit und Zerstückelung der Sprache angesichts der Intensität der Erfahrung) beruht. Diese Rhetorik des Dokumentarischen besteht im Fall von Grenzerfahrungen, wie sie extreme Menschenversuche darstellen, gerade nicht in der Eindeutigkeit und Transparenz des dokumentarischen Materials, sondern in einer konstitutiven Unschärfe, die ein strukturelles Korrelat zur Undarstellbarkeit des Erlebten bildet. Wie unabhängig diese Bildrhetorik letztlich von der Genreunterscheidung Spielfilm/Dokumentation ist, sei abschließend am Beispiel einer jüngeren Adaption eines Humanexperiments belegt, Oliver Hirschbiegels DAS EXPERIMENT (2001). Die Versuchsanordnung, von der dieser Film erzählt, geht auf die Gefängnisstudie des Stanforder Sozialpsycho20 Vgl. den Dokumentarfilm CODENAME ARTICHOKE: DIE GEHEIMEN MENSCHENEXPERIMENTE DER CIA von Egmont R. Koch und Michael Wech (ARD 2002). 227

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logen Philip Zimbardo zurück, der 1972 20 Collegestudenten in ›Wärter‹ und ›Gefangene‹ aufteilte und in einem simulierten Gefängnis zwei Wochen lang in ihrem wechselseitigen Verhalten beobachten wollte. Wie in Hirschbiegels Film musste das Experiment aber nach sechs Tagen aufgrund der Gewalteskalation seitens der Wärter und Depressionen seitens der Gefangenen abgebrochen werden.21 Zimbardo dokumentierte seinen Versuch seinerzeit mit Hilfe versteckter Kameras, und zwar sowohl in Gestalt von Aufnahmen der tatsächlichen Abläufe im ›Gefängnis‹ als auch mittels Befragungen der Beteiligten – footage und interview also.22 Die Bilder der Demütigungen der Gefangenen durch die Wärter sind gewohnt unscharf und die Nachfolgeinterviews uneindeutig. Und doch erweckt Zimbardos ›Realaufzeichnung‹ durchweg den Eindruck einer massiven Inszenierung und Rhetorizität, was nicht zuletzt auf die Tatsache zurückzuführen ist, dass ein sozialpsychologisches Experiment wie das Stanforder, für das Kulissen eingerichtet, Personen eingekleidet und Verhaltensregeln vorgegeben wurden und das schließlich nach den Vorgaben des Wissenschaftsbetriebs ausgewertet bzw. kritisiert wurde, tatsächlich (fast) alle Bedingungen einer theatralen Inszenierung erfüllt. Interessanterweise versucht sich möglicherweise aus eben diesem Grund die Spielfilmadaption des Versuchs aus dem Jahr 2001 denkbar nah an diese Rhetoriken des Dokumentarischen anzunähern: Auch bei Hirschbiegel wechseln die Bilder vom Geschehen in den Zellen mit Interviewszenen der Versuchspersonen durch die Versuchsleiter ab. Vor allem aber wird der Protagonist Tarek (Moritz Bleibtreu), der sich als Undercover-Journalist einsperren lässt, mit einem spezifischen Instrument der Gegendokumentation ausgestattet: Mit einer kleinen digitalen Kamera, die in seine Brille integriert ist, filmt Tarek alle Übergriffe der Wärter, um seine Story später anschaulich belegen zu können. Immer wenn Tarek die kleine Kamera anschaltet, wechselt die filmische Darstellung von den standardisierten Halbtotalen in Farbe zu einer subjektiven, schwarz-weiß-filmenden Handkamera, die Tareks Wahrnehmungen auf diese Weise ›exakt‹ dokumentiert. Als Tarek auffliegt und ohne seine Kamera in eine Isolierzelle gesperrt wird, greift der Film schließlich zu einem dritten ›dokumentarischen‹ Mittel, indem er die Wahrnehmungen

21 Vgl. Nicolas Pethes: »Mind Control im Kerkersystem. Darstellungsversuche des ›Stanford Prison Experiment‹«, in: Bettina von Jagow/Florian Steger (Hg.): Differenzerfahrung und Selbst, Bewußtsein und Wahrnehmung in Literatur und Geschichte des 20. Jahrhunderts, Heidelberg 2003, S. 165194. 22 Vgl. Zimbardos 1991 veröffentlichte Videodokumentation QUIET RAGE. 228

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und hilflosen Bewegungen seines Protagonisten in der stockdunklen Kammer im Grünlicht zeigt. In allen Fällen zitiert der Spielfilm Bildtechnik und Rhetorik einer wissenschaftlichen Dokumentation, und die Darstellungstechnik des Menschenversuchs ist damit ebenso sehr Gegenstand des Films, wie das dargestellte Sozialexperiment. Insofern aber die psychologischen Auswertungsinterviews, die Aufnahmen der versteckten Kameras wie die Versuche, Grenzerfahrungen mit innovativen Filmtechniken zugänglich zu machen, bei Zimbardo wie bei Hirschbiegel auf diese Weise lediglich über die Vermittelbarkeit eines Menschenversuchs, nicht aber über dessen wissenschaftliche Erträge Auskunft geben, wird deutlich: Filme über Menschenversuche konstruieren eine spezifische Rhetorik des Dokumentarischen, die letztlich nichts anderes dokumentieren, als die Undokumentierbarkeit des Humanexperiments.

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M I N D C O N T R O L U N D M O N T AG E . I PCRESS F ILE « – »A C LOCKWORK O RANGE « – »T HE P ARALLAX V IEW « ARNO METELING Ich kommanda Du kommanda Er kommanda Sie kommanda Wer kommanda? Telekommanda!

Mediengruppe Telekommander: Kommanda (2004)

1. Brainwashed: Geist und Politik Die technische Beeinflussung menschlicher Gedanken ist zu Beginn des 21. Jahrhunderts immer noch ein populäres Thema in den Medien. So ist auch in jüngeren Fernsehserien wie LOST unverändert eine experimentelle Anordnung, sprich: »Gehirnwäsche«, zu beobachten, die bereits in den 1960er Jahren in Literatur und Film ikonisch geworden ist. Die LOSTFolge »Not in Portland«1 zeigt das Opfer Karl an einen Sessel gefesselt – bezeichnenderweise im »Room 23«.2 Er ist gezwungen, mit fixiertem Blick wechselnde Bildprojektionen an der Wand über sich ergehen zu lassen, auf denen zusätzlich schriftliche Aussagen erscheinen und die mit einer musikalischen Geräuschkulisse unterlegt sind, um zu einem unbekannten Zweck konditioniert oder auch nur gefoltert zu werden. Das Ziel dieser Maßnahme bleibt verborgen. Da diese sehr spezifische Versuchsanordnung aber nur kursorisch in Erscheinung tritt und auch nicht zum Thema des Handlungsstrangs der Folge wird, lässt sich vermuten, dass es 1 2

LOST: »NOT IN PORTLAND«. Folge 54 (3x07), Erstausstrahlung: 07.02.2007. Auf den numerologischen Aspekt verschiedener Verschwörungstheorien wird in LOST ständig referiert. Zur Bedeutung der Zahl »23« siehe beispielsweise Robert Anton Wilson: »Das 23-Rätsel«, in: ders.: Das Lexikon der Verschwörungstheorien. Verschwörungen, Intrigen, Geheimbünde, hg. von Mathias Bröckers, Frankfurt/Main 2000, S. 129-131. 231

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sich um eine allegorisch entleerte Szene handelt. Diese Gehirnwäsche verweist auf kein wissenschaftliches Experiment mehr, sondern ist allein noch eine Chiffre für Skrupellosigkeit, Grausamkeit und den Willen zur Macht über andere Menschen. Es geht ausschließlich um die Zuweisung von Attributen, die den »Feind« oder das »Böse«, die in LOST von den »others« verkörpert werden, auszeichnen.3 Dieses Bild von der Versuchsanordnung ist allerdings, so kann man festhalten, inzwischen so sehr ins Gedächtnis der populären Medien vorgedrungen, dass es instantan ein bestimmtes Wissen über das Thema der experimentellen Gedankenkontrolle abruft und nur noch angedeutet werden muss. Auffällig ist, wie diese sehr spezifische Versuchsanordnung kontinuierlich und mit nur wenigen Variationen seit über vierzig Jahren in Literatur, Film und Fernsehen perpetuiert wird. Ausgehend von diesem aktuellen Fernsehbeispiel kann man deshalb wohl von so etwas wie einer »paradigmatischen Metapher« oder einem »Emblem« für eine experimentelle Wissenschaft sprechen, die, so das Formular des kollektiven Verdachts, eine skrupellose Souveränität über das nackte Leben ihrer Probanden ausübt.4 Sie ist dabei weniger Repräsentation und Referenz einer nachzuprüfenden wissenschaftlichen Mind Control-Forschung, über deren tatsächliche Reichweite und Erfolge nur wenig Gesichertes bekannt ist, sondern zunächst der Fokus eines unübersichtlichen und paranoischen Dispositivs, dessen Fluchtlinien unterschiedlichsten Quellen entspringen. Torsten Hahn und Marcus Krause haben auf die Herkunft des Mind Control-Diskurses aus der populären Literatur des frühen 20. Jahrhunderts und seiner Doppelkarriere in Wissenschaft und Popular Culture hingewiesen.5 In der Tat lässt sich gut eine kleine literarische Reihe der verbrecherischen Gedankenbeeinflussung über die Dr. Fu Manchu-Romane Sax Rohmers (1913 ff.),6 die Dr. Mabuse-Romane 3

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Der Einsatz des Freund-Feind-Schemas in LOST, in der es wesentlich um die Bildung von Gemeinschaft im Kontext einer Robinsonade geht, entspricht deshalb durchaus der Definition Carl Schmitts. Vgl. Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen, Berlin 1932. Vgl. Giorgio Agamben: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt/Main 2002. Vgl. Torsten Hahn/Marcus Krause: R.H.I.C.E.D.O.M. Unveröffentlichter Vortrag. Siehe auch Torsten Hahn: »Z wie Zombie oder V wie Verräter«, in: Cornelia Epping-Jäger/Torsten Hahn/Erhard Schüttpelz (Hg.): Freund, Feind und Verrat. Das politische Feld der Medien, Köln 2004, S. 118-137. Sax Rohmer schreibt seinen ersten Dr. Fu Manchu-Roman The Mystery of Dr. Fu Manchu (aka The Insidious Dr. Fu Manchu) im Jahr 1913. Zwölf weitere Romane setzen die Geschichte um den chinesischen Meisterverbrecher und seine Gegner, wie die Briten Nayland Smith und Dr. Petrie, die wie die Protagonisten in Bram Stokers Dracula (1897) das britische Empire gegen die orientalische Gefahr verteidigen, fort. 232

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Norbert Jacques’ (1921 ff.)7 bis zu Richard Condons Roman The Manchurian Candidate (1959) verfolgen – mit einem Seitenschlenker zu Thomas Manns Novelle Mario und der Zauberer (1930). Flankiert wird diese Reihe beispielsweise vom hypnotischen Herr-Knecht-Komplex in Robert Wienes Film DAS CABINET DES DR. CALIGARI (1919).8 Von Bedeutung für das Mind Control-Thema sind aber nicht nur die Zirkulationen, die zwischen der Literatur und den meist bekannteren Filmversionen der jeweiligen Stoffe stattfinden, sondern auch jene zwischen den Künsten und Medien sowie den Systemen Wissenschaft, Militär und Politik. Denn wie Eva Horn einleuchtend ausführt, ist eine der wesentlichen Kategorien des Politischen – in impliziter Ergänzung zu einer rein formalen Freund-Feind-Unterscheidung beispielsweise bei Carl Schmitt9 – die »Intelligence, deutsch: militärisch-politische Aufklärung«10 als Nexus von Wissen und Entscheidung. Die Aufklärung über den Feind und seine Methoden, etwas, das im Wesentlichen die Arbeit geheimer Nachrichtendienste bestimmt, ist unerlässlich, um politische und das heißt immer auch militärische Entscheidungen, zu treffen.11 Geheimdienstarbeit, militärische und wissenschaftliche Forschung sind deshalb vom Politischen nicht zu trennen. So sind für Horn schon die »eigentlichen Helden des Kalten Kriegs […] darum keine Männer in Uniform, sondern Zivilisten: Wissenschaftler und Geheimdienstmitarbei7

Der deutsche Übermensch Dr. Mabuse von Norbert Jacques’ ist das kontinentale Gegenstück zu Dr. Fu Manchu. Dr. Mabuse der Spieler (1921/22) ist der erste Roman, dem Ingenieur Mars, Mabuses Kolonie, Chemiker Null und Das Testament des Dr. Mabuse folgen. Berühmt geworden ist die Figur durch die Filme von Fritz Lang: DR. MABUSE, DER SPIELER (1922), DAS TESTAMENT DES DR. MABUSE (D 1932/33, allerdings Verbot der Aufführung, dann 1943 Aufführung in New York) und DIE 1000 AUGEN DES DR. MABUSE (1960) sowie eine Reihe von Produktionen in den 1960er Jahren. 8 Zum Konzept des »hypnotischen Verbrechers« siehe Stefan Andriopoulos: Besessene Körper. Hypnose, Körperschaften und die Erfindung des Kinos, München 2000. Siehe zum Film Siegfried Kracauer: Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films [1947], Frankfurt/ Main 1984. Monströse Dienerfiguren wie Golems, Mumien und Zombies folgen diesem Format des »hypnotischen Verbrechers«, der von seinem Meister ferngesteuert wird. 9 Vgl. Schmitt: Der Begriff des Politischen (Anm. 3). 10 Eva Horn: »Secret Intelligence. Zur Epistemologie der Nachrichtendienste«, in: Rudolf Maresch/Niels Werber (Hg.), Raum – Wissen – Macht, Frankfurt/Main 2002, S. 173-192, hier S. 173. Ausführlicher noch: Eva Horn: »Geheime Dienste. Über Praktiken und Wissensformen der Spionage«, in: Lettre International 53 (2001), S. 56-64. 11 In deutlicher Konsequenz der wohl bekanntesten Sentenz Carl von Clausewitz’, »daß der Krieg nichts ist als die fortgesetzte Staatspolitik mit anderen Mitteln«. Carl von Clausewitz: Vom Kriege. Hinterlassenes Werk [183234], Frankfurt/Main/Berlin/Wien 1980, S. 8. 233

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ter«.12 Der Schalter, den sie als »schönstes Emblem«13 des Kalten Krieges definiert, findet deshalb logisch auch seine Entsprechung im kybernetischen Phantasma vom Schalter im Kopf. Exakt diese Auflösung der Grenze zwischen Wissen und Phantasma definiert auch den Mind Control-Diskurs und führt in den USA gegen Ende des Koreakriegs (1950-1953) zu dem notorischsten Take Off der Erforschung von Gedankenkontrolle durch den amerikanischen Nachrichtendienst CIA (Central Intelligence Agency). 1953 entsteht das inzwischen berüchtigte Projekt »MK-ULTRA«, erwachsen aus den Vorläuferprojekten »Bluebird« und »MK-ARTICHOKE«, mit dem Ziel der Gedankenkontrolle des Probanden, um ein Gegengewicht zu vermuteten Experimenten Chinas und der Sowjetunion aufzustellen. Somit basiert die Forschung, die bis heute zu zahlreichen Spekulationen und Verschwörungstheorien führt, wiederum selbst auf einem Verdacht, auf vagen Informationen und Imaginationen über Gehirnwäschen, die während des Koreakrieges an amerikanischen Gefangenen durchgeführt worden seien. MK-ULTRA kombiniert in mehr als einhundert Unterprojekten verschiedenste Methoden der Gedankenkontrolle.14 Neben konventionellen Folter- und Verhörtechniken wie Essens- und Schlafentzug werden verschiedene Hypnoseverfahren und bewusstseinsverändernde Drogen wie Marihuana, LSD, Heroin und Natrium-Thiopental (= Sodium-Pentothal oder Sodium-Amytal), ein Anästhetikum, das auch als »Wahrheitsserum« bekannt geworden ist, eingesetzt. Später werden auch elektronische Techniken, beispielsweise Radiowellen, benutzt. Das Ziel von MKULTRA ist die Fernsteuerung des Probanden, genauer: Es soll nicht nur eine Gehirnwäsche während des Verhörs oder der Suggestion stattfinden, sondern nach dem Verhör soll diese auch vergessen werden. Es geht also sowohl um Wahrheits- und Kontroll- als auch um Vergessenstechniken. Letztlich sollen, als Echo auf die vermuteten Manipulationen der Soldaten aus Korea, ferngesteuerte Spione ohne Wissen und Erinnerung produziert werden, »Sleepers«, die auf einen Auslöser (Trigger) hin willen-

12 Eva Horn: »War Games. Der Kalte Krieg als Gedankenexperiment«, in: Thomas Macho/Annette Wunschel (Hg.): Science & Fiction. Über Gedankenexperimente in Wissenschaft, Philosophie und Literatur, Frankfurt/Main 2004, S. 310-328. 13 Ebd., S. 310. 14 Als einschlägig kann folgende Studie über die amerikanische Mind Control-Forschung, die unter anderem wegen Geheimhaltungsmaßnahmen und Aktenvernichtung lückenhaft und widerspruchsvoll bleiben wird, gelten: John Marks: The Search for the »Manchurian Candidate«. The CIA and Mind Control. The Secret History of the Behavioral Sciences, New York/London 1979. 234

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los einem zuvor geprägten Befehl gehorchen. 1973 ordnet CIA-Direktor und Oberhaupt des Programms Richard Helms die Zerstörung aller MKULTRA-Akten an. Diese geheime und geheimnisvolle Forschung der amerikanischen Regierung, die ihre Spuren mehr oder weniger subtil in behavioristischer Psychologie, in Kybernetik, aber auch in Sozialpsychologie, Sektenforschung und kritischer Gesellschaftstheorie hinterlässt, macht Karriere vor allem als Element zahlreicher Verschwörungs- und Paranoia-Diskurse. Befördert wird dabei eine Ikonographie des Menschenexperiments, die sich sowohl aus Bildern wissenschaftlicher Laborarbeit als auch aus frühen Versatzstücken der Bearbeitung dieser Bilder in populären Künsten und Medien rekrutiert. Kontinuierlich werden in Verschwörungstheorien zur Gedankenkontrolle dabei drei Verdachtsmomente befördert, deren Adressaten der Mensch, die (Natur-)Wissenschaft und die technischen Medien sind: (1.) Der Mensch, unser Nachbar und Nächster, der »andere«, ist, so der erste Verdacht, derjenige, den wir nur von außen wahrnehmen und dessen Gedanken- und Gefühlswelt wir nicht unvermittelt sehen und erfahren können. Dieser Mensch kann deshalb potenziell immer der Feind sein, jemand, der uns Böses will: ein Spion, ein Kommunist, ein Außerirdischer, ein Terrorist, ein Mitglied der »others« in der Terminologie der Fernsehserie LOST. (2.) Der zweite Verdacht richtet sich gegen die Naturwissenschaften, die auch im 21. Jahrhundert für viele eine Form von unheimlichem Arkanwissen bewahren, das das Alltagsverständnis übersteigt. Populär bleibt deshalb die Erzählung von der hybrischen und mitunter verbrecherischen Praxis des Wissenschaftlers als Mad Scientist. (3.) Der dritte Verdacht richtet sich schließlich gegen die technischen Medien.15 Ist der Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts sowie der Psychologie und der Psychoanalyse zu Beginn des 20. Jahrhunderts der menschliche Geist und im Besonderen sein Unbewusstes im besten Fall ein Kryptogramm und im schlimmsten eine Black Box, so übernehmen diese Leerstellen seit ihrer Erfindung die technischen Medien. Denn unter der Oberfläche ihrer Verkleidung funktionieren Telefon, Radio, Film, Fernsehen, Computer und Internet unsichtbar und unlesbar. Der Verdacht wird auf die »magischen Kanäle«16 gelenkt, auf die chthonischen Funktionsweisen und subliminalen Beeinflussungsmöglichkeiten der technischen Medien.17 15 Vgl. Boris Groys: Unter Verdacht. Eine Phänomenologie der Medien, München 2000. 16 Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle. Understanding Media (1964), Dresden, Basel 1994. 17 Unsichtbare Trägermedien wie Radio- oder Funkwellen sind schon seit dem 19. Jahrhundert Gegenstand von Theorien, die einerseits spiritistischer Natur sind und andererseits Telepathie und Gedankenkontrolle beinhalten. So 235

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2. Mad Science: Paranoia und Kino Am Beispiel des Experiments, präziser: der Versuchsanordnung am Menschen im Erzählfilm, kann die Doppelgeschichte von Wissenschaft und Phantastik im Film gut nachgezeichnet werden. Denn der Film transportiert kontinuierlich ein Ursprungsdispositiv mit,18 das zugleich ein Bildarchiv der technischen Geschichte optischer Medien, zeitgenössischer wissenschaftlicher Diskurse wie Psychoanalyse und Psychotechnik sowie populärer Medien wie die Pulp Fiction der Groschenromane, Radio Serials und Comics darstellt.19 Vor allem im Spielfilm setzt sich auf diese Weise früh eine phantastische Ikonographie von Wissenschaft durch, die gerade wegen der perfekten Möglichkeiten des Mediums Film, Wirklichkeit abzubilden und den Menschen dabei vollständig in seine Register einzuspeichern, nach der Verabschiedung der literarischen Imagination eine neue filmische Phantastik schafft.20 So bevölkern schnell verrückte Wissenschaftler die Labore im Film und nehmen in bizarren Versuchsanordnungen ihre Arbeit aus den Schauerromanen, der romantischen Literatur und der Pulp Fiction wieder auf. Die Figur des Mad Scientists trägt das Unbehagen an der Wissenschaft des 18. und 19. Jahrhunderts weiter, in der sich die Naturwissenschaft noch nicht völlig von esoterischem und okkultem Wissen emanzipiert hat. Zwei Traditionen sind dabei in der Zeichnung des Mad Scientists in Bezug auf seine Souveränität zum Experiment auszumachen: Ist Mary Shelleys Frankenstein, der »moderne Prometheus« (1818), noch eine Fortführung des antiken Pygmalion-Mythos, so verkörpert Robert Louis Stevensons Figuration realisiert sich zum Beispiel das paranoid-psychotische Konstrukt Daniel Paul Schrebers in der Vorstellung von Radiowellen, die in seine Gedanken eindringen, parallel zum modernen Spiritismus. Vgl. Daniel Paul Schreber: Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken nebst Nachträgen und einem Anhang über die Frage: »Unter welchen Voraussetzungen darf eine für geisteskrank erachtete Person gegen ihren erklärten Willen in einer Heilanstalt festgehalten werden?« (1903). Mit einem Nachwort von Wolfgang Hagen, Berlin 2003; Wolfgang Hagen: Radio Schreber. Der »moderne Spiritismus« und die Sprache der Medien, Weimar 2001. 18 Zu der Definition des von Michel Foucault geprägten Begriff des Dispositivs siehe Gilles Deleuze: »Was ist ein Dispositiv?«, in: François Ewald/ Bernhard Waldenfels (Hg.): Spiele der Wahrheit. Michel Foucaults Denken, Frankfurt/Main 1991, S. 153-162. 19 Vgl. Arno Meteling: »Weird Science. Wissenschaft und Wahn im amerikanischen Superheldencomic«, in: Torsten Junge/Dörthe Ohlhoff (Hg.): Wahnsinnig genial. Der Mad Scientist Reader, Aschaffenburg 2004, S. 171195. 20 Zu dieser Argumentation siehe Friedrich A. Kittler: Grammophon, Film, Typewriter, Berlin 1986 sowie Friedrich A. Kittler: »Romantik – Psychoanalyse – Film: eine Doppelgängergeschichte«, in: ders.: Draculas Vermächtnis. Technische Schriften, Leipzig 1993, S. 81-104. 236

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von Dr. Jekyll und Mr. Hyde (1886) eine modernere Version, in der Wissenschaft buchstäblich zu einer Technologie des Selbst wird. Denn der prometheische Zugang verliert sich bei Dr. Jekyll, dessen Geist und Körper selbst zum Labor und zum Experiment werden: Der Schöpfer wird selbst zum Geschöpf der Wissenschaft. Eine frühe Aufnahme – in direkter Nachfolge und als technische Verstärkung des »hypnotischen Verbrechers« in den Romanen über Dr. Fu Manchu und Dr. Mabuse – findet das hybride, nämlich sowohl wissenschaftliche als auch phantastische Thema der Mind Control, in John Frankenheimers THE MANCHURIAN CANDIDATE (1962), der Verfilmung des gleichnamigen Romans. Der Film handelt von einem Soldaten, der aus dem Koreakrieg heimkehrt und zum unfreiwilligen Attentäter für die Kommunistische Partei wird. THE MANCHURIAN CANDIDATE kann als Startschuss einer Reihe von Verschwörungsfilmen der 1960er und 1970er Jahre betrachtet werden, in der erstens die Loyalität von Agenten und Staatsinstitutionen fraglich und die Aufklärung über die Freund/ Feind-Verhältnisse beinahe unmöglich geworden ist und in denen zweitens bestimmte Praktiken wie Überwachung und Gedankenkontrolle an narrativem Raum gewinnen. Zu dieser Reihe zählen beispielsweise Francis Ford Coppolas THE CONVERSATION (1974) und Sidney Pollacks THREE DAYS OF THE CONDOR (1975) sowie die so genannte »ParanoiaTrilogie« Alan J. Pakulas mit KLUTE (1971), THE PARALLAX VIEW (1974) und ALL THE PRESIDENT’S MEN (1976) über die WatergateAffäre.21 Dass das Thema der Mind Control seit THE MANCHURIAN CANDIDATE nicht nur eine wachsende Kultur der Verschwörungstheorie befördert und dem »paranoid style« in Politik und Medien zu einem Symbol verhilft,22 sondern ganz spezifisch auch eine Innovation in der filmischen Bildsprache vornimmt, zeigen drei Beispiele, deren Zentrum jeweils in der medienreflexiven Verschränkung der Beeinflussungstechniken mit den Techniken des Films besteht. Diese sind, so die Bildlogiken von Sidney J. Furies THE IPCRESS FILE (1965), Stanley Kubricks A CLOCKWORK ORANGE (1971) und Alan J. Pakulas THE PARALLAX VIEW (1974), primär Effekte der audiovisuellen Medien, genauer: des Films. In der Inszenierung der experimentellen Anordnungen geht es in diesen drei Filmen vorrangig um die Installation von Beobachterpositionen, die jeweils ei-

21 Vgl. Arno Meteling: »Das Argus-Prinzip. Beobachtung und mediale Latenz im amerikanischen Verschwörungsfilm«, in: Plurale. Zeitschrift für Denkversionen, Heft 6 (2006), S. 97-117. 22 Vgl. Richard Hofstadter: »The Paranoid Style in American Politics«, in: ders.: The Paranoid Style in American Politics and Other Essays, New York 1965, S. 3-40. 237

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nem experimentellen Rahmen zugeordnet sind. Dabei wird der Topos des Menschenexperiments doppelt codiert. Zum einen weist der Film dem Zuschauer die souveräne Beobachterposition des Wissenschaftlers zu, der die Versuchsanordnung aus sicherer Distanz betrachtet, mithin also eine Doppelung der Figur, die das Experiment kontrolliert. Zum anderen wird der Zuschauer des Films auch als Opfer beeinflussender audiovisueller Techniken entlarvt: als ein an seinen (Kino-)Sessel festgeschnallten Gefangenen, dessen Blick auf die Leinwand vor ihm fixiert und der hilflos den Botschaften des jeweiligen Mediums ausgeliefert ist. Die Inszenierung einer Szene filmischer Gedankenbeeinflussung als Menschenexperiment eröffnet deshalb einen potenziell unendlichen Reflexionsraum (mise en abyme), der für den Zuschauer Optionen der Identifizierung mit allen Figuren und Positionen der Szene markiert und das Experiment auf diese Weise noch jenseits der Kinoleinwand erweitert.

3. THE IPCRESS FILE Nach dem Spionageroman (1962) von Len Deighton eröffnet THE IPCRESS FILE eine Filmreihe über den britischen Geheimagenten Harry Palmer, die als Gegenkonzept zum Pop-Comic-Format der »James Bond«Serie fungiert.23 Der Held von THE IPCRESS FILE, Sergeant Harry Palmer, arbeitet eher widerwillig für eine geheime Nachrichtenorganisation des britischen Verteidigungsministeriums. Von einem Überwachungsauftrag wird er in der Exposition des Films durch seinen Vorgesetzten Colonel Ross abgezogen, um in der Abteilung von Major Dalby zu arbeiten. In dieser Einheit ersetzt Palmer einen Agenten, der beim Versuch, die Entführung des Wissenschaftlers Dr. Radcliffe zu verhindern, getötet worden ist. Dieser Fall ist allerdings nur einer in einer ganzen Serie von Entführungen, die ausnahmslos Wissenschaftler betreffen, deren Forschung von entscheidender nationaler Bedeutung ist. Einige der Forscher kehren zwar zurück, sind aber aus zunächst unbekannten Gründen nicht mehr in der Lage, ihre Arbeit aufzunehmen. Sie leiden seither unter Denkblockaden. Palmer und sein neuer Kollege Jock Craswell, die von Dalby mit dem Auftrag betraut werden, das Rätsel um die Entführungen und die merkwürdigen Ausfälle der Wissenschaftler zu lösen, werden auf die Suche nach Eric Ashby Grantby geschickt, einem Albaner, der augenscheinlich der Drahtzieher hinter den Entführungen ist. Palmer macht 23 Bislang gibt es vier Fortsetzungen in der »Harry Palmer«-Reihe: Dies sind FUNERAL IN BERLIN. GB 1966. R: Guy Hamilton; BILLION DOLLAR BRAIN. GB 1967. R: Ken Russell; BULLET TO BEIJING. KAN/GB/RUS 1995. R: George Mihalka sowie MIDNIGHT IN SAINT PETERSBURG. KAN/GB/RUS 1996. R: Douglas Jackson. 238

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Grantby zwar schnell ausfindig, erhält von diesem allerdings nur eine nicht funktionierende Telefonnummer. In einem verlassenen Lagerhaus, in dem Housemartin, der Stabschef Grantbys aufgegriffen wurde, findet sich allerdings ein merkwürdiges Tonband mit der Aufschrift »IPCRESS«. Wenn das Tonband abgespielt wird, produziert es nur einen enervierenden und quälenden elektronischen Ton. Dalby kann nach diesem Fund einen neuen Kontakt zu Grantby aufbauen, der zu einem Handel über Radcliffes Rückkehr gegen 25.000 Pfund führt. Die folgende Übergabe wird zwar durch das Auftauchen eines CIA-Agenten, den Palmer erschießt, gestört, scheint aber zunächst erfolgreich zu sein: Der Wissenschaftler ist unverletzt. Aber, so stellt sich später heraus, auch Radcliffes Geist ist so bearbeitet worden, dass er nicht mehr arbeiten kann. Craswell hat derweil mit Hilfe eines Buches über konditionierte stressinduzierte Neurosen herausgefunden, dass die Wissenschaftler einer Gehirnwäsche unterzogen worden sind. Er kann Palmer das Buch noch zeigen, wird aber kurz darauf erschossen, ehe er seine Theorie an Radcliffe verifizieren kann. Die von Craswell zusammengetragene IPCRESS-Akte, die den Verdacht einer Gehirnwäsche noch bei 17 anderen Wissenschaftlern formuliert, wird kurz darauf von Palmers Schreibtisch gestohlen. Er selbst wird von Grantby entführt. Damit endet der detektivische Teil des Films, und Palmer erfährt am eigenen Leib die Wahrheit hinter den Verbrechen. Denn zentral für THE IPCRESS FILE ist in der Tat eine neue Technik der Gedankenkontrolle. Die Abkürzung »IPCRESS« ist eine verschlüsselte Abkürzung, ein Beinahe-Akrostichon des Buchtitels »Induction of Psychoneuroses by Conditioned Reflex Under strESS«, das Craswell gefunden hat. Nach seiner Entführung wird Palmer mehrere Tage lang in einer Zelle eingesperrt und unter Entzug von Essen, Wärme und Schlaf gesetzt. Er weiß inzwischen, dass dies die Vorbereitungen für die Gehirnwäsche sind. Palmer nimmt deshalb einen gekrümmten Nagel an sich. Während der Gehirnwäsche fügt er sich damit in seiner geschlossenen Faust Schmerzen zu, um sich von der Beeinflussung abzulenken. Zu seinem widerspenstigen Charakter, der keine Autorität anerkennt und auf den während des gesamten Films bis zum Schluss hingewiesen wird, kommt dadurch die physische Ablenkung als Realitätsanker und damit als Verstärker seines geistigen Widerstandes hinzu. In Nahaufnahmen werden deshalb immer wieder Palmers blutige Hand, sein Schmerz verzerrtes Gesicht und zum Schluss auch der blutige Nagel auf dem Boden des Versuchsraums gezeigt.

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Abb. 1: THE IPCRESS FILE

Die Gehirnwäsche selbst geht gänzlich in filmischen Mitteln auf. Palmer wird in einem kleinen abgeschlossenen Raum auf einen Sessel geschnallt. Auf ihn werden dann mit einem Filmprojektor von außen psychedelische Lichtformationen und der schon auf dem Tonband gehörte enervierende elektronische Ton gerichtet. Konventionelle Methoden werden während der Behandlung von Grantby als zu langwierig abgetan. So wird Palmer auch nicht unter Drogen gesetzt, und es gibt neben den, wie an Palmers Gesicht deutlich wird, qualvollen Lichteffekten und Geräuschen keine weiteren Foltermaßnahmen. Palmer zeigt zunächst auch nach mehreren Tagen erheblichen Widerstand gegenüber den hypnotischen Licht- und Farbeffekten, scheint aber letztlich nachzugeben. Als letzte Maßnahme versieht Grantby Palmer mit dem »Trigger«-Satz »Now, listen to me!«, dem Palmer unbedingt Gehorsam zeigen soll. Damit Palmer exakt dieser noch unbekannten Stimme gehorcht, die den Satz spricht, kommt diese vom Tonband. Nach dieser letzten Sitzung kann Palmer aber entkommen, eine Pistole nehmen und aus dem Gebäude fliehen. Auf der Straße stellt er fest, dass er nicht in Albanien ist, wie ihm gesagt wurde, sondern dass er sich immer noch in London befindet. Von einer Telefonzelle ruft er deshalb rasch Major Dalby an, der zu diesem Zeitpunkt mit Grantby zusammen ist. Dalby benutzt telefonisch den Trigger und bringt Palmer dadurch dazu, Colonel Ross anzurufen und ins Lagerhaus zu locken. Als seine beiden Vorgesetzten, die beide von ihm in frage gestellten Autoritäten, vor ihm stehen, versucht Dalby noch einmal mit dem Trigger-Satz, Palmer zu überzeugen, Ross sei der Verräter. Palmer ruft sich allerdings nach einigem Zögern die Erinnerung an den Schmerz seiner blutigen Hand zurück, befreit sich aus der geistigen Kontrolle und erschießt Dalby. Die Individualität, die bei Palmer besonders ausgeprägt zu sein scheint, verbunden mit dem Trick, sich durch Schmerz abzulenken, widersteht in THE IPCRESS FILE also letztlich der feindlichen Mind Control-Technik. Nur weil Palmer Autoritäten in Frage

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stellt, so der Schluss, kann er auch der absoluten Autorität technischer Suggestion begegnen.

4. A CLOCKWORK ORANGE A CLOCKWORK ORANGE ist die Verfilmung des gleichnamigen Science Fiction-Romans von Anthony Burgess (1962). Er zeigt eine nahe Zukunft, in der gewalttätige Jugendbanden wie Alexander DeLarge und seine »Droogs« Pete, Georgie und Dim die Londoner Vorstädte terrorisieren. Alex, der die Geschichte aus dem Off erzählt, ist der Anführer seiner Gang und ein Beethoven-Liebhaber. Der Alltag der Jugendlichen besteht zusammengefasst aus Sex und Gewalt: aus Vandalismus, Vergewaltigungen, Bandenkriegen und Überfällen. Nach einem Einbruch, bei dem eine Frau zu Tode kommt, wird Alex allerdings von seinen Droogs verraten und am Tatort verletzt zurückgelassen. Im Gefängnis schafft er es, zum Teilnehmer einer therapeutischen Versuchsreihe der Regierung ausgewählt zu werden, die der Resozialisierung der als krank verstandenen Gewalttäter dient. Die Stil bildende Szene dieser »Ludovico Methode« besteht vornehmlich aus zwei Einstellungen: einer Totale des Kinosaals, in dem Alex gefesselt in der ersten Reihe sitzt, während in der letzten Reihe mehrere Wissenschaftler zu sehen sind, und einer Nahaufnahme von Alex’ arretiertem und verkabeltem Kopf. Die Szene beginnt damit, dass Alex’ Augenlider mit Klammern hochgezogen und gespreizt werden, so dass er den Bildern der Kinoleinwand nicht entgehen kann. Das Verfahren ist einfach: Es besteht aus der Kombination der Vorführung filmischer Gewaltszenen mit der zeitgleichen Einflößung eines Serums, das Übelkeit auslöst. Die Filmszenen bestehen dabei zum einen aus typischen Alltagssituationen der Jugendbanden: Es wird gezeigt, wie eine Gang, nicht unähnlich Alex’ Droogs, jemanden zusammenschlägt und eine Frau vergewaltigt. Hinzu kommen aber auch Szenen, die Aufnahmen aus dem Zweiten Weltkrieg, Aufmärsche der Nationalsozialisten und Adolf Hitler zeigen, Bilder, die keine physische Gewalt präsentieren. Zuletzt empfindet Alex nach mehreren Wochen Konditionierung bei jeder Form von Gewalt und Sexualität große Übelkeit und Schmerzen. Erklärt wird dies damit, dass das Serum lähme und Gefühle ähnlich der Angst beim Ersticken auslöse, so dass der Patient seine eigenen Ängste mit der Gewalt auf der Leinwand verbinde. Auffällig sind dabei allerdings zwei Dinge: Denn während das Entsetzen und die Übelkeit bei Alex deutlich sichtbar sind, ist von dem eigentlichen Auslöser, der Lähmung, nichts zu bemerken. Auch wird die Einnahme des Serums nicht explizit gezeigt, beziehungsweise werden Alex während der Vorführung kontinuierlich Augentropfen in die zwangsgeöffneten Augen gegeben, so dass nicht klar ist, ob das Se241

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rum nicht darüber verabreicht wird. Man könnte deshalb folgern, dass das Serum als Katalysator filmisch eskamotiert oder vollständig auf den Sehsinn übertragen wird, so dass als einzige Ursache für den Erfolg der Therapie die Filmbilder einstehen müssen. Ein ungewollter Nebeneffekt des Experiments bezieht sich auf die Tonspur. Denn da im Hintergrund der Konditionierung Beethovens 9. Sinfonie läuft, tritt Alex’ Übelkeitseffekt auch beim Hören der Stücke seines Lieblingskomponisten auf. Letztlich wird Alex nach einer öffentlichen Vorführung, die beweist, dass seine Gewalt- und Sexualtriebe vollständig von dem Übelkeitsreflex überdeckt werden, als therapiert entlassen.

Abb. 2: A CLOCKWORK ORANGE

Wehrlos trifft Alex in Freiheit dann auf die Geister seiner Vergangenheit. Zunächst begegnet er einem alten Obdachlosen, den er mal verprügelt hat. Vor diesem retten ihn zwar seine ehemaligen Droogs, die jetzt Polizisten sind, aber nur um ihn in einen Wald zu verschleppen und dort ebenfalls zu verprügeln. Zuletzt landet er in dem Haus eines weiteren Opfers, des Schriftstellers Mr. Alexander, den er und seine Droogs verprügelt und dessen Frau sie vergewaltigt haben. Trotz der Maske, die Alex während des Verbrechens trug, erkennt dieser seinen Namensvetter sofort. Da er ein politischer Gegner der Regierung ist, ergreift er mit seinem Racheplan überdies die Gelegenheit, diese zu diskreditieren. So wird Alex in einen Raum im Obergeschoss des Hauses eingesperrt und mit der 9. Sinfonie von Beethoven beschallt. Als Folge seiner Schmerzen springt Alex aus dem Fenster. Er stirbt allerdings nicht, sondern findet sich schwer verletzt in einem Krankenhaus wieder. Dort zeigt ein psychologischer Test, dass seine Konditionierung nicht mehr vorhanden ist. Der Film schließt dann mit der Pressekonferenz des Innenministers und Alex im Krankenhaus, die beweisen soll, dass die Regierung sich weiterhin um Alex sorgt. Dieser phantasiert währenddessen von Sex mit einer blonden Frau vor Publikum und beendet den Film mit dem OffKommentar: »I was cured, all right.« 242

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Zwei Diskurse werden von A CLOCKWORK ORANGE deutlich in die Geschichte eingespielt. Zum einen ist die Ludovico-Methode ein Paradebeispiel für die klassische Konditionierung im Sinne des Behaviorismus. Eine direkte Referenz des Films ist die Aversionstherapie, die in den 1960er Jahren zu großer Popularität gelangt ist. Von S. G. Laverty 1960 als Maßnahme gegen Alkoholismus entwickelt, bedeutet sie im Wesentlichen die Kopplung von unerwünschtem Verhalten mit einem unangenehmen Reiz. In dem Experiment wird dem Patienten zunächst ein alkoholisches Getränk gereicht. Im direkten Anschluss daran wird ihm, ohne dass er davon weiß, Scoline (= Suxamethoniumchlorid oder Succinylcholin) injiziert. Dies führt zu einer Lähmung der Muskeln und einer Stillegung der Atmung. Während der Patient auf diese Weise Todesangst erfährt, hält ihnen der jeweilige Versuchsleiter die Flasche mit dem Getränk unter die Nase. Die Wirkung dieses Experiments wird in A CLOCKWORK ORANGE präzise sowohl von den ausführenden Wissenschaftlern als auch von Alex selbst beschrieben. Auch die Nebenwirkung, die Alex durch die Einspielung der Musik erfährt, ist eine Spiegelung der Aversionsexperimente. Denn die körperliche Abneigung gegen Alkohol weitete sich auf alle Lebenssituationen aus, beispielsweise, wenn nur der Geruch eines alkoholischen Getränks merkbar wurde. Überdies klingt die Wirkung nach einiger Zeit, wie bei Alex, bei dem nicht klar ist, ob dies nicht auch durch den Schock seines Sturzes erfolgt, ab. Der zweite Diskurs, den A CLOCKWORK ORANGE nach seinem Erscheinen nicht nur selbst in Gang setzt, sondern den er auch verhandelt, ist die Frage nach der Gewalt. Zwei Systeme der Gewalt werden im Kontext der Gedankenkontrolle gegenübergestellt: Zum einen die individuelle physische Gewalt der Jugendlichen auf den Straßen und zum anderen die strukturelle Gewalt der Regierung. Diese äußert sich buchstäblich in der Umcodierung ihrer Subjekte, ein Vorgang, für den der Film – beziehungsweise schon der Roman – den Begriff der »Clockwork Orange« verwendet und dabei die Uhrwerks- und Maschinenmetapher für einen außengesteuerten und unfreien Menschen in Anspruch nimmt. Diese Metapher wird schon von Thomas Hobbes im Leviathan (1651) dazu benutzt, um ein vertraglich-institutionelles Gesellschaftsmodell zu skizzieren, in dem jeder seine Macht und seine private Gewalttätigkeit zugunsten der Macht und Gewalt des Souveräns abgibt. A CLOCKWORK ORANGE zeigt das bis in die Gedanken- und Gefühlswelt reichende Extrem dieses Gesellschaftsmodells und damit eine Grenze, die nicht überschritten werden darf.

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5. THE PARALLAX VIEW THE PARALLAX VIEW beginnt mit dem Attentat auf einen Senator und Präsidentschaftskandidaten in Seattle. Eine inszenatorisch vom Rest des Films abgetrennte Szene zeigt danach frontal einen Gerichtsstand mit einer Jury, die den Anschlag – in deutlicher Referenz an das Ergebnis der »Warren-Kommission« zum Attentat auf John F. Kennedy – als die Tat eines Einzelschützen erklärt. Als sieben Augenzeugen aber auf ungeklärte Weise umkommen, wendet sich die Journalistin Lee Carter verängstigt an ihren Kollegen Joe Frady. Beide sind die letzten lebenden Zeugen des Attentats. Nachdem auch Carter ermordet wird, nimmt Frady die Untersuchung auf. Seine Nachforschungen decken schließlich die Existenz der geheimen »Parallax Corporation« auf, die öffentlich als Therapiezentrum operiert, im Geheimen aber Soziopathen rekrutiert, um sie zu Attentätern auszubilden. Frady infiltriert die Organisation und erfährt dabei von einem weiteren Mordkomplott. Zunächst scheint er zu diesem Termin zu spät gekommen zu sein und beobachtet vom Dachgebälk eines Saales aus ein weiteres Attentat während der Sprechprobe eines Politikers. Als er dann versucht, den Mörder zu ergreifen, findet er allerdings nur das Gewehr vor, und die Aufmerksamkeit der Menschen unter ihm richtet sich auf ihn. Erst jetzt wird Frady klar, dass er von Anfang an ein unwissender Teil des Plans war und als Sündenbock dienen sollte. Da der Film fast ausschließlich die Perspektive Fradys einnimmt, erfährt auch der Zuschauer nichts über die Hintergründe der Organisation und wird zum Schluss ebenfalls überrascht. Bei seiner Flucht wird Frady erschossen. Im Abspann wird dann noch einmal die Jury gezeigt, die wiederum die Theorie vom Einzelschützen bestätigt.

Abb. 3: THE PARALLAX VIEW

Etwas, das THE PARALLAX VIEW von den anderen Verschwörungsfilmen seiner Zeit absetzt, ist die singuläre Inszenierungsweise filmischer Gedankenkontrolle. Denn als letzte Prüfung, um von der »Parallax Corporation« rekrutiert zu werden, wird Frady in einem dunklen Raum vor eine 244

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Leinwand auf einen Stuhl gesetzt. Gezeigt wird dann eine sich beschleunigende Montage von Bildern und Texttafeln, die ikonische Darstellungen des amerikanischen Selbstbildes, des ›American Dream‹, mit seinem dunklen und Gewalt durchsetzten Unbewussten verbindet: Liebende Eltern, Apfelkuchen, Mount Rushmore, die Statue von Abraham Lincoln, die Statue of Liberty, Stars and Stripes, der nordische Gott Thor in seinem Marvel Comic-Superhelden-Format, Adolf Hitler, ein MaoGemälde, Fidel Castro, Geld, Alkohol, Sex, verwahrloste Kinder, ärmliche Verhältnisse, Gefängnis, Gewaltszenen aus verschiedenen Kriegen, der Ku-Klux-Klan sowie ein Comic-Teufel. Die Textinserts zeigen jeweils verschoben zugeordnet die Begriffe »Love«, »Mother«, »Father«, »Home«, »Country«, »God«, »Enemy«, »Happiness« und »Me«. Auffällig ist das semantische Shifting in der Montage. Denn durch die Veränderung der Reihenfolge der sich immer schneller wiederholenden Bilder wechseln diese ihre Bezüge und verengen scheinbar manipulatorisch dadurch ihre Lesart. Diese koppelt letztlich die Phänomenalität von Gewalt als Spiegel der amerikanischen Geschichte und Gesellschaft mit dem Begriff »Me«, der deutlich appellierend mit der »Thor«-Darstellung als Erlöserfigur aufgeladen wird.

Abb. 4-7: THE PARALLAX VIEW

Eine Erwartungshaltung, die durch die Darstellung der qualvollen Mind Control-Techniken in THE IPCRESS FILE oder A CLOCKWORK ORANGE geweckt sein mag, wird in THE PARALLAX VIEW enttäuscht. Der Leiter des Verfahrens weist Frady sogar darauf hin, dass es wahrscheinlich ein angenehmes Erlebnis für ihn sei. Fradys Reaktionen auf die Montage der Gehirnwäsche, die er zu sehen bekommt, sind im Gegensatz zu den bei245

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den anderen Filmen zu keinem Zeitpunkt sichtbar. Er wird zwar zu Beginn und zum Ende des Verfahrens gezeigt, aber auch diese Einstellungen sind distanzierte Halbtotalen. So fällt neben den beiden Gerichtsszenen vor allem die Gehirnwäsche inszenatorisch aus den Erzählkonventionen der Diegese. Allein in THE PARALLAX VIEW, so muss man im Vergleich festhalten, werden die suggestiven Montagen gänzlich ohne Rahmen und Fokalisierung und damit dem Zuschauer direkt gezeigt und dieser damit selbst, ganz im Einklang mit der politischen Verschwörungsbotschaft des Films, am deutlichsten als programmierter Rezipient einer kinematographischen Gehirnwäsche offenbart. Der Kinozuschauer ist Bildmontagen ausgesetzt, die er, wie Frady, wahrscheinlich als ein angenehmes Erlebnis empfindet, die ihn aber gleichwohl zu einer politischen Identifikation zwingen.

6. Exkurs: THE WAR OF THE WORLDS Sind die Beispiele von Gedankenkontrolle auch als rein filmische identifizierbar, so muss doch darauf hingewiesen werden, dass sich spätestens in den 1970er Jahren der Verdacht, der vor allem in kritischen Sozialund Medientheorien laut wird, seien sie konservativer oder neomarxistischer Prägung,24 nicht mehr auf das Kino, sondern vor allem auf das junge Medium Fernsehen, den »schüchterne[n] Riese[n]«,25 bezieht. In der Kritischen Theorie verdichten sich dabei die Verdachtsmomente einer televisuellen Gedankenkontrolle zu einer umfassenden Theorie der Gesell-

24 Vgl. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: »Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug«, in: dies.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente (1944), Frankfurt/Main 1988, S. 128-176; Theodor W. Adorno: »Résumé über Kulturindustrie«, in: Dieter Prokop (Hg.): Massenkommunikationsforschung. Bd. 1: Produktion, Frankfurt/Main 1972, S. 347-354; Hans Magnus Enzensberger: »Bewußtseins-Industrie (1962)«, in: ders.: Einzelheiten I. Bewußtseins-Industrie, Frankfurt/Main 1971, S. 7-17 sowie Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft [1961], Neuwied/Berlin 1975. 25 Marshall McLuhan: »Das Fernsehen. Der schüchterne Riese«, in: ders.: Understanding Media (Anm. 16), S. 466-508. Das Fernsehkapitel schließt sinnfällig mit dem Unterkapitel »Mord im Fernsehen« über die Macht des Fernsehens angesichts der Morde an John F. Kennedy und Lee Oswald. Theodor W. Adorno: »Prolog zum Fernsehen (1953)«, in: ders.: Eingriffe. Neun kritische Modelle, Frankfurt/Main 1996, S. 69-80, hier S. 69. Wenn Adorno auch, wie man anmerken muss, nicht wie die Medienpädagogik seiner Zeit in die Schlichtheit einfacher Übertragungsvorstellungen verfällt. Vgl. Theodor W. Adorno: »Fernsehen und Bildung 1963«, in: ders.: Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmuth Becker 19591969, hg. von Gerd Kadelbach, Frankfurt/Main 1970, S. 50-69. 246

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schaft.26 Seinen filmischen Niederschlag findet der Verdacht am unheimlich-heimlichen Gerät, das in jedem Haushalt steht und unsichtbare Strahlen empfängt und sendet, allerdings schon 1953 in Byron Haskins Filmfassung von Herbert George Wells’ „Home Invaders“-Roman The War of the Worlds (1898).

Abb. 8: THE WAR OF THE WORLDS

Denn sowohl die Gesichter der Marsianer als auch ihre periskopischen Sonden bestehen aus dreilidrigen »electronic eyes«, in denen die drei TV-Grundfarben rot, grün und blau (Red-Green-Blue: RGB) kombiniert werden. Aus diesen Farben setzt die Kathodenstrahlröhre des Farbfernsehers die elektronischen Bilder zusammen. Im Labor des »Pacific Institute of Science and Technology« wird in einer Szene in THE WAR OF THE WORLDS anhand einer erbeuteten Sonde die Sicht der Marsianer simuliert. Dabei wird festgestellt, dass sie in einem verschobenen Spektrum sähen und ihre Farbempfindlichkeit eine andere sein müsse. Diese optischen Erkenntnisse bleiben aber im Gegensatz zur der Blutuntersuchung, die ergibt, dass die Marsianer nur über wenig weiße Blutkörperchen verfügen und deshalb körperlich anfälliger und auch primitiver als Menschen seien, völlig irrelevant für die Handlung. Vermuten lässt sich als Grund für diesen Exkurs deshalb eine Erklärung, die nicht in der Handlung des Films zu finden ist, sondern in der Thematisierung des Mediums Fernsehen, speziell des neuen Farbfernsehens. 1953 ist das Jahr, in dem das nationale Fernsehsystemkomitee der USA (»National Televisions Systems Committee«) drei Jahre nach der Anfrage über eine Entscheidung sich auf den zukünftigen »NTSC«-Standard einigt. Zusammengefasst stellt THE WAR OF THE WORLDS also mit den technisch fortgeschrit26 Christina Bartz fasst dies unter dem Stichwort der »Telepathologien« zusammen. Vgl. Christina Bartz: »Telepathologien. Der Fernsehzuschauer unter medizinischer Beobachtung«, in: Irmela Schneider/Peter M. Spangenberg (Hg.): Medienkultur der 50er Jahre. Diskursgeschichte der Medien nach 1945. Bd. 1, Opladen 2002, S. 373-386. 247

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teneren, aber organisch primitiveren Marsianern einen Feind auf, der in unsere Häuser eindringt und uns buchstäblich durch seine RGB-Linsen beobachtet. Überdies ist das visuelle System der Marsianer völlig identisch mit ihrer prothetischen Überwachungstechnik.27 Im Rahmen von Marshall McLuhans Medientheorie wäre die Invasion deshalb ein Besuch aus der Zukunft, in der der Mensch im »elektrischen Zeitalter« vollständig und amputatorisch mit seinen medialen Prothesen identisch geworden wäre.

7. Mensch-Maschinen: Das totale Kino Zusammengefasst geben THE IPCRESS FILE, A CLOCKWORK ORANGE und THE PARALLAX VIEW der populären Darstellung von Gedankenkontrolle einen medialen Fokus und etablieren damit eine Ebene filmischer Selbstreferenzialität. Die Quelle, der Sender der feindlichen und entfremdenden Programmierung, ist der Film selbst und sein Empfänger der Zuschauer. Das Experiment der Fernlenkung oder Außensteuerung eines Menschen funktioniert nicht mehr allein über Folter, Drogen oder Hypnose als Face-to-Face-Kommunikation, sondern einzig mit der Verstärkung oder dem alleinigen Einsatz audiovisueller Medien. Letztlich muss das Menschenexperiment der Gedankenkontrolle im Erzählfilm deshalb im Wesentlichen allegorisch verstanden werden. Es ist eine Spiegelfigur, die die Einflussmacht von Film und Fernsehen zum Thema erhebt. Das Bild vom Menschen im Sessel, gebannt vor einer Leinwand oder einem Bildschirm sitzend und willenlos den Bildern und Geräuschen des Mediums ausgeliefert, spiegelt das Bild des Filmzuschauers und Fernsehkonsumenten und stellt dabei, abseits der These von einem politisierbaren zerstreuten Massenpublikum, wie sie von Siegfried Kracauer und

27 Man kann diese Invasion präziser noch als Allegorie für die Einführung des Farbfernsehens betrachten: »The makers of The War of the Worlds took advantage of the press color TV was getting in the early 1950’s by incorporating the technology into the plot of the movie. At that time the concept of RGB (red-green-blue) color was as high-tech as something like Wi-Fi computing is today. […] Although RCA’s first color TV, the CT-100 did not become available until April 1954, the company did publish a book Practical Color Television in late 1953 going into great detail on RGB color, and the concept was well covered in publications like Popular Science. There were no doubt many viewers in those initial audiences enthralled by the relevance of the Martian technology they were seeing.« »The War of the Worlds«, in: Featured CED VideoDisc No. 30 (Fall 2003), unter: http://www.cedmagic.com/featured/war-worlds/war-of-the-worlds.html (24.03.2007). 248

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Walter Benjamin vertreten wird,28 den Glauben an die hypnotische Macht audiovisueller Medien aus.29 Das Bild vom Mind Control-Experiment ist in dieser Hinsicht nur die Verdichtung eines modernen »medienontologischen Verdacht[s]«.30 Als mediale Grundbedingung der hypnotischen Macht muss dabei historisch auf ein mediales Grundschema optischer Medien – durchaus im Sinne einer »Prothese« oder eines »Gestells« – verwiesen werden, wie es schon vor dem Film existiert hat. Das Einfädeln hypnotischer, psychoanalytischer und psychotechnischer Diskurse in die Geschichte des Films, etwas, das zusammen mit der Pulp-Literatur und den Epistemen des Kalten Kriegs als Vorläufer des filmischen Mind Control-Diskurses verstanden werden kann, geht von einer wachsenden Kopplung von Mensch und Maschine aus, die mit der Entwicklung optischer Medien seit den 1820er Jahren eingesetzt hat. Ein entscheidender Schritt in dieser Entwicklung ist dabei der paradigmatische Wechsel von einer zentralperspektivisch und geometrisch organisierten Raumvorstellung, die im 17. und 18. Jahrhundert von der Camera obscura versinnbildlicht wird, zu einem Projektions- und Reflexionsraum, der im Auge des Betrachters selbst liegt. Zentral ist dabei die große Nähe zwischen den Sinnen und der Apparatur.31 In diesem Prozess rückt der Körper des Betrachters in den Vordergrund sowie die Prozesse der Wahrnehmung selbst. Die Konzepte eines »sehenden Körpers« oder eines »subjektiven Sehens« gehen dabei Hand in Hand mit der Entwicklung der optischen Geräte, die diese Erkenntnisse

28 Walter Benjamin: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1935)«, in: ders.: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie, Frankfurt/Main 1977, S. 7-44; Siegfried Kracauer: »Kult der Zerstreuung. Über die Berliner Lichtspielhäuser«, in: ders.: Das Ornament der Masse. Essays, Frankfurt/Main 1977, S. 311-317. 29 Siehe auch Albert Hellwig: »Über die schädliche Suggestivkraft kinematographischer Vorführungen«, in: Albert Kümmel/Petra Löffler (Hg.): Medientheorie 1888-1933. Texte und Kommentare, Frankfurt/Main 2002, S. 115-128. Dieser sieht auch schon 1913, wenngleich nicht technisch, das Fernsehen, die »kinematographische Zeitung«, voraus. Vgl. Albert Hellwig: »Kinematograph und Zeitgeschichte (1913)«, in: Jörg Schweinitz (Hg.): Prolog vor dem Film. Nachdenken über ein neues Medium 1909-1914, Leipzig 1992, S. 97-109. Fortgeführt wird damit ein Phantasma von der Macht der »Nachtseite der Naturwissenschaft«, das zu Beginn des 19. Jahrhunderts auftritt. Vgl. Gotthilf Heinrich von Schubert: Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft (1808), Darmstadt 1967. 30 Boris Groys: Unter Verdacht. Eine Phänomenologie der Medien, München 2000, S. 91. 31 Vgl. Jonathan Crary: Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert, Dresden 1996. 249

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zugleich beweisen und kommerziell ausführen.32 Charles Wheatstone, der Erfinder des Spiegelstereoskops, betont beispielsweise die Bedeutung der Nähe zwischen dem stereoskopischen Bild und seinem Gegenstand. Denn »je größer der Winkel der optischen Achsen, umso größer der dreidimensionale Effekt«.33 Am paradigmatischen Wechsel vom Camera obscura-Modell zur Sinnesphysiologie lassen sich deshalb diskursive Schnittpunkte ausmachen, die den menschlichen Körper in ein apparatives Register einspannen. Zum vorläufigen Endpunkt dieser Entwicklung fällt seit den 1990er Jahren gewöhnlich das Stichwort der »Immersion« im »Cyberspace« oder in der »Virtual Reality«. Einer souveränen Haltung des Zuschauers vor dem Bildschirm, womöglich mit ermächtigender Fernbedienung, wird das Phantasma eines von seiner realen Umwelt völlig abgekapselten reinen Empfängers von Botschaften gegenübergestellt. Der souveräne »Datendandy«34 steht dem ohnmächtigen ferngesteuerten Cyborg gegenüber, abhängig von den »magischen Kanälen« der Informationsmaschine. Diese Ikonographie, und darin schließt sich der Kreis zur Bildgeschichte der Gedankenkontrolle, ist wiederum das Ergebnis eines Diskurses, der sich zu nicht unerheblichen Teilen aus der Literatur sowie anderen Künsten und Medien speist, allen voran den Romanen des Cyberpunk-Genres, speziell William Gibsons Neuromancer (1984). Das radikalste Bedrohungsszenario vom Verlust der Herrschaft über den eigenen Körper, das häufig mit »Entfremdung« und der »Besessenheit« durch einen fremden Willen einhergeht, zeichnet dabei Paul Virilio als »Eroberung des Körpers«.35 Es ist aber vor allem Virilios Betrachtung über das »letzte Vehikel«,36 das zum »rasenden Stillstand« geronnene Gedankenbild vom Zuschauer vor der Leinwand, dem Bildschirm oder der Windschutzscheibe seines Autos, das das Immersionsprojekt der Medien ins Zentrum rückt. Denn für Virilio verdichtet sich diese apokalyptische Vision präzise im Bild vom Zuschauer, der unbeweglich im Kinooder Fernsehsessel verharrt. Darin ist der Körper in einem Inertialraum und einer vollständigen Stase begriffen. Er greift keinen Raum mehr, sondern nimmt nur noch die Simulation von Bewegung wahr, die visuell auf ihn einstürzt. Vergnügungsparks sind für Virilio allein noch »Laboratorien der physischen Empfindungen, mit ihren Rutschen, ihren Katapul32 Vgl. ebd., S. 122-141. 33 Ebd., S. 128. 34 Vgl. Agentur Bilwet (Hg.): Der Datendandy. Medien, New Age und Technokultur, Mannheim 1994. 35 Explizit in Paul Virilio: Die Eroberung des Körpers. Vom Übermenschen zum überreizten Menschen, Frankfurt/Main 1996. 36 Vgl. Paul Virilio: »Das letzte Vehikel«, in: ders.: Rasender Stillstand. Essay, München 1992, S. 36-68. 250

MIND CONTROL UND MONTAGE

ten und ihren Zentrifugen, Bezugsmodelle für das Training der Piloten und Kosmonauten«.37 Das perfekte Modell für dieses immobile Vehikel ist dabei der »Flugsimulator«. Dieser kann als Endpunkt einer experimentellen Entwicklung kinematographischer Suggestion gelten, die nicht zufällig mit den psychotechnisch angeregten Kraftfahrsimulationstrainings Hugo Münsterbergs 1912 begonnen hat: »Bei den Harvarder Laboratoriumsversuchen, die in einer verdunkelten Halle stattfanden, nimmt der Prüfling am Steuer eines Autos Platz, das selbst bei arbeitendem Motor und betriebsfähiger Maschine stationär ist. In der Front des Wagens befindet sich eine weiße Wand, auf die lebensgroße kinematographische Bilder geworfen werden. […] Nun gilt es für den Prüfling angesichts der auf der weißen Wand vor ihm auftauchenden Bilder so zu handeln, als wenn die dargestellten Begebenheiten sich in der Wirklichkeit abspielten.«38

Dieses »statische Vehikel« ist allein noch der Illusion von Bewegung gewidmet. Es überträgt die Suggestionskraft des Kinos auf seine Quintessenz, auf die Suggestion von Bewegung selbst und gaukelt damit ästhetisch dem Geist seinen eigenen Körper vor. Dieses medienkritische Bild bei Virilio, das auf die doppelte Bemächtigung von Geist und Körper des Zuschauers abzielt, entspricht in allen Punkten der experimentellen Versuchsanordnung, wie sie im Erzählfilm als Inszenierung von Gedankenkontrolle erscheint. An diesem Punkt lösen sich theatral die Grenzen zwischen Kritischer Theorie und Verschwörungstheorie sowie zwischen Wissen und Phantasma auf. Damit ist auch endgültig das Medium des Films selbst zum gesellschaftlich umfassenden Mind Control-Experiment geworden. Edgar Morin bezeichnet diesbezüglich das Projekt der Entwicklung medialer Suggestionsmacht hin zu Taktilität39 und Immersion als das »totale Kino«.40 Er beschreibt dabei die frühen Versuche der Kinos, Dreidimensionalität und eine maximale Ausweitung der Bildfläche, beispielsweise über Cinemascope, Cinerama und 3D-Film, zu erreichen. 37 Ebd., S. 39. 38 Lichtbild-Bühne vom 21.9.1912, S. 38-39, zit. nach: »Anmerkungen (10)«, in: Hugo Münsterberg: Das Lichtspiel. Eine psychologische Studie (1916) und andere Schriften zum Kino, hg. von Jörg Schweinitz, Wien 1996, S. 128. 39 Vgl. Norbert Bolz: Theorie der neuen Medien, München 1990 sowie Norbert Bolz: Am Ende der Gutenberg Galaxis. Die neuen Kommunikationsverhältnisse, München 1993. 40 Vgl. Edgar Morin: Der Mensch und das Kino. Eine anthropologische Untersuchung, Stuttgart 1958, S. 153-168. Jonathan Crary stellt fest, dass schon Charles Wheatstone, der Erfinder des Stereoskops, nicht mehr die Naturähnlichkeit als dessen Ziel betrachtet, »sondern unmittelbare, scheinbare Greifbarkeit«. Crary: Techniken des Betrachters (Anm. 31), S. 128. 251

ARNO METELING

Das Ziel ist die hermetische Einschließung des Zuschauers in die Welt des Kinos, die gänzlich Welt und Körper simulierende Sinnestäuschung, die körperlich affizierende Immersion, mithin, so könnte man ergänzen, eine »Biosphäre II«.41 Warum sich allerdings die Totalitätsprojekte der vollständigen Sinnesüberwältigung und -einschließung des Kinos nicht durchgesetzt haben oder allenfalls Randerscheinungen im Kinobetrieb (3D-Film, IMAX) geblieben sind, lässt sich vielleicht in eben genau der suggestiven Macht des Films begründen, die diese Projekte zu steigern versucht haben. Denn diese kinematographische Macht besteht präzise in der medialen Beschränkung des Films und damit in der Einbildungskraft des Zuschauers (vis imaginativa), der den Film halluzinatorisch ergänzt. In Stummfilmen wurde Dialog gehört, und im Schwarzweißfilm wurden Farben gesehen.42 Das Menschenexperiment, das in der spezifischen Inszenierung der Versuchsanordnung eines Mind Control-Verfahrens im Erzählfilm besteht und in THE IPCRESS FILE, A CLOCKWORK ORANGE und THE PARALLAX VIEW als Moment der Selbstreferenzialität eingesetzt wird, spiegelt deshalb auch Hugo Münsterbergs psychophysische Einsicht, die Geschehnisse im Film seien direkt mit der Prozesslogik im Unbewussten des Zuschauers kurzzuschließen. Das Lichtspiel, so fasst Münsterberg zusammen, überwindet nämlich die Formen der Außenwelt und passt »das Geschehen den Formen der Innenwelt [an], nämlich Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Phantasie und Emotion«.43

41 Vgl. Jean Baudrillard: »Eine bösartige Ökologie/Die Unsterblichkeit«, in: ders.: Die Illusion des Endes oder Der Streik der Ereignisse, Berlin 1994, S. 123-155. 42 Für Rudolf Arnheim gehört dies beispielsweise zu den entscheidenden Kunstmittel des Films. Vgl. Rudolf Arnheim: Film als Kunst [1932], Frankfurt/ Main 1979; Rudolf Arnheim: Die Seele in der Silberschicht. Medientheoretische Texte. Photographie – Film – Rundfunk, hg. von Helmut H. Diederichs, Frankfurt/Main 2004, S. 373-417. 43 Münsterberg: Das Lichtspiel (Anm. 38), S. 84.

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EXPERIMENTELLE SOZIOLOGIE IN DEN FILMEN VON ATOM EGOYAN (»C ALENDAR «, »N EXT OF K IN «, »O PEN H OUSE «) MARKUS STAUFF Wenn Menschen in Filmen Medien nutzen, dann werden dabei nicht selten Konsequenzen für das Leben dieser Menschen beobachtet. Die Thematisierung anderer Medien im Film führt darüber hinaus zur Sichtbarmachung von Mediendifferenzen. Der kanadische Regisseur Atom Egoyan spitzt diese Tendenzen in einigen seiner Filme so zu, dass aus der Darstellung alltäglicher Mediennutzung eine Art soziologische Experimentalanordnung wird: Mithilfe von Tonbändern, Videos oder Anrufbeantwortern erforschen die Protagonisten die Funktionsweise sozialer Beziehungen und vor allem das Verhältnis der Gegenwart zur Vergangenheit. Die im Folgenden zu diskutierende These ist, dass in den Filmen Egoyans insbesondere das Zusammenspiel solcher quasi-experimentellen Verhaltensweisen der filmischen Figuren mit mehr oder weniger experimentellen Formen der filmischen Inszenierung neue Aspekte ›des Menschen‹ sichtbar werden lässt. Die ›Story‹ von CALENDAR (1993) lässt sich etwa so rekonstruieren: Ein Fotograf erhält den Auftrag, Fotos armenischer Kirchen für einen Kalender aufzunehmen. Wie seine Frau, die ihn als Übersetzerin begleitet, hat er armenische Vorfahren, besucht das Land aber zum ersten Mal. Am Ende der Arbeitsreise bleibt die Frau, die eine enge Beziehung zum Land und nicht zuletzt zum armenischen Fahrer entwickelt, in Armenien. Der Fotograf sitzt nun zu Hause, der fertig produzierte Kalender hängt an der Wand; regelmäßig besuchen ihn Frauen, die – nach offensichtlich strikt vereinbarten Regeln – sobald die Flasche Wein geleert ist, nach dem Telefon fragen und dort dann in je anderer Fremdsprache (etwa mazedonisch, russisch u.v.a.) eine Art intimes Gespräch führen. Währenddessen beginnt der Fotograf immer wieder von neuem, einen Brief an seine Frau zu schreiben, die er bei ihren wiederholten Anrufen, auch in Anwesenheit der weiblichen Gäste, immer nur auf den Anrufbeantworter

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sprechen lässt. Gelegentlich schaut er die von ihm aufgezeichneten Videos von der Reise an und masturbiert. Dieses Setting entspricht zunächst dem psychologischen Narrativ einer (scheiternden) Bearbeitung von Verlusterfahrungen durch die Wahl von Ersatzobjekten und durch wiederholende, quasi-neurotische Handlungssegmente. Allerdings nutzt der Fotograf die Videoaufzeichnungen auch zur sehr konkreten Erforschung, ja Vermessung der vergangenen Ereignisse und der Struktur sozialer Beziehungen; nachdem er eine Sequenz wiederholt zurückgespult und angeschaut hat, schreibt er seiner Frau: »I positioned myself at the entrance and pointed my camera at the two of you, waiting to see how long it would take you to notice me standing there. 2 minutes and 54 seconds. I tried to convince myself that it might take that long for someone to notice the loved one, waiting, a few yards away. 2 minutes and 54 seconds.«

Spätestens mit dieser Szene wird deutlich, dass die gesamte Konstellation (ganz unabhängig davon, wie ›neurotisch‹ das Verhalten des Fotografen sein mag) eine epistemologische Stoßrichtung aufweist. Die artifizielle Anordnung medialer Elemente (zu denen man auch die Frauenbesuche zählen kann) zielt offensichtlich nicht nur darauf zu vergessen, zu verdrängen oder zu kompensieren; die Vorgehensweise des Fotografen (und die Struktur des Films CALENDAR) eröffnet vielmehr einen Raum, in dem Elemente der Vergangenheit und der Gegenwart durch eine Reihe unterschiedlicher Darstellungsformen immer wieder neu in Beziehung gesetzt und befragt werden. So ist die Frau des Fotografen etwa als Stimme auf dem Anrufbeantworter, als Videobild, als Adressatin des Briefes und durch die weiblichen Gäste (die alle gewisse Ähnlichkeiten mit ihr und untereinander aufweisen) in unterschiedlichen Varianten repräsentiert, die ein differenziertes ›Durchtesten‹ von Emotionen und Erinnerungen möglich machen. Gerade weil dabei keineswegs klar ist, wonach gesucht wird und was die Frage ist, können in dieser Konstellation neue, überraschende Aspekte entdeckt werden.1 Auch wenn CALENDAR damit sicher kein Menschenexperiment im naturwissenschaftlichen, medizinischen, psychologischen Sinn zeigt (weder treten Wissenschaftler auf, noch werden Menschen in eine ein1

Auch naturwissenschaftliche Experimentalsysteme sollen ja nicht unbedingt Antworten geben, sondern zur »Materialisierung von Fragen« beitragen; vgl. Hans-Jörg Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, Göttingen 2001, S. 22. 254

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deutig identifizierbare Untersuchungsapparatur eingespannt), scheint es mir lohnend, ihn als eine spezifische Variation auf das Thema zu betrachten. Wie auch in anderen Filmen Egoyans wird ein Setting gezeigt, in dem Figuren mithilfe von Medientechnologien ihre Biographie und ihre sozialen Beziehungen experimentellen Variationen aussetzen. Indem sie dabei einerseits eine manipulierende Position einnehmen, andererseits selbst Teil der Anordnung werden, stellt sich die für filmische Menschenexperimente fast schon stereotype Frage nach Kontrolle und Kontrollverlust. Zur Diskussion steht somit, inwiefern das Experimentelle auch außerhalb von Labors einen Ort haben kann und unter welchen Bedingungen der Alltag/das Leben in der filmischen Inszenierung experimentelle Formen annimmt. Insofern keine Experimente im engeren Sinne stattfinden, muss die filmische Form selbst dazu beitragen, den Status des Experiments zu verdeutlichen; die Figuren Egoyans sind nicht nur zugleich Experimentatoren und Gegenstände ihrer eigenen Experimente; sie werden darüber hinaus auch epistemische Objekte der filmischen Verfahren. Entsprechend stellt sich die Frage nach dem Zusammenhang zwischen der filmischen Darstellung und der filmischen Durchführung von Experimenten. Der ›Plot‹2 des Films CALENDAR ist so organisiert, dass er eine doppelte Enthüllungsstruktur aufweist: Zwei Zeitebenen – ›vergangenes‹ Geschehen in Armenien vs. ›gegenwärtiges‹ Geschehen in der Wohnung des Fotografen – sind derart ineinander montiert, dass sowohl die tatsächliche Verfasstheit des gegenwärtigen Handlungsstrangs (etwa die Inszeniertheit der Frauenbesuche) als auch die entscheidende Wendung der vergangenen Reise durch Armenien (die Intimität zwischen der Frau und dem Fahrer) erst sukzessive und mit zum Ende sich zuspitzender Dramatik deutlich werden. Dies entspricht konventionellen narrativen Strategien etwa von Krimis und Thrillern. Zum einen allerdings zielen die Enthüllungen hier auf keine Wahrheit, sondern eher auf eine serielle Variation von Motiven durch immer neue Elemente, die der Anordnung weitere Komplexität verleihen (so, wenn wir spät erfahren, dass der Fotograf durch monatliche Überweisungen die Patenschaft für ein armenisches Mädchen übernommen hat, dem er ebenfalls Briefe schreibt). Zum anderen werden die 2

Ich verwende hier die (neo-)formalistische Unterscheidung von ›Story‹/›Fabula‹ (= abstrakte, nachträgliche Rekonstruktion der Handlung in ihrer kausalen, zeitlichen Abfolge) und ›Plot‹/›Syuzhet‹ (= konkrete Anordnung der Teilereignisse in ihrer filmischen Organisationsform); vgl. David Bordwell: Narration in the Fiction Film, Madison 1985, S. 50-53. 255

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Filmzuschauer/innen mit dieser Enthüllungsstruktur in die Experimentalanordnung einbezogen, weil die zunehmende Verflechtung der Teilelemente auch die möglichen Sinnaspekte – und somit die ›Erkenntnisse‹ – vervielfältigt. Möglich wird eine solche Adressierung der Zuschauer vor allem durch den doppelten Status der eingesetzten Medientechniken, die über ihre diegetische Funktion hinaus eine ›rein‹ filmische Funktion erhalten. Entgegen der hier zunächst konstruierten linearen ›Story‹ und auch entgegen der im zweiten Schritt dargestellten Struktur des ›Plots‹, die immerhin schon zwei Zeitebenen ineinander webt, werden die medialen Bilder und Töne im Verlauf des Films tatsächlich wie Elemente einer Experimentalanordnung immer neu geordnet. Als medial reproduzierbare Fragmente werden bestimmte Aussagen oder Ereignisse relativ unabhängig vom narrativen Verlauf und von diegetischen Handlungen wiederholt und modifiziert: Videoausschnitte von der Armenienreise oder auf dem Anrufbeantworter gespeicherte Anrufe der Frau sind im Film mehrfach repräsentiert und werden dabei vor- bzw. zurückgespult, ohne dass erkennbar ist, ob dies vom Protagonisten oder durch eine ›außerdiegetische Erzählinstanz‹ veranlasst wurde. Gegenwart und Vergangenheit werden nicht nur durch die Montage, sondern auch durch ihre Modulation in medialen Darstellungsformen, die selbst unterschiedliche zeitliche Strukturen aufweisen (so markiert Video- gegenüber Filmmaterial Präsenz und flexible Manipulierbarkeit), in ambivalente Bezüge gestellt. Die Medien sind hier also keineswegs nur Metaphern für das Funktionieren des ›psychischen Apparats‹. Vielmehr erlauben sie den filmischen Figuren eine Bearbeitung der eigenen Erinnerungen und Emotionen; zugleich vervielfältigen sie die ›Aggregatzustände‹, in denen bestimmte Figuren, Ereignisse, Beziehungen vorhanden sind, und erlauben so dem Film/dem Regisseur ein Experimentieren jenseits der diegetischen Strategien der Protagonisten. So wenig allerdings CALENDAR direkt an wissenschaftlichen Experimenten (seien es medizinische Dokumentationen oder filmische Bewegungsanalysen etc.) partizipiert, so wenig kann Calendar im engeren Sinne als Filmexperiment/Experimentalfilm gelten. Am ehesten lässt sich der Film – wie die meisten anderen Filme Egoyans – einem Modus der Filmproduktion zurechnen, der in der Filmwissenschaft als art cinema gekennzeichnet wird:3 Ein Kino, das durchaus industriell, arbeitsteilig entsteht und hinsichtlich seiner formalen Merkmale dominant narrativ aber in expliziter Absetzung von den Realismus-Konventionen des Hol3

Murray Smith: »Modernism and the Avant-Gardes«, in: John Hill/Pamela Church Gibson (Hg.): The Oxford Guide to Film Studies, New York 1998, S. 359-411, sowie Bordwell: Narration (Anm. 2), insb. S. 205-213. 256

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lywood-Kinos verfährt. Es unterscheidet sich auf der anderen Seite von einem im engeren Sinne experimentellen Kino der ›Avantgarde‹ oder des ›Undergrounds‹, das in der Regel individuell, handwerklich realisiert wird und, wenn überhaupt, eher der Ökonomie des Kunstbetriebs als der der Kinoauswertung angehört. Die ›Experimente‹ des letzteren zielen, zumindest in einigen dominanten Strängen des 20. Jahrhunderts, vor allem darauf, die essentiellen Merkmale des Films als Kunstform herauszuarbeiten (seien es Farbe, Bewegung, Licht, Montage o.a.) und so zugleich mit Wahrnehmung zu experimentieren.4 Das art cinema verfolgt demgegenüber eher eine Linie, in der die Abwendung von konventionellen Formen und somit der selektive Rückgriff auf experimentelle Verfahren zwar auch eine Selbstreflexion von Film/Kino impliziert, in der diese Verfahren aber zugleich eine (gegenüber ›Hollywood‹) andere Modellierung von Realität, Gesellschaft, Handlung, Individuum (also außerfilmischen Konzepten) entwerfen.5 Für die hier verfolgte Fragestellung ist genau diese Doppelung von Interesse, in der die ›Repräsentation‹ von Welt (z.B. von außerfilmischen Experimenten) mit experimentellen filmischen Verfahren verbunden ist. Bei Egoyan gilt dies in besonderem Maße, weil schon die Experimente, die seine Figuren diegetisch betreiben, insofern sie mit medialer Inszenierung und Kontrolle zu tun haben, die Praxis des Filmemachens mit reflektieren. Bevor ich die Experimentalanordnung in CALENDAR in einem sozialen bzw. soziologischen Kontext näher verorte, will ich zunächst an einigen anderen Filmen Egoyans der Inszenierung von Menschenexperimenten nachgehen. Der Bezug auf weitere Filme Egoyans dient weniger dazu, ein ›Werk‹ mit seinen Motiven zu rekonstruieren, als vielmehr dazu, der Frage nachzugehen, inwiefern und unter welchen Bedingungen ›All-

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So v.a. P. Adams Sitney: Visionary Film. The American Avant-Garde, New York 1974. Für den Film hat das Konzept des Experiments durch die Dominanz des Hollywoodkinos sehr viel mehr Differenzierungspotenzial als in anderen Bereichen, in denen das Experiment nahezu den gesamten Bereich künstlerischer Praxis bezeichnet (vgl. Jochen Venus: »Kontrolle und Entgrenzung. Überlegungen zur ästhetischen Kategorie des Experiments«, in: Marcus Krause/Nicolas Pethes (Hg.): Literarische Experimentalkulturen. Poetologien des Experiments im 19. Jahrhundert, Würzburg 2005, S. 1940). Dies entspricht in Teilen dem filmhistorischen Strang, den Peter Wollen in seiner Unterscheidung von zwei Avantgarde-Traditionen durch seine Arbeit an Signifikations- und Bedeutungsprozessen kennzeichnet und so von einem eher an der bildenden Kunst orientierten Strang unterscheidet, der jegliche Signifikation zugunsten von Wahrnehmungsexperimenten zu unterlaufen sucht. Peter Wollen: »The Two Avant-Gardes«, in: ders.: Raiding the Icebox. Reflections on Twentieth-Century Culture, London, New York, S. 92-104. 257

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tagsszenen‹ zu Menschenexperimenten werden – unter welchen sozialen und unter welchen filmischen Bedingungen. Der Bezug auf das ›Werk‹ ist hier auch von Interesse, weil CALENDAR in der kanonischen Werkgeschichtsschreibung einen Übergangsfilm darstellt: Er beschließt die formal experimentelle und forciert medienreflexive Phase, an die sich Filme anschließen, die stärker psychologisierend, narrativ konventioneller und ästhetisch-medial homogener verfahren.6 Gerade deshalb bietet sich Calendar an, um die Frage nach dem Zusammenhang von diegetischen Menschenexperimenten mit filmisch formalen Experimenten in den Blick zu nehmen.

Therapie (NEXT OF KIN) Die medial-soziale Konfiguration in CALENDAR ist dem Motiv der Therapie, insbesondere der Psychotherapie nachgebildet, die – nach Wikipedia – eine »besondere Form einer kontrollierten menschlichen Beziehung« darstellt, »in der der Therapeut die jeweils spezifischen Bedingungen bereitstellt, um für einen oder mehrere Patienten Veränderungen in Richtung einer Verminderung/Heilung von seelischem/körperlichem Leiden zu ermöglichen.«7 Schon seit den 1970er Jahren werden insbesondere in der Familientherapie Videoaufzeichnungen eingesetzt, die dem Therapeuten wie dem zu Therapierenden einen anderen, distanzierten oder verfremdenden Blick auf die soziale Situation ermöglichen soll.8 Es ist markant, dass in den Filmen Egoyans generell weniger Körper oder Bewusstsein als vielmehr die sozialen Beziehungen manipuliert werden; weder Chirurgie und Physiologie noch Drogen spielen in seinen Experimentalanordnungen eine nennenswerte Rolle;9 die allgegenwärtigen Medien koppeln sich nicht (wie bei Cronenberg) an den Körper an und verstellen nicht die Wahrnehmung. Sie produzieren zwar jede Men6

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So u.a. in den beiden bislang umfassendsten Egoyan-Monografien: Jonathan Romney: Atom Egoyan, London 2003; Matthias Kraus: Bild – Erinnerung – Identität. Die Filme des Kanadiers Egoyan, Marburg 2000. http://de.wikipedia.org/wiki/Psychotherapie (14.3.2007). So heißt es etwa in einem aktuellen Kursangebot des Instituts für integratives Lernen und Weiterbildung: »Videogestützte Interaktionsanalyse (VIA) trägt dazu bei, stark automatisiert und dementsprechend unterbewusst ablaufende Verhaltensweisen in Interaktionssituationen zu erkennen, zu verstehen und ggf. zu verändern. Insbesondere in der Elternberatung ermöglicht der Einsatz von Video eine praxisnahe Grundlage für psychoedukative Interventionen« (http://www.iflw.de/fortbildungen/via_videoanalyse_fortbildung.htm (12.3.2007)). Wenn, wie etwa in THE SWEET HEREAFTER (1997), Drogen thematisch werden, dann ebenfalls nicht hinsichtlich ihrer Wahrnehmungseffekte auf Seiten derer, die Drogen nehmen, sondern als ›Beziehungsprobleme‹ auf Seiten der Angehörigen. 258

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ge Ambivalenzen und Verunsicherungen, diese beziehen sich aber auf das Verhältnis zu Angehörigen, zur eigenen Biographie, zur Geschichte eines Kollektivs. Ganz explizit findet sich das Therapie-Motiv in Egoyans erstem abendfüllenden Film NEXT OF KIN (1984): Eine Familie besucht wegen der Antriebslosigkeit des Sohns Peter eine Familientherapie. Die Sitzungen werden mit Video aufgezeichnet und die Familienmitglieder zu einer individuellen Sichtung des Materials vor der Folgesitzung angehalten. Peter nutzt dies, um das liegen gelassene Therapievideo einer anderen Familie, die am Verlust ihres vor langer Zeit zur Adoption frei gegebenen Sohns leidet, zu sichten. Er nimmt Kontakt zu dieser Familie auf, behauptet, der ehemals fortgegebene Sohn zu sein, wird im weiteren Verlauf Teil dieser (armenischen) Familie und macht es sich dabei zur Aufgabe, die Konflikte zwischen Vater und Tochter seiner neuen Familie zu lösen.

Abb.1/2: Peters Familie bei der Familientherapie

Peter entwendet hier gewissermaßen die spezialdiskursive und institutionell reglementierte mediale Anordnung der Therapie und überführt diese ins Alltagsleben. Um sein Leben und das der neuen Familie zu gestalten, spielt er selbst eine Rolle, fordert seine neue Schwester (von der unklar bleibt, inwiefern sie Peters Rollenspiel durchschaut) dazu auf, gegenüber ihrem Vater ebenfalls in eine Rolle zu schlüpfen, und provoziert damit ›heilsame‹ Verschiebungen im Gefüge der Familie. Indem die (institutionalisierte) Therapie den Menschen Apparate zur Verfügung stellt, die diesen einen analytischen Blick auf das eigene Leben und die eigenen sozialen Beziehungen erlauben, vervielfältigen sich die Optionen dieser Leben und verselbständigen sich zugleich die quasi-therapeutischen Rollenspiele. Schon im Laufe der Therapiesitzung mit seinen Eltern lässt Egoyan Peter direkt in die Videokamera blicken und zeigt so an, dass dieser sich reflexiv zur Technik verhält und sie für seine Inszenierung benutzt.

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»Im Vergleich zur eigentlichen Intention des therapeutischen Settings kommt Video [aber auch den anderen eingesetzten Medien, wie etwa dem Tonband; M.S.] – aus Sicht ihrer Betreiber – hier eine geradezu kontraproduktive, subversive Funktion zu.«10

Eine subversive Funktion, die ihre eigene Produktivität in einer neuen, nicht mehr institutionalisiert therapeutischen Konstellation entfaltet. Gerade durch diese Loslösung der therapeutischen Praxis von der strengen institutionellen Rahmung wird der experimentelle Status akzentuiert: Peter ist zwar Veranlasser des therapeutischen Rollenspiels, aber eben zugleich auch Beteiligter, dem die Kontrolle immer wieder entgleitet; bald schon wird er zum Objekt von Inszenierungen seines neuen Vaters (der etwa, an einem für Peter überraschenden Termin, dessen Geburtstagsfeier gestaltet und später einen Herzanfall mimt). Somit sind die Rollenspiele tatsächlich keine Therapie mehr mit klar definiertem Ziel, sondern Beziehungsexperimente mit offenem Ausgang; weil die Verfahren anderen Kontexten entliehen sind, bleiben sie immer ambivalent.11 Besonders deutlich wird dies am Beispiel des Tonbandtagebuchs, das Peter auf Anraten des Familientherapeuten erstellt und mit dem er am Ende des Films seinen ›eigentlichen‹ Eltern mitteilen wird, dass er nicht mehr zu ihnen zurück kehrt (in einer Videoaufnahme aus den Räumen der Familientherapie ist zu sehen, wie die Eltern gemeinsam mit dem Therapeuten das Band anhören; das Gerät liegt dabei auf dem Platz, den zuvor Peter eingenommen hatte). Dieses Tonband trägt durch die Speicherung und Wiederholung der Aufzeichnungen zur Vervielfältigung und Ausdifferenzierung bestimmter Ereignisse und Aussagen bei; Peter hört sich seine eigenen Äußerungen an, die dann gleichermaßen Dokumente, Erinnerungen und Aufforderungen sein können. Zugleich wird diese Wiederholbarkeit, ähnlich wie in CALENDAR, von der diegetischen Ebene gelöst, so dass eine Überlagerung von Gegenwart und Vergangenheit entsteht: Der Film beginnt etwa mit einem Voice Over, in dem Peter bekennt, seine Langeweile zu Hause durch eine Spaltung in eine Darstellerund eine Zuschauerrolle zu bearbeiten. Später wird in mehrfachen Wiederholungen dieser Aussage klar, dass diese Teil des therapeutischen Au10 Kraus: Bild (Anm. 6), S. 90. 11 Monique Tschofen betrachtet eine solche Art der Entwendung (bzw. des »poaching«) als durchgängiges Motiv bei Egoyan, insofern dessen Protagnoisten, immer gegen eine Kontrolle der Bilder/der Geschichten ihres Lebens angehen, indem sie die Mittel der Kontrollierenden zu ihren eigenen machen: Monique Tschofen: »Repetition, Compulsion, and Representation in Atom Egoyan’s Films«, in: William Beard/Jerry White (Hg.): North of Everything. English-Canadian Cinema since 1980, Edmonton 2002, S.166183, hier S. 176. 260

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dioprotokolls ist, das Peter erst beginnt, wenn er sein Zuhause schon verlassen hat. Damit ergibt sich ein zwar motivisch und thematisch auf die diegetisch von den Figuren durchgeführten Beziehungsexperimente bezogenes, diesen gegenüber formal aber eigenständiges Spiel mit der Vervielfältigung der Perspektiven, Identitäten und möglichen Kausalitäten. Diese Doppelung hat einen filmisch selbstreflexiven Impetus (insofern es um Fragen der Darstellung, der Inszenierung etc. geht) wie auch eine experimentell sozialpsychologische Stoßrichtung (insofern es um Aspekte eines Charakters, deren Gleichzeitigkeit und Ungleichzeitigkeit etc. geht). Beziehungen und Identitäten sind in NEXT OF KIN somit auf Medien verwiesen, können sich nur in symbiotischer Bindung an diese realisieren und werden durch deren Verfahrensweisen strukturiert: Die psychische Struktur, vor allem die kulturelle Identität der Figuren wird in Abhängigkeit und somit auch in Analogie zu den Technologien gedacht; so wie diese sich wiederholen, sich löschen, sich manipulieren und vervielfältigen lassen, so auch die Persönlichkeiten und sozialen Strukturen.12 Zum anderen bildet sich aber keine Eins-zu-eins-Struktur zwischen Figuren und Medien heraus; vielmehr vervielfältigen sich die Figuren mit den verschiedenen medialen Darstellungsformen; sie werden zu Doppelgängern und eröffnen ein Feld von möglichen Rollen, Identitäten und Persönlichkeitsaspekten.13 Therapeutische Situationen sind insofern immer medial strukturiert als sie darauf zielen, Situationen zu schaffen, die nicht Realität sind, aber Realitätseffekte zeigen; die Unterscheidung bleibt dabei immer brüchig (im Therapievideo, das Peter sich heimlich anschaut, stürzt sich der Familienvater ›tatsächlich‹ auf den Therapeuten, der die Rolle des verlorenen Sohns nur ›spielt‹). Technische Medien können und sollen nun helfen, »zwischen Imagination und tatsächlicher Konfrontation in der Wirklichkeit eine verlässliche Zone der Sicherheit für Patienten« zu gewährleisten.14 Genau in diesem Sinne schaffen die technischen Medien in 12 Romney betrachtet genau dies als ein Grundmotiv Egoyans: »the psyche’s need for external correlatives and rituals that echo the multiple play/record/rewind/erase mechanisms of video.« J. Romney: Atom Egoyan (Anm. 6), S. 5 f.; sehr viel genereller rekonstruiert Nicolas Pethes einen ganz ähnlichen Zusammenhang zwischen frühem Kino und Theorien der Massenpsychologie: Nicolas Pethes: Spektakuläre Experimente. Allianzen zwischen Massenmedien und Sozialpsychologie im 20. Jahrhundert, Weimar 2004, S. 31-42. 13 Vgl. Timothy Shary: »Video as Accessible Artifact and Artificial Access: The Early Films of Egoyan«, in: Film Criticism 19,3 (1995), S. 2-29, hier S. 4. 14 Frank Furtwängler: »Computerspiele am Rande des metakommunikativen Zusammenbruchs«, in: Britta Neitzel/Rolf F. Nohr (Hg.): Das Spiel mit 261

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NEXT OF KIN und weiteren Filmen (und zwar für die Figuren wie für die Filmzuschauer) eine ambivalente Zone, die vielfältige, sich vervielfältigende Handlungen und Beziehungen entfaltet, deren Realitätsstatus und Realitätseffekte aber offen bleiben.15

Abb. 3: Peter sichtet in der Einzelsitzung die Aufzeichnungen anderer Familien

Die Verschränkung von Therapie, Rollenspiel und Medien, kann zum Bezugspunkt einer umfassenden Experimentalisierung des Alltagslebens werden, weil zahllose andere gesellschaftlichen Praxisformen und Institutionen (von der Familie bis zur Zollinspektion) in Egoyans Filmen als spezifische, nie aber eindeutige Organisationsformen von Beziehungen visualisiert werden. Sie stellen mit ihren je unterschiedlich strukturierten Sichtbarkeiten, Inszenierungen und Gesprächsformen ein Raster für Verhaltensvariationen mit offenem Ausgang zur Verfügung. Dies kann als eine dezidierte Gesellschaftsdiagnose Egoyans verstanden werden (etwa: ›die Institutionen geben keine Sicherheit mehr‹), aber eben auch als selektiver Rückgriff auf bestimmte Orte und Verfahrensweisen, die so für eine experimentelle Vorgehensweise produktiv gemacht werden. In EXOTICA (1994), dem chronologisch auf CALENDAR folgenden Film Egoyans, wird beispielsweise ein Nachtclub zum quasi-therapeutischen Ort, an dem zunächst ein Angestellter und dann ein Kunde hoffen, dem Medium. Partizipation – Immersion – Interaktion, Marburg 2006, S. 154-169. Die Argumentation dieses Textes bezieht sich auf die Therapie von Neurosen (Höhenangst/Arachnophobie) mithilfe von Computersimulationen. 15 Entgegen mancher entsprechender Interpretationen scheinen mir die Filme Egoyans deshalb auch keineswegs eine Simulationsthese zu vertreten; die Medien verstellen und ersetzen keineswegs Realität, sondern sie vervielfältigen eher die Realitätsbezüge. 262

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durch ihre (die Regularien des Clubs gleichermaßen ausnutzende wie subvertierende) Beziehung zu einer Tänzerin des Clubs erfahrene Verluste kompensieren zu können. Die Chefin des Clubs will demgegenüber deutliche Grenzen ziehen: dem Angestellten, der ihr sagt, die Arbeit sei für ihn eine Therapie, weist sie zurecht, er werde dafür bezahlt; dem Kunden bescheidet sie, dass es ein Ort zur Unterhaltung, keiner zur Heilung wäre. Diese Chefin ist aber selbst viel zu sehr in die Beziehungsexperimente involviert (etwa indem sie mit genau dem von ihr reglementierten Angestellten einen Vertrag geschlossen hat, dass er sie schwängert); außerdem ist der Ort, wie wiederum die filmischen Verfahren Egoyans nachdrücklich verdeutlichen, mit seinen zweiseitigen Spiegeln (die in diesem Film gleich zu Beginn auch eine Szene am Zollübergang des Flughafens strukturieren), seinen Rolleninszenierungen, aber auch schlicht seiner eigenen Tradition (von der Mutter der Chefin an diese vererbt), ein Ort, der soziale Beziehungen in experimentelle (hier zunächst im weiten Sinne von systematisch variierbare und überraschende Resultate sichtbar machende) Anordnungen einbindet. Dass also das therapeutische Motiv sich in den Alltag verbreiten und diesen zu einem auf Dauer gestellten Experiment verformen kann, wird in den Filmen durch die Kontinuität der institutionellen (räumlichen und medialen) Konstellationen plausibel: Diese tragen zu einer Differenzierung und zugleich Etablierung von Rollenspielen bei, insofern mehr oder weniger fremde Menschen zu mehr oder weniger intimen Handlungsvollzügen aufeinander angewiesen sind und insofern an zahllosen Orten das Leben anderer zumindest partiell strukturiert, kontrolliert und auf ihr Wohlergehen hin optimiert wird: Das Hotel, der Sexclub, die Versicherung, aber auch der Zoll verschränken standardisierte und wiederholte Verfahren mit persönlichen und intimen Kategorien. Den technischen Medien kommt im Geflecht solcher Institutionen eine Sonderstellung zu, weil sie die Nahtstelle zwischen diegetischem und filmischem Experiment darstellen. Sie ermöglichen den Protagonisten eine quasi-instrumentelle Bearbeitung ihrer Verhaltensweisen und können zugleich, dadurch motiviert, aber formal unabhängig, das filmische Menschenexperiment über das der Protagonisten hinausführen. So werden etwa in EXOTICA neben einer wiederkehrenden Rückblende, deren Relevanz sich erst sukzessive erhellt, zunächst diegetische Fotografien, dann aber auch nicht-diegetische Videoaufnahmen der verstorbenen Familienangehörigen des Protagonisten eingeflochten. Diese geben keine Auskünfte über den ›Charakter‹ der Figur,16 sondern machen diese viel16 Dies wäre wiederum das ›klassische‹ Verfahren, das etwa vom Hollywoodkino im Bestreben, möglichst alle Informationen prägnant zu visualisieren 263

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mehr zu einem ›epistemischen Ding‹, insofern ihre gegenwärtigen Verhaltensweisen und ihre vergangenen Erfahrungen mit einem Möglichkeitshorizont versehen werden.

Rollenspiele (OPEN HOUSE) Die Experimentalanordnungen, die die Protagonisten von Egoyans Filmen (zunächst also auf diegetischer Ebene) gleichermaßen errichten und durchlaufen, lassen sich jenseits des Motivs der Therapie als Experimente einer soziologischen Rollentheorie auffassen.17 Auf der einen Seite gibt es für die Figuren dieser Filme (sei es durch konkrete Verluste, Beschädigungen, kulturelle Verunsicherungen – oder schlicht Langeweile) Anlässe, konkrete Kompensationen oder ganz allgemein Veränderungen zu suchen. Auf der anderen Seite überlagern sich in den Praktiken und Institutionen, in die sie sich in der Folge hineinbegeben, unterschiedlichste Ansprüche, Bedürfnisse, Regeln und Verfahrensweisen. Die Räume und sozialen Beziehungen der filmischen Narration verschieben immer wieder konkurrierende soziale Rahmungen so ineinander, dass die Frage eines ›adäquaten‹ – der Situationsdefinition angepassten – Handelns und Verhaltens aufgeworfen wird. Die ›an sich‹ vorgesehenen Regularien und Verhaltensweisen einzelner Orte lassen sich nie in Idealform umsetzen, breiten sich aber zugleich mit ihren spezifischen Codes und Zwängen in andere Lebensbereiche aus. Wenn etwa im Film THE ADJUSTER (1991) ein Versicherungsvertreter Brandschäden schätzen muss, dann begegnet er den emotionalen persönlichen Verlusten der Opfer angemessen/unangemessen mit einer zynischen Verwaltungslogik, die nur in Geldsummen rechnen kann; gleichzeitig hat er mit seinen ›Kunden‹ – gleich welchen Geschlechts – Sex, kommt ihnen also viel zu nahe. Mit seiner Frau, die er ebenfalls als Opfer eines Brandes kennen gelernt hat, scheint er dagegen keinerlei Intimität mehr zu pflegen. Der Soziologe Erving Goffman schlägt vor, menschliche Interaktionen durch die Analyse von Rahmen zu erklären, die eine soziale Situation mit ihrer je spezifischen Wirklichkeit definieren und damit dem Handeln ebenso spezifische – situative – Selbstverständlichkeit verleihen. Gemäß den unterschiedlichen Rahmen (zunächst ganz schematisch: Arbeitsplatz, Familie, Fußballspiel etc.) werden von den Handelnden unterschiedliche Verhaltensmuster – Rollen – vollzogen. Eine Person verfeinert wurde; Familienbeziehungen, komplexe Emotionen etc. werden dort häufig durch diegetische Fotografien gezeigt; vgl. David Bordwell: »Die Hard und die Rückkehr des klassischen Hollywood Kinos«, in: Ken Adams u.a.: Der schöne Schein der Künstlichkeit, hg. und eingeleitet von Andreas Rost, Frankfurt/Main 1995, S. 151-202, hier S. 178 f. 17 Zentral hierfür: Erving Goffman: Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen [1974], Frankfurt/Main 1977. 264

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kann und muss somit immer eine Pluralität an Rollen einnehmen können – ohne dass dies prinzipiell die Identität und die Authentizität der Person bedroht. Allerdings impliziert das Modell auch, dass sowohl die Definition der Situation als auch die Rolle immer fragil sind. Die Situationen sind einerseits institutionalisiert und an bestimmte feste Räumlichkeiten gebunden, andererseits aber hoch dynamisch: Die Anwesenheit bestimmter Personen, ja schon die Unterstellung, dass eine bestimmte Person Informationen über die aktuelle Situation erhält, kann die Definition der Situation gänzlich verändern. Somit können sich unterschiedliche Situationsdefinitionen (und Rollenerwartungen) überlagern, Ambivalenzen produzieren und in Konkurrenz treten. Es ist für Goffman deshalb ein kennzeichnendes (und analysierenswertes) Kennzeichen von Alltagssituationen, dass man »manchmal nicht weiß, ob es sich um Spiel oder den wirklichen Vorgang handelt«.18 Für den hier diskutierten Zusammenhang ist bedeutsam, dass Goffman selbst mediale, fiktionale Produkte ebenso wie dokumentarische Zeitungsberichte und empirische soziologische Studien als Bezugspunkt seiner Rahmen-Analyse wählt. Der Vorteil solcher »dramatischen ›Drehbücher‹« bestehe gerade darin, dass sie immer schon selbst den vielgestaltigen Alltag schematisieren und somit Symptome von Situationsdefinitionen sind: »ihre tiefste Bedeutung liegt darin, daß sie eine künstliche Darstellung des Alltagslebens liefern, ein Drehbuch über drehbuchlos ablaufende soziale Vorgänge, weswegen sie viele sehr deutliche Hinweise auf die Struktur dieses Bereichs enthalten«.19 Die fiktionalen Darstellungen ersetzen somit in Teilen die nur schwer möglichen Experimente. Gegenwärtig finden sich Fortführungen der Rollentheorie vor allem im Bereich einer spieltheoretischen Organisationssoziologie20 und in der Managementtheorie; dort werden nun immer mehr auch Filme zum Einsatz gebracht, um prägnante Situationen und widersprüchliche Rollenanforderungen darzustellen.21 Ein früher Kurzfilm, OPEN HOUSE (1982), zeigt besonders prägnant die Schnittpunkte zwischen einer solchen Rollentheorie und der filmi-

18 Ebd., S. 15. 19 Ebd., S. 66, ähnlich zu Anekdoten S. 24; er vergleicht sein Interesse im Übrigen auch mit dem des Absurden Theaters (ebd., S. 15), was hier von Interesse ist, weil auch Egoyan eine große Affinität zum Absurden Theater aufweist (u.a. hat er 2001 Samuel Becketts Krapp’s Last Tape verfilmt). 20 Oswald Neuberger: »Spiele in Organisationen, Organisationen als Spiele«, in: Willi Küpper/Günther Ortmann (Hg.), Mikropolitik, Rationalität, Macht und Spiele in Organisationen, Opladen 1988, S. 53-86. 21 Vinzenz Hediger: »Von Hollywood lernen heißt führen lernen. Spielfilme als Schulungsfilme in der Managementausbildung«, in: montage/av 15,1 (2006), S. 139-152. 265

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schen Arbeit von Egoyan: Die Grundsituation ist der Verkauf eines Hauses, eine Situation also, die einmal mehr eine ökonomische Rollendefinition – Käufer, Verkäufer – mit einem Eindringen in die Privatsphäre verbindet; Egoyan modelliert dies als experimentelles Rollenspiel, indem seine Figuren die Rollen teils ungeschickt, teils überhaupt nicht ausfüllen. Vor allem der vermeintliche Makler, der ein Ehepaar im noch von den bisherigen Besitzern bewohnten Haus herumführt, verhält sich in gewisser Weise unprofessionell, übertreibt auffällig bei der Beschreibung des Hauses und stellt den Interessenten schließlich viel zu private Fragen. Durch diese Verfremdungen werden die eigentlich einer solchen Situation ›adäquaten‹ und meist stillschweigend realisierten Verhaltensweisen als bestimmte Codes und Normen deutlich. Das klassische handlungstheoretische Experiment, das – nach dem Begründer der Ethnomethodologie, Harold Garfinkel, – gelegentlich auch als ›garfinkeln‹/›to garfinkel‹ bezeichnet wird, besteht ja darin, stur die einer Situation nicht angemessene Verhaltensweise zu zeigen (sich z.B. im elterlichen Zuhause wie ein höflicher Pensionsgast zu benehmen), um so einerseits die impliziten normativen Rahmungen von Alltagssituationen, andererseits das Potenzial von Adaptionen und Zuschreibungen explizit zu machen.22 Der Makler fragt etwa insistierend nach Beruf und Urlaubsreisen des Käufers – woraufhin dieser (wie erst später durch eine Äußerung seiner Frau deutlich wird) eine gute Stellung erfindet. Gegen Ende des Films wird aber – und dies ist die markante Abweichung des Films von der soziologischen Modellierung – darüber hinaus enthüllt, dass die gesamte Verkaufssituation eine Inszenierung war; der Makler ist der Sohn des Hauses, der damit seiner Familie und ihrem heruntergekommenen Haus eine Aufwertung verschafft. Eine Situation wie der Verkauf eines Hauses, die immer schon den (zumindest gemäß der soziologischen Rollentheorie: alltäglichen) Aspekt von Selbstinszenierung und Rollenspiel akzentuiert, wird zum Feld einer nochmaligen Steigerung (und auch hier könnte man sagen: Entwendung) der eigentlich ›adäquaten‹ Inszenierungsmuster, die ganz andere als situationsbezogene Funktionen erfüllen. Die Situation ist noch als distinkte mit ihren Rollendefinitionen erkennbar; sie wird aber geöffnet für der eigentlichen Situa22 Garfinkel bezeichnet das Vorgehen als Krisenexperimente bzw. ›breaching experiments‹; vgl. Harold Garfinkel: Studies in Ethnomethodology, Englewood Cliffs 1967; zum Stellenwert für die Soziologie vgl. auch die Einleitung von: Dirk Baecker: Wozu Soziologie? Berlin 2004. Durchaus ähnliche Interessen verfolgte schon die US-amerikanische Fernsehsendung CANDID CAMERA (seit 1948), deren Regisseur Allen Funt die These verfolgte, dass Menschen überraschende Situationen rationalisieren; auf seine Sendung bezogen sich wiederum eine Reihe von Soziologien/Sozialpsychologen (vgl. Pethes: Spektakuläre Experimente (Anm. 12), S. 120). 266

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tionsdefinition fremde Zusammenhänge sowie für weitere, zunächst nicht darin involvierte Personen (hier v.a. den Vater) und so zugleich an ihre Grenzen gebracht. In der Perspektive Goffmans könnte man solche Inszenierungen als »Modulationen« bezeichnen: Tätigkeiten, die bereits in einem »primären Rahmen« sinnvoll sind, werden dabei »in etwas transformiert, das dieser Tätigkeit nachgebildet ist, von den Beteiligten aber als etwas ganz anderes gesehen wird«.23 Spiele, Zeremonien, Üben und Proben sind sicher die vertrautesten Beispiele solcher Modulationen. Während primäre Rahmen meist überhaupt nicht thematisch werden und völlig selbstverständliche Rollenübernahmen mit sich bringen, führen Modulationen zur Aufmerksamkeit für Situations- und Rollendefinitionen. Grenzen – sowohl die zwischen unterschiedlichen Situation, als auch Grenzen der Angemessenheit der modulierten Tätigkeiten – werden fortlaufend beobachtet und justiert. Genau in diesen Prozessen werden auch bei Goffman Medien zu wichtigen Elementen, die Situationen definieren, verändern und modulieren. Dies gilt ganz generell, wenn Goffman sein Verfahren einleitend dadurch kennzeichnet, dass es ihm mit der Frage nach Rahmen, »um die Kamera und nicht um das, was sie abbildet« geht.24 Es gilt aber insbesondere für die Modulationen von Situationen; hier führt Goffman nämlich unter anderem »Sonderausführungen« von Ereignissen/Situationen an, die sich unter anderem aus ihren (medientechnischen) Aufzeichnungen ergeben. Goffman verweist auf die Verwendung von Filmaufzeichnungen in Gerichtssituationen, in physiologischen Experimenten und in Verhaltenstherapien, um zu verdeutlichen, dass eine Situation in medial reproduzierter Form schlicht nicht mehr die gleiche ist, andere Affekte auslöst und anderen Reglementierungen unterliegt.25 Auch in OPEN HOUSE sind es Medien, die (gleichermaßen dem Protagonisten der Handlung wie dem Regisseur des Films) die Manipulation/Modulation der Situation und des Rollenspiels gestatten: Der Film 23 Goffman: Rahmen-Analyse (Anm. 17), S. 55. 24 Generell sind Situationen – insofern sie abhängig davon definiert werden, wer anwesend ist, wer beobachtet, wer Informationen darüber erhält – medial konstituiert; Goffman hat dies bekanntermaßen durch Analogie zum Theater expliziert (Erving Goffman: Wir alle spielen Theater: Die Selbstdarstellung im Alltag [1956], München 1991). In expliziter Anknüpfung an Goffman hat Joshua Meyrowitz die Veränderung sozialer Definitionen durch technische (Massen-) Medien beschrieben (Joshua Meyrowitz: Überall und nirgends dabei. Die Fernsehgesellschaft 1 [1985], Weinheim/Basel 1990). Insofern eine seiner zentralen Diagnosen darin besteht, dass Medien die Grenzen zwischen etablierten Situationsdefinitionen verwischen, lassen sich auch hier Bezugspunkte zu den Szenarien Egoyans finden. 25 Vgl. Goffman: Rahmen-Analyse (Anm. 17), S. 82 f. 267

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beginnt damit, dass der vermeintliche Makler, sich während des Rasierens (also während er sich körperlich für die Situation präpariert) mehrfach die Interessensbekundung, die die Kunden auf dem Anrufbeantworter hinterlassen haben, anhört. Später, wenn die Kunden sich das Haus anschauen, veranlasst er durch Betätigung eines Lichtschalters, das Klingeln des Telefons; er kann daraufhin ein Telefonat mit einem anderen Kunden inszenieren, der sich für den Kauf des Hauses entschieden hat, wodurch der Abschied von den gerade anwesenden Kunden eingeleitet werden kann. Er fährt diese aber noch mit seinem eigenen Auto in die Stadt, zeichnet dabei ihre Antworten auf seine Frage, wie ihnen denn das Haus gefallen habe, auf Band auf, um sich schließlich zu Hause mit seinen Eltern die lobenden Worte mehrfach anzuhören und dabei Dias aus ›besseren Zeiten‹ anzuschauen. Goffmans Modell geht davon aus, dass alle Beteiligten von einer Modulation wissen und dass eindeutige Signale die Modulation markieren – beides ist bei Egoyan dezidiert nicht der Fall (weder auf der Ebene der Diegese noch für die Zuschauer des Films) und genau dadurch entfaltet sich die experimentelle Dynamik. Während nämlich Goffman den Fokus auf die automatisierten Rollenübernahmen und auf das enorme Potenzial zur spontanen Anpassung an Rollen richtet – bezeichnenderweise erklärt er einleitend, sich »einschleichen und die Menschen beim Schlafen beobachten« zu wollen26 –, inszeniert Egoyan ein ununterbrochenes Spielen mit und Abarbeiten an den Rollen, Situationen und Rahmen. Wie gleich noch am Beispiel von CALENDAR gezeigt werden soll, gibt es in der postmodernen/postkolonialen Welt Egoyans keine primären Rahmen, die selbstverständliche Rollen definieren. Rollen werden nie einfach eingenommen oder ausgefüllt, sondern müssen immer im starken Sinne ›gespielt‹ werden. Vor allem aber gibt es Gründe und Motive, die ein Experimentieren mit den Rollen und den sie definierenden Beziehungskonstellationen erforderlich machen. Als Menschenexperimente, dies konnte hoffentlich die Beschäftigung mit NEXT OF KIN und OPEN HOUSE verdeutlichen, können die Szenarien Egoyans dabei auch gelten, weil es immer einen Experimentator (manchmal mehrere) gibt, der soziologische und sozialpsychologische Kategorien in Bewegung versetzt. Es gibt Figuren/Instanzen, die das Experiment in Szene setzen und systematisch Manipulationen daran vornehmen; durchaus analog zum Mad-Scientist-Film verlieren sie die Kontrolle über die Anordnung – im Unterschied zu diesem macht bei Egoyan aber genau dies das Experiment produktiv. Die Figuren nutzen die Medien zur Kontrolle über Situationen, Beziehungen und ihre eigene Identität; die Medien entfalten dabei aber immer auch eine Eigendynamik und 26 Ebd., S. 23 268

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werden selbst zu einem konstitutiven Teil dessen, was mit ihnen gestaltet werden soll. Aus Perspektive der Protagonisten fungieren sie als Instrumente (»technische Dinge«) der Experimentalanordnung, während sie für die Filmzuschauer selbst auf die Seite der »epistemischen Dinge« geraten, weil die Experimentalanordnung Egoyans gerade auch darauf zielt, Fragen bezüglich des Stellenwerts von Medien für die sozialen Beziehungen zu formulieren.27 Dies impliziert natürlich, dass neben der diegetischen Figur, die Kontrolle sucht und dann aber verliert, eine nicht diegetische Instanz der Anordnung von Ereignissen und Elementen eine experimentelle Ordnung verleiht. Entsprechend findet eine spezifische Doppelung und ein fortlaufendes Changieren zwischen den von den Figuren in der Diegese veranlassten und den durch die filmische Form (und somit nicht-diegetisch) mit den Figuren realisierten Experimenten statt. Menschenexperimente entstehen in Egoyans Filmen gerade aus dieser Doppelung: Auf der Ebene der Diegese bilden sich Fragestellungen, Motive, Strategien und somit auch epistemische Dinge heraus; aber erst durch die Selbständigkeit der filmischen Form gegenüber den Handlungen der Protagonisten werden diese jenseits von individuellen Idiosynkrasien als Elemente einer experimentellen Anordnung sichtbar. Die Kennzeichnung der Egoyanschen Szenarien als Menschenexperimente hätte somit tatsächlich mehr als nur metaphorischen Stellenwert. Ein weiterer Gewinn einer solchen Perspektive scheint mir darin zu bestehen, dass so die häufige Kennzeichnung von Egoyans Filmen als medien- und kulturkritisch relativiert werden kann. Zeigen sie doch weniger ein durch die Medien beschädigtes Leben als eine experimentelle Situation, die enorme Unsicherheiten produziert, in der die Medientechniken aber keineswegs schlicht Instanzen der Entfremdung, sondern ambivalente Apparate vielfältiger Strategien und unvorhersehbarer Effekte sind.

Postkoloniale Experimente (CALENDAR) In CALENDAR bilden nicht mehr distinkte soziale Orte und Funktionen – Hotel, Therapie, Versicherung etc. – das experimentelle Setting. Den Bezugspunkt bildet vielmehr die postkoloniale Situation einer unsicher gewordenen räumlichen und zeitlichen Verortung. Die drei Protagonisten haben fast schon modellhaft differenzierte Beziehungen zum Land Armenien: Der Fahrer hat ein enges und affirmatives Verhältnis zu seiner ›Heimat‹, die Frau und Übersetzerin nähert sich dem Land ihrer Vorfahren mit großem Interesse an, der Fotograf ist ganz seiner ›westlichen‹

27 Zum dynamischen Wechselspiel zwischen technischen und epistemischen Dingen vgl. Rheinberger: Experimentalsysteme (Anm. 1), S. 26 f. 269

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Heimat assimiliert, spricht die Sprache seiner Eltern nicht mehr und nimmt Armenien nur als medialisiertes ›Image‹ wahr. Die medialen Experimente, die der Fotograf in seiner Wohnung und die der Film für seine Zuschauer/innen inszeniert, gehen deshalb über die quasi-therapeutische Abarbeitung eines persönlichen Verlusts weit hinaus. Mittels Inszenierungen, Wiederholungen, Variationen und Medialisierungen werden Fragen zur Möglichkeit von sozialen Beziehungen, Identitäten, Erinnerungen angesichts einer historischen und kulturellen Heterogenität formuliert. Mehr noch als in den anderen hier diskutierten Filmen wird deutlich, dass Egoyan die zeitlichen und räumlichen Verunsicherungen, die durch Migration bedingt werden, mit den Verunsicherungen, die durch eine zunehmend medialisierte Umwelt entstehen, engführt. Die Verzahnung dieser beiden Aspekte macht den experimentellen Status des Films aus: Auf der diegetischen Ebene ist der Protagonist gleichermaßen durch seine Biographie wie durch die exzessive Medialisierung derart von seiner Geschichte und seinen sozialen Beziehungen distanziert, dass er sich diese nun in Form variierender Repräsentationen verfügbar machen kann und muss. Der Film kann auf der einen Seite als Protokoll der dabei eingesetzten Strategien verstanden werden; auf der anderen Seite vollzieht der Film aber, über die Strategien des Protagonisten hinaus, ein eigenständiges Experiment.

Abb. 4: Die Ausgangssituation: Telefon und Kalender in der Wohnung des Fotografen

Der titelgebende Kalender bildet dabei ein bezeichnendes Scharnier in der Experimentalanordnung. Er hängt im Zimmer des Fotografen über dem Telefon und die wechselnden Bilder der Kirchen bilden die Basis eines rigiden seriellen Schemas: Bei jedem der ebenso seriell inszenierten Telefonate einer bestellten Besucherin ist ein neues Bild zu sehen, so dass sich eine monatliche Wiederholungsstruktur ergibt. Zugleich fungieren diese Fotografien aber auch als Scharnier zwischen den beiden Zeitebenen der filmischen Struktur, situieren sich doch die eingespielten Videoszenen von der Armenienreise häufig an dieser Kirche, die gerade auf 270

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dem Kalenderblatt zu sehen ist. Das so gebildete Raster wird nun überlagert von fortlaufenden Verschiebungen, die sich durch die Schichtung der verschiedenen medialen Darstellungsformen ergeben und eine eindeutige zeitliche oder kausale Verknüpfung der Zeitebenen unterlaufen.

Abb. 5: Der Fahrer/Reiseführer und die Dolmetscherin/Ehefrau vor einem Kalendermotiv

In einer frühen Sequenz des Films, während noch Videoaufnahmen aus Armenien zu sehen sind, klingelt das Telefon; ein Anrufbeantworter springt an, jetzt sehen wir im Bild, dass der Fotograf abhebt, den Anruf aber nicht versteht, da seine eigene Stimme vom Band des Anrufbeantworters weiter spricht. Er blättert den Kalender von Januar zu Februar. Die erste Kirche (vom Januar-Foto) war im Vorspann des Films in einer Videoaufnahme zu sehen; die nun auf dem Kalender zu sehende Kirche (Februar), bildet in der nächsten Einstellung – einer Art ›Subjektive‹ des Fotografen durch den Sucher seiner Kamera bei der Produktion dieses Fotos – den Hintergrund eines Streits auf der Armenienreise: Der armenische Fahrer kommt ins Blickfeld des Fotografen, schaut provozierend gelassen in die Kamera und beginnt die Geschichte der Kirche im Hintergrund zu erläutern; die Frau, die nun ebenfalls ins Bild tritt, übersetzt dies für den Fotografen, der sie aber (aus dem Off) unterbricht, weil er sieht, dass die Videokamera, die seine Frau trägt, eingeschaltet ist, und sie kritisiert, Batterien zu verschwenden. Es folgen Videoaufnahmen aus Armenien, die ebenfalls der Fotograf gemacht hat (weil sie alle von ihm stammen, ist er in keiner Aufnahme von der Armenienreise zu sehen). Während diese im Schnellvorlauf zu sehen sind, hören wir seine Frau auf den Anrufbeantworter sprechen; sie bedankt sich für die Zusendung des Kalenders, beschwert sich aber, dass er ihn kommentarlos geschickt hat. Die Stimme vom Anrufbeantworter spricht weiter, wenn nun auf der visuellen Ebene wieder die Wohnung des Fotografen zu sehen ist; der Kalender zeigt den März mit einem neuen Kirchenbild an, eine erste Besucherin sitzt mit dem Fotografen am Tisch. Ihr Schweigen und ihr unbe271

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stimmter Gesichtsausdruck machen es möglich, aber nicht eindeutig, dass der Anruf der Frau in diesem Moment und in diesem Raum (diegetisch) zu hören ist.

Abb. 6: Der Fotograf schreibt einen Brief an Abb. 7: Videobilder von diesem ›Patensein armenisches ›Patenkind‹ kind‹ (uneindeutiger diegetischer Status)

Abb. 8: Währenddessen fingiert eine bestellte Besucherin ein intimes Telefonat

Thematisch werden hier Kommunikationsstörungen verhandelt, die sich gleichermaßen aus den kulturellen Brüchen wie aus den medialen Techniken ergeben (beide Faktoren durchdringen, verstärken und modifizieren sich wechselseitig). Formal werden die Entortungen, die sich aus Migration und Medialisierung ergeben, nachvollzogen, so dass zeitlich, räumlich oder sozial differenzierte Elemente ein ambivalentes Geflecht möglicher Relationen bilden. Die vielfältigen Medialisierungsprozesse werden als unvermeidbare und zugleich hoch ambivalente Momente der postkolonialen Situation verdeutlicht. Angesichts der räumlichen und zeitlichen Brüche werden Vermittlungsprozesse benötigt, die aber, schon wegen der unterschiedlichen biographisch-kulturellen Verortungen, sehr viel mehr und anderes als eine transparente Vermittlung leisten: Der Fahrer beginnt – ungefragt – auch als Reiseführer zu agieren, der mit seinen Hinweisen auf die Geschichte der Kirchen die routinierte Arbeit des Fotografen stört; die Übersetzerin übersetzt dies nicht nur, sondern kommentiert es zugleich so, dass weitere Konflikte entstehen. Gleiches gilt 272

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natürlich auch für die technischen Medien in der Wohnung des Fotografen – und es gilt einmal mehr für das filmische Verfahren Egoyans: seine Montage verbindet die heterogenen Elemente (die unterschiedlichen zeitlichen Ebenen, die Bilder des Kalenders und der Videoaufzeichnungen, die Stimmen vom Anrufbeantworter) so, dass die diegetische Enträumlichung der Protagonisten für das filmische Material nachvollzogen wird. Häufig ist unklar, ob die im Film zu hörenden Aussagen eine aktuelle Äußerung, eine Erinnerung des Fotografen oder ein außerhalb der Diegese zu verortendes Element sind. Gerade in der Verschränkung dieser Ambivalenzen mit einem an sich rigiden zeitlichen Schema, das sich aus den Kalenderblättern und den seriellen Frauenbesuchen ergibt, wird so eine »schwebende Temporalität«28 geschaffen. Diese trägt entscheidend dazu bei, dass die Bilder und Töne, aber auch die dargestellten Ereignisse in ein Geflecht möglicher Relationen gestellt und somit Teil einer experimentellen Anordnung werden: So erlaubt die Konstellation die Herausbildung (nicht die Beantwortung) von Fragen bezüglich des Zusammenhangs von Medialisierungsprozessen, Geschichtsschreibung und postkolonialer Situation. Mit Laura U. Marks kann CALENDAR einem ›Kino der Diaspora‹ zugerechnet werden, das sich notwendigerweise mit grundlegenden Fragen der Repräsentierbarkeit von Erfahrungen und Erinnerungen beschäftigt:29 Weil gerade nicht geklärt ist, von welcher Perspektive aus – als Teil welchen Kollektivs – gesprochen (bzw. gefilmt) wird, kann weder eine konventionelle dokumentarische Bestandsaufnahme, noch eine konventionelle narrative Fiktion die brüchige und zeitlich vielfach geschichtete Situation wiedergeben. Stattdessen verfährt das ›Kino der Diaspora‹ zunächst nur negativ; es richtet sich gegen die hegemonialen Narrative und Darstellungsformen, denen die vielfältigen und hybriden Erfahrungen entgehen müssen, und kann diesen auch keinen eigenen Mythos entgegensetzen, sondern nur brüchige, selbst hybride Formen, die in ihren Dissoziationen lediglich Raum für extrem unterschiedliche und fragile Erinnerungen bieten. Es muss sich somit einer Wahrheit verweigern und für viele mögliche Wahrheiten Anknüpfungspunkte schaffen.30 CALENDAR stellt diese Frage nach einer möglichen Wahrheit schon dadurch, dass die fiktionalen Figuren eine unmittelbare Entsprechung zu ihren Darsteller/innen aufweisen: Der Fotograf wird gespielt von Atom Egoyan, die Übersetzerin/Ehefrau von Arsinée Khanjian, die beide ›tatsächlich‹ armenische Vorfahren haben und verheiratet sind. Dies trägt, 28 Kraus: Bild (Anm. 6), S. 178. 29 Vgl. Laura U. Marks: »A Deleuzian Politics of Hybrid Cinema«, in: Screen 35,3 (1994), S. 244-264. 30 Ebd., S. 262 f. 273

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nicht anders als die vielfältigen medialen Darstellungsformen, zu einer hochambivalenten Verdoppelung der Figuren bei: Sie umfassen fiktionale und autobiographische Aspekte und akzentuieren die Möglichkeit außerfilmischer Referentialität, deren Verlässlichkeit sie aber zugleich unterlaufen. Durchaus analog zur Rollentheorie kann somit auch unter Blick auf die postkoloniale Konstellation der Eindruck entstehen, dass Egoyan schlicht eine Gesellschaft zeigt, in der das gesamte Leben experimentellen Charakter annimmt. Dies entspräche neueren soziologischen und kulturwissenschaftlichen Diagnosen, die immer wieder darauf verweisen, dass unter Verlust von traditionellen Selbstverständlichkeiten Phantasie und Imagination und damit notwendigerweise auch mediale Darstellungsformen einen zunehmenden Stellenwert für die immer unsichere Realisierung von Biographien und Kollektiven besitzen: »Mehr Menschen als je zuvor, in mehr Teilen der Welt als zuvor ziehen heute mehr Variationen ›möglicher‹ Leben in Betracht als je zuvor.«31 Das Leben selbst würde demnach zu einem Experiment, in dessen Verlauf erst Fragen über ein wünschenswertes Leben formuliert werden können. Gerade insofern solche Diagnosen den Medien eine entscheidende Funktion für die imaginär-experimentelle Konstitution des eigenen Lebens zusprechen, liegt es nahe, die Filme Egoyans in diesem Kontext zu situieren. Das Verhältnis der Filme zu den soziologischen Theorien ist aber selbst brüchig. Keineswegs funktionieren die hier besprochenen Filme einfach als themendominierte Filme; es sind keine Filme ›über‹ Rollentheorie, ›über‹ Hybridität oder ›über‹ die Experimentalisierung des Lebens. Eher sind sie die zu den theoretischen Modellen komplementären Experimente, die sie eben auch deshalb sein können, weil in den Modellen Medien schon ein erheblicher Stellenwert zukommt. Letztlich haben sie aber als filmische Experimente eine zu starke Eigendynamik, um sich an eine wissenschaftliche Disziplin ankoppeln zu können. Zwar bezieht Egoyan mit der Fokussierung von Institutionen, Rollenverhalten oder auch postmoderner Hybridität soziologische Wissensbestände mit ein; diese werden aber so sehr in die spezifischen filmischen Verfahren eingewoben, dass sich die Experimente aus dem soziologischen Horizont lösen.

31 Arjun Appadurai: »Globale ethnische Räume. Bemerkungen und Fragen zur Entwicklung einer transnationalen Anthropologie«, in: Ulrich Beck (Hg.): Perspektiven der Weltgesellschaft, Frankfurt/Main 1998, S. 11-40, hier S. 21. 274

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Die Filme versuchen erst gar nicht (wie dies etwa in den Romanen Zolas der Fall war32) bestimmte Gesetzmäßigkeiten so in ein fiktionales Gewebe einzuflechten, dass dieses in seinem dramatischen Verlauf quasi notwendige Entwicklungen sichtbar macht. Menschenexperimente inszenieren sie eher, indem sie in den Aktivitäten ihrer Protagonisten aber auch in ihrem eigenen formalen Vorgehen, die Strukturen menschlicher Relationierungen (sozialer Beziehungen, historischer Bindungen, institutioneller Routinen etc.) gleichermaßen markieren und zur Disposition stellen. Insbesondere mit dem Einsatz von medialen Prozessen (hier wieder inklusive bestellter Gäste, Nachtclubtänzerinnen oder Versicherungsagenten) wird die für jedes Experiment konstitutive »Einheit der Unterscheidung von Aktualität und Potentialität«33 pointiert realisiert. Die gegebene Situation mit ihren Regeln wird immer ebenso ins Licht gerückt wie ein Möglichkeitshorizont ihrer Variationen, Veränderungen und Entwendungen erzeugt wird. Indem die Verbindung von Aktualität und Potentialität zugleich auf der filmischen Ebene, außerhalb der sozial definierten Situationen der Diegese, ebenfalls experimentell verhandelt wird (ein aktueller Ton vom Anrufbeantworter, der potenziell vom Protagonisten gehört werden könnte etc.), wird der soziologische Maßstab zugunsten ästhetischer Verfahren überschritten.

32 Vgl. Michael Gamper: »Normalisierung/Denormalisierung, experimentell. Literarische Bevölkerungsregulierung bei Emile Zola«, in: Krause/Pethes: Literarische Experimentalkulturen (Anm. 4), S. 149-169. 33 Marcus Krause/Nicolas Pethes: »Zwischen Erfahrung und Möglichkeit. Literarische Experimentalkulturen im 19. Jahrhundert«, in: Krause/Pethes: Literarische Experimentalkulturen (Anm. 4), S. 7-18, hier S. 14. 275

›T H E Y A R E I N F EC T E D – W I T H R AG E ‹. M E D I E N G E W A L T I N »28 D A Y S L A T E R « CHRISTINA BARTZ Der Film 28 DAYS LATER1 beginnt mit Fernsehbildern, genauer mit gestörten Fernsehbildern. Das verdeutlichen nicht allein die lärmigen Frequenztöne, die den Geräuschen eines Empfangsgerätes bei schlechter Übertragung entsprechen und die der Zuschauer als erstes hört, sondern auch die Querstreifen auf der Bildfläche, die die Zeilenauflösung eines Monitors anzeigen. Demnach scheint es Probleme bei der Übertragung des Gezeigten zu geben und die Bilder enthüllen auch den Grund der Übertragungsschwierigkeiten: weltweites Chaos. In schnellen Einstellungsfolgen werden Szenen der Gewalt vorgestellt, die alle von einer unruhigen Kamera dokumentiert werden. Die Aufnahmen sind von hektischen Kamerabewegungen geprägt, die dadurch potenziert werden, dass sich die Kamera viel zu nah an ihrem jeweiligen Objekt befindet – nah an den rennenden, sterbenden, weinenden und geprügelten Menschen. Der Bildausschnitt wechselt dabei permanent; zumeist herrschen Reißschwenks vor. Aber nicht nur die Kamera ist in ständiger Bewegung, sondern auch die verzweifelten Menschen vor der Kamera stehen nie still. Sie laufen, fahren, marschieren oder baumeln gar – erhangen – an einem Seil, während die umstehenden Personen noch auf sie einprügeln. Nach einer Minute solcher Gewaltszenen erhält der Zuschauer dann Gewissheit darüber, dass ihm hier gerade Bilder auf einem Fernseher präsentiert werden. Die Filmkamera fährt zurück und offenbart den Bildschirm, auf dem die gerade beschriebenen Szenen zu sehen sind. Damit verbunden ist eine Veränderung der Geräusche. Die bisher zu hörenden zischenden und quietschenden Frequenztöne werden von regelmäßigen Lauten abgelöst, die nur schwer zu identifizieren sind, aber zum gezeigten Setting passen. Zunehmend – d.h. mit einer zurückfahrenden Kamera, die einen immer größeren Ausschnitt preis gibt – wird ein Raum sichtbar, der von geraden Linien und kalten Blautönen dominiert wird, so dass sich der Eindruck klinischer Reinheit einstellt. Mehr und mehr Monitore 1

Regie: Danny Boyle, GB/USA 2002. 277

CHRISTINA BARTZ

bis hin zu einer ganzen Monitorreihe sind zu sehen und auf allen zeigen sich die bereits vorgestellten Szenen der Gewalt. Präsentiert werden diese vielfältigen Gewaltexzesse auf den zahllosen Monitoren einem Affen, der auf einer Liege festgeschnallt ist und dessen Kopf via Elektroden und Kabel an nicht sichtbare Apparaturen angeschlossen ist. Deutlich wird gezeigt, wie er seinen Blick auf die Bildschirme richtet. In knappen Zügen wird so der Eindruck eines Experiments in einem sterilen Labor, von dem sich die chaotischen Bilder der Gewalttaten stark abheben, entworfen. Die Fokussierung auf das Dispositiv aus Affe und Monitoren legt die Vorstellung einer Versuchsanordnung nahe, die der Erforschung von Medieneffekten dient. Ein weiterer Monitor, der für den Affen nicht einzusehen ist und dessen Aufnahmen gemäß den Bildbeschriftungen von einer Überwachungskamera kommen – auch hier wieder ist die Zeilenauflösung erkennbar und zudem sind die Bilder unscharf –, kündigt aber eine Störung in der geordneten Welt des Labors an. Maskierte Personen dringen in das Labor ein und nachdem sie ihre Masken abgezogen haben, zeigt sich auch dem Zuschauer, was sie sehen: eine Vielzahl randalierender Affen in Glaskäfigen. Die Szenerie wird durch eine Reihe von Einstellungen auf das Labor vorgestellt, bevor die Eindringlinge den festgeschnallten und zwangsweise Fernsehen schauenden Affen entdecken. Die Reaktion einer der Personen ist dabei zentral: Eine Aktivistin zeigt sich geschockt – nicht nur angesichts des gefesselten Affen, sondern auch hinsichtlich der Grausamkeiten, die er im Rahmen des Experiments zu sehen bekommt. Ihre Reaktion deutet darauf hin, dass ihr die Bilder unbekannt sind. Dies lässt sich als Indiz dafür werten, dass es sich gerade nicht um Bilder einer Fernsehübertragung, sondern um Aufzeichnungen handelt, die für das Experiment an dem Affen montiert wurden. Der Status der Bilder ist also unentschieden, denn weder das Verhalten der Frau noch das experimentelle Setting, in das der Affe eingebunden ist, bestätigen, was Form, Ton und Inhalt des Gezeigten nahe legen: authentische Fernsehnachrichten. Es bleibt unklar, ob es sich um die Wiedergabe realer Gewalttaten oder um eine Serie fiktiver Szenen der Gewalt handelt. Doch die Frage nach dem Status der Bilder wird schnell übergangen, denn die Eindringlinge werden von einem Laborangestellten entdeckt und nachdem sein Versuch, Alarm zu schlagen, misslingt, gibt er Auskunft über den Zustand der Affen: Laborangestellter: »The chimps are infected. They’re highly contagious. They’ve been given an inhibitor.« Eindringling: »Infected with what?« Laborangestellter: »To cure, you must first understand.«

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MEDIENGEWALT IN »28 DAYS LATER«

Eindringling unterbricht ihn: »Infected with what?« Laborangestellter: »Rage.«

Später fügt er noch hinzu: »The animals are contagious. The infection is in their blood and saliva. One bite …« Es kommt dann auch kurz darauf zu dem Biss und zwar im Zuge der Befreiung der Affen, bei der ein rasend gewordenes Versuchstier die bereits erwähnte Aktivistin anfällt, die daraufhin selbst in Raserei ihre Begleiter angreift. Den Abschluss der Sequenz bildet eine Einstellung auf ihr Augenpaar mit unnatürlich verengten Pupillen und auf einen Affen, der gegen seinen Käfig schlägt. Dann: ein schwarzes Bild und die Schrift »28 days later« – damit beginnt die Geschichte von Jim, dem Protagonisten des Films, der aus seinem Koma erwacht und das menschenleere London vorfindet. Dieser gerade geschilderte und fünf Minuten dauernde Prolog des Zombiefilms 28 DAYS LATER von Danny Boyle aus dem Jahr 2002 wird im Fokus der folgenden Ausführungen stehen, weil er ein spezifisches Bezugssystem für den Film etabliert. Einerseits geht es dabei um das Verhältnis, das der Zombie seit seinen filmischen Anfängen zur Wissenschaft unterhält. In seinen frühen Formen – so in dem Klassiker WHITE ZOMBIE von 1932 – ist der Zombie noch ein Opfer karibischer Voodooriten, deren Wirkung unerklärlich und mysteriös erscheint.2 Später wird er aber in ein rationales und szientifisches Erklärungssystem integriert, indem sein Verhalten und seine Verunstaltungen im Zuge der filmischen Wissensvergabe als das Produkt von Infektionen, Vergiftungen und Strahlungen vorgestellt wird. Die Blutgier des Zombies wird auf die Verunreinigung oder Mutation seines eigenen Bluts zurückgeführt und er gibt sein kontaminiertes Blut durch Beißen weiter, so dass der Zombie nun eine Ansteckungsgefahr darstellt; es handelt sich um die neue Art des Infektionszombies. Die Infektionszombies landen dann auch irgendwann in den Laboren der Wissenschaftler oder auf den Seziertischen der Mediziner, wenn sie nicht sogar dort ihren Ursprung haben wie in 28 DAYS LATER. Hier sind die Laboraffen der Infektionsherd für die Zombiefizierung Londons und der ganzen Welt, so dass die Untoten gleich Frankensteins Monster aus dem medizinischen Labor kommen. In Georges Romeros DAY OF THE 2

Dieser Bezug etabliert sich natürlich zunächst aufgrund des außerfilmischen Ursprungs des Zombiewissens. Vgl. dazu Jochen Fritz: »Der Zombie im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, in: ders./Neil Stewart (Hg.): Das schlechte Gewissen der Moderne. Kulturtheorie und Gewaltdarstellung in Literatur und Film nach 1968, Köln, Weimar, Wien 2006, S. 7798. Vgl. weiterhin Wade Davis: Passage of Darkness. The Ethnobiology of the Haitian Zombie, Chapel Hill, London 1988. 279

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DEAD waren dagegen noch die Zombies die Laboraffen, an denen Verhaltensexperimente und Autopsien durchgeführt wurden. Das Experiment spielt also in unterschiedlichen Formen (und häufig nur diffus durch diverse Utensilien angedeutet) immer wieder eine zentrale Rolle im filmischen Geschehen der Zombieklassiker.3 Andererseits referiert die Sequenz auf eine komplexe mediale Konstellation, innerhalb derer sich der Zombiefilm in seiner späteren Variante situiert hat. Das Genre fügt sich in einer spezifischen Weise in das jeweils aktuelle Medienensemble und findet darin seinen Standort. Dabei spielt die Thematik der Gewalt in verschiedenen Facetten eine zentrale Rolle, wie im Folgenden vorgestellt wird. Dazu wird zunächst ein knapper Überblick über die Entwicklung des Zombiefilms gegeben, bei dem es nicht nur um die Zombies auf der Leinwand und ihre Darstellungsformen, sondern auch um die ›lebenden Toten‹, die die Filmgeschichte bevölkern, geht. Zombies sind nämlich nicht nur ein genrespezifisches Motiv, sondern das Kino und seine Zuschauer erweisen sich selbst als zombifiziert bzw. mit Gewalt infiziert. Diese Zombies der Filmgeschichte greift der Film 28 DAYS LATER auf und zwar nicht, indem er ihnen eine Zombiegestalt in der Filmhandlung gibt, sondern in Form der vorgestellten Versuchsanordnung der Eingangssequenz. Im Experiment an dem Affen findet der Zusammenhang aus Gewalt, Genrespezifität und Medienentwicklung seinen Niederschlag. Im Anschluss an den filmhistorischen Überblick wird dieser Komplex ausgeführt. Dabei sind es vor allem die Idee einer experimentellen Erforschung der Wirkung von Mediengewalt und die unterschiedlichen Rezeptionsmodi des Zombiegenres, die im Mittelpunkt stehen.

Die Zombies der Filmgeschichte Der Zombiefilm gilt als Subgenre des Horror- und Splatterfilms. Doch die Filmzombies der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind noch nicht gewaltaffin. Vielmehr handelt es sich meist um Opfer exotischer Rituale, die sie zu willenlosen Sklaven fremder und unheimlicher Befehlsgeber machen. Monströs erscheinen sie nicht wegen ihrer Gestalt, sondern allein aufgrund ihrer Apathie und der Möglichkeit, dass sie bedingungslos jeden vom Meister gegebenen Befehl ausführen. Das Fleischfressen liegt ihnen dagegen fern und auch ihre körperliche Verunstaltung ist in der Regel noch nicht gegeben.4

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Vgl. zu diesem Zusammenhang den Beitrag von Torsten Hahn in diesem Band. Vgl. Peter Dendle: The Zombie Movie Encyclopedia, Jefferson, North Carolina, London 2001, S. 3. 280

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Beides sind Erfindungen der Regisseure der 60er Jahre – allen voran Georg Romero, dessen Zombies sich auf das Anfallen von Menschen spezialisieren. Romero ist es auch, der die Zombies aus ihrem exotischen Ambiente in den US-amerikanischen Alltag holt.5 Zu diesem Ortswechsel gehört, dass in den Filmerzählungen an die Stelle karibischer Mythen neuartige Ursachen für die Zombifizierung treten. So sind die Zombies in Romeros NIGHT OF THE LIVING DEAD von 1968 das Resultat der Strahlung einer Venussonde. In den 70er Jahre sind es dann häufig Pestizide und ein Jahrzehnt später giftige bzw. atomare Abfälle, deren Nebenwirkung jeweils darin besteht, dass Menschen zu Zombies mutieren. Beispielhaft sind hier INCUBO SULLA CITTA CONTAMINATA (GROßANGRIFF DER ZOMBIES) von 1980, in dem Radioaktivität aus einem AKW entweicht, oder der drei Jahre zuvor erschienene ökologische Horrorfilm LES RAISINS DE LA MORT (DIE FOLTERMÜHLE DER GEFANGENEN FRAUEN), der von kontaminiertem Wein erzählt (und im übrigen weder von Mühlen noch von Folter oder gar gefangenen Frauen). Hier zeigt sich einerseits das Aufkommen des Infektionszombies, der im Film als Ansteckungsgefahr verhandelt wird und der daher im Laufe der Erzählung auch zum wissenschaftlichen Untersuchungsobjekt werden muss. Das Labor gehört – ungeachtet welche Funktion es in der Filmnarration übernimmt – zu einem regelmäßig auftauchenden Motiv im Zombiefilm, so dass seine unterschiedlichen filmischen Bearbeitungen auch unter einer motivgeschichtlichen Perspektive zu betrachten wären. Ohne dass diese Herangehensweise hier weitergeführt werden soll, lässt sich vorläufig formulieren, dass diese Filmlabore weniger durch ein steriles Ambiente, wie es sich in der Eingangssequenz von 28 DAYS LATER findet, gekennzeichnet sind. Gerade der auditive Kontrast zwischen den Frequenztönen, welche die Gewaltexzesse auf den Monitoren begleiten, und die darauf folgenden gleichmäßigen Laute betonen in 28 DAYS LATER das Moment der Abgeschlossenheit, das nach Philipp Felsch mit dem modernem Laborraum assoziiert wird. Die Regelmäßigkeit auf der Tonebene isoliert die Laborsituation gleichsam von den vermeintlichen Fernsehnachrichten auf den Bildschirmen und betont so das Labor als Refugium, in dem gemäß Felsch »der natürliche Lauf der Dinge außer Kraft gesetzt ist.« Laboratorien »öffnen der experimentellen Praxis einen Freiraum vom undefinierbaren Rauschen der Natur und gestatten es, isolierte Variablen in mehr oder weniger artifiziellen Milieus kontrolliert

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Vgl. ebd., S. 6 sowie Arno Meteling: Monster. Zu Körperlichkeit und Medialität im modernen Horrorfilm, Bielefeld 2006, S. 119. 281

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aufeinander wirken zu lassen.«6 Diese experimentelle Situation dient der Sichtbarmachung nicht nur von Gesetzmäßigkeiten, sondern auch von Prozessen, die dem bloßen Auge zunächst verborgen bleiben, weil sie das Innere des Menschen betreffen. Genau hier setzt gemeinhin der Zombiefilm in seiner Referenz auf das Labor an. Der geforderte Ekelfaktor des Zombiegenres übergeht Aspekte wie Künstlichkeit oder Kontrolle und hebt dagegen auf das »unheimliche Potential des modernen Laboratoriums«7 und der darin stattfindenden Experimente, die auf das Körperinnere, also Gedärme und Blut zielen, ab. Die Zombiegestalt bietet dabei ein besonderes Objekt, weil sie für das medizinische Experiment prädestiniert ist: Zum einen referiert sie auf den menschlichen Körper, der gleichsam das Ausgangsmaterial ihrer Existenz darstellt und der hinter den Verunstaltungen zu erkennen ist. Die Verunstaltungen präsentieren den Körper dabei schon in seiner sezierten Form. Zum anderen bleiben sämtliche Eingriffe, und mögen sie noch so extrem sein, folgenlos; der Zombiekörper lässt sich beliebig auseinandernehmen. Andererseits wird mit den Strahlungen der Venussonde, dem mit Pestiziden versetzten Wein und der Radioaktivität aus AKWs deutlich, wie in den Zombiefilmen jeweils gesellschaftspolitisch aktuelle Thematiken aufgegriffen und als Motivationsmoment in das filmische Geschehen integriert werden. Die Probleme der westlichen Gesellschaft werden zum Bestandteil eines fantastischen wie brutalen Filmgeschehens, so dass die Filme anhand der Zombies brisante Gesellschaftsfragen in Extremform (und mit dem Fokus auf das Spektakel sowie auf das Erzielen von Affekten) durchspielen. Dieser Aspekt ist vor allem für Romeros Schaffen hervorzuheben. NIGHT OF THE LIVING DEAD wird – so Arno Meteling – »in der zeitgenössischen Wahrnehmung vor allem als sozialpolitische Allegorie betrachtet, die sich mit dem Thema Rassismus, aber auch mit Gewalt und einem möglichen atomaren Untergang der Welt, vor allem aber mit dem Vietnamkrieg auseinander setzt«.8 Rassenkonflikte und Vietnamkrieg führten in den 60er Jahren zu einer televisuellen Bilderflut der Gewalt, auf die Romeros Film anspiele. Dabei erhalte die Frage nach der medialen Vermittlung der Gewalteindrücke nach Meteling einen zentralen Stellenwert im Film. Ausgangspunkt seiner Überlegungen bildet neben der Schlusssequenz die Beobachtung, dass die eingeschlossenen Menschen während des Überfalls der Zombies permanent versuchen, über diverse Medien wie Fernsehen, Radio und Telefon mit 6

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Philipp Felsch: »Das Laboratorium«, in: Alexa Geisthövel/Habbo Knoch (Hg.): Orte der Moderne. Erfahrungswelten des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt/Main, New York 2005, S. 27-36, hier S. 30. Ebd., S. 33. Meteling: Monster (Anm. 5), S. 123. 282

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der Außenwelt Kontakt aufzunehmen. Dabei haben die von Romero eingesetzten Fernsehbilder mehrere Funktionen. Im Mittelpunkt steht jedoch, dass das Fernsehen angesichts der ausweglosen Situation der Figuren »auch nur von der Verzweiflung und vom Untergang berichten«9 könne. Jenseits einer solchen innerdiegetischen Betrachtung gehe es darum, das filmische Bild über seine mediale Doppelung und televisuelle Rahmung in »Anführungszeichen«10 zu setzen. 28 DAYS LATER übernimmt diese Anführungszeichen, denn mit den ersten Bildern der Gewalt etabliert er gleich Romeros Film eine mediale Mehrdeutigkeit. Der Film zeigt Einstellungen, die einerseits keinem Einzelmedium zuzuordnen sind und sich andererseits darauf beschränken, im dokumentarischen Stil menschliche Grausamkeit zu dokumentieren. Dieser Dokumentationscharakter ist bei NIGHT OF THE LIVING DEAD auch noch einmal in der Schlusssequenz entscheidend, in der unterschiedliche Medien ineinander verschachtelt werden, wie Meteling ausführt: »Der Film als kinematisches Medium kommt in dieser letzten Sequenz medial betrachtet an sein Ende und zitiert mit den gezeigten Szenen einen Grad an Realismus und Authentizität, der auf das Medium des Photos in der Zeitung oder auch im Standbild der Fernsehnachrichten rekurriert. Das Medium des Zeitungsphotos wird besonders auffällig durch die grobe Körnung der Schlussbilder, die von von [sic!] Zeitungspapier zu stammen scheinen […]. Sie verankern […] den Wahrheitsanspruch einer Zeitungsnachricht und erzeugen auf diese Weise verbindliche Referenz.«11

Diesen Stil mit seinen Effekten holt Boyle an den Anfang seines Films, indem er anstatt der Grobkörnigkeit von Zeitungen den Zeilenlauf von Monitoren betont. Wie Romero spielt auch Boyle dabei auf die mediale Vermittlung von Gewalt an, die unabhängig von Einzelmedien und der Unterscheidung real/fiktiv besteht. Romeros Filme sind ein prominentes Beispiel für US-amerikanische Produktionen, doch das Zentrum des Schaffens von Zombie- wie Horrorfilmen liegt lange Zeit weniger in den USA als in Südeuropa, wo sich Filme von Regisseuren wie den Italienern Dario Argento und Lucio Fulci durch ihre extremen Gewaltdarstellungen auszeichnen. Die italienischen Gewaltexzesse beschränken sich jedoch nicht auf das Horrorgenre, son-

9 Meteling: Monster (Anm. 5), S. 134. 10 Ebd. 11 Ebd., S. 135. 283

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dern erlangen vor allem durch den Italo-Western Bekanntheit.12 Genreübergreifend gelten die Produktionen aus Italien als äußerst gewaltintensiv und genau dies macht ihren Erfolg aus. Im Hintergrund dieses Ausmaßes an Gewalt steht nicht nur ein entsprechendes Publikumsinteresse, sondern auch eine Produktionsstrategie, die eine Reaktion auf das in der Nachkriegszeit einsetzende Kinosterben darstellt. Das Kinosterben ist u.a. das Resultat einer neuartigen Medienkonkurrenz: In den 60er Jahren etabliert sich das Fernsehen zunehmend als Leitmedium. Zunächst in den USA und dann in den europäischen Staaten verfügen immer mehr Haushalte über ein Empfangsgerät. Infolgedessen sinken die Besucherzahlen der Kinos.13 Die Kinobetreiber und Filmproduzenten versuchen dieser Entwicklung durch diverse Strategien entgegenzuwirken. Eine dieser Strategien besteht in einer Profilbildung, d.h. es geht darum, durch technische und ästhetische Innovationen die eigenen Produktionen gegenüber den Fernsehinhalten abzusetzen.14 Es werden Formen erarbeitet, die dem neuen Konkurrenten Fernsehen nicht zugänglich sind. Dazu gehört die Steigerung der Gewaltdarstellung, die Gewalt in den Filmen also, so weit zu treiben, dass sie für das Fernsehen nicht mehr zumutbar erscheint. Schließlich wird das Fernsehen als Familienmedium aufgefasst; als idealer Rezeptionskontext gilt der Familienverband, der eben auch Jugendliche und Kinder umfasst.15 Auch sie sollen uneingeschränkt am Fernsehen teilhaben können, weshalb die Fernsehschaffenden zum Schutz der Minderjährigen besonders gewaltsensibel bei der Programmzusammenstellung sind.16 Gewaltdarstellungen – zumindest in ihren extremen Varian-

12 Vgl. Morando Morandini: »Italien: Autoren und andere«, in: Geoffrey Nowell-Smith (Hg.): Geschichte des internationalen Films, Stuttgart, Weimar 1998, S. 540-549, hier S. 547. 13 Vgl. ebd., S. 548, sowie Michèle Hilmes: »Fernsehen und Filmindustrie«, in: Nowell-Smith: Geschichte des internationalen Films (Anm. 12), S. 425431, hier S. 426-428. 14 Vgl. Dietrich Scheunemann: »Kinoästhetik – Fernsehästhetik. Vom Wandel des Kinofilms unter dem Eindruck des Fernsehens«, in: ders./Volker Roloff/Helmut Schanze (Hg.): Europäische Kinokunst im Zeitalter des Fernsehens, München 1998, S. 15-39, hier S. 16 f. 15 Vgl. Knut Hickethier: Geschichte des deutschen Fernsehens, Stuttgart, Weimar 1998, S. 93. 16 Vgl. zur Gewaltdebatte in den 1960/70er Jahren Isabell Otto: »Kriminelle Verbrecherjäger. Zur Selbstregulierung von Mediengewalt«, in: dies./Christina Bartz/Irmela Schneider (Hg.): Medienkultur der 70er Jahre. Diskursgeschichte der Medien nach 1945, Bd. 3, Wiesbaden 2004, S. 197-215, hier S. 197-202. Trotz einer entsprechenden Programmgestaltung gilt das Fernsehen jedoch selbst als Vermittler von gewalttätigen Verhaltensmodellen. Vgl. dazu auch Thomas Hausmanninger: »Die Geschichte der ethischen Debatte über Gewalt im Film«, in: ders./Thomas Bohrmann (Hg.): Medien284

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ten – werden so aus dem Fernsehprogramm ausgeschlossen und damit zu einem spezifischen Kinoerlebnis, das den Film von den Fernsehsendungen unterscheidet. Der totgesagte Film soll demnach – um im Metaphernfeld des Kinosterbens zu bleiben – ›mit Gewalt‹ wieder zum Leben erweckt werden. Er wird im Zuge des Reanimationsversuchs mit Gewalt infiziert, damit er von den Toten zurückkehrt. Infektionsherd sind (neben den superbrutalen Cowboys eines gesetzlosen Westens) die Leinwandzombies, deren blutige Taten die Zuschauer wieder in die Kinos locken sollen. Als ein Höhepunkt der filmischen Gewaltentwicklung gilt neben der US-amerikanischen Produktion THE EVIL DEAD (TANZ DER TEUFEL) Fulcis 1980 erschienener Film PAURA NELLA CITTÀ DI MORTI VIVENTI (EIN ZOMBIE HING AM GLOCKENSEIL), der die Narration zu Gunsten einer Aneinanderreihung von »zusammenhanglosen Ekelszenen«17 vernachlässigt. Aufgrund solcher Konzentration auf den Aspekt der Gewalt werden die Zombiefilme immer wieder zum Gegenstand öffentlicher Debatten um die Frage nach der Wirkung der Rezeption von fiktiver Gewalt.18 EIN ZOMBIE HING AM GLOCKENSEIL gehört aber schon zu den Filmen einer neuen Generation, weil seine Auswertung nicht auf die Kinos beschränkt ist, sondern auch eine Videofassung angeboten wird. Die Rezeption der Zombiefilme verlagert sich ab 1980 immer mehr von den Kinos in die Wohnzimmer der Zuschauer. Ähnlich wie das Kino ehemals das Monopol der Mediengewalt für sich entdeckte, stellt der Sektor Horrorfilm (neben der Pornografie) nun eine Spezialisierung der kommerziellen Videokultur dar.19 Der Grund dafür ist jedoch ein anderer als beim Kino: Im Videobereich hat sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht vollständig eine massenmediale Adressierung etabliert, so dass hier gesellschaftlich tabuisierte Inhalte zugänglich sind.20 So stehen der Videoauswertung gerade die Inhalte zur Verfügung, die andere Massenmedien gleichsam ab-

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gewalt. Interdisziplinäre und ethische Perspektiven, München 2002, S. 3750, hier S. 40. Louis Paul: Inferno Italia. Der italienische Horrorfilm, München 1998, S. 132. Vgl. Detlef Klewer: Die Zombie Chronicles. Eine Aufarbeitung über die Kinogeschichte der ›lebenden Toten‹, Hille 2000, S. 109 und S. 130. Vgl. auch Paul: Inferno Italia (Anm. 17), S. 136,. Vgl. Knut Hickethier: Film- und Fernsehanalyse, Stuttgart/Weimar 1993, S. 16. Vgl. Kay Hoffmann: Am Ende Video – Video am Ende? Aspekte der Elektronisierung der Spielfilmproduktion, Berlin 1990, S. 206 f., sowie Ralf Stockmann: »Der Videoboom der achtziger Jahre«, in: Werner Faulstich (Hg.): Die Kultur der 80er Jahre, München 2005, S. 123-135, hier S. 126128. 285

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sondern. Auf diese Weise gibt das Kino seine Zombie- und Gewaltinfektion weiter; der Angesteckte und neue Gewaltkranke heißt nun Video. Mit dem Aufkommen des Videorekorders in dieser Zeit werden also die Zombiefilme vermehrt auf dem heimischen Fernsehgerät angeschaut, was für den Zuschauer auch eine neue Verfügbarkeit über den einzelnen Film impliziert: Zum einen ist der Film nicht mehr in eine festgelegte Programmstruktur eingebunden und zum anderen wird der Zugriff auf jede gewünschte Stelle des Films möglich, d.h. der Film kann zu jeder vom Rezipienten festgelegten Zeit geschaut werden. Darüber hinaus steht es ihm frei, jede Stelle des Films anzuwählen und die Filmrezeption z.B. auf wenige Szenen zu reduzieren.21 Der Nutzer kann also die narrationsarme Struktur von Fulcis Klassiker imitieren. Im Zuge dieser neuen Rezeptionsmöglichkeiten entwickelt sich auch eine eigene Kultur der ›Video-Cliquen‹ – also zumeist jugendliche Zuschauer, die sich im Schauen von Horrorfilmen zur Gruppe zusammenfinden. Innerhalb dieser Gruppen kommt es auch zur Bildung einer Art von Expertentum. Die Experten verfügen über ein detailliertes Wissen hinsichtlich des Genres und heben dabei auf »intertextuelle[] Bezüge in den Filmen«22 ab. So ist dann auch innerhalb einer solchen Video-Clique das Auffinden von filmischen Referenzen ein wichtiger Bestandteil der Cliquen-Kultur, was wahrscheinlich auf Produktionsseite entsprechende Angebote nach sich zieht. Entscheidend ist darüber hinaus die veränderte Zugangsweise zu den Filmen, denn der Experte ordnet Filme »nicht mehr in erster Linie nach dem sinnlich-emotionalen Wert ein […], sondern wendet ästhetische Kriterien an, die auf Reflexion, Wissen und Erfahrung beruhen […].«23 Die sinnlichen Aspekte – Spannung und Schrecken – werden eher zum Bestandteil eines Systems der Selbstbeobachtung bzw. »Selbsterfahrung«24 sowie der Selbstregulation und -kontrolle: Die Filmexperten richten ihr Interesse dabei weniger auf das den Affekt auslösende Moment als auf die Analyse und Kontrolle ihrer eigenen Reak21 Vgl. Stockmann: Der Videoboom (Anm. 15), S. 131-133, sowie Torsten Hahn/Isabell Otto/Nicolas Pethes: »Emanzipation oder Kontrolle? – Der Diskurs über ›Kassetten-Fernsehen‹, Video und Überwachungstechnologie«, in: Albert Kümmel/Leander Scholz/Eckhard Schumacher (Hg.): Einführung in die Geschichte der Medien, München 2004, S. 225-253, hier S. 226. 22 Waldemar Vogelsang: »Publikumskulturen: Medienkompetenz von unten«, in: Thomas Hausmanninger/Thomas Bohrmann (Hg.): Mediale Gewalt: interdisziplinäre und ethische Perspektive, München 2002, S. 176-191, hier S. 182. Vgl. zur Bedeutung filmischer Referenzen im Zombiefilm auch Dendle: The Zombie Movie Encyclopedia (Anm. 4), S. 9. 23 Vogelsang: Publikumskulturen (Anm. 22), S. 188. 24 Roland Exkert u.a.: Grauen und Lust – Die Inszenierung der Affekte. Eine Studie zum abweichenden Videokonsum, Pfaffenweiler 1991, S. 88. 286

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tion darauf. Die eigenen intensiven Gefühle aus Abscheu und Angst sowie die eigene Fähigkeit des Aushaltens dieser Empfindungen werden beobachtet und der Versuch ihrer Regulation unternommen.25 Der Film wird so von den Mitgliedern der Video-Cliquen zu einem »Psychotest«26 umgewandelt. Sie machen sich selbst zu dem Affen, der in 28 DAYS LATER angeschlossen an Apparaturen auf die Bildschirme schaut. Aber sie sind nicht nur der Affe, sondern auch der Versuchsleiter. Neben diesen neuartigen Rezeptionsmodalitäten bringt der Videorekorder zudem auf produktionstechnischer wie juristischer Ebene Veränderungen: Mit dem Verlassen des Kinos »wurde eine neue Qualität [der Horrorfilme] sowohl durch ihre Quantität als auch dadurch erreicht, daß bei Video zunächst kaum eine Reglementierung stattfand, die es hätte verhindern können, daß Kinder und Jugendliche diese Filme sehen.«27 So wird dann auch der Videosektor zum zentralen Kampfplatz der Jugendschützer, die in den Videotheken mit ihrem Angebot an Horrorfilmen den »abgründige[n] Hort bestialischer Fantasien«28 erblicken. Im Zuge der Entwicklung der Videotechnologie und ihrer institutionellen wie kommerziellen Strukturen rückt das Genre des Horrorfilms in den Fokus der öffentlichen und der juristischen Debatten. Ihm wird eine Wirkung auf das jugendliche Verhalten unterstellt, auch wenn die Art der Wirkung als strittig gilt. Behauptungen, die Gewaltdarstellung werde imitiert, spielen hier ebenso eine Rolle, wie die Annahme, es komme zum Senken der Hemmschwelle hinsichtlich der Ausübung von Gewalt oder der Effekt bestehe in einer Vergröberung, Abstumpfung und Primitivierung des Gefühlslebens. Diese Überlegungen dienen zum einen der Legitimation des Verbots der Filme. Zum anderen findet die Thematik darüber Eingang in den Wissenschaftsbereich, indem die Untersuchung des Zusammenhanges aus »Video-Horror«29 und Gewaltausübung als Desiderat der Medienwirkungsforschung proklamiert wird. Damit taucht ein weiterer Infizierter in der Geschichte des Zombiefilms auf: der Zuschauer der Zombievideos, dessen Verhalten sich nach den Aussagen der Jugendschützer an dem der fleischfressenden Filmungeheuer orientiert und dessen Weltkontakt gleich dem der Zombies apathisch und empfindungslos zu sein scheint. Das Betrachten der Bildschirmzombies wirke auf den Zuschauer so ansteckend wie in der Filmerzählung der Zombiebiss und habe auch identische Wirkungen: geistige

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Vgl. Vogelsang: Publikumskulturen (Anm. 22), S. 180 u. 189. Exkert: Grauen und Lust (Anm. 24), S. 88. Hoffmann: Am Ende Video – Video am Ende? (Anm. 20), S. 223 f. Hausmanninger: »Geschichte der ethischen Debatte über Gewalt« (Anm. 16), S. 40. 29 Michael Kunczik: Gewalt und Medien, Köln 1987, S. 128. 287

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Degeneration und Gewalttätigkeit. Es führe zur Abstumpfung der Empfindungen und provoziere sinnlose Imitationen der rezipierten Gewaltszenen. Diese vielfältigen Zombies bevölkern nun nicht nur die Filmgeschichte, sondern finden auch (in anderer als der Zombiegestalt) Eingang in 28 DAYS LATER und die Szenerie des Labors. Wie im Folgenden vorgestellt wird, referiert 28 DAYS LATER in vielfacher Weise auf seine Genretraditionen und -geschichte und gibt damit den Experten der Video-Cliquen die von ihnen gesuchten intertextuellen Bezüge. Bereits in den ersten fünf Minuten greift der Film eine Reihe von Genrekonventionen auf, variiert sie zum Teil und wendet sie jeweils auf das Thema der Effekte von Mediengewalt und dessen Zusammenhang mit der Entwicklung des Horrorfilms an. In einem ersten Schritt wird nun darauf eingegangen, in welcher Form die Genreversatzstücke in die Eingangssequenz integriert und im Hinblick auf die Problematik der Mediengewalt lesbar werden. Daran anschließend wird es weiterhin um die Laborsequenz in ihrem Bezug zur Geschichte des Horrorfilms und der Gewaltfrage gehen, jedoch nun nicht unter der Perspektive der Genrekonventionen. Stattdessen wird die Erzählstruktur im Mittelpunkt stehen.

Die Infizierung mit Gewalt Wie sich im letzten Kapitel gezeigt hat, bilden Medienwirkung, Gewaltdarstellung, Horrorfilm und Videokonsum eine diskursive Einheit. Dieses Ensemble wird seit den 80er Jahren immer wieder kontrovers diskutiert. Es entwickelt in regelmäßigen Abständen eine gleichermaßen gesellschaftspolitische Brisanz wie die Debatten um die gesundheitsschädlichen Wirkungen von Pestiziden und Giftmüll, deren Thematisierung sich die Zombiefilme der 70er und 80er Jahre annehmen, indem sie in ihren Visionen einer Welt voller lebender Toter die individuellen wie gesellschaftlichen Kosten, die mit den Giften verbunden sind, in übersteigerter und fantastischer Form aufzeigen. Die filmische Strukturstelle, die in diesen Jahrzehnten des Zombiefilms die neu entdeckten und neuentwickelten Gifte der Gegenwart darstellen, erhält in 28 DAYS LATER das Ensemble um die Gewaltwirkung. Mit der eingangs geschilderten Laborsequenz schließt der Film an die Tradition an, als Initialmoment der Handlung aktuelle Gesellschaftsbezüge aufzugreifen, und wendet diese Tradition zu einer Selbstreflexion des Genres, indem die Wirkungsfrage von Mediengewalt, die so eng mit dem Horrorfilm zusammenhängt, thematisiert wird. Die Annahme einer Mediengewaltwirkung trifft vor allem das eigene Genre mit seinen blutrünstigen Ungeheuern, die immer wieder den Protest der Jugendschützer hervorrufen. Wie bereits erläutert wurde, sind geistige Degeneration und Gewalttätigkeit die angenommenen Fol288

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gen eines übermäßigen Konsums von Mediengewalt. Diese Idee der Wirkung wird in 28 DAYS LATER anhand der Laboraffen schlicht abgebildet. Die Rezeption der Gewaltbilder der ersten Minute des Films hat einen Gewaltausbruch des befreiten Affens zur Folge. Er gerät in die gleiche Raserei wie die Menschen auf dem Bildschirm im Labor. Doch 28 DAYS LATER hält nicht nur an der Genrekonvention der Thematisierung eines aktuellen Gesellschaftsbezugs fest, sondern schließt auch an das Motiv des durch Gifte infizierten und kontaminierten Zombies an, indem die Wirkung der Gewaltbilder, die die Affen zu sehen bekommen, in deren Blut manifest wird, wie der Laborangestellte in der eingangs zitierten Rede hervorhebt. Die Gewaltbilder auf den Monitoren, die Kontaminierung des Blutes und die Zombiefizierung mit dem damit verbundenen Anfallen von Menschen stehen in einem kausalen Verhältnis. Das traditionelle Erzählgefüge des Zombiefilms bleibt so erhalten, obgleich die Idee der Gewaltwirkung, die als ein Prozess der audiovisuellen Einwirkung auf die menschliche Psyche verhandelt wird, dies zunächst nicht zu erlauben erscheint. Der blutige Bezug ist hier nicht gegeben, sondern es geht um eine rein psychische Wirkung, die durch die Affizierung der Sinne hervorgerufen wird. Indem die Laborsequenz eine Spielart des Infektionszombies mit der Thematisierung der Gewaltwirkungsdebatte kombiniert, wechselt die Verortung der Gewaltwirkung, die nun keine rein geistig-mentale Problematik mehr darstellt, sondern körperlich akut wird, d.h. sowohl im Blut als auch in der äußerlichen Verunstaltung der zombifizierten Menschen sichtbar wird. Entscheidend ist dabei zunächst einmal, dass damit ein Wechsel des wissenschaftlichen Rahmens einhergeht: Gewaltwirkung wird so zu einem Untersuchungsobjekt vermeintlich harter Wissenschaften, die dann auch das Referenzobjekt der Eingangssequenz mit ihren Apparaturen und Tierversuchen markiert. Der Infektionszombie eröffnet geradezu für die Darstellung der Gewaltwirkungsforschung ein neues Bildfeld, das jenseits von Psychologie und Soziologie – also die klassischen Wissenschaftsbereiche der Medienwirkungsforschung – steht. Zentral ist bei diesem veränderten Bildfeld der Tierversuch, anhand dessen in den Natur- bzw. Lebenswissenschaften menschliche Prozesse simuliert werden. Diese Form der Simulation an Tieren im Rahmen des Experiments steht der Psychologie und Soziologie nicht in gleicher Weise offen, insofern sie sich mit dem spezifisch Menschlichen auseinandersetzt, also Wille, Vernunft, Gefühl, Sittlichkeit etc. Auch dieser Komplex kann wiederum als Genrereferenz aufgefasst werden, sind es doch gemeinhin die Zombies, anhand derer Untersuchung sich im Film das spezifisch Menschliche zeigen soll. Ihnen fehlt Gefühl wie Wille, Sittlichkeit wie Vernunft; es handelt sich um den verstümmelten Körper eines Menschen ohne

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menschliche Züge. Diese Unmenschlichkeit geben sie an ihre Zuschauer weiter – so auf jeden Fall die Behauptung der Horrorfilmgegner.

Zwei Medien – zwei Geschichten Der Zusammenhang aus Blut und Medienrezeption, so wurde bereits angedeutet, erscheint nun aber unrealistisch, was man bei einem Film, in dessen Zentrum Phantasiewesen wie Zombies stehen, auf Anhieb übergehen könnte. Doch auch innerhalb solcher Filme bleibt die Frage nach der Plausibilität von Erzählungen, die eben bei der Idee einer Medienwirkung im Blut des Betroffenen nicht mehr gegeben ist. Plausibilität und die damit verbundene Akzeptanz einer Story beim Zuschauer ergibt sich nämlich – so betont z.B. David Bordwell – nicht nur aus bestimmten Erzählformen oder Genrekonventionen, sondern auch aus wirklichkeitsgebundenem Wissen, das unabhängig von Film ist und insofern auch in realitätsfernen Genres greift.30 Infolgedessen kann auch die Idee eines medieninduzierten Untoten durchaus zu Widerspruch beim Realitätsempfinden des Zuschauers führen. Aufbauend auf diese Überlegung stellt sich die Frage, welche Funktion solche wenig plausiblen Elemente in einem Film haben.31 Da 28 DAYS LATER zur Tradition des klassischen Erzählkinos32 gerechnet werden kann, kann die Funktion kaum darin bestehen, beim Zuschauer ein Befremden gegenüber der Narration zu evozieren. Stattdessen scheint es eher so, dass hier ein Diktum Roland Barthes’ hinsichtlich der Lektüre von Texten zur Anwendung kommt: »Lesen, das heißt Sinn finden«, aber diese Sinnfindung besteht auch im »Vergessen«.33 Vergessen ist dann auch ein zentraler Bestandteil der Sinngebung bei 28 DAYS LATER. Der Zusammenhang aus Medien und Blut, der in der Eingangssequenz etabliert wird, wird vom Zuschauer wieder vergessen, was aufgrund der geringen Plausibilität dieses Zusammenhangs um so leichter gelingt. Die Erkrankung des Blutes wird im weiteren Verlauf der Geschichte nicht mehr als das Resultat von Medienwirkung identifiziert. Der Grund dafür ist, dass die Laborsequenz 30 Vgl. David Bordwell: »Kognition und Verstehen. Sehen und Vergessen in MILDRED PIERCE«, in: montage/av. Zeitschrift für Theorie & Geschichte audiovisueller Kommunikation 1 (1992), S. 5-24, hier S. 6. Bordwell versteht seine Ausführungen in der Tradition des frühen Christian Metz und damit in semiotischer Perspektive, die er aber kognitivistisch wendet, indem er nicht nur von einem Code ausgeht, der im Film zur Anwendung kommt, sondern auch nach der Verfügbarkeit des Zuschauers über diesen Code fragt. Vgl. ebd., S. 5 f. 31 Vgl. David Bordwell/Kristin Thompson: Film Art: An Introduction, New York u.a. 19934, S. 146. 32 Vgl. David Bordwell: Narration in the Fiction Film, London 1985, S. 157164. 33 Roland Barthes: S/Z [1970], Frankfurt/Main 1987, S. 15. 290

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später nicht in ihrer Gesamtheit, sondern als zwei getrennte Teile wahrgenommen wird: einerseits in Form der rasenden Affen, die der Ursprung der Infektion sind, und andererseits als die Bilder der Gewalt, die auf den Monitoren erscheinen. Diese Lektüre des Films bietet sich im Anschluss an Bordwell an, der eine entsprechende These zu MILDRED PIERCE von 1945 entwirft. Der Zuschauer, so Bordwell, müsse einige Elemente des Films aus der Erinnerung ausschließen, um den Film als sinnvoll und die Geschichte als plausibel zu empfinden. Diese These entwickelt Bordwell auf der Basis des Vergleichs zweier Szenen aus MILDRED PIERCE: der Eingangssequenz und ihrer Wiederholung zum Ende des Films. Die Wiederholung ist aber sehr ungenau und es gibt einige signifikante Abweichungen, die sogar im Widerspruch zur Eingangssequenz stehen. Die Inkongruenz werde aber gemäß Bordwell vom Zuschauer nicht als solche wahrgenommen, weil er sich aufgrund der zugleich bestehenden Ähnlichkeit der beiden Sequenzen an die erste nicht erinnern könne. Die zweite Darstellung der Szene überlagere also die Erinnerung an die erste und allein die zweite werde entscheidend für die Story.34 Zwar enthält 28 DAYS LATER nicht zwei solchermaßen vergleichbare Sequenzen, aber auf einer anderen Ebene stellt sich eine Ähnlichkeit her, und zwar mit den zu Beginn vorgestellten Gewaltszenen, die zunächst – d.h. bevor das experimentelle Umfeld durch das Zurückfahren der Kamera offenbar wird – als gestörte Fernsehübertragungen erscheinen. Diese Szenerie erhält zu einem späteren Zeitpunkt der Erzählung ein verbal vermitteltes Doppel: die Erläuterung der Situation durch Selena, die der Protagonist Jim während der Flucht vor angreifenden Zombies trifft, nachdem er aus seinem Koma erwacht ist und nicht nur die Menschenleere Londons, sondern auch die Aggressivität der lebenden Toten erlebt hat. Ihre Schilderung dessen, was während seines Komas passiert ist und wie es zu der Situation gekommen ist, entspricht nun weitgehend den Bildern, die der Affe (und mit ihm der Zuschauer) zu Beginn des Films zu sehen bekommt. Selena erläutert ihm die Geschehnisse folgendermaßen: »It started with rioting, and right from beginning you knew this was different. Because it was happening in small villages, market towns. And then it wasn’t on TV any more. It was on the street outside. It was coming through your windows. […] By the time they tried to evacuate the cities, but it was already too late. The infection was everywhere. The army blockades were overrun. And that’s when the exodus started. The day before the TV and radio stopped broadcasting, there were reports of infection in Paris and New York.« 34 Vgl. Bordwell: Kognition und Verstehen (Anm. 30), S. 18-21. 291

CHRISTINA BARTZ

Selena beschreibt hier also genau die Situation, die dem Zuschauer bereits aus den anfänglichen ›Fernsehbildern‹ des Films bekannt ist und bezieht sich in ihrer Beschreibung auch auf ihre mediale Vermittlung durch Fernsehen und Radio. Ihre und die televisuelle Schilderung vom Anfang des Films sind kongruent, so dass es den Anschein hat, dass dem Zuschauer die von Selena geschilderten Ereignisse bereits bekannt sind. Dies entspricht aber nicht der ›personalen Erzählsituation‹, die im Film im Anschluss an den Prolog herrscht.35 Mit dem Aufwachen Jims perspektiviert er die Narration36 und er (d.h. auch der Zuschauer) erfährt erst durch Selena von den Vorfällen. In Anlehnung an Bordwells Ausführungen zu MILDRED PIERCE überlagern sich hier also zwei Erzählbestandteile. Das Resultat ist, dass die zeitliche Folge des Films vergessen und neu komponiert wird. Es entsteht ein Plot, dessen zeitliche Reihe sich folgendermaßen aufbaut: die Infektion der Affen, die daran anschließende Ansteckung der Menschen, die Gewaltexzesse und deren massenmediale Übertragung. Die zu Beginn des Films gezeigten Monitorbilder rücken an das Ende dieser Reihe, also zwischen die Ansteckung der Aktivisten und dem Erwachen Jims nach 28 Tagen.37 Diese besondere ›Anachronie‹38 – um einen Begriff von Gérard Genette aufzugreifen – ist ein Bestandteil der selbstreflexiven Struktur des Films und zwar auf zwei Ebenen. Erstens: Die Konfusion des temporalen Aufbaus wirkt sich auf die Idee der Medienwirkung aus, wie sie anhand des Laboraffens, der die auf den Monitoren gezeigte Raserei der Menschen imitiert, vorgestellt wurde und die auf der Annahme von Kausalität, d.h. auf der temporalen Ante-

35 Vgl. Gérard Genette: Die Erzählung, München 19982, S. 133. Mit Bordwell und Thompson lässt sich in ähnlicher Weise vom ›character narrator‹ sprechen. Vgl. Bordwell/Thompson: Film Art (Anm. 31), S. 79. 36 Eine Ausnahme bildet hier wie gesagt der Prolog, der aber eben nicht die von Selena beschriebenen Ereignisse enthält. 37 Als Indiz für das Vergessen des Zusammenhangs von Medienwirkung und Infektion siehe die Filmkritik von Jan Distelmeyer: »28 DAYS LATER. Ein waschechter Zombie-Film von Danny Boyle«, in: epd Film 6 (2003), S. 30 f., hier S. 30: »Nach einem rabiaten Prolog, in dem Tierschützer Schimpansen aus einem Labor befreien, das die mit einem neuen Virus infizierten, blutrünstigen Viecher besser nicht verlassen hätten, springen wir 28 Tage in die Zukunft.« Der Infektionsgrund – Stimulation durch Medien – findet in dieser Zusammenfassung keinen Platz. Gleiches gilt für folgende Kritik: »Ganz England, vielleicht die ganze Welt, liegt in Schutt und Asche. Ein Virus mit dem Namen ›Wut‹ ist durch befreite Laboraffen auch in den Blutkreislauf der Menschen gelangt und zwingt die infizierten binnen Sekunden, nicht infizierte Menschen zu töten.« Jörg Gerle: »28 DAYS LATER«, in: film-dienst 12 (2003), S. 33. 38 Vgl. Genette: Die Erzählung (Anm. 35), S. 22. 292

MEDIENGEWALT IN »28 DAYS LATER«

zedenz der Ursache vor der Wirkung, beruht.39 Mit Selenas Erzählung und der damit einhergehenden zeitlichen Verschiebung ist es nicht die Gewaltdarstellung auf den Monitoren, die zur Gewalt führt, sondern die Gewaltausübung, die ihre mediale Darstellung nach sich zieht. Kausalitätsannahmen bleiben so prekär, da beide Richtungen aktualisiert werden. Die Berichterstattung orientiert sich genauso an der Gewalt wie der Rezipient, so dass sich eine Kausalität in beide Richtungen ergibt. Zweitens: Die Fokussierung des Vergessens, wie Bordwell sie anhand MILDRED PIERCE vorstellt und wie sie eben auch für 28 DAYS LATER relevant ist, stellt ein spezifisch filmisches Verfahren dar. Dies erläutert Bordwell im Vergleich von Zuschauen und Lesen: »[O]bwohl vielleicht nur wenige Leser pflichtbewußt zurückblättern, um ein Detail zu überprüfen oder um sich selbst Klarheit darüber zu verschaffen, wie sie in die Irre geleitet worden sind, steht diese Möglichkeit doch jedem Leser offen. […] Diese Option gibt es für den normalen Filmzuschauer nicht (oder gab es zumindest nicht bis zur Videokassette). Das Hollywood-Kino entwickelt seine Erzählungen am Maß der höchstmöglichen Lesbarkeit; Filmemacher haben gelernt […], wie man Fehl-Erinnern veranlasst […].«40

Fehl-Erinnerungen oder Vergessen sind demnach filmspezifisch und d.h. hier auch gebunden an die Rezeptionssituation des Kinos, in der der Fluss der Erzählung in der Regel nicht unterbrochen werden kann. Anders ist dies, wenn das Schauen des Films auf den Videorekorder verlagert wird. Das ›Zurückblättern‹ wird dann als Option eröffnet. Der Film liegt in diesem Fall quasi auf dem Seziertisch: Er kann in seine Einzelteile zerlegt werden, so dass seine innere Struktur offenliegt und seine Erzählstrategie beobachtbar bzw. analysierbar wird. Diese Möglichkeit des Sezierens muss nun für den Zuschauer von 28 DAYS LATER vorausgesetzt werden, nicht nur weil er wahrscheinlich schon ein Video- bzw. DVD-Nutzer ist und der Kinoauswertung des Films eine Verbreitung auf DVD folgte, sondern auch weil die Rezeption auf dem heimischen Bildschirm als Genrespezifität gilt. Es wurde bereits ausgeführt, wie eng die Geschichte der Horror- und Zombiefilme mit der Entwicklung der Videokassette zusammenhängt. Horrorfilme adressieren vor allem den Nutzer zu Hause an seinem Bildschirm oder eben die Video-Cliquen. Diesen gibt der Film etwas zu enträtseln, d.h. etwas, wofür 39 Vgl. Klaus Merten: »Wirkungen von Kommunikation«, in: ders./Siegfried J. Schmidt/Siegfried Weischenberg (Hg.): Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft, Opladen 1994, S. 290-328, hier S. 300. 40 Bordwell: Kognition und Verstehen (Anm. 30), S. 17. 293

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sich das ›Zurückblättern‹ lohnt. Mit der DVD erhält der Zuschauer eine neue Geschichte, die er aber erst mit den Möglichkeiten seines Geräts entschlüsseln muss.

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›R E T U R N T O N O R M A L I T Y ‹. A N ME R K U N G E N Z U D A N N Y B O Y L E UN D G E O R G E A. R O M E R O TORSTEN HAHN Christina Bartz’ Beitrag – an den sich die folgenden Anmerkungen anschließen – stellt als zentrales Element von Danny Boyles 28 DAYS LATER (im Folgenden zitiert nach der DVD von 2003) die Uneindeutigkeit der Anfangsbilder heraus. Die erste Sequenz zeigt Bilder von globalen Aufständen, Morden und Gewaltausbrüchen. Auffällig sind die visuellen und akustischen Interferenzen, weder der Ton noch die Bilder selbst scheinen stabilisiert werden zu können. Die Kamera ist zunächst mitten im Geschehen, sie ruht nicht, sondern wird mit umhergeworfen, und ebenso schnell sind die Schwenks, wobei jede Bewegung neue Aufnahmen von Leid und Terror bedeutet. Es sind weder die normal geeichten Bilder der Nachrichten, noch sehen die Szenen irgendwie gestellt aus. Im Rahmen von Konventionen der Erzählung wäre eine erste naheliegende Erklärung, dass es sich bei diesen Bildern um die Gegenwart handelt und nun eine Analepse folgt, die erklärt, wie es dazu kommen konnte.

Abb. 1: Riot-Footage

Dann aber fährt die Kamera zurück und macht die Bilder zum Bild im Bild, kadriert von den Umrissen eines Monitors, vor dem der ange295

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schnallte und bewegungsunfähige Affe liegt. Herkunft und Status der Bilder erklärt dies aber ebensowenig wie die Interferenzen. Mit Blick auf die Eingangssequenz stellt sich also die Frage: Was sehen die Affen? In einem temporalen Sinne logisch erscheint die, wie gesagt, unwahrscheinliche Erklärung, die Affen sähen zusammengeschnittene Riot-Footage, Szenen also, die aus dem normalen flow der Fernsehbilder gezogen wurden und nun als Konzentrat Wirkung zeigen sollen – schließlich ist ja alles durch die Kamerafahrt in die Zeit des Beginns der Erzählung eingebettet. Vielleicht kommen die allerersten Bilder temporal aber auch dem Titel des Films zeitlich schon relativ nahe und zeigen Szenen 10 oder 20 DAYS LATER, vor der Entvölkerung der Städte also. Vielleicht ist die ganze Szene also eine Montage aus Bildern mit verschiedenen Zeitindices? Die Frage lautet dann: Zeigen die (metadiegetischen) Fernsehbilder, vom Zeitpunkt des Einbruchs der Tierschützer in das Labor aus gesehen, die aufgezeichnete Vergangenheit, die Gegenwart oder die Zukunft? Trifft letzteres zu, sind die 28 Tage, die durch die erzählerische Ellipse ausgenommen werden, auf dem Bildschirm präsent, sie fehlen nicht, sie sind nur in das eingedrungen, was sich als aktuelle Gegenwart präsentiert. Die zeitliche Uneindeutigkeit oder Brüchigkeit ist, sollte 28 DAYS LATER ein ›guter‹ Film sein, fast zwangsläufig – zumindest wenn man der Kinophilosophie Gilles Deleuze’ Glauben schenken will. Denn dann gilt, dass »das kinematographische Bild […] nur in schlechten Filmen in der Gegenwart [ist].«1 Wenn dies der Fall ist und 28 DAYS LATER nicht zu den schlechten Filmen gehört, lassen sich die ersten Bilder als Form des Zeit-Bildes verstehen, denn was auch »hier in Frage steht, ist gerade die Evidenz, der zufolge das kinematographische Bild sich in der Gegenwart und ausschließlich in der Gegenwart ereignet«2. So Deleuze. Und weiter: »Das Postulat, Bilder seien in der Gegenwart, ist fatal wie kaum ein anderes für jegliches Kinoverständnis.«3 Temporale Abweichungen sind bereits im frühen Kino zu beobachten, nur »wurden sie doch in gewisser Weise kompensiert, normalisiert, ›gerichtet‹ und auf Gesetze zurückgeführt, welche die [...] Unterordnung der Zeit aufrechterhielten.«4 Wenn auch die Bilder einer Normalisierung anheim gefallen 1

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Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild. Kino 2 [1985], Frankfurt/Main 1991, S. 58. Als Teil der Montage und Bild im Bild lassen sich die Anfangsbilder, die deutlich auf eine Mediendifferenz hinweisen – obwohl der Film technisch gesehen selbst das Produkt einer Digital Video-Aufnahme ist – zu den kinematographischen Bildern rechnen, wenn auch eine Art Hybridisierung unverkennbar ist. Ebd., S. 56. Ebd., S. 59. Ebd. 296

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sind, hat dies zumindest Hugo Münsterberg nicht daran gehindert, schon früh (1916) auf dieser Grundlage die Eigentümlichkeit des Mediums Film zu bestimmen, die auch hier greift: »In unserem Bewußtsein verflechten sich Vergangenheit und Zukunft mit der Gegenwart. Das Lichtspiel folgt den Gesetzen des Bewußtseins mehr als denen der Außenwelt.«5 Auf dieser Grundlage lässt sich feststellen, dass sich in den Anfangsbildern des späten Zombie-Films 28 DAYS LATER, zugegebenermaßen kaum sichtbar und kurzzeitig, eine Form von Denormalisierung vollzieht, die sich gegen das Diktat der Zwänge der Außenwelt – und damit gegen das aufgezwungene Nicht-Verstehen dessen, was Film ausmacht – auflehnt und eine eindeutige Gegenwartsfixierung vereitelt.

»He’s dead.« Die Frage ist nun natürlich, was dieser Riss, der die nicht-normale Zeit ins Bild bringt, für die Geschichte bedeutet, wie also die allgemeinen Einsichten der Kino-Philosophie mit der konkreten Erzählung des Films in Verbindung gebracht werden können? Ich denke, dass es eben die Beobachtung von Normalisierung (durch die Vorgaben der Rezeption filmischer Bilder, vgl. dazu den Beitrag von Christina Bartz) und Denormalisierung ist, die hier die Ästhetik des Bildes und die Erzählung miteinander verkoppeln. Beide inszenieren ein Schwanken zwischen den Polen Normalisierung und Denormalisierung und damit eine Grauzone der Uneindeutigkeit, die Form und Inhalt in die Beziehung einer wechselseitigen Spiegelung setzt. Die Aufhebung der Eindeutigkeit des Vorher/ Nachher und die Ausnahme von der normalisierten Normalität treffen sich mit der Erzählung spätestens dann, wenn sich im Film ein scheinbares Refugium, das Schutz vor den Infizierten bieten soll, als dem Zombie ebenbürtige Bedrohung erweist. Nachdem einige der Nicht-Infizierten im Rauschen eines kleinen Radios die Botschaft eines Militärcamps finden (»Salvation is here. The answer to infection is here. [...] Our location is the 42nd blockade, M602, 27 miles northeast of Manchester«), verwandelt sich Boyles Film zunächst in eine Art apokalyptisches Roadmovie, um dann die Ereignisse im Militärcamp zu erzählen. Hinter »42nd blockade« finden die Reisenden zunächst einmal nichts außer einem weiteren Ausbruch der Infektion, dann aber tauchen aus der Landschaft Soldaten im Tarnanzug auf, die ohne zu zögern und ohne jedes Restmitleid auf die Bedrohung feuern und die Reisenden in das radiophon avisierte Lager bringen. Die ver5

Hugo Münsterberg: Das Lichtspiel. Eine psychologische Studie (1916) und andere Schriften zum Kino. Vom Herausgeber aus dem Amerikanischen übersetzt, kommentiert und mit einem Vorwort versehen, hg. von Jörg Schweinitz, Wien 1996, S. 59. 297

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meintlich rettende Insel inmitten der Infektion wird schnell als Dystopie entlarvt, in der Major Henry West (Christopher Eccleston), äußerlich in tadelloser Uniform und Duodezfürstenmanier im Renaissance-Ambiente, den Ausnahmezustand verwaltet. Das Camp entpuppt sich bald als Ort, an dem eine neue Bedrohung auf die zusammengeschmolzene Gruppe aus drei Überlebenden (»one male, two female«) wartet. Im Camp werden, beim Tischgespräch, dem Major West auf patriarchalische Art und Weise präsidiert, und nachdem die verfaulten Eier abgeräumt wurden, verschiedene Versionen von Normalität und Ausnahme diskutiert, was einerseits zu einem sarkastischen Witz führt, wonach auf Normalität zu warten bedeute, auf die Wiedereröffnung von Mark’s and Spencer’s zu warten. Sergeant Farrell (Stuart McQuarrie) hingegen hat eine andere Vorstellung von planetarischer Normalität: »Man has only been around for a few blinks of an eye. So if the infection wipes us all out, that is a return to normality.« Im Anschluss erläutert West seine Sichtweise der Normalität, die fast ebenso deprimierend ist, zugleich aber den Zuschauer auf suggestive Art und Weise anleitet, das, was er in der Eingangsszene gesehen hat, zu verstehen. Denn in Wests Welt ist die Frage nach dem zeitlichen Index überflüssig, da es sowieso nur beständige Wiederholungen des Immergleichen sein können, die auf dem Schirm erscheinen: »This is what I’ve seen in the four weeks since Infection. People killing people. Which is much what I saw in the four weeks before Infection, the four weeks before that, and before that. As far back as I care to remember, people killing people. Which to my mind puts us in a state of normality now.«

West unterzieht Jim (Cillian Murphy), den Helden des Films, einige Zeit später einer kurzen Befragung, ob und wen er getötet habe. Jim hat einen Jungen getötet, zusammen mit der Erinnerung an diesen Mord aus Notwehr soll ihm klar werden, dass er Teil von Wests Normalität geworden ist. Auf persuasive Art und Weise wirbt West so um Verständnis für sein vergangenes und künftiges Handeln: Die Radio-Botschaft war nichts als ein Köder, um Frauen in das Lager zu locken und so die Soldaten am Selbstmord zu hindern: »I promised them women.« Dieses Versprechen soll nun durch Selena (Naomie Harris) und die minderjährige Hannah (Megan Burns) erfüllt werden, die mit Jim in das Lager gekommen sind: »Because women mean a future.« Wests Rede ist ein Appell an einen normalen und dennoch pervertierten common sense. Der in diese Pläne interferierende Jim wird ausgeschaltet, allerdings gelingt ihm vor seiner Erschießung die Flucht über die Mauer, also in die Landschaft, die von den Infizierten bevölkert ist, was dazu führt, dass die Soldaten von einer

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Verfolgung absehen. (»He’s over the wall. He’s got no vehicle. And no shooter. He’s dead.«) Zur Rettung der Gruppe muss Jim selbst außer Kontrolle geraten und alle Hemmungen vor brutaler Gewalt aufgeben – eben dies verspricht aber eine Rückkehr in die Normalität, die 28 Tage zuvor unterbrochen wurde. Dass es diese noch geben muss, wird Jim klar, als er einen Kondensstreifen am Himmel erblickt. Bei seiner Rückkehr in äußerlich zombiesker Manier, mit freiem Oberkörper, voller Dreck und Blut, wechselt Jim selbst auf die Seite derer, die außerhalb der verordneten und skurrilen Restnormalität liegen, die jene Sitten und Disziplin nicht mehr kennen, die West im Camp immer noch zitiert und damit die geplante Gewalt verschleiert oder verschönt, z.B. dann, wenn er von den Frauen vor der Vergewaltigung verlangt, sich zu duschen, zu frisieren und Abendkleider zu tragen (was unter anderem dafür sorgt, dass West und seine Männer den Kondensstreifen übersehen), selbst in Ausgehuniform dem Essen vorsitzt usf. In diesem Sinne wird Jim selbst anormal. Seine Gewalt ist Produkt einer Selbst-Denormalisierung, die Aussage: »He’s dead« trifft für den Bereich (rest-)gesellschaftlich legitimierter Gewalt durchaus zu und wird auf ihre Art wahr. Die archaische Gewalt, die einen Gegenpol zum disziplinierten Terror der Soldaten und ihrer Art des Tötens und geplanten Vergewaltigens darstellt, findet dann ihren Höhepunkt, wenn Jim einen Soldaten mit dem Bajonett tötet, ohne seinen Blick von den Augen des Sterbenden abzuwenden, sondern dies zu genießen scheint, oder wenn er mit den bloßen Daumen einem anderen Soldaten die Augen eindrückt und seine Daumen (auch für den Zuschauer) quälend lange nicht wieder entfernt, stattdessen immer tiefer in die Augenhöhlen eindringt. War es im Cambridge Primate Research Centre Ziel der Experimente, Gewalt zunächst zu verstehen, indem sie ausgelöst und sichtbar gemacht wird (»To cure, you must first understand«), dann gelingt das Experiment gerade, wenn es das Labor verlässt und, jenseits des Hokuspokus aus eventueller Wunderdroge und/oder ansteckender Mediengewalt und Tröpfcheninfektion, die archaische Gewalt selbst im gesunden Individuum produziert. Dass Jim überhaupt eine Chance gegen die Übermacht im Lager hat, liegt daran, dass er einen Infizierten im Lager freilässt. Dieser war im Hof angekettet und Opfer einer Art Experiment. Ebenso wie die Affen zu Beginn des Films ist auch er, in den Worten des Tierschützers, ein »torture victim«. Jim befreit den Infizierten, bringt das Experiment also außer Kontrolle, so wie die Tierschützer die Affen befreit haben, nur weiß der Held über die apokalyptischen Konsequenzen Bescheid. Versuchsobjekt ist ein im Hof mit einer Kette um den Hals wie ein Hund gehaltener infizierter ›Anderer‹, der ehemalige Kamerad der Soldaten Private Mailer (Marvin Campbell) – der zugleich das Objekt von schierem militäri-

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schem Sadismus ist. Das Experiment wurde Jim in einer der ersten Szenen im Camp ›vorgestellt‹. Auf Jims Frage an Major West: »Keeping him alive?«, erläutert dieser das Programm: »The idea was to learn something about Infection. Have him teach me.« Währenddessen bricht Mailer permanent Blut und wird durch Krämpfe geschüttelt, was West erheitert. Vor Jims Augen spielt sich eine Mischung aus purem Zynismus, sinnloser Freude am Schmerz der Kreatur und einem Hungerexperiment ab. Befragt, ob der Infizierte etwas Erlernbares sichtbar gemacht habe (»Has he?«), führt West – während Mailer gekrümmt vor Schmerz, stöhnend, grunzend und mit roten Augen vor ihm auf dem Boden liegt, zwischen Aggression, Hilfesuche (die in Richtung Jim geöffneten Arme in der typisierten Pose des Bettlers) und Agonie schwankend – aus: »In a way. He’s telling me he’ll never bake bread. Farm crops, raise livestock. He’s telling me he’s futureless. And eventually he’ll tell me how long the Infected take to starve to death.«

Abb. 2: Private Mailer

Im Moment der Befreiung dieses Opfers pseudo-experimenteller Prozeduren gibt es einen merkwürdigen Blickkontakt zwischen Jim und dem Infizierten; Boyle inszeniert den Blick durch Schnitt/Gegenschnitt so, dass der Zuschauer auf interpersonales Verstehen schließen muss. Eben dieser Kontakt ist wohl die Erklärung für die merkwürdige Inszenierung der Gewalt, in deren Mittelpunkt Augen/Blicke stehen. Äußerlich entfallen die Unterschiede zwischen Jim und den Infizierten mehr und mehr. Der Zuschauer wird so verunsichert, was den Zustand des Helden hinsichtlich der Unterscheidung gesund/krank betrifft, wobei klar ist, dass eben dies der Weg ist, um zu überleben und Selena sowie Hannah zu retten. Diese Ununterscheidbarkeit sorgt dafür, dass Hannah nach der Rettung zunächst einmal Jim, der Selena küsst, mit einer Flasche attackiert, da sie ihn für einen der bißwütigen Infizierten hält. (Man erinnere sich dabei an die Lektion aus Heinrich von Kleists Penthesilea, 24. Auftritt: 300

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Schon der Reim, der ›Küsse‹ und ›Bisse‹ verschränkt, deutet an, wie schwierig die Distinktion bisweilen sein kann.) Zu den von den Zwängen der Normalisierung befreiten Bildern gesellt sich so, auf der Ebene der Handlung, ein Held, der zum Überläufer wird und die Grenzen dessen, was im Camp und zu Beginn des Films auch für den Zuschauer als normal gilt, verlässt, also ein virtueller Infizierter wird. Der Übergang von Normalitätsvisionen und Denormalisierung sowie deren teilweise paradox anmutendes Verhältnis (eben die virtuelle Infizierung garantiert den Übergang in ein Leben jenseits des Camps) verbinden die Erzählung mit der Unsicherheit, die die ersten Bilder des Films verbreiten.

»Bub« Nun gehören gerade die Entlarvung eines scheinbaren Refugiums als Dystopie und der Ausbruch von archaischer Gewalt einerseits zu den Stoffen, die die Handschrift Alex Garlands verraten, der hier Drehbuchautor war. Eben dies gehört ja auch zum Erzählgerüst von Garlands (immer wieder und zu recht als ›Kultbuch‹ einer Generation adressiertem) Debütroman The Beach, der wiederum von Danny Boyle mit Leonardo DiCaprio in der Hauptrolle verfilmt wurde. Auch hier ist Selbst-Exklusion in einer scheinbaren Kolonie der Rettung Thema, nur wird sich im Roman vor einer feindlichen, da durch Massentourismus verseuchten, Außenwelt abgeschottet, und auch hier geht es um die Entdeckung zunächst latenter, dann akuter totalitärer Strukturen in dem, was ein Refugium/paradiesisches »beach resort«6 zu sein schien. Auch die Erzählung in The Beach mündet in eine Eskalation von archaischer Gewalt (Speere und Stichwaffen): »Beaucoup Bad Shit«7 eben. Andererseits ist das Experiment an einem angeketteten Infizierten ein überdeutliches Zitat eines klassischen Zombie-Films: George A. Romeros DAY OF THE DEAD (ZOMBIE 2. DAS LETZTE KAPITEL) von 1985 (im Folgenden zitiert nach der DVD-Fassung 2002). Auch in diesem indizierten Film, der heute mit seinen trashigen Kulissen, dem auf die Spitze getriebenen gebundenen Gang und der grünlich-grauen Schminke unfreiwillig komisch und ungefähr so verstörend wie Michael Jacksons Thriller-Video wirkt, ist der Handlungsort ein militärischer Raum, in dem allerdings Wissenschaftler und Soldaten anzutreffen sind. Der Bunker dient der Forschung: Die Soldaten sind dazu da, die Wissenschaftler, allen voran der mad scientist Dr. Logan (Richard Liberty), genannt Frankenstein, mit lebenden Toten zu versorgen. Logan versucht dem Motor, der die Zombies antreibt, auf die Spur zu kommen. Worum es aber hier geht, ist Zähmung. Logan erläutert den Zweck seiner grotesken und 6 7

Alex Garland: The Beach, London 1997, S. 96. Ebd., S. 381. 301

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durch die Nutzung von Elektrizität als vis vitalis an Dr. Frankensteins Werk erinnernden Experimente in einer Szene, die die Konventionen des Gore voll erfüllt. »I’ll show them [den Soldaten] that these creatures can be domesticated even without the surgery. Knowing what they are, we can begin to approach them properly, condition them, control them.« Die Zombies sollen back to normal gebracht werden, dazu die im Camp selbst nicht unumstrittene Forschung. Ziel der Experimente ist es, einen sekundären Sozialisierungsprozess einzuleiten, durch Konditionierung, Bestrafung und Belohnung. Logans Idee ist, dass jegliches »civil behavior« immer durch Belohnung und Strafe anerzogen ist – eben dies soll auch bei den Living Dead zum Erfolg führen. Letztere sollen unter anderem dazu gebracht werden, sich wieder angemessen für die angebotene Nahrung, Armee-Rationen, zu interessieren, was nicht recht gelingen wird. In den beiden in vorliegendem Text vorgestellten Experimenten sind also die Vorzeichen umgekehrt: Geht es bei Boyle darum, dass Verhungern zu dokumentieren, sind Romeros Experimentatoren damit beschäftigt, die Wiederaufnahme von normaler Ernährung als Zeichen von Normalisierung zu stimulieren. Interessant ist dabei, dass die Normalität und damit der Durchschnittswert von einer Minorität definiert wird, die sich als solche verstehen lernen muss. Dr. Logan erläutert dies für alle: »They have overrun us, you know. We’re in a minority now, something like 400 000:1 by my calculations.« Dr. Logans bevorzugtes Forschungsobjekt ist ein lebender Toter namens Bub (Howard Sherman); der Experimentator hat hier den Spitznamen seines Vaters neuer Verwendung zugeführt.

Abb. 3: Bub mit Kopfhörern, den Schlusschor von Beethovens Neunter Symphonie genießend

Bub durfte, da er gut auf die Sozialisierungsexperimente anspricht, die Experimente bisher ›überleben‹, wie Logan ausführt, um dann hinzuzu302

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fügen: »Bub has been responding so well lately, I let him live. But is he alive or dead? Well, that’s the question these days. Let’s say that I let him continue to exist.« Diese Existenz gilt es zu manipulieren. Für die hinter einer Glasscheibe den Experimenten folgenden Forscher (und den Zuschauer im Kino) ist Bub, der seine mörderischen Instinkte verlieren soll, durchaus amüsierend. Dieses merkwürdige Amüsement besteht in den grotesken Zügen des Normalisierungsexperiments, denn was Bub (wieder) lernen soll, ist der Umgang mit Rasierer, Zahnbürste und Buch. Das Normalisierungsexperiment ist also ausgerichtet an dem Set hygienischer Normen, die bürgerliches, soziales Verhalten bedeuten. Als Bub erst zum Rasierer greift und ihn anschaut, als könne er sich erinnern, sich dann zu rasieren beginnt (was natürlich, bei jemandem ohne Bartwuchs und Feinmotorik, recht seltsame Ausmaße annimmt) und dann in dem herumliegenden Buch blättert, wittert Logan Erfolg. Als er dann noch nach einem angebotenen Telefon greift, Grunzlaute produziert und vor einem der anwesenden Soldaten zu salutieren beginnt, wird Bub eine Pistole übergeben: Sofort zieht Bub den Schlitten zurück und macht sich daran, auf einen der Soldaten zu zielen. Zähneputzen, Rasieren, Unterhaltungslektüre, telefonieren und schießen: Bub scheint bereits wieder den Bereich der Normalität erreicht zu haben.

Abb. 4: Romeros Version von Michelangelos Erschaffung Adams: Bub als Adam, Dr. Logan als Gott, das Medium als Medium von Beethovens Götterfunken.

Soviel normalisierte »Höflichkeit« und »zivilisierte[s] Verhalten« von Bubs Seite führt zu Belohnung durch Dr. Logan, wobei diese Belohnung in Menschenfleisch besteht, für das Logan die Soldaten fleddert, was die Experimente endgültig sinnlos macht, da in ihnen mit eben dem belohnt wird, was durch Erziehung überwunden werden soll: der merkwürdige Hunger, der die lebenden Toten um 1985 zum indizierten Horror macht. 303

TORSTEN HAHN

Zugleich erklärt sich so aber auch, woraus die Abneigung der Living Dead gegen die angebotenen Feld-Rationen resultiert. Das Experiment der Wissenschaftler in Romeros Film ist aber nicht nur dem Irrsinn der Karikatur eines mad scientist geschuldet. Der militärisch-medizinische Komplex, der Logans Forschungen unterstützt und ermöglicht, ist mit den Experimenten dabei, eine letzte Grenze zu übertreten. Diese ins Bild zu bringen, macht den Film (und das Genre) vielleicht jenseits des schlechten Geschmacks in Bildern und der Aufregung der Medienwächter interessant. Zunächst einmal ist in Logans Umgang mit den lebenden Toten die normalisierende Macht selbst am Werk. Im Gegensatz zu den abkommandierten Soldaten sieht er in den Zombies nicht den Feind, es gibt für ihn keine unverschiebbare Grenze zwischen den Lebenden und den Zombies, nur Abstufungen in der Angepasstheit des Verhaltens – und der Hygiene. In diesem Sinne hatte Major West bemerkt, heißes Wasser zum Duschen zu haben (und zu nutzen), sei der »first step towards civilisation«. Gleich bei seiner Vorstellung wurde dies zu seiner Obsession mitten im Chaos der Infektion. Die folgenden Sätze geben die erste Begegnung komplett wieder: »I’m Major Henry West. Welcome. Hello to you. Hello. We’ve got beds with clean sheets and a boiler that produces hot water. So you can all have a shower. You look like you need one.« In der nächsten Szene zeigt uns der Film Jim bei der halb verordneten, halb empfohlenen gründlichen Körperreinigung. Auch wenn der Referent der unscheinbaren hygienischen Norm, die so in 28 DAYS LATER zwischen den Soldaten des Lagers und den Neuankömmlingen zu zirkulieren beginnt, lächerlich erscheint, tritt bereits in ihr, wie auch in Rasierer und Zahnbürste das hygienische Interventionsprinzip (in weicher Form) hervor, das mit Michel Foucault als Teil eines regulierenden »Macht-Wissen[s]« definiert werden kann, »das sich auf die Körper wie die Bevölkerung, auf den Organismus wie die biologischen Prozesse erstreckt und also disziplinierende und regulierende Wirkungen hat.«8 Eingebunden sind diese Prozeduren schließlich auch hier in mehr oder weniger erkennbar staatliche Hygieneverordnungen zwecks Epidemieeindämmung. Dieser medizinisch-hygienische Interventionismus, der Disziplin und Norm verbindet, wird in seinem vollem Umfang an Bub entfaltet, mit dem Ziel, das Verhalten der Minorität wieder zum Durchschnittswert zu machen. Es geht hier darum, an der äußersten Grenze der Existenz die Möglichkeit von »›Bio-Politik‹«9 zu erweisen. Der dem zu8 9

Michel Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975-76), Frankfurt/Main 1999, S. 292. Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt/Main 1977, S. 166. 304

›RETURN TO NORMALITY‹

grunde liegende Machttyp, Bio-Macht, erscheint ja dann, »wenn dem Menschen technisch und politisch die Möglichkeit gegeben ist, nicht allein das Leben zu meistern, sondern es zu vermehren [in Romeros Film also die Unentschiedenheit der Existenz zugunsten des Lebens zu entscheiden], Lebendiges herzustellen und Monströses [...] zu fabrizieren.«10 Geht es Foucault mit dem Begriff darum, »den Eintritt des Lebens und seiner Mechanismen in den Bereich der bewußten Kalküle und die Verwandlung des Macht-Wissens in einen Transformationsagenten des menschlichen Lebens zu bezeichnen«,11 ist die fiktive Forschung schon weiter und flexibler: Sie produziert Terraingewinne im Bereich des Todes. Mit Logan wird das Macht-Wissen zum Transformationsagenten auf der Linie zwischen Leben und Tod. Es geht in den Experimenten um eine Ausdehnung der »normalisierende[n] Macht«,12 der auch The Dead nicht entkommen sollen. Jenseits aller Metaphorizität geht es der Bio-Macht aus Romeros Film darum, noch einmal mit Foucault, »leben zu machen«.13 Das Leben selbst lässt sich dabei freilich nur in automatisierten Handlungen, (hygienischen) Gewohnheiten, beim Hören von bestimmter Musik ausgelösten Gefühlen sowie einer sauberen, legitimen Art zu töten abbilden und im Sinne eines leeren Signifikanten zitieren. Das Experiment, das zum Menschen machen soll, sabotiert so gewissermaßen seine eigene Grundlage und produziert auf diese Art von Anfang an unerwünschte Erkenntnisse. Erfolge und Grenzverschiebungen auf der einen Seite bedeuten eine Reduzierung auf der anderen; eventuell ist es aber eben dies, was die Aktivität dieses Machttyps auszeichnet. Auch bei Boyle sind die Ergebnisse unerwartet: das Experiment, das am Beginn des Endes beziehungsweise der Heilung von der Gewalt stehen soll, produziert einen Ausbruch archaischer Brutalität als Kern menschlicher Auflehnung gegen den Terror des Totalitären. Was ein Störfall zu sein schien – die Gewaltausbrüche – wurde zum Mittel der Verteidigung der menschlichen Gesellschaft und freundschaftlichen Bindung im Ausnahmezustand. So oder so: die Experimente im hier behandelten Genre fördern das Unerwartete/Unerwünschte zu Tage.

10 11 12 13

Foucault: Verteidigung der Gesellschaft (Anm. 8), S. 294. Foucault: Wille zum Wissen (Anm. 9), S. 170. Ebd., S. 172. Ebd., S. 165. 305

ABBILDUNGSNACHWEISE Marcus Krause: Die Verwandlungen von Dr. Jekyll und Mr. Hyde Abb. 1:

Alan Moore: The League of Extraordinary Gentlemen, Volume One (No. 1: Empire Dreams), © America’s Best Comics. Abb. 2: Robert Louis Stevenson: Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde. Norton Critical Edition, hg. von Katherine Linehan, New York 2003, S. 175. Abb. 3-8: DR. JEKYLL AND MR. HYDE (1920), © Madacy Entertainment Group, Inc. Abb. 9-12: DR. JEKYLL AND MR. HYDE (1932), © Turner Entertainment Co./Warner Bros. Entertainment Inc. Abb. 13-16: DR. JEKYLL AND MR. HYDE (1941), © Turner Entertainment Co./Warner Bros. Entertainment Inc.

Julia Köhne: Das abgedrehte Symptom Abb. 1-4:

Archiv der Autorin.

Barbara Wurm: Axiome der filmischen Menschwerdung ýELOVEK S KINOAPPARATOM (1929), © Georg Wasner (Österreichisches Filmmuseum). Abb. 4: Aleksej Gastev: Trudovaja ustanovka, Moskau 1924, Beilage. Abb.5: René Fülöp-Miller: Geist und Gesicht des Bolschewismus, Wien 1926, S. 278b, Tafel 172. Abb. 6: Ebd., S. 274b, Tafel 171. Abb. 7: Still aus einem noch unidentifizierten arbeitswissenschaftlichen Film, entnommen aus TROTZKIS TRAUM. DIE ANFbNGE DER PSYCHOANALYSE IN RUSSLAND (D 2000, R. Regine Kühn, Eduard Schreiber). Abb. 8-11: Kak chodit’ po ulice (1925), RGAKFD, Krasnogorsk. Abb. 12-14: Mechanika golovnogo mozga (1925/26), Gosfilmofond, Moskau und Österreichisches Filmmuseum, Wien. Abb. 1-3:

307

ABBILDUNGSNACHWEISE

Bernd Stiegler: Dziga Vertovs ENTHUSIASMUS Abb. 1:

Abb. 2:

Abb. 3: Abb. 4:

Abb. 5:

Cover der DVD Dziga Vertov, ENTUZIASM (SIMFONIJA DONBASSA). 1930 (1972), 65’ bzw. in der nicht restaurierten Fassung 1930, 65’. Restauriert von Peter Kubelka, Österreichisches Filmmuseum (Wien) 2005. Filmstill aus Dziga Vertovs ENTHUSIASMUS, in: Margarita Tupitsyn (Hg.): Malewich and Film, New Haven/London, S. 77, Abb. 106. Plakat für Vertovs ENTHUSIASMUS, in: ebd., S. 76, Abb. 104. Vladimir und Georgii Sternberg: Plakat für Dziga Vertovs THE MAN WITH A MOVIE CAMERA (1929), in: ebd., S. 68, Abb. 93. Sechs Filmstills aus Vertovs Das elfte Jahr (1928), in: ebd., S. 46, Abb. 64 a-f.

Henry M. Taylor: Figurationen des Unsichtbaren Abb. 1-10: THE INVISIBLE MAN (1933), © Universal Studios. Abb. 11–14: FANTÔMAS (À L’OMBRE DE LA GUILLOTINE) (1913), © Gaumont Columbia Tristar Home Vidéo. Abb. 15: DR. MABUSE, THE GAMBLER (DR. MABUSE, DER SPIELER) (1922), © Film Preservation Associates, Inc./Image Entertainment, Inc. Abb. 16-19: THE INVISIBLE MAN (1933), © Universal Studios.

Britta Lange: GERMANIN (1943) Abb. 1: Abb. 2/3: Abb. 4: Abb. 5:

Hellmuth Unger: Germanin. Geschichte einer deutschen Großtat, Berlin 1938. Germanin. Die Geschichte einer kolonialen Tat (1942/43), © Ufa. Archiv der Autorin. Bundesarchiv-Filmarchiv Berlin, BA-FA 5486.

Rembert Hüser: Parole Emil Abb. 1-4:

Archiv des Autors.

Arno Meteling: Mind Control und Montage Abb. 1:

THE IPCRESS FILE (1965), © Koch Media GmbH/The Rank Film Organisation.

308

ABBILDUNGSNACHWEISE

Abb. 2: Abb. 3-7: Abb. 8:

A CLOCKWORK ORANGE (1971), © Warner Home Video/Warner Bros. Entertainment Inc. THE PARALLAX VIEW (1974), © Paramount Pictures. THE WAR OF THE WORLDS (1953), © Paramount Pictures.

Markus Stauff: Experimentelle Soziologie Abb. 1-3: Abb. 4-8:

NEXT OF KIN (1984), © Zeitgeist Films. CALENDAR (1993), © Zeitgeist Films.

Torsten Hahn: ›Return to Normality‹ Abb. 1/2: Abb. 3/4:

28 DAYS LATER (2002), © DNA Films Ltd. DAY OF THE DEAD (1985), © United Film Distribution Company.

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AUTORINNEN

UND

AUTOREN

CHRISTINA BARTZ, Dr., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kulturwissenschaftlichen Forschungskolleg »Medien und kulturelle Kommunikation« an der Universität zu Köln. Forschungsschwerpunkte: Fernsehgeschichte, Film und Gender, Medienkultur. Letzte Veröffentlichungen: Zur Erzählstruktur der Remaskulinisierung, Frankfurt/Main 2000; MassenMedium Fernsehen. Die Semantik der Masse in der Medienbeschreibung, Bielefeld 2007; Formationen der Mediennutzung, Bd. 1: Medienereignisse, Bielefeld 2007 (Hg. mit Irmela Schneider). TORSTEN HAHN, Dr. habil., ist wissenschaftlicher Assistent am Institut für deutsche Sprache und Literatur an der Universität zu Köln. Forschungsschwerpunkte: Medien/Kommunikation um 1800, Intrige und Verschwörung, Medienkulturwissenschaft, Literatur der Moderne. Letzte Veröffentlichungen: Freund/Feind und Verrat. Die politische Semantik der Kommunikationstheorie im 20. und 21. Jahrhundert, Köln 2004 (Hg. mit Cornelia Epping-Jäger und Erhard Schüttpelz); Kontingenz und Steuerung. Literatur als Gesellschaftsexperiment 1750-1830. Würzburg 2004 (Hg. mit Erich Kleinschmidt und Nicolas Pethes); »Risk Communication and Paranoid Hermeneutics: Towards a Distinction Between ›Medical Thrillers‹ and ›Mind-Control Thrillers‹ in Narrations on Biocontrol«, in: New Literary History, Vol. 36 (2005), No. 2. UTE HOLL, Dr., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der HumboldtUniversität zu Berlin. Forschungsschwerpunkte: frühe Kino- und Wahrnehmungsgeschichte, Wissensgeschichte von Bildern und Filmen, experimenteller und ethnographischer Film. Letzte Veröffentlichungen: »Beziehungsweise Zeit. Die Rückkopplung im anthropologischen Film«, in: Michael Franz u.a. (Hg.): Electric Laocoon. Zeichen und Medien von der Lochkarte zur Grammatologie, München 2007; »Weltschmerz im Kopf. Technische Medien & medizinische Bildgebung«, in: Eugen Blume u.a. (Hg.): Schmerz. Katalog zur Ausstellung, Hamburger Bahnhof und Charité Berlin, Köln 2007; »Strahlen und Überstrahlen – Risse ins Bild der Geschichte. Zur filmischen Historiographie von F.W. Murnaus Faust«, in: Daniel Tyradellis/Burckhardt Wolf (Hg.): Sie Szene der Gewalt. Bilder, Codes und Materialitäten. Frankfurt/Main 2007.

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AUTORINNEN UND AUTOREN

REMBERT HÜSER, Dr., ist Associate Professor of German Studies an der University of Minnesota. Forschungsschwerpunkte: Theoriemüdigkeit, Film und Museum, Form und Funktion des Filmvorspanns, Fama und Kanonbildung. Letzte Veröffentlichungen: »An American Romance (1944)«, in: Mandy Merck (Hg.): America First: Naming the Nation in US Film, New York/london 2007; »Past Web Presences: A Study in German«, in: ArtUS 16 (January/February 2007); »Ansichtskarte Girl«, in: Sabine Biebl u.a. (Hg.): Working Girls: Zur Ökonomie von Liebe und Arbeit in der Moderne, Berlin 2007. JULIA BARBARA KÖHNE, Dr., ist Universitätsassistentin am Institut für Zeitgeschichte an der Universität Wien (Schwerpunkt visuelle Zeit- und Kulturgeschichte). Forschungsschwerpunkte: kulturwissenschaftliche, genderspezifische und medientheoretische Fragenstellungen in Spielund Dokumentarfilmen sowie in wissenschaftlichen Filmen. Letzte Veröffentlichungen: Kriegshysteriker. Strategische Bilder und mediale Techniken militärpsychiatrischen Wissens (1914-1920), Husum (erscheint 2008); Gendered Memories. Transgressions in German and Israeli Film and Theater, Wien 2007 (Hg. mit Vera Apfelthaler); Splatter Movies. Essays zum modernen Horrorfilm, Berlin 2005 (Hg. mit Arno Meteling und Ralph Kuschke). MARCUS KRAUSE, M.A., ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kulturwissenschaftlichen Forschungskolleg »Medien und kulturelle Kommunikation« an der Universität zu Köln. Forschungsschwerpunkte: Poetologien des Wissens, Diskursgeschichte der Psychologie, Literatur der Romantik, American Renaissance und Postmoderne. Letzte Veröffentlichungen: Literarische Experimentalkulturen. Poetologien des Experiments im 19. Jahrhundert, Würzburg 2005 (Hg. mit Nicolas Pethes); Spektakel der Normalisierung, München 2007 (Hg. mit Christina Bartz); Menschenversuche. Eine Anthologie 1750-2000, Frankfurt/Main (erscheint 2008) (Hg. mit Nicolas Pethes, Birgit Griesecke und Katja Sabisch). BRITTA LANGE, Dr., ist derzeit Postdoktorandin am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin. Forschungsschwerpunkte: Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Kolonialismus, audio-visuelle Medien. Letzte Veröffentlichungen: Echt – Unecht – Lebensecht. Menschenbilder im Umlauf, Berlin 2006; »Ein Archiv von Stimmen. Kriegsgefangene unter ethnografischer Beobachtung«, in: Nikolaus Wegmann/Harun Maye/Cornelius Reiber (Hg.): Original/Ton. Zur Mediengeschichte des O-Tons, Konstanz 2007. ARNO METELING, Dr., ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kulturwissenschaftlichen Forschungskolleg »Medien und kulturelle Kommunika312

AUTORINNEN UND AUTOREN

tion« an der Universität zu Köln. Forschungsschwerpunkte: Literatur und Ästhetik des 18.-21. Jahrhunderts, Film und Medientheorie. Letzte Veröffentlichungen: Monster. Zu Körperlichkeit und Medialität im modernen Horrorfilm, Bielefeld 2006; Splatter Movies. Essays zum modernen Horrorfilm, Berlin 2006 (Hg. mit Julia Köhne und Ralph Kuschke); Kursbuch Kulturwissenschaft, Münster 2000 (Hg. mit Thomas Düllo, André Suhr und Carsten Winter). NICOLAS PETHES, Dr., ist Professor für Europäische Literatur und Mediengeschichte an der FernUniversität in Hagen und leitete von 20032007 die Emmy Noether-Nachwuchsgruppe »Kulturgeschichte des Menschenversuchs« an der Universität Bonn. Forschungsschwerpunkte: Gedächtnistheorie, literarische Anthropologie, Wissenschaftsgeschichte, Medienwirkungsforschung. Letzte Veröffentlichungen: Spektakuläre Experimente. Allianzen zwischen Massenmedien und Sozialpsychologie im 20. Jahrhundert, Weimar 2004; Zöglinge der Natur. Der literarische Menschenversuch des 18. Jahrhunderts, Göttingen 2007; Jenseits von Utopie und Entlarvung. Kulturwissenschaftliche Untersuchungen zum Erziehungsdiskurs der Moderne, Freiburg 2007 (Hg. mit Eva Geulen). MARKUS STAUFF, Dr., ist Mitarbeiter im Forschungskolleg »Medien und kulturelle Kommunikation« an der Universität zu Köln. Forschungsschwerpunkte: Fernsehtheorie, Cultural Studies, Mediensport. Letzte Veröffentlichungen: ›Das neue Fernsehen‹. Machtanalyse, Gouvernementalität und digitale Medien, Münster 2005; Ökonomien des Medialen. Tausch, Wert und Zirkulation in den Medien- und Kulturwissenschaften, Bielefeld 2006 (Hg. mit Ralf Adelmann u.a.); »Die Grenzen des Spiels. Zur medialen Vervielfältigung und Einhegung des Fußballs«, in: Jürgen Mittag/Jörg-Uwe Nieland (Hg.): Das Spiel mit dem Fußball. Interessen, Projektionen und Vereinnahmungen, Essen 2007. BERND STIEGLER, Dr., ist ab WS 2007/08 Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz. Forschungsschwerpunkte: Literatur und Medien, Theorie und Geschichte der Photographie. Letzte Veröffentlichungen: Grundbegriffe der Medientheorie, München 2005 (Hg. mit Alexander Roesler); Theoriegeschichte der Photographie, München 2006; Bilder der Photographie. Ein Album photographischer Metaphern, Frankfurt/Main 2006. HENRY M. TAYLOR, Dr., ist Dozent am Seminar für Filmwissenschaft der Universität Zürich und Leiter des vom Schweizerischen Nationalfonds unterstützten Forschungsprojekts Verschwörung und Angstlust. Zur Theorie und Geschichte des Paranoia-Films (Buchprojekt). Forschungsschwerpunkte: Genretheorie, Narratologie, Ästhetik, Film und Geschichte. Letzte Veröffentlichungen: Rolle des Lebens. Die Filmbiographie als 313

AUTORINNEN UND AUTOREN

narratives System, Marburg 2002; Der Krieg eines Einzelnen. Eine filmische Auseinandersetzung mit der Geschichte, Zürich 1995. BARBARA WURM, Mag. phil., ist Kollegiatin im Graduiertenkolleg »Codierung von Gewalt im medialen Wandel« an der Humboldt-Universität zu Berlin. Forschungsschwerpunkte: (Russische) Filmtheorie und -geschichte, Frühes Kino, Dokumentarfilm, politische Theorie & Wahrnehmung. Letzte Veröffentlichungen: Dziga Vertov. Die Vertov-Sammlung im Österreichischen Filmmuseum, Wien 2006 (Hg. mit Thomas Tode und dem Österreichischen Filmmuseum); »Warten auf t. oder: Die Zeit, die (nicht) bleibt. Tarkovskijs Opfer / Gabe (Offret / Žertvoprinošenie)«, in: Rainer Grübel/Gun-Britt Kohler (Hg.): Gabe und Opfer in der russischen Literatur und Kultur der Moderne, Oldenburg 2006; »Der frühe Kulturfilm-Diskurs. Filmwissenschaft als Kulturwissenschaft ›von unten‹«, in: Filmwissenschaft als Kulturwissenschaft (= Zeitschrift für Kulturwissenschaft H. 2/2007), hg. von Siegfried Mattl, Elisabeth Timm und Birgit Wagner (erscheint 2007).

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Kultur- und Medientheorie Annett Zinsmeister (Hg.) welt[stadt]raum mediale inszenierungen Dezember 2007, ca. 160 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 16,80 €, ISBN: 978-3-89942-419-5

Christian Kassung (Hg.) Die Unordnung der Dinge Eine Wissens- und Mediengeschichte des Unfalls Dezember 2007, ca. 400 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 33,80 €, ISBN: 978-3-89942-721-9

Hans Dieter Hellige (Hg.) Mensch-Computer-Interface Zur Geschichte und Zukunft der Computerbedienung November 2007, 360 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-564-2

Geert Lovink

Elemente einer kritischen Internetkultur November 2007, ca. 300 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-804-9

Peter Seibert (Hg.) Samuel Beckett und die Medien Neue Perspektiven auf einen Medienkünstler des 20. Jahrhunderts November 2007, ca. 210 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-843-8

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Lutz Hieber, Dominik Schrage (Hg.) Technische Reproduzierbarkeit Zur Kultursoziologie massenmedialer Vervielfältigung Oktober 2007, ca. 200 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 18,80 €, ISBN: 978-3-89942-714-1

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Thomas Ernst, Patricia Gozalbez Cantó, Sebastian Richter, Nadja Sennewald, Julia Tieke (Hg.) SUBversionen Zum Verhältnis von Politik und Ästhetik in der Gegenwart Oktober 2007, ca. 400 Seiten, kart., ca. 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-677-9

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Thomas Hecken Theorien der Populärkultur Dreißig Positionen von Schiller bis zu den Cultural Studies Juni 2007, 232 Seiten, kart., 22,80 €, ISBN: 978-3-89942-544-4

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2007-09-17 14-04-31 --- Projekt: T640.kumedi.pethes-krause / Dokument: FAX ID 02bb158011786544|(S.

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