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German Pages 195 Year 2000
Irene Pieper . Modernes Welttheater
Schriften zur Literaturwissenschaft Im Auftrag der Görres-Gesellschaft herausgegeben von Bernd Engler, Volker Kapp, Helmuth Kiesel, Günter Niggl
Band 13
Modemes Welttheater Untersuchungen zum Welttheatermotiv zwischen Katastrophenerfahrung und Welt-Anschauungssuche bei Walter Benjamin, Karl Kraus, Hugo von Hofmannsthal und Else Lasker-Schüler
Von
Irene Pieper
Duncker & Humblot . Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Pieper, Irene:
Modemes Welttheater : Untersuchungen zum Welttheatermotiv zwischen Katastrophenerfahrung und Welt-Anschauungssuche bei Walter Benjamin. Karl Kraus. Hugo von Hofmannsthai und Else Lasker-Schüler I Irene Pieper. - Berlin : Duncker und Humblot. 2000 (Schriften zur Literaturwissenschaft; Bd. 13) Zug!.: Heidelberg. Univ.• Diss .• 1998 ISBN 3-428-10077-8
Alle Rechte vorbehalten
© 2000 Duncker & Humblot GmbH. Berlin
Fremddatenübemahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH. Berlin Printed in Germany ISSN 0720-6720 ISBN 3-428-10077-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 97069
Und jedes Bild. das ich von dieser Welt gewann, Verlor ich doppelt, und auch das, was ich ersann. (Else Lasker-Schüler)
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde 1998 von der Neuphilologischen Fakultät der Universität Heidelberg als Inaugural-Dissertation angenommen. Ihre Entstehung ist eine eigene kleine Geschichte, an deren Ende mein herzlicher Dank stehen soll. Er gilt zunächst Prof. Dr. Helmuth Kiesel, der die Arbeit betreut und schließlich begutachtet hat. Er gilt außerdem Prof. Dr. Dr. Michael Welker, der bereitwillig das Zweitgutachten übernahm und mich überdies in vielfältiger Weise auf meinem Weg durch die theologische Wissenschaft unterstützt hat. Gedankt sei aber auch denjenigen, die mit Anregungen und einem kritischen Blick auf meine Ausführungen das Ihre zum glücklichen Ende beitrugen, vor allem Helga Beste, Dr. Martin Pöttner, Dr. Joachim von Soosten und Gisela Unruhe. Einen bedeutenden Einfluß auf den Entstehungsprozeß hatte darüber hinaus das Graduiertenkolleg "Religion und Normativität" in Heidelberg, mit dessen Teilnehmern und Teilnehmerinnen, aber auch Gästen ich in den Jahren 1995 bis 1998 in einem immer wieder spannenden, intensiven Gespräch stand. Dieses Kolleg unterstützte mich außerdem mit einem Stipendium. Zum gelungenen Abschluß des gesamten Vorhabens trug die Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft mit einem stattlichen Druckkostenzuschuß bei. Die Handschriftenabteilung des Archivs der Hebräischen Universität Jerusalem erteilte mir freundlicherweise die Genehmigung, aus bisher unveröffentlichten Texten Else Lasker-Schülers zu zitieren. Schließlich möchte ich meinen Eltern danken, die den Weg ihrer Tochter durch Studium und Promotion "aus der Feme" mitverfolgt und auf ihre Weise unterstützt haben. Ihnen sei dieses Buch gewidmet. [rene Pieper
Inhalt A. Einleitung .........................................................................
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I. Das Welttheatermotiv zwischen Katastrophenerfahrung und Welt-Anschauungssuche .......................... ;..................................................
II
11. Die Welttheatermetapher ..........................................................
19
III. Die Arbeit am Welttheater . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
21
I. Ins Spiel gebracht: Raum der Welt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
23
2. Durch Spiel bestimmt: Performativität des Seins. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
25
3. Aufs Spiel gesetzt: Sicht der Welt ..............................................
27
IV. Die frühe Neuzeit: Die Welt ist ein Theater........................................
31
I. Die Schauspielmetaphorik bei William Shakespeare ............................
32
a) Der Mensch als persona ....................................................
33
b) Theatrum mundi ............................................................
35
2. Pedro Calder6n de la Barcas Fronleichnamsspiel EI gran teatro dei mundo .....
38
3. Ergebnis: Wirklichkeitsverstehen im Welttheater ...............................
41
B. Der "Aufbruch" der Weltordnung in der Literatur ..............................
43
I. Walter Benjamin: Welttheater als Trauerspiel ......................................
43
1. Zur Wahrheit der Kunstform: der geschichtsphilosophische Zusammenhang ....
45
2. Auf der horizontlosen Bühne der Welt: das Trauerspiel .........................
50
a) Das melancholische Spiel des Barock. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
50
b) Die traurige "Rolle" der Modeme ...........................................
56
3. Im Zeichen des Abbruchs: die Allegorie.. .. . ..... ... .. .... ... .... .. .. ...... .. . .
58
a) Die barocke Allegorie zwischen Rettung und Zerstörung ....................
59
b) Von der Allegorie zum Allegoriker. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
64
c) Messianität im Allegorischen...............................................
67
4. Ergebnis: Vom allegorischen Trauerspiel zur Modeme als ,,Rolle" ..............
71
10
Inhalt
11. Karl Kraus: Die letzten Tage der Menschheit - Welttheater als Weltgericht ........
75
1. Die Tragödie des Menschheitsuntergangs: Tragischer Karneval .................
79
2. Die heldenlose Menschheit: Zwischen Schicksal und Verantwortung. . . . . . . . . . . .
82
3. Das zweifache Weltgericht .....................................................
87
a) Der Nörgler am Schreibtisch: prophetischer Richter, parodierender Dichter
89
b) Die letzte Nacht: Mythisch-groteskes Weltgericht...........................
95
4. Theatrale Kritik des Theaters ....... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1()() 5. Ergebnis: Das Weltgericht diesseits der Grenze zum Schweigen ................ 103 1II. Hugo von Hofmannsthai: Das Salzburger Große Welttheater - Festspiel der einen Welt .............................................................................. 107
I. Weltverdichtung: Der Mythos des Mittelalters .................................. J08 2. Weltgesicht: Die Wirklichkeit des Fortschritts.................................. 115 3. Weltordnung: Das göttliche Walten................ . ............................ 118 4. Weltgedicht: Die neue Wirklichkeit der Kunst.................................. 120 5. Weltspiel: Die Inszenierung des Gesamtkunstwerks ............................ 124 6. Weltentgrenzung: Epiphanes Erleben........................................... 128 7. Ergebnis: Ein ästhetisch-politisches Therapieprogramm ........................ 129 IV. Else Lasker-Schüler: IchundIch - Welttheater auf der "Herzensbühne" ............ 131 1. Die theatralische Tragödie: zwischen Gattungserwartung und Parodie .......... 137 2. Die Tragödie der Dichterin: zwischen Bühnenkonstitution und Verlust des Spielraums..................................................................... 143 3. Der Zwiespalt der Figur: zwischen Tod und Erlösung........................... 148 4. Weltherrschaft: zwischen himmlischer Gottesnähe und höllischer Thronfolge ... 154 a) Spielleiter im Welttheater ................................................... 157 b) Die Welt zwischen Illusion und Wahrheit ................................... 160 5. Die Historie: zwischen Urzeit und Endzeit...................................... 163 6. Ergebnis: Das ver-spielte Gesamtkunstwerk: zwischen Monumentaltheater und Herzensbühne .......... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 C. Schluß ............................................................................. 169 Literaturverzeichnis .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178
A. Einleitung I. Das Welttheatermotiv zwischen Katastrophenerfahrung und WeIt-Anschauungssuche Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts steht im Zeichen der Katastrophe: Zwei Weltkriege, Faschismus und Bolschewismus zeitigen Zerstörungen ungekannten Ausmaßes. Die Geschichtserfahrung dieser Jahre, geprägt von gesellschaftlichen und persönlichen, von materiellen und ideellen Verlusten und Gefährdungen, hat ftir die Künste erhebliche Konsequenzen. Es ist diese Situation der umfassenden Krise, in der die Literatur wiederholt auf das Welttheatermotiv zurückgreift. Autorinnen und Autoren unterschiedlichster politischer und weltanschaulicher Orientierung suchen die Wirklichkeit im Bild des Theaters zu fassen. Indem sie die Welt durch ein mehrdimensionales Modell zur Anschauung bringen, das Bühne, Regie, Schauspieler und Publikum umfaßt, greifen sie zum einen auf die Gesamtheit der Welt aus. Zum anderen zeigen sie den Menschen als stetig und unausweichlich, als tragisch im Geschehen involvierten Mitspieler. In hervorragender Weise bringt die variantenreiche Gestaltung des Motivs die epochentypische Spannung zwischen der Sehnsucht nach einem Gesamtsinn von Welt und Geschichte und der Erfahrung seines Entzugs und Verlusts zum Ausdruck. Der Gedanke, der Welt liege eine einigende metaphysische Ordnung zu Grunde, ist längst problematisch geworden. Gerade Aussagen über die Geschichte, die Situation des Menschen, dessen Gestaltungsmöglichkeiten in der Welt, Aussagen über das Ganze der Wirklichkeit stehen im Zeichen des Totalitätsverlusts. Walter Benjamin konstatiert den "Ausfall aller Eschatologie"·, und Georg Lukacs diagnostiziert angesichts dieses fehlenden Horizontes die "transzendentale(n) Obdachlosigkeit,,2 des Menschen. Der bergende Gesamtzusammenhang der Wirklichkeit kann nur noch als verlorener Ausdruck finden. Mithin besteht eine Spannung zwischen dieser Erfahrung und dem beständigen, von "Einheitsobsessionen,,3 geprägten Versuch, dennoch ein Weltganzes in den Blick zu nehmen. Angesichts der zunehmenden Unübersichtlichkeit moderner Wirklichkeit stellt sich die Ganzheitssehnsucht als eine Suche nach Orientierung dar. Bislang richI Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels. In: Gesammelte Schriften 1,11 R. Tiedemann, H. Schweppenhäuser (Hg.), Frankfurt 1 M., 1991. 203 - 430. 259. 2 Georg Lukacs, Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik. Mit dem Vorwort von 1962, München, 1994. 32 (Erstaufl. [1920] 23 f.).
3
Wolfgang Welsch, Unsere postmoderne Moderne, Berlin, 1993,35.
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A. Einleitung
tungsweisende Nonnen haben ihre Gültigkeit eingebüßt. Nach dem Urteil Ernst Troeltschs ist "Unzähliges Phrase und Papier geworden ... , was vorher feierlicher Ernst zu sein schien oder auch wirklich war,,4. Für Hennann Broch bildet das "Wert-Vakuum" ein Hauptcharakteristikum der Zeit. 5 Problematisch ist aber nicht allein die Entleerung überlieferter Orientierungsmuster, sondern auch die wachsende Uneinheitlichkeit der Wertesysteme, die als Konfliktherd begriffen wird. So sieht Max Weber "die verschiedenen Wertordnungen der Welt in unlöslichem Kampf untereinander,,6. Im Umfeld der beiden Weltkriege, die als apokalyptisches Vernichtungsgeschehen erfahren werden/ ist die Orientierungssuche besonders drängend. Die vielfältigen Verwendungsweisen, die das Motiv in diesem Zeitraum europaweit findet, vennögen jene "Gleichzeitigkeit und Konkurrenz nicht bloß von Stilen, sondern von Weltentwürfen"s zu illustrieren, die das Jahrhundert seit der "Parole der Avantgarde"9 kennzeichnet. In der deutschsprachigen Literatur berufen vor allem Walter Benjamin,lo Bertolt Brecht,11 Alfred Döblin,12 Walter Hasenclever, 13 Hugo von HofmannsthaI, 14 Ödön von Horvath,15 Karl Kraus,I6 Else Lasker-Schüler,17 4 Ernst Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme, Tübingen, 1922 (Gesammelte Schriften. Bd. 3), 6. 5 Vgl. Herrnann Broch, Hofmannsthai und seine Zeit. In: Schriften zur Literatur I, Kritik/ Paul Michael Lützeler (Hg.), Frankfurt/M., 1975, 111-284 (Werke 9/1).153 u.ö. 6 Max. Weber, Wissenschaft als Beruf. In: ders., Schriften und Reden/W. J. Mommsen, W. Schluchter (Hg.), Tübingen, 1992. 71 -111 (Gesamtausgabe. Abteilung 1; Bd. 17). 100. 7 Zur Bedeutung der Apokalypse in dieser Zeit vgl. Klaus Vondung, Die Apokalypse in Deutschland, München, 1988. 8 Welsch,49. 9 Welsch,49. 10 Ursprung des deutschen Trauerspiels (entstanden 1924-25; erschienen 1928). 11 Bertolt Brecht, Mahagonny (1927), Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny (1930). In: ders., Stücke 2, Berlin, Weimar, Frankfurt/M., 1988, 323-331; 333-392 (Werke, Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe/W. Hecht, 1. Knopf, K.-D. Müller (Hg.), Bd. 2.) Der gute Mensch von Sezuan (1930-42; UA 1943; Veröffentlichung 1953). In: ders., Stücke 6, Berlin, Weimar, Frankfurt / M., 1989. 175 - 281 (Werke, Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe/W. Hecht, J. Knopf, K.-D. Müller (Hg.), Bd. 6). 12 Alfred Döblin, November 1918. Eine deutsche Revolution. Erzählwerk in drei Teilen / W. Stauffacher (Hg.), Olten, Freiburg im Breisgau, 1991 (Ausgewählte Werke in Einzelbänden/ A. W. Riley (Hg.)); entstanden 1937 -1943. Ders., Unsere Sorge der Mensch, München, 1948. 13 Walter Hasenc\ever, Ehen werden im Himmel geschlossen (1928). In: ders., Stücke 1926-1931. Mainz, 1990.205 -256 (Sämtliche WerkeID. Breuer, B. Witte (Hg.), Bd. 11.2). 14 Hugo von Hofmannsthai, Das Salzburger Große Welttheater (1922). In: ders., Dramen 8/ Hans-Harro Lendner, Hans-Georg Dewitz (Hg.), Frankfurt / M., 1977 (Sämtliche Werke X). 15 Ödön von Horvath, Himmelwärts. Ein Märchen in zwei Teilen (1934). In: ders., Komödien, Frankfurt/M., 1970.273-324 (Gesammelte Werke, Bd. 11). 16 Karl Kraus, Die letzten Tage der Menschheit. Tragödie in fünf Akten mit Vorspiel und Epilog, Frankfurt/M., 1986 (Karl Kraus. Schriften/ehr. Wagenknecht (Hg.), Bd. 10). Entstanden 1915 - 1917, Erstveröffentlichung des Gesamtdramas 1920/21.
I. Das Welttheatermotiv
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Elisabeth Langgässer l8 und Franz Werfel l9 die von jeher spannungsreiche traditionelle Vorstellung und geben ihr sehr unterschiedliche Gestalt: Das Spektrum reicht von einer radikalen Religionskritik 2o bis zur (erneuten) Affirmation eines christlichen Verständnisses?l Die Demontage des aus Mittelalter und Barock überkommenen christlichen Welttheaters wird in Pirandellos auch in Deutschland wirkmächtigem Drama Sechs Personen suchen einen AutO?2 bis zur Auflösung des Stückes getrieben. Den Gegenpol besetzt vor den deutschen Autoren Paul Claudels einflußreiche Wiederbelebung des Mysterienspiels durch Der seidene Schuh. 23 Auch Strindbergs Stationendrama Nach Damaskui4 steht als "modemes Mysterienspiel',25 in dieser Linie. Gerade diejenigen Werke, die zwischen diesen bei den Polen anzusiedeln sind, weisen auf den epochentypischen Konflikt von Welt-Anschauungs suche einerseits und Sinnverlust andererseits. Ihnen gilt das vorrangige Interesse dieser Arbeit: Die Dramen Die letzten Tage der Menschheit von Karl Kraus und IchundIch von Else Lasker-Schüler verleihen mit Hilfe der Vorstellung einer umfassenden, bleibenden Irritation Ausdruck. Kraus und Lasker-Schüler inszenieren die Suchbewegung, ohne sie indes zum Stillstand zu bringen. Daneben findet Hugo von HofmannsthaIs Das Salzburger Große Welttheater Berücksichtigung, das mittels einer nur vordergründigen Bestätigung des christlichen Welttheaters einen Transformationsprozeß anzeigt und zu einer gleichsam säkularen Ganzheitsvorstellung vorstößt.
17 Else Lasker-Schüler, IchundIch. In: dies., Dramen. Bearbeitet von Georg-Michael Schulz, Frankfurt/M., 1997, 183-235 (Werke und Briefe. Kritische Ausgabe/N. Oellers, H. Rölleke, Itta Shedletzky (Hg.), Bd. 2). Entstanden 1940/41; Erstveröffentlichung 1970. 18 Elisabeth Langgässer, Das unauslöschliche Siegel. Roman, München, 1989 (entstanden ab 1936, Erstveröffentlichung 1946). 19 Franz Werfel, Jacobowsky und der Oberst. Komödie einer Tragödie in drei Akten. Frankfurt/M., 1995 (entstanden 1941/42; Uraufführung 1944), Das Lied von Bemadette. Roman (1941), Frankfurt / M., 1991 (Gesammelte Werke in Einzelbänden / K. Beck (Hg.». 20 Siehe die genannten Stücke Brechts, Horvaths und Hasenclevers. 21 Siehe die Werke Werfels, Langgässers und Döblins. 22 Luigi Pirandello, Sei personaggi in cerca d'autore. Florenz, 1921. Deutsch: Sechs Personen suchen einen Autor. Aus dem Italienischen übersetzt von Annika Makoseh. Stuttgart, 1995 (erstmals 1925 in der Übersetzung von H. Feist). Das Stück wurde 1921 in Rom uraufgeführt; deutsch Wien 1924. 23 Paul Claudel, Le soulier de satin. Paris, 1930. Deutsch: Der seidene Schuh oder Das Schlimmste trifft nicht immer zu. Übers. von Hans Urs von Balthasar, Salzburg, Leipzig, 1939. Die Tetralogie entstand 1919-1924 und wurde 1943 uraufgeführt. 24 August Strindberg, Till Damaskus. Stockholm, 1898 (Teil I und 11), 1904 (Teil I1I). Deutsch: Nach Damaskus. Drama in drei Teilen. Aus dem Schwedischen übertragen von Hans Egon Gerlach, Stuttgart, 1979 (erstmals 1912 in der Übersetzung von E. Schering). Die deutsche Uraufführung des Gesamtdramas 1916 in München geht hier der schwedischen 1924 (Göteborg) voraus. 25 Ruprecht Volz, Nachwort; in: August Strindberg, Nach Damaskus. Drama in drei Teilen, Stuttart, 1994.251-258.255.
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A. Einleitung
Freilich steht der dramatischen Gattung das Welttheatermotiv besonders nahe: Der Dramatik, Trauer und Tragik der Geschichtserfahrung korrespondiert das Drama und dessen spezifische Form der Tragödie. Hier liegt die Verbindungslinie zum vierten Text, den diese Arbeit thematisiert: Walter Benjamins geschichtsphilosophische Abhandlung Ursprung des deutschen Trauerspiels. Die dramatische Gattung ist hier Ausgangspunkt für eine philosophisch-theologische Reflexion: Mittels der Welttheatervorstellung formuliert Benjamin sein Geschichtsverständnis und leuchtet ästhetische Konsequenzen aus. Auch die Welt-Anschauung, die sich aus diesem Ansatz erheben läßt, weist eine entscheidende, wiederum metaphysische Transformation auf: Das christliche Welttheater weicht einer messianischen Konstruktion. Die Weltentwürfe, die in diesen Werken Formulierung finden, sind in mehrfacher Hinsicht Kinder ihrer Zeit: Im Zeichen des Bestrebens, die Welt als Ganze in den Blick zu nehmen, weisen die Texte Berührungspunkte mit modernen philosophischen, theologischen und kunsttheoretischen Entwürfen insbesondere der Zwischenkriegszeit auf: Auch sie versuchen in dieser Weise, der Erfahrung massiver Fragmentierung von Wirklichkeit zu begegnen. Dies gilt zum Beispiel gattungstheoretisch-geschichtsphilosophisch für Georg Lukacs' Theorie des Romans (1916, 1920), philosophisch für Ernst Blochs Geist der Utopie (1918, 1923), theologisch für Karl Barths Römerbrief (1919, 1922) oder Ernst Troeltschs Vorlesungen Der Historismus und seine Überwindung (1926). Walter Benjamin, der im Ursprung des deutschen Trauerspiels (1928) Geschichte als Trauerspiel, mithin als eine spezifische Form des Theaters versteht, beruft dieselbe Tradition wie Lukacs, "um das messianische Versprechen von Katastrophen zu reflektieren: Die Produktivität des Negativen in der Vorstellungswelt negativer Theologie.,,26 Ein Schlüssel begriff innerhalb der negativ-theologischen Geschichtsphilosophie Benjamins ist die Melancholie. Angesichts moderner Wirklichkeitserfahrung profiliert er eine Haltung ästhetischer Trauer. 27 So handelt Benjamin, indem er sich von Nietzsches Geburt der Tragödie abgrenzt, dezidiert vom Trauer-Spiel und nicht von der Tragödie. Dennoch stehen die Werke, die in so auffälliger Weise auf den Vorstellungsbereich des Theaters zurückgreifen, auch im Zusammenhang mit einer von Nietzsche inspirierten Wiederkehr des Tragischen in Literatur und Philosophie. Simmel und Scheler wenden sich ihrer Gegenwart unter diesem Aspekt ZU. 28 26 Gert Mattenklott, Mythologie Messianismus Macht. In: Messianismus zwischen Mythos und Macht. Jüdisches Denken in der europäischen Geistesgeschichte! E. Goodman-Thau; W. Schmied-Kowarzik (Hg.), Berlin, 1994, S. 179 - 196. 184. 27 Siehe dazu Ludger Heidbrink, Melancholie und Moderne. Zur Kritik der historischen Verzweiflung, München, 1994. Insbesondere Teil III: "Der melancholische Diskurs der Moderne" (110 - 210). 28 Georg Simmel, Der Begriff und die Tragödie der Kultur (1912). In: ders., Hauptprobleme der Philosophie. Philosophische Kultur!R. Kramme, O. Rammstedt (Hg.), Frankfurt!M .• 1996, Gesamtausgabe!O. Rammstedt (Hg.), 14,385-416. Max Scheler, Zum Phänomen des Tragischen. In: Vom Umsturz der Werte. Abhandlungen und Aufsätze. Gesammelte Werke, Bern, 1955. Bd. 3. Siehe Peter Szondi, Versuch über das Tragische. Frankfurt! M .. 1961.
I. Das Welttheatermotiv
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Und obschon das Zeitalter ob einer "Krise des Helden", einer Krise auch der Sprache und des ,,Brüchigwerden(s) der religiösen Bezüge,,29 eher die Unmöglichkeit der Tragödie zu erweisen scheint, wird sie programmatisch aufgenommen in der Neoklassik Paul Ernsts, reflektiert bei Georg Lukacs,3o als Form gewählt aber auch von Werfel mit den Troerinnen, von HofmannsthaI mit der Elektra. Das Definitionsmoment des Tragischen erblickt Szondi in seiner "dialektische Modalität".3l Von hier aus bieten sich deutliche Bezüge zur Welttheatervorstellung an, die neben der distanzierten Perspektive auf die Welt die radikale Involviertheit der Menschen, neben ihrer verantwortlichen und "schuldigen" Rolle im Weltspiel ihre ohnmächtige Verstrickung erfaßt. Karl Kraus' Weltkriegsdrama Die letzten Tage der Menschheit ist nicht zuletzt daher "Tragödie der Menschheit,,32 mit apokalyptischem Ausgang. Untergangsvisionen als unvermeidlicher Ausgang des tragischen Konfliktes hinterlassen daneben Spuren bei Else Lasker-Schüler33 und Franz Werfet34 • Wie das Tragische "stets im Zusammenhang mit der Sinngebung des Daseins begriffen wird",35 so sucht auch das Welttheater diesen Zusammenhang, überschreitet allerdings den Widerspruch bisweilen in Richtung seiner Aufhebung durch Komik und Ironie, aber auch durch das Aufrufen einer Glaubenswahrheit. 36 In charakteristischer Weise kennzeichnet Tragikomik das Welttheater LaskerSchülers und Franz Werfels: ,,Nicht in den Tragödienversuchen herkömmlicher Art, sondern in neuartigen, ,avantgardistischen' Tragikomödien findet das Tragische der Epoche seinen angemessenen Ausdruck - wobei sehr oft das Scheitern der Autoren bei ihrem Versuch, das Tragische adäquat zu formulieren, sowohl ein Aspekt des Tragischen selbst als auch ein Bestandteil jenes adäquaten Ausdrucks ist.'037
Bei gleicher Tendenz ist für Kraus nicht Komik, sondern Satire konstitutiv für seinen Umgang mit der Gattung Tragödie. 29 Walter Müller-Seidel, Tragödie. In: Moderne Literatur in Grundbegriffen,! D. Borchmeyer, V. Zmegac (Hg.), Tübingen, 1994,436-445.436. 30 Georg Lukacs, Metaphysik der Tragödie: Paul Ernst. 1910; außerdem ders., Zur Soziologie des modernen Dramas, 1914. 31 Szondi, Versuch, 61. Diese zeigt sich auch bei Benjamin, vgl. Szondi, Versuch, 55-57. 32 Kraus, Die letzten Tage der Menschheit, 9. 33 Else Lasker-Schüler, IchundIch. 34 Franz Werfel, Jacobowsky und der Oberst. 35 Szondi, Versuch, 60. 36 Die Aufhebung des Widerspruchs bedeutet freilich das Verlassen des genuin Tragischen, vgl. Szondi, Versuch, 60 f. Auch eine christliche Anthropologie kennt indes das Moment der tragischen Verfassung des Menschen: "Das tragische Scheitern ist ... ein wesentlicher Teil der Begegnung des Menschen mit dem lebendigen Gott." (Ernst Gerhard Rüsch, Das Problem des Tragischen in christlicher Sicht. In: Tragik und Tragödie/V. Sander (Hg.), Darmstadt, 1971. 109 - 128. 122) 37 Franz Norbert Mennemeier, Das neue Drama. In: Zwischen den Weltkriegen/Tb. Koebner (Hg.) (Neues Handbuch Literaturwissenschaft, Bd. 20), Wiesbaden, 1983. 78 - 110. 80.
A. Einleitung
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Nach der Religionskritik des 19. Jahrhunderts zeigt sich eine neue Berufung eines christlichen Weltbildes bei dem französischen Dichter Paul Claudel38 , dem Schweden August Strindberg,39 bei Hugo von Hofmannsthal40 , dem späten Alfred Döblin41 , Franz Werfel 42 und Elisabeth Langgässer,43 die sich im Zusammenhang mit einem Resakralisierungsprozeß angesichts existentieller Fragestellungen44 begreifen läßt. Die ..erneute Aufwertung der Ganzheit" steht bei Hofmannsthai beispielhaft unter dem Stern des ..Rückzug(s) auf das gesicherte Erbe".45 Gattungsübergreifend wird das Welttheatermotiv eingesetzt, um der als fragmentarisch erlebten Wirklichkeit mit einer umfassenden Perspektive zu begegnen. Dabei kann im Drama, das nach Gottscheds Verdikt nicht mehr Spielort der Götter sein sollte,46 und im Roman, durch Lukacs definiert als ,,Epopöe der gottverlassenen Welt",47 die Vorstellung der Heilsgeschichte auferstehen, ja Gott selbst auftreten. Auch in dieser Beziehung bietet das Werk Friedrich Nietzsches eine Folie für die Welttheaterrezeption der ersten Jahrhunderthälfte: Der Tod Gottes, den der Rede des ..tollen Menschen" zufolge die Menschen selbst getötet haben, ohne dieser Großtat schon gewachsen zu sein,48 wird hier aufgehoben, häufig freilich in interpretationsbedürftiger Weise. Nietzsche macht überdies in seinem philosophischen Werk starken Gebrauch von der SChauspieimetaphorik,49 nutzt sie im Rahmen seines zunehmend radikalen Programms einer Destruktion jeglicher Metaphysik50 und arbeitet dabei extensiv mit dem Gegensatz von Schein und Wirklichkeit. Diesen negiert er mehr und mehr: Claudel, Le soulier de satin. Strindberg, Nach Damaskus. 40 Hofmannsthai, Das Salzburger Große Welttheater. 41 Döblin, November 1918; ders., Unsere Sorge der Mensch. 42 Besonders in Werfel, Das Lied von Bernadette. 43 Langgässer, Das unauslöschliche Siegel. 44 V gl. Vondung, 64 f. 45 Dieter Mayer, Die Epoche der Weimarer Republik. In: Geschichte der deutschen Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart/Viktor Zmegac (Hg.), Bd. I1I1I, Königstein, 1984,1-185.8. 46 V gl. Johann Christoph Gottsched, Versuch einer Critischen Dichtkunst, Leipzig, 4. Aufl. 1751, Darmstadt, 1962, Von Tragödien, oder Trauerspielen, § 27,624 f. 47 Georg Lukacs, Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik. Mit dem Vorwort von 1962, München, 1994. 77 (Erstaufl. 84). 48 Vgl. Friedrich Nietzsche, Die Fröhliche Wissenschaft, 125, in: Nietzsche Werke. Kritische Gesamtausgabe/G. Co11i; M. Montinari (Hg.) (im folgenden: KGA), V /2, Berlin, New York, 1973, 13-338. 158 ff. 49 Bedeutsam ist das Motiv des Schauspielers wie des Kostüms und der Maske, das mit dem Karneval verbunden wird; siehe dazu B.II.1. im Zusammenhang von Kraus' Drama Die letzten Tage der Menschheit. ~ Zur Metaphysikkritik Nietzsches, die selbst auch metaphysisch lesbar ist, vgl. Birgit Hoock, Modernität als Paradox. Der Begriff der ,Moderne' und seine Anwendung auf das Werk Alfred Döblins (bis 1933), Tübingen, 1997 (Untersuchungen zur deutschen Literaturge38 39
I. Das Welttheatennotiv
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"Die Welt scheiden in eine ,wahre' und eine ,scheinbare' ist eine Suggestion der decadence: - den Schein höher zu schätzen als die Realität, wie es der Künstler thut, ist kein Einwand dagegen. Denn der Schein bedeutet hier nur diese Realität noch einmal in der Auswahl, Verstärkung, Correktur.. .,,51
Innerhalb der Welttheaterrezeption läßt sich nun durchaus eine Suchbewegung nach dem Wahren hinter der Erscheinung ablesen, die allerdings mit dem ,horror vacui,52 kollidiert: Leere und Sehnsucht nach Transzendenz erzeugen, wie Nietzsche zeigt, ein oft leidvoll erfahrenes Spannungsfeld. 53 Die Autoren und Autorinnen lösen den Konflikt indes nicht zugunsten einer reinen Immanenzorientierung auf. Eine ästhetische - ebenfalls metaphysische - Totalitätskonzeption, die im Horizont der frühromantisch begründeten Apotheose der Kunst54 die Sprache oder die Kunst auf den Gottesthron erhebt, bietet angesichts eines wachsenden Bewußtseins für die beschränkten Möglichkeiten der Sprache auch und gerade angesichts der historischen Katastrophen - allerdings keine Lösung. In den Reflexionen zur Rolle des Künstlers, Autor des Weltendramas, wie zur Sprache und Poetik zeigt sich wiederum der Einfluß Nietzsches, der sich zwischen emphatischem Anschluß und kritischer Abgrenzung bewegt. So bildet die Krise der Sprache, die die modeme Literatur artikuliert,55 auch den Horizont der Welttheaterrezeption. Das Welttheatermotiv birgt eine vielschichtige, ambige Struktur. Ein Gang durch die Philosophie- und Literaturgeschichte macht gerade keine lineare Entwicklung der Verwendungsweisen sichtbar, etwa im Sinne einer Bewegung von Vorgegebenheit der dramatischen Rollen und vertikaler, göttlicher Organisation des Weltspiels in einer Frühzeit zu offensichtlicher Konzentration auf eine horizontlose Erdenbühne in Neuzeit und Modeme. Vielmehr wird die Vorstellung herangezogen, um die Frage nach Sinn und Gestalt der Wirklichkeit zu bearbeiten. Dies kann bedeuten, daß sie angesichts einer von jeher undurchsichtigen Welterfahrung ein traditionelles Weltverständnis artikuliert oder gar ein solches etabliert, es kann aber auch heißen, daß sie die Fragwürdigkeit jedweder Sinnaussage inszeniert. Die Welttheaschichte 93), 64 f.; zur Entwicklung Nietzsches Uwe Japp, Literatur und Modernität, Frankfurt/M., 1987,264. 51 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, Frühjahr 1888, 14(168), KGA VIII/3, Berlin, New York, 1972, 142-147. 147. Zur variierenden Bedeutung von Schein in dieser Passage vgl. Figal, Für eine Philosophie von Freiheit und Streit, 82 f. 52 Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, III,I, KGA VI/2, 357. 53 V gl. Hoock, 65 f. S4 Zur Konvergenz von Religion und Kunst in der Romantik, die oft unentschieden läßt, ob es sich um theologische Ästhetik oder ästhetisierende Theologie handelt, vgl. Wolfgang Braungart, Die Geburt der modemen Ästhetik aus dem Geist der Theodizee, in: Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden, I: um 1800/W, Braungart, G. Fuchs, M. Koch (Hg.), Paderborn, München, Wien, Zürich 1997, 17-34.33. 55 Besondere Bedeutung in diesem Zusammenhang hat Hofmannsthais Brief des Lord Chandos, auf den in Kapitel B.IIIA eingegangen wird. Zur Sprachkrise vgl. Hoock, 65 -75. 2 Pieper
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A. Einleitung
tennetapher ist mithin weniger von einem festgefügten Geschichtsbild her zu verstehen. Vielmehr erweist sie sich gerade dort als aussagekräftig, wo ein solches fehlt, erarbeitet wird, erschüttert oder zur Diskussion gestellt ist. 56 Im Zentrum der Arbeit stehen mithin Texte, für die das Welttheater strukturbildend ist oder deren Gesamtaussage wesentlich von ihm bestimmt ist, dies im historischen Zusammenhang der beiden Weltkriege. Die Texte versuchen, auf die katastrophale Situation, die auch die Möglichkeiten der Literatur hinterfragt, zu reagieren. Gemeinsam ist ihnen, daß das vennittelte Geschichtsbild nicht durchweg immanenzorientiert ist. Vielmehr bleibt zumindest die Frage nach der Transzendenz erhalten. In Anbetracht der dennoch durchaus religions- oder metaphysikkritischen Positionen der Autoren und der Autorin zeigen die Texte die bezeichnende Spannung ihrer Zeit zwischen dem Verlust eines Gesamtsinns und der Suche nach einem solchen. Mit Ausnahme des Salzburger Festspiels Hofmannsthais wird keiner der hier ausgewählten Texte in den beiden Darstellungen zum modemen Welttheater, den Arbeiten Greiners und Kamicks,57 behandelt. Neben den Dramen Hofmannsthals, Kraus' und Lasker-Schülers, die in einem interessanten wirkungsgeschichtlichen Zusammenhang stehen, wird auch ein geschichtsphilosophischer 56 Die Vorstellung des Welttheaters ist mithin nicht notwendig heilsgeschichtlich noch im weiteren Sinne theologisch verankert, wenngleich die Frage nach einer göttlichen Weltordnung im Verlauf der Rezeption immer wieder eine Rolle gespielt hat, vgl. dazu 3.1. Demgegenüber geht Hans Urs von Balthasar von einem theologischen Begriff des Welttheaters aus. Er versteht sowohl die Offenbarung Gottes als auch die Existenz des Menschen als dramatisch. Die existentielle Dramatik bezieht sich auf das Verhältnis von Gott und Mensch, so daß die Festlegung auf eine theologische Anthropologie grundlegend ist und auch die Interpretation literarischer Werke prägt. Vgl. Hans Urs von Balthasar, Theodramatik, Bd. 1: Prolegomena, Einsiedeln, 1973, 115 -118. Andere Schwerpunkte als die vorliegende Untersuchung setzen die beiden in sich differenzierten und aufschlußreichen Arbeiten zum modemen Welttheater: Bernhard Greiner, Welttheater als Montage. Wirklichkeitsdarstellung und Leserbezug in romantischer und moderner Literatur. Heidelberg, 1977; Manfred Karnick, Rollenspiel und Welttheater. Untersuchungen an Dramen Calder6ns, Schillers, Strindbergs, Becketts und Brechts. München, 1980 (mit Forschungsbericht). Greiner, der seine auch Prosatexte einbeziehende Arbeit innerhalb einer "pragmatischen' Literatursoziologie" ansiedelt (136), fokussiert den Aspekt der literarischen Kommunikation und widmet sich besonders dem Prinzip der Montage: Sie wird von Hofmannsthai restaurativ eingesetzt. Kafka und Brecht streben die ,,Erweiterung der ästhetischen Kommunikation (an) bei gleichzeitiger Erwartung, daß sich die Rezipienten aktiv an ihr beteiligen werden" (139). In der vorliegenden Untersuchung soll demgegenüber der Einsatz der Montage hinsichtlich des Geschichts- und Wirklichkeitsverständnisses sowie des metaliterarischen Aspektes besonders beachtet werden. Karnicks komparatistisch angelegte Arbeit berücksichtigt soziologische Aspekte und zeichnet eine Entwicklungslinie des Welttheaters, die es schließlich in zwei gegensätzliche Endpositionen münden läßt: Bei Strindberg wird die Stelle des Spielleiters mit einer unmenschlichen Übermacht besetzt. Alternativ dazu betont Brecht die grundSätzliche Autonomie des irdischen Geschehens und übergibt in didaktischer Absicht einem Kollektiv die spielleitende Verantwortung (vgl. 241 f.). Vor dem Hintergrund der hier untersuchten Werke, die nicht als anachronistisch gelten können, vielmehr durchaus der literarischen Moderne zuzurechnen sind, ist diese Entwicklungslinie jedoch, wie zu zeigen sein wird, zu hinterfragen. 57 Greiner, Welttheater als Montage, 1977; Karnick, Rollenspiel und Welttheater, 1980.
11. Die Welttheatennetapher
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Text thematisiert. Gerade die diskursübergreifende Betrachtung macht das Welttheatermotiv als Reflexionsmodell, das unterschiedliche Positionen zu artikulieren vermag, sichtbar. Den Texten ist vor allem die Frage nach dem Gesamtzusammenhang der Welt gemeinsam. Am konsequentesten stellt Lasker-Schülers Nachlaßschauspiel IchundIch jedwede ,,Lösung" in Frage, ein Drama, das überdies in seiner ästhetischen Gestaltung herausragt. Dieser Text findet daher besondere Berücksichtigung. Den Möglichkeiten der Theatermetaphorik, die unterschiedliche WeIt-Anschauungen zum Ausdruck bringt, gilt im folgenden das Interesse. Sie sollen zunächst unter systematischer Perspektive entfaltet werden, ehe auf wegweisende Realisierungen des Motivs in der Weltliteratur der Neuzeit eingegangen wird. Dabei wird freilich nicht geleugnet, daß die ZieIrichtung stets die modemen Verwendungsweisen der Welttheatermetapher bilden.
11. Die Welttheatermetapher Von der Welt als Theater zu sprechen, bedeutet, sie metaphorisch zu begreifen. Metaphorik kann mit Blumenberg verstanden werden als "eine authentische Leistungsart der Erfassung von Zusammenhängen"S8 und ist damit nicht durch eine sogenannte direkte oder unmetaphorische Redeweise zu ersetzen. Eindeutig läßt sich das Welttheater nicht bestimmen. Das theatrum mundi stellt eine spezifische Form der weitgefächerten Schauspielmetaphorik dar. Diese bietet ein Konzept, das die menschliche Erfahrungswirklichkeit in vielerlei Hinsicht prägt und strukturiert. Sie ist insofern eine "metaphor we live by".s9 Gerade in sozialen Kontexten entfaltet die Schauspielmetaphorik ihre Aussagekraft: Die Gastgeberin kann bei einem Fest einen großen Auftritt haben oder ihrem Mann vor aller Augen eine Szene machen. Er kann am Mittagstisch aus der Rolle fallen oder im Gespräch eine Maske anlegen. Die Vortragende kann am Pult eine beeindruckende Selbstinszenierung und Performanz bieten. Als "metaphor we live S8 Hans Blumenberg, Schiffbruch mit Zuschauer: Paradigma einer Daseinsmetapher, Frankfurt, 1979.77. S9 Diese Fonnulierung entlehne ich dem sprechenden Titel ,,Metaphors we live by" von George Lakoff und Mark Johnson (Chicago, London, 1980); zum Verständnis dieser "concepts" 5 f. Goffmans soziologische Untersuchung nutzt die Begrifflichkeit aus dem Theater und zeigt die Elementarität des Schauspielens im Interaktionsprozeß (Erving Goffman, Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. München, Zürich, 1996). Dietrich Schwanitz unterscheidet vier Gruppen von Aktivitäten mit Affinität zum Theater: I. Spiele und Wettkämpfe, 2. Zeremonien, 3. Betrügereien und Intrigen, 4. Fonnen sozialer Geselligkeit. Vgl. ders., Die Wirklichkeit der Inszenierung und die Inszenierung der Wirklichkeit. Meisenheim, 1977 (Hochschulschriften Literaturwissenschaft 22). Für soziologische Aspekte insbesondere im Zusammenhang mit der Rolle vgl. neben Schwanitz Karnick, dessen Untersuchung zum Welttheater diese Perspektiven betont.
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A. Einleitung
by" lebt die Theatervorstellung folglich nicht aus der - besonders im Barock bedeutsamen - Unterscheidung von Schein und Wirklichkeit, akzentuiert aber die Elementarität von Konvention und Konstruktion gerade moderner Wirklichkeit: 60 Das Handeln folgt einem impliziten Skript oder bedient sich konventioneller dramatischer Mittel. Wahrend dieser Bereich der Metaphorik sich auf den handelnden Menschen konzentriert, umgreift die Vorstellung des theatrum mundi die Weltwirklichkeit als Ganze und stellt den Menschen in einen übergeordneten Zusammenhang. Die Perspektiven sind folglich umfassender kaum zu denken und entziehen sich der unmittelbaren Anschauung. Der Verstehenshorizont ist dennoch nicht unbegrenzt: "Die Metapher setzt einen nicht ganz festgelegten Spielraum an Bedeutungen frei. Sie gibt viel zu denken, ohne doch unverbindlich zu sein.,,61 Das Welttheater eröffnet einen Spielraum im wörtlichen Sinne: Der Raum des Theaters ist Schauplatz des Weltspiels. Die Vorstellung wirft Fragen nach der Gestalt der Wirklichkeit, nach dem Verhältnis von Illusion und Wahrheit, nach Spielenden und Zuschauenden, nach Regie und Handlung des Weltspiels auf. Eine vertikale - regieorientierte - und eine horizontale Dimension treten ins Blickfeld. Nicht alle Positionen müssen besetzt werden. Auch und gerade dann, wenn sie leer bleiben, geben sie Anlaß zur Frage nach dem Gesamtzusammenhang. Die umfassende Perspektive auf die WeIt ist in der Vorstellung ebenso angelegt wie deren Umkehrung: Dem Menschen kommt notwendig eine Rolle in Drama, Tragödie oder Komödie der Welt wie des Lebens zu. So umfaßt die WeIttheatermetapher die Spannung von Distanz und Involviertheit. Beide Pole dieses Gegensatzes können akzentuiert werden. Die Vorstellung der Welt als Theater ist mithin dynamisch: Der Mensch wird als handelnde, geschichtliche Person in den Blick genommen. Er nimmt damit eine wesentlich bedeutsamere Position ein als etwa bei der Vorstellung der Welt als Buch. Gegenüber einer Metaphorik, die das Leben als Fluß oder Weg begreift, hat das Welttheater die stärkere Orientierung an der Sozialität, dem Zusammenspiel, voraus. Bei aller Offenheit für unterschiedliche Weltentwürfe, die mit der Metaphorik zum Ausdruck gebracht werden können, ist ihr Bedeutungsspielraum geprägt durch die Tradition der Vorstellung, die seit der Antike immer wieder Verwendung gefunden hat. 62 Von jeher wird sie gattungs- und diskursübergreifend eingesetzt: 60 Zu dieser Dimension moderner Wirklichkeit siehe Aleida Assmann, Fiktion als Differenz. In: Poetica 21/1989,239-260.258. 61 Gerhard Kurz, Metapher, Allegorie, Symbol, 3. Aufl., Göttingen, 1993. 20. 62 Vgl. Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern, 7. Aufl., 1969 (1. Aufl. 1948); Johann Sofer, Bemerkungen zur Geschichte des Begriffes "Welttheater", in: Maske und Kothurn. Vierteljahresschrift rur Theaterwissenschaft. 2. Jg., 1956,256-268; Alexander Demandt, Metaphern rur Geschichte. Sprachbilder und Gleichnisse im historisch-politischen Denken. München, 1978. Grundlegend zum Barock Wilfried
III. Die Arbeit arn Welttheater
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Philosophie, Geschichtsphilosophie, Theologie, Soziologie und die literarischen Gattungen Drama, Lyrik und Epik nutzen die Vorstellung des Welttheaters.63 Dabei lassen sich drei Weisen des Gebrauchs, die häufig ineinanderspielen, unterscheiden: I. Das Welttheater beschreibt eine spezifische Gestalt der Welt. Es setzt eine relativ stabile Ordnung oder knüpft an eine solche an (llI.I). 2. Die Aufmerksamkeit gilt den Spielenden, und die performative Dimension wird betont (III.2). 3. Das Welttheater wird problemorientiert eingesetzt. Im Vordergrund stehen eher Fragen nach Sein und Sinn von Mensch und Welt als orientierende Antworten. Dabei wird häufig an die Grundspannungen von Leben und Tod oder Determiniertheit und Indeterminiertheit des Menschen angeknüpft (llI.3).
111. Die Arbeit am Welttheater Dem Grundgehalt nach legt die Vorstellung der Welt als Theater nicht fest, in welcher Weise die Erdenbühne in einen übergreifenden oder metaphysischen Zusammenhang eingebettet ist. Sowohl eine Konzentration auf die Immanenz als auch eine Betonung der göttlichen Bewegung oder Lenkung des Weltgeschehens können zum Ausdruck gebracht werden. Erst die Rezeptionen des traditionsreichen Motivs machen die Weltanschauungen im engeren Sinne greifbar. Dabei kann der Gebrauch im Werk eines Autors schillern. So spielen bei Platon die Götter eine prominente Rolle. Er versteht in den Nomoi die Menschen als göttliche Marionetten, die Götter folglich als Beweger, im Philebos jedoch die Welt als "Tragödie und Komödie des Lebens": Im Werk eines Philosophen spielt daher die Frage nach der göttlichen Lenkung ebenso eine Rolle wie "die Deskription der menschlichen Szene,,64. Und wenn der Stoiker Epiktet die Bamer, Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen, Tübingen, 1970; Richard Alewyn, Das große Welttheater. Die Epoche der höfischen Feste, München, 2. Aufl., 1985; Heinz Otto Burger, ,Dasein heißt eine Rolle spielen'. Studien zur deutschen Literaturgeschichte, München, 1963, 75 - 93. Materialreich auch Hans Urs von Balthasar, Theodramatik, Bd. I: Prolegomena. Daneben Gerd Theobald, Hiobs Botschaft. Die Ablösung der metaphysischen durch die poetische Theodizee, Gütersloh, 1993. Für das Welttheater in der Modeme neben Greiner und Kamick auch Christiane Leiteritz, Revolution als Schauspiel. Beiträge zur Geschichte einer Metapher innerhalb der europäisch-amerikanischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, Berlin, New York, 1994. 63 Beispielhaft sei verwiesen auf Platon, Epiktet und Plotin (Philosophie), Walter Benjamin (Geschichtsphilosophie), Calvin, Luther, Hans Urs von Balthasar (Theologie), Georg Simmel, Erving Goffmann (Soziologie). Eine Fülle von Belegstellen bieten Sofer, Curtius, Demandt und Balthasar (Bd. I der Theodramatik). Für die literarischen Gattungen vgl. nur die Vielfalt der Verwendungsweisen im Barock, die Bamer aufzeigt. 64 Bamer, 94. Somit ist Platon nicht Kronzeuge einer theonomen Auffassung vom Welttheater, wie Bamer gegen Curtius betont.
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A. Einleitung
Idee eines Weltplans formuliert, in dem den Menschen Rollen zukommen, so verweist auch dieser nicht auf einen transzendenten Gott: ,,Merke: du hast eine Rolle zu spielen in einem Schauspiel, das der Direktor bestimmt. Du mußt sie spielen, ob das Stück lang oder kurz ist. Gibt er dir die Rolle eines Bettlers, so mußt du diese dem Charakter der Rolle entsprechend durchführen; ebenso, wenn du einen Krüppel, einen Herrscher oder einen Philister spielen sollst. Deine Aufgabe ist einzig und allein, die zugeteilte Rolle gut durchzuführen; die Rolle auszuwählen, steht nicht bei dir.,,6s
Durch die Jahrhunderte hindurch kann keine strikt lineare Entwicklung von einer theonomen Ordnung zu einer Immanenzorientierung verfolgt werden. Wohl aber läßt die Arbeit am Welttheater einen Kembestand formaler und narrativer Elemente hervortreten, die unterschiedlich kombiniert und variiert werden können. Um die vielfältige "produktive Rezeption", in der rezeptive und produktive Tatigkeit zusammenkommen,66 näher zu bestimmen, nehme ich Anregungen aus Blumenbergs Konzept der ,,Arbeit am Mythos" auf. Das Welttheater weist eine "Affinität,,67 zum Mythos im Sinne von heiliger Geschichte68 auf, ohne indes unmittelbar als solcher verstanden werden zu können. 65 Epiktet, Handbüchlein der Moral und Unterredungen/Heinrich Schmidt (Hg.), Stuttgart, 1973. 29. 66 Zur produktiven Rezeption vgl. Gunter Grimm, Rezeptionsgeschichte. Grundlegung einer Theorie. Mit Analysen und Bibliographie. München, 1977. 147 -153. Im Unterschied zur Wirkungsgeschichte, die die Rezeption vor allem unter dem Gesichtspunkt des Einflusses untersucht, richtet eine an der produktiven Rezeption orientierte Betrachtung den Blick primär auf die ,.rezipientenbedingte Verarbeitung" (Grimm, 150). 67 Helmuth Kiesel, Literarische Trauerarbeit. Das Exil- und Spätwerk Alfred Döblins, Tübingen, 1986.313. 68 Ein präziser, kultur- und disziplinenübergreifender, inhaltlich qualifizierter Begriff des Mythos scheint sich allen Bemühungen zum Trotz nicht fassen zu lassen; vgl. dazu A./ J. Assmann, Mythos, in: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, bisher unveröffentlicht. Sie sprechen von der ,.notorischen Undefinierbarkeit" des Begriffs. Anders Borchmeyer, der sich der ,,modemen Religionswissenschaft" (W.F. Otto, K. Kerenyi, M. Eliade) anschließt, vgl. ders., Mythos, in: Modeme Literatur in Grundbegriffen, 292-308, 293. Dieser Mythosbegriff unterscheidet sich grundlegend vom strukturalistischen des Ethnologen Claude Uvi-Strauss, Strukturale Anthropologie. Instruktiv dazu sowie zur Genese des Mythos-Begriffes und seines Gebrauchs: Ingolf U. Dalferth, Jenseits von Mythos und Logos: Die christologische Transformation der Theologie, Freiburg, Basel, Wien, 1993 (Quaestiones Disputatae), bes. 13-35. Blumenberg verzichtet auf eine genaue Definition zugunsten eines weiten Begriffs, der an den mythischen Dichtungen Homers und Hesiods gewonnen ist, ohne indes den Geltungsanspruch seiner philosophischen Theorie einzuschränken (kritisch dazu Ada B. Neschke-Hentschke, Hans Blumenberg. Arbeit am Mythos (Rez.), in: Zeitschrift für philosophische Forschung 37/1983. 448-453. Enno Rudolph, Mythos - Logos - Dogma. Eine Auseinandersetzung mit Hans Blumenberg. In: Mythos und Religion. Interdisziplinäre Aspekte/Oswald Bayer (Hg.), Stuttgart, 1990.58-79.58. Christoph Jamme, ,Gott an hat ein Gewand' Grenzen und Perspektiven philosophischer Mythos-Theorien der Gegenwart. Frankfurt/M., 1991, 136). Jedoch ermöglichen Blumenbergs Beobachtungen über Funktion und Verfahrensordnungen rür das Welttheater Einsichten. Ich nehme daher Impulse auf. Mein
III. Die Arbeit am Welttheater
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Blumenbergs funktionales Verständnis des Mythos orientiert sich an der Distanznahrne, derer der Mensch angesichts des "Absolutismus der Wirklichkeit,,69 bedarf. Dieser Abstand ist eine zentrale Leistung der Welttheatervorstellung: In der "Loge im Welttheater,,70 ist aus der distanzierten Perspektive heraus Welt-Anschauung möglich. Darüber hinaus spielt aber die Umkehrung der Distanznahme eine entscheidende Rolle: Neben dem Abstand betont die Vorstellung die diesen aufhebende Involviertheit, die bis zur ausschließlichen Orientierung an der Performativität reichen kann. Im Rahmen seiner Rezeptionstheorie weist Blumenberg auf eine innere Dynamik der Geistesgeschichte hin: Wahrend er zunächst scharf unterscheidet zwischen einer Orientierung an der Frage, die er der Philosophie zuordnet, der Antwort, die er im Dogma beheimatet, und der Erfindung, für die der Mythos steht,71 zeigt er auch Übergänge: Das rastlose Nachfragen der Philosophie kann im - daher "mythischen" - Totalentwurf zum Stillstand gebracht werden. 72 Dieser Vorgang läßt sich auch bei der Rezeption des Welttheaters beobachten. Die Arbeit am Welttheater ist gerade dadurch geprägt, daß es von jeher eine Affinität zu allen drei Rationalitätsformen hat und daher schillert. Nicht zuletzt aufgrund der vielfaltigen Verwendungsweisen, die sich daraus in Verbindung mit der Grundspannung von Distanz und Involviertheit ergeben, ist der Kernbestand der Vorstellung nicht einlinig und besonders flexibel. Dieser Kernbestand des Welttheaters schöpft aus antiker und christlicher Überlieferung und wird insbesondere im Mittelalter greifbar.
1. Ins Spiel gebracht: Raum der Welt Im christlichen Mittelalter erfahrt die Theatermetaphorik eine bedeutsame Ausweitung: Sie wird mit der Heilsgeschichte verbunden und zu einem umfassenden mehrstufigen Modell, das Mysterienspiele und Moralitäten inszenieren. Für die Orientierungsleistung, die das Welttheater bieten kann, ist diese Traditionsstufe von großer Bedeutung. Hier wird ein gültiges Weltbild anschaulich. Insofern ist das Welttheater mimetisch: Es ist ,,1n-Szene-Setzung, Vergegenwärtigung, Realisierung".73 Interesse gilt dabei nicht dem Begriff des Mythos, sondern einer Theorie der Rezeption und Tradition. 69 Blumenberg, Arbeit, 9. 70 Walter Benjamin, Passagenwerk. In: Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershorn Scholem herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, VIII Rolf Tiedemann (Hg.), Frankfurt IM., 1982. 52. 71 Vgl. Blumenberg, Arbeit, 286 f. 72 Vgl. Blumenberg, Arbeit, 319. 73 Wolfgang Braungart, Ritual und Literatur, Tübingen, 1996 (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft 53), 234. Mimesis ist daher (mit Aristoteles) Darstellung und Nachahmung.
A. Einleitung
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Die mittelalterlichen Fassungen des Welttheaters nehmen antike und christliche Traditionen auf. Wesentliche Vorlagen liefern Epiktet und Plotin, aber auch Augustino Wegbereitend für diese kultischen Spiele mit liturgischer Funktion ist der Policraticus des Johannes von Salisbury. Im dritten Kapitel De mundana comedia vel tragedia zeichnet er ein Bild der Welt, in der die Menschen ein eher lächerliches Treiben veranstalten, das von Gott, Engeln und Tugendhelden beobachtet wird. Am Lebensende fallen die Masken, und es zeigt sich das wahre Gesicht des Menschen.74 Über der Bühne befindet sich das Universum. Der Himmel ist Loge. "Aus der scena vitae ist damit ein theatrum mundi geworden.,,75 Die mittelalterlichen Mysterienspiele stellen Dramatisierungen der Heilsgeschichte dar. Das Geschehen findet auf den drei Ebenen Himmel, Erde und Hölle statt: Von einer erhöhten Plattform aus überblickt Gott die Handlung, die sich auf den Stufen des Kirchenportals oder zu ebener Erde abspielt; die Hölle befindet sich darunter, vor dem Portal oder dem Himmel gegenüber?6 Biblische Stoffe, die sich an den Stationen des heilsgeschichtlichen Dramas77 Schöpfung, Fall, Inkarnation und Versöhnungswerk Christi, Auferstehung der Toten und Jüngstes Gericht orientieren, stehen im Vordergrund. Durch die Kopräsenz von Himmel und Erdenbühne werden Ewigkeit und Vergänglichkeit kontrastiert. Im Unterschied zu den Mysterienspielen stellen die Moralitäten einen beispielhaften Lebenslauf ins Zentrum. Oft übernimmt ein Spielleiter oder eine allegorische Figur zu Beginn des Spieles die Rollenverteilung, die fortan ein bedeutsames Motiv im dramatischen Welttheater darstellt. Aufgabe der ,,Menschheitsfigur',78 des didaktisch-moralisch ausgerichteten Spiels ist es, ihren Part gut zu erfüllen. Ihr ,Leben' reicht vom unschuldigen Beginn über Versündigung und Umkehr bis zum Ende: Sie wird schließlich abberufen von der Erdenbühne und erreicht nach dem Gericht Gnade bei Gott. Das typisierte Personal repräsentiert dabei die mittelalterliche Ständegesellschaft. Hinzu treten Allegorien wie die Tugend oder Frau Welt. 79 Die exemplarisch dargebotenen Lebensgeschichten, deren Verlauf grundsätzlich ebenso wiederholbar scheint wie ein Spiel immer wieder zur Aufführung gelangen kann, werden eingezeichnet in einen von der Schöpfung bis zum EschaJohannes von Salisbury zitiert diese Vorstellung aus Petron, vgl. Curtius, ISO. Curtius, ISO. 76 Vgl. Link, Götter, Gott und Spielleiter, in: Theatrum mundi, 1-47. 15. 77 Mit dieser am Welttheater orientierten Terminologie arbeitet z. B. der schottische Theologe John Knox, vgl. Maurice Wiles, Der Mythos der Theologie, in: Wurde Gott Mensch? Der Mythos vom fleischgewordenen Gott I John Hick (Hg.), 156-174, 165. 78 Exemplarisch ist hier der englische Everyman, vgl. Werner Habicht, Studien zur Dramenform vor Shakespeare. Moralität, Interlude, romaneskes Drama. Heidelberg, 1968 (Anglistische Forschungen 96), 21. 79 Das Welttheater läßt sich insbesondere in seiner mittelalterlichen Gestalt auch insgesamt als Allegorie verstehen, nicht zuletzt aufgrund der didaktisch-moralischen Ausrichtung. Gerade die liturgische Verwendung der Spiele akzentuiert allerdings nicht die Doppeldeutigkeit, die die Allegorie von der Metapher unterscheidet (vgl. Kurz, 37), sondern identifiziert. 74
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III. Die Arbeit am Welttheater
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ton reichenden Bogen: Die Zyklizität wird damit aufgehoben in den letztgültigen Verlauf der Heilsgeschichte. Eine Kombination des theatrum mundi der Mysterienspiele mit den Moralitäten vollzieht Pedro Calderon de la Barca, der in seinem auto sacramental EI gran teatro dei mundo an das Mittelalter anknüpft. Hier wird das Welttheater konsequent in die dramatische Handlung überführt. Vor den Augen Gottes vollzieht sich das Lebensspiel zwischen Rollenübernahme (dem Eintritt ins Leben) und Rollenabgabe (dem Tod).8o Das mittelalterliche Welttheater benennt konkret, was zumal neuzeitlich und modem häufig numinos erscheint: Die undurchsichtige Größe der Welt ist hier im überschaubaren Theater aufgehoben. Der segnende Gott in der Loge ist zumindest momentan keine dunkle furchterregende Macht, obschon der Gerichtsgedanke erhalten bleibt. Das Mysterienspiel visualisiert das Geheimnis: Gerade dasjenige, das sich aller Anschauung entzieht, wird sichtbar gemacht, um seine Wahrheit sinnfällig zu bekräftigen. Die Vorstellung des göttlichen Rollenbuchs verbürgt darüber hinaus eine verbindliche, wenn auch nicht immer einsichtige Ordnung, die im Zeichen des Heils, nicht der unheimlichen Bedrohung steht. Eine elementare Spannung im Welttheater besteht zwischen der grundsätzlichen Sündigkeit des Menschen und der Erlösung. Die Leistungskraft des theatrum mundi, den Aporien zum Trotz, ist nicht zuletzt auf seine liturgisch-kultische Darbietung und Rezeption zurückzuführen. Hier wird es zum Ritual und eine Lösung der Aporien zumindest symbolisch vollzogen. Auch das Endgericht, das immerhin die Vorstellung der Verdammnis kennt, steht im Zeichen des Heils. Dieser theologische Gehalt wird durch die Liturgie bekräftigt. Die Gegenwart des Heiligen ist letzte Stufe des Übersetzungsvorgangs, der die geheimnisvolle, darin auch unheimliche Welt zum Ort der Heilsgeschichte macht. In dieser kultischen Erfahrung wird die Distanz zu einer nun freilich positiv qualifizierten Wirklichkeit überwunden. 81
2. Durch Spiel bestimmt: Performativität des Seins Die rituelle Dimension des mittelalterlichen Welttheaters weist auf die Bedeutung der Aktualisierung im Vollzug: Die religiöse Wahrheit des Welttheaters ereigAusführlicher dazu in IV.2. Zum Mysterienspiel als kultische Handlung, an der Priester maßgeblich beteiligt waren, hält Rainer Hess fest: ,,Das Mysterienspiel als religiöse Handlung vol1zieht die Heilswahrheiten hier und jetzt ... als stete Gegenwart ... Spiel und Wirklichkeit flossen in eins ... " (ders., Das religiöse Drama der Romania. In: Europäisches Spätmittelalter IW. Erzgräber (Hg.) (Neues Handbuch der Literaturwissenschaft, Bd. 8), Wiesbaden, 1978, 657 - 682. 659). 80 81
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net sich performativ. 82 Da die Schauspiel metaphorik das menschliche Leben als Rolle betrachtet, ist der Vollzug des Spiels darüber hinaus innerhalb des Dramas, aber auch in allen anderen Gattungen entscheidend. In der mittelalterlichen Moralität und im Fronleichnamsspiel Calderons wird das menschliche Leben ,erspielt', indem sich der Mensch bewährt. Dessen Geschichte macht bei Hofmannsthal aus der gesichtslosen Seele eine wahrnehmbare Gestalt. Außerhalb des rituellen Kontexts kann das Weltspiel reduziert werden auf das Spielen einzelner Lebensgeschichten oder Rollen, das diese mitunter erst hervorbringt. Das Spiel ist damit nicht mimetisch, folgt keiner Vorlage und repräsentiert nicht. Vielmehr hat sich die Performanz gegen die Mimesis gekehrt. 83 Die Konzentration auf die Ebene des Spielens steht dabei dem Ausgriff auf das Weltganze entgegen: Nicht der distanzierte Blick auf die darzustellende Welt, sondern die Umkehrung der Vogelperspektive bildet den Hintergrund. So ist dem Schauspieler der Zuschauerraum mitunter dunkles, bedrohendes Gegenüber. Er ist anonymen Blikken, aber auch göttlich bergenden oder richtenden ausgesetzt. Das Lebensspiel bietet keine Rückzugsmöglichkeiten vor den übermächtigen Augen Gottes,84 der dann gerade nicht mehr ins Bild gefaßt wird. Die Betonung der Schutzlosigkeit auf der Erdenbühne läßt existentialistische Ausprägungen zu: Das theatrum mundi wird völlig auf das Individuum ausgerichtet, dem jede Orientierung in der Welt fehlt. Die Diagnose ist universal, denn auch sein Spiel ist Weltspiel. Dabei kann die ,Welt' gleichsam aufgelöst werden: Pirandellos Spieler suchen gar hiflos ihren Autor und damit ihr StüCk. 85 Wenn wie bei Pirandello die einzelnen Lebensdramen in keinerlei Zusammenhang mehr stehen, weder in Hinblick auf eine göttliche Weltordnung, noch in Hinblick auf soziale Verbindungen, und überdies das Daß ihres Dramas nicht mehr gesichert ist, ist das Welttheater im Grunde zu Ende gebracht: Die Dimension der Performativität dominiert vor aller Weltbildhaftigkeit. Damit gerät auch die Trennung zwischen der fiktionalen, "bildhaften" Welt des Theaters und der sogenann82 Der Begriff Perfonnativität leitet sich ab vom englischen Verb ,to perfonn' und wird hier bezogen auf das Vollziehen des Spiels, das mitunter die Trennung zwischen Sein und Darstellung aufhebt. Er ist zu unterscheiden vom Begriff der Perfonnanz/Perfonnance, mit dem Richard Schechner den umfassenden Komplex einer Aufführung bezeichnet: "Tbe whole constellation of events, most of them passing unnoticed, that take place in / among both perfonners and audience from the time the first spectator enters the field of the perfonnance - the precinct where the theater takes place - to the time the last spectator leaves." (ders., Perfonnance Tbeory. Revised and expanded edition, New York, London, 1988. 72) 83 Zur Perfonnanz als Hervorbringung vgl. Iser, Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt/M. 1993,486. Iser thematisiert explizit das Verhältnis von Mimesis und Perfonnanz und weist auf die wachsende Bedeutung der Perfonnanz bei sinkender Bedeutung der Referenz hin. Zum gegenläufigen Verhältnis bei der unter Berufung auf Adorno vgl. Iser, Das Fiktive, 498. 84 Vgl. Strindberg, Nach Damaskus. Dazu Karnick, Kap. 9. 85 Luigi Pirandello, Sechs Personen suchen einen Autor. Damit verkehrt Pirandello auch das rituelle Muster der Rollenvergabe.
III. Die Arbeit am Welttheater
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ten Realität ins Wanken. 86 Nur in seiner Negation ist der übergeordnete Zusammenhang der Welt gegenwärtig. 3. Aufs Spiel gesetzt: Sicht der Weit Die besondere Pointe der Welttheatervorstellung liegt darin, daß sie eine doppelte Sichtweise zur Geltung bringt: Als Bühnengeschehen kann die Welt zwar einerseits quasi von außen, gar von oben betrachtet werden. Doch ist sie gleichzeitig Handlungsraum der Zuschauer. Damit ist der Metapher die Spannung von Distanz und Involviertheit inhärent. Der Gewinn von Abstand ist keine implizite Leistung einer Geschichte, sondern wird durch die übergeordnete Perspektive anschaulich. Die Struktur bietet eine Möglichkeit der Reflexion, zumal die Wirklichkeitsaussage nicht festliegt, sondern durchaus in ihrer Fraglichkeit zum Inhalt werden kann. Insofern entwikkelt das Welttheater auch dort Aussagekraft, wo nicht mehr ungebrochen an ein tradiertes Weltverständnis angeknüpft werden kann. Paradigmatisch demonstriert dies die Barockzeit. Sie führt die Metapher zur Blüte an einer Epochenschwelle, die die unproblematische Anknüpfung an mittelalterliche Traditionen ausschließt. 81 Freilich kann das Welttheater auch ausgestaltet werden im Sinne eines Totalentwurfs, der die Antwort schuldig bleibt, dafür aber den Eindruck vermittelt, als hätten sich die Fragen erübrigt. 88 Die Möglichkeit problemorientierter Betrachtung tritt indes nicht erst neuzeitlich in den Blickpunkt, sondern geht bis zu Platon und Hiob89 zurück. Mithin erlaubt das Modell ,,Muße und Unbefangenheit der Weltansicht" und zeugt von der ,,Freisetzung des Weltzuschauers", Voraussetzung aller Theorie. 90 So kann der Mensch einerseits einen distanzierten Blick auf den umgrenzten Bereich der Weltbühne werfen. Entzogenes ist übersetzt in sinnlich erfahrbare Bildlichkeit und Handlung. Die Vorstellung erlaubt sogar, den Himmel mit Gott in der Loge ins Auge zu fassen. Andererseits ist die Zuschauerin selbst Handelnde, die sich freilich wiederum, abstrahierend, als Spielerin auf der Weltbühne beobachten kann. Zu den grundlegenden Spielformen auf der horizontalen Ebene gehören dementsprechend die Wechselverhältnisse zwischen Schauspie86 Zu dieser bedeutsamen Veränderung des fiktionalen Status besonders im absurden Theater siehe Schwanitz, Wirklichkeit der Inszenierung, 295 - 299. Zum Verlust des ,,BildCharakter(s)" bes. 297. 87 Siehe IV. 88 Vgl. Blumenberg, Arbeit, 319. 89 Die Gesamtkonzeption des Buches Hiob lebt geradezu aus der Infragestellung aller Erklärungen, die die Rahmenerzählung und die Reden der Freunde für Hiobs Leiden anbieten; siehe dazu Jürgen Ebach, Streiten mit Gott. Hiob, 2 Bde, Neukirchen-Vluyn 1995 und 1996. 90 Blumenberg, Arbeit, 33.
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A. Einleitung
lern und Publikum, Akteuren und Betrachtenden. 91 Sie werden im Drama insbesondere durch das Überspielen der Bühnenbegrenzung sowie durch das Spiel im Spiel inszeniert - Mittel, die metadramatisch akzentuiert werden können -, aber auch in anderen Gattungen und Diskursen wird explizit mit dem Rollenwechsel gearbeitet. Eine Facette dieses Rollenwechsels liegt in der Analogie von Gott und Dichter, die sich im literarischen Werk anbietet. Das Welttheater als Schöpfung Gottes, die an sich den Einflußbereich der Dichterin übersteigt, verdankt sich nun der Imagination der Dichtung, eine Struktur, die neuzeitliche Autoren und Autorinnen bewußt einsetzen: Die absolute Herrschaftsgewalt Gottes wird durch die kreative Potenz des Dichters in den Rahmen des literarischen Werkes gestellt. Als dichterische Imagination ist die Welt verfügbar. Innerhalb der Arbeit am Welttheater werden Satire, Ironie, Parodie und Groteske wichtige Gestaltungsmittel. Dekonstruiert wird durch sie nicht nur die Allmacht des Schöpfergottes, sondern ebenso die des weltsetzenden Dichters. Sieht Nietzsche in der Geburt der Tragödie zumal im kunstschaffenden Genius geradezu euphorisch "zugleich Subject und Object, zugleich Dichter, Schauspieler und Zuschauer,,92, so wird mittels der Welttheatervorstellung häufig das Verhältnis von Autor, Werk und Welt problematisiert, und poetologische Reflexionen finden Eingang: Die spätzeitlichen Stilphänomene Parodie und Groteske spiegeln dabei auch die Problematik ästhetischer Kreativität und Originalität. Diese werden nun, wiederum mit Nietzsche, zum Teil dezidiert in den Raum der Bearbeitung vorfindlichen Materials verlagert. 93 In der Vorstellung der Welt als Theater ist die Außenperspektive auf das Dasein also ebenso angelegt wie die Verstrickung des Menschen. Der Platz des nach Erkenntnis strebenden Subjekts ist geradezu vorgesehen. Dessen Autonomie kann aber aus der Binnenperspektive des weltbefangenen Menschen heraus wiederum kritisch hinterfragt werden. Auch dies ist eine Spielart der barocken Formel "ludimus et ludimur", christlich-theologisch formuliert der Spannung zwischen Providentia Dei und menschlicher Selbstbestimmung. Die Theoriefähigkeit der Konzeption schlägt sich geschichtsphilosophisch nieder, und das Welttheater kann gleichsam die Verdichtung einer solchen Reflexion darstellen. Schon Platon verwendet, wie gesehen, die Schauspielmetaphorik diskursiv. Walter Benjamin, der die Neuzeit als Trauerspiel versteht, bedenkt die Unmöglichkeit der Metaperspektive und bietet so wiederum eine Kritik der Theorie an. 94 91 In seiner Untersuchung Welttheater als Montage widmet Greiner entsprechend der literarischen Kommunikation, die dieses Motiv ermöglicht, besondere Aufmerksamkeit. 92 Friedrich Nietzsehe, Geburt der Tragödie. Oder: Griechentum und Pessimismus. KGA I1I11, Berlin, New York, 1972.44. 93 Vgl. Friedrich Nietzsehe, Jenseits von Gut und Böse, 223. Stück, KGA VI/2, Berlin, 1968, 163. Siehe B.l1. zu Karl Kraus.
III. Die Arbeit am Welttheater
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Da die Handlung des Welttheaters nur bedingt vorgezeichnet ist, können die narrativen Elemente der Überlieferung in den Hintergrund treten zugunsten eines primär metaphorischen Gebrauchs der Vorstellung, der von Anspielungen lebt. So stellt das variantenreiche Spiel mit dem Bühnenaufbau des theatrum mundi, der in der christlichen Überlieferung wurzelt, eine zentrale Dimension der Arbeit am Welttheater dar. 95 Unterschiedliche Konzepte von Geschichte finden Ausdruck: Zyklizität, Heilsgeschichte und messianische Vorstellungen gehen in der Arbeit am Welttheater spannungsvolle Verbindungen ein. Im Bild der Erdenbühne wird die menschliche Lebenswirklichkeit zudem bewertet: Als Theater ist sie Illusion und evoziert die Frage nach der Wahrheit. Insofern drängt die Metapher Fragen nach der Transzendenz geradezu auf. Wo sie keine Aussagen dazu macht, zeigt sich die Leerstelle im horizontlosen Weltspiel, das auf keine Wahrheit außerhalb dieser Bühne mehr verweist. Wird der Horizont erhalten oder reetabliert, indem beispielsweise ein allmächtiger Gott das Geschehen überblickt, steht auch dieser unter Illusionsverdacht. 96 Auch dort, wo die Theatervorstellung als "metaphor we live by" die Struktur der Wirklichkeit zum Ausdruck bringt und sie als konstruierte ausweist, drängt sie also über diese Realität hinaus. Ein solches Wirklichkeitsverständnis läßt sich als ,,Fiktionsbewußtsein" beschreiben: Realität erscheint dann "nur' (als) die Entfaltung des menschlich Möglichen ... Aber je umfassender dieses Fiktionsbewußtsein wird, desto intensiver wird auch die Sehnsucht nach einem ganz anderen Wirklichen, nach dem abgewandten Außenhorizont des selbstgemachten und -verantworteten Handeins und Erlebens.,,97 Die hohe Popularität der Metapher zu Beginn der Neuzeit sowie im Zusammenhang mit den historischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts ist somit auf drei Faktoren zurückzuführen: Das mittelalterliche theatrum mundi erinnert an die letztgültige Heilszusage Gottes an die Welt. Dadurch kann gerade in Situationen der Bedrängnis Welt- und Lebenswirklichkeit in eine anschauliche und als heilsam empfundene Vorstellung gekleidet werden. Die Welt läßt sich auf eine einsichtige oder auch entzogene Ordnung, die mitunter sinnfällig inszeniert wird, zurückführen. Angesichts dieser Ein94 Auch Blumenberg leugnet diese Perspektive und reflektiert über den Verlust der Zuschauerposition; vgl. ders., Schiffbruch mit Zuschauer, V. 9S Damit liegt aber noch keine Welttheaterkonzeption vor, wenn Götter ins Weltgeschehen eingreifen, denn dies bedeutet nicht zwangsläufig ein Verständnis der Welt als Theater. Anders allerdings Eckhard Lefevre: Theatrum mundi: Götter, Gott und Spielleiter im antiken Drama. In: Theatrum mundi. Götter, Gott und Spielleiter im Drama von der Antike bis zur Gegenwart/F. Link; G. Niggl (Hg.), Wiesbaden, 1983.49-92. 96 Vgl. dazu Theobald:"Die dramatische Logik des Welttheaters erklärt die Suprematie des Schöpfers zum ästhetischen Schein innerhalb des Spiels." (50) Der liturgische Charakter der mittelalterlichen Spiele läßt allerdings eine Bewertung des Geschehens als scheinhaft nicht zu. '17 A. Assmann, Fiktion als Differenz, 258.
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A. Einleitung
bettung erfährt das Individuum eine Entlastung. Die mitunter qualvolle Existenz des einzelnen wird transzendiert. Im Hintergrund der Anknüpfung an das Mittelalter steht dabei die oft massive Infrage-Stellung des eben nicht mehr selbstverständlichen Weltverständnisses, dessen Verlust durchaus akzentuiert werden kann. Die Theoriefähigkeit der Konzeption erlaubt darüber hinaus die ausdrückliche Kritik des überlieferten Wirklichkeitsbildes. Die bedeutsame Stellung der Spielenden kommt dabei einer Orientierung am erkennenden und handelnden Subjekt entgegen. Der Mensch wird drittens als tragisch ins Weltspiel verstrickt in den Blick genommen. Macht und Ohnmacht kennzeichnen seine Rolle in der Geschichte. Die produktive Rezeption der Welttheatervorstellung bedingt nun stets eine Mehrschichtigkeit: Explizit Benanntes überlagert solche Elemente, die nicht eigens formuliert werden. Schon durch die leise Anspielung auf das anschauliche theatrum mundi kann beispielsweise ein heilsgeschichtlicher Horizont eröffnet werden. Voraussetzung dafür ist freilich die Traditionsvertrautheit der Rezipierenden. Da das Welttheater letztlich ein Wirklichkeitsverständnis mit umfassendem Anspruch bietet, ist der Rezeptionsprozeß in Neuzeit und Modeme für das jeweilige Epochenverständnis aufschlußreich. Die Variationen machen die Veränderungen im Geschichtsbild sichtbar. Gleichzeitig tritt hervor, welche Elemente der Überlieferung den jeweiligen harten Kern ausmachen. Insofern bergen die Texte Erkenntnismöglichkeiten für die innere Dynamik von Neuzeit und Modeme und lassen unterschiedliche Anschauungen, mithin eine Vielfalt von Weltentwürfen oder impliziten ,Theorien der Modeme' aufscheinen. Bis in die Modeme hinein lassen sich variationsreiche Weisen der Arbeit am Welttheater unterscheiden. Im Umfeld der Weltkriege findet sich dabei sowohl die Anknüpfung an die quasi mythische Form wie auch das rastlose Nachfragen, und zwar in Literatur und Geschichtsphilosophie. Letzteres kann dabei, in einen Totalentwurf verkehrt, zum Letztmythos geraten. Das Aufgreifen des Welttheatermotivs zu Beginn des 20. Jahrhunderts stellt eine Form der damals verbreiteten Anknüpfung an das Barock dar. Die historische Situation scheint vergleichbar, und auch hier zeigt der Einfluß Nietzsches Wirkung. Er betrachtet den Barockstil als ein spätzeitliches Phänomen und situiert ihn jenseits des Höhepunktes einer künstlerischen Entwicklung: ,,Der Barockstil entsteht jedesmal beim Abblühen jeder grossen Kunst, wenn die Anforderungen in der Kunst des c1assischen Ausdrucks allzugross geworden sind, als ein NaturEreignis, dem man wohl mit Schwermuth - weil es der Nacht voranläuft - zusehen wird, aber zugleich mit Bewunderung für die ihm eigenthümlichen Ersatzkünste des Ausdrucks und der Erzählung ...98 98 Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, 2. Band, Vermischte Meinungen und Spruche, 144, KGA IV 13, Berlin, 1967,74. Vgl. Knut Kiesant, Die Wiederentdekkung der Barockliteratur. Leistungen und Grenzen der Barockbegeisterung der zwanziger
IV. Die frühe Neuzeit: Die Welt ist ein Theater
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Vor einer Betrachtung der modemen Verwendungsweisen des Topos soll gezeigt werden, wie die frühe Neuzeit die Vielschichtigkeit des ,theatrum mundi' zu nutzen wußte.
IV. Die frühe Neuzeit: Die Welt ist ein Theater Besondere Bedeutung gewinnen die Schauspielmetaphorik und ihre Ausweitung zur Vorstellung der Welt als Theater, einer These "europäische(r) Gültigkeit,,99, in der Renaissance und im Barock, mithin am Beginn der Neuzeit wie des modemen Dramas. 100 Den Einschnitt markiert "eine Verzeitlichung der Geschichte, an deren Ende jene eigentümliche Art der Beschleunigung steht, die unsere Modeme kennzeichnet.,,101 Der Humanismus thematisiert in neuer Weise die Wirkungsmöglichkeiten des Individuums. Das Geschehen auf der Erdenbühne wird als gestaltbar erfahren. Die ,,Depotenzierung mittelalterlicher Eschatologie,,102 ermöglicht allererst die Entstehung eines historischen Bewußtseins, das "zugleich Reflexion auf die Kontingenz der Welt ist". 103 Angesichts der Spannung zwischen Welt und Transzendenz, zwischen ,,Jenseitshoffnung und Diesseitsbejahung" 104, wird die Metapher zur Deutung der Geschichte herangezogen. Die große Bedeutung von Theatralität - ,Dasein heißt eine Rolle spielendos - wird nicht zuletzt in der Entwicklung des Theaters manifest: Feste Theaterbauten lösen den Spielort Kirche ab. 106 Die Lösung vom sakralen Raum zeigt sich auch in der Ablösung des Moralitätenspiels durch das Trauerspiel. Während die Tragödien Shakespeares sich betont mit dem weltlichen Geschehen auseinandersetzen, schließt Calderon mit seinen Fronleichnamsspielen bewußt an das Mittelalter an. Beide Autoren haben sich der Schauspielmetaphorik und des Jahre. In: Literaturwissenschaft und Geisteswissenschaft 1910 bis 1925/Christoph König, Eberhard Lämmert (Hg.). Frankfurt/M., 1993.77 -91. 79. 99 Barner, 87. 100 Vgl. Peter Szondi, Theorie des modernen Dramas, 1880-1950, Frankfurt/M., 1963, 14. 101 Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt/M., 1979. 19. 102 Michael Makropoulos, Modernität als ontologischer Ausnahmezustand? WaIter Benjamins Theorie der Moderne, München, 1989. 32. 103 Makropoulos, 32. 104 Barner, 86. 105 Vgl. die bereits genannte gleichnamige Publikation von Heinz-Otto Burger. 106 Den ersten Theaterbau Englands, The Theatre, läßt James Burbage 1576 in einem Vorort Londons errichten. In rascher Folge entstehen The Curtain (1577), The Rose (1587), The Swan (1595) und The Globe (1599), vgl. WaIter F. Schirmer, Geschichte der englischen und amerikanischen Literatur, Studienausgabe, 1,2, 280. In Deutschland setzt die Entwicklung am Beginn des 17. Jahrhunderts ein, vgl. Herbert A. Frenzel, Geschichte des Theaters. Daten und Dokumente 1470-1840, Köln, 1979, 145.
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A. Einleitung
Welttheatermotivs extensiv und in paradigmatischer Weise bedient und nachhaltige Wirkung auf die deutsche Literatur ausgeübt. Anhand ihrer Werke lassen sich die beiden Hauptlinien der Vorstellung in der frühen Neuzeit nachzeichnen: 107 Die Betonung der Transzendenz (Calderon) erhebt die Betrachtung des Spiels durch Gott zur entscheidenden Dimension. Die eigentliche Bedeutung des Weltspiels liegt jenseits der Historie. Die Betonung der Immanenz (Shakespeare) legt den Schwerpunkt auf den Spielort. Seine Undurchsichtigkeit findet Ausdruck, wird aber nicht notwendig überführt in eine transzendente Ordnung. Die beiden Linien müssen sich indes auch im Barock nicht ausschließen: "Oft genügt eine leichte Akzentverschiebung, um hinter der ,anthropologischen' Deutung die ,theonome' aufscheinen zu lassen, und vice versa.,,108 Der Mensch wird sowohl in Hinblick auf seine irdische Lebenswirklichkeit wie auch in Hinblick auf die Gottesgeschichte in den Blick genommen. Die augenfällige Gestaltung des innerweltlichen Chronos kann somit wirksam ins Verhältnis gesetzt werden zum Kairos. Damit ist auch das Verhältnis von Schein und Wahrheit thematisiert.
1. Die Schauspielmetaphorik bei William Shakespeare Die primär anthropologisch orientierte Linie des Welttheaters, die sich bis zu Platon und in die stoische Tradition zurückverfolgen läßt lO9 , findet in der Renaissance ihren herausragenden Vertreter in William Shakespeare. 110 "Totus mundus agit histrionern" lautet die Inschrift über dem Portal des Londoner Globe Theatre lll , eine Auffassung, die sich im dramatischen Schaffen Shakespeares auf unterschiedliche Weise niederschlägt. Der Mensch tritt zum einen als
107 So stellt Barner der theozentrischen Auffassung, die Ernst Robert Curtius als dominante Ausprägung des WeIttheaters darstellt, die ..anthropologische' oder auch ,immanent-deskriptive' Auffassung der Theatermetapher" als einen selbständigen Strang der Tradition gegenüber (Barner, 91 f., anders Theobald, 50). 108 Barner, 93. 109 Ihr geht es nicht so sehr um die göttliche Bestimmung als vielmehr um den .. Dualismus von Weltbestimmung und Selbstbestimmung" (Barner, 94). Sie demonstriert die Synthese von Christentum und Stoizismus in Renaissance und Humanismus (Barner, 98). 110 Einen Überblick über die wesentliche Literatur gibt Joan Lord Hall, The Dynamics of Role-Playing in Jacobean Tragedy. Handmills, Basingstoke, London, 1991. 198, Anm. 2. Hall folge ich hier weitgehend. Anne Righter, Shakespeare and the idea of the play. London, 1964, 19, begründet die extensive Nutzung der Schauspiel metaphorik mit dem neuen WeltverhäItnis des Menschen in der Renaissance im Gegensatz zum Mittelalter: ,,No idea could have been more foreign to mediaeval dramatists than the Renaissance conception of the essentially self-contained play." 111 Vgl. Hall, 198, Anm. I. Sie weist auf die mögliche Quelle bei Montaigne hin.
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Spielender in den Blick. Er nimmt unterschiedliche Rollen wahr, verkleidet sich selbst, entlarvt andere Kostümträger. Grenzen und Möglichkeiten des spielgestaltenden Individuums werden so thematisiert. Daneben wird über die Gestalt der Welt als Theater reflektiert: ,,Die Selbstverständlichkeit der konventionellen Trennung zwischen Theater und Welt, so unumstößlich sie zu gegebenem Zeitpunkt auch scheinen mochte, war demnach alles andere als stillschweigend; sie wurde, ganz im Gegenteil, ständig besprochen. ,,112 Dies geschieht häufig mit Aussagen, die gleichsam auf einer Metaebene anzusiedeln sind - "curiously non-dramatic.. 1l3 - und nicht strukturell eingebunden werden. In besonderer Weise augenfällig wird die Schauspielmetaphorik durch das Spiel im Spiel 1l4, das die Unterscheidung zwischen Dlusion und WIrklichkeit vollends fragwürdig macht. Es steht einerseits im Zusammenhang mit der Rahmenhandlung, läßt aber andererseits das Verhältnis zwischen Schauspielern und Zuschauern durchlässig werden. Als Betrachter des Spiels im Spiel gehören sie gleichermaßen zum Publikum. Der Gedanke liegt nahe, daß umgekehrt auch die Zuschauer zu Schauspielern werden können.
a) Der Mensch als persona Mit der Inszenierung des Lebens als Rollenspiel knüpft Shakespeare an die spezifische Situation des Menschen im Elisabethanischen und lakobäischen Zeitalter an. In der streng stratifizierten Gesellschaft wird die eigene Identität durch die Wahrnehmung der festgelegten sozialen Rollen unter anderem durch Kostüm und kodifiziertes Verhalten bestätigt. Zunehmend gerät die hierarchische Ordnung in Bewegung, wird die Position des einzelnen unsicher, die Frage nach der Identitätssicherung dringlicher. Die Rezeption der Essaies Montaignes, die auch für Shakespeare von großer Bedeutung ist, hebt das Zusammenspiel von Introspektion einerseits und sozialem Zusammenhang des Menschen andererseits für die Identitätsbildung ins Bewußtsein. l1!I Die Problematisierung des Subjekts führt dazu, daß Charaktere seltener allegorisch, häufig individuell gezeichnet sind oder gerade aus dem "provocative interplay" beider Komponenten leben. 116 Mit der zunehmenden Ausprägung individueller Züge gerät der Mensch als Gestaltender in den Blick. Hamlet, Protagonist der .. theaterbewußteste(n) Tragödie 112 Stephen Greenblatt, Die Zirkulation sozialer Energie. In: Geschichte schreiben in der Postmoderne. Beiträge zur aktuellen Diskussion/ehr. Konrad, M. Kessel (Hg.), Stuttgart, 1994.219-250.240. 113 Righter, 168. 114 Hamlet. A Midsummernight's Dream und King Lear sind hier beispielhaft. IU V gl. Hall, 8 - 10. 116 V gl. Hall, 4.
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Shakespeares,,117, steht beispielhaft für einen in hohem Maße individualisierten und reflektierenden CharakterYs Die Art, wie er seine Lebenswirklichkeit gestaltet, steht in engem Zusammenhang mit dem Rollenspiel, über das er sich selbst zu seiner Umgebung in Beziehung setzt. Im bewußten Einnehmen unterschiedlicher Rollen, vor allem der "antic disposition"ll9, erreicht er eine Selbstdistanzierung und ,,ironic self-awareness,,120, ohne sich jedoch gleichzeitig völlig aus dem Spielzusammenhang zu lösen. Im Gegenteil, die "antic disposition", mit der er seine Umgebung irritiert, wird zur spieltreibenden Kraft: Von Anfang an als Inszenierung Hamlets ausgewiesen, macht sie Claudius auf die Gefahren aufmerksam, die von seinem widerspenstigen Stiefsohn ausgehen. Dieser setzt das Rollenspiel vor allem deshalb ein, weil er den trügerischen Schein der vermeintlich rechtschaffenen Herrschaft von Claudius und Gertrud als Ergebnis eines tötlichen Komplottes gegen Hamlets Vater entlarven will. Die Illusion des Spiels soll die Wahrheit offenbaren. 121 Ihren Höhepunkt findet diese Strategie in der sogenannten "mousetrap-scene": Im "Spiel im Spiel" wird die wahre Geschichte des Mordes an Hamlets Vater und der Machtergreifung Claudius' in Szene gesetzt: "The play's the thing/Wherein 1'11 catch the conscience of the King.,,122 Das Rollenspiel steht folglich im Dienst der Wahrheit. Die Macht der TIlusion besteht gerade darin, Lüge als solche zu erweisen: Die Wirklichkeit am Hof Claudius' ist auf Unwahrheit gegründet, sein Spiel ist Heuchelei im Dienst des Betruges. Der Schein des von Hamlet inszenierten Spiels kann genau dies demonstrieren. In Hinblick auf das Ideal der Wahrheit erweist sich die Unterscheidung von Realität im Sinne der Welt außerhalb des Theaters und Bühnengeschehens als hinfällig. Damit schreibt Shakespeare der Bühnenkunst - im Unterschied zu späteren Werken 123 - erhebliche Möglichkeiten zu. Bedeutet die Rollenvorstellung einerseits die Demontage der Vorstellung eines originalen Selbst l24 , so ist gerade die "mousetrap-scene" für die Selbstvergewisserung Hamlets entscheidend. Ein Normenkonflikt hat ihn in das Rollenspiel getrieben: Der Racheauftrag, der zu Beginn des Stücks an ihn ergeht, führt zu einer Zer117 Holger Klein, Nachwort. In: William Shakespeare. Hamlet. Prinz von Dänemark. Übers. v. A. W. SchlegellD. Klose (Hg.). Stuttgart. 1993. 125-157. 143. 118 Hall hebt ihn zusammen mit Cleopatra als besonders treffendes Beispiel hervor. 6. 119 Hamlet 1.5.179. Schlegel übersetzt: .,ein wunderliches Wesen". 120 Hall. 6. 121 Vgl. Wolfgang Iser. Das Spiel im Spiel. Formen dramatischer IIlusion bei Shakespeare. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 198 (1962), 209 - 226. 219-224. 122 11.2.593 f. Die Zitate Shakespeares sind den Ausgaben der Reihe The Oxford Shakespeare, herausgegeben von Stanley Wells. entnommen. 123 Der spätere Shakespeare denkt weit weniger positiv über die Macht der IIlusion, vgl. Righter. 174. In King Lear wird jede Form von Verkleidung abgelehnt. Righter verzeichnet im Spätwerk sogar eine .,tendency to insult the theatre", 183. 124 Vgl. Hall, 22.
IV. Die frühe Neuzeit: Die Welt ist ein Theater
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reißprobe 125 , die allerdings durch die Inszenierung im Spiellebbar wird: Die Rolle wirkt der Fragmentarisierung entgegen. Die Beobachterposition außerhalb des Spiels kann, wie Montaigne zeigt, erneut eine Einheit stiften. 126 Der Regie führende Hamlet verfügt über erhebliche gestalterische Möglichkeiten 127 , die indes in signifikanter Weise begrenzt werden: Sein Wille ist nicht frei, sondern von Melancholie beherrscht. 128 Daneben spielt der eschatologische Horizont in Hamlets Reflexionen eine bedeutende Rolle. 129 Dem spielmächtigen Individuum werden göttliche Grenzen gesetzt. 130 b) Theatrum mundi In ,,As you like it" erkennt der verbannte Duke sein eigenes Leiden als ein Stück in der Reihe der Tragödien der Welt: ..... we are not all alone unhappy./This wide and universal theatre/Presents more woeful pageants than the scene/Wherein we play in." (11,7,136-139)
Diese relativierende und darin wohl auch tröstliche Erkenntnis wird von Jaques aufgenommen. Zugespitzt formuliert er: ,,All the world's a stage, I And all the men and women merely players.lThey have their exits and their entrances,l And one man in his time plays many parts, I His acts being seyen ages." (11,7,139-143)
Die Welt in ihrer Gesamtheit bildet die Bühne, auf der sich synchron die Szenen der Menschheit abspielen. Jede einzelne Menschengeschichte stellt ein einzelnes Stück im universalen Welttheater dar: Die sieben Lebensalter werden als Akte des Dramas aufgefaßt. In Calderons Drama stellt die "Welt" eine Beziehung zwischen heilsgeschichtlichen Weltenaltem und Dramenstruktur her. Bei Shakespeare zeigt sich nun gerade die Konzentration auf das Individuum. Die diachrone Betrach125 Aufschlußreich in diesem Zusammenhang ist der erste Monolog Hamlets, in dem er Selbstmord zwar ausschließt, doch zeigt, daß er ihn zumindest erwogen hat. Der Druck, den die Situation auf ihn ausübt, wird sehr deutlich. 1,2,129-158. Gegen die Mutter, die er als Ehebrecherin sieht, darf er auf Befehl des Geistes nicht vorgehen (vgl. 1,5,85 - 88). Die Rache am König ist problematisch genug. 126 Vgl. Jean Starobinski, Montaigne et la denonciation du mensonge. In: Identität (poetik und Hermeneutik VIII), München, 1979.463 -480. 465. 121 Somit ist er nicht allein Opfer seines Zögems, dem großen Problem der Hamlet-Interpretation. 128 Hier knüpft Shakespeare an Vorstellungen Montaignes an; vgl. Starobinski, 474. Harnlet beschreibt sich selbst als Melancholiker, vgl. 1,2,590. 129 "There's a divinity that shapes our ends" (V,2,10). 130 Auch die Inkarnation des Bösen, Richard I1I, scheitert letztlich an ,.fate" , vgl. Righter, 97.
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A. Einleitung
tungsweise des menschlichen Lebens wird allerdings aufgehoben in die Vorstellung einer Art Lebensspirale, entspricht doch das letzte Lebensalter einer "second childishness".131 Für sich genommen kennt das Lebensspiel keine Entwicklung, ein Kreis, der sich schließt und zunächst nicht über sich hinausweist. Die Stadien des Seins sind festgelegt, die Rolle steht: ,,I hold the world but as the world, ... / A stage where every man must playapart, / And mine a sad one.,,132
Antonio reagiert mit dieser Aussage im Merchant ofVenice auf die freundschaftlich-sorgenvolle Beobachtung Gratianos: "You have too much respect upon the world:/They lose it that do buy it with much care." (1,1,74-75). Wie der Duke verortet Antonio sein Leben innerhalb des größeren Zusammenhangs des Weltspiels und relativiert bewußt die Bedeutung seines eigenen Schicksals. Beide Belege der Welttheater-Metapher weisen in ihrem Abstraktionsgehalt über den Dramentext hinaus. 133 Die hier artikulierte Überzeugung, daß die Gestalt des menschlichen Lebens immer schon festliegt, die Welt jedem einzelnen - dem elisabethanischen Weltbild gemäß - einen Platz zuweist, kann auch als Grundlage des Handelns der anderen Charaktere Shakespeares verstanden werden. Gestaltungsmöglichkeiten kommen erst innerhalb eines Universalplanes zum Tragen: Die himmlische Spielleitungsposition muß allerdings nicht explizit besetzt werden, um die göttliche Lenkung als Horizont gewärtig zu halten. Thre Macht wird verdeutlicht in den Reflexionen des unter erheblichen Spannungen leidenden Hamlet, in der Präsenz des Supranaturalen oder durch bedrohliche Naturerscheinungen. 134 Die Beziehung zwischen Weltordnung und göttlicher Regierung bleibt ein entscheidender Motivationsfaktor der Akteure: Das Ideal besteht in einem Analogieverhältnis beider Ordnungen. Dessen Wiederherstellung ist ein wesentliches Ziel Hamlets. Der weltliche Herrscher steht an der Spitze der Staatsordnung und bekleidet die Gott analoge Position. Nicht zuletzt deshalb kann dieser dem Spiel fern sein, ohne aus dem Zusammenhang entlassen zu sein. Innerhalb des universalen, theologischen und hierarchischen Weltbildes der Elisabethanischen Zeit l3S ermöglicht es die Weluheatermetapher, den Menschen als 131 11,7,165. Gegen eine bloße Wiederholung der Kindheit spricht deren Kennzeichnung als eine zweite. 132 Antonio, The Merchant of Venice 1,1,77 -79. 133 Insbesondere Jaques berühmte Replik wird strukturell auch nicht eingebunden, steht isoliert, aber in betonter Stellung am Szenenende. Zu As you like it in diesem Zusammenhang vgl. Kent van den Berg, Playhouse and Cosmos. Shakespearean Theater as Metaphor, Newark, London, Toronto, 1984. Kap. 3,86- 101. 134 Als Beispiele seien der Geist in Hamlet. die Hexen und die permanente Dunkelheit in Macbeth, der Sturm in King Lear genannt. Gerade die Naturerscheinungen auBerhalb der Ordnung weisen auf Störungen des göttlichen Schöpfungsgefüges hin. m Vgl. Ulrich Suerbaum, Das Elisabethanische Zeitalter. Mit 55 Abbildungen. Stuttgart, 1991. 478: Das Weltbild ist ..universalistisch: Das Weltganze wird als frame 0/ order,
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in ein vielfältiges Bezugssystem eingebunden zu fassen: Die gesellschaftliche und politische Ordnung wird dabei in den Zusammenhang der göttlichen oder kosmischen gestellt. Gerade durch die Verbindung dieser Vorstellung mit der stärker ausgearbeiteten Auffassung des Menschen als Rollenträger wird die statische Ordnung dynamisiert, nicht zuletzt ein Ausdruck gesellschaftlichen Wandels, der bisherige Vorstellungen problematisiert: Mit der Überzeugung, wonach dem Menschen eine Rolle zugewiesen ist, tritt die Erkenntnis in den Blick, daß das Subjekt gefährdet ist, der Identitätssicherung bedarf. Die Zwangsläufigkeit, mit der der Mensch in das Schauspiel gedrängt wird, erfährt insbesondere beim Shakespeare des Hamlet eine positive Deutung, ermöglicht sie doch die Gestaltung des eigenen Lebens, wenn auch im Rahmen einer mehr oder weniger festgefügten Ordnung. Die explizite Berufung auf dieses Gefüge wird als um Stabilisierung bemühte Rückversicherung lesbar: Sie entlastet den Menschen einerseits, indem sie ihn zum Objekt des Spiels macht, ruft ihn aber andererseits in die Verantwortung durch die Einbettung des Weltordnungsgedankens in das universal-theologische Weltbild. Dessen Statik wird durch die inhärenten Konzepte von Sündenfall und Erlösung, Zerfall, Störung und Wiederherstellung dynamisiert. 136 Vor dem eschatologischen Horizont tritt der Mensch als derjenige in den Blick, der sein Heil zumindest nicht verspielen darf. Wo die Bühne zum Ort blutigen Terrors wird, schicken die Himmel unheilkündende Dunkelheit: "the heavens, as troubled with man's act,!Threatens bis bloody stage. By th' c10ck 'tis day,! And yet dark night strangles the travelling lamp;,,137
Bei aller Ausdifferenzierung der immanenten Ebene kann doch nicht von einem losgelösten Erdenspiel die Rede sein. Wenn daher Jakob Michael Reinhold Lenz seine Hochschätzung der Charaktere Shakespeares dem Sturm und Drang gemäß enthusiastisch begründet, so gilt es, seine Interpretation zu modifizieren: "es ist die Rede von Charakteren, die sich ihre Begebenheiten erschaffen, die selbständig und unveränderlich die ganze große Maschine selbst drehen, ohne die Gottheiten in den Wolken anders nötig zu haben, als ... zu Zuschauern, nicht von Bildern, von Marionettenpuppen - von Menschen. Ha, aber freilich dazu gehört Gesichtspunkt, Blick der Gottheit in die Welt" 138
als Bauwerk der Ordnung, aufgefaßt. Daß diese Ordnung allumfassend ist, gehört zu den ersten Axiomen ( ... ) Die Einheit des Universums stammt aus Gott ( ... ) Als Gott die Welt aus dem Chaos erschuf, hat er alle Kreaturen, vom einfachsten Mineral bis zum höchsten Erzengel, nach dem Prinzip des degree, der Rangstufung, so gestaltet, daß jedes Wesen seinen eigenen, unverwechselbaren, durch Über- und Unterordnung definierten Platz hat." 136 Vgl. Suerbaum, 519. 137 Macbeth 11,4,4 - 6. 138 Jakob Michael Reinhold Lenz, Anmerkungen übers Theater nebst angehängtem übersetztem Stück Shakespeares (Auszug). In: Sturm und Drang. Kritische Schriften, Heidelberg,
1960/61,729.
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A. Einleitung
Zu Puppen werden die Menschen bei Shakespeare freilich nicht, und gerade die ausgeprägte Zeichnung der Personen, die differenzierte Motivierung ihres Handelns, die sich beispielhaft in der Zerrissenheit Hamlets zeigt, erlaubt es, von einer primär an der Immanenz orientierten Verwendung der Schauspielmetaphorik zu sprechen. Indem Lenz den göttlichen Blick auf die Weltbühne auch Shakespeare zuschreibt, setzt er ein weiteres Analogieverhältnis: Der Dichter kann an die Stelle Gottes treten. Calderons Fronleichnamsspiel ,,EI gran teatro deI mundo" macht von der umgekehrten Vorstellung Gebrauch: Er als Dichter läßt den göttlichen Meister als "autor" des Weltspiels, "Schöpfer und Dichter in eins nehmend"l39, auftreten.
2. Pedro CalderoD de la Barcas Fronleichnamsspiel EI gran teatro dei mundo Das allegorische Fronleichnamsspiel Das große Welttheater steht musterhaft rur die theozentrische Ausprägung der Welttheatervorstellung: ,,Das nicht mehr ganz Selbstverständliche sollte zu überwältigender Anschauung gebracht werden."I40 In Form und Weltauffassung an das Mittelalter anknüpfend,141 nimmt Calderon die in die dramatische Struktur überfUhrte Vorstellung auf. Über Bühnenaufbau und Rollenbesetzung ist dem theatrum mundi augenfallige Gestalt verliehen. Calderon schafft ein "berauschendes Fest der Sinne,,142: Von der Oberbühne aus, auf einem von Glorien umgebenen Thron sitzend, weist der ,,Meister" die "Welt" an, die Rollen zu verteilen. Das Lebensspiel unter seinen Augen wird durch die Eckpunkte Geburt, dem Bühneneingang, und Tod, dem Abgang, begrenzt. Auf die Frage nach dem Leiter und Autor gibt Calderon die "wohl klarste Antwort".143 Er bringt den die Epoche prägenden Gedanken ,,Dasein heißt eine Rolle spielen" in expliziten Zusammenhang mit der göttlichen Regie. Dennoch vollzieht sich das Weltspiel in relativer Autonomie. Calderons Werk ist ,Theologisches Drama'. Als solches verläßt es "den sakralen Raum des Mysterienspiels, aber es macht die Welt zum unausweichlichen Ort der heilsgeschichtlichen und menschlichen Entscheidung. Es versucht also, Dichtung und Theologie, die sich schon auseinanderentwickelt haben, ... wieder miteinander zu verbinden."I44
139 Peter Michelsen, Das ,Große Welttheater' bei Calderon und HofmannsthaI, in: Pedro Calderon de la Barca I Th. Berchem, S. Sudhof (Hg.), Berlin, 1983,29-47.32. 140 Michelsen, 33. Zu Calderons Fronleichnamsspielen vgl. Alexander Parker, The Allegorical Drama of Calder6n. An Introduction to the Autos Sacramentales. Oxford, 1968. 141 Vgl. Barner, 97. 142 Michelsen, 33. 143 Barner,91.
IV. Die frühe Neuzeit: Die Welt ist ein Theater
39
Zwar kennen die Menschen den Willen Gottes, werden durch die Stimme des Gesetzes - das Gesetz der Gnade - auch immer wieder an ihn erinnert, handeln aber durchaus nach eigenen Vorstellungen und sind frei, das göttliche Ziel zu verfehlen. Der ,,Meister" hält sich zurück: ,,Manchen Fehl könnt' ich verbessem,lDer sich meinem Blick hier beut,lDoch dazu gab ich dem Menschen / Starken Willen und das Reich / Über seine Leidenschaften, / Auf daß jeder tüchtig sei,/Durch sein Tun sich selbst zu adeln; fUnd so laß ich alle frei/Heute ihre Rollen spielen."145
Nicht als Marionetten an göttlichen Fäden agieren die Menschen, doch wissen sie um den göttlichen Spielplan: "Tue recht - Gott überall" bleibt als gültige Nonn ihres Handeins das Lebensspiel hindurch präsent und wird gleichsam experimentell "an beispielhaften Fällen aus dem Leben" bestätigt.l46 Die Stimmen von ,,Meister", "Welt" und "Gesetz" und die Kopräsenz von Erdenbühne und Himmel stellen das Sein des Menschen in ständige Beziehung zur alles bedingenden letztgültigen Instanz, und die irdische Wirklichkeit wird als scheinbare deutlich. In ihrer illusionären Gestalt kann sie paradigmatisch beschrieben werden. So bildet den spezifischen Rahmen der Verhaltensmaßregel die jeweilige Rolle, die den Menschen keine Individualität zuschreibt, sondern einen festgefügten Ort in einer hierarchisch gegliederten Gesellschaft: Der König, der Weise, die Schönheit, der Reiche, der Landmann, der Bettler, ein Kind, eine Stimme. Diese Typenreihe allegorischer Personen l47 , die zum einen ein Abbild der gesellschaftlichen Struktur darstellen,148 aber auch Wesenszüge verkörpern - Weisheit und Schönheit - , sind allerdings geeint darin, daß. das Maß, an dem ihr Tun gemessen wird, gleich ist. Auf die Auflehnung des Bettlers: "Weshalb ward der Annut Pflicht/Mir zuteil in der Komödie/Diese nur für mich Tragödie/Und für alle andern nicht?" (15), erklärt der Meister: "wenn einst der Vorhang fällt,/Werden beide gleichgestellt", und ennutigt beschwichtigend: ,,Jede Rolle kann dich heben,/Denn das ganze Menschenleben lIst ja nur ein Schauspiel hier" (16). 144 Clemens Heselhaus, Calder6n und HofmannsthaI. Sinn und Form des theologischen Dramas. In: Calder6n de la Barca/Hans Flasche (Hg.), Darmstadt, 1971 (Wege der Forschung CLVIII), 257 - 290. 260. 145 Pedro Calderon de la Barca: Das große Welttheater in der Nachdichtung von Joseph von Eichendorff, Stuttgart, 1989. 31. Ich zitiere im folgenden nach dieser Ausgabe, die Grundlage für Hofmannsthals Stück ist, vgl. B.3. Die Übersetzung Eichendorffs ist allerdings romantisch geprägt. Verwiesen sei daher auf die stärker am Original orientierte Übersetzung von Gerhard Poppenberg: Pedro Calderon de la Barca, EI gran teatro dei mundo. Das große Welttheater. Spanisch/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Gerhard Poppenberg, Stuttgart, 1988. 146 Heselhaus, 267. 147 Vgl. Benjamin, 1/1,367. 148 Zur soziologischen Auswertung vgl. Parker, 113. Ihm gilt das Stück primär als .. sociological' auto" (ebd.).
40
A. Einleitung
Jedes Leben ist ein eigenes Stück, das sich mit den anderen zum großen Welttheater zusammenfügt, vom Schöpfer und "autor" Gott selbst initiiert, um sich ein Fest des Lobes seiner Herrlichkeit (6) zu bereiten. Die innere Struktur weist auf die Taten Gottes in der Geschichte: Die "Welt" setzt die drei Akte des Stückes, die allerdings nicht als Akteinteilung des Fronleichnamsspiels manifest werden, zu den drei Weltenaltem, expliziert als Paradies und Sintflut, Gesetz am Sinai und Gesetz des Bundes (10), in Beziehung. Die letzte Grenze bildet ein apokalyptisches Endgericht, das aber jenseits der drei Akte, mithin jenseits der Darstellung wie des Darstellbaren bleibt (10). Diese Entsprechungsstruktur weist aber nicht auf einen geschichtlichen Fortschritt hin. Vielmehr haftet jedem Lebensspiel die Nichtigkeit des immer wieder Gleichen an: "wann verwehen/Nicht rasch des Lebens Spiele, kann erklingen,! Wo alles nur ein Kommen ist und Gehen,!Das keinen überrascht, der's recht durchdrungen?" (Welt, 40/41). Das eigentlich Bedeutsame spielt sich erst nach dem Abtreten von der Erdenbühne, vor dem Gericht Gottes ab: Vom bedrohlichen Aspekt der Apokalypse, dem "grimmen Feuermeere" (10), ist nicht mehr die Rede. Vielmehr wird das Gnadenhandeln Gottes betont. Calderons Welttheater endet versöhnlich mit einer Eucharistiefeier auf der Himmelsbühne. In diesem Raum wird der Mensch gänzlich in seiner Eigentlichkeit sichtbar. Hierin erweist sich das Fronleichnamsspiel als typische Allegorie: Die "allegorisch-liturgische Verweisung auf die Heilsgeschichte" erreicht ihren Höhepunkt. 149 Das Fronleichnamsspiel, das die vorfindliche Wirklichkeit auf ihre sinnhafte, darin nicht illusionäre Dimension hin zu fassen sucht, überführt diese entscheidende, gültige Dimension in letzter Konsequenz ins AugenfaIlige. Durch das ,tantum ergo' am Ende werden die Betrachtenden einbezogen. Liturgisch partizipieren sie am Reich der Wahrheit. Die romantische und modeme Rezeption der geistlichen Spiele Calderons hat nun stets deren schöpferisch-ästhetische wie theologische Dimension betont. So kommt noch Heselhaus zu dem Schluß, Calderon habe mit EI gran teatro del munda durch die dichterische Gestaltung, die "Gott selbst zum Autor macht und den heilsgeschichtlichen Ernst zum Ernst der Kunst in Beziehung setzt" über das mittelalterliche geistliche Spiel hinausgeführt. ISO Demgegenüber betont die heutige Forschung auf der Grundlage neuerer Erkenntnisse zur Inszenierungspraxis der spanischen Fronleichnamsspiele, wie sehr die Dimension des - oft kaum zu verstehenden - Textes hinter die Realität der Aufführung zurücktritt. ISI Auf ein ,,rationales Verstehen" des heilsgeschichtlichen Gehalts wird verzichtet, Gerhard Kurz, Metapher, Allegorie, Symbol, 3. Aufl., Göttingen, 1993.52. V gl. Heselhaus, 266. 151 Vgl. Manfred TIetz, Pedro Calderon de la Barca. EI gran teatro dei mundo. In: Das spanische Theater. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart/V. Roloff, H. Wentzlaff-Eggebert (Hg.), Düsseldorf, 1988, 179-200. Eugenio de Bustos, Das ,auto sacramental' Calderons und sein Zusammenhang mit dem Fronleichnamsfest. In: Calderon. Fremdheit und Nähe eines spanischen Barockdramatikers. Akten des internationalen Kongresses anläBlich der Bamberger Calderon-Tage 1987/ A. San Miguel (Hg.), Frankfurt/M., 1988, 115-145. 149
150
IV. Die frühe Neuzeit: Die Welt ist ein Theater
41
entscheidend ist die ..emotionale Komponente".ls2 Umso bedeutsamer erscheint damit die Einbindung in das katholische Ritual: Die religiöse Wahrheit von EI gran teatro dei mundo ist vom performativen Aspekt nicht zu lösen. 3. Ergebnis:
Wirklichkeitsverstehen im Welttheater Explizite Reflexionen auf die Welt als Theater im Drama Shakespeares stehen, wie gesehen, in einem distanzierten Verhältnis zum Bühnengeschehen und prägen nicht die gesamte Struktur. Die Idee des Theaters ist allerdings insbesondere im Hamlet leitend. Anders wird bei Calderon durch die Rezeption des mittelalterlichen Mythos die Umsetzung der Metapher auf der strukturellen Ebene zur Geltung gebracht. Die umgreifende Perspektive des ..theatrum mundi" wird zum organisierenden Zentrum. Sie erstreckt sich auf Inhalt und ästhetische Form des Kunstwerks. Die Verbindung zwischen der Ebene der Spielleitung und des Spiels ist entschieden enger, der Abstraktionsgehalt besonders hoch: Die Weltbühne nimmt keine spezifische, sondern paradigmatische, darin allerdings aktuell bezogene Gestalt an. Die entscheidende Dimension besteht in der Hinordnung dieser Wirklichkeit auf das göttliche Heil. Weltgeschichte wird explizit der Gottesgeschichte untergeordnet. Bei Shakespeare stehen Weltordnung und göttliche Ordnung in einem normativen Korrespondenzverhältnis. Beide Dramatiker machen deutlich, daß der Mensch sich durch sein Leben zu bewähren hat. Calderons Figuren bleiben jedoch allegorisch, das Spiel des Lebens erscheint typisiert und prinzipiell wiederholbar. Sowohl Calderon als auch Shakespeare berufen die Metapher in einer Situation mangelnder Stabilität. Während Shakespeare jedoch eher die - unter Umständen gebrochene - Spielrnacht der Rollenträger akzentuiert, betont Calderon das letztgültig ordnende Handeln des göttlichen Meisters. Beide geben ihren Werken die starke Signatur des neuzeitlichen Künstlers. Damit zeigt sich zu Beginn der Neuzeit ein Spektrum von Gestaltungsmöglichkeiten, das im Welttheatermotiv angelegt ist. Eine allzu einfache Polarisierung in eine gleichsam anachronistische Weltauffassung - Calderons Anknüpfung an das mittelalterliche Mysterienspiel - und eine neuzeitliche - Shakespeares Betonung menschlicher Handlungsrnacht - verbietet sich. Die Bandbreite unterschiedlicher Konzeptionsmöglichkeiten wird den Reiz des Motivs auch in der Moderne ausmachen. Indem moderne Literatur das Welttheatermotiv aufnimmt, stellt sie eine Kontinuität her zu einem überlieferten Wirklichkeitsmodell, das in sich spannungsreich ist und vielfliltige Realisierungen kennt. Die impliziten Fragen nach der Gestalt der Wirklichkeit, der Regie im Weltspiel, der Rolle der Subjekte, dem Sinn der Geschichte erfahren keine einfache Antwort. Die Calderonsche Konzeption göttlicher lS2
netz, 183.
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A. Einleitung
Regie bei gleichzeitiger Freiheit des Menschen, der sich im Leben zu bewähren hat, lebt aus dem Grundgegensatz von Providentia Dei und Selbstbestimmung des Menschen. Erscheint dieser Gegensatz als konstitutiv für das artikulierte Wirklichkeitsverständnis, so schmälert dies nicht den orientierenden Charakter. Das liturgische Spiel zelebriert die Gegenwart des Heiligen und symbolisiert eine gültige eschatologische Lösung. Bewegt sich das Welttheater Calderons wie Shakespeares noch innerhalb eines christlichen Weltverständnisses, wenngleich bei dem Engländer weit weniger explizit, so erscheint der Sinnzusammenhang seit der Romantik nicht mehr als gegeben, muß vielmehr erfragt werden. 153 Dieser Prozeß findet in der Modeme des frühen 20. Jahrhunderts eine Radikalisierung: Sinn wird massiv in Frage gestellt. Es ist insbesondere diese Erschütterung des Weltfundaments, die sich in der Arbeit am Welttheater niederschlägt. In den Dramen Kraus', Hofmannsthais und Lasker-Schülers wird sie dramatisch inszeniert, in Walter Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels geschichtsphilosophisch reflektiert. Aus der Dramatik entlehnt Benjamin die Formel, mittels derer er Geschichte seit dem Beginn der Neuzeit begreift. Diesem ästhetisch-philosophischen, aber auch theologischen Verständnis der Wirklichkeit im Zeichen der Diskontinuität soll im folgenden nachgegangen werden, ehe sich die Untersuchung der chronologischen Folge entsprechend den Dramen zuwendet.
153
Vgl. Greiner, 23.
B. Der "Aufbruch" der Weltordnung in der Literatur I. Walter Benjamin: Welttheater als Trauerspiel Bereits die Titelfonnulierung Ursprung des deutschen Trauerspiels schlägt den Grundakkord an, der Walter Benjamins Geschichtsdiagnose unterlegt ist: Düstere Trauer kennzeichnet die Wirklichkeitserfahrung seit dem Beginn der Neuzeit. Das als Habilitationsschrift geplante, 1928 erstmals veröffentlichte Werk, das sich in einer komplizierten Perspektivenmischung dem barocken Trauerspiel zuwendet, bildet den Ansatzpunkt der ,Theorie der Moderne' Benjamins.! Für sein Verständnis von Neuzeit und Moderne hat die Theatennetaphorik zentrale Bedeutung: Das Welttheater, qualifiziert als Trauerspiel, stellt die zentrale Metapher, durch die Historie und Literatur gleichennaßen begriffen werden. Entscheidende Signaturen des Trauerspiels Weltgeschehen sind Tod und Verfall, präsent in der Allegorie als Figur des Abbruchs. Walter Benjamins geschichtsphilosophische Konstruktion, zu deren Eigenheiten eine expressionistisch-emphatische Einfärbung zählt, ist durch seine Diagnose der Gegenwart geprägt. Hier findet die Betrachtung Ausgang und Ziel. 2 Durch diesen Bezug sowie die Fortführung des Geschichtsverständnisses im Baudelaire-Buch, dem ,,Miniatunnodell" des Passagenwerks (1/3,1064), wird eine Linie vom Barock bis zu Benjamins Gegenwart sichtbar. Ausgehend von der Trauerspielschrift wird daher auch Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus berücksichtigt. 3 1 Klaus Garber, Zum Bilde Walter Benjamins: Studien - Porträts - Kritiken, München, 1992, 194. Zur Theorie der Moderne vgI. insbesondere Michael Makropoulos, Modernität als ontologischer Ausnahmezustand? WaIter Benjamins Theorie der Moderne, München, 1989. Makropoulos' differenzierte und ausführliche, aber auch nonnative Darstellung sieht das Kennzeichen der Entwicklung vom Barock zur Modeme in einer "qualitativen Steigerung des Deontologisierungsprozesses"(21). Von dieser Bestimmung her ergibt sich freilich zwangsläufig seine Kritik an Benjamins "ontologischer" Konzeption. 2 Das Interesse meiner Arbeit gilt daher keinesfalls der Frage der Angemessenheit seiner Barockdeutung, sondern der Art und Weise, wie er Geschichte mittels der Welttheatennetaphorik begreift. 3 Zum inneren Zusammenhang der heiden Werke vgl. auch Rolf TIedemann: (Nachwort). In: Benjamin, WaIter: Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus, Frankfurt/M., 1974, 189-212. Benjamin hat die Arbeiten zu Charles Baudelaire ausgegliedert; vgI. 1/3,1064. Sie sind für diese Arbeit insofern von Interesse, als hier die Theatennetaphorik auf den Allegoriker per se angewendet wird und die Radikalisierung gegenüber dem Barock besonders deutlich ist. Wenn in der vorliegenden Untersuchung auf frühe und späte Texte Benjamins zurückgegriffen wird, so steht im Hintergrund aber auch die Auffassung
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B. Der ,,Aufbruch" der Weltordnung in der Literatur
Die Theatermetaphorik verdeutlicht das Verhältnis von beginnender Neuzeit und Modeme in dieser Konstruktion als Steigerungsprozeß zunehmenden Horizontverlustes. Dieser Prozeß bezieht sich allerdings nicht auf einen als objektive Linearität darstellbaren Geschichtsverlauf,4 sondern auf eine Wirklichkeitserfahrung, die sich unter den je spezifischen Bedingungen ihrer Zeit verändert. Mit der Aufnahme eines barocken Untersuchungsgegenstands zeugt Benjamins Schrift von der am Jahrhundertanfang verbreiteten Hinwendung zu einer Epoche, die der eigenen zu ähneln scheint. S Sein Barockbild ist dabei von einer Geschichtsund Kunstauffassung geprägt, die die Gebrochenheit der Erfahrung wie ihrer ästhetischen Artikulation betont. Anders liegen beispielsweise die Interessen des späten Hugo von Hofmannsthal, der ebenfalls barocke Stoffe aufgreift, gerade in einer versöhnenden Überformung der Brüche. Doch bestimmt die Verfassung der Trauer, die Benjamin als Charakteristikum seiner Gegenwart auszeichnet und die sich im Medium der Kunst, insbesondere im barocken Drama, artikuliert, auch die dramatischen Entwürfe Hofmannsthals, Kraus' und Lasker-Schülers. In je eigener Weise machen all diese Texte eine Bewegung sichtbar, die diese Trauer transzendiert. Benjamins Arbeit am Welttheater erfährt dabei, wie zu zeigen sein wird, eine negativ-theologische Wendung, die die geschichtliche Fragmentarizität in eine Totalperspektive aufhebt. 6 von der "ungebrochenen Einheitlichkeit" seines Werks (Günter Figal, Die Konstellation der Modernität. Walter Benjamins Hermeneutik der Geschichte. In: Internationale Zeitschrift für Philosophie 1/93, 130-142. 132). Ausgangspunkt ist freilich die (relativ) frühe Trauerspielschrift. 4 Vgl. Srephane Moses, Eingedenken und Jetztzeit. Geschichtliches Bewußtsein im Spätwerk Walter Benjamins. In: Memoria. Vergessen und Erinnern/ A. Haverkamp; R. Lachmann (Hg.), München, 1993 (Poetik und Hermeneutik XV). 385 - 405. S Vgl. bereits A.III.3. 6 Der Begriff Negative Theologie soll zunächst geklärt werden. Als systematisches Konzept geht Negative Theologie auf Dionysios Areopagita zurück und bezeichnet zunächst eine solche theologische Redeweise, die "das Problem der Sagbarkeit Gottes mit Hilfe der sprachlichen Verneinung zu lösen versucht" (Eberhard Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus, Tübingen, 1992, 348; ausführlich dazu Josef Hochstaffl, Negative Theologie. Ein Versuch zur Vermittlung des patristischen Begriffs, München, 1976). Festzuhalten ist stets die Differenz zwischen der endlichen, nicht-göttlichen Welt und dem Absoluten. Der Bezug auf dieses Andere ist wesentlich: Die "Vemeinung der Weltlichkeit (steht) im Dienst der Affirmation des unweltlich-Absoluten: diesem muß alle begegnende Endlichkeit abgesprochen werden. Negative Theologie ist dann ein methodisches Stück der Verweisung auf Gott, also einer eminenten Bejahung." (Hans Urs v. Balthasar, Bibel und negative Theologie. In: Sein und Nichtsein in der abendländischen Mystik/W. Strolz (Hg.), Frciburg, Basel, Wien, 1984, 1331 [Veröffentlichungen der Stiftung Oratio Domenica. Weltgespräch der Religionen. Schriftenreihe zur großen Ökumene 11]). Im 20. Jahrhundert ist besonders der Dialektischen Theologie ein negativ-theologischer Grundzug eigen. So betont Karl Barth: ,,Denn als der unbekiJnnte Gott wird Gott erkiJnnt. Er ist gerade als solcher kein Ding an sich, keine metaphysische Wesenheit neben anderen Wesenheiten, kein Zweiter, Anderer, Fremder neben dem, was ohne ihn wäre, sondern der ewige, der reine Ursprung alles dessen, was ist, als das Nicht-
I. Walter Benjamin: Welttheater als Trauerspiel
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I.l legt den spezifischen Charakter der Trauerspielschrift dar und erhebt deren geschichts- und kunstphilosophische Begründung. Anschließend wird das TrauerSpiel als leitende Signatur der Neuzeit und Modeme thematisiert (1.2). Punkt 1.3 widmet sich der Allegorie, in der Benjamin die charakteristische, auch für die Modeme ideale Ausdrucksform erkennt und die innerhalb einer theologischen Konstruktion begriffen werden muß. In Punkt I.4 werden die Ergebnisse in Hinblick auf das Welttheater Trauer-Spiel zusammengeführt.
1. Zur Wahrheit der Kunstform: der geschichtsphilosophische Zusammenhang Eigentümlicher Charakter und Rezeptionsschwierigkeiten der Trauerspielschrift lassen sich auf die Überschneidung unterschiedlicher Perspektiven zurückführen: ,,Benjamins Werk entzieht sich der schlichten Dichotomie: literarhistorische Abhandlung zum barocken Trauerspiel hier - verschlüsselte Explikation eigner ästhetischer und geschichtsphilosophischer Anschauungen im Zeichen einer kaschierten Philosophie der Modeme dort.'07
Wie Benjamin selbst in der Erkenntniskritischen Vorrede im Zusammenhang mit der Aufgaben- und Methodenbestimmung darlegt, geht es ihm keinesfalls um eine rein literaturgeschichtlich orientierte Bestimmung der Gattung Trauerspiel oder der Allegorie, die diese technisch beschreibbar machte. Vielmehr versteht er seine Untersuchung als geschichtsphilosophischen Beitrag. 8 Anders als Nietzsche hält er an einer metaphysischen Grundlegung fest, innerhalb derer der Wahrheitsbegriff von entscheidender Bedeutung ist. 9 Als "Traktat" zielt das Vorhaben auf die Darstellung von Ideen (1/1,208). Diese steht im Kontext der zentralen philosophischen Aufgabe der Darstellung der WahrSein aller Dinge ihr wahres Sein." (Der Römerbrief, Zweite Fassung, 1922, Zürich, 1989, 57) Benjamins theologische Philosophie, die die Welt als todverfallen und gott-los auszeichnet, ist ebenfalls auf ein Absolutes bezogen. An eine solche philosophische Grundhaltung knüpft gegenwärtig Michael Theunissen an, wenn er festhält: ,,Metaphysik ist heute wohl nur noch als eine solche möglich, die im Durchgang durch die fachwissenschaftlich erforschte und persönlich angeeignete Welt ein Anderes gegenüber dieser Welt aufscheinen läßt, ohne sich seiner Existenz zweifelsfrei versichern und ohne es positiv bestimmen zu können." (Negative Theologie der Zeit, Frankfurt/M., 1991, darin: Möglichkeiten des Philosophierens heute, 13-36. 27 f.). Wie zu zeigen sein wird, ist bei Benjamin der Versuch, der Verfassung der Geschichte in ihrer Negativität zum Ausdruck zu verhelfen, entscheidend, allerdings mit dem Ziel ihrer Rettung und Bewahrung. Diese wiederum kommt ohne den Bezug auf ein unverfügbares Absolutes nicht aus. 7 Garber, Zum Bilde, 197. 8 Vgl. z. B. 1/1,227: Die "philosophische Geschichte" ist "Wissenschaft vom Ursprung", Benjamins Schrift zum Ursprung des deutschen Trauerspiels also dort verortet. 9 Zu Nietzsches Metaphysikkritik siehe A.1.
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B. Der ,,Aufbruch" der Weltordnung in der Literatur
heit (vgl. 1/ 1,207 f.). Sie hat eine sprachphilosophische Dimension, indem die Idee im "symbolischen Wort" hervortritt (vgl. 1/ 1,217). Die Darstellung dieser Idee kann wiederum nur in einer gewissen Nähe zur Theologie statthaben. 10 Wie sehr sich die theologische Perspektive innerhalb des Entwurfs durchsetzt, wird insbesondere die messianische "Lösung" zeigen. 11 Die Philosophie, so Benjamin, bedarf einer von Erkenntnis zu unterscheidenden Methode: Da die Ideen an sich nicht "Gegenstand einer Anschauung" sind (1/1,215), bleibt die Wahrheit kognitiv unfaßbar. Für die philosophische Methode bedeutet dies Benjamin zufolge: "Das ihr gemäße Verhalten ist demnach nicht ein Meinen im Erkennen, sondern ein in sie Eingehen und Verschwinden." (1/ 1,216) Nur so wird die Souveränität der Ideenwelt vor unzureichender Begrenzung in die Erkenntnis hinein geschützt. Das Verhältnis des Geschichtsphilosophen seinem nicht anschaulichen - Gegenstand gegenüber ist folglich nicht distanziert, und dieser Abstand ist auch nicht intendiert, der Diagnose nach vielmehr unmöglich. Aus der Eigenart der "philosophischen Kontemplation" (1/1, 217) erklärt sich der emphatische, gelegentlich gar mystische Charakter vieler Passagen. Benjamin definiert Geschichtsphilosophie als "Wissenschaft vom Ursprung" (111,227). Geschichte versteht er als wahrheitsdurchwaltet, mithin als nicht völlig losgelöst von der WeIt der Ideen, zumal die Wahrheit näher bestimmt wird als "die das Wesen dieser Empirie erst prägende Gewalt" (1/1,216). Die Bestimmung seiner Aufgabe läßt sich daher rekonstruieren als Darstellung des Trauerspiels als Idee unter Einbeziehung der Frage nach dem Ursprung dieser Kunstform. Nach Benjamin steht sie in einem notwendigen Zusammenhang mit ihrer historischen Verankerung. Das Vorgehen ist allerdings nicht rein rückwärts gewandt, sondern hat vielmehr von der Erkenntnis der eigenen Gegenwart auszugehen. 12 Die Untersuchung des barocken Trauerspiels wird folglich nicht losgelöst von Benjamins Gegenwartsdiagnose betrieben, vielmehr kann diese wiederum aus der Trauerspielschrift gewonnen werden. Insofern hebt Benjamin sein Vorgehen kritisch von positivistischen Methoden des sogenannten Historismus ab, der, so die oft polemische Kritik, eine "zur Stofihuberei ausgewucherte Tatsachenforschung und -aufreihung" betreibt, "die alles und jedes Vergangene thematisieren kann, ohne nach Sinn und Bedeutung zur Gegenwart zu fragen". 13 10 Vgl. 1/1,208. Die Bedeutung theologischer Motive betont Bemd Witte, Walter Benjamin - Der Intellektuelle als Kritiker. Untersuchungen zu seinem Frühwerk, Stuttgart, 1976. Er stellt Benjamin in den Kontext einer generellen ,,Retheologisierung als Zeichen für die Krise in der Literatur der zwanziger Jahre" (XII). Witte kennzeichnet die Schrift als "literarhistorische Theologie" im Unterschied zu earl Schmitts politischer Theologie (Witte, Der Intellektuelle, 113). 11 Siehe I.3.c). 12 Geschichtsphilosophie kommt nur dort zu relevanten Ergebnissen, "wo eine Forschung in den Stand der eigenen Epoche Einsicht aufweist." (111,280) 13 G. Scholtz, Historismus. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, Darmstadt, 1974, 1141-1147. 1142. Zur Historismuskritik Benjamins vgl. Moses, 386. 395. Moses be-
I. Walter Benjamin: Welttheater als Trauerspiel
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Für beide Zeitalter sieht Benjamin die leitende Signatur in der Konfrontation mit der Idee der Katastrophe, die auf politischer Ebene das Einsetzen des Souveräns l4 , auf künstlerischer Ebene das Trauerspiel notwendig macht. Das Barock ist die entscheidende Wegmarke einer hier ansetzenden Theorie der Modeme. Wie Nietzsche zeichnet Benjamin das Barock als spätzeitlichen Stil aus. 15 "Frappante Analogien" (111,234) zur expressionistischen Gegenwart sind es, die die Untersuchung der barocken Kunstform interessant machen: ,,Denn wie der Expressionismus ist das Barock ein Zeitalter weniger der eigentlichen Kunstübung als eines unablenkbaren KunstwolIens. So steht es immer um die sogenannten Zeiten des Verfalls. Das höchste Wirkliche der Kunst ist isoliertes, abgeschlossenes Werk. Zu Zeiten aber bleibt das runde Werk allein dem Epigonen erreichbar. Das sind die Zeiten des .Verfalls· der Künste. ihres .Wollens· ... 16
Beiden Zeitaltern ist dieser Diagnose gemäß die Unmöglichkeit des vollendeten Kunstwerks gemeinsam, so daß diesem ein fragmentarischer Charakter anhaften muß. Dieser kommt im Gebrauch der Allegorie, wie Benjamin sie versteht, zum Ausdruck. 17 Eine weitere Dimension der Analogien liegt in der Neubelebung des Trauerspiels im Expressionistischen Drama. 18 Dem Expressionismus verhaftet ist nicht zuletzt die bilderreiche Sprache der Schrift, die sich so doppeIgesichtig darstellt: ..Von außen - von der exoterischen Seite - ist es eine germanistische Habilitationsschrift über das barocke Drama; seinem esoterischen Gehalt nach eine Beleuchtung der expressionistischen Ekstasen. deren Zeitzeuge Benjamin soeben gewesen war. im Licht der Trauerspielmystik... 19
Die Untersuchung zum "Ursprung" des deutschen Trauerspiels bedeutet konsequenterweise keine Hinwendung zu einem bestimmten Zeitpunkt, an dem ein Phänomen ein für allemal greifbar wäre. Als dynamische Kategorie eigener ,,Rhythmik" bedeutet Ursprung vielmehr ,,Restauration" unter ständigem Verweis auf das noch Ausstehende, das in der Wiederherstellung (noch) nicht aufgeht. 2o Im Ursprung begegnen sich Idee und Phänomen: 21 tont im Zusammenhang des Spätwerks Benjamins auch die geschichtsverändernde Perspektive des Historikers. einem .,Akteur der Geschichte". vgl. 400 f. 14 Zur Rezeption der politischen Theologie earl Schmitts siehe 11.2. 15 V gl. A.III.3. 16 111.235; vgl. die Erinnerungen Asja Lacis' in 1/3.879; Willem van Reijen. Labyrinth und Ruine. Die Wiederkehr des Barock in der Postmoderne. In: Allegorie und Melancholie / W. van Reijen (Hg.). Frankfurt/M .• 1992. 261-291. zeigt einen ähnlichen Anknüpfungspunkt zwischen Postmoderne und Barock auf. ebd. 261; den Begriff des Kunstwollens übernimmt Benjamin von A10is Rieg1; vgl. VI (Autobiographische Schriften). 218 f. 17 Siehe 1.3. 18 Vgl. 1/1.235. Benjamin verweist aufWerfels ..Troerinnen". 19 Mattenklott. Mythologie. 183. 20 ..Im Ursprung wird kein Werden des Entsprungenen. vielmehr dem Werden und Vergehen Entspringendes gemeint. ... und einzig einer Doppeleinsicht steht seine Rhythmik offen.
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B. Der ,,Aufbruch" der Weltordnung in der Literatur ,,In jedem Ursprungsphänomen bestimmt sich die Gestalt, unter welcher immer wieder eine Idee mit der geschichtlichen Welt sich auseinandersetzt, bis sie in der Totalität ihrer Geschichte vollendet daliegt." 22
Die Zielperspektive der Auseinandersetzung liegt folglich in dem umfassenden Erscheinen der Idee, das ihre Geschichte einschließt. Indem Benjamin als Erkenntnisobjekte literarische Werke wählt, zeichnet er innerhalb der phänomenalen Welt insbesondere das Kunstwerk aus. Kunstformen stehen ihm zufolge in einem engen Zusammenhang mit ihrer jeweiligen Geschichte und tragen "den Index einer bestimmten objektiv notwendigen Gestaltung der Kunst." (1/1,230) Gelingt die kunstphilosophische Betrachtung, so muß diese objektive Notwendigkeit aufscheinen. Die Normativität dieser Bestimmung wird insbesondere dann deutlich, wenn Benjamin idealtypische Formen - wie hier das Trauerspiel - ausmacht, andere aber ausklammert: Diese geraten in den Verdacht, nicht "notwendig" und daher ahistorisch zu sein. Überdies versteht Benjamin die Form als eine spezifische Weise reinen Lebens, "ungetrübt vom menschlichen" (111,227). Wie Wahrheit und Idee ontologisch begriffen werden, so auch die Form. Die ausgeprägte Metaphorik aus dem Bereich des Organischen verdeutlicht dies. Wird die philosophische Methode der Kontemplation physiologisch als Atemholen charakterisiert (vgl. 111,208; 225), so geschieht die Darlegung des "Wesen(s) eines Kunstgebietes" nur ,,in einer durchgebildeten Darlegung seines Formbegriffs, dessen metaphysischer Gehalt nicht sowohl im Inneren befindlich als wirkend zu erscheinen und wie das Blut den Körper zu durchpulsen hat." (1/1,220)
Der "Körper" ließe sich hier beziehen auf das konkrete einzelne Kunstwerk. Die Metapher umschreibt dann - wiederum abstrakt - das Verhältnis von Idee und Phänomen. 23 Sie will als Restauration (des Vergangenen; I.P.), als Wiederherstellung einerseits, als eben darin Unvollendetes, Unabgeschlossenes (insofern im Werden Begriffenes; I.P.) andererseits erkannt sein." (111,226) 21 Hier besteht ein Zusammenhang mit Goethes Begriff des Urphänomens: Er ist Anschauung der höheren Regel, der Gesetze, der Idee des Sinnlichen und wird bei Benjamin vom Bereich der Natur in den Bereich der Geschichte übernommen; vgl. Rudolf Speth, Wahrheit & Ästhetik. Untersuchungen zum Frühwerk Walter Benjamins, Wtirzburg, 1991. (Epistemata: Reihe Literaturwissenschaft 64).254; Uwe Steiner, ,.zarte Empirie". Überlegungen zum Verhältnis von Urphänomen und Ursprung im Früh- und Spätwerk Walter Benjamins. In: Antike und Modeme. Zu Walter Benjamins Passagen/No Bolz; R. Faber (Hg.), Würzburg, 1986, 20-40. 29, 30. Knapp definiert Benjamin Ursprung als .. Urphänomen im theologischen Sinne" (1/3,954). 22 1/1,226; vgl. die Erstfassung der Vorrede, 1/3, 946; Bernd Kiefer spricht von der ..Konfrontation" der Idee ,,mit der Wucht des historischen Geschehens" und legt damit eine zu massive Form der Einwirkung nahe, vgl. ders., Rettende Kritik der Modeme. Studien zum Gesamtwerk Walter Benjamins, Frankfurt/M., 1994. (Studien zur deutschen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts 23) 131. Vgl. auch Speth, 255.
I. Walter Benjamin: Welttheater als Trauerspiel
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Eine Geschichtsphilosophie, die sich ästhetischen Gegenständen zuwendet, ist notwendig durch eine Hermeneutik der Kunst bestimmt. Die konkrete Form, die das geschichtsphilosophische Verfahren Benjamins annimmt, ist daher die Kunstkritik. 24 Sie bildet das elementare Verfahren, mittels dessen die Wahrheit überhaupt erst zur Darstellung gebracht werden kann. Benjamin greift hier Traditionen der Frühromantik auf, entwickelt aber seinen eigenen Kritikbegriff darüber hinaus in Auseinandersetzung mit Goethe.2s Gegen Goethes Ansicht von der Unkritisierbarkeit betont Benjamin gerade die Notwendigkeit der Kritik, denn: ,,Die reinen Inhalte als solche sind in keinem Werk zu finden." (1/1,111) Sie gleichen den Urphänomenen - dem Begriff, den Benjamin theologisch wendet und in den Ursprungs begriff überführt - , wobei eben dieses Gleichen durch die Kritik anschaulich werden muß. 26 Anders als Goethe weist Benjamin der Kritik damit einen inneren Ort im Kunstwerk zu. 27 Im Unterschied zum symbolischen Kunstwerk, das der seine Ganzheit gleichsam entlarvenden Kritik bedarf, trägt das allegorische "die kritische Zersetzung gewissermaßen schon in sich, in ihm vollzieht sich die Geburt der Kritik aus dem Geiste der Kunst. ,,28 Mit ,,Zersetzung" ist bereits die zerstörende Kraft zum Ausdruck gebracht, die Benjamin ihr zuweist. Sie gilt ihm als ,,Mortifikation der Werke" (11 1,357), die im Gegenzug deren Bestand sichert. Nicht die Entwertung der Kunst ist also zum Ausdruck gebracht, vielmehr handelt es sich um einen Transformationsprozeß, in dem ,.historische Sachgehalte" zu "philosophischen Wahrheitsgehalten" werden. 29 In direkter Abgrenzung vom romantischen Verständnis formuliert Benjamin: ,,Mortifikation der Werke: nicht also - romantisch - Erweckung des Bewußtseins in den lebendigen, sondern Ansiedlung des Wissens, in ihnen, den abgestorbenen. Schönheit, die dauert, ist ein Gegenstand des Wissens." (1/1,357)
Das Verständnis von Kunstkritik zieht das Werk hinein in den Verfallsprozeß, der das entscheidende Signum der Neuzeit und Modeme für Benjamin ist und der qua Kritik gesichert wird. Im Ausdruck des Verfalls wie in der ,,Rettung" des Verlorenen liegt auch der eigentliche Gehalt der Allegorie. 3O Allegorie und Kritik sind folglich einander angenähert. Die geschichtsphilosophische Aufgabe des Kritikers 23 Zu diesem schwierigen Aspekt der Ideenlehre Benjamins vgl. Figal, Die Konstellation der Modernität, bes. 132-135. 24 Sie hat insgesamt einen zentralen Stellenwert in seinen Schriften inne. Mit ihr beschäftigt er sich bereits in der Dissertation, die die romantische Kunstkritik thematisiert, und bald darauf in dem Essay zu Goethes Wahlverwandtschaften. 2!1 V gl. Steiner, ,,Zarte Empirie", 22. Seiner Darstellung folge ich hier weitgehend. 26 V gl. Steiner, 27. Hier wäre der Symbolbegriff zu problematisieren. V gl. dazu 1.3. r7 Vgl. Steiner, 25. 28 1/3,952, Expose. 29 1/3,952; vgl.I/l,357. 30 Siehe 1.3. 4 Pieper
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übersteigt die des - allegorisierenden - Autors jedoch in der Zielsetzung, die Idee der Kunstfonn zu entwickeln (vgl. 1/1,225). Es geht mithin um die Erhebung einer Gattung. 31 Benjamin beabsichtigt dabei allerdings keinesfalls eine hannonisierende Generalisierung, sondern verlangt die Hinwendung zu den ungewöhnlichen, daher besonders auskunftsträchtigen Ausprägungen (vgl. 1/1,227). Dennoch denkt er an ein Verfahren, das die ganze Breite des Stoffes ins Auge faßt, geht gar von einer tatsächlich gegebenen Synthesis aus (vgl. 1/1,238). Die auf Brüchen und Verfall bestehende Ästhetik Benjamins erweist sich damit einer Totalitätskonzeption verhaftet, die allerdings mit symbolischer, hannonischer Ganzheit nichts gemein hat.
2. Auf der horizontlosen Bühne der Welt: das Trauerspiel Explizite Reflexionen Benjamins zum Begriff des Trauerspiels verweisen auf die im Welttheatennotiv enthaltene Vorstellung der Welt als theatrales Spiel, hier qualifiziert als ein trauriges. Der Begriff ist Benjamin zufolge sowohl geschichtsals auch kunstbezogen anwendbar, gilt "im XVII. Jahrhundert vom Drama und historischen Geschehen gleichennaßen." (1/1,244) Wenn sich in diesem Tenninus Kunstfonn und Geschichte begegnen, so stehen sie darüber hinaus in einem Abhängigkeitsverhältnis zueinander: ,,oie werdende Formensprache des Trauerspiels kann durchweg als Entfaltung der kontemplativen Notwendigkeiten gelten, die in der theologischen Situation der Epoche beschlossen liegen." (1/1,259)
Diese Situation wirkt sich auch und zunächst auf das politische System aus. Parallel entwickelt Benjamin sein Verständnis der Epoche mit politischen und künstlerischen Konsequenzen und zeigt die Korrespondenzen durch analogen Begriffsgebrauch auf. Im folgenden werden zunächst die "theologische Situation der Epoche", die deren Beschreibung als "Trauer-Spiel" begründet, und die politischen und künstlerischen Konsequenzen für die Neuzeit erhoben (I.2.a». In 1.2.b) werden die Radikalisierungen in bezug auf die Modeme betrachtet. a) Das melancholische Spiel des Barock
Mit der Bezeichnung der Welt als Trauerspiel ist die zentrale Eigenart des Barock benannt, die sich gleichwohl auf die Modeme erstreckt. Benjamin begreift 31 Zurecht weist Heinz Schlaffer darauf hin, daß Benjamin mit der Kunstform Trauerspiel die entsprechende Gattung meint; vgI. ders., Walter Benjamins Idee der Gattung. In: Walter Benjamin. Profane Erleuchtung und rettende Kritik/N. Bolz; R. Faber (Hg.), Würzburg 1985,41-49,43. Warum Benjamin indes den Gattungsbegriff meidet, klärt Schlaffer nicht. Vermutlich will Benjamin sich von einem deskriptiven Verfahren, das Regeln ersteHt, zugunsten eines platonisierenden, geschichtsphilosophisch orientierten abgrenzen.
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Weltgeschichte vom Beginn der Neuzeit bis zur Modeme als ..Trauerspiel" ohne heilsgeschichtliche Perspektive. Schon die mittelalterliche Chronik versteht die Geschichte zwar im Sinn des Trauerspiels;32 der Begriff wird allerdings erst im Barock durch Philip von Zesen als Ersatz für die ..Tragödie" und Gegenbegriff zu ,,Lustspiel" eingeführt. 33 Das Verständnis wandelt sich nun entscheidend. Anders als der antiken Tragödie, deren ,,Pendant" das Trauerspiel darstellt (vgl. 1/1,318), eignet dem Trauerspiel keine Zeitlosigkeit, und auch ihr Held ist historisch: Der Gegenstand der Tragödie sei ,,Mythos, und die tragische Stellung wird den dramatis personae nicht durch den Stand das absolute Königtum - sondern durch die vorgeschichtliche Epoche ihres Daseins - vergangenes Heroenturn - angewiesen." (111,243)
Das zentrale Merkmal dieser Veränderung faßt Benjamin in der Aussage zusammen: ,,Die Geschichte wandert in den Schauplatz hinein." (1/1,271) Diese Einwanderung ist zu verstehen als eine bedeutungsvolle Reduzierung der Perspektive, entwickelt anhand einer Abgrenzung von der Renaissance einerseits und vom Mittelalter andererseits. Geschichte kommt nun nicht mehr unmittelbar als Heilsgeschichte in den Blick, greift nicht mehr über den konkreten Schauplatz hinaus. Nach Benjamin fällt die Erlösungsperspektive aus, eine insofern provokative Aussage, als der Autor als leitende Kräfte der Epoche das Luthertum und die Gegenreformation ausmacht und betont, das Barock falle in eine als solche einzigartige ,,Periode unerschütterter Herrschaft des Christentums" (1/1,258). Diese präsentiert sich jedoch als in fataler Weise fragmentarisiert: ,,Die Christenheit oder Europa ist aufgeteilt in eine Reihe von europäischen Christentümern, deren geschichtÜche Aktionen nicht mehr in der Flucht des Heilsprozesses zu verlaufen beanspruchen." (111,257)
Im Verlust des transzendenten Zielpunktes, der ,,religiöse(n) Lösung", nicht der ,,religiösen Anliegen" an sich, sieht denn auch Benjamin die besondere Problematik der Epoche (1/1,258) und greift damit das modeme Dilemma auf, das Nietzsche in die Formel ..horror vacui" gekleidet hat. 34 Geschichte kann angesichts dieses Horizontverlustes nicht mehr als Gesamt in den Blick genommen werden. Vielmehr wählt das Trauerspiel ..Teile des pragmatischen Geschehns" (1/1,257) aus. Insofern bedeutet Trauerspiel eine Unmöglichkeit, Welttheater in umfassendem Sinne, nämlich das Ganze des Weltspiels umgreifend, darzustellen, dies im Unterschied zur heilsgeschichtlich orientierten mittelalterlichen Chronik und zum Mysterienspiel. Voraussetzung der barocken Einwanderung der Geschichte in den Schauplatz ist eine doppelte Entleerung: Da die eschatologische Perspektive fehlt, setzt eine radiVgl. 1/1,256, Walter Benjamin mit Franz losef Mone. Vgl. Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 21. Aufl., Berlin, New York, 1975, ..Trauerspiel", 787. 34 Vgl. A.I. 32 33
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kale Diesseitsorientierung ein (vgl. 111,246). Angesichts des Wertverlusts menschlicher Handlungen erscheint einerseits die Welt als leer. 35 Andererseits wird auch der Himmel, bis dahin noch Bezugsraum und in die Vorstellungswelt integriert, von allem Weltlichen gleichsam gereinigt, nicht mehr mit faßbaren Momenten beschrieben und aufgrund dieser Entweltlichung zu einer gefährlichen Vernichtungskraft. Die Gegenbewegung des Auffüllens mit ,,Dingen, welche jeder Gestaltung sich zu entziehen pflegten" (1/1,246) kann den Weltverlust der Transzendenz nicht entfatalisieren: Der Himmel wird zum Vakuum - ohne den "leiseste(n) Atem von Welt" - , damit zu einer unkontrollierbaren Macht, die "mit katastrophaler Gewalt dereinst die Erde in sich zu vernichten" droht (1/1,246). Das Zerstörungspotential rückt in gefährliche Nähe. Daher muß die Kunst der unbedrohten Ordnung der Renaissance entbehren: ,,Die Maler der Renaissance wissen den Himmel hoch zu halten, in den Gemälden des Barock bewegt die Wolke sich dunkel oder strahlend auf die Erde zu.,,36 Aus dieser bedrohlichen Situation heraus, in der sich die Menschen als ,,kontingente Wesen in einer kontingenten Welt,,37 finden, erklärt sich jene "Spannung von Welt und Transzendenz" (1/1,247), auf die das Barock zumeist mit ,,Diesseitsakzenten" (1/1,246) antwortet. Eine Situation der Krise charakterisiert historische und theatralische Szenerie, die nun nach einer zentralen Kontrollinstanz verlangt: Auf politischer Ebene soll der Souverän nach Möglichkeit den Ausnahmezustand ausschließen, anderenfalls in ihm herrschen. 38 Im - literarischen - Trauerspiel hat Vgl. 1/1,317.318. 1/1,258. Die Beschreibung von Mittelalter und Renaissance deckt sich in auffalliger Weise mit jener, die Georg Lukacs für das antike Epos in der Anfangspassage seiner Theorie des Romans vornimmt. Ganz ähnlich siedelt er dort Sicherheit und VorsteIlbarkeit an: ,,selig sind die Zeiten, für die der Sternenhimmel die Landschaft der gangbaren und zu gehenden Wege ist ... Die Welt ist weit und doch wie das eigene Haus ... sie scheiden sich scharf, die Welt und das Ich, ... und werden doch niemals einander für immer fremd ..." (Georg Lukacs, Die Theorie des Romans, 21 [ErstaufI. 9]). Auch Lukacs argumentiert mit dem "Kritikmuster des Verfalls und Substanzverlustes positiv gegebener Sinnzusammenhänge" (Susanne Heil, "Gefahrliehe Beziehungen". Walter Benjamin und Carl Schmitt, Stuttgart, Weimar, 1996, 87). - Die ständige, nicht auf das Barock beschränkte Bedrohung durch die Katastrophe zeigt sich auch in der vielbesprochenen IX. geschichtsphilosophischen These: Katastrophal, einzig in Trümmern gegenwärtig, erweist sich Vergangenes und Vergehendes, und auch die Zukunft verspricht keinen Heilsraum, zumal der Engel ihr mit dem Rücken zuerst und in Gegenrichtung zum Paradies gewaltsam zugetrieben wird, "während der Trümmerhaufen (der Geschichte, I.P.) vor ihm zum Himmel wächst." (1/2,698) Bezeichnenderweise ist hier allerdings die Richtung umgekehrt: Noch im Barock kam der Himmel auf die Erde zu, nun wachsen die Trümmer gen Himmel, Zeichen einer radikaleren Orientierung am Schauplatz der Geschichte. 37 Malcropoulos, 30. Er kennzeichnet die Leitsignatur der Neuzeit, wie Benjamin sie sieht, mit dem Terminus Kontingenz. Vgl. zur Einführung des Begriffs ders., 23 - 28. 31 Vgl. 1/1,245. Zur Rezeption Carl Schmitts vgl. Michael Malcropoulos, 34-41, und die Arbeit von Susanne Heil. Als ,,radikale Kritik an Schmitt" liest Günter Figal Benjamins Barockdeutung; vgl. ders., Vom Sinn der Geschichte. Zur Erörterung der politischen Theologie bei Carl Schmitt und Walter Benjamin. In: Dialektischer Negativismus. Michael Theunissen 3S
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der Tyrann eine tragende Rolle inne. Damit ist die spielleitende Position säkular besetzt, der göttliche Regisseur der Heilsgeschichte durch eine immanente Große mit partieller Macht ersetzt und der tragische Heros der Tragödie einer historischen Instanz gewichen. 39 Die Figur des Souveräns gilt Benjamin wie Schmitt als eine epochale Notwendigkeit. Ihm entspricht zum einen der barocke Dichter, der mit der gleichen Situation gestaltend umzugehen hat: Die Korrespondenz hätte nach Benjamin eigentlich in der Personalunion Fürst - Dichter ihre konsequente Ausprägung finden müssen. 40 Zum anderen taucht der Souverän in der Rolle des tyrannischen Fürsten im Trauerspiel auf. Dabei gilt Benjamins besonderes Interesse dem entschlußunfähigen Fürsten, einer Rolle, an der sich die die Vorstellung des Subjekts betreffende Abgrenzung Benjamins von Schmitt verdeutlichen läßt. Diese Rolle nämlich stellt die "prinzipielle Möglichkeit der Entscheidung" in Frage41 : "Was Benjamin nämlich gegen Schmitt behauptet, ist die prinzipielle Unmöglichkeit, eine universale Ordnungsstiftung als selbstmächtigen, souveränen Entscheidungsakt zu vollbringen, weil sie gerade durch ihre vollständige situativ-subjektive Begründung eben nur im Kontingenten gegründet sei und nur Kontingentes hervorbringe. 42
Mit dieser Begrenzung der Ordnungs- und Herrschaftsgewalt des nie vollkommen souveränen Herrschers wendet sich Benjamin gegen jene ,,Metaphysik der Entscheidung", die Schmitts Souveränitätslehre für ihn darstellt. 43 Keine Diktatur zum 60. Geburtstag/E. Angehrn, H. Fink-Eitel, Chr.lber, G. Lobmann (Hg.), Frankfurt/M.,
1992.252-269.262. 39 Benjamin qualifiziert den Einsatz einer Kontrollinstanz, die den Platz der transzendenten Gewalt einnimmt, als gegenreformatorisch (1/1,246). Hier findet sich gleichsam säkularisiert der ,,hierarchische Zug des Mittelalters" (111,258) wieder. Während die Gegenreformation so an der Leitbewegung der Epoche teilhat "unter orthodoxer Wahrung kirchlicher Formen", insgesamt allerdings die FundamentaIauseinandersetzung mit der christlichen Religion verhindert (111,258), präsentiert Benjamin das Luthertum als eine im Ganzen anachronistische Kraft. Wo die allgemeine Tendenz der Epoche auf radikale Diesseitigkeit ausgerichtet ist, bewirkt es eine umfassende Entwertung weltlichen Seins und Handeins: Wo die Heilswirksamkeit von "guten Werken" bestritten wird, erscheint alles menschliche Wirken als bedeutungslos (vgl. 1/1,317). Der ,,Moralismus des Luthertums" verhindert eine radikale Orientierung an der Immanenz. Zu eng verzahnt sind Glaubens- und Alltagsleben (vgl. 11 1,263). So kommt es zu nationalen Ausprägungen des Barock, die sich unterscheiden. Authentischer erscheint in Benjamins Darstellung die gegenreformatorische Prägung Spaniens (beispielhaft Calderon). Die Darstellung von lutherischen und katholischen Kräften, die Benjamin bietet, läßt Fragen offen. Es wäre zum Beispiel darüber nachzudenken, inwiefern das ,,Priestertum aller Gläubigen" eine weltverantwortliche Haltung ermöglicht, die - herrschaftskritisch - innerweltliches Handeln in einer gewissen Souveränität begründen kann. 40 ,,Die radikale Konsequenz der Angleichung der theatralischen an die historische Szenerie wäre gewesen, daß für das Dichten selbst vor allen andern der Mandatar historischen Vollzuges selber wäre aufgerufen worden." (111,244) 41 Makropoulos, 39. 42 Ebd., 41. Ähnlich Heil, 133 f. 43 Makropoulos, 40.
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kann somit den Verlust des kohärenten Weltbildes tatsächlich auffangen, so daß Benjamin totalitärer Herrschaft hier insofern eine Grenze setzt, als eine wirkliche Kompensation durch sie nicht möglich ist. Zwar geht er wie Schmitt vom Ausnahmezustand aus, doch läßt er sich hier unterscheiden vom ,.Advokaten einer dezisionistischen Diktatur".44 Die Notwendigkeit der Fonn des Trauerspiels wie - weniger explizit - der diktatorischen Gewalt des Souveräns begründet Benjamin unter Verweis auf die beiden Elemente des Kompositums: Mit Trauer wird eine melancholisch-tiefsinnige Verfassung bezeichnet (vgl. 1/1,318), die auf die Melancholie insbesondere der Renaissance zurückgeht. Der traurige Blick auf die Welt zeugt somit nicht nur von einer gefühlvollen, sondern auch von einer reflektierten Handlung.4!5 Gleichzeitig faßt der Begriff diejenige Gemütsverfassung, die sich in Gestalt des "ennui" bis in die Moderne hinein erhalten wird. Auch in der "strukturellen Kontinuität", die Benjamin konstatiert, zeigt sich so die "prozessuale Einheit" von Neuzeit und Moderne. 46 Angesichts der krisenhaften Welterfahrung geht von der Trauer ein produktiver Impuls aus: "Trauer ist die Gesinnung, in der das Gefühl die entleerte Welt maskenhaft neubelebt, um ein rätselhaftes Genügen an ihrem Anblick zu haben." (1/ 1,318) Die prägende Gesinnung führt zu einem Neuschaffen des Verlorenen, einem Auffüllen der Leere, das die künstliche, konstruierte Füllung auch zeigt: Sie ist keinesfalls unmittelbar, sondern maskenhaft und impliziert einen therapeutischen Effekt, indem sie zu einer seltsamen Zufriedenheit führt: ,Jene AbsichtIichkeit, von der Goethe gesagt hat, daß ihr Schein jedem Kunstwerk eigne, zerstreut im idealen romantischen Trauerspiel des Calderon die Trauer. Denn in der Machination hat die neue Bühne den Gott." (1/1,261)
Damit steht die Trauer nicht nur für die Melancholie des Welt und Geschichte leidvoll erfahrenden Menschen, sondern auch für den Abstand des reflektierenden, der aus dieser Verfassung heraus sein Wissen produktiv einzusetzen vennag. insofern bildet die Trauer die wesentliche Leitdifferenz von Distanz und Involviertheit ab, die die Welttheatervorstellung auszeichnet. Auch der distanzierte Blick steht indes im Zeichen der Melancholie und ist auf ein grüblerisches Eindringen gerichtet (vgl. 1/1,318 f.). Er erhebt sich damit nicht autonom über den Schauplatz der Geschichte, sondern bleibt in dessen Geschehen einbegriffen. Trauer als prägende Gesinnung wird ergänzt durch das Spiel als prägende Technik. Konstruktion im Angesicht der ausgefallenen Eschatologie bedeutet einen gleichsam säkularen Ersatz: Wenn "das weltliche Drama an der Grenze der Transzendenz innehalten muß, sucht es auf Umwegen, spielhaft, ihrer sich zu vergewis.... Anders Witte, Der Intellektuelle, 112. 45 Exemplarisch sieht Benjamin die Mischung von Grübeln und Gelehrsamkeit in DOrers Melancolia ausgedrückt; vgl. 1/1,219. 46 Witte, Der Intellektuelle, 126.
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sem." (1/1,260) So kommt in Calderons La vida es sueiio der Traum als scheinhafte Transzendenz in den Blick. Im Spiel wird die Wirklichkeit faßbar: Calderons Helden können die "Schicksalsordnung wie einen Ball in ihren Händen" wenden (111,263). Analog formuliert Benjamin die Möglichkeiten des politischen Herrschers: Das spielhaft begriffene historische Geschehen liegt "wie ein Szepter" in der Hand des Souveräns (1/1,245). Dem bewußt nicht authentischen Element wird entscheidende Bedeutung zugesprochen: "stets liegt nur in einer paradoxen Reflexion von Spiel und Schein für das eben damit ,romantische' Theater der profanen Gesellschaft die heilende und lösende Instanz." (1/1,261)
Präziser bedeutet also das Einwandern der Geschichte in den Schauplatz "die spielhafte Reduzierung des Wirklichen", verbunden allerdings mit der gegenläufigen "Einführung einer reflexiven Unendlichkeit des Denkens in die geschloßne Endlichkeit des profanen Schicksalsraums. " (1/ 1,262) Dasjenige, das über den Schauplatz hinausgreift, ist in der intellektuellen Tätigkeit der Reflexion verankert. So ist die überkomplexe Wirklichkeit umfaßt, ohne zugleich begrenzt zu sein: Im Denken ist die Totale möglich. Die hier zum Ausdruck kommende Subjektorientierung mit einer Souveränität, die der Spannung von ,,Herrschermacht und Herrschervermögen" (1/1,250) nicht entspricht, ist dem deutschen Trauerspiel des Barock ebensowenig möglich wie das Spielerische, weil - bedingt durch das Luthertum, dem die Dichter in der Regel zugehören - Glaubensleben und Alltag unauflöslich verbunden sind, ein Vordringen zu radikaler Diesseitigkeit folglich ausbleiben muß: Ausgeschlossen ist damit das ideale Zusammenstimmen von "Trauer" und "Spiel", wie es sich bei Calderon zeigt (vgl. 1/1,260). Ausgeschlossen ist die Konfrontation menschlicher Ohnmacht mit fürstlicher Macht, die Calderons Dramen zumeist einer Lösung zufiihrt.47 Dies bedeutet indes nicht, daß bei Calderon die postulierte Unendlichkeit des Denkens nicht ein geradezu kosmisches Ausgreifen ermöglichte. Im Gegenteil, mit dem Schicksal bringt er eine Größe ins Spiel, die das ,heidnische' Pendant zum Gott gesandten Geschick ist. Dieses allerdings kann der ..König, der große Restaurator der aufgestörten Schöpfungsordnung" zumindest ..schlichten" (1/1,309), ein weiteres Indiz für die Ermächtigung des Subjekts bei Calderon. Mit Spiel und Reflexion sind die zentralen Desiderate des deutschen Trauerspiels benannt. 48 Dies bedeutet auch, daß das komische Element fehlt. Ernst 47 Vgl. 1/1,263. Die Auflösung ist möglich aufgrund des produktiven Umgangs mit Spiel und Reflexion, der Lösungen auch als scheinhaft zeigen kann. Damit fallen allerdings in Calderons Werk der historische und der dramatische Fürst bezüglich ihres ,,Herrschervermögens" auseinander. Der Vorzug des deutschen Dramas ist kein künstlerischer: Weil die Auflösung im Sinne Calderons nicht möglich ist, ist sein Schluß ,,moralisch ... verantwortlicher" (1/1,263). In seiner Studie ,.Benjamins Bild des Barock" geht Klaus Garber der konfessionellen Unterscheidung Benjamins nach; in: Rezeption und Rettung, 81-120. 48 Vgl. 1/1,261.263; Uwe Steiner, Traurige Spiele - Spiel vor Traurigen. Zu Walter Benjamins Theorie des barocken Trauerspiels. In: Allegorie und Melancholie/W. van Reijen (Hg.), Frankfurt/M., 1992,32-63,34.
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herrscht, wo Shakespeare und Calderon Figuren entwerfen, die das vollendete Trauerspiel in seiner Nähe zum Lustspiel zeigen (vgl. 1/1,306). Reflexion und spielerisches Element ermöglichen Komik, notwendiges Gegenüber der Trauer (vgl. 111,304), und damit auch jene Zerstreuung der Trauer, die einer Lösung gleichkommt. 49 Die Tragikomik, die Benjamin als Grundzug des Trauerspiels in seine Theorie aufnimmt, geht dem deutschen Trauerspiel wiederum ab. In ihm bleibt die "Trostlosigkeit der irdischen Verfassung" (111,260) präsent, so daß es nicht zur Vollendung der Form vordringt. Kein Ausweg aus der Todsünde der Acedia zeichnet sich ab. so Daß sich die Trauerspielschrift hauptsächlich dem deutschen Barockdrama widmet, zeigt indes, daß diese nicht idealtypischen Ausprägungen, die hinter Calderon und Shakespeare zurückbleiben, der Betrachtung wert und in Hinblick auf die beabsichtigte Erhebung der Kunstform erkenntnisträchtig sind. Emphatisch formuliert Benjamin am Ende der Untersuchung: "Weil aus den Trümmern großer Bauten die Idee von ihrem Bauplan eindrucksvoller spricht als aus geringen noch so wohl erhaltenen, hat das deutsche Trauerspiel des Barock den Anspruch auf Deutung."(1/1,409)
Im Folgesatz erweist Benjamin die unvollendete Gestalt darüber hinaus als in der Form verwurzelt: In der Allegorie hat das Bruchstückhafte einen genuinen Ort,SI so daß das Defizitäre des deutschen Trauerspiels letztlich auch als besonders konsequente Ausprägung der Form bewertet werden kann. Wie umfassend Benjamin den Begriff des Trauerspiels in dramatischer Hinsicht gebraucht, zeigt sich daran, daß er ihn nicht nur im Hinblick auf Dichtung und Dichter ausleuchtet, sondern an wesentlicher Stelle die Rezeption einbezieht. Wieder spaltet er den Begriff auf und betont gerade nicht die resultative Kategorie: Die Trauerspiele "sind nicht so sehr das Spiel, das traurig macht, als jenes, über dem die Trauer ihr Genügen findet: Spiel vor Traurigen." (111,298) Die Betrachtenden haben Anteil am leitenden Bewußtsein der Zeit, sind traurig, begreifen das Geschehen als Trauerspiel, in das sie sich - Lesenden gleich - "grüblerisch" versenken (1/1,361). Auch auf der Rezeptionsebene zeigt sich folglich die Spannung von Distanz und Involviertheit, die sich in die tiefsinnige Betrachtung auflöst. Die Trauer erweist sich nochmals als omnipräsente Grundverfassung.
b) Die traurige "Rolle" der Moderne In der Moderne radikalisieren sich die Tendenzen des barocken Trauerspiels Benjamins Konstruktion zufolge erheblich. Die Situation des deutschen Barock - aus49
Benjamin verweist auf den "dämonischen Narren" bei Shakespeare (vgl. 1/1,306).
so Vgl. 111,332 f. Einzig Shakespeare gelang Benjamin zufolge im Hamlet eine christliche
Lösung (vgl. 111,335). Zu Benjamins Hamlet-Deutung in Abgrenzung von earl Schmitts Steiner, Traurige Spiele, 44 f. '1 Siehe 1.3.
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weglose Acedia - trifft sich zunächst mit der des modernen Dichters: Baudelaires "spleen" ist unüberwindbare Grundverfassung. Sein Ernst läßt keinerlei Spiel zu. Allerdings sieht Benjamin hier die Ursache in einer Selbstentfremdung, die kein Ausgreifen mehr mittels der Reflexion ermöglicht, sondern zu unausweichlicher Selbstzentrierung fuhrt, dem "tete-a-tete sombre et limpide des Subjekts mit sich selbst". S2 Die paradoxe Reflexion von Spiel und Schein, die Calder6ns Trauerspiel auszeichnet, weicht einer "Scheinbarkeit", die "nicht mehr wie im Barock eine eingeständliche (ist)." (1/2,659) Damit gibt es keine Eigentlichkeit jenseits des Scheins, auf die die Kunst verweisen könnte. Ebensowenig präsentiert diese in ihrer idealtypischen Ausprägung bei Baudelaire den authentischen Helden. Ersetzt im barocken Trauerspiel der Fürst oder Tyrann noch die transzendente Gewalt und ist gültiges Machtzentrum bei allen Modifikationen - etwa aufgrund seiner Entschlußunfähigkeit (vgl. 111,250) -, so kennt Baudelaire nur noch eine Rollenvielfalt, hinter der er selbst unsichtbar, inkognito, bleibt (vgl. 112,601). Der tragische Held, in der Tragödie durch zeitloses Heroenturn gegeben, im Trauerspiel an geschichtliche Einsetzung gebunden, gilt nun als verloren: ,,Denn der moderne Heros ist nicht Held - er ist Heldendarsteller. Die heroische Moderne erweist sich als ein Trauerspiel, in dem die Heldenrolle verfügbar ist." (1/2,600) Damit überbietet die Kontingenzerfahrung, die in der Kunst Ausdruck findet, diejenige des Barock. Nicht mehr der Ausnahmezustand weist auf die drohende Katastrophe, vielmehr entspricht der "spleen" der radikalisierten Grundverfassung der "Katastrophe in Permanenz" (1/2,660). Die Entfremdung ermöglicht beliebige Rollenspiele, denen jede Leichtigkeit fehlt und die ein Vordringen zur Individualität nicht ermöglichen. Der im Trauerspiel gleichsam öffentliche Repräsentationszusammenhang wird abgelöst durch Darstellungen, die losgelöst vom selbstzentrierten Subjekt statthaben und nicht mehr auf es verweisen können: Baudelaire spielt und bleibt verborgen. Bietet das barocke Trauerspiel nur einen partikularen Ausschnitt aus der Historie, so operiert es dennoch mit Strukturen, die einen Gesamtzusammenhang evozieren, einer traurig-tragischen Geschichte Ausdruck verleihen. Weit radikaler ist die Fragmentarizität des 19. Jahrhunderts, auf die Benjamin weist: "Und die Moderne wurde schließlich eine Rolle, die vielleicht überhaupt nur noch mit Baudelaire selbst zu besetzen war." (1/2,662) Nur der sich hinter einer Rollenvielfalt verbergende Dichter, dessen primäre Gattung die subjektorientierte Lyrik ist, ist spielrnächtig, allerdings nicht im Rahmen eines handlungs- oder geschichtsorientierten Stückes, sondern im Trauerspiel Moderne, das auf eine Rolle reduziert ist: Nicht 52 1/2,659, Zentralpark. Zur Allegorie bei Baudelaire siehe 1.3.b). Zur leitmotivischen Verwendung von Melancholie, "ennui" und "spleen" im Passagenwerk, das daher ,.züge eines Trauerspiels der Modeme" enthält, vgl. Willi Bolle, Physiognomik der modemen Metropole. Geschichtsdarstellung bei Walter Benjamin. Mit Illustrationen von Lena Bergstein, Köln, Weimar, Wien, 1994 (Europäische Kulturstudien 6), 115.
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mehr das Ganze des Weltlaufs, wie im Mittelalter, nicht mehr ein partikuläres historisches Geschehen, wie im Barock, sondern einzig ein zusammenhangloser Part ist vom Welttheater geblieben. Das Bruchstückhafte der Allegorie, wie Benjamin sie versteht, bietet sich angesichts dieser Diagnose in besonderer Weise als künstlerische Artikulationsform an.
3. Im Zeichen des Abbruchs: die Allegorie In der Trauerspielschrift arbeitet Benjamin die Allegorie als idealtypische Ausdrucksform des Trauerspiels heraus. Sie ermöglicht es, die Geschichte als "Gehalt" ins Trauerspiel eingehen zu lassen (111,390). Damit erweist sie Benjamin als der historischen Siuation der Epoche, die gekennzeichnet ist durch den Ausfall einer haltstiftenden, einsichtigen HeilsordnungS3 in besonderer Weise adäquat. Benjamins Allegoriebegriff ist indes wiederum geeignet, die innere Einheit von Neuzeit und Moderne in seiner Darstellung aufzuweisen. Als "grundlegende Form des Weltverständnisses"s4 ist die Allegorie für das Barock, aber auch rlir die Moderne konstitutiv. Ihre geschichtsphilosophische Begründung zeigt sich auch in den Baudelaire-Arbeiten. Diesen Dichter "als Allegoriker zu erweisen, war tatsächlich der Versuch, die neuzeitliche Grundverfassung der Kontingenz als Ermöglichungsnexus der spezifisch modernen Literatur und Kunst aufzuzeigen."ss Der Allegoriebegriff Walter Benjamins ist also nur von seiner spezifischen philosophischen Geschichtsdiagnose her zu begreifen, erhoben anband der barocken Verwendung, daher schon für das Mittelalter nicht in gleicher Weise treffend und von einer hermeneutischen Bestimmung der Allegorie abzugrenzen, die sie einer Minimaldefinition nach als Anders-Rede definiert. s6 Benjamins Verständnis der Allegorie kann demgegenüber als ontologisch charakterisiert werden: ,,Der Praetext jeder Allegorie ist für ihn die Leidensgeschichte und Todesverfallenheit des Menschen. "S7
Die ontologische Fundierung des Begriffs verweist auf ein metaphysisch begründetes Totalitätskonzept und markiert die Grenze der Übertragbarkeit. s8
53 Gleichsam leitmotivisch spricht Benjamin von dem ,,Ausfall aller Eschatologie" (I/ 1.259, vgl. daneben nur 111,246 .,Es gibt keine barocke Eschatologie."). 54 Bemd Witte, Allegorien des Schreibens. Eine Lektüre von Walter Benjamins Trauerspielbuch. in: Merkur 1/92. 125 - 136. 126. 55 Makropoulos. 126. Mit dieser Intention setzt sich Karl Heinz Bohrer kritisch auseinander, vgl. ders., Der Abschied. Theorie der Trauer: Baudelaire, Goethe. Nietzsche. Benjamin, Frankfurt/M .• 1996, siehe auch l.3.b). 56 Vgl. Kurz, 31.
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Kurz. 42.
Von hier aus kann die Diskussion dieses spezifischen Allegoriebegriffs in der Postmoderne. die allem Fragmentarischen eine hohe Würde zuspricht. beleuchtet werden (vgl. z. B. den Beitrag von Willem van Reijen, Labyrinth und Ruine. Die Wiederkehr des Barock in der 58
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Benjamin "setzte voraus, daß es eine ontologisch fundierte Kohärenz der modemen Wirklichkeiten jenseits der technischen und sozialen Konstruktionen von historischer Realität geben müsse, und er war überzeugt, daß diese Kohärenz nur durch Offenbarung evident würde.,,59
Seine Geschichtsphilosophie hebt die diagnostizierte Heterogenität historischer Wirklichkeit in einer höheren, allerdings unverfügbaren Einheit auf. Aufgrund des geschichtsphilosophischen Zusammenhangs gibt die Analyse des Allegoriebegriffs Benjamins Auskunft über sein Verständnis der Modeme und ihrer Literatur. Benjamin repräsentiert dabei einen spezifischen Bereich ihres Selbstverständnisses. Seine Vorgaben, die nicht zuletzt auf einer umstrittenen Baudelaire-Deutung beruhen,60 führen jedoch auch zu einer Perspektivenverengung und einer normativen Bestimmung der literarischen Modeme, vor deren Hintergrund beispielsweise Das Salzburger Große Welttheater Hugo von Hofmannsthals, das dieser selbst als allegorisch betrachtet und das unter bestimmten Gesichtspunkten durchaus einer modemen Typik entspricht,61 nur als anachronistisch begriffen werden kann. So soll in diesem Abschnitt der Allegoriebegriff Benjamins auch in seinen normativen Implikationen bzw. Grenzen verdeutlicht werden.
a) Die barocke Allegorie zwischen Rettung und Zerstörung Walter Benjamin gewinnt seinen Begriff der Allegorie in kritischer Abgrenzung vom Symbol. Diese Unterscheidung macht die Allegorie als eine sprachkritische Figur deutlich. Hat das Symbol dem von Goethe geprägten Verständnis nach die Möglichkeit zur Voraussetzung, "vom Sinnlichen aus zum Göttlichen hinaufgePostmoderne, in: Allegorie und Melancholie/ders. (Hg.), Frankfurt/M., 1992.261-291; ferner den Band: Ruinen des Denkens: Denken in Ruinen / Norbert Bolz und Willem van Reijen (Hg.), Frankfurt / M., 1996). Wenn Lyotard "eine verbindliche Zielsetzung für Thcoriebildung und -anwendung" aufgrund einer radikalen Kontextualität aller Bedeutung ausschlie8t (van Reijen, Labyrinth, 286), so unterscheidet ihn dies signifikant von Benjamins Grundlegung der philosophischen Aufgabe. Walter Benjamins Erkenntnis- und Fortschrittskritik ruht auf einem anderen Fundament. Beide beziehen Philosophie auf Wahrheit, beide sehen die Unmöglichkeit des modemen Subjekts, diese universal handlungswirksam zu machen. Lyotard gibt dieser Erkenntnis nun eine konstruktive Wendung, indem er den Abschied vom Einheitspostulat zugunsten einer Pluralisierung und Kontextualisierung von Werten fordert. Benjamin hingegen hinterlä8t einen passiven Allegoriker, den der Einbruch des ganz Anderen (Allegorie der Auferstehung!) ablöst. Zur Vorstellung des Messianischen siehe I.3.c). 59 Makropoulos, 158. In dieser - von Makropoulos nicht als unumgänglich akzeptierten notwendigen und ontologisch begründeten Kohärenz erkennt er das Kemproblem Benjamins, das ihm letztlich die Überwindung der Modeme unmöglich macht und ihn wie seine Zeitgenossen als verhaftet im 19. Jahrhundert erweist. (j() Siehe I.3.b). 61 Siehe B.m.
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B. Der ,,Aufbruch" der Weltordnung in der Literatur
führt zu werden", so ist es dieser bruchlose Übergang, der der Allegorie fehlt. 62 Gadamer hat gezeigt, daß der Wertgegensatz von Allegorie und Symbol mit der Lösung von der Genieästhetik hinfällig wird, und damit den von Benjamin eingeschlagenen Weg der ,,Ehrenrettung der Allegorie,,63 fortgesetzt: ,,Die feste Vorfindlichkeit des Begriffsgegensatzes: das organisch gewachsene Symbol die kalte, verstandesmäßige Allegorie, verliert ihre Verbindlichkeit, wenn man ihre Bindung an die Genie- und Erlebnisästhetik erkennt. ,,64
Die diesem Gegensatz zugrundeliegende Idee der "Freiheit der symbolisierenden Tätigkeit des Gemüts" sei "durch das Fortleben einer mythisch-allegorischen Tradition begrenzt.,,6s Während Gadamer aber die Konsequenz zieht, daß sich Allegorie und Symbol stärker aneinander annähern, die Polarität mithin hinfällig wird, wehrt sich Benjamin gegen die Abwertung der Allegorie, indem er sie klar gegenüber dem Symbol favorisiert. Dies impliziert ein spezifisches Verhältnis zwischen dem allegorischen Kunstwerk, seinem es wissend schaffenden Dichter und der Wirklichkeit, in der es steht. Das Kunstwerk verweist nicht unmittelbar auf Wahrheit und ist nicht Ergebnis des autonomen Schaffens eines sprachrnächtigen Künstlers. Die Näherbestimmung des Begriffs erhebt Benjamin anhand der barokken Allegorie. Er gelangt an keiner Stelle zu einer rein formalen Definition, frei von geschichtsphilosophischem Gehalt. 66 So gehen Akzentverschiebungen gegenüber dem Mittelalter bereits in die Definition ein. 67 Die Allegorie trägt die Signatur der Zerstörung, ist erstarrte Natur und Todesfratze, deutlich unterschieden vom Symbol, das organische Ganzheit, ,,Erlösung" aufscheinen läßt (1/1,351.343). Sie indiziert Geschichtlichkeit im Sinne von Vergänglichkeit. Insofern ist es gerade die Allegorie, die das Einwandern der Geschichte als ,,Natur-Geschichte" (1/1,353) ermöglicht: ,,Mit dem Verfall, und einzig und allein mit ihm, schrumpft das historische Geschehen und geht ein in den Schauplatz." (1/1,355) Exemplarisch steht für diese Schrumpfung das Bruchstück in Form der Ruine oder der Leiche. 68 62 Hans-Georg Gadamer: Hermeneutik I. Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen, 6. Aufl., 1990. (Gesammelte Werke 1),79. 63 Gadamer, Wahrheit und Methode, Vorwort zur 2. Auflage, XVII, Anm. 1 (Wahrheit und Methode. Ergänzungen. Register, Tübingen, 1993, Anm. 123,441). 64 Gadamer, Wahrheit und Methode, 86. 6S Gadamer, Wahrheit und Methode, 86. 66 Benjamins Allegoriebegriff eignet sich daher nicht als Beschreibungsinstrument flir das Welttheatermotiv, das von Kurz als allegorisches Muster gekennzeichnet wird (vgl. Kurz, 49). 67 Zu denken ist insbesondere an die Betonung der Konstruktion. Mittelalterliche Allegorien arbeiten in stärkerem Maße mit feststehenden Beständen, die die konstruierende Tätigkeit der Dichter und Dichterinnen in den Hintergrund treten lassen. Hingewiesen sei beispielhaft auf die verbreitete Allegorie der ,,Frau Welt". Siehe auch das Allegorieverständnis Hugo von Hofmannsthais; B.m.i. dieser Arbeit. 6S Vgl. 1/1,352. In ersterer ist die "allegorische Physiognomie der Natur-Geschichte" gegenwärtig (111,353), in letzterer sieht Benjamin die ,,Allegorisierung der Physis" (111,391).
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Es ist ein antinomischer Doppelcharakter, der die Allegorie kennzeichnet: Da sie nicht für sich steht, wird sie als Ding entwertet; umgekehrt erhält sie durch ihr Hinweisen auf ein bedeutungsvolles Anderes eine neue, höhere Würde, ja gleichsam eine Heiligung (1/1,351). So begegnen sich in Allegorien Vergänglichkeit und Ewigkeit, erfährt das Endliche eine indirekte Rettung: ,,Ist doch die Einsicht ins Vergängliche der Dinge und jene Sorge, sie ins Ewige zu retten, im Allegorischen eins der stärksten Motive." (1/1,397) Die theologisch gefaßte Bewahrung findet auch dort ihren Ausdruck, wo Benjamin die Allegorie als sakrale Schrift beschreibt. (1/1,351) Diese Verankerung der Allegorie scheint der subjektiven Macht des Allegorikers, Bedeutungen zu setzen, zu widersprechen und führt auf die Antinomien des Allegorischen zurück. 69 Die Möglichkeit zur Sinnstiftung, die dem AIlegoriker zugesprochen wird, stellt ihn immer wieder aufs neue vor die Aufgabe der Deutung des Bestehenden, das ihm rätselvoll gegenübertritt.70 Gerade das sakrale Element macht dabei das Geheimnisvolle aus, dessen Kehrseite Bedeutungsunsicherheit ist. Diese schlägt sich in einer konstruierten Bedeutungsvielfalt nieder. 71 Mithin eignet der Allegorie keine einlinige Referenzstruktur. Vielmehr erweist sie die Unmöglichkeit einer unmittelbaren Repräsentation von Wahrheit. ,,Die Intention der Allegorie ist so sehr der auf Wahrheit widerstreitend, daß deutlicher in ihr als irgend sonst die Einheit einer puren, auf das bloße Wissen abgezweckten Neugier mit der hochmütigen Absonderung des Menschen zutage tritt." (1/1,403)
Eine Intention auf Wahrheit wäre dieser auch nicht angemessen, zumal Wahrheit durch Intentionslosigkeit bestimmt ist. 72 Insofern besteht eine Analogie zwischen dem Wesen der Allegorie und dem Wesen der Wahrheit, die auf den sakralen Charakter der Allegorie zurückführt. Die Intentionalität der Allegorie erweist sich hingegen in ihrer offensichtlichen Konstruiertheit. Sichtbar setzt der Allegoriker eine Bedeutung, deren Verlust an sich Auslöser der Allegorie ist. Die konstruierte Bedeutung muß mittelbar bleiben. Gleichsam gesetzgebend fordert Benjamin: "Sein Kombinieren darf der Dichter nicht vertuschen, wenn anders nicht sowohl das bloße Ganze, denn dessen offenbare Konstruktion das Zentrum aller intentionierten Wirkungen war." (1/1,355) Die Konstruktion gilt Benjamin folglich als Hauptintention. Permanent muß der Sinnverlust, den sie indiziert, vergegenwärtigt werden (vgl. 1/1,359). Und einzig in Trümmerbauten der Allegorie weisen die Bruchstücke des Verfalls über sich selbst hinaus und auf neue Ganzheit jenseits ihrer Geschichtlichkeit hin?3
69 Vgl. Michael Kahl: Der Begriff der Allegorie in Benjamins Trauerspielbuch und im Werk Paul de Mans. In: Allegorie und Melancholie/W. van Reijen (Hg.), Frankfurt/M., 1992,292-317.295. 70 Vgl. 111,319. 71 Vgl. Kahl, 296. 72 Vgl. 111, 216; zum GlUcksverständnis Benjamins siehe 1.3.c). 73 Zur ,.allegorischen Totalität" vgl. 111,409.
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Die Macht des Allegorikers indes erweist sich im Umgang mit der "sakralen Schrift" Allegorie, seiner Gestaltungsfähigkeit zum Trotz, als begrenzt. Sprachliches Indiz dafür sind die zahlreichen Substantivierungen und Formulierungen im Passiv, hinter denen die Person des Künstlers verborgen bleibt, die Allegorie als Personifikation hingegen ontologischen Charakter gewinnt. 74 Die beiden von Benjamin besonders hervorgehobenen Allegorien Ruine und Leiche, gegenständlich und vergänglich, sind bezeichnenderweise stumm. Natürliche Sprache bliebe offenbar hinter ihrer Aussagefähigkeit zurück, Hinweis auch auf die Sprachohnmacht des Allegorikers. Wie hier, so sind die Möglichkeiten des neuzeitlichen Subjekts bei Benjamin insgesamt äußerst begrenzt. Der Ausfall der eschatologischen Heilsgewißheit wird nicht zur Grundlage einer Begründung des Subjekts in sich selbst. Vielmehr ist der Mensch in die undurchsichtige Wirklichkeit verstrickt. Dabei bleibt die Sehnsucht nach Überwindung der Kontingenz, die der Mensch allerdings selbst nicht leisten kann, erhalten. Die Möglichkeitsräume, die zunächst unumschränkte Gestaltungsmacht zu bieten scheinen - fürstliche Autorität in der absolutistischen Diktatur, künstlerische Gestaltung von Weltwirklichkeit - , werden von Benjamin konfrontiert mit einer tatsächlichen Unmöglichkeit des Menschen, wahrhaft autonom zu entscheiden und letztgültigen Sinn zu setzen. 75 In der konstruierenden Tätigkeit des Allegorikers dominiert daher vorläufig das - beinahe beliebige - Bedeuten angesichts der abgründigen Wirklichkeit: Aus der Fülle des barocken ,,Bilderschatz(es)" schöpft der Allegoriker und begegnet so der entleerten Welt mit vorläufiger Sinngebung.76 Daraus resultiert die unvermeidbare Gegenbewegung, ein Umschwung, den Benjamin mit dem theologischen Begriff der Auferstehung faßt. Sie ist in der sinnsetzenden Aktivität des subjektiven, wissenden, daher "bösen" Allegorikers begründet, aber nicht in dieser aufgehend (11 1,406 f.). Wenn so am Schluß die Allegorie "leer ausgeht", so erscheint dies wie ein Verrat: Das Nichts, auf das sie weist, darf nicht als solches stehenbleiben, doch ist dessen Füllung im Grunde eine Vernichtung ihrer eigentlichen Aussage. Auch dieser Verrat verbleibt indes nicht im Horizont der Immanenz, sondern garantiert eine transzendente Rettung: "Subjektivität, die wie ein Engel in die Tiefe niederstürzt, wird von Allegorien eingeholt und wird am Himmel, wird in Gott durch ,Ponderaci6n rnisteriosa' festgehalten." (I/ 1,408)
Die Subjektivität des Allegorikers fällt gleichsam in die Vernichtung, ist als Engel Bote des Abbruchs. Dieser gewaltsame Sturz bleibt nicht als solcher stehen. 74 V gl. etwa "unsicher durch den Allegoriker gelesen". Oder: ,,Dem allegorisch Bedeutenden ist es durch Schuld versagt, seine Sinnerfüllung in sich selbst zu finden." 1/1,398. 75 Diesen Zusammenhang hat Michael Makropoulos herausgearbeitet. Vgl. insbesondere den Abschluß seiner Studie: V. Kontingenz als theoretisches Leitproblem, 150/51; 157/58. 76 1/ 1,405. Vgl. 1/ 1,359.
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Vielmehr erfahrt die totale Verlustanzeige eine unverfügbare Antwort. Geradezu eigenmächtig wird sie durch die Allegorien aufgehoben und schließlich göttlich bewahrt. Rettend ist die Wirklichkeit transzendiert. Die Qualität dieser Rettung ist momentan und dennoch gleichsam eschatologisch: In der Zeit realisiert sich augenblickshaft die gültige Erlösung der "Auferstehung", die über die Gegenwart hinausführt und ihr Kontinuum transzendiert. Der Macht des Allegorikers ist folglich eine zweifache Grenze gesetzt. Er gehört zu den in seine Epoche unausweichlich Verstrickten und kann dem Allegorisieren ebensowenig entgehen wie seiner Überbietung. Diese tritt allerdings erst dann ein, wenn die Todessignatur alles Weltlichen in voller Radikalität zum Tragen gebracht worden ist, eine Denkfigur, die Benjamin mit der Negativen Theologie teilt. 77 Die Allegorie gilt ihm als diejenige Ausdrucksform, die die umfassende, sichtbare Anerkenntnis der Vergänglichkeit artikuliert, die Voraussetzung der hereinbrechenden, messianischen Offenbarung ist. Bei aller kunstschöpferischen Macht ist die Regie im Trauer-Spiel konstruiert, somit letztlich scheinhaft und vorläufig. Und aller Konzentration auf den Schauplatz der Geschichte zum Trotz drängt der geschichtsphilosophische Entwurf über diese Wirklichkeit hinaus. Ort dieser Transzendierung im Vorgriff auf eine erlöste Zeit - ,,Auferstehung" - bleibt allerdings das Kunstwerk, dessen eschatologische Dimension daher selbst allegorisch lesbar wird. Diese allegorische Lesbarkeit legt es nun nahe, das Allegorieverständnis Benjamins mit seiner Vorstellung von Kunstkritik und philosophischer Kontemplation gemäß der Vorrede zu verbinden: ,,Auferstehung" stellte sich dann durch eine solchermaßen glückende Kunstbetrachtung ein. 78 Auch diese bleibt freilich Bestand77 Jacob Taubes weist auf die Nähe zu Karl Barths Theologie hin (ders., Die Politische Theologie des Paulus. Vorträge gehalten an der Forschungsstätte der evangelischen Studiengemeinschaft in Heidelberg, 23.-27. Februar 1987, nach Tonbandaufzeichnungen redigierte Fassung von Aleida Assmannl A. u. J. Assmann (Hg.) in Verbindung mit H. Folkers, W.-D. Hartwich, ehr. Schulte, München, 1993, 104 f., und s.u.). Die ,,Mystik des Negativen" wird zur Grundlage von Adornos Negativer Dialektik (vgl. Witte, Der Intellektuelle, 83 f.). Auch Karl Barth betont indes die Spannung von Diskontinuität und Kontinuität. Weltgeschichte wird bei aller Radikalität des Neueinsatzes nicht hinfallig, sondern göttlich erfüllt: ,,Der neue Weg, wenn er wirklich neu sein soll, muß sich als absolut, nicht bloß als relativ neu erweisen. Und das muß sich vor allem darin zeigen, daß sich der tiefste Gehalt des Alten im Neuen wiederfindet, ja gerade im Neuen zu seiner vollen Auswirkung und Entfaltung kommt, daß der rote Faden der bisherigen Weltgeschichte in der anhebenden Gottesgeschichte nicht abreißt, sondern im Gegenteil sein Ziel erreicht, daß in der eigentlichen Geschichte nicht etwa der Unsinn der sogenannten Geschichte, sondern objektiv und positiv gerade ihr tiefster Sinn zum Durchbruch und zur Klarheit kommt. Es handelt sich bei der kommenden Welt nicht um eine Entleerung, sondern um die Erfüllung der vergehenden Welt. Die offenbar gewordene Gotteskraft eröffnet nicht eine neue Geschichtszeit nach und hinter der andern, sondern sie bringt als Längsschnitt durch die Zeiten die göttlichen Möglichkeiten aller Perioden zur Erscheinung und zur Realisierung." (Der Römerbrief, Erste Fassung, 1919, Zürich, 1985 [Gesamtausgabe, 2. Akademische Werke I H. Schmidt (Hg.)], 67) 78 Vg1. Thomas Schwarz Wentzer, Bewahrung der Geschichte. Die hermeneutische Philosophie Walter Benjamins, Bodenheim, 1998 (Monographien zur philosophischen Forschung 277),318 f.
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teil des metaphysischen Entwurfs und bezeichnet kein Ennächtigungsgeschehen eines autonomen Subjekts. b) Von der Allegorie zum Allegoriker Der metaphysisch-theologische Aspekt, der die Erkenntniskritische Vorrede der Trauerspielschrift und insbesondere die oben besprochene Schlußpassage prägt, tritt in den unter dem Titel Charles Baudelaire: Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus vereinten Texten zurück zugunsten einer materialistischen Deutung. Benjamin liegt hier daran, Baudelaire als Vertreter des "politischen Typus" darzustellen, den Marx als "Verschwörer" bezeichnet (1/2,513). Hervor tritt nun die historische Selbstentfremdung des Subjekts im 19. Jahrhundert. 79 So bleibt auch im Baudelaire-Buch eine geschichtsphilosophisch-nonnative Grundlegung erhalten, wenn auch mit anderer Akzentuierung. Wie der barocke Allegoriker tritt auch der Baudelaire Benjamins als Konstrukteur hervor. Sein schriftstellerischer Umgang mit der Sprache ist dadurch gekennzeichnet, daß er Elementen der Alltagssprache unvermittelt allegorische Bedeutung verleiht, nicht auf einen Fundus tradierter Allegorien zurückgreift oder sich feststehender Bedeutungen bedient: 8o "Kein Wort seines Vokabulars ist von vornherein zur Allegorie bestimmt. Es empfängt diese Charge von Fall zu Fall; je nachdem, worum die Sache geht, welches Sujet an der Reihe ist, ausgespäht, zerniert und besetzt zu werden." (I12,603)
Damit eignet der Allegorie eine Dynamik, die für ihren Wahrheitswert von großer Bedeutung ist: Ihr "blitzhafte(s) Auftauchen" (1/2,603) steht in Verbindung zu Benjamins Konzept der sich im Bild erfüllenden Jetztzeit,81 weist aber auch zurück auf den Umschwung der Allegorie in der ,Ponderacion misteriosa'. Das augenblickshafte Erscheinen durchbricht in geradezu revolutionärer Weise das konventionelle Bedeutungskontinuum: Baudelaires "Technik ist die putschistische." (1/2,603) In Zentralpark präzisiert Benjamin diese "putschistische Technik": Auch sie bewahrt jene Dialektik von Zerstörung und Bewahrung, die schon die barocke Allegorie kennzeichnet: ,,Das von der allegorischen Intention Betroffene wird aus den Zusammenhängen des Lebens ausgesondert: es wird zerschlagen und konserviert zugleich. Die Allegorie hält an den Trümmern fest. Sie bietet das Bild der erstarrten Unruhe." (I1 2,666) Vgl. I.2.b) zur Modeme als Rolle. Dies ist einer der Gründe, weshalb Bohrer eine Kennzeichnung Baudelaires als Allegoriker ablehnt: "die Spur des Subjektivismus verhindert die Allegorie in Baudelaires Lyrik ... Die allegorische Sprache hat eine Statuarik, die Baudelaires Verse trotz erhabenem Gestus nicht besitzen. Ihr Schein spiegelt keine feste Zeichengebung wider wie die Allegorie." (Karl Heinz Bohrer, Abschied, 531) 81 Vgl. dazu Willem van Reijen, Der Messias und der letzte Gott. In: Heilsversprechenl N. Bolz; W. van Reijen (Hg.), München, 1998. 115-136. 122. 19
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Damit indiziert auch Baudelaires Allegorie Verlust, ohne indes neuen Sinn, der über den Verweis auf Verfall hinausginge, zu setzen. Dieser Verweis erhält seine Würde, indem der kontinuierliche Verlauf - die Zusammenhänge des Lebens - aufgesprengt wird. Die aufblitzende Allegorie rettet den Augenblick. Diese im wörtlichen Sinne konservative Tendenz liest Benjamin keineswegs unpolitisch, zumal Baudelaires Zielperspektive in seiner Darstellung weitreichend ist: ,,Den Weltlauf zu unterbrechen - das war der tiefste Wille in Baudelaire." (1/2,667) Zu diesem Zweck setzt er seine destruktive Kraft ein, die das Kontinuum der Verfallsgeschichte aufsprengt. Anders als die barocke trägt die modeme Allegorie deutliche Spuren der Subjektivität (vgl. 1/2,671). Sie zeugt von einer Wendung nach innen, ohne indes in der Innenwelt einen Ort lebendiger Subjektivität ausmachen zu können: ,,Die Allegorie hat im neunzehnten Jahrhundert die Umwelt geräumt, um sich in der Innenwelt anzusiedeln. Die Reliquie kommt von der Leiche, das Andenken von der abgestorbenen Erfahrung her, welche sich euphemistisch Erlebnis nennt." (1/2,681) So ist es gerade der Erlebnisverlust, der durch die Allegorie angezeigt wird. Damit erstreckt sich die Verfallsdiagnose auch auf das Subjekt und sein Empfinden selbst. Dies wird besonders deutlich dort, wo Benjamin die gleiche allegorische Figur für Barock und Modeme untersucht. Während das Barock die Leiche lediglich von außen betrachtet, sieht Baudelaire sie darüber hinaus von innen (vgl. 112,684). Trotz der grundsätzlichen Offenheit von Begriffen für den allegorischen Gebrauch in Baudelaires Dichtung hebt Benjamin für Baudelaire und die Modeme exemplarische Allegorien heraus. 82 Subjektivität bedeutet auch keineswegs Individualismus. Aus der Reihe der modemen Allegorien zeichnet Benjamin insbesondere das Andenken aus, das an die Stelle der typischen Barockallegorie getreten ist: ,,Die Schlüsselfigur der frühen Allegorie ist die Leiche. Die Schlüsselfigur der späten Allegorie ist das ,Andenken'. Das ,Andenken' ist das Schema der Verwandlung der Ware ins Objekt des Sammlers." (1/2,689) Bezugspunkt ist also nicht mehr erstorbenes Leben, sondern die Realität der entindividualisierten materiellen Welt. Die spezifische Qualität des Andenkensammeins, die Benjamin explizit von der Erinnerung abgrenzt (vgl. 112,690), weist darüber hinaus auf eine Bewahrung, die dasjenige, worauf sie verweist, vergegenständlicht und in eine gleich-gültige Reihe stellt. Als modeme Allegorien tragen die Andenken die Signatur des Fortschritts. Entsprechend ist der den Allegoriker kennzeichnenden Verfassung der Melancholie 82 "Wo la Mort oder le Souvenir, le Repentir oder le Mal sich zeigen, da sind Zentren der poetischen Strategie." (1/2,603)
SPieper
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die "technische Entwicklung" vorgeordnet. 83 Tatsächlich interessiert Benjamin an Baudelaire die Subjektivität auch nur, insofern sie das kollektive Zeitempfinden repräsentiert. So deutet er noch dessen ausfallende Verstellungen im Rahmen historischer Zwänge: ,,Baudelaires exzentrische Eigenart war eine Maske, unter der er, man darf sagen aus Scham, die überindividuelle Lebensform, bis zu einern gewissen Grade auch seiner Lebensschicksale zu verbergen suchte." (1/ 2,690)
Dieser überindividuellen Notwendigkeit gilt gerade Benjamins Interesse. Somit kommt der gestaltungsmächtige Künstler der Modeme - wie der barocke - auch dort, wo er sich den Zwängen zu widersetzen sucht, stets als ein unausweichlich in sie verstrickter in den Blick. Diese beengende Distanzlosigkeit geht einher mit Maskerade und Rollenspiel als einziger Daseinsmöglichkeit. 84 Das nicht authentische Sein des Rollenspielers weist gerade im Zusammenhang mit der stärker subjektiven Ausrichtung gleichsam ihr zum Trotz auf die forcierte Entfremdung des historischen Subjektes hin und wird lesbar als authentisches Sein des entfremdeten Subjekts. Bei aller Verankerung Baudelaires in seiner Zeit betont Benjamin seine herausragende Rolle: Stilisiert er ihn zu demjenigen, der allein die ,,Rolle" Modeme zu spielen vermag8S , so kann er gerade aufgrund der Identifikation Baudelaires mit dem modemen Sein schlechthin auch dann noch an seinem geschichtsphilosophischen Deutungsmuster, das die Allegorie als idealtypische Ausdrucksform auszeichnet, festhalten, wenn dies vom Gesamtbild der Epoche her nicht mehr einleuchtet. Lapidar stellt er fest: ,,Baudelaire ist als Allegoriker isoliert gewesen; seine Isolierung war in gewisser Hinsicht die eines Nachzüglers." (1/2,690) Die Isolierung weist wiederum beispielhaft auf die Entfremdung hin. Und noch in der Randständigkeit der Allegorie im 19. Jahrhundert erkennt Benjamin ihren Wert, hebt sie sich doch damit von der entschärfenden Verbreitung im Barock ab: ,,Diese Routine hat bis zu einem gewissen Grade die destruktive Tendenz der Allegorie, ihre Betonung des Bruchstückhaften am Kunstwerk beeinträchtigt " (1/2,690) Gerade in seinem ausgezeichneten Dasein und künstlerischen Schaffen wird der Allegoriker Baudelaire für Benjamin zu dem Repräsentanten der Modeme. Freilich hat sich ein bezeichnender Wandel vollzogen: Nicht mehr das Trauerspiel als favo83 1/2,685. Karl Heinz Bohrer hat den Unterschied der Bezugspunkte hervorgehoben und die Vergleichbarkeit der Allegorie der Leiche aufgrund ihrer ,,rnetaphysisch-theologische(n) Implikation" mit dem ,,Andenken als Akt eines ökonomischen Verwandlungsprozesses" bestritten. Ist der ,,Reflexionsmodus" an sich unvergleichbar, so ergibt sich die Möglichkeit der Parallelisierung dadurch, "daß die Subjektivität der Baudelaireschen Melancholie hinter einern betonten Wissensakt verborgen bleibt." Bohrer spitzt seine Kritik zu und erkennt in Benjamins Vorgehen ein Verfahren, das die ,.subjektiv-ästhetische Zeitemphatik des Dich-ters zugunsten einer geschichtstheoretischen These" ausblendet (Bohrer, Abschied, 512, Fußn.36). 84 Vgl. I.2.b). 85 Vgl. I.2.b).
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risierte Gattung tritt in den Blickpunkt, sondern die in hohem Maß subjektiv orientierte Lyrik. In seinen Gedichten bringt Baudelaire - nach Benjamin - die geschichtliche Wirklichkeit in ihrer Tatsächlichkeit zum Ausdruck, setzt die Allegorie als Mittel der Entlarvung ein. Den Weltlauf unterbrechen zu wollen heißt auch und zunächst: Die harmonische Welt wird in Trümmer gelegt (vgl. 1/2,671). Die Kontinuität der melancholischen Verfassung vom barocken Allegoriker bis zu Baudelaire läßt diesen indes als wissend distanziert wie empfindend involviert erscheinen. In der Deutung seiner Person wie seiner Kunst zeichnet Benjamin ..das ästhetisch empfindsame Subjekt der Modeme als Möglichkeit einer neu zu gewinnenden Wirklichkeitserfahrung" aus. 86 In der Trauerspielschrift war die Gestalt der Welt an hervorragender Stelle mit theologischen Begriffen umschrieben worden: Der Ausfall der Eschatologie markiert den Einschnitt zwischen Mittelalter und Neuzeit. Daß zur Beschreibung der modemen Welt nun ökonomische Begriffe herangezogen werden, markiert zwar die materialistische Orientierung Benjamins, doch löst diese die theologische keineswegs ab, findet letztere sich doch auch in den geschichtsphilosophischen Thesen Über den Begriff der Geschichte (1942). Die Konzeption des Messianischen spielt in Früh- und Spätwerk eine wesentliche Rolle. In l.3.b) ist auf die Allegorie der Auferstehung bereits eingegangen worden. Eine nähere Betrachtung des Messianischen, die sich primär am Frühwerk orientiert, vermag Auskunft über die Frage der Spielleitung im Welttheater Trauer-Spiel zu geben und die Beziehung zwischen heilloser Welt und Erlösung zu erhellen. Dabei wird auch die motivische Kontinuität zu den geschichtsphilosophischen Thesen berücksichtigt.
c) Messianität im Allegorischen
Die geschichtsphilosophische Konzeption Benjamins, die die Trauerspielschrift prägt, verzichtet nicht auf die metaphysische Ebene. Bereits die Ausführungen zur Erkenntniskritischen Vorrede haben auf die Problematik des Verhältnisses zwischen phänomenaler Welt und Ideenwelt hingewiesen. Mit der Allegorie der Auferstehung entwirft Benjamin eine negative Beziehung zwischen historischer Gegenwart und Transzendenz: Die Erlösungswelt bietet einen unverzichtbaren, gleichzeitig aber unverfügbaren Horizont seines Entwurfs. Sie steht keinesfalls in linearer Verbindung zur (erfahrungsarmen) Erfahrungswelt. 87 Die eigentümliche Beziehung soll im folgenden unter Einbeziehung des Theologisch-politischen Fragments verdeutlicht werden. 88 Heil, 204. Zu dieser Problematik Heil, 66 - 80. 88 Theologisch-politisches Fragment, in: Gesammelte Schriften 11 /1/ R. Ttedemann, H. Schweppenhäuser (Hg.), Frankfurt/M., 1982,203 f. 86 87
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Trauerspiel und Allegorie sieht Benjamin als Gattung und Ausdrucksfonn, die Ersatzleistungen bringen: Angesichts des Fehlens der Eschatologie, der radikalen Einwanderung der Geschichte in den Schauplatz, treten sie an die Stelle der künstlerischen Darstellung des Heilsprozesses. Sie erscheinen als Säkularisate des Mysterienspiels, der Tragödie, des Symbols. Fonnuliert Benjamin schon in der Erkenntniskritischen Vorrede den essentiellen Zusammenhang zwischen Geschichtsphilosophie und Theologie, so erweist der Abschluß der Trauerspielschrift vollends die Grenzen dieser "Säkularisierung". Gestaltet in der Allegorie das neuzeitliche Subjekt eigenständig Wirklichkeit, so zeigt sich darin "der Triumph der Subjektivität und Einbruch einer Willkürherrschaft über Dinge" (1/1,407). Letztgültigkeit kommt dieser Wirklichkeit aber nicht durch menschliche Macht zu, sondern durch eine Überbietung, die der Allegoriker allenfalls insofern provoziert, als seine radikale Hinwendung zum Diesseitigen erst die Voraussetzung für die ,Ponderaci6n misteriosa' bietet. Die Selbsterlösung des venneintlich autonomen neuzeitlichen Subjekts ist ausgeschlossen. Es vennag keine Brücke zu schlagen zwischen seinem innerweltlichen Dasein und einer möglichen Erlösung. Insofern ist der Zusammenhang zwischen Diesseits und dem Geschehen, das sich aus dem Eingreifen der göttlichen Macht ergeben könnte und das unausgeführt bleiben muß, ein diskontinuierlicher und unverfügbarer. Die negativ-theologische Konzeption der Allegorie findet ihre strukturelle Analogie im Theologisch-politischen Fragment, das wenige Jahre vorher entstand.89 Hier fällt der Begriff des Messias, der im Ursprung des deutschen Trauerspiels. ungenannt bleibt, obgleich sich auch in diesem Werk ein messianischer Grundzug feststellen läßt: 90 ,,Erst der Messias selber vollendet alles historische Geschehen, und zwar in dem Sinn, daß er dessen Beziehung auf das Messianische selbst erst erlöst, vollendet, schafft. Darum kann nichts Historisches von sich aus sich auf Messianisches beziehen wollen." (11 /1 ,203)
Benjamin versucht hier, wie der Titel andeutet, eine Verhältnisbestimmung von Theologie und Politik vorzunehmen, die auf der radikalen Selbständigkeit der Politik insofern insistiert, als sie allein ohne Rekurs auf die sie in jedem Fall überbietende Größe ,,Reich Gottes" (11/1,203) tätig zu sein hat. Nur so erfüllt sie die Voraussetzung des messianischen Endes. Letzteres wird, wie der Sturz des Engels im Ursprung des deutschen Trauerspiels, nicht in linearer Kontinuität zum Historischen gedacht, ist "nicht Ziel sondern Ende" (TI /1 ,203). Profaner Bezugspunkt ist hingegen das Glück, das, obwohl dem Messianischen, das außerhalb des Historischen steht, diametral entgegengesetzt, eine Kategorie seines "leisesten Nahens" 89 Zur Frühdatierung Taubes, 97; Irving Wolfarth, ,,Immer radikal, niemals konsequent ...". Zur theologisch-politischen Standortbestimmung Walter Benjamins. In: Antike und Moderne. Zu Walter Benjamins Passagen/No Bolz; R. Faber (Hg.), Würzburg, 1986, 116-137, 129. 90 Die Vergleichbarkeit beider Texte zeigt auch das Vorgehen Wolfarths im genannten Aufsatz.
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(llIl,204) ist. Über die Idee des Glücks wird im Fragment eine "paradoxe(n) Beziehung von Messianismus und Geschichte" hergestellt. 91 So gibt es Benjamin zufolge einen Anhaltspunkt in der Immanenz fUr die Erlösungsvorstellung: Diese enthält allerdings wiederum an zentraler Stelle das Element des Zerstörung, denn Glück definiert sich vom Untergang her. 92 Der Bezug auf das Zeitliche, das durch die Dimension des Vergänglichen definiert wird, muß radikal vollzogen werden: ,,Erst indem Irdisches seinen Untergang erstrebt, anstatt sich auf die Ewigkeit zu beziehen, erfahrt es im vergänglichen Glück seine wahre Bestimmung.,,93 So vermag Benjamin eine Beziehung zwischen der Vorstellung des Messianischen und dem Glück, das dieser Vorstellung aufgrund der Erfahrungs- und Zeitgebundenheit des Glücks und der unauflösbaren Verbindung des Messianischen mit der Zerstörung zunächst widerspricht, zu schaffen: Das Glück zielt nicht in die Zukunft, sondern ist intentionslos, eine Eigenschaft, die ..abschließend nur dem Messianischen selbst zukommt: Es ist die Intentionslosigkeit, die Benjamin auch als das Zeichen der Wahrheit erkennt ... In diesem Verzicht auf die Intentionalität vergegenwärtigt das Glück seine Erlösungsbedürftigkeit, und hierin bleibt es auf das messianische Erlösungsgeschehen verwiesen".94
Die Analogie zwischen Glück und Wahrheit besteht in der Intentionslosigkeit; die Verwirklichung beider bleibt allein ein momentaner Vorgriff, der den Sprung zwischen Historie und diesem Ereignis nicht zu überwinden vermag. Die zweite These in Über den Begriff der Geschichte verdeutlicht darüber hinaus den Zusammenhang zwischen der Auslieferung an die Vergänglichkeit und der Dimension der Erfahrung: Nur was aus der Vergangenheit heraus in irgendeiner Weise bekannt, vertraut, als Möglichkeit denkbar ist, läßt eine Glücksvorstellung überhaupt erst entstehen. Von dieser Beobachtung leitet Benjamin die essentielle Verbindung von Glück und Erlösung her. Entscheidend ist an dieser Stelle die Bedeutung, die dem Vergangenen zugesprochen wird. Wo diese anerkannt und die Verbindung der Menschen über den Augenblick hinweg gegeben ist, kann Benjamin den Menschen "eine schwache messianische Kraft" (1/2,694) zubilligen, die höchste Würde, die er dem beständig mit dem Ausnahmezustand konfrontierten Menschen zuspricht, und Grundlage ftir politische Anforderungen, die insbesondere auf die Bewahrung des Vergangenen angesichts der unverftigbaren Zukunft zielen. Die Diagnose fUr den Fortgang der Geschichte bleibt dennoch unheilvoll. Der sogenannte Fortschritt fUhrt in die Katastrophe. 95 91 Heil, 145. 92 V gl. die IX. geschichtsphilosophische These: In höchst ambivalenter Weise spricht sie von einem vom Paradies her wehenden Sturm. Nur im Zusammenhang mit Trümmern und der Machtlosigkeit selbst des Engels kann Benjamin vom Paradies überhaupt sprechen (vgl. 1/2,697 f.). 93 Wolfarth, 122. 94 Heil, 146, unter Verweis aufIII,216, 1111,204. 95 Siehe die IX. These (1/2,698).
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Auch die Rede von der schwachen messianischen Kraft darf indes nicht daruber hinwegtäuschen, daß zumal der frühe Benjamin das Messianische als einen nicht antizipierbaren Einbruch in die Geschichte und nicht als lineare Konsequenz einer kontinuierlichen Entwicklung denkt. Vielmehr ist sein Messianismusbegriff durch seine "antiteleologische Struktur,,96 gekennzeichnet. Die materialistische Orientierung Benjamins tritt im Spätwerk gewiß deutlicher hervor, doch bleibt die theologische Verankerung der Geschichtsphilosophie erhalten,97 freilich mit einer bezeichnenden Umkehrung: Während im ..Ursprung des deutschen Trauerspiels" noch eine Unterordnung der Philosophie unter die Theologie suggeriert wird, so nimmt der historische Materialist der Thesen den häßlichen ,:Zwerg" Theologie in den Dienst.98 So ist die negativ-theologische Konzeption Benjamins "eher ein Prinzip, denn ein Gehalt" und ,,nirgends wirklich religiös".99 Sie bewahrt den abstrakten Charakter, der in der Vorrede zur Trauerspielschrift deutlich wird. Führt man die sprachphilosophische Dimension der Theologie, wie sie dort zum Ausdruck kommt, mit dem Schluß der Trauerspielschrift zusammen,l00 so steht das Ziel der kunstphilosophischen Betrachtung, in der Darstellung der Idee das symbolische Wort aufscheinen zu lassen, in Analogie zu dem offenbarenden Eingreifen Gottes. Der Philosoph, der der Methode der Wahrheit folgt, dem ,,In sie Eingehen und Verschwinden", erfüllt dann ebenso die Voraussetzung für die unverfügbare Antwort wie der Sturz des Engels. 101 Mit der Gewaltsamkeit des Sturzes hat diese philosophische 96 Heil, 139. Die ,.kategoriale Differenz von Politik und Messianismus, von Geschichte und Reich Gottes, die von keinem deckungsgleichen Mithandeln der Menschen relativiert wird" (147), hält Benjamin allerdings in Zur Kritik der Gewalt nicht durch (156). Zu einem aus dem Spätwerk hergeleiteten immanenten Verständnis des Messianischen vgl. Moses (zusammenfassend 405) und van Reijen, Heilsversprechen, 123. Im Unterschied zu Heil kritisiert Bohrer an Benjamin, er bleibe "der teleologischen Perspektive verhaftet", denn die Vorstellung des Messianischen stelle "die Verbindung von vergangener und zukünftiger Zeit, die ja das formale Grundelement teleologischen Denkens ist, auf ihre Weise sicher". (519) Bohrers Begriff von Teleologie ist sehr weit; die Verbindung von Zukunft und Vergangenheit wird nicht spezifiziert, während es gerade die spezifische Art dieser Verbindung ist, die Heil plausibel von der antiteleologischen Struktur sprechen läßt: Sie betont den Bruch zwischen Vergangenheit und messianischer Zukunft, einer Zukunft im Potentialis, die nicht antizipierbar ist. 97 Sich daher gegen die These von einer materialistischen Wende Walter Benjamins wendend, weist Taubes auf die Radikalität hin, mit der Benjamin im Fragment formuliert: "der Messias", nicht ,,das Messianische", nicht das "comme si" Adomos, sondern Bekenntnis. Von daher zieht Taubes die Parallele zwischen Walter Benjamin und Paulus (Taubes, 104 f.). 98 V gl. 1/2, 693. Die geradezu zwanghafte Verbindung hat Benjamin für sich selbst bekanntermaßen formuliert: ,,Mein Denken verhält sich zur Theologie wie das Löschblatt zur TInte. Es ist ganz von ihr vollgesogen. Ginge es aber nach dern Löschblatt, so würde nichts, was geschrieben ist, übrig bleiben." (1/3,1235) 99 Makropoulos,158. 100 Kritisch zu dieser Passage Menninghaus, 119,252 f. (Anm. 42). 101 Vgl. auch Wolfarth, 117, 120.
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Methode allerdings nicht viel gemein, eher mit dem Verschwinden, das in Rudolf Ottos negativer Theologie die ,,Allegorie der Hoffnung" bildet. 102 Das "überwältigende Versprechen von der ,zerstörenden Macht der Erlösung''', verbreitete und faszinierende Kraft zu Beginn des Jahrhunderts,103 klingt umso deutlicher aus Benjamins Verständnis der Neuzeit und Modeme vom Ausnahmezustand her. Dieses Verständnis zeigt freilich auch seine Sensibilität für die Bedrohung durch die Katastrophe nicht zuletzt in Gestalt des Fortschritts. Die Konzeption des Messianischen im Frühwerk erweist, wie konsequent Benjamin die seit dem Beginn der Neuzeit kennzeichnende Einwanderung der Geschichte in den Schauplatz denkt: Alles außerhalb dieses Schauplatzes Liegende ist unverfügbar und entzieht sich der menschlichen Beschreibungsmacht und Antizipationskraft. Erlösung läßt sich allenfalls negativ aussagen. Die ,,Rettung" der heillosen Wirklichkeit durch den künstlerischen Ausdruck, die philosophische Betrachtung, das kunstkritische Verstehen trennt eine unüberwindliche Kluft vom ,,Reich Gottes". Vor der Erwartung der sich zwangsläufig einstellenden Katastrophe nimmt sich die Zeichnung Baudelaires als eines Verschwörers mit putschistischen Umtrieben umso seltsamer aus: Revolutionär ist allein die Zeichnung der Welt in ihrer absoluten Heillosigkeit, die punktuell den Verlauf aufzubrechen vermag. Die Allegorie Baudelaires wie des Barock weist mit· dieser Unterbrechung auf Momente konkreter Eschatologie, die sich mittels des ästhetischen Diskurses realisieren, ohne vollends konstruiert zu sein. Anders als bei den epiphanischen "moments of vision" etwa Virginia Woolfs bleibt hier die metaphysische Basis erhalten. 104 Zerstörung wie Rettung in die erfüllte Zeit hinein sind ästhetisch-messianisch konzipiert und werden damit selbst allegorisch lesbar. lOS Sie ermöglichen eine Transzendierung, ohne ein Erlösungsreich auch nur zu entwerfen. Ein religiöses ,,Reich Gottes" bildet nicht den Richtpunkt der Vorstellung, sondern blitzhaft vorgreifende Realisationen, die wiederum nicht antizipierbar, sondern Gegenüber der negativ-theologischen Konstruktion sind.
4. Ergebnis: Vom allegorischen Trauenpiel zur Modeme als "RoUe" Benjamins Betrachtung des barocken Dramas und seine Diagnose der Geschichte seit dem Beginn der Neuzeit fallen zusammen im Trauer-Spiel als leitenMattenklott, Mythologie. 182. Mattenklott. Mythologie. 180. unter Verwendung einer Formulierung von Scholem. 104 Vgl. Bohrer. Abschied. 520. Zu nicht-metaphysischen Epiphaniestrukturen siehe B.lII.6. im Zusammenhang mit Hofmannsthais Welttheater. lOS Vgl. Heidbrink. 177. 102 103
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B. Der ,,Aufbruch" der Weltordnung in der Literatur
der Signatur. Historisches Geschehen und die Gattung des Trauerspiels, als der Zeit angemessen und notwendig begründet, weisen auf eine Welt, die um den heils geschichtlichen Rahmen reduziert ist: ,,Die Geschichte wandert in den Schauplatz hinein." Als solche wird sie zur Bedrohung. Die Allegorien der Leiche und der Ruine deuten auf die Todverfallenheit der Welt. Einzig durch die ästhetisch-messianische Konzeption bleibt im unausweichlich in den Untergang führenden Gang der Geschichte ein Verweis auf Erlösung enthalten. Zur Modeme hin erfährt die Entwicklung eine dramatische Zuspitzung: Die Theatermetaphorik kennzeichnet nun keine Gattung mehr, sondern wird für die Modeme selbst und ihren idealtypischen Vertreter Charles Baudelaire eingesetzt. Dem Geschehen korreliert nicht mehr eine bestimmte literarische Form, sondern die performative Existenz des Allegorikers. Baudelaire verkörpert die Modeme als ,,Rolle" mit vielfältigen Masken. Wachsende Fragmentarizität weist auf die steigende Entfremdung des Subjekts. Schon der barocke Dichter-Allegoriker tritt zwar einerseits als gestaltungsmächtiger Konstrukteur hervor, der insbesondere durch die Allegorie der Todverfallenheit der Welt "wissend" zum Ausdruck verhilft. Andererseits muß er stets die Mittelbarkeit seines schöpferischen Handeins herausstreichen, um den Verlust und die Unmöglichkeit jeder unmittelbaren Sinnaussage anzuzeigen. Darüber hinaus erweist er sich als nur begrenzt sprachfähig, überboten durch die sich ihm entziehende ,Ponderaci6n misteriosa·. Trotz der Analogie zwischen der "sakralen Schrift" Allegorie, philosophischer Versenkung, Kunstkritik und dem Wesen der Wahrheit ist der Sprung i~ Verhältnis zu ihr kein überwindbarer. Der Horizontverlust ist mithin durch keine Metaperspektive auf die Welt auszugleichen. In seiner Negation eignet dem barocken Trauerspiel eine Verweisstruktur: An die Stelle der göttlichen Ordnung tritt der Hof unter Führung des Souveräns. Der barocke Dichter vollzieht nun die Neubesetzung der Rollen und erweist sich für den begrenzten Bereich der (Bühnen-)Welt des Trauerspiels, das die in den Schauplatz eingezogene Geschichte repräsentiert, als Spielleiter mit begrenzter Regie. Die theologische Konzeption verweist auf das Prinzip einer allenfalls negativ auszusagenden völlig souveränen, göttlichen Instanz, deren ,,spielmacht" nur als Antwort auf Zerstörung zur Geltung kommt. Eine Zukunft wird angesichts des konstatierten Ausfalls der Eschatologie nicht entworfen. Die Rettung liest Trümmer auf, wendet sich dem Vergangenen zu, um es zu bewahren. Der modeme Dichter läßt nun nicht mehr spielen, sondern ist selbst Rollenträger. Dabei entfällt die negative Verweisstruktur auf eigentliche Welt und eigentliches Sein jenseits aller Scheinhaftigkeit. Die stärker subjektive Orientierung, die insbesondere in der Lyrik zum Ausdruck kommen kann, weist nicht auf das individuelle Subjekt, sondern auf einen in höchstem Maße entfremdeten und vereinzelten modemen Menschen. Wiederum zeigt sich die Gestaltungsmacht des Dichters in der Kraft, dieser Verfassung von Welt und Mensch zum Ausdruck zu verhelfen und darin das Verlorene als Verlust erfahrbar zu machen, dies in der rettenden Her-
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auslösung aus dem gleichgültigen Geschichtsverlauf. Darin liegt das "putschistische" Potential Baudelaires. Darin liegt überdies die Auszeichnung des ästhetischen vor allen anderen Diskursen. So eignet dem Subjekt aber letztlich keine Möglichkeit, den fatalen Fortgang der Geschichte aufzuhalten oder gar umzukehren. Die radikale Trennung zwischen politischer und messianischer Welt, die Benjamin insbesondere im Theologischpolitischen Fragment explizit gemacht hat, entlastet einerseits das Subjekt von der Überforderung, die heilvolle Entwicklung der Geschichte zu initiieren oder auch nur an ihr mitzuwirken. Doch droht andererseits der Umschlag in bloßen Aktivismus. 106 Die politische Dimension des Entwurfs ist weit problematischer, wo die ästhetische Mittelbarkeit, der allegorische Charakter des Geschehens fehlt. Möglichkeit und Auftrag des Subjekts lassen sich nicht von der Zukunft her bestimmen, sondern nur in Richtung auf das Vergangene, das es zu bewahren, zu retten gilt. Die Fragmentarizität des Benjarninschen Werkes nach der Trauerspielschrift selbst - des Baudelaire-Buches und des Theologisch-politischen Fragmentes beispielhaft - weist auf die Realisation der grundSätzlichen Fragmentarizität der Geschichte und die Unabschließbarkeit auch dieses Projektes hin. In Walter Benjamins Konstruktion wird die Allegorie zur idealtypischen Ausdrucksform des Trauerspiels: Das zentrale Moment barocker Welterfahrung, eine katastrophal erlebte Geschichte, die nicht mehr als Heilsgeschichte begriffen werden kann und im Zeichen der Vergänglichkeit steht, kann mittels der Allegorie künstlerisch angemessen artikuliert werden. Die Allegorie erscheint dadurch bereits inhaltlich bestimmt: Tod und Ausfall der Heilsgewißheit kommen in ihr zum Ausdruck. Den formalen Rahmen bietet das Trauerspiel, das Benjamins Geschichtsphilosophie als notwendige Kunstform exponiert. Die Bedeutung der Konstruktion läßt die Allegorie als modernes ästhetisches Verfahren erscheinen. Sie legt ihre Struktur offen und entspricht so nicht dem Ideal des organologischen Kunstwerks, verweist vielmehr auf dessen Unmöglichkeit. Benjamins Konzeption erkennt damit der Allegorie eine Zielrichtung zu, die auch den modernen Verfahren von Montage und Parodie eignet. Das schillernde Verhältnis von Bewahrung und Zerstörung ist der Spannung, die im entstellenden Fortschreiben von Stoffen liegt,l07 vergleichbar. Innerhalb der negativ-theologischen Konzeption Benjamins kann sich die Bewahrung jedoch einzig auf das Verlorene beziehen. Dessen Zerstörungssignatur ist total. Diese Absolutheit widerspricht dem Oszillieren zwischen Position und Negation, das beispielhaft die Werke Hofmannsthals, Lasker-Schülers und Kraus' kennzeichnet. Daher verdient es Beachtung, daß der Benjamin zufolge idealtypische Schöpfer des barocken Trauerspiels, der spanische Dichter Calderon, sich weiterhin der GatVgl. Heil, 147. Siehe die Kapitel zu den Dramen Karl Kraus' und Else Lasker-Schülers, B.II.1. und IV. I. 106
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tung des Mysterienspiels bedient: Das "auto sacramental" Das Große Welttheater thematisiert die Vergänglichkeit des Lebens unter klarem Verweis auf die Heilsgeschichte. Bevorzugtes Mittel ist die Allegorie, etwa in der Gestalt der Frau Welt. Benjamins geschichtsphilosophischer Ansatz, der Kunstformen als notwendig zu erweisen sucht, weist den Fronleichnamsspielen Calderons keinen Ort zu. Sie müssen ihm als anachronistisches Erbe des Mittelalters erscheinen, zumal nicht "ausgangslose Verzweiflung" (1/1,257), sondern Erlösungsgewißheit zum Ausdruck gebracht werden SOll.108 Die Tatsache, daß die Aufnahme des Welttheatermotivs insbesondere in Hugo von Hofmannsthals Salzburger Festspiel gerade ein über Calder6n vermitteltes Anknüpfen an mittelalterliche Geschichtsbetrachtung bedeutet, kann mit der Konzeption Benjamins nicht differenziert betrachtet werden. Gerade der variierende Umgang mit einer tradierten Konzeption, der nicht notwendig im Verhältnis des absoluten Bruchs stehen muß, vielmehr zwischen Kontinuität und Diskontinuität schillert, ist aber für die Interpretation des Welttheatermotivs von entscheidender Bedeutung. Die Verwendung des Welttheatermotivs in der Moderne weist auch auf metaphysische und religiöse Auffassungen, die zwar im Zeichen des Horizontverlustes stehen, aber nicht negativ-theologisch zu verstehen sind. Solche können mit Benjamin nur als der geschichtlichen Situation unangemessen gelten. Benjamins Beobachtungen zur konstruierenden Tatigkeit des Dichters treffen auf den an das Mittelalter anschließenden Calder6n des EI gran teatro dei mundo durchaus zu: In der Parallelität von göttlichem Meister und Autor tritt der Gestaltungsprozeß hervor. Dieser wird in besonders ausgeprägter Form bei Karl Kraus in der Gestalt des Nörgler-Autors und bei Else Lasker-Schüler deutlich, die die Dichterin auf der Bühne als Schöpferin des Werkes auftreten läßt. Die Stilisierung dieser traurig-verzweifelten Figuren ist dem Bild vergleichbar, das Benjamin von Baudelaire entwirft. Der Geschichtsphilosoph Walter Benjamin entwickelt folglich aufschlußreiche Perspektiven auf die moderne Literatur, stößt jedoch aufgrund seiner festgelegten Geschichtsdiagnose nicht zu den nötigen Differenzierungen vor. Sein Verständnis der Moderne zeugt innerhalb der negativ-theologischen Konzeption allerdings von einem zeittypischen Willen zur Ganzheit - der Fragmentarizität der Wirklichkeit zum Trotz. Immer bleibt das absolut Bruchstückhafte auf ein absolutes Gesamt "Wahrheit", ,,Reich Gottes" - bezogen. Insofern nimmt Benjamin eine so umfassende Bestimmung des Weltwesens vor, daß von einem Totalentwurf im Sinne Blumenbergs lO9 gesprochen werden kann.
108 Benjamin grenzt das Trauerspiel gerade darin vom Mysterium ab: "Die Verwandtschaft des Trauerspiels mit dem Mysterium wird in Frage gestellt durch die ausgangslose Verzweiflung, die das letzte Wort des säkularisierten christlichen Dramas sein zu müssen scheint." (1/1,257) 109 Vgl. A.III.
11. Karl Kraus: Die letzten Tage der Menschheit
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Im Gegenüber zur Todverfallenheit der Welt profiliert Benjamin den ästhetischen Diskurs als rettenden: Hier ist der Ort der - momentanen, gleichwohl erfüllenden - Bewahrung dieser wie auch immer finsteren Wirklichkeit, hier ist der keinesfalls gleichgültige Ort, in dem Erfahrung wiedergewonnen werden, Trauer artikuliert, Verzweiflung ausgedrückt werden kann, freilich nicht unmittelbar und unter Ausblendung von Individualität. In der "sakralen Schrift" der Allegorie, ihrem "blitzhaften Auftauchen" drängt das literarische Werk über das Kontinuum dieser Wirklichkeit zumindest momentan hinaus. Der literarischen Sprachform wendet sich die Untersuchung nun zu. In je eigener Weise verstehen auch Kraus, Hofmannsthal und Lasker-Schüler die modeme Wirklichkeit als ein tragisch-trauriges Spiel und versuchen, ihr mittels der Welttheatermetapher zum Ausdruck zu verhelfen.
11. Karl Kraus: Die letzten Tage der Menschheit Welttheater als Weltgericht Als Hugo von Hofmannsthal sich zu Beginn der zwanziger Jahre der mittelalterlich-barocken Welttheaterüberlieferung zuwendet und sie zur Grundlage eines Salzburger Festspiels macht, fällt Karl Kraus' Kritik vernichtend aus. Auf Leichenfeidern seien keine Festspiele zu veranstalten. Das Welttheater Calderonscher Prägung befindet er für anachronistisch. Und die Kooperation mit der katholischen Kirche erzürnt Kraus genug, um dieser Kirche, zu der er erst 1911 leise konvertiert ist, öffentlichkeitswirksam den Rücken zu kehren. llO Allerdings hat Kraus einige Jahre zuvor in seinem Drama Die letzten Tage der Menschheit 1ll selbst mit unterschiedlichen Dimensionen der Welttheatervorstellung gearbeitet: In der Zeit von 1915 -1921 dient sie ihm als Schlüssel zur künstlerischen Auseinandersetzung mit der historischen Katastrophe des Ersten Weltkriegs, die sich gegen eine ästhetische Bearbeitung in besonderer Weise sperrt. Kraus fällt angesichts des Kriegsausbruchs zunächst in Schweigen, das er erst durch dieses Drama, passagenweise in der Fackel veröffentlicht und immer wieder Gegenstand von Lesungen während des Krieges, wieder bricht. 112 Er insistiert nun 110 Kraus verläßt die jüdische Kultusgemeinde 1899, konvertiert 12 Jahre später zum Katholizismus und wendet diesem im März 1923 wieder den Rücken zu; vgl. Edward Timms, Karl Kraus- Satiriker der Apokalypse, Wien, 1995. 323. Das Verhältnis Kraus' zum Judentum - wie auch zum Christentum - ist uneindeutig. Um eine differenziertere Darstellung bemüht sich Alexander Lang, .. Ursprung ist das Ziel". Karl Kraus und sein ,,Zion des Wortes", Frankfurt/M., 1998. Er geht den Zusammenhängen zwischen der jüdischen Tradition und Kraus' Sprachauffassung nach. 1\I Karl Kraus, Die letzten Tage der Menschheit. Tragödie in flinf Akten mit Vorspiel und Epilog, Frankfurt/M., 1986 (Schriften/Chr. Wagenknecht (Hg.), Bd. 10). 112 Zum Verstummen Kraus', in das er auch 1933 wieder fällt, vgl. Fritz Betz, Das Schweigen des Karl Kraus. Paradoxien des Medienalltags (Schnittpunkt Zivilisationsprozeß 16),
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auf der Erinnerung dessen, was die Menschen ihm zufolge nur allzu gern verdrängen: "Denn über alle Schmach des Krieges geht die der Menschen, von ihm nichts mehr wissen zu wollen, indem sie zwar ertragen, daß er ist, aber nicht, daß er war." (10) Die Erinnerung hat dabei die Perspektive eines Gerichts endzeitlicher Dimension: Im Titel Die letzten Tage der Menschheit kündigt sich das apokalyptische Finale der Gattung homo sapiens an. Die Orientierung am Recht kennzeichnet Kraus' gesamtes Schaffen. Seine Intentionen sind ethischer Natur, jede Form des Ästhetizismus liegt ihm fern. So betont Elias Canetti, Besucher der Lesungen des Wieners: ,,Die Welt der Gesetze, die Karl Kraus ... hütete, vereinigte zwei Sphären, die sich nicht immer in so enger Verbindung manifestieren: die der Moral und die der Literatur. Vielleicht war in dem intellektuellen Chaos, das dem Ersten Weltkrieg folgte, nichts notwendiger als diese Verquickung." 113
Innerhalb der Wiener Modeme markiert Kraus mit seiner kritisch-satirischen Grundhaltung einen GegendiskursY4 Er grenzt sich ab von einflußreichen Denkern wie Nietzsche und Freud, doch spiegelt sich auch vor der Negativfolie das geistige Klima seiner Zeit. Für Die letzten Tage der Menschheit von besonderer Bedeutung ist der Umgang mit der Sprache, der nicht zuletzt den Sprachphilosophen Ludwig Wittgenstein inspirierte. 11S Es kennzeichnet allerdings die kritische Abwehrhaltung Kraus', daß er seine Position in keine systematische Gestalt kleidet. 1l6 Angesichts der katastrophalen Weltlage nehmen die Autorinnen und Autoren der ersten Jahrhunderthälfte die Welttheatervorstellung im Zusammenhang der Welt-Anschauungssuche auf. 117 Kraus jedoch bestreitet die Möglichkeit einer solchen Globalperspektive: ,,Die Sonne hat Weltanschauung. Die Erde dreht sich.,,1l8 1914 betont er, daß ihm "ein verhängter Himmel, dem eine Weltanschauung erspart bleibt, immer noch besseren Trost bringt als eine freie Erde, die zum Himmel Pfaffenweiler, 1994. Er stellt den Zusammenhang mit den Sprachreflexionen innerhalb der Wiener Modeme her. Zur Veröffentlichung sowie den Lesungen vgl. Christian Wagenknecht, Entstehung und Überlieferung (Anhang der Ausgabe), 775 -783. ll3 Elias Canetti, Karl Kraus, Schule des Widerstands, in: Das Gewissen der Worte, Essays, München, Wien, 1975, 39-49.41. 114 Vgl. Dagmar Lorenz, Wiener Modeme, Stuttgart, Weimar, 1995 (Sammlung Metzler 290). Sie kennzeichnet Karl Kraus zusammen mit Peter Altenberg als ,,Außenseiter" (VI). m Vgl. Reingard Nethersole, Kraus, Nietzsche, Wittgenstein, in: Karl Kraus. Diener der Sprache, Meister des Ethos I J. Strelka (Hg.), Tübingen, 1990 (Edition Orpheus 1), 309318. 311. 116 So stößt er trotz seiner ausgiebigen Sprachreflexionen nicht zu einer systematisch greifbaren Sprachtheorie vor, vgl. Josef Quack, Bemerkungen zum Sprachverständnis von Karl Kraus, Bonn, 1976 (Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft, 232).233. 117 Vgl. A.I. 118 Die Fackel, 338,1911,17.
11. Karl Kraus: Die letzten Tage der Menschheit
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stinkt".119 Greift Kraus dennoch auf das Welttheater zurück, so durchaus in diesem kritischen Sinne. Besonders bedeutsam erscheint daher Kraus' Kennzeichnung des Fünfakters als Tragödie, die mit der Charakterisierung des Stücks als "Dokument" eine spannungsreiche Verbindung eingeht. Sowohl das Dokument, das ,,Figur" ist (9), als auch die Tragödie weisen auf Reflexionen zur ästhetischen Komposition: Dokument wird nicht als Abbild verstanden, ist vielmehr gestaltende Durchdringung verstellter Wirklichkeit und "Sprung aus den zeitgeschichtlichen Zusammenhängen heraus in ein Sein bleibenden und eigenen Wertes". 120 Es ist nicht zuletzt der spezifische Gebrauch des Terminus Tragödie, über den der Zusammenhang mit dem Welttheater deutlich wird. Während Benjamin die Neuzeit als Trauerspiel begreift, erschließt sich für Kraus die epochale Bedeutung des Krieges als "Tragödie der Menschheit". Gleichwohl bestimmt den ,,Nörgler" ähnlich wie Benjamins Melancholiker eine Haltung verzweifelter Trauer. Kraus nimmt die wesentlichen Leitdifferenzen der Welttheatervorstellung auf: Indem er den Krieg als weltbeherrschende Tragödie bezeichnet, spielt er auf die Unterscheidung von Schein (Theater) und Wirklichkeit (Krieg) an, bezieht beide jedoch so aufeinander, daß der Tragödie höchste, wirklichkeitsbestimmende Kraft zukommt, sie folglich nicht als Illusion gelten kann. Die "Tragödie der Menschheit" weist auf Macht und Ohnmacht der Menschen, indem sie die geradezu schicksalhafte Verstrickung etwa der Kriegsopfer zeigt, vor allem aber die nicht wahrgenommene Verantwortung von Menschen in persönlichen und institutionellen Kontexten anklagt. Von dieser Verantwortung sind sie nicht freizusprechen, obschon Kraus die Grenzen ihrer Gestaltungskraft zum Ausdruck bringt. In mehrfacher Weise geht die Spannung von Distanz und Involviertheit ein. Der ,,Nörgler" ist kritischer Beobachter, die Kriegsberichterstattung macht grausamstes Geschehen zum Sujet der Presse. Ihrer manipulierenden Beobachtungsperspektive folgen die Leser. Als weltbeherrschende Wirklichkeit, die über Leben und Tod entscheidet, führt der Krieg jedoch letztlich jedwede distanzierte Perspektive ad absurdum. Für das Verfahren des höchst sprachbewußten Satirikers Kraus ist das Arbeiten mit Negationen und die verzerrende, kontrastierende Montage 121 inhomogenen Materials konstitutiv. Beißende Satire, bis zur Groteske gesteigert, und Parodie ergeben einen vielschichtigen Text. Der Umgang mit der Welttheatervorstellung und 119 Die Fackel, 400,1914,93. Vgl. Kurt Krolop, Ästhetische Kritik als Kritik der Ästhetik, in: Reflexionen der Fackel. Neue Studien über Karl Kraus, Wien, 1994,53-71. 57. 120 Helmut Pfotenhauer, Sprachsatire als Ursprung und Crux dramatischer Formen. Überlegungen zu Karl Kraus, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 27 (1983), 326344.327, Anm. 4. 121 Zum Terminus vgl. Viktor Zmegac, Montage/Collage, in: Modeme Literatur in Grundbegriffen, 286-291. Angesichts der Begriffsverwirrung schlägt er vor: ,,M(ontage) sollte man das Verfahren nennen, fremde Textsegmente in einen eigenen Text aufzunehmen, sie mit eigenem zu verbinden bzw. zu konfrontieren." (286)
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anderen Traditionen und Motiven gewinnt seine produktive Kraft aus der Spannung von Position und Negation, die nicht mit der Dichotomie von Abbruch und Kontinuität zu fassen ist: Die ästhetischen Verfahren von Satire, Groteske und Parodie nehmen Vorlagen in der Weise auf, daß sie Erwartungshorizonte eröffnen, um sie zu enttäuschen, doch nicht ohne sie über die zitierende Anknüpfung allererst fortgeschrieben zu haben. 122 Insofern arbeiten sie der erinnernden Bewahrung, dem zentralen Anliegen des Autors, zu. Gleichzeitig markieren die metaliterarischen Verfahren, die die Konstruktion des Textes offenlegen, einen Widerstand gegen die Konzeption des organologischen Kunstwerks. 123 Bedeutsam rur das Verständnis des Stückes ist überdies der Charakter der Satire als negativer Utopie: 124 Schiller zufolge wird in ihr "die Wirklichkeit als Mangel dem Ideal als der höchsten Realität gegenübergestellt. Es ist übrigens gar nicht nötig, daß das letztere ausgesprochen werde, wenn der Dichter es nur im Gemüt zu erwecken weiß".12S Tatsächlich arbeitet auch Kraus' "strafende,,126 Satire mit Vorstellungen, die auf eine ideale - allerdings unwiederbringlich verlorene - Realität verweisen. Vor deren Folie gerät die Gegenwart als gefallene Wirklichkeit in den Blick. Die Leitidee des Dramas findet in seiner allerdings nicht im klassischen Sinne gebrauchten metadramatischen Kennzeichnung als "Tragödie" präzisen Ausdruck. Form und Inhalt konzentrieren sich in diesem Begriff, in dem historisches Geschehen und poetologische Überlegungen zusammengeführt werden, so daß von hier aus Kraus' Arbeit am Welttheater dargelegt werden kann. Sie setzt weniger bei der vertikalen Organisation des Weltspiels an, als vielmehr bei der horizontalen Ebene 122 Bei Kraus tritt dabei die Parodie mit ihrer Komik hinter der strafenden Satire zurück: "Satire is a lesson, parody is agame." (Nabokov, zitiert nach Andreas Höfele, Parodie, in: Modeme Literatur in Grundbegriffen, 340-343, 342.) Zur Parodie Andreas Höfele, Parodie und literarischer Wandel. Studien zur Funktion einer Schreibweise in der englischen Literatur des ausgehenden 19. Jahrhunderts, Heidelberg, 1986 (Anglistische Forschungen 185), und Beate Müller, Komische Intertextualität (zur Komik 175), zur Groteske Arnold Heidsieck, Das Groteske und das Absurde im modemen Drama, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz, 1971 (Sprache und Literatur 33) und Carl Pietzcker, Das Groteske, in: Das Groteske in der Dichtung / Otto F. Best (Hg.), Darmstadt, 1980, 85 - 102. Zur Einordnung Silvio Vietta, Die literarische Modeme. Eine problemgeschichtliche Darstellung der deutschsprachigen Literatur von Hölderlin bis Thomas Bemhard, Stuttgart, 1992, 195 -199. 123 Höfele bestimmt die Parodie im Unterschied zum allgemeineren Phänomen der Intertextualität als ,.Meta-Literatur, Meta-Text" (Parodie und literarischer Wandel, 31). Vgl. Zmegac, ~ontage / Collage 288, zur metapoetischen Dimension der Montage. 124 V gl. Helmut Arntzen, Satire in der deutschen Literatur. Geschichte und Theorie. Bd. 1: Vom 12. bis zum 17. Jahrhundert, Darmstadt, 1989. Arntzen begreift Satire als "sprachästhetische Konstruktion von ,Verkehrtem' als Destruktion ... ; kraft solcher Verbindung kann Satire auf eine (außerliterarische) Neukonstruktion zielen." (17) m Friedrich Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung. In: ders., Sämtliche Werke, 5. Bd.: Erzählungen. Theoretische Schriften/Go Fricke, H. G. Göpfert (Hg.), Darmstadt,
1993,694-780.722. 126
Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung, 721.
11. Karl Kraus: Die letzten Tage der Menschheit
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der ,.Menschheit" (lU). Deren Bestimmung wird in ll.2. näher in den Blick genommen. Punkt 3 gilt dem zweifachen Weltgericht: In ll.3.a) steht der richtende Nörgler-Autor im Mittelpunkt. ll.3.b) widmet sich dem mythisch-grotesken Endgericht ,,Die letzte Nacht". In ll.4. wird die performative Dimension thematisiert. Abschließend werden die Ergebnisse unter dem Gesichtspunkt Welttheater zusammengeführt.
1. Die Tragödie des Menschheitsuntergangs: Tragischer Karneval Die Vorrede des Dramas bringt die Gestalt der Wirklichkeit pOintiert auf den Begriff: Der Erste Weltkrieg ist die die Weltwirklichkeit beherrschende "Tragödie der Menschheit" (9). Keinesfalls kann er als ein partikulares, vergangenes Ereignis begriffen werden. Der Terminus "Tragödie" qualifiziert zum einen das Geschehen als existentielle Bedrohung, bezeichnet zum anderen aber auch die Gattung, deren Unmöglichkeit innerhalb des Dramas reflektiert wird. Die Tragödie der Menschheit wird zur Herausforderung des Satirikers und Dichters Kraus, der die Möglichkeit literarischen Schaffens angesichts des "Ausbruch(s) der HÖlle,,127, dessen Zeuge er ist, überdenkt. Mit der Berufung einer Form, die der Modeme vielfach als unmöglich, ja anachronistisch gilt,128 zur Kennzeichnung eines Dramas, in dem sich Dokumentartheater, Operette und Welttheater 129 überlagern, ruft Kraus sowohl die Tradition auf als auch ihre Negation. Die Geschichte erscheint im Bilde des Dramas, in der spezifischen Form der Tragödie, doch entzieht sie sich gleichzeitig einer Wahrnehmung, die der Wirklichkeitserfahrung eine Ordnung verleiht. Die klassische Gliederung in fünf Akte wird durch mehr als zweihundert Szenen, die an unterschiedlichen Schauplätzen spielen, quasi aufgelöst. Epische Anteile insbesondere bei den Regieanweisungen, aber auch reflektierende Passagen wie die Vorrede, der Monolog des Nörglers sowie seine Dialoge mit dem Optimisten lassen den Text, lediglich von einem ,.Marstheater" aufzuführen (9), zum Lesedrama werden. 130 Umgekehrt verstärken 127 Walter Muschg, Karl Kraus: Die letzten Tage der Menschheit. In: ders. Von Trakl zu Brecht. Dichter des Expressionismus, München, 1961, 174-197. 177. 128 Vgl. A.I. 129 Vgl. Peter Hawig, Dokumentarstück - Operette - Welttheater. ,,Die letzten Tage der Menschheit" von Karl Kraus in der literarischen Tradition, Essen, 1984. Die Arbeit Hawigs geht den Bezügen zu Offenbach und Nestroy nach und privilegiert insbesondere die Betrachtung des Dramas als Welttheater, ohne indes den größeren Zusammenhang der Schauspielmetaphorik zu berücksichtigen. Auf den Zusammenhang mit dem theatrum mundi des Mittelalters weist auch Muschg hin (194). 130 Kraus selbst wendet sich lange gegen jede Aufführung, nimmt aber immer wieder Lesungen aus dem Drama vor. Zu seinen Lebzeiten wird lediglich der Epilog gespielt (Uraufführung 4. 2. 1923). Die Bühnenfassung entsteht 1929/30 (vgl. Wagenknecht, Entstehung und Überlieferung, 780-783). Zum Ganzen siehe 11.4.
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Elemente aus Operette und Film sowie Tanzeinlagen die theatrale Dimension. Tragikomik ist das Resultat der Verbindung von Operette und Tragödie. 131 Ein Entwicklungsgang entlang der klassischen Strukturmomente Phobos, Eleos, Katharsis, Peripetie, Hamartia und Anagnorisis 132 läßt sich im unübersichtlichen Netz des Weltkriegsdramas nicht ausmachen. Insofern wird die Welttheatermetaphorik als Bereitstellerin eines Strukturmodells verneint, dies mittels ihres eigenen Begriffsfeldes. Es gehört gleichsam zur Tragödie der Tragödie, daß der Zugriff auf die Wirklichkeit in umfassendem Sinne verstellt ist: Der Weltkrieg entzieht sich in seiner Grausamkeit der menschlichen Vorstellungskraft. Er ist ,,keinem wachen Sinn" erreichbar (9). In ihrer tatsächlichen Gestalt ist diese Wirklichkeit dem Menschen daher unzugänglich. Sie ist Tragödie und "tragischer Karneval" (9, 504, 674 u.ö.). Von Anfang an gebraucht Kraus beide Kennzeichnungen leitmotivisch aufeinander bezogen. Eine Kette anderer Bezeichnungen dient der Näherbestimmung: Weltkriegsdrama (502), reale Tragödie (504), Apokalypse (504). Die Tragödie wird darüber hinaus zum bloßen Schauspiel (298,582,634), und ihre Tragik wird mit den Mitteln des Witzes und der Unterhaltungsmusik - im übertragenen wie wörtlichen Sinn - pervertierend überspielt: Sie wird ,,Posse", sie wird zu einer ,jener ekelhaften neuzeitlichen Operetten, deren Text eine Insulte ist und deren Musik eine Tortur" (675). Gerade mit dem Begriff des Karnevals wie der Idee der Maskerade und Verkleidung in Anwendung auf die Personen des Dramas knüpft Kraus offenbar an Nietzsche an. Dieser hatte seinem Zeitalter attestiert, wie keines zuvor "vorbereitet" zu sein zum "Karneval grossen Stils". Als "Kostüme" galten ihm die ,,Moralen, Glaubensartikel, Kunstgeschmäcker und Religionen".133 Auch Kraus erkennt den maskierenden Charakter dieser Diskurse, der eine adäquate Wirklichkeitswahrnehmung verhindert. Das Karnevalsmotiv, das neben der Kostümierung das unübersichtliche Treiben der tollen Tage assoziieren läßt, verleiht der "auf den Kopf gestellten Gesellschaftsordnung,,134 Ausdruck,· freilich nicht im Zeichen der 131 Die letzten Tage der Menschheit sind hinsichtlich ihrer Komposition vielfach untersucht, so durch Gerhard Melzer, Der Nörgler und die Anderen. Zur Anlage der Tragödie "Die letzten Tage der Menschheit" von Karl Kraus, Berlin 1972; Wilhelm Hindemith, Die Tragödie des Nörglers. Studien zu Karl Kraus' moderner Tragödie: ,,Die lezten Tage der Menschheit", Frankfurt/M., Berlin, New York, 1985. \32 Siehe dazu Hans-Dieter GeIfert, Die Tragödie. Theorie und Geschichte, Göttingen, 1995 (Kleine Vandenhoeck-Reihe 1570), 15-19. \33 Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, 223. KGA Vl/2, 163. In derselben Passage charakterisiert Nietzsche den Menschen mit dem Begriff ,,Mischmensch". Möglicherweise spielt die massive Kritik des Nörglers an dem ,,Mischmasch" der Kultur (211) hierauf an. Massiv kritisiert der Nörgler die "gräßliche Vermischung des Gebrauchsgegenstandes, nämlich der Bombe, mit dem Gemütsleben, nämlich dem Witz, und des Witzes gar mit der Heiligkeit - die Vermischung, die der Greuel größtes ist"( 215). Zur Selbststilisierung als Dichterprophet in Anlehung an und in Abgrenzung von Zarathustra S.u. 1I.3.a). Zum Verhältnis von Kraus zu Nietzsche vgl. Timms, 273 - 278. 134 TImms, 450.
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Heiterkeit, sondern der Tragik. Die Perspektive ist auf den ,,Aschermittwoch" gerichtet (10), ohne den österlichen Horizont aufzurufen, der Tod dominiert vor dem Leben. Der Satiriker hält gegenüber Nietzsche indes an der Vorstellung fest, daß die Maskerade tatsächlich Verkleidung, darin allerdings durchaus real ist. Der Schein ist mithin nicht die ganze Wahrheit, zumal nicht in (geistes-)geschichtlicher Perspektive, während der Philosoph im Zusammenhang seiner Metaphysikkritik und der ästhetischen Rechtfertigung der Welt den Gegensatz von Schein und Wahrheit negiert. 135 Der Zusammenhang von Tragödie und tragischem Karneval weist auf das Geschichtsverständnis Kraus': Er begreift die Jahre 1914 bis 1918 als apokalyptisches Finale einer irreversiblen Abstiegsbewegung der Menschheit,136 die vom Wesen zum Schatten, vom Gesicht zur Maske geführt hat. 137 So gehört es zunächst zur Tragödie der Menschheit, daß die Wahrheit des Krieges unter der Maske der Kriegspropaganda verborgen bleibt. Die Lüge überdeckt sowohl die tatsächlichen, materiellen und nationalistischen, Interessen, aufgrund derer der Krieg geführt wird, als auch das Schicksal derjenigen, die ihm zum Opfer fallen. Der kritische Impuls der Satire gilt dabei in erster Linie der pervertierenden und verzerrenden Perspektive der Presse,138 einer Zuschauerin, die maßgeblich dafür verantwortlich ist, daß das Kriegsgeschehen zum bloßen "Schauspiel,,139 entwertet ist. Innerhalb dieses Schauspiels werden die Soldaten zu Spielenden degradiert, deren Funktion allein darin besteht, den Zuschauern ein Stück, den Lesern eine Nachricht, den Dichtem einen Stoff,l40 der Filmindustrie Szenen 141 zu bieten: ,,Alles was geschieht, geschieht nur für die, die es beschreiben, und für die, die es nicht erleben." (210) Neben der Presse, der patriotischen Dichtung und dem Film benennt Kraus weitere institutionelle Faktoren, die an dieser Verstellung mitwirken: die Kirchen, 142 das Militär,143 die aristokratische Herrschaft,l44 das Schulwesen 145. Deren Regie V gl. A.I. Siehe 11.3. 137 Siehe 11.2. 138 Der Aspekt der Pressekritik ist intensiv bearbeitet worden, zuletzt durch Burkhard Müller, Karl Kraus. Mimesis und Kritik des Mediums, Stuttgart, 1995. 139 So die Kriegsberichterstatterin Schalek, 189. 140 SO Z. B. dem Journalisten Hirsch und dem Schriftsteller Roda Roda, Szene 15 des 2. Aktes, 271-274. 141 Im Epilog wird der Endkampf filmisches Objekt für die "Kino-Operateure", 766. 142 Beispielhaft sei auf die Szenenfolge 15-18 im 3. Akt verwiesen (355-359). 143 Akt III, 31 thematisiert die Briefzensur (374-377), V, 20/21, die Propaganda, die das Kriegsministerium lanciert (591-598). 144 Akt V, 38, zeigt beispielsweise den Versuch der Pressesteuerung durch die Wiener Hofburg (634 f.). l3S
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im Weltspiel, die sich stets nur auf Teilbereiche erstreckt, läßt sich indes nicht separat von der Beteiligung der ,,Menschheit" an der tragisch zur Posse verkommenen Tragödie begreifen. Zur Eigentümlichkeit des Karnevals gehört es, daß die Trennung in die unterschiedlichen Kommunikations- und Handlungsebenen, die das Theater kennt, aufgehoben wird: "Karneval ist ein Schauspiel ohne Rampe, ohne Polarisierung der Teilnehmer in Akteure und Zuschauer. Im Karneval sind alle Teilnehmer aktiv, ist jedermann handelnde Person. Der Karneval wird gelebt. .. ,,146
Die Spannung von Aktion und Passion kennzeichnet die ,,Menschheit" des Weltkriegsdramas.
2. Die heldenlose Menschheit: Zwischen Schicksal und Verantwortung Dem singulären Helden der klassischen Tragödie stellt Kraus das abstrakte Kollektivsubjekt "die Menschheit" als AntiheIdin gleichwohl tragischer Natur entgegen. 147 Sie gewinnt Gestalt, doch nicht Konturen, durch eine Vielzahl von Personen, die entsprechend den Anleihen beim mittelalterlichen und barocken Theater und der Operette l48 weitgehend typisiert sind. Bereits die Vorrede definiert diese Personen als uneigentliche Gestalten: Sie sind ,,Masken", "Schatten" und ,,Marionetten", Kennzeichnungen, die die Fragen nach dem wahren Gesicht, nach dem schattenwerfenden Selbst, nach dem Beweger der Puppe evozieren. 149 Die Charakterisierung der dramatischen Personen als uneigentliche Gestalten hält Kraus gegenwärtig, indem er in verschiedenen Szenen Marionetten auftreten läßt. ISO Daneben überführt er sie in die DoppeIgesichtigkeit der dramatischen Figuren. Dabei wird ein Zweifaches geleistet: Zum einen sind die Personen durch das Diktum der Vorrede grundSätzlich zu Schatten reduziert. Zum anderen erhält die maskenhafte Oberfläche ein Korrelat, indem die Figur aus einer zweiten Perspektive betrachtet wird. Gerade dann, wenn Kraus eine gleichsam realistische Ebene Akt V, 23, 599-601. Michail M. Bachtin, Der Karneval und die Karnevalisierung der Literatur. In: ders., Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur, Frankfurt/M., 1990,47 -60.48. 147 Nachdem er in der Vorrede den Begriff Tragödie auf die ,,nur in blutigem Traum verwahrten Jahre" des Krieges angewandt hat, charakterisiert er die Handlung als ,Jn hundert Szenen und Höllen führend, ... unmöglich, zerklüftet, heldenlos wie jene (Kriegsjahre, I.P.)."(9) In seinem ausführlichen Monolog gibt der Nörgler an: ,,Ich habe eine Tragödie geschrieben, deren untergehender Held die Menschheit ist." (671) 148 Zur Bedeutung Nestroys für Kraus' Aufnahme mittelalterlicher und barocker Elemente sowie Offenbachs hinsichtlich der Operette vgl. Hawig, Kap. 2. 149 Der Frage nach der Macht, die die Fäden dirigiert, wird in 11.3. nachgegangen. ISO Im Vorspiel, Szene 10 (60-66), Akt V, Szene 27 (610-614) und 52 (666-669). 145
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mit einer allegorischen verknüpft, die eine zur Maske der anderen wird oder zum schattenwerfenden Selbst, wird die Bedeutung der Figuren und ihrer Handlungen in einer Weise durchsichtig, die die Unterscheidung von Wesen und Erscheinung nahelegt. So werden biblische Figuren berufen und in ein zeitgenössisches Szenario versetzt: Die Riesen Gog und Magog, Feinde Israels (vgl. Ez 38 - 39) und Anführer eines satanischen Heeres (Vgl. Oftb 20,8), treten in Gestalt Berliner Touristen auf. Gog heißt auch und eigentlich "Siegfried". Der Nationalismus, den die beiden zum Ausdruck bringen, sowie ihre Weitergabe gängiger Kriegspropaganda wirkt keinesfalls banal, sondern als ein Glied in der Kette, die die Welt in den Abgrund zerrt. ISI Liegt hier die Allegorisierung offen zutage, so bleibt das schattenwerfende Selbst im Falle der zahlreichen öffentlichen Personen, die Kraus auftreten läßt, unsichtbar: Dem Anspruch des Dokumentarischen entsprechend, bespielen neben phantastisch anmutenden Gestalten und alltäglichen Figuren verschiedene Literaten wie Hugo von Hofmannsthal und Ludwig Ganghofer, der ,,Papst" Benedikt - der Chefredakteur der Neuen Freien Presse, Moritz Benedikt, - diverse Mitglieder der Aristokratie sowie des Militärs die Bühne. Gerade im Zusammenhang mit den Vertretern der Souveränität - der Kaiser selbst (516), der Erzherzog Max (635), der König Ferdinand von Bulgarien (297), Wilhelm 11 (167) - gewinnt das Spiel mit der Maske seine analytische Kraft aus dem Hinweis darauf, daß diese Figuren in ihrem jeweiligen Wirkungsbereich als scheinbare Machtträger entlarvt werden, ohne indes völlig unbeteiligt an der Tragödie zu sein. IS2 Die abstrakte Größe der Presse gewinnt konkrete Gestalt vor allem in zwei historischen Personen, in Moritz Benedikt und in der Kriegsberichterstatterin Alice Schalek. An die Stelle der Anonymität treten so Figuren, die persönliche Schuldzuweisungen ermöglichen. Paradigmatisch zeigt die Entsprechung von Moritz Benedikt mit dem Herrn der Hyänen des Epilogs die Verknüpfung der allegorischen mit der dokumentarischen Ebene an. Benedikt wird zur Inkarnation des Bösen stilisiert. Seine Macht wird der Welt zum Verhängnis, die Presse nicht ein Unbill neben anderen, sondern satanische, weltvernichtende Kraft. IS3 Die Bedingungen des "tragischen Karnevals" sind gerade durch diese Verstellungen der Kriegspropaganda, für die in erster Linie die Presse verantwortlich ist, gegeben. Erst die Macht der Lüge läßt die Propaganda wirksam werden, und ihr 151 Darauf deuten auch die Anspielungen auf kosmische Erscheinungen in der Szene hin. Am Schluß der Szene lautet die Regieanweisung: ,,Nun, da die Gruppe sich bewegt, ist es für einen Augenblick, als ob die Riesensilhouette eines schwarzen Flecks das in WeiB und Blau strahlende Weltall verdeckte." (665) 152 Mehrmals zitiert der Nörgler, allerdings mit einer Veränderung (vgl. dazu Timms, 468-472), den Satz des Kaisers ,,Ich habe alles reiflich erwogen" und zeigt zugleich, daß dieses Erwägen nicht hinreichend war, vgl. 222. 153 Siehe II.3.b).
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Erfolg hängt wesentlich zusammen mit dem Verlust der Phantasie, der der Tauschung unumschränkte Macht verleiht. Das Grundübel liegt damit in einem geistigen Geschehen. Der Mensch zerbreche "an der Lüge: die Wesenlosigkeit, an die er den alten Inhalt seines Menschentums verloren hat, in den alten Lebensformen zu bewähren." (671) Mit der Lüge, die anders als eine abstrakte Urschuld Bewußtheit voraussetzt, bei den Deutschen den Worten des Nörglers zur Folge gar "Wissenschaft" ist (199), ist der zentrale Vorwurf benannt, den Kraus der ,,Menschheit" macht. Die Näherbestimmung, die der Nörgler vornimmt, bestimmt leitmotivisch die kritische Perspektive des Dramas: Wesenlosigkeit, Leere, Wert- und Inhaltslosigkeit diagnostiziert Kraus in den verschiedensten Bereichen. Die Gestalt, die sie umhüllt, ist die der "alten Lebensformen". Kraus entlarvt die historistische Tendenz, Traditionen fortzuschreiben, als gehaltlos. Ohne authentische Inhalte geraten unterschiedliche Äußerungsformen kulturellen, politischen und religiösen Lebens zur Phrase und zum Theater. Die Schauspielmetaphorik hängt eng mit der Sprachkritik zusammen: Der Verlust von Gehalten läßt etwa das religiöse Zeremoniell der Beerdigung des Thronfolgerpaares zu einer von machtpolitischen und wirtschaftliehen Interessen geleiteten Vorstellung für die Presse werden, die diese wiederum in ebenso leeren Phrasen weitervermittelt. Ideelle Werte sind materiellen, die die Lücke nicht zu füllen vermögen, gewichen. Insofern hat auch der Krieg letztlich kein gültiges Ziel, vielmehr "opfert (er) den Wert und verschafft dem Abhub die Glorie" (219). So hat er dem Menschen die Voraussetzungen entzogen, seine "Qualitäten" zur Geltung zu bringen, mehr noch "die Tatsache des modemen Krieges (lebt) von der Negation menschlicher Qualitäten ... Es gibt keine." (210) Daß diese Negation ein Verlust ist und nicht die Grundverfassung des Menschen per se, geht aus Kraus' Diagnose der menschlichen Voraussetzungen für die verhängnisvolle Wirklichkeit hervor: Die vernichtenden Auswirkungen, die vor allem die Kriegsberichterstattung der Presse hat sie ist ja keinesfalls nur ,,Bericht", sondern treibende Kraft - , führt der Nörgler entscheidend auf den Verlust der Phantasie zurück. Dieser Verlust ist eine neuzeitliche Entwicklung, ja gleichsam die Voraussetzung dafür, daß die technischen Möglichkeiten des Menschen sich nun gegen diesen wenden. Da dem Menschen die Vorstellungsgabe abhanden gekommen ist, ein Vorgang, den Kraus nicht zuletzt der Presse anlastet, fehlt ihm die Möglichkeit, das Geschehen in seinen vernichtenden Ausmaßen wahrzunehmen und sich dagegen zu wehren (vgl. 208). Die Phantasie würde auch das notwendige kritische Potential gegenüber den modemen technischen Errungenschaften zur Verfügung stellen: "Hätte man statt der Zeitung Phantasie, so wäre Technik nicht das Mittel zur Erschwerung des Lebens und Wissenschaft ginge nicht auf dessen Vernichtung aus." (209) So aber entkommen die Menschen der Suggestionskraft der Phrasen nicht: Bereits die Schulkinder werden durch eine kriegsbegeisterte Rhetorik manipuliert (vgl. Akt V, Szene 23), Kirche und Politik ziehen mit. Tatsächlich katastrophal ist jedoch die Macht der Presse. Sie wird zur Mitverantwortlichen der Tragödie der Menschheit: ,,Nicht daß die Presse die Maschinen des Todes in Bewegung setzte - aber daß sie unser Herz aus-
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gehöhlt hat, uns nicht mehr vorstellen zu können, wie das wäre: das ist ihre Kriegsschuld!" (677) Ebenfalls mit der Bildlichkeit des Herzens hat Fritz Mauthner 1901 die Sprache an sich, scharf kritisiert: Sie sei "die Teufelin, die der Menschheit das Herz genommen hat und Früchte vom Baum der Erkenntnis dafür versprochen. Das Herz hat die Sprache gefressen wie eine Krebskrankheit, aber statt der Erkenntnis hat sie dem Menschen nichts geschenkt als Worte zu den Dingen, Etiketten zu leeren Flaschen ... "IS4 An Stelle dieser Fundamentalkritik der Sprache steht bei Kraus der Angriff auf das Massenmedium Presse von einer sprachlichen "Gegenwelt" her, die der Satiriker im eigenen Schaffen etabliert. ISS Der Verurteilung zum Trotz kann weder für die Presse noch für das Wirtschaftssystem, Verkörperung der "Idee der kapitalistischen, also: jüdisch-christlichen Weltzerstörung" (194), noch für den politischen Bereich, der immerhin noch monarchisch strukturiert ist, letztlich eine Person haftbar gemacht werden. Es gibt keinen politischen Souverän. Auch im negativen Sinne ist die modeme Welt heldenlos. Damit kann die Frage der Schuld konsequenterweise nicht positiv beantwortet werden. Insofern die Verurteilung Schuld zunächst voraussetzt, ist das Weltgericht also eine paradoxe Konstruktion. Es ist daher keine Ironie, wenn der Nörgler in seinem prophetischen Monolog verkündet: "Gibt es Schuldige? Nein, sonst gäbe es Rächer... Gäbe es Schuldige, die Menschheit hätte sich gegen den Zwang gewehrt, Held zu sein zu solchem Zwecke! Den einzelnen, die es befahlen, hätte die Einheit geantwortet. Jene aber sind nicht Tyrannen. Ihr Geist ist aus dem Geist der Masse geschnitten." (671 f.) Wahrend Horatio, dessen Vorbild der Nörgler beruft, vom Schicksal des Tyrannen Claudius und des Helden Hamlet kündet, kann der Nörgler nur den Untergang einer konturenlosen Masse prophezeien, eines tragischen Helden, dem jede Größe fehlt. Insofern ist die ,,Menschheit" wesenlos, ja ohne "Geschlecht und Gesicht", wie die "Gasmasken" des Epilogs formulieren (732). Mit dieser Diagnose rückt Kraus wiederum in die Nähe Nietzsches: Hinter der Maske braucht letztlich nichts vermutet zu werden. Für Kraus ist diese Leere Ergebnis einer Abstiegsbewegung, die in Anbetracht des apokalyptischen Ausgangs unumkehrbar erscheint, wenngleich nicht völlig ohne Hoffnung. IS6 Der Nörgler hält allerdings an der Wesenhaftigkeit des Bösen fest. Explizit wendet er sich gegen die Irrealisierung derjenigen Gestalten, die er im Namen der Opfer des Krieges anklagt: ,,Ich habe sie zu Schatten geformt, die sie sind und die sie in Schein umlügen wollten! Ich habe ihnen das Fleisch abgezogen! Aber den Gedanken ihrer Dummheit, den Gefühlen ihrer Bosheit, dem furchtbaren Rhythmus ihrer Nichtigkeit gab ich Körper und lasse sie sich bewegen." (680 f.) Die physische Gewalt an den Opfern wird durch den Autor des Welt154 Fritz Mauthner, Zur Sprache und zur Psychologie (Beiträge zu einer Kritik der Sprache Bd. I, 1901), Halle, 1923.87. ISS Vgl. Betz, 22. 156 Siehe 11.3.
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kriegsdramas an den Tatern gleichsam wiederholt. Sie werden zu seinen Marionetten. Er läßt sie sich bewegen. So schafft er die Voraussetzung dafür, daß diese Gestalten als Inkarnationen des Ungeists hervortreten können. Gerade die Figur des Moritz Benedikt wird durch ein ausgesprochen markantes Gesicht ausgezeichnet. 157 Hier ist es der Ungeist, der ihr Wesen ausmacht, vor allem aber ihre Verantwortung für das Geschehen. Es ist der moralische Impuls des Satirikers, der solchen "Schatten" ihre Eigentlichkeit nicht absprechen kann. In radikalem Gegensatz zur Schattenhaftigkeit der Tater, die als Konstruktion ihren Ungeist sichtbar machen soll, steht die Insistenz auf der Physis der Opfer. ,.Erkrankt, verarmt, verludert, verlaust, verhungert, verendet, gefallen" (679), sind deren Körper als zerstörte und vergehende, oft im pars pro toto bezeichnete, gegenwärtig. Der Nörgler spürt die Anklage von "zehn Millionen Sterbende(n)" (670). Ihre Gestalten sind keine Puppen: Einzig ein sterbender Invalide ist in Akt V, Szene 52 nicht Marionette. 158 An den Opfern zeigt sich die Entstellung von Humanität, am augenfalligsten im Gesicht, in dem "verzerrten Antlitz", den "glanzlosen Augen", der "unvergeßlichen Maske" (679), die nicht mehr abzunehmen ist und das Wesen grausam verdeckt. Der Mensch hat sich, zwangsweise und unter der ,.Regie des Wahnsinns" (679), von seiner Eigentlichkeit entfernt. Da Kraus auf der Leiderfahrung der Opfer besteht, deren ,,Erleben" er zur Geltung bringen will, wird auch die Kluft deutlich, die ihn von einer emphatischen Weihe der Vitalität trennt, wie sie lebensphilosophische Gedanken im Gefolge des jungen Nietzsche kennzeichnet. Wo Kraus auf dem ,,Erleben" besteht, bildet der Horizont des qualvollen Todes nur allzu deutlich dessen Grenze. 159 Somit vertritt er nicht einen radikalen Nihilismus, sondern vor allem ein Dekadenzmodell, das ein idealistisches Menschenbild für seine Gegenwart leugnet. Insofern ist die Tragödie das Drama der gefallenen Menschheit. Dieses Drama ist an ein Ende gekommen, darin ist es apokalyptisch, führt es in grausamer Weise durch, was Kraus bereits 1908 formulierte: ,,Der wahre Weltuntergang ist die Vernichtung des Geistes, der andere hängt von dem gleichgiltigen Versuch ab, ob nach der Vernichtung des Geistes noch eine Welt bestehen kann." (Die Facke1261/262, 1908, 7) Damit ist die Frage nach der Spielleitung im apokalyptischen Weltkriegsdrama nicht geklärt. Verortet der Nörgler den tragischen Konflikt zwischen Natur und Welt, so bleibt es offen, warum die Natur siegt, sind die Opfer des Krieges "tragisch, weil sie eine unbekannte Schuld zu büßen hatten." (224) Obwohl der Mensch "Knecht seiner Mittel" und ,,Märtyrer seiner Notwendigkeit" (671) ist, obwohl der Propaganda etwa aus der Feder Moritz Benedikts kriegstreibende Macht zugeschrieben wird, ist der Verlauf der Geschichte letztlich nicht zu beeinflussen. U7 VgI. die Regieanweisung 750. Zum "physiognomischen Denken der Satire" vgI. Burkhard Müller, 188 - 240. 158 Vgl. die Szenenübersicht, 38. U9 Zur alles andere als homogenen Bewegung der Lebensphilosophie vgI. Karl Albert, Lebensphilosophie. Von den Anfangen bei Nietzsche bis zu ihrer Kritik bei LuIcacs. Freiburg, München, 1995.
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Kraus, der zahlreiche "Regisseure" mit kleinerer oder größerer Einflußmöglichkeit ausgemacht hat, erkennt dem Weltenlauf eine finale Ausrichtung zu, ohne allerdings ein systematisch greifbares Gegenmodell zu einer überlieferten Weltordnung oder ihrer radikalen Dekonstruktion zu bieten.
3. Das zweifache Weltgericht Unwiederbringlich ist das Ideal des geistigen Menschen verloren. Der Verlust der Phantasie wird im endzeitlichen Vernichtungsgeschehen besiegelt. Dem bereits eingetretenen "wahre(n) Weltuntergang" (s.o.) zum Trotz, sieht der Satiriker seine Aufgabe in der Bewahrung des Geschehenen, dies keineswegs von einer neutralen Perspektive aus, sondern als - allerdings verzweifelter - Weltenrichter. Die Welt ist für Kraus "als Schauplatz menschlicher Taten ... ein moralisches Phänomen, und daher ist ihm auch die Kunst eine Sache der Moral."I60 Das Kriegsszenario führt jedoch diese moralische Perspektive an eine Grenze, die nicht zuletzt in Kraus' anfänglichem Schweigen, das bis zum Oktober 1915 andauert,161 Ausdruck findet. Auch die in der "Sphäre des Rechts,,162 angesiedelte Satire Kraus' ist angesichts dieser Realität ohnmächtig. Insofern ist das Gericht, zu dem der Nörgler schließlich vorstößt, eher Ausdruck der Verzweiflung als Urteil über Schuld und Unschuld. Historische Realität und moralisches Urteil stehen sich inkommensurabel gegenüber. Mehr und mehr weicht das Dokumentarische dem Allegorischen. Seine vehementeste Gestalt findet es im Schluß des Dramas, der letzten Szene des V. Aktes sowie dem Epilog ,,Die letzte Nacht". Von hier aus lassen sich die Bezüge zum Welttheater in seiner barocken Ausprägung am ehesten greifen. Sie stehen im Zeichen der Negation, stoßen jedoch nicht zu einer radikal nihilistischen Perspektive vor. Vielmehr unterläuft Kraus jedwede Bedeutungsfestlegung. Das Weltuntergangsszenario, das das Drama beschließt, ist gespeist aus dem apokalyptischen Bilderreichtum der jüdisch-christlichen Überlieferung. Er prägt die prophetische Gerichtsrede des Nörglers ebenso wie den allegorisch-grotesken Epilog ,,Die letzte Nacht". Von diesem Ende her erschließt sich Kraus' Arbeit am Welttheater am deutlichsten. Regieschemel und Richterstuhl sind darin durchaus uneindeutig besetzt. Die Aufnahme traditioneller Elemente des mittelalterlichen und barocken Theaters weist bedeutsame Umkehrungen auf. Zumal der Epilog artikuliert eine letztlich gnadenlose Perspektive auf den Untergang, der Weltkrieg und Apokalypse in einem ist. Wo der Krieg als Apokalypse verstanden wird, ist die Weltuntergangsprophetie verkehrt: Nicht der jüngste Tag wird erwartet, sondern die letzte Nacht hat stattgefunden. Die Allerlösung ist ausgeblieben. Muschg, Kar! Kraus, 181. Vgl. Christian Wagenknecht, Entstehung und Überlieferung, 776. 162 Wa!ter Benjamin, Kar! Kraus, Schriften 11 11, R. Tiedemann, H. Schweppenhäuser (Hg.), Frankfurt1M., 1977,334-367.349. 160 161
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Die Anspielungen auf mittelalterliche Topoi und Stationen des theatrum mundi negieren jeglichen heilsgeschichtlichen Verlauf der Historie. 163 Bezogen auf den Gesamtverlauf des Dramas vom Vorspiel bis zum Epilog, verkehrt Kraus den Bogen von Rollenübernahme zu Rollenabgabe: Das Vorspiel thematisiert das gewaltsame Lebensende des Thronfolgers, das den Beginn des Krieges. mithin den Umbruch der traditionellen monarchischen Ordnung wie den Einbruch der Katastrophe markiert. Die Unübersichtlichkeit des Geschehens läßt sich nicht mehr allegorisieren mittels einer ständischen Figurenordnung, die das Weltgeschehen anband einer eng begrenzten Zahl typisierter Lebensläufe veranschaulichte. Die letzte Szene des Dramas nimmt den Gedanken des Widerstands gegen die Rolle. wie ihn der unprivilegierte Bettler Calder6ns zeigt,l64 aus einer anderen, der Lebenserfahrung nachgängigen Perspektive auf: Der "ungeborne Sohn" spricht im Namen einer antizipierten Nachwelt, wenn er darum bittet, nicht ins Leben gerufen zu werden (726). Das Gericht, im christlichen Welttheater Vorbereitung der eschatologischen Versöhnung. die in der Eucharistie als Bestandteil der kultischen Spiele sakramental vergegenwärtigt wird, erscheint hier in Gestalt des unmenschlichen Standrechts. gerät im Epilog gar zur Forderung. Rechtschaffend ist dieses Gericht nicht, erlösend allenfalls insofern es das Leid des sterbenden Soldaten beendet. Dessen Überzeugung von der Paradoxie dieser Form der Rechtsprechung findet Ausdruck in der Forderung: "So stellt den Tod vors Standgericht." (731). An die Stelle des Abendmahls ist ein Gelage getreten, das die Regieanweisungen ausdrücklich als ,,Liebesmahl" ausweisen (682) und das in das apokalyptische Szenario des Epilogs übergeht: Das kosmische Welttheater der letzten Nacht, das die Stufungen der mittelalterlich-barocken Bühne mit Stimmen von oben und unten evoziert, läßt die Erdenbühne nicht zum Schauplatz eines göttlichen Gerichtes werden. Es ist vielmehr der Planet Mars, der Kriegsgott der Mythologie, der zum Vernichtungsschlag ausholt. Die Apokalypse trägt gleichsam als Unterschrift die Negation einer göttlichen Sinnstiftung, wenn die letzten Worte der Stimme Gottes gehören: ,lch habe es nicht gewollt." Immer wieder ist innerhalb des Dramas Bezug auf Gott genommen worden. Insgesamt fällt es leichter, aus dem Text zu erheben, was Gott nicht ist, als eine positive Bestimmung zu ermitteln. Dabei ist gerade die moralische Perspektive, die vor allem der Nörgler vertritt, vielfach durch die Gottesvorstellung gestützt: Der Krieg verwandle die Welt ,,in ein großes Hinterland ... des unmenschlichsten Gottverrats" (224). Perversionen des Gottesgedankens werden an dessen Ideologisierung und Funktionalisierung im Zusammenhang mit den nationalistischen Interessen, die nicht zuletzt die Kirchen vertreten, aufgewiesen. Feldprediger segnen Waffen (vgl. 243), Juden und Christen gleichermaßen nehmen ihren Gott als nationalen "Separatgott" (353) in Anspruch. Eine patriotische Dichtung reiht sich in die Per163
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Zum mittelalterlichen theatrum mundi vgl. A.III.I. Zum Welttheater Calderons vgl. A.IV.2.
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spektive ein (vgl. 342 f.). Daneben zeigt Kraus aber auch Substitutionen im Weltordnungsgefüge auf. So sei die Technik an die Stelle Gottes gerückt, ja besorge gar das "Strafgericht" (262). Wilhelm 11. gilt einem General als "Gott" (536). Die Entscheidungen des Generalstabs sind ,.Ratschluß" (624). Und selbst die Kirchen vermögen nicht mehr zu unterscheiden: "Wir geben Gott, was des Kaisers, und dem Kaiser, was Gottes ist. Man hilft sich gegenseitig wie man kann." (359) Aufrichtige Frömmigkeit scheint einzig an einer Stelle des Dramas durch, und signifikanterweise wird sie in einer Fremdreligion aufgespürt: Ein kluger Imam läßt eine Moschee zum wahren Gotteshaus werden (vgl. 360 f.). Die Religionskritik Karl Kraus' ist so weitgehend eine ätzende Polemik gegen den Mißbrauch religiöser Gehalte in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen, in Politik, Kultur und Kirche. Wie nur wenige Analytiker seiner Zeit erkannte Kraus "unter der Kruste der ersatzmetaphysischen Phrase die wirtschaftsimperialistischen Interessen so klarsichtig ... , daß er nicht die Phrase selbst für die geltende Argumentation hielt.,,165 Diesen Interessen Vorschub zu leisten ist in den Augen des Nörglers gleichsam Wurzelübel von Christentum und Judentum, definiert er doch gleichsetzend die Ursache des Übels als ,,Idee der kapitalistischen, also jüdisch-christlichen Weltzerstörung" (194). Damit läuft zumindest die geschichtliche Wirksamkeit dieser Religionen dem Heil flir die Welt entgegen. Allenfalls eine messianische Eschatologie, die in der Vernichtung der Welt die Voraussetzung für das Heil sieht, könnte mit dieser Konzeption der Religionen, der der Nörgler, wenn auch polemisch, immerhin den Status einer ,,Idee" zuschreibt, noch vereinbar sein.
a) Der Nörgler am Schreibtisch: prophetischer Richter; parodierender Dichter Der Nörgler nimmt wie der Gott des mittelalterlichen Welttheaters gleichsam eine Zuschauerposition ein. Auch seine Stimme scheint von außerhalb der Bühne des eigentlichen Dramas zu kommen. Die Dialoge zwischen Nörgler und Optimist ebenso wie der Monolog des Nörglers gegen Ende des Dramas werden im Unterschied zu den anderen Szenen nicht durch eigene Regieanweisungen situiert, stellen folglich gleichsam metadramatische Rede dar. Der Nörgler verkörpert jenes "epische Ich", das Szondi zufolge den Zusammenhalt der dramatischen Form angesichts seiner Krise garantiert: 166 Als Autor des Dokuments wie als Kommentator des Geschehens hält er die zahllosen Einzelszenen zusammen. Im Dichter des Weltkriegsdramas gibt sich nicht zuletzt der Autor Karl Kraus zu erkennen. 167 Das 165 Silvio Vietta, Neuzeitliche Rationalität und moderne literarische Sprachkritik. Descartes. Georg Büchner. Arno Holz. Karl Kraus, München, 1981. 200. 166 Vgl Szondi, Theorie des modernen Dramas, 66,86, 114 f. 167 Die Übereinstimmungen zwischen der Vorrede des Autors und dem Monolog des Nörglers am Ende des Dramas legen dies besonders nahe.
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in der Vorrede hervortretende Autor-Ich sowie die dramatische Figur des Nörglers teilen sich die Rolle des Propheten. Doch tritt der Autor hinter der fiktiven Gestalt zurück. 168 Schon die Vorrede nimmt eine mahnende, kritisch richtende Perspektive auf die Nachkriegsgesellschaft, ja die "Epoche" ein, die "selbst von ihrem Zusammenbruch nicht zu erschüttern ist" (10). Das Drama - wie auch das literarische Schaffen des Nörglers (vgl. 681) - wird unter das Motto des Horatio aus Shakespeares Hamlet gestellt, der sich der wahrheitsgemäßen Wiedergabe jener Greuel verschreibt, die ihre Erfinder selbst zu verantworten haben. Und wenngleich Kraus den Text als ,,restloses Schuldbekenntnis, dieser Menschheit anzugehören" (101 11), verstanden wissen will, so handelt es sich doch auch um ein "Hochgericht auf Trümmern" (11). Der Autor selbst, der sich indirekt zu erkennen gibt, artikuliert hier folglich die Grundspannung von Distanz und Involviertheit: Er bezieht seinen richtenden Standpunkt gegenüber der Welt im vollen Bewußtsein dessen, daß er ihr verantwortlich zugehört, eine Verantwortung, die er im Schaffen des Dramas übernimmt und die freilich der Katastrophe nachgängig und nicht ohne ihre eigene Tragik ist. Der Nörgler ist Teil der Tragödie der Menschheit. 169 Nicht Gott in der Loge wendet der Welt eine letztlich gnädige Perspektive zu, sondern ein erbarmungsloser Satiriker, der ,,Nörgler am Schreibtisch" (670), gibt ambivalente Auskunft über die Beteiligung der untergehenden HeIdin Menschheit am Geschehen. Eine kathartische Wirkung kann von dieser Tragödie nicht ausgehen: ,,Ach, weil dieses Drama keinen anderen Helden hat als die Menschheit, so hat es auch keinen Hörer!" (671) Gesprochen wird hier nicht vom Zuschauer, sondern durchaus mehrdeutig vom Hörer des - ja an sich unspielbaren, wohl aber vorzuiesenden 170 - Dramas. Indem "die Menschheit" handelndes Subjekt ist, können die Menschen nicht aus dem Spiel heraustreten und die Botschaft als quasi distanziertes Publikum "erhören". Diesem Verdacht, gleichsam ins Leere zu sprechen, scheint der Nörgler vor allem Ausdruck geben zu wollen. So fällt er in diesem aufschlußreichen Monolog mehr und mehr in den Gestus der prophetischen Gerichtsrede. Mit rhetorischen Fragen wendet er sich appellativ an ein wechselndes "Ihr" und ,,Du" und bedient sich in wachsendem Ausmaß einer biblisch-apokalyptischen Texten entlehnten Bildlichkeit. Gleichsam hörbar wird der Monolog aber auch durch die lautstarke Anklage der Opfer, auf die er sich bezieht, und die Klage des Nörglers, die die Kraft zu stärkerem "Gegenruf' und ,,Aufschrei" ersehnt. Mit der Selbststilisierung 168 Diese Differenz wird häufig übersehen. Gegen eine schlichte Gleichsetzung des Nörglers mit Kraus wendet sich auch Timms, 530. 169 Diesen Aspekt wählt Hindemith als Ausgangspunkt seiner Untersuchung mit dem sprechenden Titel: Die Tragödie des Nörglers. Studien zu Karl Kraus' moderner Tragödie: ,,Die letzten Tage der Menschheit". Frankfurt/M., Bem, New York, 1985 (Deutsche Sprache und Literatur 842). 170 Siehe 11.4.
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zum Propheten ruft der Nörgler dessen Typik auf: "Ein Prophet gilt nirgends weniger als in seinem Vaterland und in seinem Hause."l7l Es ist die Gerichtsperspektive, aufgrund derer die Bestimmung des tragischen Konfliktes nicht als Ent-schuldigung des Menschen gelten kann: Die Diagnose eines Sieges der Natur über die Ordnung der Welt enthebt den Menschen durchaus nicht seiner Verantwortung. Doch wird die Möglichkeit richterlichen Sprechens wie der strafenden Satire andererseits massiv in Frage gestellt: Die Adressaten sind in erster Linie die Opfer des Krieges, deren Tod unumkehrbar ist, wie auch der Weltuntergang als vollzogen gelten muß. In der direkten Anrede des Nörglers werden sie jedoch aus der anonymen Masse der zehn Millionen Kriegstoten herausgehoben. Die Gerichtsrede wird . zum Versuch der Bewahrung ihres Erlebens. Mit dem Nörgler, dem sicher am ehesten greifbaren Charakter des Dramas, hat Kraus eine Figur entworfen, die die Rolle des Autors stilisiert in einer Weise, die eine kritische Abgrenzung von Nietzsches Zarathustra vennuten läßt. Hier wie dort begegnen prophetische Züge: Zarathustra sieht alle Götter als ,,Dichter-Gleichniss", ja ,,Dichter-Erschleichniss",172 und weist im gleichen Zug den Dichtem einen Platz über dem Himmel zu. Zarathustra hat implizit den göttlichen Logenplatz inne: ,,Thr seht nach Oben, wenn ihr nach Erhebung verlangt. Und ich sehe hinab, weil ich erhoben bin.,,173 Nietzsches Gestalt vertritt allerdings eine Mission, deren elitärer Anspruch nicht relativiert wird. Weit stärker sieht sich der Nörgler der letzten Tage der Menschheit in deren Schicksal einbezogen, darin Shakespeares Hamlet, Lear und Timon vergleichbar. 174 Der Nörgler ist wie Hamlet Melancholiker, der dem Geschehen in trauriger Verzweiflung, gleichwohl wortmächtig begegnet, ohne indes außerhalb zu stehen. Seinem außerdramatischen Standpunkt wird konsequenterweise nicht die räumliche Dimension der Erhobenheit verliehen. Der satirische Grundzug des Werkes erstreckt sich auch auf diese Gestalt: Sein lyrischer Beitrag kann als selbstironisch-parodistische Antwort auf die patriotischfromme Dichtung der Zeitgenossen gelesen werden. 17S Gerade in bezug auf das parodistische Verfahren Kraus' ist der Zusammenhang mit Nietzsches Denken be-
171 Mt 13,57b. Eine pessimistische Perspektive in Hinblick auf die Resonanz der Botschaft wird auch in der Vorrede deutlich. Nur sehr gering und unbestimmt ist die Hoffnung: "Dennoch muß so ein restloses Schuldbekenntnis ... irgendwo willkommen und irgendeinmal von Nutzen sein." (10/11) 172 Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Von den Dichtern. KGA VIII, Berlin, 1968, 160. 173 Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Vom Lesen und Schreiben. KGA VIII, 45. 174 Vgl. Hindemith, 237. Die Figuren Shakespeares gelten dem Autor Kraus offenbar als Identifikationsfiguren, indem sie sich ihre Sprachrnacht und ihre vernichtende Kritik der Ausweglosigkeit ihrer Situation zum Trotz bewahren; vgl. Benjamin, Karl Kraus, 11/1,357 f., Timms, 307 f. In seinem "Theater der Dichtung" rezitiert Kraus immer wieder Shakespeare. 175 Im 3. Akt, Szene 35, wird eine Dichterlesung Dehmels in Berlin karikiert. Ihr folgt in Szene 36 antithetisch eine Lesung des Nörglers in Wien, die ein Zuhörer, an seine Gattin gewandt, kommentiert: " Man kann sagen auf ihm (sie) was man will - eine Feder hat er!"(385).
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deutungsvoll. Denn obwohl er durch die Gestalt des Nörglers der Literatur einen hohen Stellenwert einräumt, läßt er in ihm keinesfalls einen originalen Dichter hervortreten, der dem Verlust von Sinnhaftigkeit mit ästhetischer Schöpferkraft begegnete. Vielmehr scheint er Nietzsches Diagnose zu teilen, wonach nur noch die Parodie einen Raum der Originalität stellt: Im 223. Stück von Jenseits von Gut und Böse, dem Text, in dem Nietzsche das Kamevalsmotiv auf die generelle Beschaffenheit des Zeitalters anwendet 176, mutmaßt der Philosoph: "Vielleicht, dass wir hier gerade das Reich unsrer Erfindung noch entdecken, jenes Reich, wo auch wir noch original sein können, etwa als Parodisten der Weltgeschichte und Hanswürste Gottes, - vielleicht dass, wenn auch Nichts von heute sonst Zukunft hat, doch gerade unser Lachen noch Zukunft hat!"I77
Das Lachen, auf das Kraus zielt, ist indes keines, das geeignet wäre, die Wirklichkeit zu überspielen. Vielmehr kann es sich erst nach einer wahrhaften Begegnung mit dem Schrecken der Zeit, nach "Trauer" und "Ernst" einstellen: "Hier ist Humor kein Gegensatz zum Krieg ... Bei diesem Spaß gibts nichts zu lachen. Aber weiß man das, so darf man es, und das Lachen ... schlage auf wie eine Blutlache!,,178 Das Lachen ist folglich nicht befreiender Affekt, sondern verleiht der grausamen Erfahrung allererst oder aufs Neue wirksamen Ausdruck. Hinter Kraus' Ästhetik der Satire steht die Überzeugung, daß Aussagekraft nur mittels des aneignenden und abgrenzenden, vielfach negierenden Umgangs mit tradierten Stoffen und dokumentarischem Material zu erzielen sei. Dies kann als künstlerische Konsequenz der Abstiegsbewegung des Menschen, seiner irreversiblen Abkehr vom Ideal, die den Verlust der Imaginationskraft - konsequenterweise auch des Dichters - bedeutet, verstanden werden. Kraus selbst beschreibt seine Tätigkeit als "malen", das von ihm geschaffene Werk, wie gesehen, als ,,Figur"(9).Er legt folglich Wert auf die gestalterische Tätigkeit des (Sprach-)Bildens, deren Resultat sichtbar und fühlbar ist. Die sinnliche Wahrnehmbarkeit steht dabei in erster Linie im Dienste der Rückgewinnung vers,tellten Wirklichkeitsbezugs. Gestaltung lebt nicht aus der Originalität des Kunstwerks heraus, sondern aus der Wirklichkeitstreue im Sinne der Treue zu ihrer Wahrheit. Dieser Gehalt ist vom Autor moralisch bestimmt. Die Figur zeigt folglich zweierlei: die Verstellung wie das Verstellte. Anders als Nietzsche vollzieht Kraus keine radikale Destruktion eines metaphysischen Weltbildes: Zwar weist Kraus die ,,Entsubstantialisierung der Ideale zu Phrasen" bis hin zum Gottesbegriff auf, doch bleibt er bei der "nihilistische(n) Annullierung dieser Werte,,179 nicht stehen. Die wahrhaft religiöse Frage nach Gott 176 Auf die Parallele zu Kraus' Leitmotiv des tragischen Karnevals wurde bereits hingewiesen. Vgl. B.II.1. 177 KGA VI/2, 163. 178 Karl Kraus, Der Ernst der Zeit und die Satire der Vorzeit. In: ders., Schriften, Bd. 5, Weltgericht IIChr. Wagenknecht (Hg.), Frankfurt/M., 1988,25-30.30. 179 Vietta, Neuzeitliche Rationalität, 201.
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und seinem Verhältnis zur Geschichte wird zwar von Kraus' Diagnose in den Hintergrund gedrängt, jedoch nicht völlig aufgegeben: Die Wege Gottes seien "unerforschlich", jedenfalls aber sei er zu fern der Welt, als daß seine Lästerer seine Strafe fürchten müßten, lautet die resignative Erkenntnis des Nörglers (644 f.). In seinem abschließenden Monolog wendet er sich entsprechend abstrakt einem höheren "Wesen" zu (681). Jenseits konkreter historischer Religionen scheint jener Gott zu liegen, zu dem er sich bekennt: "So wahr ein Gott lebt - dies Schicksal wird nur durch ein Wunder heil!" (680) Die Vorstellungswelt, die der Nörgler beruft, ist dennoch gerade in dessen Selbststilisierung zum Propheten in der jüdisch-christlichen Tradition verankert. In dem emphatischen Höhepunkt des Monologs findet das Drama einen ersten Abschluß, der von der folgenden Szene und dem Epilog ,,Die letzte Nacht" überboten wird. Der Schluß der Tragödie ist damit doppelgesichtig. Eindrücklich beschließt ein Weltuntergangsszenario das Geschehen. Doch dieses desillusionierte Ende bleibt bezogen auf jene emphatischen Worte des Nörglers, mit denen er seine Gerichtsrede gleichsam in ein Gebet münden läßt. Die heilsgeschichtliche Version des christlichen Welttheaters gipfelt zuletzt im Bezug auf das Erlösungsgeschehen in Christus, das in der Eucharistie des mittelalterlichen Mysterienspiels sakramental vollzogen wird. Bei Kraus nimmt der Nörgler christusgleiche Züge für sich in Anspruch: Die "Tragödie, die in die Szenen der zerfallenden Menschheit zerflillt"(681), wird zur Schuld, die er trägt, die er im theatralisch-appellativen Gestus der Rede quasi zu Gehör bringt. Anders als die Presse liefert er keine leeren Phrasen: ,,All ihr Blut war doch nur Tinte - nun wird mit Blut geschrieben sein! Dieses ist der Weltkrieg. Dies ist mein Manifest." (681) Wahrend auch Zarathustra mit Blut schreibt,180 den Krieg stellenweise aber geradezu feiert l81 und den Menschen überwunden sehen möchte,182 sieht Kraus eher die fatalen Folgen einer solchen Kampfesmetaphorik wie des Kultes um den Übermenschen angesichts der grausamen Folgen des realen Krieges. 183 Das ,,Blut" kann daher doppelt bezogen werden: Einerseits auf das Sterben im Weltkrieg, andererseits auf die existentielle, selbstaufopfernde Dimension, die das Schreiben für den Nörgler enthält. Die Hoffnung des Nörglers gilt der Erhörung durch den "Geist", die freilich alles andere als gewiß ist, denn daß eine Beziehung zwischen dieser transzendenten Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Vom Lesen und Schreiben, KGA VIII, 44. Also sprach Zarathustra, Vom Krieg und Kriegsvolke, KGA VIII, 54-56. 182 Also sprach Zarathustra, Vorrede, KGA VIII, 9. 183 Die Abgrenzung gegenüber dem nihilistischen Philosophen formuliert der Nörgler im Gespräch mit dem Optimisten: Man "würde Nietzsches Überraschung erleben, daß der ,Wille zur Macht' nach Sedan sich nicht als Triumph des Geistes, sondern in Form vermehrter Fabrikschlote darbietet. Nietzsche war ein Denker, der es sich ,anders vorgestellt' hat. Nämlich den Seelenaufschwung von anno 1870. An den von 1914 hätte er vielleicht von vornherein nicht geglaubt und sich nicht mehr vom Sieg der eigenen Gedanken verblüffen lassen müssen." (216 f.) Die Begeisterung für eine Heroik des Kampfes, wie sie vor allem der Zarathustra stellenweise zum Ausdruck bringt, konnte Kraus angesichts von dessen desillusionierender Konkretion im Ersten Weltkrieg nur fatal erscheinen. ISO
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Macht und der Menschheit besteht, ist keinesfalls sicher. Der Dichterprophet beansprucht für sich, "den Grundton dieser Zeit" getroffen zu haben. Die Überlieferung, die die Sicherstellung der Erinnerung und Erinnerbarkeit bedeutet, versteht er allerdings auch als Schuld: Sich selbst schreibt er "blutigen Wahnsinn" zu, durch den er zu diesem Grundton beigetragen hat. Ähnlich dem Autor der Vorrede weist der Nörgler in dieser Passage auf die Zugehörigkeit des Schöpfers der Tragödie zu ihrer HeIdin, der Menschheit, hin, die auch seine Verstrickung in ihre "unbekannte Schuld" bedeutet. Indem er den "Grundton" schließlich zu "Geräuschen" werden läßt, deutet er an, daß dem Geschehen eine konzentrierte Form nicht entsprochen hätte. Nur so bildet es das Echo blutigen Wahnsinns. Als Echo steht das Werk darüber hinaus in Beziehung zur scharf verurteilten Presse: Das "-bee!" der Extraausgabe (vgl. 670) bildet den Gehalt des Echos am Beginn des Monologs, erst am Schluß wird es auf die gesamte Äußerung des Nörglers, das Weltkriegsdrama, bezogen. Hier zeigt sich die komplizierte Struktur, die Kraus' nicht zuletzt ethisches Anliegen, der Wirklichkeit zur Sprache zu verhelfen, in Verbindung mit seiner Überzeugung der wirklichkeitsetzenden Kraft von Sprache nach sich zieht: Die Grenze zwischen dem Dokument des Autors, seiner Schöpfung der ,,Figur", den Äußerungen der Presse, die reale Verzerrungen von Wirklichkeit darstellen, und der "zerschlagenen Schöpfung" (670) wird aufgelöst. Daher kann der Nörgler die Anklage spüren, "daß ich noch lebe, der Augen hatte, die Welt so zu sehen und dessen Blick sie so getroffen hat, daß sie wurde wie ich sie sah." (670 f.) Der blutige Wahnsinn des Nörglers weist somit zum einen auf die geistig-körperliche Versehrtheit des Nörglers, zum anderen aber in paradox anmutender Weise auf die verletzende Gewalt des Autors, die sich aus der Aufhebung der Grenzen zwischen Sprache und Wirklichkeit ergibt. Damit bietet das dramatische Kunstwerk keine Gegenwirklichkeit. Die Möglichkeiten der Satire stoßen an eine Grenze vor. Pfotenhauer hat sie für Kraus prägnant definiert: Sie sei ,,immer Entstellung der Wirklichkeit oder Verstärkung ihrer sich selbst entstellenden Tendenzen bis zur Kenntlichkeit."l84 Kann aber die Entstellung der Wirklichkeit angesichts der historischen Katastrophe noch bis zUr Kenntlichkeit überboten werden? Der Überschritt von der Satire in die Klage 185 zeigt die Verneinung dieser Frage an. Damit steht auch das übergeordnete Ziel der Bewahrung des Erlebens auf dem Spiel. In der Rückgewinnung des Wirklichkeitsbezugs wird nicht Rettung, sondern Tod und Vernichtung als Referenzpunkt sichtbar. Humanität, Geist, Phantasie sind verloren. So gerät auch die Sprache an die Grenze ihrer Möglichkeiten. ,,Erlösung" muß anderweitig gesucht werden. Eigentümlich, aber folgerichtig, mutet daher die Rede von der "Erlösung" an: Wenn an den "Geist" appelliert wird, das Werk "als Erlösung gelten" zu lassen (681), so bleibt die Frage des Subjekts der Erlösung seltsam unbestimmt. Weder wird dem Geist die erlösende Macht zugesprochen, noch eine Selbsterlösung des 184 18S
Pfotenhauer, 327, Anm. 4. Diesen arbeitet Burkhard Müller, 475, heraus.
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Menschen qua mahnender Bewahrung und Erinnerung ausgedrückt, denn zumindest von der Anerkennung durch die wiederum unklar bestimmte Macht des Geistes wäre sie abhängig. Der Zusammenhang von dichterischem Werk und Erlösung eröffnet eine Verbindungslinie zwischen Sprache und Göttlichkeit. Im Gespräch mit dem Optimisten hat der Nörgler an anderer Stelle zwei Möglichkeiten der Erlösung parallelisiert, die die Beziehung bestätigen, nämlich durch das "Wort" oder die "Ungeduld Gottes" (225). Dagegen, daß Kraus die Sprache letztlich an die Stelle Gottes treten läßt, spricht vor dem Hintergrund des Gebetes allerdings die apodiktische Umkehrung des Johannes-Prologs (Joh. 1,1): ,,Am Ende war das Wort." (676) Über dieses Ende geht die emphatische Schlußwendung des Nörglers hinaus. Das Diktum destruiert eine Metaphysik der Sprache. 186 Angesichts des Krieges ist das Vertrauen in die Bedeutung und Kraft der Sprache so fundamental erschüttert, daß die Kritik an der Phraseologie nicht mehr durch ein positives Gegenbild getragen werden kann, sondern auf einen unüberwindlichen Abgrund verweist. 187 In der Gegenwart kann hinter der Maske der Phrasen nichts vermutet werden. 188 Dennoch bezieht sich der Nörgler auf ein Denken von Erlösung. Seine "Tragödie", die seiner Selbstaufopferung gleichkommt und ,,Manifest" ohne jeglichen Triumphalismus ist, wäre demnach vor dem Horizont einer wie auch immer vagen Hoffnung zu begreifen, die mittels einer christlichen Symbolik Formulierung findet, ohne indes deren theologischen Zusammenhang zu übernehmen.
b) Die letzte Nacht: Mythisch-groteskes Weltgericht Im Epilog ,,Die letzte Nacht" findet die Vision des Nörglers gleichsam ihre Erfüllung. Dem Optimisten gegenüber hat er bereits im 1. Akt, d. h. nach Kriegsbeginn, seiner Überzeugung Ausdruck gegeben: "Daß dieser Krieg von heute nichts ist als ein Ausbruch des Friedens, und daß er nicht durch Frieden zu beenden wäre, sondern durch den Krieg des Kosmos gegen diesen Planeten!" (224) Der Schlußteil entwirft nun ein eindrückliches endzeitliches Szenario mit vielfachen Anspielungen auf Faust 11. Die letze Szene des 5. Aktes läßt das ,,Liebesmahl" folgerichtig einmünden in das Fiasko des Endkampfes, das von Erscheinungen geprägt, von phantastischen Figuren begleitet und kommentiert wird. Ein toter Wald, Flammen, Pferde und Raben sprechen, ein ungeborner Sohn appelliert gegen sein eigenes Werden, bevor totale Finsternis eintritt. 186 Eine solche vertritt in bezug auf Kraus zum Beispiel Heinz Politzer. Er interpretiert auch die Taufe Kraus' symbolisch: ,,Er assimilierte sich dem Wort, das am Anfang war." (ders., Die letzten Tage der Schwierigen. HofmannsthaI, Karl Kraus und SchnitzIer. Merkur
28,1974,214-238.223)
187 Zurecht weist Betz darauf hin, daß auch "sein Reden von den Spuren des Verstummens gezeichnet (ist): an den offenen Rändern der Aphorismen, am Nullgrad seiner Zitat-Collagen weist die kommunikative Brücke Risse auf, die über die Frage "Wie sprechen?" führt." (25) 188 Nochmals drängt sich die Parallele zu Mauthner auf, der die Worte mit ,,Etiketten zu leeren Flaschen" vergleicht (Hervorhebung I.P.; Mauthner, 87; vgl. oben 2.2.).
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Der Epilog, formal betrachtet ein lediglich die abgeschlossene Handlung kommentierender Teil, zeigt das Ende des Krieges als durchaus mehrdeutiges kosmisches Weltgericht. Kraus verbindet die konkret-historische Dimension mit abstrakt-allegorischen, durch apokalyptische Bilder aufgeladene Anteile zu einer Groteske. Dem satirischen Grundzug entsprechend, beherrscht die kontrastreiche Verbindung unterschiedlicher Stilebenen und heterogenen Materials, die Kombination symbolischer und dokumentarischer Elemente das gesamte Drama. Doch finden die Verfahren der Deformation, Destruktion und Dekomposition, durch die an sich Unkombinierbares zusammengeführt wird,189 im Epilog einen Höhepunkt. Der Realismus des Epilogs, der aufgrund des Motivzusammenhangs mit dem Gesamttext bis in die allegorischen Elemente hinein zum "Dokument" zu zählen ist, bezieht sich weniger auf die Abbildung von Wirklichkeit als vielmehr auf die ,,richtige Reproduktion des Wesens der Wirklichkeit" im Sinne einer tieferen Einsicht in diese, die sinnfällig werden soll durch das "ständige Hin- und Herpendeln zwischen Wirklichem und ,Unwirklichem,,,.190 Die unterschiedlichen Ebenen bilden füreinander den Hintergrund, mithin konkurrieren mindestens zwei Bezugsfelder - das historische Geschehen des Weltkriegs und der kosmische Kampf gegen die Erde - miteinander und ergänzen sich wechselseitig: Der Weltkrieg ist Zerstörungsgeschehen, in dem Menschen real eine Vernichtungsmaschinerie in Gang gesetzt haben. Die letzte Nacht, visionäres Finale des Weltkriegs, ist Apokalypse des Mars. Die Apokalypse bildet dabei mehr als den Vorstellungshintergrund für den realen Krieg. Sie ist dessen tiefere Wahrheit, die der leeren Phrase der metaphysischen Überhöhung des Krieges durch die Menschen entgegensteht, ja ihre ,,Hohlheit,,191 entlarvt. Die enge Verzahnung von ,Wirklichem' und ,Unwirklichem' kommt vor allem dadurch zustande, daß selbst die auf das Kriegsgeschehen des Weltkriegs verweisenden Anteile in grotesker Weise verfremdet, häufig auch allegorisiert sind: Der Epilog ist durchweg gereimt. So sprechen die sterbenden Soldaten, die Kriegsberichterstatter, wie die Hyänen und die Stimmen von oben in Versen. Personifizierte Gasmasken wenden sich den Sterbenden zu. Der Chefredakteur der Neuen Freien Presse tritt als Herr der Hyänen auf. Erhalten so reale Gestalten eine mythische Tiefendimension - der Herr der Hyänen ist der Antichrist -, so werden andererseits visionäre Erscheinungen auch real bezogen. Nachdem der Herr der Hyänen, dämonisierte Macht der Presse, den Sieg des Antichristen proklamiert und diesen dem Erlösungsgeschehen in Christus analog formuliert hat, wird diese Inanspruchnahme der Regie im Weltspiel mit den Mitteln der Groteske als Trug entlarvt. Ein Vernichtungskampf mit Blut-, Stein- und 189
Vgl. Jens Malte Fischer, Groteske, in: Modeme Literatur in Grundbegriffen, 185 - 188.
186. 190 Luklics, Zur Frage der Satire, in: Essays über Realismus. Probleme des Realismus I. Georg Lukacs Werke Bd. 41 Frank BenseIer (Hg.), Neuwied, Berlin, 1971,83-107.96. 191 Lukacs, Zur Frage der Satire, 97.
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Aschenregen setzt ein. Die apokalyptischen Bilder halten die reale Dimension des Krieges präsent. Das blutige Kreuz am Himmel wird Anlaß zur parodistischen Mahnung der "Stimmen von oben": ,,Nun tretet zurück, der Anblick gebeut's! I Habt Achtung vor unserem roten Kreuz!" (764) Eine "Stimme von unten" interpretiert den Aschenregen als Bestandteil menschlicher Kriegsmaschinerie (765). Dieses Geschehen ist nun offenbar nicht suggestive Phrase, analog dem Wirken der Presse. Kraus überbietet die Perspektive jeder pervertierenden Dokumentation: Das Geschehen ist nicht mehr geeignet, den Stoff für den Film ,,Der jüngste Tag" zu liefern, wie das Scheitern der "Kino-Operateure" zeigt (766). Auch darin, daß es sich dem modemen Massenmedium entzieht, ist das Geschehen final und "letzte Nacht". Die Verknüpfung von Realem und Allegorischem leistet ein Doppeltes: Sie steigert zum einen die Bedeutung des Geschehens, wendet sich jedoch zum anderen gegen jede Überhöhung, indem sie die mythische Tiefe grotesk überformt. Dieses Wechselspiel gilt auch in Hinblick auf das Wirken des zweiten großen Richters im Stück, der nach dem Nörgler zu Worte kommt: Der Kriegsgott Mars ist es, der den Krieg des Kosmos anführt, doch steht er weniger für eine die Menschheit überbietende, metaphysische Macht, als vielmehr für die Vernichtungskraft eines Krieges, dessen Macht sich längst menschlicher Kontrolle entzieht, die sich mithin verselbständigt hat und nun als Stimme den deus ex machina des barocken Theaters ersetzt. In der Gerichtsrede tritt er nicht als ,,Person" hervor, sondern im Plural: "WIr vom Mars". Die Passage nimmt die vehemente Kritik des Nörglers auf, wendet sich gegen die Menschen, die zum einen "das Bild der Schöpfung geschändet haben", andererseits aber "Knechte ihrer Notwendigkeiten" sind. (767) "Wir haben alles reiflich erwogen": Auch der Kaiser hatte alles reiflich erwogen, auch der Nörgler. Weder der Kaiser noch der Nörgler verkörpern autonome Mächte. Ihre Erwägungen können keine Regie im Weltspiel begründen. Die Erwägungen des Mars führen in die Totalvernichtung. Auch hinter dessen Angriff auf den Planeten kann indes der Mensch vermutet werden, der, seit er den Luftraum technisch eroberte, auch die Möglichkeit des Krieges gegen den eigenen Stern hat. l92 Nochmals wird für die verlorenen ideellen Werte der Gattung Mensch, Gottesgeschöpf, eingetreten. Es ist diese Form der Gotteslästerung mit ihren fatalen Folgen, die den Kampf des Mars begründet. Auch dieser bedeutet nicht Weltregierung, denn der Kontakt zur Erde ist abgebrochen (vgl. 766), sondern Weltvernichtung. Die Frage nach der Regie im Weltspiel tritt hinter das apokalyptische Weltgericht zurück. Letzteres ist auch kein freiwilliger Akt, vielmehr wird die Aktion des Mars 192 Vgl. 1,29. Hier fordert der Nörgler den Optimisten auf: ,,Lesen Sie die Beschreibung von dem Aufstieg einer Montgolfiere in lean Pauls Kampanertal. Diese fünf Seiten können heute nicht mehr geschrieben werden, weil der Gast der Lüfte nicht mehr die Ehrfurcht vor dem näheren Himmel mitbringt und bewahrt, sondern als Einbrecher der Luft die sichere Entfernung von der Erde zu einem Attentat auf diese selbst benützt" (214)
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als ,,Defensive" bezeichnet, ist Reaktion auf den Aggressor Menschheit. Der "martialische Zwerg" (769), der in dieser Formulierung explizit dem Mars zugeordnet wird, hat dabei die Vernichtungsmethoden vorgegeben. Die Stimmen des Mars erklären: ,,zum Heil des Alls und all seiner Frommen I haben wir eure Methoden angenommen.1 Sowohl um zu forschen wie um zu töten I war uns eure Wissenschaft vonnöten." (769) Durch diesen Krieg hat die Menschheit selbst ihre Vernichtung eingeleitet: "Zerstört ist Gottes Ebenbild!" Bis zum Schluß arbeitet Kraus mit jüdisch-christlichen Topoi, die einerseits destruiert, andererseits aber im Zitat fortgeschrieben werden. Die ,.zerstörung und Erhaltung des Erwartungshorizontes" stehen in jenem "gespannten Gleichgewicht", das der Groteske wesentlich eignet. 193 Der Mensch, der sich gottgleich wähnt, gar meint, einen unendlichen Sieg zu erringen (vgl. 744), wird vom Kriegsgott, der die Menschheit überwindenden, aber von dieser initiierten Kraft, seiner Geschöpflichkeit beraubt. Kraus läßt das Idealbild des Menschen, seine geistigen Qualitäten verbunden mit ethischem Auftrag, allein in der Negation fortleben. Er leistet die ,,Erhaltung" durch die Bezugnahme auf die jüdisch-christliche Vorstellung der Gottebenbildlichkeit des Menschen. Aus ihrem Verlust leitet er vor allem eines ab: Der Mensch hat sich von seiner Bestimmung unwiederbringlich und selbstvernichtend entfernt. Gerade der letzte Satz des Epilogs, Unterschrift des Dramas, gehört der Stimme Gottes und steht seltsam isoliert. Die ,,Ruhe" nach dem Vernichtungssturm ist vorausgegangen, "Großes Schweigen" lautet die Regieanweisung, die den Abstand markiert. Dann erst spricht Gott: ,Jch habe es nicht gewollt."(770) Noch einmal wird jegliche Geschichtsdeutung, die die Jahre 1914-1918 als Teil eines göttlichen Heilsplans begreift, abgewiesen. Abgewiesen wird damit auch eine göttliche Weltregierung, die angesichts des katastrophalen Geschehens leicht in eine geradezu zynische Theodizee abgleiten könnte. Noch einmal wird die Wirksamkeit Gottes in der Welt geleugnet. Da dieser Satz ohne Echo bleibt, wird er aber weder relativiert, noch negiert. Ist also ein Gott zu denken, dann nur ein solcher, dem dieses Geschehen nicht entspricht. Der Satz ist Gegen-Satz zum ,Jch habe alles reiflich erwogen" des Kaisers, bleibt unwidersprochen souverän in seiner Machtlosigkeit. Als Zitat einer Formulierung Wilhelms n. wird er allerdings mehrdeutig: Zeitungsmeldungen zufolge hatte der Kaiser mit diesen Worten anläßlich des ersten Jahrestages des Attentats von Sarajevo die ungeheuren Folgen des Krieges kommentiert. l94 Wo dieser Satz als Äußerung des Kaisers erkannt wird, erscheint der Bezug auf Gott hintertrieben in der Technik des Zitats: Wilhelm n. ist im Rahmen des Dramas als Ersatzgott gezeigt worden. Die Apotheose des Herrschers wird nun durch die Parallelisierung von Gott und Kaiser umgekehrt zur indirekten Entthronung Gottes. Es ist allerdings eine Entthronung, die Gott in seine volle SouveräniPietzcker, 88. Vgl. Karl Krolop, Genesis und Geltung eines Wamstücks, in: ders., Sprachsatire als Zeitsatire bei Karl Kraus. Neun Studien, Berlin (DDR), 1987, 65 -153. 153. 193
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tät einsetzt: Die Unterschrift des Dramas ist auch und vor allem Gegen-Satz und Antiklimax zur Überbietungstendenz des Epilogs 195 und der in ihr zum Ausdruck kommenden Eskalation des Vernichtungsgeschehens. Insofern ist sie Manifest einer gänzlich anderen Art, nicht gleichsam überlegte Signatur eines Programms, sondern Ausdruck einer Kluft: Innerhalb der Tragödie der Menschheit, Manifest des Nörgler-Autors, gibt sich Gott einzig in einer Negation zu erkennen, nicht an seinen Taten. Doch bleibt der Bezug auf Gott jenseits der Geschichte und über den Bruch hinweg erhalten. Aus der Perspektive der Klage, wortrnächtig artikuliert im Monolog des Nörglers, der dem apokalyptischen Ende unmittelbar vorsteht, mag dies die einzig mögliche Stimme Gottes sein. So kehrt der Epilog schließlich vom Gericht in die Klage zurück: Das ,Jch habe es nicht gewollt" Gottes wird lesbar als ,,Echo des blutigen Wahnsinns". Von dieser Stimme Gottes im Horizont der Klage her weist eine Linie zur "Transzendenz der Verzweiflung", die nach Serenus Zeitbloom aus Adrian Leverkühns apokalyptischem Werk ,,Dr. Fausti Weheklag" spricht. Thomas Manns Doktor Faustus liest sich in dieser Passage wie eine Interpretation der Menschheitstragödie Kraus' .196 Der Schlußsatz der Kantate Leverkühns lautet "wie die Klage Gottes über das Verlorengehen seiner Welt, wie ein kummervolles ,Ich habe es nicht gewollt' des Schöpfers .... es hieße die Zugeständnislosigkeit des Werkes, seinen unheilbaren Schmerz verletzen, wenn man sagen wollte, es biete bis zu seiner letzten Note irgendeinen anderen Trost als den, der im Ausdruck selbst und im Lautwerden, - also darin liegt, daß der Kreatur für ihr Weh überhaupt eine Stimme gegeben ist. ... Aber wie, wenn der künstlerischen Paradoxie, daß aus der totalen Konstruktion sich der Ausdruck der Ausdruck als Klage - gebiert, das religiöse Paradoxon entspräche, daß aus tiefster Heillosigkeit, wenn auch als leiseste Frage nur, die Hoffnung keimte? Es wäre die Hoffnung jenseits der Hoffnungslosigkeit, die Transzendenz der Verzweiflung ... ,,197
Bei Thomas Mann ist es der musikalische Ausdruck, der schließlich, im Schweigen "nachschwingend", jenes ,,Licht in der Nacht" erstehen läßt. 198 Konzentriertes Hören ist Voraussetzung für diese Form der Schau. Auch Kraus vertraut eher der Kraft der akustischen Wahrnehmung als der visuellen, obschon er die dramatische Form wählt. Dramatik ist hier jedoch in erster Linie Ausdruckskunst jenseits der Bühne. Abschließend soll daher das Welttheater als Kritik des Theaters betrachtet werden.
Diese hat Burkhard Müller, 479 f., herausgearbeitet. Vgl. auch Krolop, Genesis und Geltung, 150-152. Er nimmt eine indirekte Vermittlung über Theodor W. Adomo, Hanns Eisler, Ernst Krenek an, die Fackel-Leser gewesen seien und mit den Auffassungen Kraus' daher vertraut. 197 Thomas Mann, Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn erzählt von einem Freunde (1947), Frankfurt/M., 1982.490. 198 Ebd. 19S
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4. Tbeatrale Kritik des Theaters Zu den Umkehrungen des christlichen Welttheaters, die Kraus vornimmt, gehört das Diktum der Unaufführbarkeit. Mit den Mitteln des Theaters kann diese Welt ihrer Menschheit nicht zur Anschauung gebracht werden. So hebt die Vorrede des Dramas an: ,,Die Aufführung des Dramas, dessen Umfang nach irdischem Zeitmaß etwa zehn Abende umfassen würde, ist einem Marstheater zugedacht. Theatergänger dieser Welt vermöchten ihm nicht standzuhalten." (9) Das Geschehen, das Kraus in diesem Drama dokumentiert, ist unerträglich, Welterfahrung ist traumatische Erfahrung, ein Aspekt, den Kraus im ursprünglichen Untertitel des Textes betont hat: Ein Angsttraum. l99 Wenn die Kriegsjahre nur ,,in blutigem Traum" verwahrt sind (9), so bezeichnet Traum, Reizwort der Wiener Modeme im Anschluß an Freud,200 gerade nicht das Unbewußte, Triebhafte des individuellen Lebens, sondern ist Spiegel der historischen Realität. Im Dokument des Dramas verschränken sich folglich die Phantasmagorie und die mit dem Anspruch auf Authentizität dargestellten Kriegsereignisse. 201 Das Phantasmagorische sperrt sich dem Vorstellungsvermögen der "Theatergänger", die nach dem Verlust der Phantasie202 "niemals eines Erlebnisses und keiner Vorstellung des Erlebten fabig" sind (10). Da Kraus das Erleben der Kriegsjahre sichern will, das als traumatisches keinesfalls kollektiver Besitz der Epoche ist, wohl aber sein sollte, gilt es vor allem, die ausgeblendeten Erfahrungen zur Wirklichkeit zu bringen. Es ist diese Wirklichkeit, die dem Nörgler zugänglich, aber offenbar ebenso unerträglich ist, wie sie es dem Theaterpublikum wäre. So wünscht er sich zurück ins Unbewußte, in die Kindheit. Die Sehnsucht nach Regression, die er in einem "Gebet" artikuliert, bildet den Gegenpol zur Phantasmagorie des Jetzt (614 f.). Doch geht es Kraus letztlich nicht darum, sein potentielles Publikum vor der traumatischen Erfahrung zu schützen. Im Gegenteil, seine Absage an die dramatische Darbietung des Stücks im Theater gründet in dem Verdacht, daß sie den Gehalt des Stückes überspielen könnte, er folglich die Zuschauer nicht erreicht. 1921 läßt er mitteilen:
199 Vgl. Krolop, Genesis und Geltung, 107. So kennzeichnet der Nörgler den Lauf der Welt: ,,sie verläuft ... wie mein Angsttraum, und wenn ich sterbe, ist alles vorbei." (224) 200 Zum Verhältnis von Kraus und Freud vgl. Nike Wagner, Geist und Geschlecht, Karl Kraus und die Erotik der Wiener Modeme, Frankfurt/M., 1982, 118-131. Der kritischen Polemik Kraus' geht zunächst der positive Anschluß voraus, insbesondere im Zusammenhang mit der ,,Enttabuisierung von Sexualität" (Betz, 23). 201 In dieser Verschränkung entspricht das Drama Gerbart Hauptmanns Traumdichtung Hannele Manerns Hinuneljahrt, das Kraus häufig als SprechstUck vortrug; vgl. Krolop, Genesis und Geltung, 107. 202 Vgl. ll.2.
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,,Der Autor hat selbst für den Fall, dass das szenische Problem lösbar wäre, nie an eine Aufführung gedacht, durch die ein Zurücktreten des geistigen Inhalts vor der stofflichen Sensation wohl unvermeidlich wäre ... ,,203
Einzig den Epilog nimmt der Autor von diesem Verdikt aus. 204 Geht die Intention seiner Satire gerade auf das Durchschlagen von Verstellungen und die Entlarvung manipulierender Kräfte, so sieht Kraus im Monumentaltheater seines Zeitgenossen Max Reinhardt eben diese Kräfte am Werk: Pathetisch wendet der Dichter sich gegen dessen "am ,Blutgeschäft' des Krieges schmarotzende(n) Trivialdramatik. ,,20S Die suggestive Kraft des Theaters sieht Kraus durchaus. Nicht umsonst bezeichnet der Nörgler das Vaterland mittels der in diesem Fall deutlich negativ konnotierten Theatermetaphorik als ,,Regisseur" genau in der Passage, in der er ihm "die stärkste Suggestion" bescheinigt (220). Das geistige Anliegen Kraus' muß das Theater mithin verfehlen. Der Satiriker fürchtet die Dominanz der "stofflichen Sensation", wendet sich so offenbar gegen eine visuelle Wahrnehmung, die die innere Vorstellungswelt eines Publikums eher verstellen müßte. Kraus setzt auf die Hörerschaft. Der Text enthält hochgradig affizierende Passagen, in denen die akkustische Wahrnehmung eine bedeutende Rolle spielt. Bereits die Vorrede arbeitet mehrfach mit Bezügen zur Musik. 206 Der Nörgler beansprucht, wie gesehen, mit seinem Werk den "Grundton" der Zeit festgehalten zu haben. 207 Mit der Berufung der "Operette" wird eine musikalisch-theatrale Tradition zitiert. Doch geht es Kraus insgesamt um einen umfassenden Sinneseindruck,208 der die Bewahrung des Geschehens als Erleben gewährleisten soll. Die allein vor der Perversion der Wahrnehmung schützende Rückgewinnung der Phantasie, paradoxes Projekt angesichts der Apokalypse der Menschheit, verlangt in der Auffassung des Satirikers die konzentrierte Form des Sprechtheaters. Nur so kann "Vorstellung" (10) erzeugt werden, kann das innere Bild evoziert werden, dessen es bedarf. Die letzten Tage der Menschheit entstehen zeitgleich mit dem Projekt des "Theaters der Dichtung". Sie sind flir diese Art der Darbietung konzipiert. 209
203 So läßt Kraus den Verlag Die Fackel auf eine Anfrage des Deutschen Landestheaters Prag antworten, das das Stück auffUhren wollte (17. Nov. 1921; vgl. Wagenknecht, Entstehung und Überlieferung, 781). 204 Ebd. lOS Krolop, Genesis und Geltung, 105; vgl. Die Fackel 418, 1916, 100-104. Vgl. Jens Malle Fischer, Karl Kraus, Studien zum ..Theater der Dichtung" und Kulturkonservatismus. Kronberg, 1973 (Theorie-Kritik-Geschichte 1) bes. den Exkurs über theaterreformatorische Bestrebungen der Zeit, der zeigt, daß Kraus' Bestrebungen durchaus nicht isoliert sind, 26-32. 206 Vg1. etwa ,,Lebensmusik", ..Tonfälle", ..Choräle" (9). 207 V g1. 1I.3.a). 208 So appelliert der Nörgler im gleichen Monolog auch an das Sehen und SpUren seines fiktiven Publikums (z. B. 675, 678). 209 Siehe dazu Krolop, Genesis und Geltung, 106.
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Das theatralische Sprechen des Dichters bleibt auch dann noch zentral, als er 1929/30 eine Bühnenfassung einrichtet. Wiederum wird sie vorwiegend gelesen, und zwar von Kraus selbst. 210 Neben dem Vorspiel und großen Teilen der NörglerRolle fehlt der Bühnenfassung der Epilog, der für eine Interpretation des Dramas als Welttheater, wie gesehen, von besonderer Bedeutung ist. Diese Auslassung sowie die Tatsache, daß Kraus den Epilog, von technischen Schwierigkeiten abgesehen, 1921 für den einzig aufführbaren Teil des Stücks ansieht, deuten zunächst darauf hin, daß er ihn als eine abgeschlossene Einheit im Drama betrachtet. Daneben hält er ihn aber offenbar für geeignet, Welt zur Anschauung zu bringen, dies mit Bezug auf die umfassende Weltarchitektur des mittelalterlich-barocken Theaters: Für die Welt steht hier das Schlachtfeld als einziger Spielort gegenüber den zahlreichen Einzelschauplätzen der Gesamttragödie. Der visuelle Sinn wird im Epilog durch die zahlreichen Erscheinungen in besonderer Weise bedient. Gleichzeitig wird eine unempfindliche Wahrnehmung kritisiert. Mit der "Kälte des Augensinns,,2lI kann das Erleben des Kriegsgeschehens nicht gesichert werden. Sie bringt es fertig, sterbende Soldaten zu fotografischen Objekten zu degradieren (735) und die "letzte Nacht" in die filmische Illusion des ,Jüngsten Tages" zu verwandeln (766). Bereits während der Entstehungszeit des Dramas nimmt Kraus immer wieder Passagen des Textes in seine Lesungen auf, eindrücklicher Hinweis darauf, daß er sich von der performativen Darbietung des ,unspielbaren' Dramas viel verspricht. Seine umfassende Kritik an den gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Mißständen seiner Zeit erstreckt sich auch auf das Theater. Dennoch verzichtet er nicht auf Öffentlichkeit. Das "dekorationsfreie Theater" zeugt von dem "Versuch, für sich und einen kleinen Kreis von Gleichgesinnten ein Refugium der theatralischen Phantasie abseits des Theaterbetriebes zu errichten.,,212 Der Appell an die Imagination der Zuhörenden wird lesbar als Anerkenntnis der Bedeutung von Resonanz, selbst für ein so hoffnungsloses Projekt, wie es Die letzten Tage der Menschheit darstellen. Obwohl der Weltuntergang im eigentlichen Sinne, nämlich im Sinne der Vernichtung des Geistes, stattgehabt hat, gilt es noch, der Wirklichkeit zur Wahrheit zu verhelfen. Über den tiefen Graben zwischen richtendem Satiriker und realitätsblindem Publikum hilft die hochgradig affizierende Struktur des Textes. Die Zielperspektive gilt der Rückgewinnung menschlicher Qualitäten, konzentriert in den Begriffen Geist und Phantasie. Mithin bildet nicht allein das Daß eines literarischen Kunstwerks, das sich auf eine abstrakte Leserschaft bezieht, einen gegenläufigen Akzent zur hoffnungslosen Perspektive des Untergangs. Die performative Dimension gibt dem Vortragsdrama eine eigene Wirkungsintensität. In der Reduktion der Darbietung auf die Lesung Vgl. Wagenknecht, Entstehung und Überlieferung, 780 f. Gen Mattenklott, Das gefräßige Auge, in: Die Wiederkehr des Körpers/D. Kamper, ehr. Wulf(Hg.), Frankfurt/M., 1982,224-240.227. 212 Fischer, Karl Kraus, 25. 210
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erscheint Kraus' satirisches Drama als Gegenmodell des Gesamtkunstwerks im Gefolge Richard Wagners?13 Gemeinsam ist beiden Konzeptionen die Bedeutung, die sie dem sinnlichen Erleben beimessen. Kraus jedoch setzt im Rahmen seiner ethischen Intentionen auf die Kontrolle und Steuerung der suggestiven Kraft durch den Lesenden und auf das kritische Potential einer gezielt eingesetzten, destruierenden Sprache, das sich freilich nicht in der Distanzierung entfaltet, sondern dem hochgradig bannenden Vortrag unterliegt.214 Nur so ist ein Zugang zur wahren Wirklichkeit, die sich einzig in zerstörter Gestalt zeigt, möglich. Die Intensität eines gemeinsamen Totalerlebnisses im Zeichen der - wenn auch fiktiven - Ganzheit der Welt, auf die HofmannsthaI zielt, bildet dazu das Gegenmodell.
s. Ergebnis: Das Weltgericht diesseits der Grenze zum Schweigen Die letzten Tage der Menschheit bringen kein geschlossenes Weltbild zur Anschauung. Während HofmannsthaIs Salzburger Festspiel die Gesamtheit der Welt unter Rückgriff auf das Welttheater Calderons allegorisch zu fassen sucht und dabei die Einbindung der Welt in einen gottgelenkten, letztlich versöhnenden Zusammenhang zumindest zitiert, entzieht sich Kraus' Tragödie der Menschheit der Übersicht. Der Krieg erscheint als dasjenige Geschehen, das den unheilvollen Zusammenhalt der Vielzahl von Einzelszenen an unterschiedlichsten Schauplätzen stiftet. Folgerichtig wird im Epilog das Schlachtfeld zur eigentlichen Bühne des Weltendramas. Wenn hier die Stimmen von oben, die Stimme Gottes sowie die Erscheinungen einen Horizont eröffnen, so ist dieser als Bestandteil der grotesken Konstruktion uneindeutig: Der Mars steht allegorisch für das Kriegsgeschehen, die Himmelserscheinungen verschränken visionäre Elemente mit solchen, die konkreten Anhalt an der Wirklichkeit haben, die Gottesstimme widerspricht end-gültig der Vorstellung einer göttlichen Regie im Welttheater. Die Position des Regisseurs bleibt in Kraus' Drama vakant. Weder innerweltliche noch metaphysische Größen verfügen über jene Macht, derer es bedürfte, das gesamte Weltspiel zu lenken. Über die Negation ist die Frage nach der höchsten Spielleitung dennoch präsent. Das Positivum einer erlösenden Macht bleibt ungreifbar, sehnsuchtsvoll angesprochen durch den Nörgler.
213 Siehe dazu B.m.5 im Zusammenhang mit Hofmannsthals Festspiel. Zu dieser Gegnerschaft Kraus' wie Loos', Kokoschkas und Schönbergs im Zusammenhang der Wiener Moderne siehe Werner Hofmann, Gesamtkunstwerk Wien, in: Der Hang zum Gesamtkunstwerk. Europäische Utopien seit 1800/Harald Szeemann (Hg.), Aarau, Frankfurt/M., 1983,84-92. 89-92. 214 Wie sehr Kraus sein Publikum lesend zu faszinieren vermochte, bezeugt eindrücklich Elias Canetti, Karl Kraus, Schule des Widerstands, in: Das Gewissen der Worte, Essays, München, Wien, 1975,39-49.
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Die via negationis des Satirikers ist nicht die kontemplative, innengerichtete der Mystik. Der anklagende Gestus, effektvoll inszeniert in der spezifischen Darbietungsform der Einpersonen-Lesung, zielt auf öffentliche Wirksamkeit. Er gilt einer heldenlosen Menschheit, die zwar die Fäden nicht in der Hand hält, ebenso wenig aber aus der Verantwortung entlassen ist. Als ,.Marionetten" oder "Schatten" bespielen die Täter die Bühne. Auch sie sind jedoch nicht souverän. Kein Kaiser vermag das Vernichtungsgeschehen aufzuhalten, wirtschaftliche Interessen vermochten den Krieg in Gang zu bringen, Presse und Propaganda ihn am Laufen zu halten. Abwenden kann die Katastrophe weder ein Mensch, und sei er höchster Amtsträger, noch eine Institution. In dieser diagnostischen Kraft überzeugt der ModerneKritiker Kraus.z 1S Gegenüber der Puppenhaftigkeit der Täter insistiert Kraus auf der Physis der Opfer. Deren Erleben, in der Zerstörung ihrer Körper gegenwärtig, gilt es zu sichern. Hier liegt die Wahrheit ihrer Tragödie. Obschon in der verstümmelten Physiognomie der Soldaten sichtbar, muß dieser Zerstörung gleichsam aufs Neue zur Wirklichkeit verholfen werden. Kraus' Programm gilt der Rückgewinnung einer verdrängten und verstellten Realität. So wendet er sich vor allem gegen die Macht der Presse, die ihmzufolge für die Verstellungen hauptverantwortlich ist, doch wirken andere institutionelle Größen mit. Die entlarvende Tätigkeit des Satirikers zielt auf die Durchdringung der öffentlichen Scheinwelt, um zum Wesen der Wirklichkeit vorzustoßen. Auch die Verstellungen der Wirklichkeit haben indes Anteil an der Realität, so daß der "Schein" nicht zu vernachlässigen ist gegenüber einer abstrakten ,,Eigentlichkeit". Hier wird Kraus' implizites, nicht systematisch entfaltets Geschichtsbild sichtbar: Der Weltkrieg markiert demzufolge den Endpunkt einer irreversiblen Abstiegsbewegung der Neuzeit, die durch den Verlust der Phantasie bedingt ist. Er verhilft der Lüge zur Herrschaft und öffnet der Vernichtung des Geistes, eigentlicher Weltuntergang, Tür und Tor. Diese Entwicklung wird im Krieg endgültig manifest. Er wird als Apokalypse erfahren, jedoch nicht als messianisches Reinigungsgeschehen verstanden. Zu stark insistiert Kraus auf der Opferperspektive, die jeder Form der Verherrlichung zuwiderläuft. Zu deutlich blendet er die Möglichkeit einer in die Geschichte hereinbrechenden Heilsperspektive aus. Die Finsternis des Vernichtungsschlages durch den Mars wird durch kein Licht abgelöst. Allenfalls vermag der Nörgler eine vage Erlösungshoffnung zu formulieren. Die Gegenbewegung zur endgeschichtlichen Diagnose liegt so in einer skeptisch formulierten Hoffnung auf Resonanz. Diese gilt im zentralen Monolog des Nörglers durchaus einer transzendenten Instanz. Der prophetische Richter wendet sich jedoch auch einer konkreten Leser- oder Hörerschaft zu. Auch nach der Vernichtung des Geistes, nach dem Ende des Krieges wie der "Welt" setzt Kraus auf Wir2U Vgl. Silvio Vietta, Die Modemekritik der ästhetischen Modeme, in: Ästhetische Modeme in Europa. Grundzüge und Problemzusammenhänge seit der Romantik/S. Vietta, D. Kemper (Hg.), München, 1997,531-549.544 f.
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kung. Dieses Ziel findet in der affizierenden Insistenz auf sinnlicher Wahrnehmung, die zunächst sprachlich umgesetzt ist, Ausdruck. Sie gewinnt Klang und Stimme in der Performanz des Lesenden. Dessen Darbietungen geIten der Rückgewinnung von Vorstellungskraft, von Phantasie. Wie die distanzierte Perspektive des Nörglers auf die Welt verknüpft ist mit seiner unausweichlichen, leidvoll erfahrenen Involviertheit, so zielt auch das wirkungsästhetische Programm, das in diesem Drama angelegt ist, auf die Überwindung jeglichen Abstandes zum Geschehen. Eine im wahrsten Sinne unempfindliche, distanzierte Perspektive wird als verzerrend entlarvt. Sie leistet der Verstellung von Wirklichkeit Vorschub. Jene inneren Bilder, die zur "Vorstellung" notwendig gehören, können über diese Kluft hinweg nicht erstehen. Was. hier indes durchschimmert, ist ein leiser Optimismus des in so hohem Maße ethisch orientierten Autors. Vielleicht nämlich läßt sich die Vorstellung zurückgewinnen, wenn auch die WeIt nur als untergegangen begriffen werden kann. Erhielten so die Kriegsopfer ihr Gesicht zurück, so wäre zumindest dieser tragische Held restituiert. Das Verfahren des Satirikers Kraus kann im Bereich der Sprache als gewaltsam bezeichnet werden. Seine volle Kraft entfaltet das Vorgehen im Durchschlagen von Bedeutungen. Wenn Kraus die Mehrdeutigkeit von Worten hervortreibt, so steht diese semantische Entgrenzung 216 im Dienst der Entlarvung. Die ethische Motivation des Autors bedingt indes, daß es hier nicht um Verschiedenverstehbarkeit als solche geht, wie Kraus aus den gleichen Gründen eine ästhetizistische Perspektive ablehnen muß. Doch bleibt im Modus des Negativen stets eine gewisse Bedeutungsoffenheit erhalten. Es ist nicht zuletzt diese Darstellungsform, die bedingt, daß Kraus nicht zu neuen Totalitäten vorstößt, damit auch nicht in Totalitarismen verfällt: Die umfassende Welt-Anschauung des christlichen Welttheaters ist ebenso unmöglich wie die Hinwendung zu ersatzmetaphysischen Ganzheitsvorstellungen, mögen sie ,,Leben" heißen wie in der Philosophie Simmels oder ,,Mythos" wie bei HofmannsthaI und so vielen anderen literarischen Zeitgenossen des Wieners. Auch von einer "Sprachmetaphysik" kann im Zusammenhang des Dramas nicht gesprochen werden. Freilich kommt der Sprache große Bedeutung zu bei der Verstellung von Wirklichkeit, die ihrerseits Wirklichkeit ist. Primäres Anliegen des Satirikers ist daher die Entlarvung. Das Vertrauen in die Sprache als schöpferische Macht ist indes grundlegend erschüttert, wie insbesondere das Diktum "Am Ende war das Wort" zeigt. Die Perspektive des Verlustes erstreckt sich damit auch auf die Sprache: Zitat ersetzt originäre Sprachschöpfung. Die Satire Kraus' greift auf Vorgestaltetes zurück. Der Verlust ist es auch, der diese Sprachform in die Klage übergehen läßt, die im Epilog noch einmal überboten wird mit den Mitteln der Groteske. Die letzten Tage der Menschheit zielen auf erinnernde und somit aktualisierende Bewahrung des Kriegserlebnisses, das der Verdrängung anheim zu fallen droht. Sie rufen darüber hinaus ein Menschenbild vor Augen, das vor dem Horizont der Apokalypse als endgültig verloren geIten muß. Insofern steht die Erinnerung im 216
Vgl. Iser, Das Fiktive und das Imaginäre, 32 f.
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B. Der ,,Aufbruch" der Weltordnung in der Literatur
Zeichen der Diskontinuität. 211 Mit den Mitteln von Satire und Groteske wird das Vergessen aufgesprengt, ohne daß allerdings die Hoffnung auf Wiederherstellung Formulierung rlinde. Sie ließe sich allenfalls wirkungsästhetisch festmachen, denn gegenläufig zur endzeitlichen Gerichtsperspektive ohne Heilshoriwnt setzt Kraus in seinen Lesungen auf eben jene menschlichen Qualitäten, die er als verloren ansieht. Das Schweigen, in das Kraus 1933 erneut verfallt, zeigt indes an, daß die ästhetischen Möglichkeiten von Satire, Klage und Groteske nun erschöpft sind: Schon die Ereignisse der Jahre 1914-1918 waren an sich unvorstellbar, sperrten sich der umfassenden Anschauung. Nun ist auch das Wort der Satire, die Möglichkeit des Überbietens durch Groteske am Ende. Der "Wettlauf der Satire mit dem Stofr,218 ist verloren, und noch nicht einmal im Namen des vernichteten Geistes läßt sich noch ein Kampf führen: ,,Ist denn, was hier dem Geist geschah, noch Sache des Geistes?,,219 So folgt Kraus dem Impuls, das ,,Denken in Sicherheit zu bringen".220 Sprachreflexionen stehen von nun an im Zentrum seines Schaffens. Im Rückblick auf Die letzten Tage der Menschheit bleibt freilich zu konstatieren, daß ein solches Drama nicht mehr recht zu überbieten ist, jedes folgende Werk vielmehr in der Gefahr stände, die Gültigkeit des Gesagten zu unterhöhlen. Daß es noch schlimmer kommen konnte, verschlägt dem Autor lange vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs die Sprache, dies vielleicht nicht zuletzt deshalb, weil er dem Erlebnis der ersten Katastrophe des Jahrhunderts seine unüberbietbaren Ausmaße belassen wollte. Diese im literarischen Kunstwerk zumindest näherungsweise zugänglich zu machen, greift Kraus auf die Vorstellung des Welttheaters zurück. Er negiert die christlich-heilsgeschichtliche Tradition, die aus Mittelalter und Barock überkommen ist. Weder eine Welt-Ordnung noch eine Welt-Anschauung findet in seinem Drama Gestalt, auch darin ist es "Tragödie der Menschheit". Selbst diese ist an ein Ende gekommen in heldenloser Zeit: Die Tragik wird tragisch überstiegen. Die "Tragödie", Gegenpol zu ,,Posse", "Operette" und "Schauspiel", erweist sich als einzig legitime Bestimmung des Geschehens mit den Mitteln der Theatermetaphorik. Der Modus des Negativen darf indes nicht darüber hinwegtäuschen, daß hinter aller Destruktion die Frage nach demjenigen, was die katastrophische Erfahrung übersteigt, aufscheint. Klagend appelliert der Nörgler an den "Geist" um ,,Erlösung", Gottes Stimme wird hörbar. Die Zurückhaltung, mit der die Sehnsucht nach einem Zurecht-Bringen Ausdruck findet, weist auf die "Transzendenz der Verzweiflung" im Sinne Thomas Manns.
217 Vgl. Aleida Assmann, Tradition, Evolution, Erinnerung. Überlegungen zum Strukturwandel kultureller Überlieferung, in: Messianismus zwischen Mythos und Macht, 89-99. 93 f. 218 Karl Kraus, Dritte Walpurgisnacht, 31. 219 Ebd., 15. 220 Ebd., 15.
III. Hugo von Hofmannsthai: Das Salzburger Große Welttheater
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111. Hugo von HofmannsthaI: Das Salzburger Große WelttheaterFestspiel der einen Welt Wie kein anderes Beispiel des modemen Welttheaters knüpft Hugo von Hofmannsthals Salzburger Festspiel an die mittelalterliche Tradition an. Mit seinem Rückgriff auf Calderons Fronleichnamsspiel EI gran teatro dei mundo wendet sich der Wiener Dichter in irritierender Weise dem Musterbeispiel der theozentrischen Auffassung vom Welttheater zu. Widersprüchlich ist daher bis heute die Aufnahme, die das Stück findet. Das Salzburger Große Welttheater, mit dem der Dichter auf "die Zeitenwende 1918/19 und die Krise der alten europäischen Gesellschaften" antwortet,221 bringt ihm den Verdacht des Anachronismus ein. 222 Bezweifelt wird damals wie in jüngerer Zeit die Möglichkeit, mittels dieses Topos das Weltgeschehen noch länger zu begreifen. 223 So findet Karl Kraus nur heftige, beißend polemische Worte für Das Salzburger Große Welttheater und seinen Autor, "der sich auf das Leid der Kreatur einen gottgefälligen Vers machen kann,,224 und sich aus der Sicht des Kritikers als immun erweist gegenüber dem "Takt der Zeit, die auf Leichenfeldern nicht Festspiele zu veranstalten hat" (5). Angesichts des Kriegsgeschehens begreift Kraus die Geschichte als ,,Brand des Welttheaters" (5) und erwartet eher eine geradezu apokalyptische Steigerung der Grauen des Weltkriegs, "der als internationales Gaunerstück sicherlich nur der Prolog im großen Welttheater war" (2) und keine harmonisierende - "gottgefällige" - Erklärung finden darf. "Welttheater", so zeigen Die letzten Tage der Menschheit, läßt sich nur als Katastrophengeschehen fassen, das sich metaphysischen Begründungen entzieht. Längst sind allerdings Hugo von HofmannsthaI "erfahrene Wirklichkeit und überkommene Bewältigungsordnung (Welt und Wort, Leben und Traum, das Soziale und die Präexistenz, ,mundus' und ,theatrum' ... ) auseinandergebrochen".22s Der Rückgriff auf das Welttheater in diesem Festspiel steht, wie zu zeigen sein 221 Friedrich Achberger, ,,Das Salzburger Große Welttheater" - Hofmannsthais religiöses Theater im Dienste der Politik. In: Fluchtpunkt 1938. Essays zur österreichischen Literaturl Gerhard Scheit (Hg.), Wien, 1994, 132-142. 133. m Das Salzburger Große Welttheater entsteht zwischen 1919 und 1922 und wird 1922 uraufgeführt. Vgl. die Erläuterungen zur Entstehung von Hans-Harro Lendner. In: Hugo von Hofmannsthai, Sämtliche Werke X, Dramen 8/Hans-Harro Lendner, Hans-Georg Dewitz (Hg.), Frankfurt/M., 1977. Ich zitiere im folgenden nach dieser Ausgabe (kurz SW X). 223 Vgl. Ralf Konersmann, Welttheater als Daseinsmetapher, in: Neue Rundschau 100/2, Frankfurt/M., 1989, 139-151. Verwiesen sei auf seine Interpretation der Kritik Kraus' an Hofmannsthai (139) sowie seine eigene Kennzeichnung des Dilemmas der Metapher, die stets "besitzergreifend" und "totalitär" sei (150). 224 Karl Kraus, Vom großen Welttheaterschwindel. In: Die Fackel, 601-607. Nov. 1922, 24. Jg., 1-7.4. Die Seitenzahlen in diesem Absatz beziehen sich auf diesen Text. m Greiner, Welttheater als Montage, 101.
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B. Der ,.Aufbruch" der Weltordnung in der Literatur
wird, nicht in gebrochenem Verhältnis zum Gesamtschaffen Hofmannsthais, der im Chandos-Brief zur geradezu klassischen Formulierung der Sprachkrise und in der Elektra bis zu den Grenzen der Sprachflihigkeit vorgestoßen ist. Er läßt sich vielmehr folgerichtig aus früheren Positionen entwickeln. Dabei dominiert jedoch - dies im Unterschied zur Radikalität der Elektra und des Chandos-Briefes - der auch pädagogische Wille, der Zerstörung mit künstlerischer Gestalt, nicht mit der Selbstvernichtung der Kunst, zu begegnen. 226 Die Analyse wird zeigen, daß Hofmannsthal den Stoff Calderons in einer Weise bearbeitet hat, die eine eindeutige Festlegung der Aussage des Dramas in Hinblick auf den christlichen Sinn der Welt problematisch macht. Wohl aber läßt sich Das Salzburger Große Welttheater im Zusammenhang mit einer Wiederbelebung des ,,Mythos,,227 in der Modeme begreifen, der bei Hofmannsthal die christliche Gestalt seiner Vorlage angenommen hat. Äußerungen des Dichters als "Selbstinterpret und ,Lehrer der Nation",228 rücken den Zusammenhang des Textes mit der Idee der Salzburger Festspiele in den Blickpunkt: Erst in der erhofften Wirkung der Aufführung entfaltet die Welttheatervorstellung ihre volle, sinnstiftende Kraft. Mithin steht der momentane, die Festspielgemeinde konstituierende Vollzug im Vordergrund, nicht die Frage der Existenz und Wirksamkeit Gottes. Im folgenden wird zunächst den Kennzeichnungen Allegorie und Mythos, die Hofmannsthal auf das Welttheater anwendet, nachgegangen (111.1). Punkt ill.2 konzentriert sich auf die Gestalt der Erdenbühne und die Bezüge zu Hofmannsthals Gegenwart. Anschließend wird die Bedeutung des göttlichen Meisters als spielleitender Instanz untersucht (ill.3). Punkt ill.4 widmet. sich der neuen Wirklichkeit der Kunst zunächst unter dem Gesichtspunkt der Sprachkrise, danach unter der Fragestellung, wie im Kunstwerk ein "geistiges Geschehen" im Sinne des Dichters wirksam wird. Darauf folgt ill.5. eine Betrachtung des Stücks als Festspiel in Hinblick auf die Aspekte Gesamtkunstwerk und (profanes) Ritual. Unter ill.6. werden die Erfahrungen, die Hofmannsthal aufgrund seiner ethischen Interessen zu vermitteln sucht, unter dem Begriff der Epiphanie spezifiziert.
1. Weltverdichtung: Der Mythos des Mittelalters Schon im Frühwerk Hofmannsthais zeigt sich dessen Vorliebe für barocke Stoffe. Mit seinen Bearbeitungen, die lehrhaft-volkstümliche· Elemente aufnehmen, 226 Vgl. Wolfgang Lange, Im Zeichen der Dekadenz: Hugo von Hofmannsthal und die Modeme. In: Arbeiten zur Deutschen Philologie (ADPh) 22, 1994.7 -40,40. 227 Zur Problematik des Mythos-Begriffs vgl. bereits A.m. Hofmannsthais Begriff des Mythos muß im Zusammenhang der durch Romantik und Nietzsche geprägten Auffassung seiner Zeitgenossen betrachtet werden, siehe B.m.l. 228 Greiner, 10 1.
III. Hugo von HofmannsthaI: Das Salzburger Große Welttheater
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zielt der Österreicher auf ,Proverb'-Charakter.229 Dabei tritt im Kontext des Festspiel-Konzepts der spanische Dichter Calderon programmatisch in den Vordergrund. 230 Die besondere Bedeutung der Welttheater-Vorstellung, die eine "Spielwelt par excellence" darstellt, wird schon im frühen Das Kleine Welttheater (1898) deutlich. Hier prägt sich vorausweisend die mehr und mehr ethisch motivierte Kritik des Ästhetizismus aus?31 Im Zusammenhang mit dem deutlich späteren, vor dem Hintergrund der krisenhaften Nachkriegszeit zu verstehenden Salzburger Festspiel charakterisiert Hofmannsthai das Welttheater als "ein Mysterium oder eine theatralische Allegorie." Bewußt wendet er sich dieser alten, aber ,,nie ganz abgestorben(en)" Form ZU. 232 In durchgeführter Gestalt setzt Hofmannsthal die in der Modeme charakteristischerweise als "Verlustanzeige,,233 gebrauchte Allegorie, die zumeist eher ,,Anspielungs- als Bestätigungscharakter',234 hat, als dem Chaos begegnende Bewältigungsstrategie ein. Entscheidend ist ihm dabei die Ausformung zum ,,Mythos". Bereits anläßlich des Jedermann äußert sich Hofmannsthal über die besonderen Möglichkeiten allegorischer Dichtung: " ... es ist in der Idee des Dramas, das zerfließende Weltwesen in solcher Art zu festen Gegensätzen zu verdichten. Es ist die Gefahr und der Ruhm unserer Zeit ... , daß wir weit genug wiederum sind, uns im Allegorischen bewähren zu müssen.'023S
Als problematisch, ja gefährlich empfindet Hofmannsthal die Erfahrung des Sinnverlusts, der Auflösung des einst Feststehenden, die seine Gegenwart prägt. Manifest geworden ist sie im Weltkrieg, aus Hofmannsthals Perspektive aber auch in der russischen Revolution. Die Hoffnungen des Dichters konzentrieren sich daher geradezu emphatisch auf die Abwehr des Bolschewismus. Gelänge diese, so stände die Gegenwart "trotz allem" unter einem glücklichen Stern: Vgl. Lorenz, 143. Vgl. Lendner, (Erläuterungen zur) Entstehung, SW X, 107 -118. 107. 231 Vgl. Lorenz, 143 f. Einen Vergleich beider Welttheater führt Eugen Thurnherr durch (HofmannsthaIs Kleines und Großes Welttheater. HofmannsthaIs und Calder6ns Gedanke der Welt als Theater. In: "Kakanien". Aufsätze zur österreichischen und ungarischen Kunst und Kultur um die Jahrhundertwende/E. Thurnherr, W. Weiss, J. Szab6, A. Tamas (Hg.), Wien, 1991, 199-214). Die Blickrichtung im Kleinen Welttheater geht vom Detail aus und sieht darin ,Welt', während im Spätwerk die Welt Ausgangspunkt der Spielmetapher ist (211). 232 Hugo von HofmannsthaI, Wiener Brief (III) [1923], in: Reden und Aufsätze 11, 19141924/Bernd Schoeller (Hg.), Frankfurt/M., 1979, 285-294. 286 (Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden). 233 Friedrich Gaede, Allegorie. In: Moderne Literatur in Grundbegriffen/Dieter Borchmeyer; Viktor Zmegac (Hg.), Tübingen, 1994.30-32.31 (im Original kursiv). 234 Kurz, 55. 235 Hugo von HofmannsthaI, Das alte Spiel vom Jedermann (1912). In: Ausgewählte Werke in zwei Bänden, 2. Bd., Erzählungen und Aufsätze/Rudolf Hirsch (Hg.), Frankfurt/M., 1957.532. 229 230
110
B. Der ,,Aufbruch" der Weltordnung in der Literatur
,,Aber welche Summe von Glück und Geborgenheit, welche Begnadigung von fast verwirkter Todesstrafe liegt trotz allem in dieser Situation, wenn der effective Bolschewismus wie zu hoffen scheint, an den Grenzen Mitteleuropas halt macht. ,,236
Der Erfahrung der Ordnungsauflösung gilt es künstlerisch mit einem Gegenakzent zu begegnen, eine Möglichkeit, die Hofmannsthal, wie seine Äußerung zum Jedermann zeigt, durchaus als positiv wahrnimmt. Mit "Gefahr" und "Ruhm" ist aber vor allem die Ambivalenz gekennzeichnet, die das Weltverhältnis des Künstlers und seine Gestaltungsmöglichkeiten betrifft. So weist die "Gefahr" einerseits auf die historische Situation hin, die als bedrohlich empfunden wird, andererseits kann sie aber auch das künstlerische Risiko bezeichnen, das mit der Hinwendung zur Allegorie, die hier als eine Rückwendung deutlich wird, verbunden ist. Fraglich wäre dann, ob die Verdichtung zu feststehenden Gegensätzen angesichts der modemen Wirklichkeitserfahrung gelingen kann. Wiederholt weisen Hofmannsthals Äußerungen im Blick auf den Stoff des Festspiels auf jene Dimension der Welttheater-Metaphorik, die eine Orientierungsleistung zu bringen vermag. Nicht auf die chaotisch-fragmentierte Wirklichkeit konzentriert sich sein Blick; vielmehr greift er - anders als Karl Kraus und Else Lasker-Schüler, die sich von einer solchen Metaperspektive distanzieren237 - im Bemühen um eine Gesarntschau auf das Ganze aus. Seine künstlerische Tätigkeit erlebt Hofmannsthal als tiefe Auseinandersetzung mit der individuellen und gesellschaftlichen Situation: ,,Das sehr ernste Stück an dem ich arbeite, zwingt mich - und das ist die innere Reinigung, die mit künstlerischer Arbeit verbunden ist - die Dinge: wie Glück, Unglück. individuelles Geschick und Geschick der Gesammtheit, mit dem möglichsten Ernst, der möglichsten Aufrichtigkeit und in grossen Linien täglich ein paar Stunden lang ins Auge zu fassen. ,,238
Mithilfe der Weittheater-Allegorie, wie Calderon sie überliefert, soll dieser Weitblick gelingen und künstlerischen Ausdruck finden. Schon bei dem spanischen Dichter stellte der Rückgriff auf das Mysterienspiel, das die Gesellschaft mittels der ordo-Vorstellung beschreibt, eine Revitalisierung mittelalterlicher Traditionen dar. Hofmannsthal nimmt nun ein barockes Spiel in der romantischen Übersetzung Eichendorffs auf239 und knüpft gleichzeitig an eine vomeuzeitliche Epoche an. 240 Um den 7. Oktober 1921, HofmannsthaI an Georg von Franckenstein, SW X, 196. Siehe B.ß. und IV. zur Welt-Anschauungskritik der beiden. 238 HofmannsthaI an Georg von Franckenstein. SW X, 196. 239 Vgl. Egon Schwarz, HofmannsthaI und Calder6n, 's Gravenhage, 1962, der wörtliche Übereinstimmungen mit dieser Übersetzung nachweist (66 f.). 240 Die Hinwendung zum Mittelalter vollzieht auch Paul Landsberg. Im Jahr der Uraufführung des Salzburger Großen Welttheaters. 1922, erscheint das für Hofmannstha1 sehr wichtige Werk Das Mittelalter und wir, dem der Dichter den Begriff der ,,konservativen Revolution" entnimmt (siehe B.lII.4); vgl. Ute und Helmut Nicolaus, HofmannsthaI, der Staat und die ,,konservative Revolution". Aktuelle Bemerkungen anläßlich einer parlamentarischen Anfrage. In: Politisches Denken. Jahrbuch 1997/ K. Graf Ballestrem, V. Gerhardt, H. Ottmann, M. P. Thompson (Hg.), 141-174. 156. 236 237
III. Hugo von Hofmannsthai: Das Salzburger Große Welttheater
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Der Dichter versteht die (poetische) Gegenwart als ein entsprechend weit zuriickgreifendes, in sich vielfältiges Kontinuum, innerhalb dessen dem Künstler die Aufgabe zukommt, die Pluralität wieder als Einheit sichtbar zu machen. Anläßlich einer kritischen Anfrage Alfred Rollers 241 begriindet Hofmannsthai den freien Rückgriff auf Vergangenes und wendet sich kritisch gegen den Historismus: ,,Der Anachronismus ist das Lebenselement der Poesie. Sie nimmt die Gegenwart so hoch und weit und tief, dass alle Vergangenheiten in ihr lebendig sind. Das ,historische Verstehen' - einer der gespenstischen Gedanken des XIX. Jahrhunderts, ist ihr auf den Tod verhasst.,,242
Dieser poetologischen Aussage Hugo von Hofmannsthals geinäß kann sich die Dichtung der Gegenwart keinesfalls entziehen, will sie vielmehr umfassend verstanden wissen. Das Jetzt wird räumlich-qualitativ gefaßt: Mit den drei Dimensionen der Höhe, Weite und Tiefe erreicht die Gegenwart eine die Vergangenheit einschließende, in ihrer Bedeutung erfassende Extension. 243 Der Künstler kann sich entsprechend verstehen "als den Ausdruck einer in weite Vergangenheiten zuriickführenden Pluralität". 244 Erst deren Kombination - der ,,Anachronismus" - ermöglicht Vitalität. Die lebendige Gegenwart der Dichtung entspricht folglich nicht einem Punkt auf dem Zeitstrahl. Vielmehr verbindet die Poesie die Zeiten zu einem einzigen, gleichsam ewigen Ganzen. Zur Realisierung solcher Dichtung bietet sich der ,,Mythos", im Sinne Nietzsches verstanden, geradezu an: ,,Die temporale Struktur des Mythos ist die Zirkularität der ewigen Wiederkehr".245 Die Zuordnung des Welttheaters zum Mythos, die Hofmannsthal vornimmt,246 stellt den Dichter nicht nur mit den Bearbeitungen antiker Stoffe (Elektra, Die ägyptische Helena, Ödipus und die Sphinx), sondern auch mit diesem Mysterienspiel in den Kontext der ,,Mythos-Faszination ... , welche die deutschsprachigen 241 Ein Mitglied des Festspiel-Kunstrates; vgl. Leonhard M. Fiedler, Max Reinhardt, mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten dargestellt von ... Hamburg, 1975, 106. Daneben gehören dem Rat Max Reinhardt, Franz Schalk, Richard Strauss und Hofmannsthai an. 242 Hofmannsthai an Alfred Roller, SW X 207. Dem Historismus macht Hofmannsthal ein bloßes, museales Konservieren zum Vorwurf; vgl. Jacques Le Rider, Von der Erfindung einer Tradition zur konservativen Revolution. In: ders., Hugo von HofmannsthaI. Historismus und Moderne in der Literatur der Jahrhundertwende, Wien, Köln, Weimar, 1997 (Nachbarschaften. Humanwissenschaftliche Studien 6), 253 - 286. 253. 243 Ähnlich formuliert Hofmannsthai im Wiener Brief (III): ,.Es ist das wahrhaft Großartige an der Gegenwart, daß so viele Vergangenheiten in ihr als lebendige magische Existenzen drinliegen ... " (289). 244 Ebd.
Dieter Borchmeyer, Mythos. In: Moderne Literatur in Grundbegriffen, 292- 308. 293. Das Salzburger Große Welttheater schöpft aus "dem unerschöpflichen Schatz von Mythen und Allegorien ... , den das Mittelalter, Orient und Occident amalgamierend, in sich ausgebildet und den folgenden Jahrhunderten als kostbarstes Erbe hinterlassen hat" (Hofmannsthai an Alfred Roller, SW X 206). 245
246
112
B. Der ,,Aufbruch" der Weltordnung in der Literatur
Autoren der lahrhundertwende unter dem Einfluß von Nietzsches ,Geburt der Tragödie' (1871) erfaßt hat".247 Nietzsche sieht im Mythos "das zusammengezogene Weltbild".248 Hier ist ,,Rückkehr zur Urheimat": ,,Der tragische Mythus ... führt die Welt der Erscheinung an die Grenzen, wo sie sich selbst verneint und wieder in den Schooss der wahren und einzigen Realität zurückzuflüchten sucht".249
Die Vielfalt der Erscheinungswelt wird in Einheit aufgelöst, und "eine höchste künstlerische Urfreude im Schoosse des Ur-Einen" läßt sich erahnen. 2SO Rauschhaftes Erleben hat vorrangige Bedeutung, in umfassender Weise wollen die Sinne angesprochen sein: Mythos und Musik bilden daher in Nietzsches Konzept der Tragödie eine untrennbare Einheit. 251 Auch daran knüpft Hofmannsthal an. Insbesondere in der Realisierung im Festspiel, Musikdrama im weiteren Sinne, kommt neben dem Einfluß Nietzsches aber auch unmittelbar die Wirkung Richard Wagners zum Tragen: In dessen Vorstellung des Musikdramas gelangt der ,,Prozeß der Weltverdichtung" zur Vollendung. 2s2 Hofmannsthals Verständnis gemäß liegt folglich der Allegorie und Mythos einigende Aspekt in der Verdichtungsleistung. Doch grenzt er beide explizit voneinander ab und gibt dem Mythos den Vorzug. Seine Unterscheidung steht in der Tradition SchelIings: ,,Mythos ist Gestalt, nicht Allegorie, der das Spruchband aus dem Munde hängt. ,,253 Das Spruchband deutet auf den Fremdverweis der Allegorie, die Gestalthaftigkeit auf den Selbstverweis des Mythos.2S4 Gestalt aber bildet den Gegenbegriff zu Chaos, dem der Mythos entgegenwirkt.:2SS Hof247 248
141.
Borchmeyer, Mythos, 292. Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, KGA III/1, Berlin, New York, 1972.
Die Geburt der Tragödie, KGA III /1, 137. Die Geburt der Tragödie, KGA IIIIl, 137. 251 Vgl. z. B. Die Geburt der Tragödie, KGA III/1, 151. 252 Borchmeyer, Mythos, 297. Von besonderer Bedeutung ist Wagners Hauptwerk Oper und Drama (1850/51). Zur Festspielidee siehe III.5. 253 Hofmannsthai an Alfred Roller, SW X, 206. 2S4 Schelling unterscheidet: ,,Die Mythologie ist nicht allegorisch, sie ist tautegorisch. Die Götter sind ihr wirklich existirende Wesen, die nicht etwas anderes sind, etwas anderes bedeuten, sondern nur das bedeuten, was sie sind." (Fr. W. J. von Schelling, Philosophie der Mythologie. Sämtliche Werke, Abt. 11, Bd. I/K. F. A. Schelling (Hg.), Stuttgart, Augsburg, 1856. 195 f.) Im Selbstverweis entspricht der Mythos dem Symbol im Verständnis Hofmannsthals. Mit "Symbol" charakterisiert er die wahre Poesie: ,,Niemals setzt die Poesie eine Sache für eine andere, denn es ist gerade die Poesie, welche fieberhaft bestrebt ist, die Sache selbst zu setzen". (Gespräch über Gedichte. In: SW XXXI: Erfundene Gespräche und Briefe/Eilen Ritter (Hg.). Frankfurt/M., 1991. 74-86. 77) Braungart weist auf die Nähe zwischen Ritual und Poesie hin, die durch diesen Symbolbegriff deutlich wird. Sie ist insofern von Bedeutung, als die Poesie des Salzburger Welttheaters sich quasi rituell im Festspiel vollzieht; vgl. die grundlegende Untersuchung: Wolfgang Braungart, Ritual und Literatur, 242. Zum Festspiel im Zusammenhang mit dem Ritual siehe III.5. 249
250
UI. Hugo von Hofmannsthai: Das Salzburger Große Welttheater
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mannsthals Differenzierung weist auf die Spannung der Verbindung beider Formen. Das Spruchband impliziert den belehrenden Charakter, der insbesondere der mittelalterlichen Allegorie eignet. 256 Die Aufbereitung in Calderons Mysterienspiel kommt entsprechend nicht ohne lehrhaft-theologische Elemente aus. Die Faszination des Mythos beruhte indes, Hans Blumenberg zufolge, zunächst gerade darauf, "daß er nur gespielt, durchgespielt, nur momentan ,geglaubt' zu werden brauchte, aber nicht zur Norm und zum Bekenntnis wurde.,,2s7 Zwar geht Hofmannsthals Hinwendung zum Mythos deutlich auf den Einfluß Nietzsches zurück, doch kollidiert in der Aufnahme des heilsgeschichtlichen Entwurfes Calderons eine christliche Weitsicht, die "die Einmaligkeit der Weltschöpfung, der Epiphanie des Erlösers und des Weltendes,,258 zur Voraussetzung hat, mit dem Gedanken der Zirkularität, der bei Nietzsehe gerade die Abgrenzung von diesem Wirklichkeitsverständnis ausmacht: ,,Natürlich steht Nietzsches ewige Wiederkunft gegen eines der betontesten Merkmale theologischer Wahrheit, gegen die Einmaligkeit des zwischen Schöpfung und Gericht eingespannten Heilsgeschehens, gegen die IdentifIZierung der Wahrheit mit dem einzigartigen und unüberbietbaren zentralen Faktum, dem nichts anderes abgelesen werden kann als es selbst und das im prädikatlosen ,Ich bin es' aufgeht. ..259
Hofmannsthal verbindet den ,,Mythos", den er in anderen Dramen über antike, ,heidnische' Inhalte aufgreift, im Salzburger Großen Welttheater mit einem christlichen Stoff, der den Erlösungshorizont präsent hält, Stadien der Heilsgeschichte benennt und barocke Topoi wie die Scheinhaftigkeit der Welt, die mit der Eigentlichkeit göttlicher Wlfklichkeit kontrastiert, aufnimmt. 260 Überdies verleiht er der dargestellten Welt zeitgeschichtliche Züge. Diese erscheinen jedoch vor der Folie einer höheren, übergreifenden Wirklichkeit, die die Problematik historischer Erfahrung relativiert: Die irdische Welt gilt, der Theatermetapher entsprechend, als bloßes, wiederholbares Spiel. Sie wird überformt durch die Zeitlosigkeit des Stoffes, V gl. Hofmannsthai an Roller, 205 f. Walter Benjamin charakterisiert: "Christlich-didaktisch ist die mittelalterliche Allegorie ... " (Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, 1/1,347) 257 Hans Blumenberg, Wirklichkeitsbegriff und Wll"kungspotential des Mythos, in: Terror und Spiel: Probleme der Mythenrezeption, München, 1971 (Poetik und Hermeneutik IV), 11-66. 18. Blumenberg gewinnt den Begriff des Mythos in Abgrenzung von der Theologie, vgl. 42. 258 Borchmeyer, Mythos, 294. 259 Blumenberg, Wirklichkeitsbegriff, 31 f. 260 Heselhaus konstatiert daher eine Transformation von der christlichen Parabel bzw. dem Gleichnis zur ,,Mythe" (281 und 287). Dennoch bleibt auch in seiner Interpretation das theologische Element bedeutungsvoll, kommt er doch zu dem Schluß, "daß wir bei Hofmannsthais Spätwerk in einem gewissen Sinn von einem theologischen Drama sprechen dürfen." (290) (Clemens Heselhaus, Calderon und HofmannsthaI. Sinn und Form des theologischen Dramas. In: Calderon de la BarcaiHans Flasche (Hg.), Darmstadt, 1971 (Wege der Forschung CLVIII), 257 - 290). 255
256
8 Pieper
114
B. Der ,.Aufbruch" der Weltordnung in der Literatur
der die Gegenzeitigkeit einer höheren Ordnung anzeigt,261 sowie das Motiv der ewigen Wiederkehr. Die Festlegung auf den Mythos, die Hofmannsthal explizit vornimmt, deutet allerdings darauf hin, daß es ihm nicht um die Erneuerung eines christlichen Bekenntnisses geht. Sein Interesse gilt nicht so sehr der spezifischen Ausformung der Metaphorik durch Calderon, als vielmehr dem allgemeinen Kulturgut, das er tradierte und das aus Hofmannsthals Sicht dem süddeutschen Sprachraum besonders nah, folglich für das Festspiel geeignet ist. 262 Insofern setzt Hofmannsthal den Mythos als fundierende Geschichte ein, aus der das Festspielpublikum ,,Identität und Kontinuität" beziehen und auf das es ein "Wissen von Einheit und Eigenart" stützen kann?63 Unter dem Oberbegriff ,,Mythos" verbindet er so nicht nur einen mittelalterlichen Stoff mit Anspielungen auf die Gegenwart, sondern präsentiert eine Komposition, in die Elemente aus dem geistlichen Spiel Calderons, Impulse aus der zeitgenössischen Wiederbelebung dieser Tradition durch Paul Claudel, Gestalten des volkstümlichen Theaters, traditionelle Stoffe wie Faust, der Ackermann aus Böhmen und der biblische Hiob eingehen. 264 Das Stück gewinnt den Charakter einer synthetisierenden Montage. 265 Während insbesondere Lasker-Schüler, aber auch Kraus traditionelle Stoffe in einer brüchigen Konstruktion verschränken und sie gerade nicht harmonisch zu einem neuen Ganzen fügen, vollzieht Hofmannsthai im Rahmen des ,,Mythos" hingegen eine Verbindung, die nur selten ihre Konstruiertheit offenlegt266 und letztlich auf eine neue harmonische Einheit zielt. Insbesondere durch die Inszenierung des Stückes in der Salzburger Kollegienkirche steht diese Einheit im Zeichen einer - durchaus mißverständlichen - religiösen Wahrheit. Siehe DI.3. Siehe III.5. zur Festspielidee. 263 Zu dieser funktionalen Bestimmung des Mythos vgl. lan Assmann, Frühe Formen politischer Mythomotorik. Fundierende, kontrapräsentische und revolutionäre Mythen. In: Revolution und Mythos/D. Harth, 1.Assmann (Hg.), Frankfurt/M., 1992.39-61. 40. InsOfern sind christliche und antike Überlieferung Hofmannsthai gleichrangig: "das Christentum zusammen mit der Antike ists, worauf wir alle ruhen" (an Richard Strauss, 4. 9.1922, SW X, 214). 264 Dem volkstümlichen Theater ist der Vorwitz entlehnt (vgl. Lendner, (Entstehung), SW X, 112). Auch dem Widersacher haftet diese Herkunft an. Er geht daneben auf Faust zurück. Der Bettler erinnert sowohl an den Ackermann als auch an Hiob. Zu den Stoffen, durch die sich Hofmannsthai anregen läßt, vgl. Lendner, 112. Für die Anklänge an Goethes Faust vgl. Schwarz, 77 -79. Lendner belegt auch eine Auseinandersetzung des Autors mit theologischen und philosophischen Autoren während der Entstehungszeit des Festspiels zu Themen wie Freiheit des Menschen, Providenz, Gerechtigkeit, Glaube und Moral. Lendner nennt u. a. Augustin, Franz von Assisi und Thomas von Aquin, aber auch Seneca und die Stoiker (112 f.). 26S Vgl. die Untersuchung Greiners zu Hofmannsthais Stück. Er betont die Diskrepanz zwischen überkommener Bewältigungsordnung und Gegenwartsbezug, die durch die Montage zum Ausdruck kommt. 266 Vgl. III.2. 261
262
ßI. Hugo von Hofmannsthai: Das Salzburger Große Welttheater
115
Gerade die Nähe des Stoffes zum österreichischen Katholizismus, die Hofmannsthal durch die Aufführung in diesem kirchlichen Raum akzentuiert, läßt jene Distanz zu den Göttern, die Blumenberg hervorhebt, vermissen: ,,Mythologie spricht von ihren Gegenständen wie von etwas, was man hinter sich hat.,,267 Die Bezeichnung als Mythos zeigt folglich die Differenz zwischen einem spezifischen Bekenntnis und einer allgemeinen, unkonkreten Religiosität an. Die Nähe zum Mythosbegriff Wagners und Nietzsches unterstreicht darüber hinaus die Bedeutung der Inszenierung im Gesamtkunstwerk der Festspiele. Die Verbindung von Zeitgeschichte, christlichem Weltbild und Mythos steht im Zeichen der Bemühung, der als chaotisch erlebten Wirklichkeit künstlerisch einend zu begegnen. Im folgenden soll genauer untersucht werden, in welcher Weise Hofmannsthal die Krisenerfahrung artikuliert und zu bewältigen sucht.
2. Weltgesicht: Die Wirklichkeit des Fortschritts Insbesondere die Veränderungen gegenüber der Vorlage Calderons zeigen, daß Hofmannsthai unter Verwendung der an sich zeitlosen, mithin gültigen Allegorie des Welttheaters einen deutlichen Gegenwartsbezug herstellt, der in Hinblick auf Ordnungs stiftung entworfen ist. 268 Dem allegorischen Personal, das in der Zusammenstellung von König, Reichem, Bauern und Bettler die Gesamtheit der Welt mittels einer barocken Ständeordnung repräsentiert und mit der Weisheit die Stimme der Tugend, mit der Schönheit das Vanitas-Motiv aufnimmt, hat er den Vorwitz und den Widersacher hinzugefügt, Rollen, die das Spiel kritisch kommentierend bis subversiv begleiten und hinterfragen. Hofmannsthal hat sich damit auch für eine dezidiert antiindividualistische Figurenkonzeption entschieden. Damit tritt das Interesse am einzelnen hinter die Repräsentation des Allgemeinen zurück. Die Rolle der Welt ist weniger souverän. Sie wird unterstützt durch den ,,Bühnenmeister" Tod (14,12). Den passiven Bettler Calderons gestaltet Hofmannsthal um zum handlungstragenden, die Ordnung zunächst aktiv bedrohenden Subjekt. Seine Revolution wird verhindert durch die Erscheinung eines Lichtes sowie die Fürbitte der Weisheit. Zwischen den göttlichen Meister und die Welt treten vermittelnd und Distanz anzeigend die Engel. Der Meister bleibt im Schlußbild unsichtU,7 Blumenberg, Wirklichkeitsbegriff, 17. Entsprechend sei es ,,schwer vorstellbar, daß Homer seine Götter einem Publikum hätte zumuten können, das an sie ,glaubte'." U,8 Zu Hofmannsthais Umgang mit der Vorlage Calderons vgl. Peter Michelsen, Das ,Große Welttheater' bei Pedro Calderon und Hugo von Hofmannsthal. In: Pedro Calderon de la Barca/Theodor Berchem und Siegfried Sudhof (Hg.), Berlin, 1983 (Vorträge anläßlich der Jahrestagung der Görres-Gesellschaft 1978),29-47, insbes. 38-47; Schwarz, insbes. Kap. IV: Das Salzburger Grosse Welttheater: Faust Calderon und die Sprache der Gegenwart, 6490; Heselhaus, Calderon und Hofmannsthai, 257 - 290.
8·
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B. Der ,.Aufbruch" der Weltordnung in der Literatur
bar. Hier wird nur dem Bettler und der Weisheit der Weg in die göttliche Harmonie, versinnbildlicht durch den Palast, eröffnet, dem Reichen aber die niedrigste Position unterhalb des himmlischen Palastes zugewiesen. Durch diese Veränderungen betont Hofmannsthal einerseits die Unsicherheit gegenüber dem Verlauf des Weltspiels, andererseits verleiht er der Erdenbühne eine aktualisierte Gestalt. Wie bei Calderon und dem Welttheatermotiv entsprechend steht diese modernisierte Welt im Zeichen der Uneigentlichkeit des Spiels und Scheins: ,,Denn dies ist Gottes Spiel,! Wir heißen es die Welt." (50, 1 - 2) Wahrend im Fronleichnamsspiel Calderons die Welt den Inhalt des Weltspiels von der Schöpfung bis zum Endgericht wortreich darbieten kann, in den göttlichen Plan gleichsam eingeweiht und grundsätzlich zur Mitwirkung bereit ist269 , zeichnet Hofmannsthal eine Welt der Unkenntnis. Die ersten Worte des Festspiels ..Wohin führst du mich?" (9,7), Eingangsfrage der Welt, können als Gesamtüberschrift des Stückes gelesen werden. Unwissenheit - die Frageform kennzeichnet die Rede der Welt an mehreren Stellen270 - wird ergänzt durch Aufsässigkeit und Autonomiestreben gegenüber dem göttlichen Meister: ,,Ich bin zu lange ein zahmes Weib gewesen, laß mich wieder los von der Kette" (11, 5-6). Das ..scheckig Wesen! Heidenweib!" (12,12) sieht sich selbst als Schöpferin der Menschen. Er ist ihr ..Werkstück, wenn auch das ansehnlichste nicht." (12, 4-5) Unterstützt wird sie durch die Gegenrnacht des Widersachers und den zwielichtigen Vorwitz. Eine Veränderung der Relation zwischen bühnenpräsenter Transzendenz und Immanenz zeigt auch Hofmannsthals Verteilung von gebundener Rede und Versform an: Gerade die Rahmenhandlung ist, abgesehen vom Schluß, im Unterschied zum eigentlichen Spiel in Prosa gehalten. 271 Von Anfang an akzentuiert Hofmannsthal die Distanz zwischen Weltgeschehen und göttlichem Spielplan: Heilsgewißheit bietet offensichtlich nicht mehr den Horizont des Geschehens. An Stelle der Geborgenheit, die diese Gewißheit zu gewähren vermag, ist der Versuch eigenständiger Weltgestaltung mit negativen Konsequenzen für den Menschen getreten, die Hofmannsthal auf eine geradezu hybrid erscheinende Rationalität zurückführt. Das ,,Denken" hat den Menschen dazu verleitet, ..an lotrechten Mauem" klettern zu wollen (12, 910). Entsprechend erscheint der Widersacher, Inkarnation des Bösen, als Gelehrter (10, 12).272 Hofmannsthal adressiert aber auch aktuell-politische Probleme: Die Hauptauseinandersetzung vor dem Beginn des eigentlichen Spiels entzündet sich am Insistieren auf einem Gerechtigkeitsbegriff, der am Ideal der Egalität orientiert ist. 269 ,,Meiner Bühne weite Runde/Öffn' ich denn ... Blindes Werkzeug deiner Rechte,! Führ ich aus nur, was du schufest" (7). 270 Vgl. die Eingangspassage, 9-15, insbesondere im Gegenüber Welt - Meister. 27\ Vgl. Michelsen, 39. Damit ist Vers und Prosa ähnlich verteilt wie im Hiobbuch, dessen Rahmenerzählung in Prosa gehalten ist. 272 Schon Calderons Drama trim indes bestimmten Interpretationen zufolge in die bereits im Barock auftretende Spannung von theologischer Weltauslegung und fortschreitendem modernen Brkenntnisstreben, vgl. Heselhaus, 267; zu Calderon bes. A.lV.2.
ßI. Hugo von Hofmannstha1: Das Salzburger Große Welrrhearer
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Diejenige Seele, die die Rolle des Bettlers mit Vehemenz ablehnt, erfährt Unterstützung durch den Widersacher: ,,Ich erhebe für diese Seele den Anspruch auf natürliche Gleichheit des Schicksals!" (19, 35 - 36) Das Insistieren auf Gerechtigkeit - und in diesem Zusammenhang beruft Hofmannstahl Hiob und den Akkermann aus Böhmen - wird verbunden mit Hinweisen auf die bolschewistische Bewegung, in der die ,,Drohung des Chaos an die geordnete Welt,,273 zur konkreten Gefahr wird. Entsprechend ist die Rolle des Bettlers lesbar als die eines potentiellen Revolutionärs. Der Schauspieler Alexander Moissi füllt sie in Salzburg in einer Weise aus, die ..das Gespenst des Bolschewismus" hinter ihm deutlich zeigt.274 Es manifestiert sich in der zentralen Forderung: ..ein neuer Weltstand her!" (36,7). Der Bettler bleibt ausgeschlossen von der problematischen Allianz von Herrschaft und Kapital, die durch das Geld bestimmt wird. In der Einsetzung des Reichen zum Kanzler des Königs (28) bezieht sich Hofmannsthal kritisch ..auf das wechselseitige Sich-Verschränken von Staat und Gesellschaft als die herausragende sozioökonomische Tendenz seiner Zeit".27S Sie wird hier als Wiedererrichtung feudaler Strukturen manifest, insofern ..gesellschaftliche Reproduktion und politische Gewalt miteinander verflochten sind. ,,276 Diese zeitgeschichtlichen Bezüge sind es, die die in der Figurenkonstellation angelegte überkommene Ständeordnung dynamisieren, ohne sie indes vollends aufzusprengen in Richtung eines Abbildes der modemen Gesellschaft. Insofern bleiben die Spannungen zwischen barockem und modernem Gesicht der Welt erhalten. Nur ..in uneigentlicher sozialer Gestalt" wird das Proletariat auf die Bühne gebracht. 277 Die barocke ordo-Vorstellung überbrückt die reale Kluft zwischen vergangenen und gegenwärtigen Verhältnissen nicht und bietet keine geschichtliche Perspektive an. Damit ist zugleich die Auflösbarkeit der angezeigten Konfliktlagen in Frage gestellt: Hofmannsthal faßt den Handlungsspielraum seiner Figuren sehr eng. An die Stelle des gefürchteten revolutionären Umsturzes tritt die Unmöglichkeit weltzugewandten Tuns. So weicht der Bettler im letzten Moment vor dem Gewaltakt zurück. Lediglich im Wald, Refugium neuer Innerlichkeit, kann er tätig werden. Mit dem Weg in die Emigration wendet er sich ab von der Welt, ..daß ich umblitzt von Ewigkeit/Mich beieinander halt, an keinen Hauch der Zeit/Die innre Himmelsfülle zu vergeuden!" (49,10-12) Der Kontrast zum im Namen des Stillekes formulierten ethischen Auftrag ..Tuet Recht! Gott über Euch" (15, 32) ist augenfällig. Nur über einen nicht-engagierten Begriff der Tat wird er eingeholt: Die Reaktion des Engels auf den ausbleibenden Schlag des Bettlers ..Statt Untat ist jetzt Tat getan!" (48,19) definiert Tat pointiert als Gegenbegriff zu gewaltsamer 273
274
215 276 277
Hofmannsthai, Wiener Brief (III), 287. Hofmannsthai, Wiener Brief (III), 293. Greiner, 93. Greiner, 95. Greiner, 95.
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B. Der ,.Aufbruch" der Weltordnung in der Literatur
Aktion. 278 Die Wende des Bettlers hängt indes eng mit der im Stück präsenten höheren Ordnung zusammen. 3. Weltordnung: Das göttliche Walten Angesichts der offensichtlichen Unmöglichkeit, die angezeigten Probleme einer streng immanenten Lösung zuzuführen, greift Hofmannsthal auf eine metaphysische Lösung zurück. Diese ist zunächst Teil der aufgenommenen Tradition, Teil also einer an sich überkommenen christlichen Bewältigungsordnung, die gleichsam im Zitat weiterlebt. Doch kommt ihr eine weiterreichende Gültigkeit zu, obschon sie die erkannten Aporien nicht beseitigt. Im Anschluß an die dargelegten Äußerungen Hofmannsthals zur überzeitlichen Gültigkeit des überlieferten Stoffes muß davon ausgegangen werden, daß - trotz der vorgenommenen Aktualisierungen, die die Distanz zwischen Mensch und Transzendenz akzentuieren - kein Bruch besteht, der etwa die Gültigkeit des Entlehnten in Frage stellt.
In aufschlußreicher Weise bestimmt Hofmannsthal 1917 den "Gottesgedanke(n)" jedoch rein funktional: Er ,.hat sein tieferes Wesen darin, daß alle Mannigfaltigkeit und Gegensätze der Welt in ihm zur Einheit gelangen, er ist die Ausgleichung aller Fremdheiten und Unversöhntheiten des Seins: daher umschwebt ihn Friede, Sicherheit, allumfassender Reichtum. ,,279
So deckt sich die spezifische Qualität, die Hofmannsthal dem Gottesgedanken zuerkennt, mit seiner Zielsetzung im Festspiel: Nach wie vor ermöglicht die Vorstellung des höchsten Wesens, hier verbunden mit der Welttheatermetaphorik, den heilsamen Ausgriff auf das Ganze, mithin die Überführung des Chaos in Gestalt. Zu deren näherer Bestimmung greift HofmannsthaI auf eine Fülle herkömmlicher, bereits aus der biblischen Weisheitstradition vertrauter und schon dort kritisierter Antworten zurück: 28o Der göttliche Plan ist dem Menschen entzogen und wird als "ein lebendes, geheimes freies Wirken" beschrieben. Ebenso traditionell ist die Begründung der menschlichen Schuldhaftigkeit und des Scheitems trotz des göttlichen Planes: Der Mensch ist frei zur Wahl zwischen Gut und Böse (13,13 f.). Die unwilligen und respektlosen Reaktionen der Welt, des Vorwitzes und des Widersachers weisen indes darauf hin, daß diese Auskünfte problematisch geworden sind.281 Das göttliche Gericht, nur in der Antizipation auf der Bühne, bleibt allerZur Bedeutung des ,geistigen Geschehens', das hier manifest wird, siehe ßI.4. Hofmannsthai (gemeinsam mit Rudolf Borchardt), Die Idee Europa, 1917. In: Reden und Aufsätze ß, 43 - 54. 50. 280 Auf das Buch Hiob in diesem Zusammenhang wurde bereits unter B.ß. im Zusammenhang mit Kraus' Drama hingewiesen. 281 So fragt die Welt nach: "Von welchem Geheimnis redet der Meister da?", und der Vorwitz antwortet "Chymie! Chymie! Das ist seine Sache! Er will Gold machen aus niedri278 279
III. Hugo von Hofmannsthai: Das Sall.burger Große Welttheater
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dings unwidersprochen: Nur Bettler und Weisheit werden Zugang zum Himmel erhalten. Die göttliche Ordnung wird folglich nicht negiert. Die Begründung dieser letztgültigen Zurechtsetzung des Bettlers kann als der deutlichste ,geheimnisvolle' Eingriff in das Erdenspiel gelesen werden: Die in ihrer Plausibilität hinterfragte Wende des Bettlers vom gewaltbereiten Revolutionär zum gefügigen Mystiker82 geschieht durch ein numinoses Licht, das von der Fürbitte der Weisheit begleitet ist (47,30-36). Die Erscheinung ermöglicht ihm die Umkehr und Absage an bestimmte Freiheitsvorstellungen: ,,Freiheit ist alleweil nah,/Doch greifst du hart nach ihr, so ist sie jählings fern" (50,36 f.). Die Gestalt der Freiheit wird indes nicht positiv bestimmt, sondern erscheint ambivalent, gefährlich und in ihrem Wesen noch nicht vollständig erfaßt: "Sie ist ein Abgrund, über den sichs herrlich lehnet,/Doch der mit Macht sich auch dich zu verschlingen sehnet; I Ich will in wilden Wald, sie völlig zu erkennen -" (51,3-5).
In Hinblick auf die adressierten sozio-politischen Probleme bietet die berufene metaphysische Ordnung folglich keine Lösungen an: Die verhängnisvolle Herrschaft des Geldes wird zwar gebrandmarkt, indem der Reiche schließlich von jeglicher Heilsperspektive ausgeschlossen wird,283 doch wird keine Veränderung der Verhältnisse auf der Erdenbühne angezeigt. Das revolutionäre Streben des Bettlers wird zwar eindeutig desavouiert, jedoch auf Kosten jeglicher im weiteren Sinne politischer Aktivität: Die für Hofmannsthal so entscheidende Dimension der Tat kann sich nur im weItabgewandten Refugium, nur in der Vereinzelung des mystisch gezeichneten Eremitendaseins im Wald vollziehen. Nur hier kann die Seele, "anima reclusa", bewahrt werden?84 In dieser Welt gilt bezeichnenderweise ein anderes, gegenläufiges Zeitmaß, das die "Sternenuhr" (50,25) anzeigt. Hier wird es "tagen" um Mitternacht (50,27).
Somit zeichnet Hofmannsthal letztlich ein Bild der Welt, in dem die Menschen als handlungsunfähige Subjekte in eine Realität verstrickt sind, die nur als unheilvolle Ordnung erfahrbar ist. Zur Abwendung der Katastrophe - und daß es diese abzuwehren gilt, ist die Aussage des Stückes, die an Eindeutigkeit nicht übertroffen wird - zitiert er eine durch die Religionskritik von jeher problematisierte Tradition. Der immerhin kritisch aufgenommenen Vorstellung einer göttlich-ordnenden Gewalt wird kein positiver Gehalt entgegengesetzt. gen Erden!" (ll,16 f.) Damit wird ihm bei aller Komik ein wirtschaftliches Interesse unterstellt. Das Hinterfragen der Aussagekraft, das hier bezüglich des geheimen Planes Gottes zum Ausdruck kommt, ist wiederum nicht neu. Mit großer Ernsthaftigkeit werden schon im Hiobbuch Versuche der Freunde Hiobs, sein Leid unter Rekurs auf Gottes Vorbestimmung zu erklären, zurückgewiesen (Hi 42,7). 282 Vgl. beispielsweise die Auseinandersetzung mit Max Reinhardt 1925, beschrieben von Lendner, Entstehung, SW X, 117. 283 Kontextlos gelesen, bietet Mk 10,25 par. das neutestamentliche Vorbild: ,.Es ist leichter, daß ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als daß ein Reicher ins Reich Gottes komme." 284 Heselhaus, 288.
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Eine messianische Konzeption, die Vernichtung als Voraussetzung der Erlösung geradezu verlangt, wenn auch nicht erstreben kann (Benjamin), liegt HofmannsthaI in diesem Festspiel fern. Daß "ein neuer Weltstand" auf der Auslöschung des alten basieren kann, wird angedeutet in der an die Sintflut gemahnenden Warnung des Engels an die Welt, sich zurückzuhalten: "Hat der Herr dich nicht einmal schon ersäuft, und als du am letzten warst, einen neuen Weltstand über dich aufgehen lassen! Hüte dich!" (12,12-14) Genau solche Szenarien gilt es zu vermeiden. Auf Wahrung des Jetztzustand zielt das Festspiel. Dieser wird freilich weiterhin als problematisch empfunden. Eine Utopie bleibt Wunschbild jenseits des Möglichen. Auch nachdem der Bettler sich gegen die Revolution entschieden hat, betont er: ,,Es muß für wahr und ganz ein neuer Weltstand werden I Sonst blieb dies gar ein ärmlich puppig Spiel." (50,21 f.) Individuelle Schicksale werden typisiert und müssen hinter der Option für das Ganze zurücktreten. In dem Plädoyer, von gewaltsamen Änderungen Abstand zu nehmen, liegt die tatsächlich konservative Tendenz. Sie zeigt zum einen die Unmöglichkeit weltumspannender Lösungen, ohne indes eine Perspektive für gesellschaftliches und politisches Handeln anzubieten. Zum anderen verwahrt sie sich damit aber auch gegen riskante Konzeptionen, die die Vernichtung gleichsam als reinigendes, weil Erlösung vorbereitendes, Geschehen verstehen.
4. Weltgedicht: Die neue Wirklichkeit der Kunst Hofmannsthal selbst charakterisiert die Lösung, die er auf "die drohende oder höhnende Frage des Chaos an die ,Ordnung,,·285 gibt, im für sein Verständnis des Festspiels aufschlußreichen dritten Wiener Brief mit einer Gleichsetzung von Ästhetik und Religion: ,,Meine Antwort war nicht optimistisch, aber auch nicht pessimistisch, sondern dichterisch oder religiös. ,,286 Mithin gehört die ,,Antwort" einer eigenen Kategorie an, die sich beide Diskurse teilen. Wird dieser Zusammenhang ernst genommen, kann Das Salzburger Große Welttheater nicht als Zeichen katholischer Frömmigkeit des Dichters gelten, dies um so weniger, als er, um genau diesen Verdacht abzuwehren, schließlich auch vom Aufftihrungsort Kirche abrückt. 287 Vielmehr manifestiert sich in diesem Festspiel ein durch die Erfahrung der Sprachohnmacht und des Sprachverlusts hindurchgegangener Gestaltungswille, der mehr und mehr auf künstlerische Formen jenseits der Sprache setzt. 288 Hofmannsthalläßt Lord Chandos in dem fingierten Brief, der 1905 erstmals erscheint, Hofmannsthal, Wiener Brief (III), 287. Hofmannsthal, Wiener Brief (III), 288. 287 Siehe die Briefe an Helene Thimig und Einar Nilson, heide 3. 9. 1922, und an Richard Strauss, 4.9. 1922 (SW X, 214 f.). 288 Vgl. Lorenz 154. 28'
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die Unmöglichkeit artikulieren, überhaupt von abstrakten Begriffen Gebrauch zu machen. Sie zerfallen ihm "im Munde wie modrige Pilze.,,289 Sprache stellt ihm kein Mittel mehr dar, die Welt zu begreifen. Vielmehr ist sie ihm zur unheimlichen Bedrohung geworden: ,,Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile, und nichts mehr ließ sich mit einem Begriff umspannen. Die einzelnen Worte schwammen um mich; sie gerannen zu Augen, die mich anstarrten und in die ich wieder hineinstarren muß ...290
Angesichts dieser Krise der Sprache erweitert Hofmannsthal das Spektrum außersprachlicher Ausdrucksformen. Die Hinwendung zur Dramatik ermöglicht es, stärker auf Mimik und Gestik zu setzen. Eindringlich läßt sich das Schweigen des Bettlers inszenieren, ringende Hände und die erhobene Axt ermöglichen die komprimierte, sprachlose Darstellung innerer Dramatik. Der Totentanz, der das Abtreten der Menschen von der Weltbühne vor Augen führt, zeigt das Erdenleben letztlich als Spiel von marionettenhaften Menschen. 291 Darüber hinaus versinnbildlicht in der Inszenierung Max Reinhardts das Trommeln des ,,Bühnenmeisters" Tod die von jeher jenseits der Sprache liegende bedrängende Erfahrung des Lebensendes, die zum Erkenntnismoment ausgestaltet wird,292 dies allerdings wieder mit Mitteln des Wortes. Als Dichter kann sich Hofmannsthai natürlicherweise nicht vollständig von der Sprache abwenden. Schon die Tradition, die er beruft, ist Dichtung. Es ist die rhetorische Figur der Allegorie sowie die mythische Erzählung, die erneut einende Ordnung, Gestalthaftigkeit ermöglichen soll. Gerade weil Hofmannsthal aber religiöse Stoffe aufgreift und Dichtung und Religion in Beziehung zueinander setzt, erwachsen ihm weitere Möglichkeiten, Sprachohnmacht künstlerisch zu gestalten. Lord Chandos weist gegen Ende des Briefes auf Erfahrungen, die er explizit religiös konnotiert. Er vergleicht sie einer "Offenbarung", die "auszudrücken mir alle Worte zu arm scheinen.,,293 Ähnlich teilt im Salzburger Großen Welttheater die Dichtung mit der Religion die Dimension des Entzogenen. Hofmannsthal betont wiederum das Unausdrückbare: Die Wirkung des Geheimnisvollen in der Wende 289 Hugo von HofmannsthaI, Ein Brief. In: Sämtliche Werke XXXI: Erfundene Gespräche und BriefeiE. Ritter (Hg.). Frankfurt1M., 1991. 45-55. 49. Zur Entstehung siehe 277-281. 290 HofmannsthaI, Ein Brief, 49. 291 Dies gilt insbesondere für die Weise, in der Max Reinhardt die Szene umsetzt; vgl. HofmannsthaI, Reinhardt bei der Arbeit. In: Reden und Aufsätze 11, 295-309. 307: "Wie eine in Drähten hängende Puppe, deren Glieder schleudern, kommt der König hinter dem Trommler her..." 292 Vgl. Matthias Mayer, Der Tanz der Zeichen und des Todes bei Hugo von HofmannsthaI. In: Tanz und Tod in Kunst und Literatur I Franz Link (Hg.). Berlin, 1993.350-368, insbes.366-368. 293 HofmannsthaI, Ein Brief, SW XXXI, 50. Zu diesen Epiphaniemomenten siehe III.6.
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des Bettlers vollzieht sich durch einen sprachlosen Trancezustand. 294 Sie kann nur im nachhinein verbalisiert werden und ist im säkularen Theater nicht gestaltbar: "Was nun in ihm (dem Bettler) erfolgt, liegt allerdings außerhalb des Gebietes des eigentlich dramatisch Möglichen und konnte nicht in einem gewöhnlichen Theaterstück, sondern nur in einem Mysterium gewagt werden. ,,295
Im Mysterienspiel manifestiert sich das Geheimnis als künstlerische Form. In der Wende des Bettlers, dem mystischen Zentralmoment des Dramas, erreicht es seine höchste Konzentration. Aufgrund eines unbewußten Zustands, der auch als Verzauberung im Sinne Nietzsches verstanden werden kann,296 verändert sich das Weltverhältnis des Bettlers. Diesem Zustand spricht Hofmannsthal schöpferische Kraft in Hinblick auf eine "neue Wirklichkeit" zu: "Wir sind ohne Zweifel auf dem mühsamen Wege, uns eine neue Wirklichkeit zu schaffen, und diese Schöpfung geht nur durch den vollkommenen Zweifel an der Realität, also durch den Traum hindurch. ,,297
Nicht von einer Schöpfung Gottes ist hier die Rede, sondern von einem komplexen ,geistigen Geschehen,.298 Die Beeinflussung Hofmannsthals durch Sigmund Freud und Friedrich Nietzsche299 steht im Hintergrund der Bedeutung, die er allem Unbewußten, manifest im Trancezustand des Bettlers, aber auch in der Versunkenheit aller Figuren, kurz bevor sie abberufen werden,300 sowie in der Betonung sinnlicher Elemente insgesameO I zuschreibt. Die "Gleichwertigkeit der Sinnesdaten in der Wahrnehmung, die zu einer Grenzverschiebung von Außenwelt und Innenwelt führt, und der Welt des Wirklichen denselben Wahrheitscharakter zugesteht, wie der Welt des Unwirklichen,,302, Kerngedanke Freuds, läßt die Wende des Bettlers dann weniger auf den Eingriff höherer Gewalt zurückführen, als auf Wirkungen des Unbewußten, die dichterisch über eine religiöse Symbolik eingeholt werden. Damit wird die politische Aussage, die die Wende des Bettlers impliziert, anthropologisch und unter Rekurs auf ein religiöses Wirklichkeitsverständnis gestützt: 294 Er scheint zwar die flirbittende Stimme der Weisheit zu hören, doch gelangt sie nur in diesem Bewußtseinszustand zu ihrer Wirkung, wird mithin Teil der epiphanen Lichterscheinung. 295 Hofmannsthai, Wiener Brief (III), 288. 296 Vgl. Gert Mattenklott, Nietzsehe und die Ästhetik der Verzauberung. In: Sinn und Form 4/1996,485 -503, bes. 491. 297 Hofmannsthai, Wiener Brief (III), 291. 298 Vgl. Hofmannsthai, Wiener Brief (III), 291. 299 Dieser exponiert etwa die ,,freudige Nothwendigkeit der Traumerfahrung"; vgl. Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie. KGA III 11,23. 300 Die Regieanweisung gibt an: ,,Die Figuren, wie aus einer Starrheit erwachend, verlassen ihre Plätze und treten durcheinander, aber wie Träumende" (54). 301 Zur Bedeutung der Sinnfalligkeit in den Inszenierungen Max Reinhardts siehe III.5. 302 Lorenz, 107. Zum Einfluß Machs und Freuds ebd., 102-110.
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Ein Bewußtseinszustand jenseits der Reflexion sanktioniert quasi natürlich die Abkehr von der revolutionären Tat. Der Begriff des geistigen Geschehens weist aber über diesen nicht steuerbaren Vorgang hinaus auf dasjenige Programm, das Hofmannsthai 1927 in der Rede ,,Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation" mit dem mißverständlichen Terminus ,,konservative Revolution,,303 belegt hat. Von dieser Rede her betrachtet, erscheint der Rückzug des Bettlers weniger weitabgewandt. Der "leidenschaftlicheinsame Dienst an der eigenen Seele als einziger Daseinsinhalt" charakterisiert jene höchst ambivalenten Hoffnungsträger auf dem Weg der Entfaltung des "Geistraumes", in dem "das Leben lebbar wird ... durch gültige Bindungen".304 So gerät der Bettler, zunächst Stimme des Proletariats, in die Nähe dieser suchenden Geistesmenschen. Im Unterschied zum Protagonisten des Welttheaters erscheint deren Dasein allerdings weniger erlöst als vielmehr qualvoll-heroisch: ,,Auch unseren Suchenden ist die TIefe des Ich, die dunkle, eigene Seelenwallung das einzig Gegebene, und einzige Aufgabe dieses titanische Beginnen: jenes Ganze da außen mit den bloßen zwei Händen auszureißen aus seinem Stand, den es einnimmt in der Welt scheingeistiger Ordnungen, und es mit sich hinabzureißen in die tiefere Lebenswoge und von da es wieder emporzureißen zu neuer Wirklichkeit. ,,305
Die Wirkung der Suchenden soll über die Grenzen des Ich hinaus ausgreifen auf die Nation. Auf diese in erster Linie zielt auch die Konzeption der Salzburger Festspiele. Hofmannsthal sucht hier nationale, ästhetische, ethische und politische Interessen zusammenzuführen im Sinne des "geistigseelischen Heilungsprozesses der zerklüfteten Nation".306 Die traditionellen Stoffe, die er aufnimmt, weisen auf die in der Schrifttumsrede als "Sprachnorm" bezeichnete höhere Einheit des Erbes einer Kultur, "in der die Nation zur wahren Einheit sich bindet".307 Doch besteht Hofmannsthai trotz dieser nationalen Interessen auf dem ,,klaren Vorrang des Geistig-Kulturellen",308 so daß er die Festspiele auch als ein internationales, europäisches Geschehen begreifen kann. 309
303 Vgl. zu deren Heterogenität Stefan Breuer, Anatomie der konservativen Revolution, Darmstadt, 1993: ..Konservative Revolution' ist ein unhaltbarer Begriff, der mehr Verwirrung als Klarheit stiftet." (181) 304 Hofmannsthai, Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation. Rede, gehalten im Auditorium Maximum der Universität München am 10. Januar 1927. In: Reden und Aufsätze III, 1925 -1929, Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden, Frankfurt/M., 1980,24-41. 39. 305 Hofmannsthai, Schrifttum, 38. 306 Karl Müller, ,,Das Salzburger große Welttheater" . Hugo von Hofmannsthal und die ..Konservative Revolution". In: ADPh 19/1991,37 -52. 39. Müller ordnet insbesondere das Welttheater diesem Programm zu. 307 Hofmannsthai, Schrifttum, 33. 308 Wolfram Mauser, ,,Die geistige Grundfarbe des Planeten". Hugo von Hofmannsthals ,,Idee Europa". In: Hofmannsthal Jahrbuch zur europäischen Modeme 2/1994. Freiburg,
1994,201-222.218.
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Hofmannsthals Zielsetzung verlangt indes eine spezifische dramatische Form. Erst in der Inszenierung im Gesamtkunstwerk verwirklicht sich sein Bewältigungsvorhaben. S. Weltspiel: Die Inszenierung des Gesamtkunstwerks Trotz der überragenden Bedeutung, die Hofmannsthal der Kunst zuerkennt, liegt dem "Künstler-Politiker',31o eine elitär-ästhetizistische Position fern. Mehr und mehr vertritt er mit seinem Schaffen ethische Anliegen und strebt eine breite Wrrkung an. Bezeichnenderweise gibt er im Laufe seines Schriftstellerlebens die Lyrik auf und wendet sich verstärkt dem Theater zu. Hermann Broch sieht folgerichtig den "tiefste(n) Grund für Hofmannsthals Bindung ans Theater" darin, daß es "logischer Ort des Sittlichkeitssymbols, des Sittlichkeits-Rituals" sei.3l1 Das Salzburger Große Welttheater bezieht seine Wirkung aus dem spezifischen Zusammenhang mit den Festspielen, die wiederum auf die Bedeutung des kulturellen Erbes verweisen. Entscheidende Bedeutung gewinnt der Vollzug im Gesamtkunstwerk mit rituellen Aspekten. Die Umsetzung des ,,Mythos" Welttheater innerhalb dieser Darbietungsform zeugt in besonderer Weise von Hofmannsthals Willen zur Ganzheit. 312 Hofmannsthal erscheint es, wie gesehen, unmöglich, der chaotischen Wirklichkeitserfahrung allein sprachlich zu begegnen. Doch verspricht er sich von den Salzburger Festspielen eine Einheitserfahrung, die die Heterogenität des Publikums, ja der Bevölkerung überwindet. In diesem Sinn greift er Stoffe auf, die "dem süddeutschen Boden entsprossen,,313 sind und die "uralt Lebendiges aufs neue lebendig machen,,314, und diesem Interesse gilt der spezifische Rahmen der Aufführungen. Hofmannsthal sieht im Publikum der Festspiele 309 Vgl. Hofmannsthai, Die Salzburger Festspiele. in: Reden und Aufsätze 11, 259-263. Er wünscht sich ein internationales Publikum (260) und sieht Salzburg nicht so sehr als Zentrum Österreichs als vielmehr als ,,Herz vom Herzen Europas" (261). 310 Lorenz,74. 311 Hermann Broch, Hofmannsthai und seine Zeit (1947/48). In: ders., Kommentierte Werkausgabe/Paul Michael LUtzeier (Hg.). Bd. 9/1: Schriften zur Literatur l. Kritik. Frankfurt/M., 1975,214. Zu dieser Entwicklung Lorenz, 73 f. 312 Bazon Brock charakterisiert das keinesfalls eindeutig definierte Gesamtkunstwerk: ,.Das Konzept ,Gesamtkunstwerk' ist in erster Linie durch die Obsession gekennzeichnet, mit der Individuen das Bild vom Ganzen, die persönliche Verkörperung des Ganzen und die allgemeine Unterwerfung unter das Ganze zu realisieren versuchen." (ders., Der Hang zum Gesamtkunstwerk, Pathosformeln und Energiesymbole zur Einheit von Denken, Wollen und Können. In: Der Hang zum Gesamtkunstwerk. Europäische Utopien seit 1800/Harald Szeemann (Hg.), Aarau, Frankfurt/M., 1983,22-39.22) 313 Hofmannsthai, Deutsche Festspiele zu Salzburg, in: Reden und Aufsätze ß, 255257.255. 314 Hofmannsthai, Festspiele in Salzburg, in Reden und Aufsätze ß, 264-268. 264.
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..die Synthese aus ... ziemlich verschieden gearteten Zuschauergruppen, jede ein Publikum fUr sich, die unter sich gesellschaftlich und ihrem Geschmack, ja ihrer Weltanschauung nach ziemlich inkohärent wären".315
Die Verbindung führt er weniger auf den Inhalt der Stücke zurück, als vielmehr auf "eine gemeinsame Kraft, eben die Salzburger Festspielatmosphäre".3 16 Im Vordergrund steht das gemeinsame Erleben. Das Publikum versteht sich der Zielsetzung Hofmannsthais nach nicht länger distanziert "gegenüber" dem Geschehen. Vielmehr entfaltet der ,,Mythos Welttheater" nun jene Wirkmacht, die Carsten Colpe als "mythische Valenz" bezeichnet. 317 Die ,.kulturtherapeutischen Funktionen,,3J8, die Hofmannsthal im Anschluß an Nietzsche der Kunst zuschreibt, bedürfen der sinnfälligen Gestaltung. Entsprechend wird Das Salzburger Große Welnheater zum Totalerlebnis Festspiel ausgestaltet. Insbesondere aufgrund der Inszenierung in der Kollegienkirche nimmt die Aufführung einen gleichsam liturgischen Charakter an. Visueller und auditiver Aspekt haben entscheidende Bedeutung. Einar Nilson gestaltet musikalisch aus, Max Reinhardt inszeniert besonders augenflillig. 319 Auf das Urteil Richard Strauss' legt Hugo von Hofmannsthal besonderen Wert. 320 Der barocke Stoff soll als Gesamtkunstwerk im Sinne Richard Wagners inszeniert werden. 321 Dessen Entwurf einer "Utopie eines die verschiedenen Kunstarten und die kunstschöpferische Einzelpersönlichkeit übergreifenden kollektiven ,G(esamtkunstwerk)s,,·322 findet sich in der Vielfalt der Kunstformen ebenso wieder wie in der Zusammenarbeit der Künstler. Wenn Nietzsche den Primat der Musik konstatiert, so sieht auch Hofmannsthai hier Ausdrucksmöglichkeiten jenseits der unzulänglichen Sprache. Notwendig sind Drama und Musik, die Nietzsche als ,,Muttersprache" gilt,323 aufeinander verwiesen und bedürfen eines ausgeglichenen Verhältnisses: 315 HofmannsthaI, Das Publikum der Salzburger Festspiele. In: Reden und Aufsätze III,
183-186. 184. 316 Ebd. 317 Carsten Colpe, Mythische und religiöse Aussage außerhalb und innerhalb des Christentums, in: Beiträge zur Theorie des neuzeitlichen Christentums/H.-J. Birkner, D. Rössler (Hg.), Berlin, 1968, 16-36. 17. 318 Vgl. Mattenklott, Nietzsehe und die Ästhetik der Verzauberung, 491. 319 Vgl. HofmannsthaI, Das Reinhardtsche Theater, in: Reden und Aufsätze 11, 250-254, 253 f. Er spricht Reinhardt auch zu, besonders produktiv mit Rhythmik umzugehen, vgl. Wiener Brief (III), 290. Reinhardt nimmt von Anfang an Einfluß auf die Gestaltung des Festspiels, vgl. den Brief vom 17. 12. 1919 an Augusta Adler (SW 192) oder am 6. 11. 1921 an Paul Hellmann (SW 200). 320 Vgl. HofmannsthaI an Strauss vom 4.9. 1922 (SW X, 214 f.). 321 Vgl. Lorenz, 144. 322 Dieter Borchmeyer, Gesamtkunstwerk, in: Moderne Literatur in Grundbegriffen, Tübingen, 1994,181-184. 182. 323 Nietzsche, Geburt der Tragödie, KGA III 11, 131.
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,,Bei jener prästabilierten Harmonie, die zwischen dem vollendeten Drama und seiner Musik waltet, erreicht das Drama einen höchsten, für das Wortdrama sonst unzugänglichen Grad von Schaubarkeit. ,,324
Musik und Mimik treten insbesondere zum Ausdruck des Gefühlsbereiches ein. 325 Für die Festspiel-Idee hat das Bayreuther Konzept Wagners Vorbildfunktion. Doch Hofmannsthal grenzt sich von der ..subjektiven Kulturutopie Wagners,,326 ab und weist explizit darauf hin, daß das Salzburger Konzept eine größere und nationale Wirkung anstrebt: ,,Bayreuth bleibe wie es ist, aber es dient einem großen Künstler; Salzburg will dem ganzen klassischen Besitz der Nation dienen.,,327 Durch die Belebung des traditionellen Erbes, das überdies gleichsam kanonisch wiederholt das Programm der Salzburger Festspiele bildet,32B werden die Festspiele zu Trägem des kulturellen Gedächtnisses329 . Hofmannsthal selbst stellt sie in die Tradition der Oberammergauer Passionsspiele. 33O Er verankert so den Stoff Calderons im österreichischen Raum,331 beruft Fronleichnamsspiel und Passionsspiel und knüpft an deren ,'pilgercharakter,,332 an, doch lebt auch diese Verbindung eher aus der Analogie zu religiösen Formen als aus tatsächlich religiösen Gehalten. Ihre Wirksamkeit gewinnt sie insbesondere aus der rituellen Dimension der Festspiele. Es ist inbesondere die Nähe zum Ritual, über die sich jene Erfahrung, ..daß Ordnung - semantisch wie ästhetisch - möglich ist,,333, vermittelt. Dem Ritual 324 Nietzsche, Geburt der Tragödie, KGA In/l, 133. Zur Wagner-Rezeption Nietzsches siehe Dieter Borchmeyer, Das Theater Richard Wagners. Idee - Dichtung - Wirkung. Stuttgart, 1982. 159-175. 32S VgI. Dieter Borchmeyer, Der Mythos als Oper - Hofmannsthal und Richard Wagner, in: Hofmannsthal-Forschungen 7,1983, 19-65.49 f. 326 Dieter Borchmeyer, Gesamtkunstwerk, 183. 327 Hofmannsthai, Die Salzburger Festspiele, 260. Zum Ganzen vgI. Karl Konrad Polheim, Hofmannsthai und Richard Wagner, in: Drama und Theater im 20. Jahrhundert. Festschrift für Walter Hinck I H. D. Irmscher, W. Keller (Hg.), Göttingen, 1983. 11- 23. 328 Apodiktisch konstatiert Hofmannsthai: ..Das Programm der Salzburger Festspiele wechselt nicht." In: Zum Programm der Salzburger Festspiele 1928, in: Reden und Aufsätze In, 187 -189. 187. 329 VgI. Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München, 1992. Zu den Merkmalen zählen das Festlich-Feierliche, das Sakrale sowie das Rituelle (vgI. 52 f.). 330 VgI. Hofmannsthai, Festspiele in Salzburg, 264. 331 Es ist insbesondere diese Verankerung, die die ..Tradition" als eine Konstruktion erscheinen läßt, ein Aspekt, den Le Rider betont. Mit Hobsbawrn spricht er von der ,.Erfindung einer Tradition" (253; vgI. 278). 332 Christopher Balme, I. Einleitung zur Ästhetik und Ideologie der Theatermoderne. In: Das Theater von Morgen. Texte zur deutschen Theaterreform (1870-1920)/Chr. Balme (Hg.), Würzburg, 1988, 11- 29. 28. Auch Balme weist auf den säkularisierten Charakter der Anknüpfung hin.
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entsprechend strukturieren Wiederholung und Rhythmus das Welttheater: Die musikalische Gestaltung arbeitet notwendig rhythmisierend. Wiederholungsstruktur haftet eingangs der Rollenvergabe sowie später dem Abtreten von der Erdenbühne an. Hier, im Totentanz, kommen beide Elemente in besonders eindringlicher Weise zusammen: In Reinhardts Inszenierung verlassen die Figuren, von der Trommel des ,,Bühnenmeisters" Tod rhythmisch begleitet, eine nach der anderen das Spiel. Bestimmte Motive werden mehrmals aufgenommen, so die Titelformulierung "Tuet recht - Gott über euch!" oder die Rede von der Zeit und vom Schein, aber auch die variierte Forderung nach einem "neuen Weltstand" . Die Regelmäßigkeit der Festspiele in Hinblick auf Ort und Programm hat vor allem stabilisierende Funktion. Sie spiegelt "die elementare anthropologische Erfahrung von Zyklizität, die auch eine Erfahrung von Ordnung und Zusammenhang ist" .334 Über Text und Festspiel hinaus weist auch die potentielle Wiederholbarkeit des WeIUheater-Spiels. 335 Die im Ritual zentrale Bedeutung der Inszeniertheit zeigt sich im Fest des Festspiels, besonders augenfällig aber im feierlichen Rahmen des Aufflihrungsortes Kirche: Bewußt erinnert Hofmannsthal damit an die Form des Gottesdienstes, wählt den Ort, "um der Übereinstimmung dieses (des Festspiels) Stil mit dem Stil der Kirche willen".336 Die ästhetische Durchgestaltung kommt sprachlich in der Versstruktur besonders deutlich zum Tragen, aber auch in der kunstvollen Verbindung unterschiedlicher Ausdrucksformen. Das spielerische Element wird durch die Umsetzung der Welttheatermetapher ständig präsent gehalten. Auf Selbstbezüglichkeit, Expressivität und Symbolizität verweist der "mythisch" verstandene Stoff sowie der epiphane Charakter, den das Festspielerlebnis annimmt. 337 Die mehrfach betonte Bedeutung der Inszenierung in diesem Kontext deutet insgesamt darauf hin, daß die das Publikum einende Wirkung durch die spezifische Kommunikationssituation mit rituellen Aspekten vor dem bekenntnishaft anmutenden Inhalt des Dramentextes rangiert. Hier soll gelingen, was auch nach Auffassung Hofmannsthals traditionell metaphysisch längst nicht mehr zu bewältigen ist. "Gestalt" entsteht performativ in einem sehr präzise gefaßten Rahmen. 333 Braungart, Ritual, 17. Die Definitionsmerkmale des Rituals benennt er mit "Wiederholung einer Handlung, Inszeniertheit, ästhetische Elaboriertheit, Selbstbezüglichkeit, Expressivität und Symbolizität" (254). Die Begegnungsfelder, die Braungart in der Literatur auffindet, sind Wiederholung und Rhythmus, Fest und Feier, Kult, Spiel und Mimesis (vgl. Kap. IV der Untersuchung). Damit steht Ritual hier nicht für die Vergegenwärtigung des Heiligen, sondern für eine soziale Handlung und kulturelle Äußerung (41), in der sich eine Gruppe bestimmter Überzeugungen, die nicht notwendig moralisch normativen Charakter haben müssen, versichert (61 f.). 334 Braungart, Ritual, 185. m "Vielleicht soll das Spiel gleich wieder anheben ..." (so die Welt, 64,9 f.). 336 Hofmannsthai an Emil Ronsperger, 4. 10. 1921, SW X, Dramen 8,197. 337 Zum Mythos vgl. 111.1., zum epiphanen Erleben siehe Ill.6.
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Wo das Publikum indes nur "vorübergehend zur Einheit zusammengehalten,,338 ist, eignet dieser Erfahrung nicht die Dauer einer anerkannten, gültigen Glaubenswahrheit. Insofern bleibt die Ganzheit Fiktion und teilt den utopischen Charakter des Gesamtkunstwerks, das "nicht seine eigene Verwirklichung (ist), sondern ein Postulat in Gestalt des Gesamtkunstwerks, das gegen alle historische Erfahrung und prinzipiellen Einwände dennoch aufrecht erhaltene Postulat, die Welt als Einheit zu verstehen und das eigene wie das Leben der anderen auf diesen Zusammenhang hin auszurichten. ,,339
6. Weltentgrenzung: Epipbanes Erleben Der momentane Charakter der Einheitserfahrung entspricht nicht der Reetablierung eines Glaubensgrundes. Deren Erleben hat jedoch zentrale Bedeutung für die Perspektiven, die Hofmannsthal den Menschen im Umgang mit ihrer Geschichte eröffnen will. Die Erfahrung, die der Dichter anstrebt, läßt sich als Epiphanie beschreiben. 340 Wahrend solche Intensitätsmomente bei James Joyce und Virginia Woolf, aber auch in Hofmannsthais Chandos-Brief ,Offenbarungen' ohne metaphysische Grundlage darstellen, die das Wirklichkeitskontinuum transzendieren und häufig durch die Betrachtung schlichter Gegenstände ausgelöst sind,341 bezieht sich das Salzburger Große Welttheater durchaus auf religiöse Erfahrungen. Auf der Inhaltsseite des Dramas hat bereits die Wende des Bettlers offenbarenden Charakter. Die christliche Symbolik, Lichterscheinung und Fürbitte, legt hier indes eine Verweisstruktur nahe: Zumindest im Zitat erscheint eine transzendente Wirklichkeit. Die Bedeutung der Epiphanie liegt indes im neuen Sein des Bettlers. Eine solche Erneuerung verspricht sich Hofmannsthal offensichtlich auch für das Festspiel-Publikum: Zwar spricht er in diesem Stück dem geschichtlichen Menschen keine weltverändemden Kräfte zu, doch geht es ihm offensichtlich um eine LeHofmannsthai, Das Publikum der Salzburger Festspiele, 184. Brock, 25. 340 Auf die moralische Bedeutung ästhetischer Epiphanien hat in jüngerer Zeit besonders Charles Taylor aufmerksam gemacht. Er nimmt den Ausdruck James Joyce' auf und bezeichnet damit "die Vorstellung vom Kunstwerk als einer Äußerung, die uns mit etwas zusammenbringt, was sonst unzugänglich ist und höchste moralische oder spirituelle Bedeutung hat, wobei es sich außerdem um eine Äußerung handelt, die noch im Zuge der Offenbarung zugleich etwas definiert und vollendet." (Charies Taylor, Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, übers. von J. Schulte, Frankfurt/M., 1996,729) 341 VgI. Bohrer, Abschied, 520. Den Charakter solcher "guten Augenblicke" erläutert Lord Chandos: ,,Es wird mir nicht leicht, Ihnen anzudeuten, worin diese guten Augenblicke bestehen; die Worte lassen mich wiederum im Stich. Denn es ist ja etwas völlig Unbenanntes und auch wohl kaum Benennbares, das, in solchen Augenblicken, irgendeine Erscheinung meiner alltäglichen Umgebung mit einer überschwellenden Flut höheren Lebens wie ein Gefäß erfüllend, mir sich ankündet. ... Eine Gießkanne, eine auf dem Felde verlassene Egge, ein Hund in der Sonne, alles dies kann das Gefäß meiner Offenbarung werden." (Hofmannsthai, Ein Brief, SW XXXI, 50) 338
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bensfahigkeit trotz der fatalen Wirklichkeit. Hierin liegt sein sittlicher Anspruch und eine Ennächtigung des Subjekts, die freilich begrenzt ist. Wie andere Epiphanien nach der "Schopenhauerschen Wende" beinhaltet dieses momentane Erleben - eindeutiger als die Wende des Bettlers - "eine Umwandlung des Seienden ... der entgeistigten Wirklichkeit, der gefallenen Natur oder des amoralischen Willens - und nicht die Offenbarung eines von uns unabhängigen Guts".342 Gerade aufgrund des sittlichen Anspruchs Hofmannsthals kann das epiphane Festspielerlebnis als ,.Musterbeispiel" für die "Wiederherstellung der Verbindung mit einer Moralquelle" im Sinne Charles Taylors gelten,343 wobei "der epiphanische Schwerpunkt ... (modemen Entwicklungen gemäß) vom Selbst in den Strom des Erlebens verlagert wird".344 Indem Hofmannsthal auf ein Erleben zielt, das die Grenzen der Vereinzelung zugunsten einer Gemeinschaft überwindet, führt er seine Konzeption zwar einerseits über "die Fragwürdigkeit eines Ansatzes, der das Soziale ausgerechnet durch eine Steigerung der Vereinzelung gewinnen Will,,34S, hinaus. Doch besteht diese Gemeinschaft andererseits nur momentan und gewinnt auch im Aufführungsort Kirche keine inhaltliche Qualifikation. Das Salzburger Große Welttheater zeigt drei Stadien von Epiphanien an, die als diachroner Ablauf von der Barockzeit zur Modeme verstanden werden können: Im Zitat des barocken Stoffes offenbart sich eine transzendente Wahrheit; die dichterische Realisation Hofmannsthals legt den Schwerpunkt in das Selbst des Bettlers; die Umsetzung im Gesamtkunstwerk entspricht der nächsten Stufe und verweist angesichts des konstitutiven Erlebens des Festspielpublikums auf die zunehmende ,,Dezentrierung' der Subjektivität,,346. Die Epiphanie steht im Dienste der ethischen und - insofern es ihm um die Abwehr der Revolution geht - auch politischen Intentionen Hofmannsthals.
7. Ergebnis: Ein ästhetisch-politisches Therapieprogramm Im Chandos-Brief versteht der Lord die Mysterien des Glaubens als sich entziehende Allegorie: ,,Mir haben sich die Geheimnisse des Glaubens zu einer erhabenen Allegorie verdichtet, die über den Feldern meines Lebens steht wie ein leuchtender Regenbogen, in einer stetigen Ferne, immer bereit, zurückzuweichen, wenn ich mir einfallen ließe hinzueilen und mich in den Saum seines Mantels hüllen zu wollen ...341
Taylor, 773. Taylor, 741. 344 Taylor, 805. 34S Stefan Breuer, Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodernismus, Darmstadt, 1995. 148. 346 Taylor, 805. 347 Hofmannsthai, Ein Brief, SW XXXI, 48. 342 343
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Im allegorischen Festspiel entfaltet das Geheimnis der Idee nach eine Kraft, der sich die Beteiligten nicht entziehen können, doch verweist es nicht länger bzw. nicht erneut zurück auf den Glauben. Der Saum des Mantels wird nicht greifbar, auch wenn Hofmannsthai seine Antwort als "dichterisch oder religiös" versteht. 348 Sein Bemühen zur Abwehr des Katholizismus-Verdachts, die Bezeichnung Mythos, die zurückgenommene Erscheinung Gottes, die ab 1925 nicht mehr "persona" des Textes ist,349 die Gottesfeme der Welt, die Gesamtkonzeption des Festspiels, die Bedeutung der rituellen Aspekte und der Epiphanie, die zur Ordnungsstiftung und Seinsverwandlung nicht auf eine Transzendenz verweisen müssen, all dies weist darauf hin, daß Hofmannsthal die barocke Theologie nur noch zitiert, freilich in provokativer Weise und ohne sie zu negieren. Für Hermann Broch etwa ist das Zitat so zum blasphemischen Kostüm geworden. 35o Hofmannsthals Interessen an dem christlichen Stoff sind funktional und orientiert an spezifischen Erfahrungen, die der Dichter umsetzen und auslösen will: Das ,,Mysterium" ermöglicht die künstlerische Umsetzung der Sprachohnmacht, der Gottesgedanke vermag Einheit zu symbolisieren, als Bestandteil des kulturellen Erbes stiftet der Stoff Kontinuität. Er wird dabei in den Dienst eines politisch-konservativen Anliegens, der Abwehr gewaltsamer Veränderungen, genommen, ohne daß Veränderungsperspektiven für eine defizitäre Wirklichkeit aufgezeigt würden. Die Nähe zur Religion liegt gerade dann, wenn das Stück vom Zusammenhang der Festspiele her interpretiert wird, nicht in der (Re-)Afftrmation Gottes bzw. seiner Spielleitung, sondern in der Vollzugsform Ritual. Mit der Gottesfrage im Sinne der Glaubwürdigkeit einer traditionellen christlich-metaphysischen Ordnung hat diese künstlerische Antwort auf die chaotische Wirklichkeitserfahrung dann insofern zu tun, als sie über die spannungsreiche Verbindung des Stoffes mit modemen Konfliktlagen zur Verlustanzeige gerät, die das Verlorene schillernd präsent hält. Gegenläufig überformt der rituelle Vollzug des Festspiels die Erfahrung der Fragmentierung mit Gestalt. Insofern widerspricht Hofmannsthals allegorisches Festspiel dezidiert der Allegorie-Konzeption Walter Benjamins, indem es die Brüche nicht als Moment der Diskontinuität stehen läßt, aus der ihre Rettung folgen kann, sondern im Gesamterleben aufhebt. Der Ausdruck der Wirklichkeit tritt dabei hinter deren Transzendierung zurück. Die Transzendierung ist hingegen in der Wirklichkeit verankert. Daher kann das Festspielerlebnis als strukturell analog begriffen werden zu Hofmannsthals Konzeption der "guten Augenblicke" und zu den Epiphaniekonstruktionen der engli348 Vgl. 1II.4. Nimmt man HofmannsthaI beim Wort, läßt sich sein Programm als religiöse Ästhetik verstehen. Die Vereinigung beider Diskurse im Mythos schwebt - in umgekehrter Richtung - dem Theologen Hermann Timm vor, der der "extreme(n) Dissoziation des Ästhetischen und des Religiösen" mit einer "Remythologisierung" begegnen will (Hermann Timm, Remythologisierung? - Der akkumulative Symbolismus im Christentum, in: ders., Das ästhetische Jahrzehnt. Zur Postmodemisierung der Religion, Gütersloh, 1990,45-65.48). 349 Vgl. den Brief HofmannsthaIs an Helene Thimig, 18. Mai 1925, SW X, 217. 350 Vgl. Broch, HofmannsthaI und seine Zeit, 268.
IV. Else Lasker-Schüler: lchundIch
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schen Modemen James Joyce und Virginia Woolf: ,,Das Wahre hat sich auf das Wirkliche zuriickgezogen, welches nurmehr eine Erfahrungs-Qualität, eine Intensität ist. ..351 Allerdings eignet dem Festspielerlebnis nicht der zuriickhaltende Charakter dieser Epiphanie-Erlebnisse. In der Monumentalität des repräsentativen Welttheaters, das die individuelle Erfahrung dem Gesamterleben unterordnet, dies nicht zuletzt mit politischen Interessen, bildet Hofmannsthals Werk den diametralen Gegenpol zu den Dramen Kraus' und Lasker-Schülers. Deren hervorragendes Charakteristikum besteht gerade in der Negation der Totalperspektive auf die Welt. Das Drama lehundIch ist dabei von besonderer Radikalität.
IV. Else Lasker-Schüler: fehundfeh Welttheater auf der "Herzensbühne" Kurz bevor Else Lasker-Schüler im April 1933 Berlin verlassen muß, um zunächst in die Schweiz, anschließend nach Jerusalern zu emigrieren, findet in der Reichshauptstadt die vielbeachtete Premiere von Hofmannsthals Festspiel Das Salzburger Große Welttheater statt, schöpferisch inszeniert von Max Reinhardt. 352 Die Generalprobe wird überschattet vom Reichstagsbrand in derselben Nacht. Freie Ergänzungen des Stücks durch den Regisseur, insbesondere die Revolutionspantomime, erzeugen eine düster-apokalyptische Atmosphäre. Die Aufftihrung wird politisch brisant. Acht Tage später emigirert Max Reinhardt. Else Lasker-Schüler, begeisterte Kino- und Theatergängerin, mag als ihre letzten Berliner Eindriicke die politische Inszenierung des Reichstagsbrands und die monumental-ästhetische des politisierten Festspiels, sei es aus eigener Anschauung, sei es aus zweiter Hand, mit ins Exil genommen haben. Eigentümlich zumal im Kontext des Gesamtwerks der Autorin mutet jedenfalls der geradezu monumentale Ansatz des Dramas lehundIch an, jenem nachgelassenen Spätwerk der Jahre 1940/41, das, zunächst mit Bedacht zUriickgehalten,353 erst 1970 vollständig 351 A. Assmann, Fiktion als Differenz, 259. Ein ähnliches Konzept zeigt sich in der Gegenwartsliteratur bei Peter Handke, Über die Dörfer. Frankfurt/M., 1984. Der SchluBmonolog Novas deutet auf eine immanente Transzendenz und betont zudem die Notwendigkeit des Tradierens ästhetischer Erfahrung. 352 Zu dieser Aufführung vgl. Cynthia Walk, Hofmannsthals GroBes Welttbeater, 140 - 145. m Werner Kraft bewog das "offensichtliche Versagen der sprachlichen Kraft" (Kraft, Anm. zu Else Lasker-Schüler, Verse und Prosa aus dem Nachlaß, München, 1986, 171), den Text 1961 nur auszugsweise in dem Band Verse und Prosa aus dem Nachlaß herauszugeben, nicht zuletzt, um ein positives Bild der Dichterin in der Öffentlichkeit zu wahren. Ernst Ginsberg hatte in einem Brief an Manfred Sturmann die Auffassung vertreten, das Drama sei "doch der Spiegel der jammervollsten Verstörung und Auflösung. Man spürt die geistige Nacht über die Dichterin hereinbrechen, über die nur noch seltene Sternschnuppen hinzukken." (Ginsberg, Brief vom 2. 9. 1958; NachlaBarchiv der Hebräischen Universität Jerusalem (Handschriftenabteilung; kurz: ELS-Archiv), zitiert nach Kupper, Nachwort, in: Else LaskerSchüler, Die Wupper und andere Dramen, München 1986,301-341,308) Die Entscheidung
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ediert vorlag und schließlich am 10. 11. 1979 in Düsseldorf uraufgeführt wurde. 354 Die Kulisse des Dramas bildet größtenteils der Davidsturm der Zitadelle in Jerusalern, ein eindrucksvoll-gewaltiger Hintergrund, der das Drama in Zusammenhang mit der biblischen Geschichte Israels stellt. 355 Die überaus aktuellen Bezüge überraschen: Ein Film vom Reichstagsbrand wird gezeigt, Anspielungen auf Konzentrationslager gehen ein. Phantastisch konkretisiert, treten nationalsozialistische Führergroßen als Dämonen auf und erfahren einen apokalyptischen Untergang. Die höllischen Lavamassen erinnern an den Vernichtungsschlag des Mars aus Kraus' Epilog in Die letzten Tage der Menschheit. 356 Motivische Verwandtschaft Krafts war freilich schon damals umstritten, wie die heftige Kritik Otto Köhlers an diesem Verfahren belegt: ,,Ich und Ich' ist, unzensiert, eine beachtliche und künstlerisch respektable Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, eine Auseinandersetzung, von der jener klägliche Torso, den Wemer Kraft veröffentlichte, überhaupt keine Vorstellung vermittelt." (Köhler, Kraft-Akt, Rez. Else Lasker-Schüler: Verse und Prosa aus dem Nachlaß. Hrsg. von Wemer Kraft, München, 1961. In: Frankfurter Hefte, 9.IV.62, 642) 3~ Die erste kritische Ausgabe wurde 1970 von Margarete Kupper herausgegeben (Else Lasker-Schüler, IchundIch. Nachlaßschauspiel/ M. Kupper (Hg.). In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft, 14. Jg., 1970,46-99). Eine nicht ganz zuverlässige -längst vergriffene - Leseausgabe (ebenfalls von Kupper herausgegeben) brachte zunächst Kösel, 1980, anschließend der Deutsche Taschenbuch Verlag im Rahmen seiner Werkausgabe 1986 (LaskerSchüler, IchundIch. Eine theatralische Tragödie in sechs Akten, einem Vor- und einem Nachspiel. In: dies., Die Wupper und andere Dramen. München, 1986.227-300). Durch das Erscheinen des Dramenbandes der entstehenden kritischen Ausgabe 1997 liegt nun die zweite kritische und kommentierte Edition vor, die den Dramentext wieder zugänglich macht (Lasker-Schüler, Dramen. Bearbeitet von Georg-Michael Schulz, Frankfurt 1997, 183-235 [Werke und Briefe. Kritische Ausgabe/N. Oellers, H. Rölleke, I. Shedletzky (Hg.), Bd. 2]). Sie zeugt von den Schwierigkeiten, den nie völlig für den Druck vorbereiteten Text in einer lesbaren und dennoch lauteren Form zu bieten. Damit ist die komplizierte Publikationsgeschichte zumindest vorläufig zum Abschluß gekommen. Die Durchsicht des textkritischen Apparates weist den Text insgesamt als unvollendet aus, zeigt jedoch auch, daß die Gesamtkonzeption steht. Eine wesentliche Änderung Lasker-Schülers besteht im Auslassen der David-Szene, in der der König berichtet, sich in die Dichterin verliebt zu haben, vgl. den Apparat der neuesten Ausgabe, 317. In dieser Arbeit wird nach dem Dramenband von 1997 unter Angabe von Seitenzahl und Zeile zitiert. Die Fülle kleinerer grammatischer und orthographischer Ungenauigkeiten wird dabei nicht immer eigens durch sie! markiert. Gesperrter Druck wird hier kursiv wiedergegeben. m Der Spielort ist folglich historisch und biblisch zugleich: Der Davidsturm befindet sich an zentraler Stelle der Altstadtrnauer Jerusalems, der "Höllengrund" (187,2) bezeichnet das Gehinnomtal. Hier, am Ort eines erwarteten Strafgerichts (vgl. Jer 7,30-32) wird gespielt mit Blick auf die eindrückliche und geschichtsträchtige Befestigungsanlage. Vgl. die Anm. Kuppers, Kritische Ausgabe im Jahrbuch, 47 f., Nr. 41 - 45, sowie die Erläuterungen Schulz' , 352 f. 356 An die Technik Karl Kraus' erinnert auch Lasker-Schülers Umgang mit Zitaten, dazu s.u. IV.1. Auf die Nähe zu Kraus' satirischen Szenen weist bereits Höltgen hin (vgl. Karl Josef Höltgen, Untersuchungen zur Lyrik Else Lasker-Schülers, Bonn, 1958, 149 ff.). Es ist durchaus wahrscheinlich, daß sich die beiden wechselseitig anregten. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg stand Lasker-SchUler zu Kraus in Kontakt, der in der Frühzeit der Fackel Lyrik der Dichterin publizierte. Sie dürfte daher die Zeitschrift zumindest zur Kenntnis genommen haben. Die biographische Beziehung zu Karl Kraus, dem ,,Dalai Lama", reichte bis 1924, vgl. Else Lasker-Schüler, Briefe an Karl Kraus/ Astrid Gehlhoff-Claes (Hg.), Köln, Berlin
IV. Else Lasker-Schüler: lehund/eh
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besteht aber auch zu Reinhardts Inszenierung: Hier dringen Menschenmassen flutartig aus dem unterweltlichen Raum hervor, auf der Bühne züngeln Flammen. 3s7 Einflußreiche Traditionen, insbesondere Goethes Faust, der auch in Kraus' Menschheitstragödie eine Rolle spielt, aber auch Lyrik Heinrich Heint:s. Elemente aus dessen Tanzpoem Der Doktor Faust, Gedichte Goethes und auch Lasker-Schülers selbst, biblische und kabbalistische Traditionen, Anleihen bei mittelalterlichem Mysterienspiees8 und Moralität werden spannungsreich verbunden. Die monumentale Anlage wird durchbrochen von kabaretthaften Elementen. 3s9 Schlüsselthemen Lasker-Schülers finden Aufnahme, doch markiert lehundIch nicht nur biographisch einen Grenzfall ihres Schaffens. 360 Das Welttheater wird hier in den 1959/60; darin auch den "Versuch einer biographischen Darstellung" durch die Herausgeberin (141-176). 357 Vgl. die Regiebucheinträge Reinhardts, die Cynthia Walk dokumentiert, 171 f. 3S8 Vermutlich lieB sich Lasker-Schüler von Hofmannsthals Rezeption der mittelalterlichen Tradition - wenn auch in kritischer Abgrenzung - inspirieren. Zu ihrer Reaktion auf den Jedermann s.u. In dem Koffer, der 1995 in der Züricher Buchhandlung Oprecht aufgefunden wurde, befindet sich außerdem ein Drama von Fritz Rosenthal: Das Messiasspiel. Ein dramatisches Mysterium, München, 1933. Rosenthai widmet den Text: ,,Dem Gedenken Hugo von Hofmannsthais". Unabhängig davon, ob Lasker-Schüler diesen Text gelesen hat, ist doch ihr Interesse an Mysterienspielen einmal mehr belegt. Der Inhalt des Koffers befindet sich heute im Nachlaßarchiv der Hebräischen Universität in Jerusalem. 359 Darauf weist bereits Höltgen, 149 ff., hin. Zur Anregung Lasker-Schülers durch Max Reinhardts "Kleines Theater" vgl. Silvia Henke, Fehl am Platz: Studien zu einem kleinen Drama im Werk von Alfred Jarry, Else Lasker-Schüler, Marieluise FleiBer und Djuna Barnes. Würzburg, 1997 (Episte~ata: Reihe Literaturwissenschaft 200), 96 f. 360 Die Forschung zu Else Lasker-Schülers Werk hat in den letzten Jahren Auftrieb erhalten. Neben der Lyrik finden inzwischen die Dramen und die Prosa stärkere Berücksichtigung. Ansätze für eine weniger isolierte Betrachtung Lasker-Schülers zugunsten der Wahrnehmung literaturgeschichtlicher und poetologischer Beziehungen - jenseits der Ebene direkter Einflüsse - gewinnen an Bedeutung und weisen einen vielversprechenden Weg. Poststrukturalistisch orientierte Arbeiten haben neue Einsichten insbesondere zur Poetologie vermittelt Mittlerweile liegen auch einige fundierte Untersuchungen zu dem komplizierten Nachla8drama vor. Als Welttheater ist lehundlch allerdings bisher nicht untersucht, wenngleich bereits Kupper diesen Zug deutlich erkennt (vgl. ihr Nachwort in der Ausgabe von 1986,315). Insbesondere Meike FeBmann schlug mit ihrer Arbeit Spieljigunn neue Wege der Lasker-Schüler-Forschung ein, indem sie einen ausdrücklich nicht-bi~p"aphischen, poetologisch orientierten Zugang zum Werk wählte (sie gibt außerdem einen Uberblick über die Forschungssituation bis 1980). Mit dem Begriff der "Spielfigur", den FeBmann vor der Folie romantischer Autoren entwirft, bezeichnet sie die unterschiedlichen Identifikationsfiguren im Werk Lasker-Schülers und gibt wertvolle Einsichten in deren Motivation, Funktion und Wandel (Meike Feßmann, Spielfiguren. Die Ich-Figurationen als Spiel mit der Autorrolle. Ein Beitrag zur Poetologie des modemen Autors, Stuttgart, 1992). Die Grundbedingung von Exil und Emigration für die deutsch-jüdische Autorin nimmt Alfred Bodenheimer als Ausgangspunkt: ders., Die auferlegte Heimat. Else Lasker-Schülers Emigration in Palästina, TUbingen, 199.5 (conditio judaica 9). Er fokussiert das in der "Urheimat des jüdischen Volkes" (1) entstandene Werk und berücksichtigt eine Vielzahl von bisher schwer zugänglichen Quellen aus dem Nachlaß. Bodenheimer entwirft die Kategorie der "Transgressivität", um das grundsätzlich Bewegliche, im Übergang Befindliche von Das Hebräerland und lehundJch zu beschreiben. Die Grundsituation der Emigration findet sich, so zeigt Bodenheimer einleuchtend auf, poe-
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Innenraum der ,,Dichterin", dramatis persona,361 verlegt und greift doch weit in die Welt, in Urzeit, Geschichte und Endzeit, aus. 362 tologisch gespiegelt. Sissel Laegreid widmet im Zusammenhang ihrer Dissertation Nach dem Tode - oder vor dem Leben. Das poetische Projekt Else Lasker-Schülers (Frankfurt, 1997;
ebenfalls mit Übersicht über die Forschungslage und ausführlicher Besprechung der Arbeit Feßmanns, vgl. 10-19) dem Drama ein umfangreiches und aufschlußreiches Kapitel. Unter Zuhilfenahme psychoanalytischer Ansätze stellt sie den Zusammenhang mit modernen Melancholie-Konzeptionen her, wie sie sie insbesondere in Benjamins Trauerspiel-Buch vorfindet. Ihre Arbeit hat insofern für meine eigene Untersuchung besonderes Gewicht. Allerdings nimmt sie Benjamins Schrift nicht als geschichtsphilosophischen Entwurf wahr, sondern gewinnt aus ihm ein analytisches Instrumentarium. So arbeitet sie stark mit seinem - normativen - Allegorie-Begriff. Die Dissertation Fehl am Platz von Silvia Henke ist durch literaturtheoretische Ansätze aus dem Poststrukturalismus inspiriert. Henke berücksichtigt den - sehr spezifischen - dramatischen Charakter des Werkes. Sie sieht hier eine Dramaturgie des kleinen Dramas am Werk. Auch diese anregende, gründliche und textdetailfreudige Arbeit hat für meine eigene Untersuchung Bedeutung. Durch die Betrachtung von Ichundlch als Welttheater verschiebt sich indes die Perspektive nicht unwesentlich: Das kleine Drama wird durch eine monumentale Anlage gebrochen. Es wird sich allerdings zeigen, daß der große Entwurf den Charakter des Kleinen nicht zu bergen vermag, vielmehr beides im wahrsten Sinne auf dem Spiel steht. 361 Um die ,,Dichterin" als Figur des Dramas von der Autorin zu unterscheiden, wird die dramatische Person hier und im folgenden durch Anflihrungszeichen gekennzeichnet. 362 An dieser Stelle soll das verhältnismäßig unbekannte Drama Lasker-Schülers inhaltlich umrissen werden: Im Vorspiel, das hinter dem Vorhang stattfindet, ist zunächst die ,,Dichterin" in Begleitung eines "überklugen Bürgers" auf dem Weg zum Theater. Deutliche autobiographische Bezüge legen die Identifikation mit Else Lasker-Schüler nahe. Die ,,Dichterin" artikuliert ihr elitäres Bewußtsein als Poetin, für die die Welt ein ,,Erdenschrank" ist, ein Exil, in dem zu leben sie gezwungen ist. Ihr Begleiter möge vor ihrer ,,Herzensbühne" Platz nehmen und ihrem ,,Höllenspiel" zuschauen (185 f.). Die folgenden fünf Akte stellen eine Probe in einem Jerusalemer Theater im Höllengrund dar. Vor der monumentalen Kulisse des Davidsturms kündigt die ,,Dichterin" eine ,,Mordgeschichte" (188,6) an: Sie hat sich in zwei Hälften ,,1chundich" geteilt. Max Reinhardt inszeniert ihr Stück. Neben der "Kritik", den "three american Komiker brothers Ritz" und dem Theaterarzt sind auch die bedeutenden Könige der hebräischen Bibel, Saul, David und Salomo, als Zuschauer dabei (187). Schauplatz ist, wie angekündigt, die Hölle. Als Hauptfiguren agieren Faust und Mephisto, deren Gespräche um die Feme Gottes, den Charakter der Welt und deren Beherrschung kreisen. Mehr und mehr werden die beiden als zwei Teile einer Person deutlich. Die Ankunft der dämonisierten Nazis, die sich von Mephisto Petroleum liefern lassen wollen, unterbricht ihre Unterhaltung. Hitler erscheint als der "wahre Satan" und "Gott der Deutschen", doch Mephistos Macht und Wille in der Hölle reichen so weit, daß er den Untergang der Nazis in Lavamassen herbeiführen kann. Nach diesem apokalyptischen Szenario vollzieht sich die versöhnende Verbindung von Faust und Mephisto und deren Himmelfahrt. Mit dem letzten Akt, nach der Probe des eigentlichen Stücks im Garten eines Jerusalemer Augenarztes situiert, rückt die ,,Dichterin" wieder ins Zentrum. Im Gespräch zwischen ihr, dem Kritiker Adon Swet und dem alter ego der ,,Dichterin", der Vogelscheuche, wird vor allem die existentielle Verbindung der Dichterin mit ihrer deutschen und jüdischen Tradition deutlich. Der Kritik Swets an ihrem Stück, das doch offenbar das Weltenrätsel nicht gelöst habe, hat sie nichts entgegenzusetzen. Sie ermüdet und stirbt. Das Nachspiel erzählt die Vision einer Erlösung: Faust, Mephisto und die ,,Dichterin" treten in die himmlische Harmonie bei Gott ein. Auf die Gretchenfrage vom nahen ,,Erdensterne": "Glaubst du an Gott?" singt die ,,Dichterin" hinter dem gerade gefallenen Vorhang: ,,Ich freu mich so, ich freu mich so: Gott ist >da, Frankfurt/M., 1979,259-263.
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