Moderne Familienformen: Symposium zum 75. Geburtstag von Michael Coester 9783110552355, 9783110551778

Today’s changing society is characterized by new family forms. This work deals with the challenges the modern family pla

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German Pages 216 [218] Year 2018

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Table of contents :
Vorwort
Inhaltsübersicht
Inhaltsverzeichnis
Autorenverzeichnis
Würdigung
Tagungsbeiträge
Eltern im Rechtssinne: Identität und Differenz des Eltern-Begriffs von GG und BGB
Familienrecht in Europa: Gemeinsame Grundlinien der Entwicklung und künftige Herausforderungen
Gedanken zu einer Reform des Abstammungsrechts
Moderne Familienformen im englischen Recht
Brücke an Maschinenraum: Auswirkungen von gesetzlichen Reformen und höchstrichterlicher Rechtsprechung in der Praxis
Wie viele Eltern verträgt ein Kind? Mehrelternfamilien aus rechtlicher Sicht
Wie viele Eltern verträgt ein Kind? Konzepte für originäre Mehr-Elternschaft
Wie viele Eltern verträgt ein Kind? Mehrelternfamilien aus sozialwissenschaftlicher Sicht
Jenseits von Ehemann und Ehefrau – Neue Paarbeziehungsregime in den europäischen Güterrechtsverordnungen
Beiträge der Güterrechtsverordnungen zur Ausbildung allgemeiner Strukturen des EuIPR
Einige Überlegungen zu den Zuständigkeits- und Kollisionsnormen der EuGüVO
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Moderne Familienformen: Symposium zum 75. Geburtstag von Michael Coester
 9783110552355, 9783110551778

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Katharina Hilbig-Lugani, Peter M. Huber (Hrsg.) Moderne Familienformen

Katharina Hilbig-Lugani, Peter M. Huber (Hrsg.)

Moderne Familienformen | |

Symposium zum 75. Geburtstag von Michael Coester

Prof. Dr. Katharina Hilbig-Lugani, Universität Düsseldorf BVR Prof. Dr. Peter M. Huber, Universität München

ISBN 978-3-11-055177-8 e-ISBN (PDF) 978-3-11-055235-5 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-055179-2 Library of Congress Control Number: 2018938588 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz/Datenkonvertierung: jürgen ullrich typosatz, Nördlingen Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Vorwort | V

Vorwort Vorwort Vorwort https://doi.org/10.1515/9783110552355-202

Am 10. Juli 2017 hat Michael Coester seinen 75. Geburtstag gefeiert. Aus diesem Anlass fand am 14. und 15. September 2017 in der Carl Friedrich von Siemens Stiftung in München das Symposium „Internationales Familienrecht und Familienrechtsvergleichung: Neue Herausforderungen durch moderne Familienformen“ statt. Der Verlauf dieses Symposiums, seine Bandbreite und Perspektivenvielfalt, werden mit dem vorliegenden Tagungsband dokumentiert. Sie reichen von verfassungsrechtlichen und unionsrechtlichen Vorgaben über eher rechtspolitisch geprägte Fragestellungen des Familienrechtsrechts bis zur Praxis, rechtsvergleichenden Einsichten und interdisziplinären Perspektiven. Die Komplexität und Vielschichtigkeit der Rechtsfragen ist schon heute erheblich und dürfte in der Zukunft noch zunehmen. Insofern werfen die unter dem Generalthema „Moderne Familienformen“ zusammengefassten Fragestellungen und Phänomene ein exemplarisches Licht auf den gegenwärtigen Zustand des Familienrechts und seine Herausforderungen. Dieses Rechtsgebiet bildete nach der einschlägigen Habilitation bei Hans Jürgen Sonnenberger an der Universität Augsburg (1981) einen Schwerpunkt des wissenschaftlichen Oeuvres des Jubilars in Göttingen ebenso wie ab 1994 an der Ludwig-Maximilians-Universität München, wo er den Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Arbeitsrecht, Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung innehatte. Nachdruck verliehen hat er seinen familienrechtlichen Einsichten aber auch durch ein breites rechtspolitisches Engagement. Den Mitarbeitern des Lehrstuhls von Katharina Lugani, allen voran Herrn Raphael Hillus, sei herzlich für die Hilfe bei der Veranstaltungsorganisation und der formalen Aufbereitung der Manuskripte gedankt. Für die Endredaktion des Tagungsbandes danken wir Louisa Endrös, Michael Guttner und Tobias Wedemeyer am Münchner Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Staatsphilosophie. Der Carl Friedrich von Siemens Stiftung sind wir für die großzügige Ausrichtung der Veranstaltung sehr verbunden. Düsseldorf und München, im Oktober 2018 Prof. Dr. Katharina Lugani, Düsseldorf, und BVR Prof. Dr. Peter M. Huber, Karlsruhe/München

https://doi.org/10.1515/9783110552355-202

VI | Vorwort

Inhaltsübersicht | VII

Internationales Familienrecht und Familienrechtsvergleichung: Neue Herausforderungen durch moderne Familienformen Symposium anlässlich des 75. Geburtstags von Michael Coester

Inhaltsübersicht Inhaltsübersicht Inhaltsübersicht

Inhaltsverzeichnis | IX Autorenverzeichnis | XV Barbara Veit Würdigung | 1

Tagungsbeiträge Matthias Jestaedt Eltern im Rechtssinne: Identität und Differenz des Eltern-Begriffs von GG und BGB | 13 Nina Dethloff Familienrecht in Europa: Gemeinsame Grundlinien der Entwicklung und künftige Herausforderungen | 37 Marina Wellenhofer Gedanken zu einer Reform des Abstammungsrechts | 59 Jens M. Scherpe Moderne Familienformen im englischen Recht | 79 Isabell Götz Brücke an Maschinenraum: Auswirkungen von gesetzlichen Reformen und höchstrichterlicher Rechtsprechung in der Praxis | 95 Tobias Helms Wie viele Eltern verträgt ein Kind? Mehrelternfamilien aus rechtlicher Sicht | 125

VIII | Inhaltsübersicht

Anne Röthel Wie viele Eltern verträgt ein Kind? Konzepte für originäre Mehr-Elternschaft | 129 Sabine Walper Wie viele Eltern verträgt ein Kind? Mehrelternfamilien aus sozialwissenschaftlicher Sicht | 143 Anatol Dutta Jenseits von Ehemann und Ehefrau – Neue Paarbeziehungsregime in den europäischen Güterrechtsverordnungen | 153 Katharina Lugani Beiträge der Güterrechtsverordnungen zur Ausbildung allgemeiner Strukturen des EuIPR | 167 Robert Magnus Einige Überlegungen zu den Zuständigkeits- und Kollisionsnormen der EuGüVO | 187

Inhaltsverzeichnis | IX

Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis

Barbara Veit Würdigung | 1

Tagungsbeiträge Matthias Jestaedt Eltern im Rechtssinne: Identität und Differenz des Eltern-Begriffs von GG und BGB | 13 I. Drei Beobachtungen zum Einstieg | 13 1. Fehlstelle: Verfassungsprägung des Abstammungsrechts | 13 2. Fehlstelle: verfassungsrechtlicher Elternbegriff | 14 3. Begrifflicher Variantenreichtum im Verfassungsrecht | 15 II. Grundrechte und Privatrecht – Verfassung und Gesetz | 16 1. Ohne Lüth … | 16 2. Der Elternvorrang als Paradigma | 17 III. Identitätsthese: Privatrechtsakzessorietät des verfassungsrechtlichen Elternbegriffs | 18 1. Gesetzesakzessorietät der Grundrechtsträgerschaft beim Elterngrundrecht | 18 2. Zweifel an der Tragfähigkeit der Akzessorietätsthese | 19 a) Gewährleistungsdivergenz von Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 GG? | 20 b) (Eltern-)Grundrecht nach Gesetz? | 20 c) Vorschnelle Vermengungen? | 21 d) Rolle und Stellenwert leiblicher Abstammung | 21 e) Fragwürdige Deutung der Karlsruher Judikatur | 22 f) Ein möglicher Gegeneinwand? | 24 IV. Differenzthese: Selbständiger verfassungsrechtlicher Eltern-Begriff | 26 1. Regelfall und strukturprägende Merkmale | 26 2. Zweispurigkeit | 27 V. Unterschiedliche Regelungsanlagen von GG und BGB | 29 1. Enumerativ-taxative versus strukturorientierte Bestimmung | 29 2. Status- versus Modul-Lösung | 30 VI. Konsequenzen divergenter Elternrechts-Regime von GG und BGB | 33 1. Transparenz von Rechtfertigungslasten und -möglichkeiten | 33 2. Das Zwei-Eltern-Gebot als Probierstein | 34

X | Inhaltsverzeichnis

Nina Dethloff Familienrecht in Europa: Gemeinsame Grundlinien der Entwicklung und künftige Herausforderungen | 37 I. Einführung | 37 II. Gemeinsame Grundlinien und Herausforderungen für die Zukunft | 38 1. Europäisches Recht und nationale Rechte | 38 a) Internationales Verfahrens- und Privatrecht im Bereich von Scheidung und Güterrecht | 38 b) Materielles Familienrecht | 39 2. Ehe und Partnerschaft im Wandel | 40 a) Gleichberechtigung der Geschlechter| 40 b) Faktische Lebensgemeinschaften | 42 c) Registrierte Partnerschaften | 43 d) Öffnung der Ehe | 45 3. Neue Formen der Familiengründung | 47 a) Familiengründung und Selbstbestimmung | 47 b) Assistierte Reproduktion | 47 c) Zugang zur Adoption | 48 4. Eltern-Kind-Beziehungen | 49 a) Kindeswohl und Kinderrechte | 50 b) Rechtliche Elternschaft | 51 c) Elternverantwortung | 54 III. Fazit | 57 Marina Wellenhofer Gedanken zu einer Reform des Abstammungsrechts| 59 I. Einführung | 59 II. Der Abschlussbericht des Arbeitskreises Abstammungsrecht | 59 III. Überblick zu den Kernthesen | 60 1. Regelungen zur Samenspende | 60 a) Elternschaftsfeststellung bei Samenspende | 60 b) Besonderheiten bei privater Samenspende | 61 c) Anfechtungsrechte bei Samenspende | 62 2. Statuswechsel kraft „Dreier-Erklärung“ | 63 3. Änderungen bei der Vaterschaftsanerkennung | 64 4. Gleichgeschlechtliche Elternschaft | 65 a) Vorschläge für die (eingetragene) Lebenspartnerschaft | 65 b) Gleichgeschlechtliche Ehe | 66

Inhaltsverzeichnis | XI

Statusunabhängige Abstammungsklärung | 68 a) Anspruch des Kindes gegen den mutmaßlichen genetischen Elternteil | 68 b) Verhältnis von Abstammungsklärung und gerichtlicher Vaterschaftsfeststellung | 69 c) Geltendmachung des Anspruchs ab 16 Jahren | 70 d) Anspruch gegen das Kind | 70 IV. Weitere (fragwürdige) Vorschläge des Arbeitskreises Abstammungsrecht | 70 1. Zuordnung statt Abstammung? | 71 2. Änderungen bei der Vaterschaftsanfechtung | 71 a) Verkürzung der Anfechtungsfrist auf ein Jahr | 71 b) Ausschluss der Anfechtung bei wissentlich „falscher“ Anerkennung | 73 c) Einschränkung des Anfechtungsrechts des Kindes | 74 d) Ausdehnung der Anfechtungsberechtigung des leiblichen Vaters | 76 V. Schluss | 77 5.

Jens M. Scherpe Moderne Familienformen im englischen Recht | 79 I. Anerkennung von Familienformen – Einleitung | 79 II. Einführung der Civil Partnership in 2005 | 80 III. Nichtanerkennung nichtehelicher Lebensgemeinschaften | 82 IV. Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare | 85 1. Geschlechtsneutralität durch Verweis aufs Geschlecht? | 86 2. Diskriminierung von Personen ohne rechtliches Geschlecht | 88 3. Diskriminierung verschiedengeschlechtlicher Paare | 89 V. Fazit | 94 Isabell Götz Brücke an Maschinenraum: Auswirkungen von gesetzlichen Reformen und höchstrichterlicher Rechtsprechung in der Praxis | 95 I. Ehescheidung | 95 II. Einführung und Strukturreform des Versorgungsausgleichs | 96 III. Einführung der Familiengerichte und Verfahrensrechtsreform | 100 IV. Kindschaftsrecht | 104 1. §§ 1626a, 1671 Abs. 2 BGB | 104 2. § 1628 BGB | 106

XII | Inhaltsverzeichnis

3. § 1666 | 107 4. § 1686a BGB | 109 V. Das Wechselmodell | 111 1. Grundsätze | 111 2. Das Wechselmodell im Kindschaftsrecht | 112 3. Das Wechselmodell im Unterhaltsrecht | 114 VI. Das Beste zuletzt | 115 1. Überblick | 115 2. Der Kampf gegen die Kinderehen | 116 3. Missbräuchliche Vaterschaftsanerkennungen | 119 4. Die Ehe für (fast) alle | 119 Resümee | 123 Tobias Helms Wie viele Eltern verträgt ein Kind? Mehrelternfamilien aus rechtlicher Sicht | 125 I. Mehrelternschaft im engeren Sinne | 125 II. Mehrelternschaft im weiteren Sinne | 126 III. Mehrelternschaft als Reformmodell | 128 Anne Röthel Wie viele Eltern verträgt ein Kind? Konzepte für originäre Mehr-Elternschaft | 129 I. Praktiken und Phänomene von Mehr-Elternschaft | 129 II. Mehr-Elternschaft in Recht und Rechtswissenschaft | 131 1. Dogma der Zwei-Elternschaft | 131 2. Wirkungsmacht und Gründe | 132 III. Normative Bezugspunkte für originäre Mehr-Elternschaft | 135 1. Mehr-Elternschaft als verfassungsrechtliche Möglichkeit | 135 2. Mehr-Elternschaft als Regulierungsstrategie | 136 3. Konzepte für nicht-biologisch orientierte Mehr-Elternschaft | 137 a) Elternschaft als verantwortete Entscheidung | 137 b) Elternschaft als innere Erfahrung | 138 Resümee | 140 Sabine Walper Wie viele Eltern verträgt ein Kind? Mehrelternfamilien aus sozialwissenschaftlicher Sicht | 143 I. Einleitung | 143 II. Stieffamilien als Entwicklungskontext | 145

Inhaltsverzeichnis | XIII

III. Bedürfnisse von Kindern | 147 IV. Der breitere Blick auf soziale Elternschaft | 149 V. Fazit | 150 Anatol Dutta Jenseits von Ehemann und Ehefrau – Neue Paarbeziehungsregime in den europäischen Güterrechtsverordnungen | 153 I. Der gesetzliche Definitionsrahmen | 154 1. Eingetragene Partnerschaft | 154 2. Ehe | 156 II. Gleichgeschlechtliche Ehen | 156 III. Exkurs: Polygame Ehen | 161 IV. Formalisierte, aber nicht zwingend einzutragende Partnerschaften | 162 V. Faktische Paarbeziehungen | 163 VI. Fazit | 165 Katharina Lugani Beiträge der Güterrechtsverordnungen zur Ausbildung allgemeiner Strukturen des EuIPR | 167 I. Einleitung | 167 II. Bestätigungen und Verfeinerungen des bisherigen Acquis | 167 III. Neuerungen und Abweichungen vom Acquis | 174 1. Verweis an Mitgliedstaaten für zentrale Elemente des sachlichen Anwendungsbereichs | 175 2. Keine Vorwirkung der Vorschriften über Rechtswahlvereinbarungen | 175 3. Kopplung der mitgliedstaatlichen Formvorschriften für die Rechtswahl an anderen Vereinbarungstypus, Art. 23 Abs. 2–4 i.V.m. Art. 25 EuGüVO | 176 4. Neue Ausformungen des gewöhnlichen Aufenthalts | 177 IV. Fortführung von Defiziten | 179 1. Keine Umstands-/Inhaltskontrolle von Rechtswahlvereinbarungen | 179 2. Schwache Formanforderungen bei der Rechtswahl und keine hinreichende Gewährleistung des informierten Konsenses | 180 3. Vollständiger Ausschluss von Rück- und Weiterverweisungen | 182 4. Einrede fehlende Zustimmung | 182 5. Keine klare Positionierung zur konkludenten Rechtswahl | 183

XIV | Inhaltsverzeichnis

6. Unausgewogene Formvorgaben bei gewöhnlichem Aufenthalt nur eines Ehegatten in einem (teilnehmenden) Mitgliedstaat | 185 V. Fazit | 185 Robert Magnus Einige Überlegungen zu den Zuständigkeits- und Kollisionsnormen der EuGüVO | 187 I. Einleitung | 187 II. Die Zuständigkeitsregelungen der EuGüVO | 188 1. Die Zuständigkeit nach Art. 4 EuGüVO | 189 2. Die Zuständigkeit nach Art. 5 EuGüVO | 191 3. Die Zuständigkeit nach Art. 6 EuGüVO | 192 4. Die Regelung in Art. 9 EuGüVO | 192 III. Die Kollisionsnormen der EuGüVO | 194 1. Die Rechtswahl (Art. 22–24 EuGüVO) | 194 2. Formvorgaben für Vereinbarungen über den ehelichen Güterstand in Art. 25 EuGüVO | 197 3. Die objektive Anknüpfung in Art. 26 EuGüVO | 198 4. Die Regelung zum Schutze Dritter (Art. 28 EuGüVO) | 198 IV. Fazit | 200

Autorenverzeichnis | XV

Autorenverzeichnis Autorenverzeichnis Autorenverzeichnis https://doi.org/10.1515/9783110552355-205 Dr. Nina Dethloff, LL.M., Professorin an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Dr. Anatol Dutta, M. Jur. (Oxford), Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München Dr. Isabell Götz, Vorsitzende Richterin am Oberlandesgericht München, Honorarprofessorin an der Universität Mannheim Dr. Tobias Helms, Professor an der Philipps-Universität Marburg Dr. Katharina Hilbig-Lugani, Professorin an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Dr. Peter M. Huber, Minister a.D., Richter des Bundesverfassungsgerichts, Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München Dr. Matthias Jestaedt, Professor an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau Dr. Robert Magnus, Privatdozent an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Dr. Anne Röthel, Professorin an der Bucerius Law School Hamburg Dr. Dr. Jens M. Scherpe, M.Jur. (Oxon), M.A. (Cantab), Reader in Comparative Law an der University of Cambridge Dr. Barbara Veit, Professorin an der Georg-August-Universität Göttingen Dr. Sabine Walper, Forschungsdirektorin Deutsches Jugendinstitut e.V., München, Professorin an der Ludwig-Maximilians-Universität München Dr. Marina Wellenhofer, Professorin an der Goethe-Universität Frankfurt am Main

https://doi.org/10.1515/9783110552355-205

XVI | Autorenverzeichnis

Würdigung | 1

Prof. Dr. Barbara Veit, Göttingen

Würdigung Barbara Veit Würdigung https://doi.org/10.1515/9783110552355-001

Sehr verehrter, lieber Herr Coester, sehr geehrte, liebe Frau Coester-Waltjen, meine sehr geehrten Damen und Herren, am 10. Juli 1942 regnete es einer Wetterchronik zufolge vielerorts in Deutschland, vermutlich auch in Hannover1. Aber beginnt nicht ein bekanntes Kinderlied aus dem 19. Jahrhundert mit der Feststellung „Es regnet, Gott segnet“? Dass Segen über dem Leben und Wirken unseres Jubilars liegen werde, dürfte an diesem Tag inmitten einer höchst unruhigen Zeit nicht klar gewesen sein. Der Hannoversche Anzeiger vom 10.7.1942 berichtete davon, dass die Deutschen 100 Kilometer vor Alexandrien standen, dass 390 Sowjetpanzer durch deutsche Truppen bei Orel und die letzten Dampfer eines englisch-amerikanischen Geleitzugs im Nordmeer vernichtet worden waren2. Es sollte noch über ein Jahr dauern, bis sich die Alliierten an den verschiedensten Fronten durchsetzen konnten und ein Ende des Krieges in die Nähe rückte. Dabei wurde auch die Garnisonsstadt Hannover schwer getroffen; von den 88 Angriffen, die die Stadt erlebt hat, wurden die schwersten ab Juli 1943 geflogen3, als Michael Coester gerade ein Jahr alt war. Die Sorgen und Nöte seiner Familie lassen sich nur erahnen. Heute kann der Jubilar auf ein segensreiches Leben als Forscher und Hochschullehrer zurückblicken. Nach seinem Abitur im Jahr 1962 und anschließendem Dienst bei der Bundeswehr4 begannen die akademischen Wanderjahre des jungen Kaufmannssohns Michael Coester. Schon früh war sein Weg gesegnet, indem er den richtigen Förderern zur rechten Zeit begegnete. So traf der junge Assessor nach seinem Studium in Freiburg auf seinen späteren Doktorvater Manfred Löwisch, blieb aber nicht an seiner Alma mater, sondern ging zunächst nach Celle, wo er sich als Rechtsanwalt niederließ. Doch schon nach einem Jahr wechselte er an die Universität zurück: nach Augsburg auf die Stelle eines wissenschaftlichen

_____ 1 Chroniknet, 10.7.1942 – Historisches Wetter, abrufbar unter https://chroniknet.de/extra/ historisches-wetter/?wetter-datum=10.7.1942, zuletzt abgerufen am 6.10.2017. 2 Hannoverscher Anzeiger v. 10.7.1942, S. 1. 3 Wikipedia, Luftangriffe auf Hannover, abrufbar unter https://de.wikipedia.org/wiki/Luftan griffe_auf_Hannover, zuletzt abgerufen am 6.10.2017. 4 Willutzki, ZKJ 2012, 261. https://doi.org/10.1515/9783110552355-001

2 | Barbara Veit

Mitarbeiters. Hier schloss er seine Doktorarbeit über das Vorrangprinzip des Tarifvertrags ab. Er traf auf Hans Jürgen Sonnenberger und Peter Schlosser, die ihn für die wissenschaftliche Laufbahn begeistern konnten. Aber nicht nur das. Auch für seine Kollegin, die wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Peter Schlosser war, konnte er sich begeistern; die beiden heirateten und gingen nach der Promotion zunächst für ein Jahr an die University of Michigan nach Ann Arbor, kehrten dann aber nach Erlangung des Master of Laws nach Augsburg zurück. Hier habilitierte sich Michael Coester im WS 1981/82, gefördert mit einem Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Es folgten erneut Wanderjahre. Nach einer kurzen Vertretungsprofessur in Augsburg wechselte er auf eine Professur für Bürgerliches Recht und Wirtschaftsrecht nach Göttingen an die Georg-August-Universität. Er lehrte und forschte dort, bis ihn 1994 ein Ruf an die Münchener Ludwig-Maximilians-Universität auf einen Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Arbeitsrecht, Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung erreichte. Die Entscheidung für München war nicht nur für ihn und seine Familie ein Segen, ging doch endlich eine elfjährige Pendelei zu Ende. Vielmehr durfte auch ich als junge Privatdozentin davon profitieren und die Vakanz in Göttingen ausfüllen. Wer Michael Coester begegnet, trifft auf einen vornehmen, zurückhaltenden, freundlichen Menschen, der Neuem gegenüber stets aufgeschlossen ist, vielleicht mit einer Einschränkung: Die modernen Medien, das Internet sind (noch) nicht seine Welt; auf der Homepage der LMU München findet sich nur der Eintrag: „Michael Coester. Entpflichteter Professor.“ Aber ich will sagen: „noch nicht“ – denn immerhin wies er mich vor nicht allzu langer Zeit auf die Vorteile von „WhatsApp“ hin. Dass die Nutzung dieses Programms aber gerade für Kinder auch seine Gefahren birgt, dessen ist er sich natürlich als Kindesschutzrechtler ebenso bewusst. Lieber Herr Coester, ich bin deshalb schon jetzt sehr gespannt auf Ihre Kommentierung zur Frage, ob die etwa vom AG Bad Hersfeld5 genannten potentiellen Haftungsrisiken bereits eine Kindeswohlgefährdung darstellen und den Staat zum Eingriff in die elterliche Sorge berechtigen oder nicht. 1. Damit bin ich auch schon mitten im Kindschaftsrecht, einem der zentralen Forschungsgebiete des Jubilars. Sein produktives Wirken über inzwischen mehr als 40 Jahre hat in der akademischen Fachwelt ebenso wie in der Rechtspraxis tiefgehende Spuren hinterlassen. Das Symposium zu seinen Ehren ist eine Gelegenheit, eine kleine Bilanz zu ziehen. Das Oeuvre von Coester ist weit ge-

_____ 5 AG Bad Hersfeld FamRZ 2016, 2114; ZKJ 2017, 282; FamRB 2017, 301.

Würdigung | 3

spannt – vom Bürgerlichen Recht über das Arbeitsrecht bis hin zum Internationalen Privatrecht und der Rechtsvergleichung. Auf einem Vorhaben, das gesamte Werk zu würdigen, läge meines Erachtens von vornherein mehr Fluch denn Segen, und es wäre auch in mehrfacher Hinsicht auf eine unmögliche Leistung gerichtet. Vielmehr will ich mich im Schwerpunkt auf das Familienrecht und dabei auf das Kindschaftsrecht konzentrieren. Selbst diese Beschränkung ist allerdings nichts für Zartbesaitete, geht es doch en passant um Schwarze Riesen, Demarkationslinien, die gezogen werden müssen, sowie Schutzschilder. Aber dazu später. Die Habilitationsschrift unseres Jubilars mit dem Titel „Das Kindeswohl als Rechtsbegriff“ entstand in einer Zeit, in der unter anderem heftig darüber diskutiert wurde, wie viel Autonomie Eltern nach dem Zerfall ihrer Familiengemeinschaft zur Regelung ihrer Sorgerechtsverhältnisse verbleiben sollte und inwieweit der Staat diese Frage regeln müsse6. Der Gesetzgeber hatte die Regelung der Nachscheidungssorge dem Richter überantwortet (§ 1671 Abs. 1 BGB a.F.) und übereinstimmenden Elternvorschlägen zwar ein gewisses Gewicht eingeräumt (§ 1671 Abs. 3 BGB a.F.). Er hat sich mit dem Sorgerechtsgesetz jedoch noch einmal deutlich gegen die Möglichkeit positioniert, den Eltern nach ihrer Scheidung die gemeinsame Sorge zu belassen (§ 1671 Abs. 4 BGB a.F.). Das BVerfG hat diese Beschränkung bekanntlich für nichtig erklärt, lag darin doch ein unzulässiger Eingriff in die Elternautonomie nach Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG, die nicht nur in einer intakten Familiengemeinschaft gilt, sondern gerade dann gefordert ist, wenn diese zerfällt7. Den Vorgaben des BVerfG folgten viele Jahre zähen und emotionalen Ringens um die Neugestaltung des Kindschaftsrechts. Genau in diese Zeit fällt die Habilitationsschrift von Coester zur „richterliche(n) Entscheidung über die elterliche Sorge nach Zerfall der Familiengemeinschaft“, wie die Arbeit im Untertitel lautet, in der er sich eingehend mit der von ihm sog. „Demarkationslinie“8 zwischen Eltern- und Staatsverantwortung für die Interessen des Kindes nach der Scheidung der Eltern auseinandersetzt und dazu beiträgt, dass der Gesetzgeber 1997/98 der Elternautonomie größeren Spielraum einräumen werde9. Ebenso wie das BVerfG sieht er die Kompetenz des Richters, über das Sorgerecht zu entscheiden und damit in die Elternauto-

_____ 6 Coester-Waltjen ZRP 1977, 177 ff.; Diederichsen, FamRZ 1978, 461, 473; zum Streitstand Coester, Das Kindeswohl als Rechtsbegriff, 1983, S. 287 ff. 7 BVerfG, FamRZ 1982, 1179. 8 Coester, Das Kindeswohl als Rechtsbegriff, 1983, S. 136; ders. FamRZ 1996, 1181; ders. EuGRZ 1982, 256, 262; Kinderrechtekommission des Deutschen Familiengerichtstags FamRZ 2014, 1157, 1161. 9 So selbst Coester, FamRZ 1996, 1181, 1182.

4 | Barbara Veit

nomie einzugreifen, im Zerfall der Familiengemeinschaft selbst10. Damit sei die Gefahr verbunden, dass die Eltern infolge ihres Paarkonflikts ihre Aufgabe, für das Kind ein „(Schutz-)Schild“ vor schädlichen Auswirkungen zu sein, aus den Augen verlieren11. Um diese Gefahr zu bannen, obliege dem Staat nicht nur die Aufgabe, streitschlichtend tätig zu werden12, sondern auch Elternvereinbarungen daraufhin zu kontrollieren, ob den spezifischen Bedürfnissen des Kindes Rechnung getragen wurde oder nicht13. Während das BVerfG diese richterliche Einzelfallkontrolle aber für ausreichend hielt14, sah Coester den Gesetzgeber in der Pflicht, die Voraussetzungen festzulegen, unter denen eine von Eltern autonom vereinbarte gemeinsame Sorge (ausnahmsweise) ein „funktionierendes und kindeswohlfreundliches Arrangement“ darstelle15. Zudem müsse der Staat die Eltern fördern und in die Lage versetzen, eine kindeswohlorientierte autonome Problemlösung für die Nachscheidungssituation zu finden16. Mit dem Kindschaftsrechtsreformgesetz von 1997/98 hat der Gesetzgeber der Elternautonomie zwar größere Gestaltungsspielräume als zuvor eingeräumt – man denke nur an die Möglichkeit von nicht miteinander verheirateten Eltern, durch Sorgeerklärungen in die gemeinsame Sorge zu gelangen (§ 1626a Abs. 1 Nr. 1 BGB), oder von gemeinsam sorgeberechtigten Eltern, nach der Trennung Vereinbarungen über den Sorgestatus zu treffen, an die das Gericht vorbehaltlich einer Kindeswohlgefährdung gebunden ist (§ 1671 Abs. 1 S. 2 Nr. 1, Abs. 4 BGB)17. Gerade mit letztgenannter Möglichkeit18 hat sich der Gesetzgeber freilich aus der ihm obliegenden Schutzfunktion für das Kindeswohl nach einer Trennung oder Scheidung stark – vielleicht zu stark?19 – zurückgezogen, ohne in ausreichendem Maße die Grundlagen und Grenzen der elterlichen Autonomie zu strukturieren. Dies wäre aber erforderlich gewesen, damit die Eltern auto-

_____ 10 BVerfG FamRZ 1982, 1179, 1182. 11 Coester, Das Kindeswohl als Rechtsbegriff, 1983, S. 140. 12 Coester, Das Kindeswohl als Rechtsbegriff, 1983, S. 140. 13 Coester, Das Kindeswohl als Rechtsbegriff, 1983, S. 295. 14 BVerfG, FamRZ 1982, 1179, 1182 ff. 15 Während Coester zunächst noch vom Ausnahmefall der Anerkennung einer kindgerechten Sorgevereinbarung ausging (EuGRZ 1982, 262; Das Kindeswohl als Rechtsbegriff, 1983, S. 319), betonte er später mit dem BVerfG die Vermutung bester Kindeswohlwahrung durch Sorgevereinbarungen der Eltern (FamRZ 1996, 1181, 1186). 16 Coester, Das Kindeswohl als Rechtsbegriff, 1983, S. 319 f. 17 Coester, in: Staudinger, Neubearbeitung 2016, § 1671 Rn. 65. 18 Weitere Unzulänglichkeiten finden sich etwa in § 1687 BGB, dazu Coester, DEuFamR 1999, 1, 9. 19 Coester, DEuFamR 1999, 1, 10.

Würdigung | 5

nom und flexibel den Wechsel von der Alleinsorge in die gemeinsame Sorge und umgekehrt herbeiführen oder die Ausgestaltung der gemeinsamen Sorge beeinflussen können20. Der Mannschaft des „Schwarzen Riesen“– ein Zitat von unserem Jubilar – ist es also nicht gelungen, „Art. 6 Abs. 2 GG vom Grauschleier überkommenen Vorverständnisses reinzuwaschen“21. Schon früh beschäftigte sich Coester auch mit dem Rollenverhältnis beider Eltern in einer Familie. So widerlegte er nicht nur die Tauglichkeit des Kriteriums eines sog. „Muttervorrangs“ für kleine Kinder bei der Entscheidung des Richters über die Nachscheidungssorge22. Vielmehr fordert er seit Jahren die Verbesserung der Rechtsstellung des nichtehelichen Kindesvaters und kämpft seit dessen grundsätzlicher Anerkennung als Träger des Elternrechts aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG durch das BVerfG23 für die gesetzliche Zuweisung eines gemeinsamen Sorgerechts an beide rechtlichen Eltern, ohne Ansehung ihres Familienstands, des Zusammenlebens oder sonstiger Umstände24. Die 2013 geschaffene Möglichkeit von nicht miteinander verheirateten Eltern, auch gegen den Willen des anderen mithilfe des Gerichts in die gemeinsame Sorge zu gelangen (§ 1626a Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 BGB) kann nach diesem Ansatz noch nicht das letzte Wort des Gesetzgebers in dieser Sache sein25. Alle Beiträge des Jubilars, und zwar nicht nur die zum Kindschaftsrecht, zeichnen sich durch Originalität, höchste Aktualität, scharfsinnige Argumentation und sprachliche Brillanz aus. Er versteht es meisterhaft, komplizierte juristische Zusammenhänge zu analysieren, auf Kernaussagen zurückzuführen und hieraus Neues zu entwickeln. Eine von ihm sehr geschätzte Publikationsform ist zweifelsohne die Kommentierung. Allerdings ist auffällig, dass er sich vertraglich nur zu den Werken dieses Genres verpflichtet hat, die genügend Raum für eigene Ideen lassen. Seine Kommentierungen26 genügen höchsten Maßstäben.

_____ 20 Coester, FamRZ 1996, 1181, 1186; ders. RdJB 1996, 430, 432; ders. DEuFamR 1999, 3, 9 f.; s. auch DFGT FamRZ 1997, 337, 338. Genau diese Strukturschwäche des neuen Kindschaftsrechts erschwert etwa auch die zurzeit vieldiskutierte Etablierung des sog. Wechselmodells (Kinderrechtekommission des Deutschen Familiengerichtstags FamRZ 2014, 1157, 1166), einer Form der gemeinsamen Sorgeausübung, deren Chancen, aber auch Gefahren Coester früh in die Diskussion um ein gemeinsames Sorgerecht in Deutschland einfließen ließ (EuGRZ 1982, 256 ff.) und die ihn bis heute beschäftigen (FamRZ 2017, 584). 21 Coester, FamRZ 1996, 1181, 1182. 22 Coester, Das Kindeswohl als Rechtsbegriff, 1983, S. 449 ff. 23 BVerfG FamRZ 2003, 816. 24 Coester, JZ 1992, 809 ff.; ders. FamRZ 1995, 1245; ders. FamRZ 2007, 1137. 25 Coester, in: Staudingers Kommentar zum BGB, Neubearbeitung 2015, § 1626a Rn. 4; ders. FamRZ 2012, 1337, 1338, 1343; ders. FamRZ 2007, 1137 ff. 26 §§ 1666–1683, 1693 BGB; seit 2002 die §§ 1626a–e, 1629a BGB.

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Dies gilt im Staudinger nicht nur für seine Ausführungen zum Kindschaftsrecht, sondern auch für die zum Recht der allgemeinen Geschäftsbedingungen. Immer aufs Neue zeigt Coester, wie meisterhaft er die rechtstheoretische Analyse und methodische Strukturierung von Generalklauseln – in § 307 BGB sind es „die Gebote von Treu und Glauben“ – beherrscht. Inzwischen ist er auch Herausgeber verschiedener Bände des Staudinger27. 2. Meine Damen und Herren, wenn man sich überlegt, wieso die Arbeit eines Rechtswissenschaftlers ein Segen ist, dann geht es nicht nur um den Einfluss auf wissenschaftliche und dogmatische Entwicklungen. Es geht ebenso auch um die Fähigkeit, aus dem akademischen Elfenbeinturm herauszutreten und so für Gesetzgebung und Rechtspraxis etwas zu bewirken. Der Jubilar scheute nie die sachliche Auseinandersetzung mit der Rechtspraxis und pflegte stets den interdisziplinären Diskurs. Als Vertreter des Deutschen Familiengerichtstags erarbeitete er mit Sachverständigen anderer Fachdisziplinen an einem sog. „Runden Tisch“ Empfehlungen für einen verbesserten Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexuellem Missbrauch und Gewalt 28 . Beim Deutschen Familiengerichtstag hatte er darüber hinaus wiederholt Gelegenheit, die Rechtsentwicklung durch Stellungnahmen zu Gesetzesvorhaben und Verfassungsbeschwerden aktiv mitzugestalten, sei es als Mitglied des Vorstands oder der Kinderrechtekommisson. Seit nunmehr sieben Jahren leitet er diese interdisziplinäre Kommission mit großem Geschick und Engagement. 3. Eine Würdigung wäre ohne die internationale Dimension des wissenschaftlichen Werks von Michael Coester unvollständig. Die Berücksichtigung ausländischen Rechts kennzeichnet sein wissenschaftliches Wirken nicht erst seit seiner Habilitationsschrift, die er rechtsvergleichend angelegt hat29, sondern bereits seit den 70er Jahren30. Im Kollisionsrecht interessieren ihn die Stellung von Eingriffsnormen31 ebenso wie etwa die höchst aktuellen Art. 13 und 17b EGBGB, die er mit großer Sachkunde im Münchener Kommentar zum BGB kommentiert.

_____ 27 Staudinger, §§ 1297–1352; §§ 1353–1362; §§ 1589–1600d; §§ 1616–1625; §§ 1626–1633, RKEG; §§ 1638–1683; §§ 1773–1895; §§ 1896–1921; LPartG. 28 Runder Tisch „Sexueller Kindesmissbrauch“, Abschlussbericht, abrufbar unter http:// www.bmjv.de/SharedDocs/Downloads/DE/Fachinformationen/Abschlussbericht_RTKM.pdf?_ _blob=publicationFile, zuletzt abgerufen am 6.10.2017. 29 Coester, Das Kindeswohl als Rechtsbegriff, 1983, S. 9 ff. 30 Coester, RdA 1976, 282 ff.; ders. ZBlJR 1976, 177 ff. 31 Coester, ZVglRWiss 82 (1983), 1 ff.

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Beide Regelungen wurden jüngst novelliert32, und man kann nur ansatzweise erahnen, welche Arbeit auf einen Kommentator zurollt, wenn ein Gesetz im Juli verabschiedet wird und der Verlag die Drucklegung für die Neuauflage für September desselben Jahres plant. Es ist kaum zu glauben, aber aus gut unterrichteter Quelle wurde mir zugetragen, dass eine fundierte Kommentierung zum neuen Art. 17b EGBGB bereits vorliegt, und es steht angesichts der Schaffenskraft des Jubilars zu erwarten, dass die Überarbeitung von Art. 13 EGBGB ebenfalls nicht lange auf sich warten lassen wird33. Sein Interesse am ausländischen Recht zeigt der Jubilar aber nicht nur in seinen Publikationen. Vielmehr hat er über Jahre hinweg wissenschaftliche Beziehungen zu ausländischen Forschern aufgebaut und gepflegt. Schon während seiner Augsburger Zeit, aber auch als er mit seiner Familie ins beschauliche Pullach im Isartal nahe München gezogen war, zog es ihn immer wieder in die Welt. Gastprofessuren führten ihn nach Oxford und London, Ann Arbor, Michigan, Venedig, Nanjing und Peking sowie Kaliningrad und Tel Aviv. Zudem war er an verschiedenen internationalen Kooperationsprogrammen beteiligt34. 4. Verehrte Gäste, wenn wir darüber nachdenken, wieso das Wirken unseres Jubilars segensreich war und ist, so dürfen auch die Lehre und die Gremienarbeit sowie die zwischenmenschlichen Beziehungen nicht fehlen. Zum WS 1982/83 wurde der Jubilar erstmals handschriftlich in unserem Göttinger Vorlesungsverzeichnis mit den Vorlesungen BGB Allgemeiner Teil, BGB Übung für Vorgerückte und Wertpapierrecht geführt35. Als Hochschullehrer, so wurde mir berichtet, zeichnete sich Michael Coester durch sein besonderes didaktisches Geschick aus. Die Studierenden wussten seine klare Präsentation dogmatischer Strukturen und die Vermittlung von deren Wert und Bedeutung zu schätzen. Davon zeugen auch seine zahlreichen Beiträge in Ausbildungszeitschriften zu verschiedensten klausur- und examensrelevanten Themen36. Er

_____ 32 Art. 13 EGBGB im Zuge des Gesetzes zur Bekämpfung von Minderjährigenehen und Art. 17b EGBGB durch das neue europäische Kollisionsrecht (Coester, IPRax 2013, 114 ff.) und das Gesetz zum Internationalen Erbrecht (BGBl. 2015 I, 1042) sowie das Gesetz zur Einführung des Rechts auf Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts (BGBl. 2017 I, 2787). 33 Trotz paralleler aktueller Publikationen zu dieser Norm aus der Feder des Jubilars, s. FamRZ 2017, 77 ff.; ZKJ 2017, 8 ff.; StAZ 2016, 257 ff. (betr. Kinderehen). 34 Näher Streinz, FF 2017, 309, 310. 35 Zuletzt tauchte er im Vorlesungsverzeichnis zum WS 1994/95 mit den Vorlesungen Internationales Privatrecht, Grundzüge des Erbrechts und zivilrechtliches Seminar auf. 36 Z.B. Fragen des Leistungsstörungsrechts (Coester, Jura 2005, 251 ff.); Inhaltskontrolle von Arbeitsverträgen (ders. Jura 2005, 251 ff.), Neuerungen im Betreuungsrecht (ders. Jura 1991, 1 ff.; 2008, 594 ff.) und Verbraucherschutzrecht (Jura 1992, 617 ff.).

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wurde in Göttingen sogar mit dem sog. „Pütter“, dem damals vergebenen Lehrpreis für die beste Vorlesung37, ausgezeichnet. Auch in München engagierte er sich in besonderem Maß für die Lehre und tut dies auch heute noch38. Von seinem stillen, aber beharrlichen Arbeiten an der Sache profitierte auch die Fakultät. Kollegen aus seiner Göttinger Zeit berichten von seiner besonderen Kollegialität und Fähigkeit, Streit zu schlichten. Er sei zwar immer auf dem Sprung gewesen, hierunter habe – anders als bei einigen der jüngeren „Pendlergeneration“ – sein Einsatz für die Fakultät aber ebenso wenig gelitten wie der Austausch und das gesellige Zusammensein bei gutem Wein und schönem Essen. 1992/93 übernahm er die Bürde des Dekanats, die alle Angelegenheiten umfasste – von Studienangelegenheiten über Finanzen bis hin zu Außenvertretungen. Er war zudem zeitweise Gleichstellungsbeauftragter der Göttinger Fakultät und setzte sich in dieser Eigenschaft nicht nur für eine Verbesserung der Situation der Studentinnen, sondern – was für die damalige Zeit äußerst fortschrittlich war, mit Blick auf sein wissenschaftliches Wirken freilich nicht verwundert – auch für die Gleichbehandlung von Männern ein, etwa bei der Einrichtung eines Wickelraums. Die Ämter als Studiendekan und Prodekan sowie Senator folgten später an der LMU39 – was ebenso wenig verwundert bei einer Persönlichkeit mit besonders integrativer Fähigkeit. Das Wirken unseres Jubilars war aber auch für mich selbst von großer Bedeutung. Ich bin zwar nicht durch die „Coestersche Schule“ gegangen; vielmehr bin ich nur die Nachfolgerin auf seiner Professur in Göttingen. Jedoch habe ich durch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit seinem Werk sowie der Zusammenarbeit mit ihm in der Kinderrechtekommission sehr viel von ihm gelernt. Ich kann mich noch gut an unsere erste persönliche Begegnung in Regensburg anlässlich der Festschriftsübergabe an Dieter Schwab (2005) erinnern. Dort kam plötzlich ein großer, schlanker Herr auf mich zu und sagte: „Entschuldigen Sie. Ich möchte mich gerne kurz vorstellen. Coester ist mein Name. Ich wollte einfach mal die Frau kennenlernen, die mich immer wieder, wenn ich ihre Kommentierung lese, zum Grübeln bringt, ob ich wirklich Michael oder eher August Andreas heiße.“ Zugegebenermaßen habe ich mich immer gerne mit seiner Ansicht auseinandergesetzt und ihn mit „a.A.“ zitiert.

_____ 37 Benannt nach Johann Stephan Pütter, einem Göttinger Staatsrechtslehrer aus der Zeit der Aufklärung († 1807). 38 So ist er etwa in das von seiner Frau begründete Münchener Hochschul-Sommer-Training im deutschen und europäischen Recht (MUST – Munich University Summer Training in German and European Law) für junge Anwälte und Jurastudierende eingebunden. 39 Streinz, FF 2017, 309, 310.

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5. Lassen Sie mich zum Schluss kurz die Perspektiven vertauschen: Was hat Michael Coester im Laufe der Jahre als Segen empfunden? Das könnte natürlich er selbst am besten beantworten. Aber man darf gewisse Vermutungen anstellen: Wissenschaftlich waren es wohl seine akademischen Lehrer, aber sicher auch der wissenschaftliche Austausch und die persönliche Begegnung mit vielen Kollegen und Freunden im In- und Ausland. Ganz besonders wichtig war und ist ihm die Familie. Mit seiner Frau teilt er nicht nur viele wissenschaftliche Interessen und Publikationen40. Vielmehr verrät sie uns auch im Vorwort zum größten deutschen Familienrechtslehrbuch ganz beiläufig, dass es gerade dem Jubilar zu verdanken sei, dass das eigene Schiffchen „Familie“ weiterhin auf hoher See steuere41. Lieber, verehrter Herr Coester, nach meiner Einschätzung ist es wirklich ein Segen, dass es Sie gibt. Ihr wissenschaftliches Wirken ist noch keineswegs abgeschlossen. Ihre Schaffenskraft scheint ungebrochen; man hat sogar den Eindruck, dass sie seit Ihrer Emeritierung stets im Wachsen begriffen ist42. Möge es noch lange so bleiben, das wünsche ich Ihnen von Herzen.

_____ 40 Coester-Waltjen/Coester, Int.Enc.Comp.L. IV, 1997, ch. 3; dies. FS Brudermüller, 2014, S. 73 ff. 41 Gernhuber/Coester-Waltjen, Familienrecht, 6. Aufl. 2010, S. VI. 42 Budzikiewicz, FamRZ 2017, 1123.

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Tagungsbeiträge

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Prof. Dr. Matthias Jestaedt, Freiburg i.Br.

Eltern im Rechtssinne: Identität und Differenz des Eltern-Begriffs von GG und BGB Eltern im Rechtssinne Matthias Jestaedt https://doi.org/10.1515/9783110552355-002

I. Drei Beobachtungen zum Einstieg Es spricht für sich, dass der im engeren Sinne wissenschaftliche Teil des Symposions zu Ehren eines richtigen Familienrechtlers und zu einer familienrechtlichen Thematik mit einem verfassungsrechtlichen Beitrag anhebt. Das ist alles andere als selbstverständlich. Und das lässt sich, so meine ich, recht eindrucksvoll zeigen an einer im Kern familienrechtlichen Themenstellung, die mich schon lange umtreibt und die mich – nicht zuletzt im Arbeitskreis Abstammungsrecht, der im Sommer diesen Jahres seinen Abschlussbericht vorgelegt hat1 – mit einigen von Ihnen zusammengeführt hat. Im Folgenden soll es um die Frage gehen, wer im Rechtssinne Eltern eines Kindes sind, genauer: darum, ob und wieweit der Elternbegriff des Grundgesetzes sich mit jenem des Bürgerlichen Gesetzbuchs deckt oder nicht. Lassen Sie mich den systematisch angelegten Überlegungen drei knappe Beobachtungen vorwegschicken: #

1. Fehlstelle: Verfassungsprägung des Abstammungsrechts Es fällt, erstens, auf, dass privatrechtsdogmatische Ausarbeitungen zum familienrechtlichen Elternbegriff – gemeint ist der Begriff der Eltern nach Maßgabe des Vierten Buches des BGB (§§ 1591 ff.) – ganz überwiegend ohne verfassungsrechtliche Bezugnahmen auskommen. Insbesondere sucht man weithin vergeblich danach, dass etwa in (Groß-)Kommentierungen die Bestimmungen der §§ 1591 ff. BGB an einem dem Bürgerlichen Recht vorausliegenden verfassungs-

_____ 1 BMJV, Arbeitskreis Abstammungsrecht, Abschlussbericht: Empfehlungen für eine Reform des Abstammungsrechts, 2017 (abrufbar unter: https://www.bmjv.de/SharedDocs/Downloads/ DE/Artikel/07042017_AK_Abstimmung_Abschlussbericht.pdf?__blob=publicationFile&v=4 [Abrufdatum: 6.12.2017]).

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Hinweis: Erweiterte und mit Anmerkungen versehene Vortragsfassung. https://doi.org/10.1515/9783110552355-002

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rechtlichen Elternbegriff gemessen werden. So offenbart sich diese Fehlstelle namentlich bei den den konkreten gesetzesrechtlichen Einzelregelungen (Legaldefinitionen) vorangestellten Überlegungen zu den Leitkriterien der Abstammungsfestlegung durch den BGB-Gesetzgeber. Als paradigmatisch mögen insofern, um nur drei ganz prominente Beispiele der familienrechtsdogmatischen Literatur heranzuziehen, das Familienrechtslehrbuch von (Joachim Gernhuber und) Dagmar Coester-Waltjen,2 die Kommentierung des Abstammungsrechts von Marina Wellenhofer im „Münchener Kommentar“3 und schließlich das große Juristentagsgutachten des letzten Jahres aus der Feder von Tobias Helms4 gelten.

2. Fehlstelle: verfassungsrechtlicher Elternbegriff Das darf aber nicht vorschnell als eine Familienrechtswissenschafts-Schelte seitens eines Verfassungsrechtlers missverstanden werden. Dies, zweitens, schon deshalb nicht, weil die Verfassungsrechtsdogmatik ihrerseits, um es vorsichtig auszudrücken, sparsam ist mit Hinweisen auf einen über die Einzelkonstellation hinausgehenden Inhalt des in Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG verwendeten Verfassungsbegriffs „Eltern“.5 Allen voran hat sich das Bundesverfassungsgericht,

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2 Gernhuber/Coester-Waltjen, Familienrecht, 6. Aufl. 2010, §§ 51–53, S. 583 ff. 3 Wellenhofer, in: Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 7. Aufl. 2017, Vorbem. zu §§ 1591 ff.; ohne Bezugnahmen auf Art. 6 Abs. 2 GG kommt etwa auch aus: Rauscher, in: J. von Staudingers Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch mit Einführungsgesetz und Nebengesetzen, Neubearb. 2011, Vorbem. zu §§ 1591 ff. 4 Helms, Rechtliche, biologische und soziale Elternschaft – Herausforderungen durch neue Familienformen, Gutachten F, in: Ständige Deputation des Deutschen Juristentages (Hrsg.), Verhandlungen des 71. Deutschen Juristentages Essen 2016, 2016, S. F 9 f., F 11 ff. 5 Vgl. stellvertretend: Umbach, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), MAK-GG, Bd. I, 2002, Art. 6 Rn. 73; Stern, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/1, 2006, § 100 VIII 9 (S. 525 –536); Höfling, Elternrecht, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 3. Aufl., Bd. VII, 2009, § 155 Rn. 68–75; Robbers, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 6. Aufl. 2010, Art. 6 Abs. 2 Rn. 163–181; Brosius-Gersdorf, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 6 Rn. 146–150; Christian von Coelln, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, 7. Aufl. 2014, Art. 6 Rn. 54–56; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 14. Aufl. 2016, Art. 6 Rn. 46 f.; Uhle, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK Grundgesetz, 33. Edition (Stand: 1.6.2017), Art. 6 Rn. 58 f. – Weitergehende systematische Überlegungen aus der Kommentar- und Handbuchliteratur aber namentlich bei Burgi, Elterliches Erziehungsrecht, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. IV, 2011, § 109 Rn. 8–16; Coester-Waltjen, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, Bd. 1, 6. Aufl. 2012, Art. 6 Rn. 70–74; Badura, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz/Herde-

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seiner mittlerweile langjährigen, dichten und weitverzweigten Rechtsprechung zum Elterngrundrecht zum Trotze, nie wirklich zu einer über einzelne Fallkonstellationen hinausgehenden und sie abstrahierend zusammenfassenden Definition, wer Eltern/Elternteil im Sinne von Art. 6 Abs. 2 GG ist, durchringen können.6 Noch nicht einmal hat es konsequent den Weg eingeschlagen, den es für die in Art. 6 Abs. 1 GG gewährleistete Ehe gegangen ist, nämlich die Determinationskraft des Verfassungsbegriffs durch eine Zusammenstellung der verfassungskräftig gewährleisteten Strukturmerkmale des Elternbegriffs zu umschreiben.7

3. Begrifflicher Variantenreichtum im Verfassungsrecht Soweit schließlich – dritte Vorbemerkung – ein Bemühen da ist, den familienund den verfassungsrechtlichen Elternbegriff zueinander in Bezug zu setzen, begegnet man einem – neutral formuliert – außerordentlichen Reichtum begrifflicher Varianten, der leicht Verwirrung stiften kann – und das nicht nur beim Leser, sondern bisweilen sogar beim Verwender. So kann man in der in puncto Eltern-Begriff des Grundgesetzes wohl ausführlichsten Entscheidung des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts, jener zur Rechtsstellung des mutmaßlichen leiblichen, aber nicht rechtlichen Vaters aus dem Jahre 2003, lesen von den „rechtlichen Eltern“, von der „rechtlichen Stellung als Eltern“, vom „Elternbegriff“, vom „Elternrecht“, von der „Elternschaft“, von der „leiblichen und rechtlichen Elternschaft“, von der „Elternverantwortung“, von der „elterlichen Rechtsposition“, von der „grundrechtlich geschützten Elternposition“, von der „Trägerschaft des Elternrechts“, vom „Träger des Elternrechts“ und von der „Grundrechtsträgerschaft“ gemäß Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG.8 Es darf gewiss davon ausgegangen werden, dass nicht alle zwölf Wendungen sei es vollauf Identisches, sei es vollauf Unterschiedliches bezeichnen. Aber welche Begriffe werden als Synonyma eingesetzt und verstanden und welche sind davon abzu-

_____ gen/Klein (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, Stand: 81. Erg.-Lfg. September 2017, Art. 6 Abs. 2, 3 (Stand: 69. Erg.-Lfg. Mai 2013) Rn. 99–102. 6 Beispielhaft darf insoweit auf die Ausführungen des BVerfG in seinem Urteil vom 19.2.2013, welches das Verbot der Sukzessivadoption für in einer Eingetragenen Lebenspartnerschaft lebenden Personen aufgehoben hat, hingewiesen werden: BVerfGE 133, 59, 77–82, Rn. 47–59 – Sukzessivadoption. 7 Für die Ehe vgl. pars pro toto: BVerfGE 105, 313, 345 – Lebenspartnerschaft. 8 Vgl. BVerfGE 108, 82, 99–111 (bes. 99–104) – Mutmaßlicher leiblicher, aber nicht rechtlicher Vater.

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grenzen? Welche Termini sollen verfassungsrechtliche Phänomene beschreiben, und welche Wendungen gelten demgegenüber gesetzesrechtlichen, nämlich bürgerlichrechtlichen Sachverhalten? Der terminologische Variantenreichtum ist unter diesen Umständen kein Gewinn und trägt, um es vorsichtig auszudrücken, nicht gerade zur Klärung des Verhältnisses von Eltern im bürgerlichrechtlichen und Eltern im verfassungsrechtlichen Sinne bei. Auch hier sehe ich insbesondere die Verfassungsrechtslehre und die Verfassungsrechtsprechung in einer – bislang nur recht unzureichend erfüllten – Bringschuld.

II. Grundrechte und Privatrecht – Verfassung und Gesetz 1. Ohne Lüth … Damit ist das Terrain für unsere weiteren Überlegungen bereitet. Allerdings ist zuvor noch ein Hindernis aus dem Weg zu räumen: nämlich, dass es sich bei unserer Frage nach der Beziehung von bürgerlich- und verfassungsrechtlichem Elternbegriff von vornherein um eine question mal posée handele, da Privatrecht und Verfassungsrecht in keinerlei Beziehung zueinander stünden. Just aus dem Kreise der Familienrechtslehrer war – zumindest noch bis in die jüngere Vergangenheit hinein – die These zu vernehmen, dass ohne das berühmte, manche meinen: berüchtigte Lüth-Urteil,9 das bald seinen sechzigsten Geburtstag feiert, das Grundgesetz und das BGB noch heute in der friedlichen Koexistenz wechselseitiger Nichtintervention lebten.10 Das Lüth-Urteil also als Sündenfall. Man mag zum Lüth-Urteil und der von ihm propagierten Ausstrahlungswirkung der Grundrechte auf die Rechtsordnung im Übrigen in seiner historischen wie in seiner aktuellen Dimension stehen, wie man will:11 Dass mit ihm die Di-

_____ 9 BVerfGE 7, 198 ff. – Lüth. 10 Exemplarisch: Diedrichsen, Die Rangverhältnisse zwischen den Grundrechten und dem Privatrecht, in: Starck (Hrsg.), Rangordnung der Gesetze, 1995, S. 39 ff.; Diedrichsen, Die Selbstbehauptung des Privatrechts gegenüber dem Grundgesetz, Jura 1997, 57 ff.; Diedrichsen, Das Bundesverfassungsgericht als oberstes Zivilgericht, AcP 198 (1998), 171 ff. 11 Ein Plädoyer für eine Historisierung, man könnte auch sagen Musealisierung des „LüthUrteils“ (d.h. Betonung des hohen zeitgenössischen Stellenwertes einerseits und Überholtheit durch die spätere Entwicklung der Grundrechtsdogmatik andererseits) bei: Jestaedt, Die Meinungsfreiheit und ihre verfassungsrechtlichen Grenzen – Das Lüth-Urteil zwischen Dogmatisierung und Historisierung, in: Rill (Hrsg.), Grundrechte – Grundpflichten: eine untrennbare Verbindung. Hanns-Seidel-Stiftung, Argumente und Materialien zum Zeitgeschehen 27, 2001, S. 67 ff.

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rektionskraft der Grundrechte für privatrechtliche Beziehungen und privatrechtliche Gesetze steht und fällt, wird man angesichts von Art. 1 Abs. 3 GG, der alle Ausübung von Staatsgewalt – damit auch die Privatrechtsgesetzgebung und die Privatrechtsprechung – an die Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht bindet, schlechterdings nicht behaupten können. Dass ausgerechnet ein Familienrechtslehrer diese Nichtberührungsthese vertritt, mutet umso irritierender an, als gerade Art. 6 GG mit Ehe und Familie, mit Elternverantwortung, Mutterschaft und Gleichstellung nichtehelicher Kinder in gerade sich aufdrängender Weise privatrechtsbezogen ist. Es ist hier nicht der Ort, den unterschiedlichen Wirkweisen der Grundrechte im Privatrecht nachzugehen; hier muss der Hinweis genügen, dass zwischen Privatrecht, das, wie das Bürgerliche Gesetzbuch oder die Rechtsprechung der ordentlichen Gerichtsbarkeit, von der nach Art. 1 Abs. 3 GG grundrechtsgebundenen Staatsgewalt zu verantworten ist, einerseits und Privatrecht, für welches, wie namentlich Verträge, grundrechtsungebundene, ihrerseits grundrechtsberechtigte Private verantwortlich zeichnen, andererseits zu unterscheiden ist. Im ersten Falle steht die Grundrechtsbindung „des Privatrechts“ nicht in Frage, in letzterem kommt sie nicht in Frage. Dass nach wie vor zumeist undifferenziert die Frage nach dem – angeblichen Sonder- – Verhältnis von Privatrecht und Grundrechten aufgeworfen und mit Nebelwerfer-Wendungen wie der „mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte im Privatrecht“ beantwortet wird, ist angesichts der einfachen und klaren positivverfassungsrechtlichen Ausgangslage wenig befriedigend.

2. Der Elternvorrang als Paradigma Aber mehr noch: Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG, der vor allen anderen den Eltern Pflege und Erziehung ihres Kindes als deren Recht und Pflicht zuweist, kann nachgerade als ein Paradigma für die Beziehung von Grundrecht und Privatrecht gelten. Denn der damit umschriebene Elternvorrang vor allen sonstigen Miterziehern sendet an die grundrechtsgebundene Staatsgewalt – den Gesetzgeber vorneweg – einen doppelten Normbefehl: Zum einen darf der Staat in die „Elternverantwortung“ nur eingreifen, wenn das staatliche Wächteramt wegen einer Kindeswohlbeeinträchtigung aktiviert ist oder aber andere Güter von Verfassungsrang eine Einschränkung zu rechtfertigen vermögen. Und zum anderen ist der Staat verpflichtet, (abstrakt-generelle oder auch konkret-individuelle) Normen zugunsten der Eltern bereitzustellen, die es ihnen erlauben, den Verantwortungsvorrang, den das Grundgesetz den Eltern allen, also auch allen privaten Miterziehern gegenüber zuspricht, auch grundrechtsungebundenen Pri-

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vaten gegenüber effektiv zur Geltung zu bringen.12 Im geltenden Familienrecht kommt der Gesetzgeber dem nicht zuletzt dadurch nach, dass er die elterliche Sorge als absolute, also gegen jedermann wirkende Rechtsmacht ausgestaltet hat. Darin zeigt sich ein Zweifaches: Bürgerliches Recht ist auf der einen Seite zu ganz erheblichen Teilen grundrechtsverwirklichendes Recht – und dies auf der anderen Seite auch dann, wenn das ursprüngliche gesetzgeberische Regelungsmotiv nicht primär auf die Befriedigung von Grundrechtsansprüchen gerichtet war.

III. Identitätsthese: Privatrechtsakzessorietät des verfassungsrechtlichen Elternbegriffs Damit, dass das Elterngrundrecht nicht privatrechtsneutral ist, wird zunächst nur bestätigt, dass es eine Beziehung zwischen grundgesetzlichem und familienrechtlichem Eltern-Begriff geben muss; über deren konkrete Ausgestaltung, insbesondere: über Richtung und Inhalt der Determinationswirkung im Verhältnis beider Eltern-Begriffe, ist damit indes noch nichts ausgesagt.

1. Gesetzesakzessorietät der Grundrechtsträgerschaft beim Elterngrundrecht Eine entscheidende Weichenstellung ergibt sich daraus, ob dem verfassungsrechtlichen Elternbegriff inhaltlicher Selbstand zukommt. Davon kann insbesondere dann nicht die Rede sein, wenn und soweit das Elterngrundrecht privatrechtsakzessorisch angelegt ist, die Elterneigenschaft nach Art. 6 Abs. 2 GG sich also nach Maßgabe des BGB bestimmt. Von einem inhaltlichen Selbstand des verfassungsrechtlichen Eltern-Begriffs kann danach nur dann die Rede sein, wenn sich dessen Bestimmung nicht in den gesetzlichen Konkretisierungen erschöpft. Die These von der Privatrechtsakzessorietät des verfassungsrechtlichen Elternbegriffs erklärte dann auch mühelos, dass und warum sich die familienrechtlichen Festlegungen, wer Eltern, Mutter oder Vater eines Kindes sind, ohne

_____ 12 Zu diesem Ordnungs- und Ausgestaltungsauftrag (primär) des Gesetzgebers näher: Jestaedt, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Stand: 183. Aktualisierung 2017, Art. 6 Abs. 2 und 3 (Stand: 74. und 75. Aktualisierung 1995) Rn. 12 ff., s. ergänzend zum Familienrecht Rn. 273 ff., insbes. 277 ff.

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Heranziehung verfassungsrechtlicher Erwägungen kommentieren und analysieren lassen. In diese Richtung steuerte beim letztjährigen Deutschen Juristentag die für das Familienrecht zuständige Berichterstatterin des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts, Gabriele Britz. In ihrem Referat13 zum bereits erwähnten Gutachten von Tobias Helms fasste sie die einschlägige Judikatur wie folgt zusammen: „Die Grundrechtsträgerschaft ist als verfassungsrechtliches Kriterium für die einfachgesetzliche Zuteilung der Elternposition deshalb unergiebig, weil nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Träger des Elterngrundrechts gerade diejenigen sind, denen das einfache Recht den Elternstatus zuweist.“14 Und ergänzte: „Nicht einmal die leiblichen Eltern gelten nach dieser Konstruktion als originäre Träger des Elterngrundrechts, solange sie nicht auch rechtliche Eltern sind“.15 Doch ungeachtet der damit behaupteten Privatrechtsakzessorietät der „Grundrechtsträgerschaft beim Elterngrundrecht“ lasse „das Grundgesetz dem einfachen Gesetzgeber aber nicht freie Hand, wem er das Elternrecht einfachrechtlich zuweist.“16 Weiter im Zitat: „Ein zentrales verfassungsrechtliches Zuordnungskriterium bildet dann – dogmatisch nicht auf den ersten Blick zu durchschauen [sic] – doch die leibliche Abstammung.“17 Freilich sei es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn der Gesetzgeber mit Blick auf das Wohl des Kindes Zuordnungen zulasse oder treffe, die von der leiblichen Abstammung abwichen.18

2. Zweifel an der Tragfähigkeit der Akzessorietätsthese Dass damit das Verhältnis von grundgesetzlichem und familienrechtlichem Eltern-Begriff zutreffend bestimmt ist, erscheint mir jedoch ausgesprochen zweifelhaft. Im gegebenen Rahmen muss ich es bei einigen wenigen Andeutungen, genauer: fünf Stichworten, einem etwas näher ausgeführten Einwand und der Widerlegung eines möglichen Gegeneinwands, belassen. Zunächst die fünf Stichworte:

_____ 13 Britz, Rechtliche, biologische und soziale Elternschaft – Verfassungsrechtliche Leitlinien, Referat auf dem 71. Deutschen Juristentag Essen 2016 (unveröffentlichtes Manuskript; ich danke der Autorin ganz herzlich für die Überlassung des Typoskripts, nach dem hier zitiert wird). 14 Britz, Elternschaft, S. 3 (unter II.2.a. vor aa.). 15 Britz, Elternschaft, S. 3 (unter II.2.a. vor aa.). 16 Britz, Elternschaft, S. 4 (unter II.2.a. vor aa.). 17 Britz, Elternschaft, S. 4 (unter II.2.a.aa.). 18 Vgl. Britz, Elternschaft, S. 5 (unter II.2.a.bb. vor (1)).

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a) Gewährleistungsdivergenz von Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 GG? Aus systematischer Sicht: Wie erklärt sich, dass die Gewährleistungsstruktur des grundrechtlichen Schutzbereichs in Bezug auf den Ehe-Begriff nach Art. 6 Abs. 1 GG so ganz anders sein soll als in Bezug auf den Eltern-Begriff nach Art. 6 Abs. 2 GG? Für ersteren geht das Bundesverfassungsgericht von einem durch bestimmte Strukturmerkmale bestimmten, eigenständigen Ehe-Begriff aus,19 bei letzterem soll es einen vom Gesetzesrecht abgehobenen Verfassungsbegriff tendenziell hingegen nicht geben.

b) (Eltern-)Grundrecht nach Gesetz? Aus Sicht der Gewährleistungseigenart grundgesetzlicher Grundrechte: In dem Maße, in dem die Privatrechtsakzessorietät der Grundrechtsträgerschaft zutrifft, handelt es sich beim Elterngrundrecht um ein Grundrecht nach Maßgabe des Gesetzesrechts. Das steht im Widerspruch dazu, dass unter dem Grundgesetz – mit der Grundrechtsbindung des Gesetzgebers durch Art. 1 Abs. 3 einerseits und der Gewährleistungsstruktur der Einzelgrundrechte andererseits – die These vom Gesetz nach Maßgabe der Grundrechte die in Weimar virulente These vom Grundrecht nach Gesetz abgelöst hat.20 Das lässt sich auch und gerade am Eigentumsgrundrecht mit Art. 14 Abs. 1 Satz 2, wonach Inhalt und Schranken des Eigentums durch die Gesetze bestimmt werden;21 denn wenn es auch zutrifft, dass der Gesetzgeber die konkreten Eigentumssubstrate konstitutiv umschreibt, so ist ihm doch verfassungskräftig – und das heißt gesetzlich unverfügbar –

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19 Zu den „wesentlichen Strukturprinzipien“ des verfassungsrechtlichen Ehe-Begriffs, die auch der Gesetzgeber bei der Ausformung der Ehe zu beachten habe, besonders deutlich: BVerfGE 105, 313, 345 – Lebenspartnerschaftsgesetz. 20 Dieses Verhältnis sehr früh problematisierend Leisner, Von der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze zur Gesetzmäßigkeit der Verfassung. Betrachtungen zur möglichen selbständigen Begrifflichkeit im Verfassungsrecht, 1964. Zur Unterscheidung von Prägemerkmalen (Begriffselementen) und Substraten (Gegenständen) des Eigentums: Jestaedt, Selbstand und Offenheit der Verfassung gegenüber nationalem, supranationalem und internationalem Recht, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 3. Aufl., Bd. XII, 2014, § 264 Rn. 53 ff. 21 Auf das Eigentumsgrundrecht wird hier ausschließlich Bezug genommen, um eine strukturelle Gewährleistungseigentümlichkeit (einer Reihe) von Grundrechten in deren Verhältnis zum Gesetz darzutun; damit ist – das sei zur Vermeidung von Missverständnissen ausdrücklich hinzugesetzt – keinesfalls auch nur im entferntesten die These verbunden, das Recht (und die Pflicht) der Eltern gegenüber ihren Kindern ähnele inhaltlich dem Recht des Eigentümers an seiner Sache.

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der Eigentums-Begriff mit seinen gesetzesdirigierenden Strukturelementen wie etwa der Privatnützigkeit und der Ausschließungsbefugnis gegenüber jedermann vorgegeben.22 Auch hier also die Frage: Warum soll das ausgerechnet beim Eltern-Begriff nach Art. 6 Abs. 2 GG anders sein?

c) Vorschnelle Vermengungen? Stichworte Nr. 3 und 4: Die Begründung für die These von der Gesetzesakzessorietät der Grundrechtsträgerschaft beim Elterngrundrecht scheint mir zum einen bürgerlichrechtliche und verfassungsrechtliche Elternschaft nicht in hinreichendem Maße auseinanderzuhalten; und sie vermengt zum anderen teilweise Überlegungen des personellen Schutzbereichs des Elternrechts mit solchen zum sachlichen Schutzbereich. Auf beides wird zurückzukommen sein.23 Mir will scheinen, dass nicht zuletzt der eingangs angesprochene terminologische Dschungel in der Karlsruher Judikatur24 seinen Beitrag dazu leistet, dass eine ansonsten so herausragende Bundesverfassungsrichterin in der Rechtsprechung des eigenen Senats die sonst so sichere Orientierung einbüßt.

d) Rolle und Stellenwert leiblicher Abstammung Das fünfte Stichwort: Mangelnde inhaltliche Konsistenz der Ausführungen in Bezug auf Rolle und Stellenwert leiblicher Abstammung. Einerseits sollen leibliche Eltern keine originären Träger des Elterngrundrechts, andererseits sollen leibliche, aber nicht rechtliche Eltern in den Schutzbereich von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG einbezogen sein. Die Verfasserin behilft sich hier mit dem in Parenthese hinzugefügten, eher Verlegenheit denn Beurteilungssicherheit ausdrückenden Hinweis, dass die leibliche Abstammung in „dogmatisch nicht auf den ersten Blick“ zu durchschauender Weise ein „zentrales verfassungsrechtliches Zuordnungskriterium“ bilde.

_____ 22 Dazu aus der Rechtsprechung BVerfGE 58, 300, 335 – Nassauskiesung; aus dem Schrifttum: Depenheuer, Eigentum, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. V, 2013, § 111 Rn. 44. 23 Zu ersterem nachfolgend IV. bis VI., zu letzterem nachstehend e), f) sowie V.2. 24 Vgl. BVerfGE 108, 82, 99–111 (bes. 99–104) – Mutmaßlicher leiblicher, aber nicht rechtlicher Vater.

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e) Fragwürdige Deutung der Karlsruher Judikatur Damit aber zum gravierendsten Einwand, der unmittelbar an den vorhergehenden anknüpft: Die Lesart, dass der grundgesetzliche Eltern-Begriff gesetzesakzessorisch sei, scheint mir keine belastbare, ja, nicht einmal eine zulässige Deutung der (bisherigen) Karlsruher Rechtsprechung zum personellen Schutzbereich von Art. 6 Abs. 2 GG zu sein. Damit verfehlt die These ihren eigenen Anspruch. Drei Belege müssen in dem gegebenen Rahmen genügen. Erstens: Die letzte Senatsentscheidung zur Frage des personellen Schutzbereichs des Elterngrundrechts, nämlich das von der Berichterstatterin Gabriele Britz vorbereitete Urteil des Ersten Senats vom 19. Februar 2013 zur Frage der Sukzessivadoption in einer Lebenspartnerschaft, spricht eine deutliche Sprache, wenn es dort heißt: „Träger des verfassungsrechtlichen Elternrechts können Personen sein, die in einem durch Abstammung (vgl. BVerfGE 108, 82 [100] m.w.N.) oder durch einfachgesetzliche Zuordnung (vgl. BVerfGE 108, 82 [103] m.w.N.) begründeten Elternverhältnis zum Kind stehen.“25 Oder in der Variation des Leitsatzes 2 derselben Entscheidung: „Eine Person, die bislang weder in einer biologischen noch in einer einfachrechtlichen Elternbeziehung zu einem Kind steht, ist grundsätzlich nicht allein deshalb nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG Elternteil im verfassungsrechtlichen Sinne, weil sie in sozial-familiärer Beziehung mit dem Kind lebt.“26 Dass die Einbeziehung leiblicher Eltern in den personellen Schutzbereich gemäß Art. 6 Abs. 2 GG von einer einfachgesetzlichen Anerkennung abhängt, scheint danach, um das Mindeste zu sagen, fernliegend. Zweitens ließen sich die ausführlichen Erwägungen des Bundesverfassungsgerichts in den Fällen zur verfassungsrechtlichen Stellung des Vaters eines nichtehelichen Kindes (1981, 1988, 1991 und 199527), zum leiblichen, aber nicht rechtlichen Vater (200328) und schließlich zur Sukzessivadoption (201329) gar nicht erklären, wenn der verfassungsrechtliche Elternbegriff strukturell gesetzesakzessorisch wäre. Denn dann hätte in fünf der sechs Entscheidungen der kurze Hinweis darauf genügt, dass eine gesetzesrechtliche Anerkennung just nicht vorliege; alle weiteren Ausführungen zur Rechtfertigung wären mangels Einschlägigkeit von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG schlicht überflüssig gewesen. Der Be-

_____ 25 BVerfGE 133, 59, 81, Rn. 58 – Sukzessivadoption – Hervorhebung hier. 26 BVerfGE 133, 59, LS 2 – Sukzessivadoption. 27 BVerfGE 56, 363 ff. – Umgangsrecht des nichtehelichen Vaters; BVerfGE 79, 203 ff. – Legitimation des nichtehelichen Kindes; BVerfGE 84, 168 ff. – Sorgerechtsverlust; BVerfGE 92, 158, 177 – Stellung des nichtehelichen Vaters bei Adoption. 28 BVerfGE 108, 82 ff. – Mutmaßlicher leiblicher, aber nicht rechtlicher Vater. 29 BVerfGE 133, 59 ff. – Sukzessivadoption.

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schluss vom 7. März 1995, in welchem das Gericht erstmals dem Vater des nichtehelichen Kindes die Eltern-Eigenschaft im Sinne von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG ohne weitere einschränkende Voraussetzungen, damit auch ohne jede vorgängige gesetzesrechtliche Anerkennung zuspricht,30 steht mit der These von der Akzessorietätsthese sogar in flagrantem Widerspruch. Und schließlich drittens: Die in puncto personeller Schutzbereich von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG ausführlichste Entscheidung – jene zum leiblichen, aber nicht rechtlichen Vater aus dem Jahre 2003,31 auf die Gabriele Britz zum Beleg der These von der Privatrechtsakzessorietät des verfassungsrechtlichen Elternbegriffs verweist – zeigt, wenn auch, wie bereits angedeutet, in terminologisch teilweise wenig glücklicher, da Begriffsstrenge vernachlässigender Weise, auf, wie sich das Bundesverfassungsgericht den verfassungsrechtlichen ElternBegriff vorstellt. Zwar heißt es dort tatsächlich: „Leiblicher Vater eines Kindes zu sein, macht diesen allein allerdings noch nicht zum Träger des Elternrechts aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG.“32 und „Auch die leibliche Vaterschaft bedarf der rechtlichen Anerkennung, damit aus ihr das Elternrecht geltend gemacht werden kann.“33 Doch ist mit „Trägerschaft“ und „Geltendmachung des Elternrechts“, wie die nachfolgenden Zitate nachdrücklich belegen, nicht die ElternEigenschaft, der personelle Schutzbereich, das verfassungsrechtliche ElternSein gemeint, bei dem das Gericht von „Elternschaft“ spricht, sondern, in welchem Umfang der sachliche Gewährleistungsgehalt des Elterngrundrechts dem Prätendenten zusteht, in welchem Umfang, mit anderen Worten, der sachliche Schutzbereich zugunsten desjenigen streitet, der vom personellen Schutzbereich umfasst ist. „Elternschaft“ und „Trägerschaft des Elternrechts“ sind danach in der Sache zu unterscheiden (mag auch die „Trägerschafts“-Terminologie, da ausgesprochen missverständnisanfällig, weil regelmäßig für den personellen Schutzbereich verwendet, wenig glücklich erscheinen). So formuliert der Erste Senat völlig unzweideutig: „Auch der leibliche, aber nicht rechtliche Vater eines Kindes steht unter dem Schutz von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG.“34 „Der Elternbegriff umfasst nach dem Sprachgebrauch auch die leiblichen Eltern eines Kindes, unabhängig vom Familienstand der Eltern und der Enge der Be-

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30 BVerfGE 92, 158, 177 – Stellung des nichtehelichen Vaters bei Adoption – in Abkehr oder auch Präzisierung von BVerfGE 56, 363, 383 f. – Umgangsrecht des nichtehelichen Vaters; BVerfGE 79, 203, 210 – Legitimation des nichtehelichen Kindes; BVerfGE 84, 168, 179 – Sorgerechtsverlust. 31 BVerfGE 108, 82 ff. – Mutmaßlicher leiblicher, aber nicht rechtlicher Vater. 32 BVerfGE 108, 82, 99 – Mutmaßlicher leiblicher, aber nicht rechtlicher Vater. 33 BVerfGE 108, 82, 103 (ähnlich auch 101) – Mutmaßlicher leiblicher, aber nicht rechtlicher Vater. 34 BVerfGE 108, 82, 99 – Mutmaßlicher leiblicher, aber nicht rechtlicher Vater.

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ziehung zwischen ihnen und dem Kind (vgl. BVerfGE 92, 158 [177 f.]).“35 In diesem Zusammenhang stellt dann auch der Senat die Forderung auf: „Deshalb ist der Gesetzgeber gehalten, die Zuweisung der elterlichen Rechtsposition an der Abstammung des Kindes auszurichten (vgl. BVerfGE 79, 256 [267]).“36 In einer späteren Entscheidung spricht er von dem „in Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG enthaltenen Gebot, möglichst eine Übereinstimmung von biologischer und rechtlicher Vaterschaft zu erreichen“.37 – Das Bundesverfassungsgericht macht deutlich, dass es zwar auch eine gesetzesrechtlich begründete Elternschaft im Sinne der Verfassung gebe, dass jedoch die leibliche Elternschaft per se den personellen Schutzbereich von Art. 6 Abs. 2 GG eröffne: „Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG geht zwar von einer auf Zeugung begründeten leiblichen Elternschaft aus, nimmt aber über diese Zuordnung hinausgehend die Eltern-Kind-Beziehung als umfassendes Verantwortungsverhältnis von Eltern gegenüber ihren der Pflege und Erziehung bedürftigen Kindern unter seinen Schutz.“38 Es spricht davon, dass die „Elternschaft allein auf Abstammung oder auf Rechtszuweisung gründet“.39 Und wem das alles immer noch nicht genügt, für den formuliert der Senat noch einmal in unüberbietbarer Deutlichkeit: „Der Schutz des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG setzt die rechtliche Elternschaft [damit ist die Stellung als „rechtliche Eltern“ im Sinne des bürgerlichen Rechts gemeint, M.J.] nicht voraus. Der Mann, von dem ein Kind abstammt, ist Vater des Kindes, auch wenn er von der Rechtsordnung [gemeint ist hier das Gesetzesrecht, natürlich nicht das Grundgesetz selbst, M.J.] nicht als solcher anerkannt ist. Mehr als diese auf Abstammung beruhende Elternschaft setzt Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG für die Einbeziehung von Eltern in seinen [personellen, M.J.] Schutzbereich nicht voraus.“40

f) Ein möglicher Gegeneinwand? Es bleibt der Gegeneinwand, dass die These von der Privatrechtsakzessorietät der, wie es ausdrücklich heißt, „Grundrechtsträgerschaft beim Elterngrundrecht“41 hier missinterpretiert, da gar nicht (nur) auf den personellen, sondern

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35 BVerfGE 108, 82, 100 – Mutmaßlicher leiblicher, aber nicht rechtlicher Vater. 36 BVerfGE 108, 82, 100 – Mutmaßlicher leiblicher, aber nicht rechtlicher Vater; die in Bezug genommene Entscheidung: BVerfGE 79, 256 ff. – Ehelichkeitsanfechtung durch volljähriges Kind. 37 BVerfGE 117, 202, 234 – Anspruch auf Abstammungskenntnis. 38 BVerfGE 108, 82, 106 – Mutmaßlicher leiblicher, aber nicht rechtlicher Vater. 39 BVerfGE 108, 82, 102 m.w.N. – Mutmaßlicher leiblicher, aber nicht rechtlicher Vater. 40 BVerfGE 108, 82, 101 – Mutmaßlicher leiblicher, aber nicht rechtlicher Vater. 41 Britz, Elternschaft, S. 4 (unter II.2.a. vor aa.).

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(auch) auf den sachlichen Schutzbereich bezogen sei. Dem würde ich mit zwei Argumenten entgegentreten: Zum einen scheint mir die These viel plausibler, dass hier personeller und sachlicher Schutzbereich, also „Elternschaft“ und „Elternverantwortung“, unbewusst vermengt worden sind, geht es doch der Verfasserin darum, verfassungsrechtliche Leitlinien aufzuzeigen, „die sich aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts für die einfachrechtliche Ausgestaltung von Elternschaft ergeben“;42 die verbalisierten dogmatischen Irritationen in Bezug auf Rolle und Stellenwert der leiblichen Abstammung als verfassungsrechtliches Zuordnungskriterium43 scheinen mir ein deutliches Indiz dafür zu sein. Und zum anderen – und das ist letztlich entscheidend – wäre die Aussage, dass „die Grundrechtsträgerschaft beim Elterngrundrecht gesetzesakzessorisch ist“,44 auch dann nicht zutreffender, würde sie sich (auch) auf den sachlichen Schutzbereich beziehen: Richtig ist, dass Eltern im Sinne des Grundgesetzes sich anderen, grundrechtsungebundenen Privaten gegenüber nicht unmittelbar auf den sachlichen Schutzbereich von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG berufen können; das Elternrecht wirkt in diesem Verhältnis nur gesetzesmediatisiert – also über die einfachgesetzliche Ausgestaltung.45 Gegenüber dem Staat hingegen benötigen die verfassungsrechtlichen Eltern kein Gesetz, um die ihnen von Verfassungs wegen zustehende Elternverantwortung geltend zu machen. Vielmehr ist es umgekehrt der Staat, der, will er Eltern im verfassungsrechtlichen Sinne die Elternverantwortung nicht in unverkürztem Maße zugestehen, einer Rechtfertigung bedarf, die, wegen des Vorbehalts des Gesetzes, einer gesetzlichen Grundlage bedarf. Beides – die Gesetzesmediatisierung des Grundrechtsschutzes im Verhältnis zu Privaten einer- wie das Gesetzeserfordernis bei Grundrechtseingriffen andererseits – sind keine Spezifika des Elterngrundrechts; man könnte also genauso gut von der Gesetzesakzessorietät des Grundrechtsschutzes schlechthin sprechen. Das freilich würde die Determinationsrichtung im Verhältnis von Verfassung und Gesetz auf den Kopf stellen.

_____ 42 Zitat: Britz, Elternschaft, S. 1 (unter I.). 43 Vgl. Britz, Elternschaft, S. 4 (unter II.2.a.aa.). 44 Britz, Elternschaft, S. 4 (unter II.2.a. vor aa.). 45 Dazu stellvertretend Jestaedt, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Stand: 183. Aktualisierung 2017, Art. 6 Abs. 2 und 3 Rn. 12 und 97.

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IV. Differenzthese: Selbständiger verfassungsrechtlicher Eltern-Begriff Danach sprechen alle Indizien gegen einen privatrechtsakzessorischen und für einen eigenständigen verfassungsrechtlichen, nicht mit dem bürgerlichrechtlichen Elternbegriff identischen Elternbegriff. Wie sich ein solcher aus dem Grundgesetz herleiten oder auch herauspräparieren lässt, sei hier mehr angedeutet als ausgeführt. Dabei kann auf die ja bereits auszugsweise zitierte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Bezug genommen werden, ohne dass diese ihrerseits vollständig zu einer Kasuistik-transzendierenden Extrapolation eines allgemeinen Eltern-Begriffs vorstieße.

1. Regelfall und strukturprägende Merkmale Ausgangspunkt der (Interpretations-)Überlegungen ist, dass sich das grundgesetzliche Elternverständnis am Regelungsideal oder auch Regelfall orientiert, dass die leibliche Mutter und der leibliche Vater in auf Ehe gegründeter Familiengemeinschaft mit ihrem Kinde leben und es gemeinsam pflegen und erziehen. 46 Das Bundesverfassungsgericht formuliert den Kern dieses Regelungsideals in Gestalt einer in ständiger Rechtsprechung wiederholten Verfassungserwartung: „Der Verfassunggeber geht davon aus, daß diejenigen, die einem Kinde das Leben geben, von Natur aus bereit und berufen sind, die Verantwortung für seine Pflege und Erziehung zu übernehmen.“47 Das Elternverständnis von Art. 6 Abs. 2 GG beschränkt sich allerdings nicht auf diese realiter keineswegs durchgängig gegebene und gelebte Idealkonstellation, in welcher, um die familienrechtliche Nomenklatura zu verwenden, der leibliche, der (nur-) rechtliche und sogar der soziale Vater in eins fallen. Abweichendes kann dem

_____ 46 Pars pro toto: BVerfGE 31, 194, 205 – Umgangsrecht des geschiedenen, nicht sorgeberechtigten Elternteils; BVerfGE 56, 363, 382 – Umgangsrecht des nichtehelichen Vaters; BVerfGE 61, 358, 372 – Ausschluss gemeinsamen Sorgerechts geschiedener Eltern; BVerfGE 84, 168, 179 – Sorgerechtsverlust; BVerfGE 92, 158, 176 f. – Stellung des nichtehelichen Vaters bei Adoption; BVerfGE 108, 82, 101 – Mutmaßlicher leiblicher, aber nicht rechtlicher Vater; BVerfGE 133, 59, 78 f., Rn. 53 – Sukzessivadoption; m. Nachw. aus dem Schrifttum: Stern, Staatsrecht, § 100 VIII 9 (S. 526). 47 BVerfGE 24, 119, 150 – Ersetzung der elterlichen Adoptionseinwilligung. Vgl. auch BVerfGE 56, 363, 384 – Umgangsrecht des nichtehelichen Vaters; BVerfGE 75, 201, 219 – Herausgabe eines Kindes I; BVerfGE 79, 51, 63 f. – Herausgabe eines Kindes II; BVerfGE 99, 216, 232 – Kinderbetreuungskosten.

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Parlamentarischen Rat, der nicht die Augen verschloss vor einem in den Nachkriegsjahren 1948/1949 am Boden liegenden Land mit millionenfach zerstörten oder auseinandergerissenen Familien, nicht zugesonnen werden. Insbesondere stand von Beginn an außer Frage, dass (1) es mit dem Institut der Adoption eine nicht auf leiblicher Abstammung gründende Elternschaft gibt und (2) Elternschaft weder die Ehe der Eltern noch eine gelebte Familiengemeinschaft voraussetzt (wenngleich die Ehelichkeit des Kindes im Vordergrund der §§ 1591 ff. BGB a.F. stand).48 Kann damit die Elternschaft im Sinne von Art. 6 Abs. 2 GG auch dann zu bejahen sein, wenn nicht sämtliche Elemente des Idealtypus in concreto gegeben sind, so können am verfassunggeberischen Regelungsideal doch die identitätsprägenden, nur durch Verfassungsänderung modifizierbaren Strukturen des grundgesetzlichen Elternbegriffes abgelesen werden. Auf den allgemeinsten Nenner gebracht sind Eltern als Vater und Mutter verschiedengeschlechtliche Personen, die gemeinsame Abkömmlinge 1. Grades, sprich: Kinder, haben.

2. Zweispurigkeit Die damit in den Mittelpunkt gerückte Abkommenschaft meint zunächst die leibliche Abkommenschaft, wie zum einen die Betonung in Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG, dass die Pflege- und Erziehungszuständigkeit der Eltern als deren „natürliches Recht“ betrachtet wird, und zum anderen die vom Bundesverfassungsgericht geprägte Umschreibung der Eltern als derjenigen, „die einem Kinde das Leben geben“,49 unmissverständlich erkennen lassen. Dass es auf die konkrete Art der Zeugung – natürlich oder künstlich – ankomme, wird sich mit Rücksicht darauf, dass seinerzeit die heutigen medizinisch-naturwissenschaftlichen Optionen nicht bedacht werden konnten, ebenso wenig aus dem verfassunggeberischen Willen ableiten lassen wie eine Antwort auf die Frage, ob in Bezug auf die Mutter das Austragen des Kindes (Geburtsmutter) oder aber die genetische

_____ 48 Zum Zusammenhang von Ehelichkeit und Verwandtschaft zum Zeitpunkt (der Beratungen über das GG und) des Inkrafttretens des GG am 24.5.1949 darf einerseits auf § 1589 Abs. 2 BGB: „Ein uneheliches Kind und dessen Vater gelten nicht als verwandt.“ verwiesen werden und andererseits auf § 1591 Abs. 1 Satz 1 BGB: „Ein Kind, das nach der Eingehung der Ehe geboren wird, ist ehelich, wenn die Frau es vor oder während der Ehe empfangen und der Mann innerhalb der Empfängnißzeit der Frau beigewohnt hat.“ Anders als nach heute in Geltung stehenden Fassung des § 1591 BGB („Mutter eines Kindes ist die Frau, die es geboren hat.“) kam es vor dem 1.7.1998 nicht allein auf die Geburt, sondern auf die Empfängnis und die Geburt an. 49 BVerfGE 24, 119, 150 – Ersetzung der elterlichen Adoptionseinwilligung.

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Beziehung (genetische Mutter) ausschlaggebend sei;50 daher spricht alles dafür, dass leibliche Elternschaft sowohl durch das Austragen als auch durch eine wie auch immer geartete (unmittelbare) genetische Abkommenschaft konstituiert wird. Anders gewendet: Der personelle Schutzbereich von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG wird sowohl durch die („erfolgreiche“) Gametengabe als auch durch das Austragen des Kindes eröffnet. Der leiblichen Abkommenschaft gleich geachtet wird die „nur-rechtliche“ Abkommenschaft, die – sozusagen in „Nachahmung“ oder auch als funktionales Äquivalent der ersteren – in einer von Rechts wegen auf Unauflöslichkeit und Unbedingtheit, Unabwälzbarkeit und Ausschließlichkeit angelegten umfassenden bigenerationellen Schutz- und Fürsorgegemeinschaft besteht. So darf auch das Bundesverfassungsgericht verstanden werden, wenn es in seinem Beschluss zum mutmaßlich leiblichen, aber nicht rechtlichen Vater aus dem Jahre 2003 herausstreicht: „Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG geht zwar von einer auf Zeugung begründeten leiblichen Elternschaft aus, nimmt aber über diese Zuordnung hinausgehend die Eltern-Kind-Beziehung als umfassendes Verantwortungsverhältnis von Eltern gegenüber ihren der Pflege und Erziehung bedürftigen Kindern unter seinen Schutz“.51 Die zunächst erarbeitete einheitliche Definition, dass Eltern als Vater und Mutter verschiedengeschlechtliche Personen sind, die gemeinsame Kinder haben, ist damit einer Differenzierung zugänglich und kann in eine zweispurige Eltern-Definition überführt werden: Eltern im Sinne von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG sind jene, die entweder unmittelbare (leibliche) Abkömmlinge (Kinder) haben (leibliche Elternschaft) oder aber, ohne (notwendigerweise) leibliche Eltern zu sein, zu einem Kind in einer den vorgenannten Kriterien entsprechenden umfassenden personenrechtlichen Abstammungs-, Schutz- und Fürsorgebeziehung stehen (gesetzliche Elternschaft).52 Man könnte im Blick auf das Grundgesetz von einem zweispurigen Elternbegriff des GG unter „Führung“53 der leiblichen Elternschaft sprechen. Mit Rücksicht darauf, dass die leibliche Elternschaft an einen „natürlichen“ Vorgang anknüpft, indes die gesetzliche El-

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50 Vgl. dazu auch die zum Zeitpunkt der Beratungen des GG geltende Fassung des § 1591 BGB (Text in Fn. 48). 51 BVerfGE 108, 82, 106 – Mutmaßlicher leiblicher, aber nicht rechtlicher Vater. 52 Ganz in diesem Sinne unterscheidet das BVerfG das Elternverhältnis im Sinne von Art. 6 Abs. 2 GG danach, ob es durch „[sc. leibliche] Abstammung oder […] durch einfachgesetzliche Zuordnung“ begründet worden ist: BVerfGE 108, 82, 100, 103 – Mutmaßlicher leiblicher, aber nicht rechtlicher Vater; BVerfGE 133, 59, 81, Rn. 58 – Sukzessivadoption. 53 Wobei „Führung“, das sei zur Vermeidung von Missverständnissen hinzugefügt, nicht eo ipso Vorrangigkeit oder Höherwertigkeit impliziert, sondern lediglich den Vorbildcharakter der leiblichen für die (nur-)rechtliche Elternschaft auf den Begriff zu bringen versucht.

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ternschaft erst durch das Recht hergestellt wird, liegt es nicht fern, im ersten Falle von „geborenen“ Eltern, im zweiten hingegen von „gekorenen“ Eltern zu sprechen. Kennzeichnend für die Innehabung der Elternstellung ist demnach, dass sie von Rechts wegen unauflöslich, vorbehaltlos, nicht-dispositiv und exklusiv ist. Das gilt für die leibliche Elternschaft „natürlich“ zwingend, für die gesetzliche Elternstellung wenigstens der Idee nach. Die Adoptiveltern nach §§ 1741 ff. BGB als auch die durch §§ 1591 und 1592 eingesetzten „[bürgerlich]rechtlichen Eltern“ erfüllen diese Voraussetzung einer gesetzlichen Elternschaft, die den Schutzbereich von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG eröffnet. Das Bestehen einer bloß sozial-familiären Beziehung zum Kind („soziale Elternschaft“) begründet demgegenüber – mangels Erfüllung der vorgenannten Kriterien: einer von Rechts wegen auf Unauflöslichkeit und Unbedingtheit, Unabwälzbarkeit und Ausschließlichkeit angelegten umfassenden bigenerationellen Schutz- und Fürsorgegemeinschaft – weder eine leibliche noch auch eine gesetzliche Elternschaft im Sinne von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG.

V. Unterschiedliche Regelungsanlagen von GG und BGB Die Unterscheidung und Inbezugsetzung von verfassungsrechtlichem und bürgerlichrechtlichem Eltern-Begriff sind, das dürfte deutlich geworden sein, nicht zuletzt deswegen alles andere als trivial und leicht durchschaubar, weil den zwei Eltern-Kind-Regimen unterschiedliche Regelungsanlagen und -zugriffe zugrunde liegen. Das sei an den beiden wichtigsten Punkten kurz erläutert:

1. Enumerativ-taxative versus strukturorientierte Bestimmung Der eine, der Sache nach soeben bereits behandelte Punkt ist das Wie der Bestimmung des Kreises jener Personen, die im Rechtssinne Eltern eines Kindes sind: Während das Bürgerliche Gesetzbuch in §§ 1591 und 1592 für die Mutter und den Vater jeweils abschließende, unmittelbar subsumtionsfähige Legaldefinitionen aufstellt,54 die einen Rückgriff auf allgemeinere Zuordnungskriterien im

_____ 54 Vgl. ergänzend für die Adoption § 1754 BGB: „Wirkung der Annahme. (1) Nimmt ein Ehepaar ein Kind an oder nimmt ein Ehegatte ein Kind des anderen Ehegatten an, so erlangt das

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Grundsatz abschneidet, wählt das Grundgesetz in Art. 6 Abs. 2 Satz 1 mit dem Begriff der „Eltern“, wie gezeigt, einen sowohl interpretations- als auch weiterer gesetzlicher Konkretisierung bedürftigen Topos, der von einem Regelfall ausgeht, anhand dessen sich verfassungsrechtliche Strukturanforderungen für eine gesetzesrechtliche Ausgestaltung formulieren lassen.

2. Status- versus Modul-Lösung In seiner Bedeutung weiterreichend ist aber eine zweite konzeptionelle Pfadabhängigkeit: Für das familienrechtliche Eltern-Kind-Verhältnis spielt die Dreiteilung in „rechtliche Eltern“, „biologische/genetische/leibliche Eltern“ und „soziale Eltern“ nach meinem Eindruck nach wie vor eine fundamentale, orientierungsleitende Rolle – und zwar nicht nur für das Abstammungsrecht im engeren Sinne, sondern auch und gerade für das Recht der elterlichen Sorge und des Umgangs, das Unterhalts- und Erbrecht, das Namens- und Personenstandsrecht.55 An die Eigenschaft als rechtliche Eltern sind die Rechte und Pflichten der Betroffenen im Recht der elterlichen Sorge, im Unterhalts- und Erbrecht usf. de lege lata unmittelbar gekoppelt. Eine Trennung von Elternschaft und Elternrechtsstellung ist im familienrechtlichen Begriff der „rechtlichen Eltern“ im Hegelschen Sinne aufgehoben: Eigenschaft und Rechtsmacht als Eltern sind zu einem Status „rechtliche Eltern“ untrennbar verkoppelt. Und wie im allgemeinen Privatrecht die juristische Person als „vollrechtsfähig“ betrachtet wird, erscheinen im Familienrecht die „rechtlichen Eltern“ als „vollelternrechtsfähig“. Aus Sicht des Verfassungsrechts, näherhin: des sogenannten Elterngrundrechts, sind ganz andere Parameter strukturierend, nämlich die bereits mehrfach in Bezug genommene Unterscheidung von personellem und sachlichem Schutzbereich einerseits und die von Schutzbereich, Eingriff und Rechtfertigung andererseits.56 Während das Familienrecht gleichsam in alternativen Status in einem numerus-clausus-System denkt, unter denen jener der „rechtlichen

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Kind die rechtliche Stellung eines gemeinschaftlichen Kindes der Ehegatten. (2) In den anderen Fällen erlangt das Kind die rechtliche Stellung eines Kindes des Annehmenden.“ 55 Paradigmatisch insoweit die Themenstellung der familienrechtlichen Abteilung auf dem 71. Deutschen Juristentag Essen 2016: „Rechtliche, biologische und soziale Elternschaft – Herausforderungen durch neue Familienformen“; dazu oben Fn. 4 (Gutachten) sowie 13 (Referat). 56 Wie hier besonders: Burgi, Erziehungsrecht, § 109 Rn. 7 u.ö.; Lembke, Was darf der Staat? Insbesondere zur Bedeutung des Grundgesetzes für das Abstammungsrecht, in: Röthel/Heiderhoff (Hrsg.), Regelungsaufgabe Vaterstellung: Was kann, was darf, was will der Staat?, 2014, S. 37 ff., bes. 53 und 68.

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Eltern“ gleichsam den Vollrechts- oder auch „Premium-Status“ markiert, hinter dem jener der bloß „leiblichen“ oder „sozialen Eltern“ klar zurückbleibt, operiert das Verfassungsrecht mit Modulen, die in einer bestimmten (Prüfungs-) Reihenfolge zueinander in unterschiedlicher Weise ins Verhältnis gesetzt werden können. Und während das familienrechtliche Denken bislang eher im Allesoder-nichts-Modus funktionierte – allmählich erfahren die so klaren und starren Status indes eine Aufweichung57 –, ist im Verfassungsrecht, genauer: in Bezug auf den effektiven sachlichen grundrechtlichen Gewährleistungsgehalt, von jeher ein Mehr-oder-Weniger, ein Denken in unterschiedlichen Skalierungen und Kalibrierungen beherrschend. Für die Gewährleistungsstruktur der Elternrechtsverbürgung gemäß Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG, die weder ein Jedermann- noch ein Deutschengrundrecht ist und die aufgrund ihres singulären Gewährleistungsinhalts als kindeswohlgebundenes Kindesbestimmungsrecht58 kein Auffanggrundrecht wie namentlich Art. 2 Abs. 1 GG „unter“ oder auch „hinter“ sich weiß, ist die Unterscheidung von persönlichem und sachlichem Schutzbereich ebenso fundamental wie weichenstellend. Die dem personellen Schutzbereich geltende Frage: „Wer (welche Person) wird geschützt?“ beantwortet Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG mit „die Eltern“; auf die den materiellen Schutz(- wie Pflichten)bereich fokussierende Frage: „Was (welches Verhalten) wird geschützt?“ („Wozu [zu welchem Verhalten] wird verpflichtet?“) antwortet die Grundgesetzbestimmung mit „Pflege und Erziehung der Kinder“. Die Unterscheidung von persönlicher und sachlicher Gewährleistungsdimension hat drei unmittelbare rechtspraktische Konsequenzen: Eingriffe in den sachlichen Schutzbereich sind, erstens, nur dann rechtfertigungsbedürftig, wenn es sich um Maßnahmen zulasten von Erziehungs- oder Pflegepersonen handelt, die in Bezug auf das zu erziehende oder zu pflegende Kind Elterneigenschaft besitzen; sind die Betroffenen keine Eltern, können sie Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG, mag ihnen die einfachgesetzliche Rechtsordnung auch eine Erziehungs- und Pflegeberechtigung zuweisen, nicht zu ihren Gunsten anführen: Ohne Elterneigenschaft keine (grundgesetzliche) Elternrechtsverbürgung. Umgekehrt kann die Elterneigenschaft, zweitens, nicht unter Verweis darauf abgesprochen werden, dass sich eine Rechtfertigung für einen allfälligen Eingriff in den sachlichen Gewährleistungsbereich finden lässt: Eltern im Verfassungssinne sind und bleiben Eltern im Verfassungssinne, auch wenn ihnen gegebenenfalls die Erziehungs- und Pflegeverantwortung teilweise oder gar ganz entzogen werden darf.

_____ 57 Deutlich nachgezeichnet bei Helms, Elternschaft, passim, insbes. S. F 10. 58 Eingehender dazu, mit Nachw. insbes. aus der Rechtsprechung des BVerfG: Jestaedt, Das Recht der Eltern zur religiösen Erziehung, in: Germann/Muckel (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, 3. Aufl. (i.E.), Bd. II, § 41 (unter B.II.1.).

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Und schließlich drittens: Ist der personelle Schutzbereich eröffnet, weil die von einer staatlichen Maßnahme im Eltern-Kind-Verhältnis nachteilig betroffene Person Elternteil im Sinne von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG ist, so kann ihr die Elternverantwortung nur vorenthalten werden, wenn sich eine Eingriffsrechtfertigung finden lässt, wenn also der staatliche Elternrechtseingriff eine Grundlage findet im Wächteramt nach Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG (und mit ihm gleichlaufenden Kindesgrundrechten wie beispielsweise der Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG), im Elterngrundrecht des anderen Elternteils, im schulischen Erziehungsmandat gemäß Art. 7 Abs. 1 GG oder aber in kollidierenden Grundrechten anderer.59 Dies bedeutet indes auch umgekehrt, dass die Feststellung, dass eine Person in den personellen Schutzbereich fällt, also Elternteil im Sinne des Grundgesetzes ist, für sich genommen unvollständig und damit nicht hinreichend ist, die einfachgesetzliche Zuweisung von kindbezogenen Berechtigungen (und Verpflichtungen) an den betreffenden Elternteil als verfassungsrechtlich gefordert auszuweisen; dies ist nur dann und insoweit der Fall, wenn und als sich keine verfassungsrechtlich valide Rechtfertigung für die Vorenthaltung derartiger Rechtspositionen finden lässt. Aus alledem folgt, dass die Elterneigenschaft vorgängig zum oder doch jedenfalls grundsätzlich unabhängig vom sachlichen Schutzbereich bestimmt werden muss.60 Das ist auch deshalb angezeigt, weil persönlicher und sachlicher Schutzbereich der Elternrechtsverbürgung sich auch in ihrer Gewährleistungsmodalität unterscheiden: Während Rechte und Pflichten in Bezug auf Pflege und Erziehung des Kindes wie beispielsweise die elterliche Sorge, das Umgangs- oder Aufenthaltsbestimmungsrecht ohne weiteres teil-, portionier- und damit abstufbar sind, gilt Gleiches nicht für die Elterneigenschaft: es gibt nur Eltern und Nicht-Eltern. Eine abgestufte Elterneigenschaft – ein bisschen Vater oder ein bisschen Mutter, einen Vollvater oder eine Teilmutter – kennt das Grundgesetz nicht. Abstufungen sind folglich nur in Bezug auf den sachlichen Schutzgehalt, die Elternrechtsstellung, denkbar (Mehr-oder-weniger-Modus), nicht hingegen

_____ 59 Eingehend zu den Schranken der Elternverantwortung, d.h. den Rechtstiteln, die einen Eingriff in die Elternverantwortung gegebenenfalls zu tragen vermögen: Jestaedt, in: Kahl/ Waldhoff/Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Stand: 183. Aktualisierung 2017, Art. 6 Abs. 2 und 3 Rn. 155–170. 60 Anders wohl, im Sinne einer Verkopplung von persönlichem und sachlichem Schutzbereich, Brosius-Gersdorf, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 6 Rn. 147, wenn sie formuliert, dass zu „dem durch die Institutsgarantie des Art. 6 II 1 GG gesicherten Kernbereich […] als leibliche Eltern die Frau und der Mann [gehören], von denen das Kind abstammt, wenn sie tatsächlich Pflege- und Erziehungsverantwortung wahrnehmen.“ (Hervorhebung hier).

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in Bezug auf den persönlichen Schutzgehalt, die Elternschaft (Alles-oder-nichtsModus).

VI. Konsequenzen divergenter ElternrechtsRegime von GG und BGB Der Vorrang der Verfassung fordert „lediglich“, dass das einfache Recht, in vorderster Linie das Gesetzesrecht, die im Grundgesetz zum Ausdruck kommenden, mit Rechtsbefehlen bewehrten Wertsetzungen umfassend beachtet und effektiv umsetzt. Soweit dies gewährleistet ist, fordert die Verfassung aber nicht weitergehend, dass das Gesetz auch ein im Vergleich zum Grundgesetz identisches rechtliches Vokabular oder eine mit der Verfassung gleichlaufende Gewährleistungstechnik verwendet. Daher ist im Grundsatz nichts dagegen einzuwenden, dass das Grundrecht aus Art. 6 Abs. 2 GG einer- und das Bürgerliche Recht andererseits das Eltern-Kind-Verhältnis mit unterschiedlichen Rechtsfiguren und Gewährleistungsstrukturen „bespielen“.

1. Transparenz von Rechtfertigungslasten und -möglichkeiten Die unmittelbarste Konsequenz dieses fehlenden Gleichlaufs ist allerdings die Notwendigkeit, unmissverständlich in der Sache und in der Terminologie zu unterscheiden, ob, wenn man über „Eltern im Rechtssinne“ spricht, man „rechtliche Eltern“ im Sinne des Familienrechts meint oder aber Eltern im verfassungsrechtlichen Sinne. Denn bei ersteren ist die elterliche Rechtsmacht im Sorgeund Umgangsrecht, im Unterhalts- und Erbrecht usf. grundsätzlich mitgedacht, bei letzteren hingegen noch nicht, sondern bedarf noch gesonderter Feststellung. Die Unterschiedlichkeit von grundgesetzlicher und familienrechtlicher Regelungsanlage ist indes nicht nur Quelle terminologischer Verwirrung, sondern speist – das darf nicht übersehen werden – einen nicht zu vernachlässigenden Teil der gesetzgeberischen Ausgestaltungsmacht. Das Verfassungsrecht weist einerseits mehr Personen die Eigenschaft „Eltern im Rechtssinne“ zu als das Bürgerliche Recht; das ist eine Folge des personellen Schutzbereichs von Art. 6 Abs. 2 GG. Es lässt dafür aber auch mehr an Abstufungen der Elternrechtsbefugnisse, mehr an Elternrechtskonstellationen zu, als sie das geltende Familienrecht vorsieht; das ist eine Folge der Rechtfertigung von Beschränkungen des sachlichen Schutzbereichs. Die größere Anzahl von Eltern im Verfassungssinne im Verhältnis zu Eltern im Familienrechtssinne

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verdankt sich dem Umstand, dass das Grundgesetz sowohl die leibliche Mutter als auch den leiblichen Vater – jeweils im weit verstandenen Sinne – ohne weitere Voraussetzungen als Eltern anerkennt. Insbesondere ihnen gegenüber steht der Gesetzgeber in der von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG aufgerichteten Pflicht, die gänzliche Vorenthaltung oder aber auch die Schmälerung der auf „Pflege und Erziehung“ des eigenen Kindes gerichteten Rechte (und Pflichten) zu rechtfertigen. Das deckt sich damit, dass Gabriele Britz davon spricht, dass – wie sie es formuliert – „Abweichungen“ und „Durchbrechungen“ von der „Ausrichtung an der leiblichen Abstammung“ unter bestimmten Voraussetzzungen zulässig sind.61 Verfassungsrechtlich valide Rechtfertigungsgründe müssen sich auf das staatliche Wächteramt oder aber kollidierende Grundrechte anderer – insbesondere anderer Elternteile und des Kindes – zurückführen lassen. In gewissem Sinne darüber hinaus kann der Gesetzgeber Beschränkungen des an sich von Art. 6 Abs. 2 GG verbürgten elterlichen Vollrechtsstatus damit rechtfertigen, dass der Betreffende (etwa der nicht mit der Mutter zusammenlebende Vater eines nichtehelichen Kindes) keinerlei Interesse an dem Kind zeigt, oder (wie im Falle der Einwilligung in eine Adoption, endgültig auf die einfachrechtlich eingeräumte Elternposition) verzichtet oder aber (wie im Falle des leiblichen, aber nicht rechtlichen Vaters) von einer ihrerseits zumutbaren (sic) Möglichkeit, den Status als „rechtliches Elternteil“ zu erlangen, nicht Gebrauch macht.

2. Das Zwei-Eltern-Gebot als Probierstein Das Gesagte will ich gerne abschließend kurz an einer Fragestellung veranschaulichen, die, wenn die Zeichen nicht trügen, in jüngerer Zeit größere Aufmerksamkeit genießt. Es geht um die Frage multipler Elternschaft, und das heißt zunächst darum, ob ein Kind mehr als zwei Eltern haben kann/darf. Hier steht das Diktum des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 2003 im Raume, dass „Träger des Elternrechts nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG […] für ein Kind nur eine Mutter und ein Vater sein“ können.62 Daraus hat mancher – terminologisch verständlich, aber in der Sache vorschnell – abgeleitet, dass ein Kind im verfassungsrechtlichen Sinne nur eine Mutter und einen Vater haben könne; darüber hinaus wird daran das Verbot festgemacht, dass mehr als zwei (verschiedengeschlechtlichen) Personen keinerlei Elternbefugnisse familienrechtlich übertragen werden dürfen.

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61 Britz, Elternschaft, S. 4 f. (unter II.2.a.aa. und bb.) und 6 (unter III.). 62 BVerfGE 108, 82, 101 – Mutmaßlicher leiblicher, aber nicht rechtlicher Vater.

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Betrachtet man das Karlsruher Diktum im Lichte des dogmatisch aufbereiteten Elterngrundrechts, so lässt sich die erste Aussage, die nicht nur das geltende Adoptionsrecht in zweifelhaftem Lichte erscheinen lassen würde, als Missverständnis und die zweite wenigstens als deutlich überschießend erweisen: Der Erste Senat operiert just mit der Unterscheidung von personellem und sachlichem Schutzbereich; das wird – spätestens – dann deutlich, wenn er das ZweiEltern-Gebot erläutert: „Ein Nebeneinander von zwei Vätern, denen zusammen mit der Mutter jeweils die gleiche grundrechtlich zugewiesene Elternverantwortung für das Kind zukommt, entspricht nicht der Vorstellung von elterlicher Verantwortung, die Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG zugrunde liegt.“63 Das Gericht bezieht sich nicht auf die den personellen Schutzbereich ausfüllende Elternschaft, sondern ausdrücklich auf die Zuweisung der „Elternverantwortung“ als der Gesamtheit des sachlichen Schutzbereichs. Zudem wird hier – was indes in der Rezeption dieser Entscheidung nur selten thematisiert wird – deutlich, dass die „Zweipersonengrenze“ (Britz)64 ausdrücklich nur für die „gleiche grundrechtlich zugewiesene Elternverantwortung für das Kind“65 gilt; das Zwei-Eltern-Gebot beansprucht also nur im gleichartigen Zuordnungsverhältnis, d.h. in der identischen Mutter-Vater-Kind-Beziehung, Beachtung. Das bedeutet, dass Art. 6 Abs. 2 GG kein Verbot aufrichtet, anderen Personen als jenen, die im Sinne des grundsätzlich statusrechtlich ausgerichteten Familienrechts „rechtliche Eltern“ sind, einzelne Elemente von „Elternverantwortung“ wie etwa Umgangsrechte zuzuweisen; ganz im Gegenteil fordert das Elterngrundrecht eine entsprechende gesetzesrechtliche Einräumung, wenn und soweit sich in Bezug auf eine Person, die im verfassungsrechtlichen Sinne Elternteil ist, keine Rechtfertigung für eine entsprechend weitreichende Vorenthaltung von „Elternverantwortung“ finden lässt. Eine andere Frage ist, ob das Zwei-Eltern-Gebot tatsächlich ein Gebot im Verfassungsrang darstellt oder aber lediglich ein verfassungskonformes Gebot des geltenden Familienrechts. Aber diese Frage sprengt den hier gezogenen Rahmen.

_____ 63 BVerfGE 108, 82, 102 – Mutmaßlicher leiblicher, aber nicht rechtlicher Vater. 64 Britz, Elternschaft, S. 2 (unter II.1.). 65 BVerfGE 108, 82, 102 – Mutmaßlicher leiblicher, aber nicht rechtlicher Vater.

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Prof. Dr. Nina Dethloff, Bonn

Familienrecht in Europa: Gemeinsame Grundlinien der Entwicklung und künftige Herausforderungen Familienrecht in Europa Nina Dethloff https://doi.org/10.1515/9783110552355-003

I. Einführung #

An diesem Festtag zu Ehren von Michael Coester wollen wir den Blick auf das Familienrecht in Europa richten und fragen: Wo stehen wir und wohin gehen wir? Die Europäische Union und Europa befinden sich zurzeit in einer tiefen Krise oder durchlaufen zumindest eine erhebliche Durststrecke. Das europäische Projekt wird wie nie zuvor von innen angezweifelt und von außen angefeindet. Wir stehen damit vor einer historischen Aufgabe – uns darüber im Klaren zu werden, was Europa für uns bedeutet und welche Zukunft wir für Europa sehen. Es kommt daher darauf an, jenseits der bloßen Beschwörung eines europäischen Wertesystems die Gemeinsamkeiten in den Grundwerten und Grundüberzeugungen auszumachen, die trotz aller Vielfalt und nationaler Eigenheiten bestehen. Die familiären Lebensformen haben sich in den vergangenen Jahrzehnten europaweit grundlegend gewandelt. Partnerschaft wird auf höchst unterschiedliche Weise gelebt und moderne Familien sind so bunt und vielfältig wie nie zuvor. Paarbeziehung und Elternschaft werden zusehends entkoppelt. Dieser Wandel manifestiert sich im Recht der Paar- wie auch Familienbeziehungen. Angesichts dessen gilt es zum einen zu betrachten, welche elementaren Übereinstimmungen sich in dieser Entwicklung identifizieren lassen, die zu einem Kanon der Grundwerte europäischen Familienrechts gerechnet werden könnten. Zum anderen ist aber auch zu ermitteln, wo sich nicht zuletzt in Anbetracht der erheblichen Erweiterung der Union sowie der steigenden Migration – nach wie vor oder neuerdings – Divergenzen und künftige Herausforderungen für ein modernes Familienrecht in Europa zeigen.

_____ Hinweis: Erweiterte und um Nachweise ergänzte Fassung, die Vortragsform wurde beibehalten. Die Autorin dankt ihrer Wiss. Mit. Anja Timmermann für ihre wertvolle Unterstützung bei der Vorbereitung der Schriftfassung. https://doi.org/10.1515/9783110552355-003

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II. Gemeinsame Grundlinien und Herausforderungen für die Zukunft 1. Europäisches Recht und nationale Rechte a) Internationales Verfahrens- und Privatrecht im Bereich von Scheidung und Güterrecht Zunächst ist die Entwicklung offenkundig durch die zunehmende Europäisierung des Internationalen Verfahrens- und Privatrechts bestimmt. Seit Brüssel mit Blick auf die Freizügigkeit das Familienrecht entdeckt hat, ist die Kollisionsrechtsvereinheitlichung in einem rasanten Prozess auf weite Teile desselben erstreckt worden, zuletzt mit den beiden Güterrechts-Verordnungen.1 Für diese wurde erneut der bereits mit der Rom III-Verordnung2 beschrittene Weg der Verstärkten Zusammenarbeit nutzbar gemacht. Er lässt in hochsensiblen und sehr streitigen Fragen eine Vereinheitlichung auch ohne die sonst notwendige Einstimmigkeit zu und ermöglicht damit letztlich eine sukzessive Schaffung einheitlichen europäischen Kollisionsrechts – was sich schon daran zeigt, dass bei der Rom III-Verordnung die Zahl der teilnehmenden Staaten seit 2012 bereits gestiegen ist. Eine der großen Errungenschaften und einen gemeinsamen Wert stellt ohne Zweifel die derzeit mit dem Brexit in den Fokus der politischen Debatte um die Zukunft Europas getretene Personenfreizügigkeit dar. Diesen Wert gilt es in grenzüberschreitenden Familienbeziehungen durch vollständige Statusfreizügigkeit zu verwirklichen, sodass künftig weitere europäische Akte darauf zielen müssen, auch die Hindernisse zu beseitigen, die sich aus Unterschieden des materiellen Rechts etwa im Bereich der Eheschließung, des Namens oder der Abstammung ergeben. Grundsätzlich müssen Menschen, die in einem Mitgliedstaat wirksam verheiratet sind, dies auch andernorts sein, ihre Namen

_____ 1 Verordnung (EU) 2016/1103 des Rates vom 24.6.2016 zur Durchführung einer Verstärkten Zusammenarbeit im Bereich der Zuständigkeit, des anzuwendenden Rechts und der Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Fragen des ehelichen Güterstands; sowie Verordnung (EU) 2016/1104 des Rates vom 24.6.2016 zur Durchführung der Verstärkten Zusammenarbeit im Bereich der Zuständigkeit, des anzuwendenden Rechts und der Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Fragen güterrechtlicher Wirkungen eingetragener Partnerschaften. 2 Verordnung (EU) Nr. 1259/2010 des Rates vom 20.12.2010 zur Durchführung einer Verstärkten Zusammenarbeit im Bereich des auf die Ehescheidung und Trennung ohne Auflösung des Ehebandes anzuwendenden Rechts.

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in anderen Mitgliedstaaten anerkannt werden und Kinder überall dieselben rechtlichen Eltern haben.

b) Materielles Familienrecht Dies lenkt den Blick auch schon auf das materielle Familienrecht in Europa, das heute im Mittelpunkt stehen soll: Seine Entwicklung ist durch eine merkliche Harmonisierung und das Entstehen gemeineuropäischer, auf den Gewährleistungen der Grund- und Menschenrechte beruhender Prinzipien geprägt. Befördert worden ist dieser Prozess zum einen durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der zusehends einen gemeinsamen europäischen Konsens auch in Fragen des Privat- und Familienlebens konstatiert, welcher nationale Beurteilungsspielräume schwinden lässt,3 und der die evolutiv-dynamische Auslegung der Europäischen Menschenrechtskonvention als living instrument vorantreibt.4 Maßgeblich beeinflusst ist die Harmonisierung aber zum anderen auch durch die Wissenschaft. Als großer Rechtsvergleicher des Familienrechts waren Sie, lieber Herr Coester, hieran wesentlich beteiligt – wie viele andere hier Anwesende ebenfalls, besonders natürlich Ihre Frau, mit der Sie auch gemeinsam wichtige Beiträge hierzu geleistet haben.5 In den vergangenen 15 Jahren hat dieser Prozess der Harmonisierung seinen Niederschlag vor allem in den Principles der Commission on European Family Law gefunden, die mittlerweile weite Bereiche des Ehe- und Kindschaftsrechts erfassen: Nachdem die Prinzipien betreffend die Ehescheidung und den nachehelichen Unterhalt 2004 den Anfang gemacht hatten,6 folgten drei Jahre später solche zur elterlichen Verantwortung;7 2013 wurden die Prinzipien zu den vermögensrechtlichen Beziehungen zwischen Ehegatten fertiggestellt.8 Derzeit in Arbeit befinden sich Prin-

_____ 3 Zum Umfang des Beurteilungsspielraums EGMR (Große Kammer), NJW 2012, 207, 210; NJW 2013, 2173, 2179; NJW 2015, 3703, 3705; EGMR, Ent. v. 21.7.2015 – 18766/11 und 36030/11, Rn. 162. 4 Siehe nur EGMR, NJW 2010, 501, 504; EGMR (Große Kammer), NJW 2013, 2173, 2178; dazu auch Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 6. Aufl. 2016, § 5 Rn. 14 ff. 5 Siehe vor allem Coester-Waltjen/Coester, Formation of Marriage, in: Chloros/Rheinstein/Glendon, International Encyclopedia of Comparative Law, Volume IV: Persons and Family, 2007. 6 Boele-Woelki/Ferrand/González Beilfuss/Jänterä-Jareborg/Lowe/Martiny/Pintens, Principles of European Family Law Regarding Divorce and Maintenance Between Former Spouses, 2004. 7 Boele-Woelki/Ferrand/González Beilfuss/Jänterä-Jareborg/Lowe/Martiny/Pintens, Principles of European Family Law Regarding Parental Responsibilities, 2007. 8 Boele-Woelki/Ferrand/González Beilfuss/Jänterä-Jareborg/Lowe/Martiny/Pintens, Principles of European Family Law Regarding Property Relations Between Spouses, 2013.

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zipien zu informal relationships. Die Principles können die Grundlage für eine Angleichung oder sogar Schaffung einheitlichen materiellen Familienrechts in Europa bilden,9 das sich bislang noch auf den deutsch-französischen Wahlgüterstand der Zugewinngemeinschaft beschränkt.10 Auch dieser gilt zwar zunächst nur bilateral, könnte sich aber durch den Beitritt weiterer Mitgliedstaaten bottom up zu einem einheitlichen europäischen Güterstand fortentwickeln.11

2. Ehe und Partnerschaft im Wandel a) Gleichberechtigung der Geschlechter Nach diesem allgemeinen Überblick sollen im Folgenden zunächst die grundlegenden Gemeinsamkeiten der europäischen Familienrechtsordnungen in Bezug auf das Eherecht näher betrachtet werden: Lässt man die vergangenen Jahrzehnte Revue passieren, so ist zu konstatieren, dass die nun weithin verwirklichte Gleichberechtigung von Mann und Frau in der von ihnen autonom gestalteten Ehe eine solche grundlegende Gemeinsamkeit darstellt.12 Während die Gleichberechtigung der Geschlechter im östlichen Europa – an sozialistische Traditionen der Frau als Teil der werktätigen Massen anknüpfend – schon früh gesetzlich verankert war, zog der Westen erst deutlich später nach. Dort – und nicht zuletzt auch in Deutschland – galten zum Teil noch bis in die 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts unterschiedliche Regelungen für beide Geschlechter. Heute hingegen ist europaweit vom Ehemündigkeitsalter über das Güterrecht bis hin zum Namensrecht die Gleichberechtigung der Geschlechter – zumindest in rechtlicher Hinsicht – weitestgehend verwirklicht. So geht schon seit einigen Jahrzehnten die Entwicklung in Europa dahin, das Ehemündigkeitsalter für Frauen und Männer dem praktisch europaweit einheitlichen Volljährigkeitsalter anzupassen.13 Auch herrscht mittlerweile etwa Konsens in Bezug auf die Gleichberechtigung bei der Namenswahl nach Eheschließung.14

_____ 9 Dazu Boele-Woelki/Martiny, ZEuP 2006, 6, 8. 10 Zu diesem Dethloff, RabelsZ 76 (2012), 509 ff.; Stürner, JZ 2011, 545 ff. 11 Einen weiteren Vorschlag zur Vereinheitlichung des Familienrechts auch auf materiellrechtlicher Ebene stellt das für Paarbeziehungen mit grenzüberüberschreitendem Bezug konzipierte Rechtsinstitut einer Europäischen Ehe dar, siehe dazu Dethloff, StAZ 2006, 253 ff. 12 Vgl. auch Art. 5 des 7. Zusatzprotokolls zur EMRK. 13 Für einen rechtsvergleichenden Überblick siehe Coester-Waltjen/Coester, Formation of Marriage, in: Chloros/Rheinstein/Glendon, International Encyclopedia of Comparative Law, Volume IV: Persons and Family, 2007, 15 ff.; Dethloff/Maschwitz, StAZ 2010, 162, 163 ff. 14 Siehe EGMR, Ent. v. 16.11.2004 – 29865/96, Rn. 61.

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Gleichwohl bestehen freilich nicht selten – in manchen Ländern, vor allem Zentraleuropas, wie der Schweiz, Österreich, den Niederlanden oder auch Deutschland, deutlich mehr als in anderen – beträchtliche Unterschiede in tatsächlicher Hinsicht fort, angefangen von den beruflichen Chancen und der Entlohnung über den Umfang der Erwerbstätigkeit bis hin zur innerfamiliären Arbeitsteilung und dem Ausbau der Kinderbetreuung. Während beispielsweise in Frankreich regelmäßig beide Partner unter Inanspruchnahme von Fremdbetreuung voll erwerbstätig bleiben, werden in Deutschland nach wie vor viele Kinder durch die auf eine Vollzeiterwerbstätigkeit verzichtende Mutter betreut.15 Das Modell lebenslanger Vollzeiterwerbstätigkeit beider Partner ist damit keineswegs überall Realität, sodass die wirtschaftliche Eigenverantwortung nach Scheidung, wie auch in den CEFL-Principles vorgesehen,16 lediglich der Ausgangspunkt sein kann.17 Nachehelicher Unterhalt und güterrechtlicher Ausgleich sind auch heute keinesfalls obsolet. Das Korrelat der Autonomie, die den Partnern in der Gestaltung ihrer Beziehung zusteht, stellt die Übernahme von Verantwortung für die wirtschaftlichen Folgen gemeinsam getroffener Entscheidungen dar. Ansprüche auf nachehelichen Unterhalt knüpfen daher in erster Linie an die Arbeitsteilung während der Ehe an, weshalb etwa der Ausgleich ehebedingter Nachteile Drehund Angelpunkt des gemeineuropäischen Unterhaltsrechts geworden ist. 18 Zugleich sind hier auch Grenzen ehevertraglicher Gestaltungsfreiheit zu verorten; ein Verzicht auf nachehelichen Unterhalt unterliegt oftmals strengen Anforderungen und ist teilweise sogar überhaupt nicht möglich.19 Letztlich bedarf es eben nicht nur der Herstellung rechtlicher, sondern auch materieller Gleichheit der Geschlechter. Dies gilt freilich in Anbetracht der erheblichen Verbreitung faktischer Lebensgemeinschaften, in denen zunehmend auch Kinder aufwachsen, unabhängig vom Bestehen einer Statusbeziehung.

_____ 15 Eingehend zur Fremdbetreuung in diesen beiden Staaten Kaesling, Nacheheliche Verantwortung in Frankreich und Deutschland – Eine rechtsvergleichende Untersuchung zu Grund und Grenzen zeitgemäßen Unterhalts, 2017, S. 209 ff. 16 Vgl. Prinzip 2:2, wonach jeder Ehegatte, vorbehaltlich der nachfolgenden Prinzipien, für seinen eigenen Unterhalt nach der Ehescheidung sorgt. 17 Zu für den Unterhaltsanspruch bedeutsamen Umständen Boele-Woelki/Ferrand/González Beilfuss/Jänterä-Jareborg/Lowe/Martiny/Pintens, Principles of European Family Law Regarding Divorce and Maintenance Between Former Spouses, 2004, S. 87 ff. sowie Prinzip 2:4. 18 Vgl. jüngst Kaesling, Nacheheliche Verantwortung in Frankreich und Deutschland – Eine rechtsvergleichende Untersuchung zu Grund und Grenzen zeitgemäßen Unterhalts, 2017, S. 315, 318; eingehend auch Schwenzer, in: Brühler Schriften zum Familienrecht, Bd. 15, 2008, S. 27, 34 f. 19 Dethloff, in: Boele-Woelki/Miles/Scherpe, The Future of Family Property in Europe, 2011, S. 65, 81 ff.

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b) Faktische Lebensgemeinschaften Hiermit komme ich zu einer zweiten bedeutenden Entwicklung des europäischen Familienrechts, die allerdings zurzeit noch weit mehr in Bewegung ist, und zwar der rechtlichen Regelung faktischer Partnerschaften. Sie frei zu leben und autonom zu gestalten, ist als Ausfluss des Selbstbestimmungsrechts des Individuums nunmehr schon seit geraumer Zeit anerkannt. Mittlerweile gewinnt aber eine gewisse Verrechtlichung faktischer Gemeinschaften deutlich an Verbreitung. Die mehr oder minder umfassenden Regelungen und Ausgleichsregime knüpfen dabei häufig an ein faktisches Zusammenleben ab einer gewissen Mindestdauer oder teilweise bei Vorhandensein gemeinsamer Kinder an.20 Zu finden sind derartige Ausgleichssysteme nicht nur in Kerneuropa, sondern auch in osteuropäischen Ländern, wo sie oftmals noch als Erbe sozialistischer Gleichstellung faktischer Lebensgemeinschaften fortbestehen. Europaweit sind solche Systeme heute jedoch meist mit weniger Rechten und Pflichten als denen der Ehe ausgestattet und sehen vor allem bei Trennung oder Tod einen gewissen Ausgleich, auch hier insbesondere für partnerschaftsbedingte Nachteile, vor. Einen Ausgleichsanspruch bei Trennung, der durch die Aufgabenteilung entstandene Vermögensnachteile kompensieren soll, kennen etwa die spanischen autonomen Rechte sowie das schottische Recht.21 Obgleich die verschiedenen Regime Eigenverantwortung auf der einen und Schutzbedürfnis auf der anderen Seite durchaus unterschiedlich betonen, setzt sich doch zunehmend die Erkenntnis durch, dass ein Unterlassen privatautonomer Gestaltungen in emotionalen Nähebeziehungen meist nicht Ausdruck einer bewussten Ablehnung des rechtlichen Rahmens der Ehe oder jedweder rechtlicher Regulierung ist, sondern verbreitet auf einer überoptimistischen Einschätzung der Dauerhaftigkeit der Beziehung, der Scheu, eine mögliche Trennung und ihre Folgen zu thematisieren, oder auch schlicht fehlender Rechtskenntnis beruht,22 und dass es angesichts verbreiteter partnerschaftsbedingter Nachteile keineswegs stets am Schutzbedürfnis fehlt. In Anbetracht dessen stellt das gegenwärtige Projekt der CEFL, European Principles of informal relationships zu entwickeln, eine zwar anspruchsvolle, aber auch sehr wichtige Aufgabe dar.23 Wie dies schon bei anderen Principles

_____ 20 Schwenzer/Keller, in: FS Brudermüller, 2014, S. 761, 763. 21 Rechtsvergleichend zu den vermögensrechtlichen Folgen bei Auflösung faktischer Lebensgemeinschaften Antokolskaia, in: FS Pintens, 2012, S. 41, 50 ff. 22 Dazu Antokolskaia, in: FS Pintens, 2012, S. 41, 47 ff. 23 Die Länderberichte sind bereits veröffentlicht in Boele-Woelki/Mol/van Gelder, European Family Law in Action, Volume V – Informal Relationships, 2015.

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der Fall war, könnten sie als Quelle der Inspiration oder als Modell für Gesetzgeber in Ländern dienen, die bislang noch keinen Rechtsrahmen für faktische Lebensgemeinschaften geschaffen haben. So könnten die Prinzipien auch in Deutschland bald die Diskussion stärker in Richtung einer gesetzlichen Regelung bewegen und auf diese Weise dazu beitragen, dass der Schutz des durch die einvernehmlich gelebte Aufgabenteilung benachteiligten Partners bei Trennung nicht länger den unzureichenden Instrumentarien der Rechtsprechung überlassen bleibt.24

c) Registrierte Partnerschaften Drittens ist zu konstatieren, dass im Zuge der Anerkennung alternativer Lebensformen neben die Ehe als vormals einzigem Statusverhältnis neue Rechtsinstitute registrierter Partnerschaften getreten sind.25 Zumeist richteten sich diese Institute ausschließlich an gleichgeschlechtliche Paare. Da Diskriminierungsverbote vermehrt auch das Merkmal der sexuellen Orientierung erfassten, sollte auf diese Weise vor allem auch Homosexuellen, denen die Eheschließung vorenthalten war, die Möglichkeit zur Verrechtlichung ihrer Beziehung eröffnet werden. Vorreiter bei der Schaffung registrierter Partnerschaften für Gleichgeschlechtliche waren die nordischen Staaten mit Dänemark als erstem Land im Jahr 1989, gefolgt von Norwegen, Schweden, Island und im Jahr 2002 schließlich auch Finnland. Alternativen zur Ehe, die – wie etwa der französische PACS – auch heterosexuellen Paaren offenstehen, stellten demgegenüber eine deutlich weniger verbreitete Erscheinung dar; sie finden sich mit der cohabitation légale auch im belgischen und mit dem partenariat im luxemburgischem Recht, des Weiteren zudem in einigen spanischen Autonomen Regionen.26 Die registrierten Partnerschaften, die nur gleichgeschlechtlichen Paaren offenstanden, wurden seither aufgrund fortschreitender Anerkennung vollständiger Gleichberechtigung europaweit mit immer mehr Rechten ausgestattet und – wie die eingetragene Lebenspartnerschaft des deutschen Rechts – der verschiedengeschlechtlichen Ehe zunehmend ähnlicher.27 Nach anfänglicher Zurückhal-

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24 Für die gesetzliche Regelung eines Unterhaltsanspruchs bei gemeinschaftsbedingter Bedürftigkeit bereits Dethloff, Gutachten A zum 67. Deutschen Juristentag, 2008, A 143 ff.; Wellenhofer, FamRZ 2015, 973, 975 f. 25 Dazu Scherpe/Hayward, in: Scherpe/Hayward, The Future of Registered Partnerships – Family Recognition Beyond Marriage?, 2017, S. 1, 3 f. 26 Dazu Dethloff, Familienrecht, 31. Aufl. 2015, § 7 Rn. 54 f. 27 Zur Entwicklung der Regime für gleichgeschlechtliche Paare Dutta, AcP 216 (2016), 609, 620 ff.

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tung, vor allem hinsichtlich kindschaftsrechtlicher Wirkungen, wurden später oft die Stiefkindadoption und vermehrt auch die gemeinschaftliche Adoption fremder Kinder zugelassen.28 Hinsichtlich der Existenz eines Rechtsrahmens für gleichgeschlechtliche Paare ist jedenfalls nun ein weitgehender europäischer Konsens feststellbar; nicht zuletzt deshalb besteht in Bezug auf die Schaffung eines solchen Rechtsrahmens kaum mehr ein Beurteilungsspielraum und damit praktisch eine Pflicht hierzu.29 Die bisherige Entwicklung lässt allerdings darauf schließen, dass derartige Rechtsinstitute letztlich eher eine vom Aussterben bedrohte Übergangserscheinung darstellen, die in manch weltanschaulich-religiöser Schlacht um das überkommene christlich-abendländische Verständnis von Ehe dem sozialen Wandel den Weg zur rechtlichen Regelung geebnet hat.30 So wurde die Möglichkeit zur Neubegründung registrierter Partnerschaften für Gleichgeschlechtliche etwa in Dänemark, Schweden und nunmehr auch in Deutschland inzwischen schon wieder abgeschafft. Sieht eine Rechtsordnung weiterhin eine nahezu eheidentische registrierte Partnerschaft vor, stellt es keine gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstoßende Diskriminierung dar, wenn die Eingehung einer solchen heterosexuellen Paaren, denen die Ehe offensteht, verwehrt bleibt.31 Dennoch könnte registrierten Partnerschaften, freilich bei entsprechend schwächerer Ausgestaltung, eine Zukunft als echte Alternative zur Ehe beschieden sein, die Personen ungeachtet ihres Geschlechts wählen könnten.32 In Frankreich boomt der PACS, in der Schweiz plädiert der Bundesrat dafür, einen neuen Zivilstand einzuführen,33 und auch in Deutschland ist in jüngerer Zeit ein Bedürfnis für einen Pakt für das Zusammenleben artikuliert worden.34 Anknüpfungspunkt derartiger Modelle wäre die Verantwortung, die Menschen in vielfältigen Formen von Gemeinschaften füreinander übernehmen. Der Zugang zu jenen wäre damit nicht – gleich- und verschiedengeschlechtlichen – Liebespaaren vorbehalten, sondern bestünde auch für andere Beziehungen, wie etwa Wohn- und Lebensgemeinschaften im Alter.

_____ 28 Dazu noch unten unter B. III. 3. 29 Vgl. EGMR, NJOZ 2017, 34, 39. 30 Zur registrierten Partnerschaft als Zwischenstufe auch Coester-Waltjen/Coester, in: FS Brudermüller, 2014, S. 73, 74 f. 31 EGMR, FamRZ 2017, 2030. 32 Eingehend zur möglichen Ausgestaltung der registrierten Partnerschaft als „Ehe light“ Dutta, AcP 216 (2016), 609, 629 ff. 33 Siehe dazu den Bericht des Bundesrates, Modernisierung des Familienrechts, 2015, S. 31. 34 So das Bundestagswahlprogramm 2017 von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, S. 210.

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d) Öffnung der Ehe Viertens ist auf den Siegeszug zu verweisen, den die „Ehe für alle“ – auch und gerade in Europa – angetreten hat. Seit vor nicht einmal 16 Jahren die Niederlande als erstes Land der Welt die Ehe geöffnet haben, sind dem bis heute 14 weitere Länder gefolgt – zunächst Belgien und Spanien, zuletzt Finnland sowie Malta.35 Nachdem auch Deutschland am historischen 30.6.2017 diesen Schritt gegangen ist,36 bildet sich allerdings gerade in diesem Bereich in jüngster Zeit eine Kluft heraus. Sie besteht vor allem zwischen dem Westen einerseits und dem Osten bzw. Südosten Europas andererseits: In einer Reihe osteuropäischer Staaten wurden mit zunehmender Religiosität und wachsendem Einfluss der Kirchen sowie mit Erstarken nationalistischer und zum Teil autoritärer Strömungen die die Ehe unter Schutz stellenden Verfassungsnormen geändert. Seither sind diese nicht mehr geschlechtsneutral formuliert; vielmehr ist die Ehe ausdrücklich nur noch als Verbindung von Mann und Frau verfassungsrechtlich geschützt.37 In Slowenien wurde Ende 2015 das Gesetz, das die Ehe für alle öffnete, durch ein Referendum wieder zu Fall gebracht.38 Soweit es um die Anerkennung gleichgeschlechtlicher Lebensformen und den Abbau der Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung geht, muss festgehalten werden, dass ein common ground hinsichtlich des Instituts der Ehe in weiter Ferne ist39 und sich die Gemeinsamkeiten auf einen Kern Europas beschränken. Obschon sich mit Blick auf die materiellrechtliche Harmonisierung ein Europa der zwei Geschwindigkeiten entwickelt, ist es erstrebenswert, zumindest in grenzüberschreitenden Beziehungen europaweit Freizügigkeit für gleichgeschlechtliche Paare zu gewährleisten, einen Verlust ihres Status zu verhindern und ihnen die Scheidung sowie einen vermögensrechtlichen Ausgleich zu ermöglichen. Hierfür bedarf es einer Anerkennung der gleichgeschlechtlichen Ehe in den europäischen Verordnungen.40 Angesichts dieses grundlegenden Wandels des Eheverständnisses in Kerneuropa mag sich ferner die Frage stellen, ob künftig auch andere Strukturprinzipien der Ehe auf dem Prüfstand stehen, die bislang zum Grundbestand euro-

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35 Siehe die Auflistung bei BeckOK BGB/Heiderhoff, 43. Ed. 15.6.2017, Art. 17b EGBGB Rn. 6.1; zusätzlich Malta aufgrund des Gesetzesbeschlusses vom 12.7.2017. 36 Gesetz zur Einführung des Rechts auf Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts vom 20.7.2017, BGBl. 2017, I, 2787 f. 37 Dethloff, Familienrecht, 31. Aufl. 2015, § 3 Rn. 61. 38 Vgl. https://www.bergmann-aktuell.de/news/volksabstimmung-bringt-regelung-gleichge schlechtlichen-ehen-fall. 39 Dazu, dass sich aus der EMRK keine Pflicht zur Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare ergibt, jüngst noch EGMR, Ent. v. 9.6.2016 – 40183/07, Rn. 48 ff. 40 So auch BeckOGK/Gössl, Stand 1.8.2017, Art. 1 Rom III-VO Rn. 59, 61, 64 ff.

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päischer Rechtstraditionen gehörten. Wird so etwa vor dem Hintergrund zunehmender Migration aus Ländern, die die polygame Ehe erlauben, auch das Verbot der Mehrehe verhandelbar werden?41 Sie in ihrer herkömmlichen Form der Polygynie zuzulassen, stünde offensichtlich im Widerspruch zum Grundsatz der Gleichberechtigung der Geschlechter. Dies wäre aber auch bei einer geschlechtsneutralen Form der Fall, die Frauen gleichermaßen gestattete, mehrere Männer zu heiraten. Entscheidend ist die Asymmetrie, die vorliegt, wenn ein Partner des einen Geschlechts mit mehreren des anderen Geschlechts in einer Lebensgemeinschaft verbunden sein kann, in der wechselseitige Rechte und Pflichten zwischen ihm auf der einen und seinen Ehepartnern auf der anderen Seite bestehen.42 Der Grundsatz der Gleichberechtigung der Geschlechter erfordert es, dass jeder Partner gegenüber jedem anderen dieselben Rechte und Pflichten hat und der Stimme aller in Angelegenheiten der Lebensgemeinschaft dasselbe Gewicht zukommt. Nur für polyamore Verbindungen, die diese Voraussetzungen erfüllen, bestünden daher keine Bedenken, die Beschränkung auf zwei Personen aufzugeben. Auch wenn die Polyamorie nun in Europa ebenfalls zunehmend Anhänger findet, dürfte angesichts ihrer derzeit noch geringen Verbreitung die Zulassung einer auf Gleichberechtigung beruhenden Mehroder Gruppenehe nicht unmittelbar auf der Agenda stehen. Die Behandlung nach religiösem Recht geschlossener polygamer Ehen wird hingegen eher eine der künftigen Herausforderungen für das Familienrecht in Europa darstellen.43 Zum einen gilt es, im Ausland geschlossenen und gelebten Partnerschaften Schutz durch rechtliche Anerkennung ihrer Ehe zu gewähren, die zudem nach Möglichkeit in ganz Europa einheitlichen Maßstäben folgen sollte. Zum anderen verhindern inländische Verbote der Polygamie nicht, dass polygame Beziehungen bestehen oder entstehen.44 Denn das staatliche Verbot berührt die Anerkennung einer nach religiösem Recht geschlossenen polygamen Ehe innerhalb der Religionsgemeinschaft nicht. So wird es solche Ehen auch weiterhin geben, sei es durch erneute Eheschließung des Mannes nach zuvor erfolgter staatlicher Scheidung von der Erstfrau, die den Bestand dieser Ehe aus Sicht der Religionsgemeinschaft nicht tangiert, oder aufgrund einer nur religiösen Eheschließung mit der zweiten Frau.45 Die Umgehung des Polygamieverbotes

_____ 41 Dies für absehbar haltend bereits Schwenzer, in: Brühler Schriften zum Familienrecht, Band 15, 2008, S. 27, 32. 42 So schon Dethloff, in: FS Schwenzer, 2011, S. 409, 420 f. 43 Zur Polygamie in den religiösen Rechten Coester/Coester-Waltjen, FamRZ 2016, 1618 ff. 44 Zu polygamen Parallelstrukturen Coester/Coester-Waltjen, in: FS Hahne, 2012, S. 21, 31 f. 45 Zu den sich daraus ergebenden Schutzlücken und möglichen Lösungen ausführlich auch Dethloff, in: FS Schwenzer, 2011, S. 409, 422 ff.

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geht dabei stets zulasten der Frauen, denn in jedem Fall ist eine von ihnen nicht durch die staatliche Rechtsordnung abgesichert, was insbesondere bei Trennung gravierende Folgen nach sich zieht. Von Bedeutung ist vor allem, den Schutz von Frauen zu verbessern, die aus polygamen Beziehungen ausbrechen wollen. Aber auch bei einer Trennung auf Betreiben des Mannes muss eine wirtschaftliche Absicherung der Frau gewährleistet sein. Eine Möglichkeit bestünde darin, den für den Fall der Trennung faktischer Lebensgemeinschaften vorhandenen bzw. vorzusehenden Mindestschutz unter Umständen auch staatlich nicht anerkannten Zweit- oder Drittfrauen zuzuerkennen.46 In diesem Zusammenhang wäre dann auch der bislang in den verschiedenen Rechtsordnungen, die ein solches Schutzregime bereits vorsehen, nicht unbedingt einheitlich geregelte Aspekt von Bedeutung, ob das Eingreifen des betreffenden Regimes allgemein voraussetzt, dass weder eine formalisierte noch eine faktische Beziehung mit einer dritten Person besteht, oder aber ob dieses unabhängig davon Anwendung findet.

3. Neue Formen der Familiengründung a) Familiengründung und Selbstbestimmung Die wachsende Anerkennung der Selbstbestimmung des Individuums, die eng mit dem Abbau von Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts wie auch der sexuellen Orientierung verknüpft ist, prägt aber nicht nur den Wandel des Rechts der Paarbeziehungen, sondern wirkt sich europaweit auch mit Blick auf die Familiengründung aus. Das Recht auf Gründung einer Familie wird von den nationalen Rechtsordnungen weithin als Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts in einem elementaren Bereich der Persönlichkeitsentfaltung erachtet. Dies hat zur Folge, dass Beschränkungen seiner Verwirklichung durch medizinisch assistierte Reproduktion oder auch durch Adoption eines Kindes immer mehr abnehmen; dennoch wird es auch heute keineswegs diskriminierungsfrei gewährleistet.

b) Assistierte Reproduktion Mit der Zulassung der heterologen Befruchtung wird die reproduktive Autonomie heute europaweit grundsätzlich anerkannt.47 Auch wird die Inanspruch-

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46 In diese Richtung auch Coester/Coester-Waltjen, FamRZ 2016, 1618, 1627. 47 Schon 2011 war die Samenspende nur noch in vier Staaten des Europarates verboten, EGMR (Große Kammer), NJW 2012, 207, 210.

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nahme von Samenspenden zunehmend unabhängig von Status und Geschlecht, also frei von Diskriminierungen erlaubt. Die Überwindung weiblicher Unfruchtbarkeit durch Eizellspenden stellt dagegen ein Verfahren dar, das erst in jüngerer Zeit vermehrt zugelassen worden ist, so etwa in Dänemark, den Niederlanden, Belgien, Spanien und mittlerweile in Österreich.48 Angesichts wachsender Verbreitung dürfte hier heute, anders als noch zu dem Zeitpunkt, auf den der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seiner Entscheidung zum österreichischen Verbot der Eizellspende abstellte,49 eher ein europäischer Konsens existieren, der den staatlichen Beurteilungsspielraum einschränkt. Deutlich anders stellt sich die Situation hingegen nach wie vor bei der Leihmutterschaft dar: Diese bedeutet zwar für ein gleichgeschlechtliches Männerpaar – und unter Umständen auch für ein heterosexuelles Paar – den einzigen Weg zur Sicherung der reproduktiven Autonomie, indem das Paar ein genetisch zumindest mit einem der beiden Partner verbundenes Kind bekommen kann. Dennoch dürfte die Leihmutterschaft selbst in altruistischer Form, in der Portugal sie nun als weiteres Land nach dem Vereinigten Königreich und Griechenland ausdrücklich legalisiert hat, in absehbarer Zeit nicht Grundlage einer gemeineuropäischen Entwicklung werden.50 Eine der künftigen Aufgaben wird hier vielmehr darin bestehen, europaweit in grenzüberschreitenden Fällen die rechtliche Elternschaft für ein von einer Leihmutter geborenes Kind sicherzustellen, die bislang oft, wenn überhaupt, nur durch eine Adoption zu erreichen ist. In diese Richtung weisen bereits die Arbeiten der Haager Konferenz für Internationales Privatrecht.51

c) Zugang zur Adoption Allgemein unterliegt auch die Freiheit zur Gründung einer Familie im Wege der Adoption zunehmend weniger Beschränkungen. So ist eine deutliche Tendenz dahingehend zu verzeichnen, die gemeinschaftliche Adoption eines Kindes nicht mehr allein Eheleuten vorzubehalten, sondern sie unabhängig vom Status der Adoptionswilligen zu ermöglichen.52 Faktischen Paaren steht die gemein-

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48 Siehe Dethloff, Abstammung und Verantwortung – Elternschaft bei assistierter Reproduktion als Aufgabe der Rechtspolitik, 2017, S. 1. 49 Siehe EGMR (Große Kammer), NJW 2012, 207, 209 f. 50 Rechtvergleichend zur Leihmutterschaft Dethloff, in: Ditzen/Weller, Leihmutterschaft – Aktuelle Entwicklungen und interdisziplinäre Herausforderungen, im Erscheinen; Helms, StAZ 2013, 114, 115 ff. 51 Siehe dazu Trimmings/Beaumont, J Priv Int L 2011, 627, 633 ff. 52 Siehe Dethloff, Familienrecht, 31. Aufl. 2015, § 15 Rn. 85.

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schaftliche Adoption inzwischen beispielsweise in Spanien, im Vereinigten Königreich und in den Niederlanden offen.53 Gleichgeschlechtliche Paare, für die eine registrierte Partnerschaft geschaffen oder denen schließlich die Eheschließung erlaubt wurde, erhielten – wie bereits angedeutet – häufig in einem zweiten Schritt auch das Recht zur Adoption. Oftmals war diese Öffnung zunächst – wie in Deutschland – auf die Stiefkindadoption beschränkt, bevor in der Folge, so etwa in Island und Dänemark, dann auch die gemeinschaftliche Annahme eines fremden Kindes ermöglicht wurde.54 Ein common core ist insoweit allerdings derzeit auf Kerneuropa begrenzt. Die Adoption status- und geschlechtsunabhängig allen Personen zu eröffnen, die zur Übernahme von Elternverantwortung bereit und in der Lage sind, stellt eine Aufgabe dar, deren künftige Bewältigung von großer Wichtigkeit ist. Denn die gegenwärtigen Restriktionen der Adoptionsmöglichkeit bedeuten nicht nur eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung der Partner, sondern auch der betroffenen Kinder, deren Wohl oftmals gerade die Absicherung sozialer Elternschaft fordert.

4. Eltern-Kind-Beziehungen Damit ist auch bereits der letzte hier anzusprechende Punkt erwähnt, die wachsende Berücksichtigung der Perspektive des Kindes im Recht der Eltern-KindBeziehungen. Auf diesen Aspekt möchte ich abschließend näher eingehen – nicht nur, weil es sich um eine zentrale Entwicklung im europäischen Familienrecht handelt, sondern auch, weil unser Jubilar mit seinen Arbeiten einen ganz wesentlichen Anteil hieran hatte. Allen voran sei nur sein großes, Weitblick beweisendes Werk „Das Kindeswohl als Rechtsbegriff“ genannt,55 mit dem seine unermüdliche Arbeit im Dienste des Wohls des Kindes ihren Anfang nahm – und die angesichts der Vielfalt moderner Familienformen ständig vor neuen Herausforderungen steht.

_____ 53 Schwenzer, RabelsZ 71 (2007), 705, 723 f. 54 Ausführlich Dethloff, Die gemeinschaftliche Adoption durch eingetragene Lebenspartner_innen: Die Sukzessivadoption reicht nicht!, Gutachten für die Friedrich-Ebert-Stiftung, 2015, S. 29 ff. 55 Coester, Das Kindeswohl als Rechtsbegriff: Die richterliche Entscheidung über die elterliche Sorge beim Zerfall der Familiengemeinschaft, 1983.

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a) Kindeswohl und Kinderrechte Über lange Zeit hinweg wurden Kinder als Objekte betrachtet, zunächst benötigt als Arbeitskräfte, dann zunehmend als Objekte der Liebe und Sorge. Erst allmählich rückten ihr Schutz und ihr Wohlergehen in den Fokus. In den vergangenen Jahrzehnten sind das Kindeswohl oder die best interests of the child schließlich mehr und mehr Leitprinzip oder vorrangiges Ziel geworden, an dem Gesetzgeber die Ausgestaltung von Normen orientieren und das Gerichte ihren Entscheidungen im Einzelfall zugrunde legen.56 Als common core ist das Kindeswohl auch in den CEFL-Principles als oberster in Betracht zu ziehender Gesichtspunkt verankert.57 Darüber hinaus ist aber mittlerweile europaweit auch ein Perspektivwechsel festzustellen, der von der bloßen Berücksichtigung des Kindeswohls hin zur Anerkennung von Kinderrechten geführt hat.58 Zunehmend werden Kindern als autonomen Subjekten eigenständige Rechte zuerkannt, die ihnen unabhängig von ihrer Minderjährigkeit zustehen: Erstmals international verbindlich anerkannt wurde die Subjektstellung des Kindes in den umfassenden Gewährleistungen der Konvention der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes von 1989. Während die Konvention im Hinblick auf die Festschreibung der vorrangigen Berücksichtigung des Kindeswohls bei allen das Kind betreffenden Maßnahmen59 eine sich zu diesem Zeitpunkt bereits in vielen Rechtsordnungen abzeichnende Entwicklung aufnahm, hat sie bezüglich der Verankerung von Kinderrechten vor allem auch die europäischen Rechtsordnungen erheblich mitbeeinflusst. Seit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon am 1.12.2009 sind die Rechte des Kindes zudem im Vertragswerk der Europäischen Union enthalten. Nach Art. 3 EUV hat die Union sich den Schutz der Rechte des Kindes zum Ziel gesetzt und will hierzu ihren Beitrag leisten.60 Auch die nunmehr ebenfalls zum Primärrecht der Europäischen Union zählende und damit verbindliche Charta der Grundrechte der Europäischen Union61 enthält über die allgemeinen Rechte

_____ 56 Zum Kindeswohl im deutschen Recht eingehend Staudinger/Coester, Neubearbeitung 2016, § 1666 Rn. 65 ff. 57 Vgl. Boele-Woelki/Ferrand/González Beilfuss/Jänterä-Jareborg/Lowe/Martiny/Pintens, Principles of European Family Law Regarding Parental Responsibilities, 2007, S: 35 ff. sowie Prinzip 3:3. 58 Dazu bereits Dethloff/Maschwitz, FPR 2012, 190 f. 59 Vgl. Art. 3 Abs. 1 UN-KRK; ebenso auch Art. 24 Abs. 2 GRC. 60 Siehe insbesondere Art. 3 Abs. 3 Unterabs. 2 sowie Abs. 5 Satz 2 EUV; näher zum unionsrechtlichen Kinderrechtsschutz nach dem Vertrag von Lissabon Steindorff-Classen, EuR 2011, 19 ff. 61 Vgl. Art. 6 Abs. 1 EUV.

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und Freiheiten hinaus solche Rechte, die unmittelbar Kinder betreffen.62 Dieser Wandel bewirkt zugleich, dass Eltern und Kind nicht länger als rechtliche Einheit betrachtet werden können; vielmehr bedarf es in einem modernen Familienrecht einer Neudefinition der Positionen von Kind, Eltern und Staat unter Berücksichtigung der wachsenden Autonomie des Kindes.63 Durch die dargelegten Entwicklungen ist heute das gesamte Kindschaftsrecht geprägt. Sie haben zur Entstehung gemeinsamer europäischer Grundprinzipien vor allem hinsichtlich der Regelung der elterlichen Verantwortung, aber vermehrt auch der rechtlichen Elternschaft geführt.

b) Rechtliche Elternschaft aa) Adoption im Wandel Lassen Sie mich mit letzterer fortfahren. Wenn es um die Begründung rechtlicher Elternschaft durch Adoption geht, so stellt das Kindeswohl als Tatbestandsmerkmal bereits offenkundig einen zentralen Aspekt dar. Es ist aber zudem gerade das Kindeswohl, das die zunehmend eröffnete Möglichkeit der Adoption unabhängig von Status und auch sexueller Orientierung der Adoptierenden gebietet.64 Nimmt man die Perspektive der Kinder ein, so geht es um ihr Recht, von denjenigen Personen angenommen werden zu können, die bereits Elternverantwortung für sie übernehmen und zu denen folglich eine soziale Eltern-KindBeziehung besteht. Gerade der Blick auf die Adoption durch gleichgeschlechtliche Paare, die erst in jüngerer Zeit mehr und mehr, bislang aber keineswegs in ganz Europa zugelassen wurde, zeigt, wie stark das Verständnis des Kindeswohls dem Wandel unterliegt. Dieses kann kaum völlig losgelöst von den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen bestimmt werden und ist damit durchaus zeit- und kulturabhängig. Zugleich erweist es sich deshalb aber auch als sehr anfällig dafür, herrschende Meinungen und gewisse Vorverständnisse oder gar weltanschaulich-religiöse Grundpositionen zu perpetuieren oder zu transportieren. Die

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62 In Bezug auf den Geltungsbereich dieser Rechte ist jedoch Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRC zu beachten, nach dem die GRC für Organe, Einrichtungen und sonstige Stellen der Union unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union gilt. 63 Zur Autonomie des Kindes Boele-Woelki/Ferrand/González Beilfuss/Jänterä-Jareborg/Lowe/ Martiny/Pintens, Principles of European Family Law Regarding Parental Responsibilities, 2007, S. 40 ff. sowie Prinzip 3:4. 64 Dazu, dass die Versagung einer Adoption aufgrund der sexuellen Orientierung der adoptionswilligen Person gegen die EMRK verstößt EGMR (Große Kammer), NJW 2009, 3637, 3641.

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Notwendigkeit, auf die Forschungserkenntnisse anderer Disziplinen zu rekurrieren, ist daher in diesem Bereich besonders groß. Hier sehe ich eine der künftigen Aufgaben darin, grenzüberschreitend in Kooperation verschiedenster Disziplinen weiterzuarbeiten, um forschungsbasierte gemeineuropäische Konzepte des Kindeswohls zu entwickeln.

bb) Elternschaft nach assistierter Reproduktion Nimmt man die Regelungen der rechtlichen Elternschaft nach assistierter Reproduktion in den Blick, wie sie heute in einer rasch wachsenden Zahl von Ländern in Reproduktionsmedizingesetzen ihren Niederschlag finden, so lassen sich auch dort grundlegende gemeinsame Prinzipien ausmachen, die eine zunehmende Orientierung am Kind und seinem Wohl erkennen lassen. Bei einer Samenspende gilt in heterosexuellen Partnerschaften praktisch europaweit der Grundsatz, dass nicht der Spender rechtlicher Vater ist, sondern der Ehemann oder oft auch faktische Partner der Mutter, der in die Fremdbefruchtung eingewilligt hat.65 Dieser Grundsatz ist zwar auch Ausdruck seines Willens zur Elternschaft und der Verantwortung, die er für die Entstehung des Kindes trägt. Er beruht aber zugleich auf dem Gedanken, dass der Mann, der sich gemeinsam mit der Mutter entschieden hat, mittels assistierter Befruchtung ein Kind zu zeugen, in aller Regel auch die soziale Elternrolle übernehmen wird. Deren rechtliche Absicherung liegt im Interesse des Kindes. Dass es dem Wohl des Kindes ebenso entspricht, wenn auch die Elternstellung der Partnerin der Mutter in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft unmittelbar mit der Geburt abgesichert werden kann, findet hingegen bislang noch keineswegs dieselbe Anerkennung. Vor allem in jüngerer Zeit sind jedoch in einer wachsenden Zahl von Ländern Kerneuropas Regelungen der CoMutterschaft geschaffen worden, die es erlauben, das Kind unmittelbar mit der Geburt auch der Partnerin zuzuordnen, ohne dass es hierzu der mit einem langwierigen Verfahren verbundenen und deshalb gerade für das Kind nachteiligen Stiefkindadoption bedarf. Derartige Regelungen wurden etwa im Vereinigten Königreich bereits 2008 eingeführt, bestehen mittlerweile aber vor allem auch in den nordischen Staaten, den Niederlanden und seit 2015 in Österreich.66 Auch hier geht es letztlich um das gleiche Recht von Kindern auf Eltern, das ihnen unabhängig von deren Geschlecht und sexueller Orientierung zustehen muss.

_____ 65 Für einen Überblick siehe Helms, Gutachten F zum 71. Deutschen Juristentag, 2016, F 16 f. 66 Dazu Dethloff, in: FS Coester-Waltjen, 2015, S. 41, 49 f.

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Wird ein Kind von einer Leihmutter geboren, so besteht – angesichts des verbreiteten Verbots der Leihmutterschaft – hinsichtlich der Elternstellung zwar grundsätzlich Konsens: Rechtliche Eltern sind die Leihmutter und ihr Ehemann, nicht hingegen die Wunscheltern.67 Eine tiefe Spaltung durchzieht Europa jedoch, wenn es, wie in aller Regel, um die Elternschaft in grenzüberschreitenden Leihmutterschaftsfällen geht. Über den Ausgangspunkt herrscht in Anbetracht der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte noch weitgehend Einigkeit: Die Achtung des Privatlebens des Kindes nach Art. 8 EMRK gebietet es, dass mit ihm genetisch verwandte Wunscheltern im Inland überhaupt die Möglichkeit zur Erlangung auch der rechtlichen Elternstellung haben.68 Anerkannt ist zudem, dass sich der Schutz des Familienlebens im Sinne von Art. 8 EMRK auch auf die rein tatsächlich gelebte Beziehung zwischen Kind und Wunscheltern erstreckt, obwohl dieser Schutz mit Blick auf das Kindeswohl meines Erachtens recht spät beginnt. So ließ es der Gerichtshof hierfür nicht ausreichen, dass sich Wunscheltern, die beide nicht genetisch mit dem Kind verbunden waren, immerhin sechs Monate lang gemeinsam um dieses gekümmert hatten.69 Jenseits der Vorgaben dieser Judikate besteht jedoch grundlegender Dissens in Bezug auf die Frage, inwieweit die Durchsetzung des inländischen Verbots der Leihmutterschaft und die Prävention von Umgehungen im Ausland es erlauben oder gar erfordern, die Anerkennung einer ausländischen Elternstellung der Wunscheltern etwa aufgrund von ordre public-Erwägungen zu versagen. Während die Gerichte in Frankreich und der Schweiz aus diesem Grund eine Anerkennung verweigerten,70 stellte der österreichische Verfassungsgerichtshof fest, dass es dem Kindeswohl offensichtlich widerspräche, wenn ihm aus Sicht der nationalen Rechtsordnung seine genetische Mutter als Mutter genommen und dafür die sorgeunwillige Leihmutter in die Mutterrolle gezwungen würde.71 In Deutschland verneinte der Bundesgerichtshof ebenfalls einen Verstoß gegen den ordre public.72 Künftig sollte – der allgemeinen Entwicklung entsprechend – auch in grenzüberschreitenden Leihmutterschaftsfällen gelten, dass das Kind konsequent in den Mittelpunkt zu stellen ist. Es bedarf der europaweiten Gewährleistung, dass von Leihmüttern geborene Kinder ungeachtet des Fortbestehens des

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67 Näher Dethloff, in: Ditzen/Weller, Leihmutterschaft – Aktuelle Entwicklungen und interdisziplinäre Herausforderungen, im Erscheinen. 68 So EGMR, NJW 2015, 3211, 3217. 69 Siehe EGMR (Große Kammer), NJW 2017, 941, 943; krit. auch Hösel, StAZ 2017, 162, 166 f. sowie Sanders, NJW 2017, 925, 926. 70 Siehe nur Cour de Cassation, D. 2011, 1522; Bundesgericht Lausanne, FamRZ 2015, 1912. 71 Österreichischer Verfassungsgerichtshof, IPRax 2013, 271. 72 BGH, NJW 2015, 479.

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Verbots der Leihmutterschaft nicht eltern- oder gegebenenfalls sogar staatenlos werden. Ziel sollte vielmehr sein, einheitliche Voraussetzungen für die Anerkennung von im Ausland begründeter Elternschaft zu entwickeln und zugleich auch angesichts der Zulassung der Leihmutterschaft in einzelnen europäischen Ländern die Freizügigkeit zu verbürgen.73 Obwohl Kinder heute verbreitet in Familienkonstellationen heranwachsen, in denen mehr als zwei Personen tatsächlich Elternverantwortung für sie übernehmen, besteht schließlich – zumindest derzeit noch – europaweit Konsens hinsichtlich der Begrenzung auf zwei rechtliche Eltern. Außerhalb Europas weden bei intendierter Mehrelternschaft aber zum Teil bereits mehr als zwei Personen als Eltern anerkannt74 und in den Niederlanden könnten sich ebenfalls entsprechende Entwicklungen abzeichnen.75 Daher wird zumindest in grenzüberschreitenden Konstellationen das Recht des Kindes auf alle seine Eltern anzuerkennen sein. Überdies dürfte sich einstweilen die Frage stellen, ob der intendierten gemeinsamen Übernahme der Elternrolle, etwa durch die Mutter, ihre Partnerin und den genetischen Vater, nicht im Rahmen der Beteiligung eines Dritten an der rechtlichen Elternverantwortung Rechnung zu tragen ist. Eine solche ist zum Teil, etwa im Vereinigten Königreich, für den Stiefelternteil bereits möglich.76

c) Elternverantwortung aa) Gemeinsame Verantwortung beider Elternteile unabhängig von Status und Bestand der Elternbeziehung Im Recht der elterlichen Verantwortung sind im Übrigen weitreichende Gemeinsamkeiten in der Entwicklung zu konstatieren. Dies beginnt schon mit dem terminologischen Wechsel von der elterlichen Gewalt über die Sorge hin zum heute europaweit vorherrschenden Begriff der Elternverantwortung, den auch die CEFL-Principles verwenden. Er ist Ausdruck dessen, dass es sich um eine im Interesse des Kindes wahrgenommene Pflicht handelt, mit der auch ein Recht des

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73 Dafür schon Dethloff, JZ 2014, 922, 931. 74 Für einen Überblick siehe Dethloff/Timmermann, Gleichgeschlechtliche Paare und Familiengründung durch Reproduktionsmedizin, Gutachten für die Friedrich-Ebert-Stiftung, 2016, S. 53. 75 Siehe dazu Child and Parents in the 21st Century – Report of the Government Committee on the Reassessment of Parenthood, S. 69. 76 Für einen rechtsvergleichenden Überblick zur Elternverantwortung für Stiefeltern siehe Dethloff, ZfF Sonderheft 10/2015, 205, 216 f. sowie Helms, Gutachten F zum 71. Deutschen Juristentag, 2016, F 65 f.

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Kindes auf Fürsorge und Erziehung korrespondiert, und zeigt einmal mehr den Wandel von der Objekt- hin zur Subjektstellung des Kindes. Zunehmend wird anerkannt, dass dem Kind das Recht auf Fürsorge und Erziehung gegenüber beiden Elternteilen unabhängig von deren Status und Bestehen einer Partnerschaft zwischen diesen zusteht. Die bei nicht miteinander verheirateten Eltern zuvor verbreitete Alleinsorge der Mutter ist zumeist der gemeinsamen Elternverantwortung kraft Gesetzes gewichen, so etwa in einigen osteuropäischen Staaten, in Belgien und in Frankreich.77 Dort, wo die Mutter auch heute bei Geburt zunächst die Alleinsorge hat, können sich die Eltern auf eine gemeinsame Sorgetragung einigen oder sie kann ihnen vom Gericht oder von einer Behörde gemeinsam übertragen werden.78 Bei der einmal begründeten gemeinsamen Elternverantwortung bleibt es in der weit überwiegenden Zahl der europäischen Rechtsordnungen auch nach Trennung und Scheidung.79 Besonders vor diesem Hintergrund gewinnen Vereinbarungen über die Ausübung der Elternverantwortung an Bedeutung. Es ist heute allgemein anerkannt, dass getrennt lebende Eltern derartige Vereinbarungen treffen können; im Interesse des Kindeswohls unterliegen sie vielfach der gerichtlichen Kontrolle, so etwa in Österreich, Finnland und Portugal.80 Die stärkere Beteiligung der Väter an der rechtlichen Elternverantwortung ist nicht nur Ergebnis der wachsenden Gleichberechtigung in der Partnerschaft, sondern beruht auch auf der Erkenntnis, dass es grundsätzlich dem Wohl des Kindes am besten entspricht, wenn es beide Elternteile als Bezugspersonen hat oder behält.

bb) Grenzen der Gemeinsamkeiten und künftige Herausforderungen Mit der Betrachtung der Elternverantwortung nach Trennung und Scheidung sind aber auch schon die Grenzen der Gemeinsamkeiten und zugleich einige der künftigen Herausforderungen in den Blick genommen:

_____ 77 Rechtsvergleichend zur Sorge beider Eltern kraft Gesetzes Dethloff, in: Coester-Waltjen/ Lipp/Schumann/Veit, Reformbedarf im nichtehelichen Eltern-Kind-Verhältnis, 2012, S. 9, 13 ff. 78 Dazu, dass eine gerichtliche Prüfung der Beteiligung des Vaters eines nichtehelichen Kindes an der elterlichen Verantwortung auch gegen den Willen der Mutter nicht allgemein ausgeschlossen sein darf EGMR, FamRZ 2010, 103. 79 Siehe Boele-Woelki/Ferrand/González Beilfuss/Jänterä-Jareborg/Lowe/Martiny/Pintens, Principles of European Family Law Regarding Parental Responsibilities, 2007, S. 60 f., 79 f. sowie Prinzip 3:10. 80 Siehe Boele-Woelki/Ferrand/González Beilfuss/Jänterä-Jareborg/Lowe/Martiny/Pintens, Principles of European Family Law Regarding Parental Responsibilities, 2007, S. 92 f., 102, 133 sowie Prinzip 3:13.

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(1) Gemeinsame Sorge gegen den Willen der Eltern oder des Kindes So besteht keineswegs Einigkeit darüber, welche Anforderungen hinsichtlich Kooperationsfähigkeit und -bereitschaft an eine gemeinsame Elternverantwortung zu stellen sind. Die gemeinsame Sorgetragung gegen den Willen beider Eltern ist zumeist ausgeschlossen, während dies bei entgegenstehendem Willen eines Elternteils nur zum Teil der Fall ist. Die Unterschiedlichkeit der Regelungen, die alle am Leitprinzip des Kindeswohls ausgerichtet sind, zeigt, dass in derartigen high conflict cases durchaus Divergenzen bezüglich der Konkretisierung dessen bestehen, was dem Wohl des Kindes noch entspricht und was nicht. Auch im Hinblick auf die Berücksichtigung des Kindeswillens bestehen Unterschiede. Eine Anhörung des Kindes ist zwar in den allermeisten Rechtsordnungen bei entsprechender Reife vorgesehen; ob eine solche ab einem bestimmten Alter zwingend ist, und wenn ja, welches Alter hierfür maßgeblich sein soll, wird allerdings sehr unterschiedlich gesehen – angefangen von sieben über zehn bis hin zu zwölf oder auch vierzehn Jahren.81 Ebenso wenig besteht Konsens über die Bestellung eines besonderen Verfahrensvertreters für das Kind: Teilweise kann ein solcher ad hoc bei Auftreten eines Interessenkonflikts zwischen Kind und sorgeberechtigtem Elternteil bestellt werden; in anderen Ländern ist die Möglichkeit eines Verfahrensvertreters hingegen überhaupt nicht vorgesehen.82

(2) Wechselmodell Schließlich sind in Bezug auf die Voraussetzungen, unter denen eine gemeinsam getragene Elternverantwortung im Rahmen eines Wechselmodells in Betracht kommt, erhebliche Unterschiede erkennbar. Die Mehrzahl der europäischen Rechtsordnungen geht zunächst – wie das deutsche Recht – vom Residenzmodell aus. Vermehrt ist es aber auch möglich, durch Parteivereinbarung oder richterliche Anordnung zu bestimmen, dass das Kind abwechselnd bei beiden Elternteilen lebt.83 Gesetzliche Regelungen zum Wechselmodell fin-

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81 Dazu Boele-Woelki/Ferrand/González Beilfuss/Jänterä-Jareborg/Lowe/Martiny/Pintens, Principles of European Family Law Regarding Parental Responsibilities, 2007, S. 50 ff., 244 ff; vgl. aber nun den Vorschlag der EU-Kommission für eine Reform der Brüssel IIa-Verordnung vom 30.6.2017 und den diesbezüglichen Entwurfsbericht des Rechtausschusses des Europäischen Parlaments vom 9.5.2017, wonach in einem neuen Art. 20 eine ausdrückliche Pflicht zur Kindesanhörung in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung eingeführt werden soll. 82 Siehe Boele-Woelki/Ferrand/González Beilfuss/Jänterä-Jareborg/Lowe/Martiny/Pintens, Principles of European Family Law Regarding Parental Responsibilities, 2007, S. 255 f. 83 Siehe Boele-Woelki/Ferrand/González Beilfuss/Jänterä-Jareborg/Lowe/Martiny/Pintens, Principles of European Family Law Regarding Parental Responsibilities, 2007, S. 132 f.; rechtsver-

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den sich mittlerweile etwa in den skandinavischen Ländern, in Frankreich und Italien.84 Ob und unter welchen Voraussetzungen ein Wechselmodell dem Wohl des Kindes am besten entspricht und welche Rolle hierbei der Wille des Kindes spielt, wird Gegenstand unserer Verhandlungen in der familienrechtlichen Abteilung des 72. Deutschen Juristentages 2018 in Leipzig zum Thema „Gemeinsam getragene Elternverantwortung nach Trennung und Scheidung – Reformbedarf im Sorge-, Umgangs- und Unterhaltsrecht?“ sein. Es ist mir eine besondere Freude, dass Michael Coester diese durch sein Referat bereichern wird!

III. Fazit Im Ganzen gesehen kann Europa heute im Familienrecht auf ein solides Fundament gemeinsamer Grundwerte und Entwicklungen blicken: Die Realität gewandelter Lebens- und Familienformen wird unter dem Einfluss der grund- und menschenrechtlichen Gewährleistungen von Gleichheit und Freiheit zunehmend rechtlich anerkannt. Dass Partnerschaften vielfältiger gelebt werden, findet europaweit seinen Niederschlag in der Schaffung neuer Rechtsregime. Auch bei der Familiengründung wirkt sich die wachsende Anerkennung der Selbstbestimmung der Individuen aus und erstreckt sich angesichts der Möglichkeiten medizinisch assistierter Reproduktion zunehmend auf die reproduktive Autonomie. Schließlich entkoppelt sich Elternschaft mehr und mehr von der Partnerschaft. Eine zentrale Entwicklung stellt es hierbei dar, dass das Kind zusehends in den Mittelpunkt gestellt wird. Nicht nur sein Wohl, auch seine eigenen Rechte werden vermehrt anerkannt. Diesen Weg gilt es weiter zu verfolgen: Soweit die Einheit derzeit, wie näher dargelegt, auf Kerneuropa beschränkt ist, wird sie zu festigen sein. Aber auch jenseits dessen stellt es eine grundlegende Aufgabe dar, Gemeinsamkeiten auszubauen. Gleichheit wird vor allem aus der Perspektive des Kindes und als Recht zu denken sein. Kinder haben ein Recht auf Mutter und Vater, auf Eltern, unabhängig von deren Status, sexueller Orientierung oder den Umständen ihrer natürlichen oder assistierten Zeugung. Wo gleichwohl nationale Vielfalt fortbesteht, ist es von besonderer Bedeutung, Mobilität zu gewährleisten. Letztlich wird sich nur im europaweiten Zusammenwirken verschiedener Akteure erreichen lassen, dass die Zukunft in Europa den Familien und ihren Kindern gehört.

_____ gleichend zur richterlichen Anordnung des Wechselmodells auch Balomatis, NZFam 2016, 833, 834 ff. 84 Siehe Dethloff/Kaesling, FamRZ 2018, 73, 74.

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Prof. Dr. Marina Wellenhofer, Frankfurt am Main

Gedanken zu einer Reform des Abstammungsrechts Gedanken zu einer Reform des Abstammungsrechts Marina Wellenhofer https://doi.org/10.1515/9783110552355-004

I. Einführung Die letzte umfassende Reform des Abstammungsrechts fand 1998 im Zusammenhang mit dem Kindschaftsrechtsreformgesetz statt. Ganz wesentlich war damals, dass die Differenzierung zwischen ehelicher und nichtehelicher Geburt beseitigt wurde, was zu einer völligen Neuordnung der abstammungsrechtlichen Normen im BGB führte. Der damalige Kommentator des Abstammungsrechts im Münchener Kommentar, Herr Dr. Dietrich Mutschler, Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht a.D., sah demgemäß im Hinblick auf die anstehende vierte Auflage des Kommentars wohl zu viel Arbeit auf sich zukommen und informierte den Verlag darüber, dass er nicht mehr zur Verfügung stehe. Der Beck-Verlag war somit auf der Suche nach einem neuen Kommentator für die §§ 1592 ff. BGB und wandte sich ratsuchend an Michael Coester, der dann meinen Namen ins Spiel brachte. Mangels besserer Alternativen ergab es sich dann, dass die Kommentierung mir anvertraut wurde. Seitdem gehört das Abstammungsrecht zu meinen Arbeitsschwerpunkten. Mittlerweile habe ich schon vier Auflagen im Münchener Kommentar dazu betreut und es werden wohl noch weitere kommen. Da ich meine Beschäftigung mit dem Abstammungsrecht somit in großem Umfang Michael Coester zu verdanken habe, sei ihm dieser Beitrag gewidmet.

II. Der Abschlussbericht des Arbeitskreises Abstammungsrecht Die Rechtsentwicklung im Bereich des Abstammungsrechts kommt kaum zur Ruhe. Laufend steht man vor neuen oder geänderten Normen. Zuletzt wurde im Juli 2017 durch das Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht ein neuer § 1597a BGB geschaffen, der missbräuchliche Vaterschaftsanerkennungen mit ausländerrechtlichem Hintergrund bekämpfen soll.1 Und wenn man den

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1 BGBl. I S. 2780; dazu Sanders, FamRZ 2017, 1189; Stern, NZFam 2017, 740; keinen Handlungsbedarf sah insoweit der Abschlussbericht AK Abstammungsrecht (vgl. Fn. 2), S. 91, These 15. https://doi.org/10.1515/9783110552355-004

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Empfehlungen des Arbeitskreises Abstammungsrecht folgen sollte, dann stehen zahllose weitere Gesetzesänderungen an. Dieser Arbeitskreis wurde im Jahr 2015 vom BMJV eingerichtet. Im Sommer 2017 hat er seinen Abschlussbericht vorgelegt2, der vielfältige Empfehlungen für eine Reform des Abstammungsrechts enthält. Ein Teil dieser Empfehlungen soll im Folgenden vorgestellt und gewürdigt werden.3 Hintergrund für die Reformüberlegungen sind vor allem die Entwicklungen im Bereich von Samenspende und moderner Fortpflanzungsmedizin, die der BGB-Gesetzgeber bislang weitgehend ignoriert hat. Wer nun allerdings in dem Abschlussbericht bahnbrechende Regeln zu den wirklich heißen Themen wie Leihmutterschaft oder Eizellspende sucht, wird enttäuscht. Dazu kommt hier praktisch nichts.4 Zur Begründung wird darauf verwiesen, dass sich der Arbeitsauftrag des Ministeriums darauf nicht bezogen habe.5 In der Süddeutschen Zeitung war das prompt als „ärgerlich“ bezeichnet worden6; aber die Zeit war wohl noch nicht reif dafür. Dringlicher sind im Moment auch die Problemkreise Samenspende und Mit-Elternschaft in gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften bzw. Ehen. Tatsächlich hat der Arbeitskreis darüber hinaus allerdings das gesamte Abstammungsrecht mit all seinen Detailregelungen unter die Lupe genommen und schlägt im Rahmen seiner 91 Thesen auch manche Neuerung vor, nach der eigentlich noch keiner verlangt hatte.

III. Überblick zu den Kernthesen 1. Regelungen zur Samenspende a) Elternschaftsfeststellung bei Samenspende Wird ein Kind mithilfe einer Samenspende gezeugt, wird derjenige rechtlicher Vater, der mit der Mutter verheiratet ist oder der die Vaterschaft anerkennt, § 1592 Nr. 1 bzw. 2 BGB. Weitgehend ungelöst ist bislang aber der Fall, dass ein Mann, der mit der Mutter nicht verheiratet ist, zwar in ihre Behandlung mit

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2 BMJV (Hrsg.), Arbeitskreis Abstammungsrecht, Abschlussbericht, Empfehlungen für eine Reform des Abstammungsrechts, Köln 2017. 3 Es wird darauf hingewiesen, dass der Vortragstext für die Drucklegung leicht verändert und zum Teil ergänzt wurde. 4 Vgl. Abschlussbericht AK Abstammungsrecht, S. 36 ff., 89, Thesen 1 bis 6, keine Reformvorschläge zu § 1591 BGB. 5 Vgl. Abschlussbericht AK Abstammungsrecht, S. 17. 6 Wolfgang Janisch, Mutter, Mutter, Kind, SZ vom 4.7.2017, S. 4.

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Spendersamen einwilligt, danach aber – aus welchen Gründen auch immer – die Vaterschaftsanerkennung unterlässt.7 Hier wird vom Arbeitskreis völlig zu Recht vorgeschlagen, die Möglichkeit der gerichtlichen Vaterschaftsfeststellung auch auf diesen Fall zu erstrecken. Demnach könnte also auch der Wunschvater, der in die ärztliche Behandlung seiner Partnerin mit Spendersamen von der Samenbank eingewilligt hat, durch gerichtliche Entscheidung als rechtlicher Vater festgestellt werden.8 Die gerichtliche Vaterschaftsfeststellung würde dann freilich erstmals nicht mehr an die genetische Abstammung anknüpfen, sondern an die Einwilligungserklärung. Für diese Erklärung wird dann sinnvoller Weise notarielle Beurkundung vorgeschlagen.9 Zugleich soll für diesen Fall die gerichtliche Feststellung des Samenspenders als Vater gesetzlich ausgeschlossen werden.10 Eben das hat der Gesetzgeber inzwischen aber ohnehin schon unter Dach und Fach gebracht, nämlich durch das Gesetz zur Regelung des Rechts auf Kenntnis der Abstammung bei heterologer Verwendung von Samen vom 17.7.201711, das zum 1.7.2018 in Kraft treten wird. Durch dieses Gesetz wurde auch erstmals für die Fälle der Samenspende das Recht des Kindes auf Kenntnis der eigenen Abstammung gesetzlich verankert und zudem die schon lange geforderte12 Einrichtung eines zentralen Samenspenderregisters13 in die Wege geleitet.

b) Besonderheiten bei privater Samenspende Das genannte Regelungskonzept ist primär für die ärztlich assistierte Fortpflanzung unter Verwendung von Samen von einer Samenbank gedacht.14 Davon zu unterscheiden sind Fälle der privaten Samenspende bzw. des sog. Becherspen-

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7 Insoweit zum Unterhaltsanspruch des Kindes BGH, NJW 2015, 3434. 8 Abschlussbericht AK Abstammungsrecht, S. 61, These 41; auch schon vorgeschlagen von: Helms, Gutachten zum 71. DJT, Rechtliche, biologische und soziale Elternschaft – Herausforderungen durch neue Familienformen, 2016, S. F 18 f.; Empfehlungen des Vorstandes des 18. Deut. Familiengerichtstages, FamRZ 2009, 1967, 1970; Huth, Die statusrechtliche Zuordnung des Kindes nach heterologer Insemination, 2014, S. 104. 9 Abschlussbericht AK Abstammungsrecht, S. 58. 10 Abschlussbericht AK Abstammungsrecht, S. 61, These 42. 11 BGBl. I S. 2513; dazu Helms, FamRZ 2017, 1537. 12 Vgl. z.B. Löhnig, ZRP 2015, 76; Thorn, in: Coester-Waltjen/Lipp/Schumann/Veit (Hrsg.), „Kinderwunschmedizin“ – Reformbedarf im Abstammungsrecht, 2015, S. 131 (140); Zypries/ Zeeb, ZRP 2014, 54, 57; Voigt, Abstammungsrecht 2.0, 2015, S. 144 f.; Zimmermann, Reproduktionsmedizin und Gesetzgebung, 2011, S. 177 ff. 13 Dazu Abschlussbericht AK Abstammungsrecht, S. 16, 31 mit Thesen 66 ff. 14 Abschlussbericht AK Abstammungsrecht, S. 31, 57 f.

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ders, der den Wunscheltern meist persönlich bekannt ist. Nach der Vorstellung des Arbeitskreises Abstammungsrecht sollen die genannten Regelungen hier aber entsprechend gelten, wenn (1) die Spende von einem Arzt verabreicht wird, (2) die Eltern in der geschilderten Weise einwilligen und (3) ein schriftlicher Verzicht des Samenspenders auf seine rechtliche Elternschaft vorliegt.15 Tatsächlich wäre eine solche „Elternschaftsverzichtserklärung“ dem Gesetz auch nicht fremd. Das findet sich in vergleichbarer Weise bei der Adoption. Allerdings würde sich dann meines Erachtens auch anbieten, die dort in § 1750 I 2 BGB vorgesehene notarielle Beurkundung in den Samenspenderfällen ebenfalls vorzuschreiben. Das würde nicht nur eine eindeutige Formulierung sicherstellen, sondern auch die notwendige rechtliche Beratung. Wird der Samen des Becherspenders hingegen ohne ärztliche Unterstützung im do-it-yourself-Verfahren verwendet, so schlägt der Arbeitskreis vor, es bei der Geltung der allgemeinen Vaterschaftsnormen zu belassen.16 Das erscheint richtig, denn die Übergänge zur natürlichen Zeugung sind hier bisweilen fließend.

c) Anfechtungsrechte bei Samenspende Was die Anfechtungsrechte bei Samenspende betrifft, soll das Anfechtungsrecht der Wunscheltern unverändert ausgeschlossen bleiben (vgl. § 1600 IV BGB), wenn sie wirksam in die ärztliche Behandlung eingewilligt hatten.17 Der Samenspender von der Samenbank soll ebenfalls – im Grunde wie schon nach geltendem Recht, vgl. § 1600 I Nr. 2 BGB – kein Anfechtungsrecht haben.18 Das Anfechtungsrecht des Kindes hingegen soll eingeschränkt werden.19 Da dies aber für sämtliche Fälle der Vaterschaftsanfechtung gelten soll, wird darauf erst unten einzugehen sein.20 Zu erwähnen bleibt aber noch eine Besonderheit: Der Wunschvater, der in die ärztliche Behandlung eingewilligt hatte, dann aber wider Erwarten nicht rechtlicher Vater wird, weil ihm ein anderer zuvorkommt und kraft Anerkennung oder Verheiratung mit der Mutter ihm das Kind gewissermaßen vor der

_____ 15 Abschlussbericht AK Abstammungsrecht, These 48. 16 Abschlussbericht AK Abstammungsrecht, S. 96, These 49. 17 Abschlussbericht AK Abstammungsrecht, Thesen 43, 44. 18 Abschlussbericht AK Abstammungsrecht, These 47; krit. Motejl, FamRZ 2017, 345, 349. 19 Abschlussbericht AK Abstammungsrecht, These 45; für eine Bewahrung des Anfechtungsrechts mit guten Gründen Motejl, FamRZ 2017, 345 ff. 20 S. unter IV. 2. c).

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Nase wegschnappt, soll ebenfalls anfechten können. 21 Damit würde einem Mann, der bislang weder rechtlicher noch sozialer Vater ist und auch nicht Erzeuger des Kindes ist, ein Anfechtungsrecht eingeräumt. Das überzeugt nicht, und zwar erst recht nicht, wenn ihm – wie für den leiblichen Vater vorgeschlagen22 – zeitnah nach der Geburt des Kindes ein unbeschränktes Anfechtungsrecht zukommen sollte. Schließlich macht es keinen Sinn, wenn er die in Entwicklung befindliche Familie zwischen Mutter, Kind und rechtlichem Vater mit seiner Anfechtung bedrohen könnte. Jemand, der sich eine Adoption erhoffte, die dann scheitert, hat auch keine vergleichbaren Rechte.

2. Statuswechsel kraft „Dreier-Erklärung“ Weiterhin schlägt der Arbeitskreis Abstammungsrecht vor, die Möglichkeiten auszudehnen, die rechtliche Vaterschaft kraft übereinstimmender Erklärungen von Mutter, rechtlichem Vater und anerkennendem Dritten zu erlangen.23 Bislang ist das im Gesetz in § 1599 II BGB nur für den Fall vorgesehen, dass ein Kind während eines laufenden Scheidungsverfahrens geboren wird. Hier kann ein Dritter Vater des Kindes werden, wenn er innerhalb eines Jahres nach der Scheidung die Vaterschaftsanerkennung erklärt und die Mutter und ihr Ehemann als bisheriger rechtlicher Vater dem zustimmen.24 Das soll beibehalten werden, allerdings soll es künftig nicht mehr darauf ankommen, ob die Scheidung dann tatsächlich erfolgt.25 Abgesehen davon soll diese Option der „DreierErklärung“ auch außerhalb von Scheidungsfällen eröffnet werden.26 Bekommt beispielsweise eine Frau während ihrer Ehe ein Kind und erklären dann sie selbst, ihr Ehemann und ein anerkennender Dritter übereinstimmend, dass der Dritte der Vater ist, so solle dem Dritten das Kind kraft dieser Dreier-Erklärung, also ohne Anfechtungsverfahren, zugeordnet werden können. Das macht sicher Sinn. Das spart Zeit und Geld und entlastet die Gerichte. Die Abkoppelung des Statuswechsels von der Scheidung hätte zudem den Vorteil, dass die Erklärungen sogleich wirksam werden könnten, während dies bislang erst nach Rechtskraft der Scheidung der Fall ist.27

_____ 21 22 23 24 25 26 27

Abschlussbericht AK Abstammungsrecht, These 46. Dazu unten IV. 2. d). Abschlussbericht AK Abstammungsrecht, S. 15, 45 ff., Thesen 16–20. Zur Frist BGH, NJW-RR 2013, 705. Abschlussbericht AK Abstammungsrecht, These 20. Abschlussbericht AK Abstammungsrecht, Thesen 17, 18. Vgl. Wellenhofer, in: Münchener Kommentar zum BGB, 7. Aufl. 2017, § 1577 Rn. 72.

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Zu klären bleibt dann lediglich, welches Zeitfenster für die Anerkennung des Dritten zu bestimmen wäre. Tatsächlich wird dafür, ohne dass dies näher begründet würde, empfohlen, die Vaterschaftsanerkennung des Dritten, sofern nicht schon vorgeburtlich erfolgt, nur innerhalb einer „sehr kurzen“ bzw. einer Frist von acht Wochen nach der Geburt des Kindes zuzulassen.28 Das erscheint indes äußerst knapp. Wenn man bislang in den Scheidungsfällen mit einer Jahresfrist gearbeitet hat (vgl. § 1599 II BGB), könnte das hier auch gelten. Möglicherweise wollen die Beteiligten zuerst auch noch einen Vaterschaftstest machen.

3. Änderungen bei der Vaterschaftsanerkennung Für den Bereich der Vaterschaftsanerkennung wird vorgeschlagen, die Anerkennung künftig nicht mehr von der Zustimmung der Mutter (§ 1595 I BGB) abhängig zu machen29, sondern sie allein der Zustimmung des Kindes zu unterwerfen.30 Für das minderjährige Kind unter 14 Jahren wäre dann regelmäßig die Mutter als ges. Vertreterin zuständig. Das ältere Kind hätte selbst zuzustimmen, bedürfte aber zudem der Zustimmung des ges. Vertreters. Ab 18 Jahren wäre nur noch die Zustimmungserklärung des Kindes erforderlich.31 Auch das erscheint ein sinnvoller Vorschlag zu sein.32 Insbesondere wird mit diesen erweiterten Zustimmungsrechten des Kindes Gleichlauf mit der Rechtslage bei der Adoption geschaffen, wo das Kind ebenfalls ab 14 Jahren ein Zustimmungs- bzw. Vetorecht hat, § 1746 BGB. In der Sache wäre man damit allerdings wieder weitgehend beim Rechtszustand vor 1998. Damals war das Zustimmungsrecht des Kindes in den §§ 1600c, 1600d BGB a.F. entsprechend geregelt. Noch nicht ganz ausgereift erscheint indes der (in der Kommission auch umstrittene) Vorschlag, dass dann, wenn das Kind oder der ges. Vertreter die Zustimmung zur Anerkennung verweigert, für das minderjährige Kind von Amts wegen ein gerichtliches Vaterschaftsfeststellungsverfahren eingeleitet werden solle.33 Zum einen bleibt hier offen, wie die insoweit zuständige Stelle (Jugendamt?) von der gescheiterten Anerkennung erfahren soll, wenn die Beurkundung

_____

28 Abschlussbericht AK Abstammungsrecht, S. 45 f., These 18. 29 Krit. zur Regelung in § 1595 I BGB bereits Gaul, FamRZ 1997, 1441, 1449. 30 Abschlussbericht AK Abstammungsrecht, These 12. 31 Abschlussbericht AK Abstammungsrecht, These 13. 32 Ähnlich auch schon Wellenhofer, Segmentierung der Elternschaft und Rechte des Kindes, in: Schwab/Vaskovics, Pluralisierung von Elternschaft und Kindschaft, ZfF-Sonderheft, 2011, S. 173, 176. 33 Abschlussbericht AK Abstammungsrecht, S. 44, These 14.

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der Anerkennung anderswo erfolgte. Sollte etwa der beurkundende Notar hier Meldepflichten haben? Zum anderen wäre es verwunderlich, wenn man dann zwar im Fall der gescheiterten Anerkennung wieder beim Amtspfleger des früheren Rechts wäre (vgl. § 1706 Nr. 1 BGB a.F.), nicht aber in sonstigen Fällen der unterbliebenen Anerkennung.

4. Gleichgeschlechtliche Elternschaft a) Vorschläge für die (eingetragene) Lebenspartnerschaft Was die Elternschaft in der eingetragenen Lebenspartnerschaft betrifft, liegt es – sieht man von Fällen mit Auslandsberührung ab – bislang so, dass die Lebenspartnerin der Mutter oder der Lebenspartner des Vaters die Elternschaft nur durch Stiefkindadoption erlangen kann (vgl. § 9 VII LPartG). Für eingetragene Lebenspartnerinnen schlägt der Arbeitskreis überzeugend vor, in den Fällen der ärztlich assistierten Fortpflanzung mit Spendersamen die Mitmutterschaft der zweiten Lebenspartnerin künftig wie die Vaterschaft auszugestalten.34 Bei bestehender Lebenspartnerschaft entsteht die Mitmutterschaft dann kraft Gesetzes (vgl. § 1592 Nr. 1 BGB), ansonsten kraft Anerkennung (§ 1592 Nr. 2 BGB) oder im Fall der Einwilligung in die ärztliche Behandlung mit Spendersamen kraft insoweit neu zu schaffender gerichtlicher Elternschaftsfeststellung (oben III. 1. a). In den Fällen der ärztlich assistierten Fortpflanzung würde die Stiefkindadoption damit überflüssig.35 Das dürfte der richtige Weg sein. In Österreich ist das in § 144 II ABGB genauso geregelt.36 Schließlich ist die zweite Elternstelle im Fall der (anonymen) Samenspende dauerhaft unbesetzt; demgemäß wird es grundsätzlich dem Kindeswohl entsprechen, wenn sich hier eine Frau neben der Mutter bereit erklärt, die Verantwortung für das Kind mit allen Rechten und Pflichten zu übernehmen. Tatsächlich gehen die Ideen des Arbeitskreises Abstammungsrecht aber noch deutlich hierüber hinaus. Es wird nämlich vorgeschlagen, dieses Modell auch auf Fälle außerhalb von Samenspenden von der Samenbank anzuwenden.37 Insoweit kämen dann jedoch auch die Fälle hinzu, in denen es durchaus einen namentlich bekannten Erzeuger gibt. Bislang gilt nach der Rechtspre-

_____ 34 Abschlussbericht AK Abstammungsrecht, S. 68 ff., Thesen 50 ff. 35 Abschlussbericht AK Abstammungsrecht, S. 15. 36 Dazu Bernat, in: Coester-Waltjen/Lipp/Schumann/Veit (Hrsg.), „Kinderwunschmedizin“ – Reformbedarf im Abstammungsrecht, 2015, S. 65, 77. 37 Abschlussbericht AK Abstammungsrecht, S. 70 f., Thesen 53, 56.

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chung des BGH, dass dieser Mann, etwa auch als privater Samenspender, am Verfahren der Stiefkindadoption zu beteiligen ist, damit seine Vaterrechte aus Art. 6 II 1 GG gewahrt werden können.38 Außerdem hatte der BGH dem privaten Samenspender in einem Fall ein Anfechtungsrecht gewährt39, in dem die Lebenspartnerinnen einen anderen Mann dazu überredet hatten, die Vaterschaft anzuerkennen, um dann offiziell als „Vater“ der Stiefkindadoption zustimmen zu können. Es wurde klargestellt, dass das durch Art. 6 II 1 GG rechtlich geschützte Interesse des leiblichen Vaters, auch die rechtliche Vaterschaft einzunehmen, nicht auf diese Weise durchkreuzt werden dürfe. Die Vaterrechte des (bekannten) Erzeugers40 werden von der Rechtsprechung somit sehr ernst genommen. Könnte nun neuerdings indes auch jegliche Partnerin der Mutter eine Elternschaftsanerkennung erklären, würden sich die Missbrauchsmöglichkeiten noch massiv erhöhen und die Vaterrechte deutlich weitergehend beschnitten. Der diesbezügliche Vorschlag des Arbeitskreises Abstammungsrecht ist daher abzulehnen. Abgesehen davon erschiene es auch ungerecht, dass zwei unverpartnerten Männer eine vergleichbare Option nicht offenstände.

b) Gleichgeschlechtliche Ehe Zum 1.10.2017 ist nun allerdings die „Ehe für alle“41 eingeführt worden.42 Inzwischen können gleichgeschlechtliche Paare ebenfalls heiraten. Die bisherigen eingetragenen Lebenspartner können sich auf Grundlage des neuen § 20a LPartG durch standesamtlichen Akt in Ehegatten umwandeln lassen. Als der Arbeitskreis Abstammungsrecht tagte, ahnte man von dieser schönen neuen Welt freilich noch nichts. Die Frage ist nun, ob man für die gleichgeschlechtlichen Elternpaare überhaupt noch der Sonderregelungen bedarf oder ob nun ohnehin das Ehegattenrecht gilt. Tatsächlich wird im neuesten Schrifttum die Auffassung vertreten, dass für die gleichgeschlechtlichen Ehegatten nicht nur die Vorschriften des Eherechts, also die §§ 1297 ff., §§ 1353 ff. BGB etc., gelten würden, sondern auch die ein-

_____ 38 BGH, NJW 2015, 1820; zustim.: Heiderhoff, NJW 2015, 1823; Reuß, FamRZ 2015, 831, 832; näher zum Problemkreis Keuter, FuR 2014, 261 ff.; Osthold, FF 2016, 53, 59 f. 39 BGHZ 197, 242 = NJW 2013, 2589. 40 Zum Elternrecht des nichtehelichen Vaters im Zusammenhang mit der Adoption schon Coester, FamRZ 1995, 1245. 41 Dazu Schwab, FamRZ 2017, 1284. 42 Gesetz zur Einführung des Rechts auf Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts vom 20.7.2017, BGBl. I S. 2787.

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schlägigen Normen des Abstammungsrechts.43 Das soll also heißen: Wenn in § 1592 Nr. 1 BGB steht, dass Vater des Kindes der Mann ist, der mit der Mutter verheiratet ist, dann sei jetzt automatisch auch die Frau, die mit der Mutter verheiratet ist, kraft Gesetzes Vater bzw. Mutter bzw. rechtlicher Elternteil des Kindes. Das überzeugt nicht. Klar dürfte zwar sein, dass Regelungen im Abschnitt „Bürgerliche Ehe“, die von Mann und Frau sprechen, z.B. § 1362 I oder § 1363 II 1 BGB, nun entsprechend auf zwei Frauen oder zwei Männer als Ehegatten anzuwenden sind. Im Titel „Abstammung“ befindet man sich aber in einem ganz anderen Teil des BGB. Hier geht es nicht um Ehegatten, sondern um Mann und Frau als Vater und Mutter. Tückisch ist nun allerdings die Formulierung in § 1592 Nr. 1 BGB, wo von dem Mann die Rede ist, der mit der Kindesmutter verheiratet ist. Hier wird nun eben vertreten, dass ein Mann in diesem Sinne auch die Ehegattin der Mutter, also eine Frau, sein könne. Mann im Sinne des Gesetzes wäre danach auch eine Frau. Eine solche Gleichstellung im Abstammungsrecht dürfte der Intention des Gesetzgebers indes nicht entsprechen. Mehr als die grundsätzliche Entscheidung zur gleichgeschlechtlichen Ehe (aufgrund des Wandels des Eheverständnisses) lässt sich den Gesetzesmaterialien nicht entnehmen.44 Über mehr hat der Gesetzgeber in der kurzen Zeit (vor Ende der Legislaturperiode) schlichtweg noch nicht nachgedacht.45 Die Annahme einer zweiten gesetzlichen Mutterschaft schlicht kraft Verheiratung wäre tatsächlich auch außerordentlich weitreichend. Damit würde nämlich in all diesen Fällen – und es geht hier nicht nur um die Samenspenderfälle – das natürliche Elternrecht des Erzeugers des Kindes aus Art. 6 II 1 BGB missachtet. Das gilt zwar im Grunde auch für die Fälle von Mann und Frau; dort ist das Auseinanderfallen von rechtlicher und genetischer Vaterschaft jedoch die Ausnahme; denn meistens ist der Ehemann oder der Anerkennende auch der genetische Elternteil.46 Bei zwei Ehegattinnen hingegen liegt es völlig anders.47 Der genannte Eingriff in das natürliche Elternrecht des Erzeugers wäre daher allenfalls dann zu rechtfertigen, wenn dem Erzeuger im Gegenzug ein weitreichendes Anfechtungsrecht zukäme. Ein solches existiert bislang aber nicht. Man kann daher nur zu dem Ergebnis kommen, dass eine explizite gesetzliche Regelung erforderlich wäre. Das fordert auch der Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes.

_____ 43 Vgl. Binder/Kiehnle, NZFam 2017, 742, 743; wohl auch Löhnig, NZFam 2017, 643 f. 44 Vgl. Gesetzentwurf, BT-Drucks. 18/6665 vom 11.11.2016. 45 So wohl auch Löhnig, NZFam 2017, 643, 644. 46 Zur insoweit „vermuteten“ Vaterschaft Schumann, in: Rosenau (Hrsg.), Ein zeitgemäßes Fortpflanzungsmedizingesetz für Deutschland, 2012, S. 155, 159. 47 In diesem Sinne auch Schmidt, NZFam 2017, 832, 833.

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Die neue Auffassung, dass bereits der geltende § 1592 Nr. 1 BGB auf zwei Ehegattinnen entsprechend anzuwenden sei, ist daher abzulehnen. 48 Damit bleiben die geschilderten Vorschläge des Arbeitskreises Abstammungsrecht unverändert relevant.

5. Statusunabhängige Abstammungsklärung Der Anspruch auf statusunabhängige Klärung der leiblichen Abstammung ist in § 1598a BGB geregelt. Danach können rechtlicher Vater, Mutter und Kind jeweils voneinander die Mitwirkung bei einer genetischen Abstammungsuntersuchung verlangen. Der Arbeitskreis Abstammungsrecht schlägt zu Recht eine Erweiterung dieser Regelung vor. Nicht nur zwischen dem Kind und seinen rechtlichen Eltern, sondern auch zwischen dem Kind und seinen potenziellen leiblichen Eltern müsse die statusunabhängige Abstammungsklärung möglich sein.49

a) Anspruch des Kindes gegen den mutmaßlichen genetischen Elternteil Aufsehenerregend in diesem Zusammenhang war der Fall, der 2016 vor dem BVerfG landete. Hier begehrte eine Frau die Abstammungsklärung von ihrem schon sehr alten, vermeintlichen Vater, der dies aber konsequent verweigerte. Das Unglückliche in dem Fall war, dass eine frühere Klage auf Vaterschaftsfeststellung im Jahr 1955 bereits rechtskräftig abgewiesen worden war. Der Weg über § 1600d I BGB war damit endgültig versperrt gewesen. § 1598a BGB wiederum liefert keine Anspruchsgrundlage für das Klärungsbegehren gegenüber dem potenziellen Erzeuger. Laut BVerfG50 liegt darin jedoch kein Verfassungsverstoß, der Gesetzgeber habe insoweit einen Gestaltungspielraum. Spätestens nach dieser Entscheidung wurde der Ruf nach einer Neuregelung laut.51 Um hier zu helfen, schlägt der Arbeitskreis Abstammungsrecht vor, dem Kind einen Klärungsanspruch auch gegen den mutmaßlichen genetischen Vater einzuräumen. Umstritten war im Arbeitskreis jedoch, ob dieser Anspruch statt auf Mitwirkung an einer außergerichtlichen Abstammungsuntersuchung von

_____ 48 So auch Schmidt, NZFam 2017, 832, 833. 49 Abschlussbericht AK Abstammungsrecht, S. 16, 31; dafür auch Motejl, FamRZ 2017, 345, 347. 50 BVerfG, NZFam 2016, 400 = NJW 2016, 1939. 51 Scherpe, FamRZ 2016, 1824, 1829; Spickhoff, FamRZ 2016, 885, 886; so auch schon Dethloff/ Gerhardt, ZRP 2013, 91, 92; Zypries/Zeeb, ZRP 2014, 54, 56; Voigt, Abstammungsrecht 2.0, 2015, S. 169 ff.

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vornherein auf eine gerichtliche Klärung gerichtet sein sollte.52 Dieser Gedanke mag zwar im ersten Augenblick verwundern. Wenn man aber überlegt, dass zweifellos zu fordern wäre, dass das Kind substantiiert vorträgt, warum der in Anspruch genommene Mann als Vater in Betracht kommt53, dann mag es durchaus naheliegen, das Ganze von Anfang an gerichtsförmig zu erfassen. Auch wenn das Kind einen entsprechenden Titel in Händen hätte, wäre das von Vorteil. Freilich müsste man dann auch klären, wie in diesem Fall zu titulieren wäre. Denkbar wäre etwa: „Es wird festgestellt, dass A von B leiblich abstammt“. Der Klärungsanspruch soll vom Kind auch gegen einen Samenspender erhoben werden können.54 Relevanz hat das vor allem gegenüber privaten Samenspendern, da diese nicht vom neuen Samenspenderregister erfasst werden. Aber auch wenn es in den meisten Fällen um die Klärung der Abstammung von einem Mann gehen wird, wäre dabei klar, dass der Anspruch nicht nur gegen den mutmaßlichen Vater sondern auch gegen die mutmaßliche genetische Mutter gerichtet werden könnte, also vor allem gegen die vermutete Eizellspenderin.55

b) Verhältnis von Abstammungsklärung und gerichtlicher Vaterschaftsfeststellung Näher diskutiert wurde im Arbeitskreis Abstammungsrecht das Verhältnis von statusunabhängiger Abstammungsklärung und gerichtlicher Vaterschaftsfeststellung nach § 1600d I BGB. Denn geht es um den Anspruch gegen den mutmaßlichen Erzeuger, könnte man erwägen, hier primär auf das Statusverfahren zu verweisen und die Abstammungsklärung lediglich dann zu erlauben, wenn die Vaterschaftsfeststellung nicht möglich ist, z.B. weil ein anderer rechtlicher Vater vorhanden ist.56 Soweit es um volljährige Kinder geht, hat sich der Arbeitskreis jedoch zutreffend für ein Wahlrecht ausgesprochen. Das volljährige Kind solle sich mit der schlichten Abstammungsklärung begnügen dürfen.57 In Bezug auf das minderjährige Kind hingegen wurde diese Frage mehrheitlich anders beantwortet. Hier überwiege das Interesse, dem Kind einen rechtli-

_____ 52 Abschlussbericht AK Abstammungsrecht, S. 84, These 76. 53 Abschlussbericht AK Abstammungsrecht, S. 85, These 79; s. schon Wellenhofer, in: Münchener Kommentar zum BGB, 7. Aufl. 2017, § 1598a Rn. 25. 54 Abschlussbericht AK Abstammungsrecht, S. 86, These 84. 55 Abschlussbericht AK Abstammungsrecht, S. 86, These 86. 56 In diese Richtung Scherpe, FamRZ 2016, 1824, 1828. 57 Abschlussbericht AK Abstammungsrecht, S. 84, These 77.

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chen Vater zuzuordnen.58 Das ist jedoch schwer nachzuvollziehen. Nach geltendem Recht muss das Kind oder sein ges. Vertreter die Vaterschaftsfeststellung ebenfalls nicht betreiben oder könnte seinen Antrag nach Einholung des gerichtlichen Sachverständigengutachtens bzw. nach Abstammungsklärung wieder zurücknehmen. Aber große praktische Bedeutung dürfte dieser Frage wohl nicht zukommen.

c) Geltendmachung des Anspruchs ab 16 Jahren Der Klärungsanspruch soll vom minderjährigen Kind bereits eigenständig geltend gemacht werden können, wenn es das 16. Lebensjahr vollendet hat. Das korrespondiert mit der Neuregelung für die Auskunft aus dem Samenspenderregister.59

d) Anspruch gegen das Kind Im Übrigen bleibt zu erwähnen, dass im Gegenzug selbstverständlich auch dem potenziellen leiblichen Elternteil ein Klärungsanspruch gegenüber dem Kind zukommen müsste.60 Auszunehmen wäre allein ein Klärungsanspruch des Samenspenders oder der Eizellspenderin im Fall ärztlich assistierter Fortpflanzung.61

IV. Weitere (fragwürdige) Vorschläge des Arbeitskreises Abstammungsrecht Aus den zahlreichen weiteren Reformvorschlägen sollen im Weiteren noch ein paar einzelne Thesen herausgriffen werden, die bei näherer Betrachtung zweifelhaft erscheinen.

_____ 58 Abschlussbericht AK Abstammungsrecht, S. 84, These 78. 59 Vgl. § 10 I SamenspenderregisterG, ab 16 Jahren eigener Anspruch des Kindes auf Auskunft gegen das Samenspenderregister. 60 Abschlussbericht AK Abstammungsrecht, S. 87, These 88; krit. zur gegenwärtigen Rechtslage Wellenhofer, in: Münchener Kommentar zum BGB, 7. Aufl. 2017, § 1598a Rn. 16. 61 Abschlussbericht AK Abstammungsrecht, S. 88, These 90.

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1. Zuordnung statt Abstammung? Der Arbeitskreis schlägt vor, dass der Titel 2, also die Überschrift vor den §§ 1591 ff. BGB, künftig nicht mehr „Abstammung“, sondern „Rechtliche ElternKind-Zuordnung“ heißen solle. Der Begriff Abstammung würde zu Unrecht suggerieren, dass es hier ausschließlich um Personen gehe, die genetisch miteinander verwandt seien.62 Ist das so? Fakt ist, dass seit hundertachtzehn Jahren das Wort „Abstammung“ in diesem Titel steht, wobei von Anfang an klar war, dass es – insbesondere bei der „ehelichen Abstammung“ – durchaus zu Abweichungen von rechtlicher und biologischer Abstammung kommen kann.63 Angesichts der eindeutigen Feststellbarkeit der Abstammung mag die Deckungsgleichheit von rechtlicher und biologischer Abstammung heute sogar höher sein als je zuvor. Ein Bedarf, diese Begriffe zu verändern, ist daher nicht ersichtlich. Vielmehr ruft der Begriff der rechtlichen „Eltern-Kind-Zuordnung“ die Vorstellung eines hoheitlichen Eingriffs durch ein Ordnungsamt hervor. Es klingt so, als sollten künftig nicht mehr Zeugung und Geburt konstitutiv für die rechtliche Abstammung sein, sondern als bedürfte es rechtlicher Zuordnungsakte. Das mag vielleicht bei der Adoption passen oder dann, wenn einem Kind zwei Mütter oder zwei Väter als Eltern „zugeordnet“ werden, nicht aber für den Normalfall der Abstammung.

2. Änderungen bei der Vaterschaftsanfechtung In Bezug auf die Vaterschaftsanfechtung schlägt der Arbeitskreis Abstammungsrecht eine Reihe von Neuerungen vor.

a) Verkürzung der Anfechtungsfrist auf ein Jahr Der erste Vorschlag geht dahin, die Vaterschaftsanfechtungsfrist generell auf ein Jahr abzukürzen.64 Das ist schwer nachzuvollziehen. Als Begründung wird angegeben, der Schwebezustand solle für Mutter und Kind möglichst begrenzt werden. Die Mutter erscheint indes kaum schutzwürdig. Sie weiß in der Regel

_____ 62 Abschlussbericht AK Abstammungsrecht, S. 14. 63 Zur Systematik des Abstammungsrechts insoweit Wellenhofer, in: Münchener Kommentar zum BGB, 7. Aufl. 2017, Vor § 1591 Rn. 18 ff. 64 Abschlussbericht AK Abstammungsrecht, S. 48 f., Thesen 23, 33.

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seit der Geburt des Kindes, wer Erzeuger des Kindes ist und in welche Situation sie den rechtlichen Vater gebracht hat. Alle mit der etwaigen Anfechtung verbundenen Unsicherheiten sind ihr daher in der Regel zuzumuten. Allein das Kind hat Rechtssicherheit verdient. Aus seiner Sicht mag der Gedanke der Statussicherheit und des Rechtsfriedens beachtlich sein.65 Das BVerfG ist insoweit auch der Auffassung, dass die Frist für den Schutz des Kindes und sein Interesse an der Bewahrung der rechtlichen und sozial-familiären Zuordnung wichtig und die Befristung der Anfechtung daher verfassungsrechtlich geboten sei.66 Gegen die Idee einer unbefristeten Vaterschaftsanfechtung67 wird insbesondere angeführt, dass gerade auch die unbefristete Anfechtung durch das Kind selbst vermieden werden müsse. So müsse verhindert werden, dass ein Kind jahrelang vom Vater Unterhalt kassiert, dann aber später, wenn es um den Elternunterhalt geht, sich durch Vaterschaftsanfechtung plötzlich aus der Affäre ziehe.68 Aus Sicht des Vaters wiederum dürfe es nicht sein, dass dieser eines Tages anfechten könne, um dem Kind den erbrechtlichen Pflichtteil streitig zu machen.69 Auch wird die Gefahr gesehen, dass eine unbegrenzte Anfechtungsmöglichkeit in der Familie zweckwidrig als Druckpotenzial ausgenutzt werden könnte. Demgemäß finden sich durchaus mehrere Argumente für eine grundsätzliche Befristung; für eine Reduzierung der Frist auf nur ein Jahr lässt sich daraus aber nichts herleiten.70 Vielmehr zeigen die Fälle der untergeschobenen Kinder, also vor allem der in Ehen hinein geborenen „Kuckuckskinder“, dass sogar die Zweijahresfrist immer wieder zu Härtefällen führt.71 Man nehme den Fall, dass die Ehefrau dem Ehemann versichert, beim Verkehr mit dem anderen Mann zuverlässig mit ei-

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65 Vgl. BGH, NJW 1999, 1862; OLG Saarbrücken, NJW 2015, 2740; s. auch BT-Drs. 5/2370 S. 32. 66 BVerfG, NJW 2007, 753, 756; krit. bereits Frank, FamRZ 2004, 841, 844. 67 De lege ferenda aber vorgeschlagen von Aust, Das Kuckuckskind und seine drei Eltern, 2015, S. 149; Groß, FPR 2007, 392, 394; Wolf, NJW 2005, 2417, 2418; Heiderhoff/Schekhan, FPR 2011, 360, 365; krit. zur Frist auch Wellenhofer, FamRZ 2012, 440, 441. 68 Vgl. BR-Drs. 180/96 S. 97. 69 Reuß, in: Beck-Online Großkommentar, Stand 1.7.2017, § 1600b Rn. 15. 70 Im Ausland finden sich Anfechtungsfristen von einem Jahr bis zu 30 Jahren, vgl. Aust, Das Kuckuckskind und seine drei Eltern, 2015, S. 141 ff.; Frank, FS Schwab, 2005, 1127, 1131; ders., FamRZ 2016, 530; Helms, in: Schwab/Vaskovics (Hrsg.), Pluralisierung von Elternschaft und Kindschaft, ZfF-Sonderheft 2011, S. 105 (109 f.). Außerdem gibt es gänzlich unbefristete Anfechtungsrechte, etwa in Norwegen (Helms, a.a.O. S. 110), Russland, Rumänien und Serbien (Frank, FamRZ 2016, 530). 71 Zu den Negativfolgen solcher Fälle Schmidt-Recla, in: Soergel Kommentar zum, BGB, 13. Aufl. 2012, § 1600b Rn. 5; Helms, in: Schwab/Vaskovics (Hrsg.), Pluralisierung von Elternschaft und Kindschaft, ZfF-Sonderheft 2011, S. 105, 116 f.

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nem Kondom verhütet zu haben. Der Ehemann verlässt sich darauf und verzichtet auf einen Vaterschaftstest. Laut BGH läuft die Anfechtungsfrist in solchen Fällen jedoch.72 Kommen dem Mann dann erst nach zwei Jahren ernsthafte Zweifel, ist es zu spät; er wird gegen seinen Willen an der Vaterschaft festgehalten und muss Mutter und Kind Unterhalt zahlen. Dabei ist die Ehe mit der Kindesmutter inzwischen meist auch schon gescheitert. Ferner ist an die Fälle zu denken, dass der Mann falsch beraten wurde oder dass er die Entwicklung seiner Beziehung zur Kindesmutter erstmal abwarten wollte, bevor er anficht. Das ist alles nicht selten. Einschlägige Verbände von Kuckucksvätern geben daher auch an, schon die geltende Zweijahresfrist nicht nachvollziehen zu können. Nicht zuletzt würde die Fristverkürzung auch sinnlos Druck auf den rechtlichen Vater ausüben. Mit einer vorschnellen Anfechtung, zu welcher die Anwälte zwangsläufig raten würden, wäre indes auch nichts gewonnen. Meines Erachtens sollte man es daher bei der geltenden Zweijahresfrist belassen. Sollte es aber tatsächlich öfters Fälle geben, in denen der zweijährige Fristenlauf für das Kind psychologisch besonders belastend erscheint, könnte man erwägen, in den Fällen, in denen eine außergerichtliche Abstammungsklärung auf Grundlage von § 1598a BGB vorausgegangen ist, die Anfechtungsfrist spätestens ein Jahr nach Bekanntgabe des Gutachtenergebnisses ablaufen zu lassen. Durch die Erwirkung der Abstammungsklärung hätten es dann Mutter und Kind in der Hand, die Entscheidung des Vaters zu beschleunigen und den Schwebezustand abzukürzen. Gleichzeitig würde weitergehend als bisher verhindert, dass ein Mann, der immer noch fahrlässig gutgläubig von seiner Vaterschaft ausging, wider Erwarten mit dem Fristablauf konfrontiert wird.

b) Ausschluss der Anfechtung bei wissentlich „falscher“ Anerkennung Weiterhin fordert der Arbeitskreis Abstammungsrecht, dass derjenige Mann, der wusste oder ahnte, dass er nicht der genetische Vater des Kindes ist, aber gleichwohl seine Vaterschaft anerkannt hatte, künftig gar nicht mehr soll anfechten können; denn die Anfechtungsfrist solle nicht mehr als „Bewährungsfrist“ für das beabsichtigte Eltern-Kind-Verhältnis dienen.73 Auch in einer solchen Regelung läge indes kein Fortschritt. Zunächst hätte das zur Folge, dass das Anfechtungsverfahren mit der schwierigen Beurteilung belastet würde, ob der Mann tatsächlich Zweifel an

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72 BGH, NJW 2014, 629. 73 Abschlussbericht AK Abstammungsrecht, S. 49, Thesen 24, 25.

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seiner Vaterschaft hatte oder irrig von seiner Vaterschaft ausging. Zum anderen müssten die beurkundenden Stellen nun in weiterem Umfang als bisher darüber belehren, welche Rechtsfolgen mit einer „falschen“ Anerkennung verbunden sind. Sowohl Anerkennung als auch Anfechtung würden damit unnötig umständlicher. Zudem wäre schwer nachvollziehbar, warum der Anerkennende schlechter als ein Ehemann stehen sollte. Der Mann, der nicht anerkennt, sondern die schwangere Frau heiratet, könnte nach wie vor die Vaterschaft anfechten, wenn er mit dem Kind nicht zurechtkommt, der Anerkennende hingegen nicht. Eine solche Differenzierung würde wenig Sinn machen. Nicht zuletzt würde auch die Bereitschaft zur Vaterschaftsanerkennung zurückgehen.

c) Einschränkung des Anfechtungsrechts des Kindes Kontrovers diskutiert wurde im Arbeitskreis Abstammungsrecht weiterhin das Anfechtungsrecht des Kindes selbst. Mit knapper Mehrheit entschloss sich der Arbeitskreis für generelle Einschränkungen des Anfechtungsrechts des Kindes.74 Zum einen wird damit argumentiert, dass die Anfechtung als Instrument zur Klärung der eigenen Abstammung kaum mehr erforderlich sei, wenn man die statusunabhängige Abstammungsklärung – wie beschrieben – deutlich ausweiten würde. Dem ist jedoch entgegen zu halten, dass es sich insoweit um ganz verschiedene Instrumente handelt, die unterschiedliche Funktionen erfüllen. Zum anderen liest man, dass es nicht zusammenpasse, wenn eine Adoption nur unter extrem engen Voraussetzungen aufhebbar sei (vgl. §§ 1759 ff., 1771 BGB), während es bei der Anfechtung allein auf die genetische Abstammung ankomme.75 Daher solle das Kind künftig in sämtlichen Fällen des Auseinanderfallens von rechtlicher und genetischer Abstammung – also auch bei Samenspende oder wissentlich falscher Vaterschaftsanerkennung etc. – nur unter eingeschränkten Voraussetzungen anfechten können. Vor allem müsse nämlich auch einer über Jahre gelebten sozial-familiären Beziehung zwischen Vater und Kind Rechnung getragen werden.76 Mithin solle das Kind nun generell nur anfechten können, wenn entweder (1) der Vater gestorben sei oder (2) der Vater eine schwere Verfehlung gegenüber dem Kind begangen habe oder (3) wenn der Vater mit der Anfechtung einverstanden sei oder (4) eine gefestigte sozial-

_____ 74 Abschlussbericht AK Abstammungsrecht, S. 50 ff., Thesen 27, 28. 75 Abschlussbericht AK Abstammungsrecht, S. 50. 76 Abschlussbericht AK Abstammungsrecht, S. 51.

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familiäre Beziehung des Kindes zum Vater zu keinem Zeitpunkt entstanden sei.77 Ja, warum einfach, wenn’s auch kompliziert geht? Fakt dürfte sein, dass die Fälle der Vaterschaftsanfechtung durch das Kind selbst selten sind. Fakt dürfte weiter sein, dass mit dem soeben aufgezählten Fallgruppen ohnehin schon 95% dieser seltenen Fälle erfasst sein dürften. Der ganze Effekt der komplizierten Neuregelung läge also wohl lediglich darin, zu verhindern, dass ein erwachsenes Kind trotz (gegenwärtig oder früher) bestehender sozial-familiärer Beziehung die Vaterschaft anficht, etwa um dem Elternunterhalt zu entgehen.78 Doch auch das ist ein höchst unrealistischer Fall, weil die Anfechtungsfrist des Kindes in solchen Fällen längst schon abgelaufen sein dürfte. Zu beachten wäre auch der zusätzliche Prüfungsaufwand. Wie schon beim geltenden § 1600 III BGB müsste man dann auch bei der Anfechtung durch das Kind überlegen, ab welchem Zeitraum und welcher Beziehungsintensität von einer sozial-familiären Beziehung zwischen Vater und Kind gesprochen werden kann. Oder man müsste klären, welche Verhaltensweisen des Vaters schwerwiegend genug wären, um eine Lossagung des Kindes von ihm zu rechtfertigen. Dabei war es gerade eine der Errungenschaften der Kindschaftsrechtsreform von 1998, dass auf die enumerativen Anfechtungsgründe des alten Rechts (§ 1596 BGB a.F.)79 verzichtet worden war. Das brachte wesentliche Vereinfachungen mit sich und sollte jetzt nicht unüberlegt wieder rückgängig gemacht werden. Dazu kommt ein Weiteres. Wenn eine Minderjährigenadoption grundsätzlich nicht aufhebbar ist, lässt sich das auch damit rechtfertigen, dass hier ein umfassender behördlicher und gerichtlicher Prüfungsprozess vorausgegangen ist.80 Bei Elternschaft kraft Verheiratung oder Vaterschaftsanerkennung ist das nicht der Fall. Daher sollte das Kind, das hierauf meist keinen Einfluss nehmen konnte, doch zumindest im Rahmen der geltenden Anfechtungsfrist eine Korrekturmöglichkeit haben. Auch die Samenspendefälle81 verlangen keine Sonderbehandlung. Nachdem die Möglichkeit der gerichtlichen Vaterschaftsfeststellung des Samenspenders nun gesetzlich ausgeschlossen wurde, besteht kein Druck mehr, das

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77 Abschlussbericht AK Abstammungsrecht, S. 50, Thesen 27, 28. 78 In diese Richtung Abschlussbericht AK Abstammungsrecht, S. 51. 79 Nach § 1596 Nr. 4 BGB a.F. war die Anfechtung der Ehelichkeit durch das Kind z.B. bei ehrlosem oder unsittlichem Lebenswandel oder einer schweren Verfehlung des Mannes gegen das Kind sittlich gerechtfertigt. 80 In diesem Sinne auch Motejl, FamRZ 2017, 345, 349. 81 Dafür soll Vorstehendes ebenfalls gelten, vgl. Abschlussbericht AK Abstammungsrecht, S. 66.

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Anfechtungsrecht des Kindes zu beschränken. Außerdem sind solche Anfechtungen auch selten.82 Abgesehen davon, dass die Aufklärungsquote ohnehin gering ist83, haben die Spenderkinder meist kein Interesse daran, ihren rechtlichen Vater zu verlieren.

d) Ausdehnung der Anfechtungsberechtigung des leiblichen Vaters Zum Anfechtungsrecht des leiblichen Vaters gab es in den letzten Jahren viele Reformvorschläge.84 Auch der Arbeitskreis Abstammungsrecht plädiert dafür, die Rechtsstellung des leiblichen Vaters zu verbessern.85 Bislang kann dieser nicht anfechten, wenn im Zeitpunkt der Anfechtung eine sozial-familiäre Beziehung zwischen dem Kind und seinem rechtlichen Vater besteht, § 1600 II, III BGB. Insofern wird nun angeregt, bei der Entscheidung über das Anfechtungsrecht des leiblichen Vaters auch zu berücksichtigen und zu werten, ob eine sozial-familiäre Beziehung zwischen leiblichem Vater und Kind besteht.86 Wie das gesetzestechnisch umgesetzt werden sollte, bleibt allerdings offen. Außerdem wird eine Klarstellung dahingehend eingefordert, dass eine im Zeitpunkt der Anfechtung nicht mehr bestehende sozial-familiäre Beziehung zwischen rechtlichem Vater und Kind kein Anfechtungshindernis bilden sollte.87 Im Grunde gilt letzteres freilich schon de lege lata, wie zuletzt auch das OLG Brandenburg88 klargestellt hat. Der wesentliche Vorschlag geht jedoch dahin, dem leiblichen Vater in einer bestimmten Zeitphase „kurz nach der Geburt des Kindes“ ein unbeschränktes Anfechtungsrecht zu gewähren. Man denkt an eine Frist zwischen sechs Monaten und zwei Jahren. Außerhalb dieser Frist solle es weitgehend unverändert auf das Vorliegen einer sozial-familiären Beziehung zwischen Kind und rechtlichem Vater ankommen.89 Das ist ebenfalls kritisch zu sehen. Der Gedanke der vorrangigen sozialfamiliären Beziehung zwischen rechtlichem Vater und Kind hat bisweilen

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82 Zu Einzelfällen Motejl, FamRZ 2017, 345. 83 Vgl. Motejl, FamRZ 2017, 345, 348. 84 Z.B. Coester-Waltjen, FamRZ 2013, 1693, 1699; Helms, FamRZ 2014, 277; ders., Gutachten zum 71. DJT, 2016, S. F 44. 85 Abschlussbericht AK Abstammungsrecht, S. 15. 86 Abschlussbericht AK Abstammungsrecht, S. 52. 87 Abschlussbericht AK Abstammungsrecht, S. 53. 88 OLG Brandenburg, JAmt 2016, 147. 89 Abschlussbericht AK Abstammungsrecht, S. 53.

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durchaus seine Berechtigung. Man denke an den Fall, dass Mutter und Vater verheiratet sind, das Kind in dieser Familie neben weiteren Geschwistern „gleichberechtigt“ aufwachsen soll und dort auch sehr gute Entwicklungsmöglichkeiten vorfindet. Zugleich mag der leibliche Vater im Einzelfall weniger am Kind interessiert sein, als er vorgibt, und eher Rache oder Schikane im Sinn haben. Das ist zwar die Ausnahme, aber nicht undenkbar. Unter solchen Voraussetzungen kann auch die gerade erst in Entwicklung begriffene Beziehung zwischen Kind und rechtlichem Vater schutzwürdig sein. Ein geburtsnahes, freies Anfechtungsrecht des leiblichen Vaters sollte daher zumindest mit einem Kindeswohlvorbehalt versehen werden. Abgesehen davon überzeugt aber auch die Fristenregelung als solche nicht. Soll die rechtliche Abstammung nun von der Schnelligkeit der Reaktion des leiblichen Vaters abhängen? Im Zweifel führt das auch dazu, dass die Mutter Schwangerschaft und Geburt dem leiblichen Vater gegenüber verheimlicht.90 Es ist einzuräumen, dass es schwierig ist, hier eine Lösung zu finden, mit der man allen denkbaren Fallkonstellationen gerecht wird. Aber gerade aus diesem Grunde könnte viel für eine Regelung sprechen, welche die Anfechtung durch den leiblichen Vater schlicht immer dann zulässt, wenn sie dem Kindeswohl nicht widerspricht.91

V. Schluss Der Gesetzgeber sollte die Reform des Abstammungsrechts bald angehen, aber nichts überstürzen. Die bestehenden Lücken bez. Samenspende, Mitmutterschaft und Abstammungsklärung außerhalb der rechtlichen Familie sollten geschlossen werden, Regelungen, die sich bewährt haben, sollten aber nicht ohne Not geändert werden. Und entscheidende Messlatte aller Reformideen sollte das Kindeswohl sein.92

_____ 90 Zutreffend Löhnig, NZFam 2017, 141, 143. 91 Näher dazu Wellenhofer, NZFam 2017, 898. 92 Dazu grundlegend Coester, Das Kindeswohl als Rechtsbegriff, 1983.

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Dr. Dr. Jens M. Scherpe, MJur (Oxon), MA (Cantab), Cambridge

Moderne Familienformen im englischen Recht Moderne Familienformen im englischen Recht Jens M. Scherpe https://doi.org/10.1515/9783110552355-005

Es war mir eine große Freude und Ehre, am Symposium „Internationales Familienrecht und Familienrechtsvergleichung: Neue Herausforderungen durch moderne Familienformen“ anlässlich des 75. Geburtstags von Michael Coester mitwirken zu dürfen. Der folgende Beitrag ist auf der Grundlage des dort gehaltenen Vortrages entstanden. Michael Coester hat mit seinem Werk das deutsche Familienrecht maßgeblich beeinflusst. Dabei kam es ihm, zumindest nach dem Eindruck des Verfassers dieses Beitrages, stets darauf an, dass das Familienrecht zum Wohle aller Beteiligten die gelebten (und sich durchaus ändernden) Familienrealitäten angemessen abbildet. Aber es sollte auch „Sinn machen“, d.h. die jeweiligen Einzelnormen sollten sich in ein stimmiges Familienrechtsgesamtbild einfügen. Daran und dafür hat Michael Coester stets gearbeitet – und tut es noch. Dieser Beitrag widmet sich einer Rechtsordnung, in der es keinen Michael Coester gibt und in der Reformen im Familienrecht – freundlich-vorsichtig formuliert – eher ad hoc und ohne „größeren Plan“ angegangen werden. Die familienrechtlichen Vorschriften sind im englischen Recht in einer Vielzahl von Einzelgesetzen verteilt. Hier wünscht sich der Verfasser – und wahrlich nicht nur der Verfasser – eine ordnende Hand im besten Coester’schen Sinne.

I. Anerkennung von Familienformen – Einleitung Obwohl England in einigen Gebieten sehr fortschrittlich ist,1 so tut es sich mit der Anerkennung von gelebten Familienrealitäten oft sehr schwer. Die Impulse hierfür gehen häufig nicht vom Parlament, sondern von Gerichten aus, was sicherlich auch mit der ausgesprochen aggressiven Regenbogenpresse zu tun hat.2

_____ 1 So zum Beispiel im Bereich des Rechts der assistierten Reproduktionstechnologien, vgl. Human Fertilisation and Embryology Act 1990, Human Fertilisation and Embryology Act 2008 und die Human Fertilisation and Embryology (Mitochondrial Donation) Regulations 2015. 2 So werden diejenigen, die eine der politischen Ausrichtung der Zeitung nicht entsprechende Meinung vertreten, durchaus im „Stürmer-Stil“ als Volksverräter bezeichnet und mit Bild und Lebenslauf an den Pranger gestellt; siehe etwa Daily Mail vom 4.11.2016, die auf der Titelseite Bilder der Richter des Court of Appeal mit der Schlagzeile „Enemies of the People“ abdruckte, https://doi.org/10.1515/9783110552355-005

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Ein Beispiel hierfür ist die Anerkennung „moderner“ Familienformen.3 So stellte 1950 ein Gericht in der Entscheidung Gammans v. Ekins fest, dass es ein Missbrauch der englischen Sprache sei, einen Mann und eine Frau als Familie anzusehen, wenn diese unverheiratet zusammenlebten und damit einen „Mummenschanz einer Ehe“ aufführten.4 Ein Vierteljahrhundert später befand Lord Denning MR 1976 gemeinsam mit LJ Bridge in der Entscheidung Dyson Holdings Ltd v Fox5, dass Gammans v. Ekins wohl nicht mehr den modernen Ansichten hierzu entspräche. Und knapp 50 Jahre nach Gammans v. Ekins wurde in Fitzpatrick v Sterling Housing Association Ltd6 gar ein gleichgeschlechtliches Paar als „Familie“ im Sinne des Rent Act 1977 anerkannt – wenn auch knapp, mit nur 3:2 Stimmen im House of Lords.7 Danach änderte sich das Gefüge der anerkannten Lebensgemeinschaften auch rechtlich und folgte damit – zum Teil – der gesellschaftlichen Entwicklung.

II. Einführung der Civil Partnership in 2005 Ermutigt durch die Rechtsprechung,8 aber natürlich auch durch die gesellschaftliche Entwicklung insgesamt, wurde mit dem Civil Partnership Act 2004 von der Labour-Regierung unter Tony Blair ein Rechtsrahmen für gleichgeschlechtliche Paare geschaffen.9 Dabei waren die parlamentarischen Debatten (und unge-

_____ nachdem das Gericht ein Urteil zur parlamentarischen Mitbestimmung hinsichtlich des sog. „Brexit“ erlassen hatte. Am selben Tag lautete die Titelschlagzeile des Daily Telegraph, welcher immerhin in England als seriöse Zeitung angesehen wird, „The judges versus the people“, ebenfalls mit Fotos der Richter versehen. 3 Das Wort „modern“ kann sich in diesem Zusammenhang wohl nur auf die „neue“ rechtliche Anerkennung dieser Familienformen beziehen, denn de facto gab es solche Beziehungen natürlich schon immer. 4 Gammans v. Ekins, [1950] 2 KB 328, 331 (Asquith LJ): „[…] to say that two people masquerading as these two were as husband and wife, that they were members of the same family, seems to be an abuse of the English Language“. 5 [1976] QB 503. 6 [1999] UKHL 42 = [2001] 1 AC 27. 7 Zum Vergleich: Dänemark hatte 1989 bereits die registrierte Partnerschaft für gleichgeschlechtliche Paare eingeführt und die Bundesrepublik Deutschland in 2001 das Gesetz zur eingetragenen Lebenspartnerschaft. 8 Insbesondere auch die Folgeentscheidung des House of Lords Ghaidan v Godin-Mendoza [2004] 2 AC 557. 9 Das Gesetz trat am 5. Dezember 2005 in Kraft, die Möglichkeit zur Eingehung einer civil partnership bestand ab dem 21. Dezember 2005.

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wöhnlicherweise auch die Reaktionen in der Presse) erstaunlich verhalten, verglichen etwa mit Deutschland oder Frankreich. Grund hierfür waren zum einen die klaren höchstrichterlichen Stellungnahmen; zum zweiten aber die Tatsache, dass seit des Adoption and Children Act 2002 gleichgeschlechtliche Paare (und auch nichteheliche Lebensgemeinschaften) bereits gemeinsame Kinder adoptieren konnten. Dieses Gesetz erlaubte „Paaren“ die Adoption.10 Welche Personen als „Paar“ gelten ist in dem Gesetz eher versteckt am Ende geregelt. Denn als Paar gelten demnach „Personen (gleichen oder verschiedenen Geschlechts) die in einer dauerhaften Lebensgemeinschaft leben“.11 Das in vielen Rechtsordnungen – wohl zu Unrecht12 – kontroverse Thema „Homosexuelle und Kinder“ stand damit schlicht nicht mehr zur Debatte; im Gegenteil, für Kinder konnte die Möglichkeit eines stabilen Rechtsrahmens für die Beziehung der Eltern nur von Vorteil sein. Zum dritten wurde mit der civil partnership (ähnlich wie zunächst in vielen anderen Rechtsordnungen, einschließlich Deutschlands) ganz bewusst eben gerade nicht die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare geöffnet, sondern eine Parallelinstitution geschaffen. 13 Es konnte daher argumentiert werden, dass das Rechtsinstitut der Ehe unberührt bleibe und es sich lediglich um eine Anerkennung anderer Lebensformen handele. Die civil partnership wurde also bewusst als funktionales Äquivalent zur Ehe geschaffen; sie sollte gleichgeschlechtlichen Paaren einen „gleichen, aber anderen“ (equal but different) Rechtsrahmen bieten. Jeder Vergleich mit der Ehe (und damit eine potentielle Gleichstellung) wurde mühsam vermieden bzw. mit dem Verweis auf „different“ beiseitegeschoben (und das „equal“ dabei gerne überlesen). Auch deshalb wurde, anders als etwa in den nordischen Ländern,14 nicht

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10 Sections 49 (1), 50 Adoption and Children Act 2002. Diese Regelung ist vor dem Hintergrund der erstaunlich hohen Zahlen von Pflegekindern und als Konsequenz der extremen staatlichen Fokussierung auf Adoptionen zu verstehen. Das Pflegesystem in England ist chronisch unterfinanziert und nicht sehr effektiv. Adoption wird daher als die für das Kind bessere Alternative angesehen – und ist natürlich auch sehr viel kostengünstiger. 11 „[…] two people (whether of different sexes or the same sex) living as partners in an enduring family relationship“, Section 144(4). 12 Zumindest gibt es wohl keine empirisch nachweisbaren „Nachteile“ für Kinder, die in gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften aufwachsen, siehe etwa Rupp (Hrsg.), Die Lebenssituation von Kindern in gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften, 2009. 13 Zur Entwicklung siehe rechtsvergleichend Scherpe, The Past, Present and Future of Registered Partnerships, in: Scherpe/Hayward (Hrsg.), The Future of Registered Partnerships, 2017, S. 561–586. 14 Dazu etwa Dopffel/Scherpe, Gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften im Recht der nordischen Länder, in: Basedow/Hopt/Kötz/Dopffel (Hrsg.), Die Rechtsstellung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften, 2000, S. 7–49.

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etwa mit einem Verweis auf die eherechtlichen Vorschriften gearbeitet, sondern vielmehr (ähnlich wie in Deutschland) jede Bestimmung, die auf die civil partnership Anwendung finden sollte, einzeln aufgelistet. Da aber rechtlich so gut wie keine Unterschiede zu Ehe bestehen sollten, waren dies im Grunde nahezu alle eherechtlichen Vorschriften sowie alle Vorschriften, die in irgendeiner Form auf die Ehe Bezug nehmen, einschließlich der für das Familienrecht so zentralen Gesetze wie der Slaughterhouse Act 1973 und der Explosive Substances Act 1883. Diese „Bestandsaufnahme“ des Eherechts führte schließlich dazu, dass der Civil Partnership Act 2004 zu einem „Gesetzgebungsmonster“ mit 264 (teilweise sehr langen) Sections und 30 ausführlichen Schedules (Anhängen) wurde und damit mehr als 100 Druckseiten. Dasselbe hätte auch mit einer zweizeiligen Vorschrift erreicht werden können. Das war jedoch politisch nicht gewollt – „different“ sollte eben wirklich anders sein – auch wenn es in der Substanz dasselbe war.

III. Nichtanerkennung nichtehelicher Lebensgemeinschaften Wer nun gedacht hatte, der Gesetzgeber würde munter voranschreiten und auch nichtehelichen Lebensgemeinschaften einen rechtlichen Rahmen bieten, der wurde übel enttäuscht – manche sagen sogar getäuscht. Denn zunächst wurde die Law Commission beauftragt, einen Rechtsrahmen für nichteheliche Lebensgemeinschaften zu erarbeiten, was mit sehr umfangreichen Arbeiten über mehrere Jahre intensiv vorbereitet wurde.15 Der als Ergebnis dieser Arbeiten vorgeschlagene Rechtsrahmen basierte auf schottischem Vorbild und sah im Falle des Endes einer Lebensgemeinschaft durch Trennung oder Tod einen Ausgleich von beziehungsbedingten Vor- und Nachteilen vor. Er unterschied sich also grundsätzlich von dem Rechtsinstitut der Ehe.16 Die Vorschläge der Law Commission wurden im Jahr 2007 vorgestellt17 und von der Regierung gelobt („very thorough“, „high quality“) und zugleich umgehend abgelehnt bzw. erst einmal in die hinterste Ecke des Gesetzgebungsregals ver-

_____ 15 Der Verfasser war Mitglied der Legal Advisory Group für dieses Projekt. 16 Anders als z.B. die Regelungen für de facto couples in Neuseeland, vgl. Property (Relationships) Act 1976 (Neuseeland). 17 Abrufbar unter https://www.lawcom.gov.uk/project/cohabitation/ (zuletzt abgerufen am 17.10.2017).

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bannt.18 Dieses Vorgehen wurde von der Wissenschaft sowie der Praxis und auch der Law Commission mit einiger Verwunderung aufgenommen.19 Die offizielle und wenig überzeugende Begründung der Regierung war, dass man erst einmal die weiteren Entwicklungen in Schottland hinsichtlich des dort eingeführten Rechtsinstitutes zum Schutz nichtehelicher Lebensgemeinschaften20 abwarten wolle.21 Selbst einem Laien sollte sich die Absurdität dieser Begründung erschließen. Denn bei Schottland handelt es sich um eine grundverschiedene Rechtsordnung (nämlich nicht common law), die nicht nur völlig andere familienrechtliche Grundlagen, sondern auch ein völlig anderes Verständnis von finanzieller Verantwortung nach dem Ende einer Beziehung bzw. Scheidung aufweist.22 Welche Erkenntnisse der englische Gesetzgeber aus einer empirischen Untersuchung der „schottischen Erfahrung“ zu ziehen hoffte, ist daher völlig unklar. Wäre es nur darum gegangen, auf Erfahrungen mit vergleichbaren Rechtsregeln in anderen Ländern zurückzugreifen, so hätten diese bereits zu diesem Zeitpunkt u.a. für Australien und Neuseeland (immerhin beides mit der englischen Rechtstradition eng verwandte common law Rechtsordnungen) vorgelegen.23 Mittlerweile liegen die von der Regierung damals gewünschten empirischen Erkenntnisse aus Schottland schon seit mehr als sieben Jahren vor.24 Dennoch hat sich die Regierung nicht veranlasst gesehen, dass Gesetzgebungsprojekt wieder aufzugreifen, was den ursprünglichen Eindruck, dass die offizielle Begründung

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18 So die Erklärung von Parliamentary Under-Secretary of State for Justice Bridget Prentice für die Regierung am 6.8.2008, abrufbar unter https://publications.parliament.uk/pa/cm2007 08/cmhansrd/cm080306/wmstext/80306m0002.htm#08030651000147 (zuletzt abgerufen am 31.10.2017). 19 Siehe etwa die Stellungnahme der Law Commission, abrufbar unter https://s3-eu-west-2. amazonaws.com/lawcom-prod-storage-11jsxou24uy7q/uploads/2015/03/20110906_Statement_ on_Govt_response.pdf (zuletzt abgerufen am 17.10.2017). 20 Siehe Family Law (Scotland) Act 2006, Sections 25–30. 21 So Parliamentary Under-Secretary of State for Justice Bridget Prentice abrufbar unter https://publications.parliament.uk/pa/cm200708/cmhansrd/cm080306/wmstext/80306m000 2.htm#08030651000147 (zuletzt abgerufen am 31.10.2017). 22 Vgl. dazu etwa die Beiträge von Kenneth McK Norrie und Joanna Miles zu Schottland und England in: Scherpe (Hrsg.), Marital Agreements and Private Autonomy in Comparative Perspective, 2012, S. 289–310 bzw. S. 89–121. 23 Die entsprechenden gesetzlichen Regelungen waren hier bereits länger in Kraft und von der Law Commission auch bei der Ausarbeitung ihrer Vorschläge berücksichtigt worden, siehe Law Commission, abrufbar unter https://www.lawcom.gov.uk/project/cohabitation/ (zuletzt abgerufen am 17.10.2017). 24 Wasoff/Miles/Mordaunt, Legal Practitioner’s Perspectives on the Cohabitation Provisions of the Family Law (Scotland) Act 2006, Nuffield Foundation 2010, abrufbar unter http://www. nuffieldfoundation.org/sites/default/files/files/Cohabitation-final-report.pdf (zuletzt abgerufen am 19.10.2017).

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in Wahrheit nur ein Vorwand zur Vermeidung einer gesellschaftlichen und politischen Diskussion war, weiter verstärkt. Jedenfalls haben sich auch die Folgeregierungen mit dem Thema und den Reformvorschlägen nicht mehr beschäftigt. So gibt es heute in England und Wales, anders als in Schottland25 und Irland,26 nach wie vor keinen umfassenden Rechtsrahmen für nichteheliche Lebensgemeinschaften, obwohl diese zahlenmäßig stark zunehmen und immer mehr Kinder in solchen Gemeinschaften aufwachsen. Daraus folgt, wie von der Law Commission nachgewiesen, dass ein dringender Bedarf für eine solchen Rechtsrahmen besteht.27 So finden nichteheliche Lebensgemeinschaften nur punktuelle Erwähnung in einigen Gesetzestexten, hierunter im Erbrecht28 sowie in den Vorschriften zum Schutz vor häuslicher Gewalt.29 Beim Gewaltschutz ist aber festzustellen, dass die ausdrückliche Erwähnung von nichtehelichen Lebensgemeinschaften letztlich deren Schlechterstellung im Vergleich zu verheirateten Gewaltopfern dient.30 Hinsichtlich des Erbrechts ist die Situation ebenfalls schwer nachvollziehbar. Hier kann der überlebende Partner nach dem Tod des Partners/der Partnerin Rechtsansprüche gegen den Nachlass gelten machen, sofern er/sie bedürftig ist. Damit steht er/sie besser steht als nach einer Trennung unter Lebenden – wo keinerlei Ansprüche bestehen.31 Die Inkohärenz des Rechts zu den nichtehelichen Lebensgemeinschaften wird noch deutlicher, wenn man sich (wie oben unter 2. bereits erwähnt) nochmals vor Augen führt, dass die Lebensgemeinschaft als solche zwar nach Ansicht der britischen Regierung(en) mangels Stabilität nicht anerkannt werden kann aber nach dem Adoption and Children Act 2002 offenbar stabil genug angesehen wird, um gemeinsam Kinder adoptieren zu dürfen. Überdies haben nichteheliche

_____ 25 Siehe Family Law (Scotland) Act 2006, Sections 25–30. 26 Civil Partnership and Certain Rights and Obligations of Cohabitants Act 2010. Dazu Brian Sloan/Scherpe, Civil Partnership und nichteheliche Lebensgemeinschaften in Irland, FamRZ 2011, 1451–1453 und dies., FamRZ 2008, 1697–1699. 27 Siehe die Zahlen für 2016, Office of National Statistics, abrufbar unter https://www.ons. gov.uk/peoplepopulationandcommunity/birthsdeathsandmarriages/families/bulletins/familie sandhouseholds/2016 (zuletzt abgerufen am 19.10.2017). 28 Sections 1(1)(ba) i.V.m. 1A und 1B Inheritance (Provision for Family and Dependants) Act 1975. 29 Siehe insbes. Section 36 Family Law Act 1996. 30 Wie der Vergleich mit der Vorschrift für „eheliche“ Gewaltopfer zeigt (Section 33 Family Law Act), wo u.a. die Möglichkeit der zeitlich unbegrenzten Zuweisung der Gemeinschaftswohnung besteht (Subsection (10)), während Section 36(10) nur eine einmalig zu erneuernde Zuweisung für sechs Monate vorsieht. 31 Zur Rechtsstellung nichtehelicher Lebensgemeinschaften in England und Wales siehe Scherpe, Rechtsregeln für nichteheliches Zusammenleben in England und Wales, in: Kroppenberg/ Schwab/Henrich/Gottwald/Spickhoff (Hrsg.), Rechtsregeln für nichteheliches Zusammenleben, Beiträge zum europäischen Familienrecht, vol. 12, 2009, S. 309–327.

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Paare bei Fertilitätsproblemen auch gleichberechtigt Zugang zur vom staatlichen Gesundheitssystem subventionierten künstlichen Befruchtung.32 Während also Elternschaft von nichtehelichen Paaren derjenigen von verheirateten Paaren nahezu gleichgestellt ist,33 wird der Beziehung der Eltern selbst nach wie vor die Anerkennung verweigert – auch zum Nachteil der betroffenen Kinder, denen ihre „Nichtehelichkeit“ wahrlich nicht angelastet werden sollte.

IV. Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare Mit dem Marriage (Same Sex Couples) Act 2013 wurde in England und Wales die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare eingeführt und liegt damit im „Trend“, zumindest was die westlichen bzw. westeuropäischen Länder angeht. Diese Entwicklung ist insofern nicht bemerkenswert, wohl aber die Genese, Durchführung und Konsequenzen dieser doch sehr grundlegenden Änderung des Familienrechts. Zunächst ist überraschend, dass die Initiative zur Öffnung der Ehe von einer Regierung unter Führung der konservativen Partei unter Premierminister David Cameron ausging.34 Damit ist England und Wales die einzige Rechtsordnung der Welt, in der letztlich eine konservative Partei für einen solchen Schritt verantwortlich war. Dabei waren große Teile dieser Partei vehemente Gegner dieses Schrittes. Da aber die Oppositionsparteien und der Koalitionspartner diesen ausdrücklich befürworteten, konnte sich Cameron einer parlamentarischen Mehrheit sicher sein. Was seiner Regierung und seiner Partei aber sehr wohl hätte schaden können, war eine lange und intensive Debatte zu diesem Thema. Daher wurde das Gesetzgebungsverfahren so organisiert, dass nur recht begrenzter Raum für eine solche Debatte blieb. Unter der Federführung des Go-

_____ 32 Siehe Sections 36–38 sowie 43–45 Human Fertilisation and Embryology Act 2008. Dazu Scherpe, Elternschaft im Vereinigten Königreich nach dem Human Fertilisation and Embryology Act 2008, FamRZ 2010, 1513–1516. 33 Nicht aber – zumindest nominell – der Erwerb der elterlichen Verantwortung (parental responsibility) durch den nicht mit der Mutter verheirateten Vater; dazu Scherpe, Elterliche Sorge von nicht miteinander verheirateten Eltern in England und Wales, in: Coester-Waltjen/ Lipp/Schumann/Veit (Hrsg.), Alles zum Wohle des Kindes? Aktuelle Probleme des Kindschaftsrechts, 2012, S. 71–84, sowie ders., Nichteheliche Kinder, elterliche Sorge und die Europäische Menschenrechtskonvention, RabelsZ 73 (2009), 935–961. 34 Andere Parteien wie die Liberal Democrats und die Green Party hatten sich freilich bereits in früheren Legislaturperioden in ihren Wahlprogrammen das Ziel der „Ehe für alle“ gesetzt.

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vernment Equalities Office und des Department for Culture, Media & Sport ging dem Verfahren lediglich eine fachlich schlecht vorbereite und eher „zielorientierte“ consultation voraus, bei der der Öffentlichkeit und den Interessenvertretern lediglich zwölf Wochen zur Stellungnahme gegeben wurde.35 Die consultation hatte, wenn man das Vorwort, die executive summary und die Anhänge abzieht, letztlich rund 11 Seiten Text. Auch die Wahl des federführenden Departments überrascht, handelt es sich doch bei der Öffnung der Ehe um eine grundlegende Reform eines wesentlichen Teiles des Familienrechts und das Department for Culture, Media & Sport war bislang auf diesem Gebiet noch nicht in Erscheinung getreten. Dennoch gab es eine Rekordzahl von rund 228.000 Eingaben, davon lediglich 53%, die die Öffnung der Ehe befürworteten.36

1. Geschlechtsneutralität durch Verweis aufs Geschlecht? In dem erwartungsgemäß technisch und kompliziert gehaltenen Gesetz heißt es an einer Stelle schlicht „Marriage of same sex couples is lawful“.37 Damit, so meinte man, sei alles gesagt. Im Matrimonial Causes Act 1973 wurde die Bestimmung gestrichen, die eine Ehe zwischen Personen gleichen Geschlechts für nichtig erklärt.38 Aber an keiner Stelle ist das eigentliche Ziel des Gesetzes ausdrücklich verwirklicht, nämlich dass es bei der Eheschließung auf das Geschlecht nicht mehr ankommen soll. Im Gegenteil, nicht nur im Marriage (Same Sex Couples) Act 2013 selbst, sondern auch in den durch dieses Gesetz vorgenommenen Änderungen wird regelmäßig auf das Geschlecht der Ehegatten Bezug genommen. So finden die mit der Nichtigkeit der Ehe wegen deren „Nichtvollzuges“ (nonconsummation) sanktionierten Vorschriften ausdrücklich nur auf verschiedengeschlechtliche Ehen Anwendung.39 Auch kann Ehebruch (adultery), einer der fünf Scheidungsfakten, von denen zumindest einer für den Nachweis der Zerrüttung der Ehe und damit für den einzigen Scheidungsgrund Voraussetzung sind, nur

_____ 35 Siehe Government Equalities Office, Equal civil marriage: a consulation (März 2012), abrufbar unter https://www.gov.uk/government/consultations/equal-marriage-consultation (zuletzt abgerufen am 19.10.2017). 36 Equal marriage: The Government’s response (Dezember 2012), S. 11, abrufbar unter https://www.gov.uk/government/consultations/equal-marriage-consultation (zuletzt abgerufen am 19.10.2017). 37 Section 1(1), unter der Überschrift „Extension of Marriage to Same Sex Couples“. 38 Aufgehobene Section 11(c) Matrimonial Causes Act 1973. 39 Nach Section 11(2) finden die Vorschriften zum Nichtvollzug der Ehe (Sections 11(1)(a) und (b)) nicht auf gleichgeschlechtliche Ehen Anwendung.

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durch „sexuelle Aktivitäten“ zwischen einem Mann und einer Frau erfolgen.40 Ein Grund dafür sind sicherlich die – sehr spezifisch und technisch gehaltenen – Definitionen von „Nichtvollzug“ und Ehebruch, die von der Rechtsprechung in einer erstaunlichen Vielzahl von Entscheidungen und mit erheblicher Detailfreude erarbeitet wurden und die die vaginale Penetration mit einem Penis zwingend voraussetzen.41 Es hätte dem Gesetzgeber hier freigestanden, die Definitionen zu ändern bzw. andere sexuelle Akte, die auch zwischen Partnern gleichen Geschlechts stattfinden können, zu erweitern. Doch dies war offenbar nicht gewollt. Der Gesetzgeber muss sich aber fragen lassen, ob der durch die Vorschriften zum Nichtvollzug der Ehe ausgeübte „Kopulierungszwang“ noch angemessen ist und ob nicht auch andere sexuelle Aktivitäten, mit anderen Partnern, als die derzeit spezifizierte, einen tatsächlichen Bruch der ehelichen Treue und damit einen hinreichenden Grund darstellen sollten, eine Ehe als zerrüttet anzusehen.42 Davon abgesehen ist es beklagenswert, dass überhaupt noch geschlechtsspezifische Bezüge im Eherecht bestehen, wo diese nicht wirklich zwingend erforderlich sind. Sinn und Zweck der Öffnung der Ehe (bzw. der Aufgabe des Erfordernisses der Verschiedengeschlechtlichkeit) war doch gerade, dass es auf das Geschlecht der Eheleute nicht mehr ankommen sollte. Daher hätte es

_____ 40 Die eigens eingefügte Section 1(6) lautet: „Only conduct between the respondent and a person of the opposite sex may constitute adultery for the purposes of this section“. Daraus folgt auch, dass bei einer gleichgeschlechtlichen Ehe ein Ehebruch mit einem Partner des anderen Geschlechts aber möglich ist. Zum Scheidungsrecht in England und Wales allgemein siehe Scherpe, Stand des Scheidungsrechts in England und Wales, in: Dutta/Schwab/Henrich/ Gottwald/Loehnig (Hrsg.), Scheidung ohne Gericht? – Neue Entwicklungen im europäischen Scheidungsrecht, Beiträge zum europäischen Familienrecht, 2017, S. 295–314. 41 Siehe etwa die Fälle D–E v. A–G (1845) 1 Rob Eccl 279 (Penetration muss „ordinary and complete, and not partial and imperfect“ sein, und eine Penetrationstiefe von 2,5 Inches ist nicht ausreichend); Baxter v. Baxter [1948] AC 274, HL (Geschlechtsverkehr mit Verhütungsmitteln ist ausreichend); Clarke v. Clarke [1943] 2 All ER 540 (Schwangerschaft ohne Penetration nicht ausreichend); White v. White [1948] P 330 (Coitus interuptus ist ausreichend); R v. R [1952] 1 All ER 1194 (Unfähigkeit zur Ejakulation ist ohne Bedeutung); W (otherwise K) v. W [1967) 3 All ER178 (gewisse Mindestdauer der Erektion ist erforderlich); SY v. SY (otherwise W) [1963] P 37, CA (Penetration einer künstlich verlängerten Vagina ist ausreichend; sexuelle Befriedigung einer oder beider Parteien ist nicht erforderlich); Dennis v. Dennis [1955] EWCA Civ 2: „[…] adultery is nor proved unless there be some penetration. It is not necessary that the complete act of sexual intercourse should take place. If there is penetration by the man of the woman, adultery may be found, but if there is no more than an attempt, I do not think that a finding of adultery would be right.“. 42 Dazu auch Scherpe, Stand des Scheidungsrechts in England und Wales, in: Dutta/Schwab/ Henrich/Gottwald/Loehnig (Hrsg.), Scheidung ohne Gericht? – Neue Entwicklungen im europäischen Scheidungsrecht, Beiträge zum europäischen Familienrecht, 2017, S. 299 ff.

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nahegelegen, das Eherecht zu „entgeschlechtlichen“,43 also grundsätzlich geschlechtsneutral zu fassen und durchweg von „Personen“ zu sprechen, anstatt auf das Geschlecht der Parteien Bezug zu nehmen.44 Damit wäre auch dem nach wie vor zumindest in Teilen der Gesellschaft bestehenden Rollenverständnis innerhalb der Ehe gesetzesterminologisch der Boden entzogen und ein (weiteres) Zeichen für die Gleichberechtigung aller Personen gesetzt. Zudem wäre auch das im folgenden Abschnitt angesprochene Problem entfallen.

2. Diskriminierung von Personen ohne rechtliches Geschlecht In einigen Rechtsordnungen, hierunter auch in der Bundesrepublik Deutschland,45 ist es möglich, dass Personen kein rechtliches Geschlecht als Mann oder Frau haben, sondern als „unbestimmt“ gelten. Ob dies eine angemessene Maßnahme und im Interesse der davon betroffenen Personen ist, darüber lässt sich gut streiten.46 Unbestritten ist jedoch, dass die Rechts- und gesellschaftlichen Probleme der betroffenen Personen damit bestenfalls unzulänglich angegangen sind und hier noch viel gesetzgeberische und gesellschaftliche Arbeit geleistet werden muss. Eines der sehr zahlreichen Teilprobleme ist, ob denn Personen ohne rechtliches Geschlecht eine Ehe eingehen können oder nicht – und wenn ja, mit wem.

_____ 43 Siehe dazu Scherpe, Mehr Freiheit wagen im Familienrecht: Entgeschlechtlichung des Familienrechts, in: Dutta/Heinze (Hrsg.), Mehr Freiheit wagen, 2018, S. 73–87. 44 Wie z.B. das jüngst reformierte Eherecht Maltas: Marriage Act and other Laws (Amendment) Act 2017. 45 § 22 Abs.3 PStG. Siehe dazu Helms, Personenstandsrechtliche und familienrechtliche Aspekte der Intersexualität vor dem Hintergrund des neuen § 22 Abs. 3 PStG, in: Götz u.a. (Hrsg.), Festschrift für Gerd Brudermüller zum 65. Geburtstag, 2014, S. 301 ff.; ders., Brauchen wir ein Drittes Geschlecht? Reformbedarf im deutschen (Familien-)Recht nach Einführung des § 22 Abs. 3 PStG, 2015; Sieberichs, Das unbestimmte Geschlecht, FamRZ 2013, 1180. Diese Vorschrift wurde freilich durch einen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 10. Oktober 2017 als verfassungswidrig angesehen, da sie keine positive Anerkennung eines Geschlechts jenseits von männlich oder weiblich erlaubt, BVerfG 10.10.2017 – 1 BvR 2019/16, NJW 2017, 3643. Daher muss der Gesetzgeber zum 1.1.2019 ein entsprechende Neuregelung schaffen. Entsprechendes gilt für Österreich nach der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs vom 15.6.2018, G 77/ 2018-9, allerdings im Wege der verfassungskonformen Auslegung. Siehe auch die Rechtslage in Nepal und Indien, siehe dazu die Beiträge in Scherpe/Dutta/Helms (Hrsg.), The Legal Status of Intersex Persons, 2018. 46 Siehe z.B. die überzeugende Kritik von Carpenter, ‚The normalisation‘ of intersex bodies and ‚othering‘ of intersex identities, in: Scherpe/Dutta/Helms (Hrsg.), The Legal Status of Intersex Persons, 2018 (im Erscheinen) S. 445 ff.; sowie BVerfG 10.10.2017, FamRZ 2017, 2046.

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Ungeachtet des Gesetzeswortlautes47 kann nicht ernstlich bezweifelt werden, dass jeder Mensch das Recht hat eine Ehe einzugehen.48 Insofern stellt sich rechtstatsächlich nur die Frage, ob und wie die Geschlechtsbezüge in den eherechtlichen Vorschriften auszulegen bzw. anzuwenden sind. Auch hier kann die Antwort nur sein, dass eine Ungleichbehandlung aufgrund des „Mangels“ eines rechtlichen Geschlechts eine unzulässige Diskriminierung darstellen muss. Das Bundesverfassungsgericht hat überdies in seiner Entscheidung vom 10.10.2017 klargestellt, dass die bloße Möglichkeit eines „unbestimmten“ Geschlechts nicht ausreichend ist, sondern dass die positive rechtliche Anerkennung eines Geschlechts jenseits von männlich und weiblich verfassungsrechtlich geboten ist. Dem Gesetzgeber wurde daher aufgegeben bis zum Ende des Jahres 2018 neue Rechtsregeln zu schaffen und die binäre rechtliche Geschlechterordnung zu beenden.49 Für Rechtsordnungen, in denen zumindest der Gesetzgebungsintention nach das Geschlecht der Eheleute keine Rolle mehr spielen soll,50 dürfte feststehen, dass jegliche Ungleichbehandlung von Personen ohne rechtliches Geschlecht oder eines anderen Geschlechts als männlich oder weiblich unrechtmäßig ist. Insofern ist es hier umso dringender erforderlich, aus dem Eherecht (wie oben unter 4.1. ausgeführt) Bezüge auf das Geschlecht der Eheleute gänzlich zu entfernen. Dies gilt a fortiori für England und Wales, wo gleichgeschlechtliche Paare gleichberechtigt Zugang zu Adoption und künstlichen Reproduktionstechniken einschließlich Leihmutterschaft haben.51

3. Diskriminierung verschiedengeschlechtlicher Paare Ein nahezu einzigartiges52 Problem haben sich England und Wales im Zuge der Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare selbst geschaffen. Da eine poli-

_____ 47 So erlauben z.B. die Vorschriften in Dänemark (§ 1 Lov om ægteskabs indgåelse og opløsning ) und in Deutschland (§ 1353 Abs. 1 BGB) nur Ehen zwischen Personen gleichen und verschiedenen Geschlechts. 48 Dazu hinsichtlich des Geschlechts der Ehesuchenden Scherpe, Mehr Freiheit wagen im Familienrecht: Entgeschlechtlichung des Familienrechts, in: Dutta/Heinze (Hrsg.), Mehr Freiheit wagen, 2018, S. 73–87. 49 BVerfG 10.10.2017, FamRZ 2017, 2046. 50 Dies gilt a fortiori für England und Wales, wo gleichgeschlechtliche Paare gleichberechtigt Zugang zu Adoption und künstlichen Reproduktionstechniken einschließlich Leihmutterschaft haben. 51 Dazu oben I. und II., m.w.N. 52 Nur in Schottland besteht eine vergleichbare Rechtslage – ebenfalls ausgelöst durch die gleiche und – wie ausgeführt – wenig durchdachte Reform zur Öffnung der Ehe.

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tische Debatte über diese Reform aus den oben dargelegten Gründen nicht gewünscht war, blieben auch Folgeprobleme von der Reform „ausgespart“. Konkret hieß dies, dass über das Schicksal des Civil Partnership Act 2004, der wie beschrieben ein funktionales Äquivalent zur Ehe nur für gleichgeschlechtliche Paare geschaffen hatte, nicht entschieden wurde. So wurde anders als in allen anderen Rechtsordnungen, die ebenfalls zunächst ein solches funktionales Äquivalent zur Ehe eingeführt hatten, im Zuge der Öffnung der Ehe das funktionale Äquivalent nicht abgeschafft,53 sondern eine Diskussion hierüber wurde schlicht „vertagt“. In Section 15 des Marriage (Same Sex Couples Act) 2013 heißt es daher lediglich, dass der Secretary of State eine Überprüfung des Civil Partnership Act 2004 vornehmen solle, sowie dass alsbald eine consultation durchzuführen und ein Bericht dazu zu veröffentlichen sei. Dieser Pflicht kam der Minister auch nach und beauftragte, natürlich, wiederum das nunmehr vermeintlich fachlich vorgebildete Department for Culture, Media & Sport. Aber mit Inkrafttreten des Marriage (Same Sex Couples Act) 2013 entstand somit die wirklich absurde Rechtslage, dass in England und Wales gleichgeschlechtliche Paare gegenüber verschiedengeschlechtlichen Paaren privilegiert wurden, da nunmehr erstere zwischen zwei Möglichkeiten zur Verrechtlichung ihrer Beziehung (Ehe oder civil partnership) wählen konnten, letzteren hingegen nur die Ehe offenstand. Oder umgekehrt formuliert: zusammen mit Schottland waren (und sind) England und Wales die einzigen Rechtsordnungen der Welt, in der verschiedengeschlechtliche Paare diskriminiert werden. Nun hätte man erwarten können, dass eine Überprüfung dieser Rechtssituation durch die Regierung bzw. das Department for Culture, Media & Sport diesem Spuk schnell ein Ende setzen würde und dass es sich nur um eine Art Übergangsproblem handeln würde. Bemerkenswerterweise kam aber das Department nach seinem erneut sehr oberflächlich gehaltenem consultation paper (20 Seiten Text mit sehr großzügigem Layout) und dem folgenden Report (lediglich 16 Seiten Text) zu dem Schluss, dass die geltende Rechtslage nicht zu beanstanden und daher keinerlei gesetzgeberische Aktivität erforderlich sei.54 Dieser Er-

_____ 53 Dazu Scherpe, The Past, Present and Future of Registered Partnerships, in: Scherpe/ Hayward (Hrsg.), The Future of Registered Partnerships, 2017, S. 579 ff. Siehe auch ders., Quo vadis, civil partnership?, Victoria University of Wellington Law Review, Volume 46, 2015, 755– 768; ders., The Present and Future of European Family Law, 2016, S. 47 ff. 54 Department for Culture, Media & Sport, Civil partnership review (England and Wales): a consultation, 2014 und Department for Culture, Media & Sport, Civil partnership review (England and Wales): report and conclusions, 2014, beide abrufbar unter https://www.gov.uk/ government/consultations/consultation-on-the-future-of-civil-partnership-in-england-andwales (zuletzt abgerufen am 31.10.2017).

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kenntnis ging allerdings, wie zu befürchten stand, keine wirkliche Analyse der Rechtsprobleme voraus. So befand das Department, das gar keine Ungleichbehandlung von gleichund verschiedengeschlechtlichen Paaren vorliege. Denn diese könnten sich ja beide dieselben Rechte durch Formalisierung ihrer Lebensgemeinschaft sichern. Das überrascht. Denn zwei Wahlmöglichkeiten sind unbestreitbar mehr als nur eine. Auch hätten dem Department die instruktiven Ausführungen des High Court of England and Wales zur rechtlich relevanten unterschiedlichen symbolischen Bedeutung der Ehe und civil partnership im Fall Wilkinson v. Kitzinger55 eigentlich bekannt sein sollen, ebenso wie die im eigenen Hause (!) erfassten Daten, die ausdrücklich und offensichtlich auswiesen, dass rund 20% aller verschiedengeschlechtlichen Paare eine civil partnership gegenüber einer Ehe bevorzugen würden.56 Umso abstruser scheint es, wenn dann das Department auch verkündet, dass offenbar kein Bedarf für eine civil partnership zwischen Personen verschiedenen Geschlechts bestehe. Auch deuteten die bereits auf eine Öffnung der civil partnership gerichteten anhängigen Klagen (dazu unten sogleich) wohl doch sehr deutlich auf einen gewissen „Bedarf“ hin. Zudem hätte man überdies annehmen können (bzw. müssen), dass das Department, welches die Einführung der Ehe für Personen gleichen Geschlechts ausdrücklich mit dem Bedürfnis einer rechtlichen Gleichstellung solcher Lebensgemeinschaften begründet hatte (und zwar obwohl mit der civil partnership eine inhaltsgleiche Möglichkeit zur Verrechtlichung der Beziehung bereits bestand), auch in der Lage sein müsste, den umgekehrten Schluss für verschiedengeschlechtliche Lebensgemeinschaften zu ziehen. Stattdessen stellte das Department, dass civil partnerships nun einmal ein „etablierter Mechanismus“ (established mechanism) zur Anerkennung gleichgeschlechtlicher Paare seien, so dass sich daraus nicht ableiten ließe, dass auch andere Paare hieran Interesse haben könnten (oder sollten?). Das verblüfft, hatte dasselbe Department doch gerade den weitaus „etablierteren Mechanismus“ der Ehe aus Gründen der Gleichbehandlung sehr wohl grundlegenden Veränderungen ausgesetzt.

_____ 55 Wilkinson v Kitzinger [2006] EWHC 2022 (Fam). 56 Department for Culture, Media & Sport, Civil partnership review (England and Wales): report and conclusions, 2014, 2.18–2.19 (S. 13), abrufbar unter https://www.gov.uk/govern ment/consultations/consultation-on-the-future-of-civil-partnership-in-england-and-wales (zuletzt abgerufen am 31.10.2017). Siehe dazu auch der dem Department ohne weiteres zugängliche Studie von Barlow/Smithson, Legal assumptions, cohabitants’ talk and the rocky road to reform, Child and Family Law Quarterly 2010, 328, insbes. 336–337.

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Da aus Sicht des Departments keine Ungleichbehandlung vorlag, wurde von einer Bezugnahme auf eine mögliche Diskriminierung und die EMRK57 ebenso abgesehen wie auf einen tatsächlichen Rückgriff auf rechtsvergleichende Erkenntnisse.58 Insbesondere letztere hätten zumindest ein Bewusstsein dafür verschafft, dass im Vergleich zu anderen Rechtsordnungen in ähnlicher Rechtssituation England und Wales (und Schottland) eine absolute (und bizarre) Sonderstellung einnehmen; 59 auch hätten die Gründe, die in den anderen Rechtsordnungen zu einer anderen Rechtsreform geführt haben, sicherlich einen gewissen Erkenntniswert gehabt.60 Als Ergebnis wird im Report schließlich präsentiert, dass die Regierung mangels eines Konsenses über die Zukunft der civil partnership vorerst keine weiteren Schritte unternehmen werde.61 Warum aber ein solcher Konsens für eine Reform überhaupt erforderlich sein soll bleibt völlig offen. Denn für die vom selben Department verantwortete Öffnung der Ehe war auch kein Konsens vorhanden und wurde offenbar nicht als erforderlich angesehen. Auf Seiten der Regierung bzw. des federführenden Departments fehlt es scheinbar am Willen, sich mit der Thematik ernsthaft zu befassen. Wie so häufig bleibt es dann den Gerichten überlassen, die Hand des Gesetzgebers zu zwingen.

_____ 57 Zur EMRK findet sich nur ein – unzutreffender – Satz, nämlich dass seine entsprechende Klage vom Europäischen Menschengerichtshof abgewiesen worden sei (Department for Culture, Media & Sport, Civil partnership review (England and Wales): report and conclusions, 2014, 3.10, abrufbar unter https://www.gov.uk/government/consultations/consultation-onthe-future-of-civil-partnership-in-england-and-wales (zuletzt abgerufen am 31.10.2017); welche Klage, warum sie abgewiesen wurde etc. erfährt man nicht. Es handelt sich aber um den Fall Ferguson u.a. ./. Vereinigtes Königreich, der u.a. deshalb als unzulässig abgewiesen wurde, weil England im Begriff sei, sein Lebensgemeinschaftsrecht neu zu ordnen (siehe dazu insbes. Scherpe, Modernität, Originalität und Inkohärenzen im Familienrecht von England und Wales, in: Gebauer/Huber (Hrsg.), Gestaltungsfreiheit im Familienrecht, 2017, S. 55–102, insbes. S. 63 ff.). Im Rahmen dieser Neuordnung dann von einer Untersuchung der EMRK-relevanten Fragen mit Verweis auf diese Nichtzulassungsentscheidung abzusehen, ist nachgerade widersinnig. 58 Zum ausländischen Recht und zur Rechtsvergleichung findet sich zwar im Report ein Anhang (Appendix A) mit einer eher etwas eklektischen Auswahl an ausländischen Quellen, aber Bezug genommen wird darauf in consultation paper und Report in keiner Weise. 59 Siehe dazu die Nachweise oben in Fn. 53. 60 Siehe dazu die Beiträge in Scherpe/Hayward (Hrsg.), The Future of Registered Partnerships, 2017. 61 Department for Culture, Media & Sport, Civil partnership review (England and Wales): report and conclusions, 2014, 3.10, abrufbar unter https://www.gov.uk/government/consul tations/consultation-on-the-future-of-civil-partnership-in-england-and-wales (zuletzt abgerufen am 31.10.2017).

Moderne Familienformen im englischen Recht | 93

Zunächst sah es freilich nicht danach aus. Denn die Richterin Andrews am englischen High Court meinte im Fall Steinfeld and Keidan v Secretary of State for Education feststellen zu können, dass die dauerhafte und intime Beziehung zwischen Rebecca Steinfeld und Charles Keidan nicht einmal dem Schutzbereich von Art. 8 EMRK unterfiele, da die beiden kein schützenswertes Privatoder Familienleben hätten.62 Damit folgte die Richterin der Argumentation der Regierung und ignorierte nicht nur entgegenstehende Literaturmeinungen63 sondern auch die ständige Rechtsprechung des Europäischen Menschengerichtshofes.64 Dass die Richterin durchgehend vom „Recht auf Familienleben“ und dem „Recht auf Privatleben“ sprach und nicht etwa wie es im Text der EMRK tatsächlich heißt, vom Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, ließ zumindest den Schluss zu, dass auch hier eine wirklich eingehende Befassung mit der Materie unterblieben war. Daher war es beruhigend, dass der Court of Appeal hier völlig anders urteilte und die Paarbeziehung von Steinfeld und Keidan selbstverständlich als vom Schutzbereich des Artikel 8 mitumfasst ansah.65 Während der Verhandlungen am Court of Appeal hatte unterdessen auch die Regierung ihre Position geändert und zugestanden, dass hier wohl doch eine Ungleichbehandlung von Paaren vorläge. Allerdings, so argumentierte die Regierung nunmehr, bedürfe jede Änderung der Rechtslage einer eingehenden Prüfung. Zudem gäbe es schließlich mehrere Möglichkeiten, die Ungleichbehandlung zu beseitigen und die von Steinfeld und Keidan begehrte Öffnung der civil partnership für verschiedengeschlechtliche Paare sei nur eine davon – und die Abschaffung der civil partnership eine andere. Dem ist in der Tat zuzustimmen, denn aus der bloßen Tatsache, dass hier eine rechtswidrige Ungleichbehandlung vorliegt kann nicht zwingend geschlossen werden, dass nur eine der Möglichkeiten zur Beendigung derselben zulässig ist.66 Mit anderen Worten: die Entscheidung welche dieser Möglichkeiten denn diejenige für England und Wales ist, sollte dem Gesetzgeber überlassen bleiben. Selbiges entschied im Ergebnis auch der Court of Appeal, allerdings mit doch sehr fragwürdiger Be-

_____ 62 Steinfeld and Keidan v Secretary of State for Education [2016] EWHC 128 (Admin). 63 Wikely, Same sex couples, family life and child support, Law Quarterly Review 2006, Volume 122, 542 ff.; Scherpe, Family and private life, ambits and pieces, [2006] UKHL 11 (M v Secretary of State for Work and Pension), Child and Family Law Quarterly 2007, 390–403. 64 Siehe nur Schalk und Kopf ./. Österreich, [2010] ECHR 1996 para 94: “Consequently the relationship of the applicants, a cohabiting same-sex couple living in a stable de facto partnership, falls within the notion of „family life“, just as the relationship of a different-sex couple in the same situation would.“ (Hervorhebung durch den Verfasser). 65 Steinfeld and Keidan v Secretary of State for Education [2017] EWCA Civ 81. 66 Siehe dazu insbesondere Scherpe, The Past, Present and Future of Registered Partnerships, in: Scherpe/Hayward (Hrsg.), The Future of Registered Partnerships, 2017, S. 561–586.

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gründung und Methodik.67 So befand die Mehrheit, dass zwar prima facie eine Diskriminierung vorläge, der Regierung aber Zeit zu geben sei, diese zu beseitigen – und wies daher die Klage von Steinfeld und Keidan ab. Richtigerweise hätte wohl auf einen Konventionsverstoß entscheiden und eine sogenannte declaration of incompatibility nach Section 4 des Human Rights Act 1998 erlassen müssen. Deren Funktion ist es gerade, dem Parlament die Art und Weise der Beseitigung konventionswidriger Rechtsnormen zu überlassen. Genauso entschied denn auch der Supreme Court in seinem Urteil vom 27.6.2018.68 Damit ist klar, dass die civil partnership in ihrer jetzigen Form nicht bestehen bleiben wird. Ob sie freilich für verschiedengeschlechtliche Paare geöffnet werden oder abgeschafft werden wird, ist eine rein politische Frage – auf die eine Antwort derzeit nicht abzusehen ist.

V. Fazit Mit den sogenannten „modernen Familienformen“ tut sich England schwer, sogar schwerer als Deutschland. Es fehlt meist an einer klaren Linie und leider auch an einer grundlegenden Bereitschaft, sich mit den Rechtsproblemen moderner Familienformen strukturiert und umfassend auseinanderzusetzen. Die politischen Konstellationen aber auch die Natur der Medienlandschaft führen häufig dazu, dass Reformimpulse von den Gerichten ausgehen und nicht vom Parlament. Das Ergebnis sind dann häufig schnell verabschiedete und wenig durchdachte Gesetze, die nicht zu einem kohärenten Familienrecht beitragen. Aber selbst wenn, wie im Fall der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare, Regierung oder Parlament die treibenden Kräfte sind, so machen die Beteiligten dennoch eher den Eindruck von Getriebenen und umfassende Reformen mit dem (Coester’schen) Blick aufs große Ganze bleiben aus. Es wäre zu wünschen, dass insbesondere auch Reformen im Familienrecht mit ein wenig mehr Ruhe und Gelassenheit angegangen würden. Zwar sind mit Familienrechtsreformen wohl keine Wahlen zu gewinnen. Aber auch nicht zwingend zu verlieren.

_____ 67 Zurecht kritisch Hayward, Justifiable Discrimination – The Case of Opposite-Sex Civil Partnerships, Cambridge Law Journal 2017, Volume 76, 243–246. Siehe auch ders., Registered Partnerships in England and Wales, in: Scherpe/Hayward (Hrsg.), The Future of Registered Partnerships, 2017, S. 527–559; sowie ders., The Future of Civil Partnership in England and Wales, in: Scherpe/Hayward (Hrsg.), The Future of Registered Partnerships, 2017. 68 [2018] UKSC 32.

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VorsRiOLG Prof. Dr. Isabell Götz, München

Brücke an Maschinenraum: Auswirkungen von gesetzlichen Reformen und höchstrichterlicher Rechtsprechung in der Praxis Brücke an Maschinenraum Isabell Götz https://doi.org/10.1515/9783110552355-006

Nimmt man das Thema „Brücke an Maschinenraum“ in Angriff, bedarf es zunächst der Vorstellung der Mannschaft: Auf der Brücke finden wir den Kapitän und seinen ersten und zweiten Offizier, die nachfolgend vom Gesetzgeber, dem BVerfG und dem BGH verkörpert werden. Allerdings lege ich mich nicht fest, ob diese Reihenfolge der vorhergehenden entspricht, die Rollenverteilung lasse ich offen. Im Maschinenraum sitzen wir, die Familienrichter der Tatsacheninstanzen. Natürlich sitzen dort auch Rechtsanwälte, Rechtspfleger, Standesbeamte1 und viele andere mehr, aber heute beschränke ich mich auf die richterliche Sicht. Im Folgenden soll den Auswirkungen von Gesetzesreformen und höchstrichterlicher Rechtsprechung in der familiengerichtlichen Praxis nachgegangen werden, wobei sowohl Gesetzesreformen als auch höchstrichterliche Entscheidungen an dieser Stelle nicht wissenschaftlich vertieft, sondern aus der Sicht des Praktikers dargestellt und untersucht werden. Dem vorgegebenen Format geschuldet muss diese Untersuchung zudem zwangsläufig exemplarisch bleiben.

I. Ehescheidung Es bietet sich an, in dem Jahr, in dem sich das Inkrafttreten des ersten Gesetzes zur Reform des Ehe- und Familienrechts (1. EheRG)2 zum 40. Mal jährt, mit der dadurch erfolgten Reform des Scheidungsrechts zu beginnen. Mit Inkrafttreten dieses Gesetzes zum 1.7.1977 erfolgte eine Abkehr vom bis dahin herrschenden Verschuldensprinzip, die Zerrüttungsscheidung wurde eingeführt. Was für ein Segen für den Maschinenraum, war er doch fortan nicht mehr die Bühne für eine unwürdige Posse der Ehegatten, die sich auseinandergelebt hatten und ge-

_____

1 Dutta, in: Dutta/Schwab (Hrsg.), Scheidung ohne Gericht, 2017, S. 5, 11. 2 Vom 14.6.1976, BGBl. I S. 1421; umfassend zu Reformen im Familienrecht Peschel-Gutzeit, NJW 2017, 2731. https://doi.org/10.1515/9783110552355-006

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schieden werden wollten, sich aber kein Verschulden vorzuwerfen hatten. So musste ein Verschulden erfunden werden, in der Regel läppischer Art. Eine der gängigen Begründungen war, dass der Beklagte eingeräumt habe, die Klägerin ohne rechtfertigenden Grund eine „blöde Kuh“ genannt zu haben. Dadurch habe die eheliche Lebensgemeinschaft einen so schweren Schaden genommen, dass ihre Fortsetzung von der Klägerin nicht erwartet werden könne. Als Alternative – ebenfalls aus dem Tierreich, das dadurch völlig zu Unrecht in Misskredit gebracht wurde – diente die „dumme Gans“. Alle Verfahrensbeteiligten achteten auf einen Rechtsmittelverzicht, damit das Verfahren nicht versehentlich in die 2. Instanz geraten konnte. Heute sind die Scheidungen in aller Regel nicht im Streit. Selbst in Verfahren, in denen um alles gestritten wird, was das Familienrecht zu bieten hat, besteht über die Scheidung selbst zumeist Einigkeit. Wird tatsächlich einmal ein Scheidungsausspruch angegriffen, geht es häufig um finanzielle Interessen, etwa um einen Erbanspruch, weil der inzwischen verstorbene, betagte Antragsteller bei Einreichung des Scheidungsantrags bereits geschäftsunfähig gewesen sei, oder um die Beseitigung eines ungünstigen Stichtags für den Zugewinnausgleich, verursacht durch einen angeblich viel zu früh eingereichten Scheidungsantrag.3 Ein Restbestand an Verschuldensgesichtspunkten ist bei der sog. Härtefallscheidung gem. § 1565 Abs. 2 BGB verblieben, also der Scheidung vor Ablauf des sonst einzuhaltenden Trennungsjahrs. Eine solche vorzeitige Scheidung erfordert, dass die Fortsetzung der Ehe für den Antragsteller aus Gründen, die in der Person des anderen Ehegatten liegen, eine unzumutbare Härte darstellen würde. Da die Anforderungen, die von der Brücke an die Unzumutbarkeit der Aufrechterhaltung des Ehebandes gestellt werden, außerordentlich hoch sind, bleibt der Maschinenraum erfreulicherweise von solchen Anträgen weitgehend verschont.

II. Einführung und Strukturreform des Versorgungsausgleichs Mit dem 1. EheRG fand auch der Versorgungsausgleich seinen Weg in das Gesetz. Sein Ziel war es, nach Auflösung der Ehe die von den Ehegatten erworbenen Anrechte auf eine Alters- und Invaliditätsversorgung gleichmäßig auf beide Ehegatten zu verteilen und auf diese Weise der ausgleichsberechtigten Person –

_____ 3 BGH, FamRZ 2018, 331; OLG Düsseldorf, NZFam 2017, 763.

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in der Regel der Ehefrau – nach Möglichkeit eine eigenständige soziale Sicherung zu verschaffen.4 Die Durchführung des Ausgleichs folgte zunächst dem Prinzip des Einmalausgleichs, d.h. bei beiden Ehegatten wurden die dem Versorgungsausgleich unterliegenden Versorgungsanrechte addiert und die beiden Summen gegenübergestellt. Der Ausgleichsanspruch belief sich auf die Hälfte der sich ergebenden Differenz. Da jedoch die einzelnen Versorgungssysteme in Finanzierung, Wertentwicklung und Leistungsspektrum sehr unterschiedlich ausgestaltet und die darin begründeten Anrechte in ihrer Qualität auch nicht ohne weiteres vergleichbar sind, bedurfte es eines einheitlichen Vergleichsmaßstabs, an dem die Anrechte gemessen werden konnten. Dieser Maßstab war die Dynamik, also die Weiterentwicklung der Anrechte, in der gesetzlichen Rentenversicherung. Die anderen Anrechte mussten folglich „umgewertet“ werden, um die Vergleichbarkeit herzustellen (§ 1587a Abs. 3 BGB a.F.). Dies geschah dadurch, dass ermittelt wurde, welche Rentenanwartschaft entstünde, wenn ein vorhandenes Kapital in die Rentenversicherung einbezahlt würde. War kein Deckungskapital vorhanden, wurde es mit Hilfe der BarwertVO fiktiv errechnet. Dieses System war nicht nur extrem fehleranfällig, sondern es führte auch zu Wertverzerrungen und großen Transferverlusten in der Regel zu Lasten des Ausgleichsberechtigten.5 Vor allem die ausgeprägten Transferverluste veranlassten das BVerfG und den BGH zu einem ebenso ausgeprägten Hochziehen der höchstrichterlichen Augenbrauen, wenn die BarwertVO dort auf den Prüfstand gestellt wurde.6 Unabhängig davon stand lange schon außer Frage, dass es einer grundlegenden Reform des Versorgungsausgleichs bedarf, die mit dem Gesetz zur Strukturreform des Versorgungsausgleichs7 im Jahr 2009 umgesetzt wurde. Das neue Konzept sieht statt einer Saldierung mit Einmalausgleich eine systeminterne Teilung sämtlicher Versorgungsanrechte vor, also den anwenderfreundlichen Einzelausgleich des Ehezeitanteils eines jeden Anrechts. Im Maschinenraum verbreitete sich ein Jubel, wie er vordem nur auf der Galeere zu hören war, als sich die Nachricht von der Erfindung des Motors herumsprach. Großes Lob war zu hören über die Brücke! Taschenrechner und Computerprogramme zur Berechnung des Versorgungsausgleichs wurden über Bord geworfen, 15 Entgeltpunkte geteilt durch zwei, 20 Versorgungspunkte geteilt

_____ 4 BT-Drs. 7/650 S. 155. 5 Die in § 10a VAHRG a.F. vorgesehene Möglichkeit einer späteren Abänderung wurde auch bei Vorliegen der Voraussetzungen in der Praxis kaum genutzt. 6 Vgl. BVerfG, FamRZ 2006, 1000 und BGH, FamRZ 2001, 1695. 7 Vom 8.4.2009, BGBl. I S. 700, in Kraft getreten am 1.9.2009.

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durch zwei, das geht im Kopf, wunderbarer, einfacher Versorgungsausgleich! Jeder im Maschinenraum trank zwei Bier mehr an diesem Tag auf das Wohl der weisen Brücke. Die Folge war eine arge Katerstimmung, denn es stellte sich heraus, dass auch das neue System keineswegs frei von Problemen ist. Sehr schnell tauchten sehr komplizierte Fragen auf, vor allem im Zusammenhang mit der Bewertung von Anrechten, der Verzinsung, der Berücksichtigung eines Werteverzehrs bei bereits laufender Versorgung u.v.a.m. Dankenswerterweise nahm sich die Brücke der Probleme zügig an, aber trotz des Fleißes des BGH ist ein Ende nicht in Sicht. Die Zahl der allein in diesem Jahr veröffentlichten Entscheidungen zum Versorgungsausgleich spricht für sich.8 Manche Entscheidungen des BGH sind zudem richtig schwere Kost.9 Natürlich kann man sie verstehen! Gründlich gelesen, vielleicht auch zweimal, und mit einer weiteren Recherche bei einzelnen Verständnisfragen lässt sich das ohne weiteres machen. Nur sagen Sie das einmal dem Amtsrichter, der unter seinem Aktenberg hervorlugt. Wieder andere Entscheidungen der Brücke bergen unerwartete Überraschungen. So etwa, wenn der BGH bei dem Thema „geschlechtsspezifische Barwertfaktoren“ folgende Ausführungen macht:10 „Es steht dabei allerdings außer Frage, dass Männer und Frauen eine statistisch nachweisbar unterschiedlich hohe Lebenserwartung haben. […] Es ist demgegenüber stark umstritten, ob die statistisch höhere Lebenserwartung von Frauen auf biologische Gründe zurückgeführt werden kann. Teilweise wird – gestützt auch auf medizinische und soziologische Studien […] – die Auffassung vertreten, dass die unterschiedlich hohe Lebenserwartung von Frauen und Männern gerade nicht auf biologischen Unterschieden, sondern in erster Linie auf soziokulturellen Prägungen (Lebensgewohnheiten, Ernährungsweise, Suchtverhalten, Familienstand, Berufstätigkeit oder Bildungsniveau) beruhe, für die das Geschlecht lediglich als stellvertretender Indikator herangezogen werde […]. Demgegenüber wird von der Gegenansicht die Bedeutung möglicher biologischer Ursachen für die unterschiedliche Lebenserwartung von Männern und Frauen betont […]. In diesem Zusammenhang wird einerseits auf genetische Einflüsse im Zusammenhang mit der unterschiedlichen Anfälligkeit der Geschlechter für Erbkrankheiten […] und andererseits auf hormonelle Faktoren hingewiesen: Das männliche Sexualhormon Testosteron fördere die Entstehung von Arteriosklerose und Thrombosen, während das weibliche Sexualhormon

_____ 8 Entscheidungen von Januar bis August 2017: BGH, FamRZ 2017, 97, 192, 195, 197, 365, 435, 515, 603, 705, 727, 863, 870, 871, 872, 960, 1210, 1303. 9 Vgl. etwa BGH, FamRZ 2016, 781 zur Rückabzinsung. 10 BGH, FamRZ 2017, 863 Tz. 32 f.

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Östrogen eine höhere Produktion von Antikörpern gegen Infektionen und mittelbar über die Verbesserung der Cholesterinwerte einen verbesserten Schutz gegen Gefäßkrankheiten und Schlaganfälle bewirke […]; darüber hinaus ergebe sich aufgrund der hormonellen Unterschiede zwischen Männern und Frauen auch eine unterschiedlich ausgeprägte Neigung zu risikoreichen Lebensgewohnheiten […].“ Manchmal macht allerdings auch der BGH selbst es dem Maschinenraum schwer: § 18 VersAusglG etwa sieht ein Absehen vom Versorgungsausgleich vor, wenn es um nur geringfügige Werte geht, es sei denn, ein Ausgleich auch von solchen Bagatellanrechten ist ausnahmsweise geboten. Diese Soll-Vorschrift belässt dem Familienrichter grundsätzlich nur ein eingeschränktes Ermessen, eine Abweichung will gut begründet sein. Die wirklich sinnvolle Regelung des § 18 VersAusglG zielt auf die Vermeidung von unnötigem Verwaltungsaufwand und Splitterversorgungen, mit denen niemandem gedient wäre. Allerdings räumt der BGH – „soll“ hin oder her – der Wahrung des Halbteilungsgrundsatzes den Vorrang ein, wenn sich bei der Bagatellprüfung zwar ein geringfügiges Anrecht ergibt, dessen Teilung aber keinen unverhältnismäßigen Verwaltungsaufwand erfordert, weil lediglich eine Verrechnung und Umbuchung der Wertdifferenz auf bestehenden Versicherungskonten beim gleichen Versorgungsträger erfolgen muss. Damit wird der bei Bagatellbeträgen eigentlich nur ausnahmsweise vorgesehene Ausgleich allerdings oft zur Regel. Aber gut, damit könnte der Maschinenraum schon leben, gäbe es nicht die Ausnahme von der Ausnahme: Auch der Ausgleich des geringfügigen Anrechts bei nicht erheblichem Verwaltungsaufwand unterbleibt nämlich bei wirtschaftlicher Bedeutungslosigkeit des Anrechts.11 Bei einem Rentenwert von 0,07 €, aber auch von 0,83 € hat der BGH die wirtschaftliche Bedeutungslosigkeit bejaht,12 bei einer zusätzlichen Rente von 8,75 € hat er sie verneint,13 dazwischen mag der Maschinenraum entscheiden. Inzwischen hat der Maschinenraum also neue Programme zur Berechnung des Versorgungsausgleichs angeschafft, die Taschenrechner sind an ihren früheren Platz zurückgekehrt. Reaktiviert wurde auch das alte Rettungssanitäterprinzip, das der Maschinenraum bei schwierigen Versorgungsausgleichsfällen schon immer heranzog, nämlich: „Ruhe bewahren, Ekel überwinden und planvoll handeln“.14

_____ 11 12 13 14

BGH, FamRZ 2016, 2081; FamRZ 2017, 97. BGH, FamRZ 2016, 2081; FamRZ 2017, 97. BGH, FamRZ 2017, 195. Schwamb, FamRB 2014, 441.

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III. Einführung der Familiengerichte und Verfahrensrechtsreform Mit dem 1. EheRG wurde nicht nur der Versorgungsausgleich eingeführt, sondern auch die Familiengerichte.15 Der SPIEGEL schrieb in Heft 27 aus dem Jahr 1977 ausgehend von dem neuen Versorgungsausgleich dazu Folgendes: „Wenn die Richter dann selber zu rechnen anfangen, sind sie womöglich auch schon überfordert. Früher wurden Ehen von einer Kammer des Landgerichts mit drei Richtern geschieden; den Beschluss über die Regelung der elterlichen Gewalt fällte der Vormundschaftsrichter; den Streit über Hausrat und Vermögen entscheiden wieder andere Zivilrichter; über den Versorgungsausgleich hatte niemand zu befinden, es gab ihn nicht. Das alles macht nun ein Einzelrichter am Amtsgericht, der mit dem neuen Gesetz die deutsche Justiz betritt: der Familienrichter.“ Dieser Familienrichter wird im weiteren Text zum „juristischen Tausendsassa“ erklärt, der alles fertigbringen soll und muss. Ich meine, das ist uns ganz gut gelungen.16 Auch im Verfahrensrecht gab es im Jahr 2009 eine große Reform. Die bis dahin gültigen verfahrensrechtlichen Regelungen waren stark zersplittert und fanden sich zum Teil in der ZPO, zum Teil im FGG, aber auch in anderen Gesetzen, etwa der HausratsVO und im VAHRG. Zahlreiche Hin- und Rückverweisungen und Modifikationen gegenüber den sonst geltenden Verfahrensregeln führten zu einer ebenso komplizierten wie dissonanten Regelungstechnik. Als ineffektiv erwies sich zudem, dass eine Parallelzuständigkeit der allgemeinen Zivilgerichtsbarkeit bestand, soweit nicht spezifisch familienrechtliche, sondern allgemeine zivilprozessuale Streitigkeiten zwischen den Ehegatten betroffen waren, wie etwa Darlehensrückzahlungsansprüche, der Gesamtschuldnerausgleich, die Abwicklung einer Ehegatteninnengesellschaft o.ä. Das Ergebnis dieser Verfahren konnte aber wiederum in güterrechtlichen Verfahren oder auch bei der Regelung des Unterhalts durch das Familiengericht eine große Rolle spielen. Das Gesetz zur Reform des Verfahrens in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FGG-RG)17 nahm deshalb unter anderem das „große Familiengericht“ mit einer umfassenden Zuständigkeit in den Blick. Versprochen wurde dem Maschinenraum von der Brücke zudem, dass

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15 Ausführlich Dutta, RabelsZ 81 (2017), 510, 515. 16 Vgl. dazu Willutzki, in: Götz/Schnitzler (Hrsg.), 40 Jahre Familienrechtsreform, 2017, S. 13. 17 FGG-ReformG vom 17.12.2008, BGBl. I S. 2586, in Kraft getreten am 1.9.2009.

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neben der Zusammenfassung der Verfahrensregeln an einem einheitlichen Standort diese gesetzestechnisch übersichtlicher und für den interessierten Laien verständlicher sein sollten. Also nicht nur der Maschinenraum, auch die Familie im Tretboot sollte von dem neuen Familienverfahrensrecht aus einem Guss profitieren.18 Das Gesetz ist am 1.9.2009, zusammen mit dem Gesetz zur Strukturreform des Versorgungsausgleichs, in Kraft getreten. Und was brachte das neue Gesetz in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG)19 dem Maschinenraum nun tatsächlich? Zunächst einmal eine fortbestehende Zweigleisigkeit durch Differenzierung zwischen den Familienstreitsachen (§ 112 FamFG), d.h. Verfahren betreffend Unterhalt, Güterrecht und die sonstigen Familienstreitsachen, und den der freiwilligen Gerichtsbarkeit unterfallenden Familiensachen im Übrigen. Die Wendemarke ist § 113 Abs. 1 FamFG, der für die Familienstreitsachen weitgehend in die ZPO verweist. Zugleich stellte das FamFG in den einzelnen Abschnitten des Buches 2 aber Sonderregeln für diese Streitsachen auf, die wiederum der ZPO vorgehen. Vor allem das Rechtsmittelrecht erwies sich zunächst als besonders tückisch und führte zu zahlreichen Streitfragen. Ein Beispiel: Kostenentscheidungen in Familienstreitsachen sind nicht isoliert anfechtbar (§ 113 Abs. 1 FamFG in Verbindung mit § 99 Abs. 1 ZPO).20 Anders ist es bei Entscheidungen, die nicht zu den Familienstreitsachen rechnen.21 Was aber gilt für Kostenentscheidungen in Familienstreitsachen, die auf Sonderregeln im FamFG beruhen (§§ 150, 243 FamFG)?22 Auch den richtigen Mindestbeschwerdewert muss man erst einmal am Haken haben: Für Kostenbeschwerden im FamFG im nichtvermögensrechtlichen Bereich gibt es keine Mindestbeschwer,23 bei zulässigen Kostenbeschwerden in Ehe- und Familienstreitsachen gilt die Mindestbeschwer des § 567 Abs. 2 ZPO,24 erreicht werden muss also ein Wert über 200,– €, und bei vermögensrechtlichen Streitigkeiten nach dem FamFG gilt die Mindestbeschwer des § 61 Abs. 1 FamFG, so dass mehr als 600,– € erreicht sein müssen. Kein Wunder also, dass die seit der Verfahrensrechtsreform obligatorische Rechtsmittelbelehrung nach § 39 FamFG insbesondere in den Anfangszeiten

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18 BT-Drs. 16/6308 S. 164. 19 Art. 1 des FGG-RG. 20 OLG Schleswig, FamRZ 2017, 1596. 21 BGH, FamRZ 2010, 1425. 22 BGH, FamRZ 2011, 1933: enthalten nur Sonderregelungen für die Kostenverteilung, nicht für die Anfechtung. 23 BGH, FamRZ 2013, 1876; FamRZ 2014, 372. 24 OLG Köln, FamRZ 2017, 1598.

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sehr häufig sehr falsch war und es teilweise heute noch ist.25 Der verzweifelte Ausruf eines Kollegen am OLG ging dahin, die amtsgerichtlichen Rechtsmittelbelehrungen hätten den „Wahrheitsgehalt einer griechischen Bilanz“. Und den bei falschen Rechtsmittelbelehrungen sich aufdrängenden Wiedereinsetzungsanträgen hat der BGH bei anwaltlich vertretenen Beteiligten mit der schlichten Feststellung „Dem Rechtsanwalt ist das Gesetz bekannt!“ rasch den Garaus gemacht.26 Diese rigide Linie der Rechtsprechung verbunden mit anderen Unsicherheiten, etwa wo ein Verfahrenskostenhilfeantrag für eine beabsichtigte Beschwerde einzureichen ist, führten zu vielfachen Doppeleinreichungen beim Amtsgericht und beim Oberlandesgericht. Die Tonnage erhöhte sich deutlich, die Akten legten massiv an Umfang zu. Auch im Verfahrensrecht hat der BGH zügig Streitfragen geklärt, aber nicht alles ist getan. Da der Maschinenraum dankbar für klare Vorgaben von der Brücke ist, herrscht etwa Verwirrung, wenn es zu widersprüchlichen Befehlen kommt. So entschied der BGH vor kurzem, dass sich Ehegatten auch bei der Einlegung einer isolierten Beschwerde in einer Folgesache der freiwilligen Gerichtsbarkeit durch einen Rechtsanwalt vertreten lassen müssen.27 Folgt man der labyrinthartigen28 Verweisung in § 114 Abs. 4 Nr. 6 FamFG über § 78 Abs. 3 ZPO hin zu § 64 Abs. 2 S. 2 FamFG ist dies nach dem Wortlaut der letztgenannten Vorschrift allerdings gerade nicht der Fall. Mit einer historischen Auslegung und abstellend auf den „Sinn und Zweck“ des Anwaltszwangs verbunden mit Gesichtspunkten der Praktikabilität gelangt der BGH zu einem dem Wortlaut widersprechenden Ergebnis. Ganz wohl ist dem Maschinenraum nicht, wenn dadurch ein Rechtsmittel unzulässig wird, auch wenn eine Wiedereinsetzung helfen kann! Die mit dem FamFG beabsichtigte Stärkung von konfliktvermeidenden und konfliktlösenden Elementen (vgl. etwa §§ 36 Abs. 1 S. 2, 36 a, 156, 158 Abs. 4 S. 3, 163 Abs. 2 FamFG)29 ist zwar in Familiensachen grundsätzlich dienlich, führt aber auch zu Verfahrensverzögerungen durch einzelne Maschinisten, die partout Einvernehmen herstellen wollen. Wenn nach mehrfachen Sitzungen mit dann vielleicht schon erschöpften Beteiligten eine Vereinbarung erreicht wird, kommt diese bisweilen deutlich zu spät und ist zudem ohne Bestandsgarantie. Zu Recht werden deshalb Diskussionen über das Rollenverständnis geführt,30

_____ 25 Vgl. etwa OLG Naumburg, BeckRS 2017, 124243. 26 BGH, FamRZ 2010, 1425. 27 BGH, FamRZ 2017, 1151. 28 Schwamb, NZFam 2017, 560. 29 Vgl. BT-Drs. 16/6308 S. 164. 30 Vgl. etwa den AK 24 auf dem 19. Deutschen Familiengerichtstag, Brühler Schriften zum Familienrecht, Bd. 17, 2012, S. 125.

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denn auch das FamFG wollte die Beteiligten einer Gerichtsverhandlung nicht zu Mitgliedern einer Therapiegruppe machen, die sich an den Händen fassen und einen Kreis bilden. Der Richter ist und bleibt zur Entscheidung berufen, wenn die Beteiligten sich nicht einigen können oder – was ihnen unbenommen ist – im Einzelfall auch nicht einigen wollen. In die gleiche Richtung zielte die Änderung der Begrifflichkeiten und der Entscheidungsform, die zu einem möglichst wenig konfrontativen Verfahren beitragen sollen: Aus dem Prozess wurde das Verfahren, die Parteien wurden zu Beteiligten, Kläger und Beklagter sind jetzt Antragsteller und Antragsgegner und alle Entscheidungen, auch in Familienstreitsachen, ergehen durch Beschluss (§ 116 Abs. 1 FamFG). Das Urteil ist aus dem Familienrecht verschwunden. Natürlich wird auch ein Beschluss über die Verpflichtung zur Unterhaltszahlung wirksam und kann vollstreckt werden. Altgediente Maschinisten beschlich aber bisweilen schon das Gefühl, als Tiger abgesprungen und als Schmusekatze gelandet zu sein. Was gab es nicht für Diskussionen, ob ein Beschluss überhaupt „im Namen des Volkes“ ergeht!31 Manche Kollegen bleiben zur Verkündung eines Beschlusses auch sitzen, so dass die unsicheren Beteiligten nach Ende der Verhandlung ihren Anwalt zu Rate ziehen müssen, ob sie tatsächlich geschieden sind. Abschließend sei zu diesem Punkt erwähnt, dass die Umsetzung des (ganz) großen Familiengerichts nicht mit letzter Konsequenz erfolgte, da die Verfahren betreffend nichteheliche Lebensgemeinschaften nicht den Familiengerichten zugewiesen wurden, es sei denn, es geht um Entscheidungen nach dem Gewaltschutzgesetz. Für diese ist das Familiengericht allerdings immer zuständig, auch wenn es keinerlei Nähebeziehung zwischen Täter und Opfer gibt oder jemals gegeben hat. Der verliebte Stalker ist damit seinem Traum jedenfalls insoweit näher gekommen, als das Verfahren seit der Reform immerhin vor dem Familiengericht verhandelt wird. Auch wenn es Nachbesserungen gegeben hat,32 erfolgt der Umgang mit dem FamFG im Maschinenraum noch immer nicht ganz unfallfrei, selbst wenn die Zahl der Havarien zugegebenermaßen zurückgegangen ist.

_____ 31 Kranz, FamRZ 2010, 85 und 705; Metzger, FamRZ 2010, 703; Vogel, FamRZ 2010, 704; Borth, FamRZ 2010, 705. 32 Vgl. etwa § 64 Abs. 1 S. 2 FamFG.

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IV. Kindschaftsrecht Mit dem Gesetz zur Reform des Kindschaftsrechts vom 16.12.199733 wurden die kindbezogenen Vorschriften des BGB weitgehend neu gestaltet.34 Der sachliche Schwerpunkt der Reform lag in der Beibehaltung der gemeinsamen elterlichen Sorge auch über die Trennung und Scheidung hinaus, sofern nicht ein Elternteil deren Auflösung und Übertragung auf sich begehrt. Zwar werden die Fälle eines heftigen Elternstreits über das Sorgerecht deutlicher wahrgenommen, aber in der Praxis wird die gemeinsame elterliche Sorge seitdem tatsächlich in den meisten Fällen beibehalten.35 Für die betroffenen Kinder, aber auch für den Maschinenraum ist dies wohltuend. Spätere Neuregelungen im Kindschaftsrecht erfolgten allerdings nur noch punktuell und fügen sich nicht immer widerspruchsfrei in das bestehende System ein. Ein paar davon sollen nun näher untersucht werden.

1. §§ 1626a, 1671 Abs. 2 BGB Wie viele familiengerichtliche Vorschriften fanden auch die Regelungen in §§ 1626a, 1671 BGB36 zur nicht einvernehmlichen Herstellung der gemeinsamen elterlichen Sorge bei unverheirateten Eltern bzw. zur Übertragung der Alleinsorge auf den bisher nicht sorgeberechtigten Vater ihren Weg in das Gesetz durch vorhergehende Entscheidungen des EGMR37 und des BVerfG.38 Das BVerfG hatte durch eine Übergangsregelung sogar dafür Sorge getragen, dass der Maschinenraum sofort einsatzfähig war, ohne auf weitere Entscheidungen der Brücke warten zu müssen, die damit natürlich in Zugzwang geriet. Nachdem Ausgangspunkt der gesetzlichen Neuregelung in § 1626a BGB ein „Leitbild der Sorgegemeinsamkeit“ war, gab es sogleich lautstarken Streit im Maschinenraum darüber, ob daraus auf ein Regel-Ausnahme-Verhältnis zu Gunsten der

_____ 33 BGBl. I S. 946, in Kraft getreten am 1.7.1998. 34 Dazu Coester, in: Götz/Schnitzler (Hrsg.), 40 Jahre Familienrechtsreform, 2017, S. 243, 248. 35 Salgo, in: Staudingers Kommentar zum BGB, Buch IV, Elterliche Sorge 3, Neubearbeitung 2014, § 1687 Rn. 7. 36 Gesetz zur Reform der elterlichen Sorge nicht miteinander verheirateter Eltern vom 16.4.2013, BGBl. I S. 795, in Kraft getreten am 19.5.2013; vgl. dazu auch die Stellungnahme der Kinderrechtekommission des Deutschen Familiengerichtstags e.V. vom 4.6.2012, abrufbar unter www.dfgt.de. 37 FamRZ 2010, 103. 38 FamRZ 2010, 1403.

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gemeinsamen Sorge zu schließen ist.39 Der Meinungsstreit wurde inzwischen durch ein Machtwort von der Brücke entschieden und ein Regel-AusnahmeVerhältnis abgelehnt.40 Somit begründet das Leitbild zwar den erleichterten Zugang zur gemeinsamen elterlichen Sorge, d.h. insbesondere den – auch im Verhältnis zur Bundesverfassungsgerichtsentscheidung – niedrigeren Prüfungsmaßstab, im kontroversen Einzelfall entscheidet aber unabhängig von einem Vor- oder Nachrang der in Betracht kommenden Sorgerechtverhältnisse ausschließlich das Kindeswohl.41 Das ist ein klares Wort. Verwirrung allerdings haben die Ausführungen des BGH dazu gestiftet, dass § 1626a BGB und § 1671 Abs. 1 BGB ein einheitlicher Kindeswohlmaßstab zugrunde liege und keine geringeren Anforderungen an die Übertragung der gemeinsamen elterlichen Sorge gestellt werden dürften als an deren Auflösung,42 legt der Wortlaut des Gesetzes doch das Gegenteil nahe.43 § 1626a Abs. 2 S. 2 BGB enthält eine dem Kindschaftsrecht sonst fremde Vermutung, nämlich, dass eine gemeinsame Sorge dem Kindeswohl nicht widerspricht, wenn keine Einwände gegen den Antrag auf Herstellung der gemeinsamen elterlichen Sorge erhoben werden. Zugleich wird diese Vermutung mit der verfahrensrechtlichen Regelung des § 155a Abs. 3 FamFG gekoppelt, die für diesen Fall ein vereinfachtes Verfahren mit nur eingeschränkter richterlicher Ermittlungspflicht vorsieht. Weil der Mensch ist, wie er ist, hat dies in der Praxis zunächst dazu geführt, dass das erste gerichtliche Schreiben, also die Zustellung des Antrags auf Herstellung der gemeinsamen elterlichen Sorge verbunden mit einem Hinweis auf die Folgen fehlender Einwendungen, nicht selten ignoriert wurde. Erst nach Erlass des familiengerichtlichen Beschlusses zur Herstellung der gemeinsamen elterlichen Sorge, wurden die Konsequenzen klar und im Rahmen einer Beschwerde erfolgte eine Vielzahl von Einwänden, die schon in erster Instanz hätten vorgetragen werden sollen. Grundsätzlich ist dies kein Problem, ist doch auch das Oberlandesgericht eine Tatsacheninstanz und muss dann ggfs. die erforderlichen Ermittlungen nachholen. Weil aber auch die Oberlandesgerichte sind, wie sie sind, bestand unter ihnen rasch Einigkeit darüber, dass bei verfahrensfehlerhafter Anwendung des § 155a Abs. 3 FamFG auf Antrag

_____ 39 Dafür OLG Brandenburg, FamRZ 2015, 760 und 1207; OLG Celle, FamRZ 2014, 857; OLG Nürnberg, FamRZ 2014, 571; dagegen OLG Frankfurt, FamRZ 2014, 1120; NJW 2014, 2201; OLG Stuttgart, FamRZ 2015, 674. 40 BGH, FamRZ 2016, 1439. 41 BGH, FamRZ 2016, 1439 Tz. 10. 42 BGH, FamRZ 2016, 1439 Tz. 17. 43 Siehe auch BT-Drs. 17/11048 S. 17 zur bewussten Herabsetzung des Maßstabs gegenüber der Übergangsregelung des BVerfG.

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eine Zurückverweisung des Verfahrens zur Nachholung der Ermittlungen und anschließender Neuentscheidung in erster Instanz in Betracht kommt.44

2. § 1628 BGB Zurück zum BGH: Nach § 1628 BGB kann im Fall eines gemeinsamen Sorgerechts ein Elternteil beim Familiengericht beantragen, ihm die Alleinentscheidungsbefugnis in einer einzelnen Angelegenheit oder einer bestimmten Art von Angelegenheiten der elterlichen Sorge zu übertragen, die für das Kind von erheblicher Bedeutung sind, wenn die Eltern sich nicht einigen können. Maßstab ist das Kindeswohl (§ 1697a BGB). Mit Beschluss vom 9.11.201645 entschied der BGH die bis dahin zwischen den Oberlandesgerichten kontrovers beurteilte Frage, ob bei Übertragung der Alleinentscheidungsbefugnis über einen Antrag nach § 3 NÄG nur allgemeine Kindeswohlbelange bezogen auf die Antragstellung zu prüfen sind oder auch die Erfolgsaussicht des Namensänderungsantrags selbst.46 Der BGH schloss sich der zuletzt genannten Meinung an und kommt daher zu dem Ergebnis, dass eine Übertragung der Entscheidungsbefugnis zu unterbleiben hat, wenn nach umfassender Amtsaufklärung die Namensänderung für das Kindeswohl nicht erforderlich ist. In der Folge wurde darauf hingewiesen, dass der BGH in Kauf nehme, dass es im Ergebnis zu einer Vorwegnahme der eigentlich den Verwaltungsbehörden und Verwaltungsgerichten zugewiesenen Prüfung der Voraussetzungen des NÄG komme.47 Aber nun gut, fehlendes Selbstbewusstsein soll man dem Maschinenraum nicht nachsagen. Außerdem gehört die Prüfung von Kindeswohlbelangen selbstredend zur Aufgabe des Familienrichters. Im Rahmen einer Unterhaltsberechnung und im Güterrecht werden vom Familienrichter allerdings auch gute steuerrechtliche Kenntnisse erwartet, so etwa im Zusammenhang mit der Einkommensermittlung Selbständiger, insbesondere bei unterhaltsrechtlichen Korrekturen steuerrechtlich anerkannter Aufwendungen,48 oder bei der gleichmäßigen Verteilung einer aus der Ehe her-

_____ 44 OLG Frankfurt, FamRZ 2014, 852; OLG Karlsruhe, FamRZ 2014, 1797; OLG Jena und Bremen, NZFam 2015, 521 und 636. 45 FamRZ 2017, 119 mit kritischer Anmerkung Hilbig-Lugani; kritisch auch Hoffmann, JAmt 2017, 144, 146. 46 Nachweise zum Meinungsstreit bei Götz, in: Palandt, Kommentar zum BGB, 76. Aufl. 2017, § 1628 Rn. 7. 47 Zutreffend Wiegelmann, FamRB 2017, 51, der die Entscheidung aber im Ergebnis begrüßt. 48 Dazu Engels, Steuerrecht für die familienrechtliche Praxis, 3. Aufl. 2017, Rn. 654 ff.

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rührenden Steuerbegünstigung nach den Grundsätzen des § 270 AO.49 Im Güterrecht sei nur das Stichwort „latente Ertragsteuer“ erwähnt.50 Geht es allerdings um die Verpflichtung zur Zustimmung zur gemeinsamen steuerlichen Veranlagung, entscheidet der BGH anders als im Namensrecht: Bei dieser Frage bejaht er die Zustimmungspflicht selbst dann, wenn steuerrechtlich offen ist, ob eine gemeinsame steuerliche Veranlagung überhaupt gewählt werden kann. Nur dann, wenn die gemeinsame Veranlagung zweifelsfrei nicht in Betracht kommt, ist ein Anspruch auf Zustimmung ausgeschlossen.51 Das Argument lässt sich hören: Würden nämlich die Familiengerichte den Tatbestand des § 26 EStG verneinen und den Antrag auf Zustimmung zur Zusammenveranlagung deshalb zurückweisen, wäre dem die Zusammenveranlagung begehrenden Ehegatten die Möglichkeit genommen, eine steuerliche Entlastung zu erlangen, ohne dass er eine Klärung der streitigen Frage durch eine Entscheidung der Finanzbehörden oder Finanzgerichte erreichen könnte. Der Maschinenraum stutzt erst kurz wegen des Widerspruchs und freut sich dann, dass ihm jedenfalls diese Prüfung erspart bleibt.

3. § 1666 Entscheidungen der Brücke zu familiengerichtlichen Maßnahmen bei Kindeswohlgefährdung gemäß § 1666 BGB haben den Maschinenraum in den letzten Jahren nachhaltig auf Trab gehalten. Hatte man im Maschinenraum bisweilen schon die Befürchtung, dass es kaum mehr möglich sei, einen Sorgerechtsentzug verfassungsfest zu begründen,52 trat doch nach und nach wieder eine Beruhigung ein, zumal nach jüngeren, den Kindesschutz betonenden und den Sorgerechtsentzug bestätigenden Entscheidungen.53 Selbst ein den Anforderungen

_____ 49 BGH, FamRZ 2017, 519: „Dabei ist die von den Eheleuten nach der tatsächlich gewählten Zusammenveranlagung (§ 26b EStG) auf der Grundlage des Splittingverfahrens gemäß § 32a V EStG geschuldete Steuer anteilig bezogen auf ihr jeweiliges Einkommen unter zusätzlicher Berücksichtigung der steuerlichen Progression aufzuteilen. In Anlehnung an § 270 AO ist dazu zunächst anhand der fiktiven Steuerlast bei Einzelveranlagung die Relation der individuellen Steuerlast zur gesamten Steuerlast zu ermitteln und sodann anhand des entsprechenden Prozentsatzes die Steuerlast des Unterhaltspflichtigen am Maßstab der bei Zusammenveranlagung tatsächlich bestehenden Steuerschuld zu ermitteln.“ 50 Engels, Steuerrecht für die familienrechtliche Praxis, 3. Aufl. 2017, Rn. 1007 ff. 51 BGH, FamRZ 2005, 182. 52 Siehe nur BVerfG, FamRZ 2012, 1127; FamRZ 2014, 907, 1177, 1266, 1270 und 1772; FamRZ 2015, 112 und 208; FamRZ 2016, 439; NZFam 2017, 795. 53 BVerfG, FamRZ 2017, 524.

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nicht vollständig genügendes Sachverständigengutachten bringt eine tatrichterliche Entscheidung nicht zwingend zu Fall.54 Eine konsequent gründliche Sachverhaltsermittlung durch den Maschinenraum in Folge dieser Entscheidungen verbunden mit einer ausführlichen Darlegung der die Entscheidung tragenden Gründe kann in diesem grundrechtssensiblen Bereich aber letztlich auch nicht als Nachteil verbucht werden. Interessant wäre es allerdings zu wissen, was das Bundesverfassungsgericht von der Idee eines Kollegen hält, der dazu neigt, in Verfahren nach § 1666 BGB den Eltern erhebliche Auflagen im Kontext der Smartphonenutzung durch ihre Kinder zu machen. Ging es in einem Fall tatsächlich darum, ein gegenüber zwei betroffenen Mädchen übergriffiges Verhalten abzustellen,55 betrafen die beiden anderen Fälle die Nutzung des Messenger-Dienstes WhatsApp, ohne die nach Ansicht des Kollegen erforderliche vorherige Einholung der Zustimmung aller anderen Kontaktpersonen.56 Ich räume unumwunden ein, dass es dem Maschinenraum manchmal schwer fällt, ein bestimmtes Elternverhalten zu tolerieren, aber zum Erziehen der Erziehungsberechtigten fehlt uns schlichtweg die Befugnis! Mit Entscheidung vom 6.7.201657 hat der BGH die bis dahin streitige Frage geklärt, ob § 1666 BGB eine Entziehung des Umgangsbestimmungsrechts auch im Verhältnis zwischen den Eltern gestattet und er hat die Frage bejaht. Dies allerdings mit der Maßgabe, dass im Fall eines Elternkonflikts eine gerichtliche Umgangsregelung und die Bestimmung eines Umgangspflegers als milderes Mittel stets vorrangig sind. In dieser Entscheidung wird zudem noch einmal hervorgehoben, dass im Verfahren nach § 1666 BGB das Verbot der reformatio in peius nur eingeschränkt gilt. So weit, so gut. Im Zusammenhang mit dem im entschiedenen Fall erfolgten Sorgerechtsentzug im Teilbereich Umgangsbestimmungsrecht wird sodann ausgeführt, dass ohne einen solchen Entzug in den von einer vorhandenen Umgangsregelung nicht erfassten Zeiten die Bestimmung des Umgangs weiterhin Aufgabe des insoweit sorgeberechtigten Elternteils sei, da die Festlegung des Umgangs auf einen bestimmten Rhythmus nicht zugleich den Ausschluss des Kontakts für weitere Zeiten beinhalte.58 Spontan fragt sich der Maschinenraum daraufhin, warum er sich eigentlich Mühe mit ausgeklügelten Umgangsregelungen macht,

_____ 54 BVerfG, FamRZ 2017, 1055; siehe auch EGMR FamRZ 2018, 350. 55 AG Bad Hersfeld, FamRZ 2017, 2114, wobei über die Wirksamkeit der Weisungen trefflich gestritten werden kann. 56 AG Bad Hersfeld, ZKJ 2017, 282 und FamRB 2017, 301. 57 FamRZ 2016, 1752. 58 BGH, FamRZ 2016, 1752 Tz. 50.

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wenn sie letztlich doch bedeutungslos sind, weil ein Umgangsbestimmungsberechtigter sie ohne Ausschluss im Übrigen folgenlos ignorieren kann. Bei weiterem Nachdenken stellt sich heraus, dass die Entscheidung dem Maschinenraum das Leben tatsächlich schwer machen kann: Steht bei einem Sorgerechtsentzug und einer Fremdunterbringung des Kindes – anders als in dem vom BGH entschiedenen Fall – nämlich noch nicht fest, dass die gemeinsam umgangsbestimmungsberechtigten Eltern oder der alleinige Inhaber des Umgangsbestimmungsrechts sich in kindeswohlschädlicher Weise über eine bestehende Umgangsregelung hinwegsetzen werden, kann auch kein Entzug des Umgangsbestimmungsrecht erfolgen. Erst bei nachhaltigen Verstößen und einer dadurch bedingten Gefährdung des kindlichen Wohls müsste in einem weiteren Verfahren gemäß § 1666 BGB das Umgangsbestimmungsrecht entzogen werden. Aus der Sicht des Maschinenraums erschiene es praktikabler, eine Einschränkung des Umgangsbestimmungsrechts bei einem fremduntergebrachten Kind durch eine erfolgte Umgangsregelung gemäß § 1684 BGB anzunehmen, so wie sich Sorge- und Umgangsrecht stets gegenseitig begrenzen. Ein uneingeschränktes Umgangsbestimmungsrecht bestünde in dieser Situation nur noch im Verhältnis zu Dritten und für die Eltern könnte ein Kontaktverbot außerhalb geregelter Zeiten aus der Loyalitätspflicht des § 1684 Abs. 2 BGB hergeleitet werden.59 Die Einhaltung dieser Loyalitätspflicht könnte wiederum durch konkrete ordnungsgeldbewehrte Anordnungen durchgesetzt werden60 und dies zügig ohne das Erfordernis eines weiteren Verfahrens nach § 1666 BGB.

4. § 1686a BGB Durch das Gesetz zur Stärkung der Rechte des leiblichen, nicht rechtlichen Vaters vom 4.7.2013,61 wiederum angestoßen durch Entscheidungen des EGMR vom 21.12.201062 und vom 15.9.201163 wurde ein Umgangsrecht für einen leiblichen Vater geschaffen, dessen Kind einen anderen rechtlichen Vater hat. Voraussetzung ist, dass der leibliche Vater ein ernsthaftes Interesse an dem Kind gezeigt hat und der Umgang dem Kindeswohl dient.64 Die Prüfungsreihenfolge – erst Klärung der

_____ 59 KG, FamRZ 2015, 940. 60 OLG Frankfurt, FamRZ 2016, 744. 61 BGBl. I S. 2176. 62 FamRZ 2011, 269. 63 FamRZ 2011, 1715. 64 OLG Bamberg, FamRZ 2013, 710; OLG Frankfurt, FamRZ 2017, 307; OLG Jena, NZFam 2017, 535; siehe auch BVerfG, BeckRS 2016, 110563.

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Abstammung oder der Kindeswohldienlichkeit des Umgangs – hat die Brücke grundsätzlich in das Ermessen des Maschinenraums gestellt, allerdings an eine inzidente Verhältnismäßigkeitsprüfung gebunden.65 Deshalb wäre etwa ein Umgangsantrag sogleich zurückzuweisen, wenn ohne weiteres feststeht, dass das ernsthafte Interesse des Antragstellers fehlt oder das Kindeswohl dem Umgang entgegensteht. Sind Kindeswohldienlichkeit und Abstammung offen, kann eine erhebliche Belastung des Kindes durch eine Kindeswohlprüfung für einen Vorrang der Abstammungsklärung sprechen, allerdings sind auch die familiären Auswirkungen dieser in die Entscheidung einzubeziehen. Weil der Mensch ist, wie er ist, sind Verfahren nach § 1686a BGB – auch bei schonendster und verhältnismäßigster Verfahrensführung und unter Leitung des erfahrensten Seebären aus dem Maschinenraum – in aller Regel extrem schwierig, wünschen doch mindestens zwei Beteiligte den Dritten bestenfalls zum Teufel. Dies gilt erst recht, wenn in der Antragsschrift Details der Liebesbeziehung des leiblichen Vaters mit der Mutter des Kindes dargelegt werden, die im Sitzungssaal dann aber neben ihrem Ehemann Platz nimmt. In eine weitere Untiefe hat die Brücke den Maschinenraum mit der Entscheidung des BGH vom 5.10.201666 geführt, die den Familienrichter in die Pflicht nimmt, das bisher ahnungslose Kind vor seiner Anhörung bzw. einer Begutachtung bei entsprechender Reife über seine wahre Abstammung zu unterrichten, soweit nicht der Umgang aus anderen, das Kind nicht unmittelbar betreffenden Gründen ausscheidet. Natürlich wäre § 1686a BGB und die mit der Vorschrift intendierte Stärkung der Väterrechte Makulatur, könnte allein die elterliche Weigerung, den Umgang zuzulassen, den Anspruch zu Fall bringen. Das Gleiche muss grundsätzlich für die Situation gelten, dass die Eltern versuchen, den Umgang dadurch zu hintertreiben, dass sie das Kind über seine Abstammung nicht aufklären. Zudem besteht ein verfassungsrechtlich geschützter Anspruch eines Kindes auf Kenntnis seiner Abstammung.67 Zeitpunkt und Art und Weise der Aufklärung des Kindes liegen allerdings – bis zur Grenze wiederum einer Kindeswohlgefährdung – in den Händen der sorgeberechtigten Eltern. Ob § 1686a BGB eine hinreichende Grundlage für eine erzwungene Aufklärung des Kindes bietet, ohne dass die Voraussetzungen des § 1666 BGB vorliegen, erscheint mir zweifelhaft. Schließlich stelle man sich die Aufklärung einmal praktisch vor: Der Familienrichter – am OLG gleich drei davon – flankiert von einem Familienpsychologen und einem Jugendamtsmitarbeiter und sicherheitshalber vielleicht noch

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65 BVerfG, FamRZ 2014, 460; FamRZ 2015, 119. 66 FamRZ 2016, 2082. 67 Ausführlich Coester-Waltjen, FF 2017, 224.

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von einem Kinderarzt ermitteln zunächst den Kenntnisstand des Kindes in Sachen Fortpflanzung, um ihm – ggfs. nach dem erforderlichen Update – dann den wahren Sachverhalt zu eröffnen. Ach ja, das Ganze hat natürlich auch noch beschleunigt zu erfolgen, denn Umgangsverfahren unterfallen nach § 155 Abs. 1 BGB dem das Verfahrensrecht in bestimmten Kindschaftssachen prägenden Beschleunigungsgrundsatz.68

V. Das Wechselmodell 1. Grundsätze Das Wechselmodell gehört zu den in den letzten Jahren am emotionalsten diskutierten Themen überhaupt, wobei sich der Streit bereits daran entzündet, wann denn überhaupt von einem Wechselmodell gesprochen werden kann. Der Maschinenraum zerfiel in einzelne Lager, jeder war auf der Jagd nach Überläufern und bezichtigte die andere Seite der Rückwärtsgewandtheit oder des Gesetzesbruchs, je nachdem, ob man es mit Befürwortern oder Gegnern des Wechselmodells zu tun hatte. Erste Linien zog die Brücke, konkret der BGH, zunächst im Rahmen von Entscheidungen zur elterlichen Vertretung des Kindes im Unterhaltsrechtstreit. Nach § 1629 Abs. 2 S. 2 BGB kann der Inhaber der Obhut das Kind im Unterhaltsverfahren gegen den anderen ebenfalls sorgeberechtigten Elternteil allein vertreten, obwohl bei bestehender gemeinsamer elterlicher Sorge grundsätzlich beide Eltern das Kind gemeinschaftlich vertreten. Obhut bedeutet tatsächliche Fürsorge für das Kind und Befriedigung seiner elementaren Bedürfnisse durch Pflege, Verköstigung, Gestaltung des Tagesablaufs, Erreichbarkeit bei Problemen und emotionale Zuwendung. Es geht also um das tatsächliche Fürsorgeverhältnis und den Elternteil, der das Kind überwiegend betreut, sich seiner Bedürfnisse annimmt, es versorgt und erzieht.69 Dieses Obhutsverhältnis entfällt nach der Rechtsprechung des BGH nur bei einer tatsächlich paritätischen Betreuung des Kindes durch beide Eltern. Auch wenn die jeweilige Betreuungszeit ein gewichtiger Faktor ist, so kann deshalb nach der Rechtsprechung des BGH ein Obhutsverhältnis auch bei einer nur geringen zeitlichen Differenz in der Betreuung noch zu bejahen sein, wenn ein Elternteil ersichtlich mehr Erziehungsverantwortung als der andere trägt.70

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68 Thomas/Putzo/Hüßtege, ZPO, 38. Aufl. 2017, § 155 FamFG Rn. 2. 69 BGH, FamRZ 2014, 917 Tz. 16. 70 BGH, FamRZ 2006, 1015: 1/3 : 2/3; FamRZ 2014, 917: 57% : 43%.

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2. Das Wechselmodell im Kindschaftsrecht Das Kindschaftsrecht des BGB geht derzeit noch vom sog. Residenzmodell als gesetzlichem Modell aus, d.h. das Kind lebt nach Trennung der Eltern bei einem Elternteil und hat mit dem anderen Umgang. Außer Streit stand stets, dass dadurch andere Betreuungsmodelle nicht ausgeschlossen werden. In Betracht kommen insoweit das Wechselmodell oder auch das – kaum vorkommende – Nestmodell, bei dem nicht das Kind, sondern die Eltern die Wohnung wechseln. Ausgehend vom Residenzmodell regelt § 1687 BGB die Entscheidungsbefugnisse nach der Trennung und weist die Alleinentscheidungsbefugnis in Alltagsangelegenheiten, das sind solche, die häufig vorkommen und keine schwer abzuändernden Auswirkungen auf das Kind haben, dem Obhutsinhaber zu. Streit bestand allerdings darüber, ob es de lege lata zulässig ist, ein Wechselmodell auch gegen den Willen eines Elternteils familiengerichtlich anzuordnen. Die weit überwiegende Meinung in Rechtsprechung und Literatur verneinte dies, da die elterliche Sorge nur einem Elternteil ganz oder teilweise allein übertragen werden könne, vom Familiengericht aber nicht in ihrer Ausübung geregelt werden dürfe und der Umgang nicht den Fall der alternierenden Betreuung umfasse. Soweit eine Anordnungskompetenz auch gegen den Willen eines Elternteils bejaht wurde, bestand Streit darüber, ob es sich bei dieser Entscheidung um eine Sorgerechts- oder eine Umgangsregelung handelt. Lediglich in einem Punkt bestand weitgehend Übereinstimmung, nämlich dass die Eltern an ein einvernehmlich praktiziertes Wechselmodell bis zu einer einvernehmlichen Änderung der Betreuungssituation oder einer gerichtlichen Entscheidung gebunden sind.71 Etwas klarer schien die Richtung zu sein, als die Brücke, wieder in Gestalt des BGH, in der Entscheidung vom 11.1.201772 zur Berechnung des Kindesunterhalts beim Wechselmodell ausführte, dass die Vereinbarung des Wechselmodells die Ausübung der elterlichen Sorge betreffe in Bezug auf Aufenthalt und Betreuung des Kindes. Umso größer war die Überraschung, als er kurze Zeit später, nämlich am 1.2.2017, entschied, dass das paritätische Wechselmodell de lege lata auch gegen den Willen eines Elternteils angeordnet werden könne und zwar als Umgangsregelung.73 Dabei hat er nicht nur offen gelassen, ob diese Anordnung auch als Sorgerechtsregelung möglich wäre, sondern dieses Modell sogar als hälftig

_____ 71 Nachweise zu den vertretenen Meinungen bei Götz, in: Palandt, Kommentar zum BGB, 76. Aufl. 2017, § 1687 Rn. 2; vgl. auch die Stellungnahme der Kinderrechtekommission des Deutschen Familiengerichtstags e.V., FamRZ 2014, 1157. 72 FamRZ 2017, 437, dort Tz. 22. 73 BGH, FamRZ 2017, 532.

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geteilte Ausübung der gemeinsamen Sorge bezeichnet.74 Dies könnte dafür sprechen, dass ein paritätisches Wechselmodell bei Alleinsorge eines Elternteils nicht angeordnet werden kann, was der BGH offen gelassen hat.75 Zwar seien, so der BGH, die gesetzlichen Regelungen am Residenzmodell ausgerichtet, dadurch würden andere Betreuungsmodelle aber nicht ausgeschlossen. Das weitere Argument, dass nach überwiegender Meinung von den Eltern ein paritätisches Wechselmodell vereinbart werden könne, so dass auch die Anordnung durch das Familiengericht zulässig sein müsse,76 überzeugt den Maschinenraum allerdings nicht: Es ist ein gängiges Argument in Vergleichsverhandlungen, dass man diese oder jene Lösung für die dem Einzelfall am besten gerecht werdende Lösung hält. Da die Gesetzeslage eine dementsprechende gerichtliche Entscheidung aber nicht gestatte, wird ein Vergleich empfohlen. Das ist aufgrund der Beteiligtenautonomie grundsätzlich möglich und führt im Übrigen nicht selten zum Erfolg. Immerhin, Entscheidungsmaßstab bei der Anordnung eines Wechselmodells gegen den Willen eines Elternteils ist allein das Kindeswohl im jeweiligen Einzelfall, wie der BGH mehrfach und nachdrücklich betont. Eine ein paritätisches Wechselmodell anordnende Umgangsregelung setzt Kommunikationsund Kooperationsfähigkeit der Eltern voraus und darf nicht angeordnet werden, um diese erst herzustellen.77 Ein erheblich konfliktbelastetes Elternverhältnis spricht idR gegen die Kindeswohldienlichkeit dieses Betreuungsmodells.78 Voraussetzung ist zudem, dass das Kind eine auf einer sicheren Bindung beruhende tragfähige Beziehung zu beiden Elternteilen hat,79 wofür der Umfang der bisherigen Betreuung durch beide Elternteile von Bedeutung sein kann. Die Qualifikation als Umgangsregelung führt allerdings dazu, dass eine im Eilverfahren erfolgte Anordnung eines Wechselmodells der Überprüfung durch das Beschwerdegericht gemäß § 57 S. 1 FamFG generell entzogen ist. Dies ist mit Blick auf das Kindeswohl insbesondere deshalb kritisch zu sehen, weil der BGH explizit davon ausgeht, dass die Anordnung des Wechselmodells in der akuten Trennungssituation zunächst versuchsweise möglich ist, was – der akuten Situation entsprechend – nicht selten durch einstweilige Anordnung geschehen könnte. Dies macht das Kind zum Versuchsobjekt im Elternkonflikt.80

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74 BGH, FamRZ 2017, 532 Tz. 25; ähnlich BGH, FamRZ 2017, 437 Tz. 22; zu Recht kritisch Coester, FamRZ 2017, 584. 75 BGH, FamRZ 2017, 532 Tz. 19. 76 BGH, FamRZ 2017, 532 Tz. 23. 77 BGH, FamRZ 2017, 532 Tz. 25. 78 BGH, FamRZ 2017, 532 Tz. 31. 79 BGH, FamRZ 2017, 532 Tz. 29. 80 Vgl. dazu auch Salzgeber, NZFam 2014, 921, 929: weniger kindeswohlgemäß, mit einer gleichwertigen Betreuung zu beginnen und bei Problemen die Betreuungszeiten zu reduzieren.

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Der BGH hat damit eine Frage entschieden, die nach der bisher hM vom Gesetzgeber zu lösen gewesen wäre. In Verbindung mit seiner Rechtsprechung zum Kindesunterhalt im Fall eines paritätischen Wechselmodells scheint der BGH diesen vordergründig entlastet zu haben. Die verbleibenden Unstimmigkeiten durch Orientierung des vorhandenen Normenbestands am Residenzmodell und die Unsicherheiten bei der gesetzlichen Vertretung des Kindes81 erfordern jedoch eine konsistente gesetzliche Neuregelung dieses Betreuungsmodells. Dass dabei keine verfassungsrechtliche Verpflichtung zur Einführung der paritätischen Betreuung als Regelmodell besteht, hat das BVerfG bereits klargestellt.82

3. Das Wechselmodell im Unterhaltsrecht Exkurs: Ziele der Unterhaltsrechtsreform 2008 Bevor ich zu der Lösung des BGH zum Kindesunterhalt beim Wechselmodell komme, müssen einfach die drei Hauptziele des am 1.1.2008 in Kraft getretenen Gesetzes zur Änderung des Unterhaltsrechts83 erwähnt und hervorgehoben werden, nämlich die Förderung des Kindeswohls, die Stärkung der Eigenverantwortung nach der Scheidung und die Vereinfachung des Unterhaltsrechts.84 Nun zum Kindesunterhalt: Für das Residenzmodell enthält § 1606 Abs. 3 S. 2 BGB grob verkürzt die Regel „einer zahlt, einer betreut“. Zwar sind nach § 1606 Abs. 3 S. 1 BGB grundsätzlich beide Elternteile dem Kind zum Unterhalt verpflichtet, in der Regel erfüllt jedoch der Elternteil, bei dem das Kind lebt, seine Unterhaltsverpflichtung durch die Betreuung des Kindes, während der andere Elternteil dessen Barunterhalt sicherstellt. Diese Regel versagt bei einer zeitgleichen Betreuung des Kindes durch beide Eltern im Rahmen eines paritätischen Wechselmodells. Für dieses Betreuungsmodell hat der BGH85 nun eine Berechnungsmethode vorgegeben, die dem Rechtsanwender allerdings einiges abverlangt. Völlig zu Recht führt ein mit dem Unterhaltsrecht wohlvertrautes Mitglied des Maschinenraums in einer Anmerkung zu der Entscheidung aus: „Mit seinem facettenreichen Beschluss setzt der BGH seine schon in früheren Entscheidungen vorgezeichnete Linie fort, die Unterhaltsbeziehungen in einem praktizierten Wechselmodell dem für völlig andere Lebensverhältnisse entwickelten Modell

_____ 81 82 83 84 85

Dazu Götz, in: Palandt, Kommentar zum BGB, 77. Aufl. 2018, § 1628 Rn. 5. BVerfG, FamRZ 2015, 1585. Vom 21.12.2007, BGBl. I S. 3189. BT-Drs. 16/1830 S. 12. FamRZ 2017, 437.

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der Düsseldorfer Tabelle zu unterwerfen. Damit hat er den Schwierigkeitsgrad des an Komplikationen wahrlich nicht armen deutschen Unterhaltsrechts nochmals erhöht und dessen Ruf eines überkomplexen Rechts gefestigt. Alle Wünsche nach mehr Einfachheit blieben ungehört.“86 Der BGH hat in dieser Entscheidung sowohl einer Schätzung der Wohnungsmehrkosten bei einem Wechselmodell eine Absage erteilt und deren konkrete Ermittlung gefordert als auch das Verfahren unter anderem deshalb zurückverwiesen, damit das OLG einen monatlichen Mehrbedarf von 3,07 € noch einmal überprüft. Da kann sich der Maschinenraum nur die Augen reiben! Nach dem Gesetz geschuldet ist der angemessene Unterhalt. Das allerdings verlieren alle Beteiligten zunehmend mehr aus dem Auge. Durch eine Rechnung mit zwei Stellen hinter dem Komma entsteht eine Scheingerechtigkeit, die die Betroffenen gar nicht einfordern. Die Kompliziertheit unseres Unterhaltsrechts führt vor allem dazu, dass junge und unerfahrene Maschinisten sogleich zu computergestützten Berechnungsprogrammen greifen und seitenlange Zahlenkolonnen produzieren. Dass durch bestimmte Voreinstellungen des Erstellers des Programms nebenbei die Rechtsanwendung beeinflusst wird, wenn vom Anwender diese Voreinstellung nicht erkannt und geändert wird, sei nur nebenbei erwähnt. Die von einem Unterhaltsverfahren betroffenen Eltern oder Ehegatten erwarten in der Regel keine hohe Mathematik, sondern sie wollen wissen, von welchen Zahlen das Gericht ausgeht, welche Belastungen akzeptiert und welche nicht akzeptiert werden und warum das so ist. Das ist machbar und zwar ohne Dezimalzahlen und ohne Programm. Dass es eine hilfreiche Unterstützung sein kann, auch zur Kontrolle der eigenen Rechnung, ziehe ich gar nicht in Zweifel, aber es sollte das Verfahren und die Lösung des Falls nicht dominieren. Mit der Zurückführung unserer hochkomplexen Rechengebilde auf eine verständliche knappe Zahlenreihe könnten wir viel erreichen. Und eine solche Rechnung wäre auch – oder vielleicht sogar erst recht – gerecht. Insoweit rufe ich ganz offen zur Meuterei auf!

VI. Das Beste zuletzt 1. Überblick Auf den letzten Metern der Legislaturperiode hat die Brücke noch zahlreiche familienrechtliche Vorhaben verabschiedet, dabei allerdings manches Leck ge-

_____ 86 Schürmann, FamRZ 2017, 442.

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schlagen. 87 Der Maschinenraum hat die Schwimmwesten übergestreift und schöpft Wasser. Von den verabschiedeten Gesetzen seien das Gesetz zur Einführung eines familienrechtlichen Genehmigungsvorbehaltes für freiheitsentziehende Maßnahmen bei Kindern vom 17.7.2017,88 das Gesetz zur Regelung des Rechts auf Kenntnis der Abstammung bei heterologer Verwendung von Samen vom 17.7.201789 und das Gesetz zur Änderung der materiellen Zulässigkeitsvoraussetzungen von ärztlichen Zwangsmaßnahmen und zur Stärkung des Selbstbestimmungsrechts von Betreuten (ebenfalls) vom 17.7.201790 an dieser Stelle nur kurz erwähnt. Auf der Strecke geblieben ist hingegen das Gesetz zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen,91 das ursprünglich auch die Regelung einer Dauerverbleibensanordnung im BGB vorsah. Auch das Gesetz zur Reform des Scheinvaterregresses, zur Rückbenennung und zur Änderung des internationalen Familienverfahrensrechts,92 mit dessen Inkrafttreten schon 2016 gerechnet worden war, ist plötzlich versandet.

2. Der Kampf gegen die Kinderehen Im Anschluss an eine Entscheidung des OLG Bamberg93 entstand eine – auch in den Medien sehr präsente – Diskussion über das unbedingt notwendige sofortige Verbot von Kinderehen, wobei zumeist wenig differenzierend und eher polemisierend von Zwangsehen ausgegangen wurde. Das Gesetz zur Bekämpfung von Kinderehen vom 17.7.201794 trat am 22.7.2017 in Kraft.95 Eine Ehe kann nunmehr gemäß § 1303 BGB nur noch von Volljährigen geschlossen werden. Eine

_____ 87 Siehe dazu die Aufstellung von Maas, ZRP 2017, 130. 88 BGBl. I S. 2424; dazu Stellungnahme der Kinderrechtekommission des Deutschen Familiengerichtstags e.V. vom 29.9.2016, abrufbar unter www.dfgt.de; Hoffmann, JAmt 2017, 353; Keuter, ZKJ 2017, 307; Götz, FamRZ 2017, 1289. 89 BGBl. I S. 2513; Helms, FamRZ 2017, 1537; siehe auch Stellungnahme der Kinderrechtekommission des Deutschen Familiengerichtstags e.V. vom 28.10.2016, abrufbar unter www. dfgt.de. 90 BGBl. I S. 2426; dazu Spickhoff, FamRZ 2017, 1633 und Götz, FamRZ 2017, 413. 91 BT-Drs. 18/12330, 18/12730 und 18/12952. 92 BT-Drs. 18/10343; dazu Stellungnahme des Deutschen Familiengerichtstags e.V. vom 28.7. 2016, abrufbar unter www.dfgt.de; siehe auch BR-Drs. 493/16. 93 FamRZ 2016, 1270. 94 BGBl. I S. 2429. 95 Zur Übergangsvorschrift vgl. Art. 229 § 44 EGBGB.

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Ehe, die im Alter von unter 16 Jahren geschlossen wird, ist nicht wirksam, eine solche, die ein über 16-Jähriger schließt, ist aufhebbar und hierfür wurde sogar ein beschleunigtes Verfahren geschaffen (§ 129a FamFG). Nachdem der Gesetzgeber offensichtlich davon ausgeht, dass es ab Inkrafttreten des Gesetzes auch tatsächlich sofort keine verheirateten Minderjährigen mehr gibt, hat er alle Vorschriften, die einen Bezug zu einer Minderjährigenehe hatten, aufgehoben oder umformuliert, was allerdings zu ziemlich absurden Ergebnissen führt. Exemplarisch sei das Kindesnamensrecht angeführt: Wird einem bereits verheirateten minderjährigen Kind, dessen Name nach § 1617 Abs. 1 BGB Ehename geworden ist, nach § 1617 Abs. 2 BGB der Name des anderen Elternteils erteilt, muss der Ehegatte des Kindes nicht zustimmen. Anders bei einer Namensänderung nach § 1617c BGB oder der Einbenennung nach § 1618 BGB, der auf § 1617c Abs. 3 BGB verweist, der die Zustimmungspflicht des Ehegatten regelt. In den Vorschriften wurde also schlicht das Wort „unverheiratet“ gestrichen, auf weitere Widersprüche aber nicht geachtet. Die Eheschließung eines Minderjährigen führte auch nach alter Rechtslage nicht zum Ende der elterlichen Sorge, allerdings wurde sie durch § 1633 BGB a.F. im Bereich der Personensorge auf die Vertretung in persönlichen Angelegenheiten beschränkt. Diese Vorschrift wurde durch die Reform aufgehoben, so dass jetzt auch im Verhältnis zu einem verheirateten Minderjährigen das volle Sorgerecht besteht. Der Sorgeberechtigte kann deshalb nach neuer Rechtslage auch den Aufenthalt des Kindes und seinen Umgang bestimmen und ihn auf diese Weise von seinem Ehegatten trennen. Das war gewollt, denn da es nach deutschem Recht künftig keine verheirateten Minderjährigen mehr gibt, sollen diese Handlungsbefugnisse insbesondere dem Jugendamt als Vormund für unbegleitet einreisende Minderjährige, die bereits verheiratet sind, dienen.96 Gibt der (in der Regel) ältere Mann seine junge Frau aber nicht widerstandslos heraus, dürfte – solange die Ehe wirksam und nicht aufgehoben ist – einem Herausgabeverlangen gemäß § 1632 Abs. 1 BGB allerdings die fehlende Widerrechtlichkeit des Vorenthaltens entgegenstehen. 97 Der Maschinenraum reibt sich schon die Hände. Ein Leckerbissen für Unterhaltsrechtler könnte eine weitere Änderung werden: Nach § 1649 Abs. 1 S. 1 BGB dürfen Eltern Vermögenseinkünfte ihres Kindes, soweit sie nicht zur ordnungsgemäßen Verwaltung des Vermögens benötigt werden, für den Unterhalt des Kindes verwenden. Hat das Kind richtig hohe Vermögenseinkünfte, die über die Verwaltungskosten und den eigenen Unter-

_____

96 BT-Drs. 18/12086 S. 18: Trennung ggfs. sogar gegen den Willen des Minderjährigen; siehe auch § 42a Abs. 1 S. 2 SGB VIII. 97 Vgl. Lohse/Meysen, JAmt 2017, 345, 348: keine regelhafte Trennung, Maßstab Kindeswohl.

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halt des Kindes noch hinausgehen, durften sie nach der bisherigen Fassung des § 1649 Abs. 2 S. 1 BGB auch für den Unterhalt der Eltern und der unverheirateten minderjährigen Geschwister des vermögenden Kindes eingesetzt werden, soweit dies unter Berücksichtigung der Vermögens- und Erwerbsverhältnisse der Beteiligten der Billigkeit entspricht. Mit der Eheschließung des vermögenden Kindes erlosch diese Befugnis gemäß § 1649 Abs. 2 S. 2 BGB allerdings. In der neuen Fassung fehlt das Wort „unverheiratet“ bei den minderjährigen Geschwistern und der zweite Satz von Absatz zwei wurde ganz gestrichen. Die Verwendungsbefugnis scheitert mithin nicht mehr an der Verheiratung und zwar weder des vermögenden Kindes noch seiner Geschwister. Auch wenn es eher selten sein dürfte, dass in einer Familie ein verheirateter minderjähriger Nabob mit eher notleidenden Geschwistern und Eltern zusammentrifft, so wäre doch interessant zu wissen, wie sich diese Verwendungsbefugnis zum Ehegattenunterhalt verhält? Oder wie ist es gar, wenn dem minderjährigen Kind sein Vermögen von seinem über alles verliebten Ehegatten übertragen wurde? Die Widersprüche im vorhandenen Normenbestand fallen dem Maschinenraum sofort ins Auge, während die Brücke wohl eher dem Prinzip huldigt, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Das Argument der fehlenden Praxisrelevanz trifft zwar – wie schon mein Beispiel zu § 1649 BGB zeigt – sicher zu. Ginge es allein nach Praxisrelevanz, wäre allerdings ein nicht unerheblicher Teil der Normen überflüssig – zum großen Bedauern der Verlage und ihrer Kommentatoren! Dass gegen das nun in Kraft getretene Gesetz auch in der Sache erhebliche Einwände bestehen, wurde in den Stellungnahmen der Verbände mehr als deutlich.98 Auch der Deutsche Familiengerichtstag hat initiativ im November 2016 und zum Gesetzentwurf selbst im Februar 2017 Stellung genommen.99 Diese Stellungnahmen sind zwei Beispiele für viele, für die Michael Coester federführend verantwortlich war. Sie beweisen unter anderem, dass der Elfenbeinturm (als Bild für die Rechtswissenschaft) und der Maschinenraum zu wunderbaren Kooperationen im Stand sind, was die Brücke nicht immer gerne sieht. Mein Ergebnis in diesem Punkt: Manches könnte man getrost der Rechtsprechung überlassen und es bleibt zu hoffen, dass die Brücke sich in den Jahren nach der Wahl wieder darauf besinnt.

_____ 98 Vgl. etwa die Stellungnahme des Deutschen Anwaltvereins durch die Arbeitsgemeinschaft Familienrecht vom Februar 2017, abrufbar unter https://anwaltverein.de/de/newsroom?news categories=3&category=27. 99 Beide Stellungnahmen abrufbar unter www.dfgt.de.

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3. Missbräuchliche Vaterschaftsanerkennungen Völlig unvorhergesehen gelangte mit dem Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht vom 20.7.2017100 aufgrund eines Änderungsantrags der Fraktionen der CDU/CSU und SPD im Innenausschuss des Deutschen Bundestags am 15.7.2017 eine neue Vorschrift in das Abstammungsrecht. Mit der Verbotsnorm des § 1597a Abs. 1 BGB soll klargestellt werden, dass die Anerkennung einer Vaterschaft von der Rechtsordnung missbilligt wird, wenn sie gezielt zum Zweck der Erlangung eines Aufenthalts- oder Einreiserechts abgegeben wird. Bei Vorliegen bestimmter, in § 1597a Abs. 2 Nr. 1 bis 5 BGB aufgeführter Anhaltspunkte soll, wenn diese von den Betroffenen nicht ausgeräumt werden können, das Beurkundungsverfahren ausgesetzt und der Vorgang der zuständigen Ausländerbehörde zur Prüfung nach § 85a AufenthG vorgelegt werden. Ergibt diese Prüfung eine missbräuchliche Vaterschaftsanerkennung, ist ein rechtsmittelfähiger Bescheid zu erlassen, gegen den im Verwaltungsrechtsweg vorzugehen ist. Andernfalls ist das Prüfungsverfahren einzustellen und die Aussetzung aufzuheben. Das Anerkennungsverfahren kann dann seinen Weg nehmen. Interessant wären Prognosen, wie alt ein Kind wohl im Durchschnitt sein wird, bis im Verwaltungsrechtsweg endgültig über die Missbräuchlichkeit entschieden ist und das Anerkennungsverfahren ggfs. fortgesetzt werden kann. Nach § 1597a Abs. 5 BGB kann eine Anerkennung immerhin dann nicht missbräuchlich sein, wenn der Anerkennende der leibliche Vater des Kindes ist. Da nach den §§ 15 Abs. 1, 17 Abs. 4 GenDG eine vorgeburtliche Abstammungsklärung allerdings nur im Fall von Taten gemäß §§ 176–178 StGB eingeschränkt zulässig ist, kann dem leiblichen Vater § 1597a Abs. 5 BGB vorgeburtlich kaum zugutekommen. Vorgeburtliche Vaterschaftsanerkennung gemäß § 1599 Abs. 4 BGB und Sorgeerklärungen gemäß § 1626b Abs. 2 BGB könnten daher künftig an einer Aussetzung der Beurkundung scheitern.101

4. Die Ehe für (fast) alle Die Forderung nach einer Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare ist nicht neu.102 In der 18. Legislaturperiode wurden nun Gesetzentwürfe der Bundestagsfraktionen der LINKEN und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN103 vorgelegt und

_____ 100 101 102 103

BGBl. I S. 2780. Siehe auch Stern, NZFam 2017, 740. Dethloff, FamRZ 2016, 351. BT-Drs. 18/8 vom 23.10.2013 und 18/5098 vom 10.6.2015.

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auch der Bundesrat präsentierte unter Federführung des Landes Rheinland-Pfalz einen Entwurf,104 wobei alle drei Entwürfe weitgehend übereinstimmten. Nach jeweils 1. Lesung im Bundestag wurden die Entwürfe federführend in den Bundestagsausschuss für Recht und Verbraucherschutz überwiesen. Nach einer öffentlichen Anhörung wurde die weitere Beratung allerdings so oft vertagt, dass zuletzt sogar das BVerfG angerufen wurde, um eine Behandlung im Weg einer einstweiligen Anordnung vor dem Ende der Legislaturperiode zu erzwingen. Die Verfassungsbeschwerde blieb erfolglos.105 Vielmehr war es ein Interview der Bundeskanzlerin am 26.6.2017 mit der Frauenzeitschrift Brigitte,106 das dazu geführt hat, dass zwei Tage später die Bundestagsausschüsse zusammentraten und der federführende Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz mehrheitlich die Annahme des vom Bundesrat eingebrachten Gesetzentwurfs ohne jede Änderung empfahl.107 In der letzten Bundestagssitzung der Legislaturperiode am 30.6.2017 wurde der Entwurf mit deutlicher, wenn auch einfacher Mehrheit unverändert verabschiedet. Am 7.7.2017 hat das Gesetz den Bundesrat passiert.108 Am 1.10.2017 trat das Gesetz zur Einführung des Rechts auf Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts vom 28.7.2017109 in Kraft. Mit ihm soll, so die Intention des Gesetzgebers, einem gesellschaftlichen Wandel und einer geänderten Haltung der Mehrheit der Bevölkerung Rechnung getragen werden.110 Der Bundesjustizminister nannte das Gesetz in einem Interview Ende August „einen Glücksfall für unser Land“.111 Dementsprechend gab es bei der Verabschiedung des Gesetzes am 30.6.2017 auf der Brücke Tränen und Konfetti, im Maschinenraum herrschte Unbehagen. Dabei soll an dieser Stelle gar nicht weiter problematisiert werden, wie schnell überhaupt den Standesämtern die erforderliche Software zur Umsetzung des Gesetzes zur Verfügung stehen wird und welche Verantwortungsgemeinschaft für Personen bleibt, für die kein Geschlecht eingetragen ist, eine Möglichkeit, die durch eine Änderung des Personenstandsgesetzes im Jahr 2013 eröffnet wurde.112 Ich konzentriere mich auf die Richter: Unter ihnen begann in einer Ecke des Maschinenraums sogleich der Streit, ob es nicht einer Änderung des Grundge-

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104 BT-Drs. 18/6665 vom 11.11.2015. 105 BVerfG, FamRZ 2017, 1209 LS. 106 https://www.youtube.com/watch?v=Ahdf48rXN50. 107 BT-Drs. 18/12989. 108 BR-Drs. 539/17. 109 BGBl. I S. 2787. 110 BR-Drs 273/15 S. 6. 111 http://www.bmjv.de/SharedDocs/Interviews/DE/2017/Print/082217_Badische_Neue_Na chrichten.html. 112 Vgl. dazu „Doch noch keine Ehe für alle“, NJW 2017 Heft 37, S. 8.

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setzes bedurft hätte.113 Andere fragten sich, wie es wohl zu verstehen ist, dass die gleichgeschlechtliche Ehe bei den IPR-Regeln gesondert erwähnt und im Kontext der eingetragenen Lebenspartnerschaft in Art. 17b Abs. 4 EGBGB aufgeführt wird. Also doch keine Ehe, wie die von Art. 13 EGBGB erfasste zwischen Mann und Frau? Wieder andere witterten Rückwirkungsprobleme: Mit dem Inkrafttreten des Gesetzes erfolgt zwar keine automatische Umwandlung der eingetragenen Lebenspartnerschaft in eine Ehe, die Lebenspartner müssen gemäß § 20a LPartG vielmehr Umwandlungserklärungen vor dem Standesbeamten abgeben, andernfalls bleibt es bei einer Lebenspartnerschaft.114 Nach Art. 3 Abs. 2 des Gesetzes zur Einführung des Rechts auf Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts bleibt für Rechte und Pflichten der Lebenspartner bei Umwandlung der Lebenspartnerschaft in eine Ehe der Tag der Begründung der Lebenspartnerschaft maßgebend. Die Rechtslage soll sich also so darstellen, als ob die beiden an diesem Tag geheiratet hätten.115 Nach § 20 Abs. 4 LPartG sind die Regelungen zur Durchführung des Versorgungsausgleichs nicht anzuwenden, wenn die Lebenspartnerschaft vor dem 1.1.2005 geschlossen wurde und die Lebenspartner nicht bis 31.12.2005 (§ 21 Abs. 4 LPartG a.F.) für den Versorgungsausgleich optiert haben. Wird eine vor dem 1.1.2005 geschlossene Lebenspartnerschaft nun allerdings in eine Ehe umgewandelt und ist sie so zu behandeln, als wäre die Ehe am Tag der Begründung der Lebenspartnerschaft geschlossen worden, führt dies dann dazu, dass der Versorgungsausgleich für die gesamte Ehezeit durchzuführen ist, selbst wenn die vormaligen Lebenspartner nicht für den Versorgungsausgleich optiert haben? Oder beginnt die Ehezeit für den Versorgungsausgleich vielleicht doch erst am 1.1.2005? Beim Versorgungsausgleich geht es schnell um erhebliche Summen. Auch wenn sich die Partner vormals einig waren, dass der geringer Verdienende selbst ausreichende Alterseinkünfte haben wird und an den deutlich höheren des anderen Partners nicht partizipieren soll, so geht die Halbwertszeit einer solchen Einigung im Fall einer konflikthaften Trennung erfahrungsgemäß rasch gegen Null. Das Geschlecht der Beteiligten spielt dabei – wiederum erfahrungsgemäß – keine große Rolle. Und nur der Vollständigkeit halber: Auch im Erbrecht gab es Änderungen zum 1.1.2005,116 so dass sich die Frage stellt, ob vielleicht auch Erbfälle aus der Zeit vorher ggfs. neu aufzurollen sind?

_____ 113 Bejahend z.B. Gröpl/Yves, AöR 139 (2014), 125; Schmidt, NJW 2017, 2225; verneinend z.B. Brosius-Gersdorf, NJW 2015, 3557; Dethloff, FamRZ 2016, 351. 114 Zu den Prüfpflichten des Standesbeamten Schwab, FamRZ 2017, 1284, 1287. 115 BT-Drs. 18/6665 S. 10. 116 § 10 Abs. 1 S. 2 LPartG in der Fassung des Gesetzes zur Überarbeitung des Lebenspartnerschaftsrechts vom 15.12.2004, BGBl. I S. 3396.

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Nicht zuletzt blätterte mancher Maschinist einfach im Gesetz, denn aufgrund der Feierlaune auf der Brücke gab es im Maschinenraum gerade nicht allzu viel zu tun und stellte dabei Folgendes fest: Überwiegend verwendet der Gesetzestext den neutralen Begriff der „Ehegatten“, der ohne weiteres auch gleichgeschlechtliche Ehegatten umfasst. Manche Vorschriften sprechen hingegen von „Mann“ und „Frau“117 oder von „Vater“ und „Mutter“.118 Zunächst herrschte eine gewisse Ratlosigkeit, dann begann, nicht untypisch für den Maschinenraum, auch sogleich der Streit: Geht es nur um die Überwindung von Redaktionsmängeln oder bedarf es einer Analogie oder gar einer erweiternden Auslegung? Und in welchem Umfang sind letztere zulässig? Ohne den Streit an dieser Stelle abschließend entscheiden zu wollen, werden Analogien jedenfalls kaum am Fehlen einer unbewussten Regelungslücke scheitern. Dass der Gesetzgeber insoweit gezielt gehandelt hat, darf angesichts des geschilderten Verlaufs doch bezweifelt werden. Deshalb wird sich der Maschinenraum – pragmatisch gedacht – mit Analogien behelfen müssen, bis der Gesetzgeber nachgebessert hat. Eine Grenze ist ihm m.E. allerdings dort gesetzt, wo Vorschriften ersichtlich an die Verschiedengeschlechtlichkeit anknüpfen, wie etwa im Abstammungsrecht. Eine Weiterentwicklung dessen mit Blick auf die Öffnung der Ehe auch für gleichgeschlechtliche Partner ist zwar geboten, übersteigt aber die Befugnisse des Maschinenraums.119 Deshalb ist auch die Situation im Kindschaftsrecht schwierig, soweit die vorhandenen Regelungen zum Sorge- und Umgangsrecht an die rechtliche Elternschaft anknüpfen, die bei gleichgeschlechtlichen Eltern in aller Regel eine Adoption voraussetzt, soweit nicht eine Frau gemäß § 1591 BGB Mutter oder ein Mann gemäß § 1592 BGB Vater des Kindes ist. Die Diskussion führt deshalb weiter ins Abstammungsrecht, mithin in einen Bereich, in dem immerhin Konsens über die Reformbedürftigkeit besteht. Der Regelungsbedarf ist allerdings nun noch dringender geworden.120

_____ 117 Etwa §§ 1355 Abs. 2, 1362 Abs. 1, 1363 Abs. 2, 1416 Abs. 1, 1421, 1459 BGB; vgl. dazu auch Schwab, FamRZ 2017, 1284, 1286, der feststellt, dass es im Bundes- und Landesrecht von „Ehefrauen“ und „Ehemännern“ wimmelt. 118 Z.B. §§ 1617 Abs. 1, 1624, 1625, 1629 Abs. 2, 1776 Abs. 2, 1797 Abs. 3, 1852 ff. BGB. 119 Siehe auch Binder/Kiehnle, NZFam 2017, 742, 743 zur Problematik der Gleichbehandlung. 120 BMJV (Hrsg.), Arbeitskreis Abstammungsrecht, Abschlussbericht, Empfehlungen für eine Reform des Abstammungsrechts, 2017.

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Resümee Die Brücke beobachtet das Wetter, studiert Seekarten und bestimmt den Kurs, sie erkennt Strömungen und Untiefen und meidet sie, um eine sichere Ankunft der gesamten Mannschaft im Zielhafen zu gewährleisten. Im Maschinenraum werden die Befehle umgesetzt, Maschinen geschmiert und – ggfs. nach Anforderung von Ersatzteilen – auch repariert, das Schiff wird am Laufen gehalten. Nun kann es schon einmal geschehen, dass die Brücke einen unsicheren Kurs nimmt, dass ein Wetterwechsel überraschend kommt und so nicht einkalkuliert war, allen modernen nautischen Gerätschaften zum Trotz, dass Verwegenheit eine zu große Küstennähe riskiert oder Nebel die Sicht trübt. Bei unklaren Vorgaben herrscht schnell Verwirrung im Maschinenraum und es entstehen lautstarke Auseinandersetzungen, bis die Brücke wieder ein Machtwort spricht. Das gemeinsame Ziel, auch wenn es selten formuliert wird, ist es, Havarien zu vermeiden. Lässt ein Ersatzteil einmal zu lange auf sich warten, kann der Maschinenraum sich zu einer kreativen Lösung veranlasst sehen, soll das Schiff nicht ungesteuert im Gewässer treiben. Nicht immer findet das wiederum die Zustimmung der Brücke. Und doch ist sie gerade dann gefragt, um für eine dauerhafte Lösung zu sorgen. Im Großen und Ganzen ist das Verhältnis von Brücke und Maschinenraum aber gut. Man kennt sich, schätzt sich, auch wenn gelegentlich Kritik deutlich formuliert wird.121 Denn eines steht fest: Weder die Brücke noch der Maschinenraum allein könnten das familienrechtliche Schiff am Laufen halten! Aber sowohl die Brücke als auch der Maschinenraum benötigen auch immer wieder Impulse aus der Rechtswissenschaft, die im Familienrecht sehr oft von Michael Coester122 ausgegangen sind. Deshalb soll der in diesem Beitrag zwangsläufig vernachlässigten Frage, ob sich auch die Rechtswissenschaft an Bord des von mir als Beispiel gewählten Schiffes befindet, und wenn ja, an welcher Stelle, in einem späteren Beitrag unter Einbeziehung dazu getätigter Erhebungen123 gesondert nachgegangen werden.

_____ 121 Coester, FamRZ 2017, 584. 122 Siehe nur Budzikiewicz, FamRZ 2017, 1123; Peschel-Gutzeit, ZKJ 2017, 359. 123 Nicht an Bord: Coester-Waltjen (Leuchtturm); Wellenhofer (Satellit); an Bord: Coester (im Ausguck); Dutta (an der Bar?).

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Prof. Dr. Tobias Helms, Marburg

Wie viele Eltern verträgt ein Kind? Mehrelternfamilien aus rechtlicher Sicht Mehrelternfamilien aus rechtlicher Sicht Tobias Helms https://doi.org/10.1515/9783110552355-007

Das Thema der Mehrelternschaft hat der Jubilar bereits im Jahre 2013 in einem fulminanten Vortrag auf dem Deutschen Familiengerichtstag aufgegriffen.1 Seine – wie er es damals bescheiden nannte – „gedankliche[n] Spekulationen über eine plurale […] Elternschaft“2 laden zu weiteren Diskussionen geradezu ein. Ich freue mich daher, dass ich zu unserer Panel-Diskussion einige einleitende Gedanken beitragen darf.

I. Mehrelternschaft im engeren Sinne Der Begriff der Elternschaft ist familienrechtlich klar definiert: Eltern eines Kindes sind die Personen, die unser Abstammungsrecht dem Kind als Eltern zuweist. An diese abstammungsrechtliche Eltern-Kind-Beziehung knüpft unsere Rechtsordnung eine Fülle an Rechtsfolgen: Angefangen bei der elterlichen Sorge und dem Umgangsrecht über den Unterhalt, das Erb- und Pflichtteilsrecht bis zum Namens- und Staatsangehörigkeitsrecht. Eine echte Mehrelternschaft kennt das geltende deutsche Recht lediglich in Fällen der Erwachsenenadoption: Im Unterschied zur Minderjährigenadoption bleiben bei einer Erwachsenenadoption nämlich die Verwandtschaftsbeziehungen zwischen dem Adoptivkind und seiner Ursprungsfamilie nach § 1770 Abs. 2 BGB grundsätzlich bestehen.3 In der Regel erhält ein Erwachsener, der von einem Ehepaar angenommen wird, also ein vollwertiges zweites Elternpaar4 mit allen daraus resultierenden wechselseitigen unterhaltsrechtlichen und erbrechtlichen Rechten und Pflichten. Interessanterweise vermittelt eine Erwach-

_____

1 Coester, Brühler Schriften zum Familienrecht, 20. DFGT 2013, 2014, Reformen im Kindschaftsrecht, S. 43, 51 ff. Vgl. daneben vor allem Heiderhoff, FamRZ 2008, 1901 ff. und CoesterWaltjen, FamRZ 2013, 1693 ff. 2 Coester, 20. DFGT 2013, 2014, Reformen im Kindschaftsrecht, S. 53. 3 Das gilt nur dann nicht, wenn unter den in § 1772 Abs. 1 BGB normierten Voraussetzungen eine Erwachsenenadoption mit den Wirkungen einer Minderjährigenadoption ausgesprochen wird. 4 Allerdings beschränken sich die Wirkungen einer Volljährigenadoption auf das Verhältnis zum Annehmenden (§§ 1767 Abs. 2 S. 1, 1754 Abs. 1 und Abs. 2 BGB) und erstrecken sich nicht auf dessen Verwandte (§ 1770 Abs. 1 S. 1 BGB). https://doi.org/10.1515/9783110552355-007

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senenadoption aber nicht die deutsche Staatsangehörigkeit (§ 6 StAG). Die Frage nach einem Sorge- oder Umgangsrecht spielt bei Erwachsenen naturgemäß keine Rolle. Schwache Minderjährigenadoptionen kennt das deutsche Recht seit der großen Reform des deutschen Adoptionsrechts im Jahre 1976 demgegenüber nicht mehr. Erstaunlicherweise hatte man sich aber im Koalitionsvertrag der nun auslaufenden 18. Legislaturperiode vorgenommen, eine schwache Minderjährigenadoption für die Fälle der Stiefkindadoption einzuführen. Es hieß dort: „Wir […] wollen, dass bei Stiefkindadoptionen das Verwandtschaftsverhältnis zu den leiblichen Eltern im Einvernehmen erhalten bleiben kann.“5 In die Tat umgesetzt wurde dieses Vorhaben – bekanntlich – nicht. Eine Mehrelternschaft im engeren Sinne wird zurzeit teilweise auch für Fälle künstlicher Befruchtung insbesondere bei sog. privater Samenspende diskutiert. Insofern darf ich auf die nachfolgenden Ausführungen von Anne Röthel verweisen.

II. Mehrelternschaft im weiteren Sinne Vor allem aus sozialwissenschaftlicher Sicht wird der Begriff der Mehrelternschaft aber in einem weiteren Sinne verstanden. Als Eltern eines Kindes erscheinen dort neben den rechtlichen Eltern vor allem auch soziale Eltern, die faktisch Pflege- und Erziehungsverantwortung für ein Kind ausüben. Ebenso in den Fokus der Sozialwissenschaften geraten zunehmend die (nur) biologischen Eltern, die etwa für die Identitätsfindung des Kindes von Interesse sein können. Dass sich in der gelebten Wirklichkeit die Elternrolle auf verschiedene Personen aufteilen kann, ist zwar für die Sozialwissenschaften ein faszinierendes Phänomen, doch ist dieser tatsächliche Befund rechtlich zunächst belanglos.6 Aus familienrechtlicher Sicht werden weitere soziale oder biologische Elternfiguren erst dann relevant, wenn die Rechtsordnung ihnen bestimmte Rechte oder Pflichten zuweist. Soweit es sich um elterntypische Teilrechte handelt, mag man dann auch juristisch von einer Mehrelternschaft im weiteren Sinne sprechen.7

_____ 5 Koalitionsvertrag der 18. Legislaturperiode, S. 99 (https://www.bundesregierung.de/Content /DE/_Anlagen/2013/2013-12-17-koalitionsvertrag.pdf?__blob=publicationFile). 6 Zur unterschiedlichen Sichtweise von Sozial- und Rechtswissenschaften vgl. Schwab, in: Schwab/Vaskovics (Hrsg.), Pluralisierung von Elternschaft und Kindschaft, 2011, S. 317 f. 7 Schwab, in: Schwab/Vaskovics (Hrsg.), 2011, S. 51 ff.; Röthel, in Heiderhoff/Röthel (Hrsg.), Regelungsaufgabe Vaterstellung: Was kann, was darf, was will der Staat? 2014, S. 106; Schumann,

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Für dieses Phänomen lassen sich bereits im geltenden Recht eine Reihe von Beispielen anführen: So kann etwa ein Umgangsrecht dem biologischen, aber nicht rechtlichem Vater nach § 1686a BGB sowie Stief- und Pflegeeltern nach § 1685 Abs. 2 BGB zustehen. Das sog. kleine Sorgerecht von Stiefeltern nach § 1687b BGB (bzw. § 9 Abs. 1 bis 4 LPartG) besitzt wohl ausschließlich symbolische Bedeutung, denn es beschränkt sich auf eine „Mitentscheidung in Angelegenheiten des täglichen Lebens“ und ist vom „Einvernehmen mit dem sorgeberechtigten Elternteil“ abhängig. Demgegenüber ist die Möglichkeit zum Erlass einer Verbleibensanordnung nach § 1632 Abs. 4 BGB ein handfestes und praktisch bedeutsames Instrument, um den Aufenthalt eines Pflegekindes bei den Pflegeeltern rechtlich abzusichern. Bezeichnenderweise existiert in allen hier beispielhaft angesprochenen Bereichen eine langjährige und teilweise recht kontroverse Reformdiskussion. Dabei stellt sich die Frage eines pluralen Nebeneinanders von mehr als zwei Elternfiguren meines Erachtens vor allem in Stiefkindfällen. Doch wie schwierig es ist, für Stiefeltern einen geeigneten rechtlichen Rahmen zu konzipieren, zeigte sich etwa auf dem 71. Deutschen Juristentag vergangenes Jahr in Essen: So sprach sich auf dem DJT eine deutliche Mehrheit für den Vorschlag aus, dem Stiefelternteil mit Zustimmung der rechtlichen Eltern durch Gerichtsentscheidung ein Mitsorgerecht einräumen zu können. Das Neue daran wäre, dass es auf diese Weise letztlich zu einer elterlichen Sorge von drei Personen kommen könnte.8 Der weitergehende Vorschlag, eine solche einvernehmliche Sorgeübertragung auch privatautonom außergerichtlich zu ermöglichen und nur von der Zustimmung sorgeberechtigter Elternteile abhängig zu machen, konnte sich demgegenüber nicht durchsetzen.9 Überhaupt keine klare Mehrheitsmeinung bildete sich zur Frage einer Unterhaltspflicht des Stiefelternteils.10

_____ in: Coester-Waltjen/Lipp/Schumann/Veit (Hrsg.), „Kinderwunschmedizin“ – Reformbedarf im Abstammungsrecht, 2015, S. 14. 8 Vorschlag E.II.19.b) wurde mit 25:6:7 angenommen (71. DJT Essen 2016, Bd. II/1, Referate und Beschlüsse, S. P 67 f.). 9 Vorschlag E.II.19.a) wurde mit 13:15:10 abgelehnt (71. DJT Essen 2016, Bd. II/1, Referate und Beschlüsse, S. P 67). 10 Vgl. die knappen und widersprüchlichen Abstammungsergebnisse zu den Vorschlägen E.III.23.a) und b) (71. DJT Essen 2016, Bd. II/1, Referate und Beschlüsse, S. P 69).

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III. Mehrelternschaft als Reformmodell Mit dem Konzept der „Mehrelternschaft“ verbindet sich die Hoffnung, eingefahrene Denkmuster aufzubrechen und flexiblere Regelungsmodelle zu entwickeln, die die teilweise komplexe soziale Lebenswirklichkeit von Kindern besser erfassen.11 Plastisch sprach Coester in seinem Vortrag aus dem Jahre 2013 davon, „richtiges Recht“ habe „die Lebensverhältnisse sachangemessen zu erfassen und zu ordnen, anstatt sie in ein Prokrustes-Bett überkommener Strukturen zu zwingen, aus dem sie herausgewachsen sind“.12 Wichtig erscheint mir aber, dass im Rahmen der Reformüberlegungen sorgfältig unterschieden wird, welcher Regelungsansatz sich als vorzugswürdig erweist: die Zuweisung des abstammungsrechtlichen Vollstatus – also eine Mehrelternschaft im engeren Sinne – oder die Gewährung vor allem sorge- und umgangsrechtlicher Teilrechte nach dem Konzept einer Mehrelternschaft im weiteren Sinne. Rechtliche Abstammungsbeziehungen begründen eine in aller Regel lebenslange Verantwortung für ein Kind, aus der grundsätzlich auch dann wechselseitige Rechte und Pflichten resultieren, wenn eine gelebte ElternKind-Beziehung nicht (mehr) besteht. Demgegenüber erweisen sich sorge- und umgangsrechtliche Beziehungen als flexibler und können – unter alleiniger Orientierung am Kindeswohl – den Wechselfällen des Lebens leichter angepasst werden. Aus diesem Grund hege ich persönlich gegenüber dem Konzept einer echten Mehrelternschaft im engeren Sinne eine gewisse Skepsis. Aber die Diskussion hierüber steckt noch in den Kinderschuhen; und im Familienrecht weiß man nie, was die Zukunft bringen wird.

_____ 11 Coester, 20. DFGT 2013, 2014, Reformen im Kindschaftsrecht, S. 54 f.; Heiderhoff, FamRZ 2008, 1901 ff.; Coester-Waltjen, FamRZ 2013, 1693 ff. 12 Coester, 20. DFGT 2013, 2014, Reformen im Kindschaftsrecht, S. 57.

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Prof. Dr. Anne Röthel, Hamburg

Wie viele Eltern verträgt ein Kind? Konzepte für originäre Mehr-Elternschaft Konzepte für originäre Mehr-Elternschaft Anne Röthel https://doi.org/10.1515/9783110552355-008

I. Praktiken und Phänomene von Mehr-Elternschaft Aus der Sicht des geltenden deutschen Rechts ist Mehr-Elternschaft im engeren Sinne1 kein Rechtsinstitut, sondern nur eine grobe Bezeichnung sozialer Praktiken. Es werden damit Familienkonstellationen angedeutet, in denen entweder ein Kind mehrere Personen als Eltern wahrnimmt oder in denen mehrere Personen sich als Eltern fühlen und Elternverantwortung für ein Kind übernehmen oder übernehmen wollen. Zu solchen Gefühlslagen und Wünschen kann es aus verschiedenen Gründen kommen. Das mit Mehr-Elternschaft nur grob umrissene Phänomen ist überaus heterogen.2 Gleichwohl lassen sich typologisch zwei Konstellationen unterscheiden:3 die nachträgliche Mehr-Elternschaft als Phänomen der Nachscheidungs- oder Nachtrennungsfamilie4 und die anfängliche oder originäre Mehr-Elternschaft, der wir vor allem als „cross parenting“ bei der Verwirklichung von Kinderwünschen in gleichgeschlechtlichen Paarbeziehungen begegnen. 5 Nachträgliche Mehr-Elternschaft und originäre Mehr-

_____ 1 In Anlehnung an die von Helms eingeführte Terminologie (in diesem Band, S. 125 ff.). 2 Siehe nur die Beschreibungen von Feldhaus/Huinink, in: Schwab/Vascovics (Hrsg.), Pluralisierung von Elternschaft und Kindschaft, 2011, S. 77 ff.; Napp-Peters, Mehrelternfamilien als „Normal“-Familien, Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 54, 2005, 792 ff.; aus rechtswissenschaftlicher Sicht Coester, Reformen im Kindschaftsrecht, in: 20. Deutscher Familiengerichtstag, 2014, S. 33, 54 ff.; die Heterogenität von Stieffamilien betont auch Helms, Rechtliche, biologische und soziale Elternschaft – Herausforderungen durch neue Familienformen, Gutachten F zum 71. DJT 2016, F 66; zu Mehrväterkonstellationen Heiderhoff, FamRZ 2008, 1901 ff. 3 Zu dieser Typologie bereits Schwenzer, Plurale Elternschaft, Verh. 71. DJT 2016, Bd. II, P 25, P 37. 4 Es wird geschätzt, dass solche Stief- oder besser „Nachscheidungsfamilien“ inzwischen ca. 10% aller Haushalte mit Kindern unter 18 Jahren ausmachen; siehe nur Helms, Gutachten F zum 71. DJT 2016, F 7 Fn. 7 mit Fn. 265 f. 5 Häufig als „Regenbogenfamilien“ oder „queer families“ bezeichnet; dazu schon Dethloff, Regenbogenfamilien. Der Schutz von Eltern-Kind-Beziehungen in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften, GS für Heinze, 2005, S. 133 ff. sowie Schwenzer, Verh. 71. DJT 2016, Bd. II, P 30 ff. Helms, Gutachten F zum 71. DJT 2016, F 23 nimmt an, dass es eine „nicht unerhebliche Schnitthttps://doi.org/10.1515/9783110552355-008

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Elternschaft unterscheiden sich in vielfacher Hinsicht, wobei sich nicht eindeutig sagen lässt, welche Form der Mehr-Elternschaft die größere Herausforderung für das Recht darstellt. Einerseits ist die nachträgliche Mehr-Elternschaft in Gestalt der sog. Patchwork-Familie längst in der gesellschaftlichen Mitte angekommen, während originäre Mehr-Elternschaft noch randständig erscheinen mag und es wahrscheinlich auch bleiben wird. Fragen wir andererseits nach der Konfliktträchtigkeit von Mehr-Elternschaft, kehren sich die Vorzeichen um: Hier erweist sich die nachträgliche Mehr-Elternschaft als die schwierigere Konstellation, weil sie in untrennbarem Zusammenhang mit dem Scheitern der Ursprungsbeziehung steht und zwangsläufig Fragen der Konkurrenz von internen und externen Bezugspersonen, von neuer Familie und Ursprungsfamilie aufwirft. Dagegen steht originäre Mehr-Elternschaft im Zusammenhang damit, dass ein Kinderwunsch einvernehmlich unter Einbeziehung von mehr als zwei Personen verwirklicht wird, die sämtlich Elternverantwortung für das Kind übernehmen wollen, etwa, wenn biologische Samenspender, Eizellspenderinnen oder Leihmütter zu den Wunschelternteilen hinzutreten. Häufig wird den Wunscheltern allerdings gar nicht daran gelegen sein, den Samenspender oder die Eizellspenderin zum weiteren Elternteil zu küren. Dies gilt insbesondere für heterosexuelle Paare, denen es „nur“ darum geht, ihren Kinderwunsch zu verwirklichen, und für die die Mitwirkung eines Samenspenders oder einer Leihmutter lediglich Hilfsmittel auf dem Weg zur Normalfamilie ist.6 Andere Motiv-

_____ menge von lesbischen Paaren und Männern bzw. Männerpaaren [gibt], die sich die Gründung einer gleichberechtigten Queer-Family wünschen, in der sich alle drei oder vier beteiligten Erwachsenen als Eltern verstehen und gegenseitig in dieser Rolle respektieren.“ – Indes ist nicht gesagt, dass originäre Mehr-Elternschaft hierauf zu beschränken ist. Als soziale Realität oder individueller Wunsch ist originäre Mehr-Elternschaft gleichermaßen denkbar, ohne dass biologische Elternschaft und Wunschelternschaft auseinanderfallen, etwa zugunsten einer „Patin“ oder eines „Paten“, der oder die von der Geburt eines Kindes an als weiterer Elternteil den biologischen Eltern zur Seite stehen möchte, etwa, weil einer der biologischen Elternteile absehbar erkrankt ist. 6 Abermals müssen wir uns vor voreiligen Bewertungen der Motivlage hüten. Die Gründe, warum sich ein heterosexuelles Paar für die Mitwirkung einer Leihmutter entscheidet, reichen von Lifestyle-Entscheidungen bis hin zu medizinischen Indikationen, etwa wenn die Gebärmutter nach einer Krebserkrankung entfernt werden musste. In der Auseinandersetzung über die Leihmutterschaft sollte man sich der heimlichen Prägekraft solcher unbewussten Vorverständnisse bewusst bleiben. Genauso wie sich je nach Vorverständnis unterschiedliche rechtliche Konstruktionen für die Leihmutter herausgebildet haben, von der „altruistischen Helferin“ über die „instrumentalisierte Frau“ bis hin zur „Reproduktionsdienstleisterin“ (Cottier, Die instrumentalisierte Frau: rechtliche Konstruktionen der Leihmutterschaft, juridicum 2016, 188 ff.), werden die zumeist unbewusst zugrunde gelegten Motivlagen auch die rechtliche Konstruktion der Wunschmutter prägen.

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lagen sind indes für gleichgeschlechtliche Paare denkbar, die sich ein Leben mit „eigenen“ Kindern wünschen und sich dabei eine fortbestehende, aktive Rolle des Samenspenders, der Eizellspenderin oder der Leihmutter vorstellen oder wünschen.

II. Mehr-Elternschaft in Recht und Rechtswissenschaft 1. Dogma der Zwei-Elternschaft Tobias Helms hat es bereits ausgeführt: „echte“ Mehr-Elternschaft im engen Sinne des Abstammungsrechts kennt das deutsche Recht derzeit nicht. Wir kennen zwar Verfahren, um Elternstellen zu begründen, auszutauschen und zu vernichten: Wir können eine Vaterschaft feststellen lassen (§ 1600d BGB), eine bestehende Vaterschaft anfechten (§§ 1600 ff. BGB) oder Elternstellen durch Adoption (§§ 1741 ff. BGB) austauschen. Alle diese Verfahren laufen aber stets auf zwei rechtliche Eltern hinaus. Der neue Lebenspartner oder die neue Ehegattin eines geschiedenen Elternteils mögen vom Kind als neuer Vater oder neue Mutter wahrgenommen werden; im Rechtssinne erhalten sie aber „nur“ Co-Sorge-Befugnisse in Gestalt des sog. kleinen Sorgerechts (§§ 1682, 1687b BGB, § 9 LPartG)7 oder Umgangsrechte (§ 1685 BGB). Zu einem Co-Elternteil mit „voller“ Elternstellung können sie nicht werden, so sehr sie auch dem allseitigen Wunsch nach „Normalfamilie“ folgend8 in die soziale Elternrolle geschlüpft sind. Gleiches gilt, wenn sich ein intendiertes Elternpaar für die Mitwirkung einer Eizellspenderin oder einer Leihmutter entscheidet. Auch hier bleibt es dabei, dass ein Kind nur zwei Eltern haben soll. Mutter ist einzig und unanfechtbar diejenige Frau, die das Kind geboren hat (§ 1591 BGB). Es gilt im Abstammungsrecht des Jahres 2017, so etwa nachzulesen bei Karlheinz Muscheler, das Prinzip der Unität: „Jedes Kind kann rechtlich nur einen Vater und nur eine Mutter haben. Es gibt weder gespaltene bzw. doppelte Mutterschaft noch gespaltene bzw. doppelte Vaterschaft“.9 Michael Coester konstatierte im Jahr 2014 gleichsinnig ein „2-Eltern-Prinzip“ im deutschen Recht.10 Wenn es nach den

_____ 7 Dazu kritisch Helms, Gutachten F zum 71. DJT 2016, F 61 ff. 8 Näher Napp-Peters, Mehrelternfamilien als „Normal“-Familien, Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 54 (2005), 792 ff. 9 Muscheler, Familienrecht, 4. Aufl. 2017, Rn. 518. 10 Coester, in: 20. Deutscher Familiengerichtstag, 2014, S. 43, 55.

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Empfehlungen des Abschlussberichts des Arbeitskreises Abstammungsrecht geht, soll sich daran auch nichts ändern: „Ein Kind soll weiterhin nicht mehr als zwei rechtliche Eltern gleichzeitig haben können“.11

2. Wirkungsmacht und Gründe Dass ein Kind immer nur zwei Eltern haben soll, ist indes mehr als nur ein Prinzip oder ein Leitmodell12: Wir haben es mit einem typischen Dogma zu tun. Darunter verstehe ich eine grundsätzliche, axiomatische, „stabile Anschauung“, die im geltenden Recht verwirklicht und von der Rechtswissenschaft ohne Begründungsbedarf, also „selbstverständlich“ für richtig gehalten wird.13 Charakteristisch für Dogmen ist, dass sie auf Annahmen beruhen oder Wertungen zum Ausdruck bringen, die den an der Rechtsarbeit Beteiligten – vom Gesetzgeber über die Rechtsprechung bis hin zur Rechtswissenschaft – als so selbstverständlich und gültig erscheinen, dass sie zumeist nicht mehr benannt werden, weil ihr Einverständnis darüber vorausgesetzt werden kann.14 Dogmen werden typi-

_____ 11 Empfehlung Nr. 62 des Arbeitskreises Abstammungsrecht. Abschlussbericht. Empfehlungen für eine Reform des Abstammungsrechts, BMJV, 2017, S. 76, angenommen mit 9:1:0 Stimmen. 12 So aber Coester, in: 20. Deutscher Familiengerichtstag, 2014, S. 43, 55. 13 Ähnlich Rüthers, JöR 64 (2016), 309, 317 ff.: „Grundannahme“, „Grundüberzeugung“, „Axiom“ mit „Anspruch auf Gültigkeit und Anerkennung“. Gemeinsam ist den meisten rechtswissenschaftlichen Verständnissen vom Dogma, dass es sich um eine „grundlegende“ Vorstellung über das Recht handelt; unterschiedlich wird aber gesehen, inwieweit rechtliche Verbindlichkeit zu den Charakteristika eines Dogmas zählt; siehe nur den Überblick bei Bumke, Rechtsdogmatik, 2017, S. 1 Fn. 1 sowie S. 146 Fn. 446. Auch in anderen Wissenschaften, etwa der Theologie, werden mit Dogmen Axiome oder „Grundwahrheiten“ bezeichnet, und auch dort trifft man auf die aus dem Recht bekannte Frage nach dem Geltungsanspruch; siehe nur Filser, Dogma, Dogmen, Dogmatik. Eine Untersuchung zur Begründung und zur Entstehungsgeschichte einer theologischen Disziplin, 2001, insbes. S. 13 ff., zum Funktionswandel S. 684 ff. 14 Zugleich bezeichnet das Explizieren eines Dogmas durch den Gesetzgeber zumeist genau den Moment, an dem ein Dogma an Selbstverständlichkeit verloren hat und daher auf eine politische Entscheidung zurückgeführt wird, die vom positiven Recht dann „durchgesetzt“ werden muss. Dieses Umschlagen von Selbstverständlichem zu politisch Entschiedenem und also Kontingentem lässt sich an der Neufassung des § 1591 BGB („Mutter eines Kindes ist die Frau, die es geboren hat“) durch das Gesetz zur Reform des Kindschaftsrechts vom 16.12.1997, BGBl. I, S. 2942 ablesen, als zugleich Leihmutterschaft und Eizellspende verboten wurden (§ 1 ESchG), oder an der Ergänzung des § 1353 Abs. 1 BGB („Die Ehe wird auf Lebenszeit geschlossen“) mit der Reform des Scheidungsrechts durch das Erste Gesetz zur Reform des Ehe- und Familienrechts vom 14.6.1976, BGBl. I, S. 1421 und zuletzt durch das Gesetz zur Einführung des Rechts auf Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts vom 20.7.2017, BGBl. I, S. 2787

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scherweise nicht expliziert, und Dogmen unterliegen keinem Begründungszwang. Dogmen erleichtern die Rechtsarbeit. Sie tragen zu Kontinuität, Stabilität und Systematik einer Rechtsordnung bei. Was Dogmen voraussetzen oder annehmen, muss in der alltäglichen Rechtsarbeit nicht mehr hinterfragt werden. So ermöglichen Dogmen Priorisierungen, auch für die Rechtswissenschaft: Dogmen lenken die Aufmerksamkeit des Rechtsdiskurses. Darin liegt indes zugleich die Achillesferse von Dogmen: Dogmen üben heimliche Macht auf Diskurse aus, indem sie untergründige Grenzlinien ziehen zwischen relevanten und irrelevanten Gegenständen, zwischen Sagbarem und Unsagbarem.15 In ihrer Stärke liegt also zugleich ihre Gefahr: Mit ihrer Wirkung im Verborgenen können Dogmen leicht in Diskurstabus umschlagen. Dass ein Kind nur zwei rechtliche Eltern hat, trägt alle Züge eines solchen Dogmas. Es handelt sich um eine Vorstellung, die über lange Zeit so selbstverständlich erschien, dass sie – ohne im BGB ausdrücklich niedergelegt zu sein – auch von der Rechtswissenschaft nicht ernsthaft hinterfragt wurde. Wir treffen hier auf eine diskursbestimmende Denkgrenze, die erst in jüngerer Zeit mutig expliziert und hinterfragt wird.16 Doch kann dies nicht darüber hinweg täuschen, dass das Zwei-Eltern-Dogma bislang weitgehend ungebrochen die Anschauungen der Familienrechtswissenschaft prägt. Woraus speist das Zwei-Eltern-Dogma nun seine Überzeugungskraft? Erstens entsprach das Zwei-Eltern-Dogma lange Zeit der einzig verfügbaren Vorstellung von natürlicher Abstammung. Natur hat im Familienrecht schon immer eine starke normative Kraft entfaltet. Doch würden wir eine blinde Akzessorietät des Rechts und der Rechtswissenschaft im Verhältnis zur Natur heute sicherlich zurückweisen. Andernfalls drohte dem Recht seine Autonomie und der Rechtswissenschaft ihre Reflexionsfähigkeit verloren zu gehen. Denn „die Natur“ zieht keine scharfen Grenzlinien zwischen Eltern und Nicht-Eltern. Wir müssen vielmehr eine zunehmende Unklarheit der Verhältnisse zwischen Natürlichkeit und Artifizialität konstatieren. Wenn es „die Natur“ ermöglicht, dass eine Eizelle den Transfer in eine fremde Gebärmutter „überlebt“ und dort zu einem lebensfähigen Baby heranreift, wird die Unterscheidung zwischen „natürlicher“ und „unnatürlicher“ Elternschaft zur Wertungsfrage. Damit scheidet „die Natur“ als normatives Referenzsystem nicht völlig aus, aber sie hat an Eindeutigkeit verlo-

_____ (seither lautet § 1353 Abs. 1 S. 1 BGB: „Die Ehe wird von zwei Personen verschiedenen oder gleichen Geschlechts auf Lebenszeit geschlossen“). 15 Vgl. Foucault, L’archéologie du savoir, Gallimard, Paris 1969, S. 47 ff. 16 Wegweisend Coester, in: 20. Deutscher Familiengerichtstag, 2014, S. 33, 51 ff.; siehe auch schon Heiderhoff, FamRZ 2008, 1901 ff. und zuletzt etwa Schwenzer, Verh. 71. DJT 2016, Bd. II.

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ren.17 Wer heute postuliert, dass ein Kind nur zwei Eltern haben kann, kann dies nicht mehr mit derselben bionormativen Zwangsläufigkeit auf „die Natur“ zurückführen, als dies noch möglich war, bevor Eizellübertragung, Embryonenspende, Eierstockverpflanzung, Eizellverjüngung und Kerntransfer zu erfolgversprechenden reproduktiven Verfahren geworden sind. „Natur“ taugt nur noch als Heuristik, als Grenzbegriff und Orientierungshilfe,18 verbürgt aber keine selbstverständlichen normativen Maßstäbe. Aber es gibt noch weitere Gründe, warum die Vorstellung der Zwei-Elternschaft zum Axiom, zum selbstverständlichen Dogma geworden ist. Das ZweiEltern-Dogma steht im Einklang mit der vorherrschenden, uns weithin kollektiv prägenden religiösen Weltdeutung. Schließlich heißt es im vierten Gebot: „Du sollst Deinen Vater und Deine Mutter ehren“19 – und nicht „Du sollst Deine Väter und Mütter ehren“. Darüber hinaus speist sich das Zwei-Eltern-Dogma aus Vorbehalten gegenüber den Familienformen und Lebensentwürfen, bei denen sich die Frage nach einer Mehr-Elternschaft überhaupt nur stellt. Dies gilt zunächst für die nachträgliche Mehr-Elternschaft in Scheidungs-, Folge- und Patchworkfamilien, die den Odem des Scheiterns und der Unvollständigkeit in sich tragen. Aber es gilt auch und vor allem für die Überlegung nach Anerkennung von originärer Mehr-Elternschaft, bei der es nicht zuletzt darum geht, wie wir uns als Gesellschaft zu den Kinderwünschen von gleichgeschlechtlichen Paaren verhalten. Und schließlich lässt sich noch ein letzter Grund für die longue durée des Dogmas von der Zwei-Elternschaft anführen: Wie lange sich ein Dogma hält, hängt auch davon ab, ob überhaupt Alternativkonzepte zur Verfügung stehen. Es bedarf schließlich eines Beitrags der Familienrechtswissenschaft – nicht nur um zu sichten und zu prüfen, was als Dogma unversehens aus dem Diskurs

_____ 17 Zum Verlust der normativen Überzeugungskraft des „Natürlichen“ in Bezug auf die Mutterstellung zuletzt Gutmann, Mutterschaft zwischen Natur und Selbstbestimmung, in: Röthel/ Heiderhoff (Hrsg.), Regelungsaufgabe Mutterstellung: Was kann, was darf, was will der Staat?, 2016, S. 63, 72 ff. – Diese Diskussion wird schon seit längerer Zeit im Zusammenhang mit dem Klonen geführt; siehe etwa die Kritik an der Bionormativität von Steinvorth, Zur Legitimität des Klonens, in: Schwarte/Wulf (Hrsg.), Körper und Recht, 2003, S. 289 ff. Ähnliche Einsichten stammen aus den disability studies, wenn dort beobachtet wird, dass sich die Grenzen zwischen Natur und Kultur zunehmend auflösen; dazu nur Dederich, Körper, Kultur und Behinderung, 2007, S. 65 f.; generell zur Kontextabhängigkeit und Zeitgebundenheit der Unterscheidung von Natur und Technik in Bezug auf den Körper Harrasser, Körper 2.0., 2013. 18 So etwa aus der Diskussion über die ethische Vertretbarkeit des Klonens Lanzerath, Der geklonte Mensch: eine neue Form des Verfügens, in: Düwell/Steigleder (Hrsg.), Bioethik, 2003, S. 258 ff. 19 2. Buch Mose, Kap. 20.

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herausgefallen ist, sondern auch um alternative Leitvorstellungen zu entwickeln oder zugänglich zu machen20 und sie für die eigene Rechtsordnung in anwendungsreife Begriffe zu überführen. Gerade weil wir uns heute nur zu gut erklären können, woher das Zwei-Eltern-Dogma seine Wirkkraft speist, muss es uns darum gehen, die Frage der Elternzahl aus dem Schatten des Dogmas an die Oberfläche des rechtswissenschaftlichen Diskurses zu holen.

III. Normative Bezugspunkte für originäre Mehr-Elternschaft 1. Mehr-Elternschaft als verfassungsrechtliche Möglichkeit Familienrechtliche Dogmen sind häufig eng verknüpft mit verfassungsrechtlichen Grundannahmen. Wer an familienrechtliche Dogmen rührt – ablesbar auch an den Debatten über die Öffnung der Ehe – begegnet zumeist recht schnell verfassungsrechtlichen Einwänden. Dies gilt auch für die Mehr-Elternschaft.21 Doch entspricht es der wohl überwiegenden derzeitigen Verfassungsdeutung, dass Art. 6 GG einer Mehr-Elternschaft nicht grundsätzlich entgegensteht. Mehr-Elternschaft wird als verfassungsrechtlich möglich angesehen.22 Zwar gelten nur die „leiblichen“ Eltern als Träger des Elternrechts aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG.23 Es stehe dem einfachen Gesetzgeber jedoch frei, auch andere Personen zu Eltern zu küren. Das Zwei-Eltern-Modell wird schon deshalb nicht als „verfassungsimmanent“ angesehen, weil Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG primär die Beziehung jedes einzelnen Elternteils zu seinem Kind schütze und kein Elternkol-

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20 Insbesondere indem Wissen zu ausländischen Regelungsmodellen und Erfahrungen zugänglich gemacht wird; dazu etwa die Vorarbeiten von Helms, Gutachten F zum 71. DJT 2016, F 16 ff., F 32 ff.; Dethloff, Regenbogenfamilien. Der Schutz von Eltern-Kind-Beziehungen in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften, GS für Heinze, 2005 S. 133, 139 ff., Schwenzer, Verh. 71. DJT 2016, Bd. II, P 30 ff. 21 Vgl. Peschel-Gutzeit, NJW 2013, 2465, 2468 f. 22 Angedeutet bei Jestaedt (in diesem Band, S. 13, 34 ff.); siehe im Übrigen bereits Coester, in: 20. Deutscher Familiengerichtstag, 2014, S. 33, 51 ff.; gleichsinnig Lembke, in: Röthel/Heiderhoff (Hrsg.), Regelungsaufgabe Vaterstellung: Was kann, was darf, was will der Staat?, 2014, S. 37, 67 ff. sowie Kaufhold, in: Röthel/Heiderhoff (Hrsg.), Regelungsaufgabe Mutterstellung: Was kann, was darf, was will der Staat?, 2016, S. 87, 104 ff.: keine „Obergrenze für verfassungsrechtliche Eltern“; weitergehend wohl Brosius-Gersdorf, in: Dreier (Hrsg.), GG, 3. Aufl. 2013, Art. 6 Rn. 150, die auch eine nebeneinander bestehende Grundrechtsberechtigung mehrerer leiblicher und/oder rechtlicher aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG annimmt. 23 BVerfGE 108, 82, 99 ff.; BVerfG, FamRZ 2008, 2257 f.; BVerfGE 133, 59, 78.

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lektiv, so etwa die Argumentation von Wapler.24 Die verfassungsrechtlichen Erwartungen richten sich dann auf Schlichtung, Ordnung und Koordination.25 Ein aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG fließendes verfassungsrechtliches Abstandsgebot in dem Sinne, dass die leiblichen Eltern die einzigen rechtlichen Eltern sein müssen und der Gesetzgeber also einen „Abstand“ zwischen leiblichen und weiteren Wunscheltern einzurichten habe, wird indes – soweit ersichtlich – nicht angenommen; jedenfalls gibt hier der Wortlaut des Art. 6 GG dafür noch weniger „her“ als für das für Art. 6 Abs. 1 GG erwogene Abstandsgebot im Verhältnis von Ehe und Lebenspartnerschaft.26 Das herkömmliche Zwei-Eltern-Modell ist also verfassungsrechtlich gerechtfertigt, nicht aber verfassungsrechtlich zwingend.27

2. Mehr-Elternschaft als Regulierungsstrategie Ein Gesetzgeber, der dem Dogma der Zwei-Elternschaft folgt, kann damit typische regulatorische Ziele verfolgen. Ein Vorzug von Zwei-Elternschaft und ein damit korrespondierender Nachteil von Mehr-Elternschaft liegt in der vergleichsweise geringeren Komplexität der Verhältnisse. Zwei Eltern sind leichter zu koordinieren als mehrere Eltern.28 Das Zwei-Eltern-Modell führt zu einer stärkeren Statusorientierung der Eltern-Kind-Zuordnung, während die Anerkennung von Mehr-Elternschaft zu einer Schwächung der Statuswirkungen jeder einzelnen Elternstellung bedeutet. Allerdings sollte die Leistungsfähigkeit statusorientierten Rechts für Eltern-Kind-Beziehungen nicht überschätzt werden. Sie ist jedenfalls geringer als für Paarbeziehungen.29 Umgekehrt könnte die

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24 Wapler, RW 2014, 57, 77. 25 Dazu für die Mutterstellung Kaufhold, in: Röthel/Heiderhoff (Hrsg.), Regelungsaufgabe Mutterstellung: Was kann, was darf, was will der Staat?, 2016, S. 87, 107 ff. 26 Für ein solches Abstandsgebot v. Campenhausen, Verfassungsgarantie und sozialer Wandel Das Beispiel von Ehe und Familie, VVDStRL 45 (1987), 7, 19 ff.; Steiger, VVDStRL 45 (1987), 55, 78 f.; Zippelius, Verfassungsgarantie und sozialer Wandel, DÖV 1986, 805, 808 f.; Burgi, Der Staat 39 (2000), 487, 501 f.; dagegen aber BVerfGE 124, 199, 226 – Lebenspartnerschaftsgesetz: Aus Art. 6 Abs. 1 GG lasse sich kein „Gebot herleiten, andere Lebensformen gegenüber der Ehe zu benachteiligen“. 27 Es wird allerdings angenommen, dass die Vervielfältigung des elterlichen Sorgerechts auf einen Stiefelternteil gegen den Willen des „außenstehenden“ rechtlichen Elternteils einen nicht zu rechtfertigenden Eingriff in sein Elternrecht darstellt; so Helms, Gutachten F zum 71. DJT 2016, F 70 im Anschluss an Brosius-Gersdorf, JbÖffR 62 (2014), 179, 192 f., 198. 28 Hierauf weist Heiderhoff, FamRZ 2008, 1901, 1904 f. eindrücklich hin. 29 Für Eltern-Kind-Beziehungen sind die individualnützigen Vorzüge statusorientierten Rechts, insbesondere die „Entlastung“ von staatlicher Ausforschung und die „Stabilisierung“ der vermögensmäßigen und persönlichen Beziehungen, geringer als für Paarbeziehungen; vgl.

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Eröffnung von Mehr-Elternschaft und die damit verbundene Eröffnung von reproduktiver Autonomie30 ein Weg sein, um der Heterogenität der Lebensverhältnisse und der schweren Generalisierbarkeit von Motivlagen und Lebensverhältnissen Rechnung zu tragen.31

3. Konzepte für nicht-biologisch orientierte Mehr-Elternschaft Immer bleibt aber noch der Einwand, dass es jenseits der biologischen Verbindung zu einem Kind keine das Wohl des Kindes gleichermaßen vielversprechend sichernde Verbindung gebe, die es rechtfertige, einen Wunschvater oder eine Wunschmutter originär zu einem weiteren Elternteil mit gleichen Rechten und Pflichten zu küren. Es ist also das „Substrat“ dieser Wunschbeziehung zu prüfen. Denn originäre Mehr-Elternschaft im Recht setzt die Anerkennung von nicht-biologisch orientierter, sondern willensbasierter, also intentionaler oder, wie es im Abschlussbericht des Arbeitskreises Abstammungsrecht nunmehr heißt, „intendierter“ Elternschaft voraus. Wie ich im Folgenden zeigen möchte, lassen sich sowohl in der Soziologie als auch in der Philosophie Beobachtungen und Erkenntnistendenzen nachweisen, die die Vorstellung einer Ähnlichkeit von intendiertem Elternwunsch und biologischer Elternwahrheit stützen.

a) Elternschaft als verantwortete Entscheidung Die Vorstellung einer Ähnlichkeit von intendiertem Elternwunsch und biologischer Elternwahrheit entspricht zunächst der soziologischen Beobachtung, dass Elternschaft seit den 1970er Jahren insgesamt geplanter, bedachter und intentionaler geworden ist.32 Es bestehen sowohl in der Umwelt als auch von den Beteiligten höhere Erwartungen an die Elternschaft, die einhergehen mit der Vorstellung, dass Elternschaft nicht etwas ist, dass durch einen Zeugungsakt

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bereits Röthel, in: Röthel/Heiderhoff (Hrsg.), Regelungsaufgabe Vaterstellung: Was kann, was darf, was will der Staat?, 2014, S. 89, 18 ff. 30 Dazu bereits Röthel, in: Baer/Sacksofsky (Hrsg.), Autonomie im Recht – geschlechtertheoretisch vermessen, 2018 (im Erscheinen) sowie Büchler, Reproduktive Autonomie und Selbstbestimmung, 2017; allgemein zu Autonomie als Regulierungsstrategie im Familienrecht Röthel, JZ 2017, 116 ff. 31 In diese Richtung Coester, in: 20. Deutscher Familiengerichtstag, 2014, S. 33, 51 ff. 32 Nave-Herz, in: Schuchard/Speck (Hrsg.), Mutterbilder – Ansichtssache, 1996, S. 5 ff.; dies betonen auch Walper/Bovenschen/Entleitner-Phleps/Lux, in: Röthel/Heiderhoff (Hrsg.), Regelungsaufgabe Mutterstellung: Was kann, was darf, was will der Staat?, 2016, S. 31, 34 ff.

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einfach „geschieht“ oder widerfährt, sondern dass Elternschaft etwas mit dem richtigen Zeitpunkt, den richtigen Umständen und der richtigen Beziehungseinbettung zu tun hat. Es sind soziale Normen entstanden, die Elternschaft insgesamt stärker als eine Entscheidung ausweisen, die hinsichtlich Zeitpunkt, Umfeld und Partner/in sorgfältig bedacht sein soll. Indem Elternschaft generell stärker Züge einer zu verantwortenden Entscheidung erhalten hat, sind biologische und „nur“ intendierte Elternschaft einander angenähert. Nicht-biologische und auch-biologische Elternschaft sind in der sozialen Wahrnehmung davon, was Elternschaft ausmacht – nämlich eine zu verantwortende Entscheidung – ähnlicher geworden.

b) Elternschaft als innere Erfahrung Weitere konzeptionelle Nahrung für die Vorstellung einer Ähnlichkeit von intendierter und biologischer Elternschaft finden wir in der Leibphilosophie. Hierbei handelt es sich um eine im Verlauf des 20. Jahrhunderts inzwischen gut etablierte Teildisziplin, deren zentrales Erkenntnisinteresse auf die Unterscheidung von „äußerem“ Körper, als Gegenstand der medizinischen Messung und der Naturwissenschaft einerseits und „innerem“ Leib als die selbst erfahrene Natur gerichtet ist. Die Leibphilosophie, heute etwa vertreten durch Gernot Böhme und Hermann Schmitz, hat den Leib als innere, subjektive Erfahrung in den Mittelpunkt ihrer analytischen, ethischen und pragmatischen Anliegen gerückt.33 Die mit der Leibphilosophie inzwischen reichhaltig ausgearbeitete begriffliche und konzeptionelle Unterscheidung von äußerem, empirisch-medizinischnaturwissenschaftlich messbarem „Körper“ und innerem, erlebten „Leib“ kann in mehrfacher Hinsicht für das Recht fruchtbar gemacht werden. Indem die Leibphilosophie die Selbsterfahrung des eigenen Leibes gegenüber empirischer Fremdwahrnehmung betont, stellt sie die im Recht und in der Rechtswissenschaft selbstverständlich gewordene Deutungshoheit der westlich geprägten

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33 Als grundlegend für die deutsche Leibphilosophie des ausgehenden 20. Jh. gilt Hermann Schmitz, System der Philosophie, Band II, Teil 1: Der Leib, 1965; Band II, Teil 2: Der Leib im Spiegel der Kunst, 1966; Leib und Gefühl, 3. Aufl. 2008; aus jüngerer Zeit insbesondere Böhme, Leibsein als Aufgabe. Leibphilosophie in pragmatischer Sicht, 2003; ders., Ethik leiblicher Existenz, 2008 sowie Waldenfels, Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes, 2000. Zu den ideengeschichtlichen Wurzeln der Leibphilosophie in der Phänomenologie des ausgehenden 19. Jh. siehe Alloa/Beorf/Grüny/Klass (Hrsg.), Leiblichkeit. Geschichte und Aktualität eines Konzepts, 2012 sowie Fuchs, Leib, Raum, Person. Entwurf einer phänomenologischen Anthropologie, 2000, S. 43 ff.

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Medizin und damit der Naturwissenschaft zur Unterscheidung und Abgrenzung von Normalität und Abweichung in Frage.34 Denn wir ziehen die Grenzlinien zwischen Gesundheit und Krankheit, zwischen dem, was uns „natürlich“ erscheint und dem was dagegen „künstlich“ ist, zumeist intuitiv entlang des medizinisch-naturwissenschaftlichen Deutungsangebots, das unsere gesamtgesellschaftlichen Diskurse wie keine andere Disziplin in diesem Zusammenhang prägt. Die Perspektive auf den Leib als innere Erfahrung und die Gegenüberstellung von innerem Leib und äußerem Körper lässt sich aber auch spezifischer fruchtbar machen: indem man sich dafür interessiert, ob wir nicht allzu selbstverständlich Elternschaft beschränken auf etwas, das sich naturwissenschaftlich beobachten, messen und nachweisen lässt als Schwangerschaft, Geburt und genetische Abstammung. Aus der Sicht der Leibphilosophie liegt darin eine vom Recht mitunter unreflektiert stabilisierte, medizinisch-naturwissenschaftlich gespeiste Engführung, die es im Interesse eines souveränen Selbstverständnisses des Menschen zu überdenken gilt.35 Der mit der Leibphilosophie angeregte Perspektivenwechsel zugunsten innerer leiblicher Erfahrungen lenkt den Blick darauf, dass die Eltern-Kind-Beziehung nicht vorschnell auf körperlich vermittelte Beziehungen und äußerlich messbare Erlebnisse wie Schwangerschaft und Geburt reduziert werden sollte. Ist nicht auch Elternschaft als eine Leibweise, also eine innere Erfahrung denkbar, als etwas, das nicht vollständig erfasst wird, wenn man nur auf das schaut, was sich äußerlich messen und beobachten lässt? Aus der Sicht der Leibphilosophie ist die intendierte Elternschaft von Personen, die biologisch weder Mutter noch Vater eines Kindes sind, eine genauso schlüssige Leibweise wie die Erfahrung von Phantomschmerzen oder die Betonung subjektiven Krankheits- oder Gesundheitserlebens.36 Indem die Leibphilosophie den Leib in den Vordergrund rückt und dem äußerlich wahrnehmbaren Körper damit seine unangefochtene Alleinstellung nimmt, öffnet sie den Blick darauf, dass auch Elternschaft als nicht biologisch stützbare Wahrnehmung gedacht werden kann und dass die subjektive Wahrnehmung ähnliche Geltungsansprüche erheben kann wie die äußere naturwissenschaftlich-medizinische Körperwahrnehmung.

_____ 34 Böhme, Ethik leiblicher Existenz, 2008, insbes. S. 65 ff., 205 ff., 235 ff. 35 Vgl. Gahlings, Phänomenologie der weiblichen Leiberfahrungen, 2006, S. 476 ff., in: Barkhaus/Mayer/Roughley/Thürnau (Hrsg.), Identität, Leiblichkeit, Normativität, 1996, S. 146, 160; Duden, Der Frauenleib als öffentlicher Ort, 1991. 36 Dazu bereits Schmitz, Der Leib. System der Philosophie Bd. II. 1., 1965, S. 16 ff.; ders., Der Leib, 2011, S. 9: „Leibesinsel ohne zugehörigen Körperteil“; Waldenfels, Das leibliche Selbst, 2000, S. 22 ff.; gleichsinnig Fuchs, Leib, Raum, Person, 2000, S. 100 ff.

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Resümee 1.

2.

3.

Als gesellschaftliche Praxis erweist sich Mehr-Elternschaft als ein zunehmend bedeutungsvolleres und weiterhin heterogenes Phänomen. Für das Recht heißt das, dass wir nach Regelungsstrukturen suchen müssen, die einerseits entsprechende Unterscheidungen einführen und die andererseits hinreichend flexibel auf die vielfältigen Motivlagen und Konfliktherde reagieren. Die Probleme einer Patchwork-Familie sind nicht die Probleme einer Regenbogen-Familie. Ungeachtet der wachsenden gesellschaftlichen Bedeutung von gelebter Mehr-Elternschaft in Stief-, Scheidungs- und Patchwork-Familien und gewünschter Mehr-Elternschaft in Regenbogen-Familien kennt das Recht keine Mehr-Elternschaft im engeren Sinne. Im Recht gilt vielmehr das ZweiEltern-Dogma. Dass ein Kind nur zwei Eltern im Rechtssinne haben kann, erscheint so selbstverständlich, dass es zumeist weder expliziert noch begründet wird. Dieses Dogma speist sich aus tief verwurzelten kollektiven, auch religiösen Vorstellungen sowie diffusen Referenzen auf eine vermeintlich aussagekräftige Natur. Über das normative Gewicht dieser beiden Wurzeln gilt es sich immer wieder zu verständigen. Die rechtliche Ausprägung von Mehr-Elternschaft kann eine sinnvolle Regulierungsstrategie sein, wenn sich wegen der Heterogenität der Verhältnisse keine plausiblen Aussagen darüber treffen lassen, welchen zwei Personen voraussichtlich die Sorge für das Kind am meisten am Herzen liegt und die daher im Kindesinteresse den Vorrang vor anderen Elternprätendenten erhalten sollten. Die mit einer Pluralisierung der Elternstellung verbundene Schwächung des Statusgedankens erscheint hinnehmbar, weil statusorientiertes Recht im Recht der Eltern-Kind-Beziehungen ohnehin weniger leistungsfähig ist als im Recht der Paarbeziehungen. Für die Eröffnung originärer Mehr-Elternschaft in gleichgeschlechtlichen Beziehungen, etwa zugunsten der Partnerin der Mutter und dem Samenspender und ggf. auch dessen Partner („cross-parenting“) oder zugunsten des Partners des Vaters und der Leihmutter, lassen sich soziologische und philosophische Deutungen fruchtbar machen, die die Vorstellung einer allein auf Intention und Wunsch gegründeten Elternschaft und ihre Ähnlichkeit mit biologisch gegründeter Elternschaft stützen. Die Anerkennung von Mehr-Elternschaft kann hier befriedend wirken, indem nicht schon bei der Geburt des Kindes „ex ante“ eine Rangordnung gebildet werden muss zwischen „wichtigeren“ und „weniger wichtigeren“ Bezugspersonen für das Kind, ohne dass zu diesem Zeitpunkt sicher absehbar ist, ob sich wirklich die biologische Beziehung als die für das Kind verlässlichste und die „nur“ intentionale Bezie-

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hung als die vergänglichste Beziehung erweisen wird. Die Anerkennung von originärer Mehr-Elternschaft vermeidet die schwierige und konfliktträchtige Hierarchisierung zwischen Personen, die sich prima facie alle für das Kind verantwortlich fühlen und ihm in gemeinsamem Entschluss das Leben schenken. Es gibt also einige gute Gründe, originäre, von vornherein einvernehmlich gewünschte Mehr-Elternschaft im Recht als Möglichkeit anzulegen und das wirkmächtige Dogma der Zwei-Elternschaft zu überdenken.

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Mehrelternfamilien aus sozialwissenschaftlicher Sicht | 143

Prof. Dr. Sabine Walper, München

Wie viele Eltern verträgt ein Kind? Mehrelternfamilien aus sozialwissenschaftlicher Sicht Mehrelternfamilien aus sozialwissenschaftlicher Sicht Sabine Walper https://doi.org/10.1515/9783110552355-009

I. Einleitung Die Frage, die wir hier aufgreifen, betrifft Kinder mit mehr als zwei Eltern. Dass sich uns diese Frage überhaupt stellt, ist vergleichsweise neu. Die Entstehung „elternreicher“ Familien gehört sicherlich zu den markantesten Wandlungsprozessen, die Familien im Verlauf des vergangenen Jahrhunderts, vollzogen haben. Dabei ist nicht die serielle Mehrelternschaft gemeint, die gerade in der Vergangenheit aufgrund der geringeren Lebenserwartung durchaus üblich war: Stief-, Pflege- und Adoptivfamilien, in denen soziale Eltern an die Stelle von verstorbenen leiblichen Eltern treten, haben eine lange Tradition. Sie bergen durchaus ihre eigenen Herausforderungen, denn auch verstorbene Elternteile bleiben oft für die Kinder in hohem Maße psychisch präsent. Das Phänomen paralleler Mehrelternschaft, bei der soziale Eltern neben die leiblichen Eltern treten, ist demgegenüber (mit gewissen Ausnahmen) ein eher modernes Phänomen, das jetzt verstärkt in den Fokus sozialwissenschaftlicher und juristischer Sondierungen gerät. Zumindest drei Trends lassen sich als maßgebliche Schrittmacher dieser Entwicklung ausmachen. Zunächst ist dies vor allem die größere Verbreitung von Mehrelternfamilien. Sie ist primär der Tatsache geschuldet, dass Partnerschaften heute weitaus häufiger durch eine Trennung der Eltern als durch deren Tod beendet werden. Damit bleiben potenziell und weit überwiegend auch faktisch beide Elternteile für die Kinder präsent. Dies gilt auch, wenn sich bei einer neuen Partnerschaft eines oder beider Elternteile der Kreis erwachsener Bezugspersonen für die Kinder erweitert. Ob und in welchem Umfang ein neuer Partner im weiteren Verlauf der Familienentwicklung eine (Ko-)Elternrolle übernimmt, ist kein Automatismus im Zeitverlauf und unterliegt auch nicht nur dem guten Willen des neuen Partners, sondern bedarf der Unterstützung des leiblichen Elternteils, der als Vermittler zwischen dem neuen Partner bzw. der neuen Partnerin und den Kindern von zentraler Bedeutung ist. Oft dauert es mehrere Jahre bis die Erwachsenen und Kinder in das neue Familiensystem hineinwachsen. Wenn ihnen das über die Zeit hinweg gelingt, ist das in der Regel ein großer Gewinn für den Zusammenhalt der Familie und die Kinhttps://doi.org/10.1515/9783110552355-009

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der.1 Tobias Helms (in diesem Band) hat schon auf die damit verbundene Frage verwiesen, ob und wie wir der Rolle von Stiefeltern als soziale Eltern neben beiden leiblichen Eltern besser gerecht werden können, ohne neue Konfliktfronten zu eröffnen oder vorhandene zu verschärfen. Zweitens hat ganz wesentlich die Forschung zu Adoptivkindern und deren Familien aufgezeigt, wie wichtig es für Adoptivkinder ist, sich mit der eigenen biologischen Abstammung auseinander setzen zu können. Unter dem normativen Druck, dem Ideal der Kernfamilie zu entsprechen, wurde sehr jung adoptierten Kindern in der Vergangenheit vielfach vorenthalten, dass sie andere leibliche Eltern haben. Die teilweise gravierenden Irritationen, die bei einer späteren – oft unbeabsichtigten – Offenlegung entstehen, haben dafür sensibilisiert, dass die leiblichen Eltern nicht gänzlich ausgeblendet werden können, sondern dass die Möglichkeit, sich der eigenen biologischen Abstammung zu vergewissern, für die Identitätsentwicklung von adoptierten Kindern von entscheidender Bedeutung ist. Mehr noch als die Chance einer Einsichtnahme in die dokumentierten eigenen Abstammungsverhältnisse versucht die offene Adoption dem Rechnung zu tragen. Auch wenn das Nebeneinander von leiblichen und Adoptiveltern meist begrenzt ist und die biologischen Eltern kaum in das Leben der Kinder involviert sind, symbolisiert dies doch eine größere Offenheit gegenüber den vielfältigen Herkunftsbezügen dieser Kinder. Gerade diese Offenheit, insbesondere in der Kommunikation mit der Adoptivfamilie über diese Herkunftsbezüge, hat sich für die Kinder als besonders relevant erwiesen.2 Der dritte Trend, der durch neue Formen der Familiengründung und -erweiterung über private Samenspenden entstanden ist, wurde schon durch Anne Röthel (in diesem Band) beleuchtet. Gerade im Kontext von Keimzellspenden wurde intensiv diskutiert, wie dem Recht der Kinder auf Kenntnis ihrer biologischen Abstammung besser Rechnung getragen werden kann. Die Erkenntnisse zu Fallstricken einer fehlenden oder zu späten Aufklärung der Kinder über die Besonderheiten ihrer Abstammung entsprechen bei Keimzellspenden durchaus dem, was aus der Adoptionsforschung bekannt ist.3 Mitunter geht es aber nicht nur um die Dokumentation der biologisch-genetischen Abstammungsverhältnisse und die Möglichkeit für die Kinder, diese einzusehen, son-

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1 Walper/Entleitner-Phleps/Wendt, Brauchen Kinder immer (nur) zwei Eltern? Forschungsergebnisse in Psychologie und Soziologie und ihre Bedeutung für das Kindschaftsrecht, Recht der Jugend und des Bildungswesens, 2016, 64, 210–226. 2 Brodzinsky, Family Structural Openness and Communication Openness as Predictors in the Adjustmentof Adopted Children, Adoption Quarterly, 2006, 9(4), 1–18. 3 vgl. hierzu Walper/Bovenschen/Entleitner-Phleps/Lux, Was kann der Staat? Mutterschaft aus Sicht der Familien-, Kinder- und Jugendforschung, in: Röthel/Heiderhoff (Hrsg.), Regelungsaufgabe Mutterstellung: Was kann, was darf, was will der Staat?, 2016, S. 31–62.

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dern auch um eine aktive Beteiligung der genetischen Eltern am Familienleben der Kinder. Wir fokussieren hier die Frage nach dem ob und wie von Mehrelternfamilien unter der Perspektive des Kindeswohls und der Sicherung von Rechten der Kinder: „Wie viele Eltern verträgt ein Kind?“. Um dieses Terrain des Kindeswohls und der Kinderrechte hat sich Michael Coester als Vorsitzender der Kinderrechtekommission des Deutschen Familiengerichtstags in besonderer Weise verdient gemacht.

II. Stieffamilien als Entwicklungskontext Was also entspricht den Bedürfnissen von Kindern? Es liegt nahe, die ZweiEltern-Familie als biologische Naturkonstante zum Maßstab und Ideal zu setzen. Allerdings kennt die Ethnologie auch Gegenbeispiele, etwa indigene Völker, bei denen Paarbeziehungen wenig stabil und Familien über matrilineale Verbünde organisiert waren. Mitunter steigerte es die Überlebenschancen der Kinder, wenn die Mutter – wenig vertraut mit den biologischen Details der Zeugung – mehrere Männer als Vater benannte. Auch viele moderne Stiefkinder profitieren zu Weihnachten und an Geburtstagen durchaus von ihrer Zugehörigkeit zu mehr als zwei Eltern und mehr als vier Großeltern. Gilt also vielleicht doch: More is more? Gerade Stieffamilien waren in der Vergangenheit lange mit negativen Stereotypen konfrontiert, weil dem Stiefelternteil – im Sinne der sozio-biologischen These – eine geringere Investitionsbereitschaft in ihre nicht-leiblichen Kinder zugesprochen wurde.4 Mittlerweile hat sich vieles geändert, nicht zuletzt der Entstehungshintergrund von Stieffamilien: Heute sind es weniger ökonomische und Versorgungszwänge, die eine Wiederheirat bzw. die Gründung eines gemeinsamen Haushalts mit einem neuen Partner erforderlich machen. Entsprechend können bei der Partnerwahl und Entscheidung über das Zusammenziehen kindbezogene Überlegungen durchaus stärker in die Waagschale fallen, als dies in der Vergangenheit möglich war. Leider wissen wir hierüber noch zu wenig. Dies ist ein wichtiges Terrain, in dem sich die Familienforschung noch weiter entwickeln muss.

_____ 4 Popenoe, The evolution of marriage and the problem of stepfamilies: a biosocial perspective, in: Booth/Dunn (Hrsg.), Stepfamilies: who benefits? who does not?, S. 3–27. Vgl. auch Walper/ Wild, Wiederheirat und Stiefelternschaft, in: Hofer/Wild/Noack, Lehrbuch der Familienbeziehungen. Eltern und Kinder in der Entwicklung, 2002, S. 336–361.

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Entscheidender ist jedoch die Frage, inwieweit das Nebeneinander von Stiefeltern und externem leiblichen Elternteil eine Konkurrenz zwischen beiden begünstigt. Betrachtet man die empirische Befundlage, so sprechen die Daten nicht dafür, dass derartige Probleme eine starke Rolle spielen. Im Einzelfall sind zwar vor allem aus strittigen Fällen Versuche bekannt, den leiblichen Elternteil durch Aufwertung des Stiefelternteils „auszubooten“. Größer angelegte Repräsentativbefragungen finden jedoch keine Hinweise auf überzufällig gehäufte Fälle von Konkurrenz, weder aus Sicht der Eltern noch aus derjenigen der Kinder5: Mütter, die in der Erziehung gut mit dem neuen Partner kooperieren, berichten nicht häufiger eine fehlende oder schlechte Kooperation mit dem getrennt lebenden leiblichen Vater. Und Kinder und Jugendliche, die eine gute Beziehung zu ihrem getrennt lebenden leiblichen Vater haben, berichten sogar häufiger auch eine gute Beziehung zu ihrem Stiefvater. Ebenso zeigen internationale Befunde, dass es unterschiedliche Konstellationen der Beziehungsqualität zum Stiefelternteil und zum externen leiblichen Elternteil gibt, dass aber häufiger eine gute Beziehung zu beiden zu finden ist.6 Stieffamilien sind auch stabiler als ihr Ruf es nahe legt. Allerdings ist der Aufbau einer tragfähigen Beziehung zwischen Stiefelternteil und Stiefkind anforderungsreich, da Vorbehalte der Kinder einfühlsam überwunden werden müssen, nicht zuletzt mit vermittelnder Unterstützung des leiblichen Elternteils, der den Partner ins Familiensystem gebracht hat. Sind die Kinder bei Gründung der Stieffamilie noch jünger – vorzugsweise unter 10 Jahre alt – fällt es leichter, eine gute, enge Beziehung zum Stiefkind aufzubauen.7 Demgegenüber bleibt bei älteren Kindern die Beziehung oft eher freundschaftlich, und erzieherische Eingriffe des Stiefelternteils werden weniger akzeptiert. Vielfach dauert die Anpassung an die Situation als Stieffamilie sogar länger als die Anpassung an die Trennungssituation. Durchschnittlich umfasst dieser Prozess rund drei bis fünf Jahre. Obwohl Stiefeltern im Alltag der Kinder oftmals eine sehr präsente Rolle spielen, sind sie jenseits ihrer finanziellen Verpflichtungen in einer Bedarfsgemeinschaft rechtlich nicht in die Sorge für die Kinder eingebunden. Ausnahmen sind die Stiefkindadoption und das sog. kleine Sorgerecht, das nur dann zuge-

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5 Pryor, Children’s relationships with nonresident parents, in: Pryor, International handbook of stepfamilies: Policy and practice in legal, research and clinical environments, 2008, S. 345–368; Walper, Aufwachsen in Stief- und Patchworkfamilien aus der kindlichen Perspektive. Expertise im Auftrag des Bundesfamilienministeriums, 2012. 6 Amato/King/Thorsen, Parent–Child Relationships in Stepfather Families and Adolescent Adjustment: A Latent Class Analysis, Journal of Marriage and Family, 2016, 78, 482–497. 7 Hetherington/Jodl, Stepfamilies as settings for child development, in: Booth/Dunn (Hrsg.) Stepfamilies. Who benefits? Who does not?, 1994, S. 55–79.

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sprochen werden kann, wenn der Stiefelternteil mit dem leiblichen Elternteil verheiratet ist, der über das alleinige Sorgerecht verfügt. Andere Länder sehen durchaus ein gemeinsames Sorgerecht für mehr als zwei Eltern vor und vermeiden damit die rechtliche Konkurrenzsituation zwischen externem leiblichen und Stiefelternteil. Eine entsprechende Option könnte gerade dann relevant werden, wenn auch gemeinsame Kinder in die neue Partnerschaft geboren werden. Die bisherige Praxis, die nicht zuletzt durch das Sorgerecht unterlegt ist, begünstigt eine biologisch-genetisch begründete Aufteilung der Elternverantwortung nach der Regel „meine – deine – unsere Kinder“, die für Kinder längerfristig jedoch durchaus problematisch sein kann.

III. Bedürfnisse von Kindern Was brauchen Kinder? In dem Kontext, den wir hier behandeln, sind vor allem drei Bedürfnisse zentral. Zum einen ist dies das Bedürfnis nach Zugehörigkeit: Kinder müssen wissen, wo sie hingehören. Dabei können sie durchaus mehrere Bezugspunkte haben, die aber nicht in Kokurrenz zueinander geraten sollten. Besonders belastet sind Kinder nicht nur dann, wenn Eltern sich ihrer Verantwortung entziehen und die Kinder vernachlässigen, sondern auch, wenn die Beziehung der Kinder zu den Eltern durch Loyalitätskonflikte überschattet wird, die Kinder also „zwischen den Stühlen sitzen“8. Dies gefährdet ihr Gefühl der Zugehörigkeit. Zweitens brauchen sie emotionale Sicherheit in der Familie,9 die ihnen auch Spielräume für ihr eigenes Handeln bietet. Emotionale Sicherheit ist am ehesten gewährleistet, wenn Kinder in einer friedlich-vertrauensvollen Atmosphäre aufwachsen, in der die Beteiligten eine hinreichende Kooperationsfähigkeit und -bereitschaft beweisen und das familiäre Miteinander nicht durch „Tretminen“ drohender Streitigkeiten gefährdet ist. Zum Dritten haben Kinder aber auch einen großen Gerechtigkeitssinn und damit ein Gerechtigkeitsbedürfnis.10

_____ 8 Ahrons, Family ties after divorce: Long‐term implications for children. Family Process, 2007, 46, 53–65. Walper/Kruse/Noack/Schwarz, Parental separation and adolescents’ felt insecurity with mother: Effects of financial hardship, interparental conflict, and maternal parenting in East and West Germany, Marriage and Family Review, 2005, 36(3/4), 115–145. 9 Cummings/Miller-Graff, Emotional security theory: An emerging theoretical model for youths’ psychological and physiological responses across multiple developmental contexts, Current directions in psychological science, 2015, 24(3), 208–213. 10 Kowal/Kramer/Krull/Crick, Children’s perceptions of the fairness of parental preferential treatment and their socioemotional well-being, Journal of Family Psychology, 2002, 16(3), 297;

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Unter dieser Perspektive sind Stieffamilien in besonderer Weise interessant. Sie schreiben in gewisser Weise eine Fortsetzungsgeschichte, und in vielen Stieffamilien erfolgt eine weitere Familiengründung durch die Geburt eines gemeinsamen Kindes. Vielfach denken die Eltern: Jetzt, mit einem gemeinsamen Kind, sind wir eine richtige Familie. Allerdings sind die Anforderungen dieser komplexen Familienkonstellationen nicht zu unterschätzen, müssen doch unterschiedliche Kindschafts- und Elternschaftsverhältnisse integriert werden. Wer darf wem etwas „ansagen“, wer nicht? Wer hat bei welchem Kind die Lizenz, schulische Leistungen zu kommentieren und Hausaufgaben einzufordern? Welcher Elternteil ist für das Bringen und Abholen, Trost und Vertrautheit zuständig? Unterschiedliche Rollen der Eltern für unterschiedliche Kinder in der Familie scheinen nicht selten Reibungspunkte, zumindest Unebenheiten zu produzieren, die vielleicht zunächst aus der Sicht der Eltern gar nicht so problematisch sind, aber offensichtlich für Kinder nicht so einfach zu kompensieren sind. Der bisher vorherrschende starke Bezug auf die biologische Abstammung, die leibliche Elternschaft und die Rechte der leiblichen Eltern, schafft Ungleichheiten in diesen Familien, die sowohl für die Eltern als auch für die jeweiligen Kinder durchaus schwierig sein können. So lassen eine Reihe von Befunden – auch aus Deutschland – darauf schließen, dass komplexe Elternund Kindschaftskonstellationen in Stieffamilien mit Risiken für das Familienklima und das Wohlergehen von Kindern verbunden sein können.11 Interessanterweise betrifft dies nicht nur die Stiefkinder, sondern auch die gemeinsamen Kinder der Partner. Die unterschiedliche Stellung und Ungleichbehandlung biologischer und „nur sozialer“ Kinder dürfte bei diesen Belastungen des Familiensystems eine bedeutsame Rolle spielen. Um dem entgegen zu wirken, brauchen wir eine intensive Verständigung über Ko-Elternschaft, die auch „nur“ soziale Eltern einbezieht. Es geht um die Frage, wer in diesen Fällen die elterliche Sorge und Verantwortung für die Kinder übernimmt, welche Rolle hierbei der Stiefelternteil spielen kann und ob es auch mehr als zwei Eltern sein können, die sich die Verantwortung für das Wohlergehen des Kindes teilen. Die Option einer gemeinsamen elterlichen Verantwortung auch für jene Stieffamilien, in denen der getrennt lebende leibliche

_____ Shaw/DeScioli/Olson, Fairness versus favoritism in children, Evolution and Human Behavior, 2012, 33(6), 736–745. 11 Entleitner-Phleps/Walper, Child well-being in diverse family structures, Report for FamiliesAndSocieties, 2016; Halpern-Meekin/Tach, Heterogeneity in Two-Parent Families and Adolescent Well-Being, Journal of Marriage and Family, 2008, 70(2), 435–451; Hofferth/Anderson, Are all dads equal? Biology versus marriage as a basis for paternal investment, Journal of Marriage and Family, 2003, 65(1), 213–232.

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Elternteil weiterhin das Sorgerecht inne hat, könnte ein wichtiges Signal setzen, das soziale Elternschaft stärkt. Gerade für komplexe Stieffamilien könnte dies hilfreich sein, um einen Integrationsprozess zu befördern, bei dem alle Kinder in vergleichbarer Weise mitgenommen werden. Eine Frist von mindestens drei Jahren nach Gründung der Haushaltsgemeinschaft schiene hierbei ebenso sinnvoll wie eine Berücksichtigung des Kindeswillens.

IV. Der breitere Blick auf soziale Elternschaft Bislang habe ich nur das Beispiel der Stieffamilien angesprochen. Es ließe sich auch noch vieles zu Pflegefamilien sagen, die zumeist vor noch größeren Herausforderungen stehen. In Pflegefamilien stellt sich nicht nur die Aufgabe, den Kindern einen fürsorglichen, sicheren Beziehungskontext zu schaffen, den ihnen die leiblichen Eltern in der jeweiligen Situation nicht geben können, sondern sie gestalten ihre soziale Elternschaft neben den leiblichen Eltern und sollen die Beziehung der Kinder zur Herkunftsfamilie unterstützen. Wenngleich bei einer Fremdunterbringung von Kindern in einer Pflegefamilie vielfach auf die Kooperation bzw. das Einverständnis der leiblichen Eltern hingewirkt wird, ist die Beziehung zwischen Pflegeeltern und den Eltern der Herkunftsfamilie doch besonders anforderungsreich, zumal die rechtliche Stellung von Pflegeeltern sehr begrenzt ist12 (1) Das Sorgerecht bleibt zumeist bei den leiblichen Eltern, gerade wenn ein Konsens mit den leiblichen Eltern zur Fremdunterbringung des Kindes erreicht wurde. (2) Der Verbleib des Kindes in der Pflegefamilie ist selbst dann unsicher, wenn eine Rückführung in die Herkunftsfamilie extrem unwahrscheinlich bzw. de facto ausgeschlossen ist. Das Recht der leiblichen Eltern, regelmäßig eine Rückführung zu beantragen, erfordert in diesen Fällen eine Prüfung, die auch für die Kinder belastend sein kann, insbesondere, wenn sie eine gute Beziehung zu den Pflegeeltern aufgebaut haben und so in ihrer meist belasteten Bindungsentwicklung unterstützt wurden. (3) Obwohl die Pflegedienste gehalten sind, die Möglichkeit einer Adoption durch die Pflegeeltern zu prüfen, geschieht dies in Deutschland weitaus seltener als in anderen Ländern. Adoptionswillige Pflegeeltern werden oft dauerhaft in Warteposition gehalten. Im Rahmen eines Gutachtens des Wissenschaftlichen Beirats für Familienfragen13 und im Dialogforum Pflegekinderhilfe wurden die Notwendigkeiten

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12 Vgl. Kindler/Helming/Meysen/Jurczyk, Handbuch Pflegekinderhilfe: DJI, 2011. 13 Scheiwe/Schuler-Harms/Walper/Fegert/Wissenschaftlicher Beirat für Familienfragen beim Bundesministerium für Familie, Pflegefamilien als soziale Familien, ihre rechtliche Aner-

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und Möglichkeiten einer Stärkung der sozialen Elternschaft in Pflegefamilien intensiv in den Blick genommen, um den Kindern in jenen Fällen eine klare Sicherheit und Perspektive zu geben, in denen eine Rückkehr in die Herkunftsfamilie keine realistische Option ist. Damit sollen nicht die Rechte leiblicher Eltern untergraben werden, sondern es soll nur für jene Fälle eine am Kindeswohl orientierte Lösung gefunden werden, in denen eine Rückführung aussichtslos wäre. Auch der Wissenschaftliche Beirat für Familienfragen am BMFSFJ spricht sich für eine solche Option aus, deren Nutzung gleichwohl sorgfältig zu evaluieren wäre. Wichtig ist auch in diesem Fall die Anhörung des Kindes, die – anders als vom Wissenschaftlichen Beirat für Familienfragen vorgeschlagen – nicht an eine Altersgrenze gebunden sein müsste.

V. Fazit Die genetische Abstammung bildet seit jeher das Fundament familiärer Beziehungen. Seit jeher hat es aber auch Formen ausschließlich sozialer, nichtleiblicher Elternschaft gegeben. Die Forschung zur Bedeutung genetischer Faktoren und des Wissens um die eigene Abstammung für die Identitätsentwicklung hat leiblich-genetische Elternschaft eher aufgewertet. Um unbegründete Ungleichgewichte zu vermeiden, sollten wir jedoch darauf achten, auch der ausschließlich sozialen Elternschaft einen guten Rahmen zu geben, der Leistungen anerkennt und Perspektiven sichert. „Elternreiche“ Familiensysteme, die biologische und ausschließlich soziale Elternschaft verbinden, sind heute keine Seltenheit, sondern entstehen unter vielfältigen Bedingungen. Die Ausgestaltung dieser komplexen Beziehungen im Familiengefüge ist bislang jedoch eine hoch individualisierte Aufgabe, die oftmals mit den Grenzen der Zwei-Eltern-Norm konfrontiert ist. Dass diese Begrenzung nicht immer dem Wohlergehen der Kinder und der Stabilisierung entwicklungsförderlicher Familiensysteme dient, wurde hier vor allem mit Bezug auf Stieffamilien diskutiert. Die rechtliche Option, auch Stiefeltern elterliche Verantwortung zu übertragen, ohne dabei die Verantwortung der leiblichen Eltern zu schwächen, könnte dazu beitragen, die Leistungen von Stiefeltern angemessen anzuerkennen und ihre Rolle zu stabilisieren. Auch bei Pflegefamilien gilt es, mit Augenmaß die rechtlichen Spielräume zu nutzen, um im Dienste des Kindeswohls dauerhafte Perspektiven für soziale Elternschaft zu schaffen, wo

_____ kennung und aktuelle Herausforderungen, 2016, https://www.bmfsfj.de/blob/76080/882dd90 7f94fd183472d6cac5dbcd0ee/gutachten-pflegefamilien-beirat-data.pdf.

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eine Rückkehr in die Herkunftsfamilie keine realistische Option ist. Viele alternative Formen der Elternschaft jenseits der Kernfamilie werden heute stärker akzeptiert und unverdeckt gelebt. Gleichwohl besteht vielfach noch deutlicher Orientierungsbedarf. Dies betrifft nicht zuletzt jene hier nur kurz angesprochenen Familien, die durch Keimzellspende entstanden sind. Stärker noch als in Adoptionsfamilien scheinen Wunsch-Eltern, die eine Keimzellspende in Anspruch genommen haben, Ambivalenzen in der Offenlegung der Abstammungsverhältnisse ihres Kindes zu erleben und diese herauszuzögern. Wenngleich dem vielfach der Wunsch zugrunde liegen mag, nicht das Bild der intakten Zwei-Eltern-Familie auf Seiten der Kinder zu gefährden, sollten doch die Chancen und Erträge der Reproduktionsmedizin seitens ihrer Nutzer offener gewürdigt werden, um den Kindern die Identitätsentwicklung zu erleichtern. Insgesamt legt dies nahe, dass eine breite Diskussion und gesellschaftliche Verständigung über die Diversität von Elternschaft und das Nebeneinander leiblicher und sozialer Elternschaft in komplexen familiären Konstellationen noch aussteht.

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Prof. Dr. Anatol Dutta, M. Jur. (Oxford), München

Jenseits von Ehemann und Ehefrau – Neue Paarbeziehungsregime in den europäischen Güterrechtsverordnungen Jenseits von Ehemann und Ehefrau Anatol Dutta https://doi.org/10.1515/9783110552355-010

Es ist ein Gemeinplatz, dass die traditionelle Ehe zwischen Mann und Frau nicht mehr das einzige Regime ist, das die Beziehungen eines Paares während der Beziehung, vor allem aber bei deren Beendigung durch Trennung oder Tod regelt, indem es für eine gerechte Verteilung beziehungsbedingter Vor- und Nachteile sorgt. Vielmehr sind in zahlreichen Rechtsordnungen neue Paarbeziehungsregime neben die traditionelle Ehe getreten: Die Ehe wurde für gleichgeschlechtliche Paare geöffnet, optionale Paarbeziehungsregime wie eingetragene Partnerschaften wurden als Ersatz oder Alternative zur Ehe eingeführt oder Auffangregime geschaffen, die bereits an die faktische Paarbeziehung, etwa an das Zusammenleben als nichteheliche Lebensgemeinschaft, Rechtsfolgen knüpfen und speziell auch im Güterrecht eine wechselseitige Teilhabe am während der Beziehung erwirtschafteten Vermögen gewährleisten1. Diese Vielfalt der Paarbeziehungsregime ist nicht ein außereuropäisches Phänomen, sondern lässt sich auch in den Familienrechten der Europäischen Union nachweisen. Umso mehr überrascht es, dass die neuen europäischen Güterrechtsverordnungen, die Ehegüterverordnung2 (EuGüVO) und die Partnerschaftsgüterverordnung3 (EuPartVO), die eigentlich den Anspruch haben sollten, das internationale Güterrecht umfassend unionsweit zu regeln, nur einen Teil der Paarbeziehungsregime abdecken. Die Verordnungen behandeln, teils aus politischen Gründen, wie wir noch sehen werden (unten II.), diese Regime stiefmütterlich und lassen ein kohärentes System vermissen. Das ist nicht nur bedauerlich, weil die Verordnungen damit ihr Ziel gefährden, für Paare in grenzüberschreitenden Fällen vor allem durch einen europäischen Entscheidungseinklang Rechtssicherheit zu schaffen. Schade ist auch, dass das europäi-

_____ 1 Für einen rechtsvergleichenden Überblick etwa Dutta, AcP 216 (2016) 609. 2 Verordnung (EU) 2016/1103 vom 24.7.2016 zur Durchführung einer Verstärkten Zusammenarbeit im Bereich der Zuständigkeit, des anzuwendenden Rechts und der Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Fragen des ehelichen Güterstands, ABl. 2016 L 183/1. 3 Verordnung (EU) 2016/1104 vom 24.7.2016 zur Durchführung einer Verstärkten Zusammenarbeit im Bereich der Zuständigkeit, des anzuwendenden Rechts und der Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Fragen güterrechtlicher Wirkungen eingetragener Partnerschaften, ABl. 2016 L 183/30. https://doi.org/10.1515/9783110552355-010

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sche IPR hier seiner Aufgabe als Avantgarde des europäischen Privatrechts nicht nachkommt. Da sich der Unionsgesetzgeber in Kernbereichen des Privatrechts aus kompetenziellen Gründen bisher vor allem im Bereich des internationalen Privatrechts äußert, können die einschlägigen Rechtsakte über das internationale Privatrecht hinaus – jedenfalls in den Grundbegriffen – einheitliche Strukturen prägen, auf denen auch die europäische Rechtsvergleichung und eine künftige Sachrechtsvereinheitlichung aufbauen kann.

I. Der gesetzliche Definitionsrahmen Entscheidend für die Antwort auf die Frage, welche Paarbeziehungsregime im Hinblick auf ihre güterrechtlichen Folgen von den Güterrechtsverordnungen sachlich erfasst sind, ist der Begriff der Ehe in der Ehegüterverordnung und derjenige der eingetragenen Partnerschaft in der Partnerschaftsgüterverordnung. Allerdings definieren die Verordnungen beide Konzepte nur teilweise.

1. Eingetragene Partnerschaft Allein für das Institut der eingetragenen Partnerschaft bietet die Partnerschaftsgüterverordnung in Art. 3 Abs. 1 lit. a eine autonome4 Legaldefinition, wonach eine eingetragene Partnerschaft das Folgende bezeichnet: „eine rechtlich vorgesehene Form der Lebensgemeinschaft zweier Personen, deren Eintragung nach den betreffenden rechtlichen Vorschriften verbindlich ist und welche die in den betreffenden Vorschriften vorgesehenen rechtlichen Formvorschriften für ihre Begründung erfüllt“. Diese Definition enthält zunächst inhaltliche Elemente. So muss die Partnerschaft auf zwei Personen beschränkt sein, polygame Beziehungen werden vom Anwendungsbereich der Verordnung ausgeschlossen5. Das Geschlecht der

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4 Etwas rätselhaft spricht indes Erwägungsgrund Nr. 17 Satz 3 zur EuPartVO davon, dass „der tatsächliche Inhalt dieses Begriffskonzepts“ weiterhin dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten unterliegen soll. Damit ist wohl gemeint, dass das „Qualifikationsmaterial“, also die Sachnormen zu eingetragenen Partnerschaften, die darauf zu untersuchen sind, ob sie der Legaldefinition der EuPartVO genügen, dem nationalen Recht unterliegen, was eine Selbstverständlichkeit ist; das deckt sich auch mit dem Satz 4 des Erwägungsgrunds, der klarstellt, dass die EuPartVO die Mitgliedstaaten nicht verpflichtet, das Institut der eingetragenen Partnerschaft einzuführen, vgl. auch Ratsdokument Nr. 15888/14, S. 3. 5 Coester, in: Dutta/Weber (Hrsg.), Die Europäischen Güterrechtsverordnungen, 2017, S. 111, 112.

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Partner ist dagegen irrelevant. Auch an die innere Bindung der Partner stellt die Legaldefinition kaum Anforderungen. Die Rede ist allein von einer „Lebensgemeinschaft“. Damit sollten wohl bloße Zweckgemeinschaften jenseits von Paarbeziehungen (Wohngemeinschaften, Gesellschaften, Gemeinschaften) ausgeschieden werden, wobei die genaue Abgrenzung hier – wie der Jubilar zutreffend bemerkt – schwierig sein wird6. Jedenfalls wird man Paarbeziehungsregime wie etwa die cohabitation légale in Belgien, die auch Verwandte begründen können7 und die der Gesetzgeber damit für Beziehungen außerhalb der klassischen Paarbeziehung öffnet, als ausreichend für eine „Lebensgemeinschaft“ im Sinn der Partnerschaftsgüterverordnung ansehen müssen. Auch die Intensität der güterrechtlichen Rechtsfolgen des betreffenden Paarbeziehungsregimes spielen beim gesetzlichen Begriff der eingetragenen Partnerschaft keine Rolle: Erfasst werden ehegleich ausgestaltete Partnerschaften, aber auch Partnerschaften mit eigenständigem Regime, selbst wenn diese – wie etwa in Belgien, Frankreich und Luxemburg8 – als „Ehe light“ güterrechtlich unterhalb der Ehe angesiedelt sind9. Die belgische Ratsdelegation hatte noch darüber nachgedacht, ob die EuPartVO nur auf eingetragene Partnerschaften in Form der „Ehe light“ anwendbar sein sollte und ehegleich ausgestaltete Partnerschaften der EuGüVO unterfallen10. Diese Idee hat der Gesetzgeber aber nicht aufgegriffen. Des Weiteren stellt der Begriff der eingetragenen Partnerschaft in der Partnerschaftsgüterverordnung auch formale Anforderungen auf: Das Paarbeziehungsregime muss „verbindlich“ eine Eintragung vorsehen. Damit kann nur ein zwingendes11 Eintragungserfordernis gemeint sein, wie vor allem ein Blick in die anderen Sprachfassungen zeigt, etwa: „registration of which is mandatory“, „dont l’enregistrement est obligatoire“, „la cui registrazione è obbligatoria“. Die Art des Registers – Personenstandsregister, Melderegister, etc. – ist irrelevant.

_____ 6 Coester, in: Dutta/Weber (Hrsg.), Die Europäischen Güterrechtsverordnungen, 2017, S. 112. 7 Art. 1475 belg. Code civil e contrario. 8 Vgl. Art. 1478 Abs. 1 belg. Code civil; Art. 515–5 franz. Code civil; Art. 10 Abs. 1 luxem. Loi relative aux effets légaux de certains partenariats. 9 Kohler/Pintens, FamRZ 2016, 1509, 1512; Rudolf, ZfRV 2017, 171, 174. – Eine andere Frage ist es demgegenüber, ob die Partner das Recht eines solchen Staates nach Art. 22 Abs. 1 EuPartVO wählen dürfen, d.h. ob ein Recht ohne wechselseitige güterrechtliche Teilhabe „güterrechtliche Wirkungen an das Institut der eingetragenen Partnerschaft“ im Sinne dieser Vorschrift knüpft; dafür Dutta, FamRZ 2016, 1973, 1981, dagegen kritisch Coester, in: Dutta/Weber (Hrsg.), Die Europäischen Güterrechtsverordnungen, 2017, S. 116 f. 10 Siehe Ratsdokument Nr. 13698/11 ADD 16, S. 2. 11 Nach Weber, DNotZ 2016, 659, 693, muss die Eintragung aber nicht konstitutiv sein; kritisch Coester, in: Dutta/Weber (Hrsg.), Die Europäischen Güterrechtsverordnungen, 2017, S. 112 in Fn. 6.

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Abschließend fallen noch zwei übergreifende Punkte an der Legaldefinition der eingetragenen Partnerschaft auf: Aus dem systematischen Zusammenhang zwischen beiden Verordnungen ergibt sich, dass die Ehe im Sinne der Ehegüterverordnung nicht unter den Begriff der eingetragenen Partnerschaft fällt. Bei unbefangener Lektüre würde der Wortlaut des Art. 3 Abs. 1 lit. a EuPartVO durchaus auch die klassische Ehe erfassen. Diese Überlagerung erfüllt indes eine Funktion (siehe noch näher unten II.). Zudem: Der Begriff der eingetragenen Partnerschaft wird im internationalen Unionsprivatrecht erstmals recht konkret und eng definiert, anders als etwa in der europäischen Erbrechtsverordnung12, die in ihrem Art. 23 Abs. 2 lit. b lediglich recht pauschal klarstellt, dass das Erbstatut auch die „Nachlassansprüche des überlebenden Ehegatten oder Lebenspartners“ umfasst und insbesondere keine Eintragungserfordernisse aufstellt.

2. Ehe Vor einer Definition des Ehebegriffs drücken sich dagegen die Verordnungen. Die Ehegüterverordnung beschränkt lediglich in ihrem Art. 1 Abs. 1 UAbs. 1 den Anwendungsbereich der Verordnung auf „die ehelichen Güterstände“, der in Art. 3 Abs. 1 lit. a EuGüVO nur im Hinblick auf das Güterrecht, nicht aber im Hinblick auf das Attribut „ehelich“ definiert wird. Eine Definition der Ehe sucht man vergeblich. Vielmehr überlässt die Verordnung diesen Begriff ausweislich ihres Erwägungsgrunds Nr. 17 „dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten“. Der Unionsgesetzgeber vermeidet bewusst eine Definition, sondern verlagert diese Regelungsaufgabe in das nationale Recht. Es lässt sich damit vorerst festhalten, dass mit Gewissheit die Ehegüterverordnung Ehen erfasst, die unter den common core des Ehebegriffs in allen Rechtsordnungen fallen – und das ist derzeit nur die verschiedengeschlechtliche und monogame Ehe, die universell anerkannt ist.

II. Gleichgeschlechtliche Ehen Wo aber sind Ehen zu verorten, die nicht vom universellen Ehebegriff abgedeckt werden? Konkret betriff dies neben polygamen Ehen (unten III.) natürlich die

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12 Verordnung (EU) Nr. 650/2012 vom 4.7.2012 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Annahme und Vollstreckung öffentlicher Urkunden in Erbsachen sowie zur Einführung eines Europäischen Nachlasszeugnisses, ABl. 2012 L 201/107.

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gleichgeschlechtliche Ehe, die noch nicht in allen an der Verordnung teilnehmenden Mitgliedstaaten als optionales Paarbeziehungsregime angeboten wird. Zur Lokalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe bedarf es eines genaueren Blicks auf Erwägungsgrund Nr. 17 und dessen Verweis auf das nationale Recht der Mitgliedstaaten (oben I. 2.). Leider lässt dieser Verweis die nicht unwesentliche Frage offen, welches nationale Recht für den Ehebegriff maßgeblich ist. Die bisher herrschende Meinung – wenn man von einer solchen bei einem knapp zwei Jahre alten Rechtsakt sprechen kann – versteht diesen Erwägungsgrund als einen Verweis auf die lex fori13, also auf den Ehebegriff des Rechts am angerufenen Gericht. Insbesondere sollen danach Mitgliedstaaten, die keine gleichgeschlechtliche Ehe zulassen, unionsrechtlich nicht verpflichtet sein, die Ehegüterverordnung anzuwenden. Diese Mitgliedstaaten müssen indes solche Ehen wenigstens der Partnerschaftsgüterverordnung unterwerfen14. Deren Legaldefinition der eingetragenen Partnerschaft erfasst, wie eben gesehen, die Ehe, jedenfalls soweit diese zwingend zu registrieren und auf zwei Ehegatten beschränkt ist, und scheidet in systematischer Hinsicht nur Ehen aus, die im betreffenden Forumsmitgliedstaat unter die Ehegüterverordnung fallen15. Diese lex-fori-Qualifikation führt freilich zu Ergebnissen, die einer europäischen Kollisionsrechtsvereinheitlichung recht unwürdig sind, nämlich zu Entscheidungsdisharmonien in eigentlich durch zwei unmittelbar anwendbare Verordnungen harmonisierten Bereichen16: Ein und dieselbe gleichgeschlechtliche Ehe kann je nach Forum innerhalb der Union unter die Ehegüterverordnung oder die Partnerschaftsgüterverordnung fallen, sodass unterschiedliche Kollisionsnormen das anwendbare Güterrecht bestimmen. Auch im Zuständigkeitsrecht drohen Kompetenzkonflikte und Anreize zum forum shopping trotz einheitlicher Zuständigkeitsregeln, die aber in den beiden Verordnungen voneinander abweichen. Es stellt sich bereits die Frage, ob die Litispendenzregeln der Ver-

_____ 13 So etwa Bonomi, in: Dutta/Weber (Hrsg.), Die Europäischen Güterrechtsverordnungen, 2017, S. 123, 130 ff.; Coester-Waltjen, in: Dutta/Weber (Hrsg.), Die Europäischen Güterrechtsverordnungen, 2017, S. 47, 49; Joubert, Rev. crit. d. i. p. 2017, 1, 7; Kohler/Pintens, FamRZ 2016, 1509, 1510; Simotta, ZVglRWiss 116 (2017), 44, 47 (die freilich auf die vom Kollisionsrecht der lex fori bestimmte lex causae abstellen will, dazu sogleich im Text); Weber, DNotZ 2016, 659, 669; so wohl auch Meise, RNotZ 2016, 485, 491. 14 Vgl. auch Martiny, ZfPW 2017, 1, 8, wonach dies gegenüber der Anwendung des autonomen Kollisionsrechts das „geringere Übel“ sei. 15 Vgl. im Ergebnis auch Bonomi, in: Dutta/Weber (Hrsg.), Die Europäischen Güterrechtsverordnungen, 2017, S. 131 und 133 f. 16 Kritisch auch Martiny, ZfPW 2017, 1, 7; Rudolf, ZfRV 2017, 171, 174; Weber, in: Dutta/Weber (Hrsg.), Die Europäischen Güterrechtsverordnungen, 2017, S. 1, 4.

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ordnungen greifen, wenn betreffend dieselbe gleichgeschlechtliche Ehe in einem Mitgliedstaat ein güterrechtliches Verfahren nach der Ehegüterverordnung und in einem anderen Mitliedstaat eines nach der Partnerschaftsgüterverordnung anhängig ist. „Für eine EU-Verordnung ist ein solches Ergebnis unüblich und frustrierend“, resümiert zu Recht Andrea Bonomi17. Eine befriedigende Lösung wäre freilich recht simpel. Sie setzt lediglich voraus, dass man den Verweis in Erwägungsgrund Nr. 17 so auslegt, dass für die Qualifikation eines Paarbeziehungsregimes als Ehe – es handelt sich hierbei nicht um die Vorfrage, ob die Ehe wirksam ist, sondern allein um eine Frage der Qualifikation – aus Sicht aller beteiligten Mitgliedstaaten dasselbe Recht maßgeblich ist. Man könnte für die Qualifikation eines Paarbeziehungsregimes als Ehe etwa auf die Rechtsordnung abstellen, in der dieses Paarbeziehungsregime begründet oder erstmalig registriert wurde18. Labelt der Herkunftsstaat das Paarbeziehungsregime als Ehe, dann ist es auch für Zwecke der Ehegüterverordnung eine Ehe. Die Anwendungsbereiche der Verordnungen würden mithin einheitlich definiert. Zugegebenermaßen ist diese Herkunftsstaatslösung nur zum Teil mit dem Wortlaut des Erwägungsgrunds Nr. 17 zur Ehegüterverordnung vereinbar. Denn nach einer solchen Qualifikationsverweisung19 muss nicht stets das Recht eines an den Verordnungen teilnehmenden Mitgliedstaats maßgeblich sein, sondern es kann sich auch um das Recht eines Drittstaats handeln. Allerdings wird diese gewisse contra-legem-Anrüchigkeit dadurch etwas relativiert, dass wir uns hier ohnehin nur im Bereich der Erwägungsgründe – ja sogar nur im Nebensatz eines Erwägungsgrunds! – bewegen. Auch entspricht die vorgeschlagene Qualifikationsverweisungsnorm – das Abstellen auf das Recht, nach dem das betreffende Paarbeziehungsregime begründet oder erstregistriert wurde – in der Sache der Kollisionsnorm in Art. 26 Abs. 1 EuPartVO, ist damit also keine gänzliche unbekannte Regelung. Allenfalls könnte man gegen diese Lösung historisch argumentieren. Der Hintergrund für die Zurückhaltung des europäischen Gesetzgebers bei der Definition der Ehe ist hinlänglich bekannt. Einige Mitgliedstaaten wollten um jeden Preis verhindern, dass ihre Gerichte gezwungen sind, gleichgeschlechtliche Ehen anzuerkennen20. Allerdings betraf dies vor allem Mitgliedstaaten, die sich später auch nicht an der Verstärkten Zusammenarbeit beteiligt haben. Zudem enthält die Verordnung ohnehin mit der Unzuständigkeitserklärung (Art. 9 EuGüVO) und dem ordre-public-Verstoß (Art. 31 EuGü-

_____ 17 Bonomi, in: Dutta/Weber (Hrsg.), Die Europäischen Güterrechtsverordnungen, 2017, S. 131. 18 Dutta, FamRZ 2016, 1973, 1976; zust. Rudolf, ZfRV 2017, 171, 174; siehe bereits zu den Vorarbeiten Dutta/Wedemann, FS Kaissis, 2012, S. 133, 143 f. 19 Martiny, ZfPW 2017, 1, 7. 20 Serdynska, in: Dutta/Weber (Hrsg.), Die Europäischen Güterrechtsverordnungen, 2017, S. 7, 8.

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VO) hinreichende Mechanismen, um Gerichten mit einer gegenüber gleichgeschlechtlichen Paarbeziehungen restviktiven lex fori einen Ausstieg aus der Ehegüterverordnung zu ermöglichen. Hinzu kommt noch ein weiterer Punkt. Die lex-fori-Lösung wirft alles andere als einfach zu beantwortende Folgefragen auf: nämlich die Frage, wie ein Forumsmitgliedstaat gleichgeschlechtliche Ehen qualifiziert. Zwar könnte nach der lex-fori-Lösung der mitgliedstaatliche Gesetzgeber für Zwecke der Güterrechtsverordnungen, etwa in der Durchführungsgesetzgebung, klarstellen, ob solche Ehen in den sachlichen Anwendungsbereich der Ehegüterverordnung fallen. Fraglich ist aber, was gilt, wenn der mitgliedstaatliche Gesetzgeber schweigt. Dann handelt es sich um eine Qualifikationsfrage, die Praxis und Wissenschaft im jeweiligen Mitgliedstaat überlassen wird. So hat der Bundesgerichtshof bei uns etwa bisher, vor der Öffnung der Ehe, im Ausland geschlossene gleichgeschlechtliche Ehen nicht als Ehen, sondern als eingetragene Partnerschaften behandelt, jedenfalls für Zwecke des deutschen Kollisions- und Namensrechts21. Eine solche Qualifikationsentscheidung wird man nach der lex-fori-Theorie auch auf die Ehegüterverordnung erstrecken müssen22. Mit der Einführung der so genannten „Ehe für alle“ in Deutschland23 ist das Spiel freilich wieder offen. Auf den ersten Blick spricht die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Ehen im deutschen Sachrecht (§ 1353 Abs. 1 Satz 1 BGB) dafür, dass solche Ehen – wenn man der lex-fori-Theorie folgt – auch vor deutschen Gerichten Ehen im Sinne der Ehegüterverordnung sein werden, wie auch der Jubilar betont24. Bei näherem Hinsehen können einem indes durchaus Zweifel an dieser Qualifikation kommen. Denn kollisionsrechtlich wird im EGBGB die gleichgeschlechtliche Ehe gerade nicht der Ehe gleichgestellt, sondern nach dem neuen Art. 17b Abs. 4 EGBGB wie eine eingetragene Lebenspartnerschaft behandelt. Die lex-foriTheorie muss sich also entscheiden, welcher Begriff für den sachlichen Anwendungsbereich der Ehegüterverordnung in der lex fori maßgeblich ist: der sachrechtliche oder der kollisionsrechtliche. Denkbar wäre auch, wie Daphne-Ariane Simotta vorschlägt, auf die nach dem Kollisionsrecht der lex fori maßgebliche lex causae für die Qualifikation des Paarbeziehungsregimes als Ehe abzustellen25.

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21 BGH, FamRZ 2016, 1251, Rn. 34 ff.; BGH, FamRZ 2016, 1761, Rn. 14 f. 22 Vgl. etwa Weber, DNotZ 2016, 659, 669. 23 Gesetz zur Einführung des Rechts auf Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts vom 20.7.2017, BGBl. 2017 I S. 2787. 24 Coester, in: Dutta/Weber (Hrsg.), Die Europäischen Güterrechtsverordnungen, 2017, S. 113, auch in Ehen umgewandelte eingetragene Lebenspartnerschaften sollen der EuGüVO unterliegen. 25 Simotta, ZVglRWiss 116 (2017), 44, 47, argumentiert mit Art. 9 EuGüVO, der für Zwecke der alternativen Zuständigkeiten darauf abstellt, ob der Forummitgliedstaat „nach seinem

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Man könnte aber auch dem Vorschlag von Andrea Bonomi folgen und eine gleichgeschlechtliche Ehe selbst dann als Ehe im Sinne der Verordnung ansehen, wenn das Kollisionsrecht des Forummitgliedstaats diese Ehe in welcher Form auch immer – und sei es auch nur als eingetragene Partnerschaft – anerkennt26. Kurzum: die Möglichkeiten sind vielfältig. Wenn man der lex-foriTheorie folgt, dann sollte man meines Erachtens auf den kollisionsrechtlichen Ehebegriff der lex fori abstellen. Letztendlich entscheidet der Ehebegriff über den Anwendungsbereich der Kollisionsnormen (und des internationalen Verfahrensrechts) der Verordnungen. Es handelt sich damit primär um eine Qualifikationsfrage27, die dann auch dort verortet werden sollte, wo über diese Frage entschieden wird: im internationalen Privatrecht des Forums28. Und schließlich noch ein letzter Punkt: Die ganze Diskussion um das auf den Ehebegriff anwendbare Recht verstellt den Blick auf die Überlegung, in welcher der beiden Verordnungen die gleichgeschlechtliche Ehe in der Sache besser aufgehoben wäre – eine Frage, die, soweit aus den zugänglichen Materialen ersichtlich, auch im Gesetzgebungsprozess nicht vertieft diskutiert wurde29. Auf den ersten Blick scheint es gerade wegen der Herkunftsstaatsanknüpfung in der Partnerschaftsgüterverordnung – eingetragene Partnerschaften unterliegen dort grundsätzlich dem Recht des Staates, nach dem sie begründet wurden, vgl. Art. 26 Abs. 1 EuPartVO – durchaus sinnvoll, ähnlich wie in der Sache nach Art. 17b Abs. 4 EGBGB, die gleichgeschlechtliche Ehe ebenfalls diesem Recht zu unterstellen. Solange nicht alle Rechtsordnungen die Ehe geöffnet haben, wird durch die Herkunftsstaatsanknüpfung sichergestellt, dass ein Recht zur Anwendung kommt, das die gleichgeschlechtliche Ehe kennt. Dieses Argument betrifft aber weniger die güterrechtlichen Folgen der Ehe, die meist geschlechtsneutral sind: Man kann durchaus das Ehegüterrecht eines Staates mit allein

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Internationalen Privatrecht die streitgegenständliche Ehe für die Zwecke eines Verfahrens über den ehelichen Güterstand nicht“ anerkennt. Anders als bei der Qualifikationsfrage des Ehebegriffs geht es indes bei Art. 9 EuGüVO um die Wirksamkeit der Ehe, die nur nach einem Sachrecht beurteilt werden kann, sodass dort der Verweis auf die lex causae verständlich ist. 26 Bonomi, in: Dutta/Weber (Hrsg.), Die Europäischen Güterrechtsverordnungen, 2017, S. 133. 27 Dutta, FamRZ 2016, 1973, 1975 f.; so auch Martiny, ZfPW 2017, 1, 7. 28 Vgl. auch Bonomi, in: Dutta/Weber (Hrsg.), Die Europäischen Güterrechtsverordnungen, 2017, S. 132 f.; anders tendenziell aber Coester-Waltjen, in: Dutta/Weber (Hrsg.), Die Europäischen Güterrechtsverordnungen, 2017, S. 49: e contrario Art. 9 EuGüVO (vgl. auch oben Fn. 25) Sachrecht der lex fori; dieser Umkehrschluss auf das Sachrecht der lex fori ist meines Erachtens nicht zwingend, es wäre auch ein Umkehrschluss auf die Systembegriffe des Kollisionsrechts der lex fori möglich; wohl auch auf das Sachrecht der lex fori abstellen möchte Coester, in: Dutta/Weber (Hrsg.), Die Europäischen Güterrechtsverordnungen, 2017, S. 113. 29 Vgl. allenfalls zu den Überlegungen der belgischen Delegation oben I. 1.

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traditioneller Ehe auf eine gleichgeschlechtliche Ehe anwenden30. Die Situation ist bei der eingetragenen Partnerschaft anders, da hier nicht alle Rechtsordnungen, die dieses Regime kennen, dieses auch ehegleich ausgestalten; teilweise löst die eingetragene Partnerschaft eigenständig definierte güterrechtliche Folgen aus, die meist schwächer als bei der Ehe sind. Es sprechen damit womöglich sogar kollisionsrechtlich die besseren Argumente für eine – idealiter auch unionsweit einheitliche – Verortung der gleichgeschlechtlichen Ehe in der Ehegüterverordnung, die mit ihrer modifizierten Kegel’schen Leiter in Art. 26 Abs. 1 EuGüVO sehr viel mehr nach dem Sitz des Rechtsverhältnisses sucht als die doch sehr willkürliche Herkunftsstaatsanknüpfung.

III. Exkurs: Polygame Ehen An der Annahme des bereits erwähnten Erwägungsgrunds Nr. 17, dass die Ehegüterverordnung keine Anhaltspunkte für die Definition der Ehe enthält, kann indes auch gezweifelt werden, jedenfalls was die Qualifikation polygamer Ehen anbelangt. Zwar handelt es sich bei polygamen Ehen nicht um neue Paarbeziehungsregime, dennoch sollen sie an dieser Stelle kurz gestreift werden. Die Verordnung scheint den Ehebegriff auf die monogame Ehe zu beschränken, da sie immer wieder von „beiden Ehegatten“ spricht, etwa in Art. 6 lit. d, Art. 10 Halbs. 1, Art. 23 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2, Art. 25 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 UAbs. 1, Art. 26 Abs. 1 lit. b, Abs. 3 UAbs. 1 lit. b, Art. 27 lit. a, d, Art. 28 Abs. 1 EuGüVO. Auch die Definition der eingetragenen Partnerschaft (oben I. 1.) beschränkt sich auf monogame Paare. Wenn man allerdings Erwägungsgrund Nr. 17 ernst nimmt, dann handelt es sich hierbei um einen Lapsus des Gesetzgebers, da die Definition des Ehebegriffs dem nationalen Recht obliegen soll31, also nach hier vertretener Ansicht (oben II.) dem Recht, nach dem die Ehe begründet oder erstregistriert wurde. Nach diesem Recht kann eine polygame Ehe durchaus zulässig sein32. Eine solche polygame Ehe muss dann für Zwecke des sachlichen Anwendungsbereichs der EuGüVO als Ehe behandelt werden, es liegen aber womöglich auch

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30 Anders aber offenbar die italienische Ratsdelegation in Ratsdokument Nr. 13698/11 ADD 5, S. 2. – Daher wäre eine güterrechtliche Hilfsanknüpfung von gleichgeschlechtlichen Ehen – also etwa Anknüpfung wie verschiedengeschlechtliche Ehe und hilfsweise (wenn dieses Recht gleichgeschlechtliche Ehen nicht kennt) Anknüpfung an das Begründungsrecht (in diese Richtung aber Arbeitskreis 6 des 21. Deutschen Familiengerichtstags, These 2, veröffentlicht in Brühler Schriften zum Familienrecht 19 [2016], 157) – wohl entbehrlich. 31 So auch Bonomi in: Dutta/Weber (Hrsg.), Die Europäischen Güterrechtsverordnungen, 2017, S. 131. 32 Siehe den Überblick bei Coester/Coester-Waltjen FamRZ 2016, 1618.

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hier die Voraussetzungen für eine Unzuständigkeitserklärung (Art. 9 EuGüVO) oder einen ordre-public-Verstoß (Art. 31 EuGüVO) vor. Wer den Ehebegriff im Rahmen des Erwägungsgrunds Nr. 17 der lex fori unterwerfen möchte, muss dagegen prüfen, ob die polygame Ehe aus Sicht des Forumsstaats eine Ehe darstellt. Die Frage, auf welches Eheverständnis – das sachrechtliche, das kollisionsrechtliche oder dasjenige der lex causae – abzustellen ist (oben II.), stellt sich dann auch hier.

IV. Formalisierte, aber nicht zwingend einzutragende Partnerschaften Auch die Legaldefinition der eingetragenen Partnerschaft in der Partnerschaftsgüterverordnung (oben I. 1.) offenbart bei näherem Hinsehen überraschende Lücken. So werden nämlich einige Paarbeziehungsregime jenseits der Ehe nicht vom sachlichen Anwendungsbereich der Verordnung erfasst. Heraus fallen beispielsweise Partnerschaften, die einen formgebundenen Partnerschaftsvertrag ohne Eintragung in ein Register vorsehen33. Gleiches gilt auch für hybride Systeme, in denen die Eintragung etwa neben dem faktischen Zusammenleben für eine bestimmte Dauer lediglich eine Möglichkeit ist, güterrechtliche Rechtsfolgen zwischen den Partnern auszulösen34. Bei beiden Formen von formalisierten Partnerschaften ist – anders als von der Legaldefinition in der Partnerschaftsgüterverordnung vorausgesetzt – die Eintragung nach den betreffenden rechtlichen Vorschriften nicht verbindlich35. Das Problem muss dem Unionsgesetzgeber bewusst gewesen sein. Die ungarische Delegation hatte im Rat in einem Papier auf Partnerschaften mit lediglich optionaler Eintragung hingewiesen36. Die Sinnhaftigkeit des zwingenden Eintragungserfordernisses leuchtet nicht ein, zumal auch die Partnerschaftsgüterverordnung etwa bei der Bestimmung des Güterstatuts nicht an die Eintragung anknüpft, sondern an das Recht, nach der die Partnerschaft begründet wurde (Art. 26 Abs. 1 EuPartVO). Besser wäre es

_____ 33 So etwa in Alberta (Art. 3 Abs. 1 lit. b Adult Interdependent Relationships Act) oder in Katalonien (Art. 234-1 Codi civil). 34 So etwa in Manitoba (siehe die Definition von „common-law partner“ in Sec. 1 Abs. Family Property Act); vgl. auch Art. 1 Abs. 36, 37 ital. Legge delle unioni civili tra persone dello stesso sesso e disciplina delle convivenze. 35 Großzügiger aber Bonomi, in: Dutta/Weber (Hrsg.), Die Europäischen Güterrechtsverordnungen, 2017, S. 135. 36 Siehe Ratsdokument Nr. 13698/11, S. 2.

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gewesen, sämtliche formalisierte Paarbeziehungsregime neben der Ehe einzubeziehen. Um hier Abgrenzungsschwierigkeiten zu vermeiden und nicht etwa nichteheliche Lebensgemeinschaften mit einem (womöglich auch noch konkludent geschlossenen) Partnerschaftsvertrag einzubeziehen, hätte man beispielsweise auf die Eintragung oder den Abschluss unter förmlicher Mitwirkung eines Amtsträgers abstellen können.

V. Faktische Paarbeziehungen Dagegen fallen unter keine der Verordnungen rein faktische Paarbeziehungen, die nicht zwingend eine Eintragung voraussetzen, auch wenn diese güterrechtliche Folgen auslösen. In den Erwägungsgründen wird diese Zurückhaltung wie folgt begründet: „Auch wenn nicht eingetragene Lebensgemeinschaften in manchen Mitgliedstaaten gesetzlich geregelt sind, sollten sie von eingetragenen Partnerschaften unterschieden werden, die einen offiziellen Charakter aufweisen, der es ermöglicht, sie in einem Rechtsakt der Union zu regeln, der ihren Besonderheiten Rechnung trägt“ (Erwägungsgrund Nr. 16 Satz 2 zur EuPartVO). Es darf freilich bezweifelt werden, ob eine Regelung für faktische Paarbeziehung auf der unionsrechtlichen Ebene wirklich ausgeschlossen ist. Noch im Grünbuch hatte die Europäische Kommission über einen weiteren Anwendungsbereich nachgedacht37 und auch einzelne Delegationen im Rat hatten sich für einen umfassenderen Ansatz ausgesprochen38. Auch zeigt ein Blick in die mitgliedstaatlichen IPRKodifikationen, dass Kollisionsnormen für faktische Paarbeziehungen kein Ding der Unmöglichkeit sind. So knüpft etwa das slowenische IPR-Gesetz von 1999 in seinem Art. 41 die vermögensrechtlichen Wirkungen nichtehelicher Lebensgemeinschaften an das Recht der gemeinsamen Staatsangehörigkeit der Partner und mangels einer solchen an den gemeinsamen Wohnsitz an.

_____ 37 Grünbuch zu den Kollisionsnormen im Güterrecht unter besonderer Berücksichtigung der gerichtlichen Zuständigkeit und der gegenseitigen Anerkennung, KOM (2006) 400 endg. vom 17.7.2006, S. 3: „Um alle vermögensrechtlichen Aspekte des Familienrechts zu erfassen, geht das Grünbuch auf Fragen ein, die sowohl die ehelichen Güterstände berühren als auch die vermögensrechtlichen Wirkungen anderer Formen nichtehelicher Verbindungen, da, wie in allen Mitgliedstaaten festzustellen ist, immer häufiger Paare ohne Trauschein zusammenleben. Um dieser neuen Realität in unserer Gesellschaft Rechnung zu tragen, müssen dem oben genannten Maßnahmenprogramm zufolge auch die vermögensrechtlichen Folgen der Trennung nichtverheirateter Paare behandelt werden, denn schließlich ist der europäische Rechtsraum dafür da, dass er sich der konkreten Bedürfnisse seiner Bürger annimmt“. 38 Siehe etwa die Position der slowakischen Delegation in Ratsdokument 13698/11 ADD 18, S. 2.

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Eine Ausnahme sollte man dagegen machen, wenn ein solches Auffangregime nichteheliche und nichtregistrierte Partner kraft ihrer faktischen Paarbeziehung güterrechtlich weitgehend als Ehegatten behandelt39, wie das in einigen Rechtsordnungen mittlerweile der Fall ist40. Solche Paarbeziehungen sollten für Zwecke der Verordnung als Ehen angesehen werden41. Denn bei einem ehegleichen Auffangregime gilt das bereits zum Ehebegriff Gesagte: Welche Paarbeziehungen unter das eheliche Güterrecht fallen, also für Zwecke des Güterrechts als Ehe anzusehen sind, legt das nationale Recht fest42, also nach der hier vertretenen Ansicht die Rechtsordnung, in welcher das Paarbeziehungsregime rechtlich begründet wurde. Das Begründungskriterium stößt freilich bei faktischen Paarbeziehungen auf Schwierigkeiten. Rechtsfolgen von nichtehelichen Lebensgemeinschaften beruhen nicht auf einem rechtlichen Begründungsakt, der, wie die Eheschließung vor einem Standesbeamten oder die Eintragung in ein Register, einem bestimmten Recht zugeordnet werden kann. Bei nichtehelichen Lebensgemeinschaften wird anders als bei Ehen oder eingetragenen Partnerschaften regelmäßig nicht zwischen Status und Statuswirkungen unterschieden. Die Wirkungsstatute – neben dem Güterstatut etwa das Unterhalts- oder Erbstatut – nehmen, wenn sie an die faktische Paarbeziehung Rechtsfolgen knüpfen, regelmäßig nicht auf eine bestehende Statusbeziehung Bezug, sondern definieren die Rechtsfolgen auslösende Paarbeziehung selbst. Deshalb muss es für eine Anwendung der Ehegüterverordnung ausreichen, dass das Güterstatut die – wie auch immer von diesem Statut definierte – faktische Paarbeziehung güterrechtlich der Ehe gleichstellt43. Anders als bei der Ehe oder der eingetragenen Partnerschaft umfasst das Güterstatut als Wirkungsstatut damit auch die Voraussetzungen für die Entstehung des Paarbeziehungsregimes44.

_____ 39 Anders zum ersten Kommissionsvorschlag Dutta/Wedemann, FS Kaisis, 2012, S. 133, 139. 40 Etwa in Argentinien (Art. 524 ff. Código Civil y Comercial), Australien (Sec. 90RA ff. Familiy Law Act), Brasilien (Art. 1726 Código civil), Irland (Sec. 173 ff. Civil Partnership and Certain Rights and Obligations of Cohabitants Act, vgl. für Ehegatten Sec. 13 ff. Family Law [Divorce] Act), Kroatien (§ 258 Obiteljski zakon), Serbien (Art. 4 Abs. 2 Porodični zakon), Slowenien (Art. 12 Abs. 1 Zakon o zakonski zvezi in družinskih razmerjih) und der Ukraine (Art. 74 Semejnyj kodeks), um nur einige Rechtsordnungen zu nennen. 41 Dutta, FamRZ 2016, 1973, 1976 f.; tendenziell jedenfalls de lege ferenda zustimmend Coester, in: Dutta/Weber (Hrsg.), Die Europäischen Güterrechtsverordnungen, 2017, S. 113. 42 So auch jedenfalls für „informell begründete Ehen“ Bonomi, in: Dutta/Weber (Hrsg.), Die Europäischen Güterrechtsverordnungen, 2017, S. 131. 43 Noch etwas ungenau Dutta, FamRZ 2016, 1973, 1977. 44 Vgl. auch für das Erbstatut Dutta, in: Münchener Kommentar zum BGB, 7. Aufl. 2018, Art. 1 EuErbVO Rn. 15.

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VI. Fazit Die Tatsache, dass die Güterrechtsverordnungen in den Randbereichen der Ehe und der eingetragenen Partnerschaft ungenau geblieben sind, kann nur zu einem gewissen Anteil den Unzulänglichkeiten des Unionsgesetzgebers zugeschrieben werden. Vielmehr haben vor allem die Befindlichkeiten von Mitgliedstaaten, die sich an den Verordnungen gar nicht beteiligen, konkret die Ablehnung gleichgeschlechtlicher Paarbeziehungen, dazu geführt, dass der Gesetzgeber den Ehebegriff nicht angetastet hat. Die Lehre hieraus muss sein, dass künftig in den Fällen der Verstärkten Zusammenarbeit politisch die Bedürfnisse der nicht teilnehmenden Mitgliedstaaten auszublenden sind45. Eigentlich müssen die Verhandlungen des Rechtsakts bei der Verstärkten Zusammenarbeit neu beginnen und dürfen sich nicht darauf beschränken, den zuvor für alle Mitgliedstaaten gescheiterten Entwurfsbestand kritiklos zu übernehmen, wie das bei den Güterrechtsverordnungen geschehen ist. Technisch kritisieren kann man allein die Lücken bei der Definition des Begriffs der eingetragenen Partnerschaft; hier müssen sich vor allem die Vertreter der Mitgliedstaaten im Rat fragen lassen, warum sie nicht darauf gedrungen haben, dass die Partnerschaftsgüterverordnung auch die in ihren Familienrechten vorgesehenen formalisierten Partnerschaften voll erfasst (oben IV.). Aber auch dieses Manko sollte nicht vergessen lassen, dass die Verordnungen jedenfalls für die Mehrzahl der Paare, nämlich verschiedengeschlechtliche Ehegatten, Rechtssicherheit durch einheitliche Kollisions- und Zuständigkeitsnormen in immerhin 18 Mitgliedstaaten schaffen. Vielleicht lösen sich die Probleme aber noch auf einer ganz anderen Ebene auf. Die Frage, ob ein in einem Mitgliedstaat erworbener Status auch in den anderen Mitgliedstaaten kraft Unionsrechts anzuerkennen ist, könnte nicht nur den Namen46, sondern auch die güterrechtlichen Folgen betreffen47. Dann wäre die Qualifikationsverweisung auf das Recht des Herkunftsstaats (oben II.) jedenfalls für innereuropäische Konstellationen unionsrechtlich vorgegeben.

_____ 45 Dutta, Schlusswort, in: Dutta/Weber (Hrsg.), Die Europäischen Güterrechtsverordnungen, 2017, S. 183, 186. 46 EuGH 2.10.2003, Rs. C-148/02 (Carlos Garcia Avello) Slg. 2003, I-11613 = FamRZ 2004, 173; EuGH 14.10.2008, Rs. C-353/06 (Stefan Grunkin und Regina Paul) Slg. 2008, I-7639 = FamRZ 2008, 2089; EuGH 22.12.2010, Rs. C-208/09 (Ilonka Sayn-Wittgenstein) Slg. 2010, I-13693 = FamRZ 2011, 1486; EuGH 2.6.2016, Rs. C-438/14 (Nabiel Peter Bogendorff von Wolffersdorff) FamRZ 2016, 1239; EuGH 8.6.2017, Rs. C-541/15 (Mircea Florian Freitag) FamRZ 2017, 1175. 47 Vgl. auch Bonomi, in: Dutta/Weber (Hrsg.), Die Europäischen Güterrechtsverordnungen, 2017, S. 133.

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Prof. Dr. Katharina Lugani, Düsseldorf

Beiträge der Güterrechtsverordnungen zur Ausbildung allgemeiner Strukturen des EuIPR Beiträge der Güterrechtsverordnungen Katharina Lugani https://doi.org/10.1515/9783110552355-011

I. Einleitung #

Das EuIPR ist ein immer dichter werdendes Netz aus Regelungen, das sich zurzeit im Wesentlichen aus Rom I-VO, Rom II-VO, Rom III-VO, EuErbVO, HUP, EuGüVO und EuPartVO zusammensetzt. In jedem neuen Rechtsakt stellen sich gewisse Fragen in derselben Weise oder in sehr ähnlicher Weise. Dies können Fragen des allgemeinen Teils des IPR sein, aber auch wiederkehrende Entscheidungen bei der Ausgestaltung des besonderen Teils des IPR. Gegenstand der nachfolgenden Betrachtung soll die Frage danach sein, welchen Beitrag die Güterrechtsverordnungen zur Ausbildung allgemeiner Strukturen des EuIPR leisten. Zunächst sollen beispielhaft und kurz einige Regelungen vorgestellt werden, mit denen der bisherige Acquis des EuIPR fortgeschrieben und bestätigt und somit weiter konsolidiert wird (II.). Sodann folgen Beispiele für Neuerungen und Abweichungen vom Acquis (III.). Danach sollen einige Aspekte aufgezeigt werden, in denen die Güterrechtsverordnungen bisherige Defizite des EuIPR fortführen (IV.).

II. Bestätigungen und Verfeinerungen des bisherigen Acquis Ein großer Teil der Regelungen schreibt den bisherigen Acquis fort und bestätigt und konsolidiert Aspekte, in denen sich der Acquis noch in der Entstehung befindet; dabei werden zum Teil Regelungen verfeinert. Als einige Beispiele sind zu nennen: In jedem Instrument des EuIPR gilt der Grundsatz der autonomen

_____ Danksagung: Herrn Duy Tuong Huynh danke ich für seine wertvolle Zuarbeit bei der Erstellung dieses Beitrags. https://doi.org/10.1515/9783110552355-011

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Auslegung1, auch in den Güterrechtsverordnungen2. Er gebietet die Auslegung für jeden Rechtsakt gesondert und gerade nicht die rechtsaktübergreifende Auslegung. Dass das nach dem jeweiligen Instrument bezeichnete Recht auch dann anzuwenden ist, wenn es nicht das Recht eines Mitgliedstaats ist, ist ebenfalls in allen Texten des EuIPR niedergelegt.3 Dieser Grundsatz der universellen Anwendbarkeit zählt zweifellos zum acquis communautaire4, ist aber freilich keine europäische Besonderheit.5 Die Anknüpfung von Vorfragen, beispielsweise nach dem Vorliegen einer wirksamen Ehe/eingetragenen Partnerschaft, hat in den Güterrechtsverordnungen selbständig zu geschehen.6 Dies stellt ErwG 21 EuGüVO (nahezu ebenso ErwG 21 EuPartVO) klar.7 Diese Klarstellung ist inhaltlich und auch wegen der bislang nicht gänzlich einheitlichen Auffassungen und der daraus resultierenden Ungewissheit zu begrüßen.8

_____ 1 Vgl. für die Rom I-VO: Leible, in: Nomos Kommentar zum BGB, 2. Aufl. 2015, Art. 1 Rom I-VO Rn. 5 (bezüglich der Auslegung des Vertragsbegriffs); Martiny, in: Münchener Kommentar zum BGB, 6. Aufl. 2015, Vorb. zu Art. 1 Rom I-VO Rn. 23 ff.; von Hein, in: Rauscher, Kommentar zum EuZPREuIPR, Bd. 3, 4. Aufl. 2016, Einl. Rom I-VO Rn. 54; für die Rom II-VO: Knöfel, in: Nomos Kommentar zum BGB, 2. Aufl. 2015, Art. 1 Rom II-VO Rn. 12 (bezüglich „Zivil- und Handelssachen“); Junker, in: Münchener Kommentar zum BGB, 6. Aufl. 2015, Vorb. zu Art. 1 Rom II-VO Rn. 30 ff.; Unberath/Cziupka, in: Rauscher, Kommentar zum EuZPR-EuIPR, Bd. 3, 4. Aufl. 2016, Einl. Rom II-VO Rn. 22 ff.; für das HUP: Andrae, in: Rauscher, Kommentar zum EuZPR-EuIPR, Bd. 5, 4. Aufl. 2016, Einl. HUP Rn. 16 und Art. 20 HUP Rn. 1; Mankowski, in: Staudinger, Kommentar zum BGB, Neubearb. 2016, Art. 20 HUP Rn. 1; wohl auch Gruber, in: Nomos Kommentar zum BGB, 2. Aufl. 2016, Vor Art. 1 HUP Rn. 13; für die EuErbVO: Dutta, in: Münchener Kommentar zum BGB, 6. Aufl. 2015, Vorb. zu Art. 1 EuErbVO Rn. 11; Looschelders, in: Nomos Kommentar zum BGB, 2. Aufl. 2015, Vor Art. 1 Rn. 18; J. Schmidt, in: Beck-Online Großkommentar, Stand 1.8.2017, Art. 1 EuErbVO Rn. 5; für die Rom III-VO: Gruber, in: Nomos Kommentar zum BGB, 2. Aufl. 2015, Vor Art. 1 Rom III-VO Rn. 26; Helms, in: Rauscher, Kommentar zum EuZPR-EuIPR, Bd. 5, 4. Aufl. 2016, Einl. Rom III-VO, Rn. 18; Gössl, in: Beck-Online Großkommentar, Stand 1.8.2017, Art. 1 Rom III-VO Rn. 17; Hausmann, Internationales und Europäisches Ehescheidungsrecht, 1. Aufl. 2013, Vorb. Rom III-VO, Rn. A 223. 2 Weber, DNotZ 2016, 659, 660 f.; Dutta, FamRZ 2016, 1973. 3 Art. 20 mit ErwG 44 EuGüVO, Art. 20 mit ErwG 43 EuPartVO, Art. 20 EuErbVO, Art. 4 Rom IIIVO, Art. 2 HUP, Art. 2 Rom I-VO, Art. 3 Rom II-VO. 4 Weber, DNotZ 2016, 659, 662; Coester-Waltjen, in: Dutta/Weber (Hrsg.), Die Europäischen Güterrechtsverordnungen, 2017, S. 50 Rn. 8. 5 Vgl. z.B. Art. 2 HUP, Art. 6 HTFÜ, Art. 20 KSÜ, Art. 9 Übereinkommen vom 5.7.2006 über die auf bestimmte Rechte an intermediärverwahrten Wertpapieren anzuwendende Rechtsordnung. 6 Weber, DNotZ 2016, 659, 666. 7 „Diese Verordnung sollte nicht für andere Vorfragen wie das Bestehen, die Gültigkeit oder die Anerkennung einer Ehe gelten, die weiterhin dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten, einschließlich ihrer Vorschriften des Internationalen Privatrechts, unterliegen“. 8 HUP: Mankowski, in: Staudinger, Kommentar zum BGB, Neubearb. 2016, Vorb. HUP, Rn. 41 f.; Gruber, in: Nomos Kommentar zum BGB, 2. Aufl. 2015, Art. 1 HUP Rn. 35 f.; Andrae, in: Rauscher,

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In der objektiven Anknüpfung hat die Güterrechtsverordnung einen Wechsel vom Staatsangehörigkeits- zum Aufenthaltsprinzip mit sich gebracht9 nachdem ebendies zuvor im Scheidungs- und Erbrecht geschehen war.10 Der dabei verwendete Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts ergänzt das Konzept um eine weitere Nuance. Zwar etablieren die Güterrechtsverordnungen keinen ganz eigenen Aufenthaltsbegriff, wie es die ErwG 23, 24 EuErbVO mit ihrem Beharren auf einer besonders engen Verbindung tun. Die EuGüVO fordert jedoch eine „wirkliche Verbindung“11. Nach der gebotenen rechtsaktbezogenen Auslegung des Begriffs12 ist hier wegen des Zwecks der Verordnungen – Festlegung des Schwerpunkts der ehelichen/partnerschaftlichen Vermögensverhältnisse – ein Bezug zum jeweiligen Ort von gewisser, nicht unerheblicher Festigkeit zu fordern. Der Bezug sollte jedenfalls fester sein als für die Zwecke des HUP, der Rom I- und der Rom II-Verordnung, doch weniger fest als für die Zwecke der EuErbVO.13 Der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts ist aufgrund seiner zunehmenden Nuanciertheit mit nicht unerheblichen Unsicherheiten belastet. Dies ist bedauerlich, erscheint aber unvermeidbar aufgrund der unterschiedlichen Kontexte und Funktionen des Einsatzes des Aufenthaltsbegriffs. Die EuGüVO/EuPartVO enthalten, wie ihre Vorgänger, zahlreiche Konkretisierungen des gewöhnlichen Aufenthalts: Es finden sich insbesondere der gemeinsame gewöhnliche Aufenthalt der Ehegatten14 (dessen Voraussetzungen auch bei Ge-

_____ Kommentar zum EuZPR-EuIPR, Bd. 5, 4. Aufl. 2016, Art. 1 HUP Rn. 17; Lehmann, GPR 2014, 342, 350 f.; a.A Thorn, in: Palandt, Kommentar zum BGB, 76. Aufl. 2017, Art. 1 HUP Rn. 9; unklar Hausmann, Internationales und Europäisches Ehescheidungsrecht, 1. Aufl. 2013, Art. 1 HUP, Rn. C 482 ff.; EuErbVO: soweit ersichtlich äußern sich die Kommentatoren nicht zur (selbstständigen) Vorfragenanknüpfung; befürwortet wird eine unselbstständige Anknüpfung im Hinblick auf die Funktionsfähigkeit des Europäischen Nachlasszeugnisses (Dörner, ZEV 2012, 505, 512 f.; Dutta, FamRZ 2013, 3, 14 f.); Rom III-VO: Gruber, in: Nomos Kommentar zum BGB, 2. Aufl. 2015, Vor Art. 1 Rom III-VO Rn. 72 f.; Hausmann, Internationales und Europäisches Ehescheidungsrecht, 1. Aufl. 2013, Art. 1 Rom III-VO, Rn. A 254. 9 Vgl. jetzt Art. 26 I lit. a EuGüVO – erster gemeinsamer gA; zuvor Art. 15 I i.V.m. 14 I EGBGB gemeinsame Staatsangehörigkeit bei Eheschließung. 10 Vgl. Art. 17 I EGBGB a.F. i.V.m. Art. 14 I Nr. 1 EGBGB im Vergleich zu Art. 8 lit. a Rom III-VO; vgl. ebenfalls Art. 25 EGBGB a.F. im Vergleich mit Art. 21 I EuErbVO. Siehe auch Weber, in: Dutta/Weber (Hrsg.), Die Europäischen Güterrechtsverordnungen, 2017, S. 3. 11 ErwG 35 S. 2 EuGüVO; engl. „genuine connecting factor“, fr. „lien de rattachment réel“. 12 Coester-Waltjen, in: Dutta/Weber (Hrsg.), Die Europäische Güterrechtsverordnung, 2017, S. 52 Rn. 20; Hilbig-Lugani, GPR 2014, 8, 14; evtl. ebenso Helms, FS Pintens, 2012, S. 681, 689. 13 Weber, DNotZ 2016, 659, 670 (mit Nennung des Unterhaltsrechts, ohne Nennung des Erbrechts). 14 Vgl. Art. 26 I lit. a EuGüVO und ErwG 49 S. 2 und 35 S. 1; so schon Art. 8 lit. a Rom III-VO.

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trenntleben innerhalb derselben Rechtsordnung erfüllt sind15), der gewöhnliche Aufenthalt seit mindestens einem Jahr unmittelbar vor Antragstellung16, der gewöhnliche Aufenthalt seit mindestens sechs Monaten vor Antragstellung17 sowie der letzte gemeinsame und einseitig beibehaltene gewöhnliche Aufenthalt18. Art. 21 EuGüVO und Art. 21 EuPartVO sehen den Grundsatz der Einheit des anzuwendenden Rechts vor19, ebenso wie Art. 23 Abs. 1 EuErbVO. Aus deutscher Perspektive fällt insbesondere die Möglichkeit des Art. 15 Abs. 2 Nr. 3 EGBGB weg, das Belegenheitsrecht als Güterstatut für Immobilien zu bestimmen.20 Der Grundsatz der Einheit des anzuwendenden Rechts erfährt Einschränkungen durch den ordre public-Vorbehalt, die Öffnung für bestimmte Eingriffsnormen (Art. 30 EuGüVO), den Schutz Dritter (Art. 28 EuGüVO), die ehevertragliche Sonderanknüpfung (Art. 25 EuGüVO) und mittelbar über verfahrensrechtliche Beschränkungen des Streitgegenstandes um oder auf bestimmte Vermögenswerte (Art. 13 EuGÜVO).21 Bei der Behandlung von Mehrstaatern bestätigen die Güterrechtsverordnungen zunächst zur objektiven Anknüpfung das bislang Etablierte: Wie Mehrstaater zu behandeln sind, richtet sich nach nationalem Recht unter Beachtung der allgemeinen Grundsätze der EU, in den Güterrechtsverordnungen ebenso wie in der Rom III-VO und der EuErbVO.22 Somit ist nach wohl h.M. der Vorrang der effektiven Staatsangehörigkeit nach Art. 5 Abs. 1 S. 1 EGBGB anwendbar, wegen Art. 18 AEUV hingegen nicht (zumindest nicht gegenüber EU-Mitgliedstaaten) der Vorrang der deutschen Staatsangehörigkeit nach Art. 5 Abs. 1 S. 2 EGBGB.23 Indes bringen die Güterrechtsverordnungen für die subjek-

_____ 15 Coester-Waltjen, in: Dutta/Weber (Hrsg.), Die Europäischen Güterrechtsverordnungen, 2017, S. 52 Rn. 21; Weber, DNotZ 2016, 659, 670 f. 16 Art. 5 II lit. a EuGÜVO i.V.m. Art. 3 I lit. a Spstr. 5 Brüssel IIa-VO. 17 Art. 5 II lit. b EuGÜVO i.V.m. Art. 3 I lit. a Spstr. 6 Brüssel IIa-VO. 18 Art. 6 lit. b EuGüVO. 19 Näher Coester-Waltjen, in: Dutta/Weber (Hrsg.), Die Europäischen Güterrechtsverordnungen, S. 50 Rn. 13. 20 Vgl. Döbereiner, in: Dutta/Weber (Hrsg.), Die Europäischen Güterrechtsverordnungen, 2017, S. 64 Rn. 3. 21 Näher Coester-Waltjen, in: Dutta/Weber (Hrsg.), Die Europäischen Güterrechtsverordnungen, 2017, S. 58 ff. Rn. 42 ff. 22 So ErwG 22 Rom III-VO; ErwG 50 EuGÜVO + S. 2; ErwG 49 EuPartVO + S. 2; ErwG 41 S. 2 EuErbVO. 23 Für die EuGüVO: Weber, DNotZ 2016, 659, 673; Coester-Waltjen, in: Dutta/Weber (Hrsg.), Die Europäischen Güterrechtsverordnungen, 2017, S. 53 Rn. 26; Döbereiner, in Dutta/Weber (Hrsg.), Die Europäischen Güterrechtsverordnungen, 2017, S. 67 Rn. 15; für die Rom III-VO: Hilbig-Lugani, in Nomos Kommentar, 2. Aufl. 2015, Art. 8 Rom III-VO Rn. 19a und 19b.

Beiträge der Güterrechtsverordnungen | 171

tive Anknüpfung eine wichtige ergänzende Klarstellung in ErwG 50 S. 2 EuGüVO/ErwG 49 S. 2 EuPartVO: „Diese Behandlung sollte keine Auswirkung auf die Gültigkeit einer Rechtswahl haben, die nach dieser Verordnung getroffen wurde.“ Dies bedeutet, dass bei der subjektiven Anknüpfung aus deutscher Perspektive der Vorrang der effektiven Staatsangehörigkeit nicht gilt, so dass hier jede Staatsangehörigkeit wählbar sein soll.24 Dies war zwar bislang ebenso für die Rom III-VO vertreten worden, doch eben nur als Literaturmeinung und ohne textliche Anhaltspunkte, begründet nur mit den Zwecken der Rechtswahl. Daher ist die neue Klarstellung sehr zu begrüßen und sollte fürderhin in den Kanon der allgemeinen Prinzipien aufgenommen werden. Die Güterrechtsverordnungen öffnen sich für parteiautonome Gestaltungen. Im Güterrecht sind die umfassenden Rechtswahlmöglichkeiten keine ganz so große Neuerung wie sie es im Scheidungs- und Erbrecht waren, dennoch handelt es sich freilich um eine Fortschreibung der wichtigen Rolle der Parteiautonomie im EuIPR. Bei der Form der Rechtswahlvereinbarung folgen die Güterrechtsverordnungen in vielen wichtigen Punkten der Rom III-VO.25 Wenn die Formanforderung tatsächlich gewährleisten soll, dass die Ehegatten die Rechtswahl „in voller Sachkenntnis“ treffen und „sich … der Tragweite ihrer Rechtswahl bewusst sind“26, müssen sie streng ausgelegt werden,27 ebenso verhält es sich wegen der insoweit gleichlautenden Passagen in den Erwägungsgründen28 auch schon in der Rom III-VO.29 Die sekundärrechtlich normierte Minimalform bei der Rechtswahlvereinbarung, die in Art. 23 Abs. 1 EuGüVO/ EuPartVO vorgesehen ist, entspricht der von Art. 7 Abs. 1 Rom III-VO. Auch Art. 8 Abs. 2 HUP ist sehr ähnlich gefasst. Ihnen ist gemein, dass Schriftform, Datierung und Unterschrift gefordert werden. Indes wird für das HUP eine einheitliche Urkunde gefordert30, bei den genuin unionalen Rechtsakten hingegen genügen getrennte, hinreichend klar korrespondierende Schriftstücke (etwa Te-

_____ 24 Vgl. nur Dutta, FamRZ 2016, 1973, 1980; Weber, DNotZ 2016, 659, 678. 25 Döbereiner, in: Dutta/Weber (Hrsg.), Die Europäischen Güterrechtsverordnungen, 2017, S. 68 Rn. 18. 26 So die Forderungen in ErwG 47 S. 1 und 2 EuGüVO/ErwG 46 S. 1 und 2 EuPartVO. 27 So Döbereiner, in: Dutta/Weber (Hrsg.), Die Europäischen Güterrechtsverordnungen, 2017, S. 68 Rn. 18. 28 ErwG 19 S. 1 und 2 Rom III-VO. 29 Hilbig-Lugani, in: Nomos Kommentar zum BGB, 2. Aufl. 2015, Art. 7 Rom III-VO Rn. 4, zust. Döbereiner, in: Dutta/Weber (Hrsg.), Die Europäischen Güterrechtsverordnungen, 2017, S. 68 Rn. 18. 30 Andrae, in: Rauscher, Kommentar zum EuZPR-EuIPR, Bd. 5, 4. Aufl. 2016, Art. 8 HUP Rn. 16; Mankowski, in: Staudinger, Kommentar zum BGB, Neubearb. 2016, Art. 8 HUP Rn. 21; Ludwig, in: jurisPK-BGB, Art. 8. HUP Rn. 25.

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lefaxe, Briefe, E-Mails).31 Art. 23 Abs. 2–4 EuGüVO/EuPartVO öffnen sich nach dem Vorbild von Art. 7 Abs. 2–4 Rom III-VO für strengere Formanforderungen der Mitgliedstaaten; für das HUP hingegen ist man aufgrund seiner Entstehungsgeschichte der Ansicht, dass Art. 8 Abs. 2 HUP eine abschließende Regelung der Form enthält und ergänzende, strengere Formvorschriften der Vertragsstaaten unzulässig wären.32 Für das auf Zustandekommen und Wirksamkeit der Rechtswahl anwendbare Recht enthalten alle Verordnungen die als Münchhausen-Prinzip bekannte Regel, wonach das Zustandekommen und die Wirksamkeit einer Rechtswahlvereinbarung sich nach dem Recht bestimmen, das anzuwenden wäre, wenn die Vereinbarung wirksam wäre.33, 34 Art. 8 HUP enthält keine Regelung hierzu. Doch man ist sich einig, dass das Münchhausen-Prinzip als ubiquitärer Grundsatz auch für das Unterhaltsrecht gelten soll.35 Auch hinsichtlich des Zeitpunkts der Rechtswahlvereinbarung verfestigen die Güterrechtsverordnungen die Entwicklung bisheriger EuIPR. Gemäß Art. 22 Abs. 1 EuGüVO steht die Rechtswahlmöglichkeit „Ehegatten oder künftigen Ehegatten“ offen und ErwG 45 S. 2 erläutert, dass die Wahl „jederzeit vor der Ehe, zum Zeitpunkt der Eheschließung oder während der Ehe erfolgen“ kann.36 Mithin ist auch eine Rechtswahl lange vor Eheschließung denkbar (wenngleich wohl praktisch sehr selten).37 Das HUP erlaubt die Rechtswahl „jederzeit“

_____

31 So auch Mörsdorf-Schulte, RabelsZ 77 2013, 786, 817. Siehe für Art. 23 EuGVVO und Art. 17 EuGVÜ; Geimer, in: Schütze/Geimer, EuZVR, 3. Aufl. 2010, Art. 23 EuGVVO Rn. 104 f.; Gottwald, in: Münchener Kommentar zur ZPO, 5. Aufl. 2017, Art. 23 EuGVVO Rn. 24; Kropholler/v. Hein, EuZPR, 9. Aufl. 2011, Art. 23 EuGVO Rn. 33; Mankowski, in: Rauscher, Kommentar zum EuZPREuIPR, Bd. 1, 4. Aufl. 2015, Art. 23 Brüssel I‑VO Rn. 15a. 32 Im vorläufigen Bonomi-Bericht war von der Öffnungsklausel für beide Rechtswahlarten die Rede, im endgültigen Bonomi-Bericht findet sich dies nur noch nur für Art. 7 HUP, nicht mehr für Art. 8 Abs. 2 HUP – so und näher Andrae, in: Rauscher, Kommentar zum EuZPR-EuIPR, Bd. 5, 4. Aufl. 2016, Art. 8 HUP Rn. 16. Für einen abschließenden Charakter auch Mankowski, in: Staudinger, Kommentar zum BGB, Neubearb. 2016, Art. 8 HUP Rn. 20. 33 Art. 24 Abs. 1 EuGüVO; Art. 6 Abs. 1 Rom III-VO; Art. 3 Abs. 5 i.V.m. 10 Abs. 1 Rom I-VO; Art. 27 Abs. 4 i.V.m. Art. 31 a.F. EGBGB und Art. 3 Abs. 4 i.V.m. Art. 8 EVÜ; Art. 22 Abs. 3 EuErbVO. 34 Zur Einrede fehlender Zustimmung siehe unten. 35 Bonomi-Bericht Rn. 152; Andrae, in: Rauscher, Kommentar zum EuZPR-EuIPR, Bd. 5, 4. Aufl. 2016, Art. 8 HUP Rn. 5; Hausmann, Internationales und Europäisches Ehescheidungsrecht, 1. Aufl. 2013, Art. 8 HUP, Rn. C 571; Bach, in: Nomos Kommentar zum BGB, Bd. 6, 2. Aufl. 2015, Art. 8 HUP Rn. 23; Mankowski, in: Staudinger, Kommentar zum BGB, Neubearb. 2016, Art. 8 Rn. 14; Lipp, Parteiautonomie im internationalen Unterhaltsrecht, FS Pintens, 2012, S. 847, 857. 36 Vgl. auch Döbereiner, in: Dutta/Weber (Hrsg.), Die Europäischen Güterrechtsverordnungen, 2017, S. 65 Rn. 5. 37 Döbereiner, in: Dutta/Weber (Hrsg.), Die Europäischen Güterrechtsverordnungen, 2017, S. 66 Rn. 9.

Beiträge der Güterrechtsverordnungen | 173

(Art. 8 Abs. 1 HUP), spricht aber von der berechtigten und der verpflichteten Person, scheint also vorauszusetzen, dass das Unterhaltspflichten generierende familienrechtliche Verhältnis bereits begründet wurde. Doch aus pragmatischen Gründen möchte die Literatur die Rechtwahl bereits vor Eheschließung erlauben.38 Auch in der Rom III-VO ist noch immer nicht gänzlich klar, wann die Scheidungsrechtswahl erfolgen kann. Es ist nicht von „jederzeit“, aber von „Ehegatten“ die Rede. Problematisch ist daher, ob eine voreheliche Scheidungsrechtswahl möglich ist. Eine deutliche h.M. spricht sich dafür aus.39 Die EuGüVO bestätigt erfreulicherweise gleichsam diese Auslegung der Rom III-VO. Denn das Gefährdungspotential einer vorehelich geschlossenen Rechtswahlvereinbarung ist beim Scheidungsrecht jedenfalls nicht größer als bei einer Güterrechtsrechtswahl. Hinzu kommt, dass Erwägungsgrund 19 der Rom III-VO explizit davon ausgeht, dass Rechtswahlvereinbarungen in einem „Ehevertrag“40 getroffen werden.41 Hinsichtlich des Zeitpunkts der Wirkungen der Rechtswahl regeln die Güterrechtsverordnungen (Art. 22 Abs. 2, 3 EuGüVO/EuPartVO), dass die Rechtswahl durchaus Rückwirkung haben kann, wenn die Ehegatten oder Partner dies vereinbaren und soweit der Drittschutz nicht beeinträchtigt ist. Zu welchem Zeitpunkt die Rechtswahl zurückwirkt, kann von den Ehegatten/Partnern frei vereinbart werden.42 Die bisherigen Texte hatten diesen Punkt nicht explizit angesprochen. Es spricht viel dafür, bzw. nichts dagegen, auch einer Unterhaltsund Scheidungsrechtswahl Rückwirkung zuzusprechen, sofern dies von den Ehegatten gewollt ist.43 Auch für die Rom I-VO wird Entsprechendes vertreten.44 Den Güterrechtsverordnungen kommt somit das Verdienst zu, die Frage des

_____ 38 Siehe Andrae, in: Rauscher, Kommentar zum EuZPR-EuIPR, Bd. 5, 4. Aufl. 2016, Art. 8 HUP Rn. 3. 39 Ludwig, in: jurisPK-BGB, Bd. 6, 8. Aufl. 2017, Art. 5 Rom III-VO Rn. 17; Hilbig-Lugani, in: Nomos Kommentar zum BGB, Bd. 6, 2. Aufl. 2015, Art. 5 Rom III-VO Rn. 51; Helms, in: Rauscher, Kommentar zum EuZPR-EuIPR, Bd. 5, 4. Aufl. 2016, Art. 5 Rom III-VO Rn. 49; Hausmann, Internationales und Europäisches Ehescheidungsrecht, 1. Aufl. 2013, Rn. A 286; Hohloch, in: Erman Kommentar zum BGB, 15. Aufl. 2017, Art. 5 Rom III-VO Rn. 10; Mörsdorf-Schulte, RabelsZ 77 2013, 786, 811; Schall/Weber, IPRax 2014, 381, 383. 40 En. „marriage contract“, fr. „contrat de mariage“, sp. „contrato de matrimonio“, it. „contratto di matrimonio“, port. „contrato de casamento“, schw. „äktenskapsförord“. 41 Hierauf weisen Schall/Weber, IPRax 2014, 381, 383 hin. 42 Döbereiner, in: Dutta/Weber (Hrsg.), Die Europäischen Güterrechtsverordnungen, 2017, S. 80 f. Rn. 61. 43 So auch Bach, in: Nomos Kommentar zum BGB, Bd. 6, 2. Aufl. 2015, Art. 8 HUP Rn. 32. 44 von Hein, in: Rauscher, Kommentar zum EuZPR-EuIPR, Bd. 3, 4. Aufl. 2016, Art. 3 Rom I-VO Rn. 95.

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Zeitpunkts der Wirkungen der Rechtswahl aus einer wenig beachteten Grauzone hervorgeholt und klar geregelt zu haben. Die Güterrechtsverordnungen kennen einen allgemeinen ordre public-Vorbehalt, ebenso wie alle anderen EuIPR-Instrumente.45 Einen speziellen ordre public-Vorbehalt, wie ihn Art. 10 Rom III-VO enthält, kennen die Güterrechtsverordnungen nicht. Beim Umgang mit Eingriffsnormen zeichnen die Güterrechtsverordnungen das bislang schon recht bunte Bild weiter fort. Das HUP und die Rom III-VO enthalten keine Privilegierung von lex causae-fremden Eingriffsnormen. Die Rom I-VO erlaubt die Anwendung von Eingriffsnormen der lex fori und gestattet unter bestimmten Umständen die Berücksichtigung von Eingriffsnormen des Erfüllungsortes.46 Die Rom II-VO erlaubt die Anwendung von Eingriffsnormen der lex fori.47 Die EuErbVO erlaubt die Anwendung einer ganz bestimmten Kategorie von Eingriffsnormen des Belegenheitsrechts.48 Und die EuGüVO schließlich gestattet, wie die Rom II-VO, die Anwendung von Eingriffsnormen der lex fori49, wie es z.B. bei Normen zum Schutz der Familienwohnung der Fall sein kann50, im deutschen Recht etwa nach §§ 1568a, 1568b BGB.51 Zu Recht ist eine zurückhaltende Anwendung von Art. 30 EuGüVO angemahnt worden, weil die Regelung die Einheitlichkeit der Entscheidungen in den teilnehmenden Mitgliedstaaten beeinträchtigt.52

III. Neuerungen und Abweichungen vom Acquis Außen vor sollen diejenigen Regelungen bleiben, die gänzlich den besonderen inhaltlichen Anforderungen des Güterrechts geschuldet sind und die höchst-

_____ 45 Art. 13 HUP, Art. 12 Rom III-VO, Art. 31 EuGüVO, Art. 31 EuPartVO, Art. 35 EuErbVO, Art. 21 Rom I-VO, Art. 26 Rom II-VO. 46 Art. 9 Rom I-VO. 47 Art. 16 Rom II-VO. 48 Sonderregeln des Belegenheitsrechts für bestimmte Vermögensgegenstände, z.B. die HöfeO, vgl. Art. 30 EuErbVO. 49 Art. 30 EuGüVO. 50 ErwG 53 Satz 2. 51 Näher und zu Recht kritisch Rupp, GPR 2016, 293, 298; Kroll-Ludwigs, GPR 2016, 231, 238; Coester-Waltjen, in: Dutta/Weber (Hrsg.), Die Europäischen Güterrechtsverordnungen, 2017, S. 59 Rn. 43. 52 Coester-Waltjen, in: Dutta/Weber (Hrsg.), Die Europäischen Güterrechtsverordnungen, 2017, S. 59 Rn. 43.

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wahrscheinlich keinen Modellcharakter für künftige Regelungen entfalten können.53

1. Verweis an Mitgliedstaaten für zentrale Elemente des sachlichen Anwendungsbereichs In den Güterrechtsverordnungen erfolgt für die Konzepte Ehe54 und eingetragene Partnerschaft55 keine eigenständige Bestimmung des sachlichen Anwendungsbereichs, sondern nur ein Verweis auf die Rechte der Mitgliedstaaten.56 Offen ist, auf welches nationale Recht für den Ehebegriff abzustellen ist. Einerseits denkbar ist die lex fori.57 Andererseits denkbar ist die Rechtsordnung, in der die Paarbeziehung begründet oder (erst-)registriert worden ist.58 Jedenfalls gibt der europäische Gesetzgeber hier eine zentrale Entscheidung aus der Hand und an die Mitgliedstaaten. Es ist zu hoffen, dass dieses Beispiel in Zukunft keine Schule macht.

2. Keine Vorwirkung der Vorschriften über Rechtswahlvereinbarungen Eine Rechtswahl in nach Erbrechts- und Rom III-Verordnung zu beurteilenden Erb- und Scheidungssachen kann bereits vor der Schaffung und vor Inkrafttreten der einschlägigen Instrumente getroffen worden sein, dies legen die Verordnungen explizit nieder.59 Hingegen ist der absolut früheste Zeitpunkt für eine

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53 Außen vor bleibt daher beispielsweise die neuartige komplexe Ausweichklausel des Art. 26 Abs. 3 EuGüVO als solche, ebenso das Konzept der bestätigenden Gerichtsstandsvereinbarung gem. Art. 5 Abs. 2 EuGüVO und der alternativen Zuständigkeit gem. Art. 9 EuPartVO. 54 ErwG 17 und allg. M., vgl. nur Kohler/Pintens, FamRZ 2016, 1509, 1510; Weber, DNotZ 2016, 659, 669; Dutta, FamRZ 2016, 1793, 1796. 55 Kohler/Pintens, FamRZ 2016, 1509, 1512. 56 Gemäß ErwG 17 EuGüVO wird der Begriff Ehe „in dieser Verordnung nicht definiert“ und bestimmt „sich nach dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten“. 57 So Kohler/Pintens, FamRZ 2016, 1509, 1510; Weber, DNotZ 2016, 659, 669; Coester-Waltjen, in: Dutta/Weber (Hrsg.), Die Europäischen Güterrechtsverordnungen, 2017, S. 49 Rn. 6. 58 So Dutta/Wedemann, Die Europäisierung des internationalen Zuständigkeitsrechts in Gütersachen – Notizen zu den Verordnungsvorschlägen der Europäischen Kommission zum Ehegüterrecht eingetragener Partnerschaften, FS Kaissis, 2012, S. 133, 143 f.; Dutta, FamRZ 2016, 1793, 1796 hält die Formulierung in ErwG 17 für lediglich eine „Andeutung“. 59 Die Rom III-VO erlaubt in Art. 18 Abs. 1 S. 2 Rom III-VO Rechtswahlvereinbarungen, die vor der Anwendbarkeit der Rom III-VO geschlossen wurden, ebenso die EuErbVO in ihrem Art. 83

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Rechtswahl im Güterrecht nach der EuGüVO/EuPartVO der 29.1.2019.60 Dies folgt aus Art. 69 Abs. 3 S. 1 EuGüVO.61 Überzeugend ist dies aus meiner Sicht nicht. Eine solche Vorwirkung hätte zu einer deutlichen Reduktion der nach autonomem Recht zu behandelnden Fälle, die uns noch viele Jahrzehnte begleiten werden, zur Folge gehabt. Freilich ist eine allzu großzügige Deutung alter Vereinbarungen als Rechtswahlen, wie es in der Rom III-VO zum Teil schon geschehen ist, unschön. Diesem Problem ist indes über eine strenge Handhabung des Rechtswahlwillens viel besser beizukommen als mit einer pauschalen Untersagung der Vorwirkung.

3. Kopplung der mitgliedstaatlichen Formvorschriften für die Rechtswahl an anderen Vereinbarungstypus, Art. 23 Abs. 2–4 i.V.m. Art. 25 EuGüVO Neu ist die Vorgehensweise der Güterrechtsverordnungen, für die Form von Rechtswahlvereinbarungen auf die mitgliedstaatlichen Formanforderungen für Vereinbarungen über den Güterstand zu verweisen62 und nicht auf eigens für die Rechtswahlvereinbarungen geschaffene Formvorschriften.63 Die maßgeblichen mitgliedstaatlichen Formvorschriften für die Rechtswahl sind somit nicht spezifisch für die Rechtswahl geschaffene Formvorschriften, sondern die (präexistenten) Formvorschriften für Vereinbarungen über den ehelichen Güterstand. Die in den teilnehmenden Mitgliedstaaten dafür vorgesehenen Formanforderungen sind streng. Sehr weit verbreitet ist die notarielle Beurkundung oder Beglaubigung, zum Teil werden die Hinzuziehung von Zeugen, die Regist-

_____ Abs. 2 EuErbVO; das HUP sieht keine Vorwirkung der Vorschriften über Rechtswahlvereinbarungen vor. 60 Vgl. auch Döbereiner, in: Dutta/Weber (Hrsg.), Die Europäischen Güterrechtsverordnungen, 2017, S. 65 Rn. 4. 61 Die Rechtswahl zugunsten deutschen Rechts bereits heute zu treffen und unter die aufschiebende Bedingung (§ 158 Abs. 1 BGB) zu stellen, dass sie erst ab dem 29.1.2019 gelten soll, dürfte wegen Verstoßes gegen die sekundärrechtlichen Wertungen unzulässig sein. Zwar gehören aufschiebende und auflösende Bedingungen und Befristungen zum Zustandekommen der Rechtswahlvereinbarung, das sich grundsätzlich nach dem Wirksamkeitsstatut, mithin nach dem gewählten Recht, richtet. Doch darf hier davon ausgegangen werden, dass der Verordnungsgeber eine frühere Rechtswahl unterbinden wollte und es somit den sekundärrechtlichen Vorgaben nicht genügen würde, wenn die Rechtswahl aus formal-rechtlicher Perspektive erst am 29.1.2019 zustande käme, tatsächlich aber schon früher erfolgte. 62 Art. 23 Abs. 2–4 i.V.m. Art. 25 EuGüVO. 63 Vgl. für die Rom III-VO Art. 46d EGBGB mit Art. 7 Rom III-VO.

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rierung oder Veröffentlichung gefordert, einfache Schriftform ist sehr selten.64 Eine derartige Kopplung ist bislang nur in der EuErbVO vorgesehen65, nicht in der Rom I-VO, der Rom II-VO, der Rom III-VO oder dem HUP. Die EuErbVO ist insoweit atypisch, als es hier nicht um den Ausgleich kollidierender Interessen und das Zusammenwirken von zwei Personen geht. Die automatische Kopplung von Form des materiell-rechtlichen Vertrages und der kollisionsrechtlichen Rechtswahl erscheint nicht ideal. Es kommt zu einem inhaltlich nicht überzeugenden Gefälle zwischen schwacher unionaler Form und sehr strenger mitgliedstaatlicher Form (dieses Gefälle entsteht in der Erbrechtsverordnung nicht). Den Mitgliedstaaten wird ihr Spielraum zur Gestaltung der Form genommen. Die Zwecke der Formvorschriften für materiell- und kollisionsrechtliche Vereinbarung können divergieren. Die Kopplung kann auch nicht dadurch gerechtfertigt werden, dass sie zu einem Gleichlauf von für den Ehevertrag zu beachtender und für die Rechtswahl zu beachtender Form führe.66 Denn Art. 25 Abs. 3 EuGüVO regelt abweichend von Art. 23 EuGüVO, dass, wenn das auf den ehelichen Güterstand anzuwendende Recht zusätzlich Formvorschriften vorsieht, diese Formvorschriften zu beachten sind.

4. Neue Ausformungen des gewöhnlichen Aufenthalts Die immer vielfältigere Familie der verschiedenen Konkretisierungen des gewöhnlichen Aufenthalts wird bereichert um neue Typen. Der erste Typ ist der erste gemeinsame gewöhnliche Aufenthalt nach Eheschließung (Art. 26 Abs. 1 lit. a EuGüVO) bzw. „kurz nach der Eheschließung“67 (ErwG 49 S. 2 EuGüVO). Was noch „kurz nach“ ist, ist nicht einfach zu beantworten. Zur Zeit werden drei Monate vorgeschlagen.68 Es wird sich zeigen, wie häufig die Länge von „kurz“ je nach den jeweiligen Umständen anders als mit drei Monaten zu bemessen ist. Dies bedeutet einen drei Monate währenden Schwebezustand – denn zunächst greift die Staatsangehörigkeitsanknüpfung; ist im Zeitraum „kurz“ kein gemein-

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64 Vgl. die Übersichten bei Döbereiner, in: Dutta/Weber (Hrsg.), Die Europäischen Güterrechtsverordnungen, 2017, S. 61 f. Rn. 32 f. und Hilbig-Lugani, DNotZ 2017, 739. 65 Art. 22 Abs. 2 EuErbVO. 66 Döbereiner, in: Dutta/Weber (Hrsg.), Die Europäischen Güterrechtsverordnungen, 2017, S. 73 f., 84 Rn. 38 f., 79. 67 Engl.: „shortly after marriage“; fr.: „peu après le mariage“; sp.: „inmediatamente después del matrimonio“; it.: „poco dopo il matrimonio“; port.: „pouco depois do casamento“; schw.: „kort tid efter äktenskapets“; dä.: „kort efter ægteskabets“. 68 Weber, DNotZ 2016, 659, 672; Coester-Waltjen, in: Dutta/Weber (Hrsg.), Die Europäischen Güterrechtsverordnungen, 2017, S. 53 Rn. 22.

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samer gewöhnlicher Aufenthalt begründet worden, wird er beständig; kommt es zur Begründung eines gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalts, wird die Staatsangehörigkeitsanknüpfung hinfällig.69 Der zweite Typ ist der letzte gemeinsame Aufenthalt, den die Ehegatten in Staat A „über einen erheblich längeren Zeitraum“70 als in Staat B innehatten (Art. 26 Abs. 3 lit. a EuGüVO) bzw. sich in Staat A für „einen langen Zeitraum niedergelassen haben“71 (ErwG 51).72 Die Formulierung vom erheblich längeren Zeitraum bringt neue Herausforderungen, weil sie, was bislang noch nie erforderlich war, ein Inbezugsetzen von zwei Zeiträumen erfordert und hierfür kaum Vergleichswerte vorliegen.73 Zudem, und hier dürften nicht unerhebliche Schwierigkeiten liegen, wird es notwendig werden, den Zeitpunkt der Begründung des gewöhnlichen Aufenthalts genau festzulegen, weil ab diesem Zeitpunkt das ausnahmsweise nach Art. 26 Abs. 3 EuGüVO anzuwendende Recht gelten kann bzw. weil die Ausweichklausel des Art. 26 Abs. 3 EuGüVO dann nicht greift, wenn die Ehegatten vor der Begründung eine Vereinbarung über den ehelichen Güterstand getroffen haben.74 Die genaue Festlegung des Beginns eines gewöhnlichen Aufenthalts bereitet Probleme. Konsens lässt sich meistens relativ schnell erreichen, wenn wir fragen, wo in einem bestimmten Zeitpunkt X (z.B. Anrufung des Gerichts, letzte mündliche Verhandlung, Abschluss der Rechtswahlvereinbarung, Tod des Erblassers) der gewöhnliche Aufenthalt lag, weil es sich in aller Regel nicht um die Übergangsphasen handelt oder weil wir aufgrund der Umstände des Falles oft annehmen, dass die Übergangsphase just beendet war. Doch erheblich schwieriger gestaltet es sich, unabhängig von der-

_____ 69 Ebenso insb. zur Rückwirkung Weber, DNotZ 2016, 659, 672; Coester-Waltjen, in: Dutta/ Weber (Hrsg.), Die Europäischen Güterrechtsverordnungen, 2017, S. 53 Rn. 22. 70 Engl.: „for a significantly longer period of time“; fr.: „pendant une période significativement plus longue“; sp.: „durante un período de tiempo considerablemente más largo“; it.: „per un periodo significativamente più lungo di“; port.: „durante um período significativamente mais longo“; schw.: „under en betydligt längre tid“; dä.: „i betydelig længere tid“. 71 Engl.: „have moved to the State of their habitual residence for a long duration“; fr.: „de longue date dans l’État de leur résidence habituelle“; sp.: „se hayan trasladado al Estado de su residencia habitual por un largo período“; it.: „trasferiti nello Stato di residenza abituale per un lungo periodo di tempo“; port.: „se tenham mudado para o Estado da sua residência habitual por um largo período“; schw.: „för en längre tid har flyttat till den stat där de har hemvist“; dä.: „er flyttet til den stat, hvor de har deres sædvanlige opholdssted, for en længere periode“. 72 Dazu Coester-Waltjen, in: Dutta/Weber (Hrsg.), Die Europäischen Güterrechtsverordnungen, 2017, S. 56. 73 Vgl. Coester-Waltjen, in: Dutta/Weber (Hrsg.), Die Europäischen Güterrechtsverordnungen, 2017, S. 56 Rn. 32 und ihre Beispiele von 6 Monaten zu zwei Jahren und 20 Jahren zu 22 Jahren. 74 Art. 26 III UAbs. 2 S. 2 und UAbs. 4 EuGüVO.

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artigen Stichtagen den Beginn eines gewöhnlichen Aufenthalts taggenau festzulegen. In einfach gelagerten Fällen sind der Aufenthaltswille und die Integration so stark, dass der gewöhnliche Aufenthalt bereits mit Ankunft im anderen Staat begründet wird, z.B. wenn die Ehegatten fest entschlossen sind, im neuen Staat ihr Eheleben zu führen und Unterkunft und Arbeitsstellen bereits gefunden sind. Sind Integration und Wille hingegen schwächer, wird man sich streiten müssen, ob man nach Ablauf eines bestimmten Zeitraums von bspw. drei, sechs oder neun Monaten oder erst nach Prüfung weiterer Faktoren, die auf soziale Integration hindeuten – sei es nach Abschluss des Mietvertrags, nach Kauf eines Pkw, nach Annahme eines Übergangsjobs oder nach Unterzeichnung eines unbefristeten Arbeitsvertrages im erlernten Beruf, mit Anmeldung in der Sprachschule oder erst nach Erwerb von Sprachkenntnissen eines näher zu definierenden Niveaus – den gewöhnlichen Aufenthalt bejaht. Dies könnte leicht zu übermäßig kleinteiligen Prüfungen und zu erheblichen Unsicherheiten führen.

IV. Fortführung von Defiziten 1. Keine Umstands-/Inhaltskontrolle von Rechtswahlvereinbarungen Die Güterrechtsverordnungen sehen keine Inhaltskontrolle von Rechtswahlvereinbarungen vor. Durch die Begrenzung der wählbaren Rechte, so wird vertreten, wird schon eine hinreichende „Kontrolle“ erreicht. Das überzeugt nicht für alle Fallkonstellationen. Wählbar ist das Recht des gewöhnlichen Aufenthalts oder der Staatsangehörigkeit jedes Ehegatten, einschließlich der nichteffektiven bei Mehrstaatern75, im Zeitpunkt der Rechtswahl, also evtl. auch deutlich vor Eheschließung. Eine Staatsangehörigkeit eines Ehegatten muss keinen nennenswerten Bezug zur Ehe haben und ebenso wenig ein einseitiger gewöhnlicher Aufenthalt eines künftigen Ehegatten vor Eheschließung. Zwar mahnt ErwG 45, ermöglicht werden solle die Wahl einer Rechtsordnung, zu der die Ehegatten „eine enge Verbindung“76 haben, aber allzu weit her ist es mit dieser

_____ 75 ErwG 50 S. 2 EuGüVO. Vgl. Döbereiner, in: Dutta/Weber (Hrsg.), Die Europäischen Güterrechtsverordnungen, 2017, S. 67 Rn. 15; Dutta, FamRZ 2016, 1973, 1980; Weber, DNotZ 2016, 659, 673. 76 Engl.: „close links“; fr.: „un lien étroit“; sp.: „una estrecha conexión“; it.: „uno stretto collegamento“; port.: „um vínculo estreito“; schw.: „nära anknytning“; dä.: „tæt tilknytning“.

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Enge nicht.77 Eine Umstands- und Inhaltskontrolle ist daher sicherlich nicht schon ob der Beschränkung des Kreises der wählbaren Rechte obsolet. Das Haager Unterhaltsprotokoll enthält mit Art. 8 Abs. 5 HUP hierzu eine ausdrückliche Regelung. Danach ist das von den Parteien bestimmte Recht nicht anzuwenden, wenn seine Anwendung für eine der Parteien offensichtlich unbillige oder unangemessene Folgen hätte, es sei denn, dass die Parteien im Zeitpunkt der Rechtswahl umfassend unterrichtet und sich der Folgen ihrer Wahl vollständig bewusst waren. Hinzu kommt der Schutz des Art. 8 Abs. 4 HUP: Für die Frage, ob der Unterhaltsberechtigte auf seinen Unterhaltsanspruch verzichten kann, ist das Recht des Staates maßgebend, in dem die berechtigte Person im Zeitpunkt der Rechtswahl ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat. Die Rom II-VO enthält einen Anhaltspunkt für eine Umstandskontrolle der Rechtswahlvereinbarung, denn sie fordert eine „frei ausgehandelte Vereinbarung“.78 Die Güterrechtsverordnungen und die Rom III-VO enthalten keine derartigen Kontrollmöglichkeiten. Das Wirksamkeitsstatut kann zu einer Inhaltskontrolle führen – wie es etwa beim deutschen Recht über § 138 BGB der Fall wäre79 –, muss es aber nicht. Eine Ausübungskontrolle über § 242 BGB wäre, da Zustandekommen und Wirksamkeit nicht berührt sind, auch bei Wahl deutschen Rechts nicht möglich. Dass in den Güterrechtsverordnungen keine einheitlichen Standards für die Inhaltskontrolle gewährleistet sind, mag durchaus ein wenig misslich erscheinen. Einerseits wird für die Ehegatten bzw. den schwächeren Ehegatten kein Mindestschutz gewährleistet. Andererseits könnte zumindest theoretisch eine allzu strenge nationale Kontrolle über das Wirksamkeitsstatut die Rechtswahlmöglichkeiten aushöhlen.

2. Schwache Formanforderungen bei der Rechtswahl und keine hinreichende Gewährleistung des informierten Konsenses Wie in der Rom III-VO sind die unionalen Formanforderungen an die Rechtswahl relativ schwach (Schriftform, Datum, Unterschrift; ggf. elektronische Über-

_____ 77 Vgl. dazu auch Döbereiner, in: Dutta/Weber (Hrsg.), Die Europäischen Güterrechtsverordnungen, 2017, S. 66 Rn. 10. Zur parallelen Problematik in der Rom III-VO vgl. etwa HilbigLugani, in: Nomos Kommentar zum BGB, Bd. 6, 2. Aufl. 2015, Art. 5 Rom III-VO Rn. 20. 78 Art. 14 Abs. 1 S. 1b Rom II‑VO. Was hieraus konkret abzuleiten ist, ist hochstreitig, vgl. Gebauer, in: Nomos Kommentar zum BGB, Bd. 6, 2. Aufl. 2015, Art. 14 Rom II-VO Rn. 35. 79 So auch Döbereiner, in: Dutta/Weber (Hrsg.), Die Europäischen Güterrechtsverordnungen, 2017, S. 79 Rn. 57 ff.

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mittlung).80 Strengere Formanforderungen sind den Mitgliedstaaten und ihren Anforderungen an Eheverträge überlassen. Doch mitgliedstaatliche Formvorschriften sind keineswegs stets zu beachten81, z.B. dann nicht, wenn beide Ehegatten ihren gewöhnlichen Aufenthalt außerhalb teilnehmender Mitgliedstaaten haben – gleich, wo die Rechtswahl getroffen wird, gleich, welche Staatsangehörigkeit die Ehegatten haben und gleich, ob das Recht am gewöhnlichen Aufenthalt der Ehegatten eine strengere Form vorsieht.82 Auch in einem benachbarten Punkt führen die Güterrechtsverordnungen ein Manko der Rom III-VO fort. ErwG 47 S. 1 EuGüVO/ErwG 46 S. 1 EuPartVO sieht vor: „Es sollten Regeln zur materiellen Wirksamkeit und zur Formgültigkeit einer Vereinbarung über die Rechtswahl festgelegt werden, die es den Ehegatten erleichtern, ihre Rechtswahl in voller Sachkenntnis zu treffen, und die gewährleisten, dass die einvernehmliche Rechtswahl der Ehegatten im Interesse der Rechtssicherheit sowie eines besseren Rechtsschutzes respektiert wird.“ (ErwG 47 S. 1). Der Text lehnt sich eng an ErwG 19 Rom III-VO an.83 EuGüVO und Rom III-VO lassen offen, wie eine volle Sachkenntnis gewährleistet werden soll – eine Umstandskontrolle ist nicht vorgesehen und die Formanforderungen können keine volle Sachkenntnis garantieren. Die Problematik könnte entweder über eine unionale Umstands- und/oder Inhaltskontrolle oder über strenge Formanforderungen, ggf. einschließlich Beratungserfordernis gelöst werden, der jetzige Zustand, der mit den Güterrechtsverordnungen weiter zementiert wird, ist jedenfalls unbefriedigend.84

_____ 80 Zur synoptischen Betrachtung der Formanforderungen in HUP, Rom III-VO und in den EuGüVO-E 2011 siehe Andrae, Zur Form der Rechtswahl für eheliche Beziehungen, FS Martiny, 2014, S. 3 ff. 81 Vgl. Art. 23 II–IV EuGüVO/EuPartVO und Art. 7 II–IV Rom III-VO. 82 Wenn z.B. zwei Deutsche mit gewöhnlichem Aufenthalt in Polen in Deutschland eine Rechtswahl treffen, bedarf es nur der Erfüllung der unionalen Form nach Art. 23 Abs. 1 EuGüVO und weder der im polnischen Recht für Eheverträge vorgesehenen noch der im deutschen Recht für Eheverträge vorgesehenen notariellen Beurkundung. Vgl. Döbereiner, in: Dutta/ Weber (Hrsg.), Die Europäischen Güterrechtsverordnungen, 2017, S. 74 Rn. 40 ff. 83 ErwG 19 Rom III-VO: „Regeln zur materiellen Wirksamkeit und zur Formgültigkeit sollten festgelegt werden, so dass die von den Ehegatten in voller Sachkenntnis zu treffende Rechtswahl erleichtert und das Einvernehmen der Ehegatten geachtet wird, damit Rechtssicherheit sowie ein besserer Zugang zur Justiz gewährleistet werden.“. 84 Vgl. zu dieser Problematik schon Dethloff, Denn sie wissen nicht, was sie tun – Parteiautonomie im Internationalen Familienrecht, FS Martiny, 2014, S. 41 ff.

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3. Vollständiger Ausschluss von Rück- und Weiterverweisungen Der Renvoi ist vollständig ausgeschlossen, sämtliche Verweisungen sind Sachnormverweisungen.85 Dies entspricht dem Vorgehen der Rom III-VO und des HUP, nicht jedoch dem der EuErbVO.86 Dies wird zu einer vermehrten Anwendung ausländischen Rechts sowie zu einer gewissen Beeinträchtigung des internationalen Entscheidungseinklangs führen.87 Damit wiederholen die Güterrechtsverordnungen ein Defizit früherer Verordnungen, das zurecht bereits früher kritisiert worden ist.88

4. Einrede fehlender Zustimmung In Abweichung vom Münchhausen-Prinzip ist in der Güterrechtsverordnung die sog. Einrede fehlender Zustimmung vorgesehen. Ein Ehegatte kann sich für die Behauptung, er habe der Vereinbarung nicht zugestimmt, auf das Recht des Staates berufen, in dem er zum Zeitpunkt der Anrufung des Gerichts seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, wenn sich aus den Umständen ergibt, dass es nicht angemessen wäre, die Wirkung seines Verhaltens nach dem nach dem Münchhausen-Prinzip anwendbaren Recht zu bestimmen. Die Regelung findet sich in Art. 24 Abs. 2 EuGüVO und in Art. 6 Abs. 2 Rom III-VO und wurde weitgehend aus Art. 10 Abs. 2 Rom I-VO übernommen. In der Rom I-VO war die Regelung sinnvoll, war sie doch insbesondere für den Fall des Schweigens auf ein kaufmännisches Bestätigungsschreiben konzipiert. Schon in der Rom III-VO war der freundlichste Kommentar zu dieser Übernahme aus der Rom I-VO, die Regelung sei „wenig angemessen, aber harmlos“ (Basedow), denn angesichts des Unterschriftenerfordernisses scheint bei der Scheidungs- und Güterrechtsrechtswahl diese Einrede keinen sinnvollen Anwendungsbereich zu haben.89 Allenfalls bei der konkludenten Rechtswahl –

_____ 85 Art. 32 EuGüVO, Art. 32 EuPartVO. 86 Vgl. Art. 11 Rom III-VO, Art. 12 HUP, Art. 34 Abs. 1 a EuErbVO. 87 Coester-Waltjen, in: Dutta/Weber (Hrsg.), Die Europäischen Güterrechtsverordnungen, 2017, S. 51 Rn. 14; Dutta, FamRZ 2016, 1973, 1983. 88 Vgl. nur Budzikiewicz, in: Nomos Kommentar zum BGB, Bd. 6, 2. Aufl. 2015, Art. 11 Rom IIIVO Rn. 4. 89 Basedow, European Divorce Law – Comments on the Rome III Regulation, FS Pintens, S. 135, 143; Döbereiner, in: Dutta/Weber (Hrsg.), Die Europäischen Güterrechtsverordnungen, 2017, S. 79 Rn. 58: „schwer verständlich“.

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wenn man sie zulassen möchte – ist ein Anwendungsbereich denkbar.90 Derartigen Fällen wird man indes auch über den ordre public-Vorbehalt beikommen können.91 In Art. 8 HUP fehlt die Einrede fehlender Zustimmung und angesichts der Inadäquanz dieser Ausnahmeregelung möchte die überwiegende Ansicht sie zu recht nicht in das Haager Unterhaltsprotokoll hineindeuten.92

5. Keine klare Positionierung zur konkludenten Rechtswahl Für Art. 8 HUP93 ist anerkannt, dass eine Rechtswahl nicht ausdrücklich erfolgen muss, sondern auch konkludent erfolgen kann, sofern der Einigung ein Rechtswahlbewusstsein und ein Rechtswahlwille entnommen werden kann. Dies folgt bereits e silentio aus dem Wortlautvergleich mit Art. 7 HUP, der für die Zwecke eines einzelnen Verfahrens die Rechtswahl nur ausdrücklich zulässt. Für Art. 5 Rom III-VO ist die Zulassung konkludenter Rechtswahlen nicht unproblematisch, insbesondere, weil es an einer Vorschrift wie Art. 3 Abs. 1 S. 2 Fall 2 Rom I-VO oder Art. 14 Abs. 1 S. 2 Fall 2 Rom II-VO oder Art. 22 Abs. 2 Fall 2 EuErbVO, die die konkludente Rechtswahl erlaubt, fehlt, und weil die konkludente Rechtswahl der in den Erwägungsgründen besonders hervorgehobenen Notwendigkeit einer informierten Rechtswahl nicht unbedingt zuträglich ist.94 Doch letztlich sprechen sich viele überzeugenderweise für eine konkludente Rechtswahlmöglichkeit aus, plädieren aber für eine strenge Handhabung der Anforderungen an Rechtswahlbewusstsein und Rechtswahlwillen.95

_____ 90 Weber, DNotZ 2016, 659, 680; a.A. Döbereiner, in: Dutta/Weber (Hrsg.), Die Europäischen Güterrechtsverordnungen, 2017, S. 79 Rn. 58. 91 So zu recht Döbereiner, in: Dutta/Weber (Hrsg.), Die Europäischen Güterrechtsverordnungen, 2017, S. 79 Rn. 58. 92 Wie hier Andrae, in: Rauscher, Kommentar zum EuZPR-EuIPR, Bd. 5, 4. Aufl. 2016, Art. 8 HUP Rn. 5; Mankowski, in: Staudinger, Kommentar zum BGB, Neubearb. 2016, Art. 8 Rn. 15; a.A. Hohloch, in: Erman, Kommentar zum BGB, 15. Aufl. 2017, Art. 10 Rom I-VO Rn. 1; Hausmann, Internationales und Europäisches Ehescheidungsrecht, 1. Aufl. 2013, Art. 8 HUP, Rn. C 571. 93 Bach, in: Nomos Kommentar zum BGB, Bd. 6, 2. Aufl. 2015, Art. 8 HUP Rn. 22; Andrae, in: Rauscher, Kommentar zum EuZPR-EuIPR, Bd. 5, 4. Aufl. 2016, Art. 8 HUP Rn. 6; Hausmann, Internationales und Europäisches Ehescheidungsrecht, 1. Aufl. 2013, Art. 8 HUP, Rn. C 569; Mankowski, in: Staudinger, Kommentar zum BGB, Neubearb. 2016, Art. 8 HUP Rn. 16. 94 Näher Hilbig-Lugani, in: Nomos Kommentar zum BGB, Bd. 6, 2. Aufl. 2015, Art. 5 Rom III-VO Rn. 11 ff.; Helms, in: Rauscher, Kommentar zum EuZPR-EuIPR, Bd. 5, 4. Aufl. 2016, Art. 5 Rom III-VO Rn. 62. 95 Siehe die eben Genannten sowie Hausmann, Internationales und Europäisches Ehescheidungsrecht, 1. Aufl. 2013, Art. 5 Rom III-VO, Rn. A 273.

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Die Auslegung von Art. 22 EuGüVO ist ebenfalls nicht unproblematisch. Auch hier schweigt der Text und auch hier plädieren die Erwägungsgründe nachdrücklich für eine informierte Rechtswahl (ErwG 47 S. 1). Doch die textliche Situation entspricht nicht ganz der der Rom III-VO. Denn eine Passage in den Erwägungsgründen spricht gegen die konkludente Rechtswahl. In ErwG 26 S. 1 heißt es: „Im Interesse der Sicherheit des Rechtsverkehrs und um zu verhindern, dass sich das auf den ehelichen Güterstand anzuwendende Recht ändert, ohne dass die Ehegatten davon unterrichtet werden, sollte ein Wechsel des auf den ehelichen Güterstand anzuwendenden Rechts nur nach einem entsprechenden ausdrücklichen Antrag der Parteien möglich sein.“96 In anderen Sprachfassungen ist hier jedoch von „ausdrücklicher Willenskundgabe“ die Rede, was deutlich gegen die Möglichkeit einer konkludenten Rechtswahl spräche. 97 Zwingend ist die Schlussfolgerung, eine konkludente Rechtswahl sei unzulässig, jedoch nicht. Für eine Zulassung der konkludenten Rechtswahl sprechen dieselben Aspekte wie bei der Rom III-VO und zudem der Umstand, dass so eine mit der Rom III-VO, dem HUP, der Rom I-VO, der Rom II-VO und der EuErbVO homogene Auslegung erreicht würde. Die Einrede fehlender Zustimmung (Art. 24 Abs. 2 EuGüVO) wäre um einen einigermaßen sinnvollen Anwendungsfall ärmer.98 Außerdem enthielt Art. 19 Abs. 2 Halbsatz 1 EuEheGüRVO-E 201199 eine klare Ansage, dass nur eine explizite Rechtswahl zulässig ist, während in der Endfassung dieser Hinweis fehlte. Manche verstehen ErwG 26 lediglich als Hinweis, dass es während der Ehe nicht automatisch zu einem Wechsel des Güterstatuts kommt.100 Daher sollte auch hier, und dies entspricht der sich entwickelnden h.M.,101 eine konkludente Rechtswahl gestattet werden. Ob dies angesichts von ErwG 26 S. 1 vor der Rechtsprechung Bestand haben wird, muss sich zeigen.

_____ 96 Hervorhebung d. Verf. 97 So z.B. im Italienischen („manifestazione espressa della volontà delle parti“), im Portugiesischen („manifestação expressa da vontade das partes“) und im Spanischen („la manifestación expresa de la voluntad de las partes“). 98 Döbereiner, in: Dutta/Weber (Hrsg.), Die Europäischen Güterrechtsverordnungen, 2017, S. 78 Rn. 52. 99 „Die Rechtswahl muss ungeachtet des Absatzes 1 [der Verweise auf Formvorschriften enthält] zumindest ausdrücklich erfolgen [...]“, KOM (2011) 126 endg., 24. 100 Döbereiner, in: Dutta/Weber (Hrsg.), Die Europäischen Güterrechtsverordnungen, 2017, S. 78 Rn. 52. 101 Siehe Kroll-Ludwigs, NZFam 2016, 1061, 1063; Kroll-Ludwigs, GPR 2016, 231, 236; Weber, DNotZ 2016, 659, 680 f.; Dutta, FamRZ 2016, 1973, 1981.

Beiträge der Güterrechtsverordnungen | 185

6. Unausgewogene Formvorgaben bei gewöhnlichem Aufenthalt nur eines Ehegatten in einem (teilnehmenden) Mitgliedstaat Bei gewöhnlichem Aufenthalt nur eines Ehegatten in einem (teilnehmenden) Mitgliedstaat mit Formvorschriften für die Rechtswahl (Rom III-VO) bzw. für Vereinbarungen über den ehelichen Güterstand (EuGüVO) müssen diese gewahrt werden (Art. 7 Abs. 4 Rom III-VO, Art. 23 Abs. 4 EuGüVO). Die Adäquanz der letzten Variante ist mit Recht bezweifelt worden.102

V. Fazit Die Güterrechtsverordnungen haben in einigen Punkten inhaltliche und handwerkliche Mängel fortgeschrieben. Sie haben an anderen Punkten Probleme verschärft, etwa bei der Vielgestaltigkeit des Aufenthaltsbegriffs. Insgesamt überwiegt der positive Eindruck, dass die Güterrechtsverordnungen den Acquis bestätigen und, vor allem in Form von Konkretisierungen und Klarstellungen, einige sehr nennenswerte Beiträge zur Ausbildung allgemeiner Strukturen des EuIPR geleistet haben.

_____ 102 Hilbig-Lugani, in: Nomos Kommentar zum BGB, Bd. 6, 2. Aufl. 2015, Art. 7 Rom III-VO Rn. 14b; Winkler von Mohrenfels, in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Aufl. 2017, Art. 7 Rom III-VO Rn. 7.

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PD Dr. Robert Magnus, Heidelberg

Einige Überlegungen zu den Zuständigkeits- und Kollisionsnormen der EuGüVO Einige Überlegungen zu den Zuständigkeits- und Kollisionsnormen der EuGüVO Robert Magnus https://doi.org/10.1515/9783110552355-012

I. Einleitung Auch wenn die politische Entwicklung der Europäischen Union in Europa zunehmend in einen Krisenmodus geraten ist, so ist die justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen hiervon bislang noch gänzlich unberührt geblieben. Im Gegenteil schreitet die Vereinheitlichung im Bereich der internationalen Zuständigkeit und im Kollisionsrecht mit Sieben-Meilen-Stiefeln voran. Kaum ist die EuErbVO im Kraft getreten1 stehen mit der EuGüVO2 und der EuPartVO3 zwei weitere, umfassende Rechtsakte vor der Tür, die die gewohnte kollisionsrechtliche Ordnung tiefgreifend verändern und eine Vielzahl neuer, juristischer Fragestellungen produzieren werden. Diese Untersuchung wird sich zwar auf die EuGüVO beschränken, die meisten Fragen stellen sich für die meist wortgleichen Vorschriften der EuPartVO aber in gleicher Weise. Nach Schätzungen der Europäischen Kommission leben in der EU etwa 16 Millionen „internationale Paare“, die potentiell von der EuGüVO betroffen sind.4 Die praktischen Auswirkungen der beiden Verordnungen sind daher durchaus erheblich. Ausweislich ihrer Erwägungsgründe 15 und 16 will die EuGüVO diesen Paaren eine rechtssichere Vermögensplanung ermöglichen. Ein-

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1 Verordnung (EU) Nr. 650/2012 des europäischen Parlaments und des Rates über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Annahme und Vollstreckung öffentlicher Urkunden in Erbsachen sowie zur Einführung eines Europäischen Nachlasszeugnisses vom 4. Juli 2012 (ABl. EU 2012, 201, S. 107). 2 Verordnung (EU) 2016/1103 des Rates zur Durchführung einer Verstärkten Zusammenarbeit im Bereich der Zuständigkeit, des anzuwendenden Rechts und der Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Fragen des ehelichen Güterstands vom 24. Juni 2016 (ABl. EU 2016 L 183, S. 1). 3 Verordnung (EU) 2016/1104 des Rates zur Durchführung der Verstärkten Zusammenarbeit im Bereich der Zuständigkeit, des anzuwendenden Rechts und der Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Fragen güterechtlicher Wirkungen eingetragener Partnerschaften vom 4. Juni 2016 (ABl. EU 2016 L 183, S. 30). 4 Siehe Pressemitteilung des Europäischen Parlaments vom 23. Juni 2016 (abrufbar unter: http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=//EP//NONSGML+IPRESS+20160622 IPR33203+0+DOC+PDF+V0//EN&language=EN); siehe auch Simotta, ZVglRWiss 2017, 44, 45. https://doi.org/10.1515/9783110552355-012

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heitliche Regelungen über die internationale Zuständigkeit, das anwendbare Recht und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen dienen der Herstellung eines internationalen Entscheidungseinklangs und der Vereinfachung der Durchsetzung von Rechtspositionen in Fällen mit grenzüberschreitenden Bezug. Die EuGüVO ist im Wege der verstärkten Zusammenarbeit erlassen worden. 18 Mitgliedstaaten nehmen an ihr teil, darunter Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien. Sie findet ab dem 29. Januar 2019 in ihren Mitgliedstaaten Anwendung. Gem. Art. 69 Abs. 3 EuGüVO sind die kollisionsrechtlichen Regelungen, anders als die Vorschriften über die internationale Zuständigkeit, aber nur anzuwenden, wenn die streitgegenständliche Ehe nach diesem Datum eingegangen worden ist.5 Für alle Altehen gelten die bisherigen autonomen nationalen Kollisionsvorschriften hingegen fort. Das Ergebnis ist ein gespaltener zeitlicher Anwendungsbereich der EuGüVO. Während die Zuständigkeitsvorschriften unmittelbare Geltung erlangen, werden die Kollisionsnormen die bisherigen mitgliedstaatlichen Regelungen erst im Laufe mehrerer Jahrzehnte nach und nach verdrängen. Die innerhalb der Verordnung angelegte Abstimmung zwischen den Zuständigkeitsvorschriften einerseits und den Kollisionsnormen andererseits geht dadurch für einen beträchtlichen Zeitraum verloren und die angestrebte Kohärenz bleibt zunächst weitgehend illusorisch. Ein einheitlicher zeitlicher Geltungsbeginn für die gesamte Verordnung wäre durchaus vorzugswürdig gewesen.

II. Die Zuständigkeitsregelungen der EuGüVO Anders als etwa die Brüssel IIa-VO enthält die EuGüVO keine Aufzählung alternativer Zuständigkeiten, sondern vielmehr ein streng gestuftes System grds. ausschließlicher Gerichtsstände. Ein Hauptanliegen war dabei die Schaffung von Verbundmöglichkeiten mit weiteren gerichtlichen Verfahren, die sich nach anderen Verordnungen richten.

_____ 5 Art 69 Abs. 3 EuGüVO lautet: „Kapitel III gilt nur für Ehegatten, die nach dem 29. Januar 2019 die Ehe eingegangen sind oder eine Rechtswahl bezüglich des auf ihren Güterstand anzuwendenden Rechts getroffen haben.“

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1. Die Zuständigkeit nach Art. 4 EuGüVO Gemäß Art. 4 EuGüVO sind vorrangig die Gerichte eines Mitgliedstaates zuständig, in dem ein Verfahren im Zusammenhang mit einer Rechtsnachfolge von Todes wegen nach der EuErbVO eröffnet wurde. Da der Tod eines Ehegatten neben der Scheidung der häufigste Grund für die Auflösung eines ehelichen Güterstandes ist, erscheint es im Interesse der Parteien und der Prozessökonomie sinnvoll, Nachlass und Güterstand einheitlich in einem Verfahren vor einem zuständigen Gericht abzuwickeln. Allerdings stellen sich hier gleich mehrere Fragen: Zum einem ist unklar, ob sich der Begriff „Mitgliedstaat“ auf die EuGüVO, auf die EuErbVO oder ganz allgemein auf die Mitgliedschaft in der EU bezieht. Da wegen der verstärkten Zusammenarbeit acht Mitgliedstaaten nicht an der EuGüVO teilnehmen, besteht insoweit ein erheblicher Unterschied. Nach überwiegender Auffassung soll der Begriff „Mitgliedstaat“ als Mitgliedstaat der EuGüVO verstanden werden.6 Anderenfalls bestünde die Gefahr, dass zwar die allgemeine Zuständigkeitsregelung in Art. 6 EuGüVO aufgrund des vorrangigen Art. 4 EuGüVO gesperrt würde, eine entsprechende Verbundzuständigkeit in dem nicht durch die EuGüVO gebundenen Staat aber gar nicht existiert. Hiergegen lässt sich zunächst einwenden, dass im Interesse der Parteien möglichst großzügig Verbundmöglichkeiten geschaffen werden sollten und die Begrenzung der Zuständigkeit in Art. 4 EuGüVO auf erbrechtliche Verfahren in Mitgliedsländern der EuGüVO diesem Interesse entgegen läuft. Die Parteien können, auch wenn Art. 4 EuGüVO nicht zur Anwendung gelangt, eine Verbundzuständigkeit in der Regel auch dadurch herbeiführen, dass sie eine Gerichtsstandsvereinbarung treffen (Art. 7 EuGüVO) oder sich rügelos auf das Verfahren einlassen (Art. 8 EuGüVO). Ein solches Vorgehen erfordert allerdings eine Einigung zwischen den Parteien, die sich in den hier einschlägigen Konstellationen, in denen sich der überlebende Ehegatte mit den Abkömmlingen seines verstorbenen Partners um den Nachlass streitet, oftmals nicht erzielen lässt. Letztlich wird man sich jedoch darauf zurückziehen können, dass die Schaffung von Verbundzuständigkeiten in solchen Fällen außerhalb des räumlich-sachlichen Anwendungsbereichs der EuGüVO liegt und daher den autonomen Recht der Mitgliedstaaten bzw. weiteren europäischen Rechtsakten überlassen bleibt. Weiter ist fraglich, was die Formulierung „ein Gericht im Zusammenhang mit der Rechtsnachfolge von Todes wegen […] angerufen“ bedeutet. Die Verbundzuständigkeit setzt lediglich die Anrufung eines Gerichts im Zusammen-

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6 Dutta, FamRZ 2016, 1973, 1979; Weber, DNotZ 2016, 659, 662; Simotta, ZVglRWiss 2017, 44, 51.

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hang mit einer Erbsache voraus. Von einer Anrufung ist gem. Art. 14 EuGüVO i.d.R. bereits dann auszugehen, wenn das verfahrenseinleitende Schriftstücks bei Gericht eingegangen ist.7 Nach einer Ansicht im Schrifttum soll es auf die Zuständigkeit des angerufenen Gerichts für die Erbsache nicht ankommen und die Verbundzuständigkeit sogar dann weiter fortbestehen, wenn sich das Gericht im Hinblick auf die Erbangelegenheit für unzuständig erklärt hat.8 Die Konsequenz eines solchen Verständnisses wäre allerdings ein unbegrenztes Recht des Antragstellers zum forum shopping innerhalb der Mitgliedstaaten der EuGüVO. Hierzu ein Beispiel: Eine deutsche Frau lernt auf dem Münchener Oktoberfest einen Mann aus Sizilien kennen. Sie verlieben sich, heiraten in Deutschland und verbringen viele Jahrzehnte zusammen glücklich im schönen Bayern. Als die Frau stirbt, kommt es zu einem heftigen Streit zwischen dem Ehemann und den Kindern der Frau aus erster Ehe. Nach rechtlicher Beratung durch einen Münchener Anwalt beschließt der Ehemann, seine Ansprüche am Nachlass seiner Frau vor dem Gericht in Palermo geltend zu machen und gleichzeitig dort auch den Zugewinnausgleich zu verlangen. Das berühmt-berüchtigte „Italien Torpedo“ würde zunächst sämtliche Verfahren in Deutschland blockieren.9 Selbst wenn sich das Gericht in Palermo richtigerweise wegen der Erbangelegenheit für unzuständig erklären würde, wäre doch allein durch seine Anrufung über Art. 4 EuGüVO eine Verbundzuständigkeit für den gleichfalls geltend gemachten güterrechtlichen Ausgleichsanspruch geschaffen worden und die Erben müssten für diesen Rechtstreit nach Palermo reisen. Die Anrufung allein sollte deshalb eine Verbundzuständigkeit noch nicht begründen können, sondern das angerufene Gericht muss auch tatsächlich

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7 Art. 14 EuGüVO lautet: „Für die Zwecke dieses Kapitels gilt ein Gericht als angerufen a) zu dem Zeitpunkt, zu dem das verfahrenseinleitende Schriftstück oder ein gleichwertiges Schriftstück bei Gericht eingereicht worden ist, vorausgesetzt, der Antragsteller hat es in der Folge nicht versäumt, die ihm obliegenden Maßnahmen zu treffen, um die Zustellung des Schriftstücks an den Antragsgegner zu bewirken, b) falls die Zustellung vor Einreichung des Schriftstücks bei Gericht zu bewirken ist, zu dem Zeitpunkt, zu dem die für die Zustellung verantwortliche Stelle das Schriftstück erhalten hat, vorausgesetzt, der Antragsteller hat es in der Folge nicht versäumt, die ihm obliegenden Maßnahmen zu treffen, um das Schriftstück bei Gericht einzureichen, oder c) falls das Gericht das Verfahren von Amts wegen einleitet, zu dem Zeitpunkt, zu dem der Beschluss über die Einleitung des Verfahrens vom Gericht gefasst oder, wenn ein solcher Beschluss nicht erforderlich ist, zu dem Zeitpunkt, zu dem die Sache beim Gericht eingetragen worden ist.“ 8 Mankowski, ZEV 2016, 479, 485. 9 Siehe zum Problem der sog. „Torpedoklagen“ EuGH, Urt. v. 25. 10. 2012 − C-133/11 (Folien Fischer AG, Fofitec AG/Ritrama SpA), NJW 2013, 287; LG Hamburg GRUR-RS 2015, 16872; Gottwald, in: Münchener Kommentar zur ZPO, 5. Auflage 2017, Art. 29 Brüssel Ia-VO Rn. 28 mwN.

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nach der EuErbVO zuständig sein. Das Abstellen auf die „Anrufung“ in Art. 4 EuGüVO ist allein in zeitlicher Hinsicht zu verstehen: Bereits mit Anrufung wird das Forum auch für den güterrechtlichen Anspruch eröffnet und greift die Rechtshängigkeitssperre nach Art. 17 EuGüVO. Erklärt sich das angerufene Gericht in Bezug auf die Erbrechtssache für unzuständig, entfällt auch die quasiakzessorische Verbundzuständigkeit für das eheliche Güterrecht. Allerdings kann sich in einer solchen Situation eine internationale Zuständigkeit auch aus den nunmehr wieder eröffneten anderen Gerichtsständen ergeben, bspw. aus Art. 6 EuGüVO.

2. Die Zuständigkeit nach Art. 5 EuGüVO Eine zweite Verbundzuständigkeit sieht Art. 5 EuGüVO vor. Neben dem Tode eines Ehegatten ist die Scheidung zweithäufigster Grund für die Auflösung eines ehelichen Güterstandes. Art. 5 EuGüVO ermöglicht daher, im Verbund mit der Scheidung auch über die Auseinandersetzung des ehelichen Güterstandes zu entscheiden. Dabei ist allerdings zu beachten, dass die Zuständigkeitsregelungen für Scheidungsverfahren in der Brüssel IIa-VO sehr weitreichend alternative Gerichtsstände zulassen, die zum Teil nur noch einen recht geringen Bezug zwischen dem Forum und dem Rechtstreit aufweisen. In diesen Fällen bedarf es daher zusätzlich einer Zustimmung auch des Antragsgegners, um die Verbundzuständigkeit zu aktivieren (Art. 5 Abs. 2 und 3 EuGüVO). Die in Art. 5 Abs. 2 EuGüVO verwendeten Formulierungen sind in dieser Hinsicht etwas ungenau und missverständlich.10 Fraglich ist, wie mit möglichen Divergenzen im sachlichen Anwendungsbereich umzugehen ist. Denkbar ist etwa, dass eine gleichgeschlechtliche Ehe zwar von der EuGüVO, nicht aber von der Brüssel IIa-VO erfasst wird. Der Verbundgerichtsstand würde dann nicht zum Tragen kommen. Hier hätte es sich empfohlen, die Anwendungsbereiche der Verordnungen noch stärker abzustimmen. Eventuell kann der EuGH im Rahmen einer rechtsaktübergreifenden Auslegung eine gewisse Kohärenz herstellen.11 Abschließend bleibt zu den Verbundzuständigkeiten noch zu bemerken, dass zwar die internationale Zuständigkeit über die EuGüVO aufeinander abgestimmt wird, dass die Regelung entsprechender sachlicher und örtlicher Zuständigkeiten aber den jeweiligen nationalen Gesetzgebern überlassen bleibt. Aus Kompetenzgründen ist diese Aufspaltung wohl kaum vermeidbar, es sollte

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10 Ebenso Dutta, FamRZ 2016, 1973, 1978. 11 Zur rechtsaktübergreifenden Auslegung siehe auch Rühl, GPR 2013, 122.

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aber durch die jeweiligen Umsetzungsgesetze12 sichergestellt werden, dass auch tatsächlich dasselbe sachlich und örtlich zuständige Gericht sowohl über die Haupt- als auch über die Folgesache entscheidet.

3. Die Zuständigkeit nach Art. 6 EuGüVO Einen allgemeinen Auffanggerichtstand enthält Art. 6 EuGüVO, der jedoch nur zum Tragen kommt, wenn keine vorrangige Verbundzuständigkeit einschlägig ist, also etwa in Fällen der vorzeitigen Aufhebung eines Güterstandes oder bei einem Güterstandswechsel. Zuständig ist demnach das Gericht im gewöhnlichen Aufenthaltsstaat beider Ehegatten, im letzten gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthaltsstaat, wenn einer der Ehegatten hier noch ansässig ist, im gewöhnlichen Aufenthaltsstaat des Antragsgegners oder im gemeinsamen Heimatstaat beider Ehegatten. Auch hier besteht wiederum ein strenges Hierachieverhältnis. Ein Gerichtsstand niedrigerer Stufe kommt nur zur Anwendung, wenn die Voraussetzungen eines vorrangigen Gerichtsstandes nicht gegeben sind. Eine Auswahl zwischen mehreren alternativen Zuständigkeiten und damit ein forum shopping soll verhindert werden.13 Der Unterschied zur Brüssel IIa-VO resultiert wohl daraus, dass es beim Scheidungsverfahren (lediglich) um eine Statussache geht, während im Rahmen der EuGüVO das vorhandene eheliche Vermögen aufgeteilt wird.

4. Die Regelung in Art. 9 EuGüVO Eine an die Lehre vom forum non conveniens14 erinnernde Neuerung enthält Art. 9 EuGüVO.15 Stellt ein Gericht fest, dass die streitgegenständliche Ehe nach

_____ 12 Siehe für Vorschläge für das deutsche Umsetzungsgesetz zu den Güterrechtsverordnungen Heiderhoff, IPRax 2017, 231. 13 Vgl. Simotta, ZVglRWiss 2017, 44, 48. 14 Hierzu ausführlich Huber, Die englische Forum-non-conveniens-Doktrin und ihre Anwendung im Rahmen des Europäischen Gerichtsstands- und Vollstreckungsübereinkommens, 1994, S. 50 ff. 15 Art 9 EuGüVO lautet: „(1) Wenn ein Gericht eines Mitgliedstaats, das nach Artikel 4, 6, 7 oder 8 zuständig ist, feststellt, dass nach seinem Internationalen Privatrecht die streitgegenständliche Ehe für die Zwecke eines Verfahrens über den ehelichen Güterstand nicht anerkannt wird, kann es sich ausnahmsweise für unzuständig erklären. Beschließt das Gericht, sich für unzuständig zu erklären, so tut es das unverzüglich. (2) Erklärt sich ein Gericht, das nach Artikel 4 oder 6 zuständig ist, für unzuständig und vereinbaren die Parteien, die Zuständigkeit den Gerichten eines anderen Mitgliedstaats nach Artikel 7

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seinem IPR nicht anerkannt wird, kann es sich für unzuständig erklären. Die Parteien können in diesem Fall eine Gerichtsstandsvereinbarung treffen oder aber auch vor den Gerichten des Mitgliedstaates klagen, in dem die Ehe geschlossen wurde. Für die Verbundzuständigkeit mit einem Scheidungsverfahren gilt Art. 9 EuGüVO jedoch nicht. Relevant werden könnte Art. 9 EuGüVO bspw. in Fällen einer Kinderehe, die nach dem neuen Art. 13 Abs. 3 Nr. 1 EGBGB in Deutschland in jedem Fall als unwirksam angesehen werden, wenn ein Verlobter im Zeitpunkt der Eheschließung das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet hatte.16 Stirbt ein in Deutschland lebender Flüchtling aus Afghanistan, der eine im Zeitpunkt der Eheschließung in Afghanistan erst 15-jährige Frau geheiratet hat, ergibt sich eine Zuständigkeit deutscher Gerichte für die Erbsache aus Art. 4 EuErbVO und für den güterrechtlichen Ausgleich nach Art. 4 EuGüVO. Die Vorfrage nach dem Bestehen einer wirksamen Ehe müsste jedoch wegen Art. 13 Abs. 3 Nr. 1 EGBGB verneint werden, so dass sich das deutsche Gericht nach Art. 9 EuGüVO für unzuständig erklären könnte. Hinweise für die im Rahmen der Ermessensausübung maßgeblichen Gesichtspunkte gibt die EuGüVO jedoch nicht. Gegen eine Unzuständigerklärung durch das deutsche Gericht könnte sprechen, dass durch das Gesetz zur Bekämpfung von Kinderehen gerade die zwingende Anwendung deutschen Rechts sichergestellt werden sollte17 und eine Unzuständigkeitserklärung dieses Regelungsziel gerade vereiteln würde. Zudem sollte das IPR und das ihm vorgelagerte Zuständigkeitsrecht die Entstehung hinkender Rechtsverhältnisse18 grds. vermeiden. Wird jedoch über Art. 9 EuGüVO der Gleichlauf mit dem Erbrecht unterbrochen, wird möglicherweise ein und dieselbe Ehe im Rahmen des erbrechtlichen Verfahrens in Deutschland als unwirksam angesehen, während die über Art. 9 EuGüVO berufenen Gerichte eines ausländischen Staates unter Umständen für den güterrechtlichen Ausgleichsanspruch zu einem anderen Ergebnis kämen.

_____ zu übertragen, so sind die Gerichte dieses anderen Mitgliedstaats für Entscheidungen über den ehelichen Güterstand zuständig. In anderen Fällen sind für Entscheidungen über den ehelichen Güterstand die Gerichte eines anderen Mitgliedstaats nach Artikel 6 oder 8 oder die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dem die Ehe geschlossen wurde.“ 16 Art. 13 Abs. 3 EGBGB lautet: „Unterliegt die Ehemündigkeit eines Verlobten nach Absatz 1 ausländischem Recht, ist die Ehe nach deutschem Recht 1. unwirksam, wenn der Verlobte im Zeitpunkt der Eheschließung das 16. Lebensjahr nicht vollendet hatte, und 2. aufhebbar, wenn der Verlobte im Zeitpunkt der Eheschließung das 16., aber nicht das 18. Lebensjahr vollendet hatte.“ 17 Majer, NZFam 2017, 537, 538; Antomo, NJW 2016, 3558, 3563. 18 Hierzu Juncker, Internationales Privatrecht, 2. Aufl. 2017, S. 68 f.; Kropholler, Internationales Privatrecht, 6. Aufl. 2006, S. 240 ff.

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Gleichwohl sollte gerade in den oben genannten Beispielsfall über eine Anwendung des Art. 9 EuGüVO ernsthaft nachgedacht werden. Die Konsequenz der Unwirksamkeit der Ehe wäre nämlich, dass der minderjährigen Ehefrau weder ein erbrechtliches Teilhaberecht am Nachlass ihres Mannes, noch irgendein güterrechtlicher Ausgleichsanspruch zukäme. Um dieses Ergebnis zu verhindern und der eigentlich schutzwürdigen Partei nicht „Steine statt Brot“ zu geben, sollten zumindest für den güterrechtlichen Ausgleichsanspruch weitere Zuständigkeiten zugelassen werden. Dies einmal angenommen, muss dann allerdings überlegt werden, wer in einer solchen Situation mit wem die in Art. 9 EuGüVO angesprochene Gerichtsstandsvereinbarung treffen könnte. Parteien des Rechtsstreits sind einerseits die Ehefrau des Verstorbenen sowie andererseits in der Regel die Erben, also bspw. ein testamentarisch bedachter Freund, die Kinder, Geschwister oder Eltern des Verstorbenen. Die für eine Gerichtsstandsvereinbarung notwendige Einigung dürfte sich in einer solchen Konstellation aber oft als schwierig erweisen. Zudem kann die Frage, wer tatsächlich Erbe geworden ist, unklar und Gegenstand einer eigenen Rechtsstreitigkeit sein. Schließlich hängt die Frage nach den Erben unter Umständen auch wiederum davon ab, ob die Ehe als wirksam angesehen wird und daher bspw. eine Abstammungsvermutung für die Abkömmlinge des Erblassers eingreift oder ob dieses nicht der Fall ist. Über Art. 9 Abs. 2 EuGüVO würde ferner eine Zuständigkeit der Gerichte desjenigen Mitgliedstaates begründet, in dem die Ehe geschlossen wurde. Da Afghanistan aber ein Drittstaat ist, führt dieser Verweis im Beispielsfall allerdings auch nicht weiter. Hilfe für die kindliche Ehefrau ist somit selbst bei einer Anwendung des Art. 9 EuGüVO nicht Recht in Sicht.

III. Die Kollisionsnormen der EuGüVO Auch die Kollisionsnormen enthalten zahlreichen Änderungen und Neuerungen. Im Rahmen dieses Beitrages kann es wiederum nur darum gehen, einige besonders interessante Punkte herauszugreifen.

1. Die Rechtswahl (Art. 22–24 EuGüVO) Haupt- und vorrangiger Anknüpfungspunkt ist eine Rechtswahl durch die Parteien. Jedoch beschränkt Art. 22 EuGüVO den Kreis der wählbaren Rechte auf das Recht des Staates, in dem zumindest einer der Ehegatten im Zeitpunkt der

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Rechtswahl seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat bzw. dessen Staatsangehörigkeit er besitzt. Auch in diesem Zusammenhang ist vieles umstritten. Zum einen ist unklar, inwieweit auch eine konkludente Rechtswahl möglich sein soll.19 In der EuGüVO selbst ist die Frage der konkludenten Rechtswahl nicht geregelt. Allein die Existenz des Art. 24 Abs. 2 EuGüVO, der einen Ehegatten erlaubt, sich für die Behauptung, er habe der Rechtswahl nicht zugestimmt, auf sein Aufenthaltsrecht zu berufen, scheint allerdings darauf hin zu deuten, dass eine konkludente Rechtswahl grds. möglich sein sollte.20 Andererseits könnten die strengen Formvorgaben in Art. 23 Abs. 1 EuGüVO aber auch dafür sprechen, dass eine konkludente Rechtswahl gerade nicht zulässig sein soll, zumal sie anders als in Art. 3 Abs. 1 Rom I-VO, Art. 14 Abs. 1 Rom II-VO und Art. 22 Abs.1 EuErbVO nicht explizit erwähnt wird. Wie bei Art. 5 Rom III-VO21 ist diese Thematik letztlich noch offen und bedarf der Klärung durch den EuGH. Art. 23 EuGüVO stellt ferner autonome verordnungsinterne Formerfordernisse für die Rechtswahlvereinbarung auf: Die Vereinbarung bedarf der Schriftform, sie ist zu datieren und von beiden Ehegatten zu unterzeichnen. Zusätzlich müssen weitergehende Formerfordernisse eingehalten werden, die das Recht des Mitgliedstaates aufstellt, in dem die Ehegatten ihren gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt haben. Fehlt es an einem solchen gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt, genügt es, wenn die Vorschriften eines der Aufenthaltsstaaten eingehalten wurden. Die Einigung und die materielle Wirksamkeit der Rechtswahlvereinbarung beurteilen sich hingegen nach dem Recht, das bei einer unterstellten Wirksamkeit der Vereinbarung zur Anwendung gelangen würde. Die autonomen Formanforderungen werfen, obwohl sie aus Art. 7 Rom IIIVO übernommen wurden, weitere Fragen auf. Was passiert, wenn ein falsches Datum angegeben wird? Ist die Rechtswahl dann unwirksam? Setzt die Unterzeichnung durch beide Ehegatten eine höchstpersönliche Erklärung voraus oder ist eine Stellvertretung zulässig? Wie ist es bei minderjährigen oder unter Betreuung stehenden Ehegatten? Müssen Datierung und Unterschrift zeitgleich stattfinden? Kann das Dokument später unterschrieben werden, ohne das Datum zu ändern? Müssen die Unterschriften von beiden Ehegatten zeitgleich und in derselben Urkunde abgegeben werden oder genügt es, wenn sie zeitlich versetzt und/oder in unterschiedlichen Urkunden erfolgen?22 Auch hier scheint der

_____ 19 Dafür Dutta, FamRZ 2016, 1973, 1981; Weber, DNotZ 2016, 659, 680 f.; dagegen Rupp, GPR 2016, 295, 301 mwN. 20 So Dutta, FamRZ 2016, 1973, 1981; Weber, DNotZ 2016, 659, 680 f. 21 Vgl. Gössl, in: BeckOGK, Stand: 1.8.2017, Art. 5 Rom III-VO Rn. 36 f. mwN. 22 Vgl. § 126 Abs. 2 S. 2 BGB.

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Weg zu Etablierung eines autonomen europäischen Schriftformerfordernisses noch lang. Insgesamt überzeugt auch der in Art. 23 EuGüVO gewählte Ansatz nicht. Anstatt des im Internationalen Privatrecht üblichen Grundsatzes favor negotii23 wird das jeweils strengste Recht zur Anwendung berufen. Die für die Rechtspraxis enorm bedeutsame Gewissheit, mit Einhaltung der Ortsform in jedem Fall ein insgesamt formwirksames Rechtsgeschäft zustande zu bringen, geht durch diesen Ansatz verloren. Stattdessen müssen die Parteien nunmehr schwierige Substitutionsfragen klären, ehe sie sich über die Form(un)wirksamkeit ihrer Rechtswahl im Klaren sind. Auch hierzu ein Beispiel: Ein niederländisches Ehepaar mit gewöhnlichem Aufenthalt in Deutschland trifft bei einem Heimaturlaub in Amsterdam eine Rechtswahl, die ein niederländischer Notar beurkundet. Nach Art. 23 Abs. 2 EuGüVO müsste der niederländische Notar nunmehr zusätzlich prüfen, ob durch seine Beurkundung auch die strenge Form des deutschen Aufenthaltsrecht gewahrt wird. Gemäß §§ 1408, 1410 BGB unterliegen nämlich Vereinbarungen über den Güterstand, auf die Art. 23 Abs. 2 EuGüVO ausdrücklich Bezug nimmt,24 der notariellen Beurkundung. Die Form ist daher nur gewahrt, wenn der holländische Notar den deutschen Notar substituiert, was in der Rechtsprechung bisher noch ungeklärt und in der Literatur umstritten ist.25 Um sicher zu gehen und eine eventuelle Haftung auszuschließen, müsste der niederländische Notar dem Ehepaar daher empfehlen, die Rechtswahl erneut in Deutschland zusätzlich durch einen deutschen Notar beurkunden zu lassen. Ein äußerst kostenungünstiges und unpraktisches Ergebnis. Erstaunlich ist weiterhin, dass die zusätzlichen Formanforderungen nur dann gelten sollen, wenn zumindest ein Ehegatte im Zeitpunkt der Rechtswahl in einem Mitgliedstaat der EuGüVO ansässig ist. Haben beide Ehegatten ihren gewöhnlichen Aufenthalt hingegen in einem Drittstaat bleibt es bei den geringeren Formanforderungen des Art. 23 Abs. 1 EuGüVO.26 Die hinter dieser Differenzierung stehenden praktischen Überlegungen überzeugen unter Wertungsgesichtspunkten nicht. Weder gibt es innerhalb der Mitgliedstaaten vereinheitlichte Formvorgaben, die durch eine solche Differenzierung abgesichert würden, noch ist ersichtlich, wieso in Mitgliedstaaten ansässige Ehegatten

_____ 23 Vgl. Art. 11 EGBGB, Art. 11 Rom I-VO, Art. 21 Rom II-VO, Art. 27 f. EuErbVO. 24 Weber, DNotZ 2016, 659, 679. 25 Siehe hierzu Winkler v. Mohrenfels, in: Staudingers Kommentar zum BGB, Neubearbeitung 2013, Art. 11 EGBGB Rn. 304 f. mwN. 26 Vgl. auch Winkler v. Mohrenfels, in: Münchener Kommentar zum BGB, 6. Auflage 2015, Art. 7 Rom III-VO Rn. 8.

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schutzbedürftiger sein sollten, als solche, die sich im Zeitpunkt der Rechtswahl in Drittstaaten aufhalten.

2. Formvorgaben für Vereinbarungen über den ehelichen Güterstand in Art. 25 EuGüVO Es verwundert und ist aus kompetenzrechtlichen Gründen auch nicht unproblematisch,27 dass die Verordnung auch autonome sachrechtliche Vorgaben für das materielle Güterrecht enthält. Die eben beschriebene Regelung für die Rechtswahl findet sich praktisch wortgleich in Art. 25 EuGüVO und ist insoweit für alle „Vereinbarungen über den ehelichen Güterstand“ anwendbar. Hinzu kommt als Ergänzung noch der Abs. 3, nach dem auch zusätzliche Formvorschriften der lex causae beachtet werden müssen. Gerade dieser Abs. 3 ist in seinen Auswirkungen für die notarielle Praxis äußerst problematisch. Selbst wenn zwei Deutsche, die in Deutschland leben und auch in Deutschland geheiratet haben, vor einem deutschen Notar erscheinen und eine Vereinbarung über den Güterstand treffen wollen, kann der deutsche Notar nicht sicher sein, diese Vereinbarung formwirksam umsetzen zu können. So kann es doch sein, dass die Ehegatten kurz nach der Eheschließung ihren gewöhnlichen Aufenthalt kurzzeitig in Bulgarien hatten, deshalb über Art. 26 EuGüVO bulgarisches Recht als lex causae Anwendung findet und dieses Recht eine Art der Beurkundung vorsieht, die durch den deutschen Notar nicht substituiert werden kann. Schließlich scheint auch der zeitliche Anwendungsbereich dieser Bestimmung nicht klar zu sein. Art. 69 Abs. 3 EuGüVO28 spricht davon, dass die Art. 20–35 EuGüVO nur für Ehegatten gelten, die die Ehe nach dem 29. Januar geschlossen oder eine Rechtswahl getroffen haben. Führt nun eine Rechtswahl dazu, dass ab diesem Zeitpunkt alle güterrechtlichen Vereinbarungen die Formerfordernisse des Art. 25 EuGüVO einhalten müssen? Gilt dies auch wenn die Rechtswahl nicht wirksam zustande gekommen ist und/oder rückwirkend beseitigt wurde? Oder folgt aus dieser Regelung gar, dass alle nach dem Anwendungsbeginn der EuGüVO abgeschlossenen Rechtsgeschäfte, die entsprechenden Formvorgaben der Verordnung einhalten müssen? Auch hier bleiben viele Fragen offen.

_____ 27 Vgl. Art. 81 AEUV. 28 Siehe hierzu auch schon A.

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3. Die objektive Anknüpfung in Art. 26 EuGüVO Eine weitere praxisbedeutsame Neuerung besteht darin, dass die Stufen der bekannten kegelschen Leiter29 bei der objektiven Anknüpfung in Art. 26 EuGüVO umgekehrt wurden. Vorrangig ist jetzt der erste gemeinsame gewöhnliche Aufenthalt nach der Eheschließung maßgeblich und erst nachrangig die gemeinsame Staatsangehörigkeit. Damit setzt die Verordnung einen allgemeinen Trend im europäischen Kollisionsrecht fort, der die Staatsangehörigkeitsanknüpfung zugunsten einer Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt immer mehr zurückdrängt,30 erstere aber gerade im Familienrecht noch nicht vollständig beseitigt hat.

4. Die Regelung zum Schutze Dritter (Art. 28 EuGüVO) In Art. 28 EuGüVO findet sich auch eine Norm, die sich speziell mit den Wirkungen des ehelichen Güterstandes gegenüber Dritten befasst und einen gewissen Schutz des Rechtsverkehrs sicherstellen soll.31 Dritten dürfen Regelungen des ehelichen Güterstatus nur entgegengehalten werden, wenn diese Kenntnis von dem anwendbaren Güterrecht hatten oder bei gebührender Sorgfalt hätten haben können. Von einer solchen Kenntnis wird gem. Art. 28 Abs. 2 EuGüVO allerdings in drei Konstellationen ausgegangen: Erstens, das für den ehelichen Güterstand maßgebliche Recht ist gleichzeitig die lex causae des streitigen

_____ 29 Benannt nach Gerhard Kegel siehe auch Kropholler, Internationales Privatrecht, S. 347 (Fn. 8). 30 So bereits Kropholler, Internationales Privatrecht, S. 290 ff.; M.-P. Weller, IPRax 2014, 225. 31 Art. 28 EuGüVO lautet: „(1) Ungeachtet des Artikels 27 Buchstabe f darf ein Ehegatte in einer Streitigkeit zwischen einem Dritten und einem oder beiden Ehegatten das für den ehelichen Güterstand maßgebende Recht dem Dritten nicht entgegenhalten, es sei denn, der Dritte hatte Kenntnis von diesem Recht oder hätte bei gebührender Sorgfalt davon Kenntnis haben müssen. (2) Es wird davon ausgegangen, dass der Dritte Kenntnis von dem auf den ehelichen Güterstand anzuwendenden Recht hat, wenn (a) dieses Recht das Recht des Staates ist, i) dessen Recht auf das Rechtsgeschäft zwischen einem Ehegatten und dem Dritten anzuwenden ist, ii) in dem der vertragschließende Ehegatte und der Dritte ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben oder iii) in dem die Vermögensgegenstände – im Fall von unbeweglichem Vermögen – belegen sind oder b) ein Ehegatte die geltenden Anforderungen an die Publizität oder Registrierung des ehelichen Güterstands eingehalten hat, die vorgesehen sind im Recht des Staates, i) dessen Recht auf das Rechtsgeschäft zwischen einem Ehegatten und dem Dritten anzuwenden ist, ii) in dem der vertragschließende Ehegatte und der Dritte ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben oder iii) in dem die Vermögensgegenstände – im Fall von unbeweglichem Vermögen – belegen sind […].“

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Rechtsgeschäfts; zweitens, das Recht des ehelichen Güterstandes ist das gemeinsame Aufenthaltsrecht der Streitparteien; drittens, es wird um eine unbewegliche Sache gestritten und das für den ehelichen Güterstand maßgebliche Recht ist die lex rei sitae des Vermögensgegenstandes. Ferner wird eine Bösgläubigkeit des Dritten vermutet, wenn die Publizitäts- oder Registrierungsanforderungen eines dieser Rechte eingehalten wurden. Diese Norm entspricht im weiten Umfang dem bisherigen Art. 16 EGBGB. Unklar ist jedoch zum einem, ob es sich bei den Vermutungen in Abs. 2 um widerlegbare oder um unwiderlegliche Vermutungen handelt. Der deutsche Wortlaut „es wird davon ausgegangen“ ist wenig aufschlussreich. Die konkrete Ausgestaltung der Vorschrift sowie ihr Sinn und Zweck legen es jedoch nahe, von einer unwiderleglichen Vermutung auszugehen.32 Von Art. 28 EuGüVO erfasste güterrechtliche Regelungen mit Drittwirkung sind etwa die Verfügungsbeschränkungen in §§ 1365, 1369 BGB zum Schutze des ehelichen Vermögensbestandes, aber auch die Eigentumsvermutung in § 1362 BGB oder die Regelung über die Schlüsselgewalt in § 1357 BGB.33 Eine insoweit besonders prominente Vorschrift stellt der Art. 215 Abs. 3 Code civil dar, der französischen Ehegatten die Verfügung über die gemeinsame Ehewohnung ohne Zustimmung des Partners untersagt.34 Offen ist bei solchen Regelungen allerdings, inwieweit sie nicht auch als Eingriffsnorm qualifiziert werden können und dadurch eine gegenüber Art. 28 EuGüVO vorrangige Sonderanknüpfung in Art. 30 EuGüVO erfahren. Der Verkehrsschutz würde dann unabhängig von einer eventuellen Kenntnis des Dritten zurücktreten.35 Eine so weitreichende Aufwertung der Vorschriften zum Schutze des ehelichen Vermögens würde allerdings Art. 28 EuGüVO seines wesentlichen Anwendungsbereichs berauben und kann daher nicht überzeugen. Bisher kaum diskutiert ist die Frage, ob Art. 28 EuGüVO auch sog. Rückholoder clawback-Ansprüche erfasst.36 Mittels solcher Ansprüche kann etwa der zugewinnausgleichsberechtigte Ehegatte Schenkungen, die der andere Ehegatte getätigt hat, rückgängig machen und verschenkte Gegenstände von Dritten zurückholen. Im deutschen Recht findet sich dieser Anspruch in § 1390 BGB. Es

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32 Ebenso Weber, DNotZ 2016, 659, 686. 33 Dutta, FamRZ 2016, 1973, 1982. 34 Art. 215 Abs 3 Code civil lautet: „Les époux ne peuvent l’un sans l’autre disposer des droits par lesquels est assuré le logement de la famille, ni des meubles meublants dont il est garni. Celui des deux qui n’a pas donné son consentement à l’acte peut en demander l’annulation : l’action en nullité lui est ouverte dans l’année à partir du jour où il a eu connaissance de l’acte, sans pouvoir jamais être intentée plus d’un an après que le régime matrimonial s’est dissous.“ 35 So Dutta, FamRZ 2016, 1973, 1983; ablehnend dagegen Weber, DNotZ 2016, 659, 688. 36 Dazu monographisch R. Magnus, Der Rückholanspruch, 2018, S. 363 ff.

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gibt ihn aber auch in vielen anderen Rechtsordnungen, bspw. im französischen und englischen Recht.37 Der Wortlaut des Art. 28 Abs. 1 EuGüVO ist denkbar weit, so dass sich Rückholansprüche problemlos unter diese Vorschrift subsumieren lassen. Auch spricht für eine solche Einordnung, dass der rückwirkend eingreifende Rückholanspruch letztlich ein Schwestermodell zur präventiv wirkenden Verfügungsbeschränkung ist und zu ähnlichen Ergebnissen führt. Wendet man Art. 28 EuGüVO jedoch auf Rückholansprüche an, so stellt man fest, dass der Schutz des Dritten, insbesondere wegen der sehr weitreichenden Vermutungen in Art. 28 Abs. 2 EuGüVO, doch recht lückenhaft ist. Für eine Bösgläubigkeit im Sinne des Art. 28 EuGüVO genügt es bereits, dass der Dritte potentiell Kenntnis davon hatte, in welchem Güterstand welchen Rechts die Ehegatten leben. Auch die Rechtsfolgen des Art. 28 EuGüVO sind unklar. Ist der Dritte gutgläubig, sollen die Wirkungen des ehelichen Güterstandes der lex causae des streitigen Rechtsgeschäfts und bei unbeweglichen Gegenständen der lex rei sitae bzw. dem Recht des Registrierungsorts unterliegen.38 Doch wie ist es, wenn diese Rechte einen vergleichbaren Güterstand gar nicht kennen, sondern bspw. nur eine Gütertrennung oder eine Gütergemeinschaft vorsehen? Sollen dann die Regelungen über die Gütertrennung oder diejenigen über die Gütergemeinschaft Anwendung finden, wobei letztere oft sogar noch weitergehende Verfügungsbeschränkungen vorsehen werden? Auch hier scheinen noch viele Fragen ungelöst.

IV. Fazit Mit der EuGüVO hat die europäische Vereinheitlichung im Kollisions- und Zuständigkeitsrecht einen weiteren großen Sprung gemacht. Weitere Vereinheitlichungsbestrebungen, etwa im internationalen Gesellschaftsrecht,39 laufen bereits an. Wie der Blick in das zunehmend zerpflückte und zerfaserte deutsche

_____ 37 Vgl. Art. 1577 Code civil; sec. 37 Matrimonial Causes Act. 38 Art. 28 Abs. 3 EuGüVO lautet: „Kann ein Ehegatte das auf seinen ehelichen Güterstand anzuwendende Recht einem Dritten nach Absatz 1 nicht entgegenhalten, so unterliegen die Wirkungen des ehelichen Güterstands gegenüber dem Dritten dem Recht des Staates, a) dessen Recht auf das Rechtsgeschäft zwischen einem Ehegatten und dem Dritten anzuwenden ist oder b) in dem die Vermögensgegenstände – im Fall von unbeweglichem Vermögen – belegen sind oder, im Fall eingetragener Vermögenswerte oder im Fall von Rechten, in dem diese Vermögenswerte oder Rechte eingetragen sind.“ 39 Die Europäische Kommission hat hier bereits eine weitere Konsultation gestartet, siehe (https://ec.europa.eu/germany/news/kommission-will-europ%C3%A4isches-gesellschafts recht-modernisieren_de).

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EGBGB zeigt, haben sich nur noch wenige, teilweise auch etwas randständige Bereiche der Vereinheitlichung bislang entzogen. Ist die Zeit daher reif für eine große europäische Kodifikation des Kollisionsrechts? Das ist eine Frage, die über das Thema dieser Abhandlung weit hinausreicht, sich mit jeder weiteren Teilkodifikation aber immer mehr aufdrängt. Trotz der aufgezeigten Unzulänglichkeiten fällt mein Fazit insgesamt positiv aus. Durch die Vereinheitlichung wird ein Gewinn an Rechtssicherheit und Kohärenz erzielt, der die Nachteile, die mit einzelnen Regelungen verbunden sind, deutlich überwiegt. Gleichwohl stellt ein so umfangreiches und detailliertes Regelwerk für die Praxis eine erhebliche Herausforderung dar und auch einiger Nachbesserungsbedarf, insbesondere im Hinblick auf die verunglückten Regelungen über die Formgültigkeit, lässt sich bereits jetzt absehen. Auch insoweit kann man aber guten Gewissens auf die Qualität der beteiligten Organe der Rechtspflege vertrauen und mit dem berühmten Ausspruch eines englischen Richters schließen: „Das Gesetz, das mich davon abhält eine gerechte Entscheidung zu treffen, muss erst noch geschrieben werden.“

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