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German Pages 262 Year 2015
Hans-Joachim Lenger, Georg Christoph Tholen (Hg.) Mnema
Hans-Joachim Lenger, Georg Christoph Tholen (Hg.)
Mnema Derrida zum Nachdenken
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Umschlaggestaltung & Innenlayout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Hans-Joachim Lenger, Georg Christoph Tholen Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-510-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
INHALT Vorwort HANS-JOACHIM LENGER/GEORG CHRISTOPH THOLEN 7
Abschied nehmen. Ein Home Video AVITAL RONELL 9
Drei Sätze von Jacques Derrida JEAN-LUC NANCY 27
Die ›kommende Demokratie‹: Zu einer Poetik des Unmöglichen SAMUEL WEBER 31
Großzügig jenseits des Lobes JEAN-LUC NANCY 43
Mnema und Mneme. Gedanken eines Gräzisten ANTON BIERL 47
Schreibstunde an der Telegrafenlinie. Zur Grenze von Schriftlichkeit und Mündlichkeit bei Claude Lévi-Strauss und Jacques Derrida ALEXANDER HONOLD 65
Gesetzeslücke. Derrida und die Epoché der Regel STEFAN LORENZER 79
»Die Dekonstruktion ist die Gerechtigkeit« ELISABETH WEBER 93
Eine différance der »Werte«. Marx mit Derrida HANS-JOACHIM LENGER 101
Genealogische Dekonstruktion des Politischen und politische Dekonstruktion des Genealogischen. Derrida und Nancy über Geburt und Gemeinschaft ARTUR R. BOELDERL 117
Ein unbedingter Rationalismus. Derrida, die kommende Aufklärung und der Antisemitismus OLIVER MARCHART 135
Die Rhetorik der Blindheit als Trauerarbeit im Sichtbaren bei Derrida und Rilke SILVIA HENKE 157
Mohn und Gedächtnis. Weiter(ge)denken nach Paul Celan und Jacques Derrida SANDRO ZANETTI 171
Denken auf der Bühne. Derrida, Forsythe, Chétouane NIKOLAUS MÜLLER-SCHÖLL 187
Der Denker als Zeit-Zeuge. Derrida über Zeugnis und Beweis MICHAEL WETZEL 209
Derrida und die vergangene Zukunft des Archivs PETER KRAPP 221
Autorinnen und Autoren 233
Literatur 241
VORWORT HANS-JOACHIM LENGER/GEORG CHRISTOPH THOLEN
Jacques Derrida ist in aller Munde; sein Werk dagegen, in seinen philosophischen wie politischen Dimensionen, bleibt weiterhin randständig oder zumindest unabgegolten, trotz des unleugbaren Erfolgs, den die weltweite Verbreitung und Übersetzung seiner Schriften zu garantieren scheint. Dekonstruktion, ein in den letzten Jahren nicht selten nur noch feuilletonistisch oder gar inflationär gebrauchter Begriff, kann zum kalkulierten Vergessen eben jenes Anspruchs führen, den Derridas Denken im oder unter dem Namen eben dieses Begriffs zeitlebens wachzuhalten versuchte. Jacques Derrida ist im Alter von 74 Jahren am 8. Oktober 2004 in Paris gestorben. Nach seinem Tod, einer für viele Zeitgenossen gewiß traumatischen Zäsur in der Geschichte eines Projektes, das keineswegs, weder für ihn selbst noch für seine Mitstreiter, abgeschlossen war1, wetteifern miteinander – wie ein flüchtiger Blick in die Liste der Veröffentlichungen von und zu Derrida belegt – das Vergessen und das Überleben der Dekonstruktion. Auch dieser Band, der sich einem Workshop zum Gedenken an Jacques Derrida verdankt, der unter dem Titel Mnͅma am 9. Juli 2005 an der Universität Basel stattfand, nimmt teil an der Politik und Aufgabe der Erinnerung an die Dekonstruktion, innerhalb derer eben dieser prekäre Widerstreit von Vergessen und Bewahren thematisch war und ist, vom Früh- bis zum Spätwerk Jacques Derridas. Mnͅma bedeutet: Andenken, Gedächtnis, Erinnerung, Erwähnung, Denkmal, Grabmal. Subtil zeigt sich in dem Wort an, daß jedes Sprechen, in dem Lebendiges Erwähnung findet, auf eine Abwesenheit verwiesen ist, die sich in keiner Gegenwart versammeln läßt. Diese »différance« vor allen Unterschieden hat sich im Werk Derridas ebenso nachgezeichnet wie vorgeschrieben. Sie stört nicht nur die Gemeinschaft jener auf, die sich mit einem fragwürdigen Begriff »Philosophen« nennen. 1
Wie es, beispielsweise, Derridas minutiöse Studien zur »Politik der Freundschaft« (Politiques de l’amitié, Paris 1994, dt.: Frankfurt a.M. 2000) und zu einer vielleicht »kommenden« bzw. nur in dem »Vielleicht« des Kommens zu bestimmenden Demokratie bezeugen. 7
MNEMA
Sie unterbricht ebenso die Kohärenz von Disziplinen, die sich etwa der Technik, der Ökonomie, der Politik oder den Medien widmen. Die différance nämlich, so heißt es bei Derrida, zeichnet sich durch eine gewisse »mediale Form« aus. Sie läßt sich weder auf die Aktivität noch die Passivität eines »Subjekts« zurückführen. Sie kommt dazwischen. Anders gesagt: das »Wesen des Medialen« ist nichts, was sich in Begriffen technischer Medien ausschöpfen ließe. Gerade deshalb durchquert diese différance jedoch alles, was sich zu regionalen Ordnungen des Wissens würde festsetzen wollen. Insofern versuchte der oben genannte Workshop wie jetzt dieser – ungebührlich aufgeschobene – Band, im unabschließbaren Gedenken eben jene Unruhe spürbar machen, die das Werk Derridas – nicht nur, aber auch in medientheoretischer Perspektive – freisetzt. Die Dazwischenkunft also, die der Dekonstruktion in der Geschichte des Denkens selbst wie diejenige, die Derridas Werk – von »Die Schrift und die Differenz«2 bis zu »Schurken. Zwei Essays über die Vernunft«3 – erkundet, ist Thema und Horizont des vorliegenden Buches. Die Arbeit an der Trauer, die zugleich und (nicht) zuletzt ein »Apprendre à vivre enfin«4 eröffnet, ist ein zentrales Motiv im Denken der Dekonstruktion. Es gilt, diese Arbeit des unbeendbaren »Abschiednehmens«5 anzunehmen.
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Jacques Derrida, L’Écritue et la Différance, Paris 1967 (dt.: Die Schrift und die Differenz, Frankfurt a.M. 1972). Jacques Derrida, Voyous. Deux essais sur la raison, Paris 2003 (dt.: Schurken. Zwei Essays über die Vernunft, Frankfurt a.M. 2003). Jacques Derrida, Apprendre à vivre enfin. Entretien avec Jean Birnbaum, Paris 2005. Avital Ronell, Saying Good-bye. A Home Video, in: Poiesis. A Journal of the Arts and Communication, 7 (2005), S. 10-25 (dt.: Abschiednehmen. Ein Home Video, in diesem Band, S. 9-25). Erste Spuren dieser Trauerarbeit versammelt der kleine, aber wegweisende Band »Salut À Jacques Derrida«, hg. von Rue Descartes 48, Revue Collège International de Philosophie, Paris 2005. 8
ABSCHIED
NEHMEN.
EIN HOME VIDEO1
AVITAL RONELL
Vermutlich stellt sich die Frage, wie Derridas Vermächtnis bestimmt und angenommen werden kann. Meine Erschöpfung und Mutlosigkeit machen es mir an dieser Stelle schwer, klare Behauptungen oder prophetische Sequenzen anzubieten, und so dachte ich, den Vorhang vor jüngsten und weit entfernten Szenen zu öffnen, um einige der traumatischen Episoden zu betrachten, die uns in diesen vergangenen Monaten verbunden haben. Oder, um die traumatischen Punktierungen (punctuation marks) beiseite zu lassen (angenommen, dies wäre möglich), ich könnte einige Momente vorführen (screen), die ich angesichts der unerbittlichen Intensitäten der letzten anderthalb Jahre bis jetzt nicht zu entziffern vermochte – ich habe einfach weitergemacht, von einem erbarmungslosen Zwang getrieben, nur gelegentlich fähig, mir den Druck einzugestehen, den er auf mich ausübte. Zwangsläufig und unruhig trete ich in die Schilderung auf eine Weise ein, die mich erschüttert. Ich hätte es vorgezogen, meine Spuren zu tilgen, wenn ich von Derrida schreibe, um die Bahn für die Einzigartigkeit seines Erzählens freizumachen. Mir ist der narzißtische Überschuß zuwider, dessen Verbreitung ich kommen sehe; ich hätte mich zurückziehen oder entschuldigen sollen, aber ein solches Abtauchen hätte mir umgekehrt irgendeine kritische Stellungnahme abverlangt – oder aber zu schweigen. Auch eine Möglichkeit. Und doch nehme ich einen Ruf an,2 dem ich mich verpflichtet fühle, auch wenn das die vornehmere Haltung aufgibt, die ich gerne beibehalten hätte: keine narzißtische Vereinnahmung (»er ist Teil von mir«), kein Alleinlassen in seiner 1
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Zuerst erschienen als: Saying Good-bye. A Home Video, in: Poiesis: A Journal of the Arts and Communication 7 (2005), S. 10-25. Bei dem Essay handelt sich um die schriftliche und erweiterte Fassung einer kurz nach Jacques Derridas Tod gehaltenen Rede, die mit der Emphase der Betroffenheit verfasst wurde und diese dokumentiert. – Die vorliegende Übersetzung ist eine leicht gekürzte Fassung. Das englische Wort call ist sowohl mit Ruf und Anruf, aber auch mit Anspruch im Sinne des Lacanschen demande übersetzbar. Vgl. Avital Ronell: »Eurozeit«, in: Georg Christoph Tholen/Michael O. Scholl (Hg.), ZeitZeichen. Aufschübe und Interferenzen zwischen Endzeit und Echtzeit, Weinheim: VCH Acta Humaniora 1990, S. 201-210 [A.d.Ü.]. 9
AVITAL RONELL
eigenen, unvergleichbaren Größe (»er braucht mich nicht«), nur eine stille Wache, verantwortlich, besonnen. März, 2004. Es war eines Morgens beim Frühstück. Nein, die Vormittage waren hart für ihn. Ich bestritt den größten Teil der Unterhaltung – im Grund gab ich Stichworte. Es muß das Mittagessen gewesen sein. Das französische Konsulat, wenn ich mich recht entsinne, hatte ihn gebeten, eine Universität auszuwählen, an der die Veröffentlichung von L’Herne3 bekanntgegeben werden sollte – die letzte seiner Publikationen, die er erleben würde (sie kommen weiterhin heraus – leben weiter im Ausdruck). Beim Mittagessen – wir hatten gerade etwas Körperarbeit und Meditation gemacht – sagte er: »Ich möchte, daß es in New York stattfindet.« Es würde seine letzte Zwischenstation sein. Er wollte von uns Abschied nehmen, seinen letzten Kurs geben – uns seinen letzten Kurs geben – und an einigen Nachmittagen saßen wir beisammen, um das Seminar zu planen. Er hatte vorangegangene Seminare gegeben, gerade eines über die Vergebung und ein anderes über das Gedächtnis, in dem er, in schärferer Sprache, einige seiner Gedanken zum Werk Paul de Mans überarbeitete; sein kritischer Rückblick auf de Man hatte einige Kontroversen hervorgerufen, die Atmosphäre in dem überfüllten Seminarraum der NYU4 war angespannt und erregt. Er folgte de Man, mit der Präzision eines Lasers. Doch nicht jeder war bereit, das mitzuerleben. Im März machte er den Vorschlag, diesmal eine Vorlesung über »Souveränität und das Biest« (Sovereignty and the Beast) anzubieten. So wenigstens hatte ich den Titel des Seminars übersetzt, falsch, aber mit Absicht, wie ich dachte. Bei näherer Betrachtung hätte der Titel »Der Souverän und das Tier« (The Sovereign and the Animal) lauten müssen. Wer weiß, wie viele Stunden ich damit zugebracht hatte, die Fürs und Widers verschiedener Versionen jedes Titels abzuwägen, die ich seinen Entwürfen entnommen hatte. Er verfolgte seinen Gedankengang zum Ausschluß des Tieres aus den konventionellen philosophischen Denkstilen, indem er traditionelle Bestimmungen überprüfte, einschließlich der Abgrenzungen, die den Menschen in seltsamen idiomatischen Wendungen vom Tier absetzen, wie das in den Arbeiten von Levinas und Heidegger die Oberhand gewonnen hat. Er plante, die spekulative Maschine mit einer Lektüre von Robinson Crusoe zu starten, dessen Nachname (ich sah das, als ich den Roman für die Zusammenkunft vorbereitete) eine Abwandlung des deutschen »Kreutzer« ist. Ich hatte in den letzten Jahren jedes Wintersemester zusammen mit Derrida gelehrt. Es machte mich nervös, aufgeregt, besorgt. 3 4
Marie-Louise Mallet/Ginette Michaud (Hg.): Cahier de l’Herne: Jacques Derrida, Paris: Les Cahiers de l’Herne 2004 [A.d.Ü.]. New York University [A.d.Ü.]. 10
ABSCHIED NEHMEN
Üblicherweise bereitete ich den Kurs vor, indem ich passendes Material präsentierte, um die Hörerschaft (nicht alles Studierende: einige Professoren, einige freie Autoren, eine Anzahl von Künstlern, Kuratoren, Filmemachern) in rhetorischen und ›dekonstruktiven‹ Lektüren zu schulen. Obwohl ich sehr ernsthaft bei der Sache war, den Kurs vorbereitete, den Lehrplan zusammenstellte, mußte ich dessen Richtung unvermeidlich abändern. Ich begann damit, fast immer unabsichtlich, den Kurs vom Kurs abzubringen; ich plante das nicht, machte es aber dennoch. Diesmal, so dachte ich, könnte ich die Seminarteilnehmer mit dem Tierischen (beastliness) vertraut machen, indem ich mir den deutschen Namensvorgänger vorknöpfte, also die Übersetzung oder Umwandlung eines Namens aus dem Deutschen. Wie viele von uns waren dieser Route gefolgt, einen deutschen Namen herauszulassen (unload), nur um sich isoliert zu finden, vom Nullpunkt anzufangen, von aller Welt verlassen! An der NYU war der Oktober seit dem Jahr als »Derrida-Monat« bekannt, in dem wir eine ganze Serie von Ereignissen rund um sein Œuvre und seine Person veranstaltet hatten. 1998 widmete sich Ben Binstock, den ich seit meiner Zeit in Berkeley kannte und der inzwischen ein Rembrandt-Spezialist war, der Aufgabe, den Oktober derart umzutaufen und ihn in unser eigenes geschätztes Oktoberfest – inklusive Nietzsches Geburtstag – zu verwandeln. Für jeden Tag des Monats beraumte er ein Derrida-Ereignis an, oder streng genommen, nicht als ein solches »Ereignis«. Oder noch strenger genommen, vielleicht doch ein Ereignis – wer bin ich, dies sagen zu können? Wie könnte ich das wissen? Ein Ereignis würde seine Ereignishaftigkeit verlieren, wäre ich in der Lage zu bestimmen, ob es aufgetreten ist oder nicht, ob es eingetroffen ist oder beendet wurde. Trotz unseres üblichen Bestrebens, es festlegen und festhalten zu wollen, »passiert« das Ereignis manchmal – ja es passiert als etwas anderes als es selbst, passiert uns oder passiert einfach. Jedenfalls war dies das Jahr, in dem ich die Vorlesung in jener alten DowntownSynagoge hielt, die »Abraham! Abraham! Abraham, Jacques & Martin« genannt wird. Am Schluß der Rede – ich war nervös, weil Jacques direkt neben mir saß, mir über die Schulter sah und mitlas, während ich laut vortrug: es war eine unmögliche Szenographie – setzte er mir einen Kuß auf die Stirn, öffentlich, und versah so die Präsentation mit einem Schlußpunkt. Das war seine Art, mich zu begrüßen, jedes Mal, wenn der Moment kam, um Hallo und Adieu zu sagen. Nun aber nahm er meine Stirn in die Hände und küßte sie nach meiner Rede in aller Öffentlichkeit. An dem Tag, an dem ich ihn in JFK5 hätte abholen sollen, verließ er uns, verließ Jacques Derrida seinen Körper: ich hatte in dieser Nacht eine 5
John F. Kennedy Flughafen in New York [A.d.Ü.]. 11
AVITAL RONELL
Heimsuchung, aber ich bin nicht darauf vorbereitet, über die geheime Unterredung, eine vertrauliche Geistererscheinung6 zu reden. Ich weiß immer noch nicht, wie ich es aussprechen soll, und bis vor drei Wochen glaubte ich nicht einmal, daß er sich dafür hat entscheiden können zu gehen. Ich hatte die Maschinen meiner Realitätsprüfung noch nicht hochgefahren und wollte es einfach nicht wahrhaben, obwohl ich seinen leblosen Körper im Oktober umarmt und geküßt hatte. Daß er gegangen war, nicht mehr von dieser Welt, nicht mehr unter uns war: Ha! – keine dieser phrasenhaften Verunglimpfungen sagte mir irgend etwas; ja, es gab angebliche Gedenkfeiern, und ich spielte mit, gab vor, daß er gegangen war, simulierte Resümees und Aufrufe, täuschte Schmerz vor, doch ich wußte, daß all dies eine Lüge und er noch unter uns war und mich nicht verlassen würde, und ich hielt an diesem Wissen fest, bis ich vor einigen Wochen in sein Haus trat und dort seine Arbeitstasche sah – eine Büchertasche, die er stets bei sich trug, immer zu schwer, sichtbar abgenutzt –, die in der Ecke wartete. Da traf es mich. Hätte ich den Mut oder die Kapazität, würde ich an dieser Stelle das Wort an ihn übergeben. Nicht nur im Sinne einer Zitierweise, die den anderen wieder auferstehen läßt und dem nun Stimmlosen die Sprache zurückerstattet. Sicherlich gebührt ihm, daß wir das Lob seiner und in seinen Worten singen, sie wiedererklingen lassen und freisetzen, um sie vielstimmig hören zu lassen, von Sorge gedrückt, angestimmt in einem Ton nicht auszulöschender Ehrfurcht. Derrida! Derrida! Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, Dich zu adressieren, oder wenigstens Sprachfiguren zu liefern, die an ihn adressiert werden könnten. Auch wenn ich glaube, ihn auf dem telepathischen Kanal erwischt zu haben – wir teilten ein ganzes Netzwerk von Aberglauben und Tabus wie auch private Mystizismen –, war sein Umgang mit anderen, wie ich beobachtete, frei von solch heimlichen Interferenzen, sehr direkt, sozial versiert (unheimlich bei einem Philosophen, oh diese Rohlinge!, aber das ist eine andere Geschichte). Aber mit mir – mich ließ er spirituell oder, sagen wir’s so, philosophisch seltsam werden, ferngesteuert von einem nicht verortbaren Befehlssystem, aber schließlich, wer ist das nicht, wenn es darum geht, sich größeren Dingen wie Freiheit, Liebe, Heiligkeit zu unterwerfen; wie wollen wir überhaupt wissen, was oder wer es ist, das oder der den kategorischen Imperativ vorschreibt, wie, glaube ich, Jean-Luc7 einmal gefragt hat. Ich sehe, daß ich mich Themen genähert habe, die Übertragungssysteme, parasitäre Äußerungen und geisterhafte Gebilde verschweißen. Diese Themen, nicht immer thematisierbare Vorkommnisse, 6 7
Im Original spectrology und damit auf Derridas Untersuchungen zur Hauntologie anspielend [A.d.Ü.]. Gemeint ist der französische Philosoph Jean-Luc Nancy [A.d.Ü.]. 12
ABSCHIED NEHMEN
machen deutlich, wie ich manchmal zu ihm herüberkabelte, gemäß des geheimen Übertragungsprotokolls unserer Begegnung. Zu anderen Zeiten dann mußte ich bodenständig und geradezu klassisch im Sprachgebrauch bleiben. Plötzlich hatte er mit mir auf eine andere Spur gewechselt und erwartete eine kompromißlose Klarheit von mir. Ich spürte dann die Spannung, bemühte mich aber, zu liefern. Wenn ich mehr Kraft hätte, würde ich eine Serie von Postkarten8 schreiben wollen, deren Bestimmung und Bestimmungsort, für immer verzogen, auf Deinen Namen lauten würde. Vielleicht könnte ich als mein Haupt- oder wenigstens Ausgangsthema etwas wählen wie das Zeitalter Derridas – wie aber dies widerspenstige, aufsässige Zeitalter bemessen oder kalkulieren, wo es begann, wie sie beginnen, er und die »Dekonstruktion« (um der Kürze willen)? In meinem eigenen Werk, wenn ich es so nennen darf – er: Mutter und Vater, Baby und Freund »Oh meine Freunde, es gibt keinen Freund,«9 aber das ist eine andere Geschichte – der schicksalhafte Schauplatz (»Vater« und »Schicksal« sind von Freud unwiderruflich verknüpft worden: Ich könnte das dem Postkartenlexikon des Heideggerschen schicken*, Schicksal*, Geschick* etc. hinzufügen), der materno-paternale Motor meines sogenannten eigenen Werkes – ich stottere, taumele, zum Stolpern gebracht durch die Annahme, etwas zu postulieren, das mich weitertreibt oder runterdrückt, kann’s nicht sagen, derselbe Unterschied – Ahem. In meinem »eigenen« Werk, nun (zehnminütige Pause, ob oder ob keine Spuren von Vampirbissen rund ums »Werk«), hatte ich versucht, die Goethezeit zu vermessen und zu kalibrieren – die Zeit, das Timing, die Temporalien Goethes, eine Blockbuster-Epoche für das, was man als Germanistik kennt. Als ich für ein anderes Papier zu Ehren seines Werkes vor einigen Monaten über das Zeitalter Derridas nachzudenken begann, wußte ich nicht, daß seine Uhr ablief, auch wenn ich zu den Derridas gezogen war, um bei seiner Pflege zu helfen, als er krank geworden war. Wir wußten nicht, wieviel Zeit er hatte, dachten aber, es würde mehr sein. Mort.10 In der Nacht, bevor er uns verließ, hatte Marguerite angerufen, und wir sprachen für eine Stunde über seine Operation, die Art, wie er ihre Hand hielt, die nächsten zwei Jahre der Medikation, der Genesung, den Behandlungsplan. Ich war in New York, und sie rief mich sehr spät für ihre
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Vgl. Jacques Derrida: Die Postkarte. Von Sokrates bis an Freud und Jenseits, Berlin: Brinkmann & Bose 1982 [A.d.Ü.]. 9 Vgl. Derridas Überlegungen zu diesem Satz, der u.a. Nietzsche und Aristoteles zugeschrieben wird, in Jacques Derrida: Politik der Freundschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002 [A.d.Ü.]. 10 Im Original Französisch [A.d.Ü.]. 13
AVITAL RONELL
Zeit an. Die Zeitverschiebung gehört zu meinen Mühen, die Zeiten Derridas abzulesen.
Rückblende 2 Es war August in Berkeley. Die meisten meiner Kollegen waren in Europa oder Hawaii, und ich wickelte endlose Fußnoten für das Telefonbuch11 ein, die umfangreichen »Gelben Seiten.« Es muß also 1989 gewesen sein. Das Telefon klingelte. Jemand aus dem Sekretariat des Präsidenten fragte mich, ob ich den Kulturminister der Republik China empfangen würde. Ich? Nun, niemand anders sei vor Ort, und ihnen gingen die Optionen aus, wurde mir gesagt. Drei Tage? Ich weiß nicht. Das scheint eine Menge zu sein, und ich bin nicht vorbereitet. Ich muß einige Recherchen machen. Außerdem muß ich ein Buch fertig schreiben und mir die Haare waschen. Eine Stunde später begrüßte mich der Minister. Er drückte seine Freude aus und brachte großzügige Ehrfurchtsbekundungen vor, denn man schulde mir den Respekt, so erklärte er, den nur eine Anhängerin von Konfuzius erwarten könne. Ich war die Schülerin von Jacques Derrida! Zu der Zeit, Mitte der Achtziger, war selbst Berkeley nicht bereit, Derrida aufzunehmen, noch weniger einen mutierten Abkömmling, all das, was Derrida selbst einmal sein eigenes spitzbübisches Stadium, seinen Schurkensta(a)t(us) oder -territorium nennen sollte (er setzte Territorium mit Terror und terre,12 Erde, in Verbindung, das Konzept des Nationalstaates entwurzelnd; das spitzbübische Kind (voyou13) Avi – er übersetzte meinen Namen, so als würde er sagen »für’s ganze Leben,« als würde er mit mir lebenslang feststecken, à vie). Ich meinerseits fühlte mich eher wie eine frühe Christin denn als Anhängerin des Konfuzius. Einsamkeit und Theorie-Bashing, große Einschüchterung und Bestrafung herrschten in jenen Tagen vor. Ebenso niedrige Löhne und spöttelnde Kollegen – vorausgesetzt, man schaffte es, reinzukommen oder auf jemandes Gehaltsliste zu landen. Nicht nur das, denn war man erst einmal drinnen, wurde Freud wenigstens einmal pro Monat k.o. geschlagen, Lacan aus unserem Orbit gewirbelt, und mit Ausnahme von ein oder zwei Querulantinnen waren die Theoriegirls noch nicht mal auf den Radarschirmen der Jungs aufgetaucht. Ich hatte das schnellste Mund-
11 Avital Ronell: Das Telefonbuch. Technik, Schizophrenie, elektrische Rede, Berlin: Brinkmann & Bose 2001 [A.d.Ü.]. 12 Im Original Französisch [A.d.Ü.]. 13 Voyou bedeutet auch »Schurke«. Vgl. Jacques Derrida: Schurken. Zwei Essays über die Vernunft, Frankfurt a.M. 2003 [A.d.Ü.]. 14
ABSCHIED NEHMEN
werk14 im Westen, aber in diesen Tagen war das nichts zum Prahlen. Der einzige, der etwas bleibenden Einfluß hatte, war Foucault, gesäubert, geradegezogen und identitär. So abgefertigt, erreichte mich die Botschaft, die Postkarte und Sendung (envoi) aus China – Neuigkeiten über die Geschicke der Dekonstruktion. Für mich tauchte der Bericht über ihre Bestimmung und ihren Schickungsort aus einem ganz unerwarteten Horizont auf, und der Minister, der mein Freund wurde, machte die Bühne frei für einen alternativen »entwendeten Brief«, zeigte dessen Platz direkt dort, vor meiner Nase, und doch entschieden unsichtbar. Wie in einer Kafka-Parabel erhielt ich die Sendung über Jacques Derridas Geschick als Philosoph von einem Posten, der über das Geheimnis einer tatsächlich möglichen und zugleich stark flektierten Zukunft wachte. Wie Derrida uns gelehrt hat, es gibt mehrere Zukünfte und noch mehr Wiederkünfte. Gegen Ende wandte er sich der Politik zu, zitierte die Demokratie à-venir, die kommende Demokratie herbei, die noch vor uns liegt.15 Schon ziemlich krank, ging er ins Fernsehen, um in seiner besonderen Art für die schwule Ehe einzutreten. Eigentlich sollte der Staat sich ganz aus den Ehesakramenten heraushalten und das religiösen Stellen überlassen. Jeder sollte Zugang zu zivilen Vereinigungen haben, und diejenigen, die darüber hinaus die Ehe wollten – eine unausweichlich religiöse Institution – könnten sich an ihre örtliche Synagoge, Kirche oder Moschee wenden. Er hat im Namen der Obdachlosen agitiert, der illegalen Einwanderer – der berühmten »sans papiers« – und die Literatur als Ort einer beispiellosen Dissidenz gewürdigt. Was uns als zusammenhangslose oder unverhältnismäßige Ausrichtung am Literarischen erscheinen mag, gehört ins Dossier seiner Leistungen – nämlich literarische Macht anderen Zitierweisen ebenbürtig zu machen, Poetizität als unaufhaltbares Widerstandsregister einzusetzen oder als solches anzusehen (er schreibt im Buch desselben Titels, daß »résistance« immer eines seiner Lieblingswörter gewesen ist, ob politisch abgewandelt, historisch betrieben, poetisch in Szene gesetzt oder psychoanalytisch gefärbt). Er war, Jahre zuvor, nach Prag gefahren, die Warnungen der Regierung ignorierend, daß er eine Einladung nicht annehmen solle. Er empfand eine Verpflichtung, diese Einladung einer Gruppe von Philosophen nicht auszuschlagen, die auf der schwarzen Liste standen. Auf Grund erfundener Drogenbeschuldigungen nahmen ihn die Behörden fest; er wurde ins Gefängnis geworfen. (Ich war zu dieser Zeit in seinem Haus in Ris mit Marguerite und Pierre und Jean und der Katze, Lucrèce; zu meinem Erstaunen hatte eine Anzahl französischer Minister der inzwischen sozialistischen Regierung 14 Das Wort pun meint auch Wortspiel und hier die Fähigkeit, mit Worten zu spielen [A.d.Ü.]. 15 Vgl. den Aufsatz von Samuel Weber in diesem Band [A.d.Ü.]. 15
AVITAL RONELL
zu seinen Studenten gehört. Sie spürten die Ohrfeige und waren entschlossen, ihn aus dem tschechischen Gefängnis herauszuholen. Die Behörden der damaligen Tschechoslowakei drückten ihr Erstaunen aus angesichts der Macht, die dieser dissidente Philosoph ausübte, und ließen ihn schnell gehen.) An der Front im eigenen Land hat er sich niemals der Französischen Kommunistischen Partei angeschlossen, obwohl das die Richtung war, aus der in seinem Milieu der Wind blies, die Richtung, die die meisten Gleichaltrigen an der École normale supérieure magnetisierte. Dennoch schrieb er für »l’Humanité« und war befreundet mit ihren DichterPhilosophen-Anhängern wie Jean Ristat, der die Leser kürzlich in einem Nachruf und einer öffentlichen Würdigung an Derridas Unterstützung und Beiträge erinnerte, besonders an einen Artikel zum Jubiläum der Zeitung, in dem er erklärte, »Warum ich l’Humanité liebe.« Entsprechend gab es Schlitzohren und philosophische Geplänkel, nicht ohne Riskanz, einschließlich jener über seine uncoole Nicht-Mitgliedschaft. Ohne dem Maoismus oder Kommunismus zu erliegen wie einige aus seiner Clique, wandte er sich nie der Rechten zu wie einige aus seiner Clique. Er blieb entschlossen links, in einer wachsamen und anspruchsvollen Weise. Ganz gelegentlich mag er vielleicht geblinzelt haben, als er und Hélène Cixous zu jener Zeit, in der Mitterand an die Macht kam, der neuen sozialistischen Regierung zu viel Vertrauen entgegenbrachten. Vorübergehend machten sie mit, aber das hatte auch seine gute Seite. Neben der Organisation seiner Freilassung aus dem Gefängnis gab man ihm weitere Freibriefe, so die Erlaubnis, das Collège international de philosophie in der Rue Descartes ins Leben zu rufen – die einzige erstklassige französische Institution, die offen ist für eine kosmopolitische Ansteckung (contamination), freigegeben für Fremde, um in Frankreich zu lehren, zu denken und für etwas einzustehen. Neben seinen Schriften und seinen Vorlesungen deutete Derrida die Universität in entscheidender Weise um, erzeugte er dauerhafte und nachvollziehbare Rückwirkungen von den Vereinigten Staaten auf Europa und wieder zurück, wobei er wie kein anderer pädagogische Gebote und institutionelle Neuerungen ineinander spiegelte. Auf heimischem Grund wurden ihm Professuren oder ein Sitz im Collège de France verweigert, obwohl man ihn dazu aufforderte, sich zu bewerben und sein Werk zu präsentieren und sich vor Komitees mit der Vorab-Zusicherung zu erniedrigen, daß die Sache bereits abgemacht sei; du hast nichts anderes zu tun als zu erscheinen. (Ich war bei der Verteidigung seiner Dissertation dabei, das Eintrittsticket für den ganzen Prozeß, und ich war dort, als er eine Kiste voll mit seinen Büchern und Papieren heranschleppte, um sie dem großen Komitee zu präsentieren. Einer der unausgesprochenen Nebeneffekte des Umstands, daß
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ABSCHIED NEHMEN
Derrida niemals einen angemessenen Job in Frankreich erhielt, bestand darin, daß er keine Assistenten oder Schreibkräfte hatte, so daß er alles selbst heraussuchen, fotokopieren, zusammenfassen und tragen mußte, in Zeiten und Milieus, in denen es keine freundlichen Copyshops in der Nachbarschaft und dergleichen gab. Nun, ich bin gegenüber solchen materiellen Sorgen aufmerksam, wenn ich ihn seine beschwerlichen Kartons mit Büchern schleppen sehe, um sich der Befragung eines Komitees zu unterwerfen – so etwas gehört zu meinem inneren Album besorgter Erinnerungen.) An manchen Tagen war er sein eigenes Proletariat – wenigstens nach den Standards amerikanischer Besucher und den Widmungen. Er erzählte mir, daß Harold Bloom, in den Tagen, als sie noch miteinander sprachen, […] sein Haus sah, besonders die enge Mansarde, in die sich Jacques zum Schreiben gezwängt hatte – ein spärlicher Heizlüfter trug wenig dazu bei, die zähneknirschende Kälte zu mindern; in diesen Tagen würde der Meister mit einem Schal um seinen Hals geschlungen schreiben, mit einem Sweater, manchmal einem Mantel – Harold Bloom drückte seine Bestürzung und Überraschung darüber aus, daß es dies war, wo die großen Werke gezeichnet »Jacques Derrida« grünes Licht kriegten, die Treppe rauf in einem ungeheizten Dachzimmer. Viele amerikanische Akademiker dieser Generation, mit ihren großen alten viktorianischen Häusern und bequemen Studierzimmern, waren abgestoßen, einige murmelten etwas von der Ästhetik oder den Unterkunftsbedingungen der Pied noir16. Derridas persönliche Architektur des Studierens war bescheiden – erst in den letzten fünf Jahren haben er und Marguerite einen Studioanbau an das Haus angefügt, oben mit einem loftartigen Bett und unten einem weiten Raum für seine zwei oder drei Schreibtische, seine massiven Besitztümer. Dies war das Bett, in das er sich an Nachmittagen begab, wenn er krank war, ein Buch zum Lesen mit sich nahm und in seinen Zwei- oder Dreistundenschlaf driftete. Die Bücher waren unbeherrschbar. Großes Stapel-Syndrom. Täglich schickten irgendwelche Leute ihm Bücher. In den frühen Jahren wurde er in einigen Büchern nicht zitiert, dafür schrieb ihm der Autor eine persönliche Widmung in der Art: »Ohne Sie hätte ich dieses Werk niemals schreiben können; meine Schuld ihrem Werk gegenüber ist gewaltig, unermeßlich«, und einmal fragte ich Jacques danach – ich liebte es, die Widmungen zu lesen, einschließlich der von Blanchot, und ich erinnere
16 Mit Pied-noir bezeichnet man auf Französisch seit den 1950er Jahren die weißen, französischen Kolonialisten in Algerien und die arabischen einheimischen Juden, die die französische Staatsangehörigkeit mit dem décret Crémieux erhielten. 17
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mich, daß die von Allegories of Reading,17 wenn sie es war und nicht die von Blindness and Insight,18 sehr elegant lautete, wie ich fand: »Unauslöschlich Paul«19 – so fragte ich ihn nach der handschriftlich benannten Schuld, die in der öffentlichen und publizierten Version des Textes unsichtbar blieb. Er antwortete mit einem ironischen Lächeln, daß das ständig passiere, daß Leute ihn ständig verleugneten, ihm aber heimlich ihre Dankeschöns zusteckten. Vielleicht ist das der Grund, warum ich dick auftrug, wenn es darum ging, meine Schuld ihm gegenüber zu benennen, aber es war etwas, das ich tun wollte, und ich lasse mich in solchen Dingen nicht lumpen. Ich bin eine Kreatur der Dankbarkeit; bin begeistert, wenn die Möglichkeit zu danken besteht, sogar in den undankbarsten Situationen. Ich mag es, meine Yoga-Übungen mit Dankbarkeitsposen zu beenden, etwas, was ich Jacques beibrachte. Wie glücklich war ich, als ich zum ersten Mal Heideggers absichtliches Verschmelzen von »danken« und »denken«, Danken*, Gedanke*, Denken* las. Aber nun komme ich von der Spur ab, getrieben von einem beinahe zwanghaften Wunsch, Dank anzubieten, vielleicht als eine reaktive Verteidigung, dazu gedacht, den depressiven Druck des unermeßlichen Verlusts abzuwehren, den ich ertrage und dem gegenüber ich danklos bleibe. Ich hatte auf eine andere Trasse gehen wollen, den mikro- und geopolitischen Karten folgend, die Derrida uns lesen ließ. Er hatte, via Marx, über politisches Trauern nachgedacht und darüber, was wir glauben zu tun, wenn wir den Tod des Marxismus feiern – oder Marx’ Tod. Er war über die Wiederholungen im Spätkapitalismus besorgt, die in Versicherungen übergingen, daß »Marx tot«, »der Marxismus vorbei« und »der Kommunismus erledigt sei«. Wer war Marx, fragte er, daß sein Tod mehr als einmal verkündet werden mußte? In Marx en jeu, einer kritischen Ergänzung zu Marx’ Gespenster,20 bemerkt er: »Wenn jemand stirbt, und man wiederholt die Anzeige seines Todes mehr als einen Tag – wenn eine Zeitung jemandes Tod anzeigt, tut sie das normalerweise einmal, und nachher spricht man nicht mehr davon –, wenn man das aber wiederholt und wiederholt, dann heißt das, dass etwas anderes passiert, dass der Tote nicht ganz tot ist. ›Marx ist tot‹, das klingt wie ein Echo auf Formeln wie ›Gott ist tot‹, das, wovon man seit 17 Paul De Man: Allegories of Reading: Figural Language in Rousseau, Nietzsche, Rilke and Proust, New Haven: Yale University Press 1979 [A.d.Ü.]. 18 Paul De Man: Blindness and Insight: Essays in the Rhetoric of Contemporary Criticism, New York: Oxford University Press 1971 [A.d.Ü.]. 19 »Ineffaceably Paul«. 20 Jacques Derrida: Marx’ Gespenster. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003 [A.d.Ü.]. 18
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Hegel, aber auch schon seit Christus und seit Luther spricht; ›Gott ist tot‹, das ist auch schon Christus, und das hat gedauert und dauert noch. ›Marx ist tot‹, diese Phrase, dieser Slogan, mit dessen Analyse letztenendes das Stück beschäftigt ist, ist ein Symptom, das Symptom einer sich vollziehenden Trauerarbeit, mit all ihren Erscheinungen von Melancholie, von manischem Jubel, von Bauchrednerei […]«21 Bevor ich diese Passage als eine ziemlich genaue Vorhersage dessen darstelle, was auch sein Leichnam noch für ein paar zusätzliche Runden mit sich forttragen würde, will ich für den Bruchteil einer Sekunde zu einem weitgehend randständigen Aspekt seiner politischen Untersuchungen umschalten: nämlich der anhaltenden Loyalität gegenüber Amerika, die Derrida gezeigt hat. Für den Moment werde ich die Hochzeit mit Marguerite in Boston auslassen oder die Tatsache, daß er, als andere uns abschrieben, kurz nach 9/11 nach New York flog, während alle erwarteten, es würde noch mehr kommen; oder die Aufteilung seiner Arbeit zwischen Ost- und Westküste, die zahlreichen Niederschriften eines »Amerika ist/in Dekonstruktion« oder die berühmte »Staaten der Theorie«-Vorlesung, die er in Irvine gehalten hat, oder seine Beziehung zu Erz-Amerikanern wie Paul de Man und Richard Rorty und Gayatri Spivak und Peter Eisenmann und die Anwälte und Künstler und Professoren und Kuratoren und Philosophen, empfänglich oder gastfreundlich, abhängig vom Wer, Wo oder auch Was. Eines Tages sagte ich zu Jacques, daß ich die Äußerung »Gott segne Amerika« unerträglich fände, und versprach, mich zu übergeben, sollte ich sie wieder hören. Er sah mich mit leicht ironischem Lächeln an und informierte mich darüber, daß er sie ganz und gar nicht widerlich fände. Vielleicht ist das nicht das beste Beispiel für das, was ich mitzuteilen versuche – Drucilla Cornell hatte keine Geduld mit der Art, wie er meine Wutausbrüche bremste –, aber es offenbart seine Fähigkeit, von Verurteilungen Abstand zu nehmen, eine der Lehren, die er mit Eleganz und bei vielen Gelegenheiten anbrachte. In der Reflexion darüber, was er gemeint haben könnte – er hat die Äußerung nicht verteidigt, sondern nur gesagt, daß sie kein Entsetzen in ihm wecke – realisierte ich, daß er selbst Segnungen anbot und in seinen letzten Worten, gelesen über seinem Grab, Segnungen an die um ihn Trauernden austeilte. Aber das war es auch nicht. »Gott segne Amerika«, obwohl in bösartigen Gebrauch genommen und als Tatsachenbehauptung unbrauchbar geworden, hat einer diffizileren Bestimmung Rechnung zu tragen: ist es ein Gebet, ein Flehen, ein Wunsch, eine Halluzination, sobald jemand darum bittet, 21 Jacques Derrida: Marx, das ist jemand, in: E-journal ›Zäsuren‹ 1 (2000) (Übersetzung von Susanne Lüdemann); zuerst in: Jacques Derrida: Marx en jeu, Paris: Descartes & Cie 1997, S. 23-24 [A.d.Ü.]. 19
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Gott möge Amerika segnen? Benennt es die Blessur oder Wunde, die eine Abwesenheit des Gesegnetseins kennzeichnet, so daß man zwanghaft nach der Segnung fragt, die einem so schmerzhaft vorenthalten wird? – und so weiter. Wie Mary Ann Caws mich bei der Gedenkveranstaltung der NYU für Derrida erinnerte, sagt man »Gott segne Dich«, um einen bösen Geist zu vertreiben, den Teufel auszuschließen, wie wenn einer niest. »Gott segne Amerika« könnte eine Art sein, »Heilige Scheiße!« zu sagen. Ich werde es dabei belassen, denn gerade sah ich in einer Email, die einen neuen Artikel von ihm ankündigt, daß Sam Weber etwas unter dem Titel »Gott segne Amerika« hat; ich bin gespannt zu sehen, was er gebracht hat, aber im Augenblick zu träge oder zu müde, um ihm zu emailen und es herauszufinden. Also, sogar wenn wir die Straße hinuntergingen und mein Mundwerk mit mir durchging und ich ein leichtes Ziel abgab, brachte er mich dazu, über die fehlende Segnung im Sprechakt nachzudenken. Von diesem kleinen und bescheidenen Beispiel aus kann man rauf und runter metonymisieren. Es gibt zwei weitere Mikro-Beispiele, die ich darlegen möchte, weil ich nicht sehe, wie sie sonst Sendezeit bekommen würden, so marginal scheinen sie. Sicherlich lehrte uns Jacques, die Ränder zu durchkämmen, nah an ihren vermeintlichen Zufälligkeiten zu verbleiben und die Sicherheiten aufzurütteln, was marginale und was zentrale Belange von Ereignissen seien. In Frankreich bestand einer seiner letzten öffentlichen Auftritte darin, Fragen des Le Monde-Journalisten Jean Birnbaum, eines hochintelligenten Gesprächspartners, entgegenzunehmen. Einige Fragen wurden aufgeworfen, die die amerikanische Aneignung seines Werkes betrafen, und Jacques, der die leichte Geringschätzung gegenüber Amerikanern angesichts von Bushs kürzlicher Irakinvasion spürte, warnte die Zuhörerschaft davor, pauschale Urteile zu fällen. Die Amerikaner, die er kannte, wären weit radikaler als jede französische Person im Auditorium, und der Kampf für Demokratie in den Vereinigten Staaten wäre echt und hart. Er sagte etwas von der beispielhaften Wachsamkeit einiger Amerikaner, von ihren Schmerzen und ihrer standhaften Hingabe an die Gerechtigkeit, und endete mit der Ermahnung, unseren amerikanischen Freunden in ihrer Zeit moralischer Verzweiflung und wahrer Hilfsbedürftigkeit beizustehen und sie zu unterstützen. Es war sehr heftig und schön, eine harte Linie, die da durchgezogen wurde. Ich werde hier nicht vom Versagen der europäischen Linken sprechen, auf etwas wichtigeres und konstruktiveres zu kommen als auf lahme Versionen eines AntiAmerikanismus (der verständlich, aber weder neu noch sehr effektiv ist, und, ehrlich gesagt, ein Auge zuzudrücken angesichts der eigenen faschistischen Bereiche unternehmerischen und politischen Handelns, ist auch keineswegs hilfreich).
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Auf dem Sofa sprachen Jacques und ich schließlich nach einigem Anschauungsmaterial über die Folter, die Amerikaner ihren Gefangenen zugefügt hatten. Es muß nicht betont werden, wie entsetzt wir darüber waren, wie niederdrückend dieses Kapitel der Weltgeschichte sich entwickelte. Dennoch, erklärte Jacques, hätte niemand je versucht, sich so sehr damit auseinanderzusetzen, wie die Amerikaner es taten – wir hatten die Anhörungen verfolgt, die peitschenden Fragen, die den Verantwortlichen entgegengeschleudert wurden. Ich biete hier keine naive Version gültiger Schuld, indem ich bewerte, wer geschnappt wurde und wer davonkam, oder indem ich vergesse, was unter den Teppich repressiver Staatsregime gekehrt wird. Nichtsdestoweniger gab es einen starken Ausbruch der Selbst-Denunziation, den die Welt im Zusammenhang anderer Folterepisoden noch nicht erlebt hatte, einen echten Kampf mit der SelbstAnklage – unbesehen besteht die Notwendigkeit, Folter-Aktivitäten zu enthüllen –, die – was immer noch zu sagen sein wird, viel mehr wird noch zu sagen und zu tun sein – in anderen politischen Staaten nicht vorkommt, nicht bis zu Verhandlungen führt, die im Fernsehen übertragen werden. Daß Alberto Gonzales ernannt wird, daß Bush eine weitere Wahl manipulierte – das sind andere Dinge. Was Derrida kommentierte, waren die Widerstandsfähigkeit und der Mut, die Momente, wie sie diese Anhörungen zeigen können. Vielleicht ist es nicht gut genug, aber wenigstes ein bißchen, vielleicht ein nano-bißchen. Was die ergänzenden Reflexionen über Marx betrifft, der Titel, den Derrida seinen Interventionen gab, war »Marx, c’est quelqu’un.« Er fragt, wer dieser lästige, ewige Marx ist, den wir in gewisser Weise als tot kennen, der aber unauslöschbar (increvable) bleibt? Er macht daraus keine Frage des Wesens – was – sondern des Wer. Ich möchte einen Moment im zarten Schein dieser Frage verweilen, bei der Verschiebung bleiben, auf die sie hindeutet. Also für uns war Derrida, wie er es von Marx sagt, jemand. Er war und ist jemand. Viele von uns arbeiteten mit ihm, teilten Mahlzeiten, machten Spaziergänge, besuchten Colloquien, riefen ihn an und lasen ihn, kämpften sogar mit ihm. Aber wer trägt nun den Namen Derrida, und was trägt er – was umfaßt außerdem das Tragen des Namens, dieses schönen Namens, zu oft erniedrigt, in signifikanter Weise verfolgt, noch im Tod. Lacan hatte uns gelehrt, was es bedeutet, den Toten töten zu wollen. Einer seiner Kollegen erzählt mir, daß Searle sofort nach Derridas Tod eine Attacke in Umlauf brachte, aber angesichts der empörten Reaktion auf den bösartigen Nachruf der New York Times vorerst davon Abstand nahm, sie zu publizieren, bis es wieder zulässig sein wird, auf den Toten einzuschlagen. Wie voller Groll und gereizt einige dieser unverminderten Angriffe auch sein mögen, sie sind ein Teil der Erzählung, der nicht vorschnell verwor-
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fen oder übersehen werden sollte. Sie sind Teil des Portraits eines risikoreichen Denkens, und die Gewalt der feinen Herren Akademiker ist nur Teil eines Gesamtpakets echter Innovation, atemberaubenden Fragens. Also entfernt den Fleck oder Stachel nicht, diese durchschlagende Aggression gegen das Trauern. Behaltet sie bei. Was geht als Derridas Vermächtnis an uns über? Was ruft uns bei seinem Namen, Derrida? Das Erbe: wir haben die Codes »legitimer« Erbschaft zu sortieren und zu sieben, zu spleißen und zu spalten, aufzuschließen und zu verschlüsseln. Wir haben Erbschaften aufzuteilen, zu verteidigen, anzusprechen, zu lesen – sicherlich zu lesen, es zuzulassen, daß er uns weiterhin liest und unser rhetorisches Unbewußtes, unsere unbewußte Rhetorik, Rhetoritics. Sein Name ruft uns, fordert uns zu Wachsamkeit und Stärke auf, damit wir verstehen, warum die Demokratie in einem bestimmten Sinn zu bösartigen Anordnungen (mappings) und Herkünften (origins) zurückkehrt, zu einem Jungs-Club – zur unentrinnbaren Brüderlichkeit und Bruderschaft der Männer – die doch dabei gewesen war, zu wanken: er sah es, er nannte es beim Namen. Er sah, daß die Demokratie, die sich zu Zeiten selbst besiegt und fragil bleibt, nun unsere Hilfe braucht, unseren oftmals einsam verantwortungsbewußten Widerstand. Vielleicht sollte ich zum Abschluß kommen – als wäre das machbar. Fast unmöglich wäre es für mich gewesen, eine dialektische Zusammenfassung der Leistung Jacques Derridas und seines Einflusses auf jene intellektuellen Welten zu bieten, um die er sein Denken organisierte, immer originell und doch sorgfältig verankert, klassisch gefiltert. Einige Aspekte seines Einflusses oder seiner Einfälle gehören zu einer untergründigen Geschichte oder wären noch in der Erzählung eines außerirdisch Ungesagten (alien unsaid) zu plazieren. Dies mag ein bißchen nach Science Fiction klingen, aber in manchen Teilen seines Werkes ist es, als würde Jacques Signale aus einer anderen Region der Bedeutung senden, wo er von neuen geistigen Wesen spricht, wie Schlegel es hätte nennen können, die noch nicht angekommen sind oder deren Signifikanz noch nicht zur Landung freigegeben wurde. Ich versuche nicht, verschlüsselt zu sprechen. Auch bin ich nicht auf medizinischem Marihuana. Ich nehme lediglich an, daß sein unwiderruflicher Einfluß auf die Rechtswissenschaften, die Architektur, Kunst, Literatur, Pädagogik, medizinische Ethik, Psychoanalyse, Philosophie, Geschichte und Performance mittlerweile immerhin verzeichnet worden ist. Es ist nicht einmal eine Frage der Schuld. Etwas Unberechenbares ist uns passiert, etwas, das es noch zu verstehen gilt. Wie jedes Ereignis, sogar das glückliche Ereignis, war es traumatisch. Derrida: dieser Name markiert einen katastrophischen Einbruch, ein von einem Anfang un-
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unterscheidbares Ende. Von dem Moment an war er für tot erklärt, als das mit uns und Derrida begann. Im universitären Bereich zeigen sich immer noch einige Spuren verschiedener Stadien eines vorgreifenden schmerzlichen Verlusts – Ablehnung, Wut, Verhandeln, wiederkehrende Hiebe. In wenigen Momentaufnahmen, die einer Stellungnahme zu seinem Vermächtnis gewidmet sind, möchte ich ein oder zwei Dinge sagen, die von anderen vielleicht noch nicht beigetragen worden sind. Ich habe versucht, einer Randperspektive zu folgen, die dazu bestimmt ist, in das größere Bild verschoben22 zu werden. Man kann sich gar nicht vorstellen, wie geweißt (whited-out) das akademische Parkett war, als Derrida auf der Bildfläche erschien. Es bestand wirklich kein Raum für Abweichungen, nicht mal für die kuriose Anomalie oder die Psychoanalyse. Neben den brillanten Werken, die seinen Namen tragen, schaffte Derrida Freiräume in Umgebungen, die wie ein Hindernisparcour für jeden aussahen, der zu jener Zeit nicht ins professorale Berufsbild paßte. Er praktizierte, ob bewußt oder nicht, eine Politik der Kontamination. Seine politischen Ansichten, kultiviert und links, kannten kaum Grenzen und sickerten in die heiligsten Stätten und geweihtesten Gründe der höheren Bildung ein. Plötzlich wurde der Universität Farbe hinzugefügt – Farbe und freche Frauen, was nicht leicht zu vergeben sein würde. Kant kam in ihm wieder auf, als eine gewandelte und erneuerte Historizität, eine weltoffene Macht, die auf Frauen setzte und ihnen diskursive Formationen öffnete. Derrida wehte mit proto-feministischer Energie in unsere Stadt- und Talar-Haine, oft und auf Kosten des Protokolls philosophischen Gewichts als Frau durchgehend. Meine erste Übersetzung seiner Arbeit war »Law of Genre«,23 wo er das Textraster zum Rhythmus der Invaginationen umarbeitete.24 Nicht jeder am Empfangstisch bejubelte dieses Eindringen des Geschlechts (gender) in die linguistischen Heiligtümer. Nichtsdestoweniger ließe sich sagen, daß Derrida schnell eine substantielle Anhängerschaft gebildet hat, besonders in Amerika – Latein- und Nordamerika. Gelegentlich sind stärker politisch verortete Sprößlinge von ihm abgerückt. Regelmäßig mußte er von links und rechts einstecken, von denen, die ihm viel verdankten und denen, die ihn ablehnten (häufig aus denselben Kundenkreisen). In einigen Bereichen wurde Derridas Den22 Das englische Wort metonymized kann mit metonymisiert oder verschoben übersetzt werden – was an dieser Stelle im besonderen den sprachlichen Mechanismus der Verschiebung bezeichnet [A.d.Ü.]. 23 Jacques Derrida: The Law of Genre, in: Glyph: Textual Studies 7 (1980), S. 202-229 [A.d.Ü.]. 24 Vgl. Jacques Derrida: Das Gesetz der Gattung, in: Jacques Derrida, Gestade, Wien: Passagen Verlag 1994, S. 245-283 [A.d.Ü.]. 23
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ken, ob kantisch oder nicht, mit Homos und Frauen assoziiert, und sein poetisches Sparring mit paleonymischer Sprache wurde schnell feminisiert, es schien irgendwie zu girlie und zu schlüpfrig. In Bezug auf einige Dinge, die zur Sprache kamen, schrieb ich über den historischen Rückfall der Paronomasien, ihre analen Verordnungen und ihre Rückkehr auf den Boden Shakespeares. Es ist interessant, wie das Sprachspiel Ärger hervorrief. Derridas Sprachgebrauch, erlesen und sich füllend, wurde selbst zum Ärgernis für die kontrollierteren Verhaltensweisen und Grammatiken der akademischen Sprache. Vielleicht ist es unvermeidlich, daß Derrida, wie alle bahnbrechenden Denker und Künstler, nicht aufhört, Wut zu provozieren und tödliche Verwünschungen (death sentences) auf sich zu ziehen, auch nach Bekanntwerden seines Todes. Der Widerstand, den er anheizt, wenn er metaphysische Festungen schleift, ist selbst ein Text, den es zu lesen gilt – eine massive Reaktivität, die zum Erbe eines hart treffenden Œuvres gehört. Die traumatische Wirkung seines Denkens – ein Trauma entspringt aus der ekstatischen Öffnung ebenso wie aus der katastrophischen Stillegung – macht es schwierig, einen abschließenden Trost anzubieten oder festzulegen, was sein Werk für uns heute »repräsentieren« könnte. Was ich von Beginn an schätzte, war Derridas politische Schlagkraft, die er oft verborgen, aber schlau und wirksam einsetzte. Die 60er habe ich verpaßt, aber ihren Beat geerbt. Vermutlich bin ich politisch unruhiger, schneller am Abzug als die meisten Leute um mich herum; in jedem Fall suche ich nach Ärger und Aporien in den am meisten vernachlässigten Arealen des Denkens. Derrida entsprach sofort meiner Stimmung, obwohl seine politischen Einlassungen vielleicht klarer und festgelegter waren als das, wonach ich suchte, stärker auf einer Linie mit Hölderlins Bild von Rousseau – eher auf der Seite der Vermittlung und nüchternen Reflexion, fähig, den Rückzug (re-trait) zu vollziehen, über den JeanLuc Nancy und Philippe Lacoue-Labarthe schreiben. Dennoch setzte er zu einem mächtigen Schlag an, wie ich finde. Er machte sich stark für die Armen, die Obdachlosen, Immigranten, für Nelson Mandela und gegen die Apartheid, für die Palästinenser, Afrika und jede erdenkliche »liberale« Sache. Wie kein anderer Denker bereiste er die Welt. Auf lokalerer Ebene trat er im französischen Fernsehen für die schwule Ehe ein – in gewisser Weise verlangte er die vollständige Abschaffung der Ehe als staatlich geförderter Einrichtung und die Implementierung ziviler Verbindungen für alle, die dies wünschen. Daß ich mich wiederhole, weiß ich, aber ich bin in Trauer und habe daher die Erlaubnis zur Hand: ich bin heimgesucht. Laßt uns fortfahren. Vor Jahren versuchte er, das französische Bildungssystem zu reformieren, indem er forderte, Philosophie solle von früh auf, beginnend mit der zweiten oder dritten Klasse, unter-
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richtet werden. Er gründete das Collège International de Philosophie, welches nun die einzige renommierte Einrichtung ist, die Fremde willkommen heißt (wir müssen uns eingestehen, daß die Franzosen auf gewisse Weise hoffnungslos fremdenfeindlich sind). Als Druck auf die amerikanische Universität ausgeübt wurde, zerschlug er alle Türen und ließ alle möglichen Unreinheiten wie unsereins herein. Als er seine Dienstzeit beendete, war Derrida in Frankreich so angesehen, wie Aristoteles es unter den Alten gewesen sein muß. Ein Meisterlehrer, dem außerdem übergeschichtliche Kräfte zugesprochen wurden. Dennoch brachte er es nie bis an die Spitze – ihm wurde eine Professur verweigert, und er blieb aus dem Collège de France ausgeschlossen. Auch wenn ich glaube, daß ihn diese Kränkungen beträchtlich verletzten, gehört es zum Katalog dessen, was ich an dem Kerl so mag: die Art, wie er institutionelle Angriffe hinnahm, bescheiden blieb und großzügig und offen und bis zum Ende nicht aufhörte zu lehren. Wenn er an der NYU lehrte, blieben seine Sprechstunden für jede zugänglich, die glaubte, sie hätte mit einer Idee aufzutrumpfen. Beim Schreiben dieser Zeilen werde ich gewahr, daß sein gesamtes Repertoire an Gesten, Ecken, Kanten und Einstellungen radikal demokratisch war. Er hielt die Türen offen und hieß fast alles und jeden willkommen (es wäre angesichts seines Werkes töricht, eine strikte Trennung zwischen Ding und Jemand zu machen). Er war ausgesucht höflich zu Eindringlingen, gast-freundlich zu Andersdenkenden jeglicher Couleur und beherbergte die intellektuell Heimatlosen. Die letzten Jahre waren dem Überdenken der Demokratie gewidmet, und es kann kein bloßer Zufall gewesen sein, daß die letzten katastrophalen Wahlen in den Vereinigten Staaten denen erneut das Herz brachen, die um ihn trauern.
Aus dem Englischen übersetzt von Anna Tuschling und Christoph Engemann
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DREI SÄTZE
VON
JACQUES DERRIDA
JEAN-LUC NANCY
Zunächst möchte ich sagen, daß ich für mehrere Freunde spreche, die ferngeblieben sind und denen daran liegt, hier und heute ihren Gruß abzustatten: Franson Manjali aus New Delhi, Ginette Michaud aus Montréal, Marc Froment-Meurice aus Nashville, Peggy Kamuf aus Los Angeles, Avital Ronell aus New York, Heba Machhour aus Kairo, um auf eine mit Notwendigkeit etwas willkürliche Weise nur einige von den vielen zu nennen, die gewünscht hätten, bei uns zu sein. Zugleich mache ich den Fürsprecher der gesamten Belegschaft des Verlags Galilée, die hier bei uns ist, wie sie über mehr als dreißig Jahre hinweg ebenso bei ihm gewesen ist, in Form einer Begleitung, die bei weitem das übertrifft, was man für gewöhnlich darunter versteht, wenn man von Verleger und Verlagshaus spricht. Zudem sind mir viele Botschaften von Personen außerhalb der philosophischen bzw. universitären Welt zugekommen: Das verdient hervorgehoben zu werden. Eine von ihnen sagte mir: »Wenn eine der großen Gestalten des Denkens verschwindet, versteht man alles, was man diesen Gestalten delegiert hat, jene Tätigkeit des Denkens, derer man bedarf, ohne über die Kraft oder die Zeit zu verfügen, [selbst] daran zu arbeiten.« Ich füge auch, um eines Lächelns willen – als Antwort auf das Lächeln, das Jacques letzten Dienstag an uns gerichtet hat –, den Spruch eines kleinen Kindes bei, der Tochter von Christine Irizarry, einer Übersetzerin von Jacques in Amerika. Als ihre Mutter ihr erklärte, daß es verboten sei, die Wände zu bekritzeln, sagte sie: »Wenn man aber etwas Wichtiges schreibt – wie ›Derrida ist tot‹?« Sie wiederholte damit im Modus der (Schrift auf der) Wand jene Anführungszeichen, mit denen Jacques den Satz »Maurice Blanchot ist tot« umgab, einen unmöglichen Satz, wie er sagte, ein Satz, der nur ein Zitat sein konnte … Ich werde für heute bei Sätzen bleiben, will sagen: neben dem Diskurs, am Rand. Ohne Schwulst, ohne Gepränge, ohne »Phrasen« also, in jenem anderen Sinn, in dem man so treffend vom »nackten Tod« spricht, ohne Umschweife (»la mort sans phrases«) – nur eine Rezitation, um die Einfachheit derjenigen Dinge zu wahren, an die nur leicht gerührt sein will, um den 27
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Schmerz und auch die Gegenwart zu respektieren, diese seine bittersüße Gegenwart, die uns heimsucht. Ich will drei Sätze von Jacques zitieren, sie berichten, sie wieder sagen, sie aufs neue hören: gesprochene, nicht geschriebene Sätze, um seiner Stimme wenn möglich noch ein bißchen nah zu bleiben. Denn es ist die Stimme, die die Spuren trägt und die die Unterschiede macht, die Vokalschrift (und nicht die schweigende, transzendentale Stimme, wohlgemerkt). Übrigens gab es genau zu diesem Thema einen Satz von Jacques, 1980 in Cerisy, in einer Gruppe, die im Garten diskutierte. Gewisse Leute wollten die Stimme diskreditieren – darauf er: »Aber ich habe niemals etwas gegen die Stimme gesagt!« (Stellen Sie sich vor, wie seine Stimme das sagt, mit diesem Anstieg im Ton, dieser De-Tonation nach El-Biar-Art, die seine Ausrufe begleitete …) Drei Sätze also. Drei Sätze aus drei Zeiten und drei Registern, die mir im Ohr geblieben sind. Einer über die Schrift, ein anderer über das Denken, der dritte über den Körper. Der erste Satz ist alt, zweifellos aus 1970 etwa. Ich befand mich in einer Phase des Zweifels und der Mutlosigkeit, und ich sagte Jacques, daß ich dachte, nichts Großartiges (mehr) zu sagen zu haben. Er gab mir diese Antwort, schroff, beinahe aufgebracht: »Ja, das kenne ich, das sind Ausreden, die man sich gibt, um sich ums Schreiben zu drücken.« Das brachte mich aus der Fassung, und daher habe ich den Satz niemals vergessen (er hatte ihn später vergessen). Ich hatte mir nie vorgestellt, daß man »Schreiben« als eine Verpflichtung betrachten konnte, der man sich zu entziehen versuchen könnte. Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob ich das wirklich verstanden habe, auch wenn ich es mir, wie man so sagt, »gesagt sein ließ« (je me le suis tenu pour dit). Es ist aber wie ein Axiom oder wie ein Imperativ geblieben. Man darf sich nicht um das Risiko des Schreibens herumdrücken, das Risiko, dasjenige festhalten zu wollen, was niemals gewesen ist und vielleicht niemals sein wird. Man darf sich dem nicht entziehen, so ausgesetzt zu sein durch das, was wie ein Machtoder Schmeichel-Instrument erscheinen und funktionieren kann – die Schrift. Denn man kann und darf sich nicht mit dem zufriedengeben, was schon gesagt worden ist – man muß es zwar nicht noch einmal sagen, aber aufs neue, immer wieder, und es gibt niemals zu viele Stimmen. Der zweite Satz stammt aus späterer Zeit und betrifft das Denken. Wir sprachen über eine Zeile in Die Stimme und das Phänomen, wo steht:
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»Die unendliche différance ist endlich.«1 Ich hob die Schwierigkeit daran hervor. Er sagte mir: »Du weißt, ich bin nicht sicher, ob ich mich selbst sehr gut verstehe.« Er lächelte, aber er scherzte nicht. An diesem Tag habe ich begriffen, daß auch bei ihm das Denken sich verflüchtigte – das eigene Denken überstieg sich mit Notwendigkeit an irgendeiner äußeren Grenze –, und ich spürte, daß Denken heißt, stets mit dieser Verflüchtigung zu tun zu haben, mit dieser Unzugänglichkeit im Ereignis des Zugangs als solchem. Jacques hat niemals geglaubt, einen Gedanken zu Ende gebracht zu haben. Und das ist es genau, die »différance«: nicht eine einfache Unterscheidung zwischen dem Sein und dem Seienden, sondern das Denken des Seins, das sich im Seienden unterscheidet. Das Sein, das darin besteht, sich in sich von sich zu entfernen, von der Substanz oder vom Subjekt, also auch vom Begriff. Ich habe den Satz gestern wieder gelesen, er steht auf Seite 137, und ich habe gesehen, daß er, kursiv gedruckt, auf diese Worte folgt: »die Endlichkeit des Lebens als Wesensbezug zu sich als zu seinem Tod.« – Und das ist genau das Unendliche, oder es macht das Unendliche. Es ist jenes Undenkbare, das uns denken läßt, stets abgrundtief verloren, und jedenfalls lebenslänglich verloren. Das ist nicht tödlich, das ist beharrlich. Es ist einfach und absolut unerbittlich. Der dritte Satz ist sehr jung und nah zum Tod hin. Es war am Vorabend desselben, im Krankenhaus, Marguerite war da. Jacques war operiert worden, und er sagte mir, in Anspielung auf meine Herztransplantation: »Jetzt habe ich eine genauso große Narbe wie du.« Er scherzte – er hat immer gern gelacht –, aber seine Erschöpfung und seine Angst waren derart, daß der Ton nicht sehr heiter war. Sowenig wie die beiden anderen hätte ich auch diesen Satz nicht erwartet. Er hat mich jenseits des Humors berührt: als ob es eine freundschaftliche Rivalität im Leiden gäbe, im Einschnitt und in der Einschreibung in den Körper. Als ob es zwischen der einen und der anderen Narbe einen Wettstreit geben könnte – worum? Um den Schnitt und die Inschrift wovon? Unserer Endlichkeit, deren Spur unsere Unendlichkeit im »Ohne des reinen Einschnitts«, wie er kürzlich geschrieben hat, erscheinen läßt. Aber ich will ihn nicht mehr sagen lassen, als er gesagt hat. Das war’s – einfach drei Sätze, die nachklingen, ebenso wie sein Gesicht, seine Haltung, seine Gesten und seine Stimme – skéma kai phoné, sagt der Fremde im Sophistes: die Gestalt und der Tonfall des Singulären, des 1
Jacques Derrida: Die Stimme und das Phänomen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 137. 29
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Unersetzlichen, des Eigenen in seiner unzugänglichen Ur-Eigenheit, unnachahmlich, nicht aneigenbar, das Eigene so, wie es sich eigentlich sagt, wie es sich denkt, wie es sich erleidet und wie es bleibt – in uns, in ihm selbst schließlich – in ihm selbst, das heißt außerhalb seiner, exiliert, entschrieben, ek-sistent, draußen – das heißt wo? Hier, bei uns. Aus dem Französischen von Artur R. Boelderl
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D I E › K O M M E N D E D E M O K R A T I E ‹: ZU EINER POETIK DES UNMÖGLICHEN1 SAMUEL WEBER
Was führt uns dazu, eine Redewendung zu lieben, und wohin kann eine solche Liebe führen? Kann sie zu Freundschaft führen? Kann sie Treue bewahren? Bezieht sich die fragliche Liebe, wie wir uns in Erinnerung rufen sollten, nicht nur auf die Sprache als solche oder auf bloße Worte, sondern auch auf Wendungen wie »une fois pour toutes«, welche ich allzu getreu mit »ein für allemal« (»once and for all«) übersetzt habe? Diese Frage ist noch relevanter geworden, seitdem Derridas Schreiben eine dauerhafte Liebesaffäre mit sprachlichen Wendungen darstellt, Wendungen, die kommen und gehen, aber ihre Spur hinterlassen, immer singulär sind und doch stets aufeinander bezogen; eine Art Familie von Redewendungen. Eine von ihnen, scheinbar einem ganz anderen Register zugehörig, ist »la démocratie à venir« – »die kommende Demokratie«. Wie Derrida in der Mitte seines letzten großen Essays »Das Recht des Stärkeren« (»La raison du plus fort«) eingesteht, ist es eine Wendung, die ihm die Zuneigung, die er ihr gegenüber bewiesen hat, teuer hat zu stehen kommen lassen:
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Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um einen (leicht gekürzten) Vortrag, den Samuel Weber auf einer Tagung an der Cornell University, USA, im Jahr 2005 gehalten hat. Die Tagung hatte sich Derridas Frage nach der »Démocratie à venir« in ihrer Beziehung zur Literatur gewidmet. Der englischsprachige Originaltext wird voraussichtlich im Jahr 2007 in einer Sondernummer der Zeitschrift diacritics erscheinen. Da Webers Text eine mikrologische Lektüre von Derridas Bestimmungen der »kommenden Demokratie« darstellt, wie sie zunächst von Derrida in »Marx’ Gespenster« und dann ausführlich in »Schurken. Zwei Essays über die Vernunft« entfaltet werden, orientiert sich die Übersetzung der wichtigsten, von Weber zitierten Sätze und Begriffe des letztgenannten Buches an der von Horst Brühmann vorgelegten Übersetzung; vgl. hierzu Jacques Derrida: Schurken. Zwei Essays über die Vernunft, übersetzt von Horst Brühmann, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003 [frz.: Voyous. Deux essais sur la raison, Paris: Éditions Galilée 2003]. 31
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Eine zweite Vorfrage martert mich. Sie ähnelt der Gewissensqual darüber, den Ausdruck »kommende Demokratie« ge- und mißbraucht zu haben. Vor allem darüber, mit diesem Ge- und Mißbrauch eine Binsenwahrheit als Neuerung ausgegeben zu haben. So, als hätte ich bloß gesagt: »Wissen Sie, die vollkommene, volle und lebendige Demokratie, die gibt es nicht; nicht nur hat es sie nie gegeben, nicht nur gibt es sie gegenwärtig nicht; sondern sie bleibt, unbegrenzt aufgeschoben, immer nur künftig, niemals wird sie der Gegenwart präsent sein, nie sich präsentieren, nie wird sie kommen, immer wird sie nur künftige bleiben, wie das Unmögliche selbst.« Hätte ich nur das gesagt oder sagen wollen, hätte ich dann nicht klassische Diskurse der politischen Philosophie bloß wiederholt, ja plagiiert?2
Wenn auch die große Faszination für sprachliche Wendungen überall in Derridas Schriften offensichtlich ist, so spielt sie doch nirgendwo eine entscheidendere Rolle als in diesem Essay, in dem Derrida auf jene Wendung Bezug nimmt, die ihn bis hin zu Gewissensqualen zu »foltern«3 scheint: die kommende Demokratie (la démocratie à venir). Tatsächlich kann der gesamte Text nicht nur als Versuch Derridas gelesen werden, sich zu seiner eigenen Verwendung dieses Ausdrucks zu bekennen und hierbei sich von bestimmten Gewissensbissen zu befreien, sondern auch als eine Anstrengung, einige politische Implikationen von Redewendungen im Zusammenhang mit dem, was man »Demokratie« nennt, zu bedenken. Im folgenden möchte ich eine besondere Redewendung genauer betrachten, mit der sich Derrida im letzten Abschnitt seines Textes befaßt hat. Es ist eine allzu vertraute Wendung, mit großer Tragweite, allerdings nicht einer, die sich problemlos in Beziehung zu Fragen der Demokratie bringen läßt. Denn ihr Autor ist Martin Heidegger, die Redewendung selbst ist dem berühmt-berüchtigten Spiegel-Interview entnommen, in dem Heidegger sich dazu bekannte – und Derrida macht hierzu keineswegs klare Einwendungen –, daß er »nicht davon überzeugt« sei, daß Demokratie die politisch beste Form sei, um auf die Herausforderungen »moderner Technologie« zu antworten oder ihnen entgegenzutreten.4 Der Ausdruck, den Derrida wieder und wieder zitieren, wenden und umwenden wird, ist Heideggers berühmte Äußerung: »Nur noch ein Gott kann uns retten«,5 die gewöhnlich mit »Only a God can save us« ins 2 3
4 5
J. Derrida: Schurken, S. 104-105. Übersetzung leicht korrigiert [A.d.Ü.]. Zu Derridas Analyse der Konnotationen von Wendung und Windung [le tour], von Rad und kreisförmiger Wiederkehr, von Turm [le tour] und Tortur, Folter und (Gewissens-)Qual vgl. ebd., S. 21ff. Vgl. ebd., S. 155. »Nur noch ein Gott kann uns retten« – Spiegel-Interview von Rudolf Augstein und Georg Wolff mit Martin Heidegger, in: Der Spiegel, 30. Jg., Nr. 32
DIE ›KOMMENDE DEMOKRATIE‹
Englische übersetzt wird. Die französische Übersetzung weicht leicht aber signifikant von dieser englischen Version ab, sie lautet: »Seulement un dieu peut encore nous sauver.« Die englische Version, die bündigste der drei, streicht schlicht das deutsche »noch«, welches im Französischen mit »encore« übersetzt ist. Aber eben diese Übersetzung, obschon sie die französischen Entsprechungen für alle Worte in Heideggers Ausdruck wiedergibt, läßt das nach Walter Benjamins »Die Aufgabe des Übersetzers« entscheidende Prinzip jeder Übersetzung außer acht: die »Wörtlichkeit […] der Syntax«.6 Benjamin räumt allerdings ein, daß die Anwendung eines solchen Prinzips durchaus monströse Ergebnisse zeitigen kann. Und in dieser Hinsicht bildet das Englische keine Ausnahme. Denn Heideggers Formulierung wird gerade durch das eingefügte »noch« vieldeutig. Obwohl er diese Ambiguität problemlos hätte vermeiden und erklären können: »Nur ein Gott kann uns retten«, bestand er – und dies sicherlich nicht zufällig – auf dem eingefügten »noch«, wodurch sich alles verändert. Denn das »noch« eröffnet die Möglichkeit zweier sehr unterschiedlicher, wenn auch nicht notwendigerweise widersprüchlicher Lesarten und situiert sich infolgedessen in der Kluft zwischen diesen beiden Möglichkeiten. Denn Heideggers Äußerung kann als aus zwei unterschiedlichen Mikrosätzen bestehend gelesen werden: »nur noch …« oder »… noch ein«, und insofern hängt alles von der Plazierung dieses Akzents ab, welcher wiederum den Sinn des Satzes skandiert. Im Englischen wird dies mit »Only still (or yet) …« und »one more« übersetzt, wohingegen die französische Übersetzung sich für die plausiblere Fassung entscheidet: »Seulement un dieu peut encore nous sauver« – »Nur ein Gott kann uns noch retten«. Indem die Betonung auf das »nur noch …« gelegt wird, wird der Satz adverbial gelesen und »retten« wird modifiziert. Folglich sieht sich der Übersetzer gerechtfertigt, das französische Äquivalent für »noch« unmittelbar vor das Verb »sauver« zu setzen. Wenn dies allerdings alles gewesen wäre, was Heidegger hätte sagen wollen, dann hätte er ebenso gut »Nur ein Gott kann uns noch retten« schreiben können. Dann würde sein Text genau mit dem übereinstimmen, was die französische Übersetzung vorschlägt, und er hätte tatsächlich jenen sententiösen Spruch hervorgebracht, welcher, in sogar noch abgestumpfter und salbungsvollerer Form, seinen Weg zu uns in die englische Version gefunden hat: »Only a God can save us«.
6
23, 31. Mai 1976. Wiederabdruck in: Günther Neske/Emil Kettering (Hg.), Antwort – Martin Heidegger im Gespräch, Tübingen 1988, S. 81-114. Walter Benjamin: Die Aufgabe des Übersetzers, in ders.: Gesammelte Schriften, Bd. IV.1. Kleine Prosa. Baudelaire-Übersetzungen, hg. von Tillman Rexroth. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 9-21, hier: S. 17. 33
SAMUEL WEBER
Die Tatsache aber, daß Heidegger schreibt: »Nur noch ein Gott kann uns retten«, und nicht: »Nur ein Gott kann uns noch retten«, läßt jene zweite Möglichkeit offen, auf die ich bereits kurz hingewiesen habe. Nicht allein können wir hier nur von einem Gott gerettet werden, sondern der fragliche Gott wird »nur noch ein Gott« sein, was so viel heißt wie »bloß oder nur noch ein weiterer Gott«. Eine solche Möglichkeit in der englischen Übersetzung zuzulassen, würde zu eben jener Monstrosität führen, auf die Benjamin verwiesen und die er am Beispiel von Hölderlins Sophokles-Übersetzungen veranschaulicht hatte. Sie würde in etwa lauten: »Only yet another God can still save us.« Es wundert also nicht, daß die englischen Übersetzer es vorgezogen haben, das Problem gänzlich zu vermeiden, indem sie das »noch« einfach wegließen, um das zu bewahren, was sie zweifellos für die Essenz oder den Kern des Satzes hielten: »Wenn wir gerettet werden können, dann kann dies nur ein Gott tun.« Hierzu sollte bemerkt werden, daß die wörtlichere aber auch unschöne englische Version, die ich angeboten habe, die schlichte, grobe Übersetzung von Heideggers Äußerung durchaus nicht ausschließt. Sicherlich aber wird sie durch das Element des Ungewissen komplexer. Die dadurch eingeführte Ungewißheit ließe sich sehr wohl mit der »Figur der Kehrtwendung« (»halben Umdrehung«) vergleichen, die Derrida in diesem abschließenden (Heidegger-)Teil des Essays klar erkennt, und deren Dimension er wiederum auf »das Maß der Halbheit« (à la dimension de la demi-mesure) bezieht, eine Wendung mithin, die einer der entscheidenden Pendelbewegungen, die aus seiner Erörterung der »kommenden Demokratie« hervorgehen, nämlich die »zwischen dem Kommensurablen und dem Inkommensurablen«, eine Form gibt.7 Die unlösbare Frage nach ihrem gemeinsamen Maß bringt eine oszillierende Bewegung hervor, die sich auch in der Doppelsinnigkeit von Heideggers Aussage »Nur noch ein Gott kann uns retten« finden läßt.8 Wie Derrida nachweist, ist Heideggers Aussage, selbst wenn wir die Doppelsinnigkeit des »nur noch« ignorieren, durch den Gebrauch des unbestimmten Artikels »ein« wohl weit komplexer als gemeinhin angenommen, ein »ein« also, das den zu bestimmenden »Gott«, der die einzig verbleibende Hoffnung auf »Rettung« ist, unbestimmt beläßt. Durch den Gebrauch dieses »ein« als eines 7 8
Vgl. J. Derrida: Schurken, S. 154. Womöglich besitzt dieses Moment der Oszillation eine gewisse Affinität zu dem, was Heidegger 1942 in seinem Seminar zu Hölderlins Gedicht »Der Ister« als die »Gegenwendigkeit des Flussgeistes« beschreibt. Hierbei sollte bemerkt werden, daß »gegen« im Deutschen auch »in Richtung auf« bedeuten kann und folglich eine komplexe Bewegung beschreibt, die auf keine bestimmte Richtung zurückgeführt werden kann. 34
DIE ›KOMMENDE DEMOKRATIE‹
unbestimmten Artikels – eher »ein« als »ein einziger« – kann, so Derrida, der von Heidegger angerufene Gott nicht länger mit dem einen und einzigen Gott gewisser Monotheismen gleichgesetzt werden: als ein »Gott«, der »eins« ist mit sich selbst – souverän, ein und derselbe, »ipsozentrisch« und »ipsokratisch«.9 Doch Derrida fährt fort, einen Gott zu charakterisieren, welcher nur durch den unbestimmten Artikel als jener »letzte Gott« bestimmbar ist, als den ihn Heidegger in seinem Werk Beiträge zur Philosophie definierte, als ein Gott, dessen »Letztheit« sich darin definiert, daß er »nicht das Ende, sondern der andere Anfang unermeßlicher Möglichkeiten unserer Geschichte«10 ist. Indem Derrida nun hervorhebt, daß das »ein« in Heideggers Ausdruck als ein unbestimmter Artikel verwendet wird, betont er die irreduzible Unbestimmtheit und Alterität jenes »Gottes«, der allein uns »noch retten kann«. Ein solcher Gott kann weder als ein und derselbe bestimmt werden, noch als das Ende, welches einen neuen Anfang eröffnet. Es ist »ein Gott«, nicht »der Eine Gott«. Insofern Heideggers Formulierung jedoch als eine Geste in Richtung auf »einen Gott der allein uns noch retten kann« gelesen wird, bewahrt sie selbst noch – als ihren äußersten Horizont – den Begriff von »retten«. »Retten« – verstanden als die Erlösung und die Tat des souveränen Selbst, des Selbst als Souverän, des Selbst als letzten Endes unsterblichem Wesen. Derrida wird deshalb fortfahren, sich auf andere Texte Heideggers zu berufen, insbesondere auf seine Vorlesungen zu Hölderlin, um zu zeigen, wie Heidegger selbst den Begriff des Rettens* kompliziert und bereichert, etwa dadurch, daß er in ihn nicht nur die individuelle Erlösung oder Heilung, sondern auch den Gruß als Willkommensgruß an den anderen mit einbezieht – Grüßen* ebenso wie Heilen*.11 Und doch bringt die in sich gespaltene Möglichkeit, Heideggers Formulierung entweder als »nur noch …« oder als »… noch ein (weiterer) Gott« zu lesen, und vor allem die Möglichkeit, beide zusammen zu lesen, jeden Versuch aus dem Gleichgewicht, die Bedeutung von Retten* eindeutig festzulegen. Alles wäre stets davon abhängig, auf welche Weise der Satz skandiert wird. Fällt der Akzent auf das »nur noch«, kommt der ausschließliche Aspekt des angerufenen Gottes zum Tragen. Fällt der Akzent hingegen auf »… noch ein«, so ist der angerufene Gott in eine Abfolge eingeschrieben, und seine supplementäre, iterative Dimension wird betont. Es gibt kein Maß, kein Kriterium, anhand dessen eine solche 9 Vgl. J. Derrida: Schurken, S. 36. 10 Martin Heidegger: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), Gesamtausgabe, Bd. 65, Frankfurt a.M.: Klostermann 1989, S. 411 u. 416; zitiert in J. Derrida: Schurken, S. 153-154. 11 Vgl. J. Derrida: Schurken, S. 158. 35
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Lesart ausgeschlossen werden könnte oder man sich für eine von beiden entscheiden könnte. In diesem Fall, welcher Empsons12 siebentem Typus der Mehrdeutigkeit entspricht, definiert der unbestimmte Artikel »ein« eine Alterität, die durch ihre Stellung in einer iterativen Folge bestimmt wird. Was also in diesem Satz angerufen oder adressiert wird, ist etwas, das zugleich vertraut und doch unmöglich zu definieren oder abzugrenzen ist. Dieses Etwas hat mit der Kurve zu tun, wie sie die bereits erwähnte Figur der Ellipse gezogen hat, und welche für den gesamten Essay eine emblematische Funktion besitzt. Wenn Derrida zu Beginn seines Essays ausführt, daß die zweifache Bedeutung des Wortes »Ellipse« etwas Wesentliches mit »Demokratie« zu tun hat, so bringt er eine weitere von ihm bevorzugte Wendung ins Spiel: Die Ellipse benennt nicht nur einen Mangel. Sie ist auch eine Kreisfigur mit mehr als einem Brennpunkt. Schon befinden wir uns zwischen dem »Weniger als ein(s)« und dem »Mehr als ein(s)«. Vielleicht hat die Demokratie – zwischen dem »Weniger als ein(s)« und dem »Mehr als ein(s)« [plus d’un] – eine tiefe Affinität mit jener Wendung oder Trope […].13
Die Verkopplung der Ausdrücke »moins un – plus d’un« verfolgt die zwiespältige Bahn einer »Demokratie«, die zugleich weniger und mehr als sie selbst ist, und die sich um den Begriff des Selbst – um Ipseität – dreht, während sie eben dieses Selbst im Namen des Selbstschutzes (Autoimmunität) bloßstellt, wenn nicht gar zerstört. Dieser Teufelskreis jedoch, der die Exponiertheit des Selbst gegenüber dem Anderen enthüllt und zugleich verstellt, hält stets auch die Möglichkeit einer Alternative zu solch einer Selbstdestruktion bereit. Allerdings nur, wenn diese »Möglichkeit« mit dem zusammen gedacht wird, was sie gewöhnlich ausschließt – ihre Unmöglichkeit. Diese »Unmöglichkeit«, so argumentiert Derrida, darf nicht als bloßer »Mangel« gedacht werden. Sie enthält vielmehr all das, was nicht im Voraus geplant, entworfen und kalkuliert werden kann; eine Offenheit gegenüber dem Kommenden. Und doch kann eine solche Offenheit nicht als eine Zukunft behandelt werden, welche die Gegenwart ausschließt oder nur deren mögliche Form wäre. Sie muß in Gestalt einer Dringlichkeit erfahren werden, als das, was »mich hier und jetzt auf nicht virtualisierbare Weise [erfaßt], in actu und nicht in potentia«.14 Eben dieser Umstand kennzeichnet die Wendung »démo12 Vgl. William Empson: Seven Types of Ambiguity. Vintage Books: New York 1975. 13 Vgl. J. Derrida: Schurken, S. 15. 14 Vgl. ebd., S. 120. 36
DIE ›KOMMENDE DEMOKRATIE‹
cratie à venir« als weder rein »konstativ« noch rein »performativ«, sondern birgt eine Alternative zu ihrer Gegensätzlichkeit in sich: Der modale Status des »Kommenden« – das »à« in »démocratie à venir« – schwankt zwischen einem gebieterischen Befehl (einer performativen Aufforderung) und dem geduldigen Vielleicht des Messianischen (der nichtperformativen Bloßlegung gegenüber dem, was kommt, aber auch nicht kommen oder gar bereits eingetroffen sein mag).15
Es ist diese »Bloßlegung gegenüber dem, was kommt«, aber auch »nicht kommen oder bereits eingetroffen sein mag«, die Derrida dazu bringt, Heideggers Begriff des Retten* auf die Wendung Grüßen* hin umzuwenden, als jenes »nur ein weiterer Gott, der allein uns noch retten kann«. Und doch, sogar wenn diese Wendung so ausgeweitet wird und nicht so sehr das Heil (salvation), sondern vielmehr den Gruß (salutation) mit einbezieht, besteht Heideggers Aussage immer noch darauf, daß das Grüßen von »einem Gott« zu uns kommen muß. Auf welche Weise jedoch dieses Grüßen erfahren werden kann, läßt der Satz selbst völlig offen. Indem Derrida einen Diskurs über die »kommende Demokratie« (démocratie à venir) entfaltet, welcher zwischen Versprechen und Erwartung, zwischen Verfügung und Beschreibung zögernd innehält, besteht er auf dem Recht und tatsächlich auf der Unvermeidlichkeit, sich »in das Geheimnis einer Ironie, der Ironie im allgemeinen oder jener rhetorischen Figur, die man Ironie nennt, zurückzuziehen«. Und er fügt hinzu: Nun aber noch eine weitere Wendung, eine politische: Gibt die Demokratie nicht auch das Recht zur Ironie im öffentlichen Raum? Ja, sie öffnet den öffentlichen Raum, die Öffentlichkeit des öffentlichen Raums, indem sie zum Wechsel der Töne* berechtigt, zur Ironie wie zur Fiktion, zum Trugbild, zum Geheimnis, zur Literatur usw. Also zu einem öffentlichen Nichtöffentlichen in der Öffentlichkeit […].16
Das Recht auf eine gewisse Ironie, was auch bedeutet: auf eine gewisse Nicht-Öffentlichkeit innerhalb der Öffentlichkeit, wurde durch die Art und Weise deutlich gemacht, wie einige Zuhörer den Text von Jacques Derrida aufnahmen, als dieser ihn im Sommer 2002 in Cérisy-la-Salle erstmals vortrug. Der Umstand nämlich, daß er seine abschließenden Bemerkungen um den Satz Heideggers kreisen ließ, den wir gerade diskutiert haben, und insbesondere um die drei Worte Retten*, Heilen*,
15 Vgl. ebd., S. 130. 16 Vgl. ebd., S. 131. 37
SAMUEL WEBER
Grüssen*, schockierte viele Zuhörer und provozierte äußerst erregte Erwiderungen seitens einiger Teilnehmer. (Die von Ihnen heute Anwesenden, die damals dabei waren, werden ohne Zweifel die erhitzte Diskussion noch erinnern, die auf diese Rede folgte.) Für kaum einen, der mit Deutschland und dem deutschen Sprachgebrauch zwischen 1933 und 1945 vertraut ist, könnte das Wort »Gruß« unabhängig von seiner Verwendung als Hitlergruß* gedacht werden, jene Geste, mit der Hitler von seinen Anhängern gegrüßt wurde. Und natürlich war diese Geste ihrerseits untrennbar verbunden mit dem Wort Heil*. Was die schockierten Zuhörer in Cérisy nicht realisierten – möglicherweise nicht realisieren wollten oder konnten – war der Umstand, daß Derridas gesamter Diskurs nicht nur an diesem Tag, sondern ebenso sein Schreiben andernorts, das Bemühen darstellte, »den an den anderen gerichteten Gruß [le salut de l’autre] und jede Art von Erlösungsheil [tout le salut de salvation] (im Sinne von Geborgenheit, Verschontsein, Gesundheit und Sicherheit) als miteinander unvereinbar auseinander[zuhalten]«17, aber auch ihre unvermeidliche Nähe anzuerkennen. Diese Nähe ist es selbstverständlich auch, welche den Versuch, Gruß* von Heil* zu trennen, so notwendig und zugleich so äußerst schwierig macht. Denn das Eine kann sich selbst nicht einfach seinem Anderen als eine neue Form der Rettung oder Erlösung gegenüberstellen. Das Ergebnis ist ein äußerst prekäres Unterfangen: wenn man annimmt, daß der Gruß, der dem anderen oder dem Kommenden gilt, auf keinerlei Suche nach Erlösungsheil zurückgeführt werden kann, sondern diesem fremd bleibt, so ahnen Sie, welche Abgründe das Gelände aufweist, dem wir uns hier genähert haben/an welche Ränder eines Abgrundes wir gezogen werden.18
Der Versuch, auf der Heterogenität von Gruß und Heil zu bestehen, »rettet« nicht vor dem Abgrund. Vielmehr anerkennt er die unwiderstehliche Kraft, die einen in seine Nähe »zieht«. Und das Wort »ziehen« (englisch »to draw«) hat hier etwas vom Euphemismus des französischen Wortes aspirés, das Derrida verwendet und das wörtlich übersetzt »aufgesaugt« heißt. Der Zug oder Sog in Richtung Abgrund ist das Ergebnis eines Atemzuges, einer »Aspiration«, aber wenn es »unsere« Aspiration ist, so ist ihre Kraft nicht die »unseres« Atems oder unseres Atmens, sondern vielmehr die jener »Aspiration«, die uns einatmet – vers les parages – in Richtung einer namenlos bleibenden Grundlosigkeit.
17 Vgl. ebd., S. 157. 18 Vgl. ebd. 38
DIE ›KOMMENDE DEMOKRATIE‹
Eben diese Namenlosigkeit des Abgrundes – eine »chora«, die eher »[aufnimmt] als sie gibt«19– erklärt vielleicht die Liebe zu und die Faszination von gewissen Wendungen, insbesondere in ihrer ironischen Dimension; Wendungen, die sich auf halber Strecke gegen sich selber wenden, gegen das, was sie sagen wollen oder sagen zu wollen scheinen. Es ist diese ironische Kehrtwendung, die wir in der Wendung Heideggers aufgespürt haben. Sie ist nicht notwendigerweise absichtlich gewählt und in jedem Fall ist sie sicherlich nicht eindeutig. Aber in ihrem Oszillieren zwischen zwei möglichen Lesarten* – zwischen der, die das »nur noch« bevorzugt und der, die das »noch ein …« betont, setzt Heideggers Wendung ihre eigene Prägnanz, ihre Fähigkeit, einen kohärenten Satz mit einer konsistenten Bedeutung zu formen, außer Kraft und beginnt statt dessen zu oszillieren. Denn es ist eine Sache, anzukündigen, daß Rettung nur noch »von (einem) Gott« kommen kann, und eine ganz andere, dies mit dem Wiederauftauchen »noch eines (weiteren) Gottes« in Verbindung zu bringen. Und doch, sobald diese Alternative auftritt und die Ankündigung zwischen der Unbestimmtheit »eines Gottes« einerseits und der zweideutigen Heterogenität »noch eines Gottes« andererseits zu schwanken beginnt, verliert der Begriff Retten* seine konsolidierende Festigkeit und beginnt zu wanken. »Jeder andere ist ganz anders (Tout autre est toute autre)« – obwohl in diesem Essay nicht erwähnt, könnte noch neben anderen diese weitere Wendung genannt werden, welche Derridas späte Texte kennzeichnet, um darzustellen, wie die von Heidegger demgemäß entworfene Andersheit eines Gottes sich als »ganz anders (toute autre)« enthüllt, nämlich als von sich selbst vollständig unterschieden dank eines absoluten Anderen – insofern dieser »nur« als die Wiederkehr einer Abfolge benannt ist: noch ein und noch ein Gott. Und doch ist er in seiner Wiederkehr »plus d’un« – mehr als ein Gott und zugleich weniger. Oder, wie Derrida es auf den Punkt bringt, als er diesen langen Essay in der vierten und letzten, seinem eigenen Werk gewidmeten CérisyDekade zur Veröffentlichung vorbereitete, »noch einmal (une fois encore)«: Noch einmal, gewiß, aber für mich ist noch einmal stets ein neues Mal, auf jedesmal ganz neue Weise, nochmals ein erstes Mal, einmal mehr und ein für allemal das erste Mal. Nicht ein einziges Mal für immer, sondern ein für allemal das erste Mal.20
19 Vgl. ebd., S. 13. 20 Vgl. ebd., S. 15. 39
SAMUEL WEBER
Eine sprachliche Wendung ist niemals »ein für allemal«, in dem Sinne, daß sie völlig einzigartig sei. Sie wird als eine Wendung nur durch ihre Wiederkehr erkennbar, das heißt: durch eine gewisse Wiederholbarkeit. Und »ein Wort allein«, so erinnert uns Derrida, sich auf Austin beziehend, »hat niemals Sinn; nur ein Satz hat einen Sinn«21 (105/71). Der Gehalt einer sprachlichen Wendung hat folglich mit der Art und Weise zu tun, in der sie wiederholt worden ist, aber auch in der sie wiederholt werden kann. Es ist [im Rahmen dieses Vortrages] nicht genug Zeit, die verschiedenen Wege anzugeben, in bzw. auf denen Derrida wiederholt, d.h. die Bedeutungen der Wendungen, die das Wort »Demokratie« kennzeichnen, zitiert und umwandelt. Es bleibt zu wenig Zeit also, den Weg zu beschreiben, den diese Iterationen jenem kommenden Wort öffnen helfen. Jedoch sei hier wenigstens an eine knappe Bemerkung erinnert, die Derrida kurz nach seiner Rede in Cérisy-la-Salle im Zeichen der Ellipse gemacht hat. Diese Bemerkung folgt der Beantwortung der Frage nach dem Status der Treue: »Fidélité à venir, à l’avenir. Est-ce possible?« (Kommende Treue, Treue dem Kommenden. Ist dies möglich?). Auf diese Frage antwortet Derrida mit dem, was er beschreibt als: eine Art Schwur […] in Gestalt eines dunklen Aphorismus – wiederum unlesbar, da einmal mehr unübersetzbar in der stillschweigenden Verschiebung seiner Syntax und seiner Betonungen. Der Schwur lautet: Ja, es gibt Freundschaft mit dem Denken, Freundschaft zu bedenken, Freundschaft auch im Denken [il y a de l’amitié à penser].22
Die Formulierung dieser Wendung, Schwur oder Aphorismus, wird von Derrida wiederum gewendet und paraphrasiert durch eine »gleichmäßige Verschiebung der Betonungen auf dem beweglichen, dem lebendigen oder animalischen Körper dieses Satzes«23, auf eine Weise, die zu lesen oder wiederzulesen ich Ihnen überlassen muß, doch welche durch die Akzentverschiebung letzten Endes auch die Bedeutung der Wendung »ähnlich den Gliedern einer Schlange«24 verschiebt. Nachdem er auf diese Weise seinen Schwur in eine »Schlange« verwandelt hat, wagt Derrida folgende Bemerkung: Dieser Schwur droht einer Schlange zu ähneln. Drohung und Versprechen zugleich, Drohung und nicht zu verpassende Gelegenheit, denn es ist nicht sicher, daß die Schlange, wie eine Lesart der Genesis uns das weismachen möchte, ei-
21 22 23 24
Vgl. ebd., S. 102. Vgl. ebd., S. 19. Vgl. ebd. Vgl. ebd. 40
DIE ›KOMMENDE DEMOKRATIE‹
ne Figur des Bösen ist, »along the axis of evil«. Einzig eine gewisse Poetik vermag eine herrschende Interpretation in eine andere Richtung zu lenken – handele es sich um die Bibel oder einen anderen kanonischen Text.25
In diesem Sinne ist wohl keiner von Derridas Texten »poetischer« als dieser. Seine Poetik ist allerdings eine der Ungewißheit, eine, welche den sprachlichen Wendungen treu zu bleiben sucht, indem sie ihnen gewährt, das kommende Unmögliche zu grüßen, hier und jetzt. Samuel Weber, Chicago, den 10. April 2005 Aus dem Englischen übersetzt von Nicola Behrmann
25 Vgl. ebd., S. 19ff. 41
GROSSZÜGIG
J EN S E I T S D E S
L O BE S
JEAN-LUC NANCY
1. Schon kommt die Zeit – Derrida verpflichtet dazu – über den Lobpreis hinauszugehen. Über den Lobpreis oder den Segensspruch, denn das ist im Griechischen bzw. Lateinischen (dank einiger linguistischer Unfälle) derselbe Gedanke: jener nämlich, das Gut zu verkünden, das Verdienst, die bedeutende Eigenschaft, die man jemandem zuerkennen muß. Das Lob ist die Ausübung einer moralischen Verpflichtung, die Rückerstattung einer Schuld: Wir schuldeten ihm, wir schulden ihm auf ewig (den Umstand), daß er war und in alle Ewigkeit (über die Zeit hinaus) ist, was er ist: der Denker, der Freund, der Gastgeber, der Wächter, der Anführer, der Sprecher, der Schriftsteller, der Lebende, der Gegenwärtige. Indem wir ihm auf diese Weise alles zurückerstatten, was ihm gebührt, alles, was ihm – da es von ihm ausgegangen ist, ausgeflossen aus seiner Macht – ganz rechtens in Dankbarkeit zuerkannt werden muß, nachdem es uns durchdrungen, getränkt, auf den Plan gerufen oder beunruhigt, das heißt: sokratisch irritiert hat, erweisen wir ihm Dankesbezeugungen (grâces): Wir erwidern seine Gnade (grâce), in jedem Sinn dieses Worts. Wir gelangen so aber auch dazu zu spüren, was dem Lob fehlt und ihm fehlen muß: die Loslösung nämlich von dieser Ökonomie der Rückerstattung und letztlich der Wiederaneignung (wenn ich dir Dank abstatte, übereigne ich dir dein Gut wieder, wie ich es mir zugleich selbst aneigne, indem ich brav dein Lob singe). Wir verstehen, warum wir darüber hinausgehen müssen, und wir verstehen das auch dank seiner. Mit ihm müssen wir selbst noch diese – dringliche! – Notwendigkeit in Beziehung bringen, über die Rückerstattung hinauszugehen. Aber es ist dennoch wie eine letzte Rückkehr oder ein letztes Treffen, das ihn diesmal durchdringt, wie es ihm zugleich gebührt, ein abgestatteter Dank, den ihm abzustatten doch auf ewig unmöglich ist, ihm, Jacques Derrida. Denn es geht darum zu wissen, wem die Erstattung des Lobs gebührt. Welchem Subjekt, welchem Einzigartigen, welchem Namen, welchem Unnennbaren jenseits des Namens. Er hätte es besser gesagt als jeder andere, und er hat es im übrigen auf viele Arten gesagt: Der Dank (jener, der gegeben wird, ebenso wie jener, der zugestanden wird, oder jener, der bezaubert) kommt von niemandem, noch kommt er jemandem zu. 43
JEAN-LUC NANCY
2. Diese Logik beherrscht den Dank ebenso wie die Gabe, den Geist, den Glauben, das Denken, die Bitte, die Großzügigkeit. Sie ist die allgemeine Logik aller Formen der Sendung, der Adresse oder der Bestimmung, denen weder ein Ausgangs- noch ein Ankunftspunkt zugeschrieben werden kann – und die daher nie zu sich zurückkommen können, noch überhaupt auf irgendeine Weise zurückkommen. Die Großzügigkeit ist dafür das beste Beispiel. Dieses Wort wird in den Hommagen, den Feier- und Lobesreden stets wiederholt. Großzügig sei Derrida gewesen, verschwenderisch mit seiner Zeit, seiner Aufmerksamkeit, seinem Gespräch und, wie man sagt, mit seiner Person; die Bezeugungen dessen häufen sich ohne Unterlaß – und nichts ist gerechter als das. Nun begibt es sich aber gleichzeitig, daß ihm selbst daran gelegen war, vor dem Gebrauch dieses Wortes auf der Hut zu sein. Ich kann deswegen so gut davon berichten, weil er diese Kritik und diese Ermahnung an mich gerichtet hat: »Aus Großzügigkeit geben oder weil man geben kann (was man hat), das ist kein Geben mehr.«1 Und er wollte letztlich auf dieses Wort »Großzügigkeit« verzichten, da es die Macht zur Bewahrung des eigenen Guts selbst bezeichnet – und damit in letzter Instanz (die Macht) zur Bestätigung des Eigentümers. Über das Lob hinauszugehen wird also bedeuten: darüber hinausgehen, Derrida seine eigene Großzügigkeit rückzuerstatten. Diese Anrechnung von eigener Qualität im Gegenteil überschreiten. So wirklich eigentümlich für »Jacques Derrida« sie sein mag, so unbestreitbar einzigartig, daß sie rückhaltlose Anerkennung fordert – aus genau diesem Grund kann und darf sie doch nicht »anerkannt« werden. Oder auch, was aufs Gleiche hinausläuft, »J.D.« darf nicht so einfach und glatt anerkannt werden. Seine Großzügigkeit ist nicht »seine Sache«, ohne daß er selbst nicht zuvor die Sache oder der Effekt einer anderen Großzügigkeit in ihm, durch ihn, wäre, die sie ermöglicht: eine (Großzügigkeit) von nirgendwo und niemandem, der ihn dazu ausgesucht, erwählt, erkoren und vorbehalten hat, dieser »Großzügige« zu sein, dessen Lob wir singen. 3. Über den Tod des »letzten Schriftstellers«, den er sich ausmalt, schreibt Blanchot, daß dasjenige, was anläßlich dieses Todes aufkommt, nicht die Stille ist, sondern ein »unablässiges Murmeln«, ein »irrendes Sprechen«, dem der Schriftsteller den Ausweg einer singulären Stimme gewiesen hatte. Die Stimme von J.D., seine großzügige Stimme hat ein Murmeln gebündelt, dem es Stimme, Timbre und Phrasierung verliehen hat. Dieses Stimmengewirr ist dasjenige einer Zeit, einer Welt: In ihm 1
Jacques Derrida: Le toucher, Jean-Luc Nancy, Paris 2000, S. 36. Man müßte freilich eine ganze Passage dazu wiederlesen und analysieren. 44
GROSSZÜGIG JENSEITS DES LOBES
findet sich die jedem Erzeuger (géniteur) und jedem Geist (génie), jeder Genese und Genealogie vorgängige Großzügigkeit, jene des Murmelns als solchem, das auf eine Stimme gewartet und sie möglich gemacht hat. »J.D.«, das ist die Signatur einer Zeit. Es ist nicht die einzige, und es gibt stets mehr als eine Stimme und muß sie geben (auch das ist von ihm). Jene von Deleuze zumindest, und auch jene Lacans, sie bilden ganz andere Vokalisierungen und nehmen ganz andere Tonfälle an. Eines Tages wird es erforderlich sein, ihre Polyphonie zu entziffern, ihren Kontrapunkt ohne Auflösung, wie es ebenso der Entzifferung des Kontrapunkts von Heidegger, Wittgenstein und Bataille bedarf. Derridas Großzügigkeit muß uns also entschlossen, unbedingt diesseits oder jenseits »seiner« führen, denn auf diese Weise ist es, daß sie großzügig ist, und sie ist vor allem damit großzügig: mit mehr als einer identifizierbaren, mehr als einer aneigenbaren »Derrida’schen Botschaft«. Es ist eine gemeinsame Eigenschaft, keine private, es ist ein Unbewußtes oder Überbewußtes, das jedes »ich« übersteigt: Es ist das undeutliche Murmeln einer Zeit, die ihre eigene Abschlußbewegung (clôture) und ihre unerhörte Öffnung (ouverture) durchdenkt, es ist das dumpfe Rauschen einer Zeit des Vorabends, großzügig mit Erwartungen wie mit ängstlichem Zittern. »Jenseits jeden Lobes«: Diese Redensart trifft sich mitunter mit der Markierung der Ohnmacht, das Verdienst oder die Vorzüglichkeit desjenigen zum Ausdruck zu bringen, von dem man spricht. Diese Wendung zeigt jedoch zugleich an, was auf dem Spiel steht: Kein Lob kann auf ein Subjekt, einen Namen oder ein Gesicht niedergehen, ohne dieses Subjekt unendlich weit über es selbst hinauszutragen, in der Unbegründetheit und in der Begnadetheit seiner eigenen Geburt, in der Kontingenz seiner Notwendigkeit. Das allein zeigt die Wahrheit des Lobs und das verborgene Substrat seiner eigenen Großzügigkeit an – ergriffen, emphatisch, feierlich und stets in Gefahr, sich so mit sich selbst zu begnügen. Die Wahrheit des Segensspruches besteht darin, daß sie ein Gut aussagt, das sowohl den Gesegneten wie den Segnenden unendlich überschreitet. Doch diese Wahrheit: Wir begreifen sie heute dank jenem, dessen Lob wir singen – Derrida verpflichtet. Aus dem Französischen von Artur R. Boelderl
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MNEMA GEDANKEN
MNEME. ∗ E I N ES G R Ä Z I S T E N UND
ANTON BIERL Alfonso de Toro in Dankbarkeit
Die Griechen sind das uns »nächste Fremde«2 – das ganz andere, an dem wir uns sowohl permanent reiben als auch orientieren, um in Abgrenzung und gleichzeitiger Anverwandlung sowie Vergewisserung der eigenen Wurzeln Neues zu schaffen. Bei aller unüberbrückbaren Kluft stehen sie uns nicht so fern, als hätte ihre Kultur nur noch den Reiz des Exotischen, den etwa das Arabische oder das Chinesische auf uns ausüben. So sehr die Hellenen die Alterität verkörpern, so sind sie unbestreitbar die Be∗
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Ich danke meinem Freund und Kollegen Christoph Tholen, mit dem mich ein reges Interesse an einem kulturwissenschaftlichen Dialog zwischen allen geisteswissenschaftlichen Disziplinen verbindet, herzlich für die Einladung, nach der mündlichen Präsentation anläßlich des Symposiums zu Ehren von Jacques Derrida hier meine Gedanken zu mnema niederzuschreiben. Auf Derrida stieß ich zum ersten Mal in Zusammenhang mit meinem Buch zur Inszenierung antiker Dramen auf der Bühne der Gegenwart; Anton Bierl: Die Orestie des Aischylos auf der modernen Bühne. Theoretische Konzeptionen und ihre szenische Realisierung, Stuttgart: Metzler 1996 (19992) (in italienischer Übersetzung aktualisiert sowie um ein Vorwort und eigenes ausführliches Nachwort erweitert: L’Orestea sulla scena moderna. Concezioni teoriche e realizzazioni sceniche. Traduzione di Luca Zenobi, con una premessa di Massimo Fusillo, postfazione dell’autore alla nuova edizione italiana, Roma: Bulzoni 2004); mit dem Philosophen der Dekonstruktion beschäftigte ich mich dann intensiver in mehreren sehr produktiven interdisziplinären Hauptseminaren/Kolloquien zur Posttheorie und Alterität in Leipzig unter der Leitung von Alfonso de Toro, dem ich diesen Artikel in ewiger Verbundenheit widme. Uvo Hölscher: Selbstgespräch über den Humanismus, in: Uvo Hölscher: Die Chance des Unbehagens. Drei Essais zur Situation der klassischen Studien, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1965, S. 81, Nachdruck in: Uvo Hölscher: Das nächste Fremde. Von Texten der griechischen Frühzeit und ihrem Reflex in der Moderne. Hg. von Joachim Latacz/Manfred Kraus, München: Beck 1994, S. 278. 47
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gründer unseres westlichen Denkens, auch wenn sie uns in klassizistischmodernistischer Weise oft allzu sehr angeglichen oder sogar mit uns identifiziert werden. Keiner weiß dies besser als Jacques Derrida.3 Seine ganze Philosophie kreist in vielerlei Hinsicht um Platon. Dessen Dialoge, insbesondere Phaidros, Timaios, Philebos und Sophistes, stellen für ihn zentrale Referenztexte dar, anhand derer er gewissermaßen an der Quelle die Dekonstruktion unserer logozentristischen Denkweise vornimmt. Gerade Platons Schriftkritik ist bei Derrida ein Schlüsselmotiv. Wie kann man also Derrida ohne Kenntnis dieses antiken Hintergrunds verstehen? Die griechische Philologie hat es zum Teil selbst zu verschulden, daß sie sich von einer führenden Rolle, die das Fach im 19. und frühen 20. Jahrhundert in den Geisteswissenschaften gespielt hatte, in der aktuellen Kulturlandschaft in eine gewisse Abseitsposition gebracht hat. Derweilen kann gerade die Gräzistik eine wichtige Drehscheibenfunktion im aktuellen Diskurs ausüben. Denn in einer Zeit, in der aus ökonomischen Nützlichkeitserwägungen diese Tradition zu versiegen droht, benötigen wir desto mehr die kulturwissenschaftliche Vermittlung dieses Wissens. Im folgenden beabsichtige ich zweierlei: Ich will zunächst die Begriffe und das Wortfeld zu mnema und mneme vorstellen und dabei zeigen, wie darin angelegte Spannungen und Differenzen für die dekonstruktivistische Philosophie Derridas fruchtbar gemacht werden können. (A) Zudem möchte ich einen Einblick in die altgriechischen Konzeptionen der mneme geben und in diesem Zusammenhang auf die Frage eingehen, inwiefern mnema bei Platon und Derrida mit der Schriftkritik in Verbindung steht. (B)
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Zu Derrida konsultierte ich u.a. Jonathan Culler: Dekonstruktion. Derrida und die poststrukturalistische Literaturtheorie, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1988; Manfred Frank: Was ist Neostrukturalismus?, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983, S. 279-366; Geoffrey Bennington/Jacques Derrida: Jacques Derrida. Ein Portrait, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994; Wolfgang Welsch: Vernunft. Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996, S. 245-302. 48
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A. µȞˆȘµĮ (mnema) – µȞȒµȘ (mneme) im Griechischen. Eine Worterklärung aus sprachwissenschaftlicher Sicht In einer Übersicht stelle ich zunächst das Wortfeld vor, aus dem µȞˆȘµĮ (mnema) und µȞȒµȘ (mneme) stammen, um dann auf die Implikationen einzugehen:4 µȞˆȘµĮ (mnema) dor. µȞˆĮµĮ (mnama): ›Andenken, Denkmal, Grabmal‹ (vgl. auch ıˆȘµĮ (sema): ›Zeichen, Grabmal‹). µȞȒµȘ (mneme): ›Erinnerung, Gedächtnis, Andenken, Erwähnung‹.
Verwandte Verben µȚµȞȒıțȦ (mimnesko): ›erinnern, sich erinnern, gedenken, erwähnen‹ (Präsensreduplikation als Intensivierungskennzeichen). µȞȐȠµĮȚ (mnaomai): ›in Erinnerung bringen, sich erinnern, gedenken, sinnen, wonach trachten, etwas begehren, freien, buhlen, um eine Frau werben‹. Vgl. die alte, aber angezweifelte Verbindung mit ›Frau‹ und die entsprechende Ableitung von µȞˆĮıșĮȚ (mnasthai) aus *µȞĮ- < *ȕȞĮ- ›Frau‹ = Vedisch gna- ›Frau eines Gottes‹; i.e. *guna*gunna ĺ ȖȣȞȒ.5 µİµȠȚȞȐȦ (memoinao): ›im Sinn haben, wünschen, vorhaben, begehren‹. µİȞİĮȓȞȦ (meneaino): ›begehren, heftig verlangen, wüten‹. µȑµȠȞĮ (memona): ›im Sinn haben, gedenken, streben‹ (Zustandsperfekt). µĮȓȞȠµĮȚ (mainomai): ›rasen‹. Das ganze Wortfeld hat mit dem Grundwort µȑȞȠȢ (menos) zu tun, das soviel wie ›Kraft, Stärke, Lebenskraft, Mut, Wut, Sinn, Absicht, Ziel, Impetus, Drang‹, also ›erregtes Denken schlechthin‹ bedeutet. Man vergleiche im Sanskrit manas, manah und das lateinische Nomen animus, ›Sinn, Geist‹. Ferner ist es von der Wurzel mna- abgeleitet; man vergleiche im Sanskrit amnasis-uh ›sie erwähnten‹, im Gothischen ga-mun-an
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Vgl. dazu Georg Curtius: Grundzüge der griechischen Etymologie, Leipzig: B.G. Teubner 18662, S. 279-280; Emile Boisacq: Dictionnaire étymologique de la langue grecque, Heidelberg: Winter 1916, S. 625-627, 638, 641; Pierre Chantraine: Dictionnaire étymologique de la langue grecque. Histoire des mots, Paris: Klincksieck 1968, S. 658, 685, 702-703; Hjalmar Frisk: Griechisches etymologisches Wörterbuch, II, Heidelberg: Winter 1970, S. 206-208, 238-241, 160-161. Vgl. E. Boisacq: Dictionnaire étymologique, S. 641. 49
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›meinen, gedenken‹. Man kann also schlußfolgern: µȚµȞȒıțȦ (mimnesko, siehe lateinisch memini) ist die geistige Tätigkeit, etwas mit Lebenskraft zu erfüllen und damit zu aktivieren.
Nominalbildungen – von Verben abgeleitete Wortbildungen 1. Bezeichnung des Täters (nomina agentis) IJȒȡ
IJȒȢ IJȦȡ
µȞȘıIJȒȡ (mnester): ›der Erinnerer, Anreger, Freier‹. ferner: weibl. µȞȒıIJİȚȡĮ (mnesteira): ›die Erinnernde, Mahnende, Braut‹; adjektivisch: ›in Erinnerung bringend‹. µȞȘıIJȒȢ (mnestes): wie µȞȘıIJȒȡ. µȞȒıIJȦȡ (mnestor) poetisch wie µȞȘıIJȒȡ und adjektivisch: ›eingedenk‹.
2. Verbalabstrakta (nomina actionis) ıȚȢ µȘ İȓĮ
µȞˆȘıȚȢ (mnesis), ’ĮȞȐµȞȘıȚȢ (anamnesis), ȪʌȩµȞıȚȢ (hypomnesis): ›Erinnerung, Andenken, Ermahnung‹. µȞȒµȘ (mneme): ›Erinnerung, Gedächtnis, Erwähnung‹. µȞİȓĮ (mneia): ›Erinnerung, Erwähnung, Freien, Werbung‹.
3. Bezeichnung für das Ergebnis einer Handlung (nomina rei actae) µĮ
µȞˆȘµĮ (mnema): ›Andenken, Denkmal, Grabmal‹; vgl. µȞȘµİˆȚȠȞ (mnemeion): ›Erinnerungszeichen, Andenken, Denkmal‹ und das Adjektiv µȞȒµȦȞ (mnemon): ›eingedenk, sich erinnernd‹. ȪʌȩµȞȘµĮ (hypomnema): ›Erinnerung, Denkschrift, Erinnerungshilfe, Eingabe, Kommentar‹. µȞȒıȚİȣµĮ (mnesteuma): ›das, was man freit, die Gefreite, das Freien, Werben‹.
4. Bezeichnung für Werkzeug, Mittel, Ort (nomina instrumenti et loci) IJȡȠȞ IJȘȡȚȠȞ
µȞˆȘıIJȡȠȞ (mnestron): ›Trauung‹. hier als Adjektiv belegt: µȞȘıIJȒȡȚȠȢ (mnesterios): ›zum Freien gehörig‹.
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Aus dem Stamm mne- geht, wie aus der Übersicht deutlich wird, ein breites Band von Bedeutungen hervor, die in der griechischen Sprache abgerufen werden können. Vor allem ist eine fundamentale Spannung zwischen Leben und Tod zu konstatieren. Alle Bezeichnungen des µȚµȞȒıțİȚȞ (mimneskein) vermitteln zum einen, daß man etwas, was abgelegt und damit ›tot‹ ist, ins Leben zurückruft, also aktiviert. Dieser Prozeß steht in einem sprachlichen Zusammenhang mit µȑȞȠȢ (menos): Sämtliche Begriffe leiten sich von diesem dynamischen Signifikationszentrum her, das ›Mut, Lebenskraft, Impetus, Drang‹, das heißt einen erregten Denkvorgang beinhaltet. Nomina mit der Endung -ma stellen immer etwas Abgeschlossenes dar und umschreiben die Tatsache, daß das Zeichen, mit dem es gelingt, etwas in die Erinnerung und in das Kraftfeld des Lebens zurückzuholen, irgendwann zu abgestorbenem Material werden kann. Es gibt dann keine Möglichkeit der Reaktivierung mehr. Entsprechend der Herangehensweise und Einstellung sowie der aktiven, medialen oder passiven Fokussierung, die im Griechischen durch fixe Ausgangselemente indiziert wird, betont man einmal eher die Perspektive der toten Materialbasis, das andere Mal die der vitalen Potentialität. Zu beachten ist freilich, daß letztere das Wortfeld dominiert. Mneme leitet sich vom Verb µȞȐȠµĮȚ (mnaomai) ab, das soviel wie ›in Erinnerung bringen, sich erinnern, gedenken, sinnen‹ bedeutet. Ferner steckt der Stamm men-, mna- der Lebenskraft in den noch viel stärkeren Tätigkeitswörtern des geistigen Trachtens, Verlangens und heftigen Begehrens.6 Die Spitze dieser überaus lebendigen Strebekraft ist die damit verbundene µĮȞȓĮ (mania), der ›Wahnsinn‹, der eine übermäßige emotionale Reaktion umschreibt (vgl. µĮȓȞȠµĮȚ mainomai: ›rasen‹). Aufgrund der Konnotationen des heftigen Verlangens ist es nachvollziehbar, daß sich im Spektrum von mnaomai die erotische Sonderbedeutung ›um eine Frau werben, freien‹ herausgebildet hat. Manche vermuten, daß sich diese über den Schritt eines »höfische[n] Ausdruck[s]« entwickelt hat, der das Werben um Herrschaft mit der zu ehelichenden Frau verbindet. Denn das Einheiraten in eine angesehene adelige Familie impliziert Machtgewinn.7 Eine alte, heute aber strittige Ableitung der Bezeichnung ›Frau‹ (ȖȣȞȒ gyne) von diesem Stamm findet sich bei Emile Boisacq.8 Aber selbst ohne diesen direkten sprachwissenschaftlichen Konnex zu ›Frau‹ ist die erotische Be6
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Vgl. µİµȠȚȞȐȦ (memoinao): ›im Sinn haben, wünschen, vorhaben, begehren‹; µİȞİĮȓȞȦ (meneaino): ›begehren, heftig verlangen, wüten‹; µȑµȠȞĮ (memona): ›im Sinn haben, gedenken, streben‹. Vgl. H. Frisk: Griechisches etymologisches Wörterbuch, II, S. 240. Vgl. E. Boisacq: Dictionnaire étymologique, S. 641, s. v. µȞˆĮıșĮȚ von * µȞĮ- < *ȕȞĮ- ›Frau‹ = Vedisch gna- ›Frau eines Gottes‹; i.e. *guna*gunna ĺ ȖȣȞȒ. 51
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gierde etymologisch in die griechische Erinnerung eingeschrieben. Als eine der stärksten Konkretisierungen des geistig affektiven Strebens nach Leben spielt die Liebe gerade auch im Bereich der Entstehung von Texten eine entscheidende Rolle. Eros hat in der griechischen Vorstellung stets etwas mit einem Mangel zu tun. Das wirkliche Lieben impliziert also, um in den Worten Roland Barthes’ zu sprechen, immer einen Diskurs der Abwesenheit:9 es gibt eine Kluft, die das Subjekt vom Objekt trennt. Der Liebende verwendet in seinem unendlichen Verlangen die Erinnerung oder malt sich Dinge in Zukunft aus, welche die als Leiden empfundene Lücke schließen. Nach Anne Carson setzt der Liebesroman die Strategie des Setzens eines Dritten, wodurch das Gefühl der Unvollständigkeit im lyrischen Liebesgedicht ausgedrückt wird, in extenso fort. Im ausführlichen Prosatext werden auf den Prinzipien der Selektion und Kombination beruhende Variationen der immer gleichen Dreieckskonstellation erzählerisch ausgebreitet.10 Auch andere den Eros thematisierende Texte, insbesondere die Homerische Odyssee, in mancher Hinsicht ein Vorläufer des griechischen Liebesromans, funktionieren ähnlich. In diesem Zusammenhang ist es angebracht, Jacques Lacan anzuführen, auf den sich Derrida wiederholt bezieht. Lacan geht von einer grundsätzlichen Mangelstruktur und Gespaltenheit des im Es angesiedelten Subjekts aus und erklärt dessen Wirkweise in Analogie zum linguistic turn mit Bezugnahme auf Theorien von Ferdinand de Saussure und Roman Jakobson. Nach Lacan konstituiert sich das Ich auf der Basis von Signifikantenketten über die Supplementarität von Zeichen im tropologischen Spiel von Metapher und Metonymie. Es stellt somit nichts anderes als ein »glissement incessant du signifié sous le signifiant« dar.11 Das
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Roland Barthes: Fragmente einer Sprache der Liebe, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996, S. 27-32; vgl. Anton Bierl: Charitons Kallirhoe im Lichte von Sapphos Priamelgedicht (Fr. 16 Voigt). Liebe und Intertextualität im griechischen Roman, in: Poetica 34 (2002), S. 8-9. 10 Anne Carson: Eros. The Bittersweet. An Essay, Princeton: Princeton University Press 1986, S. 77-95. Der Moment der »pathologischen Schizophrenie« im Monolog der Seele werde ausgebreitet und ausgeweidet, der Leser selbst befinde sich in diesem Dreiecksverhältnis und werde mitgerissen (S. 83-85). Zur »Triangulation« vgl. auch Massimo Fusillo: Il romanzo greco. Polifonia ed eros, Venedig: Marsilio 1989, S. 219-228. 11 Jacques Lacan: Ecrits, I, Paris: Seuil 1966. S. 260. Zum Imaginären, zum Begehren und zur Zwischenleiblichkeit Merleau-Pontys in Verbindung mit Lacan vgl. Georg Christoph Tholen: Die Zäsur der Medien. Kulturphilosophische Konturen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 61-92, 139-146. 52
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Subjekt unterliegt demzufolge der Sprachstruktur und erst im Verweisspiel von Zeichen entsteht Bedeutung. Auf einer solchen gleitenden Metaphorologie basiert letztlich jegliche poetische Handlung. Das mündlich tradierte Epos muß man auf der Grundlage einer aktiven Wiedererinnerung verstehen, was dann die grundsätzliche Konzeption der griechischen Poetik beeinflußt. Generierung von Performanz, Narration und Text beruhen also auf dem Begehren, mittels Mimesis eine bestehende Geschichte oder Konstellation immer wieder neu zu beleben. Im unendlichen Verlangen nach dem Objekt gibt der Dichter (poietes) auf der paradigmatischen und syntagmatischen Ebene Raum für seine musische Inspiration oder später für seine eigene Phantasie frei, wobei er in ständiger Variation ähnlicher Themen Text schafft (vgl. ʌȠȚ݈ȚȞ poiein), sei es in Erzählung oder dann in Schrift.12 Gerade die Gräzistik, die in ihren Gegenständen exemplarisch den Umbruch einer mündlichen in eine schriftliche Kultur beobachten kann, hat auf den Spuren Platons und der neuen Mündlichkeitsforschung die Präsenz und Vormacht des Oralen gegenüber dem Geschriebenen herausgestellt.13 Dieser Befund steht freilich ganz im Gegensatz zu ihrem Selbstverständnis als der Philologie schlechthin, die alles unter dem Gesichtspunkt der Tradierung und Pflege von schriftlich komponierten Texten betrachtet und daher lange Zeit diese mündliche Perspektive der früh12 Vgl. Anton Bierl: Räume im Anderen und der griechische Liebesroman des Xenophon von Ephesos. Träume?, in: Antonio Loprieno (Hg.), Mensch und Raum von der Antike bis zur Gegenwart, München, Leipzig: Saur 2006, 71-103. 13 Vgl. u.a. Milman Parry: The Making of Homeric Verse. The Collected Papers of Milman Parry. Hg. von Adam Parry, Oxford: Clarendon Press 1971; Albert B. Lord: The Singer of Tales, Cambridge, Mass.: Harvard Press 1960 (20002, hg. von Stephen Mitchell and Gregory Nagy); Gregory Nagy: Pindar’s Homer. The Lyric Possession of an Epic Past, Baltimore, London: The Johns Hopkins University Press 1990; zur oral poetry vgl. ferner Joachim Latacz (Hg.): Homer. Tradition und Neuerung, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1979; Joachim Latacz: Tradition und Neuerung in der Homerforschung. Zur Geschichte der Oral Poetry-Forschung, in: Homer. Tradition und Neuerung, S. 25-44. Zur Lyrik u.a. Wolfgang Rösler: Dichter und Gruppe. Eine Untersuchung zu den Bedingungen und zur historischen Funktion früher griechischer Lyrik am Beispiel Alkaios, München: Wilhelm Fink Verlag 1980; Bruno Gentili: Poesia e pubblico nella Grecia antica. Da Omero al V secolo, Rom: Laterza 19953; zu Platon: Eric A. Havelock: Preface to Plato, Cambridge, Mass., London: The Belknap Press of Harvard University Press 1963; Thomas A. Szlezák: Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie, Berlin, New York: Walter de Gruyter 1985. 53
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griechischen Kultur gar nicht gebührend berücksichtigt hat. In dieser Hinsicht steht das Fach ganz im Gefolge der Begründer der modernen westlichen Philologie in Alexandria, welche die in einem ursprünglich mündlichen, funktionalen Gattungszusammenhang stehenden Dichtungen nur mehr als ›Literatur‹ verstehen konnte. Mit der Betonung der Okkasionalität, der Gebundenheit an einen ›Sitz im Leben‹, läuft man umgekehrt Gefahr, die Schriftlichkeit als sekundäres Phänomen und im Sinne toter, nicht mehr gegenwärtiger Materialien abzuwerten. Es ist unter anderem ein Verdienst Derridas, die polare Opposition zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit aufgelöst, also dekonstruiert zu haben. Er zeigt, daß auch Schrift lebendig ist, indem sie mittels Aufpfropfungen eine Spur (trace) im Text hinterläßt. Gleichzeitig mit dem Kampf gegen den Logozentrismus engagiert sich Derrida gegen vorherrschende Tendenzen des Phallozentrismus. Zusammenfassend kann man feststellen, daß die Erinnerung (mneme) Inhalte aus dem Bereich des Vergessens (lethe) holen und bewahren muß. Dies impliziert eine gesteigerte Intentionalität. Das Verlangen nach Reaktivierung wird im übertragenen Sinne ein Freien. Die Schrift dient dabei als Medium und um die aufzuzeichnenden Geschichten bemüht man sich wie um eine Braut. Dem Inhalt wie dem Medium ist der spezifische Mangel eingeschrieben, der sich nach Lacan in einer Signifikantenkette entäußert. Das schriftliche Produkt fungiert zum Teil als Andenken, das heißt als der Erinnerung unterlegtes Skript (hypomnema). Solche Aufzeichnungen, mit denen man sich in Stichworten etwas merken kann, sind eine Art Erinnerungshilfe. Mit den tatsächlichen Inhalten des einst lebendigen Stoffes sind sie allerdings niemals identisch. Das mnema ist somit die immer mehr erstarrte Substanz des ursprünglich Präsenten, das im Prozeß der composition in performance sowie in der Schrift aus dem Abwesenden geholt wird und das man wild begehrt. Je nach Blickrichtung ist es als Dichtung vital-produktiv oder als archivierte Erinnerungsablage tot. Daher erhält mnema die Konnotation eines Denkmals, das an das Wesenhafte der Rede selbst gemahnt. Wie das Zeichen (sema) bedeutet es zudem ›Grabmal‹, durch das man die Erinnerung an das Bezeichnete bzw. den Lebenden wachhält. Mit den Begriffen mnema und mneme verwandt ist zudem die µȞȘµȠıȪȞȘ (mnemosyne), ›die Erinnerung, das Gedächtnis‹. Als Eigenname fungiert sie als Mutter der Musen (ȂȠˆȣıĮȚ), die sich wiederum auf eine gemeinsame Wurzel *men, *montia oder *monthia zurückführen lassen.14 Damit stoßen wir auf den Kern der griechischen Dichtungskonzeption. Die Muse inspiriert den epischen Sänger, durch sie kann 14 Vgl. P. Chantraine: Dictionnaire étymologique, S. 706 und G. Nagy: Pindar’s Homer, S. 60 Anm. 38, S.163 Anm. 82. 54
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man sich ›erinnern‹ und nach den Regeln einer oral poetry im mündlichen Vortrag eine Geschichte nach vorgefertigten Mustern und Formeln improvisierend hervorbringen.
B. Konzeptionen der mneme Wie bewahren die Griechen in der archaischen Phase eine Botschaft? Mach Marcel Detienne sind die beiden Begriffe mnemosyne und lethe entscheidend daran beteiligt.15 Beide muß man sich nach Greg Nagy wie konzentrische Kreise vorstellen:16 Mnemosyne ist der unmarkierte Begriff gegenüber lethe, das heißt, sie schließt das Vergessen mit ein. Man muß Dinge vergessen, um sich erinnern zu können. Umgekehrt grenzt mnemosyne die lethe aus und negiert sie. Dies könnte man als Minusinterpretation des Unmarkierten betrachten: Es ist die spezielle, durch mnemosyne wachgehaltene Wahrheit, die lethe hier verbietet: Mnemosyne, nicht lethe – muß im Kernbereich die Parole lauten. Das heißt, bestimmte Dinge dürfen einfach nicht vergessen werden. Ein größerer Kreis der mnemosyne schließt also einen inneren Bereich von lethe ein; gleichzeitig umgibt sie einen inneren Kreis von Spezial-mnemosyne, der den äußeren Bereich von lethe ausschließt. Diese exkludierende Form des Erinnerns ist die a-letheia, die ›Un-Verborgenheit‹ oder ›Wahrheit‹ des Dichters im Nichtvergessen des poetischen Ansehens und ewigen Nachlebens. Als absoluter Nucleus darf dieser unsterbliche Ruhm (țȜȑȠȢ ’ȐijșȚIJȠȞ kleos aphthiton), der dem Sänger mittels seiner Poesie zukommt, nicht mehr ›hinschwinden und vergehen‹.17 Eine ausführliche Theorie der mneme liegt zuerst bei Platon vor.18 Im Theaitet wird die mneme in die Reflexion einbezogen, um die Möglichkeit einer falschen Vorstellung erklären zu können: Sokrates: So setze mir nun also des Gedankens wegen, es sei in unseren Seelen eine wächserne Knetmasse (țȒȡȚȞȠȞ İ’ țµĮȖ݈ȚȠȞ), bei dem einen größer, bei dem anderen geringer, bei einem von reinerem Wachs, bei einem anderen von schmutzigerem, auch härter, bei einigen feuchter, bei einigen gerade in angemessener Form.
15 Vgl. Marcel Detienne: Les maîtres de vérité dans la Grèce archaïque, Paris: Maspero 19732. 16 Vgl. G. Nagy: Pindar’s Homer, S. 59. 17 Vgl. ebd., S. 58-61. 18 Vgl. auch die kurze Darstellung bei Gert Plamböck: Mneme, Mnemosyne, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, V, Basel, Stuttgart: Schwabe Verlag 1980, Sp. 1441-1442. 55
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Theaitetos: Ja, ich setze sie. Sokrates: Wir wollen nun sagen, daß sie ein Geschenk der Mnemosyne sei, der Mutter der Musen, und daß in ihr abgeprägt wird, was auch immer wir erinnern wollen von dem, was wir sehen und hören und selber denken, indem wir sie unter die Wahrnehmungen und Gedanken halten, wie beim Siegeln mit dem Gepräge eines Ringes. Und was sich nun abdrückt, dessen erinnern wir uns und wissen es, solange sein Abbild vorhanden ist. Wenn es aber verlöscht ist oder es nicht abgedruckt werden kann, so haben wir die Sache vergessen und wissen sie nicht. (Tht. 191c-e, Übersetzung nach Friedrich Schleiermacher)
Ein solches eher spielerisch entworfenes Modell eines Wachsabdrucks verwirft Sokrates unmittelbar darauf, da es für einen Irrtum, an dem keine Wahrnehmung beteiligt sei, unzureichend sei, und ersetzt es mit der Vorstellung eines Taubenschlags, in dem verschiedene, jeweils unterschiedliche Kenntnisse repräsentierende Vögel Platz haben. Dieses Bild erscheine angemessener, weil man hier konkret-aktuelles Haben und latentes Besitzen einer Erkenntnis unterscheiden könne. Sokrates: Wie wir also in dem Vorigen, ich weiß nicht mehr, was für ein wächsernes Machwerk in der Seele bereiteten, so laß uns jetzt in jeder Seele einen Taubenschlag von mancherlei Vögeln anlegen, einige, die sich in Herden zusammenhalten und von anderen absondern, andere, die nur zu wenigen, noch andere, welche einzeln unter allen wie es kommt umherfliegen. Theaitetos: Er sei angelegt. Was wird nun aber daraus? Sokrates: In der Kindheit, muß man sagen, sei dieses Behältnis leer, und statt der Vögel muß man sich Erkenntnisse denken. Welche Erkenntnisse nun einer in Besitz genommen und in seinen Schlag eingesperrt hat, von denen sagt man, er habe die Sache, deren Erkenntnis dies war, gelernt oder gefunden, und dies sei eben das Wissen. (Tht. 197de, Übersetzung Friedrich Schleiermacher, überarbeitet von Peter Staudacher)
Ganz anders präsentiert sich die berühmte Anamnesislehre, die aber offensichtlich ebenfalls nur ein spontanes Gedankenspiel darstellt. Im Phaidon sagt Kebes, daß unser Lernen nichts anderes als Wiedererinnerung sei, und daß wir deshalb notwendig in einer früheren Zeit gelernt haben müssen, wessen wir uns wiedererinnern, und daß dies unmöglich wäre, wenn unsere Seele nicht schon existiert hätte, ehe sie in diese menschliche Gestalt kam (Phd. 72e). Hier handelt es sich also nicht mehr um ein mechanisches Verfahren oder Modell des Einfangens, sondern es wird die These vertreten, daß die Seele bereits vor unserer Existenz alles gelernt habe und alles nur reaktiviert werden müsse. Dies ist natürlich eine Anspielung auf den locus 56
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classicus im Menon (Men. 81aff.). Die Seele, heißt es dort, habe in ihrer unsterblichen Existenz bereits alles aufgenommen. Daher »hindert nichts, daß, wer nur an ein einziges erinnert wird, was bei den Menschen lernen heißt, alles übrige selbst auffinde« (Men. 81d). Lernen ist also nichts anderes als die Erkenntnis hervorzuholen, die man von Geburt an eigentlich schon hat. Die unvergängliche Seele erinnert sich an die Inhalte des Seins wieder. Diese Lehre muß freilich nicht als ein festes Dogma der mittleren Schaffensphase Platons gelten, gerade das Symposion und die Politeia greifen auf ein dispositionelles Modell des aktiven Erwerbs zurück. Daß sich Platon im Grunde davon distanziert, zeigt die Einführung aus zweiter Hand, in der er die Theorie ausdrücklich zweifelhaften und unglaubwürdigen Quellen zuschreibt, nämlich Priestern, Priesterinnen und Dichtern (Men. 81ab), und die Tatsache, daß er nach der Demonstration am geometrischen Fallbeispiel alles gleich wieder verwirft (Men. 86bc).19 Im Philebos findet sich davon nichts mehr, sondern die Seele einer aktuell rezipierenden Person empfängt nun selbst »Eindrücke« (Phil. 33c-34c). Mneme ist die Aufbewahrung der Wahrnehmung (Phil. 34a), die auf den Körper und die Seele gemeinsam gestoßen ist: Unter Wiedererinnerung versteht man hier, »wenn, was der Seele mit dem Leib zugleich begegnet ist, sie dieses ohne den Leib für sich allein möglichst zurückholt« (Phil. 34b). Entscheidend ist also, daß die Eindrücke in der Seele auch lustvolle körperliche Zustände sein können. Die Seele ist die Instanz, die mittels des Gedächtnisses begehrt. Was einmal in der mneme gespeichert ist, ist immer wieder als Lust abrufbar. Mneme wird so zum »Grundprinzip des Lebendigen«:20 Sokrates: Indem also unsere Rede die zu dem Begehrten hinführende Erinnerung aufgewiesen hat, hat sie zugleich gezeigt, daß jeder Trieb und jede Begierde sowie die gesamte Regierung eines jeglichen Lebendigen der Seele angehören. (Phil. 35d, Übersetzung nach Friedrich Schleiermacher, überarbeitet von Klaus Widdra)
Meinungen sind Produkte von Wahrnehmung und Gedächtnis im Selbstgespräch der Seele. Die mneme zeichnet diese Reden in Form einer Niederschrift oder einer bildhaften Skizze des Gemeinten (vgl. ȖȡȐijİȚȞ graphein ›schreiben, malen, ritzen‹) in der Seele auf. Mneme wird dann per-
19 Vgl. nun Glenn Rawson: Platonic Recollection and Mental Pregnancy, in: Journal of the History of Philosophy 44 (2006), S. 137-155. 20 G. Plamböck: Mneme, Mnemosyne, Sp. 1441. 57
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sonifiziert und neben einem Schreiber auch als Maler verstanden, der Bilder von dem Gesprochenen in der Seele zeichnet (Phil. 39ab). Auf der Grundlage Platons entwickelt Derrida die Problematik des westlichen Verhältnisses zur Schrift.21 Einerseits ist Schreiben Ausdruck des Lebens und der Kreativität schlechthin. Es ist gewissermaßen das weibliche Gefäß, die Örtlichkeit, ȤȫȡĮ (chora), aus der kreativ alles hervorgeht.22 Wie im Bereich des Individuums die Abdrücke in der Seele das Leben steuern, so drückt sich auch im Unsterblichen das Sein ein und hinterläßt typographische Spuren. Bei der Suche nach dem Ursprung gibt es nicht nur Vorbild und Abbild, sondern auch eine dritte Sorte folgender Kraft: »Sie ist allen Werdens ein bergender Hort wie eine Amme« (Tim. 49a). Zur Beschreibung der chora muß man nach Derrida »aus diesem Kosmos die eigentlichen/geeigneten – aber zwangsläufig inadäquaten – Figuren schöpfen: Behältnis, Abdruckträger, Mutter oder Amme«.23 Aus diesem produktiven, schöpferischen Gefäß entsteht alles Denken im Aufschub auf immer neu aufnehmende Behältnisse. In einer mise en abyme werden Schrift und Bild die sich über Supplemente hinwegsetzenden Medien. Als Dazwischen vermitteln sie und bringen aus diesem ›Raum‹ den eigentlichen Inhalt mittels Malerei oder Text kreativ hervor. Diese Zusammenhänge werden nach der Analyse Derridas auf der erzählenden Ebene des Timaios exakt nachvollzogen. Aber in Form von Buchstaben oder Skizzen beginnt man gleichzeitig etwas abzulegen. Es entsteht ein Depositum, ein Ort, auf dem man sowohl Informationen festhält als auch ausstreicht und löscht. Der Mensch will durch dieses archivierende Verfahren dem Vergessen entgegenwirken, muß dann aber paradoxerweise feststellen, daß er gerade damit dem Vergessen Vorschub geleistet hat. Interessanterweise rekurriert Platon in der Auseinandersetzung mit der schriftlichen Aufzeichnung im Timaios und im Phaidros auf Ägypten. Von einer Piktographie der Ägypter kommt man bei den Griechen zu einer Logographie, von einer bildhaften Zeichen- zu einer Phonemschrift, die eine abstrakte ijȦȞȒ (phone), Stimme, in eine Buchstabenfolge umsetzt. Durch diese mediale Innovation kann man nun jede beliebige Erzählung im Sinne einer Lautsequenz speichern. Aus dem berühmten Rosetta-Stein, der in zwei Sprachen, Ägyptisch und Griechisch, und drei Schrifttypen, in ägyptischen Hieroglyphen, in demotischen und griechischen Buchstaben beschrieben ist und ein Dekret der ptolemäischen Zeit wiedergibt, geht hervor, daß man die Griechen als Volk verstand, das 21 Vgl. G. Bennington/J. Derrida: Jacques Derrida, S. 50-72. 22 Vgl. Jacques Derrida: Chôra. Hg. von Peter Engelmann, aus dem Franz. von Hans-Dieter Gondek, Wien: Passagen-Verlag 1990 und dazu G. Bennington/J. Derrida: Jacques Derrida, S. 214-219. 23 J. Derrida: Chôra, S. 70-71. 58
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Schrift nur zur Mnemotechnik benutzte.24 Umgekehrt ist den Ägyptern die Hieroglyphe etwas Heiliges, da sie mit einer göttlichen Idee direkt verbunden ist. Bei den Griechen ist die Schrift bekanntlich nur hypomnema, also wie die Platonischen Dialoge selbst nur Hilfsmittel, um mündliche phone memorieren zu können. Die im 8. Jahrhundert v. Chr. von den Phönikern übernommene Lautschrift erfüllt just diese Funktion, indem damit die lange Zeit mündlich überlieferte Epentradition aufgezeichnet wird.25 Dieser Zusammenhang schlägt sich in der berühmten Schriftkritik im Phaidros (Phdr. 274b-278b) nieder.26 Nach einer alten ägyptischen Sage erfand Theut die Zahl und Rechnung, dann die Meßkunst und Sternkunde, ferner das Brett- und Würfelspiel, schließlich die Buchstaben. Er ging zum ägyptischen Herrscher Thamos, da er eine allgemeine Verbreitung seiner geistigen Errungenschaften anstrebte. Auf die Frage, was denn für ein Nutzen daraus entstünde, antwortete Theuth bei der Schreibkunst, sie werde die Ägypter weiser und gedächtnisreicher machen, denn sie sei ein Mittel (pharmakon) für das Gedächtnis und die Weisheit. Thamos bezweifelt diesen Vorteil: In Wirklichkeit werden Buchstaben »bei den Lernenden in den Seelen Vergessenheit einflößen aus Vernachlässigung des Gedächtnisses (µȞȒµȘȢ ’ĮµİȜİIJȘıȓ˛Į), weil sie im Vertrauen auf die Schrift sich nur von außen vermittels fremder Zeichen, nicht aber innerlich sich selbst und unmittelbar erinnern werden« (Phdr. 275a). Er fährt fort: »Nicht also für das Gedächtnis, sondern nur für die Erinnerung hast du ein Mittel erfunden (Ƞ’ȪțȠȣȞ µȞȒµȘȢ ĮȜȜ`Į ǥȣʌȠµȞȒıİȦȢ ijȐȡµĮțȠȞ İǥˆȣȡİȢ).« Von der Weisheit bringe daher Theuth nur den Schein, nicht die Sache selbst bei (Phdr. 275a). Derrida hat sich mit der Ambiguität des Wortes pharmakon auseinandergesetzt. Schrift sei ein Heilmittel (für das Erinnern) und ein Gift (für das Gedächtnis). Zugleich agiert Sokrates wieder einmal als ein philosophischer Zauberer (pharmakeus) und Zeichenjongleur. Theuth wird 24 Vgl. Antonio Loprieno: Ancient Egyptian. A Linguistic Introduction, Cambridge: Cambridge University Press 1995; Richard Parkinson: Cracking Codes. The Rosetta Stone and Decipherment, Berkeley: University of California Press 1999. 25 Vgl. Rudolf Wachter: Zur Vorgeschichte des griechischen Alphabets, in: Kadmos 28 (1989), S. 19-78 und Rudolf Wachter: Alphabet, in: Hubert Cancik/Helmuth Schneider/Manfred Landfester (Hg.), Der Neue Pauly, I, Stuttgart, Weimar: Metzler 1996, Sp. 537-547. 26 Vgl. T. A. Szlezák: Platon und die Schriftlichkeit und Thomas A. Szlezák: Platon lesen, Stuttgart, Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 20012; vgl. nun auch Frank Haase: Metaphysik und Medien. Über die Anfänge medialen Denkens bei Hesiod und Platon, München: kopaed 2005, S. 73-157. 59
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fast zum Sündenbock (pharmakos), dessen Verstoßung die Stadt vor dem Vergessen reinigt. Mit dieser différance der Signifikanten kommt es im Spiel der Supplemente nach Derrida zu einer Dekonstruktion der Schriftfeindlichkeit.27 Das pharmakon ist also ›ambivalent‹, weil es genau die Mitte bildet, in der die Gegensätze sich entgegensetzen können, die Bewegung und das Spiel, worin sie aufeinander bezogen, ineinander verkehrt und verwandelt werden (Seele/Körper, gut/böse, Drinnen/Draußen, Gedächtnis/Vergessen, Sprechen/Schrift etc.). Aus diesem Spiel oder dieser Bewegung heraus werden die Gegensätze oder die Unterschiedenen von Platon angehalten. Das pharmakon ist die Bewegung, der Ort und das Spiel (die Hervorbringung der) Differenz. Es ist die différance der Differenz.28 Ziehen wir Sokrates’ Analyse der Geschichte bei (Phdr. 275b-e): Die Schrift wie die Malerei stellen Produkte als lebendig hin, die in Wirklichkeit tot sind. Denn wenn man sie fragt, schweigen sie und können nicht antworten. In der Verbindung mit dem Tod kommt Theuth seinem griechischen Pendant Hermes gleich. Die Schrift schweift umher – das ist zugleich ihre produktive Seite im Aufschub – und sie kann sich, so Sokrates, nicht selbst helfen. Sie braucht eigentlich immer den Vater, also den Urheber, der weiß, was mit dem Geschriebenen gemeint ist. Selbst gleicht die Schrift eigentlich eher einer Mutter. Die gesprochene Rede kann sich dagegen selbst zu Hilfe kommen, indem sie auf eventuelle Fragen nach dem Sinne darüber Rechenschaft ablegen kann. Darauf vergleicht Sokrates Schreiben mit dem Ritual der Adonisgärtchen (276b-277a):29 Nur zum Spaße wirft man Saat (sperma) in die Versuchsbeete und sieht nach acht Tagen bereits die gesprossenen Triebe. Ganz anders hingegen ist die ernste Beschäftigung des Bauern, der zum Zwecke des Landbaus sät und erntet. Wer das neue Medium anwendet, wird freilich nur »ins Wasser schreiben« und »wird Schriftgärtchen, wie es scheint, nur des Spieles wegen besäen und beschreiben« (Phdr. 276cd). Und er meint weiterhin: Wenn er aber schreibt, um für sich selbst einen Vorrat von Erinnerungen zu sammeln auf das vergeßliche Alter, wenn er es etwa erreicht, und für jeden, welcher derselben Spur nachgeht: so wird er sich freuen, wenn er sie zart und 27 Vgl. Jacques Derrida: Platons Pharmazie, in: Dissemination. Hg. von Peter Engelmann, aus dem Franz. von Hans-Dieter Gondek, Wien: PassagenVerlag 1995, S. 106-160 und J. Culler: Dekonstruktion, S. 157-160. 28 J. Derrida: Platons Pharmazie, S. 143. 29 Vgl. Gerhard J. Baudy: Adonisgärten. Studien zur antiken Samensymbolik, Frankfurt a.M.: Verlag Anton Hain 1986, bes. S. 73-91. 60
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schön gedeihen sieht; und wenn andere sich mit anderen Spielen ergötzen, bei Gastmählern sich benetzend und was dem verwandt ist, dann wird jener statt dessen seine Rede spielend durchnehmen. (Phdr. 276d, Übersetzung Friedrich Schleiermacher, überarbeitet von Dietrich Kurz)
Die Bilder Platons, das Aussäen sowie das Thesaurieren von Erinnerungen (ǥȣʌȠµȞȒµĮIJĮ șȘıĮȣȡȚȗȩµİȞȠȢ), das Begehen einer Spur (’ȓȤȞȠȢ) sowie das muntere Schwelgen im Schreiben, wirken auf die Begriffe und Metaphern, die Derridas fröhlich-positive Feier der Schrift gegenüber dem metaphysischen Logozentrismus durchziehen, nämlich die dissémination, die trace sowie die spielerische Einschreibung des Aufschubs in Behältern und Gefäßen. Bei Sokrates und Platon sind hingegen die nach dem rechten dialektischen Verfahren durchgeführten Reden als Samen ernst, fruchtbar und in den Seelen des Gegenübers nachhaltig gedeihend (Phdr. 276e-277a). Gesprochenes Wort ist also seriös, wahr und immer der Sachlage angemessen, Schrift indessen situationsabstrakt und kann sich daher auch nicht selbst erklären oder verteidigen. Sie stellt eine frei flottierende Signifikantenkette dar, ein Spiel (paidia), das in der Verschiebung der Bedeutungen Erinnerungen festhält, aber nicht zum Ursprung der Wahrheit vorstößt, sondern nur eine tropologische Spur zu ihm legt. Die Gräzistik hat zur Debatte der Mündlichkeitsforschung der letzten Jahrzehnte Entscheidendes beigetragen.30 Es hat sich im interkulturellen Vergleich gezeigt, daß nicht die Schrift die Norm ist und die davon abweichende Mündlichkeit eine Ausnahme bildet, sondern umgekehrt die mündliche Rede den unmarkierten, die Schrift den besonderen, markierten Fall darstellt.31 Gerade anhand der archaischen und frühen klassischen Texte der Griechen können wir das Mündliche in seinem pragmatischen Kontext studieren und in seiner funktionellen Gebundenheit als Entwurf eines anderen Literaturbegriffs kennenlernen. Dabei müssen wir uns freilich davor in acht nehmen, in romantischen Denkschablonen verhaftet Platons Spiel der Überhöhung der Präsenz unreflektiert für bare Münze zu nehmen. Derrida zerstört diese Perspektive auf die Oralität, indem er sie in die Schrift einbettet. Für ihn wird schließlich alles zu Schrift. Schrift wie Bild verwendet Platon in paradoxer Weise. Grundsätzlich wertet er diese Formen der Aufzeichnung ab. In der Welt der doxa, das heißt der diesseitigen Erscheinungen, stellen ikonische und logographische Zeichen das Außen, Unechte und Falsche dar. Schreiben ist nur eine 30 Siehe oben Anm. 13. 31 Vgl. G. Nagy: Pindar’s Homer, S. 17-18. 61
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unfruchtbare Spielerei: Wie in den Adonisgärtchen stirbt die Saat schnell ab. Schrift repräsentiert also einerseits den Tod und ist nichts weiter als ein Behältnis von Totgeburten, als mnema ein Grab des Lebendigen, das jegliche Präsenz auslöscht und verhindert. Als Einschreibung in die Seele stellt Schrift andererseits das Prinzip der Lebendigkeit schlechthin dar. In der Perspektive der ousia, des Seins und Ideenwissens, wird sie damit gleichzeitig sehr positiv besetzt. Um das Höchste anzudeuten und eine Spur zu ihm zu legen, muß Platon also doch auf diese entwerteten Formen der Vermittlung zurückgreifen. Nicht nur Buchstaben, sondern auch Bildzeichen spielen in der Philosophie Platons eine zentrale Rolle. Nach der Zwei-Welten-Lehre sind Malereien zum einen nur Abbilder zweiter Ordnung, da sie Gegenstände der realen, sichtbaren Welt wiedergeben, die wiederum nur einen Abklatsch der dazugehörigen Idee darstellen. In ontologischer Perspektive sind Bilder also nur drittrangig.32 Zum anderen muß man feststellen, daß Platon sich permanent dieses Mediums bedient, um sprachlich in seinen Dialogen überhaupt das Unaussprechliche seiner Philosophie, die Ideen wie auch die esoterische Prinzipienlehre, in einem Annäherungsverfahren in Worte fassen zu können. Alle Begrifflichkeiten der Formen- bzw. Ideenlehre kommen aus dem Bereich des Ikonischen und des Sehens. Die idea und das eidos hängen mit idein (›schauen‹) zusammen. Begreifen bedeutet für Platon Sehen mit nous. Wirkliches Wissen setzt die Schau der Idee voraus, also einen intuitiven Vorgang, der metaphorisch mit dem visuell gesättigten, tiefen Erlebnis einer Mysterienschau assoziiert wird.33 Um seine so ganz abstrakte Philosophie zu veranschaulichen, wendet Platon immer wieder Bilder (eikones) an. Solche bildhaften Gleichnisse werden im Dialog kunstvoll als ausgefeilte Analogien entworfen, um den Leser protreptisch und hypomnematisch an den wirklichen Inhalt heranzuführen. Denken muß also bildlich konkretisiert werden und beruht umgekehrt auf Metaphern. In gleicher Weise bedürfen mathematische Zusammenhänge einer geometrischen Verdeutlichung. Im Zusammenhang des Bildentwurfs steht bei Platon wiederholt die Ver32 Vgl. Platon: Pol. 596a-597e. 33 Vgl. Christoph Riedweg: Mysterienterminologie bei Platon, Philon und Klemens von Alexandrien, Berlin, New York: Walter de Gruyter 1987, S. 1-69 und Eveline Krummen: Sokrates und die Götterbilder. Zur Erkenntnis der höchsten Ideen in Platons Symposion (215 ab), in: Perspektiven der Philosophie. Neues Jahrbuch 28 (2002), S. 11-45; dagegen übertreibt Christina Schefer: Platons unsagbare Erfahrung. Ein anderer Zugang zu Platon, Basel: Schwabe Verlag 2001, wenn sie diese Verweise als Belege für einen wirklichen Mysteriensinn interpretiert, die auf reale Kulterfahrungen von Apollon-Einweihungen zurückgehen. 62
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wendung des Mythos im Zentrum des Interesses.34 Gerade bei ihm wird Mythos zu einem bildlich konstruierten Wort, einer ikonischen Erzählung, um damit den philosophischen Logos zu veranschaulichen. Bilder organisieren und strukturieren ganze Dialoge. Berühmt ist die sogenannte Analogie eines ab ovo entwickelten skizzenartigen Entwurfs einer Polis im Staat, um die Seelenstruktur im Kleinen zu beleuchten (Pol. 367a-374d). Kleine Buchstaben und Einritzungen (grammata) können nämlich, so Sokrates, anhand von größeren illustriert werden (Pol. 368cd). Interessant ist die spezifisch dynamische Bedeutung beider Inhalte, die einer statisch-thetischen der Moderne entgegensteht. In einer wechselseitigen Oszillationsbewegung von Internalisierung und Externalisierung erhellen sich beide Bereiche gegenseitig.35 Auch die berühmten Gleichnisse von Sonne, Linie und Höhle (Pol. 504a-511e, 514a-521b, 539d-541b) gehen auseinander hervor und thematisieren wiederum das Schauen, das Spiel als Aufführung oder Performanz, das Bild und Abbild. Mit diesen Verfahren wird der Philosoph zum wahrhaft kreativen Dichter und Maler. Mnema steht in der griechischen Kultur zudem in Beziehung zum Nachruhm. Die Konzeption des unsterblichen Ruhms (kleos aphthiton) ist für den Helden und den Dichter im mündlich komponierten und tradierten Epos fundamental.36 Man versucht ewige Berühmtheit zu erlangen, indem immer wieder von einem berichtet wird. Nur so kann man dem Vergessen und der Vergänglichkeit entgehen. Selbst in der schriftlichen Historiographie hat man weiterhin das Bestreben, das Aktuelle zu transzendieren und, wie Thukydides (1.22) sagt, zum ktema es aiei, Besitz für immer, zu werden. Dieser Besitz, ktema, wird also zum mnema.37 Das Erinnerungsstück bleibt in bezug auf die spätere Leserschaft lebendig, selbst wenn es als schriftlich verfaßtes Buch im Vergleich zur mündlichen Rede ein totes Material darstellt.
34 Vgl. nun Markus Janka/Christian Schäfer (Hg.): Platon als Mythologe. Neue Interpretationen zu den Mythen in Platons Dialogen, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2002. 35 Vgl. Jonathan Lear: Inside and Outside the Republic, in: Phronesis 37 (1992), S. 184-215, Nachdruck in: Richard Kraut (Hg.): Plato’s Republic. Critical Essays, Lanham u.a.: Rowman & Littlefield 1997, S. 61-94. 36 Vgl. Gregory Nagy: The Best of the Achaeans. Concepts of the Hero in Archaic Greek Poetry, revised edition, Baltimore, London: The Johns Hopkins University Press 19992 (19791), 94-117, 174-189. 37 »Es [i.e. das Werk] besteht mehr als Besitz für immer als ein Inhalt eines Wettkampfes zum einmaligen Hörgenuß (țIJˆȘµȐ IJİ ’İȢ Į’Țİȓ µˆĮȜȜȠȞ ’Ȓ ’ĮȖȫȞȚıµĮ ’İȢ IJȩ ʌĮȡĮȤȡˆȘµĮ ’ĮțȠȪİȚȞ ȗȪȖțİȚIJĮȚ)« (Thuk. 1.22). 63
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Z u s a m m e n f a s su n g Mnema und mneme bewegen sich in der griechischen Kultur innerhalb eines Spektrums zwischen Leben und Tod, Innen und Außen, Ernst und Spiel, Sein und Schein sowie zwischen dem Begehren, das Erinnerte festzuhalten, und dem Vergessen. Erinnerung (mneme) vermag Inhalte aus dem Bereich des Vergessens (lethe) zu holen und zu bewahren. Mnema ist als nomen rei actae das Gefreite oder Begehrte, wonach man strebt. Dieses erotische Verlangen schreibt sich ein in das Spiel der Schrift. Dem Inhalt wie dem Medium ist der spezifische Mangel des umworbenen Liebesobjekts zueigen, der sich nach Jacques Lacan in einer ewig gleitenden Signifikantenkette entäußert. Einerseits ist die Rede wie auch die Schrift unendlich kreativ, andererseits trägt sie, sobald sie einmal niedergelegt und fixiert ist, das Potential der Erstarrung in sich. Aus Lebendigem wird tote Materie, das heißt leere grammata, Buchstaben, die Stimme nur noch abstrakt repräsentieren. Jegliche Aufzeichnung einer Erzählung schwankt zwischen Leben (Live-Repräsentation) und Tod (Archiv).38 Die Erinnerung ist zudem die Basis und Mutter der Musen, also der Grund der improvisierten memoria der Ependichtung, die sich dann im vitalen Spiel der Metaphern und Metonymien nach den Gesetzen der Kombination und Selektion sowie der gleitenden mouvance und variance zu einem Großepos ausdehnt und schließlich erst in der endgültigen schriftlichen Fixierung zur festen Form gerinnt.39 Muse bedarf des Vergessens und der Erinnerung. Das für alle Bedeutsame, die gemeinsame panhellenische Ideologie, stellt einen bestimmten Kanon heraus, dessen Helden durch Dichtung unvergessen und unauslöschbar im Strom der Überlieferung werden. Lebendige mündliche Tradition bringt unvergänglichen Ruhm mittels Erinnerung – in der kristallisierten Schriftform droht das Kulturgut, nun Literatur geworden, zum Kulturballast einer sogenannten ›toten‹ Sprache Griechisch zu werden. Doch wenn man die Stoffe und das Wissen reaktiviert, ins Leben zurückruft, das heißt in produktiver Rezeption neu anwendet, werden wir schnell gewahr, welches ungeheure Potential an Aktualität und Lebendigkeit für den Diskurs der Intellektuellen im 21. Jahrhundert, gerade auch im Bereich der Medienwissenschaft, darin steckt.
38 Zum Archiv vgl. Jacques Derrida: Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression. Aus dem Franz. von Hans-Dieter Gondek/Hans Naumann, Berlin: Brinkmann & Bose 1997. 39 Vgl. Gregory Nagy: Poetry as Performance. Homer and Beyond, Cambridge: Cambridge University Press 1996. 64
SCHREIBSTUNDE AN DER TELEGRAFENLINIE. ZUR GRENZE VON SCHRIFTLICHKEIT UND M Ü N D L I C H K E I T B E I C L A U D E L É V I -S T R A U S S U N D JACQUES DERRIDA ALEXANDER HONOLD
In den Kultur- und Medienwissenschaften hat sich die Frage nach dem Verhältnis von Oralität und Schriftkultur als ein prosperierendes und kontrovers behandeltes Forschungsfeld erwiesen. Methodisch umstritten war und ist, ob hierbei die These einer genealogischen Vorrangstellung des mündlichen Kommunizierens den Ansatzpunkt bilden soll (so etwa die kulturanthropologische Position von Jack Goody und Walter Ong), oder ob Mündlichkeit als ein selbst schon mediengenerierter Effekt der Schriftkultur respektive ihrer Episteme – der »Grammatologie« – zu denken ist (so neben den einschlägigen Arbeiten Derridas auch Marshall McLuhan, Friedrich Kittler und Walter Mignolo). Derridas Theorie der Schrift, die er in der Grammatologie1 entwirft, richtet sich gegen die These von der Dominanz und Vorgängigkeit des Mündlichen; sie ist insofern auch eine Theorie der Grenze zwischen Schrift und Mündlichkeit, die ihre Einsichten zu einem bemerkenswerten Teil auf das Material ethnographischer Autoren und seine kritische Lektüre gründet. Ich möchte deshalb zunächst die Einführung des Gegensatzes von Schriftlichkeit und Mündlichkeit im retrospektiven Reisebericht des französischen Ethnologen Claude Lévi-Strauss beleuchten, weil Derrida in seiner Lektüre der Traurigen Tropen2 diese doppelte Annäherung an die kommunikative und mediale Determiniertheit der ethnographischen Situation prägnant herausgestellt und zum Ausgangspunkt einer ideologiekritischen Analyse gemacht hat. Obwohl Derridas Hauptaugenmerk dabei dem Kapitel gilt, das mit »Leçon d’écriture« (also nicht 1
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Jacques Derrida: De la grammatologie. Paris: Ed. de minuit 1967. Dt.: Grammatologie. Übersetzt von Hans-Jörg Rheinberger und Hanns Zischler. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974. Claude Lévi-Strauss: Tristes Tropiques. Paris: Plon 1955. Dt.: Traurige Tropen. Übersetzt von Eva Moldenhauer. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1978. 65
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»Schreibstunden«, wie in der deutschen Übersetzung) einschlägig betitelt ist,3 greift er in seiner Argumentation dezidiert auf die jener Schreibstunde korrespondierende Szene eines früheren Kapitels zurück, in der es um die Eigennamen der Nambikwara geht; die meisten Kritiker, die sich ausgehend von Derridas Lektüre mit Lévi-Strauss beschäftigt haben, sind ihm indes hierin gerade nicht gefolgt, somit auch nicht der plakativen Entgegensetzung und Symmetrie beider Szenen. Bevor auf das Argument Derridas näher einzugehen ist, soll deshalb zunächst die kompositorische und sachliche Korrespondenz der beiden anekdotischen Feld-Szenen selbst betrachtet werden. Was Lévi-Strauss in seinem mehrmonatigen Forschungsaufenthalt bei den Nambikwara herausfindet, dieses ethnographische Wissen verdankt sich situativen Experimenten, über die in Form von dramaturgisch ausgestalteten Episoden berichtet, recht eigentlich also erzählt wird. Die Anekdote verbindet als pointierte erzählende Kurzform den subjektiven Arbeitsbericht über die Vorgehensweise des Feldforschers mit der motivischen Ausarbeitung eines bestimmten Themas bzw. ethnographischen Sachgehalts. Es geht in den beiden zentralen Anekdoten über den Aufenthalt bei den Nambikwara um die Auftrittsbedingungen von Medialität an der Nahtstelle zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Die erste Episode thematisiert den Zugang zu den Eigennamen, die zweite den Zugang zur Schrift; die beiden Handlungssequenzen sind als pointierte, d.h. auf überraschende Effekte hin ausgerichtete Erzählungen dargeboten und verhalten sich in ihrem Aufbau wie spiegelsymmetrisch aufeinander bezogene Durchführungen eines medialen Leistungsvergleichs von Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Das Problem des Ethnographen ist, wie erwähnt, die besondere Schutzfunktion, die bei den Nambikwara auf dem Gebrauch der Eigennamen liegt. Im Namen akkumuliert sich ein arkanes Wissen über die mit ihm bezeichnete Person, das demjenigen, der über den Namen verfügt, eine hohe soziale Macht verleiht; deshalb fungiert der Eigenname als ein schützenswertes Gut, das nach außen hin, d.h. hier vor allem gegenüber dem ethnographischen Forscher, der strengen Geheimhaltung unterliegt. 3
Zur »Schreibstunde« selbst und dem medialen Aufeinandertreffen von Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der kolonialen und ethnographischen Situation vgl. Michael Harbsmeier: Writing and the Other: Travellers’ Literacy, or Towards an Archaeology of Orality. In: Karen Schousboe, Mogens Trolle Larsen (Hg.), Literacy and Society. Kopenhagen: Akademisk Forlag 1989, S. 197-228; Erhard Schüttpelz: Heischebräuche. Der ›supplementäre symbolische Inhalt‹ der Schreibstunde von Claude Lévi-Strauss. In: Jürgen Fohrmann (Hg.), Rhetorik. Figuration und Performanz. Stuttgart, Weimar: Metzler 2004, S. 361-396. 66
SCHREIBSTUNDE AN DER TELEGRAFENLINIE
Was der Forscher statt dessen verwenden kann, sind die Aliasnamen, auf die sich die Indianer mit den Angestellten der Telegrafenlinie geeinigt hatten, stellvertretende Namen also, die ihrerseits aus einer Übergangszone hervorgehen und übersetzende Funktion haben. Aus dieser Behelfsmaßnahme geht deutlich hervor, daß der Name für beide Seiten eine strategische Bedeutung hat; dem arkanen Besitz des Namens steht der Ausschluß von diesem Arkanwissen gegenüber. Es gibt in dieser Begegnung keinen unvorbelasteten, keinen unpolitischen Namen, sondern stets schon den ›nom de guerre‹. Der Name reguliert somit die Distanz zum außenstehenden Beobachter, zugleich aber auch die Zuordnung der Personen und ihrer Körper zur Ordnung der Zeichen. Als genuine Form der Stellvertreterschaft (die dann im Aliasnamen nochmals potenziert wird) hat der Eigenname Schrift-Funktion, obwohl er nur in mündlicher Präsenz vorhanden ist. Der Ethnograph erzählt nun, wie es ihm mit Hilfe einer List gelang, sich in den geheimen Namenscode der Nambikwara systematisch ›einzuloggen‹. Als ich eines Tages mit einer Gruppe von Kindern spielte, wurde eines der kleinen Mädchen von einer Gefährtin geschlagen; es flüchtete sich zu mir und flüsterte mir geheimnisvoll etwas ins Ohr, das ich nicht verstand und mir mehrmals wiederholen ließ, so daß die Gegnerin das Treiben entdeckte und, offensichtlich wütend, herbeilief, um mir ihrerseits etwas zu verraten, das allem Anschein nach ein feierliches Geheimnis war. Nach einigen Bedenken und Fragen konnte es an der Bedeutung des Zwischenfalls keinen Zweifel mehr geben: das erste Mädchen hatte mir, um sich zu rächen, den Namen seiner Feindin verraten, und als diese es bemerkte, verriet sie mir nun ihrerseits den Namen des anderen Mädchens. Von nun an war es mir ein leichtes, die Kinder gegeneinander aufzubringen – ich gebe zu, auf etwas skrupellose Weise – und alle ihre Namen zu erfahren. Und nachdem zwischen uns einen Art Komplizenschaft entstanden war, erfuhr ich ohne große Mühe auch die Namen der Erwachsenen.4
Die Anekdote demonstriert, wie beschämend leicht die im Eigennamen akkumulierte Macht von seiten der Nambikwara auf den Ethnographen übergeht; sein Gegenüber sind hier kleine Mädchen: diejenigen Mitglieder der Gemeinschaft, die ohnehin auf der sozialen Skala ganz unten stehen. Sie befinden sich zudem durch interne Streitigkeiten in einer akuten Situation der Hilflosigkeit, die so dramatisch ist, daß sie es sogar auf sich nehmen, den Fremden als Schutzmacht anzurufen und auf ihre Seite zu ziehen. Das gewährte Vertrauen wird vom teilnehmenden Beobachter indes grob mißbraucht. Am schwächsten Glied ansetzend, gelingt es ihm,
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C. Lévi-Strauss: Tristes Tropiques, S. 271f. 67
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nach und nach den Geheimcode der Eigennamen zu entschlüsseln. Die Vertraulichkeit wurde in dezidiert mündlicher Weise übermittelt, flüsternd sogar, am Ende aber stehen verwertbare Informationen, die der Forscher in sein Notizbuch eintragen kann. Erfolgreich hat er sich in ein internes Machtspiel der Indianer eingeschaltet; dies belegt, daß ihr System, das aus mündlicher Kommunikation bei gleichzeitiger mündlicher Geheimhaltung basiert, von der persönlichen Anfälligkeit bzw. Widerstandskraft jedes seiner Träger abhängig ist. Ganz anders nun das Medium Schrift, das in der zweiten, gegenläufig komponierten Anekdote seinen Auftritt hat. Die »Schreibstunde« eröffnet mit dem heiklen Projekt einer Volkszählung. »Ich wollte nun«, schreibt Lévi-Strauss, »zumindest indirekt in Erfahrung bringen, wie groß die Nambikwara-Bevölkerung ungefähr war.«5 Hier wiederholt sich der Ehrgeiz einer Bestandsaufnahme, den der Ethnograph schon in bezug auf die Eigennamen an den Tag gelegt hatte, auf der Ebene einer statistisch-demographischen Erfassung der Gesamtpopulation. Zu dokumentieren ist auf diese Weise, so die Arbeitshypothese, ein vermutlich dramatischer Rückgang der Bevölkerung. Für die melancholische Rahmenerzählung vom Ende der Feldforschung, das zusammenfällt mit dem Ende der Beforschten, wäre das vermutete Resultat der Volkszählung eine wichtige positivistische Stützung. Andererseits setzt der inventarisierende Zugriff selbst eine nicht unproblematische Sozialtechnologie ein und trägt damit womöglich zusätzlich noch zur Schwächung der indianischen Lebenswelt bei; somit wäre die Frage nach der Zahl gleich ein doppelter Anlaß zur Melancholie. Der Ethnograph wendet sich an den »Häuptling« und schlägt diesem vor, zur Durchführung einer solchen Bestandsaufnahme ein größeres Treffen »mit anderen, verwandten oder verbündeten Gruppen zu organisieren«6, um auf diese Weise einen gewissen Überblick gewinnen zu können. Sein Verhandlungspartner ist skeptisch, weil er gewaltsame Übergriffe befürchtet, die den Ruf der Nambikwara weiter in Mißkredit brächten, stimmt aber, von den in Aussicht gestellten Geschenken beeindruckt, letztlich zu und wird auf diese Weise zum Partner oder Komplizen einer hochgradig experimentellen Veranstaltung. Am Zielort angekommen, trifft die Exkursion auf ungefähr 75 dort versammelte Nambikwara, die Lage ist angespannt, die Stimmung gereizt. »Mehrere Eingeborene schienen noch nie einen Weißen gesehen zu haben, und ihr frostiger Empfang sowie die offenkundige Nervosität des Häuptlings ließen darauf schließen, daß er ihre Einwilligung wohl erzwungen hatte.«7 5 6 7
Ebd., S. 288. Ebd., S. 289. Ebd., S. 290. 68
SCHREIBSTUNDE AN DER TELEGRAFENLINIE
Um die aufgeladene Begegnung zu deeskalieren, »drängt« LéviStrauss den Häuptling, mit der Verteilung bzw. dem wechselseitigen Austausch der mitgebrachten Geschenke zu beginnen. An dieser Stelle der Dramaturgie geht es nun offenkundig darum, wer Regie führt, wer die Definitionshoheit über das weitere Vorgehen innehat. Der Häuptling muß gleich an zwei Fronten dem drohenden Autoritätsverlust entgegenwirken, er muß die assoziierten Gruppen hinter sich scharen und gegenüber dem Ethnographen die eigene Souveränität hervorkehren. Beides zugleich betreibt er, indem er »ein Papier mit verschnörkelten Linien« hervorholt und nun fingiert, von diesem Dokument Anordnungen über die ›korrekte‹, das heißt dem allgemeinen Konsens entsprechende, mit den Stammesangehörigen vereinbarte und schriftlich niedergelegte Verteilung der Geschenke abzulesen: »dem einen, gegen Pfeil und Bogen, ein Buschmesser! dem anderen Perlen für seine Halsketten! … Diese Komödie zog sich zwei Stunden hin.«8 Zur Komödie wird das vom Häuptling ja nur kommissarisch inszenierte Spektakel des Gabentausches, weil er dabei nach einem Drehbuch vorzugehen behauptet, das gar nicht existiert. Weder sind die Modalitäten des Austauschs der Geschenke tatsächlich so verabredet worden, noch gibt es eine schriftliche Liste, nach deren Verfügungen vorgegangen werden könnte. Die dreiste und freche Anmaßung des Häuptlings, aus der Bedrängnis entstanden, in die ihn die Initiative des Ethnographen gebracht hatte, gipfelt nun allerdings in der vorgetäuschten Fähigkeit des Verfügens über die Schrift. Um die ganze Lächerlichkeit seiner Darbietung von vorneherein zu entblößen, hatte sich Lévi-Strauss bei der Einleitung dieser Anekdote beeilt vorauszuschicken, daß die Nambikwara und auch ihr Häuptling vollständig illiterat und sogar ›agraph‹ sind. »Es läßt sich denken, daß die Nambikwara nicht schreiben können; aber sie zeichnen auch nicht, mit Ausnahme einiger punktierter oder Zickzacklinien auf ihren Kürbisbehältern.«9 Zum Ausschluß des Ethnographen durch die geheim und mündlich zirkulierenden Eigennamen erzählt dieser vergebliche Angriff des Indianerhäuptlings auf das weiße Schriftmonopol die Gegengeschichte. Schon vor dem öffentlichen Tauschritual hatte der Häuptling aus der Beobachtung des Beobachters den Schluß gezogen, die Überlegenheit des Forschers müsse unmittelbar mit seiner Schreibpraxis, mit dem Zusammenspiel von Notizbuch und Bleistift, zusammenhängen. Allerdings hatte der Ethnograph zuvor selbst die Indianer zur Nachahmung seines Schriftgebarens aufgefordert und, wenn das Wortspiel erlaubt ist, »angestiftet«. Wie bei anderen Stämmen verteilt er »Papier und Bleistifte, mit denen 8 9
Ebd., S. 291. Ebd., S. 290. 69
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zuerst niemand etwas anzufangen wußte; doch eines Tages sah ich sie alle damit beschäftigt, horizontale Wellenlinien auf das Papier zu zeichnen«.10 Die graphische Technik, die den Ethnographen ausmacht, wird zum Gegenstand einer mimetischen Übernahme; der skurrile Effekt ist nichts anderes als das provozierte, daher auch prognostizierbare Echo einer entsprechenden Konditionierung: »sie schrieben, oder genauer: sie versuchten, ihren Bleistift in derselben Weise zu benutzen wie ich«.11 Anders als die listige Enteignung der Eigennamen ist die umgekehrte mimetische Annäherung nicht von Erfolg gekrönt; die schreibende Tätigkeit äußerlich nachzuahmen, bedeutet, von dem Geheimnis der Schrift desto nachdrücklicher ausgeschlossen zu sein. Mit der Korrektur bekräftigt Lévi-Strauss die Inkompetenz der Nambikwara und betont ihren nicht graduellen, sondern prinzipiellen Abstand zur Schrift. Die Schriftbenutzung selbst ist eine habitualisierte Grenzziehung; ganz egal, was der Ethnograph bei der Arbeit niederschreibt: allein daß er überhaupt schreibt, trennt ihn von den Beschriebenen. Die meisten der Indianer scheinen sich mit dem uninspirierten Nachahmen der schreibenden Hand zu begnügen; einzig dem Häuptling unterstellt der Ethnograph eine tiefergehende Einsicht in das mit der Schrift verbundene Geheimnis; die Schrift zu beherrschen, ist ein Herrschaftsattribut überhaupt und als solches gerade dem lokalen Machthaber verständlich. »Wahrscheinlich hatte er als einziger die Funktion der Schrift begriffen. So hat er mich um einen Notizblock gebeten, und wenn wir nun zusammen arbeiten, sind wir gleichartig ausgerüstet.«12 Der Unterricht in der Schreibstunde ist, darüber muß sich auch der Kulturbringer selbst klar sein, von vornherein nur ein schlechter (weil despektierlicher) Witz; und der Häuptling beantwortet ihn als einziger auf die adäquate Weise, indem er den Witz zurückgibt und sich als erfolgreichen Schüler präsentiert. Dann aber muß der Lehrer die Fiktion des gemeinsamen Schriftverkehrs ebenfalls anerkennen und bekräftigt somit wider besseres Wissen ausdrücklich den eigenen Lehrerfolg, den ihm der Häuptling immer nur halbherzig vorzuspielen vermochte. Halb fällt er selbst auf seine Komödie herein; jedesmal, wenn seine Hand eine Linie zu Ende zieht, prüft er sie ängstlich, als müsse ihre Bedeutung sofort daraus hervorspringen, und auf seinem Gesicht malt sich immer wieder die gleiche Enttäuschung. Aber das will er nicht wahrhaben, und zwischen uns besteht eine stille Übereinkunft, daß seine Kritzeleien einen Sinn haben, den zu entziffern
10 Ebd., S. 290. 11 Ebd., S. 290. 12 Ebd., S. 290f. 70
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ich vortäusche; der mündliche Kommentar folgt immer so prompt, daß ich nicht um nähere Erläuterungen zu bitten brauche.13
Dieser ironischen Szene läßt Lévi-Strauss dann jene folgen, in welcher der Häuptling seinen ›Schrifterwerb‹ öffentlich demonstriert, nun sein neues Komödiantentum zum ersten Mal auch gegenüber den Mitgliedern des eigenen Stammes erprobend. Doch auf die »Mystifizierung« reagieren die Zuschauer ziemlich ungehalten, und fast wäre die ganze Situation vollständig entgleist. Dem Abenteuer läßt Lévi-Strauss nun eine Interpretation folgen, die der halb tragischen, halb lächerlichen Figur des von beiden Seiten desavouierten Häuptlings im nachhinein recht gibt. Denn hatte der gelehrige Schüler nicht sogar besonders gut verstanden, welche symbolische Aufladung dem Schriftgebrauch zukommt? Unabgelenkt von primärem Sinnverstehen hatte der Häuptling nicht die Kommunikationsform affirmiert, sondern nur die gestische Anmutung und soziale Wirkung des Mediums beobachtet – er hatte sich also im methodischen Sinne ethnographisch (und obendrein im Sinne des strukturalistischen Paradigmas)14 verhalten. »Ein Eingeborener, der noch dem Steinzeitalter anzugehören schien, hatte erraten, daß das große Verständigungsmittel, auch wenn er es nicht verstand, anderen Zwecken dienen konnte.«15 Der Außenstehende wird zum Kronzeugen eines von Lévi-Strauss geführten Argumentes der Schriftkritik. Ziel dieser Kritik ist die ethnologische Gepflogenheit, eine scharfe Differenz zwischen Kultur und Barbarei mit Hilfe des Kriteriums der Schriftkenntnis zu ziehen. Nur schreibende Völker, so die auf dieser Unterscheidung fußende Hierarchisierung, seien in der Lage, »alte Erwerbungen zu kumulieren«, während »die schriftlosen Völker Gefangene einer schwankenden Geschichte bleiben«.16 Dieser Aufteilung widerspricht Lévi-Strauss vehement; im Hintergrund steht unverkennbar die geschichtsphilosophische Position Jean-Jacques Rousseaus. Setzt man als historische Basis aller Entwicklung die neolithische Revolution und ihre Errungenschaft der Agrikultur an, so lautet das Gegenargument,
13 Ebd., S. 291. 14 Erhard Schüttpelz liest die Reaktion des Häuptlings in dieser Szene als eine »Erkenntnis, die das strukturalistische Credo praktiziert«, indem sie die symbolische Funktion des Mediums ›kongenial‹, nämlich wiederum symbolisch, durchschaut. »Es ist daher nur konsequent, daß ein Kommunikationsmittel, dessen erste Funktion nicht das Verstehen, sondern die Vermehrung von Prestige ist, vom Häuptling eben nicht verstanden, sondern ›erraten‹ oder ›diviniert‹ wird« (Schüttpelz: Heischebräuche, S. 368). 15 C. Lévi-Strauss: Tristes Tropiques, S. 293. 16 Ebd., S. 293. 71
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dann ist damit die Schrift als kultureller Gründungsfaktor außer Kurs gesetzt, da sie erst nach dieser Entwicklungsstufe auftritt. Der zivilisatorische Fortschritt ist keineswegs kongruent mit dem Schriftgebrauch, wohl aber letzterer mit der Installierung von Klassengesellschaften und Ausbeutung. Wenn man das Auftauchen der Schrift mit gewissen Merkmalen der Kultur in Beziehung bringen will, muß man in einer anderen Richtung suchen. Das einzige Phänomen, das sie immer begleitet hat, ist die Gründung von Städten und Reichen, das heißt die Integration einer großen Zahl von Individuen in ein politisches System sowie ihre Hierarchisierung in Kasten und Klassen. […] Wenn meine Hypothese stimmt, müssen wir annehmen, daß die primäre Funktion der schriftlichen Kommunikation darin besteht, die Versklavung zu erleichtern.17
Die weitreichenden Spekulationen über den Zusammenhang von Schriftund Machttechnik, Klassenspaltung und Unterwerfung sind in dieser historischen Allgemeinheit weder beweisbar noch widerlegbar. Sie sind, wie Derrida betont, Teil eines traditionsreichen philosophischen Projektes, das die Rehabilitierung einer als ursprüngliche und authentische Ausdrucksform postulierten Mündlichkeit betreibt; Oralität gilt in dieser Tradition als genealogisch vorgängiges Sprachsystem, das weder als schriftgeneriert noch als schriftanalog zu denken sei. Schrift, so jedenfalls gibt die Schreibstunde zu verstehen, ist die Signatur des Eindringlings und des Kolonisators in ein bereits existierendes, intaktes kommunikatives System. Die pauschale, wenngleich selbstkritisch intendierte Identifikation des Herrschaftsinstrumentes der Schrift mit dem kolonialen und wissenschaftlichen Zugriff der Europäer auf andere Kulturen (»the pen itself is a kind of sword«,18 faßt Michael Harbsmeier diese Lehre der »Leçon« zusammen) ist aus ethnographiegeschichtlicher Sicht nicht unwidersprochen geblieben. Der erste Einwand gegen Lévi-Strauss lautet, daß seine Analyse der medientechnischen Überlegenheit erst eine relativ späte Entwicklung im kolonialen Kulturkontakt beschreibt und kein Apriori des first contact darstellt, sondern auf eine veränderte Einstellung innerhalb des kolonialen Blicks zurückgeht. Wie Harbsmeier an ethnographischen Zeugnissen von Reisenden seit Beginn der amerikanischen Kolonialisierung ausführt, spielt in den frühen Dokumenten die mediale Seite der kommunikativen Praxis bei der Wahrnehmung der fremden Kultur keine manifeste Rolle. Der Unterschied zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit wird als ethnisches Differenzkriterium erst im 18. Jahr17 Ebd., S. 294. 18 Harbsmeier: Writing and the Other, S. 199. 72
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hundert im ethnographischen Diskurs etabliert (parallel zur terminologischen Umstellung von ›wild‹ auf ›primitiv‹), ein Reflex auch der zunehmend schriftfixierten Arbeitsweise und Dokumentationspraxis auf seiten der (ihre medientechnische Überlegenheit somit ausstellenden) Reisenden.19 Der zweite, hierauf fußende Einwand ist literarisch-topologischer Art. Er erkennt in Lévi-Strauss’ Schriftkritik die »Travestie und Demontage« einer in vielen Reiseberichten kolportierten Wanderanekdote, die in wechselnder Einkleidung jeweils die Überlegenheit des Schriftgebrauchs vorführt, indem sie kleine Unterschlagungen eines für Transportdienste eingesetzten ›Indianers‹ durch das ihn begleitende Schreiben am Ziel der Reise auffliegen läßt. Obwohl niemand unterwegs den begangenen Mundraub sehen konnte, weiß der weiße Mann am Ende des Transportweges aufgrund des ›Lieferscheins‹ genau, ob etwas fehlt, und wie viel. Das Wunder des Regiments über Abwesenheit und Distanz hinweg20 hat für Schriftkundige nichts Mysteriöses, für die hiervon Ausgeschlossenen ist es ein Zeichen der unerklärlichen fremden Machtfülle. Der eingeführten Anekdote nun habe Lévi-Strauss zwar mit dem demonstrativen Schrifteinsatz des Ethnologen eine weitere Evidenz hinzugefügt; mit der mißlingenden und von der eigenen Gruppe mißbilligten Imitation des Schreibakts durch den Häuptling aber habe Lévi-Strauss die Machtbalance der Szene gleichsam umgedreht und den Geltungsbereich der Schriftkompetenz in einer tropischen Karnevalisierung untergraben bzw. an seine Grenzen geführt.21 Die Kritik der Schriftkritik wendet sich an diesem Punkt von der praxeologischen Seite des ethnographischen Kontakts zur performativen Qualität des Medieneinsatzes und der Frage, inwieweit darin aus systematischer Sicht eine aporetische Dimension des Gegensatzes von Oralität und Literalität zum Ausdruck kommt.
19 Harbsmeier: Writing and the Other, S. 219. 20 Das Problem der über globale Distanzen sich erstreckenden Kontrolle durch Schrift und Information als einer Rahmenbedingung des entwickelten Kolonialismus diskutiert Thomas Richards: The Imperial Archive. Knowledge and the Fantasy of Empire. London, New York: Verso 1993. Zur Bedeutung der Schrift im kulturellen Prozeß der Kolonisierung Lateinamerikas vgl. Roberto Gonzáles Echevarria: Myth and Archive. A Theory of Latin American Narrative. Cambridge: Cambridge University Press 1990, S. 43-92. 21 »Offensichtlich ist die von Lévi-Strauss erzählte Schreibstunde […] eine Kontrafaktur der Wanderanekdote von der schriftlichen Überlegenheit europäischer Reisender und Kolonisten«, inszeniert und erzählt mit dem Ziel, »den ungleichen Tausch der Schrift auszugleichen« (Schüttpelz: Heischebräuche, S. 373). 73
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Damit zurück zur szenischen Dramaturgie des Schreibunterrichts bei den Nambikwara. Die fragile und peinliche Komödie des Häuptlings demaskierte ein dem Schriftgebrauch inhärentes Unterwerfungspotential. Deshalb mußte die zweite, vom Häuptling betriebene Leçon d’écriture, die ›Lektüre der Schrift‹ also, schiefgehen, indem sie das in der ersten, durch den Ethnographen erteilten Schreiblektion nur implizit mitschwingende Gewaltverhältnis dann offen und öffentlich ausagierte. Im mehrdeutigen Titel der »Leçon d’écriture« bilden Unterweisung und Lektüre die beiden Extrem-Amplituden; dazwischen findet sich Platz für allerlei Lesarten, Lesungen, Vorlesungen, Warnungen und didaktische Erkenntniseffekte.22 Am Ende hat jeder jedem eine Lektion erteilt. Der Ethnologe dem Häuptling über die Macht der Schrift, aber auch über die Ohnmacht des Schreibenden jenseits der Schrift; der Häuptling den Nambikwara über die Grenzen der Mimesis und die Unverfügbarkeit des Sinns; die Indianer dem Häuptling und dem Ethnographen über die Unverfügbarkeit ihres Willens zu Tauschgeschäften; die Schrift dem Häuptling über die Möglichkeiten des Fehllesens, des fehlenden Lesens und der verpaßten Lektionen; und schließlich Häuptling, Indianer und Schriftmedium zusammen dem Ethno-Graphen über sein eigenes Tun und die darin zum Ausdruck kommende, problematische Privilegierung einer die Oralität bekämpfenden (und zugleich bewundernden) Schriftkultur. Für die melancholische Bilanz der Traurigen Tropen nimmt die in dieser Episode am prägnantesten ausgeführte Entzauberung ethnographischer Souveränität eine Schlüsselstellung ein, denn hier richtet sich die Kritik auf beide tragenden Elemente zugleich, auf den Ethnozentrismus und auf die graphische Kompetenz. Mithilfe des unbestechlichen fremden Probanden negiert die Versuchsanordnung ein zentrales Ideologem der Schrift, nämlich die Suggestion der spontanen Sinnemergenz. Des Häuptlings Enttäuschung, als aus den Wellenlinien eben keine Bedeutung sofort hervorspringt, drückt nicht (nur) den lächerlichen Irrtum eines hilflosen Autodidakten aus, sondern eine semiotisch berechtigte Skepsis. Denn würde die Schrift, wie sie sich anheischig macht, über Oralität als ein Sekundärphänomen souverän verfügen können, dann bliebe sie bei der Lektüre ja wohl nicht stumm, wie es zum Verdruß des Häuptlings der Fall ist. Das Erbe des Phonozentrismus im hermeneutischen Selbstverständnis der Geisteswissenschaften ist hartnäckig: Wenn wir Texte verstehen wollen, dann müssen wir sie ›zum Sprechen bringen‹; was wir über sie sagen, bemißt sich in seinem Wahrheitsgehalt an einer ausschließlich
22 Zu den changierenden Bedeutungen der Leçon d’écriture vgl. auch Schüttpelz: Heischebräuche, S. 362f. 74
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akustischen Performanz, es muß »stimmen«.23 In der »Leçon d’écriture« hat dem Schreiben sein letztes Stündchen geschlagen, sie hat, wie die Traurigen Tropen im ganzen, Endspiel-Charakter. Das schriftliche Dokument kann die direkte und unmittelbare Redeform nicht ersetzen, es muß, um Sinn generieren zu können, immer durch mündliche Aktivitäten supplementiert werden. In die enge Kopplung von Stimme und Sinn, so lernt und beweist der Häuptling, kann die Schrift als Medium gar nicht dazwischentreten. Insofern handelt die Schreibstunde mit dem Mißerfolg des Häuptlings und dem anschließenden Verlorengehen des Ethnographen von nichts als Umwegen und Abwegen. Die Schrift ist überflüssig und kraftlos, zugleich aber wird sie als gewaltsam und kolonial inkriminiert. Die beiden Negativaspekte der Schrift – hohler Bluff und Gewaltverhältnis – scheinen sich zu widersprechen. Beides geht nur dann zusammen, wenn die Schrift auf ein bestimmtes medientechnisches Paradigma reduziert wird, und an diesem Punkt kommt nun Derridas dekonstruktive Lektüre der Traurigen Tropen zum Zuge. Die Ernte der Dekonstruktion beginnt damit, im untersuchten Text Zweifel zu sähen. Sind die Nambikwara wirklich eine schriftlose Kultur? Und: Gelingt es dem Ethnographen tatsächlich, sich vom gewaltsamen Moment des Schriftgebrauchs zu distanzieren? Derrida wirft die Frage auf, »inwieweit es legitim ist, jene ›Stricheleien‹ und ›Zickzacklinien‹ auf den Kürbissen, die mit so wenigen Worten in den Traurigen Tropen in Erinnerung gerufen werden, nicht Schrift zu nennen.«24 Als graphematische Strukturen haben sie wohl doch einen vergleichbaren Status wie andere voralphabetische Zeichenformen und sprächen im Gegenteil für eine Erweiterung des Schriftverständnisses, das dann auch dingsymbolische Codes einbezieht und sowohl die »Artikulation graphischer Formen« zu seinen Gegenständen zählt wie auch die Untersuchung »graphischer Substanzen (Holz, Wachs, Leder, Stein, Tinte, Metall, Pflanzenstoffe) oder Instrumente (Stift, Pinsel usw.)«.25 An solchen Stellen ist spürbar, daß Derridas Konzept der Grammatologie selbst einem genuin ethnologischen Kontext entnommen ist, der 23 Existentielle Gewißheiten liegen auch heute noch nur in seltsamer Oralitätsfixierung vor, so etwa das televisionäre Ritual der allwöchentlichen Ziehung der Lottozahlen, bei denen Sein und Sinn erst im Akt der performativen Verkündung zusammenfallen; denn bei ihrer öffentlichen Kundgabe ist es, der Bildlastigkeit des Mediums zum Trotze, offenbar rhetorisch unabdingbar, daß die Lottozahlen in der dann bekanntgegebenen Weise, so wörtlich, »lauten«. 24 J. Derrida: De la grammatologie, S. 193. 25 Ebd., S. 157. 75
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durch die Schnittstelle von Oralität und Literalität markiert ist.26 Dieser alle graphischen Kulturtechniken umfassende Schriftbegriff hat bei Derrida selbst einen utopischen Index. Es geht darum, »endlich das zu lesen, was in den vorhandenen Bänden schon immer zwischen den Zeilen geschrieben stand«.27 (155) Es geht um die Befreiung der graphischen Bildlichkeit in ihrer sinnlichen Evidenz von der abstrakten Herrschaft der Linie. Das Programm der Grammatologie ist an diesem Punkt eminent politisch und progressistisch. Es verbündet sich mit dem Ende eines bestimmten, restriktiven Schriftkonzepts; es setzt seine Hoffnung auf revolutionäre »Erschütterungen«, die »das lineare Modell – unter dem wir das epische Modell verstehen – nach und nach zerstören«.28 Dreißig Jahre vor dem Zeitalter der Hypertexte formuliert Derrida: »Was es heute zu denken gilt, kann in Form der Zeile oder des Buches nicht niedergeschrieben werden.«29 Im hier diskutierten Zusammenhang ist allerdings nicht die Zukunftsvision der Grammatologie von primärem Interesse, sondern die historische Rekonstruktion dessen, was Derrida als Dominanz des linearen oder epischen Modells attackiert. Und abermals ist diese Rekonstruktion nicht ohne jenen Bezug zur Ethnologie und Anthropologie herstellbar, auf dem auch Derridas Einsichten fußen. Mit Verweis auf die Forschungen des Anthropologen Leroi-Gourhan bewegt sich Derrida in eine geschichtliche Zone zurück, in der Ideographie und Piktographie noch nicht voneinander geschiedene graphische Praxisformen darstellten; in ihrem komplexen Zeichenverbund sieht Derrida eine »Einheit« verwirklicht, »welche durch die lineare Schrift aufgebrochen wurde. Um aber den Zugang zu dieser Einheit, zu dieser ganz andersartigen Einheitsstruktur wiederaufzufinden, müssen [wie er mit Leroi-Gourhan fordert] ›viertausend Jahre linearer Schrift‹ Schicht für Schicht abgetragen werden.« Wie Lévi-Strauss eine Geschichte vom Verschwinden der Indianervölker Brasiliens und vom Ende der Feldforschung erzählt, so skizziert Derrida in solchen Bemerkungen eine Entstellungsgeschichte der Schrift. Die »Vergangenheit einer nicht-linearen Schrift«30 muß als Kontrastfolie erst wieder präsent gemacht werden, will man verstehen, wie die abendländische Reduktion auf Linie, Buch und Zeile das graphische Paradigma transformiert, eingeengt und dynamisiert hat. In der Technik des Schreibens 26 Derrida verweist auf I.J. Gelb: A Study of Writing. The foundation of Grammatology, London: Routledge and Kegan Paul 1952, der den Begriff im anthrolologischen Kontext einführt (ebd., S. 13). 27 J. Derrida: De la grammatologie, S. 155. 28 Ebd. 29 Ebd. 30 J. Derrida: De la grammatologie, S. 151. 76
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hielt ein lineares Ablaufschema Einzug, das sowohl konkrete Phänomene betrifft, etwa in der Motorik der Hand, aber auch abstrakte Vorstellungen des menschlichen Seins und der Geschichte. Aus Heideggers Metaphysik-Kritik bringt Derrida hierfür den Aspekt der linearen, geradlinigen Zeitlichkeit in Anschlag, der »die ganze Ontologie von Aristoteles bis Hegel im Innersten«31 determiniere. »Linearisierung«32 der Schrift, das bedeutet die Temporalisierung, Vektorisierung und Teleologisierung dieses Mediums; sie ›verkürzt‹ gleichsam die Partitur eines komplexen graphischen Ganzen auf die strikte, von links nach rechts führende Zeilenanweisung des einen zurückzulegenden Weges. Die Zeile als Zurichtungsform der Schrift ist ein zwiefach codierter Zeitpfeil; sie ist einerseits Spur im Hinblick auf den vorausgegangenen Schreibakt, andererseits Bahnung für den einsinnigen Lektüreweg, der dieser Spur zu folgen hat. Eine beziehungsreiche Isomorphie zwischen linearer Schrift und temporalisiertem Weg: das ist es, was Derrida im Begriff des »epischen« Modells anklingen läßt. Die Narration als elementare literarische Technik ist eine auf Basis geometrischer Linearität ausfabulierte Zeitlichkeit, eine graphische Version der bzw. von Geschichte, die im Zurücklegen einer Wegstrecke greifbar und faßlich wird. Der Protagonist eines Erzählwerkes, wie es auch die Traurigen Tropen darstellen, bewegt sich durch die Zeilen des geschriebenen Textes und des gedruckten Buches auf sein Ziel und sein Ende hin, und er tut dies, wenn wir das große Exkursionsprojekt des Forschungsreisenden beim Wort nehmen, genau auf der Spur einer kolonialen Erschließungstrasse, nämlich der Telegrafenlinie. »Eindringen«33 ist, neben dem Schreiben, die wichtigste Beschäftigung des Ethnographen, so hebt Derrida hervor; eindringen in ein Gebiet, das ohnehin schon von einer Trasse durchzogen ist, deren Spur es also zu verfolgen, mit anderen Worten: zu lesen und nachzuschreiben gilt. »[…] die Möglichkeit des Weges und der Differenz als Schrift müßten einmal aufeinander reflektiert werden«34, denkt Derridas Text so vor sich hin. An diesem Punkt schießen die intrinsische Leitästhetik der brasilianischen Telegrafenlinie und Derridas Linearitätskonzept zum Entwurf einer neuen Lektüre der Traurigen Tropen zusammen. Dabei würden aufeinandertreffen: »Die Geschichte der Schrift und die Geschichte des Weges, des Durchbruchs, der via rupta, des durchbrochenen, gebahnten Weges, […] des von der Öffnung gezeichneten Raums 31 Ebd., S. 153. 32 »Der Begriff der Linearisierung ist weitaus wirksamer, genauer und inhärenter als alle anderen, welche man gewöhnlich für die Klassifikation der Schriften und zur Beschreibung ihrer Strukturen heranzieht« (ebd., S. 152). 33 Ebd., S. 188. 34 Ebd., S. 188. 77
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[…], des Abweichens von der Natur und der raumgreifenden Gewalt […] im natürlichen wilden Wald.«35 Der überbordende Wildwuchs des eigenen Metapherndickichts hat Derridas flüchtigen, faszinierenden Gedanken fast schon wieder verschlungen, ehe ihm der Satz einen Weg bahnen konnte. Für ausgemacht aber hält Derrida, es lasse sich kaum vorstellen, »daß der mögliche Zugang zur straßenartigen Trasse nicht gleichzeitig auch ein Zugang zur Schrift ist«36. Die Pfade, die im wilden Urwald fehlgehen, führen unweigerlich auf die Spur eines epischen Trajektes, das Feldforschung in Erzähltext verwandelt. Was die Traurigen Tropen als Textphänomen evozieren, ist die erneute und mit jeder Lektüre wiederholte Durcharbeitung jener Urszene des Ethnographen, die in der Lektion über die Fremdheit der Schrift besteht. Mit nochmals anderen Worten: Wie man in den Wald hineinrief, so schreibt er zurück.
35 Ebd., S. 188f. 36 Ebd., S. 189. 78
DERRIDA
GESETZESLÜCKE. UND DIE EPOCHÉ DER REGEL STEFAN LORENZER
»Um gerecht sein zu können, darf zum Beispiel die Entscheidung eines Richters nicht bloß einer Rechtsvorschrift oder einem allgemeinen Gesetz folgen, sie muß sie auch übernehmen, sie muß ihr zustimmen, sie muß ihren Wert bestätigen: dies geschieht durch eine Deutung, die wieder eine Gründung oder Stiftung ist, so, als würde am Ende das Gesetz zuvor nicht existieren, als würde der Richter es in jedem Fall selbst erfinden.«1
Die Sätze aus Derridas 1989 in New York gehaltenem Vortrag Gesetzeskraft. Der ›mystische Grund der Autorität‹ handeln von dem, was er im Titel des fraglichen Abschnitts die »Epoché der Regel« nennt.2 Die Tragweite der Überlegung, die Derrida im Zeichen dieses Begriffs anstellt, bemißt sich daran, daß es ihr nicht um irgendein ›wildes‹, anomisches, willkürliches, sondern um das regel- und kriteriengeleitete Entscheiden als solches zu tun ist. Sie gehört in den Zusammenhang einer Analyse rechtsförmiger Entscheidungen, die freilich dort, wo sie nach deren »Gerechtigkeit« und »Freiheit« fragt, an der Rechtsform selber eine formkonstitutive Amorphie hervorkehrt, eine im Recht, weil in seiner Einrichtung und seinem Vollzug sich behauptende Transzendenz über das Recht. Gewiß kennzeichnet jene »Epoché der Regel«, der Vorschrift, des Gesetzes zunächst dessen Einsetzung, die ihm nicht selber schon gehorchen kann. »Was gründet oder Recht setzt«, so heißt es in Politik der Freundschaft, »kann nicht seinerseits noch gegründet oder gerechtfertigt sein.« Darum ist die »Erfahrung der Gründung« eine »Erfahrung des Ab-
1
2
Jacques Derrida: Gesetzeskraft. Der »mystische Grund der Autorität«, übersetzt von Alexander García Düttmann, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 47. Vgl. als eingehendere Lektüre der in Gesetzeskraft vorgetragenen »Aporien«, in deren Reihe die »Epoché der Regel« gehört, Christoph Menke: Können und Glauben. Die Möglichkeit der Gerechtigkeit, in: Andrea Kern/Christoph Menke (Hg.), Philosophie der Dekonstruktion. S. 243-263. 79
STEFAN LORENZER
grunds*«.3 Vielleicht desselben, Derrida gebraucht das deutsche Wort und wird die Formulierung im Ohr gehabt haben, von dem Heidegger spricht, wenn er in Vom Wesen des Grundes sagt, die Freiheit sei »der Grund des Grundes«, »als dieser Grund aber […] der Ab-grund des Daseins«.4 Über diesem Abgrund indes hält sich nicht bloß die Einsetzung des Gesetzes, sondern zumal, in jeder einzelnen Entscheidung, seine Durchsetzung. Zwar mag es in Fällen, zu denen es Präzedenzfälle gibt, verbindliche Regeln und Grundlagen des Entscheidens geben. Aber schon die Entscheidung darüber, ob ein solcher Regelfall jeweils vorliegt, ist Sache einer Auslegung, für die nicht abermals eine vorliegende Regel einstehen kann (und für die nur darum zum Beispiel ein Richter einstehen muß). Jede Behauptung des Gegenteils führt in einen infiniten Regreß, also ihrerseits nicht auf gesicherten Grund, sondern in einen Abgrund. Darum hält sich a limine noch die Entscheidung zur bloßen Anwendung einer Regel in jener »kaum wahrnehmbaren Suspension«5, auf die Derridas Phänomenologie der Entscheidung aufmerksam macht und ohne die von einer Entscheidung nicht eigentlich gesprochen werden kann. Das Gesetz liegt nicht vor, es legt sich aus. »Als würde am Ende das Gesetz zuvor nicht existieren«, erlangt es Gesetzeskraft nur in singulären, weil als Auslegung durch keine allgemeinen Rechtsvorschriften erschöpfend determinierbaren Entscheidungen. Diese Indeterminationsklausel, die nicht einfach eine weitere Vorschrift im Buch des Gesetzes sein kann (weil nur die ungeschriebene, die alle begleiten und daher, wo und wie immer sie geschrieben steht, auch zu sich selbst wortlos hinzutreten können muß)6, ist aus dem Begriff der Entscheidung nicht wegzudenken.
3 4 5 6
Jacques Derrida: Politik der Freundschaft, übersetzt von Stefan Lorenzer, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000, S. 231. Martin Heidegger: Vom Wesen des Grundes, in: ders., Wegmarken, Frankfurt a.M.: Klostermann 1978, S. 123-173. J. Derrida: Gesetzeskraft, S. 51. Die Epoché setzt ja, wie jede Setzung, so auch die ihrer selbst aus; andernfalls würde die Unentscheidbarkeit, von der Derrida spricht, wiederum zum Fundament der Entscheidbarkeit, die Suspension der Regel ihrerseits zur Metaregel werden. Alles schwebt, auch die Epoché selbst, und diese Suspension der Suspension läßt noch die Möglichkeit der blinden Mechanik offen: »Wer wird«, so schreibt Derrida, »jemals (ver)sichern können, daß sich eine Entscheidung als solche ereignet hat? Daß sie nicht auf diesem oder jenem Umweg einem Grund, einem Zweck, einer Berechnung, einer Regel gefolgt ist – ohne diese kaum wahrnehmbare Suspension, die jede freie Entscheidung auszeichnet, in dem Augenblick, da eine Regel angewendet oder nicht angewendet wird?«. Ebd., S. 51. 80
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Entscheidungen, sonst würden sie einfach aus Gründen folgen und sich folglich erübrigen, sind strukturell in-konsequent. Wie lange man ihr Für und Wider auch erwogen haben mag, diese Abwägung schafft die Unverhältnismäßigkeit und Unwägbarkeit ihres Vollzugs nicht aus der Welt, sondern steigert sie. Der Gründe und Gegengründe, die einander aufrufen, gibt es ja regelmäßig mehr als genug, nämlich zu viele, als daß es den einen zureichenden, ihrer Kontingenz Einhalt gebietenden Grund der Entscheidung noch irgend geben könnte. (»Der Augenblick der Entscheidung ist ein Wahn« – den Satz Kierkegaards hat Derrida häufig, so auch in Gesetzeskraft zitiert7; und die Vernunft, der dieser Wahn in die Parade fährt, ist die Ratio des principium reddendae rationis.) Zwischen Überdeterminiertheit und Indeterminiertheit läßt sich keine Demarkationslinie ziehen. Daher trifft auch und gerade die wohlüberlegt getroffene Entscheidung ihr ›Subjekt‹ mit der Gewalt des Unverfügbaren, daher stößt sie ihm zu (contingit) mit der im Entschiedenen insistierenden Unverhofftheit dessen, was auch hätte nicht sein können, daher eignet ihr jener (mehr oder minder akute) Ereignischarakter, auf den Gesetzeskraft so nachdrücklich aufmerksam macht. Die »Epoché der Regel« ist demnach die paradoxe Bedingung der zureichenden Unbedingtheit, der wie immer minimalen inconditionnalité, die Derrida als conditio sine qua non der Entscheidung erweist (und um die es ihm nicht nur in diesem Text zu tun ist) – gesetzt, daß angesichts einer Epoché von einer sei’s auch paradoxen Bedingung, ja davon, daß sie ist, überhaupt sinnvoll die Rede sein kann. Derrida, der sie noch in einem 2003 zu Ehren Gadamers gehaltenen Vortrag, Béliers, »die notwendigste, die radikalste, aber auch die wahnsinnigste Erfahrung einer transzendentalen Phänomenologie nennt« (la plus folle, das erinnert sehr an die folie in dem erwähnten Satz Kierkegaards)8, Derrida spricht von einer Epoché durchaus in der strengen Bedeutung ihres phänomenologischen Begriffs. »Dieser Augenblick der Suspension, des Schwebens oder In-der-Schwebe-Haltens, diese Epoché« suspendiert die Regel, die Rechtsvorschrift, das Gesetz (sie werden gleichsam eingefroren)9, ohne das geringste an ihnen zu ändern. Es wird nicht dieses oder jenes an ihnen fragwürdig, ihre Geltung wird nicht als solche in Zweifel gezogen und sie sind auch, mit der von Husserl zur Erläuterung der Epoché, der Einklammerung, Ausschaltung, Enthaltung gern gebrauchten Wendung, ›nicht von der Tafel weggewischt‹, auf der sie vielmehr, anders als im reibungslosen Funktionieren, im programmgemäßen Ablauf, in der blin7 8 9
Ebd., S. 54. Jacques Derrida: Béliers, Le dialogue ininterrompu: entre deux infinis, le poème, Paris: Éditions Galilée 2003, S. 74. J. Derrida: Gesetzeskraft, S. 78. 81
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den Regelerfüllung, kraft ihrer Neutralisierung erst als solche hervortreten mögen: stillgestellt und ausgestellt in ein und demselben Zug und Entzug. Wiewohl sie, die Husserl die »Sache unserer vollkommenen Freiheit« genannt hatte10, die Möglichkeit der Revision, der Gesetzesänderung, ja der Übertretung und des Umsturzes vielleicht erst eröffnet – in der Epoché verletze ich die Regel nicht, sondern mache bloß, für diesen Augenblick der Schwebe, von ihr keinen Gebrauch. Ich verwerfe die Vorschrift nicht, sondern klammere sie bloß ein. Ich modifiziere den Wortlaut des Gesetzes nicht, sondern setze ihn bloß in Anführungszeichen. Ist die Epoché, wie Derrida schreibt, »im Recht eine Instanz des Nicht-Rechts«11, so tritt doch in seiner Aussetzung keineswegs etwas anderes an die Stelle des Rechts (als ob in ihr eben nur andere als Rechtsgründe zum Tragen kämen oder die schiere Willkür triumphieren würde) und korrumpiert sie es auch nicht. Keine Mißachtung des Gesetzes, setzt die Epoché es bloß in Parenthese. Für die Zeit dieser Stillstellung, in der die Zeit selbst wie stillgestellt ist, hat es keine Gewalt über den Handelnden, dessen Handlungen (denn die »Aporien«, die Derrida im Begriff der Entscheidung freilegt, lassen sich auch als Grundzüge einer Theorie von Handlungen überhaupt – und wiederum: ihrer minimalen Unbedingtheit lesen) nur kraft dieses Stockens oder Aussetzens der Gesetzmäßigkeit sein können, was sie sind, nämlich mehr oder jedenfalls anderes als bloße Regelvollzüge. Das »In-der-Schwebe-Halten« aber, das nicht schon die Handlung selber ist, sondern beides, das Gesetz und die Entscheidung, die Kompetenz und die Durchführung, das Vermögen und den Vollzug in der Schwebe hält (und darum in der Unterscheidung von Potenz und Akt nicht unterzubringen ist), dieses Halten, Innehalten, Ansichhalten gleicht jenem »prendre appel«, von dem Derrida am Ende der Vorbemerkung zu Politiques de l’Amitié spricht. Es gleicht dem »Auf-dem-Sprung-Sein« dessen, etwa eines Läufers, der schon zum Absprung ansetzt, aber ein Atemstocken lang noch in geduckter Haltung verharrt und auf den befreienden Startschuß wartet12. Nicht eigentlich Konzentration, Sammlung, Ermächtigung eines Vermögens, ist dieses eigentümlich abgesetzte Ausharren vielmehr das Aufmerken auf jenen appel, von dem die französische Wendung spricht, auf einen erlösenden Ruf, ein »Los!«, einen Anlaß und Anstoß, der nicht bloß für den Fall jenes Läufers nicht aus dem Vermögen selber stammen kann, das, wozu es auch immer imstande sein mag, sich nicht aus eigener Kraft loszulassen oder freizusetzen vermag. Sosehr 10 Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Halle a.d.S: Niemeyer 1928, S. 55. 11 J. Derrida: Gesetzeskraft, S. 78. 12 Jacques Derrida: Politiques de l’amitié, Paris: Éditions Galilée 1994, S. 16. 82
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das, was jeweils zu tun, zu entscheiden etc. ist, Kompetenz erfordert, sowenig kann es sie für die Entscheidung als solche geben, sowenig kann dies, daß es zu tun sei!, kann dieser Aufruf noch dem Herrschaftsbereich der Kompetenz, des informierten Könnens, der techné angehören. Nirgends wird der Abstand, der Derridas Überlegungen von jeder »subjektalen Axiomatik« trennt13, deutlicher als daran, daß die Erfahrung der Freiheit, die in jener Epoché auf dem Spiel steht, nicht die irgendeiner Selbstermächtigung (oder eines Willens), sondern die einer Machtlosigkeit, einer Inkompetenz ist – und hier müßte man auf die dritte »Aporie« eingehen, die Derrida nach der »Epoché der Regel« und der »Heimsuchung durch das Unentscheidbare« entfaltet: »Die Dringlichkeit, die den Horizont des Wissens versperrt«.14 Wie wohlbegründet auch immer, die Entscheidung selbst bleibt ein Sprung (wenn nicht ein Stolpern) aus der Reihe sämtlicher Gründe, die zu ihr hinführen mögen, sie bleibt stets eine ihrem Wesen nach hilflose Überstürzung. Nicht an den Buchstaben des Gesetzes zu rühren, seinen Inhalt nicht zu modifizieren, während sie doch das Verhältnis zu ihm völlig verwandelt – daß die Epoché eine ganz und gar unwesentliche Modifikation ist, eine Modalisierung, die das, was das Eingeklammerte ist, sein Wesen, seinen Begriff, seinen Sachgehalt, nicht im mindesten tangiert, das war das ganze Rätsel schon ihres Husserlschen Begriffs. Was in der Parenthese ausgesetzt ist, ist kein Was, es ist nichts als das wesensferne »ist« selber, das (nach Kant) nicht seinerseits als »reales [d.h. sachhaltiges] Prädikat«, als eine den Begriff der Sache »vermehrende« Bestimmung gedacht werden kann. Und von der Suspension des »ist« spricht in der Tat der unscheinbare Nebensatz, der in den eingangs zitierten Zeilen aus Gesetzeskraft die entscheidende Kennzeichnung jener Epoché bietet, die im Titel des fraglichen Abschnitts genannt wird (»Erste Aporie: Die Epoché der Regel«). Im Augenblick der Schwebe, vor dem Urteil, ist es, »als würde am Ende das Gesetz zuvor nicht existieren«. Das Unverbrüchliche selbst bietet keinen Halt und Anhalt mehr; es scheint – nicht eigentlich zu schwanken, sondern regungslos oder oszillierend wie eine Luftspiegelung, ein Fiktum, zwischen Sein und Nichtsein, ja in einer merkwürdigen Gleichgültigkeit beider zu verharren. Mit einem Mal ist alles in ein fahles, gespenstisches Licht getaucht; und was in dieser Suspension der Entscheidung über Sein oder Nichtsein ins Schweben gerät, ist die in den Modus des als ob versetzte Erfahrung selber. Erfahrung der Epoché – der Erfahrung. Genau dies, nämlich zumal jene Gleichgültigkeit, in der beides, Sein und Nichtsein ›dahingestellt‹ bleibt, hatte der phänomenologische termi13 J. Derrida: Gesetzeskraft, S. 51. 14 Ebd., S. 53. 83
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nus technicus der Epoché im Sinn. Sie ist ›Aussetzung der Daseinsthesis‹ – oder kürzer, denn Dasein, Existenz ist für Husserl, ganz kantisch, nichts anderes als Gesetztheit: der ›Thesis‹. In deren Aussetzung bleibt die Sache der Sache nach dieselbe, es wird ihr nichts hinzugefügt und nichts genommen – nichts als eben ihre Gesetztheit selber. Damit läßt die Epoché, von der Gesetzeskraft handelt (die der Regel, der Vorschrift, des Gesetzes), sich schärfer fassen. Sie ist eine Aussetzung der Gesetztheit des Gesetzes. Die Formel läßt bereits eine bemerkenswerte Komplikation erahnen. Während nämlich das Wesen zum Beispiel eines Apfels von der Aussetzung der Thesis unberührt bleibt (seiend oder nichtseiend, Faktum oder Fiktum: ›Apfel‹ ist ›Apfel‹), wird das Wesen des Gesetzes von dieser Aussetzung im Innersten berührt, weil es in der Gesetztheit selber liegt. Zudem geht es, wie erst noch zu erläutern sein wird, in jener »kaum wahrnehmbaren Suspension«, von der Derrida spricht (und in der ja nicht bloß eine Regel zugunsten anderer ausfällt, sondern alle brachliegen), um die Aussetzung der Gesetztheit jeden Gesetzes. Hier endet in einer entscheidenden Hinsicht die Übereinstimmung mit Husserl. Aber hier wird auch absehbar, daß sich in Derridas Rede von der »Epoché der Regel« nicht bloß eine vage Allusion auf einen geheimnisumwitterten phänomenologischen Terminus, sondern eine beispiellose Radikalisierung jener »wahnsinnigsten Erfahrung«, der »radikalen Epoché«, verbirgt. Denn Husserl (»Aber mit gutem Grund begrenzen wir die Universalität dieser Epoché«15) hatte im Namen der »Wesensforschung«, der »neuen Eidetik«, die seine Phänomenologie sein wollte, die »Wesensgesetze« und »Wesensformen« des transzendentalen Bewußtseinslebens nicht allein von der »Ausschaltung« ausgenommen. Vielmehr hatte diese am Ende nur den einen und einzigen Sinn, ein von aller Faktizität gründlich gereinigtes Eidos (zuletzt: das »Eidos Ego«) freizulegen. Und sowenig die von der Epoché gezeitigte Modalisierung, die Suspendierung des »Seinsglaubens«, der »Urdoxa«, der »Urthesis«, einfach zu den doxischen Modalitäten, zu den Modalitäten des Seins (als Thesis) rechnet, sosehr hat diese Aussetzung der Gesetztheit alles Gesetzten wiederum nur den einen und einzigen Sinn, die apriorischen Bedingungen seiner »Setzbarkeit« für ein thetisches, positionales Bewußtsein freizulegen, die bei Husserl der Epoché, als deren Residuum, eine unaussetzbare Grenze setzen.16 Vielleicht setzt dagegen in der Aussetzung, die in Derridas »Epoché der Regel« weniger ›geübt‹ wird als vielmehr sich ereignet (und für die minimale Unbedingtheit des Ereignisses einsteht), das Gesetz der Gesetztheit selber, nämlich eben jener Positionalität aus, die etwa bei Kant, 15 E. Husserl: Ideen, S. 56. 16 Edmund Husserl: Erfahrung und Urteil, Hamburg: Meiner 1985, S. 427. 84
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wie nach ihm bei Husserl, über die »Möglichkeit der Erfahrung« entscheidet und jeweils schon entschieden hat, weil Möglichkeit für Kant eine Modalität des Seins als der Position ist: »Der Begriff der Position oder Setzung ist völlig einfach und mit dem vom Sein überhaupt einerlei«.17 Möglichkeit ist danach, mit einem Begriff Husserls, wie er kantischer nicht sein könnte, eine »Setzungsart«18, eine Weise der Gesetztheit für ein positionales und, sofern die Modalitäten für Kant überhaupt nur als kategoriale in Betracht kommen, für ein propositionales, urteilendes Bewußtsein. Sie zählt zu den »Kategorien der Modalität«, die »nur das Verhältnis zum Erkenntnisvermögen ausdrücken«19, also den Gegenstand in ein Verhältnis zu den Bedingungen seiner Gegenständigkeit setzen, die in diesem Vermögen selbst liegen und, bei Strafe des Nichtseins, allem gesetzt sind, was irgend Anspruch auf den Titel des Erfahrungsgegenstandes erheben will. Was mit diesen Bedingungen, deren erste die der Bedingtheit selber ist, nicht übereinkommt, hat sich aus dem Kreis des Erfahrbaren im voraus schon ausgeschlossen. »Was mit den formalen Bedingungen der Erfahrung (der Anschauung und den Begriffen nach) übereinkommt, ist möglich«:20 Damit ist Möglichkeit als Übereinkunft mit formalen Bedingungen, Regeln, Gesetzen (oder, wenn man so will: als Gesetzmäßigkeit), damit ist sie als bedingte Möglichkeit und Möglichkeit eines Bedingten gedacht. Auch deshalb ist Derrida genötigt, die Erfahrung dessen, was er in Gesetzeskraft als »Gerechtigkeit« und »Freiheit« der Entscheidung zu denken sucht (und anderswo unter anderen Namen des Unbedingten: das Ereignis, die Gabe, die Vergebung, das Ja etc.), eine »Erfahrung des Unmöglichen«, ja eine »unmögliche Erfahrung« zu nennen.21 Was da erfahren wird, transzendiert den Horizont der kantisch vorgestellten (Möglichkeit der) Erfahrung, den Horizont der alles zum ›Erfahrungsgegenstand‹, zum Ding bedingenden Vorgestelltheit und Vorgesetztheit. Damit ist es freilich nicht Etwas, das ihn transzendiert, sondern die Transzendenz über den Horizont des Etwas-als-Etwas selber. Aber Derridas Überlegungen sind ja in Gesetzeskraft, wie überall, von der aporetischen Ein17 Immanuel Kant: Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes, in: WA Bd. II, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976, S. 632. Vgl. zu »Kants These über das Sein« als Thesis Martin Heidegger: Kants These über das Sein, in, ders.: Wegmarken, Frankfurt a.M.: Klostermann 1978, S. 439-473. 18 Edmund Husserl: Ideen, S. 241. 19 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, WA Bd. III/IV, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976, S. 248. 20 Ebd. 21 J. Derrida: Gesetzeskraft, S. 33. 85
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sicht durchdrungen, daß allein diese Transzendenz über jeden Erfahrungs- und Möglichkeitshorizont überhaupt Erfahrung heißen kann. Erst die épreuve de l’impossible eröffnet die Möglichkeit einer Erfahrung, die nicht als bedingte und nicht als Möglichkeit jenes Schon-Möglichen sich denken läßt, das er einmal ein »schlechtes«, ein »Mögliches ohne Zukunft« genannt hat, weil alles, was es noch kommen heißt, ein virtuell schon Angekommenes ist.22 Darum gilt, um eine der bündigsten Formulierungen der »Möglichkeit des Unmöglichen« zu zitieren, die sich in Die unbedingte Universität findet, »daß einzig das Unmögliche geschehen kann.«23 Wo dagegen, wie zumindest die vorkantische Metaphysik es wollte, das Ereignis zum bloßen complementum einer schon gegebenen, als Möglichkeit schon vorhandenen possibilitas wird, an der allein ihre Verwirklichung noch aussteht, da ereignet oder tut sich im Wesentlichen nichts. Sind alle ihre Bedingungen einmal erfüllt, bleibt nur die Erfahrung selber aus. Keine Erfahrung ohne Transzendenz über ihre Bedingungen, keine ohne das an der Erfahrung, was nur unter keinen Bedingungen möglich ist. Erfahrung ist, was über ihren eigenen Horizont, über ihre Begriffe geht – und die ›Erfahrungsgesetze‹ einem Unsetzbaren exponiert. Keine Erfahrung ohne Aussetzen der »formalen Bedingungen der Erfahrung (der Anschauung und den Begriffen nach)«. Die »Epoché der Regel« ist ein Bruch mit jener Übereinkunft (mit ebendiesen Bedingungen), die nach dem Gesetz der Gesetztheit über die »Möglichkeit der Erfahrung« wacht. Aber was in diesem Bruch vielleicht erst aufbricht, ist die Erfahrung des Unbedingbaren, dessen, was nicht schon geschrieben steht: in keinem Gesetz, keiner Satzung, keinen Statuten. In ihrer Unscheinbarkeit ist die »Epoché der Regel«, die »kaum wahrnehmbare Suspension« (und mit ihr die ›Dekonstruktion‹) ein Kryptonym der Erfahrung selbst. Erfahrung gibt es danach, und das ist gleichsam der unveräußerliche thaumatologische Kern ihres Begriffs, nur in einem Aussetzen der Erfahrungsregeln, wie unscheinbar es auch sein mag. Das qualifiziert sie zugleich als Erfahrung eines Singulären – in einer Indetermination, die sich nur um den Preis dieser Erfahrung selbst ausräumen ließe, weil sie deren eigenster Gehalt ist. Im »Augenblick der Suspension, des Schwebens oder In-der-Schwebe-Haltens«, und nur in ihm, ist der Fall noch nicht der Fall, sondern das präzedenz- und beispiellose singuläre Faktum, die »singularité toujours autre«, die »je andere Singularität«, der es gerecht
22 J. Derrida: Politik der Freundschaft, S. 55. 23 Jacques Derrida: Die unbedingte Universität, übersetzt von Stefan Lorenzer, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 73. 86
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zu werden gilt, die Gerechtigkeit fordert, ohne daß diese »Forderung«24, schon die Sprache des Rechts sprechen könnte. Allein dieser Appell ruft zur Entscheidung auf, das heißt zu jenem auslegenden Vollzug des Rechts, der in ihm nicht aufgeht und aus den kodifizierten Regeln für diesen Vollzug sich nicht ableiten läßt. Setzt in der Auslegung oder »Deutung« das allgemeine Gesetz einem singulären Anspruch sich aus, so ist sie der Ort jener unmöglichen Übersetzung, die in der allgemeinen Sprache des Rechts, in der Rechtsprechung, dem Anspruch des Singulären entsprechen soll und gleichsam die Mitte ist, in der die Differenz von Recht und Gerechtigkeit, um die Gesetzeskraft kreist, ausgetragen wird. Die Übersetzung ist daher mehr als ein bloßes Beispiel und zugleich das denkbar beste für die »Epoché der Regel« und die »Möglichkeit des Unmöglichen«, die in dieser Epoché auf dem Spiel steht. Wenn die »liebende« Übersetzung, von der Benjamin einmal gesprochen hat – dieselbe, die um der Liebe willen »höchste Gewissenhaftigkeit mit äußerster Brutalität verbinden« muß25 –, als liebende am Original auf das geht, was an ihm singulär, unersetzlich, unvertretbar, mit einem Wort: unübersetzbar ist; wenn sich, wie man mit einer Distinktion Schleiermachers zeigen könnte, übersetzen im Unterschied zum bloßen »Dolmetschen« nur die Texte lassen, die in ihrer eigenen Sprache so etwas wie eine Fremdsprache sprechen; wenn derart schließlich Übersetzbarkeit und Unübersetzbarkeit einander tatsächlich so wenig entgegenstehen, daß vielmehr das Unübersetzbare das einzige und das Einzige ist, das übersetzt zu werden fordert in einer Forderung, wie sie ungenügsamer nicht sein könnte (»et l’appel à traduire vous rejette«26) – dann zeigt sich wiederum, daß genau dort, wo jede Kompetenz endet, die Aufgabe des Übersetzers in Wahrheit erst beginnt. Der »Sprache des anderen«27, die stets die eines Einzelnen ist, deren Singularität ihr unberechenbares Maß daran hat, daß es die Regel ihrer Beherrschung nicht gibt, ist man nie mächtig; sowenig wie derjenigen, der eigenen, auch sie die eines einzelnen, in der ihr entsprochen werden soll. Der Übersetzer übersetzt aus einer Sprache, die er nicht beherrscht – und nicht beherrscht, weil sie sich gar nicht erlernen läßt –, in eine Sprache, von der dasselbe gilt.28
24 J. Derrida: Gesetzeskraft, S. 42. 25 Walter Benjamin: La traduction – le pour et le contre, in, ders.: GS, Bd. VI, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986, S. 159. 26 J. Derrida: Ulysse Grammophone. Deux mots pour Joyce, Paris: Éditions Galilée 1987, S. 40. 27 Ebd., S. 35. 28 »Die Übersetzung beginnt dort, wo die Möglichkeit des Erlernens einer Sprache an ihre Grenze rührt«, schreibt Alexander García Düttmann. Vgl. 87
STEFAN LORENZER
So steht in der Tat »die Frage der Sprache und des Idioms […] im Mittelpunkt« von Derridas Überlegungen29, und ist ihm die Auferlegung einer Sprache das Paradigma einer Ungerechtigkeit, deren Limes dort erreicht ist, wo ein Urteil in einer Sprache gefällt wird, die derjenige, über den es ergeht, nicht versteht. Ihre genaue Entsprechung hat diese Auferlegung, die Diktatur selbst, an der blinden Regelbefolgung. Wo diese herrscht, da ist, wie es in Das andere Kap heißt, »die Entscheidung bereits getroffen worden. Mit anderen Worten: Es gibt dann keine Entscheidung mehr, die man noch treffen müßte, indem man ein festgesetztes Programm anwendet, verhält man sich unverantwortlich und läßt sich vom guten Gewissen beruhigen«.30 Wer so handelt, der handelt zumal, wenn er denn überhaupt handelt, jener »Pflicht« zuwider, die darin besteht, »sich an den anderen in der Sprache des anderen zu richten«31. Das klingt fast schon wie ein Gebot der Höflichkeit. Und es klingt nicht nur so, sondern ist am Ende nichts anderes als das principe de politesse, das Höflichkeits- oder Freundlichkeitsprinzip, von dem Derrida in Passions gesprochen hat. »Ne jamais agir simplement selon une règle«32, niemals bloß gemäß einer Regel zu handeln, so lautet das Prinzip, das abermals keine Übertretung oder Mißachtung, sondern die »Epoché der Regel« fordert und darum von Derrida sorgfältig von einer »Gegenregel« abgesetzt wird, die »selber noch eine Regel ist«.33 Das erweist Freundlichkeit, auch sie, als einen Begriff für ihre Nichtübereinkunft mit ebendiesem Begriff und damit einmal mehr als jene Transzendenz über jeden ›eidetischen Umfang‹, als die Derridas Epoché sich von derjenigen Husserls unterscheidet. Was er in Voyous von der Demokratie behauptet hat: »kein eidos, keine idea der Demokratie«34, das gilt auch von dieser politique de la politesse. Selbst von der Höflichkeit, andere mögliche Übersetzung von politesse, muß gelten: Wer bloß höflich ist, höflich aus bloßer Höflichkeit, ist nicht höflich. Niemals bloß gemäß einer Regel zu handeln (auch und gerade dort, wo ich ihr folge, sie übernehme, mir zu eigen mache etc.) – das Prinzip, wiederum eines der Dekonditionierung, formuliert am Ende einen Minimalbegriff nicht allein von freundlichen, auch
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ders.: Von der Übersetzbarkeit, in: Christian L. Hart Nibbrig (Hg.), Übersetzen: Walter Benjamin, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 137. Ebd., S. 11. Jacques Derrida: Das andere Kap. Die vertagte Demokratie. Zwei Essays zu Europa, übersetzt von Alexander García Düttmann, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 33. Ebd., S. 35. Jacques Derrida: Passions, Paris: Éditions Galilée 1993, S. 51. Ebd., S. 24. Jacques Derrida: Voyous, Paris: Éditions Galilée 2003, S. 62. 88
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nicht allein von freien, sondern von Handlungen überhaupt, nämlich dessen, was sie von einem konditionierten oder programmierten Benehmen oder Verhalten unterscheidet und, in einem ganz formalen Sinn des Begriffs, ihre responsabilité, ihre Verantwortbarkeit ausmacht. Freiheit (Epoché der Regel) ist keine hinzutretende Bestimmung von Handlungen, die auch als unfreie Handlungen heißen könnten.35 »C’est ici un devoir, je dois m’adresser à vous en anglais.« Der zunächst auf Französisch, dann auf Englisch vorgetragene Satz, der Derridas Vortrag eröffnet, spricht, indem er es zugleich befolgt und nicht befolgt, das unmögliche Gebot aus: »sich in der Sprache des anderen an den anderen zu richten«, jener ungenügsamen Forderung zu entsprechen, der als singulärer Transzendenz über jede allgemeine Rechtsordnung (und jede Sprachordnung) in keiner Genüge getan werden kann und die, indem sie im Vollzug des Rechts selbst interveniert, den Schein der Selbstgenügsamkeit seiner Satzungen zerstört. Die »Sprache des anderen«, das ist zuletzt der Appell, das Geheiß, die Forderung, der »immer unzufriedene Ruf«, von dem in Gesetzeskraft allenthalben die Rede ist. Und diese Sprache, in der man sich vor jedem Satz, vor jedem Urteil, das über ihn verhängt wird, an ihn richten soll, ist zunächst einmal das den Vortrag eröffnende »s’adresser« selber. Was in ihm Gerechtigkeit heißt, entscheidet sich an diesem »Sich-richten-an«, das in der Entscheidung die Rechtsordnung suspendiert. Apostrophe, Invokation, Anrede, die vor jedem bedeutenden Wort die Rede eröffnet, und doch als dieses Wort vor dem Wort schon eine Antwort ist wie jenes Ja, das Franz Rosenzweig einmal den »stillen Begleiter aller Satzteile« genannt hat und auf das Derrida so häufig zurückgekommen ist. Seine kargste und elementarste Form ist das »allô téléphonique«, von dem er in Ulysse Grammophone tatsächlich sagt, es sei das »oui minimal et primaire«.36 Antwort (»ja, ich bin da, ich höre«) und Frage (ja? wer da?) in ein und demselben Wort,
35 Werner Hamacher hat einen entsprechenden Handlungsbegriff zumal gegen die Theorie der speech acts gewendet, um die es Austin im Rahmen einer allgemeinen Handlungstheorie zu tun war – und die in der Tat die Möglichkeit etwa performativer Sprechakte, nämlich a limine nicht nur deren Glücken, sondern schon ihr Zustandekommen, an konventionale »Glückensbedingungen«, also an Übereinkünfte mit Übereinkünften geknüpft hat. Daß Austins Vorlesungen zu einer Katalogisierung slapstickhafter Fehlhandlungen werden mußte, hängt mit dieser Prämisse zusammen. Vgl. Werner Hamacher: Einleitung zur Sektion »Performativa«, in: Jürgen Fohrmann (Hg.), Rhetorik. Figuration und Performanz, Stuttgart, Weimar: Metzler 2004. S. 481-490. 36 Jacques Derrida: Ulysse Grammophone. Deux mots pour Joyce, Paris: Éditions Galilée 1987, S. 127. 89
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ein sprechendes Hören, ein hörendes Sprechen – und eines, das seinerseits als Ruf und Anrufung noch keinerlei Bestimmung oder Kenntnis des Sprechenden oder Angesprochenen voraussetzt oder einschließt, das nichts über etwas oder jemanden sagt, mit allem Gesagten an sich hält, sich jeden Urteils enthält. Indetermination, Schwebe, Suspension aller Bedeutung. Wenn Derridas Epoché noch eine ›Reduktion‹ genannt werden dürfte, dann als eine auf dieses prendre appel, auf die bloße responsiveness, von der er etwa in Passions spricht und die jeder Verantwortung für dieses oder jenes vorhergeht.37 »Allô?« – darin spricht sich nichts aus, es sei denn das Nichts der bloßen Ansprechbarkeit, das jedem Ansprechen von jemand(em) oder etwas schon zugesprochen, schon eingeräumt sein muß. Diese Invokation, die schon Antwort ist, gehört der Sprache des Rechts, des kategorein, der Anschuldigung und des Urteils, der Attribution und Prädikation, der Zuschreibung und Zurechnung, der Aussage und des richtenden Worts, sie gehört dem logos tínos noch nicht an. Bei Derrida geht, wie bei Augustinus (und wie nach ihm bei Heidegger), das invocare der Ordnung des scire und cognoscere eröffnend voraus. Derrida ist freilich weit davon entfernt, jenen ordre (Geheiß) und diesen odre (Ordnung) einander entgegenzusetzen. Keine Forderung nach Gerechtigkeit, die nicht fordern müßte, daß ihr in der Ordnung des Rechts Rechnung getragen werde, der nur diese Forderung selbst nicht angehört. Wie das allgemeine Gesetz in seinem auslegenden Vollzug einem Singulären und Unbedingten, so muß diese singuläre Forderung in demselben Vollzug einem Allgemeinen und Bedingten sich aussetzen. Beide sind, vor jeder Position, einander exponiert. Darum treten »Recht« und »Gerechtigkeit« in ihre Differenz (und um sie kreist Gesetzeskraft) nicht erst ein, sondern sind jeweils schon in sie eingelassen. Und sosehr die »Epoché der Regel« das Gesetz transzendiert, sowenig setzt sie sich dem Gesetz entgegen. Sie vollzieht, bei Strafe ihrer Preisgabe, keinen Übergang in eine andere (Rechts-)Ordnung, sie ist keine Unterwerfung unter andere Gesetze, keine Berücksichtigung anderer Gründe, keine Bedingtheit durch andere Bedingungen. Der Sitz jener singulären Gerechtigkeitsforderung ist kein Sitz, weil er nichts als die Aussetzung jeder Gesetztheit und damit selber nicht(s) ist. Vielleicht das Nichts/nichts, von dem zwei Formulierungen Nancys sprechen, die Derrida in Voyous zitiert. »Die Freiheit (be)mißt sich an nichts« und »Die Freiheit: sich am Nichts messen« – an dem Nichts, das sie in die zureichende Grundlosigkeit ihrer selbst entläßt.38 Dies ist nur eine andere Formulierung für die Erfahrung – des Abgrunds – der Freiheit, von der es in L’expérience de 37 J. Derrida: Passions, S. 70. 38 J. Derrida: Voyous, S. 73. 90
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la liberté, heißt: »La liberté, si elle est bien quelque chose, est cela-même qui s’annule à être fondé«, »die Freiheit ist, wenn sie denn etwas ist, dasjenige, was sich durch jedes Gegründetsein aufhebt« (und darum reicht es zumindest unter der Herrschaft des Satzes vom Grund und seiner Kantischen Transformation aus, zu sagen, daß sie ist, um die Freiheit der Freiheit zu berauben).39 Damit sind nicht schon alle Gründe aus dem Spiel, sondern ist erst der Spielraum eröffnet, in dem man sich überhaupt zu Gründen verhalten kann. Was in der Epoché aufgeht, ist nicht die Freiheit von, es ist die Freiheit zu Gründen. Dem Gesetz aber setzt sie sich am Ende so wenig entgegen, daß in jenen Sätzen aus Gesetzeskraft das, was dem Diktat des Gesetzes nicht gehorcht, am Ende nichts anderes als dessen Übernahme, seine Bestätigung, seine nicht ihrerseits kodifizierbare und konditionierbare Bejahung ist. Dennoch ist die Epoché, sowenig wie eine Verneinung, sowenig auch schon die Bejahung selbst. Darin kehrt ihr entscheidender Zug wieder, auf dem Husserl stets mit dem größten Nachdruck insistiert hatte. Keine Position, ist sie auch keine Negation, als die sie wiederum eine Setzung, nämlich eine »Ansetzung des Nichtseins« wäre, sondern die Aussetzung, die zwischen beidem beides offen hält. Sie eröffnet die Möglichkeit der Bejahung als die der Verneinung (und umgekehrt), um kraft dieser Kontingenz beide erst an ihre Unbedingtheit zu entlassen. So ist schließlich die »Deutung« oder Auslegung, in der sich die ihm selbst nicht unterliegende Bejahung des Gesetzes vollzieht, dieselbe, von der es später heißen wird: »in jeder deutenden Lektüre [liegt] die Möglichkeit eines Generalstreiks«.40 In der Epoché tut sich die Möglichkeit der unbedingten Bejahung nur in eins mit der schärfsten Gegenmöglichkeit auf, die in der Bejahung selbst nicht erlischt, sondern sich in ihr erhält und sie am Leben hält. Das Ja verspricht, wie Derrida oft betont hat, seine Wiederholung. Aber dieses Versprechen gibt es nur als die Möglichkeit seines Verrats – andernfalls würde es wieder zu einem Bedingten und Berechenbaren und wäre das Vertrauen, das man in es setzt, ein bloßes Kalkül.
39 Jean-Luc Nancy: L’expérience de la liberté, Paris: Éditions Galilée 1988, S. 16. 40 J. Derrida: Gesetzeskraft, S. 81. 91
»D I E D E K O N S T R U K T I O N I S T 1 DIE GERECHTIGKEIT« ELISABETH WEBER
Diese provokative Behauptung, die im scharfen Kontrast zu der jahrzehntealten Kritik der Dekonstruktion als einer ästhetizierenden, apolitischen und ahistorischen Übung steht, rekapitulierte 1989 die unendliche Aufgabe und Verantwortung, die trotz und wegen ihrer Unendlichkeit nicht auf morgen vertagt werden können: »So wenig sie sich auch vergegenwärtigen, präsentieren, darstellen läßt: die Gerechtigkeit wartet nicht. Sie ist jenes, was nicht warten darf, was nicht warten muß.«1 Im Geiste dieser Dringlichkeit, dieser nicht vertagbaren Verantwortung war Jacques Derrida ein aktiver und furchtloser Kritiker von Ungerechtigkeiten wie der südafrikanischen Apartheid und dem israelisch-palästinensischen Konflikt, dem blutigen Bürgerkrieg in seinem Geburtsland Algerien und den französischen Einwanderungsgesetzen, der Todesstrafe und Menschenrechtsverletzungen in verschiedenen Ländern, und, in Richard Falks Formulierung, dem »großen Terror-Krieg«.2 In unserer Ära, die die französische Historikerin Annette Wieviorka die »Ära des Zeugen«3 genannt hat, haben Fragen der Antwort auf den Ruf des anderen, Fragen der Verantwortlichkeit innerhalb der Geisteswissenschaften eine Bedeutung angenommen, die sie im nicht-jüdischen westlichen Denken vielleicht niemals gekannt haben. Diese Entwicklung wäre undenkbar ohne den immensen Beitrag von Jacques Derridas Schriften. Sein gesamtes Werk und Leben hindurch legte er Zeugnis ab für die ungehörten, übertönten oder zum Verstummen gebrachten Stim1
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Jacques Derrida: Gesetzeskraft. Der »mystische Grund der Autorität«, aus dem Französischen von Alexander García Düttmann, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 30. Der folgende Text wurde zuerst in englischer Sprache in der von Cornelia Vismann und Florian Hoffmann herausgegebenen, Jacques Derrida gewidmeten Sondernummer der Online-Veröffentlichung German Law Review veröffentlicht (Vol. 6, 2005). J. Derrida: Gesetzeskraft. Der »mystische Grund der Autorität«, S. 53-54. Richard Falk: The Great Terror War, New York: Olive Branch Press 2002. Annette Wieviorka: L’Ère du témoin, Paris: Plon 1998. 93
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men derer, die von den dominierenden Strömungen westlichen Denkens weitgehend ausgeschlossen wurden, die, wie es in Toni Morrisons Roman Beloved heißt, »ent-erinnert und durch nichts belegt« sind. Zudem formulierte Jacques Derrida die Notwendigkeit, sich des Risikos und der Aporien dieser Aufgabe der Erinnerung gewahr zu sein: nämlich, daß für den anderen zu sprechen und sich seiner zu erinnern den Samen eines zweiten Verrats in sich trägt. Die die Fragen des Eingedenkens und der Gerechtigkeit betreffenden Schwierigkeiten »sind nicht einfach deshalb unzählig oder unendlich, weil ihre Anzahl so groß ist oder weil sie in der aller Eingrenzbarkeit trotzenden Unendlichkeit des Gedächtnisses und der Kulturen (die von der Religion, der Philosophie, dem Recht usw. gebildet werden) wurzeln.«4 Vielmehr sind sie »in sich selbst unendlich«, weil sie von einer Reihe von »Aporien« bewohnt werden, die aus der Gerechtigkeit »eine Erfahrung des Unmöglichen«5 machen, eine Erfahrung des Unkalkulierbaren und des Unvorhersehbaren. Weit davon entfernt, zu Resignation und einer Abkehr von Politik und Geschichte zu führen, machen diese Aporien die Forderung nach Gerechtigkeit vielmehr dringender denn je. Eine dieser Aporien kann in der Spannung zwischen der Einzigartigkeit der Anrede, des »Sich-richtens-an« (adresse), des Namens und der Notwendigkeit der Allgemeinheit des Gesetzes gefunden werden: Das Sich-richten-an, die Adresse oder der Adressat sind stets besonders, eigentümlich, sie haben stets eine ihnen eigene Sprache; in der Gestalt des Rechtes scheint die Gerechtigkeit aber die Allgemeinheit einer Regel, einer Norm oder eines universalen Imperativs vorauszusetzen. Wie soll man den Akt der Justiz (acte de justice), der stets ein Besonderes in einer besonderen Lage betrifft, Individuen, Gruppen, unersetzbare Existenzen, mich, einen/den/als anderen, mit der Regel, der Norm, dem Wert oder dem Imperativ der Justiz in Einklang bringen, wenn diese zwangsläufig eine allgemeine Form aufweisen, mag es sich auch um eine Allgemeinheit handeln, die eine jeweils besondere Anwendung vorschreibt?6
Wie Christoph Menke ausführt, erfolgt die »dekonstruktive Entfaltung der Spannung zwischen Gerechtigkeit und Recht […] im Namen einer Erfahrung, die zwar in keiner Politik eingeholt werden kann, aber für je-
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J. Derrida: Gesetzeskraft. Der »mystische Grund der Autorität«, S. 32-33. Vgl. ebd., S. 33. Vgl. ebd., S. 34-35. 94
»DIE DEKONSTRUKTION IST DIE GERECHTIGKEIT«
de Politik wirksam ist: als ihre Grenze und daher ihre Unterbrechung.«7 Eine solche »Erfahrung« ist im Namen gegeben, weshalb auch die Frage des Namens im Herzen von Derridas Denken steht. Die Forderung nach Gerechtigkeit ist untrennbar von der Einzigartigkeit der Gabe des Namens und davon, was diese Gabe beinhaltet. In einer Reflexion über die »Endlösung« beschreibt Derrida, wie die Erfahrung des Namens die Politik als ihre »Grenze« und »Unterbrechung« affiziert: Man kann die Einzigartigkeit eines solchen Ereignisses wie das der Endlösung nicht als äußerste Spitze der mythischen und repräsentativen Gewalt im Inneren seines Systems denken. Man muß dieses Ereignis von seinem Anderen aus zu denken versuchen, das heißt von dem aus, was es auszuschließen und zu zerstören versucht hat, von dem aus, was es radikal exterminieren wollte: dieses Andere hat seinerseits das Ereignis von innen und zugleich von außen aus heimgesucht. Man muß versuchen, das Ereignis von der Möglichkeit des Besonderen, der Singularität der Signatur und des Namens aus zu denken, da die Ordnung der Repräsentation nicht nur versucht hat, Millionen menschlicher, natürlicher Leben zu vernichten, sondern auch einen Gerechtigkeitsanspruch und auch Namen: zunächst nämlich die Möglichkeit, einen Namen zu geben und einzutragen, die Möglichkeit, beim Namen zu rufen und den Namen ins Gedächtnis zurückzurufen.8
Man muß versuchen, dieses Ereignis von der Möglichkeit der Einzigartigkeit aus zu verstehen nicht nur, »weil eine Zerstörung stattgefunden, weil es ein Projekt gegeben hat, das darauf zielte, den Namen und das Gedächtnis des Namens, des Namens als Gedächtnis zu zerstören«9, sondern auch weil dieser Name de facto unablösbar vom »bloßen Leben« ist.10 Die Fähigkeit, Namen zu geben, ist nur denen gegeben, die selbst gerufen worden sind. Namen zu geben ist wesentlich geprägt von der Tatsache und der bewußten und, wichtiger, unbewußten Anerkennung, daß wir gerufen wurden, anders gesagt, von der Einschreibung eines Rufs, der, in Emmanuel Levinas’ Formulierung, unserer Fähigkeit zu antworten voraufging. Das ist das Gesetz am »Ursprung« aller Gesetze: Wir sind gerufen worden, und, in Jean-François Lyotards Worten, wir 7
Christoph Menke: Für eine Politik der Dekonstruktion, in: Anselm Haverkamp (Hg.), Gewalt und Gerechtigkeit. Derrida – Benjamin, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994, S. 286. 8 J. Derrida: Force of law, 1042 – Gesetzeskraft, 119, Übersetzung leicht verändert. 9 J. Derrida: Force of law, S. 1042. 10 Zum Begriff des »nackten« oder »bloßen Lebens«, siehe Giorgio Agamben, Homo Sacer. Souveräne Macht und bloßes Leben, aus dem Italienischen von Hubert Thüring, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998. 95
ELISABETH WEBER
sind Geiseln dieses Rufs, ob wir es wissen und gutheißen oder nicht. In der Ära des Zeugen besteht eine unserer Aufgaben heute mehr denn je darin, Zeugnis abzulegen von der beunruhigenden Fremdheit dieses Rufs, der nicht weniger von mir selbst, dem »Träger einer inneren Andersheit«11, ausgeht als vom anderen. Die Tatsache, daß die Benennung des unersetzbaren »Du« im Kern von dem geprägt ist, was Derrida »Iterabilität« nennt, schreibt die Institution in dieses einzigartige Ereignis ein. Nur in seiner Iterabilität (also seiner Erkennbarkeit) kann das »Sichrichten-an«, die »Adresse« gehört werden. Diese Iterabilität, diese paradoxe Wiederholung am Ursprung widerspricht jedoch der Einzigkeit nicht: Sie ermöglicht sie überhaupt erst. Sie könnte als der Überschuß der Institution im Ruf beschrieben werden. Wir können den Ruf so wenig erschöpfen wie die Tatsache, daß wir geboren sind. Er hat uns in ein Leben der Beziehung und der unendlichen Kontingenz gebracht und gibt sich kund als radikale Offenheit und Verwundbarkeit. Diese unendliche Endlichkeit könnte als Überschuß des Rufs in der Institution beschrieben werden (der Institution der Sprache ebenso wie der Institution der Gesetze und des Rechts). Unermüdlich sondiert Derridas Denken diese beiden Exzesse, den Überschuß der Institution im Ruf, im Herzen der Singularität, und den Überschuß des Rufs und seiner Einzigartigkeit in der Institution. Anders gesagt erkundet es eine Logik der Heimsuchung und des Gespenstes, eine »Hantologie«12, die weitreichende Konsequenzen für eine politische Theorie hat. Die Reflexion über die »Endlösung« ist hier wiederum exemplarisch: Ich frage mich, ob eine Gemeinschaft, die sich (ver)sammelt, um jenes zu denken, was an der namenlosen Sache, der man den Namen »Endlösung« beigelegt hat, dem Denken zugänglich ist, jenes, was sich davon aufnehmen läßt, nicht zuerst dem Gesetz des Gespenstes gastfreundlich begegnen muß: sie muß sich gastfreundschaftlich verhalten gegenüber der gespenstischen Erfahrung und dem Gedächtnis des Gespenstes, gegenüber der Erfahrung und dem Gedächtnis dessen, was weder tot noch lebending ist, was mehr ist als bloß tot oder lebending, was einfach über-lebt, Gesetz des Gedächtnisses, das besonders gebiete-
11 Eric Santner: On the Psychotheology of Everyday Life. Reflections on Freud and Rosenzweig, Chicago: Chicago University Press 2001, S. 9. 12 J. Derrida: Marx’ Gespenster. Aus dem Französischen von Susanne Lüdemann, Frankfurt a.M.: Fischer-TB.-Vlg. 1995, S. 27. Lüdemanns Anmerkung zu diesem Begriff erläutert: »Hantologie: abgeleitet von frz. ›hanter‹ (heimsuchen), im Deutschen also etwa die ›Lehre von der Heimsuchung‹ oder vom ›Spuk‹. Wegen der Assonanz von ›Hantologie‹ und ›Ontologie‹ wurde der Ausdruck beibehalten.« (Ebd.) 96
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risch und unabweislich ist, obwohl es dasjenige ist, das am meisten ausgelöscht wurde und auslöschbar ist, und eben deshalb das forderndste ist.13
Die Notwendigkeit, das »Gedächtnis des Gespenstes« willkommen zu heißen, prägt Derridas Einsatz für Gerechtigkeit ganz und gar und findet ihr philosophisches Gegenstück in Begriffen, die Derrida bereits in seinen frühesten Schriften einführte, wie die »Spur«, die »Differänz« und das »Supplement«. »Probatheit von Ergebnissen ist bekanntlich die Sache der Dekonstruktion nicht«, schreibt Anselm Haverkamp, »nicht das Durchschlagen gordischer Knoten, sondern das Aufsuchen ihrer kompliziertesten Schürzung.«14 Der Ort einer besonders komplexen Schürzung, den Derrida immer wieder besucht, ist die Frage des Gedächtnisses, das Gedächtnis des Gespenstes. Die Frage ist nicht so sehr, wie man sich an ein Gespenst »wenden« oder »richten« kann, und ob man sich an es wenden und es befragen kann, sondern, ob man sich »überhaupt«, »im allgemeinen« an irgend jemanden wenden oder richten kann (s’adresser en général), »wenn irgendein Gespenst nicht schon wiederkehrt«. Sich auf Shakespeares Hamlet beziehend fährt Derrida fort: »Zumindest wenn er die Gerechtigkeit liebt, wird der ›Gelehrte‹ der Zukunft, der ›Intellektuelle‹ von Morgen, es lernen müssen, und zwar von ihm, dem Gespenst.« Um sich an den anderen in der Suche nach Gerechtigkeit wenden zu können, muß man zuerst dem »Gesetz des Gespenstes« gastfreundlich begegnen, gerade weil dieses Gesetz des Gespenstes »dasjenige ist, das am meisten ausgelöscht wurde und auslöschbar ist, und eben deshalb das forderndste«, das dringendste ist. »Beloved« ist in Morrisons Roman der Name auf dem Grabstein eines toten Mädchens, dessen lebendigen Namen der Leser niemals erfährt. Die Gewalt ihres Todes und die Brutalität der Sklaverei, die ihn verursachte, bewirken, daß sie das Leben ihrer Mutter, ihrer Brüder und all ihrer Verwandten heimsucht. Von diesem wiedergekehrten und verschwundenen Gespenst schreibt Morrison: »Ent-erinnert und durch nichts belegt, kann sie nicht verloren sein, denn keiner sucht sie, und wenn es jemand täte, wie kann er sie rufen, wenn er ihren Namen nicht kennt?«15 Beloveds Erinnerung ist in der Tat die am meisten ausgelösch-
13 J. Derrida: Gesetzeskraft. Der »mystische Grund der Autorität«, S. 60f., Übersetzung modifiziert. 14 Anselm Haverkamp: Kritik der Gewalt und die Möglichkeit von Gerechtigkeit: Benjamin in Deconstruction, in: Gewalt und Gerechtigkeit, S. 7. 15 Toni Morrison: Beloved (1987/Penguin-Plume 1998). Helga Pfetsch übersetzt den Namen »Beloved« mit »Menschenkind«; Toni Morrison, Men97
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te und am meisten auslöschbare und, wie Morrisons Buch es so eindringlich zeigt, die »forderndste«. Sie ist so unerträglich fordernd, daß ihre Erscheinung am Ende in Unsichtbarkeit zurück verjagt wird. »Es war keine Geschichte zum Weitererzählen.«16 Die Herausforderung, die Derridas Denken an uns richtet, besteht darin, die Dringlichkeit zu erkennen, vom Anderen, vom Namenlosen, vom Gespenst zu »lernen«, wie wir uns an es, an sie wenden können, wie wir ihren Namen lernen können mit dem scharf ausgeprägten Bewußtsein, daß die Suche nach dem Namen und das Lernen des Namen in sich das Risiko beherbergen, ihn zu »verlieren«, zu vergessen, in seiner Singularität zu verraten. Solch ein »Lernen« ist nicht auf die philosophische oder literarische Meditation beschränkt. Es erfordert ein hellwaches politisches Bewußtsein, von dem die folgenden Zitate, die aus jüngeren Texten Derridas stammen, einen ersten Eindruck vermitteln: In unseren »Religionskriegen« gehört die Gewalt zwei verschiedenen Zeitaltern an. Die eine Gewalt scheint […] eine »gegenwärtige« Gewalt zu sein, sie deckt oder verbündet sich mit der Überentwicklung und Überkultivierung der militärischen Fern-Technologie (télé-technologie) – der »digitalen« Kultur und der Kultur des Cyberspace. Die andere Gewalt ist eine »neue archaische Gewalt«, wenn man so sagen kann. Sie ist der Gegenstoß, der sich gegen die erste Gewalt richtet, gegen alles, was diese darstellt. […] Eine neue Grausamkeit verbindet also in Kriegen, die auch Religionskriege sind, die am weitesten fortgeschrittene wissenschaftstechnische Berechenbarkeit mit einer reaktiven Rohheit, die unmittelbar den eigenen Körper des Anderen angreifen möchte, das sexuelle Ding, dem man Gewalt antun kann, das man verstümmeln oder einfach verneinen, verleugnen, seines sexuellen Charakters berauben kann – andere Gestalt derselben Gewalt.17 Die herrschende Macht ist die, der es gelingt, auf einer nationalen oder globalen Bühne in einer gegebenen Situation die Benennung und folglich die Interpretaschenkind. Aus dem Amerikanischen von Helga Pfetsch, Rowohlt 1989/ 2005, S. 373 und 375. Übersetzung modifiziert. 16 Beloved, S. 274f., Menschenkind, S. 373. Vgl. J. Derrida, Marx’ Gespenster, S. 162: »Wie schon sein Name sagt, ist das Gespenst (spectre) die Frequenz einer gewissen Sichtbarkeit. Allerdings die Sichtbarkeit des Unsichtbaren. Und die Sichtbarkeit in ihrem Wesen kann man natürlich nicht sehen, deswegen bleibt sie epekeina tes ousias, jenseits des Phänomens oder des Seienden.« 17 Jacques Derrida: Glaube und Wissen, aus dem Französischen von A. García Düttmann, in: Jacques Derrida und Gianni Vattimo (Hg.), Die Religion, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 86 und 88, Übersetzung leicht verändert. 98
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tion durchzusetzen, also zu legitimieren, sprich: zu legalisieren (denn es geht immer um das Recht), die ihr genehm ist.18
Im gegenwärtigen Kontext von Politik, Religion und dem »Krieg gegen den Terror« sind »Umwälzungen im internationalen Recht« notwendiger denn je. Derrida fährt fort: Ohne in der Lage zu sein zu wissen, wer heute den Namen eines Philosophen verdient (den professionellen Kriterien der Standesverbände traue ich da nicht), bin ich versucht, Philosophen in der Zukunft diejenigen zu nennen, die in verantwortungsvoller Weise solche Fragen durchdenken und diejenigen zur Rechenschaft ziehen, denen die Verantwortung für das öffentliche Wort, die Sprache und die Institutionen des internationalen Rechts obliegt. Ein »Philosoph« (ich würde »Philosoph-Dekonstrukteur« vorziehen) ist, wer den Zusammenhang zwischen dem philosophischen Erbe und der Struktur des noch herrschenden rechtlich-politischen Systems zu analysieren versucht, das sichtbar in Veränderung begriffen ist.19 Man müßte all die Mutationen analysieren: in der Struktur des öffentlichen Raums, in der Interpretation der Demokratie, der Theokratie und ihrer jeweiligen Bezüge zum internationalen Recht (in seinem gegenwärtigen Zustand, in dem, was zu seiner Veränderung drängt oder aufruft und folglich in dem, was in ihm noch weitgehend zu-künftig bleibt), in den Begriffen des Nationalstaats und seiner Souveränität, im Begriff der Staatsbürgerlichkeit, in der Veränderung des öffentlichen Raumes durch die Medien, die der Demokratie zugleich dienen und sie bedrohen usw. Es scheint mir, daß unsere Akte des Widerstands zugleich intellektueller und politischer Natur sein müssen. Wir müssen unsere Kräfte vereinen, um von Gewicht zu sein, Druck auszuüben, Gegenzüge zu organisieren usw., um dies auf der internationalen Skala und in neuen Weisen zu tun, jedoch stets innerhalb einer Analyse und Diskussion der eigentlichen Grundlagen unserer Verantwortung und ihrer Diskurse, ihres Erbes, ihrer Axiome.20
»Die Dekonstruktion ist die Gerechtigkeit«, weil sie zu einer unermüdlichen, prinzipiell unendlichen, weil niemals beendeten Analyse des philosophischen Erbes und seiner juristisch-politischen Systeme aufruft, zu einer Analyse, die untrennbar ist von einer ebenso unendlichen Verantwortlichkeit. Wenn hastige Kritiker aus diesem doppelt ›unendlichen‹ Ruf eine
18 Jacques Derrida/Jürgen Habermas: Philosophie in Zeiten des Terrors. Zwei Gespräche, geführt, eingeleitet und kommentiert von G. Borradori, übersetzt von U. Müller-Schöll, Berlin: Philo 2004, S. 140 und 142, Übersetzung leicht modifiziert. 19 Ebd. 20 Vgl. ebd., 166f., Übersetzung modifiziert. 99
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Verurteilung zu gelähmter Untätigkeit konstruieren, so gestehen sie lediglich ein, daß dieser Ruf unerträglich fordernd ist, daß sein An-spruch so unerträglich ist, daß seine Treue zu denen, deren Stimmen und Erinnerung am meisten ausgelöscht und am meisten auslöschbar sind, in Unsichtbarkeit, Unlesbarkeit, Unhörbarkeit zurück verjagt werden sollte. Das aber ist ihr Problem. Jeder aufmerksame Leser von Derridas Texten weiß, daß die Arbeit, die darauf wartet, getan zu werden, nicht warten kann.21
21 My heartfelt gratitude goes to my friend and colleague Julie Carlson for her astute and inspiring comments and suggestions. 100
EINE
DIFFÉRANCE DER
MARX
MIT
»W E R T E «.
DERRIDA
HANS-JOACHIM LENGER
Folgt man dem Cours de linguistique générale, so operiert die Semiotik mit einem Begriff des »Werts«, den Saussure an prominenter Stelle auch einen »Grundsatz« nennt. Dieser »Grundsatz« bestimme nicht nur den Begriff des sprachlichen Zeichens. Ebenso gelte, daß »auch außerhalb der Sprache alle Werte sich von diesem Grundsatz beherrscht zeigen.«1 Ein jeder »Wert« nämlich, so Saussure, nicht nur der sprachliche, unterliege einer doppelten Relation. So muß man »zur Feststellung des Wertes von einem Fünfmarkstück wissen: 1. daß man es auswechseln kann gegen eine bestimmte Menge einer anderen Sache, z.B. Brot; 2. daß man es vergleichen kann mit einem ähnlichen Wert des gleichen Systems, z.B. einem Einmarkstück, oder mit einer Münze eines andern Systems, z.B. einem Franc.«2 Nicht anders verhalte es sich in den Ordnungen der Sprache und des Sprechens. Hier läßt sich ein Signifikant einerseits gegen eine Bedeutung »auswechseln«, die er als Signifikat hervorruft. Andererseits läßt er sich mit anderen Signifikanten »vergleichen«, die ihn sein lassen, was er ist, indem er nicht ist, was sie sind, und ihn insofern in einer Struktur plazieren, die lediglich Unterschiede, nicht aber Positivitäten kennt. Erst in dieser doppelten differentiellen Relation, die sich ebenso voraussetzt wie entzieht, ebenso manifestiert wie verbirgt, wird sich zeigen, präsentieren oder aktualisieren lassen, was einem Etwas an »Wert« zukommt. Insofern geht der Cours über die Horizonte einer Sprachwissenschaft im engeren Sinn aber auch schon hinaus. Wo er die Frage des »Werts« aufwirft, faßt Saussure bereits eine Art »allgemeiner Ökonomie« ins Auge, die sich zunächst im unscheinbaren Medium einer Analogie ankündigt: Auch außerhalb der Sprache zeigen sich die »Werte« als von ein und demselben Grundsatz beherrscht. Wie hier, so unterstehen sie auch dort und anderswo einem einheitlichen Prinzip. Der »Wert«, der in un1 2
Ferdinand de Saussure: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, Berlin: de Gruyter & Co. 1967, S. 137. Ebd. 101
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terschiedlichen Ökonomien auftritt, unterscheidet sich zwar, je nachdem er in dieser oder einer anderen Ordnung zirkuliert. So manifestieren sich die »strukturalen Werte«, die sich in der Sprache und im Sprechen aktualisieren, in anderen symbolischen Relationen als jene Tausch- und Gebrauchswerte, die in einer »politischen Ökonomie« auftreten. Gleichwohl verhalten sich beide Ordnungen analog zueinander, gehorchen sie doch, Saussure zufolge, einem gemeinsamen Prinzip und werden vom selben »Grundsatz« beherrscht. Erkennbar ruht die Last des Arguments zunächst auf der Evidenz dieser Entsprechung, deren Status sich indes aufs äußerste fragwürdig erweisen wird. Denn sollte hier wie dort und anderswo ein und derselbe »Grundsatz« herrschen, wie Saussure erklärt, so wäre dies ein »Grundsatz«, der sein angestammtes »Territorium« weder in der Sprache noch im Warenverkehr, weder hier noch dort oder anderswo fände. Im mehrfachen Wortsinn wäre er vielmehr ohne »Grund«. Als »Grundsatz«, der »Grund-Satz« nicht sein kann, müßte er als »etwas« gedacht werden, das jede Grundlegung bereits in sich entgründet, jedes Semen in sich dis-seminiert hat. In Figuren einer »Analogie« kündigt sich deshalb bereits bei Saussure an, was jede Vorstellung eines »Systems« ebenso zur Disposition stellt wie die geschlossenen Anordnungen einer »Struktur«. Anders gesagt, erweist sich der Cours von Anfang an als von einer doppelten Bewegung durchkreuzt.3 Einerseits spielt er in dieser Entgründung, die jede »spezifische« Ökonomie durchquert hat und jeden ihrer Terme aus einer Differenz hervorgehen läßt, die ihn von der Ordnung bereits getrennt hat, in der er auftaucht. Indem er einem »Grundsatz« gehorcht, der »Grundsatz« nicht ist, bewegt sich der »Wert« also nicht einfach »innerhalb« jener Ökonomie, die ihn »Wert« sein läßt. Vielmehr ist er von einem Entzug durchkreuzt, der mit den »Grundlegungen« einer ökonomischen Struktur auch den Status brüchig macht, den er als »Wert« in ihr annimmt. Dieser »Wert« erweist sich als in sich entgrenzt, von sich getrennt und insofern als »Wert« im Innersten auch aufs Spiel gesetzt. Hier wird deshalb, wie Derrida in Hinblick auf Saussure festhält, der Begriff des Zeichens selbst fragwürdig. Andererseits aber – und gerade deshalb – muß Saussure, wie jeder Ökonom, alle Anstrengungen unternehmen, diese Entgründung vergessen zu machen. Nur so kann die sprachliche Ökonomie nämlich zum »Gegenstand« einer Wissenschaft werden, kann diese Wissenschaft nach einer Zirkulation von »Zeichenwerten« fragen, die sich innerhalb einer bestimmten Ordnung taxieren und kontrollieren lassen. Anders gesagt, muß jede Ökono-
3
Vgl. Jacques Derrida: Semiologie und Grammatologie. Gespräch mit Julia Kristeva. In: ders., Positionen, Graz, Wien: Passagen 1986, S. 53ff. 102
EINE DIFFÉRANCE DER »WERTE«
mie die Entgründung, die ihrer Genese eingeschrieben ist, ebenso auch gelöscht haben; erst so läßt sie sich als Ökonomie »begründen«. Diesem Spiel gilt deshalb die ungeteilte Aufmerksamkeit Derridas, wo er im Ausgang von Saussure das »allgemeine System dieser Ökonomie«4 befragt. Wie nämlich generiert sich, so fragt Derrida, die Ökonomie von Sprache und Sprechen im Cours? Und worin sollte sie sich abschließen können, um Ökonomie zu sein? Nicht anders als in einer Zirkularität, die ein bestimmtes Element der »Struktur« privilegiert, um es als Supplement ihres eigenen Ursprungs fungieren zu lassen und damit eine bestimmte Ökonomie in sich abzuschließen. Die Sprache, so erklärt es uns Saussure, so zitiert es Derrida, ermögliche zwar das Sprechen; »das Sprechen aber ist erforderlich, damit Sprache sich bilde; historisch betrachtet, ist das Sprechen das zuerst gegebene Faktum«.5 So sehr also die Möglichkeit eines Sprechens aus der Sprache hervorgeht, so sehr soll das Sprechen zugleich deren genealogisches Prinzip gewesen sein: soll es jenes differentielle Gefüge »historisch« bereits hervorgebracht haben, das ihm zu sprechen doch erst erlaubt – ganz so, als sei in der zirkulären Bewegung des Signifikanten die genealogische Frage einer »Produktion« seiner eigenen Struktur nicht nur aufgeworfen, sondern bereits beantwortet. Unschwer ist zu sehen, wie das »Faktum des Sprechens« bei Saussure von hier aus einen Phonozentrismus der Präsenz verbindlich machen wird, der die Möglichkeit des Systems im »lebendigen Sprechen« verankern will. Was immer als sprachliches Zeichen einen systemischen »Wert« haben will, muß auf dieses Sprechen hin verpflichtet werden. In ihm soll das System seine »natürliche« Grundlage, seinen Ausgang und sein télos gefunden haben. Nur so könne es etwa gelingen, gewisse »Mißgeburten«6 auszuschließen, die den Gründungsakt der Ökonomien durchkreuzen, ihrem Gesetz entgehen und die zirkulären Bahnen ihrer Selbstaneignung unterbrechen könnten. Wo immer solche Bahnen dafür bürgen sollen, nicht etwa Mißgeburten, sondern veritable »Werte« zur Welt zu bringen, hat man es also mit einer Konstruktion zu tun, die Bestimmungen einer »Natur« aus dem Vorrang der »Präsenz« hervorgehen läßt. Und deshalb wird der Phonozentrismus, wenn auch unter vielerlei Namen, zum Signum einer jeden Ökonomie, zum Geburtsbrief einer »Ökonomie im allgemeinen« werden. Erst ein Zirkel, der sich phonozentrisch verbrieft, soll den Wechselkurs garantieren können, der Einnahmen und Ausgaben, Investitionen und Erträge überwacht, indem er jedem Term seinen Schickungsort vorgezeich4 5 6
Jacques Derrida: Die différance, In: ders., Randgänge der Philosophie, Wien: Passagen 1988, S. 29. Saussure, ebd., S. 22. – Derrida, ebd., S. 38. Saussure, ebd., S. 37. 103
HANS-JOACHIM LENGER
net hat. Doch ebenso unübersehbar wie unverzichtbar bleibt bei Saussure deshalb auch die Nachträglichkeit, mit der er dies in Szene setzt: nämlich das Sprechen aus einer Struktur auftauchen läßt, die es seinerseits hervorgebracht haben soll. Die »einfache Präsenz«, die sich auf diese Weise herstellen will, ist insofern sich selbst gegenüber bereits verspätet. Und um so eindringlicher wird deshalb die Frage, wie sich das Gewebe von Differenzen seinerseits konstituiert oder produziert, aus dem diese Nachträglichkeit wie ein phantasmatischer Schatten auftaucht, um sich zur Legende seines eigenen Ursprungs verdichten zu können. Eben dies kennzeichnet den »blinden Fleck«, der in jedem zirkulären Schema einer Ökonomie wirksam ist – und beschreibt auch die Tragweite des strategischen Eingriffs, den Derrida vornimmt. »Behalten wir zunächst das Schema, wenn nicht den Inhalt der von Saussure formulierten Forderung bei, so bezeichnen wir mit différance jene Bewegung, durch die sich die Sprache oder jeder Code, jedes Verweisungssystem im allgemeinen ›historisch‹ als Gewebe von Differenzen konstituiert.«7 Von Anfang an setzt sich Derridas Gestus also einer doppelten Opposition aus. Die différance markiert zunächst die Verspätung eines jeden Ursprungs sich selbst gegenüber. Sie zeichnet jenen Bruch im Innern jedes Zirkels nach, in dem sich eine Ordnung umlaufender »Werte« (einer Sprache, eines Codes, eines Verweisungssystems im allgemeinen) herstellen und verbindlich machen soll. Doch um so weniger wird sich dies, andererseits und darüber hinaus, noch in einfachen Begriffen einer »Produktion« oder »Konstitution« adressieren lassen. Auch in diesen Begriffen – oder gerade in ihnen – erhält sich die Fiktion eines »einfachen Ursprungs« nämlich aufrecht. Und insofern sind alle diese Begriffe in sich problematisch, erweisen sie sich als mit einer metaphysischen Erbschaft belastet, die sie immer neu dem Zirkel übereignet; weshalb Derrida auch hinzusetzt: »›Sich konstituiert‹, ›sich produziert‹, ›sich schafft‹, ›Bewegung‹, ›historisch‹ usw. müssen jenseits der Sprache der Metaphysik, in der sie mit allen Implikationen befangen sind, verstanden werden. Es wäre zu zeigen, warum die Begriffe Produktion, Konstitution und Geschichte unter diesem Gesichtspunkt immer noch mit dem verschworen sind, was hier in Frage steht, doch das würde heute zu weit führen – auf die Theorie der Repräsentation des ›Kreises‹ zu, in dem wir eingeschlossen zu sein scheinen […].«8 Es genügt also keineswegs, den repräsentativen Kreisfiguren einer Zirkulation den Terminus einer »Konstitution« oder »Produktion« einzutragen, deren ungeteilte Präsenz die re-präsentative Ordnung einer Ökonomie sodann konstituieren und regulierbar machen würde. All dies 7 8
Derrida, ebd. Ebd. 104
EINE DIFFÉRANCE DER »WERTE«
könnte eine Metaphysik der Präsenz nur verfestigen. Die Analyse bliebe jenem Zirkel verschworen, der sich im transzendentalen Gestus einer »Produktion« um so mehr wiederherstellt, als er sie in sich selbst abschließt. Begriffe der Konstitution oder Produktion tragen insofern bestenfalls vorläufigen Charakter. Sie stellen sich jedoch im gleichen Augenblick zur Disposition, klammern sich sozusagen ein, sobald die »(aktive) Bewegung der (Produktion der) différance«9 selbst zur Frage wird. Kein einfacher Verweis auf die Vorgängigkeit eines sich präsenten »Sprechens«, kein ungebrochener Appell an die produktive Instanz einer »lebendigen Arbeit« wird deshalb ausreichen, um jene »Bewegung« zu fassen, »durch die sich die Sprache oder jeder Code, jedes Verweisungssystem im allgemeinen ›historisch‹ als Gewebe von Differenzen konstituiert«, wie Derrida sagt. Dort und über das hinaus, was Saussure an Substanzbegriffen in differentielle Relationen zerstreut hatte, setzt Derridas Analyse eine Dissemination frei, die jede ungeteilte Präsenz eines einfachen Terms heimsucht – und sei es der eines »ursprünglichen Sprechens«, auf das Saussure sich zurückzieht, oder der einer bestimmten »Arbeit«, auf die Marx rekurrieren wird. Transzendentale Instanzen, in denen sich ein System soll begründen können, werden nicht anders als jede teleologische Perspektive, in der es sich abschließen soll, einer tief greifenden Erschütterung ausgesetzt. Es geht, vereinfacht gesagt, um eine Destruktion, die jeden Versuch unterbrochen hat, das differentielle System einer Ökonomie im Medium eines privilegierten Terms, eines transzendentalen Wortes auf eine Präsenz oder Parusie seiner »Werte« hin zu verpflichten, und sei es im Status ihres »Noch Nicht«. Immer müßte es sich bei einem solchen privilegierten Term um einen Topos handeln, der ebenso transzendentaler Signifikant wie transzendentales Signifikat wäre; oder, wie auch Marx notiert, um ein Wort, das »als Wort aufhörte, bloßes Wort zu sein, als Wort in mysteriöser, übersprachlicher Weise aus der Sprache heraus auf das wirkliche Objekt, das es bezeichnet, hinweist, kurz unter den Worten dieselbe Rolle spielt wie der erlösende Gottmensch unter den Menschen in der christlichen Phantasie«.10 Zwar sucht sich jede Ökonomie in einem solchen messianistischen Fluchtpunkt abzuschließen, um dem differentiellen Spiel zu entgehen, in dem sie sich disseminiert. Überall geht es also darum, »einen Begriff zu denken, der in sich selbst Signifikat ist, und zwar aufgrund seiner einfachen gedanklichen Präsenz und seiner Unabhängigkeit gegenüber der Sprache, das heißt gegenüber einem Signifikantensystem«.11 In nichts 9 Ebd., S. 39. 10 Karl Marx/Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie, MEW Bd. 3, Berlin: Dietz 1969, S. 435. 11 Derrida, ebd., S. 55f. 105
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anderem als dieser Figur einer Absolution besteht der metaphysische Gestus, der mit den Ökonomien im Bunde ist oder jede Ökonomie zur Gestalt einer Metaphysik macht. Doch es gibt kein »privilegiertes Wort«, keinen Begriff, der in dieser Weise in sich selbst Signifikat sein könnte. Jedes Element einer Struktur bezieht sich, woran Derrida unter Berufung auf Saussure erinnern kann, auf ein anderes als sich selbst. Es behält das Merkmal des vergangenen Elements an sich, wodurch es sich ebenso als Beziehung auf ein zukünftiges ausgehöhlt haben wird; unhintergehbar erweist es sich insofern als in sich differentiell. Und dies trennt nicht nur jede Gegenwart von sich; dies zerstört ebenso alle Vorstellungen von Vergangenem oder Künftigem als einer modifizierten Gegenwart. Es destruiert also Ursprungsbegriffe nicht weniger als die erlösenden Teleologien einer ausstehenden, messianistischen Präsenz, wie sie aus Substanzbegriffen abgeleitet werden könnte. »Ein Intervall muß es von dem trennen, was es nicht ist, damit es es selbst sei; aber dieses Intervall, das es als Gegenwart konstituiert, muß gleichzeitig die Gegenwart in sich selbst trennen, und so mit der Gegenwart alles scheiden, was man von ihr her denken kann, das heißt, in unserer metaphysischen Sprache, jedes Seiende, besonders die Substanz oder das Subjekt.«12 Um so eindringlicher zeichnet sich an dieser Stelle das Problem eines ökonomischen »Werts« ab, das Saussure mit Marx teilt. Im Kapital manifestiert es sich in einer nicht weniger schwankenden Begrifflichkeit als im Cours. Denn was erlaubt hier einen Austausch von Münze und Brot, Geld und Leinwand, Tauschwert und Gebrauchswert? Und was einen Vergleich zweier Münzen oder zweier Tauschwerte? Setzt jede Gleichsetzung von »Werten«, die deren Austauschbarkeit begründen soll, nicht einen ihnen gemeinsamen Wertmaßstab voraus, eine »Wertsubstanz«, die ihnen zugrunde läge? Tatsächlich wird die Darstellung dieses Problems bei Marx noch ausdrücklicher als bei Saussure von einer gewissen Logik der Abstraktion beherrscht, die immer neu dazu verführen könnte, den »Wert« auf metaphysische Substanzbegriffe zurückzuführen. Man kennt die Eröffnungszüge im ersten Band des Kapital: Erst sobald von den stofflichen Gebrauchswerten abstrahiert wurde, können die Tauschwerte zum Gegenstand der weiteren Analyse werden; um sodann die Tauschwerte vergleichen zu können, muß eine zweite »Wertabstraktion« erfolgen, die sie auf die Substanz eines »Werts als solchen« zurückführt; wie Marx betont: »Als Kristalle dieser ihnen gemeinschaftlichen gesellschaftlichen Substanz sind sie Werte – Warenwerte.«13 Die Einführung dieses substantiellen »Wertbegriffs« scheint tatsächlich unerläßlich zu sein. Nur über ihn vermittelt lassen sich die Tauschwerte als »Ausdruck« oder »Er12 Ebd., S. 39. 13 Karl Marx: Das Kapital. Erster Band, Berlin: Dietz 1968, S. 52. 106
EINE DIFFÉRANCE DER »WERTE«
scheinung« eines ihnen Gemeinsamen fassen, das zugleich einen Wechsel ihrer Plätze oder ihren Austausch denkbar machen soll. Insofern legt diese Ontologie Abstammungsverhältnisse nahe, die über die Struktur herrschen. Die »Wertsubstanz« soll sich »auskristallisieren« können, die Kristallformen der »Werte« sollen aus einer »Substanz« hervorgehen, deren Abkömmlinge sie sind, auf die sie sich berufen und in der sie sich beglaubigen lassen können. Zumindest ist es dies, was Marx über eine Logik der »gesellschaftlichen Substanz« zu sagen scheint. Ein anderes jedoch, was er tatsächlich schreibt. Wo er sich nämlich auf Einzelheiten einläßt, die eine Genealogie dieses »Werts« lesbar machen sollen, registriert Marx ein Spiel von Differenzen, die sich einer Logik der »Abstraktion« ebenso wenig fügen wie den Linien einer Abstammung. Keine der Gleichungen, in denen sich seine Wertgenealogie niederschreibt, spricht nämlich einfach von einer Sich-selbst-Gleichheit, die so etwas wie eine »Substanz« ankündigen könnte. Denn nirgends sprechen die Marx’schen Gleichungen von einer einfachen Identität der Terme, die sich jeweils auf den zwei Seiten des Gleichheitszeichens positionieren. Vielmehr markieren beide Plätze eine Differenz, die sich zunächst als eine von »Aktivität« und »Passivität« zu erkennen gibt. In der Gleichung x Leinwand = y Rock etwa drückt die Leinwand »ihren Wert aus in Rock, der Rock dient zum Material dieses Wertausdrucks. Die erste Ware spielt eine aktive, die zweite eine passive Rolle.«14 Um den Wert der Ware A festzustellen, muß sie sich also einer Ware B bedienen, die innerhalb des Ausdrucks zu einer gewissen »Passivität« verurteilt wird. Insofern aber kommt B in der Gleichung auch nicht »selbst« zum Ausdruck, sondern verhilft A lediglich zur Darstellung seines »Werts«, der sich allein über diesen Umweg manifestieren und gewissermaßen sogar herstellen kann. Wo immer also ein ökonomischer Ausdruck präsent wird, ist er bereits von einem verschwiegenen Aufschub gezeichnet, der im Wertausdruck gelöscht wurde und in ihm unausdrücklich bleiben muß. Die Identität, die sich auf diese Weise generiert, beruht auf der Unterdrückung einer Differenz; was sich ebenso verbirgt wie anzeigt. Jede Formel einer Wertlogik erweist sich als von einem Aufschub gebrochen, der den Ausdruck sich selbst vorenthält und ihm die Möglichkeit einer »Erfüllung« entzogen hat. Oder, wie Derrida sagt: »Jeder Begriff ist seinem Gesetz nach in eine Kette oder in ein System eingeschrieben, worin er durch das systematische Spiel von Differenzen auf den anderen, auf die anderen Begriffe verweist. Ein solches Spiel, die différance, ist nicht einfach ein Begriff, sondern die Möglichkeit der Begrifflichkeit, des Begriffsprozesses und -systems überhaupt.«15 14 Marx, ebd., S. 63. 15 Derrida, ebd., S. 37. 107
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Nichts anderes zeichnet sich ab, wo Marx seine Genealogie des »Werts« entwirft. Wertbestimmungen manifestieren sich im Zug einer Aktivität, in der sich ein Term auf einen anderen bezieht, der damit zugleich zu einer bestimmten Passivität verurteilt wurde. Immer geht dieses Spiel also mit einem Ausschluß einher, in dem das, was den Ausdruck erlaubt, zum Schweigen gebracht wurde. Stumme Differenz, die einem Spiel ausdrücklicher Wertrelationen entzogen bleibt, das sie doch ihrerseits ermöglicht; doch auf jeder Stufe, auf der sich ein »Wert« manifestiert, wird dieser différance deshalb auch ein Term substituiert, der die Dissemination stillstellen und ihr Spiel auf die Zukunft einer ausstehenden Gegenwart verweisen soll. Dem Gebrechen des »Werts« wird der Imperativ unbegrenzten Mehr-Werts injiziert; sein Prozessieren besteht, anders gesagt, im aussichtslosen Versuch, das Spiel der différance in eine Differenz zurückzunehmen, die sich als »Noch-Nicht« dieses »Werts« metaphysisch beherrschen ließe. Gerade indem sie dies ebenso erlauben wie herausfordern, unterstehen Begriffe von Wert und Mehrwert, wie unverzichtbar sie vorläufig sein mögen, selbst noch einem metaphysischen Diktat. Immer verweisen sie auf das Ausstehen einer Präsenz. Und dies trifft jedes Denken einer »Wertsubstanz« im Innersten, unterminiert die Logik einer Wertakkumulation ebenso wie die Figuren einer Kritik, die sich aus Wertbegriffen speist. Zwar spielt jede Operation, die eine Genealogie von Werten lesbar machen soll, in Differenzen von Signifikanten und Signifikanten, von Tauschwerten und Gebrauchswerten. Um so weniger aber wird sie der différance inne, aus der dieses Spiel von Aktivität und Passivität eines Ausdrucks seinerseits hervorgeht. Insofern wird von hier aus unabweisbar, »warum, was sich durch ›différance‹ bezeichnen läßt, weder einfach aktiv noch passiv ist, sondern eher eine mediale Form ankündigt oder in Erinnerung ruft, eine Operation zum Ausdruck bringt, die keine Operation ist, die weder als Erleiden noch als Tätigkeit eines Subjektes, bezogen auf ein Objekt, weder von einem Handelnden noch von einem Leidenden aus, weder von diesen Termini ausgehend noch im Hinblick auf sie, sich denken läßt.«16 Wo immer nämlich ein ökonomischer »Ausdruck« Platz greift, wo immer Signifikanten und Signifikate, Tauschwerte und Gebrauchswerte in Austauschrelationen eintreten, wo immer sich ihr Spiel von Aktivität und Passivität entspinnt, muß diese différance bereits in Erinnerung gerufen wie verborgen worden sein. Und tatsächlich registriert die Logik der Darstellung, der auch Marx durch alle Stufen einer »Abstraktion« hindurch folgen muß, diesen Aufschub, der nicht »Aufschub von ›etwas‹« ist, sondern als Differenz differiert und deshalb alles destruiert, was sich als »Substanz« adressieren ließe. 16 Derrida, ebd., S. 34. 108
EINE DIFFÉRANCE DER »WERTE«
Folgt man nämlich der Marx’schen Genealogie des »Wertes«, so markiert jeder der Wertausdrücke, bis hin zum »Geldausdruck«, eine Ungleichzeitigkeit in sich selbst, derer sie habhaft werden will, ohne ihrer habhaft werden zu können.17 Zwar ließe sich, um das schweigsam gebliebene B in der Formel A = B zur Sprache zu bringen und so die »Identität« der Formel zu verifizieren, die Wertgleichung umkehren und als B = A schreiben. Tatsächlich aber würden sich auf diesem Umweg nur die Plätze von »Aktivität« und »Passivität« innerhalb des Ausdrucks verschieben, um – in sich selbst verspätet – die Szene einer ebenso vorausdrücklichen Schrift wie die einer nicht-ausdrücklichen Lektüre in Erinnerung zu rufen; wie Marx festhält: »Je nachdem dieselbe Gleichung vorwärts oder rückwärts gelesen wird, befindet sich jedes der beiden Warenextreme, wie Leinwand und Rock, gleichmäßig bald in der relativen Wertform, bald in der Äquivalentform.«18 Diese unhintergehbare Verspätung einer doppelten, in sich differenten Lesart des »Selben« gibt den Ausschlag. Die ideale Identität eines »Wertausdrucks« geht aus der Differenz einer Lektüre hervor, die sich jeder Präsenz entzogen und einem dialektischen Spiel von Identität und Nicht-Identität ebenso entwunden haben muß wie Denkfiguren einer Abstraktion. Ihnen bleibt sie unausdrücklich, ungedacht und undargestellt. Die Gleichung ist nämlich nur »dieselbe«, indem sie vorwärts und rückwärts gelesen wird. In dieser Ungleichzeitigkeit sich selbst gegenüber, die einfacher Ausdruck nicht werden kann, hat sich ihr die Verräumlichung und Verzeitlichung einer Schrift vorausgeschickt, die in der Sphäre ökonomischer Ausdrücke stumm und uneinholbar bleiben muß. Diese Schrift hat jedes Denken einer »Wertsubstanz« bereits destruiert, das in Aktiva oder Passiva operieren und rechnen würde, um Gewinn und Verlust zu kalkulieren, über Einnahmen und Ausgaben zu wachen und eine Zirkulation beherrschbar zu machen, in der jede Investition bereichert an ihren Ausgangspunkt zurückkehrt. Was nun bedeutet dies für eine Logik des »Werts« und dessen différance des Aufschubs, die sich jedem Versuch entzieht, in einer transzendentalen Ordnung stillgestellt zu werden? Und damit für eine »Kritik« oiko-semiotischer Systeme, ganz unabhängig davon, ob es sich bei den Zeichen, die sie zirkulieren lassen, »um mündliche oder schriftliche Zeichen, um Währungszeichen, um Wahldelegation oder politische Repräsentation handelt«?19 Alle Probleme, die die Genealogie einer Struktur aufwirft, scheinen sich darin zuzuspitzen, daß einer »Konstitution« oder »Produktion« der 17 Vgl. Hans-Joachim Lenger: Marx zufolge. Die unmögliche Revolution, Bielefeld: transcript 2004, S. 67-112. 18 Marx, ebd., S. 82. 19 Derrida, ebd., S. 35. 109
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Status einfacher Gegebenheiten, natürlicher Voraussetzungen oder Abstammungslinien entzogen wird. Dagegen wird man festhalten müssen, daß jede Genealogie differentieller Werte im »Medium« einer Verräumlichung und Verzeitlichung spielt, derer sie nicht inne wird. Damit wird aber nicht nur der Begriff des Zeichens fragwürdig, wie Derrida in Hinblick auf Saussure sagt; ebenso wird es die Terminologie von Tauschwerten und Werten, wie sie das Marx’sche Unternehmen bestimmen. Für Ökonomie und Semiotik gilt hier nicht weniger, was Derrida in Hinblick auf die Philosophie festhält, daß sie »in und von der différance lebt und blind ist gegen das Gleiche, das nicht identisch ist. Das Gleiche ist gerade die différance (mit a) als aufgeschobener und doppeldeutiger Übergang von einem Differenten zum andern.«20 Weit davon entfernt, als »Substanz« zum strukturalen Apriori einer ökonomischen Ordnung werden zu können, spielt der »Wert« in der différance als einem Gleichen, das nicht identisch ist, wie Derrida sagt. Alle Versuche, den »Wert« in einer Metaphysik der »Substanz« festzuschreiben, die Operationen von Ausgabe und Einnahme verrechenbar machen soll, leben insofern ihrerseits in und von dieser différance. Und um so blinder bleiben solche Operationen gegen das, was ihnen erlaubt, als Simulakren einer Konstitution oder Produktion in Erscheinung zu treten. Ihnen ruft das stumme »a« der différance, das sich nur lesen, nicht jedoch hörbar machen läßt, in Erinnerung, daß kein Term, der sich von anderen unterscheidet, als genealogisches Prinzip einer Struktur fungieren kann, aus der er doch selbst erst hervorgeht. Nicht anders als der Entwurf Saussures scheint freilich auch das Marx’sche Unternehmen in einem doppelten Register zu spielen, das einen systemischen Abschluß in Szene setzen soll. Wie jener das »lebendige Sprechen« ins Medium einer »sprachlichen« Ökonomie, so führt dieser die »Arbeit« in eine »politische« als jenes Element ein, das sich wie auf Aktualitätsspitzen einer sich selbst präsenten Zeit bewegen soll: »Die lebendige Arbeit muß diese Dinge ergreifen, sie von den Toten erwecken, sie aus nur möglichen in wirkliche und wirkende Gebrauchswerte verwandeln.«21 Diese »lebendige Arbeit« werde inmitten des Totenreichs ihrer Kapitalisierung den geschichtlichen Eklat einer »Revolution« einleiten, um sich der »toten Arbeit«, die auf ihr laste, ebenso zu entledigen wie der Mißgeburten des Kapitals und dessen Tyrannei einer »toten Schrift«. Semiotisch wie ökonomisch sollen die Systeme also auch bei Marx durch eine Instanz eröffnet worden sein (und praktisch kritisierbar werden), die – einer bestimmten Zirkulation entlehnt – zum genealogischen Prinzip verdichtet wird, über das sich zugleich eine Finalisierung 20 Ebd., S. 43. 21 Marx, ebd., S. 198. 110
EINE DIFFÉRANCE DER »WERTE«
des Systems in Szene setzen soll. Durch alle Kristallformen hindurch, zu denen der Signifikant hier, der Tauschwert dort gerann, wird das revolutionäre Fluidum eines »Lebens« beschworen, das der Analyse ihren kritisch-praktischen Index eintragen soll – ganz so, als werde die tyrannische Ordnung des Todes von einem Messias durchquert, der ins Totenreich nur hinabsteigt, um wieder aufzuerstehen und sich selbst als Gebrauchswert hervorzubringen; ganz so also, als solle nunmehr »marxistisch« widerrufen werden, was Marx über die christliche Phantasie eines »übersprachlichen Charakters« der Wörter festgehalten hatte. Um so mehr aber muß jeder Versuch, diese »lebendige Arbeit« in Präsenz zu rufen, aporetisch bleiben. Wo immer sie nämlich Wirklichkeit wird, wo immer sie wirkt, sich ins Werk setzt oder verwirklicht, wird sie von »toter Arbeit« erst dazu angehalten. Nimmt man die Marx’schen Distinktionen nämlich ernst – und alles spricht dafür, da auf ihnen nicht weniger als eine ganze »Metaphysik« der Revolution beruht –, so geht die »lebendige Arbeit« immer aus der »toten« hervor, ist sie deren Derivat, deren Erfindung und möglicherweise nur deren Effekt. Ohne daß er den Konsequenzen nachgegangen wäre, die sich hier ankündigen, hat Marx diesen Sachverhalt selbst mit wünschenswerter Klarheit ausgesprochen: die Arbeit könne als »allgemeine Möglichkeit« des Reichtums nur sein, wo sie »als gegensätzliches Dasein des Kapitals vom Kapital vorausgesetzt ist und andererseits ihrerseits das Kapital voraussetzt«.22 In dieser doppelten, dieser wechselseitigen, sich verschränkenden Voraussetzung aber zerfällt alles, was dem Spiel von »lebendiger« und »toter Arbeit« als gemeinsames ontisches Medium präsupponiert werden könnte. Die fiktive Setzung etwa, es hätte zu einem bestimmten Zeitpunkt eine »erste Arbeit« gegeben, die – wie Saussures »erstes Sprechen« – das Spiel von Kapital und Arbeit in einem alles entscheidenden »historischen« Einschnitt eröffnet hätte, verfiele nicht nur der Aporie, ein bestimmtes Element des Systems in einen »transzendentalen Signifikanten« seiner systemischen Genese verwandelt zu haben. Mehr noch müßte diese »erste Setzung« ebenso verfehlen, was die Marx’sche Feier eines sich selbst präsenten Lebens doch unablässig zu beschwören sucht: diese »erste Setzung« wäre gerade keine Instanz einer lebendigen Präsenz, sondern Niederschrift einer irreduziblen Nicht-Präsenz, Appell an die unvordenkliche Abwesenheit von Toten. Ganz anders also, als die Marx’schen Distinktionen nahe legen, bleibt der Unterschied von »lebendiger« und »toter Arbeit«, auf dem die Vorstellung einer revolutionären Parusie beruht, in sich undenkbar, öffnet sich in ihrem Innern viel-
22 Karl Marx: Grundrisse (Ökonomische Manuskripte 1857/1858), MEW Bd. 42, Berlin: Dietz 1983, S. 218. 111
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mehr ein Chiasmus, der letzthin und auch »marxistisch« unbeherrschbar bleiben wird. In ihm verschränken sich Leben und Tod auf eine Weise, die von den Gespenstern um so weniger frei wird, als sie im »Leben« ebenso wie im »Tod« umgehen. Wo der »Wert«, der sich in den Marx’schen Gleichungen disseminiert, auf ein gemeinsames Maß »lebendiger Arbeit« zurückgeführt werden soll, um ihn substantiell zu binden, wird all diesen Anstrengungen zum Trotz ein gespenstisches Flüstern vernehmbar. Es disseminiert nicht nur die Architektur des Systems, sondern ebenso dessen Kritik. Wenn Derrida deshalb auf dem »Gespenstischen« insistiert, dann trifft dies ins Innerste einer »marxistischen Ontologie«; und dies heißt: es trifft ins Innerste ökonomischer Konstellationen wie deren »Kritik«. Verfehlt wäre also, Derrida unterstellen zu wollen, seine ausdrückliche Auseinandersetzung mit den Marx’schen Gespenstern23 sei Resultat einer späten Hinwendung, etwa eines »political turns« der Dekonstruktion gewesen. Ganz anders: in dem, was sich als »Dekonstruktion« hatte schreiben können, auch ohne den Namen »Marx« auftauchen zu lassen, ist ein »gewisser Marx« immer schon gegenwärtig, als Gespenst oder als Erbschaft, über die sich – nicht anders als mit Saussure – in metaphysisch gebliebenen Begriffen auszusprechen versucht, was sich metaphysisch nicht sagen läßt, jede Metaphysik der Präsenz vielmehr selbst in Frage stellt. So sehr, daß Derrida erklären kann, die Dekonstruktion sei in einem »prämarxistischen Raum unmöglich und undenkbar gewesen. Die Dekonstruktion hat, zumindest in meinen Augen, immer nur den Sinn und Interesse gehabt als eine Radikalisierung, das heißt auch in der Tradition eines gewissen Marxismus, in einem gewissen Geist des Marxismus.«24 Nicht zuletzt um diese Radikalisierung ginge es aber, hier und heute, wo alle Welt den wiederholten »Tod« dieses Marx zum wiederholten Male beschwören will. Eine solche »Radikalisierung« könnte jedoch nicht darin bestehen, die Lebendigkeit des Lebens noch unhintergehbarer, substantieller oder transzendentaler zu fassen, als es Marx gelang. Ganz anders: Wenn die »Arbeit als allgemeine Möglichkeit des Reichtums« ihrerseits das Kapital voraussetzt, wie Marx einräumen muß, dann ist sie als »lebendige Instanz« des Systems ihrerseits immer schon von einem bestimmten »Tod« affiziert. Und um so inniger bliebe jeder Versuch, sie in quasi-transzendentaler Weise zum Ausgangspunkt wie zum Telos des Systems zu machen, von einem metaphysischen Gestus gezeichnet. Er gibt sich nicht zuletzt im beständig wiederholenden Versuch zu erkennen, der eigenen Gespenster Herr zu werden. Zweifellos spürt Marx die Probleme, die 23 Vgl. Jacques Derrida: Marx’ Gespenster, Frankfurt a.M.: Fischer 1995. 24 Ebd., S. 149. 112
EINE DIFFÉRANCE DER »WERTE«
sich hier häufen; nicht umsonst sucht er sie durch einen Rückgriff auf Aristoteles zu beheben. »Vor« aller Wirklichkeit, so paraphrasiert er dessen Metaphysik, sei die Arbeit dynámei, Arbeit der Möglichkeit nach.25 Tatsächlich aber ist eine Möglichkeit aristotelisch konstruierbar nur vom Wirklichen her: Was nicht wirklich werden kann, kann auch nicht der Möglichkeit nach sein, sondern erweist sich vielmehr als unmöglich. Folgerichtig muß Aristoteles darauf bestehen, »daß dem Entstehen und der Zeit nach die Wirklichkeit früher ist als das Vermögen (die Möglichkeit). Aber auch dem Wesen nach ist sie es«.26 Einerseits leitet die Möglichkeit also eine ausstehende Wirklichkeit ein; andererseits ist sie deshalb möglich nur unter der Voraussetzung ihrer möglichen Verwirklichung oder einer dieser Möglichkeit vorausgesetzten Wirklichkeit. Nie beschreibt die Möglichkeit deshalb anderes als das Prinzip einer Ankunft, einer Präsenz oder Parusie jenes Wirklichen in sich, das Marx doch als »tote Arbeit« denunziert, und deshalb bedarf sie letztendlich auch eines Gottes, der sich als ens realissimum diesem Spiel von Möglichem und Wirklichem voraussetzt. Erst im Zeichen einer göttlichen Arbeit ließe sich die Möglichkeit um die Wirklichkeit eines »Ins-WerkSetzens« (en-érgeia) zentrieren; doch gerade dieser Vorrang der Wirklichkeit hat ihre dýnamis auch von Anfang an mit ihrer eigenen Mortifikation affiziert. Um so angestrengter sucht Marx deshalb unter dem Titel einer »lebendigen Arbeit« etwas, was sich vom Tod ein für alle Mal freigemacht hätte, um sich in der Weisung absolutieren zu können, die Toten ihre Toten begraben zu lassen. Doch wäre dies – und erst recht im Zeichen eines »materialistischen« Programms – selbst noch als Niederschlag eines gewissen Hegelianismus zu buchstabieren, der sich als solcher nicht durchschauen konnte. Auch die Phänomenologie des Geistes, vor allem sie, läßt die Arbeit aus einer Todesdrohung hervorgehen, der sie als Arbeit entgehen will, indem sie sie aufschiebt, traumatisch wiederholt, von der sie sich abzustoßen sucht, ohne von ihr freizuwerden. Deshalb ließ sich ihr Versprechen, den toten Gegenstand oder den Gegenstand des Todes »hinwegzuarbeiten«, auch nur im Horizont eines bestimmten »Idealismus« abgeben. Was sich dagegen einer différance der »Werte« zu denken aufgibt, bestünde darin, diese Figur um eine winzige, aber alles entscheidende Nuance zu verschieben; wie Derrida nahe legt: »Sie wissen, daß ich, im Zusammenhang mit der nicht-idealen Äußerlichkeit der Schrift, des Gramma, des Textes usw., nie aufgehört habe zu betonen, daß man diese nie von der Arbeit – einem Wert, der selbst einmal, unab25 Vgl. Marx, ebd., S. 218. 26 Aristoteles: Metaphysik, Hamburg: Meiner 1984, Zweiter Halbband, IX, Kap. 8, 1050a. 113
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hängig von seiner Zugehörigkeit zu Hegel, neu zu überdenken wäre – trennen darf.«27 Dieser »Wert« allerdings wäre kein einfacher mehr und kann es nicht sein. Zweifellos spielt er überall eine Rolle, wo etwas zum Ausdruck kommt, sei’s in den semiotischen, den psychoanalytischen, den politischen, technologischen oder ökonomischen Systemen. Denn überall wird jenes differentielle Spiel zu durchlaufen sein, das einen Term auf einen anderen bezogen haben muß, um »Ausdruck« zu werden. Überall muß der »Wert« also aus einer Differenz auf sich zukommen, über die er doch nicht verfügt. Und überall wird deshalb auch eine bestimmte »Ausbeutung« zu buchstabieren sein, die im Spiel ist, wo ein Ausdruck sich manifestiert, indem sie vielfache Namen annehmen oder Chiffren durchqueren kann. Doch deshalb ist diese »Ausbeutung«, die Marx im widerstreitenden Austausch von Arbeitskraft und Kapital entzifferte, um ihr einen geschichtsphilosophisch singulären Platz zuzuschreiben, auf die Sphäre dieser Ökonomie keineswegs beschränkt. Ebenso wenig läßt sie sich deshalb einfach »geschichtsphilosophisch« verorten. Was Derrida über die Philosophie festhält, erstreckt sich auf alle oiko-semiotischen Ordnungen, in denen sich differentielle Relationen als Zeichen und Ausdruck aktualisieren: sie leben »in und von der différance«, sie sind blind gegen »das Gleiche, das nicht identisch ist«. In allen diesen Ordnungen nämlich wird eine différance zur »Arbeit« angehalten, die sich zum System keineswegs verhält wie eine dýnamis zur enérgeia. Vielmehr unterbricht sie, was immer sich ins Werk setzen ließe, um jenes Flüstern der Gespenster vernehmbar zu machen, in dem sich das Ausstehen einer Gerechtigkeit in Erinnerung ruft. Jede »Arbeit« iteriert das Trauma der Schrift, und dies nötigt dazu, die Systeme der Herrschaft und Knechtschaft, der Unterwerfung und des Aufbegehrens anders zu entziffern. Sollte der Begriff der »Kritik« deshalb noch irgendeinen Sinn haben, dann den, aus der Dekonstruktion seiner eigenen metaphysischen Voraussetzungen hervorzugehen. Das Privileg eines transzendentalen Signifikanten, der das Innere einer bestimmten Ökonomie beherrschbar machen sollte, läßt sich unter solchen Voraussetzungen ebenso wenig noch behaupten wie das Privileg irgendeiner Ökonomie, sich zur hegemonialen Instanz der Gegebenheiten im Ganzen aufzuwerfen. Eine différance der »Werte« disseminiert nicht nur die Architekturen einer »bürgerlichen« Ordnung, sondern nicht weniger die einer »marxistischen« Kritik, die sich im Spiel von dýnamis und enérgeia zu legitimieren suchte. Dies allerdings macht eine »Revolution« im aristotelischen Sinn ebenso unmöglich, wie sie in den unabschließbaren Interventionen einer Dekon27 Jacques Derrida: Positionen. Gespräch mit Jean-Louis Houdebine und Guy Scarpetta, in: ders., Positionen, Graz, Wien: Passagen 1986, S. 128f. 114
EINE DIFFÉRANCE DER »WERTE«
struktion unabweisbar wird. Und immerhin, von hier aus ließe sich auch ein gewisser Marx erneut lesen: »Die Trauer folgt immer einem Trauma. An anderer Stelle habe ich zu zeigen versucht, daß die Trauerarbeit keine Arbeit unter anderen ist. Sie ist die Arbeit selbst, die Arbeit im allgemeinen, ein Zug, anhand dessen man vielleicht den Begriff der Produktion selbst neu überdenken sollte – in dem, was ihn ans Trauma, an die Trauer, an die idealisierende Iterabilität der Exappropriation bindet und damit an die gespenstig-spektrale Spiritualisierung, die in jeder techne am Werk ist.«28
28 Jacques Derrida: Marx’ Gespenster, ebd., S. 157. 115
GENEALOGISCHE DEKONSTRUKTION DES POLITISCHEN UND POLITISCHE DEKONSTRUKTION D E S G E N E A L O G I S C H E N . D E R R I DA U N D N A N C Y Ü B E R G E B U R T UN D G E M E I N S C H AF T ARTUR R. BOELDERL I Der politische Diskurs der Dekonstruktion, die Dekonstruktion als politischer Diskurs, wie Derrida sie in Politiques de l’amitié entwickelt, ist ein Diskurs über zwei Arten des Verständnisses von Geburt(lichkeit), oder vielmehr, dieser Diskurs besteht darin, diese zwei Möglichkeiten eines solchen Diskurses über oder von der Geburt zusammenzudenken: nämlich erstens jenes Denken der Geburt, das die politische »Philologie« (Freundeskunde) von Anfang an geprägt und strukturiert hat (der Freund als der Bruder, die Familie, die Abstammung, das »Geschlecht« im Sinne von genos), und zweitens ein noch ausstehendes Denken der Geburt (wie es sich für Derrida bei Bataille, Blanchot und Nancy vor allem ankündigt), das in der Geburt nicht die Allgemeinheit des »natürlichen« Gesetzes, des Universalen, der »brotherhood of man«, sondern das Ereignis, die Singularität, das Kommende, l’avenir zu erblicken trachtet. Plakativ gesagt: Was die Dekonstruktion zusammenspannt oder -zwingt, ist ein Denken der Gemeinschaft mit Gemeinschaft (als Brüderlichkeit, als Werk), welches auf das Phantasma einer »natürlichen« Geburt rekurriert bzw. diese inszeniert, und ein Denken der Gemeinschaft ohne Gemeinschaft (als »Gemeinschaft derjenigen, die ohne Gemeinschaft sind«, wie Bataille sagt; jener »zukünftigen Philosophen« etwa, von denen Nietzsche sprach und die, für Derrida, »wir« schon gewesen sein werden), welches die Unnatürlichkeit, den »Wahnsinn«, die Monstrosität jeder Geburt anzuerkennen sich bemüht. Es ist keineswegs zufällig, daß sich mit Blick auf die kaum noch bemerkte Rekurrenz des Themas der Geburt in Derridas Œuvre – und vielleicht nur im Hinblick auf dieses – eine fast schon unheimliche Kontinuität und Kohärenz dieses weit ausgreifenden Denkens zeigt, die alle Spe-
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kulationen über irgendwelche Phasen1 oder gar »Wenden« (ethische, politische, religiöse …) der Dekonstruktion nicht nur obsolet macht, sondern nachgerade lächerlich erscheinen läßt. Schon 1966 in Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen schreibt Derrida, es gebe zwei Interpretationen der Interpretation, also des »unüberwindlichen Abstandes«2 – zwischen Ich und »ich«, zwischen Natur und Kultur, Leben und Tod –, dessen Name »Geburt« ist:3 Die eine träumt davon, eine Wahrheit und einen Ursprung zu entziffern, die dem Spiel und der Ordnung des Zeichens entzogen sind … Die andere … bejaht das Spiel und will über den Menschen und den Humanismus hinausgelangen, weil Mensch der Name des Wesens ist, das die Geschichte der Metaphysik und der Onto-theologie hindurch, das heißt im Ganzen seiner Geschichte, die volle Präsenz, den versichernden Grund, den Ursprung und das Ende des Spiels geträumt hat.4
Zwar seien, so Derrida weiter, beide Interpretationen als Lesarten des anthropologischen Selbstverständnisses des Menschen Gegenstände der Wahl bzw. Entscheidung, sie sind, mit anderen Worten, politischer Natur. Die Politizität der Wahl als solcher bestehe aber nicht darin, sich für eine dieser beiden – stets möglichen – aufeinander irreduziblen Interpretationen zu entscheiden, sondern man müsse sich allererst darum bemühen, »den gemeinsamen Boden und die ›différance‹ dieser unreduzier1
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Vgl. Jacques Derrida: »Autrui est secret parce que qu’il est autre«, in: ders., Papier Machine, Paris 2001, S. 367-398, hier S. 389 (zugleich: ders. und Antoine Spire, Au-delà des apparences, Latresne 2002, 50): »Je précise schématiquement ce point pour expliquer que pour certains, l’affirmation se réduisant à la position du positif, la déconstruction soit vouée à reconstruire après une phase de démolition. Non, il n’y a pas plus démolition que reconstruction positive, et il n’y a pas de ›phase‹.« Jacques Derrida: »Ein ›Wahnsinn‹ muß über das Denken wachen«. , in: ders., Auslassungspunkte. Gespräche, Wien 1998, S. 343-368, hier S. 344. Vgl. ebd.: »Man muß das Gesetz dieses unüberwindlichen Abstandes formalisieren können. Das ist in etwa, was ich die ganze Zeit mache. Die Identifikation ist eine Selbst-Differenz, eine Differenz von sich selbst … Der Kreis zurück zur Geburt kann nur offen bleiben, jedoch wie ein Zufall, ein Lebenszeichen und eine Wunde zugleich. Würde er sich über der Geburt schließen, über einer Fülle an Ausdruck oder an Wissen, die behauptet, ›ich bin geboren‹, so wäre das der Tod.« Jacques Derrida: Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen, in: ders., Die Schrift und die Differenz, S. 422-442, hier S. 441. 118
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baren Differenz zu denken«.5 Diese Aufgabe ist es, der sich die Dekonstruktion widmet. Und im Hinblick auf Eigenart, Umfeld und Intention dieses von Anfang an von und mit der und durch die Dekonstruktion anvisierten neuen »Typus … historischen Fragens«, »dessen Konzeption, Bildung, Austragung und Arbeit wir heute nur erst abzuschätzen vermögen«6, läßt Derrida schon in diesem frühen Text keinen Zweifel offen: Gewiß, ich wähle diese Worte mit Blick auf die Vorgänge des Gebärens; doch … mit Blick auf die Vorgänge, die in einer Gesellschaft, von der ich mich nicht ausschließe, den Blick ablenken angesichts des noch nicht Benennbaren, das sich erst ankündigt und dies nur tun kann – so, wie dies jedesmal bei einer Geburt der Fall ist – in der Gestalt der Nicht-Gestalt, in der unförmigen, stummen, embryonalen und schreckenerregenden Form der Monstrosität.7
Worum es also jeweils ginge in der Dekonstruktion, wäre präzise der Moment der Geburt, jener »Zeitpunkt«, wo es schon Zeichen gibt, aber noch kein Subjekt, schon Merkmal, aber noch kein »ich«, Appell, aber noch keine Antwort: »eine bestimmte Markierung, die (vom Anderen) ausging und in absoluter Passivität erlitten wurde«.8 Daß mit dieser Markierung eo ipso bereits die Gemeinschaft im Spiel ist, daß insofern mit ihr das Politische in gewisser Weise immer schon auf dem Spiel steht, liegt auf der Hand, handelt es sich doch bei jenem »Moment der Signatur (des Anderen wie des Selbst), durch die man sich in eine Gemeinschaft oder eine unauslöschliche Verbindung einschreiben läßt«9, zwar um den Moment »eher (der) Geburt des Subjekts … als (der) ›biologische(n)‹ Geburt«10, doch wären es nicht die Dekonstruktion und nicht Derrida, stünde nicht auch von vornherein fest, daß sich diese beiden Momente nicht sauber voneinander trennen lassen – sowenig wie »Kultur« und »Natur«, Schrift und Stimme, Absenz und Präsenz, Tod und Leben –, »bedarf es [doch in beiden Fällen] eines Körpers und eines unzerstörbaren Merkmals«.11 Es sind exakt diese Themen, die mehr als zwanzig Jahre später, ausgehend von einem 1988/89 gehaltenen gleichnamigen Seminar, im 1994 (dt. 2000) in Buchform veröffentlichten Politiques de l’amitié wiederkehren (und nicht nur dort, sondern sehr prominent auch im Gadamer-
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A.a.O., S. 442. Ebd., H.i.O. Ebd. J. Derrida: »Ein ›Wahnsinn‹ muß über das Denken wachen«, S. 345. Ebd. Ebd. Ebd. 119
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Vortrag Der ununterbrochene Dialog, auf den ich andernorts ausführlicher eingegangen bin)12. Politiques de l’amitié verfolgt dezidiert eine »genealogische Dekonstruktion des Politischen«13, die sich zugleich auch als »Dekonstruktion des genealogischen Schemas«14 versteht: Deren »bevorzugter Gegenstand wäre … das Genealogische – wo immer es seine Herrschaft im Namen einer Geburt und einer nationalen Natürlichkeit geltend macht, die nie das gewesen sind, was zu sein man von ihnen behauptet hat«15. Die, wie schon ihr Name anzeigt, gleichsam a priori unmögliche, aber deswegen um nichts weniger notwendige genealogische Dekonstruktion des Genealogischen hat jene Formalisierung des unüberwindlichen Abstandes zwischen zwei Geburten, der biologischen und der, wie man so sagt, sozialen, zum Ziel, die Derrida in einem aufschlußreichen Gespräch mit François Ewald als seine philosophische wie politische Intention erklärt,16 näherhin den Aufweis, daß die biologische Geburt nie nur biologisch und die soziale nie nur sozial gewesen sein wird. Zwar bezeichnet die Geburt einerseits, wie Derrida an Platons Menexenos zeigt, den »Ort der Verbrüderung als eines symbolischen Bandes, das sich als die Wiederholung eines genetischen ausgibt«17 und wird daher, auch wenn man alles daran setzt, sie anders zu denken denn als natürliche Grundlegung einer von daher auch selbst gleichsam im Ruf der Natürlichkeit stehenden Gemeinschaft von Gleichen oder Ebenbürtigen [all dessen also, so Derrida, was »auf den Namen der Demokratie (oder Aristo-Demokratie) hört«18], dennoch nie ganz davor gefeit sein, »(z)uweilen auch den schlimmsten Symptomen des Nationalismus, des Ethnozentrismus, des Populismus, ja der Xenophobie«19 als Grund, Vorwand oder Ausrede zu dienen.20 Insofern sie, die Geburt, als Name für
12 Vgl. ARB, »Ich, ich bin, ich bin geboren«. Die Dekonstruktion spricht die Sprache der Geburt, in: Peter Zeillinger/Matthias Flatscher (Hg.), Kreuzungen Jacques Derridas. Geistergespräche zwischen Philosophie und Theologie, Wien 2004, S. 220-237. 13 Jacques Derrida: Politik der Freundschaft, Frankfurt a.M. 2000, S. 155, Herv. ARB. 14 Ebd., H.i.O. 15 Ebd., H.i.O. 16 Vgl. J. Derrida: »Ein ›Wahnsinn‹ muß über das Denken wachen«, S. 344 (s. Anm. 3). 17 Derrida, Politik der Freundschaft, S. 147. 18 Ebd. 19 Ebd. 20 Vgl. auch a.a.O., S. 136: »Wie in allen Rassismen, in allen Ethnozentrismen, genauer: in allen Nationalismen der Geschichte, regelt ein Diskurs über die Geburt und die Natur, eine physis der Genealogie (genauer gesagt: 120
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ein solches »natürliches« Band »zwischen nomos und physis«21 – das als soziales Band zugleich, »wenn man so will«22, »das Band zwischen dem Politischen und der autochthonen Blutsverwandtschaft«23, »zwischen einem (theoretischen oder ontologischen) Konstativ und einem Performativ (Versprechen, Schwur, Treue … etc.)«24 knüpft – als Phantasma eines unverrückbaren, festen (bebaios) Grundes zugleich unwiderruflich »undurchsichtig« bleibt, »mystisch, der Rationalität wesensfremd, was nicht schon heißt … irrational«25, bezeichnet sie doch andererseits immer auch eine Notwendigkeit, die Notwendigkeit nämlich eines Ereignisses, das sich nicht auf irgendeine Faktizität noch auch auf eine Gegenwart oder Vergangenheit reduzieren läßt. Alles scheint sich dort zu entscheiden, wo die Entscheidung nicht stattfindet, an eben jenem Ort, an dem sie nicht als Entscheidung stattfindet, dort, wo sie einem entzogen ist, wo das, was immer schon stattgefunden hat, sich ihrer bemächtigt, die Entscheidung an sich gerissen haben wird – bei der Geburt …26
Läßt sich die Ereignishaftigkeit der Geburt, ihre Singularität, einerseits zwar nicht im beschriebenen Sinn auf die Faktizität des natürlichen, »biologischen« Vorgangs reduzieren, liegt also das Ideologische der politischen Philosophie von Platon bis Carl Schmitt präzise im Phantasma der Natürlichkeit des Bandes zwischen Natur und Recht, so kann doch andererseits auch jeder dekonstruktive Diskurs zur Entlarvung dieses Ideologems darüber nicht die Notwendigkeit der Bindung als solcher übersehen, geschweige denn außer Kraft setzen. Einer Bindung bedarf es jedenfalls, eines sozialen Bandes, und sei es auch in Form einer »legal fiction« (Joyce)27, deren »Natur« Derrida mit den aporetischen Formulierungen »Bindung ohne Bindung«, »Gemeinschaft ohne Gemeinschaft« usw. zum Ausdruck zu bringen sucht. Es ginge also darum, statt einer »angeborenen Gemeinschaft« eine Gemeinschaft des Geborenseins zu denken. (Hier tritt für mich Nancy auf den Plan, dessen Entwurf einer Sozialontologie sich, unter Berücksichtigung der eben erwähnten Differenzierung zwischen »angeborener Gemeinschaft« und »Geburtsgemein-
21 22 23 24 25 26 27
ein Diskurs oder ein Phantasma der genealogischen physis) die Bewegung der jeweiligen Gegensätze …« A.a.O., S. 147, H.i.O. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. A.a.O., S. 146. Vgl. a.a.O., S. 138. 121
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schaft« auf den – gewiß verkürzt-verkürzenden – Nenner bringen ließe: Die Gemeinschaft der Geburt ist die Geburt der Gemeinschaft. Dazu unten mehr.) Nicht wirkliche oder natürliche Verwandtschaft wäre es dann, die eine dauerhafte Freundschaft stiftete, keine Gemeinsamkeit von Herkunft und Geburt, die in die Homogenität und Homophilie einer auf Affinität beruhenden Verbrüderung mündete28, sondern jenes stets der Chance anheimgegebene »vielleicht«, dessen Vergessen und Verdrängung der griechische Gedächtnisakt – das Andenken der Toten, die Treue gegenüber den Gespenstern der wohlgeborenen Väter, welche den Erben ihre politische Wahrheit ins Gedächtnis ruft – von jeher zugearbeitet hätte,29 ein Vergessen der Geburt zugunsten des Todes im Wege einer Überlagerung, ja Identifizierung von biologischer und sozialer Geburt, von Sein und Haben (man müßte hier vielleicht ausführlicher auf Lacans Überlegungen zur Möglichkeit resp. Unmöglichkeit des Übergangs vom »Einen-Vater-haben« zum »Ein-Vater-sein« eingehen): ein »Vergessen des vielleicht, der Entscheidung ohne Entscheidung, des absolut Eintreffenden«30 der Geburt. Diese – in der Form des »vielleicht«, man könnte auch sagen: in ihrer allerhöchsten Unwahrscheinlichkeit, die von den Geborenen als den Überlebenden negiert oder verdrängt wird, verdrängt werden muß – ist es nämlich, »was der Entscheidung entgeht, ihr vorausgeht und sie ermöglicht«.31 Hierbei handelt es sich zweifelsohne um ein Bataillesches Motiv, das den Duktus der Dekonstruktion (bei Derrida wie bei Nancy) von Anfang an begleitet und ihn in gewisser Weise auch immer wieder skandiert – hatte doch Bataille (ausgerechnet er, der Thanatologe – aber man kann wohl Thanatologe nur sein, insofern und indem man auch Natologe ist!) mit Bezug auf das in jeder Geburt liegende Versprechen auf dessen beunruhigende Ungewißheit (»vielleicht«) aufmerksam gemacht, als er schrieb: »Ich bemerke die Unsicherheit [auch: Widerruflichkeit] des Seins in mir. Nicht diese klassische Unsicherheit, die auf der Notwendigkeit zu sterben beruht, sondern eine neue, tiefere, die auf der geringen Aussicht beruht, die ich hatte, (überhaupt) geboren zu werden.«32 Kein emphatisches Versprechen also, keine Bekräftigung 28 29 30 31 32
Vgl. a.a.O., S. 138f. Vgl. a.a.O., S. 148f. A.a.O., S. 149, H.i.O. A.a.O., S. 150. Georges Bataille: Œuvres complètes, Bd. VI, S. 444: »J’aperçois la précarité de l’être en moi. Non cette précarité classique fondée sur la nécessité de mourir, mais une nouvelle, plus profonde, fondée sur le peu de chances que j’avais de naître.« Hier zitiert nach Peter Bürger, Das Verschwinden des Subjekts. Eine Geschichte der Subjektivität von Montaigne bis Barthes, Frankfurt a.M. 1998, S. 156 (Übers. modifiziert). Bürger kommentiert 122
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oder gar Versicherung (bebaios), vielmehr ein Produkt des Zufalls, Gegenstand eines abgrundtiefen Nichtwissens eher denn eines absoluten Wissens – dessen Emblem ungleich mehr die Geburt, meine Geburt, die Geburt dieses Individuums ist denn der Tod des einmal geborenen Individuums. Letzterer entbehrt vielmehr gerade jener radikalen Kontingenz und Offenheit, die die Geburt kennzeichnen. Das wäre es mithin, was in einer genealogischen Dekonstruktion der Genealogie, die – vielleicht – in eine andere als die von Geburt an vorbestimmte Politik der Freundschaft als Brüderlichkeit münden könnte, auf dem Spiel stünde, Dekonstruktion, deren Möglichkeit darauf beruhte, daß in diesem Begriff (dem einer genealogisch begründeten Demokratie) etwas »überdauert oder widersteht, um nicht aufzuhören, uns den Weg zu weisen«33; daß man, anders gesagt, im Zuge der Dekonstruktion »all der Prädikate, die in jenem Begriff zusammentreten, … unweigerlich auch auf das Gesetz der Geburt und Abstammung stößt, …, auf das Gesetz der Homophilie und des Autochthonen, und auf jene staatsbürgerliche Gleichheit (die Isonomie), die sich auf die Gleichheit der Geburt (die Isogonie) gründet«.34 Genau das ist Derridas Frage und zugleich der Auftrag, den anfänglich zu übernehmen sich Politiques de l’amitié widmet: »Sollte im alten Begriff der eudoxia (Ansehen, Einwilligung, Meinung, Urteil) und im Begriff der Gleichheit (Gleichheit der Geburt, isogonia, und Gleichheit der Rechte, isonomia) ein doppeltes Motiv angelegt sein, das, anders interpretiert [ich unterstreiche, ARB], die Demokratie ihrer autochthonen und homophilen Verwurzelung zu entreißen vermag?«35 Indem ich einen gewissen Registerwechsel vollziehe, werde ich versuchen, im folgenden die Konturen dieser von Derrida im Wege einer genealogischen Dekonstruktion der Genealogie anvisierten »anderen Interpretation« jener für die Demokratie in ihrer griechischen, autochthonhomophilen Form als Gemeinschaft von gleich und frei geborenen Brüdern konstitutiven Gemeinschaft der Geburt zu zeichnen. Ich werde dazu insbesondere auf die einschlägigen Texte von Jean-Luc Nancy zurückdiese Stelle seinerseits so: »Zwar vermag er (sc. Bataille) die Einheit des Ich (›l’unité intime dont j’ai l’expérience‹; OC VI, 444) nicht zu leugnen, denn andernfalls könnte er nicht von Erfahrung sprechen; aber er begreift das Ich nicht als Grundlage allen möglichen Wissens, sondern als Resultat einer unendlichen Zahl von Zufällen. Hat doch die Geburt eines unverwechselbaren Einzelwesens nicht nur die Begegnung seiner Eltern zur Voraussetzung, sondern auch das viel unwahrscheinlichere Zusammentreffen der Zellen, aus denen es und kein anderes entstanden ist.« (Ebd.) 33 J. Derrida: Politik der Freundschaft, S. 154. 34 Ebd. 35 Ebd., H.i.O., außer wo anders vermerkt. 123
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greifen; schlagwortartig ließe sich der Zuschnitt dieser »anderen Interpretation« des Politischen nach Derrida und Nancy so angeben, daß es um die unmögliche, aber notwendige Herausstellung (die communécessance) einer quasi-transzendentalen – Nancy scheut sich bekanntlich nicht einmal zu sagen: ontologischen – Gemeinschaft der Geburt (communaissance) ginge, der es gelänge, jede Idealisierung, Genealogisierung, sprich: Naturalisierung des mit dieser Chiffre angezeigten unwiderruflichen »Seins-in-der-Gemeinschaft« (jede communessence) zu vermeiden (im Bewußtsein dessen, daß sie immer möglich sein wird) – oder, noch einmal anders ausgedrückt, um die Herausstellung jenes GemeinSinns/sens commun (commun-sens), der, so Nancy, »wir sind« und der jedem Common sense entgeht und enträt: eine Bewegung de la communessence à la commu-naissance, vom gemeinsamen Wesen zum Gemeinsam- oder Mit-(geboren-)Sein bzw. Gemeinsam-erscheinen (comparence), deren unbeweifelbare gemeinsame Notwendigkeit (communecessance) gleichwohl unaufhörlich von ihrem eigenen Hang, zum Ende zu kommen (commu-ne-cessance), sich in einer konkreten Gemeinschaft, einer bestimmten Politik zu vollenden, bedroht wird.36 Denn: »Es braucht das Vergessen«37; die Geburtsvergessenheit, als welche sich die Heideggersche Seinsvergessenheit dem dekonstruktiven Blick darbietet, ist, als Vergessen der eigenen Endlichkeit, dem auch die Reflexion auf den Tod, das Sterblichsein nichts anhaben kann, radikaler als die Todesvergessenheit. So ist der Tod zwar »die höchste Prüfung dieser EntBindung«38, welche das Mit-sein freisetzt, aber er ist nicht selbst diese Ent-Bindung (das liefe auf eine Opferlogik nach Maßgabe jener mythischen Gemeinschaft des Todes hinaus, in deren unabweislicher Nähe Nancy Heideggers »Volksgemeinschaft« ansiedelt, eine Gemeinschaft, deren soziales Band gerade nicht »in der [nicht-positiven] gemeinsamen Bejahung der Entbindung …, der einmütigen Einwilligung in die Entzweiung«39 bestünde, auf welche es Derrida ankommt). Die Ent-Bindung 36 Ein – vorerst – letztes Wort zu diesen Wortspielen, die nicht nur Spiele sind: Man kann in ihnen jeweils auch das »comme«, das »Wie« oder »Als« (mit-)hören, auf das Derrida zufolge die Dekonstruktion zuerst und zunächst zielt: comme une essence, comme une naissance, comme un sens – wie ein Wesen, wie eine Geburt, wie ein Sinn … 37 J. Derrida: Politik der Freundschaft, S. 394. 38 Ebd. 39 A.a.O., S. 87. – Zur für die Dekonstruktion insgesamt entscheidenden Redewendung von der »nicht-positiven Bejahung« und ihrer »Genealogie« bei Bataille und Foucault vgl. auch ARB, [no subject] oder die Geburt des »ja« aus dem Geiste der Verschwindung des Körpers, in: Heinrich Schmidinger/Michael Zichy (Hg.), Tod des Subjekts? Poststrukturalismus und 124
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– und daß es sich bei diesem Terminus um ein Synonym von Geburt handelt, wäre alles andere als zufällig –, »ohne die keine Freundschaft jemals das Licht der Welt erblickt hätte«40, die Geburt also, sie impliziert das Leben und den Tod, la-vie-la-mort, ist gleichsam die Möglichkeitsbedingung jenes von Derrida so oft strapazierten Über-lebens, das der Tod seinerseits nicht beendet, sondern allererst konstituiert, insofern zwar das Leben, dem der Tod ein Ende setzt, durch dessen Eintreten beendet, die Geburt dadurch aber nicht aufgehoben oder vielmehr ungeschehen gemacht wird.
II In einem frühen Brief (1766) an Moses Mendelssohn stellt Kant die Frage in den Raum, »ob aus unseren Erfahrungen jemals eine solche Kenntnis von der Natur der Seele möglich sei, die da zureiche, die Art ihrer Gegenwart im Weltenraume sowohl im Verhältnis auf die Materie als auch auf Wesen ihrer Art daraus zu erkennen«, und knüpft daran die Erwartung, daß sich dann erst zeigen werde, »ob Geburt (im metaphysischen Verstande) Leben und Tod etwas sei, was wir jemals durch Vernunft werden einsehen können«.41 Vermittelt durch Heideggers Todesanalyse und die Kritik an deren Einseitigkeit, gibt Nancys Buch Die undarstellbare Gemeinschaft gleichsam eine Antwort auf diese Frage. »Das Politische darf … weder zur Aufhebung noch zum Werk der Liebe oder des Todes werden«42, das heißt, die Gesellschaft als eine jeweils kontingente Form des Aufzehrens der Gemeinschaft kann weder einerseits die Liebe vollenden noch andererseits den Tod aufheben, oder, wie Derrida einmal formuliert: »Pardon, nicht der Tod ist das Unmögliche, sondern das Leben.«43 Bezeichnenderweise ist es die Geburt eines Kindes, das Zur-WeltKommen einer neuen Singularität gleichsam, die Nancy zur Verdeutlichung dieser seiner Bestimmung des Politischen heranzieht. Wie sich
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christliches Denken, Innsbruck 2005 (= Salzburger Theologische Studien, Bd. 24). J. Derrida: Politik der Freundschaft, S. 394. Zitiert nach Lucien Goldmann, Mensch, Gemeinschaft und Welt in der Philosophie Immanuel Kants, Zürich 1945, Neuauflage Frankfurt a.M., New York und Paris 1989, S. 11 (= Theorie und Gesellschaft, Bd. 12). Jean-Luc Nancy: Die undarstellbare Gemeinschaft, Stuttgart 1988, S. 87. In einem Brief an Jochen Wagner, zitiert im Programmfolder zur Tagung Auf Leben und Tod. Philosophische Passagen um Jacques Derrida (Evangelische Akademie Tutzing, 20.-22. März 1998). 125
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den Liebenden »in ihrer Liebe selbst … ihre jeweilige Singularität dar(bietet), ihre Geburt und (ihr) Tod«, so entzieht sich den Liebenden andererseits die »(eventuelle) Geburt ihres Kindes«, denn: »Diese Geburt teilt eine andere Singularität mit, sie stellt kein Werk her.«44 Das Kind, weit davon entfernt, ein »Keim der Unsterblichkeit«, »des ewig sich aus sich Entwickelnden und Zeugenden« zu sein, wie Hegel es verstanden wissen wollte, »vollendet nicht die Liebe, es teilt sie von neuem mit« (ebd.), setzt sie der Gemeinschaft »erneut« aus, kommuniziert sie, so wie die Liebenden ihre Mit-Teilung zwar zunächst sich selbst darbieten, dies aber zugleich nicht anders tun können denn »inmitten einer gesamten Gemeinschaft und vor deren richtendem Auge«45. In diesem Sinne markieren die Liebenden »in besonderem Maße die Entwerkung der Gemeinschaft« (ebd.), exponieren sich und sie an ihrer Grenze und als diese. Was sich von der Gemeinschaft darbietet, ist nichts – nichts anderes als diese Grenze zwischen den Singularitäten, den Körpern, die sich einander mit-teilen, wie phänomenologisch besonders die Geburt eine Singularität mit-teilt. »Es gibt die Gemeinschaft, deren Mit-Teilung und die Darbietung dieser Grenze.«46 Diese »Darbietung der Grenze«, verstanden als »Bahnung der Singularität« (vgl. »Geburt«), ist »das Politische«: »›Politisch‹ würde bedeuten, daß eine Gemeinschaft sich auf die Entwerkung ihrer Kommunikation hin ausrichtet oder zu dieser Entwerkung bestimmt ist: eine Gemeinschaft also, die ganz bewußt die Erfahrung ihrer Mit-Teilung macht.«47 Mag Gemeinschaft also immerhin undarstellbar sein, so ist sie doch deswegen nicht unerfahrbar: Man erfährt sie vielmehr »in irgendeiner Weise als Kommunikation« (ebd.). Diese Erfahrung der Kommunikation, der Mit-Teilung des Seins, ist die soziale Erfahrung, eine erfahrbare »Ontologie« des Sozialen, der Gemeinschaft, die nicht nicht gemacht werden kann: »… in jedem einzelnen Augenblick teilen singuläre Seiende ihre Grenzen mit-einander, sie teilen sich auf ihren Grenzen mit.«48 Es ist diese sozialontologische Ebene der menschlichen Existenz, die allen sozialphilosophischen Entwürfen und Konzepten vorausgeht und ihnen undarstellbar zugrundeliegt: Zwischen den singulären Seienden, das heißt zwischen uns, bestehen nicht »die Beziehungen der Gesellschaft (sie sind weder ›Mutter‹ und ›Sohn‹, noch ›Autor‹ und ›Leser‹, weder ›öffentliche Person‹ und ›Privatmensch‹ noch ›Produzent‹ und ›Konsument‹), vielmehr sind sie in der Gemeinschaft, sind entwerkt« (ebd.). Diese im ursprünglich ersten Text über die Gemeinschaft von 44 45 46 47 48
Jean-Luc Nancy: Die undarstellbare Gemeinschaft, Stuttgart 1988, S. 86. Ebd., S. 85. Ebd., S. 86. Ebd., S. 87. Ebd., S. 89. 126
GENEALOGISCHE DEKONSTRUKTION
1983, Die entwerkte Gemeinschaft, finale Bestimmung derselben antizipiert jene von Nancy später getroffene Bemerkung, er – oder vielmehr »ich« – sei »nichts von dem, was ich sein soll (Ehemann, Vater, Großvater, Freund)«, wenn nicht »unter der sehr allgemeinen Bedingung … verschiedener Eindringlinge, die jederzeit meinen Platz im Verhältnis zum anderen oder in der Vorstellung des anderen einnehmen können«49, Bedingung, die also – qua Bedingung (im kantischen Sinn einer Bedingung der Möglichkeit) – jeder sozialen Rolle bzw. deren Übernahme oder Erfüllung vorausgeht wie die Gemeinschaft der Gesellschaft. In leicht polemischer Absicht könnte man daher formulieren: »Ich« bin – oder: Ich »bin« – nichts als meine soziale Rolle, aber dieses »nichts« ist entscheidend, markiert es doch die Grenze zwischen mir und »mir«, zwischen uns, jenes undarstellbare Medium der Vorstellung, dessen es doch bedarf, um zu »sein«: Die Gemeinschaft besteht aus der Unterbrechung der Singularitäten … Sie ist nicht ihr Werk, sie besitzt jene nicht als ihre Werke, wie auch die Kommunikation kein Werk, noch nicht einmal das Wirken singulärer Wesen ist: Denn sie ist einfach ihr Sein – ihr auf seiner Grenze in der Schwebe gehaltenes Sein. Die Kommunikation ist die Entwerkung des sozialen, ökonomischen, technischen und institutionellen Werkes.50
Darin besteht die politische Funktion dieses sozialontologischen Verständnisses von Kommunikation. Prinzip dieser Kommunikation wie des Politischen ist aus dekonstruktiver Sicht – im Unterschied zu Theorien des politischen Handelns, die auf einem idealen Begriff von Kommunikation basieren – gerade deren »Unvollendetbleiben«51, nicht ihr (faktisches oder kontrafaktisches) Glücken. Der Übergang, den die Kommunikation zwischen uns bildet, kennt keine Vollendung (vgl. ebd.). Dieses Unvollendetbleiben ist aber kein Siegel des Scheiterns von Kommunikation oder Gemeinschaft, sondern gerade deren »Wesen«; es bezeichnet »nicht eine Unzulänglichkeit oder einen Mangel, sondern« – »als aktive(r) Begriff« – im Gegenteil »die Tätigkeit des Mit-Teilens, sozusagen … die Dynamik des Übergangs, des ununterbrochenen Entlanggehens an singulären Brüchen«52, man müßte vielleicht präzisieren: auch keine reine Tätigkeit im Sinne des Aktivs, sondern grammatikalisch eher dem entsprechend, was die Griechen als Medial kannten, ein unentschiedenes 49 Jean-Luc Nancy: Der Eindringling. Das fremde Herz, Berlin 2000, S. 45/47, Übers. mod. ARB. 50 Jean-Luc Nancy: Die undarstellbare Gemeinschaft, Stuttgart 1988, S. 70. 51 Ebd., S. 76. 52 Ebd., S. 76f. 127
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(also nicht synthetisches) »Mittelding« zwischen Aktiv und Passiv – »eine entwerkte und entwerkende Tätigkeit«.53 Kommunikation in diesem Sinne, unvollendet-unvollendende Mit-Teilung des Seins, stünde also für die sozialontologische »Wahrheit« des dekonstruktiven Hinweises auf das »Wirken« der différance »in allen Dingen«54 und offenbarte so die sozialphilosophische Relevanz der Dekonstruktion, insofern »Unvollendung« ein Offenhalten-für meint, das die Gemeinschaft unbeschadet ihres unablässigen Verschleißes am Leben erhält. »Es geht nicht darum, eine Gemeinschaft zu bilden, herzustellen oder einzurichten, auch nicht darum, in ihr eine heilige Macht zu verehren oder zu fürchten – vielmehr geht es darum, ihre Mit-Teilung nicht zur Vollendung zu bringen«55, mit anderen Worten, Widerstand gegen die Immanenz zu leisten. Diesem Offenhalten-für korrespondiert wiederum das Schreiben-für, das Nancy mit Georges Bataille als Vollzugsform der Verpflichtung auf die Gemeinschaft erkennt, was ihn zur Rede von der sozialphilosophischen Bedeutung der »Literatur« – als Darstellungsform der undarstellbaren Gemeinschaft – führt: Man »schreibt immer für«, daher darf man »nicht zu schreiben aufhören, man muß unermüdlich die singuläre Bahnung unseres Gemeinsam-Seins sich darbieten lassen«56. Das Schreiben oder die »Literatur« stehen für jene Bewegung der Mit-Teilung, die Nancy an anderer Stelle als »Entwerkung in ihrer singulären ›Aktivität‹« bezeichnet, als »Verbreitung«, »Übertragung« oder eben »Kommunikation« wessen? – »der Gemeinschaft selbst, die sich durch ihre Unterbrechung selbst verbreitet oder ihre Übertragung mitteilt«57. Wieder ist, was da als Mittel des Widerstands gegen die Immanenz veranschlagt und anempfohlen wird: das Schreiben oder die Literatur, Metapher für ein Gewahrwerden der Geburtlichkeit des Menschen, der Geburt als Zeichen des Seins-in-der-Gemeinschaft, welches quer zur ganzen abendländischen Tradition der Philosophie steht. »Seinsvergessenheit« (Heidegger), »Geburtsvergessenheit« (Arendt/Sloterdijk) und »Gemeinschaftsvergessenheit«, das »Vergessen der Philosophie«58 (im Sinne eines – sträflichen – Versäumnisses, dessen sich dieselbe schuldig gemacht hat), sind eins. Die Kommunikation der Gemeinschaft
53 Ebd., S. 77, Herv. ARB. 54 Vgl. Jacques Derrida: Die différance, in: ders., Randgänge der Philosophie, Wien 1988, S. 29-52, bes. 34. 55 Jean-Luc Nancy: Die undarstellbare Gemeinschaft, Stuttgart 1988, S. 77. 56 Ebd., S. 88, H.i.O. 57 Ebd., S. 129, H.i.O. 58 Vgl. Jean-Luc Nancy: Das Vergessen der Philosophie, Wien 22001. 128
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unterbricht die Verschmelzung, sie läßt die Einswerdung in der Schwebe, und dieses plötzliche Anhalten, diese Unterbrechung, führt von neuem auf die Kommunikation der Gemeinschaft zurück. Diese Unterbrechung bringt, anstatt etwas zu schließen, von neuem die Singularität an ihre Grenze, das heißt, sie setzt sie der anderen Singularität aus. Anstatt sich in einem Todeswerk und in der Immanenz eines Subjektes zu vollenden, teilt sich die Gemeinschaft dadurch mit, daß sich Geburten wiederholen und ausbreiten: Jede Geburt exponiert eine andere Singularität, eine zusätzliche Grenze und folglich eine andere Kommunikation.59
Die so (als Mit-Teilung des Seins-in-der-Gemeinschaft) verstandene Geburt ist aber »nicht das Gegenteil des Todes«, hebt ihn nicht auf: … der Tod dieses singulären soeben geborenen Seienden ist schon in dessen Grenze eingeschrieben und wird durch sie mitgeteilt. Es ist schon seinem Tode ausgesetzt und setzt uns mit ihm zusammen dem Tode aus. Das bedeutet aber im (w)esentlichen, daß dieser Tod wie auch diese Geburt uns entzogen sind, daß sie weder unser Werk noch das Werk der Kollektivität sind.60
Hieran wird eine m.E. entscheidende Modulation ersichtlich, die Nancy unter Rückgriff auf Heidegger, Bataille und Derrida am abendländischen Denken vornimmt und die die Philosophie des 20. Jahrhunderts, deutlicher noch, als es bei Levinas der Fall ist, in eine Richtung drängt, in der die traditionelle Auf- und Einteilung der philosophischen Disziplinen Metaphysik/Ontologie und Ethik unterlaufen werden und, vielleicht, unter dem neuen Dach der Sozialphilosophie – einem politischen Denken der Zukunft (gen. subj. und obj.), das nicht immer schon auch Politische Philosophie im traditionell-disziplinären Sinn dieser Rubrik wäre – zusammen Platz fänden. Daß der Impuls zu dieser Bewegung von einer philosophischen Bedachtnahme auf das Phänomen nicht nur der Sterblichkeit des Menschen, sondern auch und vor allem seiner Geburtlichkeit und einem Neudenken des Körpers ausgeht, wäre dabei keineswegs zufällig. Die hier angesprochene philosophische Bedeutsamkeit des Todes ist ein zentrales Thema der Dekonstruktion, die meisten von Derridas Schriften umkreisen es, und es ist auch entscheidend für Nancys Argumentation in der Undarstellbaren Gemeinschaft. Indes: Es bleibt nicht ohne Supplement, sozusagen. Ich erinnere nur daran, daß sich Die undarstellbare Gemeinschaft explizit dem Anliegen widmet, die von Heidegger in Sein und Zeit zwar erschlossene, dann aber vernachlässigte Di-
59 Jean-Luc Nancy: Die undarstellbare Gemeinschaft, Stuttgart 1988, S. 129. 60 Ebd. 129
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mension des Mit-seins zum Ausgangspunkt nicht nur einer Relektüre, sondern, ungleich umfassender, einer Re-écriture der Analysen von Sein und Zeit zu machen. Die unmittelbar politische Motivation einer solchen Intention liegt auf der Hand, sie wird nicht zuletzt an den Stellen, wo es um die Kritik am Totalitarismus von rechts wie von links gleichermaßen und um die Erfahrung des »Lagers« geht, überdeutlich. Im Mittelpunkt dieser von Heidegger her inspirierten, diesen zugleich aber selbst kritisierenden Kritik steht die Idee von einer »Gemeinschaft des Todes«, die, wie Nancy nicht müde wird zu zeigen, das Abendland in einem gar nicht zu überschätzenden Ausmaß bestimmt hat und die auf die – in sich mythisch-ideologische – Annahme hinausläuft, der Tod, mein Tod, könne in einer künftigen Gemeinschaft Rechtfertigung erfahren, ja, aufgehoben werden, zu deren Gunsten – um sie zu ermöglichen oder herbeizuführen – ich mich opfere. Diese Idee unterfüttert selbstverständlich – und nachgerade exemplarisch, ist man versucht zu sagen – auch das Werk von Carl Schmitt, dem Derridas Politiques de l’amitié sich (nicht ohne Verweis ihrerseits auf Nancy) widmen. Sie unterfüttert aber auch und vor allem gerade auch noch die gegenwärtigen, vorgeblich unideologischen61 Konzeptionen einer ursprünglichen Gemeinschaft, die zum Maßstab aktueller politischer Entscheidungen genommen wird; sie nimmt im besonderen die Gestalt einer gewissen Nostalgie für vergangene Gemeinschaften an, derer man zwar irgendwie im Laufe der Geschichte verlustig gegangen sei, die man aber mit entsprechender Anstrengung (verbunden mit gewissen Opfern eben) jederzeit wiederherzustellen sich bemühen könne. Die europäische Geschichte und damit die Geschichte der Philosophie, ja die Geschichte überhaupt, Geschichte »als solche« sei nie anders denn auf dieser Grundlage einer verlorenen Gemeinschaft gedacht worden, die es wiederzugewinnen oder wiederherzustellen gelte, so Nancy. Die Mittel zur Bekämpfung oder Entkräftung dieser Idee findet Nancy nun in erster Linie bei der erwähnten Heideggerschen Todesanalyse und deren Kritik des metaphysischen Subjektverständnisses, nicht ohne aber auf deren Unzulänglichkeiten bzw. Selbstwidersprüche hinzuweisen – vor allem darauf, daß Heidegger es verabsäumt habe, seine Analyse des Daseins als Sein-zum-Tode mit der Analyse des Daseins als Mit-sein zu verknüpfen.
61 Die vornehmlich in neoliberal geprägten politischen Zirkeln auch hierzulande (wie weltweit) beliebte Parole vom »Ende der Ideologien« zugunsten einer Pragmatik vermeintlicher »Sachzwänge« entlarvt Nancy früh schonungslos als die »ideologische Idee par excellence, insofern sie von ihren eigenen Voraussetzungen nichts wissen will« (J.-L. Nancy: Vergessen, S. 71). 130
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Alle Reflexionen Heideggers über das »Sein zum (oder für den) Tod« hatten keinen anderen Sinn, als dies aussprechen zu wollen: ich ist – bin – kein Subjekt. (Wenngleich derselbe Heidegger, als es um die Gemeinschaft als solche ging, sich auch in (die) Vision eines Volkes und eines Schicksals, das zumindest teilweise als Subjekt gedacht war, verstrickt hat. Dies beweist wohl, daß das »Sein zum Tode« des Daseins nicht bis in letzter Konsequenz in sein Mitsein impliziert ist – und diese Implikation gilt es nun für uns zu denken.62
Man kann ohne weiteres, wenn auch formelhaft, als Ergebnis der Beschäftigung mit Nancys Undarstellbarer Gemeinschaft festhalten, daß darin diese Verknüpfung zwischen dem Dasein als Sein-zum-Tode und als Mit-sein zu leisten versucht wird63 und daß dies zu jener erwähnten Erweiterung der immer noch der Idee von der »Gemeinschaft des Todes« verpflichteten Heideggerschen Rede vom In-der-Welt-sein als Sein-zumTode um das »Zur-Welt-Kommen einer Welt«64 im Sein-in-der-Gemeinschaft führt, also zur philosophisch einigermaßen revolutionären (wenngleich nicht ohne Vorläufer dastehenden) »Idee« einer »Gemeinschaft der Geburt«.65 Im berühmten § 47 von Sein und Zeit handelt Heidegger bekanntlich von der Unmöglichkeit einer Übernahme des Todes des anderen durch mich. Ich kann mich in allem von anderen vertreten lassen, mein Tod jedoch ist immer und unweigerlich der meine. Zwar räumt auch Heidegger ein, daß man natürlich sein Leben für den anderen opfern kann, er hält jedoch fest, daß gerade diese Möglichkeit aufzeigt, inwiefern ein solches Selbstopfer zugunsten des anderen diesen nicht von seinem Tod befreit, sondern ihn nur aufschiebt, indem es sein Leben verlängert. Nancy stimmt dieser Todesanalyse Heideggers zwar unumwunden zu, lehnt aber dessen Schluß – daß der Tod gleichsam eine natürliche Grenze der Gemeinschaft sei – ab und zieht eine nachgerade gegenteilige Konsequenz daraus: Die Gemeinschaft besteht in nichts anderem als dieser Grenze, in diesem Nichts der Unmöglichkeit einer Stellvertretung (oder Repräsenta62 Jean-Luc Nancy: Die undarstellbare Gemeinschaft, Stuttgart 1988, S. 36f., H.i.O. 63 Vgl. Robert Bernasconi: On Deconstructing Nostalgia for Community within the West: The Debate between Nancy and Blanchot, in: Research in Phenomenology 23 (1993), S. 3-21, hier S. 9. 64 Jean-Luc Nancy: Gegenwärtig-werden, in: ders., Das Gewicht eines Denkens, Düsseldorf, Bonn 1995, S. 9-15, hier S. 14. 65 Genau darin – im Übergang von einer »Gemeinschaft des Todes« zu einer »Gemeinschaft der Geburt« – besteht die von Nancy vollzogene »völlige Umkehrung« der Heideggerschen Daseinsanalytik, die Robert Bernasconi richtig registriert (R. Bernasconi, S. 9), ohne sie freilich als solche benennen zu können. 131
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tion) des einen durch einen anderen, sie, die Gemeinschaft, ist, mit anderen Worten, in dieser radikalen Endlichkeit des Menschen angelegt und damit eine ontologische Größe. »Die Endlichkeit erscheint zusammen, das heißt sie wird exponiert: das ist das Wesen der Gemeinschaft.«66 Daß man dieses Zusammen-Erscheinen der Gemeinschaft auch so ausdrücken könnte, daß die Gemeinschaft »von Geburt an« existiere, unterstreicht die bereits erläuterten Implikationen von Nancys Konzeption im Hinblick auf die Vorgängigkeit etwa der Relation vor der Substanz oder eben der Gemeinschaft vor dem Individuum: Bevor ich »ich« bin oder mich mir als »ich« vorstellen kann, bin ich bereits – oder »immer schon«, Heideggerianisch gesprochen – »wir« gewesen; von daher erhält Nancys Identifikation von »Sein« mit »In-der-Gemeinschaft-sein« ungleich deutlichere Konturen, als die abstrakte Bestimmung zunächst vermuten läßt. Die Dekonstruktion jener Nostalgie für die (vergangene) Gemeinschaft vollzieht sich von daher zugleich als Dekonstruktion jeder zukünftigen Gemeinschaft, um deretwillen es sein Leben zu opfern gälte.67 Sein Leben auf diese Weise und zu diesem Zweck zu opfern, hieße, etwas Unmögliches zu vollbringen: aus dem Tod ein Werk zu machen. Das wäre es, was Heidegger hellsichtig gesehen und welche Erkenntnis er zugleich postwendend wieder verraten hätte: daß der Tod kein Werk ist. Das heißt weiter, daß er sich auch nicht instrumentalisieren läßt zum Zwecke der Herstellung oder Wiederherstellung einer Gemeinschaft. Vielmehr leistet er seinerseits nichts anderes als die Offenbarung der immer schon bestehenden, wenngleich ent-werkten, undarstellbaren Gemeinschaft; eine »Offenbarung des Mit-Seins oder des MiteinanderSeins«68, die aber ungleich deutlicher (und auf unvordenkliche Weise mit ihr verschränkt) in der Geburt zum Tragen kommt. Die Tragweite, um in der Metapher zu bleiben, dieser Erkenntnis läßt sich kaum abschätzen. Nancy deutet sie in der Undarstellbaren Gemeinschaft nur an, man kann jedoch seine Schriften insgesamt als Versuche begreifen, diese Folgenabschätzung sukzessive abzuarbeiten. Es ist kein Zufall, daß Nancy sein Magnum opus Être singulier pluriel mit jenem Vers aus Hölderlins unvollendeter Hymne Die Titanen einleitet, mit dem Derrida den bereits erwähnten späten Vortrag Der ununterbrochene Dialog: zwischen zwei Unendlichkeiten, das Gedicht schließt – unter Hinweis darauf, daß er mit dessen Zitat hätte beginnen
66 Jean-Luc Nancy: Die undarstellbare Gemeinschaft, Stuttgart 1988, S. 65. 67 Vgl. R. Bernasconi: On Deconstructing Nostalgia for Community within the West: The Debate between Nancy and Blanchot, S. 9. 68 Jean-Luc Nancy: Die undarstellbare Gemeinschaft, Stuttgart 1988, S. 36. 132
GENEALOGISCHE DEKONSTRUKTION
sollen69: »Gut ist es, an andern sich zu halten,/denn keiner trägt das Leben allein.«70 Ich bin andernorts näher auf die Rolle, die die Terme »Tragen«, »Schwangerschaft«, »Geburt« in diesem Text (in leicht zu übersehender Kohärenz, ja Kontinuität mit früheren Werken Derridas) spielen, eingegangen.71 Unter der hier zentralen Perspektive nur soviel: Was es zu denken gilt, ist, daß die Gemeinschaft sich »um den ›Verlust‹ (die Unmöglichkeit) ihrer Immanenz« herauskristallisiert, daß der Verlust – und damit die Trauer(arbeit) – mithin konstitutiv sind für das »Wesen« der Gemeinschaft. Die Gemeinschaft »garantiert die Unmöglichkeit ihrer eigenen Immanenz«72, sie verdankt sich also der Tatsache, daß es keinen Übergang gibt zwischen ihren einzelnen Mitgliedern, zumal es »einzelne Mitglieder« (Individuen) nur gibt unter der Voraussetzung des bereits Gegebenseins von Gemeinschaft. »Ebensowenig wie die Gemeinschaft ein Werk ist, macht sie aus dem Tod ein Werk«73, denn: Der Tod … bewerkstelligt kein Umschlagen des toten Wesens in irgendeine einheitsstiftende Vertrautheit, und die Gemeinschaft ihrerseits bewerkstelligt keine Verklärung ihrer Toten zu irgendeiner Substanz oder zu irgendeinem Subjekt, ob es nun Vaterland, Heimaterde oder Blutsbande, Nation, erlöste oder vollendete Menschheit, …, Familie oder mystischer Leib wäre. […] … genauer gesagt … stellt die Unmöglichkeit, aus dem Tod ein Werk zu machen, jenes Moment dar, das sich als »Gemeinschaft« einschreibt und behauptet.74
Mit diesem Zitat sind wir offensichtlich einmal mehr im »Lager«, denn war es nicht genau das Projekt des Nationalsozialismus, aus dem Tod ein Werk zu machen? Daß die Gemeinschaft auf diese Weise, wie Bataille schrieb, von der Intensität des Todes durchdrungen ist75, qualifiziert sie aber gerade zum ihr hier zugeschriebenen Widerstand gegen die Immanenz, denn die Unmöglichkeit, aus ihr ein Werk zu machen, hilft erkennen, daß man gar nichts anzustellen (oder, weniger salopp ausgedrückt, zu bewerkstelligen) braucht, um in der Gemeinschaft zu sein. »Die Gemeinschaft garantiert und markiert in gewisser Weise die Unmöglichkeit der Gemeinschaft – dies ist ihre ureigene Geste und die Spur ihres 69 Vgl. Jacques Derrida: Der ununterbrochene Dialog: zwischen zwei Unendlichkeiten, das Gedicht, in: ders./Hans-Georg Gadamer, Der ununterbrochene Dialog, Frankfurt a.M. 2004, S. 7-50, hier S. 50. 70 Friedrich Hölderlin: Die Titanen, in: ders., Werke in einem Band, hg. v. Hans Jürgen Balmes, München, Wien 1990, S. 215ff., hier S. 216 (v. 46). 71 Vgl. ARB, »Ich, ich bin, ich bin geboren«. 72 Jean-Luc Nancy: Die undarstellbare Gemeinschaft, Stuttgart 1988, S. 38. 73 Ebd., S. 37. 74 Ebd., S. 37f., H.i.O. 75 Ebd., S. 39. 133
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Tuns.«76 Die Gemeinschaft ist in dem Sinne eine »Notgemeinschaft« (und keine Schicksalsgemeinschaft), als sie ontologisch notwendig ist: Gemeinschaft gibt es nur von sterblichen, d.h. endlichen Wesen, und sterbliche Wesen, d.h. uns, gibt es nur in Gemeinschaft; die »Gemeinschaft der Lebenden und der Toten« ist ja nicht ohne Grund keine Gemeinschaft zwischen Sterblichen und Unsterblichen, sondern zwischen Sterblichen und Gestorbenen, die zudem gar keinen Sinn hätte, reduzierte sie sich teleologisch auf eine Gemeinschaft resp. Totalität künftiger Gestorbener. Eine Gemeinschaft stellt ihren Mitgliedern den Tod als deren Wahrheit vor Augen … Sie ist die Darstellung der Endlichkeit und des unwiderruflichen Exzesses, die das das endliche Wesen ausmachen: seinen Tod nämlich, aber auch seine Geburt. Einzig die Gemeinschaft bietet mir meine Geburt dar und mit ihr zugleich die Unmöglichkeit, sie noch einmal zu erleben oder etwa meinen Tod zu überwinden.77
Zu beurteilen, was das für die Gemeinschaft derjenigen bedeutet, die seit dem 8. Oktober 2004 des verstorbenen Jacques Derrida gedenken, wäre eine Aufgabe, die meine Fähigkeiten und Kräfte als die eines einzelnen bei weitem überstiege.
76 Ebd., S. 38. 77 Ebd., S. 38f. 134
EIN
RATIONALISMUS. DERRIDA, DIE KOMMENDE AUFKLÄRUNG UND DER ANTISEMITISMUS U N B E D I N G T ER
OLIVER MARCHART D a s G r a b m al Nach Derridas Tod wurde auf der Website der University of California, Irvine, an der Derrida unterrichtet hatte, ein Kondolenzbuch eingerichtet. Gehosted von der School of Humanities, trugen bis heute unter dem Titel »Remembering Jacques Derrida« 5113 Personen ihre Signatur in dieses elektronische Kondolenzbuch ein.1 Auf den ersten Blick scheint es sich um den individuell-gefühlsökonomisch notwendigen Gedenkort einer Trauergemeinde zu handeln, doch bei genauerer Betrachtung erkennt man, daß dieses Grabmal – abseits der Trauerbekundung aller Unterzeichnenden – selbst die Signatur eines Antagonismus darstellt. Am 10. Oktober 2004 war in der New York Times ein Nachruf auf Derrida erschienen, der offenbar dem Wunsch entsprang, endlich die Grabplatte über der Dekonstruktion zu schließen und dem Spuk ein Ende zu bereiten. Deutlicher als viele andere zeigte das obituary der New York Times, daß ein Grabmal eben nicht nur eine Gedenk-, sondern auch eine Projektionsfläche sein kann für das, was man als eine Politik des Ressentiments bezeichnen muß. Mit diesem Ressentiment, projiziert auf den Namen Derrida, wird man bereits im Titel des Nachrufs konfrontiert: »Jacques Derrida, Abstruse Theorist, Dies at 74.« Diese vom Titel ausgegebene denunziatorische Losung wird über den ganzen Text hinweg mit Unterstellungen und Halbwahrheiten entfaltet, die hier nicht weiter diskutiert werden sollen. Bereits der erste Satz gibt davon einen Geschmack: »Mr. Derrida was known as the father of deconstruction, the method of inquiry that asserted all writing was full of confusion and contradiction …«2
1 2
www.humanities.uci.edu/remembering_jd/, 14.3.2006. Kandell, Jonathan: »Jacques Derrida, Abstruse Theorist, Dies at 74«, in: The New York Times, 10.10.2004, als elektronisches Dokument im NYTArchiv unter www.nytimes.com/, 14.3.2006. An diesem Satz, man muss es 135
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Nun hätte der Autor, Jonathan Kandell, wissen können, hätte er Derrida gelesen, daß Gespenster sich nicht so leicht in Gräber sperren lassen. Das sollte sich umgehend beweisen, als der Nachruf der NYT einen Aufruhr unter US-amerikanischen Intellektuellen provozierte. In Form von Leserbriefen protestierten unter anderem Samuel Weber, Kenneth Reinhard, Gayatri Spivak und Judith Butler, und schließlich kam es zur Errichtung des erwähnten elektronischen Kondolenzbuchs als Gegengrabmal zu jenem der NYT. Diese Antwort, die etwas mit Dekonstruktion zu tun hat, aber auch mit Hegemonie, insofern sie sich in eine Konfliktlinie einschreibt und differentielle Positionen zu einer Äquivalenzkette vereint, produzierte eine kollektiv-individuelle Signatur, gesetzt unter ein Statement gegen Denunziation und Ressentiment.3 Aber ist das nicht zuviel der Ehre? Hätte man den Nachruf nicht beiseite legen sollen als Machwerk eines Uninformierten? Vielleicht hätte man den Platitüden, hätte es sich nur um Platitüden gehandelt, nicht begegnen müssen. Doch das obituary hatte nicht allein aufgrund seiner Dummheit und Pietätlosigkeit einen so starken Effekt, denn hier fanden sich Vorwürfe kondensiert, die natürlich keineswegs zum ersten Mal erhoben wurden. Der Nachruf schloß direkt an die amerikanischen Culture Wars der 80er Jahre an, in denen von konservativer Seite gegen alles mobil gemacht wurde, was an amerikanischen Universitäten unter den Verdacht geriet, die angeblichen Errungenschaften der Zivilisation, den westlichen Kanon, unterwandern und in den Schmutz ziehen zu wollen. So heißt es noch im NYT-Nachruf, Dekonstruktion gehöre zu jenen »modischen, schlüpfrigen Philosophien«, die in Frankreich entstanden seien (offenbar ein Verdikt besonderer Schwere) und »viele der traditionellen Standards klassischer Erziehung« unterminierten.4
3
4
kaum betonen, ist so ziemlich alles falsch. Nicht nur hätte Derrida die familiäre Genealogie einer »Vaterschaft« der Dekonstruktion zurückgewiesen, auch hat wohl nie jemand, der Dekonstruktion ernsthaft betrieb, behauptet, und vor allem hat Derrida es nie behauptet, daß jeder Text voll Konfusion und Widersprüche sei. Der vorliegende Aufsatz geht bereits von einem hegemonietheoretisch supplementierten Begriff von Dekonstruktion aus, ohne ihn an dieser Stelle im Detail zu entwickeln. Vgl. dazu Ernesto Laclau: Dekonstruktion, Pragmatismus, Hegemonie, in: Chantal Mouffe (Hg.), Dekonstruktion und Pragmatismus. Demokratie, Wahrheit und Vernunft, Wien: Passagen 1999, S. 111-154, und Oliver Marchart: Post-foundational Political Thought. Political Difference in Nancy, Lefort, Badiou and Laclau, Edinburgh: Edinburgh University Press 2006 (im Erscheinen). J. Kandell: Jacques Derrida, ebd. 136
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Doch diese Culture Wars sind und waren kein exklusiv amerikanischer Kulturkrieg. Bekannt ist der Skandal um die Verleihung der Ehrendoktorwürde der University of Cambridge an Derrida, die 1992 mit einer beispiellosen Kampagne von einem Teil des Professorenkollegiums verhindert werden sollte. Auch damals wurde behauptet, Dekonstruktion würde den allgemein anerkannten Standards von Klarheit und Strenge nicht genügen und die Unterscheidung zwischen wahr und falsch verunmöglichen. Sie setze sich aus unverständlichen Tricks und Kniffen zusammen, die jenen der Dadaisten ähnelten, und würde die normalen Formen der akademischen Forschung bis zur Unkenntlichkeit entstellen. Derrida erhielt die Ehrendoktorwürde, doch diese absurden Klischees waren und sind Teil der intellektuellen Folklore. Während der Begriff »Dekonstruktion« nämlich in unser alltägliches Vokabular und in die Wörterbücher einging, wurde er andererseits zum Synonym für ein Denken, dem etwas prinzipiell Verdächtiges anhaftet. Auch im deutschen Feuilleton wurde anläßlich von Derridas Tod der Verdacht geäußert, es könnte sich bei ihm um einen akademischen »Rattenfänger von Hameln« gehandelt haben, der die Menschen vorsätzlich an der Nase herumführte. Eine Gefahr für die Jugend und für moralisch nicht Gefestigte. So hieß es im vielfach nachgedruckten Nachrufstext der dpa: »Die einen hielten ihn für einen genialen Erneuerer der Philosophie, die anderen sahen in ihm einen Blender, der mit unverständlichen Texten die Menschen narrte.«5 Der »Stern« ging noch einen Schritt weiter und versah seinen Nachruf mit dem Titel: »Der ›Scharlatan‹ ist tot«.6 Und obwohl »Scharlatan« unter Anführungszeichen gesetzt ist, fällt es schwer, in diesem Satz nicht ein unterdrücktes »endlich« zu vernehmen.
D ek o n s t r u k t i o n u n d D e n u n z i a t i o n Wie kommt es, daß ein bestimmter theoretischer oder denkerischer Gestus, wie ihn die Dekonstruktion darstellt, als direkter Angriff auf die Wahrheit, die moralischen Werte und eigentlichen Fundamente der westlichen Zivilisation erfahren wird? Ich denke, man darf der Beantwortung dieser Frage nicht ausweichen, denn sie birgt Konsequenzen, die nicht allein die Dekonstruktion betreffen. Bei der erwähnten Politik des Ressentiments handelt es sich nämlich nicht um »bloßen« Anti-Intellektualismus, falls es einen »bloßen« Anti-Intellektualismus überhaupt geben 5 6
So z.B. in der Süddeutschen vom 9.10.2004, www.sueddeutsche.de/kultur/ artikel/896/40856/, 14.3.2006. Der Stern vom 10.10.2004, www.stern.de/unterhaltung/buecher/index. html?id=530928, 14.3.2006. 137
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sollte. Sondern wo dieser Anti-Intellektualismus zusammenschießt mit topoi und begrifflichen Versatzstücken wie jenem der »Rattenfängerei« oder des angeblich »Zersetzenden« eines zwischen Hyperrationalismus und Irrationalismus changierenden Denkens, dort läßt sich diskursanalytisch die Verwandtschaft zur Rhetorik antisemitischer Diskurse nicht länger übersehen. Auf den Namen Derrida wird so ein Ressentiment projiziert, das sich aus dem alten Klischee vom unsteten, kranken, zersetzenden, parasitären jüdischen Geist speist.7 Derrida selbst war handgreiflich konfrontiert mit diesem Ressentiment, etwa als Anhänger des amerikanischen Neonazis Lyndon Larouche Pamphlete verteilten, in denen sie Derrida als Marxisten, Zerstörer, Nihilisten und Volksfeind denunzierten, und während einer seiner Vorlesungen in New York beinahe physisch attackierten.8 Eines der jüngsten und vielleicht deutlichsten Textbeispiele für einen strukturell antisemitischen Diskurs, der die Dekonstruktion nicht etwa nur eines übertrieben Skeptizismus anklagt, sondern explizit vom Kranken und Zersetzenden der dekonstruktiven Denkbewegung spricht, ist das folgende: Der erkrankten Vernunft erscheint schließlich alle Erkenntnis von definitiv gültigen Werten, alles Stehen zur Wahrheitsfähigkeit der Vernunft als Fundamentalismus. Ihr bleibt nur noch das Auflösen, die Dekonstruktion, wie sie uns etwa Jacques Derrida vorexerziert: Er hat die Gastfreundschaft ›dekonstruiert‹, die Demokratie, den Staat und schließlich auch den Begriff des Terrorismus, um dann doch erschreckt vor den Ereignissen des 11. September zu stehen. Ei7
8
Selbst noch die Geldgier hat hier ihren Platz, etwa wenn der Autor des NYT-Nachrufs insinuiert, Derrida hätte sich mit überzogenen Honorarforderungen an amerikanischen Universitäten bereichert, wodurch sich Derridas Kollegenschaft in Irvine zur Klarstellung gezwungen sah, daß Derridas Honorar nach den für alle geltenden bürokratischen Regeln der University of California festgelegt worden sei. Mit all dem will ich natürlich nicht sagen, daß jede Kritik an der Dekonstruktion oder an Derrida an sich immer schon antisemitisch sei. Erst die Verbindung der Kritik mit antisemitischen topoi erzeugt einen strukturell antisemitischen Diskurs. Dieser wird in der jüngeren Diskussion deshalb strukturell antisemitisch genannt, weil antisemitische Muster auch dort aufzutreffen sind, wo »die Juden« explizit nicht erwähnt werden. Vgl. etwa Thomas Schmidinger: Struktureller Antisemitismus und verkürzte Kapitalismuskritik, in: AStA der GeschwisterScholl Universität München (HG.), Spiel ohne Grenzen. Zu- und Gegenstand der Antiglobalisierungsbewegung, Berlin: Verbrecher Verlag 2004. Derrida spricht über diesen Vorfall in Jacques Derrida, Elisabeth Roudinesco: For what tomorrow… A dialogue, Stanford: Stanford University Press 2004, S. 134-135. 138
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ne Vernunft, die nur noch sich selber und das empirisch Gewisse anerkennen kann, lähmt und zersetzt sich selber.9
Dieses Zitat stammt vom jetzigen Papst. Es ist einer Rede entnommen, die Joseph Ratzinger am 6. Juni 2004 gehalten hat, damals noch als Präfekt der Glaubenskongregation, also der früheren Heiligen Römischen Inquisition, und die in einer Reihe von Medien abgedruckt wurde, unter anderem in der FAZ unter dem Titel »Auf der Suche nach dem Frieden. Gegen erkrankte Vernunft und mißbrauchte Religion«. Obwohl vieles über die gesamte Rede Ratzingers wie über den historischen Kontext, in dem sie gehalten wurde (dem Jahrestag der Landung der Alliierten in der Normandie), zu sagen wäre, werde ich sie nicht im Detail kommentieren, möchte mir aber zumindest zwei Hinweise erlauben, neben dem allgemeinen Hinweis, daß Ratzinger natürlich keine Ahnung hat, wovon er redet. Die erste, vielleicht triviale Beobachtung ist, daß Derrida die Demokratie keineswegs dekonstruiert hat, sondern daß man der Demokratie – als Derridascher Demokratie-im-Kommen –, ähnlich wie »Gerechtigkeit«, gerade die Qualität des Undekonstruierbaren zuschreiben muß. Daß Derrida darin unzweifelhaft weit mehr Demokrat ist, als es das Oberhaupt einer absoluten Wahlmonarchie je sein kann, muß nicht weiter ausgeführt werden. Zweitens aber sei darauf hingewiesen, daß es in Ratzingers Rede zu einer atemberaubenden Angleichung kommt zwischen der an Dekonstruktion »erkrankten Vernunft« und der »Pathologie der von Gott gänzlich losgelösten Vernunft«, wie sie für Ratzinger von den totalitären Ideologien und am dramatischsten von Pol Pot ausgedrückt wird. Als tertium comparationis zwischen Derrida und Pol Pot dient Ratzinger die »Pathologie« einer »Vernunft, die sich völlig von Gott löst und ihn bloß noch im Bereich des Subjektiven ansiedeln will«, und die dadurch orientierungslos wird und »den Kräften der Zerstörung die Tür« öffnet. Die possenhafte Absurdität dieser Vorwürfe wäre nun nicht der Rede wert, würden sie sich nicht zum einen antisemitischer topoi bedienen und stünden sie nicht zum anderen in einem aufschlußreichen und keineswegs eindeutig feindlichen Verhältnis zur Aufklärung. Das Ressentiment, welches der Dekonstruktion von Ratzinger und anderen, weniger dogmatischen Kritikern entgegenschlägt, zeigt sich in genau diesen beiden, eng miteinander artikulierten Aspekten. Ratzinger wirft Derrida 9
Joseph Ratzinger: Auf der Suche nach dem Frieden. Gegen erkrankte Vernunft und mißbrauchte Religion, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11.06.2004, Nr. 133, S. 39. Für die Vortrags-Langversion vgl. z.B. www. die-tagespost.de/Archiv/titel_anzeige.asp?ID=9319, 14.3.2006. Ich verdanke den Hinweis auf diese Ratzinger-Rede Hans-Joachim Lenger. 139
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wie Pol Pot vor, die Aufklärung, bzw. den aufklärerischen Vernunftbegriff pathologisch überdehnt zu haben. Doch zugleich stellt sich Ratzinger selbst auf Seiten der Aufklärung und plädiert für einen moderaten Vernunftbegriff, was durchaus die Moderierung religiöser Fundamentalismen und die Kritik einer »Pathologie der Religion« beinhaltet. Ratzinger plädiert also nicht offen gegen-aufklärerisch, sondern spricht einer moderaten und moralisch moderierenden Aufklärung das Wort. »Wir Christen« seien heute aufgefordert, wie es in der Langversion des Vortrags heißt, »nicht etwa die Vernunft zu begrenzen, sondern uns ihrer Verengung auf die Kunst des Machens entgegenzustellen«, also schließlich »die Vernunft umfassend zum Funktionieren zu bringen, nicht nur im Bereich der Technik und der materiellen Entwicklung der Welt, sondern vor allem auch auf die Wahrheitsfähigkeit hin, die Fähigkeit das Gute zu erkennen, das die Bedingung des Rechts und damit auch die Voraussetzung des Friedens in der Welt ist.«10
Ein unbedingter Rationalismus Auf den ersten Blick könnte man denken, Ratzinger würde die Mär vom Obskurantismus der Dekonstruktion einfach nur ungeprüft weitergeben. Schließlich läßt sich in seiner Rede das Echo der ObskurantismusVorwürfe des Feuilletons, der Unterstellungen der Cambridge-Dons, ja selbst das entfernte Echo der durchgedrehten antisemitischen Phantasien Lyndon Larouches vernehmen. Doch Ratzinger versteht Derrida nicht einfach als Anti-Aufklärer, sondern das angeblich Werte-Zersetzende der Dekonstruktion – für Ratzinger durchaus Zeichen eines neuen Irrationalismus – wird gerade als Konsequenz eines allzu freizügigen Gebrauchs der Vernunft angeprangert. Dieses changierende Doppelbild des zugleich »irrational Mystischen« und »übertrieben Rationalen« des »jüdischen Geistes« ist für strukturell antisemitische Projektionen kennzeichnend und bleibt natürlich phantasmatisch. Die Radikalisierung der Vernunft durch Derrida und die Dekonstruktion hat mit diesem Phantasma nichts zu tun: Es handelt sich um eine Form der Aufklärungskritik, die selbst im Namen der Aufklärung fortschreitet, jedoch nicht im Namen einer moderierten und moderierenden Aufklärung, die Ratzinger unterstützt, sondern im Namen einer kommenden Aufklärung: Denn die Dekonstruktion, wenn es so etwas gibt, bleibt in meinen Augen ein unbedingter Rationalismus, der, gerade im Namen der kommenden Aufklärung, niemals davon abgeht, in dem zu eröffnenden Raum einer kommenden Demo10 Ebd. 140
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kratie argumentativ, durch rationale Diskussion, sämtliche Bedingungen, Hypothesen, Konventionen und Vorannahmen zu suspendieren, ohne Vorbedingung sämtliche Bedingtheiten zu kritisieren, einschließlich derer, die noch der kritischen Idee zugrunde liegen, nämlich der des krinein, der krisis, der Entscheidung und des binären oder dialektischen Urteils.11
Der Abstand zu Irrationalismen, Mystizismen oder Obskurantismen jeglicher Art könnte nicht größer sein. Worauf Derrida hinauswill, ist eine unbedingte Vernunft. Nicht im Sinne einer grenzenlosen instrumentellen Rationalität, sondern im Sinne eines Unbedingten, das nach Derrida die Wesensstruktur eines Ereignisses in seiner Ereignishaftigkeit selbst auszeichnet. Das Unkalkulierbare eines Ereignisses macht es zum Gegenstand nicht einer irrationalen Mystik, sondern einer anderen Vernunft als der kalkulativ-instrumentellen, teleologischen oder metaphysischen.12 So fragt Derrida, »ob eine Chance besteht, den Gedanken des unbedingten Ereignisses einer Vernunft zuzuweisen, die eine andere wäre als jene klassische Vernunft, […] die sich als eidos, idea, Ideal, regulative Idee« ankündigt.13 Man könnte das aufklärungskritische und zugleich Aufklärung radikalisierende Vernunftkonzept der Dekonstruktion deshalb bezeichnen als eine Form unbedingter und zugleich schwacher Rationalität, die all jenen »großen Rationalismen« zuwiderläuft, die zugleich »Rationalismen des Staats, wenn nicht staatliche Rationalismen sind«.14 Doch 11 Jacques Derrida: Schurken. Zwei Essays über die Vernunft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 191. 12 Zu dieser kommenden Aufklärung gehört für Derrida, nicht zuletzt aufgrund der notwendigen und durch und durch »vernünftigen« Berücksichtigung des anderen der Vernunft, die Psychoanalyse: »Das erinnert uns daran, daß man sich im Namen der Vernunft manchmal vor Rationalisierungen hüten muß. Allzu rasch sei im Vorübergehen gesagt, daß die kommende Aufklärung uns nötigen sollte, auch mit der Logik des Unbewußten zu rechnen und also zumindest mit der Idee, um nicht zu sagen mit der Lehre, die von einer psychoanalytischen Revolution angestoßen wurde.« Ebd., S. 212. 13 Ebd., S. 183. Aus diesem Grund ist das Ereignis einer solch anderen Vernunft auch nicht zu verwechseln mit der Habermas’schen regulativen Idee der herrschaftsfreien Kommunikation bzw. »idealen« Kommunikationsgemeinschaft. 14 Ebd., S. 188. Derrida unterscheidet zwischen dem Vernünftigen und dem Rationalen, auf das ersteres nicht reduzierbar ist: »In solchen Sätzen hätte das Rationale just mit dem Genauen [juste] zu tun, manchmal auch mit der Genauigkeit [justesse] der juridischen und berechenbaren Vernunft. Doch das Vernünftige tut mehr und etwas anderes. Es würde gewiß die Buchführung der juridischen Genauigkeit berücksichtigen, aber es würde sich auch, 141
OLIVER MARCHART
diese (staatliche) Souveränität, die ebenfalls untrennbar mit dem Moment der Unbedingtheit verknüpft ist, denn Souveränität ist unbedingt oder sie ist keine, läßt sich ihrerseits nicht durch eine simple Trennung vom Unbedingten dekonstruieren, sondern nur durch eine Konfrontation im Namen der Unbedingtheit, also letztlich im Namen des Ereignisses in seiner Ereignishaftigkeit, im Namen dessen, was im Kommen unvorhersehbar bleibt. Derrida, man kann es nicht oft genug wiederholen, geht es in seinen Texten explizit und immer wieder darum, den Gedanken eines solchen nicht-programmierten, nicht-kalkulierbaren Ereignisses gerade »nicht irgendeinem obskuren Irrationalismus zu überlassen«.15 Denn: Dies zu denken und auszusprechen widerspricht nicht der Vernunft. Es ist nicht vernunftwidrig, sich über eine Idiokratie oder einen Teleologismus Sorgen zu machen, welche die Ereignishaftigkeit des Ereignisses tendenziell zunichte macht oder neutralisiert, um sich zu immunisieren. Es ist die einzige Chance, rational so etwas wie eine Zukunft oder ein Werden der Vernunft zu denken. Und vergessen wir nicht, es ist auch das, was sowohl das Denken als auch die wissenschaftliche Forschung von der Kontrolle und Konditionierung durch Machtinstanzen und politische, militärische, technisch-ökonomische, kapitalistische Institutionen aller Art befreit […].16
Worauf Derrida mit dieser Anstrengung letztlich zielt, ist eine Unbedingtheit ohne Souveränität (eine unbedingte Gastfreundschaft etwa), die dennoch die Konfrontation mit der Unbedingtheit (staatlicher) Souveränität durchlaufen muß. Reiner Partikularismus ist mit einer solchen Unbedingtheit unvereinbar. Sie impliziert vielmehr eine Universalität der Vernunft »jenseits jedes Relativismus, Kulturalismus, Ethnozentrismus und vor allem des Nationalismus« und ist strikt gegenläufig zu den verschiedenen Varianten eines »postmodernen« oder, schlimmer, romantisch-multikulturellen Vernunftrelativismus. Denn der erweist sich letztlich als komplizitär mit jenen souveränistischen Phantasmen, die Derrida mit den Begriffen »Irrationationalismus« und »Irrationationaletatismus« zu fassen versucht.17 Vereinfacht gesagt: das Denken der Unbedingtheit vermittels Aushandlung und Aporie, um Gerechtigkeit [justice] bemühen. Das Vernünftige, wie ich es hier verstehe, wäre eine Rationalität, die das Unberechenbare in Rechnung stellen würde, um von ihm Rechenschaft zu geben, selbst wo es unmöglich scheint, um es in Rechnung zu stellen und mit ihm zu rechnen, das heißt mit dem Ereignis dessen, was kommt, oder dessen, der kommt.« Ebd., S. 214-215. 15 Ebd., S. 192. 16 Ebd., S. 193. 17 Vgl. ebd., S. 199. 142
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der Vernunft entfaltet sich in der doppelten Konfrontation mit einerseits der Unbedingtheit staatlicher Souveränität und andererseits den verschiedenen Formen des Relativismus. Welche Konsequenzen müßten sich aus dieser selbst unbedingten Konfrontation mit dem Unbedingten wie auch mit dem Relativen für unseren Begriff von Aufklärung ergeben? Nach dem Gesagten liegt auf der Hand, daß die »kommende Aufklärung« weder einer bunten Vielfalt von Aufklärungen noch der staatlich-josephinistischen Verordnung absoluter, d.h. absolutistischer Aufklärung entspringen kann. Fassen wir es in einer Derrida-typischen Figur, ja vielleicht sogar der proto-dekonstruktiven Figur, nämlich jener der Nicht-Selbstidentität: Aufklärung, so ließe sich sagen, ist durchaus ein vielstimmiger Diskurs, vielstimmig aber nicht im Sinne eines bloßen Pluralismus ihrer Stimmen. Aufklärung ist nur deshalb vielstimmig, weil sie eine ist und als eine zugleich nicht mit sich selbst identisch. Anders gesagt: Statt von einer beliebigen Verstreuung von Aufklärungsdiskursen im Plural auszugehen, ist es durchaus geboten, von der einen Aufklärung auszugehen, allerdings von der Aufklärung, die in sich immer schon ihr anderes trägt. Analog zu Derridas Diskussion eines Monolinguismus des anderen ließe sich gleichsam von einer Mono-Aufklärung des anderen sprechen, entlang der folgenden Antinomie: Es gibt immer nur eine einzige Aufklärung – Es gibt nie eine einzige Aufklärung. Derridas unbedingte Bejahung der (kommenden) Aufklärung sollte daher interpretiert werden als Bejahung einer Aufklärung, die eine ist und zugleich nie eine, da sie in sich ihr anderes trägt.18
18 Das aus Einsprachigkeit stammende Vorbild dieser Antinomie lautet erwartungsgemäß: »1. Man spricht immer nur eine einzige Sprache. 2. Man spricht niemals eine einzige Sprache.« Vgl. Jacques Derrida: Einsprachigkeit, München: Fink 2003, S. 19. So wie ich diese Nicht-Selbstidentität – möglicherweise in Abweichung von Derrida – politisch erweitert fassen würde, nämlich im Sinne eines unaufhebbaren Antagonismus, unterscheidet sich das Konzept, nebenbei gesagt, auch eklatant von der These Habermas’, die »Einheit der Vernunft« sei »allein in der Vielheit ihrer Stimmen vernehmbar«, denn diese Einheit ist für Habermas natürlich die der kommunikativen Vernunft, welche die Vielheit ihrer lebensweltlichen Entäußerungen angeblich bestimmt. Vgl. Jürgen Habermas: Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, S. 155. Im Konzept einer in sich gespaltenen Vernunft ist eine »Einheit« überhaupt nicht vernehmbar, sie ist nur postulierbar als antagonistische. 143
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D i e T r ad i t i o n d e r r ad i k al e n A u f k l är u n g Diese quasi-transzendentale Kondition der Nicht-Selbstidentität von Aufklärung hat (und dies ist ja eine der Bedeutungen des »quasi«) wiederum »ontische«, d.h. historische Bedingungen, die sich in der inneren Spaltung der Aufklärung manifestieren. Aufklärung ist nicht allein aus »logischen« Gründen »immer nur eine« und zugleich »nie eine« (da eben keine Identität je mit sich selbst identisch ist und folglich auch die Identität des Objekts »Aufklärung« nur auf einer Antinomie gegründet sein kann). Wäre das der einzige Grund, dann wäre das Argument leer und mechanisch. Die innere Spaltung der einen Aufklärung, ihre NichtSelbstidentität, die sich als Motor ihrer Vervielfachung erweist, ist denn auch in der Tradition der Aufklärung historisch nachweisbar.19 Wie Jonathan I. Israel in seiner monumentalen und bahnbrechenden Arbeit gezeigt hat, muß historisch von einer aufklärungsinternen Spaltung zwischen einer moderaten und einer radikalen Frühaufklärung ausgegangen werden. Zwar war der Forschung die Existenz eines radikalen »Untergrunds« der Aufklärung nicht verborgen geblieben, dieser radikale Flügel der Aufklärung wurde allerdings an die Ränder der moderaten Aufklärung relegiert und so immer nur als rein marginales Phänomen behandelt. Indem Israel, die Perspektive der radikalen Aufklärung einnehmend, nachweist, daß Aufklärung in wesentlichem Ausmaß von ihrem radikalen Flügel angetrieben wurde, der den moderaten oft genug unter Zugzwang setzte, dreht er dieses Verhältnis nahezu um. Auf Basis eines akribischen mapping der transnationalen europäischen Netzwerke der Frühaufklärung kommt er zu dem Schluß, daß es erstens nicht, wie in der Forschung oft angenommen, eine Familie mehrerer Aufklärungen im Plural gab (eine Vorstellung, die zu sehr den Nationalhistorien Frankreichs, Großbritanniens und Deutschlands verschrieben bleibt), sondern nur eine einzige europaweite (und zugleich Europa überschreitende) Aufklärung, und daß zweitens diese eine Aufklärung in wesentlich größerem Ausmaß radikale Elemente aufwies als bisher angenommen, daß sie also in sich gespalten war. Dabei war die eine Seite dieses inneren Antagonismus, der moderate Block des »mainstream Enlightenment«, nochmals in sich differenziert in drei miteinander rivalisierende frühaufklärerische Strömungen, vertreten durch die Anhänger von Newton (inkl. Locke), von Descartes und von Leibniz/Wolff (wobei letztere sich um 1700 die breiteste Unterstützung sichern konnten). Der anderen Seite der »radikalen Aufklärung« wieder19 Natürlich nicht im Sinne eines »empirischen Beweises« der Logik der Nicht-Selbstidentität, sondern im Sinne eines chiasmatischen, reversiblen Verhältnisses zwischen der »ontologischen« Bedingung der Möglichkeit und der »ontischen« Möglichkeit der Bedingung von Aufklärung. 144
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um schlägt Israel jene seit 1650 auftretenden Philosophen und anonymen Pamphletisten zu, in deren Ideologie sich das neue mechanistische wissenschaftliche Weltbild mit dem Ruf nach Redefreiheit, mit einem radikalen Antiklerikalismus und einer zumeist republikanischen und manchmal demokratischen politischen Grundhaltung traf: [T]he Radical Enlightenment, whether on an atheistic or deistic basis, rejected all compromise with the past and sought to sweep away existing structures entirely, rejecting the Creation as traditionally understood in Judaeo-Christian civilization, and the intervention of a providential God in human affairs, denying the possibility of miracles, and reward and punishment in an afterlife, scorning all forms of ecclesiastical authority, and refusing to accept that there is any God-ordained social hierarchy, concentration of privilege or landownership in noble hands, or religious sanction for monarchy. From its origins in the 1650s and 1660s, the philosophical radicalism of the European Early Enlightenment characteristically combined immense reverence for science, and for mathematical logic, with some form of non-providential deism, if not outright materialism and atheism along with unmistakably republican, even democratic tendencies.20
In der Geschichte dieses radikalen Flügels kann die Figur und Rolle Spinozas, der sowohl dem moderaten Flügel als auch den Kräften der Tradition als bête noir galt, gar nicht überschätzt werden. Sich in einer öffentlichen Debatte als Spinozist wiederzufinden, konnte gegebenenfalls – und zwar unabhängig davon, ob man Spinozist im engeren Sinne war oder nicht – lebensgefährlich werden. Der Name Spinoza diente als Projektionsfläche für alles, was am radikalen Aufklärungsdenken als zu radikal, zu subversiv und zu »zersetzend« galt: von der spinozistischen Kritik am Wunderglauben, an der geoffenbarten Wahrheit, der göttlichen Vorsehung und Lohn und Bestrafung in einem späteren Leben bis hin zu den radikalen republikanischen und demokratischen Sympathien jener, die Monarchie und Aristokratie zu unterminieren trachteten.21 20 Jonathan I. Israel: Radical Enlightenment. Philosophy and the Making of Modernity 1650-1750, Oxford: Oxford University Press 2001, S. 12f. Zur radikalen Aufklärung vgl. auch Margaret C. Jacob: The Radical Enlightenment, London, Boston, Sydney: George Allen and Unwin 1981. 21 Vgl. J. Israel: Radical Enlightenment, S. 703. Als Beispiel für spinozistischen Radikalismus können etwa jene klandestinen Pamphlete herangezogen werden, die als Propagandainstrumente der radikalen Aufklärung dienten. Eines der einflussreichsten, Traité des Trois Imposteurs, später betitelt L’Esprit de Spinosa, verstand sich als frontaler spinozistischer Angriff gegen die drei »Hochstapler« Moses, Jesus und Mohammed, sowie gegen die theologischen Begriffe von Gott, Teufel, Seele, Himmel, Hölle und andere 145
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Wie Israel feststellt, ähnelte im frühen 18. Jahrhundert diese verbreitete Wahrnehmung des Spinozismus als eigentlicher Antithese zur christlichen Tradition und Autorität jener ideologischen Paranoia, wie sie die westlichen Gesellschaften im frühen und mittleren 20. Jahrhundert in Bezug auf den Marxismus erfaßt hatte: »To label someone a ›Spinozist‹ or given to Spinozist propensities was effectively to demonize that person and demand his being treated as an outcast, public enemy, and fugitive.«22 In dieser Hinsicht funktioniert der Name »Derrida« in großen Teilen der heutigen akademischen und feuilletonistischen Welt als gegenwärtiges Metonym des Namens Spinoza. Das bedeutet keineswegs, daß Derrida (im Unterschied zu Althusser, Deleuze oder Negri) in einem strengen theoretischen Verständnis als Spinozist bezeichnet werden könnte oder die Dekonstruktion als Spinozismus. Was Derrida und Spinoza verbindet, ist nicht so sehr der Inhalt ihres Denkens als der jüdische Name, bzw., um präzise zu sein, die Identifikation des jüdischen Namens durch einen strukturell antisemitischen hegemonialen Diskurs des Antirationalismus. Denn wie Derrida – in fast wörtlicher Übereinstimmung mit dem zuletzt zitierten Satz Israels – anmerkt, ist der »Name des Juden« nicht zuletzt jener Name, »den der Nicht-Jude kaum auszusprechen vermag, den er nicht korrekt aussprechen kann oder will, den er verachtet oder den er gerade dadurch zerstört; er verstößt ihn wie einen ›Namen, der draußen schlafen soll‹, er ersetzt ihn durch einen Namen des Spotts, der viel leichter auszusprechen oder einzuordnen ist, wie es auf beiden Seiten des Atlantik schon vorgekommen ist«.23 Der Antisemitismus ist angeblich geoffenbarte Wahrheiten, deren Fabeln der Bevölkerung eingeredet wurden. Vgl. [Anonymus]: Trakat über die drei Betrüger, Hamburg: Meiner 1994. Darüber schreibt Israel: »Vehement in tone, it constitutes a veritable declaration of war on the entire existing structure of authority, faith, and tradition, proving that by the 1680s there was already a European intellectual fringe fired with a zealotry which was unabashedly revolutionary, dogmatic, and intolerant.« Israel: Radical Enlightenment, S. 695. Die unmittelbar politische Stoßrichtung dieses Traktats wird klar, wenn man bedenkt, daß es sich nicht zuletzt um einen im Namen der Freiheit aller Menschen und der »Wahrheit« geführten Angriff gegen die Allianz zwischen offenbarter Religion (inklusive allen »Aberglaubens«) und politischer Tyrannei handelte. 22 Ebd., S. 436. 23 Jacques Derrida: Schibboleth. Für Paul Celan, Wien: Passagen 2002, S. 107. Wie könnte man hier nicht an jene strukturell antisemistische Verballhornung des Namens Derrida zu »Derridada« denken, die seit den 70er Jahren fast schon zur allgemeinen Folklore geworden ist. Nicht jedes Spiel mit Namen ist antisemitisch (bekanntlich liebte es Derrida, Spiele mit seinem eigenen Namen zu treiben), aber jedes denunziatorische Spiel mit 146
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der Philosophiegeschichte eingeschrieben und wird nicht zuletzt, ja wird besonders auf die Tradition der radikalen Aufklärung projiziert, wo er sich an den jüdischen Namen heftet, auch wenn er potentiell jeden Namen treffen und so zum jüdischen Namen machen kann (so wie der Vorwurf der Spinozisterey jeden radikalen Aufklärer treffen konnte, dessen Arbeit mit einer die herkömmlichen Glaubensweisheiten »zersetzenden« Vernunft assoziiert wurde). Antisemitismus, der Antirationalismus der dummen Kerls, folgt der radikalen Aufklärung wie ihr Schatten. Historisch als Schatten des Namens Spinoza, immer wieder als Schatten des Namens Adorno, und aktuell als Schatten des Namens Derrida. Israel spricht nun in Bezug auf jene große intellektuelle Krise des europäischen Denkens, die Mitte des 17. Jahrhunderts vor allem aus dem Vormarsch der mechanistischen Weltanschauung Descartes und Galileos resultierte und besonders von der radikalen Aufklärung vorangetrieben wurde, von einem »umfassenden Kulturkampf«24 zwischen den neuen Welt- und Vernunftvorstellungen, die keiner theologischen Sanktion mehr bedurften, und den theologisch sanktionierten traditionellen Vorstellung von Gott, dem Menschen und dem Universum, die auf philosophischem Terrain durch die aristotelische Scholastik verteidigt wurden. In den 1680er Jahren hatte dieser Kulturkampf bereits zu einer signifikanten Schwächung ekklesiastischer Autorität geführt. In der entscheidenden Phase von 1680 bis 1750 errangen Rationalismus und Säkularismus langsam die intellektuelle Hegemonie, bis schließlich die radikale Aufklärung im Werk von La Mettrie und Diderot (man könnte de Sade hinzufügen) kulminierte und die moderate Aufklärung ihre Position zu konsolidieren begann. Dieser Prozeß verlief keineswegs linear, sondern war von beweglichen Frontverläufen gekennzeichnet. Wollte man die Arbeit Israels in gramscianisch-diskurstheoretische Begriffe übersetzen, könnte man sagen, daß wir es mit einen hegemonialen »Stellungskrieg« auf dem intelNamen fährt, ob es will oder nicht, ob es sich dessen bewußt ist oder nicht, im historischen Schlepptau der Nazi-Rhetorik. Nach der Verballhornung jüdischer Namen durch die Nazis wird jedes Spielen mit Namen, sobald es deren Träger zu denunzieren beabsichtigt, strukturell antisemitisch. (So ist auch die beliebte denunziatorische Verballhornung des Namens Lacan zu Lacancan strukturell antisemitisch.) Auf Derridas eigenes Verhältnis zum jüdischen Namen (i.e. zur Beschneidung) kann hier nicht eingegangen werden, s. dazu u.a. Jacques Derrida: Zirkumfession, in: Geoffrey Bennington: Jacques Derrida. Ein Porträt, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994; und »Zeugnis, Gabe«, Interview mit Elisabeth Weber, in: dies. (Hg.), Jüdisches Denken in Frankreich, Frankfurt a.M.: Jüdischer Verlag 1994, S. 63-90. 24 J. Israel: Radical Enlightenment, S. 14. 147
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lektuellen Terrain der Kultur und »Zivilgesellschaft« zu tun haben, in dem ein radikalisierter Vernunftbegriff zur effektivsten politischen Waffe wurde. Dieser mühsame Stellungskrieg der Aufklärung wechselte erst mit der Französischen Revolution kurzfristig in den Modus des »Bewegungskriegs«, um danach wieder in den Modus des Stellungskriegs überzugehen (was für das Fortleben von Aufklärungsmotiven und -strategien innerhalb neu-auftretender Ideologien, von den verschiedensten Gegenaufklärungen bis zur Aufklärungskritik »von links«, nach wie vor von Bedeutung ist). Dabei kommt es, wie in jedem Stellungskrieg, zu ständigen Überläufen, ja die Frontlinie kann quer durch die einzelnen Akteure verlaufen. Das schließt die Möglichkeit einer eindeutigen und unherausgeforderten Hegemonie aus. So war selbst die Situation des staatlichekklesiastischen Machtblocks von Anfang an prekär, denn es handelte sich bei den neu auftretenden radikalen Ideologemen besonders der Wissenschaft ja nicht um inner-religiöse Häresien, sondern um der Religion gegenüber grundsätzlich heterogene Weltanschauungen, die sich trotz aller Versuche im Koordinatensystem der Doxa nicht dauerhaft unterbringen ließen. Strategien der Integration und Vereinnahmung, wie sie gegenüber der moderaten Aufklärung erfolgversprechend waren, versagten gegenüber der radikalen Aufklärung. Zugleich war die moderate Aufklärung in sich hochgradig ambivalent. Selbst in drei Hauptfraktionen zerfallen, stand sie sowohl im Kampf gegen die Reaktion als auch im Kampf gegen die Radikalen, wobei selbst bei den Moderaten gegebenenfalls unklar blieb, ob und inwieweit es sich nicht um verkappte Radikale handelte. Ihre Denunziation der Radikalen hatte daher oft die Funktion der Schutzbehauptung gegenüber den Kräften der Tradition, während die moderate Aufklärung doch zugleich als Vehikel zur Verbreitung entschärft radikaler Ideen im Mainstream des Sagbaren und Denkbaren fungierte. Wie in jeder Längsschnittanalyse einer hegemonialen Formation läßt sich nie mit Gewißheit (und jedenfalls nur ex post factum) sagen, welche Kräfte zu einem bestimmten Punkt gerade in der Offensive und welche in der Defensive sind, denn zumeist agieren alle Kräfte zugleich offensiv und defensiv.
» D i al e k t i k d e r S äk u l a r i si e r u n g « u n d k a t ho l i s c h e r V e r n u n f t r e l a t i v i s m u s Fassen wir zusammen: In der internen antagonistischen Spaltung der, wie Israel nicht zu betonen müde wird, einen europäischen Aufklärung in einen moderaten und einen radikalen Flügel spiegelt sich der externe Antagonismus der Aufklärung insgesamt gegenüber dem staatlich-ekklesi148
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astischen Machtblock wider und bricht sich vielfach entlang wechselnder (interner wie externer) Allianzen und Fronten. Aus diesem Grund ist die Aufklärung nun weder ein »Projekt«, das historisch abgeschlossen wäre, noch ist es ein »unvollendetes Projekt«, das auf irgendeinen Abschluß zielen würde oder gar sollte. Sie ist zum einen emanzipatorisch nur nichtpräsentistisch denkbar als Ereignis einer kommenden Aufklärung, und zum anderen stellt sie »ontisch« eine historische (gegen-)hegemoniale Formation dar, deren Durchsetzungsgrad bis heute in letzter Instanz ungewiß bleibt, da wir selbst nach wie vor mitten in den Auseinandersetzungen dieser Formation – und um diese Formation – stehen.25 So kann es kaum überraschen, daß die Ausläufer der aufklärungstypischen Debatten die heutige Diskussion nach wie vor tangieren. Analysiert man vor diesem Hintergrund die Position Ratzingers, so fällt auf, daß die Kirche, nachdem der staatlich-ekklesiastische Machtblock in sich weitgehend zerbröckelt war, die Reste ihrer Hegemonie offenbar nur absichern konnte, indem sie die Allianz mit der gemäßigten Aufklärung suchte – und fand im gemeinsamen Kampf gegen die radikale Aufklärung. Die Konditionen dieser Allianz lassen sich Wort für Wort nachlesen im Protokoll eines Gipfeltreffens zwischen dem damaligen Präfekten jener kirchlichen Institution, die über die Reinhaltung der dogmatischen Lehre wacht, Joseph Ratzinger, und dem Hauptvertreter der heutigen Moderaten, der über das »unvollendete Projekt« der gemäßigten Aufklärung wacht, Jürgen Habermas. Deren »Dialog« – eigentlich zwei Reden, die am 19. Januar 2004 auf Einladung der Katholischen Akademie Bayern gehalten wurden – wurde unter dem treffenden Titel Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion veröffent-
25 Dabei schließt die Verteidigung der Aufklärung die Kritik oder Dekonstruktion der Aufklärung – ihres Photozentrismus, Logozentrismus, Eurozentrismus und, vergessen wir nicht, ihres Antisemitismus – ein. Erst vor diesem Hintergrund der rückhaltlosen Dekonstruktion der ja alles andere als harmlosen Aufklärungsdiskurse läßt sich eine kommende Aufklärung denken. Nicht nur muss diese rückhaltlose Dekonstruktion der Aufklärung dort als vorausgesetzt betrachtet werden, wo Derrida seinen Begriff eines unbedingten Rationalismus bzw. einer kommenden Aufklärung entwickelt, auch dieser Begriff eines unbedingten Rationalismus bzw. einer kommenden Aufklärung muss als vorausgesetzt gedacht werden, wo Derrida in scheinbar allzu konzessiven Worten (also »moderaten« Worten, aber: der Antagonismus zwischen radikaler und moderater Aufklärung kann durch jeden einzelnen Autor hindurchlaufen) über »Religion« oder »Glauben« spricht. Vgl. Derrida, Jacques: Glaube und Wissen. Die beiden Quellen der »Religion« an den Grenzen der bloßen Vernunft, in: Jacques Derrida, Gianni Vattimo: Die Religion, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 9-108. 149
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licht. Ratzingers Version der Dialektik der Säkularisierung deckt sich inhaltlich mit den Thesen seines Vortrags zur »erkrankten Vernunft und mißbrauchten Religion«. Während einerseits, so die Dialektik, die »Pathologien der Religion«, namentlich Fundamentalismus und Terrorismus, das »göttliche Licht der Vernunft« als »Kontrollorgan« benötigten, seien umgekehrt die »Pathologien der Vernunft« »nicht minder gefährlich, sondern von ihrer potentiellen Effizienz her noch bedrohlicher«, was Ratzinger mit dem Verweis auf die Atombombe für bewiesen erachtet. Aus diesem Grund müsse die »Vernunft an ihre Grenzen gemahnt werden und Hörbereitschaft gegenüber den großen religiösen Überlieferungen der Menschheit lernen«, denn wenn sie sich »völlig emanzipiert«, »wird sie zerstörerisch«.26 So postuliert Ratzinger eine notwendige »Korrelationalität von Vernunft und Glauben, Vernunft und Religion […], die zu gegenseitiger Reinigung und Heilung berufen sind und die sich gegenseitig brauchen und das gegenseitig anerkennen müssen.« Korrelationalität bedeutet hier, politisch gesprochen, nichts anderes als Allianz zwischen Religion und moderater Aufklärung, denn »[o]hne Zweifel sind die beiden Hauptpartner in dieser Korrelationalität der christliche Glaube und die westliche säkulare Rationalität.«27 Die Beschwörung dieser Allianz ist bereits klarer Ausdruck der historischen Defensive, in die die aufklärungsfeindlichen Kräfte geraten waren. Gegen die Aufklärung läßt sich, außer man wollte sich mit Islamisten verbünden, kirchlicherseits nur noch mit der Aufklärung kämpfen. Das ist überhaupt nur möglich, weil die Aufklärung nach wie vor in sich gespalten ist zwischen einem moderaten und einem radikalen Flügel. So wird eine Allianz versucht mit ersterem gegen zweiteren. Ratzinger betont, daß er sich »in weitgehender Übereinstimmung« befindet »mit dem, was Jürgen Habermas über eine postsäkulare Gesellschaft, über die Lernbereitschaft und die Selbstbegrenzung nach beiden Seiten hin ausgeführt hat«28, wir kommen noch dazu. Daß eine solche Allianz überhaupt notwendig ist, macht sie zum Ausdruck der Defensive, sie wird aber zugleich gewendet und genutzt zur (Gegen-)Offensive, die nun im Namen der Toleranz auftritt, also des Schlagworts der gemäßigten Aufklärung.29 Der ursprünglich innerchristliche Sinn des Wortes (als Toleranz gegenüber den Anhängern anderer Konfessionen, schließlich anderer Religionen) wurde vom Diskurs der moderaten Aufklärer in Bittstellerhaltung 26 Jürgen Habermas und Joseph Ratzinger: Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion, Freiburg, Basel und Wien: Herder 2005, S. 56. 27 Ebd., S. 57. 28 Ebd., S. 56. 29 Vgl. J. Israel: Radical Enlightenment, S. 11. 150
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weitergeführt: Toleranz hieß Toleranz der Religionen untereinander, sowie, als Draufgabe, ein wenig Toleranz des staatlich-ekklesiastischen Machtblocks gegenüber den säkularen Kräften. So beinhaltet Säkularisierung aus Sicht der gemäßigten Aufklärung die Toleranz des Staates gegenüber der Religion. Noch in Habermas’ Vortrag an der Katholischen Akademie Bayerns kommt das deutlich zum Ausdruck. Der weltanschaulich neutrale liberale Staat müsse den religiösen Gemeinden sogar die Möglichkeit eröffnen, »über die politische Öffentlichkeit einen eigenen Einfluß auf die Gesellschaft im Ganzen auszuüben«. Auch bedauert Habermas jene »Folgelasten der Toleranz« in einem säkularen Staat, die etwa religiöse Abtreibungsgegner zu tragen hätten, er sieht sie aber dadurch aufgewogen, daß auch vom säkularen Bewußtsein »ein selbstreflexiver Umgang mit den Grenzen der Aufklärung erwartet« wird. Denn auch aus Sicht des säkularen Wissens sei religiösen Überzeugungen »ein epistemischer Status« zuzugestehen, »der nicht schlechthin irrational ist«.30 Und so kommt er zu dem Schluß: »Die weltanschauliche Neutralität der Staatsgewalt, die gleiche ethische Freiheiten für jeden Bürger garantiert, ist unvereinbar mit der politischen Verallgemeinerung einer säkularistischen Weltsicht.«31 An dieser Stelle liegen die Konsequenzen der moderaten Aufklärungsposition offen zu Tage: Der ursprünglich christliche Toleranzbegriff, der von einer defensiven Aufklärung aufgenommen wurde, um selbst ein Stückchen Toleranz einzuklagen, geht wieder über auf die Seite der Kirche (in Allianz mit der moderaten Aufklärung): Nun ist es der säkulare Staat, von dem Toleranz gegenüber den Kräften der Gegensäkularisierung gefordert wird. So kann es nicht überraschen, daß diese moderate Vorstellung von Toleranz von Vertretern des radikalen Flügels der Aufklärung nie forciert wurde. Staatliche Autorität sollte, anders als bei Habermas, gerade als Mittel zur Zerstörung und Diskreditierung ekklesiastischer Autorität eingesetzt werden.32 Und Toleranz, wo überhaupt von ihr die Rede war, bedeutete Redefreiheit, nicht Glaubensfreiheit. Sie bedeutete, in Spinozas Sinne der libertas philosophandi, wie es Israel ausdrückt: »freedom of thought and speech, and not liberty of conscience and worship«.33 Derrida hat die Gefahren der Verwendung des »moderaten« Toleranzbegriffs deutlich gesehen, ja war sogar beunruhigt von der neuen Konjunktur des Begriffs: »Daß Wort und Motiv der Toleranz tatsächlich wieder aufgetaucht sind, ist vielleicht eine Begleiterscheinung dessen, 30 31 32 33
Habermas/Ratzinger: Dialektik, S. 35. Ebd., S. 36. Vgl. J. Israel: Radical Enlightenment, S. 267. Ebd., S. 269. 151
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was man leichthin und etwas verwirrend die ›Rückkehr des Religiösen‹ nennt.«34 Und er weist darauf hin, daß, »wenn wir dem Andenken der Aufklärung treu sein wollen«, wir den Begriff der Toleranz neu befragen müssen, denn gerade aufgrund seiner religiösen Wurzeln »steht dieser Diskurs meistens auf seiten der Macht, immer verbunden mit gewissen herablassenden Konzessionen …«35 Toleranz, so Derrida, stehe »immer auf der Seite der ›Vernunft des Stärkeren‹, sie ist ein zusätzliches Zeichen der Souveränität; sie ist das gute Gesicht der Souveränität, die von oben herab dem anderen bedeutet: Ich lasse dich leben, du bist nicht unerträglich, ich lasse dir einen Platz bei mir, aber vergiß nicht, ich bin bei mir zu Hause …«36 Darin ist sie das Gegenteil von Gastfreundschaft, die in Derridas Verständnis ebenfalls unbedingt ist. Die unbedingte Vernunft kann nicht die »Vernunft des Stärkeren« sein, also jene des Habermas-Ratzingerschen Toleranzprogramms. Die radikale Aufklärung, in deren Tradition Derrida steht, ist aufgrund der Komplizität des Toleranzbegriffs mit dem, was Derrida die Souveränität nennt, und was ich, auf »ontisch-«historischer Ebene, den staatlichekklesiastischen Machtblock genannt habe, mehr als vorsichtig im Umgang mit diesem Konzept.37 Wo Toleranz, als »Vernunft des Stärkeren«, hingegen vom Ereignis der unbedingten Vernunft, also der radikalen 34 Ebd., S. 165. Es ist nicht ohne Ironie, aber auch nicht unbezeichnend, daß dieses Statement in einem weiteren Dialogbuch erschienen ist, diesmal einem Buch von Habermas und Derrida. Ähnlich wie im Dialogbuch zwischen Habermas und Ratzinger ist hier von einem Dialog nichts festzustellen. Es handelt sich um zwei getrennt geführte Interviews, die von der Herausgeberin eingeleitet und kontextualisiert werden. Gemeinsam ergeben beide Bücher aber ein schönes Bild des konstellativen Verhältnisses zwischen radikaler Aufklärung, moderater Aufklärung und Tradition. Als vermittelnder Dritter fungiert der gemäßigte Aufklärer Habermas, der sowohl mit Ratzinger als auch mit Derrida spricht. Ein Dialog zwischen Tradition und radikaler Aufklärung ist hingegen nur »über die Bande« der moderaten Aufklärung möglich. Ein Buch mit den gemeinsamen Autorennamen Ratzinger und Derrida gibt es nicht, und es ist – trotz Derridas (irreligiöser) Beschäftigung mit dem Thema Religion – auch kaum vorstellbar. 35 Ebd., S. 168. 36 Ebd. 37 Der militante Flügel der Aufklärung wäre sogar noch weiter als Derrida gegangen und hätte, statt sich auf den »Toleranz«-Diskurs überhaupt einzulassen, die gänzliche Zerschlagung des Aberglaubens gefordert, was wiederum die Instrumentalisierung des Staats gegenüber der Kirche erfordert hätte. Das kann souveränistisch gedacht sein, es kann aber auch als der (historisch ja nicht ganz unerfolgreiche) Versucht gedacht sein, einen Keil in den staatlich-ekklesiastischen Machtblock zu treiben. 152
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Aufklärung als kommender, berührt wird, dort hört sie auf, »Toleranz« zu sein (ohne deswegen schon zu »Intoleranz« zu werden). Es ist in diesem Zusammenhang signifikant, daß gerade die Verteidiger des Glaubens – aus ihrer Position offensiver Defensive heraus – heute gar nicht mehr auf dessen (allerdings immer schon souveränistisch verstandenen) Unbedingtheit und Universalität bestehen, sondern Vernunft und Säkularisierung vielmehr mit einer durch und durch relativistischen Strategie bekämpfen. Das Argument Ratzingers ist so gesehen atemberaubend zeitgemäß in seinem Kulturrelativismus: Ratzinger tritt nicht auf, wie man es vielleicht erwartet hätte, in Verteidigung des wahren Glaubens gegen die Vernunft, sondern er pluralisiert die Vernunft von innen, was ihm erlaubt, sie zu ent-säkularisieren. Ratzinger postuliert die »faktische Nichtuniversalität der beiden großen Kulturen des Westens, der Kultur des christlichen Glaubens wie derjenigen der säkularen Rationalität«.38 Er schließt daraus, daß unsere säkulare Rationalität, so sehr sie unserer westlichen Vernunft einleuchtet, nicht jeder Ratio einsichtig ist, daß sie als Rationalität, in ihrem Versuch, sich evident zu machen, auf Grenzen stößt. Ihre Evidenz ist faktisch an bestimmte kulturelle Kontexte gebunden, und sie muß anerkennen, daß sie als solche nicht in der ganzen Menschheit nachvollziehbar und daher in ihr auch nicht im Ganzen operativ sein kann. Mit anderen Worten, die rationale oder die ethische oder die religiöse Weltformel, auf die alle sich einigen, und die dann das Ganze tragen könnte, gibt es nicht.39
Mit diesem kulturalistisch geerdeten Vernunftrelativismus gelingt es Ratzinger, den säkularen und universalistischen Vernunftbegriff in seine Schranken zu weisen. Was man früher mal »Glauben« nannte, wird nun zu einer gleichberechtigten Vernunftspielart und erlangt eine neue Legitimationsbasis gegenüber dem Aufklärungsuniversalismus, wenn auch natürlich um den Preis der eigenen Relativierung – allerdings mit dem politischen Mehrwert für Ratzinger, sich einen unerwartet progressiven Anstrich als Kritiker des Eurozentrismus geben zu können.40 Umgekehrt ist die »westlich säkulare Rationalität« somit nur noch akzeptabel, wenn 38 Ebd., S. 54. 39 Ebd., S. 55. 40 Daß dieser Kulturrelativismus selbst nichts anderes ist als ein impliziter Rassismus, wird klar, wenn man bei Ratzinger Sätze wie diese liest: »Die Stammeskulturen Afrikas und die von bestimmten christlichen Theologien wieder wachgerufenen Stammeskulturen Lateinamerikas ergänzen das Bild. Sie erscheinen weithin als Infragestellung der westlichen Rationalität, aber auch als Infragestellung des universalen Anspruchs der christlichen Offenbarung.« Habermas/Ratzinger: Dialektik, S. 54. 153
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sie alle anderen »kulturellen« Rationalitätsvorstellungen »toleriert«, einschließlich jener der katholischen Kirche.
D i e w o hl te m p e r i e r t e A u f k l är u n g u n d i hr A n d e r e s In Differenz zu Ratzinger bleibt Habermas natürlich Universalist und denkt nicht daran, sich zum partikularistischen Vernunftrelativismus Ratzingers bekehren zu lassen. Doch wer erwartet hätte, Habermas würde bezüglich der »Korrelationalität« zwischen säkularer Aufklärung und Glauben eine substantiell andere Position vertreten als Ratzinger, der irrt. Auch für Habermas ist einer »›entgleisenden‹ Säkularisierung der Gesellschaft« nur zu begegnen, wenn man sowohl die religiösen Lehren als auch die Traditionen der Aufklärung »zur Reflexion auf ihre jeweiligen Grenzen nötigt«.41 Habermas fordert die Lernbereitschaft der Philosophie gegenüber der Religion ein und fordert vom Staat, »mit allen den kulturellen Quellen schonend umzugehen, aus denen sich das Normbewußtsein und die Solidarität von Bürgern speist«42, weshalb er auch das »Gemeindeleben der Religionsgemeinschaften« verteidigt.43 Diese historisch späteste Version der gemäßigten Aufklärung kämpft schon lange nicht mehr für eine durchgehend säkularisierte Gesellschaft. Habermas will in die »postsäkulare Gesellschaft«: Der Ausdruck postsäkular zollt den Religionsgemeinschaften auch nicht nur öffentliche Anerkennung für den funktionalen Beitrag, den sie für die Reproduktion erwünschter Motive und Einstellungen leistete. Im öffentlichen Bewusstsein einer postsäkularen Gesellschaft spiegelt sich vielmehr eine normative Einsicht, die für den politischen Umgang von ungläubigen mit gläubigen Bürgern Konsequenzen hat. In der postsäkularen Gesellschaft setzt sich die Erkenntnis durch, dass die »Modernisierung des öffentlichen Bewusstseins« phasenverschoben religiöse wie weltliche Mentalitäten erfasst und reflexiv verändert. Beide Seiten können, wenn sie die Säkularisierung der Gesellschaft gemeinsam als einen komplementären Lernprozess begreifen, ihre Beiträge zu kontroversen Themen in der Öffentlichkeit dann auch aus kognitiven Gründen gegenseitig ernstnehmen.44
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Ebd., S. 17. Ebd., S. 32f. Vgl. ebd., S. 31. Ebd., S. 33. 154
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Aberglaube, wie die radikale Aufklärung das genannt hätte, darf also nur noch dort kritisiert werden, wo er sich als »pathologische« Verzerrung eines im Normalfall angeblich »vernünftigen« Glaubens darstellt – als wäre nicht jeder Glaube Aberglaube. Alle nicht-gewalttätigen Formen des religiösen Unsinns müssen wir hingegen kognitiv ernstnehmen, ja sie sind sogar erwünscht, da sie einen funktionalen Beitrag für die Reproduktion unseres normativen Wertebewußtseins leisten. Habermas und Ratzinger verstehen somit beide unter »Säkularisierung«, wo sie denn überhaupt noch davon hören wollen, die wechselseitig moderierende und vermittelnde Beschränkung von Vernunft und Religion. Nur so könnten die beiderseitigen »Pathologien«, der Fundamentalismus und die radikale Aufklärung, in Schach gehalten werden. Da sich die Allianz aus moderater Aufklärung und Religion über den Ausschluß dieser beiden »Pathologien« stabilisiert, liegt es wiederum nahe, beide zu einem einzigen Außen zu amalgamieren, also ein Naheverhältnis zwischen fundamentalistischem Irrationalismus und radikalaufklärerischer Vernunfthybris zu insinuieren. Daß Ratzinger dies nur mit dem antisemitischen Topos einer angeblich »kranken« und »zersetzenden« Vernunft gelingt, wurde bereits angesprochen. Doch bekanntlich fiel auch Habermas in seiner Kritik des Poststrukturalismus, obwohl nicht antisemitisch, nicht viel anderes ein, als die unbedingt radikalisierte Vernunftkritik des Poststrukturalismus entweder als jungkonservativen, neuheidnischen Irrationalismus (im Fall der Machtkritik Foucaults), oder, in Derridas Fall, als eine Variante des jüdischen Mystizismus zu beschreiben, wogegen Derrida sich wiederholt zur Wehr setzen mußte.45 Es ist hier nicht der Ort, um die Genese dieses Streits nachzuzeichnen, vor allem da die Kombattanten im glücklichen wechselseitigen Mißverständnis letztlich ihren Frieden gefunden haben, besiegelt durch 45 Indem Habermas Derrida der jüdischen Mystik zuordnet, rehabilitiert er ihn zwar vor dem Vorwurf Heideggerscher Deutschtümelei, denn die »Erinnerung an den Messianismus der jüdischen Mystik und an jenen verlassenen, aber wohlumschriebenen Ort, den der alttestamentarische Gott einst eingenommen hatte, bewahrt Derrida gleichermaßen vor der politischmoralischen Unempfindlichkeit wie vor der ästhetischen Geschmacklosigkeit eines mit Hölderlin angereicherten Neuheidentums«, Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, S. 197. Mit einem Streich gelingt es Habermas damit aber, die Dekonstruktion in ein Jenseits der Aufklärung und der Vernunft zu verbannen, wo sie evidentermaßen nicht hingehört. Der sekundierende Vorwurf, Derrida würde die umstandslose Auflösung der Gattungsgrenzen zwischen literarischem und argumentativem Sprachgebrauch betreiben, wiederholt nur das Argument, diesmal mit dem Schlagwort »Ästhetisierung«, ebd., S. 240, als Platzhalter für »Mystik«. 155
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Mißverständnis letztlich ihren Frieden gefunden haben, besiegelt durch die Verleihung des Adorno-Preises an Derrida. Doch vor dem Hintergrund unserer Diskussion bleibt festzuhalten: Was der frühere Habermas im französischen Denken als Gegen-Aufklärung beschrieb, steht tatsächlich in der Tradition der radikalen Aufklärung. Der Streit zwischen Diskursethik und Poststrukturalismus erweist sich als Ausläufer jenes inneren Antagonismus zwischen moderater und radikaler Aufklärung, der seit jeher die Tradition der Aufklärung spaltet. So ist es auch nicht ein dekonstruktiver Mystizismus, der die Paradoxien selbstbezüglicher Vernunftkritik entschärft, an denen sich Adorno noch abarbeitete, sondern es ist Habermas selbst, der das radikal Negative, oder wie Ratzinger sagen würde: das »Zersetzende« an Adornos Negativer Dialektik kommunikationsethisch moderiert. Diese normativistische Wendung der radikalen Aufklärung Adornos zur moderaten entschärft die radikale und darin – mit Derrida –»vernünftige« Kritik der Vernunft, um sie konsensualistisch einzuebnen. Unter diesem Aspekt wird das sogenannte Erbe Adornos und der ersten Frankfurter Schule heute wohl kaum noch von Habermas und seiner gesellschaftliche Konflikte, d.h. gesellschaftliche Negativität, am liebsten prozeduralistisch wegmoderierenden Diskursethik wachgehalten, sondern viel eher von jenen Ausläufern der radikalen Aufklärung, die sich den Paradoxien radikaler Vernunftkritik nach wie vor aussetzen. Am Ideal der wohltemperierten Sauce aus Vernunft und Glaube, das Ratzinger wie Habermas vorschwebt, kann unbedingte Vernunft also nicht teilhaben. Der »unbedingte Rationalismus« einer kommenden Aufklärung – die immer im Hier und Jetzt radikaler Aufklärung einzufordern ist46 – beinhaltet sowohl die Kritik (und/oder Dekonstruktion) einer instrumentellen oder teleologischen Vernunft als auch die Kritik (und/oder Dekonstruktion) eines gemäßigten und mäßigenden Vernünftelns. Darin besteht das Unbedingte und in gewisser Weise Unmögliche radikaler Aufklärung. Doch ohne dieses Unmögliche, und was sonst sagt Dekonstruktion?, wäre Aufklärung, und sei es die bescheidenste, nicht möglich.
46 Für eine ausführliche Diskussion der von Derrida immer wieder eingeklagten Aktualisierung einer kommenden Demokratie im Hier und Jetzt vgl. Oliver Marchart: Demonstrationen des Unvollendbaren. Politische Theorie und radikaldemokratischer Aktivismus, in: Okwui Enwezor et al. (Hg.): Demokratie als unvollendeter Prozess – Plattform I der Documenta 11, Ostfildern: Hatje Cantz 2002, S. 291-306. 156
D I E R H E T O R I K D E R B L I N D H E I T AL S T R A U E R A R B E I T I M S I C H T B A R E N BE I DERRIDA UND RILKE SILVIA HENKE
Es gibt nur wenige Referenzen in Derridas Werk zu Rilke – eine befindet sich in den Mémoires d’Aveugle und ergibt sich aus dem, was, so Derrida, »man die Rhetorik der Blindheit nennen könnte«.1 Ähnlich wie Roland Barthes Theorie zur Fotographie in biographischer Trauerarbeit um den Tod der Mutter kreist, taucht bei Derrida an dieser Stelle seiner Theorie des Selbstporträts das Gesicht der sterbenden Mutter auf: »Fest eingemauert in das Schweigen ihrer Lethargie, erkennt sie mich nicht mehr, und ihre Augen sind verschleiert vom grauen Star. Wie gut sie noch sieht, was sie sieht – Schatten vielleicht, die an ihr vorüberziehen – und ob sie sich sterben sieht –, darüber kann man nur Hypothesen aufstellen.«2 Wenn sich die ganzen Mémoires d’aveugle auf einen blinden Fleck des Sichtbaren im Bild beziehen3, dann entsteht umgekehrt mit dieser Erinnerung ein Bild der Blindheit. Derrida ruft die Zeichnung auf, die er damals am Krankenbett der Mutter machte. Dennoch ist er beim Zeichnen seines Erinnerungsbildes hier nicht im Medium der Zeichnung und auch nicht in der Fotografie, sondern in der Sprache. Die ›spontane‹ Assoziation wird geschrieben und führt deshalb nicht zum Bild der Blindheit, sondern zu einer »Rhetorik der Blindheit«: »Habe ich eben spontan gesagt, meine Mutter sei ›eingemauert‹? Dies ist nämlich eine der typischen Figuren dessen, was man die Rhetorik der Blindheit nennen könnte.« Die Metapher der in ihr Schweigen eingemauerten Mutter führt Derrida nun zu der »Blinden« von Rilke, zu deren
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Jacques Derrida: Aufzeichnungen eines Blinden. Das Selbstporträt und andere Ruinen, hg. und mit einem Nachwort versehen von Michael Wetzel, aus dem Französischen übersetzt von Andreas Knop und Michael Wetzel, München 1997, S. 44. Ebd. Vgl. das Nachwort von Michael Wetzel in ebd., S. 133. 157
SILVIA HENKE
»vermauerten Augen«4 und somit vom Mund (dem Schweigen) zu den Augen (der Blindheit). Diese Verschiebung ist signifikant in einem Buch, das Blindheit bespricht. Derrida führt sie in der Fußnote aus, in welcher er den Blinden aus dem Traum-Buch Rilkes in Erinnerung ruft und seinen Blindentraum. Eine entscheidende Stelle dieses Traumes besagt, daß man den Blinden ausreden (hervorh. v. mir, S.H.) könne, die Sterne seien Augen, die aus geschlossenen Lidern an den Himmel wandern.5 Die Blindheit wäre damit in einer anderen Logik von Sichtbarkeit angesiedelt: durchlässig für die Sprache, ungewiß im Bildstatus, offen für Einflüsterungen und Einbildungen. Rilkes Bild der Blindheit, das mit der Metapher der ›vermauerten Augen‹ gesetzt wird, gibt es nicht außerhalb des Textes – es bezieht sich auf keine Zeichnung, kein Abbild, keine Darstellung von etwas. Deshalb wird es uns, den Lesern von Rilke und hier den Lesern von Derrida eingeredet. Dieses Dazwischenkommen der Metaphorizität von Sprache in ihrer Möglichkeit, Bilder ein oder auszureden, könnte die Zeichnung überflüssig machen: man schließt die Augen und sieht, was die »Gespenster der Rede« bewerkstelligen. Aber – und hier schließt Derrida eine merkwürdige Hypothese an: Wer blind sieht, wird der Zeichnung nachtrauern: »Wird man je aufhören, der Zeichnung nachzutrauern? Meine Arbeitshypothese lautete auch: Trauerarbeit.«6 Das heißt, die Zeichnung im Sinne Derridas war vorher da, vor der Rhetorik der Blindheit und vor der Blindheit: sie hat sich im Unbewußten vorgespurt, sie ist überhaupt im Unbewußten und Unsichtbaren angesiedelt, als »transzendentale« Blindheit oder »als unsichtbare Bedingung der Möglichkeit einer Zeichnung«. Daneben stellt Derrida die »sakrifizielle Blindheit«, die das Motiv der Blindheit und somit das Undarstellbare darstellt.7 Es sind diese zwei Logiken des Unsichtbaren, die Derrida in seiner Anordnung vom blinden Zeichnen und Aufzeichnungen des Blinden in seiner Ausstellung und in seinem Buch verfolgt und die zu einer Verschränkung von Zeichnen und Sehen, Zeichen und Bild, Schrift und Körper führen, in welcher die Blindheit als das Undarstellbare eine mediale Grenze markiert. Als Bedingung der Möglichkeit des Zeichnens ist sie auch Bedingung der Möglichkeit eines Sinnesumschlags, wie er beim Zeichnen »im Moment der ursprünglichen Bahnung« passieren muß: »… in dem Augenblick, wo die Spitze der 4
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Ebd., S. 45. Das Gedicht von Rilke heisst »Die Blinde« und befindet sich im »Buch der Lieder«, in: R.M. Rilke, Sämtliche Werke Bd. 1, Frankfurt a.M. 1966, S. 465ff. R.M. Rilke: Das Traum-Buch, in: R.M. Rilke, Sämtliche Werke Bd. 6, S. 989ff. J. Derrida, a.a.O., S. 44. Ebd., S. 46. 158
DIE RHETORIK DER BLINDHEIT
Hand (des Leibes überhaupt) sich im Kontakt mit der Oberfläche vorwärts bewegt, wird die Einschreibung des Einschreibbaren nicht gesehen.«8 Wie aber wäre die Bewegung des blinden Zeichnens zu übertragen auf das Unsichtbare des Schreibbaren – auf das Derrida hier nicht zufällig zu sprechen kommt mit dem Begriff der »Einschreibung des Einschreibbaren«? Die Verschiebung vom Zeichnen zum Schreiben korrespondiert mit Derridas Verständnis von Malerei als Text, als einem poetischen Akt: wie der literarische Text kann sich das Bild nie als Ganzes zeigen, sondern bleibt im wesentlichen eine Spur mit Rändern und ›imaginären Bändern‹, die immer auf das verweisen, was fehlt – Metaphern, Symbole oder Brücken zwischen der Darstellung und dem Undarstellbaren.9 Die Malerei oder ›Die Wahrheit in der Malerei‹ führt deshalb immer zur Frage des Ursprungs der Darstellung.10 In den Aufzeichnungen eines Blinden nimmt Derrida diesen Diskurs der Malerei wieder auf und eröffnet programmatisch das Buch mit einer Schreibszene – mit Diderots Brief an Sophie Volland »Ich schreibe, ohne etwas zu sehen.«11 Ich möchte im folgenden Derridas Konzept der »Ruine des Sichtbaren«, das er für das Selbstporträt im Zeichen der Blindheit entwirft, mit Rilkes »Aufzeichnungen des M. L. Bringe« konfrontieren. In beiden Texten geht es – Zufall der Übersetzung – ums Zeichnen, ums Aufzeichnen, das französische Original mémoire macht allerdings deutlich, daß das Gedächtnis die Hand führt im Akt des Zeichnens/Aufzeichnens und somit zwischen Auge und Hand für das Sichtbare und seine Repräsentation zuständig ist. Im Hin und Her zwischen den beiden Texten wird es darum gehen, wie das Unsichtbare in die Zeichnung oder Aufzeichnung – ins Schreiben wie ins Geschriebene – hineinkommt und wie es dort mit dem Sichtund Sagbaren in Konflikt tritt. Ich möchte damit auf eine implizite Phänomenologie Rilkes aufmerksam machen, die sich mit der Derridaschen Bewegung der différance sowie mit dem Bild des visionären Zeichnens als einer Form des Intermedialen beschreiben läßt. Dabei ist eine Arbeitshypothese, daß das Motiv der Blindheit, das sich durch Rilkes Werk zieht, zur Kategorie der transzendentalen Blindheit gehört, zur Bedin-
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Ebd., S. 49. Jacques Derrida: Die Wahrheit in der Malerei (La vérité en peinture, 1978), aus dem Französischen von Michael Wetzel, Wien: Passagen Verlag 1992, S. 166. 10 Ebd., S. 165. 11 Diderot: Briefe an Sophie, dt. von Gudrun Hohl, Frankfurt a.M.: Eichborn Verlag 1989, S. 11 und J. Derrida, Aufzeichnungen eines Blinden, S. 9. 159
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gung der Möglichkeit des Sehens, die Derrida in den Memoiren eines Blinden und darüber hinaus interessiert.
G e si c h t e r u n d a n d e r e R u i n e n d e s S i c ht b a r e n i n » M al t e L au r i d s B r i g g e « In den »Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge« geht es auf den ersten Seiten und damit programmatisch ums Sehen-Lernen. »Ich lerne sehen«, wiederholt der Ich-Erzähler: »Habe ich es schon gesagt? Ich lerne sehen – ja, ich fange an. Es geht noch schlecht«.12 Wer daran ist, sehen zu lernen, dem ist nicht ganz zu trauen, denn: was zeigt er uns, er, der es noch nicht gut kann? Rilke exponiert mit den ersten Aufzeichnungen seiner autobiographischen Prosa, daß das Sichtbare nicht gegeben, sondern daß es das Ergebnis eines Zusammentreffens von einzigartigen Momenten ist, die immer eine Grenze markieren: Grenze des Sichtbaren, Grenze des Sagbaren, Grenze der Blindheit. Dabei geht es aber nicht um Bilder, die entweder im Entstehen oder im Verschwinden begriffen sind, das wäre ein harmonisches Konzept dieser Grenze des Vorstellbaren und damit auch der Blindheit. Mehr als um Entstehung oder Verschwinden geht es um gewaltsame Einbrüche und Ausbrüche des Sehens, es geht also wie bei Derrida um Ruinen des Sichtbaren, die sich in diesem autobiographischen Roman im Übergang verschiedener medialer Prozesse ereignen. Die »Ruinen des Sichtbaren« betreffen in Analogie zum Selbstporträt drei verschiedene Aspekte des Selbst in seinem Blickverhältnis mit sich und der Welt. Es sind drei Ereignisse, die jeweils zu einer Krise des IchErzählers führen und die alle die Fragwürdigkeit des Sehens als Abgrund des Bewußtseins erscheinen lassen. Sie betreffen das Gesicht, dann die Wand und zuletzt die Hand und sollen in der Analyse auch eine Spekulation darüber zulassen, inwiefern die Rhetorik der Blindheit als literarische Trauerarbeit aufgefaßt werden kann, wie Derrida dies in den Memoiren nahe legt und damit eine Phänomenologie der Wahrnehmung entwirft, in der es immer auch um den »Verlust (in) der Wahrnehmung« geht.13 12 R.M. Rilke: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, in: R.M. Rilke, Werke in drei Bänden, Bd. 3, Frankfurt a.M.: Insel Verlag 1966/1991, S. 11. 13 So die Kapitelüberschrift in G.C. Tholens »Die Zäsur der Medien«, in dem er Merleau-Pontys Spätwerk »Das Sichtbare und das Unsichtbare in seiner Bedeutung für das Konzept des Imaginären in der Psychoanalyse und der Medientheorie« unterstreicht. In: Georg Christoph Tholen, Die Zäsur der Medien, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Wissenschaft 2002, S. 61-110. 160
DIE RHETORIK DER BLINDHEIT
G e si c h t u n d N i c h t- G e si c h t Derrida schreibt in den Mémoires d’aveugle, daß das Ruinöse des Gesichts nicht aus einem Unfall und nicht aus dem Prozeß des Zerfalls kommt, nicht mit Verwesung und Tod zu tun hat, sondern am Anfang des Bildes steht. Die Ruine des Gesichts ist seine unmögliche Ganzheit, die es im Anblick bekommt, weil dieser Anblick, zum Beispiel im Selbstporträt, durchkreuzt wird von allen Gesichtern, die es zum Verschwinden bringt. Die Ruine, so Derrida, ist kein Thema, da sie vielmehr das Thema, die Setzung, die Präsentation und Repräsentation von allem ruiniert. »Eher ist die Ruine dieses Gedächtnis, das offen steht wie ein Auge oder das Loch einer knöchernen Augenhöhle und das Sie sehen läßt, ohne Ihnen etwas vom ganzen zu zeigen.«14 Der Prozeß des Sehens-Lernens, den Rilkes Malte in den ersten Aufzeichnungen einleitet, beginnt bei den Gesichtern: Malte versucht, Gesichter zu sehen, es sind die anonymen zufälligen Gesichter der Pariser Strassen und bald wird ihm klar, daß sie nicht zu zeichnen wären, da jedes Gesicht andere Gesichter verbirgt, weil jeder mehrere Gesichter habe – wobei es Leute gibt, die tragen ein Gesicht jahrelang, das sind die Sparsamen, »natürlich nutzt es sich ab, es wird schmutzig, es bricht in Falten, es weitet sich aus wie Handschuhe, die man auf der Reise getragen hat«.15 Und die anderen Gesichter, die im Verborgenen liegen, die sie schonen, was tun sie damit? »Sie heben sie auf für ihre Kinder, manchmal geht der Hund damit spazieren.« Die anderen, in deren Gesichter Malte sieht, daß sie sie jeden Tag wechseln, habe auch ihre Tragik: sie sind noch nicht vierzig und haben schon ihr letztes Gesicht, es ist schnell durchgewetzt, »hat Löcher, ist an vielen Stellen dünn, wie Papier, und da kommt nach und nach die Unterlage heraus, das Nichtgesicht, und sie gehen damit herum.«16 Diese Beobachtungen über Gesichter, die Malte nachträglich sieht – indem er sie aufzeichnet – verraten in der Metaphorik von Handschuh und Papier einen bildnerischen Prozeß. In ihm sind unsichtbare Signifikanten – Metaphern – am Werk, die keineswegs einem aktuellen Blick entspringen, sondern einem langen und langsamen Sehen, in dem das Denken sich vom Sehen trennt und sich einem Imaginären nähert, welches das Sichtbare fragwürdig werden läßt. Die verborgenen Gesichter in den manifesten Gesichtern verweisen sowohl auf die zeitliche Dimension des Imaginären wie auf die sprachliche: Gesichter, die einmal da waren, Gesichter, die in Falten brechen und Kontur bekommen, weil sie unsichtbare Gesich14 J. Derrida: Aufzeichnungen eines Blinden, S. 72. 15 R.M. Rilke: Malte Laurids Brigge, S. 111. 16 Ebd., S. 112. 161
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ter verbergen. So muß auch die sprachliche Darstellung zur Unmöglichkeit der Darstellung führen. Die ersten Skizzen der Gesichter führen ihn zu den Nicht-Gesichtern, zu »verwischten« und »ausgeräumten« Gesichtern, und enden bald mit einer Katastrophe. Mit der Frau, welcher er an der Ecke Rue Notre-Dame-des-Champs begegnet und die die erste Figur der Paris-Aufzeichnungen ist, die bei Malte eine Krise auslöst. Aber die Frau, die Frau: sie war ganz in sich hinein gefallen, vornüber in ihre Hände. […] Die Frau erschrak und hob sich ab, zu schnell, zu heftig, so daß das Gesicht in den zwei Händen blieb. Ich konnte es darin liegen sehen, seine hohle Form. Es kostete mich unbeschreibliche Anstrengung, bei diesen Händen zu bleiben und nicht zu schauen, was sich aus ihnen abgerissen hatte. Mir graute, ein Gesicht von innen zu sehen, aber ich fürchtete mich doch noch viel mehr vor dem bloßen wunden Kopf ohne Gesicht.17
Ein Gesicht von innen – ein bloßer wunder Kopf ohne Gesicht: das sind nur Bezeichnungen für einen Anblick, der nicht zum Bild werden kann, weil hier eine grauenvolle Spur das Sehen/den Blick ablenkt oder bannt. Es ist also im Sehen-Lernen Maltes bereits eine Grenze des Sehens erreicht. Eine Frau ohne Gesicht ist nicht nur die Zurücknahme des Blicks, sie ist eine Steigerung der knöchernen Hohlform der Augenhöhle des Blinden bei Derrida, eine metonymische Radikalisierung der Blindheit, die zu Kapitulation führt. Man könnte sagen, vor dieser offenen Wunde der Blindheit verschließt sich nicht nur der Blick: es versagt auch die Sprache. Die Grenze des Sehens fällt zusammen mit der Grenze der Darstellung und der konkreten bildlichen Vorstellung. Und genau dort führt der Text in den Bereich der Ein-bildung, die interessanterweise aus dem Bild hinaus ins Dreidimensionale führt: dort nämlich kann sich ein Gesicht vom Kopf lösen, im Modellieren gehört die Hohlform des Außenreliefs zum Sichtbaren. Insofern kann dieses entkörperlichte, nicht anzublickende und blicklose Gesicht auch als Resultat einer Intermedialität genommen werden, die eine doppelte visuelle Realität hat. Einmal als Einbildung, die am Ort der Darstellung zwischen Sehen und Schreiben geschieht, dann aber auch als Maske, die zwischen Bild und Figur liegt, weil die Maske, so Derrida, ihrem Wesen nach mit der Skulptur und der Zeichnung verwandt ist.18 Die Maske als Figur der Intermedialität könnte somit auch als Scharnierstelle gelten, mit welcher sich in der ›Aufzeichnung‹ die Außenseite und die Innenseite der Wahrnehmung (das Unsichtbare) zusammenschließt und damit auch zwei Zeitlichkeiten koppelt: Gesicht und Nicht-Gesicht liegen nur scheinbar zeitlich auseinander, ei17 Ebd. 18 J. Derrida: Aufzeichnungen eines Blinden, S. 80. 162
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gentlich sind sie ineinander, wie der Blick auf die ersten Gesichter gezeigt hat. Somit bezeugt die lineare narrative Folge der Aufzeichnung ›zuerst war da ein verborgenes Gesicht, dann ein vom Kopf abgelöstes‹ einen zeitlichen Aufschub, der eher einem ›Wirbel‹ gleicht als einer Linie. Gesicht und Nicht-Gesicht sind in der »Topologie des Imaginären« nicht verwandt, sondern untrennbar verbunden.19
D i e Wa n d u n d d i e Ru i n e d e r E r f a h r u n g Ein anderer Anblick Maltes, der zur Zäsur im Sehen führt, siedelt sich ebenfalls an der Grenze zwischen Innen und Außen an. Es ist der überraschende und schmerzhafte Anblick der Innenseite eines Hauses, das abgebrochen wurde und dessen ganze Präsenz sich in die Spuren der Brandmauer zurückgezogen hat, die nun die Außenmauer des nächsten, noch stehenden Hauses bildet. Es handelt sich um eine blinde Wand, denn es ist eine Wand ohne Fenster. Diese Blindheit wäre nicht zuletzt eine metonymische Konsequenz dessen, daß ihr Anblick unmittelbar auf die Begegnung mit einem Blinden folgt, die der Ich-Erzähler mit beschwörerischer Insistenz festhält: »Ich habe einen alten Mann gesehen, der blind war und schrie. Das habe ich gesehen. Gesehen.«20 Tatsächlich führt diese Beschwörung, den Blinden gesehen zu haben, nicht zum Visuellen, sondern zum Akustischen: Malte hält fest, daß der Mann geschrieen hat und was er geschrieen hat: »Chou-fleur!« Maltes Gedächtnis kümmert sich nicht darum, wie ein Blinder aussieht, der Blumenkohl verkauft, er läßt dieses Bild stehen, um im nächsten Anblick, im Anblick der Häuser Antwort zu geben. Doch das metonymische Schweifen seines Blickes produziert eine Verschiebung, die die Antwort darauf für immer aufschiebt: der Blinde ist aus dem Blick und wird als unsichtbarer Signifikant durch den Anblick der Häuser reflektiert. In dem Sinne hat Rilkes Ich-Erzähler an diesem Punkt der Aufzeichnungen sein Sehen-Lernen so entwickelt, daß darin die Phänomenologie des künstlerischen Sehens erkennbar wird. Wird man es glauben, daß es solche Häuser giebt? Nein, man wird sagen, ich fälsche. Diesmal ist es Wahrheit, nichts weggelassen, natürlich auch nichts hinzugetan.21 19 Tholen spricht von der »Dazwischenkunft eines Zeitwirbels«, der konstitutiv ist für die Topologie des Imaginären und der sich in keinem Ablaufschema fassen lässt. In: G.C. Tholen, a.a.O., S. 72. 20 R.M. Rilke: Malte Laurids Brigge, S. 148. 21 Ebd., S. 149. 163
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Die Vergewisserung des Icherzählers für das faktisch Sichtbare und die Wahrheit des Gesehenen stolpert hier bereits über das Gesetz der Negation, wie es Freud formuliert hat, und nimmt das Negierte als Schlagschatten mit. Der Schatten wird bald sehr deutlich, er hat weniger mit Fälschung als mit Einbildung zu tun. Denn beim Anblick der Wand unterläuft das Gedächtnis von Anfang die Präsenz des Gesehenen und führt lautlos eine Zeichenopposition ein, bei der das Sichtbare als Spur des Abwesenden in den Seinsbereich der Einbildung führt. Woher aber kommen die Einbildungen über diese eine Brandmauer? Einen Schlüssel für die Produktion der schrecklichen Bilder und Gerüche, die sich im Ich-Erzähler sturzbachartig einstellen, liefert er selber: »Denn das ist das Schreckliche, daß ich sie erkannt habe. Ich erkenne das alles hier, und darum geht es so ohne weiteres in mich ein: es ist zu Hause in mir.« Die nach außen gestülpte Wand wird somit durch den Prozeß der Erkenntnis ins Innere zurück verschoben, wo es zur Metapher wird. Der Icherzähler blickt damit auf die Wand wie in einen Spiegel, der die unheimlichen Geschichten der alten Zimmer in sein Heimliches/Inneres zurückwirft. Vor diesem ›Selbstporträt‹ wendet er sich wie geblendet ab, denn was er erkannt hat, hat er blitzartig erkannt: »Man wird sagen, ich hätte lange davorgestanden, aber ich will einen Eid geben dafür, daß ich zu laufen begann, sobald ich die Mauer erkannt hatte.«22 Das Sujet des Selbstporträts, so Derrida, ist die Angst. So ist die Wand das nach außen gekehrte Vergessen, ein Palimpsest, der die Augen öffnet – nicht nur für das Vergangene, sondern für das Kommende. Deshalb der Schrecken, deshalb die Abwendung. Daß das Bild in seinen memorialen Zügen auch auf Kommendes verweist, ja, daß dies der Aufschub im Sehen ist, der einen noch ausstehenden Schrecken ankündigt, wird beim Weiterlesen deutlich: Malte wird im Davonlaufen vor der Wand einem Sterbenden begegnen, insofern ist die Angst, diese Angst im Spiegelbild der Wand, an der sich das Innere des Icherzählers nach außen stülpt, Todesangst. Die Wand wird zum Zeichen, das sich zwischen Blindheit und Tod schiebt. Die raumzeitlichen Überlagerungen, die Rilke damit einführt, um das Vorgestellte der Vergangenheit als noch immer Bevorstehendes zu zeichnen, haben ein interessantes Gegenstück, bei dem das Haus nicht aus den Ängsten wächst, sondern mit ihnen einstürzt. Es ist das überall in ihm zerstreute Haus des Großvaters, Urnekloster, kein Gebäude, nicht einmal Ruine: So wie ich es in meiner kindlich gearbeiteten Erinnerung wieder finde, ist es kein Gebäude, es ist ganz aufgeteilt in mir; da ein Raum, dort ein Raum und hier ein Stück Gang, das diese beiden Räume nicht verbindet, sondern für sich 22 Ebd., S. 151. 164
DIE RHETORIK DER BLINDHEIT
als Fragment, aufbewahrt ist. […] Es ist, als wäre das Bild dieses Hauses aus unendlicher Höhe in mich hineingestürzt und auf meinem Grunde zerschlagen.23
Während die Spuren der Vergangenheit auf der Brandmauer eine Kaskade von Einbildungen und olfaktorischen Eindrücken hervortreiben und das amputierte Innenleben des Hauses wieder anfügen, existiert von diesem erinnerten Haus kein Stück, kein Bild mehr – nur mehr Eindrücke und Brüche, die nie mehr zu haben und zu sehen sind. Aber vielleicht ist es genau das, was Derrida, weit übers Selbstporträt hinausgehend, von der Ruine sagt: daß sie kein Thema sei, kein Motiv, sondern die Setzung, die die Präsentation und Repräsentation von allem und jedem ruiniert.24 Trotzdem muß man sie lieben – wie Malte dieses zerschollene Haus liebt, ohne es sagen zu müssen, weil die Ruine immer Liebe bezeugt. »Wie etwas anderes lieben als die Möglichkeit der Ruine? Etwas anderes als die unmögliche Ganzheit?«25 Was die Ruine als Sinnbild der Dekonstruktion vermag, vermag sie auch kraft ihrer Bestimmung als einer Erfahrung. »Sie ist die Erfahrung selbst.«26Sowohl im bildnerischen Selbstporträt mit seiner notwendigen Blindheit wie auch in der Autobiographie, dem literarischen Gegenstück zum Selbstporträt, nimmt die Erfahrung der Ruine Einfluß auf die Darstellung, betrifft das Gesehene ebenso wie das zu Schreibende. »Noch eine Weile kann ich das alles aufschreiben und sagen. Aber es wird ein Tag kommen, da meine Hand weit von mir sein wird, und wenn ich sie schreiben heißen werde, wird sie Worte schreiben, die ich nicht meine.«27 Die Erfahrung der Ruine und Liebe zur unmöglichen Ganzheit führt auch ins Herz der Poetik der Dekonstruktion: »Meine Hand weit von mir.« Diese Poetik der Dekonstruktion, in der die Signifikanten sich über das Gemeinte erheben, das Subjekt des Schreibens dem Eigensinn der Worte unterworfen wird, soll hier nicht in erster Linie als Theorie taxiert werden, sondern in ihren Auswirkungen auf das Gedächtnis des Schreibenden der »Aufzeichnungen«, das sich an die Erfahrung der Hand knüpft. Es ist eine der dunkelsten Aufzeichnungen in »Malte Laurids Brigge«, eine Erfahrung, die nie zur Sprache kam außer im Geschriebenen, niemandem konnte Malte davon erzählen, außer sich selber.28 23 24 25 26 27 28
Ebd., S. 129. J. Derrida: Aufzeichnungen eines Blinden, S. 72. Ebd. Ebd. R.M. Rilke: Malte Laurids Brigge, S. 156. Ebd., S. 192. 165
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D i e H an d u n d d i e P r o t he s e d e r A n g st Das Erlebnis mit der ›Hand‹ führt zurück in die Kindheit, vom Schreibtisch an den Zeichentisch zurück, wo es geschah. Wir sind also bei der Aufzeichnung einer Szene des Zeichnens. Es passiert, daß der kleine Malte seinen Farbstift verliert und unter den Tisch klettert, um ihn zu suchen. Als sich die Augen langsam an das dort herrschende Dunkel gewöhnen, folgt sein Blick seiner Hand, die nach dem Stift tastet, er beobachtet sie, »wie sie sich ganz allein, ein bißchen wie ein Wassertier, da unten bewegte […] mit Bewegungen, die ich nie an ihr beobachtet hatte«. Doch nun geschieht das, was Malte nie jemandem erzählen konnte, er erzählt es auch nur sich selber, weil – anders als andere übersinnliche Erscheinungen in seinen Aufzeichnungen – diese Szene eine Dunkelkammer der Erinnerung geblieben ist. Aber wie hätte ich darauf gefaßt sein sollen, daß ihr mit einem Male aus der Wand eine andere Hand entgegenkam, eine größere, ungewöhnlich magere Hand, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Sie suchte in ähnlicher Weise von der andern Seite her, und die beiden gespreizten Hände bewegten sich blind aufeinander zu. Meine Neugierde war noch nicht aufgebraucht, aber plötzlich war sie zu Ende, und es war nur Grauen da.29
Malte erzählt hier eine umgekehrte Entwicklungsgeschichte, die von der Hand des Zeichnens zur Hand des Tastens führt, von der Darstellung zur Blindheit mithin. Maltes Aufzeichnungen führen also wieder an den Ursprung der Darstellung im derridaschen Sinn und hier sofort zum Entsetzlichen. Es ist wieder eine Spiegelgeschichte, zwei Hände, die aufeinander lossteuern, unkontrollierbar durch Blicke, losgelöst, so scheint es, von den Körpern. Die Legende findet keine Erklärung, keine Auflösung, wir erfahren als Leser nur, daß Malte davon nicht erzählen kann. Und daß das Erlebnis mit der Hand, die sich vom Körper gelöst hat und ihm aus der Wand ins Auge sticht, nicht wieder gut zu machen und auch nicht mitteilbar ist. Ob sie wirklich sichtbar war? Maltes Aufzeichnung siedelt sich direkt im Zweifel über die Sichtbarkeit und an der Grenze der Sichtbarkeit an. Das Auseinanderdriften von Wahrnehmung und Objekt der Wahrnehmung30, das in alle Aufzeichnungen einen Zweifel über die Gewißheit des Gesehen-Habens verhängt, wird hier zum irreparablen Riß. 29 Ebd., S. 195. 30 Dieses Auseinanderdriften ist eine konstitutive Kraft für das »Chiaroscuro der Wahrnehmung« in Merleau-Pontys »Das Sichtbare und das Unsichtbare«, mit dem Tholen es in der Topologie des Imaginären verortet. In: G.C. Tholen, a.a.O., S. 66f. 166
DIE RHETORIK DER BLINDHEIT
Und wiederum führt der Riß in der Wahrnehmung zum Entwurf einer intermedialen Konstellation: die Hand unter dem Tisch wäre als Traumoder Filmbild realisierbar, als körperliches Bild nicht. Somit wäre auch diese Ruine des Sichtbaren als Produkt einer Einbildung zu fassen, die immer schon da war, vorgezeichnet im visuellen Gedächtnis. Die Szene entspricht also der Aufzeichnung eines Blinden, der in der Wechselseitigkeit von Sehen und Tasten zu einer Einprägung kommt und damit die innige Verbundenheit von Blick und Hand entdeckt, wie sie MerleauPonty beschreibt und wie sie Derrida in der Stilfigur des Chiasmus im Nachdenken über Malerei übernimmt.31 Aber Malte glaubte an das, was er sah, er glaubte zu sehen. Man könnte die Szene auch als Urszene im psychoanalytischen Sinn sehen und die Hand wie den Stift als Signifikanten einer symbolischen Szene deuten: der Junge sucht unter dem Tisch mit der Hand nach seinem kleinen roten stumpfen Stift, den er verloren glaubt, und stößt auf die große Hand, die ihn in seiner Suche aufscheucht und straft. Die Kastrationsangst, die sich im Tasten nach dem verlorenen Stift unter dem Tisch artikuliert, wäre somit Teil oder Auslöser anderer Phantasmen über die Zerstückelung des Körpers, in deren Folge sich auch Hände vom Körper lösen können.32 Und verbunden mit der Blindheit, in welcher sich diese Urszene ereignet, könnte man mit Michael Wetzel sagen, daß Urszenen deshalb zu den Aufzeichnungen eines Blinden gehören, weil sie einen nachträglich konstruierten Bildraum anstelle einer Erfahrung setzen, bei der man sehend blind wurde, weil das einst Erblickte nicht zum Bild werden durfte und in seiner Verschmelzung mit Ausgeblendetem und Verdrängtem undarstellbar bleibt33. Die Hand, die Malte wie einen Blindenstock unter dem Tisch navigieren läßt, wird zur Prothese und bekommt Augen, wie in der Geschichte des blinden Bildhauers, die Derrida erzählt: »… mir fiel auf, daß der Maler jede seiner Fingerspitzen mit einem Auge versehen hatte, um sichtbar zu machen, daß die Augen, die er anderswo hatte, ihm zu nichts nütze waren.«34 Und indem Maltes Hand Augen hat, erhält sie ein Spiegelbild: die Hand, die ihr aus der Wand entgegenkommt, gehört zum Anderen, den 31 Vgl. dazu Derrida, Die Wahrheit in der Malerei, S. 196, und MerleauPonty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 173 sowie Michael Wetzel, a.a.O., S. 146. 32 Über den Zusammenhang des Kastrationsphantasmas mit einer Reihe von Phantasmen, »die die Zerstückelung des Körpers imaginieren«, vgl. Jacques Lacan: Die Familie, in: ders., Schriften III, Olten/Freiburg i.Br.: Walter Verlag 1980, S. 69. 33 Michael Wetzel, a.a.O., S. 139. 34 Roger de Plies: Geschichte eines blinden Bildhauers, zit. in: Jacques Derrida, Aufzeichnungen eines Blinden, S. 46. 167
SILVIA HENKE
jedes Spiegelbild zeigt und vor dem der kleine Junge, wie später der erwachsene Ich-Erzähler vor dem Gesicht der Wand und vor der Frau ohne Gesicht, zusammenbricht: sie sind zu groß, sie verweisen den IchErzähler auf seine Unvollkommenheit, aber sie sind das, womit er sehen lernt. Ungefähr am gleichen Ort der autobiographischen Erinnerung ereignet sich ein anderes Spiegeldrama, das diese Dissoziation von Ich und Spiegelbild zu einem Kampf radikalisiert. Es ist die Szene, wo Malte sich im Spiel mit Kostümen verliert und völlig vermummt und mit einer Maske im Gesicht vor einen alten Spiegel tritt. Dabei wird der Moment, wo er sich als Unbekannter im Spiegel entdeckt, zu einer Katastrophe im Sinn einer verrückten Wendung: der Andere im Spiegel wird zum Subjekt, Malte zum Spiegelbild: Während ich in maßlos zunehmender Beklemmung mich anstrengte, mich irgendwie aus meiner Vermummung hinauszuzwängen, nötigte er mich [d.h. der Spiegel, S.H.], ich weiß nicht womit, aufzusehen und diktierte mir ein Bild, nein eine Wirklichkeit, mit der ich durchtränkt wurde gegen meinen Willen; denn jetzt war er der Stärkere und ich war der Spiegel.35
Kein Bild, eine Wirklichkeit, das ist die Tücke des Spiegelbildes. Und wenn hier das Spiegelbild jede Ähnlichkeit mit dem Subjekt versagt, wird das Ich in seinem Bewußtsein ausgelöscht: »ich verlor alle Sinne, ich fiel einfach aus. Eine Sekunde lang hatte ich eine unbeschreibliche, wehe und vergebliche Sehnsucht nach mir, dann war nur noch er: es war nichts außer ihm.«36 Diese katastrophale Wendung hat nichts mit dem primären narzißtischen Drama der Faszination zu tun, sondern mit der Erfahrung einer immer möglichen Ablösung des Spiegelbildes vom Körper, in welchem der Körper nicht mehr selbstidentisch bleibt, sondern gewissermaßen im Blickkampf mit dem Spiegel entkörperlicht wird. Der Andere bei Rilke heißt immer auch das Große, das zu Große, und ist mehr als ein Fremdes: es führt zu Auslöschung, Blindheit und Vernichtung. Der Blick in den alten Spiegel, der auch deshalb zum Verlust der Sinne führt, weil er aus »einzelnen ungleich grünen Glasstücken zusammengesetzt«37 ist, ist symptomatisch in diesen Aufzeichnungen, indem er das radikalisiert, was alle metaphorischen Spiegel in Rilkes Autobiographie reflektieren: die Ruine des Ich, der unmögliche Blick des Subjekt auf sich selbst als Intaktes, die das literarische Subjekt genau so betrifft wie das malerische. Die 35 R.M. Rilke, a.a.O., S. 208. 36 Ebd. 37 Ebd., S. 203. 168
DIE RHETORIK DER BLINDHEIT
Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge sind in diesem Sinn Aufzeichnungen eines Blinden, in welchen Rilke eine Phänomenologie der Selbstanalyse unternimmt, die ihn selber und auch die Verehrer seiner Lyrik lebenslänglich ängstigte.38 Aber gerade dieser ungesicherte Status des Buches in der Selbst-Anerkennung entspricht der Tatsache, daß die Autobiographie wie das Selbstporträt eine Hypothese des Selbst formuliert, die Derrida in seiner Eröffnung der Aufzeichnungen eines Blinden für die Hypothese des Sehens hält.39 Für die autobiographischen Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge ist diese Hypothese Hypothek wie Gewinn: sie hat Rilke an den Ursprung der Darstellung und damit zu den Bedingungen der Möglichkeit des Schreibens geführt: Wer führt die Hand? Woher weiß sie, wie sich bewegen? Welche Augen führen sie? Weiß die Hand, was auf dem Papier erscheinen wird? Diese Fragen der mémoires d’aveugle konzentrieren sich nicht zufällig in der kleinen Urszene des Zeichnens bei Rilke und es darf in diesem Kontext nicht erstaunen, daß die Fragen, die sich darum ranken, mehr und mehr werden, je länger man sie ansieht. So daß man sich als Leser/in und sensibel für die Hypothesen des Sehens gegenüber dem Text vorkommt wie Malte gegenüber dem Buch der Gouvernante, das diese liest, während er zeichnet: »Sie war weit weg, wenn sie las, ich weiß nicht, ob sie im Buche war; sie konnte lesen, stundenlang, sie blätterte selten um, und ich hatte den Eindruck, als würden die Seiten immer voller unter ihr, als schaute sie Worte hinzu, die sie nötig hatte und die nicht da waren.« Somit beträfe das, was wir nötig haben, um einen Text abzuschließen, immer das, was nicht da ist. Auch wenn wir es hinzuschauen – und hier hat das Lesen denselben hypothetischen Status wie das Sehen: das Hinzugeschaute bleibt Zeugnis für das, was fehlt.
38 Bekanntlich hat Rilke nach der großen Krise, die ihn nach Beendigung des Malte heimsuchte, ganz Abstand genommen von der Prosa und sich zum Dichter der Engel und Elegien gewandelt; die Selbstbetrachtungen aber mit ihrer Implikation des Ruinösen hat er Briefform lebenslänglich nicht aufgehört zu verfassen. 39 J. Derrida: Aufzeichnungen eines Blinden, S. 9. 169
M O H N U N D G E DÄ C H T N I S . WEITER(GE)DENKEN NACH PAUL CELAN JACQUES DERRIDA
UND
SANDRO ZANETTI »Denken und Danken«, »gedenken«, »eingedenk sein«, »Andenken« und »Andacht«: Diese Worte gehören, so Paul Celan in seiner Ansprache anläßlich der Entgegennahme des Bremer Literaturpreises von 1958, in denselben Bedeutungsbereich.1 Celan führt mit dieser Zusammenstellung von »gedenken«, »Denken und Danken« seinerseits einen Akt des Gedenkens aus, und er führt diesen Akt, indem er ihn zum Teil seiner öffentlich gehaltenen Dankesrede macht, auch vor. Celan ruft mit diesem vorgeführten Akt des Gedenkens, der zugleich auch Akt des Denkens und Dankens ist, einerseits eine Stelle aus Martin Heideggers Buch Was heißt Denken? in Erinnerung, eine Stelle, an der Heidegger nach einem möglichen Verhältnis von Gedächtnis, Dank und Denken fragt.2 Andererseits legt Celan mit seinen weiteren Ausführungen in der Bremer Rede den Akzent darauf, daß das Denken, das im Wort ›Eingedenken‹ hörbar bleibt, sich auch den Grenzen und Katastrophen zu stellen hat, die das Denken und Gedenken dort fundamental bedrohen, wo – wie im Zuge der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik – die möglichen Personen oder Zeugen des Denkens und Gedenkens zum Verstummen gebracht wurden. Celan akzentuiert und benennt damit, auf Umwegen, ein Pro-
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Paul Celan: Gesammelte Werke in fünf Bänden, herausgegeben von Beda Allemann und Stefan Reichert unter Mitwirkung von Rolf Bücher, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986, Band 3 (im folgenden zitiert als GW, Band, Seitenzahl), S. 186. Vgl. Martin Heidegger: Was heißt Denken?, Tübingen: Niemeyer2 1961, bes. S. 91. Dieses Exemplar hat sich – signiert von Heidegger »Für/Paul Celan/zum Dank für die Lesung/am 24. Juli 1967« – in Celans Bibliothek erhalten. Die erste Auflage des Buches von 1954, das auf Heideggers Vorlesungen vom Wintersemester 1951-52 und Sommersemester 1952 beruht, wird Celan allerdings bereits zum Zeitpunkt der Bremer Rede bekannt gewesen sein. 171
SANDRO ZANETTI
blem, demgegenüber das Denken Heideggers, so viel kann man wohl sagen, sich weitgehend als immun erwies.3 Bereits mit dem Titel des frühen Gedichtbandes Mohn und Gedächtnis von 1953, der eine Zeile aus dem Gedicht »Corona« zitiert, legt Celan eine Spur für seine nachfolgenden Auseinandersetzungen mit Gedächtnismodellen und Erinnerungspraktiken, die das Vergessen, den Rausch (Mohn), aber auch die Möglichkeit gewaltsamer Löschungen von Erinnerungen im individuellen ebenso wie im kollektiven sprachlich strukturierten Gedächtnis nicht von vornherein ausschließen. Spätestens seit Nietzsches Genealogie der Moral und seit Freuds Studien zum Unbewußten läßt sich die Qualität von Erinnerungs- und Gedächtnismodellen daran ermessen, wie sehr es mit ihrer Hilfe gelingt, das Vergessen als notwendige, aber auch als destabilisierende Komponente von Erinnerungsvorgängen und Gedächtnisstrukturen mitzubedenken. Celan hat auch diese Theorien zur Kenntnis genommen, sein Denken und Eingedenken aber, das auch die Möglichkeit des Vergessens noch zu erinnern versucht, in einer Sprache artikuliert, die im Bereich theoretischer Reflexion und Rückvergewisserung nicht aufgeht. Im folgenden stehen die Möglichkeiten und also auch die Grenzen eines solchen Denkens und Eingedenkens am Leitfaden eines Gedichtes von Celan mit dem Titel »Singbarer Rest« zur Diskussion: eines Gedichtes, das auch Derridas Auseinandersetzung mit Celan geprägt hat.
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Nach Celans Tod fand sich unter den zahlreichen Notizen und unveröffentlichten Gedichten, die er aufbewahrt hatte, folgende Aufzeichnung, vermutlich ein Entwurf zu einem Brief: »Heidegger//… daß Sie durch Ihre Haltung das Dichterische und, so wage ich zu vermuten, das Denkerische, in beider ernstem Verantwortungswillen, entscheidend schwächen« (zitiert nach Paul Celan/Gisèle Celan-Lestrange: Briefwechsel, mit einer Auswahl von Briefen Paul Celans an seinen Sohn Éric, aus dem Französischen von Eugen Hemlé, herausgegeben und kommentiert von Bertrand Badiou in Verbindung mit Éric Celan, Anmerkungen übersetzt und für die deutsche Ausgabe eingerichtet von Barbara Wiedemann, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, Bd. II, S. 404). Ein Entwurf zu einem nicht abgeschickten Brief: diese Gabe an die Nachwelt, diese Flaschenpost für die Zukunft, kennzeichnet, mit all ihrem Zögern, dem Ringen um Worte, vielleicht am besten das schwierige Verhältnis Celans zu Heidegger. Dieses Zögern, ja die Notwendigkeit dieses Zögerns oder, anders gesagt, die von diesem Zögern bewahrte Denkwürdigkeit droht, worauf Derrida in verwandtem Zusammenhang (im Hinblick auf Celans Besuch bei Heidegger, vgl. hierzu Jacques Derrida: Pardonner: l’impardonnable et l’imprescriptible, Paris: L’Herne 2005, bes. S. 49-58) zu Recht festgehalten hat, in einem einfachen Urteil – pro oder contra Heidegger – zu verschwinden. 172
MOHN UND GEDÄCHTNIS
Die folgenden Ausführungen bewegen sich also auf einem Feld, auf dem sowohl Celan als auch Derrida ihre Spuren hinterlassen haben. Dabei wird es allerdings nicht darum gehen, ›mit‹ Derrida Celan zu lesen. Wenn die Dekonstruktion ein Verfahren ist, dann jedenfalls nicht eines, das bestimmte Theoreme, und seien diese mit Derridas ›eigenem‹ Namen signiert, einfach ›anwendet‹, sondern eines, das, immer wieder von neuem, darauf aus ist, eine Auseinandersetzung mit den theoretischen – und nicht nur den theoretischen – Implikationen oder Explikationen im oder ausgehend vom jeweils Vorliegenden zu führen. Das Weiterdenken und Weitergedenken nach Celan und Derrida bestünde demnach vor allem in einem Weiterarbeiten an den Fragestellungen und Problemen, die sie – auf je unterschiedliche Weise – in ihren Schriften und in ihren Lektüren erörtert oder umschrieben haben. Zu diesen Lektüren gehören sowohl für Celan als auch für Derrida eine Reihe von gemeinsamen Bezugstexten – von Husserl und Heidegger, Nietzsche und Freud, Benjamin und Rosenzweig, Blanchot und Lévinas, um nur einige wenige Namen zu nennen.4 Darüber hinaus kann aber auch von einer gegenseitigen Lektüre gesprochen werden. So hat Celan, um bei ihm anzufangen, in seinen letzten Jahren die frühen Schriften von Derrida rezipiert. In Celans Bibliothek, die heute im Literaturarchiv in Marbach aufbewahrt wird, befinden sich unter anderem Derridas Aufsatzsammlung L’écriture et la différance/Die Schrift und die Differenz, in der Celan sich zahlreiche Passagen angestrichen hat (etwa im Aufsatz »Freud et la scène de l’écriture«/»Freud und der Schauplatz der Schrift«). Zudem befindet sich in Celans Bibliothek ein Sonderdruck von Derridas »La dissémination« mit einer Dankeswidmung. Derrida bedankt sich in dieser Widmung dafür, daß Celan ihm die Gedichtbände Sprachgitter und Atemwende geschickt hat.5 Umgekehrt hat Derrida Celan gelesen und sich mit dessen Gedichten – allerdings erst Jahre nach Celans Tod 1970 – auch in einer Reihe von Schriften auseinandergesetzt: zuletzt in der Redevorlage zur Gedenkfeier für Hans-Georg Gadamer ein knappes Jahr nach dessen Tod im März 2002. Derrida zitiert darin seinerseits die Fragen Heideggers zum Verhältnis von Gedächtnis, Dank und Denken, und er führt darin seinen – 4
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Vgl. hierzu, was Celan angeht, die entsprechenden Einträge im Verzeichnis der philosophischen Bibliothek Celans: Paul Celan: La Bibliothèque philosophique/Die philosophische Bibliothek, catalogue raisonné des annotations établi par Alexandra Richter, Patrik Alac et Bertrand Badiou, préface de Jean-Pierre Lefebvre, publié par l’Unité de recherche Paul Celan de l’École normale supérieure, Paris: Éditions Rue d’Ulm/Presses de l’École normale supérieure 2004. Vgl. ebd., S. 480-484. 173
SANDRO ZANETTI
wie er sagt – »unheimlichen Dialog« mit Gadamer vor allem durch ein Gedicht von Celan hindurch, mit dessen Werk bekanntlich auch Gadamer sich beschäftigt hat.6 In drei früheren Texten, Schibboleth von 1984, »A Self-Unsealing Poetic Text‹. Zur Poetik und Politik des Zeugnisses« aus dem Jahr 2000 und in den (erst 2005 erschienenen) Vorlagen zu seinen Seminaren der Jahre 1997 und 1998 rund um die Thematik des Vergebens hat Derrida zudem ausführliche Celan-Lektüren vorgelegt, die sich besonders mit dem Problem der Datierung, des Zeugnisses und der Verantwortung auseinandersetzen.7 Man kann also sagen, daß Derrida und Celan ebenfalls einen Dialog geführt haben, der, ungleichzeitig, vor allem über die Lektüren der Schriften des jeweils anderen verlaufen ist. Zudem haben sich die beiden auch persönlich gekannt, sie unterrichteten ab 1964 zeitgleich an der École Normale Supérieure in Paris. Diese biographischen Daten, von denen Derrida in seinem Buch Schibboleth schreibt, er werde sie ebensowenig »preisgeben« wie seine Erinnerungen an die Begegnungen und seine »Freundschaft«, wie er schreibt, mit Celan kurz vor dessen Tod,8 diese biographischen Daten 6
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Vgl. Jacques Derrida/Hans-Georg Gadamer: Der ununterbrochene Dialog, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Martin Gessmann, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, bes. S. 7-15 (zur Unheimlichkeit des Dialogs) und S. 17f. (zum Denken und Danken). Jacques Derrida: Schibboleth. Für Paul Celan (frz. 1986), aus dem Französischen von Wolfgang Sebastian Baur, Graz, Wien: Böhlau 1986, S. 40; J. Derrida: ›A Self-Unsealing Poetic Text‹. Zur Poetik und Politik des Zeugnisses, aus dem Französischen von K. Hvidtfeldt Nielsen, in: Peter Buhrmann (Hg.), Zur Lyrik Paul Celans, Kopenhagen und München: Wilhelm Fink Verlag 2000 (= Text und Kontext. Zeitschrift für germanistische Literaturwissenschaft in Skandinavien, Sonderreihe, Bd. 44), S. 147-182 (die französische Vorlage erschien erst 2005); J. Derrida: Pardonner, bes. S. 4958. Im Hinblick auf die Affinitäten und Differenzen zwischen Celan, Heidegger und Derrida müßte vor allem der zuletzt genannte Text ausführlicher diskutiert werden. J. Derrida: Schibboleth, S. 40, vgl. zu Derridas Verhältnis zu Celan zudem: Jacques Derrida: La langue n’appartient pas. Entretien avec Évelyne Grossman, in: europe. revue littéraire mensuelle 861-862 (79e année, Janvier-Février 2001), S. 81-91. Eine weitere Auseinandersetzung mit Celan findet sich in Jacques Derrida: Im Grenzland der Schrift. Randgänge zwischen Philosophie und Literatur. Gespräch mit Jacques Derrida, in: Spuren in Kunst und Gesellschaft 34/35 (Oktober-Dezember 1990), S. 58-70 (eine umfangreichere, überarbeitete Version dieses Textes erschien unter dem Titel »Übergänge – vom Trauma zum Versprechen« in: Jacques Derrida: Auslassungspunkte. Gespräche [frz. 1992], Wien: Passagen 1998, S. 377174
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und Erinnerungen werden im folgenden allerdings nicht im Vordergrund stehen. In den Ausführungen entlang des Gedichtes »Singbarer Rest« wird Biographie höchstens insofern eine Rolle spielen, als in diesem Gedicht das Verhältnis von Leben (bios) und Schreiben (graphein) gerade als ein problematisches exponiert ist. Wenn es, gedenkt man hier vor allem Derridas früher Schriften, eine Ideologie der Biographie gibt, dann besteht diese in der Suggestion der Möglichkeit, das im Wort ›Biographie‹ enthaltene ›Leben‹ könnte in seiner Lebendigkeit von der ›Schrift‹ aufbewahrt werden. Im Sinne einer Kritik genau an einer solchen Ideologie führt Celans Gedicht hingegen auf seine Weise vor, daß Leben sich in Schrift nur als abwesendes artikulieren kann, wobei diese Abwesenheit zugleich die Möglichkeit eines (unheimlichen) Dialogs eröffnet, dessen unsichere Zukunft das Gedicht, als Schrift, vorzeichnet: dies ein Grund, warum wohl auch Derrida sich für dieses Gedicht – immer wieder – interessiert hat.9 1964 erscheint Celans Gedicht zum ersten Mal, und zwar in einer Festschrift für Margarete Susman.10 1967 nimmt Celan es in den Band Atemwende auf. Das ist einer jener Gedichtbände, die Celan Derrida persönlich hat zukommen lassen. Dabei dürfte zwar nicht bereits die Niederschrift des Gedichtes »Singbarer Rest«, wohl aber die an Derrida gerichtete Gabe des Atemwende-Bandes, der dieses Gedicht enthält, bereits im Wissen darum geschehen sein, daß dieses Gedicht bei Derrida auf Interesse stoßen dürfte: auf ein von Celan und Derrida geteiltes Interesse an Fragen der Einschreibung, Überlieferung und Erinnerung. Die folgenden Überlegungen teilen dieses Interesse ebenfalls: dankbar, wohl im Wissen darum, daß die Beunruhigungen, die Erfahrungen und Gesten, die für Celans und Derridas Interesse leitend gewesen sind, im Gewand nüchterner
398). Zudem findet Celan Erwähnung in folgenden Texten: J. Derrida: Die Einsprachigkeit des Anderen oder die ursprüngliche Prothese (frz. 1996), aus dem Französischen von Michael Wetzel, München: Wilhelm Fink Verlag 2003, S. 110f.; J. Derrida: »Es gibt nicht den Narzißmus« (Autobiophotographien), in: ders.: Auslassungspunkte. Gespräche, S. 209-227 (bes. S. 222), und J. Derrida: Donner la mort, Paris: Galilée 1999, S. 185 und 192. 9 Vgl. bes. J. Derrida: Schibboleth, S. 82, und ders.: Der ununterbrochene Dialog, S. 29. 10 Manfred Schlösser (Hg.): Für Margarete Susman. Auf gespaltenem Pfad, Darmstadt: Erato Presse 1964, S. 75. – Die folgenden Überlegungen zu diesem Gedicht beruhen auf den weiter differenzierten, aber anders kontextualisierten Ausführungen im »Schrift«-Kapitel meiner Dissertation: »zeitoffen«. Zur Chronographie Paul Celans, München: Wilhelm Fink Verlag 2006 (bes. S. 132-148). 175
SANDRO ZANETTI
Philologie neutralisiert zu werden drohen, aber auch in der Hoffnung, daß die Spannung – und nicht die Suggestion von Einheit – zwischen den Prämissen, die für jede interessierte Auseinandersetzung mit Texten auf ihre je spezifische Weise bestimmend sind, der Möglichkeit eines beweglich bleibenden Eingedenkens und Weiterdenkens zugute kommen könnte. Singbarer Rest – der Umriß dessen, der durch die Sichelschrift lautlos hindurchbrach, abseits, am Schneeort. Quirlend unter Kometenbrauen die Blickmasse, auf die der verfinsterte winzige Herztrabant zutreibt mit dem draußen erjagten Funken. – Entmündigte Lippe, melde, daß etwas geschieht, noch immer, unweit von dir.11
Derrida hat in seinem Buch Schibboleth als erster darauf aufmerksam gemacht, daß das Gedicht, merkwürdig genug, mit einem Ende beginnt, daß es von einem Überbleibsel ausgeht, daß es mit einem Rest anfängt.12 Auf diese Überlegungen Derridas und ihre möglichen methodologischen Implikationen wird zurückzukommen sein. Zuvor jedoch sei eine Lektüre dieses Gedichtes vorgeschlagen, die dieses Gedicht als poetologische Arbeit zu charakterisieren versucht – als eine Arbeit, die in ihrem Anspruch allerdings mit jener Arbeit korrespondiert, die Derrida ›Dekonstruktion‹ genannt hat. Diese Korrespondenz erklärt auch, nebenbei bemerkt, warum Celans Arbeiten für Derrida weit eher als Vorarbeiten in Frage gekommen sein dürften denn als Gebilde, deren immanente dekonstruktive Tendenzen erst – wie etwa bei Rousseau oder Saussure – mit viel Geduld offengelegt werden müßten: Als Resultat dichterischer Arbeit sind diese Tendenzen bei Celan bereits offengelegt, ohne daß freilich von einem Abschluß die Rede sein könnte – die Auseinandersetzung geht, in der Lektüre, weiter, und in ihr allein, wenn überhaupt, kann es, und das gilt 11 Hier wiedergegeben nach der Fassung in Atemwende (GW 2, S. 36). 12 J. Derrida: Schibboleth, S. 82. 176
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nicht nur im Hinblick auf die Texte von Celan, für die Arbeit der Dekonstruktion und die Dekonstruktion der Arbeit eine Zukunft geben: eine Zukunft für das, was im Denken und, vor allem, im Eingedenken – auch im Gedenken an Derridas Arbeit – nicht bereits als gelöst und also als erledigt gelten kann. Wenn es eine Ethik der Dekonstruktion gibt,13 dann nimmt sie in der uneingeschränkten Bejahung einer solchen Zukunft und dem, wodurch sie ermöglicht wird, ihren Anfang. Von einer solchen Zukunft handelt auch Celans Gedicht. – Der Titel des Gedichts evoziert die Möglichkeit von Gesang, und er schreibt diese Möglichkeit einem Rest zu. Indem nun aber das Gedicht selbst – schwarz auf weiß, übriggeblieben vom Vorgang des Schreibens – auf einem Rest beruht, einem Schriftrest, der seinerseits die Möglichkeit von Gesang eröffnet, läßt der Titel den von ihm genannten Rest nicht nur als einen vom Gedicht thematisierten, sondern als einen vom Gedicht auch verkörperten lesbar – und singbar – werden. Das Gedicht ist singbarer Rest – und es handelt von singbarem Rest. Diese Unentschiedenheit läßt sich bereits an der Stellung des Titels ablesen, der einerseits, durch Kapitälchen-Schrift, vom folgenden abgehoben ist und auf diese Weise das Thema vorgibt, andererseits aber, als Incipit, das Teil der ersten Zeile ist, auch in der ersten Strophe und somit im Gedicht aufgehoben ist – in ihm aufgeht. Die vom Titel parallel bedeuteten Sachverhalte gehören Bereichen zu, die im Kontext des Gedichts allerdings nicht unverbunden sind: Nur weil das Gedicht singbarer Rest ist, weil es also geschrieben dasteht, kann es von einem singbaren Rest auch handeln. Ist mit der Singbarkeit die Möglichkeit von Gesang angesprochen, so ist diese Möglichkeit in diesem Gedicht allerdings in dem Maße dazu bestimmt, bestehen (also weiterhin übrig) zu bleiben, wie sie sich auch künftig nicht – oder eben nicht restlos, nicht erschöpfend – in eine Wirklichkeit überführen läßt. In der dritten, der letzten Strophe verkümmert dieser mögliche Gesang dann, als evozierter, zur Meldung: »melde,/daß etwas geschieht«. Traumatisch oder kalkuliert, verbleibt in diesem Gedicht die Möglichkeit des Gesangs – auch und gerade auch in ihrer Wiederholung – auf der Schwelle insbesondere zu einer solchen Wirklichkeit, in der sie ohne weiteres vergessen werden könnte. Der Rest eröffnet die Möglichkeit eines zukünftigen, noch nicht verlautbarten Gesangs, zugleich verweist er auf eine Vergangenheit, die er selbst überstanden hat und deren Relikt er ist. Dabei resultiert das Zukünftige (das noch nicht Passierte) daraus, daß das Vergangene, das der Rest anzeigt, sich nicht zu einem vollends Prä13 Vgl. hierzu vor allem, im Hinblick auf Celan: Hent de Vries: Das Schibboleth der Ethik. Derrida und Celan, in: Michael Wetzel und Jean-Michel Rabaté (Hg.), Ethik der Gabe. Denken nach Jacques Derrida, Berlin: Akademie Verlag 1993, S. 57-80. 177
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sentablen erheben läßt. Etwas blieb und bleibt ungereimt und wird ungereimt bleiben: so ungereimt wie das Gedicht. Vom Vergangenen ist in der ersten Strophe auch die Rede. Es ist von ihm allerdings derart die Rede, daß von seinem Rest her (dem »Umriß«, der schon in der ersten Zeile genannt ist) nicht mehr als angedeutet wird, nicht mehr als angedeutet werden kann, worin dieses Vergangene genau bestanden hat, ist doch der Satz, der den Umriß nennt, selbst nur ein Satzrest. Die erste Strophe besteht im wesentlichen aus einem Nebensatz, der ein Verb in der Vergangenheitsform nennt. Die Strophe deutet auf ein Vergangenes hin, zeigt aber über das Fehlen eines Hauptsatzes mit finitem Verb (verdeutlicht auch durch den Gedankenstrich) zugleich ein Moment von Gegenwarts- und Zukunftsoffenheit, Zeitoffenheit an. Der Umriß ist bestimmt als »der Umriß/dessen, der durch/die Sichelschrift lautlos hindurchbrach,/abseits, am Schneeort.« Wer hindurchbrach, bleibt aber ungenannt, unbekannt. Er bleibt es in dem Maße, wie sich im Umriß, der von dem Geschehen seines Durchbruchs allein noch übriggeblieben ist, der allein noch genannt werden kann, die Umstände gelöscht haben, die sich in ihm überlebt, die zu ihm hingeführt, ja die ihn allererst ermöglicht haben, um in ihm zu verschwinden. Diese Löschung wird durch die Lokalisierung des Geschehens »am Schneeort« antizipiert. Schnee dämpft Geräusche, macht sie »lautlos«, er verdeckt, worauf er fällt, und er beeinträchtigt, bei anhaltendem Schneefall, die Sicht.14 14 Der Schneeort rückt damit in die Nähe der »U-topie« (GW 3, S. 199), auf die Celan im Meridian zu sprechen kommt, nur daß diese »U-topie« hier im Gedicht einer lebensfeindlichen (Schnee-)Wüste ähnelt. Es könnte sein, daß Celan hier einen Dialog mit Margarete Susman führt, für die er das Gedicht (zu deren 90. Geburtstag) geschrieben hat und mit der er zwischen Dezember 1962 und November 1965 auch einen kurzen Briefwechsel führte. In seinem Exemplar des Buches Deutung biblischer Gestalten von Susman unterstreicht Celan sich die hervorgehobenen Worte in folgendem Satz: »Wüste bedeutet, wo immer sie auftaucht, auch eine raumfremde innere Wirklichkeit; sie bedeutet eine äußerste Grenze des Lebens und Lebenkönnens.« Margarete Susman: Deutung biblischer Gestalten, Konstanz, Stuttgart: Diana Verlag 1960, S. 18. Es ist zu vermuten, daß diese Bemerkungen auf Susmans Beschäftigung mit Hölderlin und Nietzsche zurückzuführen sind. Celan hingegen nimmt den Schneeort und seine Wirklichkeit – den Rest – zum Anlaß, die »äußerste Grenze des Lebens«, wie Susman schreibt, dort zu befragen, wo kaum mehr auszumachen ist, woran so etwas wie Leben in einer lebensfeindlichen Umgebung noch entziffert werden könnte. Celan datiert seine Lektüre von Susmans Deutung biblischer Gestalten auf den 9. und 10. Januar 1963. Die Zuwendung zu Susmans Schriften und der Briefwechsel mit ihr stehen unter dem Zeichen einer fortgesetzten Beschäftigung Celans mit den Spuren jüdischen Denkens im 20. Jahr178
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Der genannte Schneeort weckt aber nicht nur Assoziationen des Verlustes. Er bietet, handfest oder als Oberfläche gedeutet, auch beschränkte Gewähr dafür, daß sich in seinem Konglomerat etwas konservieren, sich in seiner Oberfläche eine Spur eindrücken oder ein Umriß abheben und gegebenenfalls erhalten kann: eine Konserve, eine Spur oder ein Umriß im Sinne des Restes, des Restes dessen, was an diesem Ort, ohne daß man genaueres wüßte, einst geschah.15 Liest man die Sichel im Wort »Sichelschrift« als Emblem des Todes, dann wird die Sichelschrift lesbar als Todesschrift. Der Durchbruch durch diese Schrift wäre demnach als Durchbruch in den Tod zu verstehen. Dieses Verständnis liegt nahe, zwingend ist es jedoch nicht. Fest steht im Gedicht nur, daß diese Schrift im Kontext des damaligen Geschehens eine Art Grenze markiert haben wird, man mag an einen Stacheldraht denken. In jedem Fall betont der Schriftcharakter allerdings, daß es sich – zunächst – um eine sprachlich oder eben schriftlich instituierte Grenze gehandelt haben wird, vielleicht um Befehle, Erlasse oder Verfügungen, die schließlich auch realiter das Ziehen von Grenzen, Aushundert und dem, was diese Spuren – Reste – für Celans eigene Arbeit, seine Dichtung und sein Leben noch bedeuten konnten. Auch das Gedicht »Singbarer Rest« ist – allein schon durch seine Plazierung bei der Erstveröffentlichung in der Festschrift für Susman – in diesem Zusammenhang zu lesen. Zugleich aber läßt sich, wie im folgenden noch zu zeigen sein wird, das Gedicht auf seine religiösen Präfigurationen, gerade auch was die messianische Komponente des Restes angeht (vgl. hierzu Giorgio Agamben: Il tempo che resta. Un commento alla ›Lettera ai Romani‹, Torino: Bollati Boringhieri 2000, S. 47-59), nicht beschränken. 15 Hier wird auch eine der Differenzen zwischen Celans Dichtung und jener Hölderlins deutlich, so wie Celan sie – unter anderem – durch die Lektüre der Schriften Heideggers wahrgenommen hat: In seinem Exemplar von Heideggers »Wozu Dichter?« aus der Sammlung Holzwege unterstreicht Celan den letzten der folgenden Sätze Heideggers zu Hölderlins »Brod und Wein«: »Dichter sind die Sterblichen, die mit Ernst den Weingott singend, die Spur der entflohenen Götter spüren, auf deren Spur bleiben und so den verwandten Sterblichen den Weg spuren zur Wende. […] Doch wer vermag es, solche Spur zu spüren? Spuren sind oft unscheinbar und immer die Hinterlassenschaft einer kaum geahnten Weisung. Dichter sein in dürftiger Zeit heißt: singend auf die Spur der entflohenen Götter achten.« Martin Heidegger: Holzwege, Frankfurt a.M.: Klostermann 1950, S. 250f. – In Celans »Singbarer Rest« hingegen steht der Gesang noch aus, die Spur ist der Rest eines Geschehens, der nicht mehr auf die Transzendenz entflohener Götter verweist, sondern auf den Verlust einer solchen Transzendenz. Diesen Verlust umschreibt das Gedicht in seinem weiteren Verlauf, im Versuch einer Tradierung von Lebens- und Sterbenszeichen. 179
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schluß und Einschluß von Lebendigem und Totem oder von anderem regeln, – sofern jemand sich dazu hergibt, diese Regeln umzusetzen. Fest steht im Gedicht aber auch, daß diese Grenze durchbrochen wurde.16 Die Sichel, ein Instrument der Trennung, kann ihre Funktion nicht mehr ausüben, wenn sie gebrochen ist. Im Gedicht wird sie als ihrerseits zerstörte zu lesen gegeben, so daß auch die Schrift als eine durchbrochene interpretierbar wird, als eine, die aus dem Geschehen des Durchbruchs nicht anders als selbst zerstört hervorgehen konnte.17 Sofern von dieser Sichelschrift etwas übriggeblieben ist, wird man auch sie, als durchbrochene, zum Rest dessen zählen dürfen, was an diesem Ort einst geschah. Der Durchbruch der Schrift läßt darauf aufmerksam werden, daß das Gedicht in seiner schriftlichen Verfassung Motive des erörterten Schriftbruchs aufnimmt: Das Gedicht ist ein mit jeder Zeile gebrochener Schriftzug, gebrochen in seiner Syntax, zudem abgeschnitten von der
16 Der Durchbruch von Grenzen gehört ebenfalls zu den religiös konnotierten Spuren in Celans Gedicht, wobei diese Spuren wiederum aus ihren traditionellen Rahmungen herausgelöst erscheinen und zunächst einmal nur als Strukturmerkmale fortbestehen (vgl. zum Durchbruch als mystische Erfahrung vor allem folgende Bücher, die sich auch in Celans Bibliothek erhalten haben: Rudolf Otto: Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen (1917), München: C.H. Beck 29-30(o.J.), S. 3, Gershom Scholem: Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Zürich: Rhein-Verlag 1957, S. 8, 9, 143f. und 290, Margarete Susman: Das Buch Hiob und das Schicksal des jüdischen Volkes, Zürich: Steinberg 1946, S. 16). Eine im Vergleich zu Celans Gedicht ähnlich säkularisierte Version des Durchbruchs erörtert Adorno in seiner posthum erschienenen bsthetischen Theorie. Darin nutzt Adorno den Durchbruch als kritisches Instrumentarium zur Bestimmung von antitotalitärer Kunst: »Ästhetik der Form ist möglich nur als Durchbruch durch die Ästhetik als der Totalität dessen, was im Bann der Form steht.« Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie (1970), herausgegeben von Gretel Adorno und Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973, S. 213. Damit nähert Adorno seinen dynamisierten Formbegriff an das an, was Celan im Meridian als Gestalt des Anderen bestimmt. Adorno schreibt weiter: »Kunst obersten Anspruchs« – und dies heißt bei Celan nicht »Kunst«, sondern »Dichtung« – »drängt über Form als Totalität hinaus, ins Fragmentarische« (ebd., S. 221). 17 Auch hier liegt ein – gebrochener – Bezug zur religiösen ›Vorgeschichte‹ der Elemente von Celans Gedicht nahe: Moses Zerschlagung der Gesetzestafeln. Celan streicht sich dazu passend die folgende Stelle in Susmans Deutung biblischer Gestalten an: »Es vollzieht sich in allen Zeiten geschichtlicher Wende etwas wie dies Zerschlagen der Tafeln.« M. Susman: Deutung biblischer Gestalten, S. 38. 180
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Möglichkeit einer vollständigen Vergegenwärtigung dessen, wovon offenbar nur unvollständig noch die Rede sein kann: auch auf dem Schneeort des weißen Papiers. Daß die Nähe von Schneeort und Papier in ihrer geteilten Farblosigkeit allerdings auch einen nicht auszublendenden Abstand impliziert, darauf deutet die Ortsangabe »abseits« hin. Sie deutet darauf hin, daß sich auch auf der Seite, auf der dieses Gedicht geschrieben steht, nur die vom schriftlichen Rest indizierte Abwesenheit, die Abseitigkeit und nicht etwa die volle Präsenz dessen zu lesen gibt, »der durch/die Sichelschrift lautlos hindurchbrach«.18 Liest man das in diesem Gedicht zwischen den beiden Gedankenstrichen Stehende – der größte Teil der ersten Strophe und die zweite, auf die noch zurückzukommen sein wird – als eine Art Einschub, dann wird deutlich, daß die dritte Strophe in gewisser Hinsicht an den Titel des Gedichtes anschließt. Was demnach, im indirekten Anschluß an den Titel, bleibt und was den singbaren Rest auszeichnet, ist ein Anspruch, der von ihm ausgeht. In diesem Anspruch macht sich das zukünftige Moment des Restes – das Messianische, wenn man so will – bemerkbar. Dieses ist dem Rest in dem Maße mitgegeben, wie in ihm die Möglichkeit eines Abschlusses im Sinne des Phantasmas einer ungebrochenen Vergegenwärtigbarkeit des Vergangenen entschieden in Frage gestellt ist. Dieser Anspruch ergeht, im Sinne des Unabschließbaren, das den Rest auszeichnet, an ein Du, wobei dieses Du – dieses Verständnis wird vom Gedicht über die explizite Aufforderung nahegelegt – dem Anspruch des Restes nur dann wird entsprechen können, wenn es die Zerstörung, von der die erste Strophe handelt und von der diese in stilistischer ebenso wie in semantischer und formaler Hinsicht gezeichnet ist, auch an sich selbst zu bemerken gibt. Nur eine Antwort, die den Hergang der Brechung nicht durch die Restitution des verlorenen Gehaltes rückgängig zu machen versucht, sondern die Kluft, die Verwundung der Sichel in die eigene sprachkörperliche Konstitution einträgt, hält auch – so dürfte sich die Konsequenz, die dieses Gedicht durchzieht, verdeutlichen lassen – weiterhin die Möglichkeit eines Gesangs offen. Dabei ist dieser mögliche Gesang nun – im Unterschied zu jenen Gesängen, von denen gesagt wird, daß aus ihnen einst die Lyrik hervorging – zunächst an den Rest eines schrift18 Die Abwesenheit eines Ursprungs, der sich als zugänglich erweisen könnte, kennzeichnet übrigens auch die Überlieferungssituation der erhalten gebliebenen Entwürfe Celans zu diesem Gedicht: Der erste überlieferte Entwurf zu »Singbarer Rest« hat sich nur als kaum lesbarer TyposkriptDurchdruck erhalten. Es sind nur farblose Spuren von Schreibmaschinenanschlägen, die wiederum die im Gedicht thematisierten Überlieferungsprobleme auf ihre Weise dokumentieren bzw. zur Diskussion stellen. 181
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lichen Durchbruchs gebunden. Das Gedicht steht am Ende einer Tradition, und es erschließt dieser Tradition die Möglichkeit eines anderen Anfangs – von ihrem Ende her. Soll weiterhin Gesang möglich sein, dann nur so, daß dieser auf seine endlichen Bedingungen stets zurückverwiesen bleibt. Ist diese Endlichkeit in der ersten Strophe mit dem Hinweis auf den Durchbruch und sein kaum näher bestimmtes Subjekt der Handlung markiert, so ist sie es in der letzten durch die »Entmündigte Lippe«. An sie ergeht der im Gedicht formulierte Anspruch »melde,/daß etwas geschieht, noch immer,/unweit von Dir.« Daß dieses Du nicht namentlich bestimmt ist, charakterisiert die Offenheit des Gedichts für diejenigen, die sich in diesem Du erkennen bzw. die mit ihm gemeint sein können. Hier gilt es jedoch zu präzisieren: Gewiß wird man, insbesondere in der ersten Strophe, an den unaufgeklärten Tod des von Celan verehrten Dichters Ossip Mandelstamm in Sibirien – dem Schneeort, »abseits« – zu denken haben, zudem an den Tod jener, die Celan nahestanden und die, wie seine Mutter, von deren Tod er im Winter 1942/43 erfuhr, unter kaum mehr rekonstruierbaren Umständen umgebracht wurden. Vielleicht könnte man das Gedicht, bis hin zur »Lippe«, auch als eine Art Selbstanrede Celans verstehen: das Gedicht als vorausgeschickter Überrest. Bei all dem bleibt aber das Gedicht auch offen für diejenigen, die nicht namentlich aufgeführt werden können, und es bleibt, in der letzten Strophe, der Anspruch an jene, auch die Leser, die sich im Gedicht als Gemeinte erkennen können, zum Beispiel als Entmündigte, die zunächst einmal dazu bestimmt sind, das Gedicht zu lesen, es nachzusprechen, ohne dabei, entmündigt eben, ›selbst‹ zu sprechen – oder zu singen. Der Anspruch »melde,/daß etwas geschieht, noch immer,/unweit von Dir« verdeutlicht mit dem Hinweis »noch immer«, daß er sich auf die Geschehnisse bezieht, die vorher angesprochen waren, zudem auf solche, die noch kommen werden, und zwar »unweit« dessen, der Meldung erstatten soll. Bezogen auf den Kontext des Gedichts wird man die Angabe »unweit von Dir« zunächst einmal auf die Geschehnisse beziehen können, die sich in der Lektüre – in der Unweite zwischen dem Blatt Papier und dem Leser – abspielen, wobei die Meldung dann diejenige Überschreitung andeutete, in der diese Geschehnisse – wenn etwa jemand darüber spricht oder schreibt – wiederum weitertradiert werden. Das Gedicht zeichnet die Spur einer Tradition nach (und vor), die sich nicht aus der Vogelperspektive, sondern aus dem Weitergeben oder Nahelegen von solchen Indizien erschließt, die ihre beschränkte Aussagekraft nicht verheimlichen, aber gerade in dieser Schwäche eine Chance erkennen lassen: nämlich diejenige, für solche Ereignisse sprechend zu werden,
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stimmhaft oder stimmlos, die ihrerseits über keine Stimme oder keine Stimme mehr verfügen. Die zweite Strophe bedürfte einer ausführlicheren Analyse. Folgendes sei jedoch festgehalten: Die erwähnte Bewegung der Tradierung läßt sich auch in der zweiten Strophe – verlagert in eine kosmologische, Gesichtszüge tragende Figuration – beobachten, die als Bindeglied zwischen den Geschehnissen der ersten und dem Anspruch der dritten Strophe gelesen werden kann. Zwischen den drei Strophen gibt es eine Reihe von Formähnlichkeiten, die sich durch das Gedicht hindurchziehen und die als Merkpunkte dieser Bewegung der Tradierung interpretiert werden können. Diese Bewegung führt – tendenziell zumindest – von einer Vergangenheit (1. Strophe) über eine Gegenwart (2. Strophe) in eine Zukunft (3. Strophe), hin also zum Anspruch gegenüber einem, aus der Perspektive des Gedichts, künftigen Du. Was nun die Formähnlichkeiten angeht, so nehmen die »Kometen-/ brauen« in der zweiten Strophe, ihrerseits im Schriftbild gebrochen (»Kometen-/brauen«), das Bild der gebrochenen »Sichelschrift« in der ersten Strophe wieder auf. Sie bilden, zusammen mit dem »Funken«, eine Art Sichel-Leuchtschrift am Himmel. In der »Lippe«, die wiederum an eine Sichelform erinnert, finden die gebrochenen Sichelformen so etwas wie ein Komplement. Fügt man alle Formen zusammen, ohne die Bruchstellen zu kitten, so mag sich eine Art »Umriß« ergeben.19 Jedenfalls gibt jede Strophe so etwas wie ein Bruchstück zu einem »Umriß« 19 Es liegt nahe, hier an die Tikkun-Vorstellung zu denken, die Celan über seine Lektüren der Schriften Bubers, Scholems und Susmans bekannt gewesen sein dürfte (vgl. hierzu Lydia Koelle: Hoffnungsfunken erjagen. Paul Celan begegnet Margarete Susman, in: Hubert Gaisbauer/Bernhard Hain/Erika Schuster (Hg.), Unverloren. Trotz allem. Paul Celan-Symposion Wien 2000, Wien: Mandelbaum 2000, S. 85-144, hier S. 114-117). Nach chassidischer Lehre ist die Herrlichkeit Gottes (die Schechina) bei ihrem Herabsinken in die Welt in unzählige Funken zerschellt. Seither sind, dieser Lehre zufolge, die göttlichen Funken in alle Erdendinge eingestreut. Dem Menschen ist es aufgetragen, sie zu erlösen, sie aus den Dingen emporzuheben, um sie wieder zu vereinigen. Koelle deutet den Funken in Celans Gedicht als Hinweis auf den Einigungsgedanken, der für die TikkunVorstellung im Sinne einer erlösenden Wiederherstellung und Heilung der Welt leitend ist. Das oben skizzierte Ensemble – der Umriß – von ähnlichen Formelementen, die für Celans Gedicht bestimmend sind, legt jedoch eher eine kritische Revision dieses Einigungsgedankens nahe: Im Vordergrund steht nicht die Einigung der Elemente, sondern die jeweilige Unvollständigkeit eines Elements, die in einem anderen fortlebt und dort wiederaufgenommen wird, um sich wiederum – in einer raum-zeitlichen Bewegung der Tradierung – einem anderen mitzuteilen. 183
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ab, zu dem man auch noch, als implizite Signatur dieser Bruchstücke, das C von Celans Namen zählen könnte, was in Celans Werk jedenfalls kein Einzelfall wäre. In der Mitte eines jeden Umrisses zeichnet sich von der ersten bis zur dritten Strophe der Ort eines Entzugs ab: der »Schneeort« in der ersten Strophe, die »Blickmasse« in der zweiten und der Un-Mund (der entmündigte Mund) in der dritten. Dabei nimmt letzterer beide Richtungen der zuvor genannten Bewegung(en) in sich auf: Etwas geht auf die Lippe zu, der Anspruch, und etwas soll von ihr wiederum weg- und weitergehen, die Meldung. Der Fluchtpunkt der Bewegung wird damit seinerseits wiederum zur Passage: Es könnte so weitergehen – und eben dieses Weitergehen wäre das, was Celan einmal das »Gespräch« des Gedichts nannte.20 Geht ein solches Gespräch weiter, im Lesen, im Weiterschreiben, dann ist es allerdings nicht als ein gleichzeitiges Gespräch zwischen zwei Gesprächspartnern zu bestimmen, die sich – und deren Denkwelten sich – gegenseitig präsent wären. Es fiele vielmehr mit der Bewegung der – unsicheren – Tradierung zusammen, deren Verlauf in »Singbarer Rest« auch die »Kometen-/brauen« in der zweiten Strophe umschreiben. Als Lichtspuren geben sie, allerdings nur sehr kurzfristig, Auskunft über ein bereits Vergangenes oder Vergehendes, dessen Ausrichtung auf ein Künftiges (die Ankunft des Lichtes an einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit) sie zugleich beschreiben. Mit den »Kometen-/brauen« ist zu20 GW 3, S. 198. – In einer Notiz zum Rundfunk-Essay zu Ossip Mandelstamm schreibt Celan, »das Gedicht« sei ein »zeitoffener Gegenstand«, »von Menschenmund dorthin« – ins »All« – »gesprochen« (Paul Celan: Der Meridian. Endfassung. Entwürfe. Materialien, herausgegeben von Bernhard Böschenstein und Heino Schmull unter Mitarbeit von Michael Schwarzkopf und Christiane Wittkop, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999, [Nr. 55] S. 70). In den Notizen zum Meridian wiederum verbindet Celan diese – gestische – Bewegung als eine Sprachbewegung, die zuletzt darin bestehe, daß sie in den »sterbliche[n] Mund, dessen Lippen sich nicht mehr ründen«, zurückkehre (ebd., [Nr. 375] S. 124). Dabei nähert Celan den stummen (toten) Mund der Schrift an und eröffnet somit die Möglichkeit, die Sprachbewegung als Bewegung zwischen (konsonantischer) Schrift bzw. totem Mund und lebendiger Vokalisierung zu bestimmen. Derrida hat im Hinblick auf ein anderes Gedicht von Celan darauf aufmerksam gemacht, daß Lippe und Sprache im Hebräischen synonym sind: »Sprache heißt im Hebräischen Lippe«. J. Derrida, Schibboleth, S. 50. Dies wiederum dürfte auch Celan bekannt gewesen sein. Macht man diesen Bezug – metonymisch oder übers Hebräische – für das Gedicht »Singbarer Rest« stark, dann läßt sich daraus auch das Konzept einer (unendlich) endlichen Sprache gewinnen, an und mit dem auf eine verwandte Weise wiederum Jean-Luc Nancy arbeitet. Vgl. hierzu Jean-Luc Nancy: Le partage des voix, Paris: Galilée 1982. 184
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dem ein unverkennbarer Hinweis auf Celans Husserl-Lektüren gesetzt: In den von Celan gelesenen und mit zahlreichen Anstreichungen versehenen, von Martin Heidegger 1928 herausgegebenen Vorlesungen Husserls zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins verwendet Husserl das Bild des Kometenschweifs, um das retentionale Moment von Sinnesdaten im gegenwärtig wahrnehmenden Zeitbewußtsein zu verdeutlichen.21 Es besteht kein Zweifel daran, daß Celan im Gedicht »Singbarer Rest« mit der Anspielung auf den Kometenschweif bei Husserl auch eine kritische Auseinandersetzung mit dessen Zeitphilosophie führt. Dabei ähnelt diese (implizite) Kritik erstaunlich jener, die Derrida in seiner frühen Schrift La voix et le phénomène/Die Stimme und das Phänomen formulierte. Diese Schrift22 erschien im selben Jahr, 1967, in dem Celan das Gedicht
21 Vgl. Edmund Husserl: Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, herausgegeben von Martin Heidegger, Halle: Niemeyer 1928, S. 391, 395. 22 Derrida erwähnt darin übrigens den Husserlschen »Kometenschweif« explizit. Vgl. Jacques Derrida: Die Stimme und das Phänomen. Einführung in das Problem des Zeichens in der Phänomenologie Husserls (frz. 1967), aus dem Französischen von Hans-Dieter Gondek (Neuübersetzung), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 85f.: »Die ›Jetzt-Auffassung ist gleichsam der Kern zu einem Kometenschweif von Retentionen‹ […], und ›nur eine punktuelle Phase ist jeweils als jetzt gegenwärtig, während die anderen sich als retentionaler Schweif anschließen‹ […] ›Das aktuelle Jetzt ist notwendig und verbleibt ein Punktuelles, eine verharrende Form für immer neue Materie.‹ (Ideen I, § 81) Auf diese Selbstidentität des aktuellen Jetzt bezieht sich Husserl in dem ›im selben Augenblick‹, von dem wir ausgegangen sind. Und im übrigen ist auch kein Einwand möglich, innerhalb der Philosophie, gegen dieses Vorrecht der Jetzt-Gegenwart. Dieses Vorrecht legt das eigentliche Element des philosophischen Denkens fest, es ist die Evidenz selbst, das bewußte Denken selbst, es beherrscht jeden möglichen Begriff der Wahrheit und des Sinns. Man kann es nicht verdächtigen, ohne daß man beginnt, das Bewußtsein selbst von einem Anderswo der Philosophie her zu entkernen, das der Rede jede mögliche Sicherheit und jede mögliche Grundlage nimmt. Und genau um das Vorrecht der aktuellen Gegenwart, des Jetzt dreht sich letzten Endes jene Auseinandersetzung, die keiner anderen zu ähneln vermag, zwischen der Philosophie, die stets Philosophie der Gegenwärtigkeit ist, und einem Denken der NichtGegenwärtigkeit, das nicht zwangsläufig ihr Gegenteil und auch nicht notwendig eine Meditation über die negative Anwesenheit oder gar eine Theorie der Nicht-Gegenwärtigkeit als Unbewußtes ist. Die Dominanz des Jetzt […] sichert die Tradition, die die griechische Metaphysik der Gegenwärtigkeit in der ›modernen‹ Metaphysik der Gegenwärtigkeit als Selbstbe185
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»Singbarer Rest« im Band Atemwende publizierte. Dabei legen beide – Celan und Derrida, wenn auch auf unterschiedliche Weise – den Akzent darauf, daß jegliches Zeit-Denken, das dem Gegenwärtigen, dem Bewußten, dem Lebendigen und dem Unkörperlichen einen unbedingten Vorrang einräumt, unzureichend bleibt. Denn was dadurch auf der Strecke bleibt, sind – auch im Freudschen Sinne – die Reste, auch die Schriftreste, die den Eindruck von Gegenwart erst erzeugen, diesen Eindruck in seiner vermeintlichen Selbstpräsenz aber auch stets bedrohen und in Frage stellen. In seiner Gedenkrede für Gadamer hat Derrida genau an diesem Punkt auch seine Kritik an der traditionellen Hermeneutik formuliert. Die von Derrida praktizierte »disseminale Lese- und Schreibpraxis [lectureécriture]«,23 wie er sie selbst nennt, unternimmt den Versuch, jenen Rest, den auch Celans Gedicht umschreibt und der ebenso sehr den prinzipiellen Überschuß an möglichen Bedeutungen in der Lektüre wie den Überschuß an Schriftmaterial beim Schreiben indiziert, nicht auszuschalten, sondern anzuerkennen als das »Überschießende«, das sich zwar prinzipiell »jeder Zusammenstellung in einer Hermeneutik« entzieht, das aber zugleich eine jede Lektüre- und Auslegungstätigkeit erst möglich und, unter Umständen, auch »notwendig« macht, so wie es »unter anderem auch die Spur des dichterischen Werkes möglich macht, ihre Preisgabe oder ihr Überleben, über die Frage hinaus, wer der Unterzeichner oder jeweilige Leser ist«. Selbst die »Hermeneutik wird« – so Derrida – »durch diesen Überschuß […] erst möglich […]. Ohne diesen Rest gäbe es nicht einmal den Anspruch, die Weisung, den Ruf, die Provokation, die in jedem Gedicht singende oder singen lassende Provokation, in jenem, was man mit Celan als Singbare[n] Rest bezeichnen könnte […].« wußtsein, Metaphysik der Idee als Repräsentation (Vorstellung) fortsetzt.« – Pajari Räsänen macht mich darauf aufmerksam, daß Derrida in Donner la mort, und zwar unweit der Hinweise auf Celan, die Phänomenalität von Literatur – deren Teilhabe am Phänomenalen, aber auch deren in dieser Teilhabe zugleich sich manifestierende Entzug des Phänomenalen in seiner Zeitlichkeit – am instabilen Modell von Meteoren aufhellt, die leuchtend in die Atmosphäre (die »Luft, die wir zu atmen haben«, GW 3, S. 192) eintreten, um in diesem Leuchten zugleich zu verschwinden, sich preiszugeben (vgl. J. Derrida: Donner la mort, S. 177f. und 185). Dieses Verschwinden wiederum läßt sich – gegen Phänomenologie und Sprechakttheorie gleichermaßen gerichtet – als ›entmündigte‹ Kraft, als die sich zurücknehmende Gewalt von Literatur interpretieren. Eine solche literarische ›Entmündigung‹ schwingt etwa beim ›Auswendiglernen‹ (beim ›apprendre par cœur‹, also ausgehend vom Herzen – und wohl auch bei seinen Trabanten) im Modus des Sing- und Sagbaren noch vor (und noch nach) jeder Indienstnahme für bestimmte Gehalte mit. 23 Hier und im folgenden: J. Derrida, Der ununterbrochene Dialog, S. 29. 186
D E N K E N A U F D E R B ÜH N E . D E R R I D A , F O R S Y T H E , C H É T O U AN E NIKOLAUS MÜLLER-SCHÖLL D i e G e n e r a ti o n , d i e n i c h t s z u s a g e n ha t – H yp o th e se In einem kurz vor seinem Tod gegebenen Interview kommt Jacques Derrida ein letztes Mal auf seine Verbundenheit mit Antonin Artaud zu sprechen und gibt dafür eine denkwürdige Erklärung. Über Jahrzehnte hinweg habe ihn ein Zitat dieses Mannes beschäftigt, das er früh gelesen und auf sich bezogen habe. Artaud schrieb, »daß er nichts zu sagen hat, daß ihm nichts auf irgendeine Weise diktiert sei, während ihm zugleich die Leidenschaft, der Trieb des Schreibens und sicher auch des Inszenierens innewohnten«.1 Dieses Zitat, so Derrida, spreche von einer Verantwortung des Schreibens, die immer gefühlt werde als »Höhlung, die von einer Leere ausgeht«, als eine Art Kénose der Schrift –, so daß letztendlich das, was es zu sagen gäbe, nicht vor dem Akt des Sagens existiert; denn, wenn der Inhalt der zu sagenden Sache vorab existierte, dann gäbe es einerseits keine Verantwortung zu übernehmen, kein Risiko, und andererseits sähe man, wie sich sowohl die Dichotomie als auch die Hierarchie zwischen Autor, Text und Bühne neuerlich herstellten. Der Autor meistert, beherrscht, er weiß, was er sagen will und diktiert: er diktiert sich und also schreibt er unter Diktat und Autorität des Autors, der weiß, was er sagen will.2
Nichts zu sagen zu haben – nichts, was dem Akt oder der Geste des Schreibens, des Denkens oder des Spielens auf der Szene vorausgeht, mit dieser Behauptung oder diesem Anspruch treten heute nicht wenige von 1
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Vgl. Jacques Derrida: Die Stimmen Artauds (die Kraft, die Form, die Furche), in: Joachim Gerstmeier/Nikolaus Müller-Schöll (Hg.), Politik der Vorstellung. Theater und Theorie, Berlin, Theater der Zeit 2006, S. 12-17, hier S. 12. Vgl. ebd. 187
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denen auf, die ihre darstellende Kunst – im Tanz, in Schauspiel oder Performance – als szenische Forschung und die Bühne als deren Resonanzraum begreifen. Wie Derrida zufolge Artaud geht es ihnen dabei darum, die Hierarchie zwischen dem Autor, Regisseur, Choreograph, Dramaturgen, Bühnenbildner oder Text auf der einen, und der Bühne, dem szenischen Geschehen, auf der anderen Seite aufzulösen. Die Bühne soll nicht in den Dienst genommen werden, weder für den souveränen Autor, noch für den souveränen Regisseur. Sie soll keine Idee wiedergeben, keine »große Erzählung«3, keinen Masterplan. Ihre Elemente sollen nicht dem Ziel der Vermittlung einer Botschaft oder eines Sinns untergeordnet werden. Neue Begriffe sollen vom veränderten Verständnis zeugen: Am meisten, so Tim Etchells, dem man für die Tendenz hier stellvertretend das Wort geben kann, werde er von den Momenten angezogen, wo das, was auf der Bühne gerade passiert, nichts als das ist, was gerade passiert: »I am very attracted to moments where what’s happening is what’s happening.«4 Andere setzen Spiel und Geschehen oder Darstellung und Handeln einander entgegen, wobei in beiden Fällen der zweite Begriff – Geschehen, Handeln – anders als im bekämpften oder als überkommen bezeichneten Verständnis von Theater nicht mehr als bloßer Teil des ersten gesehen werden soll, sondern vielmehr als Mittel ohne Zweck, bzw. als bloßes oder reines Mittel, das für sich zu stehen vermag. Stellt man das Arbeiten im Bereich des Theaters in den größeren Kontext des Denkens und der Theorie – und von diesem Kontext ist es überhaupt nicht trennbar – so wäre als gemeinsamer Anspruch oder gemeinsame Behauptung eines Denkens wie desjenigen Jacques Derridas und einer theatralen Praxis im skizzierten Sinne festzuhalten, daß man hier keinen »Inhalt« im überkommenen Sinne findet, nichts, was sich vom Vollzug, der körperlichen und stimmlichen Bewegung auf einer Szene, ablösen, in Gestalt von Thesen oder Theorie verselbständigt nach Hause tragen, archivieren, verwalten, lehren, zum Inhalt von Schulen verwandeln und also in toto zum Teil eines Betriebs machen ließe. Denken auf der Bühne – unter diesem Titel möchte ich hier zu fassen versuchen, was eine ganze Reihe von Theatermachern aller Sparten heute in unterschiedlichen Anläufen zu entwickeln versucht. Mit Blick auf Derridas Denken soll dieser Titel auf das Problem hinweisen, welches daraus folgt, daß, wie Derrida immer wieder konstatiert hat, das Denken 3 4
Vgl. zum Begriff der »Großen Erzählung« Jean-François Lyotard: Das postmoderne Wissen, Graz und Wien: Passagen 1986. Vgl. Adrian Heathfield: As if Things Got More Real. A Conversation with Tim Etchells, in: Judith Helmer/Florian Malzacher (Hg.), »Not Even a Game Anymore«. The Theatre of Forced Entertainment, Berlin: Alexander Verlag 2004, S. 77-102, hier S. 90. 188
DENKEN AUF DER BÜHNE
nicht ablösbar ist von einer Bühne, einem Theater des Denkens.5 William Forsythe soll unter dem Gesichtspunkt interessieren, wie er eine zentrale Frage Derridas in Gestalt verschiedener Formalisierungsversuche und des Rests, der in ihnen nicht aufgeht, auf die Bühne übersetzt hat, in den Tanz als »Denken in Bewegung«6. Im dritten Abschnitt möchte ich dem Hinweis Laurent Chétouanes auf die große Bedeutung Forsythes für seine Arbeit nachgehen, indem ich an dem von ihm mit Fabian Hinrichs erarbeiteten »Lenz« nachzuvollziehen versuche, wie hier die Erfahrung, für die Forsythe steht, aus dem Gebiet des Tanzes und der Choreographie ins Sprechtheater übertragen wird.
T he a te r d e s D e n k e n s – D e r r i d a Die große Frage, die Derridas Denken dem Theater, der Theorie und nicht zuletzt der Theatertheorie als Erbe hinterläßt, lautet: Wie ist das Einmalige zu denken – das Ereignis, der Akt, die Geste, das Schreiben, Denken oder Spielen – wenn es doch immer schon »auf der Szene« (sur la scène) statt hat, im Theater der Schrift oder der Körper, kurz: in Resonanzräumen, lieux de resonance7, wie er einmal schreibt, und dort von dem kontaminiert, was Derrida als »Iterierbarkeit« (iterabilité) bezeichnet, von der anfänglichen Wiederholung, die sich aus der Entfaltung in Raum, Zeit und Material der Darstellung ergibt?8 Ich lasse das Problem 5
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Vgl. dazu besonders eindrücklich: Jacques Derrida: »Le Sacrifice«, zit.n.: www.hydra.umn.edu/Derrida/sac.html, vom 10.5.2006, hier S. 5 von 6: »Penser sur le plateau signifie cet incroyable espace oú le savoir ne peut décider de ce qu’est le présent. De ce qui est présent sur la scène sous son manteau de visibilité. […] Pour ma part, je plaiderais plutôt pour une dimension théâtrale dans la philosophie afin de brouiller un peu l’opposition, fût-elle chiasmatique, entre théâtre et philosophie.« Diese Äußerung findet ihr Echo in einer ganzen Reihe ähnlicher Äußerungen in anderen Texten Derridas. Vgl. etwa: Evelyne Grossman: »Artaud, oui … Entretien avec Jacques Derrida«, in: europe 873-874 (2002), S. 23-38, insb. S. 38: »Je n’ai jamais écrit pour le théâtre, mais mon sentiment c’est que, quand j’écris quelque chose, même un texte de philosophie très classique, ce qui m’importe le plus, ce n’est pas le contenu, le corps doctrinal, c’est la mise en scène, c’est la mise en espace.« Vgl. Gerald Siegmund (Hg.): William Forsythe. Denken in Bewegung, Berlin: Henschel 2004. Vgl. zu dieser Formulierung: Derrida: Le Sacrifice, a.a.O., S. 1. Vgl. Jacques Derrida: Signatur Ereignis Kontext, in: ders.: Randgänge der Philosophie, aus dem Französischen von Günther R. Sigl, Wien: Passagen 1988, S. 291-314, hier 298. 189
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für einen Augenblick so vage, thetisch stehen und versuche, es entlang des Falls von Artaud und seiner Deutungen durch Blanchot und Derrida beispielhaft zu erläutern. Daß er »rein nichts schreiben könnte«, das, so Artaud in einem späteren Brief, sei das Thema der Bücher gewesen, mit denen er in der Literatur zunächst hervorgetreten sei.9 Im von Derrida zitierten Briefwechsel mit Jacques Rivière aus den Jahren 1923/24 stellt Artaud allerdings nicht nichts, sondern vielmehr sprachgewaltig die eigene Sprachlosigkeit und Darstellungsohnmacht dar, in Sätzen wie diesem: »Es gibt also etwas, was mein Denken zerstört; ein etwas, das mich nicht daran hindert, zu sein, was ich sein könnte, das mich aber, wenn man so will, in der Schwebe (en suspense) läßt«.10 Es ist nach Artaud selbst zunächst Maurice Blanchot, der daraus in seiner Aufsatzsammlung »Le livre à venir«, in einem von Derrida ebenso vehement gelobten wie kritisierten Essay11, ein »Unvermögen« macht, »das gleichsam mit dem Denken gegeben ist, aber aus ihm einen Mangel von äußerster Schmerzhaftigkeit, ein ohnmächtiges Versagen macht« und dies zum Ausdruck der »Dichtung« erklärt.12 Er zeichnet nach, daß Artaud schnell von der Annahme einer sekundären Beraubung zu der einer Enteignung von Anfang an übergehen wird.13 Derridas Lektüre Artauds setzt genau an diesem Punkt an. Schritt für Schritt zeichnet er in seinen zwei großen Aufsätzen in »Die Schrift und die Differenz« nach, wie Artaud der Diktion und Diktatur des Textes zu entgehen versucht, die Vorstellungen angreift, daß Sprache ein klares und fertiges Denken, Schrift eine repräsentative Sprache wiedergebe.14 Als geheimes Zentrum der Ausführungen Artauds spürt er schließlich 9
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Zit. nach Maurice Blanchot: Artaud, in: ders., Le livre à venir, Paris: Gallimard 1959, S. 53-62, hier S. 57. Dt. in: ders., Der Gesang der Sirenen, Frankfurt a.M., Berlin, Wien: Ullstein 1982, S. 52-61, hier S. 56. Vgl. auch ders.: Die grausame poetische Vernunft, in: Bernd Mattheus/Cathrin Pichler (Hg.), Über Antonin Artaud, Wien, München: Matthes & Seitz 2002, S. 25-31, hier insb. S. 26. Vgl. Artaud, Antonin: Correspondance avec Jacques Rivière. Hier zit.n.: Grossman, Évelyne (Hg.): Artaud. Oeuvres, Paris: Gallimard 2004, S. 6983, hier S. 73: »Il y a donc un quelque chose qui détruit ma pensée; un quelque chose qui ne m’empêche pas d’être ce que je pourrais être, mais qui me laisse, si je puis dire, en suspens.« Vgl. Jacques Derrida: Die soufflierte Rede, in: ders., Die Schrift und die Differenz, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 4. Aufl., 1989, S. 259-301, hier S. 261-263. Vgl. Blanchot: Artaud, dt. Ausgabe, S. 55f. Vgl. ebd., S. 58. Vgl. Derrida: Die soufflierte Rede, S. 294. 190
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den Wunsch auf, der sich auch in seiner Konzeption des Theaters niederschlägt: Er will der Wiederholung entgehen, das reine einmalige Theater ohne Wiederholung herstellen.15 Dem Wunsch läuft allerdings die Gefahr der Improvisation und Inspiration der Schauspieler, der Herrschaft und Souveränität der Einfälle entgegen.16 Wie noch bzw. gerade heute wieder in einer großen Zahl gegenwärtiger Performances setzt sich an die Stelle des Textes und der Diktatur der Schriftsteller ein anderer, gleichsam inkorporierter Text und mit ihm eine Diktatur, die eben deshalb weit wirkungsvoller ist, weil sie als solche überhaupt nicht mehr erkannt wird. Auf diese Gefahr antwortet in der Konzeption Artauds das Phantasma einer »Schrift des Körpers«, der »Erschaffung einer echten körperlichen Sprache […] die auf Zeichen und nicht mehr auf Wörtern beruht«.17 Es geht dabei um eine Schrift ohne Stimme, ohne gesprochene Sprache, um eine Schrift des »Schreis«, ein kodifiziertes System der Onomatopoie, der Ausdrücke und Gesten, eine »universelle Grammatik der Grausamkeit«, wie Derrida sich ausdrückt.18 Die neue Sprache wie das Theater ohne Wiederholung müssen nun aber gleichermaßen an dem scheitern, was Artaud als anfänglich enteignete oder entrissene Sprache wahrgenommen und beschrieben, aber zeitlebens bekämpft hat. Wie vor ihm Blanchot beschreibt Derrida, daß Artaud einerseits von einem Verlust und Diebstahl spricht, daß sich aber andererseits erschließen läßt, daß es nichts vor dem Diebstahl gibt, daß der Diebstahl der Sprache selbst von Anfang an eigen ist.19 Wo Blanchot den Konflikt ins Denken verlegt, bzw. aus dem »Denken« Artauds entwickelt, etwa als »Die Unmöglichkeit zu denken, worin das Denken besteht«20, da sieht Derrida den Konflikt als einen, der durch die Sprache ins Spiel kommt, die zugleich Voraussetzung der Erscheinung wie unausweichliche Enteignung des Erscheinenden ist. Die Enteignung Artauds ist die durch die Sprache.21 Wie ausgehend von Blanchots und vor allem Derridas hier und anderswo niedergelegter Erfahrung des mit sich selbst unauflösbar uneinigen Denkens und der anfänglich enteigneten Sprache die unter Theatermachern wie -theoretikern gebräuchliche Rede von der »Präsenz« als dem Wesen des Theaters zu modifizieren wäre, beschäftigt zwei ihm 15 Vgl. Jacques Derrida: Das Theater der Grausamkeit und die Geschlossenheit der Repräsentation, in: Derrida: Die Schrift und die Differenz, S. 351-379, hier S. 372ff. 16 Vgl. ebd., S. 294f. 17 Zit. nach Derrida: Die soufflierte Rede, S. 294. 18 Ebd., S. 296. 19 Vgl. ebd., S. 268. 20 Vgl. Blanchot: Der Gesang der Sirenen, S. 54. 21 Vgl. Derrida: Die Schrift und die Differenz, S. 271. 191
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zeitlebens verbundenen Philosophen. In einem »Dialog über den Dialog«22 gehen Jean-Luc Nancy und Philippe Lacoue-Labarthe der Frage nach, wie man in einer Welt, die sich »als ohne jede wirkliche Präsenz und als für sich selbst abwesend darstellt«, die Präsenz »oder die Weise des Seins des Präsent-Seienden im allgemeinen« heute denken kann.23 So formuliert es Jean-Luc Nancy. Dabei gilt ihm das Theater als »privilegierter Modus der Präsentierung der Präsenz – wenn nicht gar als deren Modus par excellence […]«24. Er denkt diese Präsentierung der Präsenz als topologische, die ihrerseits der Dramatologie untergeordnet ist. »Die Präsenz bekräftigt sich […] in der aktiven Beziehung eines Ortes zu anderen Orten, und das Subjekt setzt sich ohne Umschweife als Punkt des Aussagens, analog zum leeren Punkt des Kantischen ›Ich denke‹.«25 Die Aussagen, so führt er weiter aus, »präsentieren dabei die Präsenz ihrer Aussagenden, wobei sie diese aber immer hinter sich selbst zurückfallen lassen«, weshalb Nancy sich auch das Wortspiel erlaubt, daß die Präsens tatsächlich »Prä-ens« sei, sich immer voraus und also auch hinterher.26 Seine Entwicklung der Präsenz auf dem Theater begreift diese also nicht ausgehend von einem Sein – mit dem, wie er in seinem Dialog mit Philippe Lacoue-Labarthe anmerkt, das »altbekannte Theo-onto-logische«27 impliziert wäre –, sondern vielmehr von dessen Aus-stehen, von einer »Verräumlichung der Präsenzen«28. Er geht weiter nicht von der Präsenz, sondern von den immer schon gegebenen Präsenzen und demzufolge von einer Ko-Präsenz aus.29 Und beides, Aus-stehen wie KoPräsenz faßt er im Begriff der »Verräumlichung« (espacement), worunter er die Konstitution und das Maß des Ko- versteht. Die Verräumlichung faßt die Dis-position, die Setzung und gleichzeitige Ent-setzung, der Or-
22 Philippe Lacoue-Labarthe/Jean-Luc Nancy: Dialog über den Dialog, in: Gerstmeier/Müller-Schöll: Politik der Vorstellung, S. 20-42. 23 Ebd., S. 20. 24 Ebd., S. 21. 25 Ebd., S. 22f. 26 Vgl. ebd., S. 29. 27 Ebd., S. 30. 28 Ebd. 29 Ich füge am Rande hinzu, daß Nancy damit eine Korrektur Heideggers, ausgehend von dem bei ihm, wie er glaubt, unterbelichteten Mit-Sein vorschlägt, und dies auf eine Weise, die das Mit-sein als Teilung – im Anfang (und diesen) trennend und verbindend zugleich – begreift und große Ähnlichkeit mit derjenigen aufweist, die Walter Benjamin vorschlägt, als er im Zuge seines frühen Sprachaufsatzes von 1916 den Begriff der Mitteilbarkeit einführt, den er nachfolgend in einer ganzen Kette von -barkeiten, als Übersetzbarkeit, Reproduzierbarkeit, Nachahmbarkeit usw. aufgreift. 192
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te, letzteres einfach deshalb, weil kein Ort sich ohne den Verweis auf andere Orte zu setzen vermag. Verräumlichung meint die anfängliche Teilung, Ko-dis-tribution, ein gleichzeitiges Mit- wie auch Neben- oder Gegeneinander. Diese Verräumlichung könnte, folgt man Philippe LacoueLabarthe, in Anlehnung an Derridas Ur-Schrift oder Archi-Schrift auch als Ur- oder Archi-Theater oder Archi-Theatralität bezeichnet werden.30 Was, wie Nancys und Lacoue-Labarthes Ausführungen nahelegen, zu denken bleibt – nach Derrida, und in Theorie wie Theater gleichermaßen – wäre das unhintergehbare anfänglich Dialogische des Theaters. Im Zusammenhang der Theaterwissenschaft betrifft dies speziell den Anspruch oder die Behauptung, die heute vor allem im Kontext der amerikanischen Performance Studies zu finden ist, wonach das »unhintergehbare Merkmal der Aufführung ihre absolute Gegenwärtigkeit und Präsenz«31 sei. Der Anspruch, der sich in diesem Vorschlag artikuliert, ist ernst zu nehmen: Als Frage formuliert, lautet er, wie minoritäre Lebensformen sich der Entwendung ihrer Andersartigkeit im Moment der Darstellung in den Medien der Mehrheit erwehren, wie sie sich dem domestizierenden Akt der Anerkennung durch die Gesellschaft nach deren Gesetzen des Erscheinens entziehen können.32 Derridas Denken legt allerdings nahe, daß die Antwort auf diese ethisch-politische Frage komplizierter ist, als es auf den ersten Blick erscheinen mag: In einem scheinbaren Paradox formuliert: Das anfängliche Sein auf der Szene oder im Theater, die Tatsache, daß sich das Denken immer schon in Sprache, im Kontext und immer zugleich in mehr als einem abspielt, hindert daran, auf der Szene oder im Theater jemals wirklich da zu sein. Der vermeintlich spontane Akt stellt sich angesichts alles dessen, was er vergessen (machen) muß, um spontan zu erscheinen, als Form der Regression dar. Es stellt die große Qualität William Forsythes dar, daß er von dieser Erkenntnis in seiner choreographischen wie begrifflichen Arbeit an einem
30 Vgl. ebd., S. 32f. Allerdings hebt Nancy hervor, daß dieses Archi-Theater gewissermaßen deshalb, weil es immer schon gegeben ist, nicht mit irgendeinem existierenden Theater verglichen werden kann. Und er merkt kritisch an, daß er gegen die in diesem Begriff anklingende Privilegierung des Theaters auf dem Unterschied der Künste insistiere. 31 Ich zitiere hier Gerald Siegmund, der diese Position speziell bei Martin Seel, Hans Ulrich Gumbrecht und Peggy Phelan nachzeichnet, um sie dann ausgehend von gegenwärtiger Tanzpraxis zu kritisieren: Gerald Siegmund: »Abwesenheit«, in: Krassimira Kruschkova (Hg.), OB?SCENE. Zur Präsenz der Absenz im zeitgenössischen Tanz, Theater und Film, Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2005, S. 71-84, hier insb. S. 73. 32 Vgl. dazu speziell: Peggy Phelan: Unmarked. The politics of performance, London, New York: Routledge 1996. 193
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»Denken in Bewegung« gewissermaßen ausgeht, ohne doch den Anspruch aufzugeben, der mit der Behauptung der Möglichkeit eines bloßen Daseins auf der Bühne verbunden war.
Denken in Bewegung als Zustand des Tanzens – Forsythe Die Tänzer auf seiner Bühne, so die vielzitierte und kolportierte Definition William Forsythes, sollten sich prinzipiell nicht anders begreifen als jemand, der dort stünde, um sie zu putzen: Als Akteure mit einer zu erfüllenden Aufgabe in einem Raum. Kerstin Evert hat in ihrer Arbeit »Dancelab« anschaulich und mit großer Kenntnis der Details dargestellt, daß Forsythes Anspruch ist, das da im Jetzt und Hier des Ereignisses zu etablieren, in einem »Aufführungstext«, dem das Prinzip der »real time choreography« unterliegt.33 »Denken in Bewegung« ist die nicht von ungefähr von Gerald Siegmund zum Buchtitel erhobene Definition des Tanzens, die aus diesem Anspruch hervorgegangen ist.34 Auf beide Studien möchte ich hier lediglich verweisen, um mich im folgenden auf einen einzigen Aspekt der Arbeit Forsythes zu konzentrieren, die gleichzeitige Nähe und große Differenz seines Versuchs der Sprach- und Schrifterfindungen zu der von Derrida nachgezeichneten Entwicklung Artauds. Die Richtung, in die Forsythe ausgehend von der Frage nach der Möglichkeit einer Choreographie des Daseins geht, gleicht derjenigen Artauds so sehr, daß sich im Vergleich beider Versuche eines radikalen Bruchs mit Ordnungsstrukturen der überkommenen und zunächst übernommenen Theater- bzw. Tanzsprachen und -formen der Eindruck einer gewissen Zwangsläufigkeit bestimmter Entwicklungen aufdrängt: Zu einem bestimmten Zeitpunkt führt die Suche nach dem Einmaligen, dem Ereignis oder eben dem bloßen Dasein des Tänzers auf der Szene auch Forsythe zum Experiment der Erfindung einer neuen, rein formalen Sprache. Doch in einem entscheidenden Punkt geht Forsythes Arbeit dann über Artauds letztendlich ins Metaphyische regredierende Spracherfindung hinaus und hinter sie zurück. Wo Artaud aus dem, was sich der prädikativen Funktion der Sprache entzieht, eine neue Sprache zu bilden unternimmt, da sucht das Forsythesche Sprachbildungs-Experiment letzten Endes nach »a kind of internal refractive aspect« einer Art innerer 33 Vgl. Kerstin Evert: DanceLab. Zeitgenössischer Tanz und Neue Technologien, Würzburg: Königshausen und Neumann 2003, S. 117-155, hier S. 117. 34 Vgl. Siegmund: William Forsythe. 194
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Brechung, nach demjenigen, was sich in jeder und also auch und gerade seiner neuen Sprache je einmalig dem Gemeinsamen entzieht.35 In einem äußerst aufschlußreichen Interview bezeichnet er dieses sich Entziehende als »Zustand des Tanzens« und setzt es in Beziehung zu einzelnen Bewegungen und Choreographie.36 Auf den Vorschlag seiner Interviewpartnerin, daß Tanz und Choreographie nicht notwendigerweise miteinander zu tun haben müssen, entgegnet er: »Das versteht sich von selbst. Sie sind nur sehr gut befreundet.«37 Dieses Thema wird später im Interview scheinbar verlassen, wenn Forsythe vom Projekt einer digitalen Aufzeichnung des Stückes »One Flat Thing« erzählt und auf die Frage, ob es sich dabei um eine Art Tanznotation handle, entgegnet: »Das auch, aber sie steht nicht in Konkurrenz zu den herkömmlichen Methoden, weil sie nicht die einzelnen Bewegungen, sondern die Strukturen einer Choreographie aufzeichnet.«38 Digitale Aufzeichnung wie Choreographie stellen sich bei genauerer Betrachtung als Varianten des Versuchs dar, eine Bewegungsschrift zu finden – Choreographie bezeichnet ja, nimmt man nur die griechischen Worte, aus denen sich der Begriff zusammensetzt, zunächst nichts anderes als das Aufschreiben von Bewegung. Was Forsythe in beiden Beschreibungen seiner augenblicklichen Interessen – als Choreograph, als Entwickler einer digitalen Aufzeichnung – im Interview wohl zu erklären und vielleicht erklärend überhaupt erst begrifflich zu fassen versucht, ist, daß es in seiner gemeinsamen Arbeit mit den Tänzern etwas gibt, was nicht Choreographie ist, gleichwohl auch nicht einzelne Bewegung oder aber beides. Ich versuche es, in Forsythes Begriffen mit meinen Worten nachzuvollziehen: Die Choreographie liefert eine Idee oder eine Struktur. Ebenso liefern die digitalen Aufzeichnungsmethoden, an denen er arbeitet, etwa im Projekt der Improvisation Technologies39 oder der digitalen Aufzeichnung von »One Flat Thing«, eine Aufzeichnung der Strukturen, wohingegen die Tanznotation die einzelnen Bewegungen festhält. Wie also, so muß man fragen, kann man die Struktur einer Choreographie festhalten, ohne die einzelnen Bewegungen 35 Vgl. zu der hier zitierten Formulierung John Tusas äußerst aufschlußreiches BBC- Interview mit Forsythe, dessen Transcript zu finden ist unter: www.ballet.co.uk/magazines/yr_03/feb03/interview_bbc_forsythe.htm vom 16.5.2006. 36 Vgl. Eva-Elisabeth Fischer: Hüpfburg für Rolexträger. Der Choreograph William Forsythe über die Perspektiven seiner neuen Company, die in Berlin gegründet wurde, in: Süddeutsche Zeitung vom 15.3.2005, S. 17. 37 Ebd. 38 Ebd. 39 Vgl. William Forsythe: Improvisation Technologies. A Tool for the Analytical Dance Eye, Ostfildern: Hatje Kantz 1999. 195
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aufzuzeichnen? Und wie unterscheiden sich die einzelnen Bewegungen einer Choreographie von dieser? Forsythe gibt, in ebenso schlichten wie deshalb betörenden Worten, eine Antwort, wenn er darauf hinweist, daß es nicht ausreiche, seine Choreographien einfach nachzutanzen. Vielmehr leite einen die Choreographie »dazu an, diesen Zustand des Tanzens zu erfahren. Es geht darum, sich von diesem Zustand des Tanzens faszinieren zu lassen«. Zustand des Tanzens, diese Formulierung, die sich nach einem Oxymoron anhört, läßt innehalten. Was hat es damit auf sich? Es gibt auf der einen Seite einzelne Bewegungen, die man notieren, wiederholen, einer gewissen Formalisierung unterwerfen und insofern zum Kanon, zu Tradition und Geschichte erheben kann. Auf der anderen Seite gibt es die Choreographie als eine eigene Form der Tanznotation, mit eigener Schrift, die gleichwohl nicht eine Buchstabenschrift ist, sondern vielmehr – und das macht die Sache so schwierig – eine Schrift in Zeit und Raum, kurz eine Bewegungsschrift: Schrift, die von Bewegung geschrieben wird, Bewegung, die als solche in Analogie zu einer Schrift gedacht werden muß. Dies aber kann nur heißen, daß in jeder Choreographie exakt ihr Schriftlichkeitscharakter als das gedacht werden muß und von Forsythe gedacht wird, was sich der Formalisierung entzieht. Und der Zustand des Tanzens wäre dann die Erfahrung eben dieser Grenze jeder Formalisierung. Anders gesagt: Zwischen der Choreographie auf der einen Seite und der Anarchie einzelner Bewegungen auf der anderen Seite ist der Zustand des Tanzens dasjenige, was in die Choreographie ein jeder Fixierung sich entziehendes Moment von Flüchtigkeit, in die flüchtige Flut einzelner Bewegungen eine Struktur einzeichnet. Zustand des Tanzens wäre also Forsythes Name für eine Erfahrung der kontrastatischen Flüchtigkeit in allem, was fixiert wird, die sich gerade und überhaupt erst bei durchkalkulierten Produktionen wie »Endless House«, wo, wie er sagt, »alles bis ins kleinste Detail und auf die Sekunde festgelegt«40 ist, machen läßt. Und zugleich wäre es die Erfahrung einer kontrafluiden Fixierung, in der sich die Arbeit und der Körper des je spezifischen Tänzers in der vorgegebenen Choreographie allem Vorgegebenen widersetzt. Wobei das sich widersetzende zugleich zu flüchtige, wie zu fixierte Moment im Grunde die Erfahrung einer körperlichen Schwäche, eines Randes oder einer Grenze seiner Formbarkeit wäre, das, was bei aller Formalisierung und gerade und überhaupt erst in ihr deshalb nicht formalisiert werden kann, weil es nicht länger dem Willen, der Kontrolle, der Kalkulation oder Souveränität des Tänzers unterliegt, sondern vielmehr deren Ausfransen, ihre Entgrenzung oder Auflösung markiert. Den Zustand des Tanzens kann man, da er nichts als die Auflösung jedes Standes, jeder 40 Vgl. Fischer: Hüpfburg, S. 17. 196
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Formalisierung und jeder Notation ist, in jeder Fixierung nur als das erfassen, was im Verzug bleibt, sie supplementär41 verfälscht, kontaminiert. Was Forsythe im Zustand des Tanzens bezeichnet, könnte wohl auch als Konkretisierung dessen bezeichnet werden, was ihm als Denken in Bewegung gilt. In der oben entwickelten Derridaschen Begrifflichkeit könnte man vielleicht behaupten, daß Forsythe den Tanz als einmalige und erstmalige Präsenz einer Wiederholung begreift, wobei man den Zustand des Tanzens als das Prä-entische dieser Präsenz bezeichnen könnte, was sie zugleich vorwegnimmt und zurückhält. Das wäre weiter auszuführen. – Hier setze ich statt dessen an das Ende dieses Teiles einen kurzen Auszug aus einem beeindruckenden Text der Tänzerin Dana Caspersen, die unter dem Titel »Der Körper denkt« ihre Arbeit mit Forsythe in »Decreation« beschreibt und dabei vermutlich aus der Sicht einer Tänzerin nichts anderes als den Zustand des Tanzens: Die von Bill vorgeschlagenen Aufgaben bestanden aus extremen isometrischen Spannungen. Aufgrund meiner Rückenprobleme war es mir fast unmöglich, irgendeine davon auszuführen, ohne als ein verkrampftes Häufchen auf dem Boden zu enden. Im »Decreation«-Prozeß bin ich also Dingen begegnet, die ich nicht machen konnte. In der Folge mußte ich mehrere meiner Begehren aufgeben: gut zu sein, schnell zu sein, recht zu haben, und, im Allgemeinen, zu wissen, was los ist. Ich mußte neu darüber nachdenken, was genau das Stück von mir wollte. Allmählich zog ich in Betracht, daß das Stück notwendigerweise in sich selbst Kampf und Blockade enthalten mußte. […] Ich hörte auf, nach den Dingen zu streben und überließ mich dem Zustand des Unerreichbaren.
Ich werde diesen Text nicht weiter kommentieren, vielmehr nun zur Frage übergehen, wie sich Forsythes Erfahrung auf dem Gebiet des Tanzes und der Choreographie ins Sprechtheater übertragen läßt, und damit zu Laurent Chétouanes Inszenierung von Büchners »Lenz«.
41 Vgl. zum Begriff des Supplements: Jacques Derrida: Dieses gefährliche Supplement …, in: ders., Grammatologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2. Aufl., 1988, S. 244-282. 197
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D en A u f s t an d p r o b e n – C h é to u a n e / H i n r i c h s: Lenz Eine andere Bekundung des Willens zur Darstellung des bloßen Daseins liest sich wie folgt: Wenn man mir übrigens noch sagen wollte, der Dichter müsse die Welt nicht zeigen wie sie ist, sondern wie sie sein solle, so antworte ich, daß ich es nicht besser machen will, als der liebe Gott, der die Welt gewiß gemacht hat, wie sie sein soll. Was noch die sogenannten Idealdichter anbetrifft, so finde ich, daß sie fast nichts als Marionetten mit himmelblauen Nasen und affectirtem Pathos, aber nicht Menschen von Fleisch und Blut gegeben haben, …42
So schreibt Georg Büchner am 28. Juli 1835 an die Familie, in einem Brief, der vor allem wegen der darin zu findenden literarischen Positionsbestimmung viel zitiert wird: »Mit einem Wort, ich halte viel auf Goethe oder Shakspeare , aber sehr wenig auf Schiller.«43 Einige Monate später wird Büchners »Lenz«, der Text über den rebellischen Zeitgenossen Goethes, zum Resonanzraum dieser Äußerung werden, die beinahe wörtlich in ihn eingeht, nun allerdings als Zitat aus dem Mund des Dichters Lenz, der darüber in der Stube des Pfarrers Oberlin mit seinem Gesprächspartner Kaufmann, einem Anhänger des Idealismus, in Streit gerät: »Er sagte: ›Die Dichter, von denen man sage, sie geben die Wirklichkeit, hätten auch keine Ahnung davon, doch seien sie immer noch erträglicher, als die, welche die Wirklichkeit verklären wollten. Der liebe Gott hat die Welt wohl gemacht wie sie seyn soll, und wir können wohl nicht was Besseres klecksen […] Ich verlange in allem Leben, Möglichkeit des Daseins, und dann ist’s gut; wir haben dann nicht zu fragen, ob es schön, ob es häßlich ist‹«44 usw. Was vermeintlich die bloße Übernahme der brieflich übermittelten Position des Autors ist, stellt sich tatsächlich in der Folge als Teil einer Reflexion dieser Position dar. Der Text wird zur Bühne eines aufschlußreichen Dialogs, in dem Lenz versucht, am Beispiel zu erläutern, wie denn das »Dasein« oder »Leben«, bzw. die »Zuckungen« oder das »Mienenspiel«, dessen Beachtung er einfordert, zur Darstellung gebracht werden könnten:
42 Georg Büchner: An die Familie, Straßburg, 28. Juli 1835, zit.n.: ders., Werke und Briefe, München: dtv 1980, S. 271-273, hier S. 272. 43 Ebd., S. 273. 44 Georg Büchner: Lenz, zit.n.: Marburger Ausgabe, Bd. 5, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2001, S. 31-49, hier S. 37. 198
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Wie ich gestern neben am Thal hinaufging, sah ich auf einem Steine zwei Mädchen sitzen, die eine band ihre Haare auf, die andre half ihr; und das goldne Haar hing herab, und ein ernstes bleiches Gesicht, und doch so jung, und die schwarze Tracht und die andre so sorgsam bemüht. Die schönsten, innigsten Bilder der altdeutschen Schule geben kaum eine Ahnung davon. Man möchte manchmal ein Medusenhaupt seyn, um so eine Gruppe in Stein verwandeln zu können, und den Leuten zurufen. Sie standen auf, die schöne Gruppe war zerstört [...]45
Die Darstellung des Lebens kann, darauf deutet der Wunsch, ein »Medusenhaupt« zu sein, unweigerlich nur auf dem Weg einer Petrifikation, ja einer Mortifikation gelingen. Im Handumdrehen hat sich der Wunsch, das Dasein festzuhalten, in dessen Negation verwandelt, insofern sich ihm das Da-sein in seinem Wandel fortwährend entzieht. Deutlich wird der selbst idealisierende, transzendentale Charakter des vermeintlich empirischen »Lebens« oder »Daseins«, das Lenz wie der Briefschreiber Büchner dessen idealistischer Überhöhung glauben entgegensetzen zu können. Wenn in Laurent Chétouanes Inszenierung des »Lenz«46 Fabian Hinrichs mit diesem Lehrdialog über die Schwierigkeit, das Anwesende als Anwesendes zu präsentieren, zu sprechen beginnt, dann erscheint Büchners Text in diesem Moment, als stamme er oder doch zumindest die Regiekonzeption aus Brechts »Neuer Technik der Schauspielkunst«, wo als »Hilfsmittel […] bei einer Sprechweise mit nicht restloser Verwandlung« die »Überführung in die dritte Person« bzw. in die »Vergangenheit« sowie das »Mitsprechen von Spielanweisungen und Kommentaren«47 empfohlen wird. Das Imperfekt des »Er sagte« erhält die Distanz zwischen dem Schauspieler und seinem Tun auf der Bühne aufrecht und stellt sie gerade jetzt, wenn Hinrichs zu sprechen beginnt, also im Moment, wo ein argloser Zuschauer deren Auflösung erwarten würde, aus. – Erzeugt worden ist diese Distanz zunächst in einem langen, stillen und stummen Vorlauf, der an die »very long silence« erinnert, mit der Sarah Kanes »Psychose 4.48«, ein anderer Text über eine Krankheit der Seele, be-
45 Ebd. 46 Meine Schilderung bezieht sich auf die Premiere am 9.6.2005 auf der Probebühne des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg. Regie und Bühne: Laurent Chétouane. Darsteller: Fabian Hinrichs. Darüber hinaus stand mir die Aufzeichnung einer anderen Vorstellung in Hamburg zur Verfügung. 47 Vgl. Bertolt Brecht: Kurze Beschreibung einer neuen Technik der Schauspielkunst, die einen Verfremdungseffekt hervorbringt, in: ders., Gesammelte Werke 15. Schriften zum Theater 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1967, S. 341-357, hier S. 344. 199
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ginnt.48 Doch wenn das Publikum in der schlichten, nur durch einige schwarze Vorhänge gesäumten Probebühne des Hamburger Schauspielhauses Platz genommen hat und frontal in den durch eine ScheinwerferRampe geteilten Raum hineinschaut, dann steht dort nicht, wie in Chétouanes Psychose-Inszenierung49 eine Schauspielerin oder ein Schauspieler, sondern vielmehr zunächst einmal: Niemand, ja fast nichts. Im leeren Raum ist links am Rand ein zweimal mit dem Wort »Ton« beschrifteter Kasten aufgestellt. Daneben steht ein Glas Wasser, im Hintergrund ein einfacher Stahlrohrstuhl, mit rotem Samt bespannt, rechts hinten ein Lautsprecher, hinter dem die unverhängten Fenster den Blick auf die phantasielosen Wohnungsbauten der Umgebung des Hamburger Schauspielhauses freigeben. Mehrere lange Minuten verstreichen, Zeit, die in ihrer Nutzlosigkeit bei einigen Zuschauern die Unruhe, mit der sie angekommen sind, steigert, bei anderen den Abstand zur Außenwelt herstellt. Endlich betritt Fabian Hinrichs durch eine Tür auf der linken Seite den Raum, ein schlaksiger Jüngling mit kurzen Haaren, der den Schrank öffnet, sein Ringel-T-Shirt und seine Hose gegen eine schwarze Anzugshose und ein weißes T-Shirt vertauscht, die er aus dem Schrank holt. Die Arbeitskleidung. Er nimmt einen Schluck Wasser aus dem Glas, dimmt das Licht herunter, öffnet eines der Fenster, sieht lange hinaus. Beinahe unmerklich beginnt das Bild, das man sich von ihm macht, zu oszillieren, man schwankt, ob man in ihm, wie es die Tradition der Lenz-Inszenierungen auf dem Theater nahelegt, Lenz sehen soll oder doch eher Fabian Hinrichs, der Lenz spielen oder doch zumindest Büchners Text sprechen wird. Für erste Hypothese spricht, daß sein stummes Spiel, sein Schweigen zu lange dauert, um dafür nur den Schauspieler und nicht auch seine Rolle verantwortlich zu machen. Doch irgendwann stellt sich die Vermutung ein, daß er uns tatsächlich beide und insofern keinen zu sehen geben will oder aber, wahrscheinlicher, die Kluft zwischen dem Spieler und seiner Rolle und nichts als sie und damit, wie man mit Nancy und Derrida sagen könnte, das Leere eines kantischen »Ich denke« oder auch das Prä-entische der Bühnenpräsenz. In Anlehnung an Forsythes Zustand des Tanzens könnte man davon sprechen, daß der Schauspieler hier nichts als den Zustand des Spielens erfährt und erfahren läßt: Sein Spiel besteht darin, daß er noch nicht spielt. Oder: Er spielt nichts als daß er jederzeit spielen könnte.
48 Vgl. Sarah Kane: 4.48 Psychose, in: dies., Sämtliche Stücke, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2002, S. 211-252, hier S. 213. 49 Vgl. Nikolaus Müller-Schöll: Abgründe. Laurent Chetouane inszeniert Sarah Kanes »Psychose 4.48« am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg, in: Frankfurter Rundschau vom 23.4.2002, S. 24. 200
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Dann beginnt er zu sprechen – mit leiser, klarer, behutsam die Worte mit Gleichmut artikulierender Stimme. Jedes Wort hat in seiner Rede sein eigenes Gewicht, wird von ihm gesetzt, als sollte es zunächst einmal in sich ruhen können, um erst später, vielleicht, mit anderen Worten Konstellationen einzugehen, einen Sinn zu erzeugen, als ginge es in seinem Sprechen, mit Büchners Lenz gesprochen, um nichts als die »Möglichkeit des Daseins« als »einziges Kriterium in Kunstsachen«, eine Möglichkeit, die so lange es nur irgend geht, im Bereich des Möglichen verbleibt.50 Die Erzählung verwandelt sich zurück in Sprache, Text Schrift, und diese Elemente treten in eine potentielle Konfliktbeziehung zueinander. Wie Hinrichs Pausen setzt, wie er es zum Ereignis macht, wenn er die Lautstärke steigert, wie er den Text dadurch aus-stellt, daß er ihn nicht zu seinem Text macht, zum Eigentum, über das er verfügen kann, alles das ist eine große, gerade in ihrer Unmerklichkeit, ihrem formalen Minimalismus nur schwer beschreibbare Qualität seines Spiels. Das heißt nicht, daß diese Qualität gänzlich unerwartet käme. Sie ist natürlich nicht zuletzt das Merkmal einer Regie, die ihre Aufmerksamkeit auf Sprache, Geste, Raum und Zeit richtet, dabei die Sprache nicht auf ihre Bedeutung, die Geste nicht auf Illustration, den Raum nicht auf den Hintergrund und die verstreichende Zeit nicht auf Spielzeit verkürzt, vielmehr alle vier auch in ihr eigenes Recht zu setzen sucht:51 Hinrichs reiht sich also in die mittlerweile schon lange Reihe der Schauspieler ein, mit denen Chétouane in seinen Inszenierungen von Schiller, Kane, Seneca, Hölderlin, Müller, Büchner, Jelinek, Goethe und anderen gearbeitet hat. Wie etwa Lisa Karlström, Florian Lange, Devid Striesow oder Hans Diehl weiß Hinrichs das Sprechen von der Besitzergreifung fernzuhalten. Er versucht nicht, die Sprache Büchners mit seinem Verständnis auszufüllen, er hält sie vielmehr vor sich hin, stellt sie von sich weg, verfährt dergestalt mit ihr wie Büchner in der beschriebenen Szene mit Lenz, läßt den Saal zum Resonanzraum einer Sprache werden, die dabei nicht als Instrument der Mitteilung benutzt, sondern vielmehr als Medium erfahren wird, in dem sich mitzuteilen zunächst einmal heißt, sich zu verlieren, sich einer gemeinsamen und doch im Gemeinsamen vereinsamenden Entäußerung zu unterwerfen, ohne die es keinen Zugang zu einem Ge-
50 Vgl. zu dieser Formulierung: Giorgio Agamben: Noten zur Geste, in: Jutta Georg-Lauer (Hg.), Postmoderne und Politik, Tübingen: edition diskord 1992, S. 97-107, hier S. 106f. 51 Vgl. dazu ausführlicher: Nikolaus Müller-Schöll: Laurent Chétouane: Theater der Spur, in: Anja Dürrschmidt/Barbara Engelhardt (Hg.): WerkStück. Regisseure im Porträt. Arbeitsbuch, Berlin: Theater der Zeit 2003, S. 32-37. 201
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meinsamen gäbe, die diesen Zugang aber zugleich beständig verstellt, aufschiebt, blockiert. Und doch setzt »Lenz« sich deutlich von den voraufgegangenen Arbeiten Chétouanes ab. Was Hinrichs von seinen Vorgängern unterscheidet, ist die Art, wie er mit Kunst die Rolle zu wechseln versteht. So, wenn er nach dem Satz »… er hatte sich ganz vergessen« kurz innehält, dann zur Seite tritt, auf die Uhr schaut, trinkt und dabei ohne falsche Überbetonung und ohne Aufdringlichkeit das Spiel verläßt, um danach erneut in es einzutreten. Es scheint ihm ganz selbstverständlich zu sein, daß er im Sprechen als Schauspieler auf einer Bühne etwas handelnd vollbringt, was ihn nicht daran hindern muß, darüber hinaus auch noch der Schauspieler zu bleiben, der auf der Bühne steht, seine Arbeit tut und gelegentlich auch einmal unterbricht. Und sei es auch nur, um den Zuschauern eine kurze Pause zum Räuspern, sich einen Schluck Wasser zu gönnen. Ist es zunächst nur der Wechsel vom Schauspieler, der zur Bühnenfigur und zum Sprechenden wird, so wechselt Hinrichs in der Folge immer häufiger von einer illusionsstiftenden Rollenauffassung in eine die Illusion brechende: Mal schlüpft er für wenige Sätze in Lenzens Rolle, mal veranschaulicht er dessen Haltung und Emotionen auf der Bühne, während er zugleich Text spricht, ohne daß Text, Geste und Emotion dabei synchron verknüpft wären: So geht er in einem Moment zum Fenster, stellt sich in dessen Rahmen und springt. Für einen kurzen Augenblick versetzt dies den unvorbereiteten Zuschauer in einen Zustand des Schocks. Dieser weicht schnell, spätestens, wenn Hinrichs Gesicht im angrenzenden Fenster wieder auftaucht und sich die Erkenntnis einstellt, daß man nur einen weiteren Coup de théâtre gesehen hat; später, vielleicht, wenn die entsprechende Passage im gesprochenen Text auftaucht, erinnert man sich, daß Lenz, um zur Vernunft zu kommen, aus dem Fenster oder in den Brunnen springt. Zunehmend verfällt er in ein Spielen, das man vielleicht nicht besser denn durch die Charakterisierung »so lebte er hin« beschreiben könnte: Er geht durch den Saal, überschreitet die Scheinwerfer und blickt mit durchdringendem, um das eigene Ausgestellt-, ja Ausgesetztsein wissendem Blick ins Publikum. Er geht zurück, hebt eine Art von Klagegesang an, spielt mit dem Regler der Musik, spielt mit heruntergelassener Hose und ohne T-Shirt, versucht mit steigender Verzweiflung, wie es scheint, dem zu entkommen, was im Text als »Langeweile« beschrieben ist: einer Extremsituation, die keine Steigerung mehr kennt, alles in sich zermalmt. Er regelt das Licht, zieht Vorhänge auf und zu, stößt das Glas um, leckt das Wasser auf. Schließlich zieht er das geringelte T-Shirt wieder an,
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schließt den Vorhang, beendet das Spiel, wartet auf das erlösende Klatschen des Publikums. Der Zustand des Spielens, den Hinrichs vor dem ersten Sprechen bereits exponiert, perpetuiert sich im Lauf der Inszenierung als die beständige Unsicherheit über den Status dessen, der vor uns steht, verlängert sich nicht zuletzt in einen Zustand des Sprechens hinein, der sich dadurch auszeichnet, daß man darin zusammen mit den gesprochenen Worten die Haltung des Beckettschen »Wen kümmert’s, wer spricht?« zu hören und sehen glaubt.52 Undefinierbar ist, als wer Hinrichs zu uns spricht. Dieses Fehlen oder diese Undefinierbarkeit von Maske, Situation, Rolle und Charakter läßt aber den Blick um so mehr auf die insignifikanten, körperlichen und bloß potentiell bedeutsamen Eigenheiten des Schauspielers fallen und erzeugt so das Gefühl, einen schutzlos Ausgesetzten anzublicken, und an diesem das, was er mitbringt, bevor er in irgendeiner Illusion aufgeht, die es uns über Sinn und Bedeutung, Narration und Effekten vergessen lassen könnte. Chétouane ist selbst gewiß der beste Theoretiker seiner Arbeit mit Schauspielern.53 Was er mit ihnen zu erreichen versucht, beschreibt er nicht von ungefähr in ähnlichen Worten wie William Forsythe – der Choreograph taucht regelmäßig unter den Namen derer auf, die für seine Arbeit prägend waren.54 So spricht er davon, »daß es, um ein Bühnenereignis zu erreichen, schon genügt, da zu sein, also die bloße Präsenz des Menschen, ohne daß etwas produziert wird«55. Was er dabei als »Präsenz« bezeichnet, beschreibt er gleichwohl paradoxerweise als Absenz, es macht sich – wie man im Fall von Hinrichs sehen kann – als »Kluft« bemerkbar: Ein guter Schauspieler, so erklärt er, sei jemand, »der es schafft zu verschwinden. Der gleichzeitig weg ist und da ist. […] Dazu muss sich eine Kluft öffnen.«56 Diese Kluft gilt ihm als der Moment, in dem »Möglichkeiten« auftauchen, »ohne daß der Schauspieler eine aus-
52 Vgl. dazu und im Anschluß an dieses eingangs angeführte Zitat: Michel Foucault: Was ist ein Autor? in: ders., Schriften zur Literatur, Frankfurt a.M.: Fischer 1988, S. 7-31, hier S. 7 u. 31. 53 Vgl. dazu die zwei Interviews: Laurent Chétouane im Gespräch mit Nikolaus Müller-Schöll, in: Wolfgang Storch/Klaudia Ruschkowski: Die Lücke im System. Philoktet Heiner Müller Werkbuch, Berlin: Theater der Zeit 2005, S. 211-214. »Ein Schauspieler ist immer peinlich – deshalb muß er bleiben«. Laurent Chétouane über seine Arbeit mit Schauspielern, in: Patrick Primavesi/Olaf A. Schmitt (Hg.): AufBrüche, Berlin: Theater der Zeit 2004, S. 284-291. 54 Vgl. etwa »Ein Schauspieler …«, S. 291. 55 Vgl. ebd., S. 284. 56 Ebd. 203
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wählt«57. Um diesen Punkt zu erreichen, muß er wie Forsythe und Artaud den Weg der Formalisierung gehen, den einer Art von »Zwangsarbeit«58, wie er sagt, durch die er die Schauspieler dazu bringt, jene Sorgfalt im Sprechen und jene Reduktion des Spiels auf gesetzt wirkende Gesten an den Tag zu legen, die man als hervorstechendes Merkmal seiner Inszenierungen bezeichnen kann. Erst auf der Basis akribischen Probens kann es zu jenem »komischen Verhältnis« des Schauspielers zum Text kommen, das er so beschreibt: »Einerseits legt er ihm gegenüber Demut an den Tag, andererseits probt er den Aufstand. Diese Mischung ergibt das Zufällige. Da beginnt der Schauspieler, ein handelndes Subjekt zu werden. Aber erst da.«59 Proben, so scheint es, heißt hier also: den Aufstand proben. Erst im sichtbar werdenden Kampf zwischen dem Zwang einer Vorgabe und der körperlichen Grenze, die zum Aufstand zwingt, ereignet sich, was durch keine Vorgabe bestimmbar ist, verwandelt sich die Bühne von einer Spielfläche in der Tat zum Ort eines Geschehens.
E th i k d e s D ar s te l l e n s ( d e s an d e r e n ) Chétouanes Inszenierungen spalten Kritik und Publikum heute auf extreme Weise. Was verstört, ist zunächst einmal ihr Minimalismus. Wenig ist in ihnen auf der Ebene von Licht, Kostümen, Requisiten zu sehen und das wenige oft nur mit geschärfter Aufmerksamkeit: Subtile Brüche mit den Konventionen der vorgefundenen Institution und ihrer Tradition wie diejenigen, daß die Bühne seiner »Don Carlos«-Inszenierung aus der Achse der auf den Blick des Fürsten-Betrachters ausgerichteten Schauanlage des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg leicht herausgedreht war und die Schauspieler in Strümpfen spielten, fand in den Kritiken so wenig Beachtung wie die Tatsache, daß seine Mannheimer »Philoktet«Inszenierung die Schauspieler hinter einer Gaze auf der Spielfläche des Kammertheaters wie Versuchskaninchen in einem Experiment einsperrte. Nicht minder befremdet wohl das gänzliche Fehlen jener aufgekratzten Fröhlichkeit im Umgang mit dem eigenen Spiel, welche die Epigonen der Volksbühnen-Ästhetik im ganzen Land verbreiten. Vor allem aber irritiert, daß sie sich der Interpretation der in ihnen zur Darstellung gebrachten Stoffe zu enthalten scheinen. Tatsächlich ließe sich Chétouane als einer der Regisseure bezeichnen, die ihren Inszenierungen nichts hinzuzufügen haben – keine Phantasie im Hintergrund, deren Kenntnis Vor-
57 Ebd., S. 285. 58 Ebd., S. 287. 59 Vgl. Laurent Chétouane im Gespräch …, S. 212. 204
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aussetzung des Wiedererkennens wäre, keine Metasprache, die man zu beherrschen hätte, keine Botschaft. Dies könnte nicht zuletzt mit Blick auf »Lenz« als Provokation erscheinen. Immer wieder wurde die Geschichte des gescheiterten Dichters und Rebellen, der seine Tage mühevoll, mit Frömmigkeit, Größenwahn, Überdruß, in Langeweile und Einsamkeit verbringt, zur Projektionsfläche der Interpreten. Für Celan60, für Peter Schneider61, für Brecht62, für Heiner Müller63 in Kommentaren, Adaptionen, Gegenentwürfen. Unauslöschlich prägen sich die Sätze ein, mit denen Büchner eben deshalb so viel über Lenz sagt, weil sie so lapidar sind, ohne Erklärung bleiben: »nur war es ihm manchmal unangenehm, daß er nicht auf dem Kopf gehen konnte«64, heißt es über seinen Gang durchs Gebirge am Anfang. Am Ende steht der Satz, zwischen dessen vier Worten sich die ganze Verzweiflung, die Ohnmacht, das Wüten, die Auflehnung, der Schrecken und die Resignation des Textes verbergen: »So lebte er hin.«65 Beide Sätze sind in Chétouanes Inszenierung gestrichen. Tatsächlich dürfte dies aber nichts mit einem Willen zur Provokation zu tun haben, eher geht es vielleicht darum, anstelle eines weiteren Bildes des modernen Dichters, des gescheiterten Revolutionärs oder des Kranken der Zerrissenheit treu zu sein, die den Versuch Büchners kennzeichnet. In der Arbeit von Chétouane und Hinrichs begegnet man, wie mir scheint, der politischen Auseinandersetzung mit der abgründigen Erfahrung, auf der Bühne niemals ganz da sein zu können. Sie manifestiert sich im beständig sicht- und hörbar bleibenden Bewußtsein der unerschöpflichen Möglichkeiten des jeweiligen Moments und Ortes in seiner spezifischen Konstellation, in seiner in keiner Aufführung und keinem Moment restlos aktualisierbaren Potentialität. Was eine solche Inszenierungs- und Aufführungspraxis mit dem Denken Derridas und der choreographischen Arbeit Forsythes verbindet, ist vielleicht vor allem die Erfahrung der Co-Präsenz, das Nicht-Vergessen der unauflösbaren Andersheit des anderen wie des anderen im eigenen Selbst. Politisch Theater zu 60 Vgl. Paul Celan: Der Meridian. Tübinger Ausgabe, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999. 61 Vgl. Peter Schneider: Lenz. Eine Erzählung, Berlin: Rotbuch 1973. 62 Vgl. Bertolt Brecht: Der Hofmeister von Jacob Michael Reinhold Lenz (Bearbeitung), in: ders.: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 8, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990, S. 319-371 u. S. 560-570. 63 Vgl. die Pressemitteilung des Deutschen Schauspielhauses zur Premiere, auf der Müllers Einschätzung des »Lenz« als »Prosa aus dem 21. Jahrhundert« zitiert wird. 64 Büchner: Lenz, S. 31. 65 Ebd., S. 49. 205
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machen heißt hier nicht, Illustrationen zur Tagespolitik oder ihren Hintergründen, Kommentare dazu oder Utopien dagegen zu entwerfen.66 Ausgehend von der Erkenntnis, daß Theater ein Resonanzraum ist, in und nicht vor oder nach dem das Denken stattfindet, geht diese Praxis auch auf Distanz zur brechtschen Distanz. Wo Brecht sich gegen die Einfühlung wendet, weil dabei die Differenz zwischen dem Darsteller und dem von ihm Dargestellten verloren gehe, und beispielsweise im zitierten Text einen »eigentlich« darzustellenden Inhalt mit einer uneigentlichen, Hilfestellung gebenden Vorrede auszustellen vorschlägt67, da insistieren sie auf der je spezifischen Besonderheit von Darsteller wie Dargestelltem, die weder ein reines Darstellen, noch ein bloßes Zeigen auf den Dargestellten erlaubt, sondern vielmehr im Darstellen über das Dargestellte hinausdeutet, im Zeigen sich zugleich darstellt – sich bzw. etwas am eigenen Selbst, was nicht aufgeht in der Repräsentation, was im Zeigen anderswohin zeigt. Worauf hier beharrt wird, das ließe sich in jedem Fall als eine unvermeidbare, ja notwendige Unform bezeichnen, als Schwäche und Verletzbarkeit, aus der zugleich ein Überschuß resultiert. Wo Artaud Theater als reines Ereignis, Brecht als reine Wiederholung zu etablieren versucht68, da insistiert die Praxis eines Denkens auf der Bühne, eines szenischen Denkens, auf der Kontamination des Wiederholten mit der Einmaligkeit, der Einmaligkeit mit allem, was sie an Wiederholtem voraussetzt. Ihr Theater ist das einer wiederholten Einmaligkeit oder einmaligen Wiederholung. Die insignifikanten Feinheiten, in denen sich der Aufstand des Spielers gegen die Methode, des Tänzers gegen die Choreographie, des Performers gegen die Regel als Zustand des Spielens, Tanzens, Sprechens usw., manifestiert, weisen darin auf die in jeder Darstellung sich entziehende Singularität des Materials hin, auf Zeit, Raum und Kontext. Affirmiert wird so in jedem Fall eine Andersheit, die dem dargestellten anderen eine Bühne für das eröffnet, was noch nicht und
66 Vgl. zum Unterschied von Utopie und einem Denken des Un-Möglichen: Thomas Assheuer: »Ich mißtraue der Utopie, ich will das Un-Mögliche«. Ein Gespräch mit dem Philosophen Jacques Derrida über die Intellektuellen, den Kapitalismus und die Gesetze der Gastfreundschaft, in: Die Zeit, 11/1998, hier zit.n.: http://zeus.zeit.de/text/archiv/1998/11/titel.txt. 19980305.xml vom 2.6.2006. 67 Vgl. Brecht: Gesammelte Werke, S. 344. 68 Vgl. dazu ausführlicher Nikolaus Müller-Schöll: Theatralische Epik. Theater als Darstellung der Modernitätserfahrung in einer Straßenszene Franz Kafkas, in: Christopher Balme/Erika Fischer-Lichte/Stephan Grätzel: Theater als Paradigma der Moderne? Positionen zwischen historischer Avantgarde und Medienzeitalter, Tübingen, Francke, 2003, S. 189-201. 206
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vielleicht niemals dasein kann, was im Zustand des Tanzens, Spielens, Sprechens das kommende ermöglicht und immer von neuem beendet.*
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Der vorliegende Text wurde zunächst unter dem Titel »Raisonner sur scène« im Rahmen der von Karsten Lichau, Viktoria Tkaczyk, Rebecca Wolf und Andreas Wolfsteiner organisierten Konferenz »Körperwellen. Zur Resonanz als Modell, Metapher und Methode« des Graduiertenkollegs »Körper-Inszenierungen« an der FU Berlin vorgetragen. Der von mir bei der Basler Konferenz vorgetragene Text zu Jeff Walls Arbeit konnte wegen ungeklärter Rechte zum Abdruck der besprochenen Bilder nicht im Zeitrahmen dieser Tagungspublikation fertiggestellt werden. Er wird voraussichtlich unter dem Titel »Photographien der Potentialität« in einem von Fabian Lettow, Sebastian Scholz u.a. herausgegebenen Band mit dem Titel »Bildkontext« erscheinen. 207
D E R D E N K E R A L S Z E I T -Z E U G E . D E R R I D A Ü B E R Z E U G N I S U N D B EW E I S MICHAEL WETZEL
Jacques Derrida war zweifellos einer der wichtigsten Zeugen einer intellektuellen Epoche des 20. Jahrhunderts, die mit Stichworten wie »Strukturalismus« oder »Poststrukturalismus« nur unzureichend benannt ist. Seine Zeitgenossenschaft der entscheidenden Jahre zwischen 68 und 89 und darüber hinaus ist auf jeden Fall einzigartig. Entsprechend hat er sich an fast allen Debatten der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts beteiligt, angefangen bei der Phänomenologie, Ethnologie und Semiologie über Psychoanalyse, Postmoderne, Hermeneutik und Sprechakttheorie, bis hin zu den Neuauflagen von Marxismus, Ethik und Religion. Ein anderer Effekt der außergewöhnlich langfristigen Begleitung dieser so fruchtbaren Epoche sind die Nachrufe, die Derrida den herausragendsten Mitdenkern gewidmet hat und die er, selbst schon vom Tod gezeichnet, unter dem Motto: »Jedes einzigartige Mal, das Ende der Welt« gesammelt hat.1 Zugleich ist er aber als der Denker der Spur auch derjenige, der die Frage nach dem Zeugnis, der Aufzeichnung, dem Archiv immer wieder selbst zum Thema seiner kritischen Analysen machte, die man allzu schnell als Dekonstruktion exotisiert. Was aber ist ein Zeugnis? Man findet bei Derrida eine interessante Verschiebung dieser Frage, nämlich zu derjenigen: Was ist ein Professor? Was hat aber ein Professor mit einem Zeugnis zu tun und mit der Zeitzeugenschaft des Denkens? Jacques Derrida findet eine überraschende Antwort, indem er sich auf die Etymologie des Wortes Professor zurückbesinnt: jemand, der sich durch ein öffentliches Versprechen zur Suche nach der Wahrheit verpflichtet, und zwar bedingungslos, ohne Rücksicht auf andere Interessen, der also »offen erklären, öffentlich erklären« und somit Zeugnis ablegen will von der »Kompetenz« und dem »Wissen«, das am Orte seiner denkerischen
1
Vgl. Jacques Derrida: Chaque fois unique, la fin du monde, hg. v. P.-A. Brault u. M. Naas, Paris: Galilée 2003. 209
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Tätigkeit, der Universität, erarbeitet werden kann.2 Daß sich Professoren über die von ihnen repräsentierte Institution öffentlich Gedanken machen, ist nicht neu. Gerade in Deutschland, wo die Geschichte der Universität eng mit dem Selbstbewußtsein als Kulturnation verknüpft war, findet sich eine regelrechte Tradition programmatischer Reden: angefangen bei Kants »Streit der Fakultäten« über Fichte, Schelling, Nietzsche, Weber bis hin zu Heideggers berüchtigter »Rektoratsrede«. Wenn nun auch Derrida in einer Universität die Stimme erhoben hat, um über die Universität zu sprechen, so will er diese Tradition nicht nur fortsetzen, sondern sich zugleich von ihr absetzen: Sein emphatisches Plädoyer für die »unbedingte Universität« als Ort appelliert an die Instituierung eines bedingungslosen Rechts auf Hinterfragung und Diskussion, an die Einrichtung eines Ortes, der zugleich ein Recht auf Widerstand gegen jede Form von ökonomischer, politischer, rechtlicher oder ethischer Beschränkung impliziert. Beharrlich arbeitete Derrida seit Jahren an der Destruktion des Vorurteils, er sei als Denker der Postmoderne unpolitisch. Genauer noch, er dekonstruiert diese Unterstellung, indem er in einer Reihe von Publikationen (u.a. über politische Gerechtigkeit und Verantwortung, das Gastrecht und das Vergeben z.B. von Verbrechen gegen die Menschheit, die Markierung und Überschreitung kultureller und nationaler Grenzen) immer wieder sein Engagement artikulierte und zugleich mit einem Begriff des Politischen konfrontierte, der alle faktischen Konstellationen an ihrer möglichen Andersheit mißt. Im akademischen Postulat einer Freiheit von Lehre und Forschung radikalisiert sich so für Derrida die generelle Aufgabe einer »Mondialisierung«, d.h. eines »Weltweit-Werdens« des unbedingten Wahrheitsprinzips, und zwar als grenzenlose Humanisierung der Welt.3 In diesem Sinne kämpfte Derrida zeit seines Lebens um eine Anerkennung einer Universität der Humanities, d.h. der Geistes- oder Humanwissenschaften der Philosophischen Fakultät. Sie haben vor allem mit Literatur zu tun, d.h. dem Medium menschlicher Wahrheitssuche, in dem nicht nur über alles geredet werden kann, sondern in dem auch die mögliche Welten entwerfende Kraft der Fiktion ihren Ort hat. Denn dieser virtuellen Realität eines »Als ob« soll sich der Professor der zukünftigen Humanities im Glauben an kommende Wahrheiten verpflichten. Und Derrida läßt sein visionäres Bekenntnis zur unbedingten Universität in der Forderung gipfeln, daß sie der Ort des Möglichen, aber nicht eines vorhersehbaren, berechenbaren oder erwarteten Möglichen, sondern ei-
2 3
Vgl. Jacques Derrida: Die unbedingte Universität, übers. v. S. Lorenzer, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 34f. Vgl. ebd., S. 11. 210
DER DENKER ALS ZEIT-ZEUGE
nes unmöglichen Möglichen, eines »Denkens des Unmöglich-Möglichen« sein soll.4 Welche Rolle spielt aber für dieses Denken des Unmöglich-Möglichen das Zeugnis? Die Antwort findet sich in Derridas Verständnis des Begriffs von Literatur und umfassend von Poetik. Paul Celans Schibboleth als »Gabe des Gedichts und des Datums«5 eröffnet den Schauplatz – um nicht zu sagen: den Gerichtsplatz – einer »Poetik als Zeugnis«, die im testamentarischen Zeugnis zugleich die Möglichkeit, die »Möglichkeit dieses Gedichtes« entbirgt, d.h. »erst erfinden, stiften, und auf exemplarische Weise lesbar machen muss, indem sie diese ihre Möglichkeit zugleich unterschreibt, versiegelt und entsiegelt« und damit »im Ereignis selbst«, »im sprachlichen Körper seiner Einmaligkeit« zugleich »einzig und wiederholbar« ist, einen Augenblick und zugleich sein Anderswerden unterschreibt und damit attestiert, was Derrida als Hypothese ›unterstellt‹: »jedes verantwortungsvolle Zeugnis schließt eine poetische Erfahrung der Sprache ein.«6 Ausdrücklich wird damit Verantwortung im Namen eines Verfahrens der Erfindung von Möglichkeitswelten gefordert, dessen Versprechen einer Authentifizierung gehorchen muß, die genau im Zeugnis angesprochen ist. Als solches unterscheidet es Derrida auch vom Beweis als objektiv-dinglicher Verifikation. Das Zeugnis bringt keine eineindeutige Gewißheit, sondern appelliert an einen Glauben, den er bei seinem Adressaten verwurzeln will, denn dieser hat das Bezeugte nicht gegenwärtig; er hat nur den Diskurs des Zeugen, der auf das Abwesende verweist, und das Geständnis, die Bekräftigung, das Versprechen, die Wahrheit zu sagen: Wer zeugt (bears wittness), bringt keinen Beweis; seine Erfahrung ist im Prinzip einmalig und unersetzbar […]: sie bezeugt gerade, dass eine »Sache« dem Zeugen anwesen gewesen ist. Diese »Sache« befindet sich nicht mehr in der Anwesenheit, ist nicht Gegensand seiner Perzeption im Augenblick der Bezeugung […] Der Zeuge zeigt oder erklärt, dass er bei einer »Sache« anwesend gewesen ist, bei der die Adressaten abwesend waren. Der Zeuge ist mit dem Adressaten durch einen Kontrakt verbunden, einen Schwur, ein Versprechen,
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Vgl. ebd., S. 73. Vgl. Jacques Derrida: Schibboleth. Für Paul Celan, übers. v. W. S. Baur, Wien: Passagen, 1986, S. 87. Jacques Derrida: Poétique et politique du témoignage, in: Marie-Louise Mallet/Ginette Michaud (Hg.), Jacques Derrida (Cahier de l’Herne 83), Paris: l’Herne 2004, S. 521-539; deutsch: »A Self-Unsealing Poetic Text«. Zur Poetik und Politik des Zeugnisses, übers. v. K. Hvidtfelt-Nielsen, in: P. Buhmann (Hg.), Zur Lyrik Paul Celans, Kopenhagen/München: Fink 2000, S. 147f. 211
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durch einen förmlichen Eid, dessen Performativität das Zeugen konstituiert, indem sie aus dem Zeugnis einen Bürgen und eine Verbürgung macht.7
Das Zeugen ist somit kein Zeigen im Sinne der Erzeugung einer Präsenz, sondern – wie an der Etymologie des Wortes »Zeug« ablesbar – die Implementierung eines instrumentellen Zusammenhangs des Ziehens, Zugs, Bahnen, Aufreißens, des Heranziehens von Gründen. Ein Beispiel mag das veranschaulichen. Im Frühjahr 1993 erschütterte ein Gerichtsprozeß die Medien: Der Fall Rodney King, der in Los Angeles zur Verhandlung stand, hätte eigentlich ein Glücksfall für die Beweisführung sein sollen, hatte doch ein zufälliger Zeuge den brutalen Übergriff vier weißer Polizisten auf einen schwarzen Autofahrer mit einer Videokamera festgehalten. Im Gerichtssaal erwies sich dann aber diese scheinbar beweiskräftige ›Mitschrift‹ der Ereignisse als hermeneutische Falle: Mit Hilfe von Zeitlupe und Bildstills nutzten Anklage und Verteidigung ein- und dasselbe Datenmaterial für ihre gegensätzlichen Plädoyers, um z.B. eine angehaltene aggressive Geste zur Abwehr oder einen schutzsuchenden Arm per Einzelbildschaltung zur Angriffswaffe werden zu lassen. Auch Rudolf Arnheim hat diesen Vorfall zum Anlaß genommen, für die aufzeichnenden oder dokumentarischen Medien grundsätzlich eine doppelte Authentizität zu veranschlagen. Gerade die technische Perfektion der Photographie habe das ästhetische Dilemma zwischen getreuer Wiedergabe und bildender Form nur verschärft. Für die bildende Kunst gelte, daß die durchaus wohlmeinende Absicht, wiedererkennbare Bilder zu liefern, durch die »ästhetische Funktion« behindert werde: »die Phantasien und Freiheiten der menschlichen Einbildungskraft sind alles andere als authentisch, wenn sie als Dokumente der physischen Wirklichkeit aufgefaßt werden.«8 Das Beispiel des Rodney-King-Videos zeigt jedoch deutlich, daß diese objektive oder informelle Seite des Bildes auch in den Medien technischer Reproduktion nicht ohne den ästhetischen Faktor der Form, der Gestaltung oder dessen bedeutsam wird, was Arnheim als kommunikativen Anspruch der Medien namhaft macht, um »ihre Bilder lesbar zu machen«, »indem sie überzeugende Bilder schaffen«.9 Was bleibt, ist jedoch das spezifische Schillern, das gerade keine Geschichte kunstvoller Konstruktionen konzediert, sondern ein Eingedenken unvordenklicher Einsichten einfordert. Bei argumentativen Wendungen z.B. der Art einer Darstellung als Nichtdarstellung droht gerade eine 7 8
9
Ebd., S. 160f. Rudolf Arnheim: Die beiden Authentizitäten der photographischen Medien, in: Arnheim, Die Seele in der Silberschicht. Medientheoretische Texte, hg. v. Helmut Diederichs, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, S. 56-63, 57. Ebd., S. 60f. 212
DER DENKER ALS ZEIT-ZEUGE
Verschleierung des genealogischen Zusammenhangs, eine Camouflage des Zeugenden als Zeugen für die absolute Wahrheit des von ihm Gezeugten. Derrida hat dies mit seiner Formel von der »artefactualité« auf den Punkt gebracht. Der Neologismus, zusammengesetzt aus artefact und actualité (was im Plural auch »Nachrichten« bedeutet), soll zunächst zum Ausdruck bringen, daß jeder öffentliche Akt des Denkens, Sprechens, Schreibens an ein »mediales Dispositiv« rückgebunden ist, eine »Teletechnologie« der Information und Kommunikation, die jede Authentizität im Sinne bloßer Unmittelbarkeit des Gegebenen suspekt erscheinen läßt: Dieses Schachtelwort »artefactualité« soll zunächst bedeuten, daß es Aktualität im Sinne dessen, »was aktuell ist« oder dessen, »was unter dem Namen Nachrichten im Radio oder Fernsehen verbreitet wird«, nur in dem Maße gibt, wie ein Ensemble technischer und politischer Dispositive aus einer nicht endlichen Masse von Ereignissen die »Tatsachen« gewissermaßen auswählt, die die Aktualität ausmachen sollen: das, was man unter diesen Umständen »die Tatsachen« nennt, aus denen sich die »Informationen« speisen.10
Derridas Dekonstruktion immedialer Präsenz und Authentizität will dabei ähnlich entlarven wie Adornos Kampf gegen die erpreßte Versöhnung eines Jargons der Eigentlichkeit, um die verschleierten Konstruktionszusammenhänge aufzudecken: Wirklichkeit und Wahrheit sind mediale Artefakte, Konstrukte eines technischen Netzwerkes, das als SinnApriori in jeder Bahnung einer Spur am Werk ist: »die technische Struktur des archivierenden Archivs bestimmt auch die Struktur des archivierbaren Inhalts schon in seiner Entstehung und in seiner Beziehung zur Zukunft.«11 Authentizität entpuppt sich demgegenüber als Effekt einer Nachträglichkeit, aus der heraus ein privilegiertes Verhältnis zum Ursprung unterstellt wird. Zu fragen ist aber, durch welche Einsätze und welche Inszenierungstechniken dieses Verhältnis gestiftet wird. Und bei der dadurch aufgeworfenen Frage nach der Artifizialität der Authentizität geht es auch um die Frage nach dem, was Kunst sei, wobei Derrida nicht zuletzt als Leser Heideggers um die Gleichbedeutung von Kunst (latein. ars) mit dem griechischen Wort téchne weiß, aber auch um Heideggers
10 Jacques Derrida/Bernard Stiegler: Echographies de la télévision. Entretiens filmés, Paris: Galilée 1996, S. 52 (eigene Übers.). 11 Jacques Derrida: Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression, übers. v. H.-D. Gondek, Berlin: Brinkmann & Bose 1997, S. 35. 213
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Option, daß damit nicht eine praktische Kunstfertigkeit des Herstellens, sondern ein Wissen um das Hervorbringen gemeint sei.12 Jede Präsenz ist also ausgehöhlt von Absenz, in der das Gemachtsein jener »artefactualité« als latente Produktionsgeschichte dem Präsenzeffekt und seiner scheinbar vorgefundenen Natürlichkeit inhäriert. In dieser Hinsicht stellt sich die Frage nach der Verantwortung von Autorschaft unter ganz anderen Vorzeichen, bei denen es nicht mehr um die subjektive Deduktion einer Autorität des Professoralen geht, sondern um die Zuschreibung von Versprechungen. Jene »Rhetorik des Striches oder Zugs«, wie sie Derrida u.a. in seinen »Aufzeichnungen eines Blinden« (1990) oder in seinen Analysen der »Wahrheit in der Malerei« (1987) beschrieben hat und die sich ein Subjekt genannt Künstler in der Ökonomimesis seiner Technik von Visualisierung mimetisch aneignet, sie erhält im Rahmen einer latent in der Dekonstruktion mitschwingenden Politik der Eigennamen eine Markierung. Diese ist nicht nur explizit einer Selbstautorisierung oder Nobilitierung als Schöpfer und Garant entgegengesetzt, sondern bindet Authentizität zurück an eine temporale und topologische Singularität, die »unersetzbare Einmaligkeit« des Zeugen13, die allerdings immer auch eine Doppelmarkierung von Eigenem und Anderem, von Kontingenz und Möglichkeit, von Bezeugung und Geheimnis ist. In Bezug auf die Aporie der Bezeugung heißt dies, nicht nur die grundsätzliche Kritik am Vergessen der Medialität, d.h. des Aufschubs, der Differenz in der Spurensicherung laut werden zu lassen, sondern auch nach den Agenten zu fragen, die im Netzwerk der Artifizialität tätig werden. Interessanterweise äußert auch Derrida nicht nur Zweifel an der Zeugenschaft medialer Beweisstücke, sondern demonstriert dies ebenfalls am Rodney King Verdict: Eine technische Aufzeichnung kann nicht bezeugen, weil die »Tatsachen« in ihrer Präsentation schlicht tautologisch nur auf die eigene Existenz hinweisen und in einer Narration montiert und damit der Fiktion angenähert werden müssen, um zu bedeuten. Die Unterstellung einer Unmittelbarkeit der Spur zum Ereignis ist schlicht Trug im Sinne einer Unterschlagung der Arbeit an der Spur bis hin zu ihrer Präsentation. Das Video ist für Derrida ein hervorragendes Beispiel für einen Beweis (»preuve«), ein Beweisstück (»pièce à conviction«), das es zu interpretieren gilt und eben zu unterscheiden vom Zeugnis, der Zeugenschaft (»témoignage«), das zurückverweist auf den Zeugen, in diesem Fall den Kameramann:
12 Vgl. Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, in: Heidegger: Holzwege, Frankfurt a.M.: Klostermann 1950, S. 47f. 13 J. Derrida: »A Self-Unsealing Poetic Text«, S. 165. 214
DER DENKER ALS ZEIT-ZEUGE
Es gibt also eine Heterogenität zwischen dem Zeugnis und dem Beweis und infolgedessen allen technischen Aufzeichnungen. Die Technik wird niemals ein Zeugnis liefern. Andererseits – […] – verpflichtet sich ein jeder, der ein Zeugnis oder einen Eid ablegt, nicht nur dazu, die Wahrheit zu sagen – »ich, jetzt, hier, vor Ihnen« –, sondern diese Wahrheit sogleich, morgen, unendlich zu wiederholen und zu bestätigen. Die Präsenz meines Zeugnisses muß wiederholt werden und infolgedessen hat sich die Iterabilität schon im Herzen der lebendigen Gegenwart der Zeugenverpflichtung eingenistet. Das Zeugnis besteht als abgelegtes Zeugnis, als Attestierung, immer aus einem Diskurs. Zeuge sein besteht darin zu sehen, zu hören etc., aber Zeugnis ablegen heißt immer reden, einen Diskurs zu halten, auf sich zu nehmen und zu unterzeichnen. Man kann nicht ohne einen Diskurs bezeugen. Und genau dieser Diskurs schirmt schon gegenüber der Technik ab, und wäre es allein in dieser Form von Iterabilität, die vom Eid impliziert wird, und ohne von jener Technik zu sprechen, die bereits die minimale Grammatikalität oder Rhetorizität bilden, die von einer Attestierung erfordert werden.14
Die Dekonstruktion der Attestierung, die Derrida hier an die Formen der Grammatikalität und Rhetorizität der Beglaubigungsformel eines Versprechens zurückverweist, führt in ein und demselben Zuge die Wiederholbarkeit, Reproduzierbarkeit in diese ein: Das authentische Zeugnis ist dank seiner Wiederholbarkeit aus einem gültigen und bindenden »Versprechen hervorgegangen, das vor dem Gesetz eine bindende Verantwortung übernommen hat«15. Genau in der darin gewissermaßen verdichteten und wiederab- oder wiederaufrufbaren Diskursivität ruht die verbindliche und verbindende Kraft des Zeugnisses, der emphatische Gestus des Wahrhaftigen oder seine Verpflichtung zur Aufrichtigkeit, die wie jede Unterschrift datiert sein muß (und zwar im räumlichen wie im zeitlichen Sinne), um im rechtsverbindlichen Sinne lesbar zu sein. Einzigartig und wiederholbar: Mit diesem Widerspruch müssen Signatur und Authentizität leben, wobei die Möglichkeit der Wiederholung nicht nur die Einzigartigkeit der authentischen Signatur bezeugend erzeugt, sondern auch selbst in dieser ihrer bezeugenden Kraft durch die eigene Wiederholung autorisiert ist, die nämlich ihre Adressierung an eine Zukunft und einen Anderen impliziert – des Dritten als Zeugen16. In dieser Adressierung der Zeugenschaft drückt sich auch seine Geschichtlichkeit aus, die allerdings 14 J. Derrida: Echographies, S. 107f. 15 J. Derrida: »A Self-Unsealing Poetic Text«, S. 158; vgl. J. Derrida: Gesetzeskraft. Der »mystische Grund der Autorität«, übers. v. Alexander Garcia Düttmann, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 83. 16 Vgl. zu dieser Figur auch im Zusammenhang der Geheimhaltung der SSVerbrechen von Auschwitz: Jean-François Lyotard: Der Widerstreit, übers. v. Joseph Vogl, München: Fink 1987, S. 175ff. 215
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weder einer archäologischen noch einer teleologischen Determination unterliegt. Vielmehr geht es um eine Bestimmung im Sinne einer Aufgabe als Schickung, als Unterwegssein in eine nicht ankommenden Zukunft, wie sie auch Derridas Verständnis von Autorschaft beherrscht. Ebenso wenig wie die geschichtliche Zeugenschaft im ursprünglichen Material außer in der nachträglichen Konstruktion wurzelt, kann auch der Autor keine originäre Werkherrschaft anders als in der Weise einer Zuschreibung von Außen beanspruchen. Derrida spricht in diesem Zusammenhang auch vom Gegenzeichnen (»countersignature«) der auktorialen Signatur, was allerdings einen institutionellen Raum der Legitimierung voraussetzt: The origin of the work ultimately resides with the addressee, who doesn’t yet exist, but that is where the signature starts. […] But that signature is already produced by the future perfect of the countersignature, which will have come to sign that signature. When I sign for the first time, that means that I am writing something that I know will have been signed only if the addressees come to countersign it. Thus the temporality of the signature is always this future perfect that naturally politicizes the work, gives it over to someone else, that is to say, to society, to an institution, to the possibility of the signature.17
Der zukünftige Adressat ist es, der die Signatur und damit das Versprechen der Autorschaft im Akt des Gegenzeichnens authentifiziert und geschichtliche Zeugenschaft attestiert. Diese wird also in der Wiederholung nicht übertragen, sondern erst erzeugt: »Kein Archiv ohne einen Ort der Konsignation, ohne eine Technik der Wiederholung und ohne eine gewisse bußerlichkeit.«18 Alles beginnt mit der Reproduktion, so könnte man zugespitzt formulieren, aber einer Reproduktion, die zugleich Produktion ist. Immer wieder stößt man auf die gleiche Doppelmarkierung einer referentiellen oder ursprünglich signierenden Impression und einer diegetischen oder diskursiv bezeugenden, gegenzeichnenden/Iteration/Reproduktion, die eben keine einfache Verdoppelung oder Kopie, sondern phototechnisch gesprochen eine ›Surimpression‹, eine Über- und Verzeichnung ist. Derrida will seine Wendung zum Zeugen als Bezeugendem nicht als Abkehr vom Technischen verstanden wissen. Es geht um den Unterschied, die Differenz von Beweis und Zeugnis und die in diesem Zuge unterscheidende und aufschiebende, supplementäre Funktion von Authentizität. Und damit um den Chiasmus von Techniken der Auf17 Jacques Derrida in: Peter Brunette and David Wills: The Spatial Arts: An Interview with Jacques Derrida, in: Peter Brunette/David Wills (Hg.): Deconstruction and the Visual Arts, Cambridge: University Press 1994, S. 19. 18 J. Derrida: Dem Archiv verschrieben, S. 25. 216
DER DENKER ALS ZEIT-ZEUGE
zeichnung und Bezeugung, von Daten und Informationen. Denn der redende Zeuge bringt zwar das Bezeugte bezeugend hervor, aber nur auf der Grundlage der technischen Struktur des archivierenden Archivs, das auch die Struktur des archivierten Inhalts mitbestimmt. Auch wenn Derridas Kritik an den »sogenannten Informationsmedien« immer wieder in Erinnerung ruft, daß die Archivierung »das Ereignis in gleichem Maße hervor[bringt], wie sie es aufzeichnet«19, so soll dies eben nicht auf eine Ermahnung zu ethisch und politisch korrekterer Treue gegenüber einem dem voraus- oder zugrundeliegenden Original und seiner Authentizität hinauslaufen. Es gilt vielmehr, die Unentscheidbarkeit der Spur und damit die latente Doppeldeutigkeit auch des Zeugnisses in seiner Radikalität als authentikos (in der Bedeutung von »zuverlässig, nach sicherem Gewährsmann«) zusammen mit dem technischen Apriori des Beweises zu bedenken. Derrida kommt in diesem Zusammenhang auf ein gleichsam obligatorisches Beispiel zu sprechen, an dem sich alle Diskurse über Medien und Authentizität gewissermaßen abarbeiten müssen: nämlich Roland Barthes’ späte Phototheorie, die von einer Emanation der Dinge in der Lichtspur ihrer Reproduktion ausgeht. Er diagnostiziert zunächst einmal eine Intention der Barthesschen Argumentation, den Bild-Beweis in den Stand einer Zeugenaussage zu erheben und damit im Namen einer Authentizität als punctum die Artifizialität als studium zu sprengen. Aber gerade mit der Überbewertung des technogenen »Realitätseffektes« des Photographischen verstrickt sich Barthes wieder in eine Beschwörung der Kräfte »artifizieller Konstruktion«, die das, was angeblich so vor der Linse gewesen sein soll, wieder allen Möglichkeiten der konnotativen Manipulation ausliefert. Dabei war es gerade Barthes’ Stärke, einer ontologisierenden Kredibilität des Mediums zu entsagen und die ›Wahrheit‹ der Bilder nicht wiederum zu renaturalisieren. Derrida formuliert fast in den gleichen Worten wie Arnheim die Befürchtung, daß mit der digitalen Revolution die potenzierten Möglichkeiten der spurensichernden Authentifizierung (wie z.B. durch den »genetischen Fingerabdruck«) zugleich mit der perfidesten Form der Manipulation der Bildbearbeitung etabliert werden. Die binär-synthetischen Verfahren entfesseln eine autonome Macht des technischen Bildes, die sich gegen seine getreue Spurensicherung wenden: »Jener Wert der Authentizität wird zugleich durch die Technik möglich gemacht und unabtrennbar von ihr bedroht.«20 Oder anders formuliert: Eine Authentizität im Sinne einer adäquaten Ausschöpfung des ästhetischen Potentials von Poiesis als Schöpfung bzw. Fiktion stellt sich immer der Authentizität im Sinne 19 Ebd., S. 35. 20 J. Derrida: Echographies, S. 111. 217
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getreuer und zuverlässiger Wiedergabe entgegen; einer Maximierung des medialen Effekts der Form steht eine Minimierung im Namen der Transparenz des objektiven Inhalts gegenüber. Man kann diesen Gegensatz schon auf Adornos Begriff der Authentizität applizieren, der in der musiktheoretischen Polemik gegen Strawinsky die Vorstellungen von Eigentlichkeit und Authentizität annähert und einer Verleugnung gesellschaftlicher Vermittlung und deren subjektiver Brechung überführt. Was aber in dessen Schlußgestus einer Überwindung »der Idee von Authentizität selber«21 ebenso wie in Derridas Dezentrierung des authentischen Beweises im Zeugnis zum Ausdruck kommt, ist eine Dialektik des Authentischen, die zum ersten Mal von Benjamin benannt wurde. Dieser stellte, indem er sich der Forderung Brechts nach Künstlichkeit und Konstruktion in der Wirklichkeitsabbildung anschloß, bereits der »Authentizität der Photographie« mit ihren Weisungen auf »Tatorte«, »Beweisstücke«, »Indizien«, auf festgehaltene Eindrücke, »deren Chock im Betrachter den Assoziationsmechanismus zum Stehen bringen«, ein Moment der Bearbeitung, Konstruktion, des Zeugnisses als Diskurs gegenüber. Er brachte dieses auf den Begriff der »Beschriftung«, »welche die Photographie der Literarisierung aller Lebensverhältnisse einbegreift und ohne die alle photographische Konstruktion im Ungefähren stecken bleiben muß«.22 Beschriftung ist hier im allerweitesten Sinne von Medialität, Archivierung, Adressierung bis Allegorese zu verstehen und appelliert gewissermaßen an einen konnotativen Assoziationskontext, der die Metaebene des Bezeugens über die des gegenständlichen Zeigens hinaus eröffnet. Und natürlich spielen hier auch Benjamins Überlegungen zum Film eine Rolle, die vor allem am Konzept der Konstruktion als Montage orientiert sind. Auch hierin nämlich schlägt sich eine Beschriftung in Form einer semiologischen Verkettung nieder, die Authentizität erzeugt, indem sie die Fragmente der Beweisstücke einer Lesbarkeit überführt. Gerade für die filmische Dimension geschichtlicher Zeugenschaft ist diese Einsicht entscheidend, die nicht nur davon ausgeht, daß historische Authentizität als »gemacht« und im zeitlichen Prozeß »verändert« ist, sondern daß ›authentisch‹ überhaupt »eine Kategorie der Bearbeitung (und als solche nicht an das Dokumentarische gebunden)« ist.23 21 Vgl. Theodor W. Adorno: Philosophie der neuen Musik, Frankfurt a.M., Berlin, Wien: Ullstein 1974, S. 141 u. 189. 22 Walter Benjamin: Kleine Geschichte der Photographie, in: Benjamin: Gesammelte Schriften, hg. v. R. Tiedemann/H. Schweppenhäuser, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974, Bd. II.1, S. 385. 23 Vgl. Natalie Zemon Davis: »Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen …«: Der Film und die Herausforderung der Authentizität, in: Reiner 218
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Gegen die trügerische Strategie des artem celare betont das Moment der Montage/Konstruktion die Gemachtheit, Hergestelltheit von Authentizität als Effekt von Darstellung, als Arbeit an der Lesbarkeit, die zugleich eine Trauerarbeit im Freudschen Sinne eines verstehenden Durcharbeitens einer verlorenen, sich entziehenden Objektbesetzung ist.24 In welchem Maße dieses Moment der konstruierenden, montierenden Erzeugung geschichtlicher Zeugenschaft einer jeden Namhaftmachung von Authentizität im Sinne einer Arbeit an der Lesbarkeit zugrunde liegt, zeigt ein abschließendes extremes Beispiel einer jüngsten Kontroverse: extrem, weil es um das beispiellose Beispiel des Holocaust geht, und zwar um Georges Didi-Hubermans umstrittene Interpretation der vier ›authentischen‹ Bilder aus den Gaskammern von Auschwitz. Es handelt sich um vier Aufnahmen, die unbekannte Mitglieder der Sonderkommandos im Auftrag des polnischen Widerstands als Beweis für die Vernichtungslager angefertigt haben und auf denen man Ansichten der Birkenwälder rund um das Lager sieht, durch die Gruppen nackter Frauen zu den Gaskammern getrieben werden, sowie Szenen der Massenverbrennung der Leichen. Didi-Huberman verfolgt nun die Geschichte dieser Bilder als authentische Dokumente in dem o.g. ersten, referentiell-indexikalischen Sinne, die – unter extremen Umständen heimlich aufgenommen – die genannten Details selbst nur ausschnitt- oder anschnittartig wiedergeben, die aber im Verlauf der verschiedenartigen Ausstellungen und Dokumentationen herausgefiltert, vergrößert, neu gerahmt, ja sogar soweit überarbeitet wurden, daß man z.B. die verwischten Körperschemata der nackten Frauen mit Gesichtern und Brüsten retouchiert hat. In einer dichten Reflexion zum Authentizitäts-Status des Bildes führt Didi-Huberman diesen Gegensatz zwischen der Immedialität dieser direkten Spur des Grauens und der Komplexität ihrer nachträglichen Montage eng, um die Legitimität letzterer angesichts des Undarstellbarkeit und Unaussprechlichkeit des Gegenstandes zu exkulpieren. Die Manipulation ist Ausdruck einer »Arbeit der visuellen Kritik« an der Sichtbarmachung des Unvorstellbaren, die immer auch zugleich eine Trauerarbeit an dem sich jedem Verständnis Entziehenden und so den Abgrund zwischen den zwei Seiten des Bildes, dem Zuwenig an Angemessenheit und Exaktheit und dem Zuviel an Schein und Mehrdeutigkeit überbrücken muß: Lesbarkeit – wie Didi-Huberman es mit Benjamin auch nennt – stellt sich nicht her im PoRother (Hg.): Bilder schreiben Geschichte: Der Historiker im Kino, Berlin: Arsenal 1991, S. 39. 24 Vgl. Jacques Derrida: Kraft der Trauer, übers. v. Michael Wetzel, in: M. Wetzel/Herta Wolf (Hg.): Entzug der Bilder. Visuelle Realitäten, München: Fink 1994, S. 13-36. 219
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chen auf der dokumentarischen Echtheit, sondern durch die Kombination mit »anderen Bildern oder anderen Zeugnissen«.25 Zeugnis legt also nicht das ab, was auf den Bildern dargestellt ist, sondern die Art und Weise der Darstellung, nicht die Autorität des materiellen Beweises, sondern die geschichtliche Zeugenschaft als Bahnung des Wegs, der von jenem zur aktuellen Erscheinungsweise, Reproduktion und Rezeption führt. Authentisch ist das Künstlich-Künstlerische daran, nicht der nackte Bestand der Daten, sondern die gelungene, sprich: rettende Form ihrer Präsentation.
25 Vgl. Georges Didi-Huberman: Images malgré tout, Paris: Minuit 2003, S. 47f., 57 u. 151. 220
DERRIDA
UND DIE VERGANGENE DES
ZUKUNFT
ARCHIVS
PETER KRAPP
Vor mehr als einem Jahrhundert drängte Wilhelm Dilthey auf die zentrale Sammlung und Speicherung philosophischer Papiere, damit der Nachlaß von »intellektueller Bedeutung« nicht vom Verschwinden bedroht werde. Mit Neid verwies er auf die reichen Archive der Historiker, und rief auf zu einer systematischen Erfassung und Bewahrung für diejenigen, die Dichtung und Denken, Geschichte und Wissenschaft im Kontext studieren. Zu diesem Zweck empfahl er die Rückkehr zu zwei Tugenden des späten 18. Jahrhunderts: zur methodischen Philologie und zu einer Hegelschen Universalgeschichte, die über 84 Generationen von Thales bis zur zeitgenössischen Philosophie reichen sollte. Ausgehend von einem objektiven Geist des Archivs wollte Dilthey die Tradition des westlichen Denkens in ein Staatsarchiv überführen, das sie zugleich schützen und verbreiten würde.1 Sicherlich zieht Derridas gesamtes Denken die Existenz eines objektiven Geistes, der sich in einer Art Hegelscher Universalgeschichte manifestieren sollte, in Zweifel. Dennoch gibt es seit zehn Jahren in Kalifornien ein Archiv, das begonnen hat, das zeitgenössische Erbe dessen zu versammeln und zu ordnen, was in den USA Critical Theory genannt wird – inklusive Derridas Nachlaß. Auch wenn man Derridas Interventionen gewiß nicht direkt als Kritische Theorie ins Deutsche übersetzt, ist es interessant zu beobachten, wie ein Theorie-Archiv, wie es die University of California für Varianten des Poststrukturalismus gründete, sich zu den Diltheyschen Parametern verhält. Derridas Veröffentlichungen verfolgen eine rigorose Unterwanderung jeglicher Hegelscher Universal-, geschweige denn Philosophie-Geschichte, markieren seinen Abstand von Identifikationen mit Denker-Traditionen und bezeugen seinen entschiedenen Widerstand gegen institutionelle Vereinnahmung, gegen Staatsarchive und gegen jegliche Fixierung einer wie auch immer sanktionierten 1
Wilhelm Dilthey: Archive der Literatur in ihrer Bedeutung für das Studium der Geschichte der Philosophie (1889), in: Gesammelte Schriften, Vol. IV, Stuttgart: Teubner 1959, S. 574. 221
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Lektüre. Derridas Papiere sind seit Frühjahr 1996 in Irvine, weil Murray Krieger 1990 bereits Interesse zeigte, bevor andere Archive angefragt hatten, und weil Derrida loyal zu den Kollegen hielt, die ihn nach Amerika holten, wo sein Ruf schnell wuchs. Neben Derrida hält das Critical Theory Archive auch die Papiere von Murray Krieger, Wolfgang Iser, Paul de Man, J. Hillis Miller, Stanley Fish und Ihab Hassan. Unter »Derrida« finden sich hier 121 Kisten und 11 Mappen kategorisierter Objekte aus dem Nachlaß und der Sammlung der Bibliothek – Bücher, Filme und Videos, Fotos, Tonbandaufnahmen – neben anderen Spuren der Erinnerung – Mitschriften, Korrespondenz, Notizen, Paraphrasen, Kritiken und Repliken. Die Universitätsbibliothek bietet auf ihrer Website Stichworte und Hinweise auf Inhalt und Standort und verweist zudem auf ein »finding aid« des Online Archive of California zum Gebrauch des Archivs.2 Doch schon am Paratext mag ein Beispiel belegen, daß weder das Online Archive of California noch das Critical Theory Archive in Irvine die mühsame Arbeit der Lektüre stillstellen oder übernehmen können: die Beschreibung des Derrida-Archivs auf der Website der Bibliothek nennt zuerst die Auslegung und Kritik des Werks von Husserl und Heidegger – vor der ersten Erwähnung des Wortes ›Dekonstruktion‹ und lange vor dem Stichwort ›Literatur‹. Je nachdem wie Derrida gelesen wurde und wird, mag dies provokativ oder selbstverständlich wirken – es ist keineswegs sicher, daß Derrida selbst, der einer elektronischen Erfassung von Archiven gegenüber bis zum Ende skeptisch gegenüberstand, die Stichworte so angeordnet hätte.3 Jedenfalls hege ich erheblichen Zweifel, daß eine Mehrzahl derjenigen Akademiker, die Derridas Werk für wichtig erachten, dies vor allem aufgrund seiner Husserl-Lektüre behaupten würden. Wie dem auch sei: der Umstand zeigt bereits an, dass man vom Archiv – selbst und gerade an einer Universität, die die theoretischen Geisteswissenschaften stark unterstützt – keine »Korrektur« der oft willkürlichen Rezeption der Schriften von Derrida in den USA oder anderswo erwarten darf. Statt dessen sind die Spannungen der Rezeption im Archiv (man ist versucht zu sagen: treu) abgebildet. Zwei weitere mögliche Varianten dieses Mißverständnisses der Rolle des Archivs sollten hier gleich markiert werden: zum einen die Idee, daß das Archiv eine definitive Version, eine abgeschlossene Lektüre des Werks ermöglicht, zum anderen die Vorstellung, daß vom Archiv eine Autorität ausgeht, die strittige Fragen beilegen oder beantworten könnte. Das Archiv bietet zwar Material aus Derridas Studentenzeit 19461958, jedoch verständlicherweise keinerlei private Korrespondenz oder 2 3
Department of Special Collections, University of California, Irvine (http:// antpac.lib.uci.edu), und Online Archive of California (www.oac.cdlib.org). Korrespondenz des Autors mit Jacques Derrida, Dezember 1996. 222
DERRIDA UND DIE VERGANGENE ZUKUNFT DES ARCHIVS
persönliche Dinge. Darüber hinaus hat es zwei weniger leicht verständliche Lücken. Die eine ist Derridas Lehrtätigkeit seit 1995, die andere betrifft alles, was im vergangenen Jahrzehnt im Internet von und über Derrida verbreitet und diskutiert wurde. Der doppelte Grund für die ersterwähnte Lücke ist Derridas Vereinbarung mit dem Critical Theory Archive, daß neuere Seminare und Manuskripte erst nach mehreren Jahren abgelegt werden würden, und daß kurz vor Derridas Tod ein PartnerArchiv in Frankreich in Betracht gezogen wurde.4 Der Grund für die Abwesenheit der an und für sich sehr reichhaltigen Internet-Ressourcen zum Werk Derridas ist etwas komplizierter. Obwohl ich nicht zögere, Derrida auch als Medientheoretiker zu lesen, war sein Mißtrauen dem Netz gegenüber ausgeprägt und durchaus nicht unbegründet. Ein anekdotischer Beleg mag hier genügen – wie er am Ende seines Reisebuchs mit Catherine Malabou erzählt, fand es ein Kanadier witzig, auf einer (von mir gegründeten) Email-Diskussionsliste zu verbreiten, Derrida sei in Kalifornien bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Dies führte zu Telefonanrufen von Freunden bei seiner Familie in Frankreich, die es weder bestätigen noch dementieren konnte, aber verständlicherweise beunruhigt in Kalifornien nachfragte – das alles an einem Tag, an dem ich in Irvine, in Derridas Anwesenheit, über meine Website und Diskussionsliste einen Vortrag hielt.5 Um es kurz zu machen, meine Derrida-Website gibt es noch, aber die Diskussionslisten haben alle geschlossen, obwohl sie über mehrere Jahre hervorragende Foren für akademischen Austausch boten und weltweit renommierte Teilnehmer angezogen hatten.6 Hätte ich hier den Platz, so könnte ich die zahlreichen elektronischen Spuren auslegen, die seit 1994 als Emails und Internet-Suchanfragen allein an meine Adresse gerichtet wurden und immer noch werden. Neben einer erstaunlichen geographischen Ausbreitung, die daran erinnert, daß Derrida nach wie vor weit über den Rahmen der durch Verlage, Buchhändler und Universitäten verfügbaren Texte und Übersetzungen hinaus gelesen und diskutiert wird, würden elektronische Dokumente zeigen, wie die Debatte philosophischer und literarischer Argumente im Computer-Zeitalter ge-
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IMEC (Institut Mémoires de l’édition contemporaine, gegründet 1988), Abbaye d’Ardenne, www.imec-archives.com. 6. Mai 1998; Vgl. Jacques Derrida und Catherine Malabou, La ContreAllée. Paris: La Quinzaine Littéraire – Collection ›Voyager Avec‹ 1999, S. 274. Vgl. auch Peter Krapp: Déjà Vu: Aberrations of Cultural Memory. Minneapolis: University of Minnesota Press 2004, S. 199. Nach wie vor die umfangreichste Derrida-Website ist: www.hydra.umn. edu/derrida. 223
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führt wird. Das wäre vielleicht die Aufgabe einer anderen Art des Archivs.7 Lesen und Schreiben findet zunehmend vor Bildschirmen statt, und die Erwartungen an neue Formen der Interaktion mit Datenspeichern sind hoch. Computervermittelter Nachrichtenverkehr im besonderen und Bildschirm-Medien im allgemeinen scheinen alles in Frage zu stellen, was Institutionen an hergebrachten Speichern bieten. Doch zugleich gelten Maschinen spätestens seit Hegel als Bedrohung, weil sie die Struktur von Aufhebung, Erinnerung, Idealisierung, Geistesgeschichte unterbrechen, weil sie mechanischen Widerstand leisten, und so letztlich die Wiederaneignung des Logos in völliger Selbstpräsenz und unendlicher Parousie verunmöglichen.8 Nicht mehr ihrer selbst sicher und in sich ruhend, wird die »linear-diskrete Folge der Buchstabenschrift«, so die hegelianisch informierte Furcht, »im Computer sistiert und aufgehoben«.9 Zugleich wird digitale Kultur oft begrüßt als Bestätigung poststrukturalistischer Theorie. Wie ich anderswo ausführlicher darlegen konnte, ist George Landow wohl der bekannteste Propagandist einer Konvergenz von Hypertextualität und den literaturtheoretischen Mikrologien der letzten drei Jahrzehnte.10 Eines der merkwürdigsten und zugleich beliebtesten Beispiele für diese These ist Derridas Buch Glas, das als gleichermaßen hypertextuell wie unlesbar gilt.11 Seine zwei Kolumnen beginnen 7
Für einige Jahre hat das Derrida-Archiv in Irvine zumindest von einer Email-Diskussionliste Papierausdrucke gespeichert. 8 Vgl. Jacques Derrida: Randgänge der Philosophie, Wien 1988, S. 115. 9 Wolfgang Hagen: Die verlorene Schrift, in: Friedrich A. Kittler/Georg Christoph Tholen, (Hg.), Arsenale der Seele. München: Wilhelm Fink 1989, S. 227. 10 George Landow: Hypertext, Metatext, and the Electronic Canon, in: Myron C. Tuman (Hg.), Literacy Online: The Promise (and Peril) of Reading and Writing with Computers, Pittsburgh: University of Pittsburgh Press 1992, S. 67-94. Vgl. auch Peter Krapp: Screen Memories: Hypertext und Deckerinnerung, DVJs 72 (1998), Sonderheft 1, S. 279-296. 11 Jacques Derrida: Glas, Paris: Galilée 1974. Die Sekundärliteratur zu Glas ist in meinem Glasweb erfaßt www.hydra.umn.edu/derrida/glasbib.html. – »Glas and the personal computer appeared at more or less the same time. Both work self-consciously and deliberately to make obsolete the traditional codex linear book and to replace it with the new multilinear multimedia hypertext that is rapidly becoming the characteristic mode of expression both in culture and in the study of cultural forms. The ›triumph of theory‹ in literary studies and their transformation by the digital revolution are aspects of the same sweeping change.« J. Hillis Miller: Literary Theory, Telecommunications, and the Making of History, in: Scholarship and Technology in the Humanities, May Katzen (Hg.), London 1991, S. 11-20; 224
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und enden mitten im Satz, sind durchlöchert von Einsprengseln, zitieren eine große Zahl von philosophischen und literarischen Texten, manchmal satztechnisch abgesetzt, manchmal nur in Anspielungen. So »erinnerte« Glas Kommentatoren paradoxerweise an später entwickelte Techniken: wenn Software-Designer die Seiten von Glas untersuchten, begegne ihnen ein hypertextueller Derrida, behauptete Landow.12 Bereits in der Zitierweise ist eine hypertextuelle Struktur angedeutet: Landow zitiert Ulmer, der ein Interview mit Derrida zu einer Passage aus Glas anführt, in der wiederum Zitate aus dem ›Littré‹ aufgelistet werden … Norbert Bolz schließt sich an – wie Wittgensteins Philosophische Untersuchungen gilt ihm auch Glas als Hypertext ›avant la lettre‹.13 Wenn aber die Maschine, so Derrida wörtlich, nur Worte und Themen in Glas auswählen würde, könnte sie wohl alles auf drei, dreieinhalb Seiten zusammenfassen.14 Handelt es sich also um »Derridas Hyperkarte«, eine Art von Lesemaschine?15 Und ist es demnach ein Modell für ein Derrida-Archiv im Computer? Welcher archivarische Geist ist vonnöten, um das Erbe Derridas zu bewahren und zu verbreiten? Der Computer mag ein offenes und breit vernetztes Archiv versprechen, doch das Verhältnis von Schrift und Ma-
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vgl. auch Mark C. Taylor/Esa Saarinen: Imagologies Media Philosophy, London: Taylor & Francis 1994, die Glas als Derridas »most hypertextual text« bezeichnen. George Landow: Hypertext. The Convergence of Contemporary Critical Theory and Technology, Baltimore: Johns Hopkins University Press 1992, S. 2 und S. 66-67. Norbert Bolz: »Zur Theorie der Hypermedien«, in: Jörg Huber/Alois Martin Müller (Hg.), Raum und Verfahren, Basel, Frankfurt/M.: Stroemfeld/ Roter Stern 1993, S. 17. J. Derrida: Glas, S. 233bi; einen solchen – ironischen – Versuch stellt mein Glasweb dar, vgl. www.hydra.umn.edu/derrida/glas.html. J. Derrida: Glas, S. 16ai; vgl. Hubertus von Amelunxen: Wieder-Gabe und Wiedergang, in: Herta Wolf/Michael Wetzel (Hg.), Der Entzug der Bilder. Visuelle Realitäten, München: Wilhelm Fink 1994, S. 297-314, sowie Holger Briel: Derridas Hyperkarte: Glas, Weimarer Beiträge 38/4 (1992), S. 485-505, und Pierre Pachet: Le plus récent texte de Jacques Derrida: Une entreprise troublante, in: Quinzaine Littéraire 197 (November 1974), S. 19-20: »une machine à lire« … Auch Geoffrey Hartman, der die Rezeption im englischsprachigen Raum entscheidend beeinflußt hat, schließt sich an: »A deconstructive machine that sings: Glas.« In: G. Hartman, Saving the Text. Literature, Derrida, Philosophy, Baltimore: Johns Hopkins University Press 1981, S. 24. Eine Maschine, die funktioniert, ohne sich einer Wiederaneignung zu fügen – Hegel hätte dies für einen reinen Verlust gehalten. 225
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schine ist eines der großen Themen der Dekonstruktion, und das Verhältnis wird nicht einfacher, wenn Dekonstruktion so auch zur Medientheorie gerät. Während die einen mit Gregory Ulmer argumentieren, daß Dekonstruktion den Computer internalisiert, halten andere mit Mark Poster dagegen, daß Schrift unter den Bedingungen des Computers das Spiel der Bedeutungen inszeniert, das Dekonstruktion nur als Korrektiv einmahnte, während wieder andere mit Mark Taylor glauben, daß Dekonstruktion Schreibpraktiken theoretisch vorwegnahm, die mit dem Computer möglich werden. Wenn Hillis Miller schließt, daß in Glas wie im »nichträumlichen oder spaced-out space des Internet alles in gewissem Sinn überall zugleich ist und allem gegenübersteht«, so sollte es denkbar sein, mit Hilfe des Netzes ein Archiv zu konzipieren, das den radikalen Interventionen Derridas zum Thema Präsenz und Spur, Differenz und Schrift gerecht zu werden vermag.16 Suspendiert zwischen einem altmodischen Begehren nach enzyklopädischem Zugriff auf »Derrida« und der Intuition, daß solch ein Projekt allem widersprechen müßte, was Derrida darzulegen suchte, findet man in vielen seiner Texte eine tiefschürfende Reflexion über Gedächtnis und Erinnerung, Spur und Archiv. Um zu erforschen, was das Erbe Derridas gewesen sein wird, darf man nicht schon wissen, worin es besteht, sondern sollte sich auf die tele-technologischen Verzögerung und Verschiebung von Information und Kommunikation einlassen.17 So schlägt Geoffrey Bennington in seinem buchlangen Derrida-Kommentar etwa vor, daß dekonstruktive Schrift, falls sie denn eine privilegierte empirische Form haben sollte, Computerschrift sein möge – eben eine »Derridabase« – und demnach sollte es denkbar sein, Derridas Denken bis zum dem Punkt zu systematisieren, wo es prinzipiell trotz aller Schwierigkeiten jedem Nutzer zugänglich würde.18 Solch eine Datenbank würde manifestieren, was zugleich in diskontinuierlichen Sprüngen und momentartigen Verbindungen verschwindet. Dies scheint jedoch zu suggerieren, daß es dann wohl nicht mehr nötig sein werde, Derrida zu 16 J. Hillis Miller: Literary Theory, Telecommunications, and the Making of History, in: Scholarship and Technology in the Humanities, ed. May Katzen (London 1991), S. 11-20. 17 Vgl. etwa EM Henning: Foucault and Derrida: Archeology and Deconstruction, Stanford French Review (fall 1981), S. 247-264, sowie das Gespräch mit Derrida im August 1993 anlässlich der Publikation von »Marx’ Gespenster« (Paris: Galilée 1993), in: Revue Passages, September 1994 und auf Englisch erschienen als »The Deconstruction of Actuality«, in: Radical Philosophy, 68 (autumn 1994), S. 28-41. 18 Geoffrey Bennington: Derridabase, in: G. Bennington/Jacques Derrida, Jacques Derrida. Chicago: University of Chicago Press 1993, S. 1 sowie S. 14 und S. 313-136. 226
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zitieren (oder überhaupt zu lesen), da die Datenbank einen anderen Zugang bietet. Es scheint demnach, bei allem Reiz der spekulativen Implementierung einer solchen Textmaschine, nicht nur paradox, sondern schlichtweg unmöglich zu sein, eine derartige Sammlung effektiv – das heißt unter anderem: offen und treu, zuverlässig und ohne Lektüre zu verstellen – im Computer, in einer Datenbank oder im Netz zu inszenieren. Derridas Furcht, daß eine Epoche der Literatur das technizistische Regime der Telekommunikation nicht überleben werde, ist demnach wohl berechtigt – nicht nur, weil Sokrates der Name eines Computers ist. Er schreibt jedoch auch, bereits ein Jahrzehnt vor der Erfindung des World Wide Web, er wolle eine enorme Bibliothek zusammentragen über die Post, Techniken der Telekommunikation, Netze und Epochen der Kuriere durch eine Geschichte, in der solch eine Bibliothek und Geschichte selbst nurmehr Passagen und Geschicke sind in einem großen telematischen Zusammenhang: »Was wäre unsere Korrespondenz und ihr ›Geheimnis‹, das Unlesbare, in diesem schrecklichen Archiv?«19 Jenes Archiv ist schrecklich, weil unwiderstehlich: eine der zögernd zugestandenen, unmöglichen Definitionen von Dekonstruktion ist immerhin, die Kraft dessen zu nutzen, was ›off the record‹ ist und sich widersetzt, der Aneignung widerstrebt.20 Es kann hier nicht um eine einfache Opposition gehen zwischen Verinnerlichung und technisch-mechanischer Hypomnese – das eine sucht das andere heim, in einer Art nicht-dialektischem Spuk. Was Derrida an diesem Punkt zu bieten hat, ist kein TechnoPositivismus, der mit Nietzsche im Glauben an operatives Vergessen für ein absolutes Archiv argumentiert.21 Statt dessen treibt ihn etwas, was homogen ist mit der mathematisch-technischen Entwicklung und uns nicht mehr erlaubt, das Technisch-Wissenschaftliche so zu sehen, wie Heidegger es sah.22 Dies bedeutet zum einen, daß Umgang mit einem
19 Jacques Derrida: Die Postkarte. Von Sokrates bis an Freud und Jenseits. Berlin: Brinkmann und Bose 1989, S. 7 und 204 sowie passim. 20 J. Derrida: Mémoires: for Paul de Man, New York: Columbia University Press 1989, S. 35-38. 21 Vgl. Friedrich Kittler: Vergessen, in: Ulrich Nassen (Hg.), Texthermeneutik. Aktualität, Geschichte, Kritik, Paderborn: UTB 1979, S. 195-221; übersetzt als »Forgetting«, in: Discourse. Berkeley Journal for Theoretical Studies in Media and Culture 3 (1981), S. 88-121. 22 Vgl. ausführlich Philippe Lacoue-Labarthe/Jean-Luc Nancy (Hg.): Les fins de l’homme: à partir du travail de Jacques Derrida, Paris: Galilée 1981, S. 486; sowie Timothy Clark: Computers as Universal Mimics: Derrida’s question of Mimesis and the status of Artificial Intelligence, in: Philosophy Today (winter 1985), S. 302-318. 227
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Derrida-Archiv kein Meta-Archiv der Navigation zwischen Fortschritt und Nostalgie darstellt, sondern nach wie vor zukünftige Fragen stellt, und zum anderen, daß es uns zwar quasi-philologisch möglich ist zu markieren, wo ein Text wie »Den Tod Geben« aus dem »Archiv-Fieber« zitiert, wo die »Postkarte« bereits Marx und Freud und Spuk diskutiert, wie es später »Marx’ Gespenster« tun, und daß beide sich zurückführen lassen auf die Niederschrift eines Gesprächs mit Derrida vom Jahr 1977.23 Diese Art des Querlesens mag absurd scheinen, doch Derrida selbst bekennt solche Ambitionen: As for a book project, I have only one, the one I will not write, but that guides, attracts, seduces everything I read. Everything I read is either forgotten or else stored up in view of this book. […] It would be at least a crossing of multiple genres. I am looking for a form that would not be a genre and that would permit me to accumulate and to mobilize a very large number of styles, genres, languages, levels … That’s why it is not getting written.24
Was sich demnach der Totalisierung widersetzt, ist wiederum selbst ein Effekt, der sich überall findet. Zugleich bekennt Derrida in Glas, daß er alles, was er schreibt, vergißt – und sicherlich auch alles, was er liest.25 »Eine gewisse Amnesie«, sagt er, »hat mich auf den Geschmack gebracht, was man als Stärke oder Schwäche sehen mag. Ich sage nicht, daß ich zu vergessen weiß, aber ich weiß, daß ich vergesse – und das ist nicht nur, und nicht immer, schlecht.«26 Wenn man also eine DerridaWebsite zusammenstellt oder wie Bennington eine »Derridabase« entwirft oder wie David Wills über eine »JD-Rom« spekuliert, muß man 23 Vgl. S. 50 in Jacques Derrida: Archive Fever, diacritics (Summer 1995), S. 82 sowie J. Derrida: The Gift of Death, Chicago: University of Chicago Press 1995; vgl. J. Derrida: The Post Card: From Socrates to Freud and Beyond, Chicago: Chicago University Press 1987, S. 267, sowie J. Derrida: Ja, ou le faux bond, Digraphe 2, 1977; vgl. S. 49 von »Archive Fever« sowie J. Derrida, Glas, S. 82a (i.e. S. 95a in der französischen Ausgabe, Paris: Galilée 1974). 24 Jacques Derrida: Dialangues, in: Elisabeth Weber (Hg.), Points… Interviews 1974-1994, Stanford: Stanford University Press 1995, S. 142. 25 J. Derrida: Glas, S. 192b. Hinzuzufügen ist hier, daß Vergessen gerade deswegen nicht das Gegenteil von Gedächtnis ist, weil ein Vergessen als Vergessen sich als phänomenal ausweisen und somit selbst untergraben würde. 26 Jacques Derrida/Maurizio Ferrarsi: Il gusto del segreto, Rome: Laterza 1997, S. 43: »una certa amnesia a darmi questo gusto, che si può considerare una forza o una debolezza. Non dirò que so dimenticare, ma so che dimentico, e che non è solo né sempre un male.« 228
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zudem eingestehen, daß die Idee einer dekonstruktiven-medialen Mnemotechnik von der Geschwindigkeit abhinge, mit der man solche Informationen abfragen und zirkulieren könnte, damit sie nicht (nur) im Vergessen gespeichert wären.27 Derrida war darüber hinaus ein gewiefter Kritiker von Film und Fernsehen, auch und gerade wenn er solche Medien bediente, als »praktische Dekonstruktion« ihrer politischen Ökonomie.28 Auch wo dies nicht Programm ist, kann es dennoch stattfinden: ein Beispiel mag hier genügen. Ein kurzes Radio-Gespräch zwischen Elisabeth Weber und Derrida wurde am 22. Mai 1990 im Hessischen Rundfunk gesendet, und später als »vervollständigtes« Transkript veröffentlicht. Die Übersetzung ins Englische erschien fünf Jahre später, mit einer Passage, die in der deutschen Version nicht zu finden ist.29 Weder Derrida noch Weber noch die Übersetzerin Peggy Kamuf konnten später feststellen, woher diese Passage gekommen sein mag.30 Nicht nur deshalb ist es wert, diesen doppelten Verrat am transkribierten »Original«, dieses merkwürdige Supplement der Übersetzung hier ganz zu zitieren, denn es scheint immerhin von seinem eigenen Status und der Logik des Supplements informiert: Yes, if there is anamnesis, it is not just a movement of memory to find again finally what has been forgotten, to restore finally an origin, a moment or a past that will have been present. One would naturally have to distinguish between several kinds of anamnesis. And every philosophy in history has been an interpretation of anamnesis. The Platonic discourse is essentially anabasis or anamnesis, that is, a going back toward the intellegible place of ideas. The conversion in speleology, the Platonic cave, is an anamnesis. The Hegelian discourse 27 »S’il y a une mnémotechnologie déconstructionniste, comme je suis en train de l’affirmer, elle dépendrait sûrement d’une certaine rapidité de réponse, la capacité d’avoir des informations, comme on dit, sur le bout de doigt.« David Wills: »JD-ROM«, in: Michel Lisse (Hg.), Passions de la Litterature. Avec Jacques Derrida, Paris: Galilée 1996, S. 220. 28 Vgl. etwa Jacques Derrida/Bernard Stiegler: Échographies – de la television. Entretiens filmes, Paris: Galilée-INA 1996, S. 45. 29 Jacques Derrida/Elisabeth Weber: Im Grenzland der Schrift. Randgänge zwischen Philosophie und Literatur, in: Spuren in Kunst und Gesellschaft, vol. 34-35 no. 4 (1990), S. 58-70; vgl. J. Derrida/Elisabeth Weber: Passages – from Traumatism to Promise, in: Points… Interviews 1974-1994, Stanford: Stanford University Press 1995, S. 372-395. 30 J. Derrida/E. Weber: Im Grenzland der Schrift, S. 70: »Dieser Beitrag stellt den vervollständigten Text einer Einführung und eines Gespräches dar, das am 22. Mai 1990 im Abendstudio des Hessischen Rundfunks gesendet wurde.« Die fehlende oder supplementäre Passage wäre auf Seite 65 gewesen … 229
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is an anamnesis. The Nietzschean genealogy is an anamnesis. Repetition in the Heideggerian style is an anamnesis. Today, to want to remember philosophy is already to enter into an interpretive memory of all that has happened to memory, of all that has happened to anamnesis, of all the anamnesiac temptations of philosophy. It is naturally a very complicated operation since these anamneses are enveloped in each other. But it is also an interminable operation – there is precisely one of the motifs of deconstruction, let us say to go quickly – for if there is anamnesis, it is because the memory in question is not turned toward the past, so to speak, it is not a memory that, at the end of a return across all the other anamneses, would finally reach an originary place of philosophy that would have been forgotten. The relation between forgetting and memory is much more disturbing. Memory is not just the opposite of forgetting. And therefore the anamnesis of the anamneses I just mentioned will never be able to lift an origin out of oblivion. That is not at all its movement. To think memory or to think anamnesis, here, is to think things as paradoxical as the memory of a past that has not been present, the memory of the future – the movement of memory turned towards the promise, toward what is coming, what is arriving, what is happening tomorrow. Consequently, I would not feel, let’s say, at ease in a philosophical experience that would simply consist in practising anamnesis as remembering. It is not just a matter of remembering but also of something altogether other.31
Das Archiv muß zweifellos versuchen, diesen Vorschriften gerecht zu werden und einen unheimlichen Ort einzurichten, der das Supplement (der Technik) beherbergen kann. Wo immer Derrida von seinem Macintosh schreibt, auf dem er schrieb, reflektiert er auch auf Fax, Telefon, und andere retrospektive Science Fiction, die etwa ein Freud-Archiv zunichte gemacht hätten. Derridas Eigenkommentar zu Glas, wo er unter anderem eine Theorie der nichtsubjektiven Trauer entwickelt, nennt es »meine Apokalypse« und »eine Art Totenwache«.32 Es ist dies jedoch, indem nicht nur Glas auf sich selbst angewendet ist, eine Art voreilende Trauerarbeit, die jedem Archiv als konstitutivem Rahmen dienen muß. Und diese Figur des je schon ist eine andere Art der Schließung eines Archivs, das ansonsten kategorisch der endlosen Lektüre, der nötigen und überflüssigen Kom31 J. Derrida/E. Weber: Passages – from Traumatism to Promise, S. 382-383. 32 Jacques Derrida: Living On: Borderlines, in: Geoffrey Hartman (Hg.), Deconstruction and Criticism, London: Routledge and Kegan Paul 1979, S. 164, und Jacques Derrida: Two words for Joyce, in: Daniel Ferrer/Derek Attridge (Hg.), Post-Structuralist Joyce. Cambridge University Press 1984, S. 150; vgl. auch Jacqeus Derrida: Il faut bien manger, in: Cahiers Confrontation, 20 (hiver 1989), S. 102: »non-subjectivite dans l’experience du deuil, c’est que j’ai tente de decrire dans Glas«. 230
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plettierung, dem Kommentar und der allgemeinen und subversiven Logik des Supplements ausgesetzt bleibt. Da niemand bisher zeigen konnte, daß Derrida je eines seiner früheren Argumente fallen läßt oder widerruft, ist es demnach eine der Eigentümlichkeiten von Derridas Werk, daß es sich gegen eine chronologische Organisation oder Periodisierung sperrt und eine bemerkenswerte Konstanz und Konsistenz zeigt, die sich höchstens auf das Paradox einer »ursprünglichen« Einsicht in die Ursprunglosigkeit reduzieren ließe.33 Wie wäre dieses je schon, diese merkwürdige Autorität eines ›déjà‹ zu entziffern? »Das déjà, das ich bin«, schreibt Jacques Derrida, »läutet seine eigene Totenglocke, unterzeichnet sein eigenes Todesurteil, sieht Sie im voraus« – es ist ein »déjà, dem nichts vorausgeht«; an anderer Stelle heißt es: »l’absolu du déjà-là du pas-encore ou de l’encore du déjá plus« sei irreduzibel auf Vertrautes.34 Statt dessen tritt es als Virtualität auf, deren zweideutiger Wert Krisis, Unterschied, Passivität und Vergessen erlaubt. Als strukturelle Bestimmung jeder materiellen Unbestimmtheit, so Derrida in einer seiner ersten Publikationen, ist ein solcher Horizont immer virtuell gegenwärtig, als antizipierte Einheit jeder Unabgeschlossenheit: »Der Horizont ist das ›toujours-déjà-là‹ einer Zukunft, die die Indetermination ihrer unendlichen Offenheit intakt hält.«35 Dies wäre vielleicht anzubieten als die Einsicht, die aus dem Archiv erwächst – eine quasi-philologische Einsicht in ein Geheimnis, das einer dekonstruktiven Archiv-Lektüre eigen ist: »Vom Geheimnis selbst kann es, per definitionem, kein Archiv geben. Das Geheimnis ist die Asche selbst des Archivs«, wie Derrida betont.36 Aus der Asche des Archivs – die vergangene Zukunft des Archivs.
33 Geoffrey Bennington: Interrupting Derrida, London: Routledge 2000, S. 124. – Ich füge hinzu, daß eine Ausnahme vielleicht in der Tatsache besteht, daß Derrida zur Zeit seiner frühen Veröffentlichungen ausgesprochen kamerascheu war und sein Foto nirgends erschien, während später sein Bild selbst auf Büchern erscheint, die er nicht selbst schrieb – wie Benningtons etwa. 34 J. Derrida: Glas, S. 92a – S. 97b – S. 309a. 35 Jacques Derrida: Introduction à L’Origine de la géométrie de Husserl, Paris: PUF 1962, S. 123. 36 Jacques Derrida: Dem Archiv Verschrieben: Eine Freudsche Impression, Berlin: Brinkmann und Bose 1997, S. 174. 231
AUTORINNEN
UND
AUTOREN
Anton Bierl, geb. 1960 in München, Prof. Dr. phil., seit 2002 Ordinarius für Griechische Philologie in Basel. Monographien: Dionysos und die griechische Tragödie. Politische und ›metatheatralische‹ Aspekte im Text, 1991; Die Orestie des Aischylos auf der modernen Bühne. Theoretische Konzeptionen und ihre szenische Realisierung, 1996 (2. Auflage 1999, aktualisierte italienische Übersetzung 2004); Der Chor in der Alten Komödie. Ritual und Performativität, 2001 (englische Übersetzung für Harvard Press in Vorbereitung). Ferner publizierte er zum griechischen Epos, zur frühgriechischen Lyrik, zum Liebesroman und zur Wissenschaftsgeschichte. Zusammen mit Joachim Latacz ist er Herausgeber des neuen Basler Ilias-Kommentars Homers Ilias. Gesamtkommentar. Der neue Ameis-Hentze. Seit 2005 ist er »Senior Fellow« des Center for Hellenic Studies in Washington, DC. Artur R. Boelderl, geb. 1971, Mag. et Dr. phil. s.a.p., Studium der Deutschen Philologie und der Philosophie an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Seit 1995 Universitätsassistent am Institut für Philosophie der Katholisch-Theologischen Privatuniversität Linz. Lehraufträge an den Universitäten Klagenfurt und Graz. Leiter des Instituts für psychohistorische Forschungen Linz. Monographien: Alchimie, Postmoderne und der arme Hölderlin, Wien: Passagen 1995; Literarische Hermetik. Die Ethik zwischen Hermeneutik, Psychoanalyse und Dekonstruktion, Düsseldorf-Bonn: Parerga 1997; Georges Bataille. Über Gottes Verschwendung und andere Kopflosigkeiten, Berlin: Parerga 2005; Von Geburts wegen. Unterwegs zu einer philosophischen Natologie, Würzburg: Königshausen & Neumann 2007; Hg. (gem. mit Uhl, F.), Rituale. Zugänge zu einem Phänomen, Düsseldorf-Bonn: Parerga 1999; Hg. (gem. mit Uhl, F.), Zwischen Verzückung und Verzweiflung. Dimensionen religiöser Erfahrung, Düsseldorf-Bonn: Parerga 2001; Hg. (gem. mit Uhl, F.), Die Sprachen der Religion, Berlin: Parerga 2003; Hg. (gem. mit Kreutzer, A./Eder, H.), Zwischen Beautyfarm und Fußballplatz. Theologische Orte in der Populärkultur, Würzburg: Echter 2005; Hg. (gem. mit Uhl, F.), Das Geschlecht der Religion, Berlin: Parerga 2005. Zahlreiche Beiträge in Sammelbänden und Fachzeitschriften sowie Lexika, darunter 233
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das Wörterbuch der phänomenologischen Begriffe (hg. v. H. Vetter m. U. Kadi u. K. Ebner, Hamburg: Meiner 2004). Übersetzungen aus dem Amerikanischen und Französischen, darunter Lloyd deMause, Was ist Psychohistorie? Eine Grundlegung, Gießen: Psychosozial 2000; und (gem. mit Hammerschmied, G.), Guy van Kerckhoven, Mundanisierung und Individuation. Die Sechste Cartesianische Meditation von Edmund Husserl und Eugen Fink, Würzburg: Königshausen & Neumann 2003. Silvia Henke, geb. 1962, Dr. phil., Studium der Deutschen und Französischen Philologie an der Universität Basel und Hamburg, 1990-1999: Lehrbeauftragte für Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Basel. Seit 2001: Dozentin für Kulturtheorie an der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Luzern, externe Forscherin am Medienwissenschaftlichen Institut der Universität Basel. Publikationen und publizistische Projekte zu Theorie der Repräsentation auf dem Theater, zum Brief, zum pornographischen Bild, zu Marguerite Duras, Rainer M. Rilke, Elias Canetti u.a. Alexander Honold, geb. 1962 in Valdivia/Chile, Ordinarius für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Basel. Studium der Germanistik, Komparatistik, Philosophie und Lateinamerikanistik in München und Berlin; Promotion 1994 an der FU Berlin mit einer Arbeit über Robert Musil und den Ersten Weltkrieg; Habilitation 2002 an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer Studie über die Astronomie im Werk Friedrich Hölderlins. Lehrtätigkeit u.a. an der FU Berlin, an der Humboldt-Universität zu Berlin und an der Universität Konstanz. 19972000 Wiss. Koordinator des DFG-Projekts »Literatur- und Kulturgeschichte des Fremden«; Forschungsaufenthalte an der New York University (1997) und an der Stanford University (1998), 1998/99 Fellow am Kulturwissenschaftlichen Institut (KWI) des Wissenschaftszentrums Nordrhein-Westfalen in Essen. Zahlreiche Aufsätze, Zeitungsartikel und Literaturkritiken. Jüngste Buchveröffentlichungen: »Die andere Stimme«. Das Fremde in der Kultur der Moderne. Köln, Weimar: Böhlau Verlag, 1999 (Mhg.); Der Leser Walter Benjamin. Bruchstücke einer deutschen Literaturgeschichte. Berlin: Vorwerk 8, 2000; Das Fremde. Reiseerfahrungen, Schreibformen und kulturelles Wissen. Berlin: P. Lang 2000 (Mhg.); 2. Aufl., Berlin 2003; Nach Olympia. Hölderlin und die Erfindung der Antike. Berlin: Vorwerk 8, 2002; Kolonialismus als Kultur. Literatur, Medien, Wissenschaft in der deutschen Gründerzeit des Fremden. Tübingen: Francke 2002 (Mhg.); Mit Deutschland um die Welt. Eine Kulturgeschichte des Fremden in der Kolonialzeit. Stuttgart:
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AUTORINNEN UND AUTOREN
Metzler 2004 (Mhg.); Hölderlins Kalender. Astronomie und Revolution um 1800. Berlin: Vorwerk 8, 2005. Peter Krapp, geb. 1970 in Fribourg/CH, Prof. Dr. phil., Associate Professor of Film and Media Studies an der University of California, Irvine, sowie Direktor des Doktorandenprogramms in Visual Studies. Studierte (als Stipendiat des DAAD, der Konrad-Adenauer-Stiftung und der DFG) Literatur und Musikwissenschaften in Bonn, Stirling, Santa Barbara und Konstanz. Forschungsschwerpunkte: Medientheorie, Kulturelles Gedächtnis, Neue Medien. Veröffentlichungen u.a.: Deja Vu: Aberrations of Cultural Memory, Minneapolis: University of Minnesota Press 2004; Hg. (gem. mit McNamara, Andrew), Medium Cool, Durham: Duke University Press 2002; Hg. (gem. mit Horn, Eva), Defense: Models – Strategies – Media, Minneapolis: University of Minnesota Press 2007; Hg. (gem. mit Jaeger, Ludwig/Holly, Werner/Weber, Samuel), Handbuch Language/Culture/Communication, Berlin: De Gruyter/HSK 2008. Hans-Joachim Lenger, geb. 1952, Prof. Dr. phil, lehrt Philosophie an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg. Von 1983 bis 1991 Chefredakteur der Zeitschrift Spuren (Hg. Karola Bloch). Seine besonderen Interessen gelten Strukturen ästhetischer Erfahrung unter Bedingungen digitaler Technologien, medientheoretischen Problemen sowie Fragen eines Denkens des Politischen. Zahlreiche Beiträge in Sammelbänden, Zeitschriften und Rundfunksendungen. Buchveröffentlichungen u.a.: Vom Abschied. Ein Essay zur Differenz (Bielefeld: transcript 2001); Marx zufolge. Die unmögliche Revolution (Bielefeld: transcript 2004). Stefan Lorenzer, Dr. phil., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt. Übersetzer von Jacques Derrida. Forschungsschwerpunkte: Phänomenologie, Literaturtheorie. Ausgewählte Veröffentlichung: »Bilderflucht. Über Mimesis und Selbstheit«, in: Leutner, Petra/Niebuhr, Hans-Peter (Hg.): Bild und Eigensinn, Bielefeld: transcript 2006. Oliver Marchart, geb. 1968, Prof. Dr. phil., PhD, 2001-2006 Wissenschaftlicher Assistent am Institut für Medienwissenschaften der Universität Basel. Seit 2006 Förderungsprofessor des SNF am Soziologischen Seminar der Universität Luzern. Arbeitsschwerpunkte: Politische Theorie, Medien- und Kulturtheorie, Diskursanalyse. Letzte Buchveröffentlichungen: Techno-Kolonialismus. Theorie und imaginäre Kartographie von Kultur und Medien, Wien 2004; Hg. (gem. mit Simon Critchley),
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Laclau: A Critical Reader, London/New York 2004; Neu beginnen. Hannah Arendt, die Revolution und die Globalisierung, Wien 2005; Hg. (gem. mit Rupert Weinzierl), Stand der Bewegung? Protest, Globalisierung, Demokratie, Münster 2006; Post-foundational Political Thought. Political Difference in Nancy, Lefort, Badiou and Laclau (Edinburgh, im Erscheinen). Nikolaus Müller-Schöll, geb. 1964, derzeit Wissenschaftlicher Assistent am Institut für Theaterwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum, zuvor Studium in Avignon, Hamburg, Baltimore (Johns Hopkins) und Frankfurt a.M., Arbeit als freier Dramaturg, Wissenschaftsjournalist, Kritiker und Übersetzer. 1996-2000 DAAD-Lektor an der ENS, Rue d’Ulm, Paris; 2000-2002 Postdoc im Graduiertenkolleg »Zeiterfahrung und ästhetische Wahrnehmung«, Frankfurt a.M., 2002/2003 Stipendiat der MSH, Paris. Zahlreiche Publikationen zu Fragen im Spannungsfeld zwischen Theater, Theorie, Literatur und Politik, u.a.: Das Theater des »konstruktiven Defaitismus«. Lektüren zur Theorie eines Theaters der A-Identität bei Walter Benjamin, Bertolt Brecht und Heiner Müller. Frankfurt/Basel 2002; Ereignis, Bielefeld 2003; Hg. (gem. mit Schuller, Marianne), Kleist lesen, Bielefeld 2003; Hg. (gem. mit Reither, Saskia), Aisthesis. Zur Erfahrung von Text, Raum, Bild und Kunst, Schliengen 2005; Hg. (gem. mit Gerstmeier, Joachim), Politik der Vorstellung, Berlin 2006. Jean-Luc Nancy, geb. 1940, lehrte zuletzt Philosophie als Professor an der Université Marc Bloch in Strassburg. Gastprofessuren u.a. in Berlin, Irvine, San Diego und Berkeley. Aktueller Forschungsschwerpunkt ist die Dekonstruktion des abendländischen Monotheismus. Veröffentlichungen u.a.: Le titre de la lettre. Une lecture de Lacan (gem. mit Philippe Lacoue-Labarthe), Paris 1973; L`absolu littéraire (gem. mit Philippe Lacoue-Labarthe), Paris 1978; »La Panique politique«, in: Cahiers Confrontation (Freud), Nr. 2, Paris 1979, S. 33-57 (Dt. »Panik und Politik«, übersetzt von Claus-Volker Klenke, in: Fragmente. Schriftenreihe zur Psychoanalyse, Bd. 29/30 (Religion – Mythos – Illusion. Die Visionen der Erlösung und der Entzug der Bilder), Kassel 1989, S. 63-98); »Le Peuple juif ne rêve pas«, in: Rassial, Jean-Jacques und Adélie (Hg.), La Psychanalyse est-elle une histoire juive? Colloque de Montpellier 1980, Paris 1981 (Dt. »Das jüdische Volk träumt nicht«, übersetzt von Claus-Volker Klenke, in: Fragmente. Schriftenreihe zur Psychoanalyse, Bd. 29/30 (Religion – Mythos – Illusion. Die Visionen der Erlösung und der Entzug der Bilder), Kassel 1989, S. 99-128); Le partage des voix, Paris 1982; La Communauté désoeuvrée, Paris 1986 (Dt. Die undarstellbare Gemeinschaft, Stuttgart 1988); L´Oubli de la philosophie, Paris 1987
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AUTORINNEN UND AUTOREN
(Dt. Das Vergessen der Philosophie, Wien 1988); »›Unsere Redlichkeit!‹ (Über Wahrheit im moralischen Sinn bei Nietzsche)«, in: Hamacher, Werner (Hg.), Nietzsche aus Frankreich, Berlin 1986, S. 169-191; Le mythe nazi (gem. mit Philippe Lacoue-Labarthe), Paris 1991 (Dt. »Der Nazi-Mythos«, in: Tholen, Georg Christoph/Weber, Elisabeth (Hg.), Das Vergessen(e). Anamnesen des Undarstellbaren, Wien 1997, S. 158-190); Le poids d’ une pensée, Quebec und Grenoble 1991 (Dt. Das Gewicht eines Denkens, Düsseldorf und Bonn 1995; Le sens du monde, Paris 1993; »Die Kunst – ein Fragment«, in: Dubost, Jean-Pierre (Hg.), Bildstörung. Gedanken zu einer Ethik der Wahrnehmung, Leipzig 1994, S. 170-184; »Das gemeinsame Erscheinen. Von der Existenz des ›Kommunismus‹ zur Gemeinschaftlichkeit der ›Existenz‹ «, in: Vogl, Joseph (Hg.), Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Frankfurt a.M. 1994, S. 167-204; Les Muses, Paris 1994 (Dt. Die Musen, Stuttgart 1999); Etre singulier pluriel, Paris 1996 (Dt. Singulär plural sein, Berlin 2004); Kalkül des Dichters. Nach Hölderlins Maß, Stuttgart 1997; »L’Intrus«, in: Dedale, No. 9-10, Paris 1999 (Dt. Der Eindringling. Das fremde Herz, Berlin 2000); Corpus, Paris 2000 (Dt. Corpus, Berlin 2003); La pensée dérobée, Paris 2001; La création du monde ou la mondialisation, Paris 2002 (Dt. Die Erschaffung der Welt oder Die Globalisierung, Berlin 2003); A l’écoute, Paris 2002; Noli me tangere, Paris 2003; Chroniques philosophiques, Paris 2004; Sur le commerce des pensées, Paris 2005. Avital Ronell, ist Professorin für deutsche, englische und vergleichende Literaturwissenschaften an der New York University (NYU), New York, USA; Veröffentlichungen u.a.: The Test Drive, University of Illinois Press Urbana and Chicago 2004, Stupidity, University of Illinois Press Urbana and Chicago 2003, Finitude’s Scores. Essays for the End on the Millenium, University of Nebraska Press 1994, The Telephone Book. Technlogy, Schizophrenia, Electric Sppech, University of Nebraska Press 1989 (Dt. Das Telefonbuch. Technik, Schizophrenie, Elektrische Rede, Berlin 2001), Crack Wars: Literature, Addiction/Mania, Univ. of Nebraska Press, 1992 (Dt. Drogenkriege. Literatur, Abhängigkeit, Manie, Frankfurt a.M. 1994), »Eurozeit«, in: Scholl, Michael/Tholen, Georg Christoph (Hg.), Zeit-Zeichen. Aufschübe und Interferenzen zwischen Endzeit und Echtzeit, Weinheim 1990, »Formen des Widerstreits«, in: Tholen/Georg Christoph/Weber, Elisabeth (Hg.), Das Vergessen(e). Anamnesen des Undarstellbaren, Wien 1997, Dictations. On Haunted Writing, Indiana University Press Bloomington 1986 (Dt. Der GoetheEffekt. Goethe – Eckermann – Freud, München 1994), The ÜberReader.
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Selected Works of Avital Ronell, Diane Davis (Hg.), University of Illinois Press Urbana and Chicago 2006 [im Erscheinen]. Georg Christoph Tholen, geb. 1948 in Köln, Prof. Dr. phil., Ordinarius für Medienwissenschaft an der Universität Basel. Studierte Philosophie, Soziologie und Psychologie an den Universitäten Bonn, Köln, Marburg und Hannover. Forschungsschwerpunkte: Medientheorie und Kulturphilosophie, Zeit und Raum. Veröffentlichungen u.a.: Die Zäsur der Medien. Kulturphilosophische Konturen, Frankfurt a.M. 2002; Hg. (gem. mit Schade, Sigrid/Sieber, Thomas), SchnittStellen, Basel 2005; Hg. (gem. mit Coy, Wolfgang/Warnke, Martin), HyperKult II. Zur Ortsbestimmung analoger und digitaler Medien, Bielefeld 2005; »Jean François Lyotard«, in: Stefan Majetschak (Hg.), Klassiker der Kunstphilosophie. Von Platon bis Lyotard, München 2005, S. 307-327; »Medium/Medien«, in: Alexander Roesler/Bernd Stiegler (Hg.), Grundbegriffe der Medientheorie, Paderborn 2005, S. 150-172; Hg. (gem. mit Flach, Sabine), Mimetische Differenzen. Der Spielraum der Medien zwischen Abbildung und Nachbildung [Intervalle – Schriften zur Kulturforschung, Bd. 5], Kassel 2002; Hg. (gem. mit Schade, Sigrid), Konfigurationen. Zwischen Kunst und Medien, München 1999; Hg. (gem. mit Coy, Wolfgang/Warnke, Martin), HyperKult. Geschichte, Theorie und Kontext digitaler Medien, Basel und Frankfurt a.M. 1997; Hg. (gem. mit Bolz, Norbert/Kittler, Friedrich), Computer als Medium, München 1994 (2. Auflage 1999). Elisabeth Weber, Dr. phil., ist Professorin für deutsche und vergleichende Literaturwissenschaften an der University of California, Santa Barbara. Veröffentlichungen u.a.: Verfolgung und Trauma. Zu Emmanuel Levinas’ »Autrement qu’être ou au-delà de l’essence«, Wien 1990; Jüdisches Denken in Frankreich. Gespräche mit P. Vidal-Naquet, J. Derrida, J.-F. Lyotard (u.a.), Frankfurt 1994; Hg. (gem. mit Tholen, Georg Christoph), Das Vergessen(e). Anamnesen des Undarstellbaren, Wien 1997; Hg., Jacques Derrida, Limited Inc., Paris 1990; Hg., Jacques Derrida, Points de suspension. Entretiens, Paris 1992. Samuel Weber ist Avalon Foundation Professor of Humanities an der Northwestern University (USA) und leitet das Paris Program in Critical Theory, das er 1991 gründete. Er studierte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft bei Paul de Man und Philosophie bei Theodor Adorno. Seine Forschungsschwerpunkte sind Kritische und Medientheorie. Wichtigste Veröffentlichungen: Targets of Opportunity (2005, dt. bei diaphanes verlag: 2006), Theatricality as Medium (2005), Freud-
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AUTORINNEN UND AUTOREN
Legende (2. Auflage 2002), Rückkehr zu Freud (2. Auflage 2000), Mass Mediauras (1996), Institution and Interpretation (1987). Hg. (gem. mit de Vries, Hent): Religion and Media (2001) und Violence, Identity and Self-Determination (1997). Zur Zeit arbeitet er an einem Buch über Walter Benjamin (Benjamin’s abilities: 2007). Michael Wetzel, geb. 1952 in Berlin, Professor für Neuere deutsche Literatur und Film an der Universität Bonn; Studium der Philosophie, Germanistik, Linguistik und Erziehungswissenschaft an der Universität Düsseldorf; nach der Promotion Assistent in Chambéry und Koordinator des Forschungsprojektes »Literatur und Medien« an der Universität Kassel sowie Directeur de Programme am Collège international de Philosophie in Paris; nach der Habilitation Privatdozent an der Universität Essen; seit 2005 auch Leiter des Forschungsprojektes »Von der Intermedialität zur Inframedialität« am Sonderforschungsbereich »Medien und Kommunikation« der Universitäten Aachen, Bonn, Bochum und Köln; Veröffentlichungen u.a.: Autonomie und Authentizität, Frankfurt a.M. 1985; Die Enden des Buches oder die Wiederkehr der Schrift, Weinheim 1991; Die Wahrheit nach der Malerei, München 1997; Mignon – Die Kindsbraut als Phantasma der Goethezeit, München 1999; Der AutorKünstler, Frankfurt a.M. 2006. Sandro Zanetti, geb. 1974, Dr. phil., Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie in Basel, Freiburg i.Br. und Tübingen. 19992001: Stipendiat des Graduiertenkollegs »Zeiterfahrung und ästhetische Wahrnehmung« an der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt a.M.. Seither Wissenschaftlicher Mitarbeiter im SNF-Projekt »Zur Genealogie des Schreibens. Die Literaturgeschichte der Schreibszene von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart« an der Universität Basel. Veröffentlichungen: »zeitoffen«. Zur Chronographie Paul Celans, München 2006; (Mhg.) Buchstaben, Bilder, Bytes, Norderstedt 2004; (Mhg.) »SCHREIBKUGEL IST EIN DING GLEICH MIR: VON EISEN«. Schreibszenen im Zeitalter der Typoskripte, München 2005; (Mhg.) Gestirn und Literatur im 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2006; (Mhg.) System ohne General. Schreibszenen im digitalen Zeitalter, München 2006. Aufsätze u.a. zur Literatur und Kunst der Avantgarde, zu Antonioni, Celan, Goethe, Kleist, Mallarmé, Nietzsche und Rilke.
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LITERATUR Anonymus, Traktat über die drei Betrüger, Hamburg: Meiner 1994. Adorno, Theodor W.: Philosophie der neuen Musik, Frankfurt a.M., Berlin, Wien: Ullstein 1974. – : Ästhetische Theorie (1970), hg. von Gretel Adorno und Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973. Agamben, Giorgio: »Noten zur Geste«, in: Jutta Georg-Lauer (Hg.), Postmoderne und Politik, Tübingen: edition diskord 1992, S. 97-107. – : Homo Sacer. Souveräne Macht und bloßes Leben, aus dem Italienischen von Hubert Thüring, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998. – : Il tempo che resta. Un commento alla ›Lettera ai Romani‹, Torino: Bollati Boringhieri 2000. – : »Pardes. Die Schrift der Potenz«, in: Michael Wetzel/Jean.Michel Rabaté (Hg.), Ethik der Gabe. Denken nach Jacques Derrida, Berlin: Akademie 1993, S. 3-18. Aristoteles: Metaphysik. Zweiter Halbband, Hamburg: Meiner 1984. Assheuer, Thomas: »›Ich mißtraue der Utopie, ich will das UnMögliche‹. Ein Gespräch mit dem Philosophen Jacques Derrida über die Intellektuellen, den Kapitalismus und die Gesetze der Gastfreundschaft«, in: Die Zeit, 11/1998, unter: http://zeus.zeit.de/text/ archiv/1998/11/titel.txt.19980305.xml vom 2. Juni 2006. Barthes, Roland: Fragmente einer Sprache der Liebe, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996. Baudy, Gerhard J.: Adonisgärten. Studien zur antiken Samensymbolik, Frankfurt a.M.: Anton Hain 1986. Benjamin, Walter: »Was ist das epische Theater?« in: ders.: Gesammelte Schriften, Band II, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980, S. 519-531. – : »La traduction – le pour et le contre«, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. VI, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986. – : »Die Aufgabe des Übersetzers«, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. IV.1. Kleine Prosa. Baudelaire-Übersetzungen, hg. von Tillman Rexroth. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 9-21. Bennington, Geoffrey/Derrida, Jacques: Jacques Derrida. Ein Portrait, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994.
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: »Derridabase« in: Bennington, Geoffrey/Derrida, Jacques, Jacques Derrida. Chicago: University of Chicago Press 1993. – : Interrupting Derrida, London: Routledge 2000. Berger, John: »Letzte Bilder«, in: ders., Das Sichtbare und das Verborgene, Frankfurt a.M.: Fischer 1999, S. 139-158. Bernasconi, Robert: »On Deconstructing Nostalgia for Community within the West: The Debate between Nancy and Blanchot«, in: Research in Phenomenology 23 (1993), S. 3-21. Bierl, Anton: »Charitons Kallirhoe im Lichte von Sapphos Priamelgedicht (Fr. 16 Voigt). Liebe und Intertextualität im griechischen Roman«, in: Poetica 34 (2002), S. 1-27. – : »Räume im Anderen und der griechische Liebesroman des Xenophon von Ephesos. Träume?«, in: Antonio Loprieno (Hg.), Mensch und Raum von der Antike bis zur Gegenwart, München, Leipzig: Saur 2006. – : Die Orestie des Aischylos auf der modernen Bühne. Theoretische Konzeptionen und ihre szenische Realisierung, Stuttgart: Metzler 1996 (1992) (in italienischer Übersetzung völlig aktualisiert sowie um ein Vorwort und eigenes ausführliches Nachwort erweitert: L’Orestea sulla scena moderna. Concezioni teoriche e realizzazioni sceniche. Traduzione di Luca Zenobi, con una premessa di Massimo Fusillo, postfazione dell’autore alla nuova edizione italiana, Roma: Bulzoni 2004). Blanchot, Maurice: »Die grausame poetische Vernunft«, in: Bernd Mattheus/Cathrin Pichler (Hg.). – : »Artaud«, in: ders., Le livre à venir, Paris: Gallimard 1959, S. 5362. – : Der Gesang der Sirenen, Frankfurt a.M./Berlin/Wien: Ullstein 1982. Boelderl, Artur R.: »[no subject] oder die Geburt des »ja« aus dem Geiste der Verschwindung des Körpers«, in: Heinrich Schmidinger/Michael Zichy (Hg.), Tod des Subjekts? Poststrukturalismus und christliches Denken, Innsbruck: Tyrolia 2005 (= Salzburger Theologische Studien, Bd. 24). – : »›Ich, ich bin, ich bin geboren‹. Die Dekonstruktion spricht die Sprache der Geburt«, in: Peter Zeillinger/Matthias Flatscher (Hg.), Kreuzungen Jacques Derridas. Geistergespräche zwischen Philosophie und Theologie, Wien: Turia & Kant 2004, S. 220-237. Boisacq, Emile: Dictionnaire étymologique de la langue grecque, Heidelberg: Winter 1916. Bolz, Norbert: »Zur Theorie der Hypermedien«, in: Jörg Huber/Alois Martin Müller (Hg.), Raum und Verfahren, Basel, Frankfurt/M.: Stroemfeld/Roter Stern 1993, S. 17-28.
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LITERATUR
Brecht, Bertolt: »Der Hofmeister von Jacob Michael Reinhold Lenz (Bearbeitung)«, in: ders., Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 8, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990, S. 319-371 u. S. 560-570. – : »Kurze Beschreibung einer neuen Technik der Schauspielkunst, die einen Verfremdungseffekt hervorbringt«, in: ders.: Gesammelte Werke 15. Schriften zum Theater 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1967, S. 341-357. Briel, Holger: »Derridas Hyperkarte: Glas«, in: Weimarer Beiträge 38/4 (1992), S. 485-505. Brunette, Peter/Wills, David (Hg.): Deconstruction and the Visual Arts, Cambridge: University Press 1994. Büchner, Georg: »An die Familie, Straßburg, 28. Juli 1835«, in: ders., Werke und Briefe, München: dtv 1980, S. 271-273. Büchner, Georg: Lenz. Marburger Ausgabe, Bd. 5, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2001, S. 31-49. Buhmann, P. (Hg.), Zur Lyrik Paul Celans, Kopenhagen, München: Fink 2000. Bürger, Peter: Das Verschwinden des Subjekts. Eine Geschichte der Subjektivität von Montaigne bis Barthes, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998. Carson, Anne: Eros. The Bittersweet. An Essay, Princeton: Princeton University Press 1986. Celan, Paul/Celan-Lestrange, Gisèle: Briefwechsel, mit einer Auswahl von Briefen Paul Celans an seinen Sohn Éric, aus dem Französischen von Eugen Hemlé, hg. und kommentiert von Bertrand Badiou in Verbindung mit Éric Celan, Anmerkungen übersetzt und für die deutsche Ausgabe eingerichtet von Barbara Wiedemann, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001. Celan, Paul: Der Meridian. Endfassung. Entwürfe. Materialien, hg. von Bernhard Böschenstein und Heino Schmull unter Mitarbeit von Michael Schwarzkopf und Christiane Wittkop, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999. – : Der Meridian. Tübinger Ausgabe, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999. – : Gesammelte Werke in fünf Bänden, hg. von Beda Allemann und Stefan Reichert unter Mitwirkung von Rolf Bücher, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986. Chantraine, Pierre: Dictionnaire étymologique de la langue grecque. Histoire des mots, Paris: Klincksieck 1968. Chétouane, Laurent: »Laurent Chétouane im Gespräch mit Nikolaus Müller-Schöll«, in: Wolfgang Storch/Klaudia Ruschkowski (Hg.),
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Die Lücke im System. Philoktet Heiner Müller Werkbuch. Berlin: Theater der Zeit 2005, S. 211-214. Clark, Timothy: »Computers as Universal Mimics: Derrida’s question of Mimesis and the status of Artificial Intelligence«, in: Philosophy Today (winter 1985), S. 302-318. Combe, Sonia: Archives Interdites. Paris: Albin Michel 1994. Cook, Terry: »Electronic Records, Paper Minds«, in: Archives and Manuscripts 22:2 (1994), S. 30-40. Culler, Jonathan: Dekonstruktion. Derrida und die poststrukturalistische Literaturtheorie, aus dem Amerikanischen übersetzt von Manfred Momberger, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1988. Curtius, Georg: Grundzüge der griechischen Etymologie, Leipzig: B.G. Teubner 1862. Derrida, Jacques: Introduction à L’Origine de la géométrie de Husserl, Paris: PUF 1962, S. 123. – : Apprendre à vivre enfin. Entretien avec Jean Birnbaum, Paris 2005. – : »Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen«, in: Wolf Lepenies/Hans H. Ritter (Hg.), Orte des Wilden Denkens, Zur Anthropologie von Claude LéviStrauss, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1970, S. 387-462 – : Grammatologie (1. Auflage 1974), 2. unveränderte Auflage, aus dem Französischen übersetzt von Hans-Jörg Rheinberger und Hanns Zischler, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988. – : Glas, Paris: Galilée 1974. – : Die Schrift und die Differenz (1. Auflage 1976), 4. unveränderte Auflage, aus dem Französischen übersetzt von Rodolpe Gasché, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989. – : »The Law of Genre«, in: Glyph: Textual Studies 7 (1980), S. 202229. – : Die Postkarte. Von Sokrates bis an Freud und jenseits (2 Bde.), Berlin: Brinkmann & Bose 1982 und 1987. – : Positionen. Gespräche mit Henri Ronse, Julia Kristeva u.a., aus dem Französischen übersetzt von Dorothea Schmidt u. Astrid Winterberger, Wien: Passagen 1986. – : »Der Entzug der Metapher«, in: Volker Bohn (Hg.), Literatur und Philosophie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987, S. 317-355. – : Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie. Ein Kommentar zur Beilage III der »Krisis«, aus dem Französischen übersetzt von Rüdiger Hentschel und Andreas Knop, München, Fink: 1987. – : Ulysses Grammophon, aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Weber, Berlin: Brinkmann & Bose 1988.
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LITERATUR
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: Randgänge der Philosophie (1. Auflage 1988), 2. überarbeitete Auflage, aus dem Französischen übersetzt von Gerhard Ahrens u.a., Wien: Passagen 1999. : Asche und Feuer, aus dem Französischen übersetzt von Michael Wetzel, Berlin: Brinkmann & Bose 1988. : »Im Grenzland der Schrift. Randgänge zwischen Philosophie und Literatur. Gespräch mit Jacques Derrida«, in: Spuren in Kunst und Gesellschaft 34/35 (Oktober-Dezember 1990), S. 58-70. : Was ist Dichtung?, aus dem Französischen übersetzt von Alexander Garcia Düttmann, Berlin: Brinkmann & Bose 1990. : Chôra (1. Auflage 1990), 2. überarbeitete Auflage, aus dem Französischen übersetzt von Hans-Dieter Gondek, Wien: Passagen-Verlag 2005. : Gesetzeskraft. Der ›mystische Grund der Autorität‹, aus dem Französischen übersetzt von Alexander García Düttmann, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991. : Das andere Kap. Die vertagte Demokratie. Zwei Essays zu Europa, aus dem Französischen übersetzt von Alexander García Düttmann, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992. : Die Wahrheit in der Malerei, aus dem Französischen übersetzt von Michael Wetzel, Wien: Passagen 1992. : Prégnances. Quatre lavis de Colette Deblé. Paris: Brandes 1993. : Passions, Paris: Éditions Galilée 1993. : Gestade, aus dem Französischen übersetzt von Monika Buchgeister und Hans-Walter Schmidt, Wien: Passagen Verlag 1994. : »Zeugnis, Gabe«, Interview mit Elisabeth Weber, in: dies. (Hg.), Jüdisches Denken in Frankreich, Frankfurt a.M.: Jüdischer Verlag 1994, S. 63-90. : Dissemination, aus dem Französischen übersetzt von Hans-Dieter Gondek, Wien: Passagen-Verlag 1995. : Marx’ Gespenster. Der verschuldete Staat, die Trauerarbeit und die neue Internationale, aus dem Französischen übersetzt von Susanne Lüdemann, Frankfurt a.M.: Fischer 1995. : Positionen. Gespräch mit Jean-Louis Houdebine und Guy Scarpetta, In: ders., Positionen, Graz-Wien: Passagen 1986. : Recht auf Einsicht. Photographie: Marie-François Plissart (1. Auflage 1985), 2. unveränderte Auflage, aus dem Französischen übersetzt von Michael Wetzel, Wien: Passagen 1997. /Bernard Stiegler: Echographies de la télévision. Entretiens filmés, Paris: Galilée 1996.
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: »Babylonische Türme. Wege, Umwege, Abwege« und »Theologie der Übersetzung«, in: Alfred Hirsch (Hg.): Übersetzung und Dekonstruktion, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 119-165 bzw. S. 15-36. : »Interpretations at war. Kant, der Jude, der Deutsche«, in: Georg Christoph Tholen und Elisabeth Weber (Hg.), Das Vergessen(e), Wien: Turia + Kant 1997, S. 71-139. : Aufzeichnungen eines Blinden. Das Selbstporträt und andere Ruinen, hg. v. Michael Wetzel, aus dem Französischen übersetzt von Andreas Knop und Michael Wetzel, München: Wilhelm Fink 1997. : Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression, aus dem Französischen übersetzt von Hans-Dieter Gondek und Hans Naumann, Berlin: Brinkmann & Bose 1997. : Einige Statements und Binsenweisheiten über Neologismen, NewIsmen, Post-Ismen, Parasitismen und andere kleine Seismen, Berlin: Merve 1997. : Auslassungspunkte. Gespräche, ausgewählt und eingeleitet von Elisabeth Weber, aus dem Französischen übersetzt von Karin Schreiner und Dirk Weissmann, Wien: Passagen 1998. : Aporien. Sterben – Auf die ›Grenzen der Wahrheit‹ gefasst sein, aus dem Französischen übersetzt von Michael Wetzel, München: Fink 1998. : Vergessen wir nicht – die Psychoanalyse!, herausgegeben, übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Hans-Dieter Gondek, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998. : Vom Geist. Heidegger und die Frage, aus dem Französischen übersetzt von Alexander García Düttmann, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998. /Catherine Malabou, La Contre-Allée. Paris: La Quinzaine Littéraire – Collection ›Voyager Avec‹ 1999, S. 274. : Donner la mort, Paris: Galilée 1999. : Über das >Preislose< oder The Price is Right in der Transaktion, New York: b_books 1999. : »A Self-Unsealing Poetic Text. Zur Poetik und Politik des Zeugnisses«, aus dem Französischen übersetzt von K. Hvidtfeldt Nielsen, in: Peter Buhrmann (Hg.), Zur Lyrik Paul Celans, Kopenhagen und München 2000 (= Text und Kontext. Zeitschrift für germanistische Literaturwissenschaft in Skandinavien, Sonderreihe, Bd. 44), S. 147182. : Le toucher, Jean-Luc Nancy, Paris: Galilée 2000. : Politik der Freundschaft, aus dem Französischen übersetzt von Stefan Lorenzer, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000.
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LITERATUR
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: Semiologie und Grammatologie. Gespräch mit Julia Kristeva, In: Positionen, Graz, Wien: Passagen 1986. : Über den Namen. Drei Essays, aus dem Französischen übersetzt von Hans-Dieter Gondek und Markus Sedlaczek, Wien: Passagen 2000. : Apokalypse (1. Auflage 1985), 2. unveränderte Auflage, aus dem Französischen übersetzt von Michael Wetzel, Wien: Passagen 2000. : As if I were Dead/Als ob ich tot wäre, hg. von Karl-Josef Pazzini, Wien: Turia & Kant 2000. : Wie Meeresrauschen auf dem Grund einer Muschel. Paul de Mans Krieg. Mémoires II (1. Auflage 1988), 2., überarbeitete Auflage, aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Weber, Wien: Passagen 2000. : »Marx, das ist jemand«, aus dem Französischen übersetzt von Susanne Lüdemann, in: E-Journal ›Zäsuren 1‹, hg. von Hans-Joachim Lenger, Jörg Sasse und Georg Christoph Tholen, Düsseldorf, Hamburg und Kassel: 2000. : »Deconstructions – The Im-possible«, in: Sylvère Lotringer/Sande Cohen (Hg.), French Theory in America. New York: Routledge 2001, S. 13-32. /Vattimo, Gianni: Die Religion, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001. : »La langue n’appartient pas. Entretien avec Évelyne Grossman«, in: europe. revue littéraire mensuelle 861-862 (79e année, JanvierFévrier 2001), S. 81-91. : »Autrui est secret parce que qu’il est autre«, in: Jacques Derrida, Papier Machine, Paris: Éditions Galilée 2001, S. 367-398. : Die unbedingte Universität, aus dem Französischen übersetzt von Stefan Lorenzer, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001. : Limited Inc., aus dem Französischen übersetzt von Werner Rappl und Dagmar Travner, Wien: Passagen 2001. : »Le futur anterieur de l’archive«, in: Natalie Léger (Hg.), Questions d’archives. Paris: IMEC 2002, 41-50. /Spire, Antoine: Au-delà des apparences, Latresne: Gironde 2002. : Schibboleth. Für Paul Celan (1. Auflage 1979), 3. unveränderte Auflage, aus dem Französischen übersetzt von Wolfgang Sebastian Baur, Wien: Passagen 2002. : Seelenstände der Psychoanalyse, aus dem Französischen übersetzt von Hans-Dieter Gondek, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002. : Chaque fois unique, la fin du monde, hg. von Pascale-Anne Brault/Michael Naas, Paris: Galilée 2003. : Die Stimme und das Phänomen. Einführung in das Problem des Zeichens in der Phänomenologie Husserls, aus dem Französischen
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von Hans-Dieter Gondek (Neuübersetzung), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003 [1. Auflage in der Übersetzung von Jochen Hörisch, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1979]. : Schurken. Zwei Essays über die Vernunft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003. : Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen, aus dem Französischen von Susanne Lüdemann, Berlin: Merve 2003. : Béliers, Le dialogue ininterrompu: entre deux infinis, le poème, Paris: Éditions Galilée 2003. : Die Einsprachigkeit des Anderen oder die ursprüngliche Prothese, aus dem Französischen übersetzt von Michael Wetzel, München: Wilhelm Fink Verlag 2003. : Privileg. Vom Recht auf Philosophie I, aus dem Französischen übersetzt von Markus Sedlaczek, Wien: Passagen 2003. : Artaud Moma. Ausrufe, Zwischenrufe und Berufungen, aus dem Französischen übersetzt von Markus Sedlaczek, Wien: Passagen 2003. : Bleibe. Maurice Blanchot, aus dem Französischen übersetzt von Hans-Dieter Gondek, Wien: Passagen 2003. : Ein Zeuge von jeher. Nachruf auf Maurice Blanchot/Maurice Blanchot, Der Augenblick meines Todes, aus dem Französischen übersetzt von Susanne Lüdemann, Berlin: Merve 2003. : Fichus. Frankfurter Rede, aus dem Französischen übersetzt von Stefan Lorenzer, Wien: Passagen 2003. /Roudinesco, Elisabeth: For what tomorrow … A dialogue, Stanford: Stanford University Press 2004. /Gadamer, Hans-Georg: Der ununterbrochene Dialog, hg. und mit einem Nachwort versehen von Martin Gessmann, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004. /Habermas, Jürgen, Philosophie in Zeiten des Terrors. Zwei Gespräche, geführt, eingeleitet und kommentiert von G. Borradori, aus dem Französischen übersetzt von U. Müller-Schöll, Berlin: Philo 2004. : »›Ein Schauspieler ist immer peinlich – deshalb muß er bleiben‹. Laurent Chétouane über seine Arbeit mit Schauspielern«, in: Patrick Primavesi/Olav A. Schmitt (Hg.), AufBrüche, Berlin: Theater der Zeit 2004, S. 284-291. : Mochlos oder das Auge der Universität. Vom Recht auf Philosophie II, aus dem Französischen übersetzt von Markus Sedlaczek, Wien: Passagen 2004. : Marx & Sons, aus dem Französischen übersetzt von Jürgen Schröder, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004.
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LITERATUR
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: Pardonner: l’impardonnable et l’imprescriptible, Paris: L’Herne 2005. : Leben ist Überleben, aus dem Französischen übersetzt von Markus Sedlaczek, Wien: Passagen 2005. : Mémoires. Für Paul de Man (1. Aufl. 1988), 2., durchgesehene Auflage, aus dem Französischen übersetzt von Hans-Dieter Gondek, Wien: Passagen 2005. : Préjugés. Vor dem Gesetz (1. Aufl. 1992), 3., unveränderte Auflage, aus dem Französischen übersetzt von Detlef Otto und Axel Witte, Wien: Passagen 2005. : Transfer. Sprachen und Institutionen der Philosophie. Vom Recht auf Philosophie III, aus dem Französischen übersetzt von Markus Sedlaczek, Wien: Passagen 2005. : Geschlecht (Heidegger). Sexuelle Differenz, ontologische Differenz. Heideggers Hand (Geschlecht II), übersetzt aus dem Französischen von Hans-Dieter Gondek (1. Aufl. 1988), Wien: Passagen 2005. : Rückkehr aus Moskau, aus dem Französischen übersetzt von Monika Noll und Dirk Uffelmann, Wien: Passagen 2005. : Maschinen Papier. Das Schreibmaschinenband und andere Antworten, aus dem Französischen übersetzt von Markus Sedlaczek, Wien: Passagen 2006. : Echographien. Fernsehgespräche, aus dem Französischen von Horst Brühmann, Wien: Passagen 2006. : Genesen, Genealogien, Genres und das Genie. Die Geheimnisse des Archivs, aus dem Französischen von Markus Sedlaczek, Wien: Passagen 2006. : Wie nicht sprechen. Verneinungen (1. Auflage 1989), 2. durchgesehene Auflage, aus dem Französischen übersetzt von Hans-Dieter Gondek, Wien: Passagen 2006. : H.C. für das Leben, das heißt…, aus dem Französischen übersetzt von Markus Sedlaczek, Wien: Passagen 2006. : Jedes Mal einzigartig, das Ende der Welt, aus dem Französischen übersetzt von Markus Sedlaczek u.a., Wien: Passagen 2006. : »Die Stimmen Artauds (die Kraft, die Form, die Furche)«, in: Joachim Gerstmeier/Nikolaus Müller-Schöll (Hg.), Politik der Vorstellung. Theater und Theorie, Berlin: Theater der Zeit 2006, S. 12-17. : »Le Sacrifice«, unter www.hydra.umn.edu/Derrida/sac.html vom 10. Mai 2006. : Von der Gastfreundschaft (2. Auflage), aus dem Französischen übersetzt von Markus Sedlaczek, Wien: Passagen 2007.
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Arnd Pollmann Integrität Aufnahme einer sozialphilosophischen Personalie 2005, 394 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-325-9
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