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German Pages 324 Year 2021
Michael Thompson Mülltheorie
Edition Kulturwissenschaft | Band 228
Michael Thompson ist Forschungsbeauftragter am International Institute for Applied Systems Analysis in Laxenburg, Österreich, und Fellow am Institute for Science, Innovation and Society and Civilization an der University of Oxford. Nach seiner Tätigkeit als Berufssoldat und Bergsteiger im Himalaya studierte er Anthropologie in London. In seiner Forschung beschäftigt er sich u.a. mit der Abholzung und nachhaltigen Entwicklung im Himalaya, der Entwicklung von Haushaltsprodukten, dem globalen Klimawandel, der technologischen Entwicklung sowie mit Kulturtheorien.
Michael Thompson
Mülltheorie Über die Schaffung und Vernichtung von Werten Neuausgabe Herausgegeben von Michael Fehr
Die erste englische Ausgabe der Mülltheorie erschien 1979 unter dem Titel Rubbish Theory. The Creation and Destruction of Value bei Oxford University Press. © Michael Thompson 1979. Die zweite, erweiterte englische Ausgabe des Buchs erschien 2017 bei Pluto Press, London, unter dem gleichen Titel als New Edition. © Michael Thompson 1979/2017. Diese Übersetzung folgt der englischen Ausgabe von 2017.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2021 transcript Verlag, Bielefeld Neuausgabe Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt und Kordula Röckenhaus, Bielefeld Korrektorat: Anne Speckmann, Bielefeld Übersetzung aus dem Englischen: Michael Fehr Satz: Jan Gerbach, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5224-6 PDF-ISBN 978-3-8394-5224-0 EPUB-ISBN 978-3-7328-5224-6 https://doi.org/10.14361/9783839452240 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download
Inhalt
Editorische Notiz ........................................................................................... 7 Vorwort .......................................................................................................... 9 Rubbish revisited ‒ Einführung (2017) ......................................................... 11
Rubbish Theory (1979) 1. Der Schmutz auf dem Weg ....................................................................... 35 2. Stevenbilder ‒ der Kitsch von gestern ................................................... 47 3. Rattenverseuchter Slum oder ruhmreiches Erbe? ................................. 67 4. Von Dingen zu Ideen ................................................................................ 89 5. Eine dynamische Mülltheorie ................................................................. 109 6. Kunst und die Ziele ökonomischer Aktivitäten .................................... 135 7. Erhaltung der Monster ........................................................................... 163 8. Die Geometrie der Glaubwürdigkeit ....................................................... 185 9. Die Geometrie des Vertrauens ............................................................... 215 10. Das Nadelöhr ........................................................................................ 247
Engineering Anthropology ‒ Nachwort (2017) ........................................... 261 Co-Autor M. Bruce Beck
Rubbish Theory applied ‒ Ein Bericht (2020) ........................................... 291 Michael Fehr
Literaturverzeichnis .................................................................................. 313
Editorische Notiz
Michael Thompsons Mülltheorie erschien 1979 unter dem Titel »Rubbish Theory – The creation and destruction of value« in der Oxford University Press. 1981 wurde das Buch von Klaus Schomburg übersetzt und bei Klett-Cotta, Stuttgart, unter dem Titel »Die Theorie des Abfalls. Über die Erschaffung und Vernichtung von Werten« herausgebracht. 2003 erschien das Buch erneut in einer von mir revidierten Übersetzung und um eine »Einführung« von Michael Thompson ergänzten Version unter dem Titel »Mülltheorie. Über die Schaffung und Vernichtung von Werten« im Klartext Verlag, Essen. 2017 brachte die Pluto Press, London, den Reprint der Ausgabe von 1979, um eine neue »Einführung« von Michael Thompson und ein von ihm und M. Bruce Beck verfasstes »Nachwort« ergänzt, als »neue Ausgabe« unter dem ursprünglichen Titel heraus. Für die hier vorliegende Publikation habe ich diese beiden neuen Kapitel übersetzt, den deutschen Text von 2003 vollständig durchgesehen und ein eigenes Nachwort angefügt.
Michael Fehr, 2020
Vorwort
Für den Autor eines Buches über Müll ist es schwierig, denjenigen, die ihm bei seinem Unternehmen geholfen haben, angemessen zu danken. Müll bleibt auch dann, wenn alles gesagt und getan ist, ein ziemlich abstoßendes Zeug und neigt dazu, an den Menschen hängen zu bleiben, die mit ihm in Berührung kommen. Aus diesem Grund dürften nicht alle, denen ich danken möchte, mir dafür danken, dass ich dies in dieser öffentlichen Weise tue. Aber den vielen Kunsthochschulen (insbesondere in Hull, Winchester, Falmouth und The Slade), die mich im Laufe der Jahre ermutigt und finanziell unterstützt haben, schulde ich großen Dank. Dies gilt auch für die Architekturfakultät am Polytechnic Portsmouth. Und auch folgenden Institutionen möchte ich für ihre finanzielle Unterstützung danken: der Nuf field Foundation (neunmonatige Forschungsassistenzzeit am University College London), dem Massachusetts Institute of Technology (vierzehnmonatiges postgraduales Stipendium) und dem International Institute for Environment and Society, Berlin, (viermonatiges Besuchsstipendium). Das intellektuelle Klima an Kunst- und Architekturschulen ist zwar ideal für das Keimen und Wachsen zarter Pf lanzen geeignet, doch früher oder später müssen sie aus dem Treibhaus der Künste in die kalten Rahmen der akademischen – und der weiteren – Welt transferiert werden. Dass sowohl ich als auch meine Ideen diese traumatische Reise überlebt und meine Gedanken über Müll mich zu weitergehenden Überlegungen und zur Auseinandersetzung mit der Katastrophentheorie geführt haben, ist weitgehend der strengen, aber hilfreichen Kritik meiner Kollegen im Fachbereich Anthropologie am UCL und am mathematischen Institut der University of Warwick zu verdanken. Ich möchte darauf hinweisen, dass einige Argumente in den frühen Kapiteln des Buches bereits in einer etwas anderen Form in New Society erschienen sind und ein Teil des Kapitels 8 zuerst in Studies in Higher Education, Band 1, Nr. 1 (1976), veröffentlicht wurde.
Michael Thompson, 1979
Rubbish revisited – Einführung zur Neuausgabe
Im Sommer des Jahres 2000 sorgte die Veröffentlichung von Auszügen eines geheimen Entwurfes zu zukünftigen Regierungsstrategien in der Daily Mail für große Aufregung bei der britischen New Labour-Regierung. Zuerst wurde befürchtet, es gäbe einen »Maulwurf« in Nr. 10 Downing Street: Ein Insider müsse das geheime Dokument dem der Regierung nicht unbedingt wohlgesonnenen Blatt per Fax oder E-Mail gesandt haben. Dann vermutete man einen »Hacker« in der Zentrale der Konservativen Partei, und anklagende Finger richteten sich ziemlich öffentlich in diese Richtung. In jedem Fall aber war man sich einig, dass es sich um eine schädliche Verschwörung mit der Murdoch-Presse handeln müsse. Zur Erleichterung der Beschuldigten und zur Schadenfreue all derer, die weder zu den Anklägern noch zu den Beschuldigten gehörten, stellte sich schließlich jedoch heraus, dass es sich um keinen dieser Verdächtigen handelte. Es war vielmehr Benjamin Pell, heute besser bekannt als »Benji the Binman«. Benjamin ist insoweit ein Müllsammler, als er eine Mütze und einen leuchtend gelben Anorak trägt und umhergeht, um Mülltonnen zu leeren; doch im Gegensatz zu den meisten Müllsammlern arbeitet er nicht für eine lokale Behörde, sondern ist selbstständig. Außerdem ist er sehr wählerisch und nimmt nur bestimmten Müll – handschriftliches und getipptes Material, das ihm von Wert erscheint – mit und diesen nur aus bestimmten Gebäuden, wie zum Beispiel aus Anwaltskanzleien in der City, aus Häusern von Prominenten oder Politikberatern im Londoner Norden. Auf einer dieser nächtlichen Touren mit seinem weißen Lieferwagen hatte Benji akquiriert, was sich als ein verworfener, erster Entwurf eines geheimen Strategiedokuments herausstellte. Als er es besaß und erkannt hatte, was es war, wusste er, wohin er es bringen musste: zu den Büros von News International. Der Rest ist, wie man so schön sagt, Geschichte. Wurde eine Straftat begangen? Es überrascht kaum, dass aus der Gesetzgebung nicht eindeutig hervorgeht, ob und bis zu welchem Punkt Menschen, die etwas wegwerfen, das Recht haben, dessen nicht beraubt zu werden. Kurz gesagt, es handelt sich hier um eine »Grauzone«; doch wegen der Schwere der Folgen dieser besonderen freiberuf lichen Müllabfuhr beschloss die Polizei, Benjis Haus zu durchsuchen (richtiger, das Haus seiner Mutter, da Benji, der damals Ende Drei-
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ßig und unverheiratet war, noch zu Hause lebte). In einem großen Holzschuppen im hinteren Teil des Gartens fand die Polizei mehr als 200.000 Dokumente, allesamt aus Mülleimern geborgen, sorgfältig geordnet, indiziert und archiviert. Das Bemerkenswerteste an dem großartigen Pell-Archiv ist aber, dass es ausschließlich aus Dokumenten besteht, die weggeworfen wurden, um Archive anlegen zu können. Der glücklose Berater in Nr. 10 konnte nur dadurch zu einem zufriedenstellenden Strategiedokument kommen, indem er seine früheren, nicht ganz zufriedenstellenden Entwürfe verwarf; denn es hätte Probleme geben können, wenn das Büro des Premierministers nicht nur die endgültige Fassung des Dokuments auf seinen Computern gehabt hätte (die es dann an alle, die befugt sind, sie einzusehen, weiterleiten würde), sondern auch alle Versionen, die zu diesem Dokument führten. Wenn man also kein Archiv auf bauen kann, ohne etwas wegzuwerfen: Um was alles in der Welt handelt es sich dann bei diesem Schuppen voller Dokumente, der zwar alle Merkmale eines Archivs aufweist, aber aus nichts anderem als aus Weggeworfenem besteht? Es ist natürlich ein »Anti-Archiv«: Ein Affront gegenüber allen Archiven, aus denen es sich in dieser negativen Weise konstituiert, da es eindeutig sowohl eine Ordnung als auch einen Wert hat, wiewohl das Weggeworfene, aus dem es sich zusammensetzt, als form- und wertlos galt. Mithin: Nur über ihre Entsorgung konnten diese Dokumente Form und Wert erlangen und zu einem Archiv werden! Shredder könnten helfen – wie Einzelrechner mit Programmen, die überf lüssig gewordene Dokumente routinemäßig selbständig löschen. Und ein Gesetz, das die »Grauzone« beseitigt, indem es die Aneignung von Dingen untersagt, die von jemand anderem weggeworfen wurden, wäre eine weitere Möglichkeit. Aber weder wollen die meisten Briten so leben, als wären sie MI 5-Agenten, noch sind Eigentumsrechte am Müll ein kapitalistischer Anreiz. Doch selbst wenn wir all dies täten, hätte Weggeworfenes immer noch die Struktur und den Wert, die »Benji the Binman« für uns alle sichtbar gemacht hat; nur würden wir ohne ihn und seinesgleichen und ihr etwas befremdliches Hobby nichts davon wissen. Darüber hinaus wären wir und unsere Nachwelt wahrscheinlich alle etwas ärmer. Jetzt aber hinzugehen und Benjis »Anti-Archiv« zu zerstören – eine geordnete Ansammlung, die im Gegensatz zu den meisten anderen Archiven nicht nur kostendeckend arbeitet, sondern auch einen ansehnlichen Gewinn erwirtschaftet –, wäre sicherlich eine philisterhafter und Kultur zerstörerische Tat; ganz ähnlich wie die von Lady Churchill, die Graham Sutherlands Portrait ihres berühmten Gatten verbrannt haben soll.1
1 Ob sie das Bild tatsächlich verbrannte, weiß man nicht genau. Was man weiß, ist die Tatsache, dass sowohl sie als auch ihr Mann das Gemälde verabscheuten, und dass dieses historische Portrait – zum Zeitpunkt seines Entstehens war der Porträtierte der bedeutendste lebende Englän-
Rubbish revisited – Einführung zur Neuausgabe
Und so läuft es! Einmal aus dem Sack, können wir Benjis »Anti-Archiv« nicht wieder hineinstecken. Tatsächlich stand Benjamin Pell, obwohl ihm selbsternannte Psychologen nachsagten, dass er an einer »Zwangsneurose« (Schatten der alten Sowjetunion) leide, weniger als ein Jahr später auf der Liste für die begehrte Auszeichnung Scoop of the Year bei den so genannten Oscars des britischen Journalismus.2 **** Nun, diese Geschichte – »Benji the Binman« und sein »Anti-Archiv« – bestätigt so ziemlich jede Vorhersage der Mülltheorie, die ich in den 1960er Jahren3 erstmals aufgestellt habe (das Buch erschien erst 1979). • Man kann keine Werte schaffen, ohne nicht zugleich Nicht-Werte zu erzeugen. • Wir geben unserer Welt einen Sinn, indem wir sie auf überschaubare Proportionen zurechtstutzen. • Dieses Zurechtstutzen kann weder unvoreingenommen geschehen, • noch werden wir jemals eine allgemeine Verständigung darüber erzielen, wie dieses Zurechtstutzen erfolgen sollte. • Und selbst dann, wenn das Zurechtstutzen vollzogen wurde, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass es nicht von Dauer sein wird. • Und so weiter … Was also ist das für eine Theorie, die uns solche Vorhersagen liefert: Vorhersagen, die, obwohl ich das damals nie realisiert habe, eindeutig eine gewisse Relevanz der und der Porträtierende der bedeutendste lebende englische Maler – nach Lady Churchills Tod nirgends gefunden wurde. 2 The British Press Awards, um ihren korrekten Namen zu verwenden. Die Veranstaltung fand am 21. März 2001 im Londoner Hilton-Hotel statt; der Bericht über Herrn Pells Nominierung für den begehrten Preis erschien an diesem Tag in The Independent – eine der wenigen britischen Zeitungen, die nicht im Besitz von News International sind. Damals bestritt Benji (erneut), dass er die Quelle der undichten Stelle war, die die ganze Aufregung in der Nummer 10 verursacht hatte, bekannte sich jedoch zu beeindruckenden Zahlen anderer Scoops. Vielleicht war es also doch ein Maulwurf oder ein Hacker der Konservativen Partei. 3 Vgl. Thompson, M.: An anatomy of rubbish: from junk to antique, in: New Society, 28. Mai 1969; Thompson, M.: The death of rubbish, in: New Society, 28. Mai 1970. Der Erste bot dem Herausgeber die Gelegenheit, eine Roy Lichtenstein »Reproduktion« auf der Titelseite des Magazins abzubilden – die eines in einem eleganten Stöckelschuh steckenden Fuß, der auf das Pedal eines blumengeschmückten Treteimers tritt. Die billige Drucktechnik, mit der die New Society hergestellt wurde, passte zwar recht gut zu Lichtensteins charakteristischen »Punkten«, überbot ihn jedoch insoweit durch die Verwendung von nur zwei Farben, während seine, nicht ganz so billige Technik, drei verwendete.
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haben, wenn es darum geht zu bestimmen, was man heutzutage als »Archivprozesse« bezeichnet.4 Um diese Frage schnell und einfach zu beantworten, beziehe ich mich auf eine Kritik der Mülltheorie aus dem Jahre 1979. Was mir an dieser Rezension besonders gefällt (ich komme aus einer Ingenieursfamilie), ist, dass sie nicht von einem Sozialwissenschaftler, sondern von einem Mathematiker, von Ian Stewart, stammt: 1979 ein aufstrebender junger Bursche, heute jedoch der wahrscheinlich bedeutendste Mathematiker Großbritanniens. Er beginnt mit dem rätselhaften Geschäft der Schaffung von Antiquitäten (antique-creation), in der er eine der Kernfragen der Mülltheorie erkennt: • Wie wird aus etwas Gebrauchtem eine Antiquität? • Wie, in einem größeren und weniger beweglichen Maßstab gedacht, kann aus einem von Ratten verseuchten Slum ein Teil unseres glorreichen Erbes werden? • Und wie kann, wenn ich nun zu der Art von Prozessen komme, die Benjamin Pell auf den Kopf gestellt hat, eine Notiz zu einem entscheidenden Bestandteil eines nationalen Archivs werden? Das waren die Fragen, die ich mir in den 1960er Jahren stellte, als ich an meiner Dissertation zu arbeiten begann, und natürlich habe ich mir die gesamte Literatur – insbesondere die der Wirtschaftswissenschaften – angeschaut, um herauszufinden, welche Antworten darauf es bereits damals gab. Zu meinem Erstaunen fand ich keine theoretisch begründeten Antworten auf diese Fragen und darüber hinaus, und das fand ich noch erstaunlicher, dass den meisten Theorien zufolge dramatische Wertverschiebungen dieser Art eigentlich unmöglich seien. Ich war also in ein wunderbares Promotionsthema gestolpert; ich musste nur eine Theorie aufstellen, die (a) die Existenz von zwei Wertkategorien bewies: »vergänglich« (heute hier, morgen weg) und »dauerhaft« (für immer eine Freude), und die (b) zu erklären vermochte, wie Übergänge von der einen in die andere Kategorie möglich werden (und warum Übergänge in umgekehrte Richtung nicht möglich sind).
4 Pompe, H. und Scholz, L. (Hg.): Archivprozesse, Köln 2002.
Rubbish revisited – Einführung zur Neuausgabe
Abbildung 0: Die grundlegende Mülltheorie-Hypothese. Die festen Kästchen bezeichnen of fene kulturelle Kategorien; das Kästchen mit der gestrichelten Linie bezeichnet eine verdeckte Kategorie wie die weggeworfenen Dokumente bei der Bildung eines Archivs. Die durchgezogenen Pfeile bezeichnen Transfers, die stattfinden, die gestrichelten solche, die nicht stattfinden, weil sie den Wert- und/oder Zeitrichtungen widersprechen, die die verschiedenen Kategorien definieren.
In seiner Besprechung erklärt Ian Stewart dies so: »Sozialökonomen unterteilen seit Langem besitzbare Objekte in zwei Kategorien: in vergängliche und dauerhafte [...]. Der Wert in der einen sinkt auf null, der in der anderen steigt bis ins Unendliche. Michael Thompson argumentiert, dass es eine dritte, verdeckte Kategorie gibt: Müll. Müll hat keinen Wert, ist also für die sozioökonomische Theorie unsichtbar. Aber das ist eine engstirnige Selbsttäuschung. Denn Müll ist der Kanal zwischen dem Vergänglichen und dem Dauerhaften.« 5 Wenn es die Müll-Kategorie nicht gäbe, wenn also alles auf der Welt irgendeinen Wert hätte, wären keine Transfers möglich. Doch auch dann, wenn diese Kategorie existiert, gibt es nur einen geraden Weg: vom Vergänglichen über den Müll zum Dauerhaften. Diese herrlich einfache Hypothese leistet zwei wesentliche Dinge: Sie beantwortet meine Fragen (die drei Punkte oben) und sie rettet uns vor der »engstirnigen Selbsttäuschung« der orthodoxen Wirtschaftslogik. Dass sie nur gemischten Zuspruch fand, konnte nicht wirklich überraschen. In der Kunstwelt (wo dank meines Engagements in der Art and Language Group6 alles begann) wurde sie je5 Stewart, I.: Review of Rubbish Theory, in: New Scientist, 23. August 1979, S. 605. 6 Dazu gehörten etwa ein Dutzend Künstler, meist Briten, die sich dafür einsetzten, den Kunstbegriff über das Kunstobjekt zu stellen. Beispielsweise fanden ihre konventionelleren Kommilitonen an der Slade School of Fine Art, wenn sie zu ihren unvollendeten Zeichnungen im Life Room zurückkehrten, kleine Kärtchen an ihnen befestigt vor: »Sei kein Malerschwein.« Viel Einfallsreichtum steckte in der Entwicklung von Kunstwerken, die wir für nicht-besitzbar hielten; in der
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doch von Anfang an akzeptiert. Zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Artikels (August 2016) ist eine frühe Version von Abbildung 0 als Kunstwerk in der Tate Britain Gallery in der Ausstellung »Conceptual Art in Britain: 1964-1979« zu sehen. Und ein Museum für moderne Kunst – das Karl-Ernst-Osthaus-Museum in Hagen, Deutschland – wurde ab den späten 1980er Jahren explizit nach den Prinzipien der Mülltheorie neu orientiert. Neben der konzeptuellen Kunst habe ich mit einer Reihe von Beispielen aus der realen Welt gearbeitet, von denen die gewebten Seidenbilder des 19. Jahrhunderts, die so genannten Stevenbilder (Stevengraphs), die in Coventry auf Jacquard-Webstühlen der Fabrik von Thomas Stevens Ltd. hergestellt wurden, vielleicht die schönsten waren. Im Jahr 1902 kostete ein kompletter Satz von sechzig Stevengraphs 2,55 £. Gleich nach dem Kauf waren sie so gut wie nichts mehr wert, und das blieb auch die nächsten fünfzig Jahre so. Doch 1973 waren sie 3.000 Pfund Wert, was, die Inf lation berücksichtigt, etwa dem zweihundertfachen des ursprünglichen Preises entsprach. Ian Stewart ist als Differenzialtopologe (eine Sorte von Mathematikern, deren Nase fein auf qualitative Unterschiede abgestimmt ist: auf Zustandsänderungen, wenn z.B. Eis schmilzt oder eine ruhige Strömung Turbulenzen entwickelt) besonders an einfachen Hypothesen interessiert, die zu komplexem und kontraintuitivem Verhalten führen. Und nachdem er sich beruf lich mit der Katastrophentheorie7 auseinandergesetzt hatte, fühlte er sich besonders von einfachen Hypothesen angezogen, die zu genau dieser der Art von diskontinuierlichem Verhalten führen – den einen Moment verachten, den nächsten schätzen –, das dem Wertewandel der Stevenbilder zugrunde liegt (und nicht weniger den Häusern in der Londoner Innenstadt, die dank meiner zeitweisen Nebentätigkeit im Baugewerbe zu meinem zweiten wichtigen Beispiel wurden, da mir nicht nur das britische Social Science Research Council die finanzielle Unterstützung meiner Promotion verweigerte, sondern der Leiter meiner Fakultät sie zu verhindern versucht hatte). Die Mülltheorie, so erklärt Ian Stewart weiter, »untersucht diesen Mechanismus und seinen alles beherrschenden Einf luss.«8 • • • •
Welche Sorte Menschen bewirkt den Transfer? Welche Sorte Menschen versucht, den Transfer zu verhindern? Welche Sorte Menschen kann davon profitieren? Welche Sorte Menschen verliert dabei?
Tat zogen wir Worte den Markierungen auf der Leinwand vor, und dies führte zu Sammlungen von »Kunst als Worte« in Form einer Zeitschrift: Art-Language. 7 Vgl. Zeeman, E. C.: Catastrophe Theory. Selected Papers 1972-1977, London 1977. 8 Stewart, wie Anmerkung 5.
Rubbish revisited – Einführung zur Neuausgabe
Indem er auf diese notwendige vierfache Varietät9 verwies, auf die vier verschiedene Arten von »sozialen Wesen«, die alle vorhanden sein müssen, wenn dieser Mechanismus mit seinem allgegenwärtigen Einf luss zum Tragen kommen soll, war Ian Stewart dem »anthropologischen Spiel« voraus, da er damit eine explizite Verbindung zu der vierfachen Typologie herstellte, die Mary Douglas (die meine Doktormutter war) in ihrem Aufsatz »Cultural Bias«10 dargelegt hatte: Eine Verbindung, die ich selbst erst viele Jahre später wirklich herstellen konnte.11 Zu diesem Zeitpunkt hatte sich Mary Douglas« ursprüngliches analytisches Schema (sie nannte es »Rastergruppenanalyse«) zu einer vollwertigen und oftmals angewandten Theorie (als Cultural Theory, als »Theorie pluraler Rationalität«, als »neoDurkheimische Institutionentheorie« und anderswie genannt) entwickelt, die, so wurde behauptet, »der Theorie der rationalen Entscheidung sowie den Weberschen und postmodernen Perspektiven im Hinblick auf die Sozialwissenschaften Konkurrenz macht.«12 Daher muss ich, wenn diese Behauptung zutrifft (und selbstverständlich will ich das zeigen) und Ian Stewart tatsächlich dem »Spiel« voraus war, hier innehalten, um diese implizite Verbindung explizit zu machen. Doch werde ich das hier auf eine eher lockere Art und Weise tun und die stärkeren Argumente erst im Nachwort zum Zuge kommen lassen.
Zum Zusammenhang zwischen Mülltheorie und Cultural Theory Eines ist offensichtlich: Sozialer Status und Besitz von Dauerhaftem sind eng miteinander verbunden (wie, auf der anderen Seite, Marginalität und Müll). Und wir alle wissen, dass Geld allein keinen sozialen Status verleiht. Wenn es das täte, würden wir nicht diesen sozial aufreibenden Prozess bei denjenigen beobachten können, die »neues Geld« erworben haben, und es dadurch in »altes Geld« umzuwandeln versuchen, dass sie unter anderem Gegenstände erwerben, die dauerhaft sind, und mit ihnen angenehm zu leben versuchen (wie so schön mit der Bemerkung des Herzogs von Devonshire charakterisiert, die er nach der Abreise 9 Ashbys Gesetz der erforderlichen Varietät – dass ein Steuerungssystem mindestens so viel Varietät enthalten muss, wie in dem, was es kontrollieren soll, vorhanden ist – ist in der Kybernetik von entscheidender Bedeutung: die Wissenschaft von der Kontrolle, siehe Ashby, W. R.: Variety, constraint and the law of requisite variety, in: Buckley, W. (Hg.): Modern Systems Research for the Behavioural Scientist, Chicago 1968. 10 Douglas, M.: Cultural Bias, Occasional Paper, Nr. 35, Royal Anthropological Institute London, 1978. Wiederabdruck in: Douglas, M.: In the Active Voice, London 1982. 11 Thompson, M.: Times Square: deriving cultural theory from rubbish theory, in: Innovation, 16 (4), 2003, S. 319-29. 12 6, P. und Mars, G. (Hg.): Introduction to The Institutional Dynamics of Culture, Bd. 1, Farnham 2008, S. XV-XLI.
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eines ziemlich bürgerlichen Gastes machte: »Was für eine Unverschämtheit von diesem Mann, über meine Stühle zu sprechen!«). Aber es gibt noch einen anderen Weg, der zum gleichen Ziel führt: Denn manchmal gelingt es kreativen und aufstrebenden Individuen Frank Sinatra nachzueifern und to do it in their way, indem sie die Hohepriester davon überzeugen, dass all der Plunder, mit dem sie sich liebevoll umgeben, fälschlicherweise für Müll gehalten wird, während es sich in Wirklichkeit um schändlich missachtete Teile unseres glorreichen Erbes, also um Dauerhaftes handele. Dies ist (wie wir in Kapitel 3 sehen werden) zum Beispiel das, was in den 1960er und 1970er Jahren mit den Reihenhäusern in der Innenstadt von London geschah. Über die Kombination dieser beiden Wege – neues Geld alt zu machen und Müll in Dauerhaftes zu transformieren – kann aber Zweierlei ermöglicht werden: (a) das Kategoriensystem mit dem gesamten, sich ständig weiterentwickelnden technologischen Prozess, in dem Objekte produziert, konsumiert und konserviert werden, auf der Höhe zu halten, und (b) sicherzustellen, dass Status (z.B. das Gefühl, sich mit Dauerhaftem wohl zu fühlen) und Macht (z.B. jede Menge Geld) ständig neu aufeinander abgestimmt werden. In der Klassengesellschaft, in der wir leben und auch weiterhin leben werden, muss dies in jedem Fall gegeben sein. Damit das geschieht, müssen aber die Kontrollen der Transfers zum Dauerhaften »genau richtig« sein: Durchlässig genug, um die »Klassenschau« aufrechtzuerhalten, und restriktiv genug, um die Kategorie des Dauerhaften nicht so aufzublasen, dass das Dauerhafte allgegenwärtig und es deshalb nicht länger möglich ist, die entscheidende Verbindung von Status und Macht wahrnehmen zu können: Anders gesagt, es muss ein Repeater-System geben.13 Dies wirft die Frage auf: Wie können wir all den anderen möglichen Verschiebungen auf die Spur kommen: Den Verschiebungen, die auf die eine oder andere Weise das Ganze aus dem Repeater-System herauslösen können, das solange herrscht, wie die Kontrollen »gerade richtig« funktionieren? Das ist ganz offensichtlich die große Frage – eine Frage in einer Größenordnung, die uns ansonsten eher im Gebiet der Sozialwissenschaften begegnet. Leider müssen wir uns, um sie vollständig beantworten zu können, in das Gebiet der Kybernetik wagen – der Wissenschaft von Kommunikation und Kontrolle – und das ist etwas, was viele Sozialwissenschaftler vermutlich als einen Schritt zu weit ansehen könnten. Daher ist es wohl besser, wenn ich diesen Schritt bis zum Nachwort aufschiebe, wo ich auf das Fachwissen meines Koautors Bruce Beck zurückgreifen kann, einem (wie er es bescheiden formuliert) Gesellen der Steuerungs13 Es war Basil Bernstein, einer der Begründer der Cultural Theory, der zum Leidwesen vieler seiner Soziologenkollegen immer wieder die Frage stellte: »Wie produziert ein Repeater System das Nichtwiederholbare?« Wir werden ihm und den dynamischen und sich ständig selbst transformierenden Systemen, die er verstehen wollte, in Kapitel 8 begegnen.
Rubbish revisited – Einführung zur Neuausgabe
technik.14 Stattdessen möchte ich nur auf zwei Dinge hinweisen: Erstens, dass das übergeordnete System (vorstellbar als drei miteinander verbundene Zisternen und zwei Wasserhähne) das Potential hat, Verschiebungen über zwei Dimensionen – Status und Macht – hinweg zu bewirken; und zweitens, dass es, um dieses Potential zu realisieren, eine ausreichende Heterogenität unter den individuellen Akteuren geben muss, damit all die möglichen dynamischen Veränderungen (diesen Hahn öffnen, jenen Hahn schließen etc.) ermöglicht werden. Eine Analogie hierzu wäre das mysteriöse Spiel, bei dem (ausreichend viele) Menschen um einen Tisch herumsitzen, von denen ein jeder einen seiner Finger auf ein umgedrehtes Glas legt, das Glas sich darauf hin zu verselbständigen scheint und auf der glatten Tischoberf läche hin und her rutscht. Eine solche notwendige Varietät steht, wiewohl ein wichtiges Konzept der Kybernetik, in ernsthaftem Widerspruch zum Großteil der Sozialwissenschaften, da diese verlangen, dass Rationalität plural sei (wohingegen die Theorie der rationalen Entscheidung zum Beispiel darauf besteht, dass sie singulär sei und wir alle rationale Nutzen-Maximierer seien). Jedes »soziale Wesen«, so die Cultural Theory, strebt nach einem anderen Ziel (von denen die Nutzen-Maximierung nur eines ist); sie drehen den Hahn also auf oder zu, doch in jedem Fall in der Erwartung, damit das Ganze ihrem Ziel ein Stück näher bringen zu können, wenn es ihnen denn gelingt, diejenigen zu überwinden, die sie in andere Bereiche abzudrängen versuchen. Allerdings muss diese Pluralität der Rationalität ausreichend sein; und sie muss vierfach sein: Lediglich zwei Paar Hände (etwas, das die Sozialwissenschaften in der Regel am ehesten befürworten, wie z.B. Märkte und Hierarchien) könnten zwar Vor- und Rückwärtsbewegungen bewirken, ließen jedoch die volle Bandbreite der anderen Varianten ungenutzt. Zum Beispiel: • Beim Repeater-System, das heißt, wenn also die Kontrollen »gerade richtig« sind, gibt es viel Hierarchisierung und viel Konkurrenz, schlagen sich die mit den Transfers vom Vergänglichen in den Müll und vom Müll ins Dauerhafte einhergehenden, unvermeidlichen Machtveränderungen schnell in entsprechenden Statusänderungen nieder. Doch trotz aller unvermeidlichen Veränderungen bleiben die Dinge die Gleichen: So verstanden sich zum Beispiel die im 19. Jahrhundert zu Wohlstand gekommenen Britischen Brauer schließlich »zum Brauen geadelt«. • Wenn die Kontrollen restriktiver werden, können sich Status und Macht nicht mehr aufeinander beziehen, und geraten wir in dem Maße, wie sie divergieren, in eine Kasten-Gesellschaft (wie im klassischen indischen System, in dem der f leischverzehrende Radscha zwar unangefochten an der Spitze der 14 Siehe jedoch Thompson, M.: Anmerkung 8, für das, was ich unter einem vernünftigen ersten Versuch verstehe.
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Machtstruktur sitzt, sich aber innerhalb der Hierarchie der Kasten dem vegetarischen Brahmanen unterordnet).15 Vielleicht lässt sich der in Großbritannien gegenwärtige, oft beklagte und trotz aller Bemühungen, sie zu fördern, bestehende Mangel an sozialer Mobilität mit einer – relativ geringen und leicht zu übersehenden – Verschiebung von der Klasse hin zur Kaste erklären. • Wenn die Kontrollen zu lasch gehandhabt werden, dann bricht die Kategorie des Dauerhaften unweigerlich unter ihrem eigenen Gewicht zusammen. Der Status »Geld« (currency) beginnt aufzuweichen, und das Ganze wird sich im rechten Winkel weg von der Klassen-Kasten-Achse verlagern. Mit dem Verschwinden der Statusunterschiede werden die Transaktionen symmetrischer, und bewegen wir uns auf einem immer stärker abgef lachten »Spielfeld«, das zwar bei denen, die restriktive Praktiken verabscheuen, beliebt sein, doch von denjenigen abgelehnt werden dürfte, die in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft keine Möglichkeiten haben, auf einen grünen Zweig zu gelangen. Margaret Thatchers so genannte »Unternehmenskultur« (enterprise culture) kann hier verortet werden. Und einige hochgradig individualistische Gesellschaften, wie zum Beispiel die im Hochland von Neuguinea, die im Zeremonialtausch von Schweinen miteinander konkurrieren, gelangen tatsächlich an die Spitze (obwohl sie nicht in der Lage sind, sich in dieser Position zu halten, wie wir in Kapitel 9 sehen werden). • Weitere Einstellungen der Hähne werden die anderen möglichen Verschiebungen in dieser zweidimensionalen »Tabelle« umreißen.16 Die erforderliche Varietät wird durch die Antworten auf die vier Fragen, die Ian Stewart aufgelistet hat, gut erfasst: • Diejenigen, die in der Lage sind, to do it in their way – wir können sie als »Crashers-through« bezeichnen –, sind die Verfechter dessen, was in der Cultural Theory als »individualistische Solidarität« bezeichnet wird. Sie haben genug Kraft, um den Hahn offen zu halten, der den Fluss der Objekte (selbstverständlich ihrer eigenen) vom Müll ins Dauerhafte ermöglicht. • Diejenigen, deren Ziel es ist, die Kontrolle der Hähne durch die »CrashersThrough« zu überwinden – wir können sie »Hohepriester« (»high priests«) nennen (wie zum Beispiel jene Literaturkritiker, die zu bestimmen versuchen, 15 Anstreben anstelle von Ankommen ist der Name dieses Spiels, und das gilt für alle vier divergierenden Ziele. Selbst wenn die Kaste scheinbar alles erobert, wie Marriott, M. in: Hindu transactions: diversity without dualism, in: Kapferer, B. (Hg.): Transactions and Meaning, Institute for the Study of Human Issues, Philadelphia 1967, gezeigt hat, gibt es immer noch mehr als einen Hauch von Klasse (vgl. Thompson, M.: Times Square). 16 Siehe Thompson, M.: wie Anmerkung 11.
Rubbish revisited – Einführung zur Neuausgabe
was in den Kanon aufgenommen werden soll und was nicht) –, sind die Verfechter dessen, was man als »hierarchische Solidarität« bezeichnen kann. • Diejenigen – wir nennen sie »Nivellierer« (»levellers«) –, die durch die Überf lutung der Kategorie des Dauerhaften sowohl den Status als auch die Macht herabzusetzen vermögen, sind die Apostel dessen, was man als »egalitäre Solidarität« bezeichnen kann. • Und diejenigen – wir können sie »Verlierer« (»losers-out«) nennen –, die sich trotz aller Bemühungen immer wieder an den Rand gedrängt sehen (die sozusagen unfähig sind, irgendeinen Hahn kontrollieren zu können, und wenn, nicht wüssten, ob sie ihn auf- oder zudrehen sollen) sind die Verfechter dessen, was man als »fatalistische Solidarität« bezeichnen kann. So hilft uns die vierfache Pluralität, die in den Sozialwissenschaften weit verbreiteten, unzulänglichen ein- und zweifachen Schemata zu überwinden und liefert uns damit das, was wir für eine anständige Theorie brauchen: die erforderliche Varietät.17 Darüber hinaus hat sie eine gewisse Plausibilität, da wir uns selbst und andere in ihr erkennen können.18 Oder anders ausgedrückt (und ich hoffe, dass das im Nachwort deutlicher wird): Die Cultural Theory ist der Mülltheorie inhärent; sie sind aus einem Guss: eine einzige, ziemlich alles umfassende Theorie. Aber was, mag man fragen, rechtfertigt, einmal abgesehen von dieser Verschmelzung innerhalb dessen, was oft abschätzig als Grand Theory19 bezeichnet wird, diese Neuauf lage der Mülltheorie?
17 Zum vollständigen Set der Programme – es gibt insgesamt fünfzig, von denen einige noch nicht von der Sozialwissenschaft »kolonisiert« wurden – siehe Thompson, M.: Organising and Disorganising, Axminster 2008, insbesondere Kapitel 8. 18 Dass sich Menschen oft in allen vier Gemeinschaften wiedererkennen, untergräbt die Theorie in keiner Weise, denn das Argument ist, dass es die Gemeinschaften und nicht die Individuen sind, die die Grundlage für die Analyse darstellen. Tatsächlich ist Individualität, die wir zu einem großen Teil aus unserer Auseinandersetzung mit anderen entwickeln, von Natur aus relational. Wir bewegen uns in und aus unterschiedlichen Gemeinschaften in verschiedenen Bereichen unseres Lebens – zum Beispiel am Arbeitsplatz und zu Hause – und wir ändern unser Verhalten (und unsere Rechtfertigungen für unser Verhalten) entsprechend. Für Kulturtheoretiker ist es sinnvoller – wie es McKim Marriott schon lange getan hat – vom »Trennenden« (»dividual«) zu sprechen. 19 In diesem Fall (und wie in 6, P. und Mars, G. (Hg.), a.a.O., schön erklärt) ist es die Durkheimsche Grand Theory.
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Das Buch selbst und warum es immer noch gültig ist Der Grundgedanke ist, um es noch einmal kurz zu rekapitulieren, dass die beiden kulturellen Kategorien – die des Vergänglichen und die des Dauerhaften – der Welt der Objekte »sozial aufgezwungen« werden. Deckten diese beiden Kategorien die materielle Welt vollkommen ab, dann wäre der Transfer eines Objekts von der einen in die andere Kategorie nicht möglich, da die sie definierenden Kriterien sich wechselseitig widersprechen: Objekte in der Kategorie des Vergänglichen haben einen ständig abnehmenden Wert und eine erwartet endliche Lebensdauer; die in der Kategorie des Dauerhaften haben dagegen einen ständig zunehmenden Wert und eine erwartet unendliche Lebensdauer. Doch decken diese beiden Kategorien natürlich nicht alles ab; sie umfassen nur die Objekte, die überhaupt einen Wert haben, und klammern einen riesigen Bereich aus: Den Müll, also den Bereich, der, wie es sich zeigt, die Einbahnstraße vom Vergänglichen zum Dauerhaften darstellt. Ein vergängliches Objekt, einmal hergestellt, verliert an Wert und erwarteter Lebensdauer und erreicht schließlich in beiderlei Hinsicht den Nullpunkt. In einer idealen Welt, dem unheimlichen Weltbild, mit dem die neoklassische Wirtschaft arbeitet, würde das Objekt, hat es seinen Dienst getan, in einer Staubwolke verschwinden. Doch sehr häufig geschieht dies eben nicht, sondern hält es sich in einem wert- und zeitlosen Schwebezustand (im Müll), bis es gelegentlich von einem kreativen und aufstrebenden Individuum entdeckt und in die Kategorie des Dauerhaften überführt wird. Wer genau die Menschen sind, die diese wertschöpfenden Transfers bewirken können, und welche Sorte Menschen sich mit vergänglichen Objekten, mit dauerhaften Objekten oder mit Müllobjekten wohl fühlen, sagt viel über unser dynamisches und sich ständig veränderndes Gesellschaftssystem aus. Erkennbar wird daran auch, dass sowohl die Statusleiter selbst, als auch die auf ihr in beiderlei Richtungen stattfindenden, subtilen Verschiebungen davon abhängen, dass es »da Draußen« Sachen gibt, die wir herumschieben können (und von denen wir herumgeschoben werden): von der Materialität, wie manchmal gesagt wird. Mit anderen Worten, und das ist wohl die entscheidende und nachhaltige Botschaft dieses Buches, auf das Zeug kommt es an. Wir brauchen eine Theorie der Menschen und ihres Zeugs, insbesondere jetzt, wo wir mit scheinbar unlösbaren Problemen wie dem Klimawandel konfrontiert sind – und genau das ist es, was die Mülltheorie leisten kann (und was Bruce Beck und ich im Nachwort zu erklären versuchen). In den ersten Kapiteln wird die Rahmung dieser drei-Komponenten-undzwei-mögliche-Transfers abgesteckt, und darauf auf bauend werden die sozialen und kulturellen Dynamiken untersucht, die durch sie entstehen. Dies geschieht zunächst anhand von Fallstudien: anhand von Objekten, wie den Stevenbildern (Stevengraphs), und anhand von zeitgenössischen Auseinandersetzungen darüber,
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welche Objekte welche Transfers machen können (Grange Park, damals ein verfallenes Herrenhaus in Hampshire, ist ein spektakulärer ästhetischer Zankapfel). Ein zweiter Anlauf wird dann in Form einer anthropologischen Feldforschung unternommen: als teilnehmende Beobachtung im Baugewerbe bei der Arbeit in Islington im Norden Londons, das sich damals in den Anfängen der so genannten Gentrifizierung befand. Doch das ist alles nicht so einfach und werden die Dinge bald ziemlich kompliziert. Denn wie ein wohlwollender Rezensent bemerkte, eröffnet die Mülltheorie die Möglichkeit, sich mit einer Frage auseinanderzusetzen, die im Zentrum der Sozialwissenschaften steht (oder besser gesagt stehen sollte). »Im Grunde gibt es nur zwei mögliche Themen für die Sozialwissenschaften – Stabilität und Wandel. Da Stabilität nur mit sehr viel Veränderung zu erreichen ist, es aber ohne Stabilität keinen Wandel geben kann, besteht immer die Gefahr, dass die Sozialwissenschaften ihren Untersuchungsgegenstand verschlucken. Michael Thompsons Mülltheorie ist ein heroischer Versuch, gerade lange genug außerhalb der Gesellschaft zu stehen, damit das Subjekt aufhören kann, nach seinem eigenen Schwanz zu jagen.«20 Anders gesagt: Die Auseinandersetzung mit der Materialität einerseits und mit Stabilität und Wandel andererseits führt uns in einen regelrechten Mahlstrom sozialer und kultureller Dynamik: einen Mahlstrom, in dem allmähliche und sanfte Veränderungen einiger Variablen zu plötzlichen und diskontinuierlichen Veränderungen bei anderen führen können: wie bei einer Reihe bis dahin vernachlässigter Phänomene, mit denen sich Mathematiker gerade zu diesem Zeitpunkt auseinandersetzen: die Katastrophentheorie, wie sie von dem großen französischen Topologen Réné Thom genannt wurde (Katastrophe bedeutet auf Französisch einfach »diskontinuierliche Veränderung« und ist nicht wie der englische Begriff negativ konnotiert). Die Katastrophentheorie war der entscheidende Vorläufer all jener Theorien – »Chaos«, »Komplexität«, »dynamische Systeme« und so weiter –, auf die man sich nun verlässt (in den physikalischen und biologischen Wissenschaften allerdings häufiger als in den sozialen). Die Katastrophentheorie stützt sich typischerweise auf »gefaltete Landschaften«, auf »morphogenetische Felder«, auf denen sich die »Schwerkraft« in beide Richtungen auswirken kann: Je nachdem, wo sich die Dinge in Bezug auf eine Falte befinden, können die diskontinuierlichen Veränderungen nach oben oder nach unten verlaufen, und diese geometrischen Erkenntnisse haben einige tiefgreifende Konsequenzen auch für unser Verständnis von dem, was im sozialen Leben vor sich geht. 20 Wildavsky, A.: Delving into dustbins (review of Rubbish Theory), Times Literary Supplement, 27. Juni 1980, S. 736.
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»Durch all das hindurch zieht sich, wenn man genau zuhört, die Sprache der Verstoßenen, die wieder aufstehen wollen. Wäre es nicht wunderbar, wenn sich das verschmähte Objekt, die abgelehnte Idee, Person oder Gruppe, wenn sich die Müllhaufen der Gesellschaft als ihre Transformatoren, die in ihrem kollektiven Körper die Samen einer zukünftigen Regeneration enthalten, erweisen würden? Wenn das, was untergeht, plötzlich in der Welt wiederauftauchen könnte, so wie der Aufstieg aus einer gesellschaftlichen Kluft?«21 Auch wenn ich nahezu vierzig Jahre später immer noch der Meinung bin, dass nichts davon falsch ist, räume ich allerdings gerne ein, dass das Buch ganz und gar vom Charme der damaligen Zeit durchdrungen ist.22 Tatsächlich bietet es aufgrund seiner Ursprünge in der frühen Konzeptkunst einen großen Schluck vom intellektuellen Gebräu, das in den 1960er und 1970er Jahren brodelte; das würde ich heute nicht nochmals in dieser Weise machen. So führen die weiteren Kapitel des Buches entlang seiner grundsätzlich optimistischen Argumentationslinie zu Orten, die auf den ersten Blick ziemlich weit entfernt von den Fallstudien und der Feldarbeit in den ersten Kapiteln erscheinen mögen: Zu den Wirtschaftszyklen, die durch die zeremonielle Schweinezucht unter den Völkern im Hochland von Neuguinea hervorgerufen werden (und die den jüngsten und andauernden Transformationen der Weltwirtschaft verblüffend ähnlich sind), oder zu sozio-linguistischen Prozessen, die dazu führen, dass die Bemühungen um Stabilität innerhalb unserer Bildungssysteme die Curricula einer ganzen Reihe von Veränderungen unterworfen haben, die uns (zumindest für eine gewisse Zeit) 21 Wildavsky, a.a.O. 22 Nicht wirklich charmant, mögen einige einwenden, da sie zuweilen und stellenweise in das umschlägt, was heute als political incorrectness angesehen werden könnte: Bauarbeiter lassen in der Schwulendisco die Sau raus, Macho-Zitate von Mick Jagger, die Erwähnung von Darkies and Bubbles und so weiter. Eine Möglichkeit, die ich in Betracht zog, war, diese beleidigenden Passagen zu entfernen oder zu ändern; doch das hätte nicht der Meinung der Berater des Verlags entsprochen, die unisono darauf bestanden, dass der Originaltext ohne jegliche Änderungen reproduziert werde. Zu meiner Entlastung möchte ich darauf hinweisen, dass die Feldarbeit nicht nur die Beobachtung, sondern auch die Teilnahme des Anthropologen erfordert; und so habe ich viele glückliche und recht gut bezahlte Jahre im Baugewerbe verbracht. Tatsächlich war diese Tätigkeit die ökonomische Grundlage meines akademischen Lebens; wenn ich nicht über begrenzte Talente als Zimmermann und Reparateur alter Häuser verfügen würde, hätte ich die Anthropologie schon sehr früh (also vor meiner Promotion) aufgeben müssen. Und: Ja, ich nehme an, wir waren politisch inkorrekt, obwohl man das damals nicht so sah. Tatsächlich waren es zwei schwule Freunde von mir, die fröhlich erzählten, dass sie ihren Bauherrn in einer Disco getroffen hatten. Es gibt auch einen sachlichen Fehler (auf S. 68 der ersten Ausgabe), der korrigiert werden muss, nämlich dass es mir gelungen ist, die Größen des englischen Landschaftsgartens in die falsche Reihenfolge zu bringen: Lancelot »Capability« Brown, Humphry Repton, William Kent. Es muss Kent (1684-1748), Brown (1716-1783), Repton (1752-1815) heißen.
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zu genau dem zurückgebracht haben, wovon wir durch eben diese Bemühungen wegkommen wollten. Ist es also nur der Charme der Zeit oder ist das Buch immer noch relevant? Letzteres würde ich behaupten wollen, doch möchte ich dazu erklären, was mit der Mülltheorie in den etwa vierzig Jahren seit ihrer ersten Veröffentlichung geschehen ist (oder fünfzig Jahren, wenn wir mit dem Artikel An Anatomy of Rubbish zu zählen beginnen, der 1969 in New Society erschien). Vielleicht ist die bleibende Botschaft des Charmes dieser Zeit die Omnipräsenz dessen, was Aaron Wildavsky, Richard Ellis und ich (damals, als wir uns zusammensetzen, um das Buch »Cultural Theory« zu schreiben 23) als Krummlinigkeit (curvilinearity) definiert haben: Nichts, wie es auch die Mülltheorie klar zeigt, verläuft je entlang einer Geraden. (Kant hat es etwas eleganter ausgedrückt: »Aus so krummen Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden.«) Vielmehr stellt sich wie bei den ganzen gefalteten Landschaften, den Schweinezyklen und curricularen Verzerrungen immer wieder heraus, dass ein sich in bestimmter Weise Verhalten immer mehr hervorbringt als das, was wir erwarten; um dann, ohne erkennbaren Hinweis darauf, dass sich etwas geändert hat, wie einen Rückwärtsgang einzulegen; und uns damit zwingt, entweder weitaus weniger zu akzeptieren oder gewohnte Verhaltensweisen drastisch zu verändern. Oder wie es der vernachlässigte Ökonom Hyman Minsky formulierte, der die globale Finanzkrise 2007/08 vorhersagte, aber nicht mehr erlebte: »Stabilität destabilisiert.«24 Die periodischen Abfolgen von wirtschaftlichen Aufschwüngen und Krisen werden üblicherweise als Folge der fortgeschrittenen Industrialisierung verstanden. Wirtschaftstheorien, die diese zyklischen Dynamiken zu analysieren versuchen (keynesianisch, schumpeterianisch usw.), gelten daher als nicht geeignet, primitive Gesellschaften zu verstehen. Doch führt (wie wir in Kapitel 9 sehen werden) die zeremonielle (und konkurrierende) Schweinezucht im Hochland von Neuguinea zu Zyklen, die, wie sich zeigen lässt, selbst mit so ausgeklügelten Modellen nicht zu erklären sind, wie es das Hansen-Samuelson-Modell des Handelszyklus ist. Die »Großen Männer«, wie sie im Pidgin genannt werden, vergeben in der optimistischen Aufschwungsphase Kredite (wobei man sehr darauf achtet, die »Müllmänner« zu übergehen), dennoch beginnt, in einer Weise, die der Kreditklemme bzw. der globalen Finanzkrise von 2007/08 frappierend ähnlich ist, das Vertrauen mehr und mehr zu schwinden und löst schließlich einen katastrophalen Zusammenbruch aus: Eine trostlose Phase von Pleiten, die zu Kriegen zwischen nun misstrauisch gewordenen Clans führt. Bis es schließlich wieder 23 Thompson, M., Ellis, R. und Wildavsky, A.: Cultural Theory, Boulder 1990. 24 Minsky, H.: The financial instability hypothesis, The Jerome Levy Economics Working Paper Series, 1992, Neudruck in: Argyrous, G. und Stilwell, F. (Hg.): Economics as a Social Science: Readings in Political Economy, North Melbourne 2003, S. 201-203.
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aufwärts geht. Mit anderen Worten, und wie ich kürzlich im Zusammenhang mit der Krise von 2007/08 argumentiert habe,25 wird diese Art von erratischen Zyklen wahrscheinlich in jedem menschlichen Sozialsystem und nicht nur in fortgeschrittenen Industriegesellschaften zu finden sein. Nicht nur die Entwicklungsländer haben Entwicklungsprobleme; es hätte nur noch wenige Jahre mit seiner jüngsten negativen Wachstumsrate (ca. 5 Prozent) gebraucht, bis Griechenland in die Reihe der LDC (Least Developed Countries) aufgenommen worden wäre. Stabilität und Wandel, Gradualismus und Saltation, Ordnung und Aktion, Evolution und Revolution, Beständigkeit und Veränderung: Rückblickend sind das einige der beängstigenden intellektuellen Herausforderungen, die sich ergeben, sobald wir unsere Nasen in den Müll zu stecken beginnen. Ein Fall von »Dummköpfen, die hereinstürmen« mögen einige sagen, doch hat die Mülltheorie, so lässt sich behaupten, einen ziemlich brauchbaren Schuh daraus gemacht. Doch was hat, anders gesagt, die Mülltheorie (die frühen Kapitel) mit der Katastrophentheorie (die späteren Kapitel) zu tun? Sir Christopher Zeeman (der so viel für die Entwicklung und noch mehr für die Anwendung dieses neuen Gebietes der Mathematik getan hat) gab in seinem Vorwort zur Erstveröffentlichung die Antwort.26 »Das langfristige Ziel«, so erklärt er, »ist es, einige der zentralen Paradoxien der Sozialwissenschaften anzugehen, wie z. B. die Beziehung zwischen Werten und Verhalten, zwischen Weltsicht und Handeln, zwischen Kultur und Gesellschaft.« Weiterhin schreibt er, dass eine der wichtigsten Erkenntnisse der Mülltheorie »die Beobachtung ist, dass ein Paradox unter Umständen nichts anderes ist als die Existenz zweier verschiedener Konfigurationen desselben Systems unter denselben sozialen Zwängen. Die Analogie zur Physik wird durch die Verwendung desselben universellen mathematischen Modells für beide, nämlich die Cusp-Katastrophe, präzisiert. Dies wiederum verweist auf eine Vielzahl verwandter Phänomene, eine Synthese von Ideen, die ohne die Geometrie nicht möglich gewesen wäre; noch dass diese Synthese ohne die Sprache der Geometrie hätte zum Ausdruck gebracht werden können.«27
25 Thompson, M.: How BOFIs (Banks and Other Financial Institutions) Think, Mary Douglas Memorial Lecture, University College London, 25. Mai 2016. 26 Wir haben dieses Vorwort vor allem deshalb nicht in diese Neuveröffentlichung aufgenommen, weil die Anwendung mathematischer Techniken in der Anthropologie nicht mehr so neu ist, wie sie es 1979 war. Dies gilt auch für die Katastrophentheorie. 27 Zeeman, E. C.: Foreword to Thompson, M.: Rubbish Theory, Oxford 1979, S. IX.
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Ursprünge und Folgen der Mülltheorie Die Theorie nahm ihren Anfang als ein eindeutig anthropologisches Projekt: Sie basiert auf den Arbeiten meiner Doktormutter, Dame Mary Douglas, insbesondere auf ihren Büchern »Purity and Danger« und »Natural Symbols«28 und entsprach der althergebrachten Forderung der Disziplin nach zwei oder mehreren Jahren teilnehmender Beobachtung (obwohl der Ort, im Herzen der Hauptstadt eines entwickelten Landes und nicht in einer abgelegenen und schriftlosen Gesellschaft, etwas unkonventionell war). Auswirkungen hatte sie jedoch hauptsächlich in anderen Bereichen und Disziplinen, vor allem in Kunst und Architektur. Wie bereits erwähnt hatte ich mich stark bei der frühen Konzeptkunstbewegung Art and Language engagiert. Peter Rayner Banham ließ mich immer eine Vorlesung vor seinen Erstsemestern am University College London, der Bartlett School of Architecture, halten; und neuerdings habe ich erfahren, dass es seit 2016 im Libanon ein serielles Kunstwerk, das Rubbish Theory fanzine, gibt.29 Auch in der Archäologie gab es (nicht zuletzt durch Colin Renfrews Interesse an der Katastrophentheorie) Auswirkungen, und diese Einf lüsse breiteten sich alsbald auf Museologie und Ästhetik aus. Ich erinnere mich an einen aufregenden »Schmutzkongress«, der um 1980 im Darmstädter Werkbund stattfand und von Lucius Burckhardt einberufen wurde; er leitete dann auch die weitere Konferenz »Design der Zukunft«, die im legendären Ballhaus in Berlin-Kreuzberg stattfand.30 Dann (wie bereits erwähnt) das Karl Ernst Osthaus-Museum in Hagen, dessen Direktor Michael Fehr es ab 1988 explizit auf der Mülltheorie auf bauend neu orientierte: Eine erfolgreiche Initiative, die 2002 zur großen Jubiläumsausstellung »Museutopia – Schritte in andere Welten« führte, zu der ich einen Beitrag über Kunstwerke in Form einer einaktigen Farce über Ökonomen leistete,31 den ich später zu einem Buchkapitel über die abfallwirtschaftlichen Probleme mit dem Begriff der Knappheit erweitern konnte.32 Der Museutopia-Ausstellung ging eine (vom Karl Ernst Osthaus-Museum und dem Kulturwissenschaftlichen Institut Essen veranstaltete) interdisziplinäre Konferenz »Utopisches Denken« voraus, zu der ich den Beitrag »Visions of the
28 Douglas, M.: Reinheit und Gefährdung. Eine Studie zu Vorstellungen von Verunreinigung und Tabu, Berlin 1985; dieselbe: Ritual, Tabu und Körpersymbolik. Sozialanthropologische Studien in Industriegesellschaft und Stammeskultur, Frankfurt a. M. 1974. 29 Siehe: www.behance.net/gallery/14430349/A-Rubbish-Fanzine. 30 Thompson, M.: Welche Gesellschaftsklassen sind potent genug, anderen ihre Zukunft aufzuoktroyieren?’, in: Burckhardt, L. (Hg.): Design der Zukunft, Köln 1987, S. 58-87. 31 Thompson, M.: A bit of the other: a farce in one act, in: Fehr, M. und Rieger, T. W. (Hg.): Museutopia – Schritte in andere Welten, Hagen 2003, S. 208-217. 32 Thompson, M.: A bit of the other: why scarcity isn’t all it’s cracked up to be, in: Mehta, L. (Hg.): The Limits to Scarcity, London 2010, S. 127-144.
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Future« beisteuerte, in dem ich die Mülltheorie mit der vierfachen Typologie der Cultural Theory verknüpfte.33 Neben diesen eher ästhetischen Zusammenkünften kam die Mülltheorie auch in den Museum Studies an; so fand ich mich selbst als Hauptredner bei einem Treffen der Association of Nordic Museums in Lillehammer, Norwegen, wieder, und ein großer Teil der Mülltheorie wurde in einen der Leicester-Reader in Museum Studies aufgenommen (Thompson 1994b).34 Etwa ein Jahrzehnt später fand die Mülltheorie über eine Konferenz im Landesmuseum für Natur und Mensch Oldenburg ihren Weg in das neu entstandene Gebiet der Müllgeschichte (Thompson 2003b),35 und kurz darauf, im Jahr 2002, über eine Konferenz unter der Schirmherrschaft des Kulturwissenschaftlichen Forschungskollegs Köln in die Archivkunde.36 Wie im Vorwort erläutert wird, hat sie sogar die Grundlagen für ein ganz neues Feld – die Discard Studies – gelegt und wurde mit der Entstehung der Cultural Studies und des Poststrukturalismus in Verbindung gebracht (oder vielleicht sollte ich sagen: dafür verantwortlich gemacht). Ein großer Teil dieser Auswirkungen, das ist klar, war in Deutschland und nicht in Großbritannien zu verzeichnen, und auf die Anthropologie hatte die Mülltheorie im Übrigen nur sehr wenig Einf luss. Dass der Prophet in eigenen Land nichts gilt, könnte eine Erklärung für diese seltsame Tatsache sein; eine andere ist, dass, Mary Douglas Verpf lichtung zur Universalität folgend (auf der Suche nach Theorien und analytischen Schemata, die für alle Gesellschaften zu allen Zeiten gelten), die Mülltheorie gegen den anthropologischen Strom schwamm, der sich, und das ist stellenweise immer noch so, sehr stark in Richtung Partikularismus bewegte (alle Gesellschaften und alle historischen Perioden sind unvergleichlich verschieden; das Beste, was man machen kann, ist eine dichte Beschreibung zu entwickeln). Doch, wie auch immer die Erklärung aussehen mag, im Jahr 1979 lief es in Oxford für die Mülltheorie gar nicht gut.
33 Thompson, M.: Visions of the future, in: Rüsen, J., Fehr, M. und Rieger, T. W. (Hg.): Thinking Utopia: Steps into other Worlds, Oxford 2005, S. 32-52. 34 Thompson, M.: The filth in the way, in: Pearce, S. M. (Hg.): Interpreting Objects and Collections, London 1994. 35 Thompson, M.: Stoffströme und moralische Standpunkte, in: Fansa, M. und Wolfram, S. (Hg.): Müll-Facetten von der Steinzeit bis zum Gelben Sack, Mainz 2003, S. 217-228. 36 Thompson, M.: Benji the binman and his anti-archive, in: Pompe, H. und Scholz, L. (Hg.): Archivprozesse. Die Kommunikation der Aufbewahrung, Köln 2002, S. 100-110.
Rubbish revisited – Einführung zur Neuausgabe
Der Brief »Ich möchte, dass Sie das auf Ihrem Schreibtisch haben, wenn Sie aus dem Urlaub zurückkehren«, lautete die erste Zeile des wütenden Briefs eines Wirtschaftsprofessors, der auch Mitglied des Vorstands der Oxford University Press (OUP) war, an deren Geschäftsführer. Seine Empörung galt der Rubbish Theory, die an diesem eilfertigen Torwächter vorbei in der allgemeinen Reihe der OUP erschienen war. Allerdings befand sich die Rubbish Theory dabei in bester Gesellschaft, denn sie erschien in derselben Reihe und im gleichen Jahr wie James Lovelocks Gaia-Hypothesis, einem Buch, das es auf die berüchtigte Liste Books fit for burning der Zeitschrift Nature geschafft hatte. Den ganzen Brief durfte ich nie lesen, doch hatte er eine unmittelbare und verheerende Wirkung. Die OUP verbannte die Rubbish Theory in den Müll; über Nacht wurde sie zu einem Unbuch. Es gab keine zweite Auf lage, meine Bitte, mir die Rechte am Manuskript zurückzugeben, wurde bereitwillig erfüllt, und der Herausgeber der allgemeinen Reihe verlor seinen Job (»Das Beste, was mir je passiert ist«, sagte er mir einige Zeit später). Der Verlagsleiter hätte sich natürlich behaupten und darauf hinweisen müssen, dass es sich nicht um eine wirtschaftswissenschaftliche Publikation handelte, dass sich auch andere Disziplinen mit dem Thema Wert beschäftigten und dass sie im Übrigen von einigen Wirtschaftswissenschaftlern bereits positiv aufgenommen wurde (z. B. gab es eine Rezension im Journal of Economic Literature, die mit der Frage begann, warum »dieses Buch von einer großen Wirtschaftszeitschrift ernst genommen wird«, und zum Schluss kam: »[...] ich empfehle dieses Buch jedem Wirtschaftswissenschaftler, der sich für die philosophischen und soziologischen Grundlagen der Wirtschaftstheorie interessiert.«37 Doch konnte er sich nicht durchsetzen, und so wurde das Buch Gegenstand des ersten Transfers, der in ihm beschrieben wird: von der Kategorie der Vergänglichkeit in die des Mülls. Aber die Katze war aus dem Sack, die 1.500 Exemplare waren durch das Tor gekommen, bevor es ihr eifriger Hüter zuschlagen konnte, und etwa dreißig Jahre später hat das Buch nun den zweiten Transfer durchlaufen: aus dem Müll in die Kategorie des Dauerhaften. Der Preis für antiquarische Exemplare (wie Carl Zimring, ein Professor am Pratt Institute in New York, der jedes Jahr einen Kurs in Mülltheorie gibt,38 auf unterhaltsame Weise beschrieben hat) ist immer weiter gestiegen, was ihn spekulieren ließ, dass eine Neuveröffentlichung den Preis für die Erstausgaben in schwindelerregende Höhen treiben könne. All dies wirft die Frage auf, ob und wie sich die Mülltheorie seit jenen leidenschaftlichen Tagen auf die Wirtschaft ausge-
37 Smith, C. A.: Review of Rubbish Theory, in: Journal of Economic Literature, 28, 1980, S. 1094f. 38 Siehe: https://carlzimring.com/2013/01/31/an-exercise-in-rubbish-theory/, aufgerufen am 18.09.2020.
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wirkt hat. Und diese Frage zu stellen, bedeutet auch zu fragen, wo die Mülltheorie selbst jetzt steht. Darauf komme ich im Nachwort genauer zu sprechen.
Von kitschigen Stevengraphs und rattenverseuchten Slums zu Systemdenken und Engineering Anthropology Wie es der Zufall wollte, arbeitete ich zum Zeitpunkt, als die Mülltheorie veröffentlicht wurde, im Internationalen Institut für angewandte Systemanalyse (IIASA), einem Think-Tank in Österreich, der in einem ehemaligen Palast der Habsburger vor den Toren Wiens untergebracht ist; einem Ort, an dem Wissenschaftler (wie wir genannt wurden) aus Ost und West an der Lösung von problems of common interest arbeiteten: also wie man die Welt ernähren, bewässern, mit Energie versorgen kann und so weiter. So kam ich in Kontakt mit Leuten wie Brian Arthur (einem irischen Wirtschaftswissenschaftler, der zum Entsetzen der meisten seiner Kollegen zusammen mit zwei ukrainischen Mathematikern über competing technologies under increasing returns to scale 39 forschte, einer Arbeit, die ihm später den Schumpeter-Preis einbringen sollte, doch damals fast seinen Job kostete), und Bruce Beck (einem englischen Chemieingenieur, dessen von Ideen aus der Luft- und Raumfahrttechnik und der Ökologie inspirierte Arbeit an der Control Theory die herkömmliche Überzeugung im Bauwesen, dass die Verschmutzung durch die Städte kontrolliert werden könne, durch die Annahme in Frage stellte, dass die Welt sich in einem unveränderlichen, stabilen Zustand befinde). Auch der kanadische Ökologe Crawford »Buzz« Helling war da und legte gerade zu dieser Zeit seinen vierfachen ecocycle vor: eine inzwischen hoch geschätzte Abfolge von Transformationen, die (in ihrer zugrunde liegenden Dynamik) nicht nur den Mustern unheimlich ähnlich war, die in der Cultural Theory von Mary Douglas frühem Werk und in der Mülltheorie implizit enthalten sind, sondern auch in ihrer späteren Arbeit und in meinem (mit Richard Ellis und Aaron Wildavsky) verfassten Buch Cultural Theory explizit formuliert wurden.40 In unserem Nachwort werden Bruce Beck und ich also zunächst ausführlicher darlegen, wie die Mülltheorie zur Idee der pluralen Rationalität geführt hat (den vier »Lebensweisen«, die jeweils mit den anderen konkurrieren und doch voneinander abhängig sind, und von denen nur eine mit dem »rationalen Nutzen-Maximierer« übereinstimmt, der von der neoklassischen Ökonomie angenommen 39 Wie im biblischen »Denn wer da hat, dem wird gegeben werden, und er wird die Fülle haben; wer aber nicht hat, dem wird auch das, was er hat, genommen werden.« Im Nachwort geben wir ein Beispiel dafür: Thomas Crappers inzwischen allgegenwärtiges Wasserklosett, das seinen Rivalen verdrängt: das Erdklosett von Pfarrer Henry Moule. 40 Siehe Anmerkung 23.
Rubbish revisited – Einführung zur Neuausgabe
wird), und dann zeigen, wie die Zusammenführung von Materialität einerseits und Stabilität und Wandel andererseits in der Mülltheorie zu dem geführt hat, was wir engineering anthropology nennen. Auch wenn viele Anthropologen und Ingenieure über diese Synthese verwirrt sein mögen (und sich sogar gegen sie sträuben), glauben wir, dass dies das Ziel ist, zu dem uns die Mülltheorie vierzig Jahre später und dank ihrer zufälligen Abzweigung in die Systemtheorie geführt hat.41 Wir begründen dies damit, dass das Bauwesen, das sich schon lange als »die Nutzung der großen Naturkräfte zum Wohle der Menschheit« definiert hat, einen die Materialität respektierenden Ansatz braucht, sollen die endlosen Auseinandersetzungen darüber, was einen Nutzen darstellen kann und was nicht, verstanden und das Beste aus ihnen gemacht werden können. Radioaktiver Abfall zum Beispiel bedeutet für die einen das Ende der Zivilisation, so wie wir sie kennen; andere würden ihn gerne auf ihre Cornf lakes streuen.42 In der Tat ist die vielleicht 41 Im Rückblick stelle ich fest (nicht unähnlich Molières bürgerlichem Gentilhomme, der entdeckte, dass er sein ganzes Leben lang Prosa gesprochen hat), dass ich schon seit einiger Zeit Anthropologie und Ingenieurwesen zusammengebracht habe. In der Tat habe ich bereits in den 1980er Jahren, als ich Mitglied der Risiko-Arbeitsgruppe des britischen Umweltministeriums und des Rates für Wirtschafts- und Sozialforschung war, ein Kapitel mit dem Titel »Engineering and Anthropology: Is there a Difference?« geschrieben, in: Brown, J. (Hg.): Environmental Threats: Perception, Analysis and Management, London 1989, S. 138-150. Und einige Jahre später wurde ich zusammen mit unserem damaligen Umweltminister eingeladen, einen Vortrag in der Plenarsitzung des Weltkongresses für Abfallwirtschaft in der Hofburg in Wien zu halten: einer sehr fröhlichen Veranstaltung, die von der ISWA, der International Solid Waste Association, gesponsert wurde (Thompson, M.: Waste and fairness, Social Research 65 (1), 1998, S. 55-73). Es gab auch einen Gastbeitrag in der Zeitschrift Waste Management and Research, der auf einem Vortrag basierte, den ich bei De Balie in Amsterdam gehalten habe (Thompson, M.: Blood, sweat and tears (guest editorial), in: Waste Management and Research, 12, 1994, S. 199-205), sowie einen kleinen Aufsatz, den für das Blue Ribbon Panel der US National Academy of Engineering von 2006 bis 2007 zu schreiben Bruce Beck und ich von Paul Crutzen (ein mit dem Nobelpreis ausgezeichneter Atmosphären-Chemiker und Autor des geologischen Begriffs »Anthropozän«), eingeladen wurden (Crutzen, P., Beck, M. B. und Thompson, M.: Cities – Blue Ribbon Panel on Grand Engineering, US National Academy of Engineering essay, in: Options, Winter issue, International Institute for Applied Systems Analysis, Laxenburg, Austria 2007, S. 8). Dies hat zu einer umfangreichen Arbeit unter der Rubrik »Cities as Forces for Good in the Environment« (CFG) geführt, von der ein Großteil unter www.cfgnet.org archiviert ist. Darüber hinaus waren Bruce Beck und ich, und das ist es, was am Ende den Weg für unser Nachwort frei gemacht hat, vor Kurzem am Foresight Future of Cities-Project der britischen Regierung beteiligt (Thompson, M. und Beck, M. B.: Coping with Change. Urban Resilience, Sustainability, Adaptability and Path Dependence, UK Government Foresight Future of Cities Project, 2014; siehe auch: www.gov.uk/government/publications/ future-of-cities-coping-with-change, aufgerufen am 18.09.2020). 42 In den 1980er Jahren nahm ich an einem Treffen (der Hoover Institution der Stanford University) der stark die Atomkraft befürwortenden Organisation Scientists and Engineers for Secure Energy teil, bei dem viel über Forschungsarbeiten (hauptsächlich über Nagetiere) diskutiert wurde, die darauf hinzudeuten schienen, dass die Exposition gegenüber schwach radioaktiver Strahlung
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größte aller Veränderungen, seitdem die Mülltheorie zum ersten Mal veröffentlicht wurde, die massive Zunahme der Sorge über den Zustand unserer Umwelt und die Kontroverse um diese Sorge, insbesondere über die Frage des Klimawandels. Fragile Erden, Blaue Planeten, Grenzen des Wachstums, Planetarische Grenzen, Stumme Frühlinge, Nukleare Winter, Überladene Archen und so weiter bis hin zu der (natürlich stark umstrittenen) Behauptung, dass wir jetzt im Anthropozän leben: All dies ist in den letzten vier oder mehr Jahrzehnten ins Blickfeld geraten. Und da es die Stoffströme sind, insbesondere die Kohlendioxidströme, die im Mittelpunkt dieser Besorgnis stehen, sollte die Mülltheorie dazu etwas zu sagen haben. In der Tat hat sie das, und das ist es, was das Nachwort leisten muss, wenn die Theorie und ihre Relevanz vollständig auf den letzten Stand gebracht werden sollen.
ihnen tatsächlich gut tut. Andere sind natürlich nicht überzeugt und sehen jede Strahlung als schädlich an, und wieder andere sehen eine niedrige Strahlenbelastung als proportional schädlicher an als eine höhere. Alles hängt daher vom Verlauf der so genannten »Dosis-WirkungsKurve« ab, und bei niedrigen Werten besteht große Unsicherheit darüber, wie sie verläuft. Mit anderen Worten, die wissenschaftliche Unsicherheit ist so groß, dass man jeden Verlauf, den man gerne hätte, bekommen kann (siehe dazu Kapitel 5 von Schwarz, M. und Thompson, M.: Divided We Stand – Redefining Politics, Technology and Social Choice, Philadelphia 1990).
Rubbish Theory (1979)
1. Der Schmutz auf dem Weg Rätsel: Der Reiche steckt es in seine Tasche, und der Arme wirft es weg. Was ist das? Antwort: Rotze. Während Kinder dieses Rätsel gewöhnlich äußerst lustig finden, besteht die normale Reaktion von Erwachsenen darin, es als kindisch, anrüchig, ziemlich abstoßend und keiner ernsthaften Beachtung wert zu betrachten. Die Mülltheorie stellt diese Reaktion nicht nur auf den Kopf, sondern betrachtet diesen Witz als besonderer Aufmerksamkeit wert, und zwar gerade, weil die normale Reaktion von Erwachsenen in der westlichen Kultur darin besteht, ihm keine Beachtung zu schenken. So ist es schon von Anfang an nahezu unmöglich, sich distanziert, objektiv und wissenschaftlich dem Gegenstand der Mülltheorie zu nähern. Der ernsthafte Erwachsene ist ein ernsthafter Erwachsener, weil er kindischem Dreck aus dem Weg zu gehen versucht, und deshalb erscheint es als ein Widerspruch, sich mit dem Anspruch eines ernsthaften Erwachsenen mit kindischem Dreck zu beschäftigen – nicht weniger widersprüchlich als die Haltung eines kommunistischen Börsenmaklers (oder vielleicht eines jungen Konservativen oder eines Kunst-Ausbilders). Dieses kindische Rätsel lässt jedoch in geeigneter, wenn auch vulgärer Weise die Umrisse des Schwerpunktes meines Erkenntnisinteresses erkennen. Zuallererst definiert es eine Beziehung zwischen einem Status, dem Besitz von Gegenständen und der Fähigkeit, Gegenstände wegwerfen zu können. Das einwandfreie und ziemlich wenig amüsante Beispiel, das mit dem Rätsel aufgestellt wird, mag folgendermaßen ausgedrückt werden: Es existiert ein Statusunterschied zwischen dem Reichsein und dem Armsein, wobei ersteres einem höheren und letzteres einem niedrigeren Status entspricht. Reichsein oder Armsein bestimmt sich nach der Menge der Gegenstände, die man besitzt: Eine arme Person besitzt wenige Gegenstände, eine reiche Person viele. Aber wie kann man feststellen, ob jemand reich oder arm ist? Abgesehen von Vagabunden ziehen es die meisten Menschen vor, sich ohne ihre ganzen Besitztümer zu bewegen, und wirklich reiche Leute wären physisch gar nicht in der Lage, ihren Besitz mit sich zu führen, selbst wenn sie es wollten und selbst wenn man einmal annähme, dass sie die Sicherheits- und Versicherungsprobleme, die ein solch ostentatives Verhalten mit
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Mülltheorie
sich brächte, lösen könnten. Nun, die Antwort lautet, dass es sehr schwierig sein kann, einen Reichen von einem Armen zu unterscheiden. Doch kann als sicherer Hinweis auf den Status gelten, wie viele Gegenstände Leute in der Lage sind wegzuwerfen. Ein Armer, da er nur wenig Besitztümer hat, wird kaum etwas, ein Reicher dagegen mehr wegwerfen können. Dieses Paradigma ist offensichtlich richtig, da, zumindest in der westlichen Kultur, die Leute dieses Rätsel als Rätsel anerkennen. Das heißt, es behauptet, es gäbe eine Situation, die, zumindest auf den ersten Blick, die gesamte Grundlage unserer gesellschaftlichen Ordnung zu leugnen scheint: Dass nämlich ein Mensch, der arm ist, mehr wegwirft als einer, der reich ist. Wir werden durch das Rätsel in Verwirrung gestürzt, zermartern uns den Kopf auf der Suche nach einer Antwort, können keine finden und fühlen uns, wenn wir die Antwort »Rotze« hören, betrogen, weil wir angenommen hatten, der weggeworfene Gegenstand sei wertvoll. Ein armer Mann, der mehr wertlose Dinge wegwirft als ein reicher Mann, bedroht jedoch offensichtlich in keiner Weise die gesellschaftliche Ordnung. Zur Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung ist bis zu einem gewissen Grade Übereinstimmung darüber erforderlich, was einen Wert hat. Menschen unterschiedlicher Kulturen mögen unterschiedlichen Dingen einen Wert beimessen und gleiche Dinge unterschiedlich bewerten, doch bestehen alle Kulturen auf irgendeine Unterscheidung zwischen dem, was einen Wert hat, und dem, was als wertlos angesehen wird. Der Erfolg des Rätsels beruht darauf, dass es mit den Residuen unseres Systems kultureller Kategorien spielt. Wenn wir im Zusammenhang mit Reichtum und Armut von besitzbaren Gegenständen sprechen, nehmen wir zweifellos an, dass es sich dabei um Gegenstände handelt, die einen Wert haben. Die Kategorie »wertlose Gegenstände« ist unsichtbar, und Notiz nehmen wir von ihr erst dann, wenn wir, wie hier, durch das Rätsel auf sie hingewiesen werden. Aber das Rätsel enthält mehr als diesen Hinweis. Wenn die Antwort »ein wertloser Gegenstand« (nehmen wir an Kieselsteine oder Löschpapier) lautete, dann wäre das nicht sehr komisch. Was es komisch macht, ist, dass »Rotze« ein Gegenstand von sozusagen negativem Wert ist, etwas, das weggeworfen werden sollte. Somit können wir drei Kategorien besitzbarer Objekte identifizieren: wertvolle, wertlose und negativ bewertete. Gemäß dem kulturellen Paradigma sollten beide, der reiche und der arme Mann, sich ihres Rotzes entledigen, dennoch tut der reiche Mann das nicht, und indem das Rätsel hierauf aufmerksam macht, ist es wirklich subversiv und bedroht die gesellschaftliche Ordnung. Der ernsthafte Erwachsene versucht deshalb, diese Subversion zu verdrängen, indem er sich weigert, sie zu sehen: eine Verschwörung in Blindheit. Statt uns dieser Verschwörung in Blindheit anzuschließen, wollen wir unsere Nasen mitten in das rotzige Taschentuch des reichen Mannes stecken. Wenn man darüber nachdenkt, ist es wirklich äußerst merkwürdig, dass ein anspruchsvol-
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ler Mensch, der regelmäßig seine Socken und seine Unterwäsche wechselt, jeden Tag ein Bad nimmt, sein Haar hübsch in Ordnung hält und frisiert, seine Fingernägel säubert und gegen jeglichen unerwünschten Körpergeruch mit Hilfe eines Deodorants ankämpft, ganz glücklich dabei sein sollte, einen Strom undurchsichtiger, schleimiger Flüssigkeit, durchsetzt mit dunkleren, festeren Stücken, ganz zu schweigen von den Millionen Keimen und Bakterien, von denen er weiß, auch wenn sie unsichtbar sind, in ein durchlässiges Taschentuch abzusondern und dann das ganze durchweichte Päckchen, nicht besonders sorgsam gefaltet, in seine Hosentasche zu stecken, zuoberst auf Kleingeld und Feuerzeug, womit er später seine Gin-Tonics bezahlt und sich und seinen Begleitern Zigaretten anzündet. Doch genau das tut er, obwohl man angesichts seines sonst extrem hygienebewussten Verhaltens vermuten darf, dass er seine Handlungen nicht in diesem Lichte sieht. Wahrscheinlich transferiert er, indem er seinen Rotz in sein Taschentuch absondert und darin dann einfaltet, dieselbe Rotze irgendwie aus der Kategorie eines negativ bewerteten Objekts in die Kategorie eines wertlosen Objekts. Während er also offenbar das Gefühl hat, er müsse seine Nase von ihr befreien, empfindet er nicht den gleichen Zwang, sie von seiner Tasche fernzuhalten. Andererseits geht er auch nicht nach Hause und legt das Taschentuch in seinen Schreibtisch oder deponiert es im Tresor seiner Bank: Vielmehr wird die Rotze, sobald sie in seinem Taschentuch ist, offensichtlich weder positiv noch negativ bewertet. Im Gegensatz dazu hat der ungeschlachte Bauer, der seinen Rotz munter auf den Boden absondert, erst durch den einen Nasenf lügel, dann durch den anderen, kein Bedürfnis nach derartiger begriff licher Akrobatik. Solche Kategorienmanipulationen sind in unserer eigenen Kultur schwer zu entdecken, da sie von den Residuen unserer kulturellen Kategorien und unseren Verschwörungen in Blindheit verdeckt werden, treten aber deutlicher und gelegentlich viel spektakulärer hervor, wenn wir andere Kulturen betrachten. Sehen wir uns die Auffassung eines in Trinidad lebenden Inders an, der sein Mutterland längere Zeit nicht besucht hatte: »Inder defäkieren überallhin. Sie defäkieren überwiegend neben den Eisenbahnschienen. Aber sie defäkieren auch an den Stränden; sie defäkieren auf den Hügeln; sie defäkieren an den Flussufern; sie defäkieren auf den Straßen; sie suchen sich nie eine Deckung. Inder defäkieren überallhin, auf Fußböden, in Pissoirs für Männer (als Ergebnis von Yogaverrenkungen, über die man nur Vermutungen anstellen kann). Da sie Angst vor Ansteckung haben, hocken sie sich hin statt sich hinzusetzen, und jede Toilette weist Spuren ihrer Fehltreffer auf. Niemand bemerkt das. Von diesen hockenden Figuren – dem Besucher erscheinen sie nach einiger Zeit als ebenso zeitlos und sinnbildhaft wie Rodins Denker – wird nie gesprochen; es wird nie über sie geschrieben; in Romanen oder Erzählungen werden sie nicht
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erwähnt; sie erscheinen weder in Features noch in Dokumentarfilmen. Das könnte als »Teil einer zulässigen, beschönigenden Absicht« aufgefasst werden. Aber die Wahrheit ist, dass Inder diese Hocker nicht sehen und vielleicht sogar in völliger Aufrichtigkeit bestreiten würden, dass sie existieren. Eine aus der Furcht des Inders vor Verschmutzung entstehende kollektive Blindheit und die daraus resultierende Überzeugung, dass die Inder das sauberste Volk auf der Welt sind. Ihre Religion verlangt von ihnen, dass sie jeden Tag ein Bad nehmen. Das ist entscheidend, und sie haben minutiöse Regeln ersonnen, um sich vor jeder denkbaren Verseuchung zu schützen. Es gibt nur eine einzige saubere Art zu defäkieren; beim Liebesspiel darf nur die linke Hand benutzt werden; beim Essen nur die rechte. Alles ist geregelt und geläutert. Die Hocker zu beobachten, ist daher entstellend; es ist das Misslingen des Versuchs, zur Wahrheit vorzudringen.« 1 Auch wenn es den Anschein haben könnte, als sei diese Verschwörung in Blindheit total, so erstreckt sie sich doch nicht allein auf die Nicht-Inder. Einer der bedeutendsten Inder aus Nehrus Generation erzählte mir, dass es im Kulu-Tal im indischen Himalaya keine Fliegen gab, bis die tibetanischen Flüchtlinge dort hinkamen. Wie es der Zufall will, war ich 13 dreizehn Jahre früher dort gewesen, kurz bevor die tibetanischen Flüchtlinge eintrafen, und kann bezeugen, dass, soweit man diese Dinge beurteilen kann, die Fliegenpopulation während der ganzen Zeit unverändert geblieben war. Dennoch wurde behauptet, dass die Tibetaner sie mitgebracht hätten, weil »der ganze Wald ihre Latrine ist«. Für die Inder waren nur die tibetanischen Exkremente sichtbar. Nur der außenstehende Beobachter kann erkennen, dass ganz Indien die Latrine der Inder ist. Für einen Außenstehenden ist es nur zu leicht, diese kollektive Blindheit der Inder zu entdecken. Die eigene zu erkennen ist dagegen viel schwieriger – und eine unbequeme Aufgabe dazu. Dabei möchte ich mich im Folgenden darauf konzentrieren, einen besonderen Aspekt dieser Verschwörung in Blindheit sichtbar zu machen, nämlich die Blindheit, die uns von den Sozialwissenschaften auferlegt wird. Denn Soziologie, unsere methodische Form der Untersuchung, die dem Verständnis und der Erklärung sowohl unserer eigenen Gesellschaft als auch von Gesellschaft überhaupt gewidmet ist, gilt als eine außerordentlich ernste Beschäftigung für Erwachsene und ist folglich für solche Verschwörungen in Blindheit sehr anfällig. Die Fragen, die ich stellen will, sind folgende: 1. Ist dies tatsächlich der Fall? 2. Und wenn ja, ist das von Bedeutung? Ich werde zeigen, dass beide Fragen mit »Ja« beantwortet werden müssen: Dass ernsthaftes Erwachsenendenken im Allgemeinen und Soziologie im Besonderen eine Form des Diskurses bilden, der, gerade als solcher, unmöglich Kontakt zu bestimmten Bereichen des sozialen
1 Nalpaul V. S.: An Area of Darkness; London 1964, Kapitel 3.
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Lebens herstellen kann; dass aber das, was sich in diesen Bereichen abspielt, für jegliches Verständnis von Gesellschaft entscheidend ist. Diese unumgängliche Vorsicht, die den Sozialwissenschaftler bedauerlicherweise von seinem Untersuchungsgegenstand trennt, macht ihn zu einem Mitglied der ersten der drei Spezies von Sterblichen, die der Begründer der Mülltheorie, Jonathan Swift, identifizierte. Nach Swift bewegt sich ein Mitglied dieser Spezies »mit der Vorsicht dessen, der morgens durch die Straßen von Edinburgh geht und dabei so sorgfältig wie möglich Acht gibt, den Schmutz auf seinem Wege rechtzeitig zu bemerken; nicht, weil er aus Wissbegierde Farbe und Zusammensetzung des Kots beobachten oder etwa seinen Umfang abschätzen wollte; und noch viel weniger, um darin herum zu waten oder davon zu kosten; sondern einzig in der Absicht, so sauber wie nur möglich durch ihn hindurchzukommen.«2 Wenn das das Ende der Angelegenheit wäre, schiene die Mülltheorie von Anfang an dem Untergang geweiht zu sein. Denn der Sozialwissenschaftler, der Müll untersuchen will, muss zumindest darin »herumwaten«. Tut er dies jedoch, welche Chance hat er dann, »so sauber« wie seine Kollegen »hindurchzukommen«? Wie kann er ein Mitglied der sozialwissenschaftlichen Gemeinschaft bleiben, wenn er, um Müll zu studieren, die Form des Diskurses aufgeben muss, die das bestimmende Kriterium jener Gemeinschaft ist? Wie kann er sich am Morgen im Kot der Edinburgher Straßen wälzen und nachmittags an Doktorandenseminaren der Edinburgher Universität mitwirken? Dennoch ist diese scheinbar unmögliche und abstoßende Handlungsweise das bestimmende Charakteristikum eines bestimmten Typs von Sozialwissenschaftler: das des Anthropologen. Sie wird »teilnehmende« Beobachtung genannt. Es mag zwar eine Tatsache sein, dass die meisten (ich will mir nicht anmaßen, für alle zu sprechen) Sozialwissenschaftler nicht ihr Leben lang in der für sie charakteristischen Form des Diskurses gefangen bleiben – sie können den Ringrichter beschimpfen, sich in einer f lotten Disco austoben oder ihre Kinder ebenso wie den nächsten Mann oder die nächste Frau terrorisieren. Doch bleiben, wenn sie als Sozialwissenschaftler argumentieren, diese anderen Diskursformen ausgeschlossen. Der Forscher, der sich mit Müll beschäftigt, kann das allerdings nicht tun. Die grundlegende Unvereinbarkeit von ernsthafter Erwachsenenmethodik und Müll als Untersuchungsgegenstand besteht darin, dass der Mülltheoretiker sich gleichzeitig mit unterschiedlichen Formen des Diskurses befassen muss. Und da sie nicht vermischt werden können, müssen sie nebeneinandergestellt werden. Der Witz, das Paradox, die Schocktechnik und der journalistische Stil werden so zu einem unverzichtbaren Bestandteil der Mülltheorie. 2 Swift, J.: Eine Abschweifung über Kritiker, in: ders.: Satiren, Frankfurt a.M. 1966, S. 83f.
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Natürlich bleibt der Anthropologe, der auf Skid Row Feldarbeit leistet, unterscheidbar von denen, die er untersucht, denn er hat Zugang zu seinen Universitätsseminaren, während diese ihn nicht haben. Es ist eine schöne Ironie, dass diejenigen, die die beste Feldarbeit leisten und mit ihren Versuchspersonen tatsächlich verschmelzen, gleichzeitig die Verbindungen zu ihrer Disziplin vollständig lösen müssen. Als Folge davon kann Theorie nur auf Zweitrangigem aufgebaut werden – auf beklagenswert unvollständigen Einsichten in andere Realitäten – und dies wirft ein ungeheures Problem auf, nämlich: Wie tragen wir dieser Unvollständigkeit Rechnung? Nehmen wir die Haltung eines primitiven Positivismus ein und tun so, als sei das, was wir entdeckt haben, alles, was zu entdecken ist – so, als existiere das, an das wir nicht herankommen, nicht? Oder akzeptieren wir, dass unsere Einsichten unvollständig sind, dass wir keine Möglichkeit haben herauszufinden, wie unvollständig sie sind, und dass wir infolgedessen das ganze Unternehmen genauso gut aufgeben könnten? Obwohl diese pessimistischen, genau entgegengesetzten Alternativen beide starke Anziehungskraft ausüben können, existiert dennoch ein anderer Weg, der weniger zwischen ihnen liegt, als sich vielmehr in kalkuliertem Gegensatz zu diesem Zwillingspaar der Verzweif lung befindet. Mir scheint, dass die wahre Bedeutung der mit ernsthaftem Denken verbundenen Form des Diskurses die ist, dass dieser, wenn er angemessen entwickelt wird, die Möglichkeit bietet, die Existenz jener Unvollständigkeit zu erkennen und ihr in gewissem Maße Rechnung zu tragen. Mit anderen Worten, mein Vorschlag lautet, in völlig ernsthafter Erwachsenenhaltung an unser schändlich kindisches Rätsel heranzugehen, indem wir nicht vermischbare Formen des Diskurses nebeneinanderstellen. Ein Inserat in der The Times, das für den Kleinanzeigenteil der The Times und für den Service der The Times-Mitarbeiter wirbt, die einen bei der besten Formulierung von Kleinanzeigen beraten, zeigt ein Paar identischer Vasen orientalischen Stils. Die eine trägt in großen, einfachen Blockbuchstaben die Aufschrift »Gebraucht«; die andere wird in eleganter Schrift in schwarzem Rahmen als »Antik« bezeichnet. Über den Vasen steht der Satz: »Es kommt nicht darauf an, was Sie sagen, sondern wie Sie es sagen.« Unsere kritische Würdigung des Inserats ist ein hinlänglicher Beweis dafür, dass Gegenstände auf unterschiedliche Weisen gesehen werden können, von denen eine der anderen ästhetisch und ökonomisch überlegen ist, und ferner, dass wir – unter bestimmten Umständen zu unserem beträchtlichen Vorteil – in der Lage sein können zu beeinf lussen, wie wir selbst und andere einen Gegenstand sehen. Das Paar Vasen soll diese Flexibilität illustrieren. Die Bezeichnung »Gebraucht« bewirkt, dass wir die Vase zur Linken als wertloses Imitat betrachten: als ein seltsames Geschenk eines seltsamen Verwandten. Die Bezeichnung »Antik« lässt uns ihr Gegenstück als das einzig Wahre sehen, als wunderschöne, feine, wertvolle Keramik, als altchinesisches objet d’art.
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Diese Flexibilität erstreckt sich nicht auf alle Gegenstände. Die meisten Objekte erscheinen nur in der einen oder anderen Weise, und ihre Identität ist so wenig zweifelhaft, dass Bezeichnungen wie »Gebraucht« und »Antik« überf lüssig sind. Das gebrauchte Auto auf dem Gebrauchtwagenmarkt und die in Country Life inserierte Queen Anne Nussbaumkommode sind, in ihrer Unzweideutigkeit, für Gegenstände im Allgemeinen vielleicht typischer als die beiden Vasen aus The Times. Zunächst wollen wir festhalten, dass es zwei ganz unterschiedliche Arten gibt, wie Gegenstände wahrgenommen werden können. Sie bilden ein Element unserer Wahrnehmung der physischen und sozialen Umwelt, unseres Weltbildes. Dieses Element kann folgendermaßen beschrieben werden: In unserer Kultur werden Gegenstände einer der beiden Kategorien zugeordnet, die ich »vergänglich« beziehungsweise »dauerhaft« nenne. Gegenstände der Kategorie des Vergänglichen verlieren mit der Zeit an Wert und haben eine begrenzte Lebensdauer. Gegenstände der Kategorie des Dauerhaften nehmen mit der Zeit an Wert zu und haben (im Idealfall) eine unendliche Lebensdauer. Die Barock-Kommode zum Beispiel gehört der Kategorie des Dauerhaften an, das gebrauchte Auto dagegen der Kategorie des Vergänglichen. Wie wir uns einem Gegenstand gegenüber verhalten, hängt direkt mit seiner Zugehörigkeit zu einer der beiden Kategorien zusammen. Die antike Vase zum Beispiel schätzen wir, stellen wir zur Schau, versichern wir und verpfänden wir vielleicht sogar, aber ihr gebrauchtes Gegenstück verabscheuen und zerstören wir vermutlich. Wenn es um Gegenstände geht, besteht offensichtlich eine Beziehung zwischen unserem Weltbild und unserem Handeln in der Welt. Doch wie ist diese Beziehung beschaffen? Bestimmt welcher Kategorie ein Gegenstand angehört, wie wir uns ihm gegenüber verhalten, oder bestimmt die Art, wie wir uns einem Gegenstand gegenüber verhalten, welcher Kategorie er angehört? Soweit es um die Queen Anne Kommode und das gebrauchte Auto geht, zeigt schon eine einfache Beobachtung des Marktes für diese Objekte, dass ihre Zugehörigkeit zur jeweiligen Kategorie unser Verhalten ihnen gegenüber bestimmt, das heißt, das Weltbild geht dem Handeln voraus. Denn sie sind innerhalb eines Bereiches feststehender Annahmen angesiedelt. Wenn wir uns jedoch die beiden Vasen ansehen, stellen wir fest, dass die Art und Weise, wie wir uns ihnen gegenüber verhalten, ihre Zugehörigkeit zu der einen oder anderen Kategorie bestimmt, das heißt, das Handeln geht dem Weltbild voraus. Sie befinden sich in einem Reich der Flexibilität, irgendwo zwischen den von Queen Anne Kommoden und gebrauchten Autos bevölkerten Bereichen feststehender Annahmen (siehe Abbildung 1). Dies ist ein klares Beispiel für etwas, von dem ich vermute, dass es ein allgemeines Phänomen ist, und als Anthropologe sollte ich in der Lage sein, eine formale Beschreibung – eine angemessene Theorie – zu liefern, die erklärt, um was es hier geht. Denn Kategorien treiben nicht einfach frei herum. Sie sind eng
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an die soziale Situation gebunden, die sie sinnvoll machen. Die übliche Reaktion eines Theoretikers besteht nun darin, die Daten so zu behandeln, als bestimme die Kategorisierung das soziale Handeln, und sie ein anderes Mal zu behandeln, als bestimme das soziale Handeln die Kategorisierung – fast so wie Physiker, die Licht als aus Wellen oder aus Teilchen bestehend auffassen und aufgrund ihrer jeweiligen Fragestellung entscheiden, welche Herangehensweise besser geeignet ist. Das Problem dabei ist allerdings, dass weder die eine noch die andere Herangehensweise eine große Hilfe für das Verständnis eines begriff lichen Äquivalents zum »Sich-Durchwursteln« darstellt, zu dem es kommen muss, wenn, trotz klarer Trennung, zweideutige Objekte eindeutig werden und umgekehrt. Daher werde ich es aus einer ganz anderen Richtung versuchen.
Abbildung 1
Innovation und Kreativität entstehen innerhalb des Bereiches der Flexibilität, aber nicht alle Mitglieder unserer Gesellschaft haben freien Zugang zu Innovation und Kreativität. Die unterschiedlichen Möglichkeiten werden durch die gesellschaftliche Ordnung vorgeschrieben. Für die, die sich am unteren Ende befinden, gibt es eigentlich keinen Bereich der Flexibilität; für die am oberen Ende mag es einen weiten Spielraum manipulativer Freiheit geben (und The Times ist natürlich eine Zeitung für die Oberen!). Wenn wir diese Unterschiede innerhalb der Spannweite des Bereiches der Flexibilität mit den verschiedenen sozialen Ebenen in Verbindung bringen, können wir den Kontrollmechanismus innerhalb des Systems aufdecken, die Art und Weise, wie der Objektwelt Dauerhaftigkeit und Vergänglichkeit aufgezwungen werden. Dies ist vielleicht das erste Hindernis in der Darstellung der Mülltheorie, denn wir alle neigen dazu anzunehmen, dass Objekte als Folge ihrer intrinsischen physikalischen Eigenschaften so sind, wie sie sind. Der Glaube, dass Natur das ist,
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was da ist, wenn man eine Bestandsaufnahme macht, ist beruhigend, aber falsch. Der Glaube, dass sie jeden Nachmittag neu gemacht wird, ist alarmierend, aber richtig. Wir müssen erkennen, dass die Eigenschaften, die Objekten zugesprochen werden, ihnen von der Gesellschaft selbst verliehen werden, und dass die Natur (im Gegensatz zu unserer Vorstellung von Natur) nur die unterstützende oder negative Rolle spielt, jene Eigenschaften nicht zuzulassen, die zufällig physikalisch unmöglich sind. Fast scheint es, als ließe dieser Kontrollmechanismus unvermeidbar ein sich selbst perpetuierendes System entstehen. Kurz: Es ist zweifellos vorteilhaft, dauerhafte Objekte zu besitzen (da sie im Lauf der Zeit an Wert zunehmen, während vergängliche Objekte an Wert verlieren). Leute an der Spitze der Gesellschaft haben die Macht, Dinge dauerhaft oder vergänglich zu machen, und können so sicherstellen, dass ihre eigenen Objekte immer dauerhaft sind und die der anderen immer vergänglich bleiben. Sie sind wie ein Footballteam, dessen Mittelstürmer zufällig auch der Schiedsrichter ist: Sie können nicht verlieren. Damit erhebt sich eine paradoxe Frage. Wie kann ein solches sich selbst perpetuierendes System sich jemals ändern? Wie kann, gewissermaßen, die andere Seite jemals ein Tor erzielen? In diesem Fall entspräche ein Tor dem Transfer eines Objektes von der Kategorie des Vergänglichen in die Kategorie des Dauerhaften: Ein Transfer, der sich über den mächtigen aus der Vereinigung der Rollen von Mittelstürmer und Schiedsrichter resultierenden Kontrollmechanismus hinwegsetzen könnte, kommt jedoch niemals vor. Uns allen ist bekannt, dass verachtete viktorianische Gegenstände zu begehrten antiken Objekten geworden sind; dass aus Bakelit-Aschenbechern Sammlerartikel wurden und sich alte Rostlauben in Autoveteranen verwandelten. Wir wissen also, dass Veränderungen eintreten, aber wie? Die Antwort liegt in der Tatsache, dass die beiden sichtbaren Kategorien, die ich benannt habe, die des Dauerhaften und die des Vergänglichen, das Universum der Objekte nicht erschöpfen. Es gibt einige Dinge, die weder in die eine noch in die andere dieser beiden Kategorien fallen, und diese bilden eine dritte, verdeckte Kategorie: den Müll. Meine Hypothese ist, dass diese verdeckte Müllkategorie dem Kontrollmechanismus (der sich hauptsächlich mit dem sichtbaren Teil des Systems, den wertvollen und sozial bedeutsamen Objekten befasst) nicht unterworfen ist und damit den scheinbar unmöglichen Weg eines Objektes von der Kategorie des Vergänglichen in die Kategorie des Dauerhaften vollziehen kann. Ich glaube, dass ein an Wert und erwarteter Lebensdauer allmählich abnehmendes, vergängliches Objekt in die Kategorie Müll hinübergleiten kann. In einer idealen Welt würde ein Gegenstand den Wert Null und die Lebensdauer Null im selben Moment erreichen und dann, wie Mark Twains »Einspänner«, in einer Staubwolke verschwinden. Aber in Wirklichkeit geschieht das meistens nicht; der Gegenstand existiert einfach weiter in einem zeitlosen und wertfreien Limbo, in dem er zu irgendeinem späteren
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Zeitpunkt (wenn er bis dahin nicht zu Staub geworden oder gemacht worden ist) die Chance hat, entdeckt zu werden. Er wird vielleicht von einem kreativen TimesLeser entdeckt und erfolgreich in die Kategorie der Dauerhaftigkeit transferiert. Die reizende Folge dieser Hypothese ist, dass wir, wenn wir soziale Kontrolle von Werten erforschen wollen, Müll studieren müssen.
Abbildung 2
Die Mülltheorie mit ihrem bizarren Gegenstand und ihren fesselnden Paradoxien wird von Ökonomen, Soziologen und Naturwissenschaftlern oft belächelt, als sei sie eine Art »Wodehouse‘sche Ecke« in Akademia: eine amüsante, rückständige Provinz wie »The Drones‘ Club« oder »Lord Emsworth‘s Estate«, weit entfernt vom Hauptstrom des sozialen Lebens. Und es wird wohl eingeräumt, dass sie für Victoriana und Bakelit-Aschenbecher gelten mag, selbstverständlich aber nicht für wichtige Gebiete des wirtschaftlichen Lebens wie zum Beispiel den Wohnungsbau. Ferner wird angenommen, dass die Eigenschaften der Dauerhaftigkeit, der Vergänglichkeit und der Vermüllung zwar einer gewissen sozialen Verformbarkeit unterworfen sein können, dass diese Veränderung aber innerhalb strenger natürlicher Grenzen stattfinde. Beide Annahmen sind irrig. Diese soziale Verformbarkeit wird sogar dann ersichtlich, wenn wir uns mit der extremsten Form des Mülls, mit körperlichen Ausscheidungen, befassen und zwischen denen, die Müll sind, und denen, die es nicht sind, unterscheiden. Zu diesen Müllprodukten dürften Exkremente, Urin, abgeschnittene Finger- und Fußnägel, Eiter, Menstruationsblut, Grind usw. zählen. Nicht-Müllprodukte wären dagegen Milch, Tränen, Babys und, manchmal, Sperma. Wenn der Müllcharakter von selbst evident wäre und sich aus den inneren physikalischen Eigenschaften der betreffenden Produkte ableiten ließe, wäre die Aufteilung von Körperprodukten in Müll und Nicht-Müll festgelegt und unveränderbar. Jedoch sind in den vergangenen Jahren einige Körperprodukte von der einen Seite zur anderen hinübergewechselt. Schleim wird heute eindeutig als Müll angesehen, aber noch bis vor Kurzem hatte er eine edle Konnotation. Englischer Schleim wurde von wunderbar steifen Oberlippen ausgeworfen. Der Verlust des Empires ließ die englische Oberlippe schlaff werden und englischer Schleim hörte auf, die magische Substanz zu sein, die den kleinen, braunen Eingeborenen in seinen Schranken hielt, und wurde stattdessen, vor allem während der späteren Phasen der asiatischen Grippe, zu einem widerwärtigen, grünen Klumpen im Mund.
1. Der Schmutz auf dem Weg
Ebenso ist es mit dem Schweiß. Es gab eine Zeit, da war er gut, ehrbar und edel. 1940 konnte Churchill mit dem Angebot von »Blut, Mühsal, Tränen und Schweiß« den Geist von Dünkirchen wiederbeleben. Heute gehört Schweiß unumstritten in die Kategorie des Wertlosen. Man denke an die Deodorantwerbung: »Ist Vaginalgeruch Ihr Problem? Machen Sie es nicht auch zu seinem!«3 Nur wenn man innerhalb strenger kultureller und zeitlicher Grenzen bleibt, kann man den dem gesunden Menschenverstand entspringenden Glauben aufrechterhalten, Müll werde durch innere physikalische Eigenschaften bestimmt. Überschreitet man diese Grenzen, so erkennt man, dass die Grenze zwischen Müll und Nicht-Müll sich entsprechend des sozialen Drucks verschiebt. Die Erkenntnis, dass Müll gesellschaftlich definiert ist, hat tiefgreifende Folgen und stellt einen starken Ansporn für Anthropologen dar, die sozialen Kräfte aufzudecken, die die Dynamik dieser Grenzen bestimmen. Der politisierte Ökologe zum Beispiel mag bis zum Überdruss verkünden, dass es in der Natur keine Verschwendung gäbe oder dass man für sein Essen bezahlen müsse, worin die stillschweigende Folgerung enthalten ist, dass mit unserer Gesellschaft etwas nicht stimme, dass sie unnatürlich sei, weil sie Verschwendung erzeugt und auf ihrem Glauben beharrt, es gäbe tatsächlich so etwas wie freies Essen. Mit geringem Mehraufwand kann der Anthropologe aber viel mehr leisten. Er kann zeigen, dass Verschwendung eine notwendige Voraussetzung für Gesellschaft ist, und dass Gesellschaft nur existieren kann, wenn wir darauf bestehen, dass es solche Dinge wie freies Essen gibt. Er kann diese angeblich objektiven, wissenschaftlichen Aussagen als das entlarven, was sie wirklich sind – puritanische und moralische Urteile über unsere Gesellschaft; und er kann die Art der sozialen Veränderungen vorhersagen, die sich ergeben werden, wenn diese Vorteile weitere Verbreitung finden sollten. Der weniger streitbare Ökonom verwendet den Begriff der Knappheit, um sein Gebiet zu definieren. Wenn etwas knapp ist, liegt es in seinem Bereich; wenn
3 Ein Vorteil, vom größten Wörterbuch-Lieferanten der Welt veröffentlicht zu werden, ist der, dass man unverzüglich mit der gerade gängigen Sorte von Kritik bekannt gemacht wird: »Einen Augenblick mal; Wörter sind nicht dasselbe wie Dinge, wissen Sie«, oder: »Es besteht ein Unterschied zwischen wortwörtlichem und metaphorischem Gebrauch«. Ich würde darauf antworten, dass Worte und Dinge sich zwar in der Tat unterscheiden, aber immer noch eine Verbindung zwischen ihnen besteht. Gerade weil es diese Verbindung gibt, können Dinge, wenn sie erst kulturellen Kategorien zugeordnet sind, die Zugehörigkeit wechseln. Das Gleiche gilt für Metaphern. Die treffenden werden akzeptiert; die unzutreffenderen werden abgelehnt oder, wie in den meisten Fällen, gar nicht erst in Erwägung gezogen. Die Metaphern, die sich als zutreffend erweisen, zeigen die Richtung der Veränderung in den Eigenschaften des Objekts an, auf das sie sich, wie indirekt auch immer, beziehen. Ich habe eine vornehme Tante, die nie in Papcastle, Maldenhead oder Cockfosters (Tittenburg, Jungfernkopf und Schwanzheim) leben könnte. Man versuche, ihr zu erzählen, dass zwischen Worten und Dingen keine Verbindung bestehe!
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es nicht knapp ist, interessiert es ihn nicht. Vor allem dank ihrer strengen Beschränkung auf ihr Gebiet hat die Wirtschaftswissenschaft ein hohes Maß an Glaubwürdigkeit erreichen und manchen Vorhersageerfolg erzielen können. Aber die Tatsache, dass die Grenze zwischen Müll und Nicht-Müll nicht festliegt, sondern auf sozialen Druck reagiert, bedeutet natürlich, dass neue Elemente plötzlich in ihrem Gebiet auftauchen können, während andere vielleicht auf ebenso schmerzliche und mysteriöse Weise plötzlich verschwinden. Alles, was der Ökonom dann tun kann, ist dazusitzen und zu staunen »wie irgendein Himmelsbeobachter, wenn ein neuer Planet in seinen Gesichtskreis schwimmt«. Mit wiederum ein bisschen mehr Aufwand kann der Anthropologe viel mehr leisten als das, denn er kann die sozialen Kräfte hinter den Grenzveränderungen enträtseln, die Bahnen dieser neuen Planeten berechnen und ihr Erscheinen und Verschwinden am ökonomischen Himmel voraussagen. Gegenwärtig sind viele Millionen Pfund und viele Millionen Stimmen auf den Gebieten Umwelt und Lebensqualität zu holen. Welche akademische Disziplin auch immer am überzeugendsten Anspruch auf diese Gebiete erheben kann, wird eine in der Tat reiche Ernte einbringen.
2. Stevenbilder – der Kitsch von gestern
Die grundlegende Idee der Mülltheorie – die ursprüngliche Hypothese – ist im Schema der drei Kategorien, denen Objekte zugeordnet werden können, und der kontrollierten Transfers zwischen ihnen enthalten. Was wir jetzt brauchen, ist ein gut gelungenes Beispiel: eine detaillierte Beschreibung der Bewegung bestimmter konkreter Objekte durch dieses Kategoriensystem. Viktorianische Stevenbilder (stevengraphs) empfehlen sich aus drei Gründen. Erstens, da sie erst vor Kurzem in die Kategorie des Dauerhaften gelangten, sind die ästhetischen und finanziellen Purzelbäume, die die Leute schlagen mussten, um diese Verwandlung zustande zu bringen oder um sich auf sie einzustellen, nachdem sie erfolgt war, noch frisch in Erinnerung. Zweitens habe ich ganz zufällig während der früheren Phasen ihrer Verwandlung einige persönliche Erfahrungen mit ihnen gemacht. Drittens sind sie in allerjüngster Zeit Gegenstand einer detaillierten Untersuchung von G. A. Godden geworden. Sein ausgezeichnetes Buch enthob mich der langwierigen Aufgabe, die meisten historischen Daten selbst sammeln zu müssen, bevor ich sie analysiere.1 Auf der Yorker Ausstellung im Jahre 1879 stellte ein geschäftstüchtiger Fabrikant, Thomas Stevens, einen Jacquard-Webstuhl in vollem Betrieb aus, auf dem direkt vor den Augen der versammelten Besucher leuchtend bunte Seidenbilder gewebt wurden, die »Dick Turpinʾs Ride to York on His Bonnie Black Bess, 1793« und »The London and York Royal Mail Coach« darstellten. Wer ein Souvenir von der Ausstellung mitnehmen wollte, konnte diese Webbilder, komplett mit Passepartout, für einen Shilling pro Stück kaufen. Weder der Jacquard-Webstuhl noch das mechanische Weben von Bildern waren zu jener Zeit besonders neu. Schon 1840 wurden kunstvoll gewebte Bilder in Frankreich hergestellt, die den Jacquard-Webstuhl wie auch seinen Erfinder darstellten. Die meisten dieser frühen Bilder waren jedoch schwarz-weiß, und erst als sein Reklametrick in York Stevens ermutigte, einen stetigen Strom leuchtend bunter, sowohl nostalgischer als auch aktueller Seidenbilder zu produzieren, be-
1 Godden, G. A.: Stevengraphs, London 1971.
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gannen jene Textilbilder (oder Stevenbilder, wie sie bald genannt werden sollten) in großer Zahl auf dem Markt zu erscheinen. Zwischen 1879 und 1940 (als deutsche Bomben die Stevens-Fabrik völlig zerstörten) wurden mehr als siebzig verschiedene Landschaftsbilder und mehr als achtzig verschiedene Porträts hergestellt, außerdem etwa neunhundert verschiedene Motive auf Lesezeichen, Postkarten, Valentins- und Weihnachtskarten. Die Gesamtzahl der während dieser etwa sechzigjährigen Periode produzierten und in Umlauf gebrachten Stevenbilder muss in die zehn oder hundert Millionen gehen. Stevensʾ Landschaftsbilder wurden zu einem Shilling, die kleineren Seidenporträts zu einem halben Shilling das Stück verkauft. Die 1902 zur Verfügung stehenden 66 Motive würden damals 2,55 ₤ gekostet haben. 1973 hätte die gleiche Sammlung über 3.000 ₤ gekostet. Natürlich müssen wir die Inf lation berücksichtigen (die die Preise zwischen 1909 und 1970 um etwa das sechsfache erhöhte), aber selbst dann ist dies noch eine ganz beträchtliche Steigerung, und sie wird phantastisch, wenn wir uns klarmachen, dass sie sich auf die letzten zehn Jahre beschränkt. Bis in die frühen sechziger Jahre waren Stevenbilder praktisch unverkäuf lich. Händler kauften sie nicht, weil sie sie nicht verkaufen konnten, somit gab es keinen Markt für Stevenbilder, und ihr Wert war tatsächlich Null. Dieser knappen Skizze der Geschichte der Stevenbilder können wir die einfache ökonomische Tatsache entnehmen, dass ein Stevenbild, als es neu war, sagen wir im Jahre 1879, einen Shilling kostete, 1950 unverkäuf lich war und 1971 auf der Auktion von Knight, Frank and Rutley für 75 ₤ verkauft wurde. Die Frage ist nun: Wie können wir diese Wertveränderungen erklären? Zwar ist es legitim, in Bezug auf alle Stevenbilder von sukzessiven Wertveränderungen zu sprechen, da anfänglich alle für sehr kleine Beträge verkauft wurden und nun alle ein Mehrhundertfaches ihres ursprünglichen Preises erzielen, doch ist es für den Anfang praktischer, ein bestimmtes Stevenbild auszuwählen, seine Geschichte im Einzelnen zu untersuchen und dann die Analyse auf Stevenbilder im Allgemeinen auszudehnen. Wir wollen also das Landschaftsbild mit dem Titel »Dick Turpinʾs Ride to York on His Bonnie Black Bess, 1793« nehmen, das eines der beiden auf der Yorker Ausstellung von 1879 produzierten Originalmotivpaare war. Das Dick-Turpin-Stevenbild erwies sich als recht beliebt und wurde bis 1881 produziert; bis dahin hatte Thomas Stevens sein Angebot bereits auf zwanzig verschiedene Titel ausgedehnt, darunter drei Jagdszenen, sechs andere Reitsportdarstellungen, Lady Godiva, nackt durch die Straßen von Coventry reitend, mit einem hell gewebten Spanner am oberen Fenster eines Hauses, sowohl Land- als auch Seekatastrophen (eine Feuerwehr- bzw. eine Rettungsbootszene), ein Footballspiel, ein Radrennen (Coventry war und ist immer noch das Zentrum der Fahrradindustrie) und ein Baseballspiel (der erste Versuch seiner schließlich erfolgreichen Bemühungen, den großen amerikanischen Markt zu erschließen). Hätte der Industriepreis der Königin in jenen optimistischen Tagen viktoriani-
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scher Technologie und viktorianischen Handelns bereits existiert, wäre Thomas Stevens, wie Godden bemerkt, zweifellos ein würdiger Empfänger gewesen. Seit dem Jahre 1881 scheint das Interesse an Landstraßenraub, Trabrennen und Fahrradrennen jedoch abgenommen zu haben, denn in jenem Jahr wurde die Produktion des Dick-Turpin-Stevenbildes und dreier anderer Bilder eingestellt, und Stevens setzte für die Zukunft auf die wachsende Beliebtheit des Rasentennis, indem er einen neuen Titel einführte: »The First Set«. Auch das »Baseballspiel« wurde nicht mehr produziert; offenbar scheiterte sein erstes transatlantisches Unternehmen. Erst 1887 gelang es Stevens schließlich, mit nicht weniger als sechs neuen Titeln in den amerikanischen Markt einzudringen: »A Souvenir of the Wild West«, auf dem »Buffalo« Bill Cody, sieben Indianerhäuptlinge, Nate Salsbury, der Direktor der Wildwest-Show, die amerikanische Flagge und der amerikanische Adler abgebildet waren; und Seidenporträts von Präsident Cleveland, von Frau Cleveland, von »Buffalo« Bill Cody, von Feldwebel G. H. Bates (der, die Unionsfahne tragend, durch die konföderierten Staaten und später von Gretna Green nach London marschierte, im Glauben, damit zur Wiedervereinigung des Volkes der Vereinigten Staaten beizutragen) und von H. M. Stanley, dem walisisch-amerikanischen Journalisten, der jene unvergänglichen Worte zu Dr. Livingstone sprach. Am Seidenbild selbst wurden während seiner Produktionsdauer verschiedene geringfügige Verbesserungen vorgenommen, und auch der Wortlaut auf dem Passepartout wurde mehrmals geändert, vor allem der Titel: Nachdem die Yorker Ausstellung beendet war, verwendete man den geographisch weniger spezifischen Titel »Dick Turpinʾs last Ride on his Bonnie Black Bess«. Wir müssen annehmen, dass diejenigen, die dieses Stevenbild kauften, anders als die heutigen Käufer, diesen geringfügigen Änderungen ziemlich gleichgültig gegenüberstanden, ja diese tatsächlich gar nicht bemerkten, und ganz glücklich waren, für die zur Zeit des Kaufes gerade gängige Version einen Shilling zu bezahlen. Thomas Stevensʾ enormer Erfolg während der Yorker Ausstellung kann aus der Tatsache geschlossen werden, dass Exemplare dieser frühesten, auf der Yorker Ausstellung gewebten Stevenbilder noch heute, mehr als neunzig Jahre später, allgemein relativ bekannt und gewiss zahlreicher sind als viele der Titel, die er in den darauffolgenden Jahren auf den Markt brachte. Sehr wenig ist über die Preise bekannt, die für dieses Bild zwischen 1881, als seine Produktion eingestellt wurde, und 1963, als das wiederbelebte Interesse an Stevenbildern eine Ausstellung in der Frank T. Sabin Gallery in London anregte, bezahlt wurden. Auf dieser Ausstellung wurde für die Landschafts-Stevenbilder ein Preis von acht Guineen festgesetzt. Während der späteren sechziger Jahre schnellten die Preise in die Höhe. Zwischen November 1968 und Juli 1969 wurden vom Londoner Auktionshaus Knight, Frank and Rutley 28 der Dick-Turpin-Stevenbilder verkauft. Die Preise lagen zwischen 5 ₤ (für ein verschmutztes Exemplar) und 42 ₤. Ein noch in seiner Originalhülle befindliches hervorragendes Exemplar
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erzielte sogar 100 ₤. Jetzt, nur wenige Jahre später, ist es nicht mehr sinnvoll, vom Preis der Dick-Turpin-Stevenbilder zu sprechen. Intensive Studien und umfassende Forschungen zu den Stevenbildern in den letzten Jahren haben die Existenz zahlreicher Varianten enthüllt, von denen manche sehr viel seltener sind als andere, und dementsprechend variieren die Preise. Zum Beispiel trugen die allerersten auf der Yorker Ausstellung gewebten Bilder nicht den Wegweiser »To York« rechts vom Zollhäuschen; Exemplare dieser Variante sind von außerordentlicher Seltenheit, so dass zu erwarten ist, dass sie weit über 100 ₤ erzielen werden, wenn sie in gutem Zustand sind. Noch während der Ausstellung wurde das Passepartout geändert und das ursprünglich achtzeilige Gedicht durch eine schicklichere sechszeilige Version ersetzt, die bei der Abstinenzbewegung keinen Anstoß erregen sollte. Exemplare mit diesem frühen Passepartout, aber mit dem Wegweiser »To York« sind sehr selten und werden wahrscheinlich beträchtlich mehr einbringen als die mit dem späteren Passepartout. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass es vor den 1950er Jahren jemals einen echten Markt für Stevenbilder aus zweiter Hand gegeben hat. Das würde bedeuten, dass ihr Wert zwischen 1881, als die Produktion der Dick-Turpin-Seidenbilder eingestellt wurde, und ungefähr 1960, als ein Markt entstand, effektiv Null war. Die ökonomische Karriere eines solchen Stevenbildes kann anhand der folgenden graphischen Darstellung veranschaulicht werden:
Abbildung 3: Karriere des Stevenbildes »Dick Turpinʼs Ride on his Bonnie Black Bess, 1739«. (Korrigiert man diese Kurve, um der Inf lation Rechnung zu tragen, so bleiben ihre grundlegenden Merkmale – stetiges anfängliches Fallen, lange Nullwertperiode und anschließender steiler Anstieg – unverändert. Eine derartige Korrektur, bei der man den 1879er Preis erhöhen und den 1971er Preis vermindern müsste, würde lediglich bewirken, dass der anfängliche Rückgang ein wenig steiler und der Anstieg gegen Ende ein bisschen weniger steil ausfiele.)
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Diese Entwicklung steht im Einklang mit den formalen Bedingungen meiner Hypothese, wenngleich die Form der Kurve von dem, was vielleicht als »typischer« Verlauf angesehen werden könnte, ziemlich stark abweicht. Unter dem Gesichtspunkt qualitativer Kriterien kann dieser Kurvenverlauf in drei aufeinanderfolgende Phasen unterteilt werden: 1. Eine Anfangsphase, die einerseits durch den Eintritt des Stevenbildes in den Markt zu einem Stückpreis von 5 Pence begrenzt wird und anderseits durch den Zeitpunkt, kurz nachdem sein Wert Null erreicht hat. Während dieser Phase nimmt der Wert im Laufe der Zeit ab, somit gehört das Stevenbild in dieser Phase zur Kategorie des Vergänglichen. 2. Während der sich anschließenden, langen Phase ist der Wert des Stevenbildes effektiv Null und nimmt im Laufe der Zeit weder zu noch ab. Diese Phase entspricht der Zugehörigkeit zur Kategorie des Mülls. 3. Eine Schlussphase, die von einem Zeitpunkt irgendwann um 1960 bis zur Gegenwart und – vermutlich – darüber hinaus reicht. Zu Beginn dieser Phase erlangt der Gegenstand einigen Wert und der Wert nimmt mit der Zeit zu. Diese Phase entspricht der Zugehörigkeit zur Kategorie des Dauerhaften. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass Stevenbilder mit der zentralen Generalisierung, auf der meine Beweisführung beruht, übereinstimmen. Das heißt, dass veräußerbare Objekte einer der drei kulturellen Kategorien zugeordnet werden, der Kategorie des Vergänglichen, des Mülls oder des Dauerhaften. Wir sollten uns nun die Geschichte der Stevenbilder genauer ansehen, um zu prüfen, ob (wie es die Hypothese behauptet) die Kategorie des Mülls tatsächlich verdeckt ist, während die beiden anderen Kategorien sichtbar sind, und ob die Übergänge von »vergänglich« zu »Müll« und von »Müll« zu »dauerhaft« in der von der Hypothese genannten Weise erfolgen. Obwohl die erste Phase in der Karriere des Stevenbildes zweifellos vorhanden ist (da die Wertänderung von 5 Pence auf Null, egal wie schnell sie erfolgt, mit einer Abnahme des Wertes verbunden sein muss), ist sie doch ziemlich verstümmelt, und es scheint, dass nur eine einzige Transaktion zwischen dem Markteintritt des neuen Gegenstandes und seinem Eintritt in die Kategorie des Mülls steht. Dies entspricht der gewöhnlich umgekehrten Transaktion des mit Müll handelnden Händlers; die von Händlern im Allgemeinen vollzogenen Transaktionen gelten für diese besondere Karriere nicht. Die Gründe dafür sind nicht schwer zu finden. Stevenbilder waren nie funktional in dem Sinne, dass Leute sie kauften, weil sie sie so benutzen wollten, wie sie vielleicht eine Bratpfanne oder einen Aschenbecher benutzen könnten. Sie waren klein, dekorativ und billig. Als nette Bildchen verkörperten sie die Attribute des viktorianischen Zeitalters: Überlegenheit der britischen Technologie, behagliche Nostalgie und satte Sentimentalität. Folg-
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lich waren sie als kleines Geschenk oder zur Befriedigung der harmlosen, kleinen Wünsche der Hausfrau hervorragend geeignet. Als solche müssen sie den Kitsch ihrer Zeit repräsentiert und auf Leute mit kultiviertem Geschmack ebenso abstoßend gewirkt haben wie heute die TretchikoffReproduktionen oder Ananas-Eisbehälter aus Plastik. Es ist schon lustig, dass Individuen, die es einem Gartenzwerg niemals gestatten würden, eine Angelrute in ihren Lilienteich zu halten, ihre Geschmacksnerven durch eine Anhäufung von etwas kitzeln lassen, was nichts als die Gipsenten anno dazumal waren. Gegenwärtig gibt es, trotz der von Banausen, die ihren schlechten Geschmack kultivieren, geschaffenen Nachfrage, kaum einen Markt für gebrauchte Cocktailbar-Requisiten, Gipsenten und Gartenzwerge; und man kann annehmen, dass ähnliche Bedingungen für gebrauchte Stevenbilder vorgeherrscht haben, solange neue Exemplare leicht erhältlich waren. Ein typischeres Bild des Verfalls vom Vergänglichen zum Wertlosen (eines, das eine beträchtliche Abfolge von Transaktionen und das Eingreifen mehrerer Händler einschließt) liefert die Wertentwicklung eines relativ modernen Autos. Die folgende graphische Darstellung zeigt den Wertverlauf2 des Austin Countryman Estate, Zulassungsnummer 313 WBH.3
Abbildung 4: Karriere des Austin Countryman Estate mit der Nummer 313 WBH 2 Dieses Kapitel wurde 1972 geschrieben und ist, trotz einiger späterer Änderungen, eine kleine Zeitkapsel: die turbulente Ästhetik des »lebenslustigen London«, konserviert in Aspik. ie Details sind einem Artikel in der Zeitschrift des englischen Automobilverbandes Drive 3 D (Herbst 1971) entnommen.
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Das Interessante an diesem Schaubild ist, dass es Phasen im Kurvenverlauf gibt, bei denen sich der Trend zeitweilig umkehrt und der Wert für eine Weile zunimmt – obgleich der Trend offensichtlich genug ist: die unerbittliche Abnahme des Wertes gegen Null. Jeder dieser Umkehrpunkte stellt die Intervention eines Gebrauchtwagenhändlers dar. Der geringere Preis ist der, den er für das Auto bezahlt (ein durch Glassʾs Guide, die nur per Abonnement erhältliche Gebrauchtwagentabelle, praktisch festgelegter Preis), und der höhere der, den er beim Verkauf erzielt. Der Profit des Händlers beläuft sich nicht unbedingt auf die ganze Differenz, da er die Kosten für gewisse »Verbesserungen« enthalten mag, wie zum Beispiel das Überholen der mechanischen Teile oder eine Neulackierung. Der Profit eines der Händler, desjenigen nach der ersten Eigentumsübertragung, ist recht bemerkenswert, als es ihm gelang durch eine Ausgabe von wahrscheinlich nicht mehr als 40 ₤, das Auto um 200 ₤ mehr zu verkaufen, als er selbst dafür bezahlte, und für 100 ₤ mehr, als es neu gekostet hatte. Das wurde erreicht durch Befolgen des Rates aus der Anzeige in The Times (»Es kommt nicht darauf an, was Sie sagen, sondern wie Sie es sagen«) und durch Änderung der Kategorien-Zugehörigkeit des fraglichen Gegenstandes, in diesem Falle dadurch, dass ein Kombi aus der Kategorie »Familienlimousine« durch den Einbau eines Schiebedaches und der Neulackierung des Daches in einem »schnellermachenden« Schwarz in die Kategorie »Sportwagen« befördert wurde. Andere beachtenswerte Punkte sind der durch den Übergang von »neu« zu »gebraucht« automatisch herbeigeführte Wertverlust und die Richtigkeit des Rates: »Umgehe den Zwischenhändler«. Der überzeugendste Beweis dafür, dass die Kategorie des Mülls, in der sich das Stevenbild zwischen 1881 und 1960 befand, tatsächlich eine verdeckte Kategorie ist, ergibt sich aus der Tatsache, dass, wenn man sich die Geschichte des Stevenbildes während dieser Zeit näher ansehen wollte, eine solche gar nicht aufzufinden ist. Wenn Müll immer verborgen ist, weil wir zu allen Zeiten ziemlich erfolgreich bestrebt sind, seine Existenz zu leugnen, dann kann sein Fehlen im historischen Protokoll, selbst in der Aufmachung des ehrwürdigen lateinischen »detritus«, nicht überraschen. Die Situation wird allerdings etwas komplizierter, wenn man vom Besonderen zum Allgemeinen übergeht: Die Produktion des Dick-Turpin-Stevenbildes wurde 1881 zwar eingestellt, doch andere Stevenbilder wurden bis weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein produziert, und deren Produktion kam erst dann vollständig zum Erliegen, nachdem die Stevens-Fabrik im November 1940 bei einem Luftangriff total zerstört wurde. Diese Zerstörung der Produktionsmittel ist jedoch äußerst bedeutsam: Sie hilft uns den Wendepunkt zu bestimmen, der den Übergang von Müll zu »dauerhaft« markiert. Sie entspricht dem Tod des großen Künstlers, der dem ökonomischen Wert seiner Arbeiten oft einen nützlichen Auftrieb verleiht, oder dem Verlust der Kenntnis bestimmter Verfahrensweisen, zum Beispiel wie man im Mittelalter Buntglas hergestellt hat, oder der Phylloxera-Epi-
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demie, die die Weinberge im Europa der 1870er Jahre heimsuchte und die schließlich zu den unglaublich hohen Preisen führte, die für die wenigen, heute noch genießbaren Exemplare der Vor-Phylloxera-Jahrgänge von genügend hoher Qualität bezahlt werden.4 Das Absinken der Dick-Turpin-Bilder in die Müllkategorie war ein Prozess, der sich wahrscheinlich bei allen anderen Stevenbildern wiederholte. Da sich deren Produktion aber über einen Zeitraum von fünfzig Jahren oder mehr erstreckte, können wir die Wertentwicklung der Stevenbilder im Allgemeinen in graphischer Form nicht sehr genau darstellen, denn einzelne Bilder befanden sich schon seit Jahrzehnten in der Müllkategorie, bevor andere überhaupt erst in Umlauf gelangten. Einen gewissen Hinweis auf die »Unsichtbarkeit« der Stevenbilder während der Zeit ihrer Zugehörigkeit zur Kategorie des Mülls erhält man, wenn man die bekannten, auf sie Bezug nehmenden Presseberichte und verschiedenen Artikel und Bücher und auch die Anlässe, bei denen sie »relevant«5 gemacht, das heißt, besonders ins Auge fallend zur Schau gestellt wurden (zum Beispiel auf Handelsmessen oder in Kunstgalerien), in einer Liste zusammenfasst. Eine derartige Auflistung muss zwangsläufig unvollständig bleiben, aber dennoch macht sie eine chronologische Abfolge von Interesse, Desinteresse und Interesse deutlich erkennbar. Die allererste Gelegenheit, bei der Stevenbilder »relevant« wurden, war natürlich die Yorker Ausstellung von 1879. Diese war eine von mehreren kleineren Provinzausstellungen, die mit den großen internationalen Ausstellungen der viktorianischen Zeit wetteiferten. Thomas Stevens war in erster Linie daran interessiert, das große unternehmerische Vermögen, die technologische Innovation, zur Schau zu stellen, und seine Idee, seinen modifizierten Jacquard-Webstuhl in Aktion zu zeigen und hübsche, kleine Bilder produzieren zu lassen, war dafür bestens geeignet.
4 Z um Beispiel der Weltrekordpreis von 4661 ₤ für eine Riesenweinflasche Château Mouton Rothschild 1870, bezahlt auf einer Auktion von Sothebys, die am 21. November 1972 in telefonisch miteinander verbundenen Verkaufsräumen simultan in Paris, London und Los Angeles durchgeführt wurde. 5 I ch entlehne diesen Neologismus (engl. »relevated«) von zwei Physikern, Bohm und Schumacher, die (in einer, soweit mir bekannt ist, nicht veröffentlichten Abhandlung) gewisse Widersprüche zwischen den formellen und informellen Sprachcodes von Bohr und Einstein erforschten. Ihr Argument ist, dass Wissenschaftler, wie auch wir alle anderen, die Dinge nicht mit dem nackten Auge sehen. Sie sind durch ihre Theorie oder Weltbilder prädisponiert, gewisse Dinge wahrzunehmen und andere nicht. Ändern sich Theorie oder Weltbild, so ändert sich auch die Art der Dinge, die wahrgenommen werden oder unbeachtet bleiben. Das heißt, es handelt sich um einen dynamischen Prozess. Sie verwenden den Begriff »relevate«, um zu beschreiben, auf welche Weise eine Theorie Dinge wahrnehmbar macht, und den Begriff »irrelevate«, um zu beschreiben, auf welche Weise andere Dinge in den Hintergrund gedrängt werden.
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In welchem Maße es ihm gelang, die Aufmerksamkeit des allgemeinen Publikums auf sein Unternehmen zu lenken, zeigt sich an den zahlreichen Pressereaktionen, der riesigen Zahl der während der Ausstellung verkauften Seidenbilder und den etwa neunzig Jahren wirtschaftlicher Existenz, deren sich die Thomas Stevens (Coventry) Limited als glückliche Fortzetzung dieses neuartigen Beispiels viktorianischer Publizität erfreute. In den darauffolgenden Jahren fuhr die Firma fort, für ihre Produkte zu werben, in der Presse, in Handelszeitschriften und besonders mit Hilfe der gedruckten Auf kleber, auf denen alle jeweils in Produktion befindlichen Stevenbilder aufgeführt waren. Diese wurden auf die Rückseite aller Seidenbilder geklebt und erinnern so an die kostenlose Werbung, die sich Autohändler erschleichen, indem sie am Rückfenster jedes Autos, das sie verkaufen, einen deutlich sichtbaren Auf kleber anbringen, etwa mit der Aufschrift: »Wieder ein neues Auto von Kutthroats aus Kilburn«. Trotz all dieser Anstrengungen sollte den Stevenbildern erst in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts und erst nachdem sie über zwanzig Jahre lang nicht mehr produziert worden waren, wieder so viel Aufmerksamkeit zuteil werden, wie während der Yorker Ausstellung: Eine heilsame Erinnerung daran, dass ein schönes Ding (höchstens) zwei Wochen lang Freude macht. (Nur ein schönes Ding, das in die Kategorie des Dauerhaften gerät, kann für immer eine Freude sein.) Um uns die Einstellung (oder deren Fehlen) gegenüber Stevenbildern während ihres langen Verweilens in der Müllkategorie zu vergegenwärtigen, sind wir gezwungen, den persönlichen Erinnerungen derjenigen zu vertrauen, deren Gedächtnis so weit in die Vergangenheit zurückreicht, dass sie sich noch an die Tage erinnern können, bevor Stevenbilder in den Auktionsräumen des Londoner West End versteigert wurden, und möglicherweise sogar an die Tage, als neue Stevenbilder in einem anderen Milieu verkauft wurden, zum Beispiel von Zeitungshändlern oder vom Heiße-Kartoffeln-Verkäufer Charlie Satchwell an seinem Stand vor dem Whitmore-Head-Gasthaus in Hexton. Darauf, dass es keinerlei Nachfrage für gebrauchte Stevenbilder während dieser Periode gab, weist der Antiquitätenhändler Godden hin, Teilhaber der alteingesessenen Firma Goddenʾs aus Worthing. Neben seinem Interesse für Antiquitäten im Allgemeinen hat er ein besonderes Interesse für Stevenbilder entwickelt und ist ein zugleich scharfsichtiger Sammler, hervorragender Händler und eine führende Autorität auf dem Gebiet dieser gewebten Seidenbilder geworden. Über die Entwicklung des gegenwärtigen Interesses an Stevenbildern äußert er sich folgendermaßen: »Als Teilhaber eines Familien-Antiquitätengeschäftes weiß ich aus eigener Erfahrung, dass mein Großvater nicht das geringste Interesse an Stevenbildern hatte – was nicht überraschend ist, wenn man bedenkt, dass er zu einer Zeit Antiquitä-
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tenhändler war, als einige dieser Seidenbilder noch hergestellt wurden. Auch mein Vater hatte vor dem Zweiten Weltkrieg keinerlei Interesse an ihnen, und als er sich in den vierziger Jahren auf den Export, hauptsächlich in die Vereinigten Staaten, zu spezialisieren begann, war wiederum kein Interesse an solchen Dingen wie Stevenbildern vorhanden.«6 Über die Dinge aus der viktorianischen Zeit im Allgemeinen sagt er: »(...) es kann mit Recht gesagt werden, dass es bis in die fünfziger Jahre kaum ein Interesse an viktorianischen Gegenständen gab. Sie erregten wenig Sympathie und wurden oft lächerlich gemacht.« 7 Seine eigenen Erfahrungen hinsichtlich der Entwicklung des Stevenbilder-Marktes in den sechziger Jahren rekapituliert er wie folgt: »Während der fünfziger Jahre (...) hatten wir einige Exemplare auf Lager, die wahrscheinlich als Bestandteile gemischter Partien auf Verkaufsauktionen gekauft worden waren. Ich erinnere mich, dass sie viele Jahre lang nicht zu verkaufen waren. Niemand zeigte auch nur das geringste Interesse an ihnen, bis eines Tages in den frühen sechziger Jahren ein amerikanischer Käufer die fünf oder sechs, die wir hatten, erwarb. Ich kann mich jedoch nicht genau erinnern, ob mein Vater ihn dazu überredet hatte, sie zu kaufen, denn dieser Amerikaner war ein langjähriger Freund (...). Wenn mein Vater ihm empfahl, einen bestimmten Artikel zu erwerben, tat dieser das selbst dann, wenn der Artikel nichts mit seinem eigenen Tätigkeitsfeld zu tun hatte. Nachdem wir unseren »Bestand« an Stevenbildern verkauft hatten, hörten wir nichts mehr von ihnen, und ich zog den Schluss, dass unsere Empfehlung auf steinigen Boden gefallen war. Ungefähr ein Jahr später jedoch bat uns unser Freund in einem Brief, ihm »mehr von diesen kleinen Seidenbildern, die Sie mir vor einiger Zeit verkauft haben« zu schicken. Überflüssig zu sagen, dass ihre wachsende Beliebtheit sich in der Zwischenzeit herumgesprochen hatte, begleitet von einem entsprechenden Preisanstieg.« 8 Mein zweites anekdotisches Beweisstück beruht auf meiner eigenen persönlichen Erfahrung. Als Kind war ich fasziniert von den Seidenbildern mit dem Dick-Turpin-Motiv und dem London-Yorker Postkutschen-Motiv, die in kleinen gotischen Rahmen auf der Hintertreppe des Hauses meiner Eltern hingen, und ich kann mich erinnern, dass ich meine Großmutter über sie ausfragte und be6 Godden, a.a.O., S. 28. 7 Ebenda, S. 27. 8 Ebenda, S. 29.
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sonders, dass ich wissen wollte, wie sie gemacht worden waren. Meine Großmutter, eine respekteinf lößende alte Dame, die immer Jet-Perlen und eine goldene Lorgnette an einem schwarzen Seidenband trug und sich mit Hilfe eines Ebenholzstockes fortbewegte, war die Witwe eines Schaffarmers aus Northumberland. Wahrscheinlich war ihre Reaktion für die Auffassungen der Mittelschicht in den frühen Jahren dieses Jahrhundert ziemlich typisch. Sie bemühte sich nur wenig, mein Interesse an Stevenbildern anzuregen, und erklärte kurz, ihre Eltern hätten sie als Erinnerung an den Besuch der Yorker Ausstellung gekauft. Sie seien auf einer Maschine gewebt worden, sagte sie verächtlich, und folglich uninteressant. Wenn sie nur ein oder zwei Jahre früher gemacht worden wären, bevor die Maschine erfunden wurde, betonte sie (irrtümlicherweise), wären sie von Hand gewoben worden und Gegenstände von sowohl ästhetischem als auch finanziellem Wert. Die Einstellung meiner Mutter ähnelte der meiner Großmutter, und das Überleben der Stevenbilder bis auf den heutigen Tag ist nur einer Kombination aus Trägheit und Glück zuzuschreiben. Bei verschiedenen Gelegenheiten standen sie kurz davor, hinausgeworfen zu werden, und ich vermute, dass nur meine kindliche Anhänglichkeit sie davor bewahrte. Im Schlusskapitel dieser Familiengeschichte stellt sich heraus, dass meine Urgroßeltern die Ausstellung in York ganz kurz nach deren Eröffnung besucht haben müssen, denn ihre Stevenbilder gehören zu den extrem seltenen Stücken, die Dick Turpin ohne den Wegweiser »To York« und im frühen Passepartout mit dem achtzeiligen Gedicht und die London-Yorker-Postkutsche mit dem Wortlaut »Stage-coach« anstelle von »Royal Mail Coach« im Titel und der Inschrift »Manufactured in York Exhibition 1879« in der linken unteren Ecke zeigen, während spätere Versionen des Passepartouts die viel allgemeinere Aufschrift »Woven in the York Exhibition« tragen. Sie sind nun versichert, mit neuen Rahmen versehen und von ihrem unbedeutenden Platz auf der Hintertreppe ins Licht der Eingangshalle gebracht worden. Ihr Transfer von der Müllkategorie in die Kategorie des Dauerhaften ist damit vollzogen. Wenn wir uns der Endphase dieses Vorgangs, dem Übergang vom Müll ins Dauerhafte, zuwenden, können wir anhand der Ausstellungen und Publikationen deutlich erkennen, auf welche Art und Weise Stevenbilder wieder »sichtbar« wurden und wie ihnen ihr zunehmender Wert zu wachsender Beachtung verhalf, zuerst in kurzen Artikeln in Sammlerzeitschriften und später, substantieller und endgültiger, in Buchform. Sehr bezeichnend ist, dass schon die Form der den Stevenbildern gewidmeten Literatur den Wandel erkennen lässt, der ihrem Übergang entspricht, denn von der frühen Phase der Vergänglichkeit zur späteren der Dauerhaftigkeit bewegen wir uns vom kurzlebigen und disponiblen Journalismus zur ausdauernden und kumulativen Forschung; vom Bericht über die Neuigkeit, die am nächsten Tag schon vergessen sein kann, zum sorgfältigen Läutern, Neubeurteilen und Auf bauen auf dem Vorausgegangenen; der Journalist kann nur mit seinem Namen unterzeichnen, der Gelehrte jedoch eine Bibliographie hinzufügen.
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Obwohl, wie wir gesehen haben, der Markt für Stevenbilder erst in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts entstand, erschien der erste wissenschaftliche Artikel über sie beinahe dreißig Jahre früher, als Mary Dunham im »Antiques Magazine« vom März 1933 »A Check List of Stevens« Silk Picturesʾ veröffentlichte. Dieses Magazin wurde in New York herausgegeben, und die Wertschätzung von Stevenbildern in den Vereinigten Staaten ist dem Interesse in Großbritannien immer etwas voraus gewesen. Es scheint fast, dass dies allgemein der Fall war: Zum Beispiel haben die Jagd- und Tierbilder von englischen Künstlern aus dem 18. und 19. Jahrhundert wie die von Stubbs, Herrings und Seymour in den Vereinigten Staaten einen viel besseren Ruf gehabt als in Großbritannien, und folglich haben viele den Atlantik überquert. Für diese Tendenz könnten verschiedene Gründe angeführt werden; der attraktivste scheint mir jedoch (da er auf die Überlegenheit der Alten Welt gegenüber der Neuen anspielt) der zu sein, dass die Vereinigten Staaten auf Grund ihrer viel kürzeren Geschichte über ein viel kleineres Repertoire an Müll als Europa verfügen, aus dem sie auswählen können. Eine andere Möglichkeit wäre, sie als ein Beispiel für das allgemeine Prinzip zu betrachten, dass der Prophet im eigenen Land nichts gilt. Der wahrscheinlichste und am wenigsten angenehme Grund ist jedoch der, dass die Macht der Vereinigten Staaten sehr viel größer als die Großbritanniens ist, dass die dauerhaften Dinge sich immer in den Händen der Mächtigsten befinden und dass, wenn eine Veränderung in den Machtverhältnissen eintritt, sich auch verändert, was als dauerhaft gilt.9 Wenn dies der Fall ist, dann besteht die einzige Verteidigung der Schwachen darin, Dauerhaftigkeit völlig abzulehnen oder dafür zu sorgen, dass ihre dauerhaften Dinge unveräußerlich sind – wie schottischer Nebel oder der Sonnenuntergang über der Bucht von Galway. Das ist leichter gesagt als getan. Der Beweis ist die Art und Weise, wie amerikanische und deutsche Käufer dem Liedtext zum Trotz (»You cannot buy Killarney«) einen großen Teil von Killarney aufgekauft haben, oder die Tatsache, dass die London Bridge nun einen künstlichen See mitten in der Wüste von Arizona überspannt. Der Übergang vom Müll zum Dauerhaften geschieht, anders als der Übergang vom Vergänglichen zum Müll, nicht allmählich, sondern abrupt. Der Übergang umfasst das Überschreiten zweier Grenzen; derjenigen, die das Wertlose vom Wertvollen trennt, und derjenigen zwischen dem Verborgenen und dem Sichtbaren. In der Versenkung verschwinden können Dinge allmählich, aber sichtbar 9 Z um Beispiel folgender Bericht in The Times, 12. März 1973: »Die indische Regierung hat festgestellt, dass eines ihrer größten Kunstwerke (die aus dem 12. Jahrhundert stammende Bronzestatue des in einem Ring von Flammen tanzenden Gottes Schiva aus dem Tempel des Dorfes Sivapura), das aus einem Hindutempel gestohlen wurde, sich nun in der Sammlung des amerikanischen Millionärs Norton Simon befindet. Durch die Vermittlung des indischen Botschafters in den Vereinigten Staaten ist ein Gentlemanʾs Agreement erreicht worden, das die Rückgabe garantiert.« Siehe auch Trevor-Roper, H. R.: The Plunder of the Arts in the Seventeenth Century, London 1970.
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werden sie mit einem Schlag. Damit ein Gegenstand diese Grenzen überschreiten kann, muss er anfangen, Wert zu erlangen, und er muss aus seiner Versenkung auftauchen. Er muss seinen zeitlosen Limbo verlassen, eine wirkliche und zunehmende Lebenserwartung erhalten, und da er sichtbar geworden ist, muss er auch seine verschmutzenden Eigenschaften aufgeben. Entweder ist ein Gegenstand unsichtbar oder sichtbar, ist zeitlos oder hat eine Lebenserwartung, ist verschmutzend oder rein, ist ein Schandf leck oder eine Augenweide. Wie kann also der Übergang bewerkstelligt werden? Insgesamt kann sich der Übergang unter bestimmten Umständen als Kette individueller kreativer Sprünge ganz glatt vollziehen. Wir wollen annehmen, dass zunächst ein Individuum sozusagen in einer plötzlichen Eingebung einen Gegenstand nicht als Müll, sondern als dauerhaft ansieht, und dass seinem Beispiel weitere folgen und immer mehr und mehr, bis schließlich alle übereinstimmend der Meinung sind, dass der Gegenstand dauerhaft ist. Von einem logischen Standpunkt aus betrachtet mag ein derartiger Kategorienwechsel ziemlich unwahrscheinlich sein, in der Praxis jedoch kommt er vor, wenn auch nicht ohne Hindernisse, Widerstände und Verwirrungen. Tatsache ist, dass Individuen ständig merkwürdige und exzentrische Bewertungen vornehmen, von denen die allermeisten nicht eine einzige weitere derartige Bewertung auslösen. Sie werden höchstens als Fessel empfunden, die sofort wieder zerrissen wird. Der Grund, warum wir dazu neigen, diese gärende Masse widersprüchlicher und bedrohlicher Bewertungen nicht zu sehen, ist der, dass wir die meiste Zeit unvermeidlich jener massiven Majorität angehören, deren Hauptsorge es ist, solche Möglichkeiten dadurch zu unterdrücken, dass sie sich einfach weigert, ihre Existenz anzuerkennen. Am einen Ende dieses breiten Mittelfeldes exzentrischer Bewertungen, die einfach durch Ignorieren unterdrückt werden, befinden sich die wenigen, denen es gelingt sich durchzusetzen, und am anderen Ende befinden sich jene, die als so störend und bedrohlich empfunden werden, dass sie nicht nur unterdrückt werden, sondern dass für ihre Unterdrückung speziell gesorgt werden muss. Jene Individuen zum Beispiel, die gewisse Körperausscheidungen ungewöhnlich positiv bewerten und die Schubladen ihrer Kommoden mit sauber verschnürten Päckchen ihrer eigenen Exkremente füllen, dürften nicht einfach ignoriert, sondern eindeutig als geisteskrank eingestuft werden. Aus der umfangreichen Skala möglicher Werttransformationen wird also nur ein winziger Bruchteil tatsächlich akzeptiert. Wenn man sich diese Transformationen genauer ansieht, stellt man fest, dass sie durch eine kumulative Abfolge exzentrischer Bewertungen bewirkt werden, die mit wachsender Zahl zunehmend ihren ausgefallenen Charakter verlieren. Die menschliche Lebensspanne und die Zeit, die ein Gegenstand benötigt, um von der Kategorie des Vergänglichen über die des Mülls in die Kategorie des Dauerhaften zu gelangen, haben eine vergleichbare Größenordnung, und das
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erleichtert nicht nur den Wechsel von Müll zu dauerhaft (da diejenigen, für die er nicht akzeptabel ist, wegsterben), sondern erschwert auch unser Verständnis dieses Wechsels. Zum Beispiel herrscht jetzt allgemeine Übereinstimmung darüber, dass Chippendale-Stühle dauerhaft sind, und es ist unwahrscheinlich, dass jemand, der diese Ansicht äußert, von Erregung gepackt oder von anderen wegen seiner Originalität bewundert oder verachtet wird. Doch als sie neu waren, waren Chippendale-Stühle vergänglich – gute Qualitätsstühle zum Daraufsitzen –, und der arg mitgenommene Zustand, in dem sich diejenigen, die überdauert haben, oft befanden, ist ein Beweis dafür, dass sie von ihren Besitzern als vergänglich behandelt wurden. Verfall, Veralten und Modewechsel sorgten für die Verminderung ihres Werts und ihrer erwarteten Lebensdauer, die für vergängliche Gegenstände charakteristisch sind, und indem sie aus den viktorianischen Salons in den zeitlosen Limbo der Mansarden der Dienstboten verbannt wurden, traten sie in die Müllkategorie ein. Die wenigen Exzentriker, die diese Müll-Stühle zuerst entdeckten, sie »sahen«, in ihre Empfangszimmer stellten und ihre ästhetischen Qualitäten rühmten, sind die ersten Glieder in der langen Kette individueller kreativer Sprünge und müssen ihren gesetzteren Zeitgenossen so abgedreht vorgekommen sein wie heute der Sammler von Festival-of-Britain-Ephemera oder der Umweltschützer, der sich dafür einsetzt, die Gestaltung eines öden und verlassenen Schlackenhaufens durch einen Landschaftsarchitekten zu verhindern.10 An einem bestimmten Punkt dieser Abfolge individueller kreativer Sprünge erlangen die ästhetischen Urteile so viel Gewicht, dass ein Markt entsteht. Das wird zunächst ein höchst unvollkommener Markt sein. Verkäufer sagen sich: »Das werde ich nicht wegwerfen, ich könnte es vielleicht ebenso gut verkaufen.« Und Käufer bieten schließlich dem Besitzer einen bestimmten Betrag dafür an. Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass man jemals in der Lage sein wird, auf einen genauen Zeitpunkt oder eine bestimmte Transaktion hinzuweisen und zu sagen, dann und dort ist der und der Gegenstand dauerhaft geworden. Wir haben gesehen, dass sich im Falle der Stevenbilder diese anfänglich höchst unvollkommene Marktsituation in den frühen 1960er Jahren in England ergab. Die Nachfrage, die bis dahin kaum entwickelt war, kam zuerst aus den Vereinigten Staaten, so dass man annehmen kann, dass der Markt dort etwas früher entstand. Wir können das Jahr 1960 als den Wendepunkt betrachten und alle positiven ästhetischen Bewertungen in der Müll-Phase vor diesem Zeitpunkt als exzentrisch bezeichnen.
10 Ich erhebe nicht den Anspruch, hier zu erklären, wie Geschmack sich bildet; vielmehr handelt es sich um eine vorsichtige Beschreibung dieses Prozesses. Wollte man eine Theorie der Geschmacksbildung aufstellen, so müsste man die Umstände, unter denen exzentrische Bewertungen akzeptiert werden, vollständig schildern oder, bescheidener, zeigen können, in welchem Umfang es möglich ist, diese Umstände zu spezifizieren.
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Wie sich vermuten lässt, gibt es kaum umfangreiches historisches Material zu den Aktivitäten dieser Exzentriker. Die erste schriftliche Aufzeichnung ist Mary Dunhams Artikel im »Antiques Magazine« im Jahre 1933, was insofern recht bemerkenswert ist, als zu jener Zeit die Stevenbilder noch produziert wurden und noch ungefähr dreißig Jahre verstreichen sollten, bis sie schließlich aus der MüllKategorie heraustraten. Frau Dunham hatte schon einige Jahre, bevor sie ihren Artikel veröffentlichte, angefangen, Stevenbilder in England zu sammeln, aber in jenen Tagen entwickelten sich die Dinge langsam, und erst 1937 gesellte sich ein Exzentriker-Kollege zu ihr, Lewis Smith, der Jahre später, im Oktober 1965, Gründer und Präsident der Stevengraph Collectorsʾ Association werden sollte. Smith hatte ein Stevenbild, auf dem ein Pferderennen dargestellt war, als Geschenk erhalten und kurze Zeit später, während er sich auf seiner Hochzeitsreise in Nassau befand, weitere Stevenbilder entdeckt. Das veranlasste ihn, Nachforschungen anzustellen, in deren Verlauf er auf Mary Dunhams Artikel stieß. Er korrespondierte mit ihr und erwarb schließlich ihre Sammlung. Seitdem hat er eine Sammlung von Stevenbildern zusammengetragen, die als die schönste in der ganzen Welt gilt. Eine weitere amerikanische Sammlerin in diesen frühen Jahren war Wilma Sinclair Le Van Baker, die 1957 das erste Stevenbildern gewidmete Buch mit dem Titel »The Silk Pictures of Thomas Stevens« veröffentlichte. Ihr Interesse für Stevenbilder wurde typischerweise durch einen Zufall geweckt: Nachdem sie vier von ihnen im Haus ihres verheirateten Sohnes gesehen hatte, entdeckte sie kurze Zeit später vier weitere in einem Laden in Cape Cod und kaufte sie als Geschenk für ihre Schwiegertochter. Wie das aber zu einer Schwiegermutter passt, beschloss sie dann, sie doch nicht wegzugeben, sondern sie als Grundstock für ihre eigene Sammlung zu behalten. Eine englische Sammlerin, Therle Hughes, muss während dieser Zeit ebenfalls aktiv gewesen sein, da in ihrem 1962 veröffentlichten Buch »More Small Decorative Antiques« ein Kapitel Thomas Stevens, seinen Seidenbildern und seinen Lesezeichen gewidmet ist. 1959 veröffentlichte die Stadtbücherei Coventry ein kleines Büchlein von Alice Lynes, »Thomas Stevens and his Silk Ribbon Pictures«. Darin spiegelt sich das lokale Interesse an der Seidenindustrie wider, die immer mit Coventry verbunden war; gleichzeitig jedoch trug es dazu bei, die Stevenbilder in die Kategorie der Dauerhaftigkeit zu heben und ebnete so den Weg für die Schenkung der Stevens-Musterbücher an das Stadtmuseum. Das ist eigentlich schon alles, was über die Aktivitäten der exzentrischen Stevenbilder-Sammler bekannt ist, »es ist jedoch wahrscheinlich«, schreibt Godden, »daß es während der fünfziger Jahre einige kluge Leute gab, die sie (Stevenbilder) in aller Stille ihres dekorativen Reizes wegen sammelten, wenngleich derartige Käufer in der Minderheit waren und sich idealer Sammelbedingungen erfreut haben müssen – ein vorhandenes Angebot bei aufgrund allgemein fehlender Nachfrage nied-
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rigen Preisen.«11 Dies ist eine perfekte Beschreibung der Begleitumstände exzentrischer ästhetischer Bewertungen im Reich des Mülls. Erstens handelt es sich bei den Sammlern um eine kleine Minderheit, die, wie wir im Nachhinein erkennen können, »klug« waren, obwohl wenige zu der Zeit tatsächlich dieses Adjektiv verwendet hätten, um ihr Interesse zu bezeichnen. Zweitens sammelten sie Stevenbilder »in aller Stille« und wegen deren »dekorativen Reizes«, woraus ersichtlich wird, dass ihre Aktivitäten nicht bemerkt wurden und dass sie ihre Seidenbilder eher unter ästhetischen als unter ökonomischen Gesichtspunkten beurteilten, was nur dann zu erwarten ist, wenn es keinen Markt gibt und die Zugehörigkeit zur Müll-Kategorie verborgen ist. Und, was noch wichtiger ist, die Bilder werden mit keinem hohen ästhetischen Wert beladen – es ist ein vergnügliches und unbeschwertes Interesse –, die Objekte gelten eher als »dekorativ« und »reizvoll« denn als »schön« oder »ehrfurchtgebietend«. Drittens beschreiben diese idealen Sammelbedingungen – ein vorhandenes Angebot verbunden mit einer allgemein fehlenden Nachfrage – eine Situation, die nicht von Knappheit geprägt ist, mithin eine Situation, die jenseits der Bedingungen modernen Wirtschaftens liegt. Das System trat erst 1960 in den Knappheitsbereich ein, aber als das geschah, waren die Folgen spektakulär. In Abwandlung von Oscar Wilde kann man wohl sagen: Ein jeder zerstört oder verleiht dem, was er liebt, Dauerhaftigkeit. So konnten die köstlichen Zeiten, in denen der ästhetische Wert gering eingeschätzt und das unschuldige Vergnügen am dekorativen Reiz nicht durch den Schatten des Mammon verdunkelt wurde, nicht ewig dauern. Denn so wie Grays und Wordsworths Lobpreisung von Grasmeres »vollkommener Republik«, in der »keines Edelmannes protziges Haus [...] die Ruhe dieses [...] unvermuteten Paradieses [stört]«,12 praktisch den Bau der phantastischen Villen der Baumwollbarone und Toffeemagnaten herbeiführte, so mussten das harmlose Sammeln, das faszinierte Forschen und die aus Liebe entstandenen Veröffentlichungen der Stevenbilder-Liebhaber schließlich dazu führen, dass Stevens Seidenbilder ins Museum, in die Verkaufsräume und als Schutz vor der Inf lation in klimatisierte Tresore gelangten. Die erstaunliche Zunahme des Wertes der Stevenbilder von praktisch Null im Jahre 1960 auf acht Guineen 1963 und auf über 100 ₤ bis 1971 sowie einige der Ereignisse, die diese Entwicklung begleiteten und beschleunigten, sind bereits beschrieben worden. Am bedeutsamsten ist die rapide Entwicklung des Marktes, gefördert
11 Godden, a.a.O., S. 27. 12 W ordsworth beschreibt Grasmere als eine »vollkommene Republik von Schafhirten und Landwirten« und zitiert dann beifällig aus Grays Journal in the Lakes: »Nicht ein einziger roter Ziegel, keines Edelmannes protziges Haus oder Gartenmauer stört die Ruhe dieses kleinen, unvermuteten Paradieses; alles ist Frieden, ländliche Einfachheit und glückliche Armut im hübschesten und kleidsamsten Gewand.« Wordsworth, W.: A Guide Through the District of the Lakes, 5. Aufl., Neudruck London 1926, S. 67 und 70.
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zunächst durch amerikanische Händler in den frühen sechziger Jahren, die mit Hilfe von Anzeigen in Tageszeitungen und Zeitschriften nach Stevenbildern fahndeten (in denen sie auch erklärten, wie sie für Luftpostsendungen verpackt werden sollten, und dass die Rahmen wertlos seien und weggeworfen werden könnten), und später, im Dezember 1967, durch die erste, ausschließlich Stevenbildern gewidmete, von Knight, Frank and Rutley durchgeführte Auktion. Von da an fanden regelmäßig jeden Monat Auktionen statt, bei denen viele tausend Seidenbilder umgesetzt wurden und sich immer wieder neue Preis-»Rekorde« ergaben. Zum Beispiel: März 1967
The First Touch
52 ₤
April 1969
The Mersey Tunnel Railway
220 ₤
1969
Leda
290 ₤
Sept. 1969
View of Blackpool
520 ₤
Eine derartig schnelle Folge von Rekordbrüchen zog unvermeidlich die Aufmerksamkeit der Presse auf sich, und zahlreiche Artikel sowohl in Fachzeitschriften wie The Antique Finder, Collectorʾs Guide und Country Life als auch in den größeren Tages- und Wochenzeitungen – Daily Telegraph, The Times und Sunday Times – ließen die Literatur über Stevenbilder anschwellen. Entsprechend nahm der Umfang der den gewebten Seidenbildern gewidmeten Forschung, die Zahl der ernsthaften Sammler und der Organisationsgrad unter denen, die sammelten, erheblich zu. Neben den regelmäßigen Auktionen bei Knight, Frank and Rutley und dem Auftreten spezialisierter Händler kam es 1965 zur Gründung der Stevengraph Collectorʾs Association, wurde 1968 das Nachschlagewerk Stevengraphs von Austin Sprake und Michael Darby veröffentlicht und erschien 1971 das erstaunlich detaillierte 500 Seiten umfassende Nachschlagewerk »Stevengraphsʾ von Geoffrey A. Godden. Die Landschafts- und Porträtbilder werden in diesem Buch ziemlich erschöpfend behandelt, doch die Richtung und Entwicklung der zukünftigen Forschung wurde von Themen bestimmt, die bis dahin eine ziemlich oberf lächliche Behandlung erfuhren. So konnten wir mit der Veröffentlichung detaillierter Monographien über solche Dinge wie Stevensʾ Lesezeichen, Grants (die Seidenbilder eines konkurrierenden, weniger produktiven Fabrikanten), Postkarten und Seidenbilder von kontinentalen Herstellern rechnen. Der Zufall wollte es, dass Henry James Stevens (der Enkel von Thomas Stevens) in der Nacht, in der die Fabrik in Coventry bei einem Luftangriff zerstört wurde, eines der beiden in der Fabrik auf bewahrten Musterbücher mit nach Hause nahm. Die Fabrik wurde, ebenso wie die Nachbarhäuser von Henry Stevens Haus, völlig zerstört, und so hat, infolge des Zusammentreffens bemerkenswert glücklicher Zufälle, nur eine einzige, fast vollständige Serie der Seidenbilder ohne Passepartouts bis zum heutigen Tag überlebt.
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Die Existenz dieser Sammlung, die für die Forschung von unschätzbarem Wert war, muss so etwas wie eine Bedrohung für den Markt dargestellt haben, denn es bestand die Gefahr, dass sie, wenn sie zum Verkauf angeboten und auseinandergerissen worden wäre, einen Preissturz ausgelöst hätte. Ein solcher Effekt muss jedoch nicht in jedem Fall eintreten: Tatsächlich stimuliert das Auseinanderreißen einer besonders schönen Sammlung manchmal den Markt; dennoch müssen die Sammler, solange die Möglichkeit bestand, dass das Stevens-Musterbuch auf den Markt gelangte, ziemlich verunsichert gewesen sein. Nach dem Tod von Henry James Stevens im August 1960 wurde das Musterbuch jedoch dem Stadtmuseum von Coventry in Form einer Schenkung überlassen. Dass es damit für alle Zeiten aus dem Verkehr gezogen wurde und durch seine Zurschaustellung in einem Museum gleichzeitig den Status der Stevenbilder erhöhte, beseitigte jegliche Ungewissheit, die an den ängstlicheren Sammlern genagt haben könnte, und verlieh dem Markt einen Auftrieb, der auch dadurch nicht gebremst wurde, dass zwei wichtige Sammlungen auseinandergerissen wurden: die Nicoll-Sammlung im Oktober 1968 und die Austin-Sprake-Sammlung im September 1969. Verallgemeinernd lässt sich festhalten, dass der wachsende ökonomische Wert von Objekten, die in die Kategorie des Dauerhaften eingetreten sind, von einem wachsenden ästhetischen Wert begleitet wird. Als Folge davon ist eine Zunahme an Forschung und Wissen und der aus diesen Aktivitäten resultierenden gelehrten Veröffentlichungen zu erwarten. Gleichzeitig nimmt das Interesse der Museen zu, verbunden mit einer wachsenden Zahl von Erwerbungen entweder in Form von Ankäufen oder durch Hinterlassenschaften. Wie diese Manifestationen eines steigenden ästhetischen Wertes genau aussehen, variiert von Gegenstand zu Gegenstand. Häuser zum Beispiel werden zunächst in die Supplementary List aufgenommen, durchlaufen dann die verschiedenen Stufen historischer Gebäude und werden schließlich vielleicht vom National Trust erworben. Andere, weniger wünschenswerte Indikatoren dieses zunehmenden ökonomischen und ästhetischen Wertes sind die erste Reproduktion,13 die erste Fälschung, der erste geplante Raub, das erste Händlerkartell und die erste Verweigerung einer Exportlizenz. Nun mag es sein, dass die Geschichte der Stevenbilder, obwohl sie ein hübsches Demonstrationsobjekt für die Mülltheorie darstellt, auch dazu angetan ist, die essentiell triviale Natur dieser Theorie zu unterstreichen. Schließlich bleibt das Sammeln von Stevenbildern, anders zum Beispiel als der Kohlenbergbau, eine ziemlich esoterische Beschäftigung, und die meisten Leute kommen recht gut durchs Leben, ohne sich je auch nur der Existenz dieser Theorie bewusst zu sein. Dennoch wäre es ein Fehler, diesen verlockenden Fluchtweg zurück in die Welt des 13 1 974 kaufte ich eine Glückwunschkarte, eine Reproduktion des frühen Stevenbildes »For Life or Death. Heroism on Land«, auf der eine von Pferden gezogene Motorspritze zu einem brennenden Haus eilt (Godden, S. 141).
2. Stevenbilder – der Kitsch von gestern
beruhigend Vertrauten und der scheinbar wichtigeren Angelegenheiten zu wählen. Denn es ist eine Tatsache, dass Weltbilder einem Dauertest im Feuer des sozialen Handelns ausgesetzt sind. Wir handeln in vielen, sich häufig überschneidenden Situationen, und diese Überschneidungsbereiche erzwingen ein gewisses Maß an Übereinstimmung zwischen den verschiedenen Fragmenten der Weltbilder, mit Hilfe derer wir die unterschiedlichen Situationen bewältigen. Daraus folgt, dass es ein triviales Beispiel nicht geben kann und dass keine Sache wichtiger als eine andere ist; denn man gelangt immer an einen Punkt, an dem Kultur unteilbar ist. Die Stevenbilder gelangten in die Kategorie der Dauerhaftigkeit nur wenige Jahre vor dem großen Aufschwung des Interesses für Frauenrechte. Könnte es sein, dass die an diesem Kategorienwechsel beteiligten subtilen kulturellen Kontrollen nur ein Beispiel für das sind, was heute als unerträgliches Maß männlicher Herrschaft betrachtet wird? Und könnte die Tatsache, dass diese Kontrollen jetzt sichtbar sind – die Tatsache, dass ich jetzt in der Lage bin, sie in gewisser Weise zu beschreiben –, bedeuten, dass sie nicht mehr voll wirksam sind? Denn ist es für die Wirksamkeit solcher Kontrollen nicht von grundlegender Bedeutung, dass sie unsichtbar bleiben, dass die kulturellen Kategorien, mit deren Hilfe sie wirksam werden, uns als ganz natürlich und so wenig wahrnehmbar erscheinen wie die Luft, die wir atmen? Hat vielleicht eine Verschiebung von Frauen zu Männern stattgefunden, parallel zum Wechsel der Stevenbilder aus der Müllkategorie in die Kategorie des Dauerhaften? Es gibt dafür keinen schlüssigen Beweis. Doch sicher ist, dass in den frühen Tagen das Sammeln von Stevenbildern, genauso wie das Stricken, eine weitgehend weibliche Beschäftigung war. Die großen Namen sind Mary Dunham, Wilma Sinclair Le Van Baker, Therle Hughes und Alice Lynes. Mit fortschreitender Transformation gelangen die Stevenbilder jedoch immer mehr unter männliche Kontrolle: Zum Beispiel kauft Lewis Smith die Sammlung von Mary Dunham, die maßgeblichen Bücher werden von Männern geschrieben und die monatlichen Auktionen bei Knight, Frank and Rutley liegen in den fähigen Händen von Herrn J. E. Guy. Es hat den Anschein, als seien Frauen mit Hilfe eines doppelten Mechanismus von der Dauerhaftigkeit ausgeschlossen worden. Von Frauen kontrollierte Gegenstände gelangten in die Kategorie des Dauerhaften, indem ihre Kontrolle auf Männer übertragen wurde; wo aber diese Übertragung der Kontrolle nicht erfolgte, fand auch der Übergang von Müll zum Dauerhaften nicht statt. Soviel zur Weiberherrschaft! Frauen sind von der Dauerhaftigkeit ausgeschlossen worden, so wie sie auch von der Aktienbörse und der großen Kunst ausgeschlossen wurden.14 14 E in Beispiel, in dem Frauen mit Journalismus und Vergänglichkeit in Verbindung gebracht werden (und, implizit, Männer mit Gelehrsamkeit und Dauerhaftigkeit), liefert der vom größten aller männlichen Chauvinisten, Mick Jagger, gesungene Reim: »Who wants yesterday«s papers? Who wants yesterday’s girl?”
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3. Rattenverseuchter Slum oder ruhmreiches Erbe?
Zwischen 1966 und 1971 wohnte ich in Nord-London und arbeitete als Zimmermann für ein kleines (jetzt bankrottes) Bauunternehmen. Wie alle meine Kollegen übernahm ich Schwarzarbeiten, indem ich hier einen gusseisernen Kamin mit Marmoreinfassung installierte oder dort eine georgianische Heizungsverkleidung baute, die die gasbetriebene Zentralheizung verbergen sollte. Im Wesentlichen bestand unsere Arbeit darin, heruntergekommene frühviktorianische Handwerkerhütten in schicke Behausungen für Observer-Journalisten zu verwandeln, und wir waren unerlaubterweise alle in die frühen Phasen eines Prozesses verwickelt, der seitdem »Wohnraumveredelung« (gentrification) genannt worden ist. »Zimmermann« ist vielleicht ein zu großartiger Titel für meine Aktivitäten als Holzarbeiter, die ich mit meinen planlosen Bemühungen zur Erlangung des philosophischen Doktorgrades an der Universität London halbwegs in Einklang zu bringen versuchte. Und gerade diese Kombination, am Morgen im Schmutz verstopfter Kanalisationen der Keller von Ripplevale Grove zu waten und am Nachmittag an Seminaren des University College über kognitive Ökonomie teilzunehmen, verhalf mir zu der Einsicht, dass selbst ein so wesentlicher Teil der Wirtschaft wie der Wohnungsbau genau der gleichen sozialen Dynamik unterworfen ist wie ein Bakelit-Aschenbecher. Die Arten von Gesellschaften, die traditionell von Anthropologen untersucht werden, verfügen nur in sehr geringem Maße oder gar überhaupt nicht über eine schriftlich aufgezeichnete Geschichte, und dies bedeutet, dass es den Anthropologen, als sie anfingen, sich mit der westlichen Gesellschaft zu befassen, schwergefallen ist, historische Aufzeichnungen zu berücksichtigen. Das ist nicht weiter überraschend, da sie mit einem Instrumentarium arbeiten, das speziell für Situationen entwickelt wurde, in denen es derartige geschichtliche Unterlagen nicht gibt. Lassen Sie mich versuchen, Wiedergutmachung zu leisten (und meine Argumentation zu untermauern), indem ich wenigstens ein historisches Beispiel an den Anfang stelle: die Packington-Street-Affäre. Das Packington-Viertel in Islington in Nord-London bestand aus einer langen Straße frühviktorianischer Reihenhäuser, Packington Street genannt, und aus einer Anzahl kleinerer Straßen mit ähnlichen Häusern sowie der einen Seite
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eines großen gartenartig angelegten Platzes, des Union Squares. Der Gemeinderat beschloss, dass dieses Viertel abgerissen und durch einen Komplex moderner Sozialwohnungen ersetzt werden sollte. Wie gewöhnlich verstrich zwischen Entscheidung und Durchführung viel Zeit, und die Häuser waren infolge von Planungsfehlern dem Verfall preisgegeben. Doch war ihr Zustand immer noch so gut, dass eine (weitgehend aus Angehörigen der Mittelschicht bestehende) Interessensgruppe gegen ihren Abbruch kämpfte. Sie behauptete, die Häuser seien strukturell gesund, benötigten nur Modernisierung, Badezimmer in den rückwärtigen Anbauten usw. und seien architektonisch und historisch wertvoll. Die Kontroverse griff immer weiter um sich und erreichte schließlich den damaligen Wohnungsbauminister Richard Crossman. Er entschied sich für den Abbruch. In seiner Rede, in der er diesen Entschluss mitteilte, sagte er: »Diese rattenverseuchten Slums müssen abgerissen werden. Alte Reihenhäuser mögen einen gewissen snobistischen Reiz für Mittelschichtangehörige haben, aber für Mieter aus der Arbeiterschicht sind sie keine geeignete Unterkunft.« Dieser erstaunlichen Erklärung (er war Mitglied einer Labour-Regierung) können wir Crossmans Definition von Slum entnehmen, die etwa folgendermaßen lautet: »Ein altes Gebäude, das, von Angehörigen der Mittelschicht bewohnt, Bestandteil unseres ruhmreichen Erbes ist, ist ein rattenverseuchter Slum, wenn es von Mitgliedern der Arbeiterschicht bewohnt wird.« Mr. Crossman würde also meiner These zugestimmt haben, dass Slums gesellschaftlich determiniert sind und dass solche physischen, physiologischen und wirtschaftlichen Überlegungen wie geringer Lebensstandard, das Fehlen öffentlicher Dienste und Einrichtungen, Gesundheitsschädlichkeit, Feuchtigkeit, unzureichendes Licht, mangelhafte Küchenausstattungen, Überbelegung und große Brandgefahr einer realen Grundlage zwar nicht entbehren, aber im Wesentlichen die Nebenprodukte eines verdeckten sozialen Prozesses sind. Sie sind die Wirkungen, nicht die Ursache. Es entspricht einer allgemein verbreiteten Denkweise, dass ein neues Haus eine bestimmte Lebensdauer und einen bestimmten, ziemlich hohen, Wert habe; dass die Lebensdauer mit der Zeit abnehme und desgleichen sein ökonomischer Wert; und dass am Ende der erwarteten Lebensdauer der Wert des Hauses praktisch auf Null sinke, es abgerissen und durch ein neues Haus ersetzt werde und der ganze Prozess von neuem beginne. Hinter dieser Fassade des gesunden Menschenverstandes ist jedoch ein verborgener sozialer Prozess am Werk. Wenn wir sagen, dass jene Häuser mit einer begrenzten Lebensdauer und abnehmendem ökonomischen Wert sich in der Kategorie des Vergänglichen befinden und jene mit abgelaufener Lebensdauer und Null-Wert (ausgenommen Grundstücks- und Materialwert) der Müll-Kategorie zuzurechnen sind, dann können wir erkennen, dass es eine dritte Kategorie gibt, nämlich die Kategorie des Dauerhaften. Was dieser Kategorie angehört, hat, dem gesunden Menschenverstand zum Trotz, eine im Idealfall unbegrenzte Lebens-
3. Rattenverseuchter Slum oder ruhmreiches Erbe?
dauer. Der Wert nimmt zu: Der Immobilienmakler nennt sie »Häuser im Zeitstil«, die unser »ruhmreiches Erbe« darstellen. Die euphemistische Terminologie des Maklers bestätigt die kulturelle Natur dieser Kategorien. Die vergänglichen Häuser werden als »neue« oder »zeitgenössische« oder »Nachkriegshäuser« bezeichnet, und wenn sie zufällig reihenhausförmig gebaut sind, werden sie »Stadthäuser« genannt, um jede wertmindernde Verwechslung mit den Müll-Häusern zu vermeiden, die euphemistisch als »Reihenhäuser älteren Typs« umschrieben werden. Allerdings gehören auch Ökonomen zur Gruppe derjenigen, die das Thema Häuser mit dem gesunden Menschenverstand betrachten: »Häuser stellen eine der dauerhaftesten Formen von Kapital dar [...]. Was die rein materielle Dauer betrifft, so können Häuser Generationen überdauern, wenn sie vernünftig instand gehalten werden. Zugegebenermaßen verlieren sie jedoch schon früher an öffentlicher Wertschätzung, das heißt, sie veralten, wenn auch der Prozess des Veraltens ziemlich langsam vor sich geht.« 1 (Unglücklicherweise gehen hier die Begriffe etwas durcheinander. Indem der Ökonom »Häuser als eine der dauerhaftesten Formen von Kapital« beschreibt, meint er nicht, dass Häuser der Kategorie des Dauerhaften angehören, wie ich sie definiert habe. Er meint lediglich, dass der Wert von Häusern langsamer abnimmt als der der meisten anderen Dinge: dass sie wahrscheinlich länger halten. Im Übrigen rechnet der Ökonom alle Häuser meiner Kategorie des Vergänglichen zu, und indem er dies tut, akzeptiert er die allgemein verbreitete Ansicht, es gebe nur zwei Kategorien, die des Vergänglichen und die des Mülls. Wenn nun ein Haus von der Kategorie des Vergänglichen in die des Mülls übergeht, gerät es aus dem Gesichtsfeld des Ökonomen, es wird wertlos und steht nicht mehr für ein knappes Gut.) Der Ökonom geht hier von der Annahme aus, dass die erwartete lange Lebensdauer eines Hauses von den ihm innewohnenden physischen Eigenschaften herrührt: der Haltbarkeit von Backsteinen und Mörtel, von Fliesen und Stuck, von Holz und Glas; und dass sein Werdegang (sein allmählicher physischer und sozialer Verfall) das natürliche Ergebnis der reinen Abnutzung, des ständigen Gebrauchs und der verheerenden Wirkungen des Wetters ist. Dieser allmähliche »natürliche« Verfall, so lautet das Argument, ist begleitet und mag geringfügig beeinf lusst werden von einem parallelen Sinken in der öffentlichen Wertschätzung, herbeigeführt durch die Auswirkungen des Veraltens und die Launen der Mode.
1 Matthews, R. C. O.: The Trade Cycle, Cambridge 1959, S. 101.
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Der ganze Prozess und seine Interpretation erweisen sich als so offensichtlich und so selbstverständlich, dass es vielleicht ziemlich pedantisch scheinen mag, derartig ausführlich darauf einzugehen. Doch basiert die ganze, soeben dargelegte Auffassung auf den physischen Eigenschaften von Häusern, die aber, wie ich zeigen möchte, die Nebenprodukte und nicht die Determinanten des Prozesses sind. Die Erklärung muss also auf den Kopf gestellt werden. Nicht die den langlebigen Gebrauchsgütern innewohnenden Eigenschaften lassen auf gewissermaßen natürliche Weise dieses bekannte Verfallsmuster entstehen, vielmehr schreiben wir (oder besser gesagt die Ökonomen unter uns) Güter, die dieses Verfallsmuster aufweisen, der Kategorie »langlebige Gebrauchsgüter« zu. Ferner ist diese Dauerhaftigkeit nicht eine Folge innerer physischer Eigenschaften, sondern eine Folge des sozialen Systems. Eine adäquate ökonomische Theorie des Wohnens muss dem Mechanismus und den dynamischen Kräften dieses sozialen Prozesses Rechnung tragen. Damit will ich nicht sagen, dass die natürlichen Eigenschaften von Gegenständen überhaupt nichts mit diesem sozialen Prozess zu tun haben. Offensichtlich ist es viel leichter, einer soliden edwardianischen Bank mit Granitfassade Dauerhaftigkeit zu verleihen als einer strohgedeckten Hütte mit Wänden aus lehmverschmiertem Flechtwerk; doch entscheiden wir uns häufig für die schwierigere Alternative. Ebenso offensichtlich ist die logische Folge, dass jegliche natürliche Erklärung für eine solche, deutlich erkennbar unnatürliche Wahl zwangsläufig unzureichend ist. Zum einen verliert der natürliche Verfallsprozess etwas von seiner Natürlichkeit, wenn wir erkennen, dass die Tatsache, dass Gebäude Generationen überdauern, von einer »vernünftigen Instandhaltung« abhängig ist. Der Umfang der dafür erforderlich gehaltenen Ausgaben lässt sich allerdings nicht zwangsläufig aus den inneren physischen Eigenschaften des Hauses und seiner Umgebung ableiten. Der vernünftig erscheinende Instandhaltungsaufwand für ein Gebäude ist eine Funktion seiner erwarteten Lebensdauer, und seine erwartete Lebensdauer ist eine Funktion der kulturellen Kategorie, der jenes Gebäude zu einem bestimmten Zeitpunkt zugerechnet wird; wenn sich die Zugehörigkeit des Gebäudes zu einer bestimmten Kategorie ändert, werden sich auch seine erwartete Lebensdauer und die Höhe der für seine Instandhaltung vernünftig erscheinenden Ausgaben verändern. Zum Beispiel ist es angesichts der in jüngster Zeit erfolgten Spendenaufrufe und der lebhaften Reaktion der Öffentlichkeit darauf offensichtlich, dass die meisten unserer Mitbürger der Meinung sind, 2.000.000 ₤ seien eine vernünftige Ausgabe für die Erhaltung der St. Paul‘s Cathedral – dieser Betrag ist erforderlich, um zu verhindern, dass sie unter ihrem eigenen Gewicht zusammenbricht. Auf der anderen Seite würde es für unvernünftig gehalten werden, eine entsprechende Summe für einen heruntergekommenen Block viktorianischer Arbeiterunterkünfte in Limehouse auszugeben. Das kommt daher, dass die erwartete oder ideale oder erhoffte Lebensdauer von St. Paul‘s ungeheuer groß
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ist (mindestens weitere 500 Jahre), während die des Slum-Wohnblocks höchstens ein paar Jahre beträgt. Man könnte sagen, dass die »natürliche« Lebensdauer von St. Paul‘s künstlich verlängert, die des Slum-Wohnblocks künstlich verkürzt wird. Beide waren ursprünglich auf Dauer angelegt. St. Paul‘s Cathedral und die Industriewohnungen im East End befinden sich offensichtlich in ganz verschiedenen kulturellen Kategorien und unterscheiden sich dementsprechend hinsichtlich ihrer Lebensdauer und des für vernünftig erachteten Instandhaltungsaufwands. Die Auffassung des Ökonomen ist also nur so lange vernünftig, wie sich die erwartete Lebensdauer von Häusern nur in Abhängigkeit vom Zeitablauf verändert. Wenn wir aber feststellen können, dass ihre erwartete Lebensdauer auch von anderen Faktoren abhängig ist, wie zum Beispiel dem sozial bestimmten Wechsel zwischen verschiedenen kulturellen Kategorien, dann lässt sich die Auffassung des Ökonomen nicht mehr halten. Zum anderen ist das Sinken in der öffentlichen Wertschätzung, das normalerweise als unwesentliche soziale Begleiterscheinung des »natürlichen« Verfallsprozesses eines Hauses betrachtet wird, tatsächlich ein komplexer und zum Teil unbeeinf lussbarer Prozess. Und es sieht so aus, als sei der materielle Verfallsprozess ohnehin gar kein »natürlicher« Prozess, sondern eng mit kulturellen Kategorien und insbesondere mit der erwarteten Lebensdauer verbunden, die wir einem Haus zuschreiben. Mit anderen Worten, die anfängliche Trennung von natürlichen und sozialen Faktoren ist nicht aufrechtzuerhalten. Allgemein wird angenommen, dass das Sinken in der öffentlichen Wertschätzung – das heißt, das Veralten – dem natürlichen materiellen Verfall von Häusern zwar vorausgeht, dass es sich dabei jedoch um einen ziemlich langsamen Prozess handelt. Aber ist die Geschwindigkeit des Veraltens von Häusern eine Konstante oder eine unabhängige oder teilweise unabhängige Variable? Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir untersuchen, was Veralten eigentlich ist. Veralten ist das Ergebnis einer Wechselbeziehung zwischen der Gestalt des Gebäudes, die zur Zeit des Baus weitgehend festgelegt ist, und zwei Einf lussfaktoren, die sich im Zeitablauf ändern. Der eine davon ist die Technologie und der andere die Mode. Zum Beispiel musste in der Mitte des 18. Jahrhunderts der Eigentümer eines neuen Hauses in London feststellen, dass sein Besitz allmählich in zweierlei Hinsicht veraltete. Zum einen wurde sein Toilettensystem, das an eine Sickergrube im Keller angeschlossen und zur Zeit der Erbauung des Hauses völlig ausreichend war, nach der Erfindung von Alexander Cummings patentiertem Wasserklosett im Jahre 1778 und der Erfindung von Joseph Bramahs Wasserventilklosett im Jahre 1779 immer weniger attraktiv. Wie lange er auch an seinem Besitz festhalten mochte, sein Haus wurde nicht attraktiver, weil es anstelle eines modernen Badezimmers mit Bidets für sie und ihn nur primitive sanitäre Anlagen besaß. Das heißt, der technologische Fortschritt ist irreversibel und linear. Zum anderen musste er feststellen, dass der Stil der neueren Häuser sich von dem seines eige-
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nen Hauses zunächst ein wenig unterschied, diese Unterschiede dann aber größer und größer wurden. Schließlich musste er mit ansehen, wie die öffentliche Meinung sich von Häusern im Stil des seinen abwandte und die neueren Häuser insgesamt als moderner beurteilte. Aber angenommen, er und seine Erben hielten dennoch an ihrem Haus fest, dann konnten sie erleben, dass es, statt weniger und weniger begehrt zu sein, immer begehrter wurde – sein Baustil war wieder modisch geworden: Die Entwicklung der Mode ist zwar ebenfalls irreversibel, doch verläuft eindeutig nicht linear, sondern zyklisch. Technologische Entwicklung und Mode können in ganz unterschiedlichem Maße am Prozess des Veraltens beteiligt sein; manchmal dominiert die eine, manchmal die andere. Der Einf luss der technologischen Innovation wird wohl in jedem ökonomischen Lehrbuch ausführlich dargestellt, aber wo bleibt die Mode? Nun, die überlässt man am besten den Frauenzeitschriften. Mode wird als frivol, kurzlebig, vergänglich und irrational betrachtet. Sie ist kein Gegenstand, der wissenschaftliche Aufmerksamkeit verdiente, wohingegen das Seriöse, das Beständige, das Dauerhafte und das Rationale hoch geschätzt wird.2 Seriöses Denken tendierte lange Zeit dazu, vor allem über das Nützliche nachzudenken (zum Beispiel über die Lösung physischer und sozialer Probleme im Hinblick auf unfreundliches Wetter oder die Androhung von Gewalt) und die Frage der Mode zu vernachlässigen (zum Beispiel das Sich-Aufschaukeln kurzlebiger und unvorhersagbarer Bedürfnisse, die aus den Marotten Einzelner resultieren). Die Ökonomie bildet keine Ausnahme von dieser allgemeinen Regel; vielmehr hat sie eine ihrer ausführlichsten und überzeugendsten Formulierungen geliefert: Was für ein schrecklicher Abgrund tut sich hier im bisher so festen Boden unseres Verstehens auf, wenn wir zugeben müssten, dass wir vielleicht all diese Jahre genau das Verkehrte getan haben, dass wir, anstatt das Ewige und Unveränderliche zu untersuchen, die Launen des Geschmacks hätten studieren sollen! Mit dieser Möglichkeit im Hinterkopf wollen wir uns einen Platz in einem Randbezirk Nord-Londons ansehen. Der Platz existiert wirklich, aber da ich meine Quelle nicht verraten darf, muss er ungenannt bleiben. Wir befinden uns im Jahre 1965, und der Platz ist nicht mehr so, wie er einmal gewesen ist. Alles befindet sich im Fluss: Wenn man das Besondere beschreiben will, muss man immer Zeit und Ort angeben. Das Allgemeine jedoch ist zeitlos und universell: Es gibt andere ungenannte Plätze in Städten überall auf der Welt. Als die Häuser an jenem Platz neu waren, standen sie am Rande der Stadt, aus den rückwärtigen Fenstern konnte man grüne Felder sehen, und die majestätischen Platanen, für deren Erhaltung nun Anwohner-Vereinigungen organisiert werden, waren 2 Eine derartige, weitgehend unbestrittene Annahme lag in den sechziger Jahren übrigens auch der Weigerung zu Grunde, den Modekurs am Royal College of Art als akademische Disziplin anzuerkennen, während dieser Status allen anderen Kursen verliehen wurde.
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kleine Schösslinge. Der Platz war Bestandteil einer spätgeorgianischen und frühviktorianischen, von Spekulanten erbauten Vorstadt und stellte eine bescheidene Imitation älterer großer Plätze wie zum Beispiel Bedford Square und Belgravia im Zentrum Londons dar. Etwa um diese Zeit beobachtet Sir John Summerson eine gewisse Abnahme an Können und Geschmack, was besonders in den »entfernteren Gebieten wie Paddington, Chelsea und Islington, wo man mit einer weniger wohlhabenden Mieterschicht rechnete,«3 sichtbar wurde. Diese Häuser waren also, als sie neu waren, mäßig begehrt, mäßig teuer, für mäßig wohlhabende Mittelschicht-Familien entworfen, die auch dort einzogen: Familien in mittleren und gehobenen Stellungen in der Stadt, in auskömmlichen Beamtenpositionen in Westminster oder vielleicht leidlich erfolgreiche Händler, Kauf leute und Inhaber von größeren Geschäften. Während der nächsten hundert Jahre machten die Häuser an diesem Platz eine Entwicklung durch, die uns, nicht nur was Häuser, sondern auch was die ganze Spannweite der so genannten langlebigen Konsumgüter betrifft, so vertraut vorkommt, dass wir sie als Teil der natürlichen Ordnung der Dinge akzeptieren. Mit den Jahren nahm der materielle Wert der Häuser ab, die zudem im gleichen Maße nicht mehr dem sozialen Ansehen ihrer Bewohner entsprachen. Folglich ist es ziemlich schwierig, sich vorzustellen, wie ein Haus an diesem Platz im Jahre 1840, als es brandneu und erstmals angeboten wurde, in materieller und sozialer Hinsicht ausgesehen haben muss. Die Gebäude, der Anstrich usw. waren sicher in ausgezeichnetem Zustand, ebenso die öffentliche Anlage im Zentrum. Der soziale Standard der Häuser wird wahrscheinlich einem heutigen neuen Wates-Stadthaus mit vier bis fünf Schlafzimmern in einer kleinen geschmackvollen Wohnanlage in Barnet, Chislehurst oder Carshalton Beeches entsprochen haben. Während der ersten sechzig Jahre nahm der Wert der Häuser überraschend schnell ab. Das war auf dem Höhepunkt der industriellen Revolution, und die Geschwindigkeit der technologischen Entwicklung war rasant. Dennoch könnte mit einigem Recht behauptet werden, dass die Mode bei diesem rapiden Wertverfall eine wichtigere Rolle spielte als die technologischen Neuerungen. Denn Islington hatte sich kaum als begehrter bürgerlicher Vorort durchgesetzt, als die der Erschließung dieses Stadtteils zu Grunde liegende Logik durch den Bau zweier Eisenbahnstrecken – einer Hauptlinie und einer Vorortlinie – völlig zunichte gemacht wurde. Zugegebenermaßen wurden Barnsbury, Highbury und Canonbury von der Nordlondon-Linie, die Richmond und Broad-Street verband, bedient, aber der massive Ausbau des Streckennetzes zwischen 1838, als Euston eröffnet wurde, und 1877, als der Holborn-Viadukt fertiggestellt wurde, bedeutete, dass zum ersten Mal die mäßig wohlhabenden Leute in London arbeiten und auf dem Lande leben konnten (obwohl es nicht lange Land bleiben sollte!). Eine spektakuläre Veränderung in der Mode gab den Anstoß 3 Summerson, J.: Georgian London (1945), London 1962, S. 290.
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zu dieser Wanderbewegung: Es kam zu einem rapiden Zusammenbruch der klassischen Tradition, die ersetzt wurde durch gotische, elisabethanische und venezianische Elemente – Charakteristika der viktorianischen Ära. Das georgianische Haus in Islington kam beinahe über Nacht aus der Mode. Seine Bewohner f lohen, nicht so sehr, weil technologische Veränderungen das Haus veraltet erscheinen ließen, sondern um sich ihresgleichen oder den Bessergestellten in den zukunftsträchtigen, neuen viktorianischen Vororten zuzugesellen. Das so entstehende Vakuum füllten die, die sich auf der nächstniedrigeren Stufe der wirtschaftlichen Stufenleiter befanden. In jenen früheren Jahren des Niedergangs stellte Islington, zusammen mit Chelsea und St. John‘s Wood, eine etwas heruntergekommene Vornehmheit zur Schau und war bei wohlhabenden viktorianischen Gentlemen sehr beliebt als ein Ort, an dem sie in hübschen, aber kleinen und preisgünstigen Häusern ihre Mätressen unterbringen konnten. Gegen Ende der neunziger Jahre war aus dem bloß »unanständigen« ein ausgesprochen schäbiges und schließlich elendes Viertel geworden. Und so sah der weitere Abstieg aus: In der Zeit zwischen den Kriegen war aus unserem georgianischen Haus, wie auch aus den meisten anderen Häusern in Islington, ein Haus mit mehreren Mietwohnungen geworden. Jede Etage war als eine Einheit vermietet und besaß, wenn man Glück hatte, auf dem halben Treppenabsatz einen Kaltwasserhahn und ein kleines Eckwaschbecken. Das einzige Klo befand sich im rückwärtigen Anbau im Erdgeschoss. Die Miete überstieg selten fünf Shilling pro Etage, und die Mieterschutzbestimmungen verschärften die bestehende Situation nur noch. Die Hauseigentümer waren entweder nicht in der Lage, ihren Besitz instand zu halten, oder sie sahen keinen Sinn darin, und diese Haltung spiegelte sich im Marktwert der Häuser wider, der außerordentlich gering war. Besonders deutlich wird dies am Beispiel eines vierstöckigen Hauses, in dem eine Muschelverkäuferin und ihr Mann wohnten. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg wurde ihnen ihr Haus vom Eigentümer umsonst angeboten. Sie lehnten ab, es anzunehmen. Das Haus steht heute noch und hat inzwischen mehrmals den Besitzer gewechselt (allerdings nicht umsonst). Offensichtlich war die sowohl von den Eigentümern als auch von den Mietern erwartete Lebensdauer der Häuser sehr kurz. Viele dieser Häuser erreichten jedoch die erwartete Lebensdauer, wurden aber abgerissen und durch bemerkenswert gut gebaute Blocks von Arbeiterwohnungen im monolithischen Queen Anne Stil ersetzt, doch der Gang der Ereignisse, der Krieg und die darauffolgenden harten Jahre bewahrte viele Häuser auf unserem Platz vor dem Abbruch, so dass sie noch heute dort stehen. Äußerlich weisen die meisten die Anzeichen langfristiger Vernachlässigung auf: geborstenes Mauerwerk infolge abblätternder oder nicht mehr vorhandener Anstriche, abbröckelnder Stuck, der in einigen Fällen aufgrund einer Verordnung über gefährliche Häuser ganz entfernt (und nicht erneuert) worden ist, eingestürzte Stufen am vorderen Treppenaufgang, Schiebefenster, die infolge gerissener Sei-
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le mit kurzen Holzleisten gestützt werden, zerbrochene und fehlende Dachziegel, mit Jute und Pech abgedichtete Dächer, eine billige Alternative zum Neudecken. Die Geländereinfassungen des Erdgeschossbereichs sind rostig, die eleganten, ananasförmigen gusseisernen Spitzen auf den Eckpfosten fehlen häufig, der obere Eisenlauf ist von den Pfosten abgerostet und wird nur noch von etwas Draht oder Isolierband an seinem Ort festgehalten, und einige der senkrechten Stäbe sind, nachdem sie sich gelockert hatten, als Speere für langvergessene Bandenkämpfe entwendet und durch Stücke überf lüssiger Gasrohre ersetzt worden. Die Eingangstüren sind häufig nicht lackiert und der obere Teil des Türrahmens weist oft ein f laches, dreieckiges Loch auf. Aber mancher Bewohner hat seine Eingangstür modernisiert: In diesem Fall ist sie mit einer Hartfaserplatte versehen, auf der eine verchromte, rostig gewordene Namenstafel mit Türklopfer aus Pressstahl und eine Reihe dazugehöriger Kunststoff klingelknöpfe angebracht sind. Den Eingangsbereich zieren gewöhnlich eine große Anzahl Mülltonnen (eine für jede Wohneinheit) und Motorroller und Mopeds unter wasserdichten Schutzhüllen. Die Hausnummer ist oft einfach in großen Ziffern plump aufgemalt und die Seitenwände der Gebäude am Ende einer Häuserreihe sind gewöhnlich mit Kritzeleien bedeckt. Aber was ist das! Hier inmitten all dieser in ähnlicher Weise heruntergekommenen Häuser befindet sich eines, das ist makellos gestrichen, in Themse-Grün mit einer orangefarbenen, in sechs getäfelte Felder unterteilten Eingangstür, auf der ein Türklopfer aus Messing in Gestalt eines Delphins und ein riesiges Namensschild, ebenfalls aus Messing, angebracht sind. Das bleigefasste Oberlicht ist sorgfältig repariert worden und auf dem Mauerwerk neben der Tür ist ein blau-weißes Emailleschild mit der Hausnummer befestigt: Ein kleiner Hauch von provinziellem Frankreich, der verkündet, dass der Besitzer beim Abendessen Hirondelle Vin Ordinaire zu seiner Quiche Lorraine trinkt und nicht Bier zu einer Wurst. Die gusseisernen Balkongitter vor den Fenstern im ersten Stock sind mit Geranien geschmückt und glänzend schwarz gestrichen. Desgleichen der Gitterzaun vor dem Haus, durch den, dank des enorm vergrößerten Erdgeschossfensters (das keine geschlossenen, weißen Netzvorhänge, sondern ganz hochgezogene marineblaue Stoff blenden hat), die Küche sichtbar wird. Direkt unter dem Fenster befindet sich eine Doppelspüle aus rostfreiem Stahl mit Anschlüssen für Mixgeräte und Müllbehälter. Sie wird auf beiden Seiten f lankiert von WrightonSchränken mit Formica-Auf lage, und an den Wänden hängen ähnliche Geschirrschränke aus kunststoffversiegeltem Kiefernholz. Wir erblicken einen ausgestopften Hecht in einem runden Glasbehälter auf dem Kaminsims, und die nun nicht mehr zum Heizen benutzte Kaminöffnung darunter ist sehr einfallsreich in einen Miniweinkeller umfunktioniert worden, indem man dort ein Flaschenregal aus Metall und Buchenholz hineingestellt hat. Die Trennwand im Erdgeschoss ist durchbrochen, so dass sich der aus sechseckigen, erikafarbenen Steinf liesen bestehende Fußboden als eine durchgehende Fläche von der Küche durch den hin-
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teren Essbereich bis zu den großen französischen Fenstern erstreckt. Die Fenster gehen auf den mit blauen Staf fordshire-Backsteinen gepf lasterten Innenhof und den dahinter liegenden Garten hinaus. Unserer Aufmerksamkeit entgehen nicht der Bauerntisch aus Kiefernholz von Heal‘s, die hellroten Bugholz-Stühle von Habitat, ein paar große, kühn geschwungene, vergoldete Buchstaben von der Vorderfront eines viktorianischen Krämerladens und eine Reihe großer, blauer Töpfe mit Mattglasdeckeln, die wohl aus einer ehemaligen Apotheke stammen und in goldenen Lettern die Abkürzungen verschiedener Gifte tragen. Und so könnte ich fortfahren: Jedes Stück, jeder Farbf leck ist, hat man erst einmal die Sprache gelernt, ein eindeutiger Beweis für die Gegenwart von Mittelschicht-Pionieren. Dieses Dechiffrieren der Umwelt, das sich auch gut als boshaftes Gesellschaftsspiel eignet, steht heute im Mittelpunkt des Interesses der Strukturanthropologie. Auf Häuser angewandt ist es besonders lohnend, denn die Leute stopfen sie mit einer Unmenge sorgfältig verschlüsselter Informationen voll, deren Struktur eindeutig beweist, dass Häuser wie andere übertragbare Dinge, zum Beispiel Autos, Stevenbilder und Aschenbecher, der einen oder anderen der drei kulturellen Kategorien (des Vergänglichen, des Mülls und des Dauerhaften) zugerechnet werden können. Es bedarf keiner großartigen soziologischen Einsichten, um zu erkennen, dass Häuser in der Kategorie des Vergänglichen die Tendenz haben, von den Mitgliedern unserer Gesellschaft bewohnt zu werden, die sehr auf ihre Ehrbarkeit bedacht sind. Aus der Sicht derjenigen, die nicht in solchen Häusern leben, sind die Bewohner vergänglicher Häuser die stumpfsinnigen und schwer arbeitenden Mitglieder der unteren Mittelschicht oder der oberen Unterschicht. Häuser der Kategorie des Dauerhaften scheinen das Reich der gehobeneren Mittelschicht und des kleinen Kreises der Oberschichtangehörigen zu sein: Akademiker, Industriekapitäne, Großgrundbesitzer und dergleichen. Die Müll-Häuser werden tendenziell von den Angehörigen am unteren Ende der Unterschicht, vielleicht von Kriminellen oder Immigranten, und den Außenseitern unserer Gesellschaft bewohnt: von gescheiterten Familien, psychisch Kranken usw. Ein nettes, sich selbst perpetuierendes System, könnte man denken: eine kulturelle Kategorisierung von Häusern, die genau den sozioökonomischen Trennlinien innerhalb der Gesellschaft entspricht. Mit einem solchen sich selbst perpetuierenden System zu arbeiten, ist intellektuell zwar sehr verführerisch, hieße aber, das empirische Material außer Acht zu lassen und darauf zu verzichten, die eine wirklich interessante Frage zu stellen: Wie kann sich ein derartiges, sich scheinbar selbst perpetuierendes System jemals ändern? Denn Häuser wechseln manchmal von der einen kulturellen Kategorie in eine andere über, und Menschen steigen auf der sozioökonomischen Stufenleiter manchmal auf oder ab. Schlimmer noch, kulturelle Kategorien hören manchmal auf zu existieren, und die sozioökonomische Stufenleiter verlängert oder verkürzt sich manchmal wie eine Feuerwehrleiter. In
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den späten 1960er Jahren stellten die inneren Vororte von Nord-London sich wie ein gebrauchsfertiges Laboratorium für die Untersuchung dieser Frage dar, denn diese Transfers füllten praktisch alle die sozialen und physischen Arenen: Kaum etwas blieb innerhalb des Systems erhalten; fast alles war einer Veränderung unterworfen. Die interessanteste Eigenschaft des Kategoriensystems ist, dass die Zugehörigkeit zu einer Kategorie nicht einmal für alle Zeiten festgelgt, sondern in mehr oder weniger starkem Maße f lexibel ist. Was der Kategorie des Vergänglichen angehört, kann – und tut dies gewöhnlich auch – allmählich in die Müll-Kategorie überwechseln, und was der Müll-Kategorie angehört, kann, unter bestimmten Bedingungen, in die Kategorie des Dauerhaften überwechseln. Andere Kategorienwechsel kommen jedoch nicht vor. Somit ergibt sich folgendes Schaubild:
Abbildung 5
Dies ist also das dynamische System kognitiver Kategorien, und das Problem besteht nun darin zu untersuchen, wie man dieses kulturelle System mit der sozialen Ordnung in einen Zusammenhang bringen kann, und zwar auf eine Weise, die deutlich werden lässt, dass beide wohl eng miteinander verknüpft sind, sich jedoch im Allgemeinen nicht gegenseitig verstärken und perpetuieren. Die Pfeile in diesem Schaubild, die die vorkommenden und die nicht vorkommenden Kategorienwechsel bezeichnen, geben einen deutlichen Hinweis auf die Identität des dritten und fehlenden Elements zwischen kultureller und sozialer Ordnung: der Macht. Es ist keine großartige oder revolutionäre Einsicht erforderlich, um zu erkennen, dass diejenigen, die dauerhafte Objekte besitzen, sich einer größeren Macht und eines größeren Prestiges erfreuen als diejenigen, die ganz in einer Welt der vergänglichen oder, schlimmer noch, der wertlosen Dinge leben. Entsprechend stellen wir fest, dass, wenn wir uns Beispiele des erfolgreichen Kategorienwechsels vom Müll zum Dauerhaften ansehen, damit zugleich Besitzerwechsel verbunden sind: vom Lumpensammler zum kenntnisreichen Sammler, vom Trödelladenschaufenster in den Ausstellungsraum der Bond Street, von Steptoe and Son zu Bevis Hillier et al. (doch ist Besitzen allerdings nur eine Art von Macht).
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In welchem Maße der Wechsel von einer Kategorie in die andere beeinf lusst werden kann, ist von Fall zu Fall sehr verschieden. Nicht einmal ein Herr Crossman konnte der Erneuerungsf lut der frühen sechziger Jahre Einhalt gebieten, die viele Quadratmeilen Londons von rattenverseuchten Slums in ruhmreiches Erbe verwandelte – ein Phänomen, das heute als »Gentrifizierung« bekannt ist. »Gentrifizierung« ist in vielerlei Hinsicht eine unglückliche Bezeichnung, denn jene jungen Paare – Schauspieler, Graphiker, Architekten, Kunstschullehrer und Fernsehleute –, die die Vorhut der Pionierarbeit leistenden Mittelschicht bildeten, waren, wie wir heute rückblickend erkennen können, mächtige und erfolgreiche soziale Aufsteiger, die (unter sehr ungleichen Voraussetzungen) mit den ansässigen Bewohnern jenes heruntergekommenen Gebietes konkurrierten, die leider keinen Zugang zur Dauerhaftigkeit besaßen. Etwas, das ein Gentleman nie tun würde (oder zu tun nötig hätte!). Diese häufig verspotteten Modeschrittmacher, die mit der gleichen gefühllosen Arroganz, mit der sie die Trennwände ihrer georgianischen Reihenhäuser durchbrachen, soziale Barrieren niederrissen, hielten sich selbst für Vorboten jenes egalitären Paradieses auf Erden, in dem wir alle wie David Frost enden würden – klassenlos und kurzgeschoren, erfolgreich und eingekleidet von Cecil Gee. Im trüben Licht der Wirtschaft der siebziger Jahre sehen wir sie ihre sozialen Gewinne mit Volvo-Kombis, Landleben und Privatschulen konsolidieren. Angesichts der Gefahr, der schlimmsten Oberschicht-Romantik bezichtigt zu werden und mich dem Vorwurf auszusetzen, kulturellen Separatismus zu predigen und eine Rückkehr zu den sozialen Unterschieden der edwardianischen Zeit zu befürworten, möchte ich nur erwähnen, dass der ungenannte Platz in der Mitte des Islington der sechziger Jahre von zwei so verschiedenen Gruppen bewohnt war, was Kultur, Einstellungen, Verhalten und Weltbild betraf, dass sie geradezu zwei getrennte Stämme bildeten. Das heißt nicht, dass sie immer getrennt blieben, dass sie nicht untereinander heirateten, dass es keinen Austausch zwischen den Gruppen gab, als diese infolge ihrer unvermeidbaren Interaktionen eine Neuorientierung ihrer Werte vornahmen. »Interaktion« – jenes optimistisch gleichmacherische Schlagwort des ideologisch verpf lichteten Soziologen – ist schlecht geeignet, um die Art des sozialen Verkehrs zwischen diesen Stämmen zu beschreiben, die, wenngleich in verschiedenen kognitiven Welten lebend, doch die gleiche eingeengte physische Welt gemeinsam hatten. Die Bezeichnung »Frontalzusammenstoß« wäre zutreffender. Und es hat in der Tat ein erheblicher Austausch stattgefunden. Wenn man heute das Äußere eines dieser Häuser entschlüsselt, kann man nicht mehr – wie mit Sicherheit noch vor zehn Jahren mit Sicherheit – die soziale Identität der Bewohner bestimmen. Berühmte Barock-Cembalisten und türkische Kebabhaus-Besitzer der ersten Generation leben nun hinter identischen und aneinander angrenzenden Fassaden. Und alte Reihenhäuser – außen gründlich restauriert und innen sorgfältig wiederhergestellt – werden nun, ohne
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Herrn Crossman zu nahe treten zu wollen, als geeignete Unterkunft sowohl für Mitglieder der Mittelschicht als auch der Arbeiterschicht betrachtet. Die beiden Stämme sind die »Knockers-Through« und die »Ron-and-Cliffs«. Die »Knockers-Through«, verewigt in der Gestalt des Alan Bennett, werden häufig mit den Mittelschicht-Pionieren gleichgesetzt. Das ist nicht ganz richtig. Die »Knockers-Through« stellen nur einen Teil dieser Pioniere dar, und es gibt viele andere, wie zum Beispiel diejenigen, die peinlich genau, aber mit Zurückhaltung restaurieren. Es kann jedoch kein Zweifel darüber bestehen, dass die »KnockersThrough« mit ihrem schreiend herablassenden Verhalten gegenüber ihren einheimischen Nachbarn (falls noch welche übrig sein sollten) und ihrer niederschmetternden Unempfindlichkeit hinsichtlich der kognitiven Abgrenzungen gegenüber denjenigen, die immer noch an einer Unterscheidung zwischen öffentlich und privat, persönlich und unpersönlich festhalten, die bei Weitem markantesten Mitglieder ihrer Schicht sind. Und was noch wichtiger ist, sie sind erstaunlich langlebig, und sogar noch in der Mitte der siebziger Jahre konnte der gewissenhafte Anthropologe gelegentlich die erregende Erfahrung machen, so klassische Bemerkungen mit anzuhören wie: »Wir sind die ›Knockers-Through‹, wissen Sie« und »Ja, wir waren die Ersten, die hierher gekommen sind und hier gelebt haben.« Man kann aber auch zu hart gegen diese mutigen und kreativen Pioniere sein. Nur zehn oder fünfzehn Jahre nach diesem Ereignis behaupten die Architekturstudenten, die ich in Stadtsoziologie unterrichte, dass die »Knockers-Through« es wegen des Geldes getan hätten. Das stimmt nicht: Sie taten es, obwohl die Chancen sehr ungünstig standen. Diese kleine Gruppe, die in den späten 1950er und frühen 1960er Jahren mit wenig Geld und viel Glauben wertlose Häuser zu restaurieren begann, wurde von den gesetzten und etablierten Mitgliedern der Mittelschicht, die Hampstead, Highgate und Golden Green als die einzig bewohnbaren Inseln im Nord-Londoner Meer der Plebejer betrachteten, verspottet. Ihre Haltung war die der Bankmanager, Grundstücksmakler, Hypothekenhändler, Baugesellschaften und städtischen Architekten. Und so geschah, was jeder, der jemals ein Haus zu kaufen versucht hat, zu schätzen wissen wird: Es wurde ein massiver ökonomischer Schutzwall errichtet, um den Müll draußen zu halten, das heißt, aus der Kategorie des Dauerhaften herauszuhalten. Die der Arbeiterschicht angehörenden einheimischen Nachbarn der »KnockersThrough« hatten ebenfalls keine Sympathie für diese, aber aus anderen Gründen. Ihrer Meinung nach warf der Mittelschicht-Pionier gutes Geld dem schlechten hinterher, indem er ein Müll-Haus kaufte und es wieder herrichtete: »Die stürzen alle ein, die Hütten«, lautete ihr endloser Refrain. Das sind die »Ron-and-Cliffs«: Sie sind stolz, wettbewerbsorientiert, Arbeiter, häufig selbstständig, gegen Gewerkschaften, haben Rassenvorurteile, sind konservativ wählende Bewohner von Häusern, die Müll oder beinahe Müll sind.
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Der Ursprung dieser nicht sehr wissenschaftlichen Nomenklatur verliert sich fast im Nebel der Zeiten – aber nur fast. Die Urheber waren zwei Drucker-Freunde von mir, die Mitte der sechziger Jahre in der Nähe der Euston Station eine Fabrik besaßen. Die Herleitung ist das Resultat endloser tiefschürfender Unterhaltungen in einem dort gelegenen Pub zwischen jungen Männern mit Messerhaarschnitt, die Fred-Perry-Hemden, rehbraune Strickwesten mit Lederknöpfen und große Stiefel trugen. Diese Unterhaltungen liefen immer folgendermaßen ab: »Hallo, Ron! Was machste heut Abend?« »Tja, Cliff, ich dachte, ich geh mal auf Kneipentour / mach mal‘n Ölwechsel bei meinem Consul / geh mal mit meinem Mädchen das Westend lang.« (zum Nachbarn) »Tut mir leid, Kumpel, hab ich dein Bier verschüttet?« »Tschuldigung, Ron. Was wolltste grad sagen?« »Tja, Cliff ...« Die »Knockers-Through« und die gesetzten, etablierten Mitglieder der Mittelschicht vereint ein gemeinsames Weltbild, das die Kategorie des Dauerhaften eindeutig zu ihren Werten zählt und ihr große Bedeutung beimisst. Die Geister scheiden sich nur bei der Frage, was zu dieser Kategorie gehören soll. Der »Knockers-Through« möchte sein Müll-Haus in sie hineinbringen, der Bankmanager möchte das verhindern. Die »Ron-and-Cliffs« haben keinen Zugang zur Dauerhaftigkeit. Sie sind auf eine Welt festgelegt, in der es nur Vergängliches und Müll gibt. Folglich können sie für das Haus, in dem sie leben müssen, keine andere Zukunft als den Abbruch sehen. Dies ist ein tiefgreifender kultureller Unterschied, den wir erkennen müssen, wenn wir verstehen wollen, warum »Knockers-Through« und »Ron-and-Cliffs« sich angesichts derselben Situation so verschieden verhalten und warum sie ihre Umwelt auf so gegensätzliche Weise dechiffrieren. Und nirgendwo tritt dieser Gegensatz deutlicher hervor als bei der unterschiedlichen Behandlung der Eingangstür – jener weltlichen Ikone städtischen Lebens. Der »Knockers-Through« macht sein frühviktorianisches Haus älter, indem er es mit einer in sechs getäfelte Felder unterteilten georgianischen Eingangstür versieht, eine exakte Reproduktion des Messingzubehörs von Beardsmore auf ihr anbringt und sie entweder in einer klassisch langweiligen Farbe wie Adam-Gold oder Themse-Grün oder, besser noch, schwarz oder weiß anmalt. Sein »Ron-andCliff«-Nachbar macht sein Haus jünger, indem er die ursprünglich mit vier getäfelten Feldern versehene Eingangstür mit einer Hartfaserplatte verkleidet, sie
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mit Zubehör aus Pressstahl oder poliertem Aluminium versieht, das man in jedem Eisenwarengeschäft kaufen kann, und sie in einer modernen Farbe wie zum Beispiel Kanariengelb oder Capriblau bemalt. Der »Knockers-Through«, der Zugang zum Dauerhaften hat, versucht, wie sich herausstellt erfolgreich, sein Haus aus der Müll-Kategorie in die Kategorie des Dauerhaften zu bringen. Sein Nachbar, der in einer Welt der Vergänglichkeit lebt, versucht, eher erfolglos, zu verhindern, dass sein Haus den schlüpfrigen Abhang von der Kategorie des Vergänglichen in die Müll-Kategorie hinabgleitet. Der Egalitarismus einer Welt ohne dauerhafte Gegenstände kann erstaunlich konkurrenzhafte Züge aufweisen, die in diesem Fall auch zu beobachten sind. Zu den mit Hartfaserplatten verkleideten Eingangstüren gehören Plastikblumen, Nylon-Netzvorhänge, auf Hochglanz polierte Autos und die ganze blank gescheuerte, herausgeputzte, zigarrenrauchende, mit Fünfern wedelnde, Runden spendierende Aufschneiderei am Samstagabend in der Kneipe. Die ganze »Vornehmtuerei« – die Liebe zum Sport, zu häufig teuren Sportarten wie Motorbootrennen, Entenschießen, Forellenfischen oder Haifischfang; die Spielleidenschaft; die Ledermäntel, die Silver-Cross-Boote und die kunstvollen Frisuren der Frauen; der auffällige Konsum von alkoholischen Getränken, Tabak, Meerestieren und die bei Straßenhändlern, Autoreparaturspezialisten, Offset-Lithographen, Straßenbauarbeitern, selbstständigen Heizungsingenieuren, Zimmerleuten und Dekorationsstuckateuren beliebten Mohairanzüge – all das kennzeichnet eine Aristokratie der Vergänglichkeit, die verächtlich auf diejenigen herabsieht, die ihre Hoffnung auf die dauerhaften Dinge setzen, und die heftig das sozial Wertlose ablehnt. Ihr Motto lautet: »Wie gewonnen, so zerronnen«, denn im Land der Vergänglichkeit regiert der Mann mit dem höchsten Umsatz, O.K.? Die »Ron-andCliffs« nehmen in unserer Gesellschaft eine ähnliche Stellung ein, wie die Beduinen am Euphratdelta im Iran. »Die Beduinen verdienen ihren Lebensunterhalt mit dem Schwert. Ihre Werte sind die einer Kriegergesellschaft, deren wichtigste Eigenschaften Mut und Großzügigkeit sind. Indem sie im Krieg Mut beweisen und somit Beute machen, verdienen sie ihren Lebensunterhalt. Was sie besitzen, verschenken sie großzügig. Geiz zeugt von mangelndem Vertrauen in die eigene Fähigkeit, mehr Beute zu machen.«4 Der Gebrauchtwagenhändler, dessen alternde Ford Consuls den Vorgarten eines Hauses füllten, das ich einmal kaufen wollte, war pessimistisch: »Die verkommen alle, wissen Sie. Da wohnen nur noch »Darkies« und »Bubbles« in den Häusern. Teuf lischer Zustand. Die kochen die Hähnchen mitsamt den Innereien. Wie manche Leute leben – verdammt ekelhaft.« Obwohl das Verhalten der »Knockers-Through« und der »Ron-and-Cliffs« sehr verschieden voneinander ist, legen doch beide hinsichtlich ihrer entsprechend 4 Salim, S. M.: Marsh-dwellers of the Euphrates Delta, London 1962, S. 140.
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unterschiedlichen Einstellungen zu den Kategorienwechseln von »vergänglich« zu »Müll« zu »dauerhaft« eine vollkommene Rationalität an den Tag. Das heißt, das Kategoriensystem stattet beide mit einem unterschiedlichen Satz an Regeln aus. Aber was ist mit den sozial Verachteten – den »Darkies« und »Bubbles«? Sie scheinen von Regeln überhaupt keine Ahnung zu haben. Vor allem die griechischen Zyprioten sind ganz vernarrt in Fenster mit Metallrahmen und rosa bemalte Backsteinfassaden mit mühselig zartblau abgesetzten Fugen. Sobald der Übergang zur Dauerhaftigkeit weit genug fortgeschritten ist, werden denkmalgeschützte Gebiete abgesteckt, und es wird nun erwogen, mit Hilfe von Gesetzen gewaltsam zu verhindern, dass die Griechen (»Bubbles«) sich der ungeheuren Mühe unterziehen, den Marktwert ihrer Häuser um Tausende von Pfund zu verringern. Dies scheint das dünne Ende eines sehr unangenehmen Keils zu sein. Denn das dicke Ende dieses Angriffs auf den Müll ist der Gasofen und die Beseitigung derjenigen, die keinen Platz im System haben. Wenn es etwas Schlimmeres gibt als jemanden, der die Vorderseite seiner Regency-Villa rosa und blau bemalt, dann ist es der Versuch, ihn daran zu hindern, sie rosa und blau zu bemalen. Ich möchte behaupten, dass die oben erwähnte Behandlung von Häusern im Allgemeinen und des Slumproblems im Besonderen uns weit von der vertrauteren Position entfernt hat, die traditionellerweise für Stadtplaner, Erziehungswissenschaftler und Bekämpfer der Armut kennzeichnend ist. Aber wohin sind wir nun gelangt? Und welches sind, angesichts der nun auftretenden schwierigen, hartnäckigen und ernsthaften Probleme, die Folgen dieser Positionsänderung? Wie bei allen Reisen ist es einfacher zu sagen, welche Entfernung man zurückgelegt hat, als zu bestimmen, wo genau man gelandet ist. Die Entfernung kann auf dreierlei Weise gemessen werden: 1. Der traditionelle Ansatz geht davon aus, dass die Eigenschaften, die den Objekten anhaften, ein Resultat der ihnen innewohnenden physikalischen Eigenschaften und dass diese Eigenschaften als ein Teil der Natur sozusagen »gegeben« seien. Der hier vertretene Ansatz vermeidet diese Annahme und ersetzt sie, ohne zu leugnen, dass es gewisse natürliche Grenzen gibt, durch die Vorstellung von der sozialen Verformbarkeit von Objekten – durch die Ansicht, dass Objekte infolge eines sozialen Prozesses mit den Eigenschaften ausgestattet werden, die sie besitzen. Daraus folgt, dass dieselben Kräfte, die diese Eigenschaften verleihen, ihnen diese unter veränderten sozialen Bedingungen wieder entziehen können. Die Gesellschaft gibt, und die Gesellschaft nimmt; und im Akt des Gebens und Nehmens verändert sich die Gesellschaft selbst. 2. Traditionellerweise schenkt man dem Müll kaum Beachtung. Man gibt zu, dass das Wohnen in Müll-Häusern leider eine Tatsache ist, dass das schlecht ist, dass etwas dagegen unternommen werden sollte, dass es ein Problem
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ist, das gelöst werden muss. So wie man das Problem der Haushaltsabfälle dadurch löst, dass man den Müll einsammelt und beseitigt, so möchte man das Problem der Müll-Häuser lösen, indem man sie einfach abreißt. Damit ließe sich die Krankheit jedoch nicht kurieren (da nur die Symptome, nicht aber die Ursachen behandelt würden), woraus die Stadtsanierer den Schluss ziehen würden, die Krankheit sei unheilbar und könne nur mit regelmäßigen und massiven Geldspritzen eingedämmt werden. Der hier vertretene Ansatz betrachtet Müll-Häuser nicht in erster Linie als ein Problem der öffentlichen Gesundheit, sondern als einen wesentlichen Bestandteil des Systems. Slums haben zwar einen sozialen Ursprung, aber ein materielles Erscheinungsbild. Mit dem sozialen Zusammenhang ändert sich auch das materielle Erscheinungsbild: Manchmal ist der Slumcharakter kaum erkennbar, manchmal tritt er so deutlich hervor, dass er zum »Problem« wird. Und dies ist der Nachteil des auf Slums angewandten traditionellen Ansatzes: Wie alle problemorientierte Forschung ist er zu begrenzt. Wenn der große Gartenkünstler Lancelot »Capability« Brown sich das Grundstück eines Kunden ansah, fragte er nicht, »Was ist Ihr Problem?«, sondern »Welche Möglichkeiten stecken in diesem Stück Land?« Somit war eine optimistische, allgemeine und phantasievolle Betrachtungsweise möglich, wo sonst Pessimismus, Konzentration auf das Detail und Begrenztheit vorgeherrscht hätten. Es gibt nicht genug Capability Browns, aber zu viele Leute, die nur auf ein einziges Problem starren. 3. Da der traditionelle Ansatz die soziale Verformbarkeit von Objekten ignoriert, ist er nicht in der Lage, Untersuchungen anzuregen, die diese Verformbarkeit bestätigen oder erhellen würden. Wir legen hier großes Gewicht auf die kognitiven Systeme und besonders auf die Diskontinuitäten zwischen kognitiven Systemen. Das bedeutet, dass da, wo kulturelle Grenzen innerhalb einer Gesellschaft bestehen, ihr Vorhandensein zur Kenntnis genommen und berücksichtigt wird. Traditionellerweise gilt es, von kulturellen Grenzen keine Notiz zu nehmen; wir hingegen wollen sie in den Mittelpunkt stellen. Gillian Tindall5 zum Beispiel hat gezeigt, in welch erstaunlichem Maße die Art und Weise, wie die Bewohner einer Straße in Kentish Town diese Straße wahrnehmen, vom sozialen Kontext der Bewohner abhängt. Die ansässigen Arbeiter sind der Meinung, es gehe mit ihr abwärts, weil Immigranten zugezogen seien und weil die »Knockers-Through« bei geöffneten Vorhängen am vorderen Fenster ihr schmutziges Geschirr wüschen. Die »Knockers-Through« andererseits, voller Stolz auf ihre restaurierten Fassaden und belaubten Innenhöfe, meinen, sie befinde sich in der Aufwärtsentwicklung. Bezeichnenderweise merkt Tindall nicht, dass sie versäumt zu beschreiben, wie die Immigranten die Straße beurteilen. 5 Tindall, G.: A Street in London, in: New Society, Nr. 433, 1971.
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Diese verschiedenen Straßenbeurteilungen nun mögen vielleicht friedlich nebeneinander existieren, solange sie nicht auf dem Markt aufeinandertreffen. Hier müssen sie unweigerlich in Konf likt miteinander geraten. Es gibt nur einen Markt, und entweder wird er die Auffassung bestätigen, mit der Straße gehe es abwärts (was dazu führen würde, dass der Verkaufswert der Häuser in der Straße sinkt), oder er wird die Auffassung bestätigen, die Straße befinde sich in der Aufwärtsentwicklung (mit der Folge, dass der Verkaufswert der Häuser steigt). Auf dem Markt wird also eine Straßenbeurteilung gewinnen und die andere verlieren. Wie kommt es, dass in diesem Fall die »Knockers-Through« gewinnen und die »Ron-and-Cliffs«, die »Darkies« und »Bubbles« verlieren? Wer steckt hinter dieser modernen Midas-Berührung, die den Dingen Dauerhaftigkeit verleiht? Die unterschiedlichen Weltbilder der »Knockers-Through«, der »Ron-andCliffs« und der »Darkies« und »Bubbles« entsprechen stark voneinander abweichenden Investitions- und Geselligkeitsmustern, die ihrerseits auffallende Unterschiede hinsichtlich der Macht über Zeit und Raum erkennen lassen. Diese Unterschiede sind so ausgeprägt, dass man drei weitgehend autonome Kulturen definieren kann: eine Mittelschichtkultur, die sich dank der Macht, die sie über Zeit und Raum ausübt, auf Dauerhaftigkeit gründet, eine Kultur der Vergänglichkeit mit einer proportional höheren Investition in soziale Beziehungen, aber mit einer viel geringeren Macht über Zeit und Raum, und eine Kultur der Armut, die ergreifend wenig investiert und so gut wie keine Macht über Zeit und Raum besitzt. Was für grundverschiedene Weltbilder und was für ganz unterschiedliche, aber gleichermaßen realistische Erwartungen hinsichtlich der künftigen Ereignisse in Zeit und Raum stecken doch einerseits in der Devise der Curzons (»Curzon hold, what Curzon held«) und andererseits in der immer gegenwärtigen Angst derjenigen, die darum kämpfen, die niederen Ränge zu verlassen (»Holzschuhe zu Holzschuhen in der dritten Generation«): Die Macht, Dingen Dauerhaftigkeit zu verleihen, ist eben eine Funktion des relativen Umfangs der Macht über Zeit und Raum, und die Macht über Zeit und Raum wird dadurch gewährleistet, dass man über das Wissen herrscht. Das heißt, nicht nur physische Objekte, sondern auch Ideen, historische Fakten und Wissenssysteme sind einer sozialen Verformung unterworfen. Stevenbilder und Häuser sind nur die physische Spitze eines riesigen konzeptuellen Eisbergs. Ein Beispiel mag das verdeutlichen: Die »Ron-and-Cliffs«, wie auch die Euphrat-Beduinen, maximieren nicht nur ihren Umsatz, sondern sie müssen ihren Umsatz sichtbar maximieren, indem sie ihre Beziehungen ständig durch Großzügigkeit bestätigen. Der Zahlabend (wir wurden immer im Pub bezahlt) war eine wahre Geschenkverteilung in Form des Rundenausgebens (eine einzelne Runde kostete oft 5 ₤, in jüngerer Zeit bis zu 15 ₤). Noch wichtiger ist, dass man das Geld der Barfrau nicht einfach heimlich in die Hand drückt und sie bittet, jedem einen
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Drink zu geben. Man muss das einem Stadtkrieger angemessene Ritual vollziehen: Zuerst leert man das eigene Glas, während das aller anderen noch halb voll ist, dann ruft man nach dem Ex-Boxchampion von Wirt, und sobald er da ist, richtet man das Wort an alle seine Freunde und Bekannten, an einen nach dem anderen, selbst wenn sie in einem Nebenraum sitzen: »He, Alf! Was trinkst Du? Bier! Nimm einen Scotch.« Ein weiteres Beispiel für Umsatzmaximierung: Wir führten einmal eine Schwarzarbeit zu zweit aus, bei der es darum ging, einen viktorianischen gusseisernen Kamin mit Marmoreinfassung in den Salon eines Regency-Hauses einzubauen, das dem leitenden Angestellten einer großen Gesellschaft gehörte. Der Kamin und die Marmoreinfassung stammten in Wirklichkeit aus meinem eigenen Haus (aus dem sie entfernt worden waren, um Platz für eine Küche zu schaffen), aber wir erdachten uns eine kunstvolle und überzeugende Geschichte, derzufolge wir beides aus einem Regency-Haus, das sich im Umbau befand, kaufen mussten, und deshalb einen Wucherpreis – so glaubten wir damals – dafür zu berechnen hätten. Nachdem wir den Kamin schnell und sauber installiert hatten, zogen wir uns mit unseren 30 ₤ in den Pub zurück, hocherfreut über unsere »Ron-and-Cliff«-Piraterie und darüber, dass es uns gelungen war, den »KnockersThrough«-Besitzer auszubeuten, indem wir ihn davon überzeugt hatten, dass der viktorianische Kamin in Wirklichkeit ein Regency-Kamin sei. Ein paar Wochen später, wir hatten noch ein paar andere Arbeiten im selben Haus zu erledigen, zeigte der Besitzer den Salon stolz einem Freund, der ausrief: »Oh, wie herrlich! Was immer du hier noch ändern lässt, den wunderbaren Kamin musst du behalten.« In dem Augenblick erkannten wir, dass wir die Ausgebeuteten waren. Die Tatsache, dass wir wussten, dass der Kamin gerade erst installiert worden war und aus einer ganz anderen Periode stammte, war irrelevant, denn ausschlaggebend ist allein, dass diejenigen, die die größte Macht über Zeit und Raum ausüben, ihn für original halten. Der Wert des Hauses war bereits um sehr viel mehr als um 30 ₤ gestiegen. Glaubwürdigkeit, nicht Wahrheit, ist der Name dieses Spiels. Es wäre verlockend, aber unklug, vorauszueilen und versuchen zu wollen herauszufinden, welche praktischen Konsequenzen sich aus der Anerkennung kultureller Grenzen und aus deren Einf luss auf die städtische Umwelt ergeben könnten. Man nehme zum Beispiel das dynamische Phänomen der Klassentrennung und Ghettobildung. Die Wechselwirkung zwischen den aus dem Kategoriensystem abgeleiteten Regeln und der Fixiertheit von Häusern (die Tatsache, dass die einheimischen Gebäude, von mongolischen Jurten und einigen Holzfachwerkhäusern einmal abgesehen, untrennbar mit dem Grund verbunden sind, auf dem sie stehen) setzt den merkwürdigen, dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik zuwiderlaufenden Prozess in Gang, in dessen Verlauf sich eine völlig zufällige, ungeordnete, gemischte Wohngegend allmählich in reiche und arme Ghettos
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gliedert. Wenn wir die gegenwärtig ziemlich verbreitete Auffassung akzeptieren, dass Klassentrennung eine schlechte Sache sei und dass etwas dagegen unternommen werden sollte, dann müssten zunächst alle Projekte lokaler Behörden gestoppt werden, die praktisch klasseneinheitlich angelegt sind – zum Beispiel viele neue Städte, riesige städtische Wohnsiedlungen und Hochhausblöcke. Ferner könnten die Kommunen dem Problem der Klassentrennung zu Leibe rücken, indem sie alles in ihren Kräften Stehende tun, um den Prozess der Neugliederung beständig durcheinander zu bringen. Ich schlage vor, das Pentonville-Gefängnis nach Belgravia zu verlegen; einen Straßenmarkt in der Bond Street einzurichten, auf dem Obst und Gemüse, gebrauchte Kleidungsstücke und Trödel angeboten werden; ein Fernfahrerrestaurant mit Lastwagenparkplatz anstelle der vorgesehenen neuen Hotels in der Cromwell Road zu bauen; und die Bank von England auf die Isle of Dogs zu verlegen. Die Absurdität dieser Verschläge lässt erkennen, dass diese extremen Vorgehensweisen wahrscheinlich unmöglich sind. Das heißt, es wäre vergebliche Mühe, auf diesem Wege Gebäude und Gebiete f lexibel machen zu wollen, die gegenwärtig Bestandteil des Bereichs feststehender Annahmen sind. Die Probleme der Klassentrennung wären nichts verglichen mit den sozialen Problemen einer Welt ohne feststehende Annahmen. Ebenso gut könnte man Enthauptung als Heilmittel für Migräne vorschlagen. Dennoch sollten sich gemäßigtere Vorschläge nach den gleichen Grundsätzen eigentlich als durchführbar erweisen und werden in der Tat bereits verwirklicht, wenn auch mehr aus ökonomischer Notwendigkeit denn als aus freier Wahl. Wir wären gut beraten, wenn wir aus der Notwendigkeit eine Tugend machten und die Bibliothek des British Museum in das Somers Town-Kohlendepot verlegten und anstelle der stadteigenen Sozialwohnungen die georgianische Eigenheimsiedlung renovierten. Slums können eine Folge des sozialen Systems sein, gewiss, doch daraus dürfen keine vorschnellen Schlüsse für die Praxis gezogen werden: Es sind nämlich extrem unterschiedliche politische Konsequenzen möglich. Einerseits könnte argumentiert werden, dass Slums sozial determiniert seien; dass es sich nur in den Augen des Betrachters um Slums handele; dass das soziale System bestimmte Gebiete der urbanen und der sozialen Umwelt als Slums einordne, um den Status quo aufrechtzuerhalten. Bei dieser Argumentation ist der Slum ein Unterdrückungsinstrument, und der Slumbewohner, der das Urteil der Nichtslumbewohner akzeptiert und ihren Abscheu vor seinen Lebensbedingungen teilt, besitzt ein falsches Bewusstsein und beteiligt sich aktiv an dem Komplott zu seiner eigenen Ausbeutung. Die Mülltheorie stellte dann den Ausgangspunkt eines revolutionären Bewusstmachungsprozesses dar: »Ihr habt nichts zu verlieren, außer eure Slums.« Andererseits könnte man argumentieren, Müll sei ein integraler und äußerst wichtiger Bestandteil des Kategoriensystems, und insbesondere die Existenz der Kategorie des Mülls, zusammen mit der Möglichkeit des Hinüberwechselns von
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der Kategorie des Mülls in die Kategorie des Dauerhaften, ermögliche die soziale Mobilität, die die Verbindung zwischen unserem sozialen System und der sich wandelnden Technologie und anderen Makrokräften darstelle. Das bedeutet, dass wir Slums innerhalb des Rahmens unseres gegenwärtigen sozialen Systems nicht beseitigen können, da unser gegenwärtiges soziales System die Ursache der Slums ist. Wenn wir also das gegenwärtige soziale System (mehr oder weniger) beibehalten wollen, müssen wir Slums (in der einen oder anderen Form) akzeptieren, müssen wir erkennen, dass es sie immer geben wird und dass sie eine funktionale Komponente des Systems sind. Diese Betrachtungsweise stützt somit das Argument, dass jede Stadt ihre Skid Row, ihr East End, ihr Soho haben dürfte, weil dadurch demonstriert würde, dass wir diesen Müll ohne einen revolutionären Wandel unserer Gesellschaft nicht loswerden können. Ein Modell vereinfacht eindeutig zu sehr, wenn es zur Folge hat, dass sich die Konservativen und die Radikalen (die hinsichtlich der kulturellen Grenzen und ihres Verlaufs innerhalb der Gesellschaft übereinstimmen und sich nur darin unterscheiden, ob sie sie für gut oder schlecht halten) gegen die Liberalen (die versuchen so zu tun, als seien die Grenzen nicht vorhanden) zusammentun.6 Dieses vereinfachende Modell bildet nichts anderes ab als das ungültige, sich selbst perpetuierende System, das die drei weitgehend autonomen Kulturen der »Knockers-Through«, der »Ron-and-Cliffs« und der »Darkies« und »Bubbles« als in ihren Grundzügen (ihrer relativen Macht über Zeit und Raum) unveränderlich darstellt. Anstatt überstürzt und aufs Geratewohl problemorientierte Schlussfolgerungen zu ziehen, wäre es viel vernünftiger, wenn diejenigen, die (angeblich) in unserem Namen Entscheidungen treffen, herauszufinden versuchten, warum diese Kulturen im Allgemeinen nicht unverändert bleiben. Sie sollten untersuchen, auf welche Weise sich diese Grenzen verschieben, wie sie stärker hervortreten oder undeutlicher werden können. Sie sollten versuchen zu verstehen, wie es kommt, dass das Überschreiten dieser Grenzen – das sich gar nicht vermeiden lässt, vorausgesetzt, die Träger der unterschiedlichen Kulturen sind Mitglieder derselben Gesellschaft und bewohnen dasselbe physische Universum – sowohl eine Annäherung der durch diese Grenzen getrennten Weltbilder bewirken als auch ihr Auseinanderklaffen verstärken kann. Um ihnen dies zu ermöglichen, müssen wir unseren Blick auf die Herrschaft über das Wissen richten: Wir müssen die aus Stevenbildern und Häusern gewon6 Nachträgliche Analysen der Programme gegen die Armut in den Vereinigten Staaten während der sechziger Jahre verzeichnen in allen Einzelheiten die Probleme, auf die jedes Sozialprogramm stößt, das einzig und allein auf der Weltsicht der Mittelschicht basiert und die Grenzen zwischen den Subkulturen völlig außer Acht lässt (eine besonders vernichtende Kritik ist Daniel P. Moynihans Maximum Feasible Misunderstanding). Die Programme der siebziger Jahre, die Bikulturalismus und Minderheitenrechte betonen, werden wahrscheinlich zeigen, welche Probleme auftreten, wenn jenen Grenzen allzu große Beachtung geschenkt wird.
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nenen Schlussfolgerungen verallgemeinern und sie auch auf Ideen anwenden. Womit praktisch zum Ausdruck gebracht wird, dass der große philosophische Streit zwischen Idealisten und dialektischen Materialisten müßig ist. Ich werde zeigen, dass das, was für Gegenstände gilt, auch für Ideen gilt. Ich stimme zwar zu, dass Ideen, idealistisch betrachtet, frei sind und keinem Zwang unterliegen, doch meine ich, dass sie in der Realität immer innerhalb eines sozialen Kontexts entstehen und somit unvermeidbar sozialen Zwängen unterworfen sind. Denjenigen Idealisten, die Marx kritisieren, weil er ungerechtfertigterweise die Wirtschaft, das heißt, die Dinge vor die Ideen gestellt habe, möchte ich erwidern, Marx hätte nicht sagen sollen, dass die Dinge den Ideen vorausgehen, sondern dass die Ideen die Dinge sind.
4. Von Dingen zu Ideen »Ich liebe Geschichte einfach: sie ist ... sie ist so alt.« Amerikanische Touristin Wir alle wissen, dass unsere Überzeugungen und die Art und Weise, wie wir die Welt verstehen, unsere Handlungen beeinf lussen. Wir tun das eine, weil wir davon überzeugt sind, dass es richtig ist, und wir tun etwas anderes nicht, weil wir es für falsch halten. Unter anderen Umständen tun wir etwas, weil wir erwarten, dass die Ergebnisse vorteilhaft für uns sein werden, und wir tun etwas anderes nicht, weil wir erwarten, dass die Ergebnisse für uns von Nachteil sein könnten. Wir können also sagen, dass wir in unseren Köpfen, in unseren Gedanken und in unserer Sprache ein mehr oder weniger kohärentes Modell der Welt – ein Weltbild – mit uns herumtragen, eine bestimmte Art, unserer sozialen und physischen Umwelt Sinn zu verleihen. Wir verfügen außerdem über ein mehr oder weniger kohärentes System moralischer Urteile, über eine Vorstellung, nicht davon, wie die Welt ist, sondern davon, wie sie sein sollte. Wir haben aber nicht nur Überzeugungen, sondern wir handeln auch danach. Wenn wir handeln, sind wir ein Teil der Welt und verändern sie tatsächlich: Wir haben also ein Weltbild in unseren Köpfen, während unser Körper einen kleinen Teil jener Welt bildet. Wir können über Weltbild und Handeln sprechen, und wir können untersuchen, wie sie, wenn überhaupt, miteinander verbunden sind. Dies ist zweifellos eine ganz grundlegende Unterscheidung, die sowohl in der Soziologie als auch innerhalb der Sozialanthropologie auf vielfältige Weise Anerkennung findet: zum Beispiel in der Gegenüberstellung von Kategorie und Handeln, von Werten und Verhalten, von Kultur und Gesellschaft. Folglich mag es jemanden, der weder Soziologe noch Sozialanthropologe ist, überraschen zu erfahren, dass die Frage nach der Natur der Beziehung zwischen Weltbild und Handeln unbeantwortet bleibt, und es mag ihn sogar schockieren zu erfahren, dass die meisten Praktiker dieser Disziplinen sich dieser Tatsache nicht nur nicht bewusst sind, sondern ihr gleichgültig gegenüberstehen oder irrtümlicherweise glauben, sie sei bereits beantwortet. Die Schwierigkeit ist, dass dieses Problem allein schon aufgrund der Form der verschiedenen Gegenüberstellungen mit Vorurteilen belastet wird. Es wird
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nämlich davon ausgegangen, dass entweder das Weltbild die Handlungen bestimme oder aber die Handlungen das Weltbild; und weiterhin, dass Analysen und theoretische Ausführungen von einer dieser beiden Positionen ihren Ausgang nehmen müssten. Die Wahl zwischen diesen alternativen Standpunkten wird manchmal von der Art des zu untersuchenden Problems, häufiger aber vom persönlichen Temperament und von der persönlichen Neigung bestimmt, was zur Folge hat, dass die Verfechter dieser beiden Ansichten zwangsläufig entweder in heftigen Streit miteinander geraten oder die Existenz des jeweils anderen bewusst ignorieren. Manchmal jedoch, besonders in dem Bereich, der als »hohe Theorie« bezeichnet wird und in dem diese Fragen auf formale und ausführliche Weise behandelt werden, kann man die anspruchsvollere Reaktion erleben, dass beide Standpunkte akzeptiert werden und zugegeben wird, Weltbild und soziales Handeln könnten voneinander unabhängig analysiert werden. Wenn Weltbild und Handeln aber tatsächlich völlig unabhängig voneinander wären, könnte man allerdings die ganze Angelegenheit vergessen. Doch sie sind eben nicht unabhängig voneinander, sondern aufeinander bezogen, und können in dem Maße, wie sie aufeinander bezogen sind, nicht unabhängig voneinander wahrgenommen werden. Die in den unterschiedlichen Auffassungen der Kategorientheoretiker, der Handlungstheoretiker und der »reinen« Theoretiker impliziten Annahmen, dass entweder das Weltbild dem Handeln oder das Handeln dem Weltbild vorausgehe, und dass diese Annahmen entweder kontradiktorisch oder komplementär seien, schließen alle graduellen Fragen aus: So die Frage, in welchem Umfang die Annahmen komplementär oder kontradiktorisch seien; oder die Frage, ob sie in bestimmten Bereichen gültig und in anderen nicht gültig sein könnten. Wichtiger als dies ist aber, dass es aufgrund dieser Vorurteile unmöglich wird, über allmähliche oder plötzlich auftretende Verschiebungen zu sprechen, die zwischen diesen Bereichen auftreten können und tatsächlich zu beobachten sind. Diese gleichermaßen angenehmen wie tiefverwurzelten Denkgewohnheiten, die auf der eindeutigen begriff lichen Trennung zwischen »Kategorie« und »Handeln« auf bauen, sind ein Erbe der auf Descartes zurückgehenden Philosophie. Die Verfechter dieser Tradition stehen, wie der landbesitzende Kleinadel, in einem großen Ehr- und Verantwortungsgefühl. Sie verlangen nichts anderes als das Privileg, ihren großen Besitz pf legen zu dürfen, und die Genugtuung, ihn in einem noch besseren Zustand als dem, in dem er sich befand, als sie selbst ihn erhielten, an die nächste Generation weitergeben zu können: Was könnte man mehr verlangen? Aber selbstverständlich können philosophische Traditionen, wie große Landhäuser, zu »weißen Elefanten« werden, und dies scheint gegenwärtig, trotz seiner großen historischen Leistungen, mit dem Kartesianismus zu geschehen. Innerhalb der hohen Theorie führt die kartesianische Denkweise zu zwei völlig entgegengesetzten Antworten auf die Frage »Wie ist Gesellschaft möglich?« Eine
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der Antworten lautet, dass es unter den Mitgliedern einer jeden Gesellschaft eine Übereinkunft gebe, wie Dinge, Menschen und Ideen bewertet werden müssten. Es bestünde demnach ein Konsens über das, was relevant und was irrelevant sei, und es herrsche allgemeine Übereinstimmung hinsichtlich der Beurteilung des für relevant Gehaltenen. In denjenigen Bereichen, in denen aus welchen Gründen auch immer ein Konsens nicht gegeben oder nur schwach entwickelt sei, funktioniere der Prozess des sozialen Lebens in der Weise, dass er Widerspruch und Unordnung zu minimieren suche und dadurch auf einen Konsens hinarbeite. Die andere Antwort lautet, grundlegende Bedingung für das Funktionieren der Gesellschaft sei der Mangel an Konsens und damit die ständige und weitverbreitete Divergenz der Meinungen sowohl in Bezug auf Relevanz und Irrelevanz als auch in Bezug auf die Bewertungen des von den Mitgliedern jeweils für relevant Gehaltenen. Die erste Antwort führt zu der Vorstellung, Kultur sei eine Art gemeinsames Regelbuch für alle Mitglieder der Gesellschaft, ein Bündel von gemeinsamen Gewohnheiten, die immer und überall ihre Handlungen und ihr Verhalten bestimmen und kanalisieren. Die zweite Antwort führt zur Aufgabe des herkömmlichen Kulturbegriffs mittels einer Art reductio ad absurdum, derzufolge der Begriff Kultur sinnvoll nur auf der Ebene des Individuums anwendbar sei: Demnach gäbe es in einer Gesellschaft ebenso viele Kulturen, wie die Gesellschaft Mitglieder hat. Bei der Konsens-Antwort bildet die Kultur den mächtigen Rahmen, in dem die Handlungen der Mitglieder der Gesellschaft als Individuen oder Gruppen enthalten sein müssen. In diesem Sinne unterstellt die Annahme eines Konsenses zugleich, dass die kognitiven Kategorien der Individuen ihren Handlungen vorausgehen. Im Gegensatz dazu hat die Annahme eines mangelnden Konsenses die Ablehnung dieser Priorität zur Folge. Zwischen Annahmen und Handlungen besteht zwar immer noch ein Zusammenhang, doch lässt sich nicht entscheiden, was von beiden zuerst kommt. Beide Ansätze können zwar als Widerspiegelung des jeweils anderen betrachtet werden, doch während die kognitiven Kategorien einem unzugänglichen Bereich des Bewusstseins zugerechnet werden, erscheint das Verhalten, das sie ref lektieren, als Teil der realen Welt und all den natürlichen Zwängen unterworfen, die diese Welt charakterisieren. Aus dieser Sicht sind daher alle mentalen Strukturen nur untereinander verknüpft, während Handlungen als fest in der Realität verwurzelt wahrgenommen werden. Daher geht allen praktischen Fällen das Handeln der Kategorisierung voraus. Wird eine konkrete Analyse unternommen, so verschwimmt angesichts der erhobenen Daten und detaillierten Untersuchung alsbald die Möglichkeit, zwischen Kategorisierung und Handeln klar unterscheiden zu können und wird es oft schwierig festzustellen, welche Antwort nun eigentlich gegeben wird. Das Verschwimmen dieser Unterscheidung ermöglicht auch die vermeintlich eklektische Annahme, dass beide Standpunkte gültig seien. Dieser Auffassung zufolge
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ist Gesellschaft nur möglich, wenn ein Konsens sowohl vorhanden als auch abwesend ist – eine verbreitete theoretische Position, die gänzlich unhaltbar ist, weil die beiden Auffassungen sich in jeder Hinsicht widersprechen und nicht beide wahr sein können. Die Stevenbilder und die Häuser in Nord-London sind vor allem deshalb bedeutsame Beispiele, weil sie sowohl weder diese beiden Antworten noch die Möglichkeit ihrer Kombination ausschließen. Wenn zum Beispiel die erste Antwort richtig wäre, könnte es keinen Transfer zwischen den kulturellen Kategorien »vergänglich« und »dauerhaft« geben. Wäre dagegen die zweite Antwort richtig, könnte es keine Bereiche feststehender Annahmen geben, da der Bereich der Flexibilität sich dann über das ganze System erstrecken müsste. Wenn aber die Kombination der beiden Antworten zuträfe, wären Transfers zwar möglich, doch es gäbe keine Kategorien, während gleichzeitig die Kategorien existierten, doch Transfers zwischen ihnen ausgeschlossen wären. Die möglicherweise wichtigste Verbesserung des kartesianischen Nachlasses im 20. Jahrhundert war die Formulierung und Vervollkommnung der KategorienTheorie, aus der sich praktisch eine völlig neue Disziplin entwickelte: die Semiologie. In der klassischen Informationstheorie wird der Prozess der Informationsübertragung in fünf aufeinander folgende Phasen unterteilt. Am Anfang steht eine Quelle (Sender), danach kommt die Verschlüsselung (durch einen Encoder), durch die die Information in eine für die Übertragung geeignete Form gebracht wird. Sodann erfolgt die Übertragung der Nachricht über ein bestimmtes Medium, zum Beispiel über Telefondrähte. Die letzten beiden Phasen sind eine Umkehrung der ersten beiden; wenn sie durchlaufend sind, ist die Information übertragen worden. Die Informationstheorie bietet eine Methode, durch die die Kodierung optimiert werden kann. Nehmen wir zum Beispiel eine ganz einfache Information, die gesendet werden soll: ABBABABBABABBB... Diese Nachricht könnte einfach durch zwei »bits« kodiert werden, von denen eines für A und das andere für B steht. Sehen wir uns die Botschaft jedoch genauer an, erkennen wir, dass auf ein A nie ein weiteres A folgt. Daher können wir eine erhebliche Vereinfachung erreichen, wenn wir ein Zeichen nicht bloß für A, sondern für AB setzen. Dabei ist offensichtlich, dass in dem Maße, wie die Nachricht komplexer wird, die Optimierung, die die Informationstheorie ermöglicht, desto wertvoller wird. Von diesem Standpunkt aus betrachtet, scheint die Semiologie eine Methode zu sein, mit deren Hilfe man ein sehr viel genaueres und detaillierteres Modell
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dessen erhalten kann, was in Begriffen der Informationstheorie eine äußerst komplexe Botschaft ist – die natürliche Sprache oder Kultur. Im Allgemeinen kann das Modell einer Botschaft auf zweierlei Art und Weise aufgebaut werden. Erstens: Wenn die Botschaft eindeutig bestimmt ist, wie zum Beispiel im Falle künstlicher Sprachen oder der Anordnung von DNA-Molekülen, können wir die Beschränkungen festlegen, die sie definieren sollen. Das heißt, wir können die Botschaft im Vorhinein modellieren. Zweitens: Ist die Botschaft nicht eindeutig bestimmt, können wir sie nur in Bezug auf ihre eigene Geschichte modellieren. Das heißt, das Modell der Botschaft lässt sich nur im Nachhinein formulieren. Wenn zum Beispiel die Botschaft ABBABABBABABBB... eindeutig bestimmt ist, können wir sagen, dass auf ein A nie ein A folgt, und wir können auf den deterministischen Mechanismus verweisen, der dies sicherstellt. Wenn aber die Botschaft nicht eindeutig bestimmt ist, dann ist alles, was wir sagen können, dass bisher ein A nie auf ein A gefolgt ist. Kultur ist nun zweifellos eine Botschaft dieses zweiten Typs. Sie ist nachweisbar nie eindeutig bestimmt, und folglich handelt es sich um eine Botschaft, deren Modell erst im Nachhinein formuliert werden kann. Als Konsequenz daraus ergibt sich, dass es unmöglich ist, eine Unterscheidung zu treffen zwischen dem, was nie geschehen kann, und dem, was noch nicht geschehen ist. Wenn wir nun den Fall annehmen, dass die Botschaft ABBABABBABABBB... mittels der Semiologie so aufgeschlüsselt wurde, dass ein Zeichen für AB steht, was passiert dann, wenn zum ersten Mal in der Geschichte plötzlich ein A auf ein A folgt? Dieses außerordentlich wichtige Stück Information wird als »Rauschen« ausgeschieden. Die Semiologie kann also Veränderung nicht von Geräusch unterscheiden. An diesem Punkt wird der Semiologe allerdings einwenden: »Ganz richtig. Aber wir haben nie behauptet, dass sie das könnte!« Tatsächlich wird oft als ein besonderer Vorzug des Strukturalismus betont, dass er Kausalität und Diachronie ablehne und ein Verfechter von Wechselbeziehungen und Synchronie sei.1 Zum Beispiel ist diese Trennung von Zeit und Raum – wobei die Zeit als Sache der Geisteswissenschaft und der Raum als Sache der Anthropologie betrachtet werden – eine explizite Annahme in Lévi-Strauss« Strukturalismus: »Die eine entfaltet den Fächer der menschlichen Gesellschaft in der Zeit, die andere im Raum.«2 Was ich zeigen möchte, ist aber dies: Der Einwand, den ich erhoben habe, dass nämlich die Semiologie ein statisches Modell der Botschaft, die niemals statisch ist, liefere, ist nicht trivial, und die herkömmliche Antwort des Semiologen, er beschäftige sich nicht mit derartigen Regeländerungen, sondern nur mit den Re1 Ich möchte mich dafür entschuldigen, dass ich diese schändlichen (aber nützlichen) Modewörter benutze. Synchronie bedeutet einfach »alles gleichzeitig«, Diachronie »eins nach dem anderen«. 2 Lévi-Strauss, C.: Das wilde Denken, Frankfurt a. M. 1968, S. 259.
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geln, besagt, dass er sich mit überhaupt nichts beschäftigt, denn die Klasse der Phänomene, mit der die Semiologie nicht fertig werden kann, umfasst all jene Phänomene, denen sie selbst sich widmet.3 Nachdem ich dies gesagt habe, warte ich ängstlich darauf, dass der Himmel sich öffnet und ein Blitz mich zu Boden streckt. Dies geschieht jedoch nicht; vielleicht, weil mich ein schlimmeres Schicksal erwartet: Dass meine Bewerbung um Aufnahme in den anthropologischen Club wegen eines gesellschaftlichen Vergehens, neben dem die Bestellung eines schottischen Moorhuhns außerhalb der Jagdsaison geradezu bedeutungslos erscheint, abgelehnt wird; denn es scheint so, als habe ich die Frage gestellt, die nie zu stellen alle Mitglieder des Clubs stillschweigend übereingekommen sind: Ich habe die nützliche Lüge in Frage gestellt, auf die der Club gegründet ist. Aber strafmildernd möchte ich plädieren, dass diese nützliche Lüge nicht immer das die Mitglieder dieses Clubs einigende Band gewesen ist und dass vor nicht allzu vielen Jahren einige Mitglieder diese Frage tatsächlich gestellt haben. Was aber noch wichtiger ist: Diese Frage wurde nicht in irgendeiner dunklen Ecke gestellt, sondern im hellen Tageslicht. Sie warf ein Licht auf einen klassischen Gegenstand anthropologischer Forschung: jene Gesellschaften nämlich, die als ihr Hauptorganisationsprinzip die Institution der so genannten segmentären Lineage (Abstammung) verwenden.4 Die Richtung, die die Sozialanthropologie etwa während der letzten vierzig Jahre eingeschlagen hat, und insbesondere die Entwicklung des Strukturalismus waren weitgehend von den anhaltenden Bemühungen bestimmt, die Probleme zu lösen, die jene Gesellschaften aufwarfen. (Sie wurden infolge ihres merkwürdigen Organisationsprinzips manchmal »akephale Gesellschaften«, also Stämme ohne Anführer, genannt.) Dabei handelte es sich zum Teil um praktische Probleme der kolonialen Verwaltung, denn es ist zum Beispiel schwierig, eine Politik der indirekten Herrschaft zu betreiben, wenn man keine Häuptlinge oder Anführer finden kann, durch die man indirekt herrschen könnte. Die Feldforschung und die daraus resultierenden Ethnographien und theoretischen Schriften jedoch wirkten, auch wenn sie aus kolonialen Überlegungen heraus finanziert und gefördert wurden, über den Rahmen hinaus, innerhalb dessen sie sich entwickelt hatten: Großbritannien mag sein Empire verloren haben, aber die Anthropologie hat immer noch ihre Lineage-Theorie.
3 Das ist etwas zu sehr vereinfacht. Strukturalisten befassen sich mit bestimmten Arten (regelgebundener) Veränderung. Eine vollständigere Darstellung der Gründe für die Ablehnung des Strukturalismus wird in Kapitel 7 gegeben. 4 Es ist unvermeidbar, dass ich im begrenzten Raum eines einzelnen Kapitels nur ganz knappe Erläuterungen geben kann. Mein augenblickliches Ziel ist nicht, eine ausführliche Darstellung zu geben (was ein gewaltiges Unterfangen wäre), sondern nur gerade so viele Erklärungen, wie sie für den Fortgang meiner Argumentation unbedingt erforderlich sind.
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Segmentäre Lineage-Systeme weisen zwei charakteristische Merkmale auf. Erstens wird die Abstammung auf jeder Generationsebene auf einen Elternteil zurückgeführt. Im Allgemeinen wird die männliche Linie gewählt, aber es gibt keinen Grund, warum es nicht auch die weibliche oder verschiedene Kombinationen sein könnten, wie zum Beispiel eine männliche Linie mit gelegentlich geeigneten Frauen dazwischen, die dann als männlich betrachtet werden. Das wesentliche Merkmal ist jedoch, dass in jeder Generation immer nur ein Elternteil für die Berechnung der Abstammung in Frage kommt. Diese Form der Herleitung resultiert in einem Gerüst, das in Wirklichkeit eine umgekehrte Taxonomie ist. Die große Komplexität der lebenden Bevölkerung wird geordnet, indem man zunächst alle Personen auf Fächer mit den Namen ihrer direkten Vorfahren verteilt, diese dann nach deren direkten Vorfahren zusammenfasst und so weiter, bis man schließlich zu einem einzigen gemeinsamen Vorfahren an der Spitze gelangt. Höhe und Breite dieses Gerüsts werden vom Umfang der Bevölkerung und der durchschnittlichen Kinderzahl pro Ahnherr bestimmt. Es muss betont werden, dass der Boden dieser Pyramide der Spitze logisch vorausgeht. Vieles könnte uns nämlich dazu verleiten, es andersherum zu sehen. Zum Beispiel verläuft die Richtung des biologischen Prozesses – Eltern produzieren Kinder, die ihrerseits Enkelkinder produzieren – von der Spitze nach unten, und die chronologische Abfolge von oben nach unten könnte die falsche Vorstellung verstärken, dass die Spitze ursächlich der Basis vorausgeht. Ein solches Lineage-Gerüst enthält wohl zweifellos eine Art Geschichte und mag von denen geglaubt werden, deren Geschichte es darzustellen scheint, dennoch ist es nicht so sehr eine Geschichte als vielmehr ein Element eines Weltbildes, dessen Absicht es ist, Ordnung zu schaffen und die chaotische Vielfalt der menschlichen Verzweigungen in den Griff zu bekommen (das Gerüst stellt im Allgemeinen eine Verbindung zwischen dem geographischen und dem soziologischen Raum her). Eine solche Geordnetheit und Handlichkeit lässt sich nur um den Preis beträchtlicher historischer Kosten erreichen: Alle jene Vorfahren, deren Deszendenz nicht berücksichtigt wird, fallen dem Vergessen anheim. Diese Unterscheidung zwischen (unerreichbarer) totaler Geschichte und (erreichbarer) Weltbild-Geschichte wurde von Lévi-Strauss hervorgehoben: »[...] der Historiker und der Agent der Geschichte zergliedern und zerschneiden sie (die historischen Tatsachen), denn eine wirklich totale Geschichte würde sie mit dem Chaos konfrontieren [...]. Solange die Geschichte nach Signifikanz strebt, verurteilt sie sich dazu, Gebiete, Epochen, Menschengruppen und Individuen in diesen Gruppen auszuwählen und sie als diskontinuierliche Figuren gegen ein Kontinuum abzuheben, das gerade noch als Hintergrund dienen kann. Eine wahrhaft
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totale Geschichte würde sich selbst neutralisieren: ihr Produkt wäre gleich Null [...]. Die Geschichte ist also niemals die Geschichte, sondern eine Geschichte-für.« 5 Nachdem Lévi-Strauss diese Unterscheidung getroffen hat, verwendet er sie für den falschen Zweck – um das besondere Prestige zu entthronen, das, wie er meint, die zeitliche Dimension in den Augen der Philosophen besitzt, »als ob die Diachronie einen Typus von Intelligibilität begründete, der nicht nur der Synchronie überlegen ist, sondern spezifisch menschlich ist.«6 Er schlägt eine Symmetrie und Komplementarität zwischen Geschichtswissenschaft und Anthropologie vor, von denen die eine den Fächer der menschlichen Gesellschaft in der Zeit und die andere im Raum entfalte. Aber diese Trennung zwischen Zeit und Raum – dass die Zeit Sache der Geschichtswissenschaft und der Raum Sache der Anthropologie sei – liefert Lévi-Strauss zwar die Rechtfertigung für seinen Strukturalismus, folgt jedoch in keiner Weise aus seiner Unterscheidung zwischen »Geschichte« und »Geschichte-für«. »Geschichte-für« ist also die einzige Art von Geschichte, die wir haben können, und da die Geschichten und die Agenten der Geschichte auswählen, zergliedern und zerschneiden müssen, sollten wir fortfahren zu erforschen, warum manche Historiker auf die eine Art auswählen, zergliedern und zerschneiden und andere auf eine andere Art, und dann sollten wir untersuchen, wie es kommt, dass manchmal die eine und manchmal eine andere dieser »Geschichten-für« Glaubwürdigkeit erlangt. Mit anderen Worten, die Herstellung einer »Geschichte-für« ist eine politische Aktivität, sie ist eine besondere Form des Wissens und wird von jenen sozialen Kräften geformt, die Einf luss auf dessen Billigung oder Ablehnung haben. Diese sozialen Kräfte werden durch das zweite charakteristische Merkmal des segmentären Lineage-Systems ins Spiel gebracht: durch die so genannte segmentale Opposition und Balance. Wenn zum Beispiel zwei Männer in einen Streit geraten, dann werden beide ihre Anhänger unter Berücksichtigung des LineageSystems mobilisieren, zunächst ihre nahen Verwandten und dann diejenigen, mit denen sie durch entferntere Vorfahren verbunden sind, bis schließlich einer der beiden Opponenten eine geringfügig längere Verwandtschaftskette aufweisen kann als der andere. Auf diese Weise werden zwei Segmente mobilisiert, deren Umfang eine Funktion der genealogischen Distanz zwischen den beiden Streitenden ist: Wenn diese nahe miteinander verwandt sind, werden die Segmente aus kleinen Familiengruppen bestehen; sind sie nur entfernt miteinander verwandt, kann unter Umständen die ganze Bevölkerung in zwei Lager gespalten werden; und kommt einer gar aus einem anderen Stamm, wird die ganze Bevölkerung 5 Lévi-Strauss, a.a.O., S. 296 f. 6 A.a.O., S. 295.
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mobilisiert. Nach der Beilegung des Streits werden die beiden Segmente demobilisiert und lösen sich wieder im Ganzen auf. Damit diese Übereinkunft zur Streitbeilegung allgemeine Unterstützung finden kann, ist es wichtig, dass die mobilisierten Segmente in etwa gleich groß sind. Es hat wenig Sinn, Segmente zu mobilisieren, wenn diese so ungleich sind, dass das Resultat von vornherein feststeht. Ein System, das diese Forderungen – die Berechnung der Abstammung nach immer nur einem Elternteil auf jeder Generationsebene und die Aufrechterhaltung der segmentalen Opposition und Balance – erfüllt, scheint logisch unmöglich zu sein. Denn erstens würde das Lineage-Gerüst mit der Zahl der Generationen immer umfangreicher und damit weniger gut handzuhaben werden. Zweitens würden die unvermeidbaren ökologischen und sozialen Glücks- und Unglücksfälle das Gleichgewicht zwischen den Segmenten ständig durcheinanderbringen. Demographische Veränderungen, Änderungen der Besiedlungsstruktur, Konf likte mit Nachbarvölkern, Epidemien und dergleichen, all das würde schließlich dazu führen, dass manche Segmente enorm wüchsen und andere abstürben. Die segmentale Opposition bliebe zwar erhalten, aber das Gleichgewicht wäre zerstört. In der Praxis geschieht dies jedoch nicht. Der Umfang des Lineage-Gerüsts bleibt ziemlich gleich (zum Beispiel ungefähr 15 Generationen bei den Tiwi, zwölf bei den Kuma in Neu-Guinea und neun bei den Nuer;7 und die Segmente bleiben im Gleichgewicht. Das geschieht auf folgende Weise: Erstens können schriftlose Gesellschaften nicht ihre ganze Geschichte erinnern. Wo es keine schriftlichen Aufzeichnungen gibt, die man konsultieren könnte, können viele Dispute darüber entstehen, wo welcher Vorfahr eingeordnet werden kann. Weiterhin wird, wenn ein historisches Datengebäude, wie zum Beispiel ein Lineage-Gerüst, ständig an Umfang zunimmt, es irgendwann eine maximale Größe erreichen, bei der der Umfang des Inputs dem Umfang des Outputs entspricht, also soviel erinnert wie vergessen wird. Schließlich wird, wenn, wie zum Beispiel in Südchina,8 zu schriftlichen Aufzeichnungen übergegangen wird, das Gleichgewicht gestört, weil in dem Maße, in dem das Datengebäude wächst, sich die Segmente nicht mehr ohne Umstände ausbalancieren lassen und die funktionale Bedeutung des Lineage-Systems zwangsläufig abnimmt. Andererseits kann sich infolge der Intervention anderer Institutionen der Umfang eines Datengebäudes schon lange vor dem Zeitpunkt stabilisieren, bevor diese Grenze erreicht 7 Bohannan, L.: A Genealogical Charter, in: Africa. Journal of the International African Institute, 22 (4), London 1952, S. 301–315; Bohannan, L. und P.: The Tiv of Central Nigeria, London 1953; Reay, M.: The Kuma: Freedom and Conformity in the New Guinea Highlands, Melbourne 1959; Evans-Pritchard, E. E.: The Nuer, Oxford 1940. 8 Freedman, M.: Lineage Organization in South-Eastern China. Monographs on Social Anthropology, Nr. 18, London 1958.
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ist. Auf Bali macht es zum Beispiel die Institution des Teknonyms (die Praxis, die Eltern durch ihre Kinder zu bezeichnen, z.B. »Wilhelms Vater«) praktisch unmöglich, das Lineage-Gerüst über die Lebenden hinaus zu erweitern (und gestattet somit das Tätigwerden von Dorfräten, die andernfalls mit ihrer Lineage-Treue in Konf likt geraten würden).9 Zweitens werden alle Mitglieder der Gesellschaft ein Lineage-Gerüst produzieren, das ihre Gesellschaft und ihren Platz in ihr beschreiben soll, doch werden nicht einmal zwei solcher Gerüste genau übereinstimmen. Denn die Leute werden dazu tendieren, sich nur an den Teil des Gerüsts zu erinnern, der für sie relevant erscheint, und folglich werden diese individuell konstruierten Genealogien immer wieder beträchtliche Gedächtnislücken aufweisen; miteinander verglichen wird es daher sowohl hinsichtlich der erinnerten Einzelheiten als auch im Hinblick auf die Verteilung der Gedächtnislücken zu Abweichungen kommen. Drittens besteht die Politik einer solchen Gesellschaft in der Manipulation dieser Ungewissheit und Nichtübereinstimmung, und dieser kontinuierliche Prozess restrukturiert das Gerüst immer in der Weise, dass ein neues Gleichgewicht der sich gegenüberstehenden Segmente entsteht. (Das kommt vermutlich daher, dass von den vielfältigen möglichen Restrukturierungen diejenige die Unterstützung der meisten »Stimmberechtigten« erhalten wird, die einem Gleichgewicht der Segmente, die sie zu mobilisieren vermag, am nächsten kommt.) Allerdings kann nicht das ganze Gerüst neu strukturiert werden; nicht alles liegt im Bereich des politisch Möglichen. Nimmt man zum Beispiel eine Gesellschaft, in der das Lineage-Gerüst nicht durch geschriebene Aufzeichnungen oder das Vorhandensein modifizierender Institutionen kompliziert wird (die Tiwi oder die Kuma sind in dieser Hinsicht bewundernswert), so kann das System gut in einem Schaubild dargestellt werden (Abbildung 6). Da an der Basis der Pyramide ständig neue Generationen hinzugefügt werden, während ihr Umfang ziemlich konstant bleibt, muss sie sich an irgendeiner Stelle ineinanderschieben. Es gibt jedoch bestimmte Bereiche, in denen das nicht möglich ist. Die Tiwi selbst sagen »ein Mann hat drei Väter«, womit sie drei Vorfahren meinen, an die sie eine persönliche Erinnerung haben. (Jeder Tiwi muss insgesamt die 15 Väter haben, über die er seine Abstammung bis zu Tiwi selbst zurückverfolgen kann. Die natürliche Begrenzung des menschlichen Erinnerungsvermögens umfasst zufällig die gleiche Zeitspanne, die verstreichen muss, bevor Literatur und Geschichtsaufzeichnungen zu geeigneten Gegenständen der wissenschaftlichen Forschung werden und bevor aus einem Artefakt ein antikes Stück wird.) Innerhalb dieses Bereichs des Lineage-Gerüsts ist eine Restrukturierung eindeutig unmöglich oder zumindest sehr schwierig. 9 Geertz, H. und C.: Teknonymy in Bali: Parenthood, Age-grading and Genealogical Amnesia, in: Journal of the Royal Anthropological Institute, Bd. 94, Teil 2, London 1964.
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Abbildung 6
Ebenso dürfen jene Vorfahren an der Spitze oder in der Nähe der Spitze der Pyramide nicht angetastet werden (es sei denn, es käme zu einem mächtigen Umbruch innerhalb der Gesellschaft), denn so wie die drei Väter eines jeden Tiwi seine »wirkliche« Geschichte darstellen, so stellen Tiwi, dessen Söhne und dessen Enkelsöhne die mythische Geschichte des ganzen Volkes dar, und ihre Positionen und ihre Beziehungen zueinander sind in den Mythen und in der allgemeinen oralen Literatur der Gesellschaft eindeutig festgelegt. Die »Ausbuchtungen« ergeben sich also in dem Feld zwischen diesen beiden Bereichen, und die Ahnen beginnen sich genau da übereinander zu schichten, wo ihre exakte Position in der Erinnerung der lebenden Bevölkerung mehr oder weniger stark zu verschwimmen beginnt. Hier setzt auch die Politik der Tiwi ein, mit Hilfe derjenigen, die über das erforderliche Wissen und die erforderliche Rhetorik verfügen, das Lineage-Gerüst neu zu strukturieren, damit es besser der Situation entspricht, die sie herbeizuführen versuchen. Und so wird aus manchem Sohn ein Bruder seines Vaters und viele andere, da sie zufällig nicht den Mittelpunkt irgendeines Segmentes innerhalb der lebenden Bevölkerung bilden, fallen dem Vergessen anheim. Ein schönes Beispiel für dieses politische Ordnen und Neuordnen von Vorfahren kann in dem derzeit f ließenden Zustand der Geschichte des englischen Landschaftsgartens gesehen werden, und dieses Beispiel soll mir auch dazu dienen zu zeigen, wie Historiker, im Gegensatz zu Anthropologen, versuchen, die sozialen Kräfte zu erforschen, die Wissen formen und neu formen. Die allgemein akzeptierte Ahnenreihe lief nach der damals maßgeblichen Feststellung von Horace Walpole in einer direkten, kontinuierlichen Berufslinie von Capability Brown über Humphrey Repton zu William Kent und stellte einen kontinuierlichen Fortschritt hin auf das Pittoreske dar. Vor Kurzem hat ein Gartenhistoriker, George Clarke,10 diese Orthodoxie in Frage gestellt. Er weist darauf hin, dass Walpole als 10 Clarke, G.: William Kent, Heresy in Stowe’s Elysium, in: Willis, P. (Hg.): Furor Hortensis: Essays on the History of the English Landscape Garden in Memory of H. F. Clarke, Edinburgh 1974.
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Whig besonders dazu neigte, Geschichte als ein glattes und stetiges Fortschreiten aufzufassen, und führt zur Stützung dieser Behauptung ein Zitat von Butterfield an: »Es ist ein wesentliches Moment der Geschichtsinterpretation der Whigs, daß sie die Vergangenheit mit Bezug auf die Gegenwart interpretieren [...]. Historische Persönlichkeiten können leicht und überzeugend eingeteilt werden in Männer, die den Fortschritt förderten, und in Männer, die versuchten, ihn aufzuhalten.« Clarke, der vermutlich einen Tory-Geschichtsstandpunkt einnimmt, kann dagegen überzeugend eine diskontinuierlichere, weitgehend von Amateuren bestimmte Entwicklung darlegen, die Hoare und Cobden (die Klienten der Professionellen) einschließt und der Idee vom Fortschritt übel mitspielt. Das heißt, Historiker wie Tiwi-Redner verfolgen einen politischen Zweck, wenn sie eine Umgruppierung ihrer Ahnen vornehmen, und mehr noch, sie sind sich der Tatsache wohl bewusst, dass sie dies tun und dass es das ist, worum es bei »Geschichte« geht. Diese Verkürzung wird manchmal als »strukturelle Amnesie« bezeichnet.11 Wir können sie als einen Prozess auffassen, in dessen Verlauf die Erinnerung an bestimmte Vorfahren kontinuierlich schwindet: Der Vorhang der Amnesie sinkt allmählich herab und sorgt dafür, dass die Abstammungslinie der Väter der Väter der Väter der jüngsten Generation verheirateter Männer erhalten bleibt. Wird das Gleichgewicht durch die Einführung schriftlicher Aufzeichnungen gestört, dann hebt sich der Vorhang allmählich, bis eindeutig erinnerte oder unzweideutig aufgezeichnete Geschichte den Mythos selbst verdrängt. Wird das Gleichgewicht durch die Intervention anderer Institutionen zerstört, dann mag sich der Vorhang weiter herabsenken, wie zum Beispiel auf Bali, wo er beinahe bis auf den gegenwärtigen Tag hinabreicht. Politik – die Kunst des Möglichen – ist also auf das mittlere Feld zwischen Spitze und Basis der Pyramide beschränkt. Nur in diesem Feld sind Umstrukturierungen möglich. Denn die Vorfahren in diesem mittleren Feld sind nicht eindeutig definiert, während die Vorfahren an den beiden Extremen eindeutig festliegen. Obgleich sich diese Bereiche in einem – wenn auch ziemlich zufälligen – Gleichgewicht befinden, sind die Grenzen zwischen ihnen doch nicht permanent fixiert. Vorfahren können den Bereich wechseln und tun dies gewöhnlich auch, und bestimmte Veränderungen, wie zum Beispiel die Einführung schriftlicher Aufzeichnungen oder des Teknonyms, sind aufgrund ihres Einf lusses auf diese Transfers in der Lage, die Positionen oder sogar die Existenz dieser Grenzen drastisch zu verändern. In einem Schaubild ausgedrückt, sieht das System folgendermaßen aus.
11 Barnes, J. A.: Politics in a Changing Society: A Political History of the Fort Jameson Nguni, Manchester 1967.
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Abbildung 7
Der Zusammenhang zwischen Dingen und Ideen lässt sich angemessen und ökonomisch zusammenfassen, indem man dieses Schaubild neben das frühere, für die physischen Objekte bestimmte, stellt (siehe Abb. 8). Diese Parallele zwischen Vorfahren und Stevenbildern, zwischen Ideen und Dingen, wird auf einer ziemlich abstrakten Ebene gezogen. Die Parallele besteht nicht in den einzelnen Mechanismen, denen sie unterworfen sind – denn diese variieren zwangsläufig in erheblichem Maße –, sondern in der gemeinsamen Struktur, die aus diesen verschiedenen Mechanismen resultiert: in den Bereichen der Flexibilität und der feststehenden Annahmen und, was noch wichtiger ist, in der Beziehung zwischen diesen Bereichen. Bereich feststehender Annahmen
Weltbild bestimmt Handeln (z.B. Barock-Kommode)
Dauerhaftigkeit
Bereich der Flexibilität Handeln bestimmt Weltbild (z.B. Times-Vasen) Bereich feststehender Annahmen
Weltbild bestimmt Handeln (z.B. gebrauchtes Auto)
Vergänglichkeit
Abbildung 8
Ein verbreiteter kartesianischer Ansatz besteht darin, diese Bereiche zu identifizieren und dann, nachdem man sie unter Verwendung der Begriffe Rahmen und Umrahmtes klar getrennt hat, unter Verwendung solcher Unterscheidungen wie »Arena« und »Politik«, »Feld« und »politischer Prozess« oder einfach »Makro« und »Mikro« die geeigneten spezifischen Analysen zu entwickeln. Da ein derartiger Ansatz die begriff liche Trennung der Bereiche der Flexibilität und der feststehenden Annahmen zum Ausgangspunkt nimmt, kann er nichts über das Aus-
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maß aussagen, in dem sie nicht getrennt sind, das heißt, über die Durchlässigkeit zwischen dem einen und dem anderen Bereich und über die aus einer derartigen Durchlässigkeit resultierenden Veränderungen in der Position und Eindeutigkeit der Grenzen zwischen diesen Bereichen. Ein derartiger Ansatz kann als »statisch« bezeichnet werden. In seinem 1969 erschienenen Buch Strategems and Spoils schreibt Bailey: »Kein Staatsmann ist erfolgreich, solange er nicht die Regeln von Angriff und Verteidigung im politischen Ring kennt.« Somit werden der Rahmen und das Umrahmte identifiziert und klar getrennt, und die Methode der Analyse folgt automatisch: »Erst wenn wir die Regeln verstehen, können wir beginnen, das Verhalten zu beurteilen« und: »unsere Aufgabe [...] besteht darin, zwischen effektiven und ineffektiven Taktiken zu unterscheiden.«12 Ein solcher Ansatz wäre ausgezeichnet, wenn die Regeln des Spiels nie infolge von Übertretungen verändert würden, aber natürlich werden sie das. Und da Bailey damit nicht fertigwerden kann, wird er sich veranlasst sehen, Ellis‘ Taktik, den Ball aufzuheben – die, da sie den RugbyFootball begründete, wahrscheinlich die effektivste, jemals auf dem Football-Feld praktizierte Taktik darstellt –, als »ineffektiv« zu beurteilen (da die Regeln übertreten wurden). Im Gegensatz dazu gehen wir hier, auch wenn wir die Unterscheidung zwischen den Bereichen der Flexibilität und der feststehenden Annahmen akzeptieren, nicht davon aus, dass diese vollständig voneinander getrennt sind. Wir konzentrieren uns besonders auf die Beziehung zwischen diesen Bereichen, auf die Art und Weise, in der sich Grenzüberschreitungen vollziehen, und auf die daraus resultierenden Verschiebungen der Grenzen, ihr Verschwimmen oder ihr deutlicheres Hervortreten. Schließlich befassen wir uns damit, wie weit solche Grenzveränderungen gehen können, das heißt, damit, wie solche Systeme entstehen und verschwinden. Wir schlagen also einen »dynamischen« Ansatz vor. Wenn wir einen kleineren Streit nehmen, an dem zwei Segmente beteiligt sind, deren wechselseitige Beziehungen jedoch nicht völlig sicher sind, dann wird sich der vermittelnde Vorfahr ganz dicht am Vorhang des Vergessens befinden. Sollte sich herausstellen, dass, im Interesse des segmentalen Gleichgewichts, dieser Vorfahr der Bruder seines Vaters werden sollte (wobei die Meinungen hinsichtlich der Beziehung zwischen diesen beiden ohnehin widersprüchlich und zweifelhaft sein werden), dann wird der Streit beigelegt, indem der Vorfahr zum Bruder seines Vaters gemacht wird (das heißt, durch Neudefinition der Beziehung zwischen den Segmenten). Nach der Beilegung des Streits werden die Segmente demobilisiert und lösen sich wieder im Ganzen auf, aber gleichzeitig wird sich dieses Ganze als Folge des politischen Prozesses, der innerhalb des Lineage-Gerüsts abgelaufen ist, geringfügig, aber definitiv verändert haben, denn der vermittelnde Vorfahr be12 Bailey, F. G.: Strategems and Spoils: A social anthropology of politics, Oxford 1969.
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findet sich nun ganz eindeutig auf der anderen Seite der Grenze zwischen dem Bereich der feststehenden Annahmen und dem Bereich der Flexibilität; und das, was bis dahin nicht möglich war, ist nun möglich. (Das heißt, der Status eines Vorfahren hat sich verändert; er ist nun nicht mehr Teil der politischen Rahmenbedingungen, sondern ist für die Politik selbst verfügbar geworden. Dadurch sind beide leicht, aber definitiv verändert.) Innerhalb dieses kontinuierlichen Prozesses existieren derartige Segmente nicht permanent, sondern treten nur infolge bestimmter Ereignisse zutage. Die Beziehung zwischen »realem«, greif barem Segment (Substanz) und »irrealem«, nicht greif barem Lineage-Gerüst (Struktur) wirft ein nettes philosophisches Problem auf, mit dem sich, in seiner allgemeinen Form, Whitehead beschäftigt hat, lange bevor Anthropologen überhaupt Kenntnis von akephalen Gesellschaften erlangten. Das segmentäre Lineage-Gerüst (das Weltbild) wäre in Whiteheads Terminologie ein »ewiges Objekt«, insofern es eine »Möglichkeit des Wirklichwerdens« darstellt. Die mobilisierten Segmente sind jenes Wirklichwerden. Segmente bilden sich also, interagieren und lösen sich auf als Reaktion auf bestimmte Stimuli, und als solche stellen sie vorübergehende Aktualisierungen dar, aber das Lineage-Gerüst selbst dauert anscheinend ewig fort. Es bildet sozusagen das Regelbuch, das die ganze Spannweite möglicher Aktualisierungen spezifiziert. Aber das ist noch nicht alles: Regelbuch und mögliche Bewegungen, »ewiges Objekt« und seine Aktualisierung, sind weder völlig voneinander isoliert, noch sind sie wechselseitig aufeinander reduzierbar wie Programm und Verarbeitungskapazität eines Computers. Die beiden sind miteinander verknüpft durch das, was Whitehead die »Art des Eintretens« des »ewigen Objektes« in die Aktualität nennt (wie zum Beispiel an der soeben beschriebenen Beilegung des Konf likts zwischen Segmenten deutlich wird). Whiteheads »Art des Eintretens« ist der entscheidende verbindende Begriff zwischen seinem »ewigen Objekt« und seiner »Aktualisierung«. Wenn dieser fehlte und wir nur das »ewige Objekt« und seine Aktualisierung hätten, befänden wir uns wieder bei der kartesianischen Position: »Ewige Objekte sind [...] von Natur aus abstrakt. Unter ›abstrakt‹ verstehe ich, daß das, was ein ewiges Objekt an sich darstellt – also sein Wesen –, verständlich ist ohne die Beziehung auf irgendwelchen besonderen Erfahrungsanlass. Abstrakt sein heißt, besondere konkrete Anlässe wirklichen Geschehens zu transzendieren. Aber einen wirklichen Anlass überschreiten, heißt nicht: von ihm getrennt sein. Im Gegenteil glaube ich, daß jedes ewige Objekt seine besondere Verknüpfung mit jedem solchen Anlass besitzt; und diese Verknüpfung nenne ich seine Art, in diesen Anlass einzutreten [...]. So ist der metaphysische Status eines ewigen Objektes der einer Möglichkeit des Wirklichwerdens. Jeder aktuelle Anlass wird seiner Na-
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tur nach durch die Art bestimmt, wie diese Möglichkeiten bei diesem Anlass verwirklicht werden.« 13 Whiteheads Philosophie des ewigen Objekts, der Aktualität und der Art des Eintretens des ersteren in die letztere wurde zwar im Hinblick auf Physik und Mathematik entwickelt, dürfte jedoch allgemeine Gültigkeit besitzen. Unglücklicherweise ist sie nicht leicht zu verstehen. Sogar Bertrand Russel, der mit Whitehead gearbeitet hatte, gestand, dass dieser »oft sehr dunkel und schwer zu lesen« sei, obwohl er sich beeilt hinzuzufügen, dass »die Feststellung, daß ein Buch schwer verständlich ist, an sich noch keine Kritik bedeutet.«14 Er fährt fort, Whiteheads Metaphysik folgendermaßen zusammenzufassen: »Whitehead ist der Meinung, daß wir zum Verständnis der Welt nicht den Fußstapfen Galileis und Descartes folgen dürfen, die das Reale in erstrangige und zweitrangige Qualitäten teilen. Auf diesem Wege können wir bloß ein durch rationalistische Kategorien entstelltes Bild erreichen. Die Welt besteht viel eher aus einer reichen Sammlung vollblütiger Ereignisse, deren ein jedes etwas an eine Leibnizsche Monade erinnert. Im Gegensatz zu den Monaden sind aber die Ereignisse nur vorübergehend und sterben ab, um neue entstehen zu lassen. Ähnliches geschieht auch mit Objekten. Ereignisreihen mögen als das Heraklitische Fließen und Objekte als die Parmenidesischen Kugeln gedacht werden. Beide für sich genommen sind sie natürlich nur Abstraktionen; in den wirklichen Prozessen sind sie untrennbar miteinander verbunden.« 15 Es lohnt sich, auf diesem hohen Niveau der Verallgemeinerung innezuhalten, um den nun deutlich sichtbaren Wald zu überblicken, bevor wir wieder zu den spezifischen empirischen Bäumen hinabsteigen, die ihn normalerweise vor unserem Blick verbergen. Drei Merkmale müssen unterschieden werden: das ewige Objekt, die Aktualität und die Art, wie ersteres in letztere eintritt. Höchst seltsamerweise scheint das zeitgenössische Denken davon auszugehen, dass es nur zwei dieser Merkmale im Wald gebe: das ewige Objekt und die Aktualität. Die statischen Begriffe der Anthropologen wie »Kategorie« und »Handeln« zum Beispiel, von denen der erste die Möglichkeit des Handelns, der zweite das Handeln selbst bezeichnet, entspringen dieser Art des Denkens, und wir werden vergeblich nach dem dritten Merkmal, der Art des Eintretens der Kategorie in das Handeln, suchen, denn die sklavische Hingabe an den kartesianischen Dualismus sorgt dafür, dass es immer
13 Whitehead, A. N.: Wissenschaft und moderne Welt, Zürich 1949, S. 206 f. 14 Russel, B.: Denker des Abendlandes, Stuttgart 1962, S. 296. 15 A.a.O., S. 206.
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der einen oder der anderen Seite der Dichotomie zugeschrieben und seine Existenz ständig verleugnet wird. Gibt man die Existenz des dritten Merkmals zu und damit, dass der Wald nicht nur aus zwei, sondern aus drei Merkmalen besteht, dann hat das für die kartesianische Soziologie zweifellos tiefgreifende und wahrscheinlich tödliche Folgen. Es kann keine friedliche Koexistenz zwischen der Zwei-Merkmale-Auffassung und der Drei-Merkmale-Auffassung geben, da die Entwicklung der letzteren verlangt, dass wir unsere Aufmerksamkeit auf die Art des Eintretens richten, dass heißt, gerade auf das Merkmal, dessen Verleugnung eine notwendige Bedingung der kartesianischen Betrachtungsweise ist. Im Zusammenhang mit dem segmentären Lineage-System ist es möglich, das ewige Objekt, das Lineage-Gerüst, als das Regelbuch, und die Aktualisierungen, das Mobilisieren und Demobilisieren entgegengesetzter Segmente, als die Bewegungen in dem Spiel anzusehen. Anders ausgedrückt, die ewigen Objekte bilden die politische Arena und die Aktualisierungen die Politik selbst. Wenn man die Realität der »Art des Eintretens« anerkennt, dann ist klar, dass »ewiges Objekt« und »Aktualisierung« manchmal nicht völlig voneinander isoliert sind und sogar ineinander übergehen können. Im Verlauf des Eintretens verschmelzen sie in mehr oder weniger starkem Maße und werden dann ununterscheidbar. Daher ist es möglich (aber nicht sicher), dass es irgendeine Art von Austausch zwischen beiden geben wird: dass bestimmte Aktualisierungen, die bisher unmöglich waren, möglich werden (zum Beispiel kann ein Paar bis dahin unf lexibler Times-Vasen f lexibel werden oder ein unumstrittener Tiwi-Vorfahr wird vielleicht in Frage gestellt); und dass andere Aktualisierungen, die zuvor möglich waren, auf hören, möglich zu sein (zum Beispiel kann ein Paar früher f lexibler Times-Vasen unf lexibel werden oder ein umstrittener Tiwi-Vorfahr erhält vielleicht eine eindeutige Position). Das heißt, die Grenzen, die den Bereich umschließen, innerhalb dessen der Rat aus The Times, »es kommt nicht darauf an, was man sagt, sondern wie man es sagt«, gültig ist, sind nicht unveränderlich. Noch können wir ein Gleichgewicht zwischen Input und Output dergestalt annehmen, dass der Verlust einiger Möglichkeiten durch den Erwerb neuer ausgeglichen wird, so dass das ewige Objekt, während es ewig bleibt, kontinuierlich transformiert wird. Wir müssen damit rechnen, dass unter bestimmten Umständen die Möglichkeiten ständig zunehmen können (Erosion des Rahmens durch das Umrahmte) und dass unter anderen Umständen die Möglichkeiten vielleicht ständig eliminiert werden (Ausdehnung des Rahmens auf Kosten des Umrahmten). Ersteres führt zu einer Politik ohne Arena, letzteres zu einer Arena ohne Politik. Der kartesianische Standpunkt behielte jedoch immer noch seine Gültigkeit, wenn diese möglichen Veränderungen des ‹ewigen Objekts› infolge seines Eintretens in die Aktualität in Wirklichkeit nicht aufträten, aber es ist leicht zu beweisen, dass sie das tun, und ich meine das an Stevenbildern, Häusern und Vorfahren schon hinreichend gezeigt zu haben.
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Das hat auch Konsequenzen für Whiteheads Terminologie, und deshalb erweist sich sein »ewiges Objekt« als eine irgendwie falsche Bezeichnung. Wenn wir uns auf die Art des Eintretens konzentrieren, sind wir in der Lage zu überblicken, wie der ganze Wald entstehen, sich verändern und wieder verschwinden mag. Wenn wir über Politik ohne Arena und über Arena ohne Politik sprechen, sprechen wir paradoxerweise über die Geburt und den Tod »ewiger Objekte«. Das wiederum hat zur Folge, dass die ursprüngliche Unterscheidung zwischen »ewigem Objekt« und »Aktualisierung« zu verschwimmen beginnt. Wir können die Möglichkeit nicht von der Hand weisen, dass ein ewiges Objekt wirklich ewig sein mag (in welchem Falle man manchmal von »kultureller Universalie« spricht), aber weil wir wissen, dass wenigstens einige geboren werden und schließlich sterben, müssen wir ihre Lebensdauer erforschen. Das wiederum führt uns zu der Erkenntnis, dass ewige Objekte auf einer Skala angeordnet werden können, die von Objekten mit unermesslicher Lebensdauer und einer astronomischen Zahl möglicher Aktualisierungen bis zu solchen mit einer nur sehr kurzen Lebensdauer reicht, die nur sehr wenige Aktualisierungsmöglichkeiten erfahren können. An der Grenze fände sich dann ein »ewiges Objekt«, das eine so kurze Lebensdauer aufweist, dass es nur noch zwei Aktualisierungsmöglichkeiten hat, und dann eines, das nur eine Aktualisierungsmöglichkeit hat und somit überhaupt kein »ewiges Objekt«, sondern nichts als nur noch eine Aktualisierungsmöglichkeit ist, die möglicherweise gar nicht eintritt. Die bedrückende Armut des Kartesianismus ist nun deutlich sichtbar. Umgeben von all diesem Reichtum, der mit der Geburt und dem Tod von Systemen, den unermesslichen Variationsmöglichkeiten ihrer Lebensdauer und der Art der Verknüpfung zwischen »ewigem Objekt« und »Aktualisierung« zusammenhängt, kann er nur mit dem einen speziellen Fall, dem »wahren ewigen Objekt«, dessen Lebensdauer unendlich ist, umgehen: ein spezieller Fall überdies, der mit ziemlich großer Wahrscheinlichkeit nicht einmal eintritt. Angesichts der offenkundigen Sterblichkeit des »ewigen Objekts« kommen leider manche Kleingläubigen zu der Überzeugung, das Gleiche gelte für Whiteheads Metaphysik. Ich glaube jedoch, dass dies nicht zutrifft. Die Einwendungen beweisen nicht, dass Whiteheads Philosophie gescheitert, sondern nur, dass sie nicht weit genug entwickelt worden ist. Nachdem ich einen Kollegen gebeten hatte, eine frühe Version dieses Kapitels zu lesen, kam es mit dem Bleistiftvermerk zurück: »Zu sibyllinisch, talmudisch – ja sogar buddhistisch.« Dies betrachte ich als unerwartetes Kompliment: als Hinweis, dass ich mich noch auf dem richtigen Weg befand. Für eine Generation, die mit Hermann Hesses Siddharta und jenem zentralen Bild vom großen Fluss aufgewachsen ist, besitzt die Aussicht auf eine strenge Vertiefung jenes Heraklitischen Satzes große Anziehungskraft: »Wir steigen und steigen noch nicht in den gleichen Fluss: wir sind und wir sind nicht!« Als ich mich wieder Russels Minia-
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turexegese von Whitehead zuwandte, fand ich den Satz: »Was den ursprünglichen Kontakt mit dem Realen betrifft, scheint dies eine Erkenntnis aus sich selbst zu verlangen: ein Verschmelzen des Wissenden und seines Objekts in ein einziges Seiendes.«16 Whitehead, dessen beruf liches Interesse sich in seinem späteren Leben von der Mathematik auf die Philosophie verlagerte, mag sich physisch von England nach Amerika begeben haben, doch in geistiger Hinsicht scheint er in die entgegengesetzte Richtung gereist zu sein. Whiteheads Ideen wurden von zwei seiner Zeitgenossen in Oxford aufgegriffen: von dem Anthropologen Evans-Pritchard und dem Philosophen und Historiker Collingwood. Evans-Pritchards klassische Monographie The Nuer stellt die erste Anwendung dieser Ideen in der Sozialwissenschaft dar und wird heute als eines der ursprünglichen Beispiele für die strukturalistische Methode betrachtet; doch viele Jahre lang stand die Bedeutung dieser Monographie im Schatten eines wiederauf lebenden Empirismus, der sich immer dicht an der Oberf läche des britischen intellektuellen Lebens befindet. Collingwood war in jener Zeit eher isoliert.17 Man beachtete ihn kaum, weil sich der Gezeitenstrom des Interesses Wittgenstein und der Weiterentwicklung der »Oxforder Philosophie« zuwandte. Auf diese Weise ging eine enorm attraktive und vielversprechende Forschungseinrichtung verloren, die erst heute, dreißig oder mehr Jahre später, mühevoll wiederentdeckt wird. Collingwood geht von Whiteheads Position aus und zeigt, dass sie eines historischen Rahmens bedarf: »[...] Naturwissenschaft als eine Form des Denkens existiert und hat immer in einem historischen Kontext existiert und ist, um existieren zu können, auf historisches Denken angewiesen [...]. Niemand kann Naturwissenschaft verstehen, wenn er Geschichte nicht versteht: und niemand kann die Frage, was Natur ist, beantworten, bevor er nicht weiß, was Geschichte ist. Dies ist eine Frage, die [...] Whitehead nicht gestellt (hat).«18 Entsprechend ist Evans-Pritchard der Auffassung, dass Anthropologie letztlich in einen geschichtlichen Rahmen gestellt werden muss.19 Darin kann man eine einfache, von Collingwood modifizierte Neuformulierung Whiteheads sehen: den auf die Anthropologie bezogenen Sonderfall einer allgemeinen philosophischen Position. Aber ist dies das Ende der Angelegenheit? Was ist mit der anderen Möglichkeit: Was, wenn Geschichte in der Sozialwissenschaft enthalten wäre? Können wir nicht ebenfalls argumentieren, dass historisches Denken immer innerhalb eines sozialen Rahmens stattfinden muss? Wenn wir dem zustimmen, kann niemand 16 A.a.O., S. 296. 17 Siehe seine ziemlich bittere Autobiographie: Collingwood, R. G.: Denken, Stuttgart 1955. 18 Collingwood, R. G.: The Idea of Nature, Oxford 1945, S. 177. 19 Evans-Pritchard, E. E.: Anthropology and History, Manchester 1961.
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die Frage beantworten, was Geschichte ist, bevor er nicht weiß, was Gesellschaft ist. Dies ist die Frage, die Collingwood nicht gestellt hat! Dies ist die Frage, die ich stelle, und sie führt zu einer Erforschung nicht der sozialen Phänomene, sondern der Möglichkeit sozialer Phänomene. Ein derartiger Rahmen schließt Geschichte in sich ein, denn Geschichte setzt sich aus jener Untermenge möglicher Phänomene zusammen, die sich tatsächlich ereignet haben
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Der allgemeine Gang der Argumentation lässt sich nun ziemlich genau formulieren. Die grundlegende Idee ist, dass als Folge der Prozesse des menschlichen Soziallebens physischen Objekten bestimmte wichtige Eigenschaften verliehen werden, und dass, umgekehrt, Sozialleben nicht möglich wäre, wenn diese Eigenschaften nicht auf sie übertragen würden. Da Menschen physische Objekte sind, sind auch sie dem gleichen Prozess unterworfen. Aber das ist noch nicht alles. Da Ideen immer in einem sozialen Kontext erzeugt und kommuniziert werden müssen, werden sie zwangsläufig, in etwas unterschiedlichem Maße, dingähnlich. Ich werde daher im Folgenden das Wort »Objekt« nicht allein auf physische Objekte (einschließlich Menschen), sondern auch auf Ideen anwenden. Die Tatsache, dass Objekte sozialen Prozessen unterliegen, bedeutet, dass wir selbst, wenn wir erst einmal sozialisiert sind, Objekte nicht mehr in ihrem Rohzustand vor der Beeinf lussung durch soziale Prozesse sehen können. Die menschliche Fähigkeit, nicht das rohe, sondern das sozial bearbeitete Objekt wahrzunehmen, wird Kognition genannt: sehen plus erkennen. Da alles Erkennen Wissen einschließen muss, ist jeder, der behauptet, Zugang zu Objekten im Rohzustand zu haben, verdächtig. Der Ausdruck »kosmischer Verbannter«1 wurde geprägt, um eine Person zu beschreiben, die einen solchen Anspruch erhebt. Die Tatsache, dass Objekte auf eine systematische Weise bearbeitet sind, bedeutet, dass sie auf irgendeine Weise geordnet werden müssen. Das wiederum bedeutet, dass wir nicht einfach von Kognition (als dem Ergebnis der sozialen Bearbeitung von Objekten), sondern von einem »kognitiven Rahmen« (als dem Ergebnis einer systematischen Komponente innerhalb dieses Prozesses) sprechen müssen. Die Mülltheorie befasst sich damit, die Beziehung zwischen dem »Rohen« – was immer das sei – und den verschiedenen Arten des »Bearbeiteten« näher zu bestimmen.
1 Quine, W. V.: Word and Object, Cambridge, Mass. 1960, S. 275. Wenn Leute kosmische Verbannte spielen und behaupten, Zugang zu Objekten im Rohzustand zu haben, beharren sie einfach darauf, dass ihre sozial bearbeiteten Objekte besser seien als die anderer Leute, dass also ihre Wahrnehmung richtig sei und die der anderen falsch.
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Bei den Beispielen der Stevenbilder, der Häuser und der Vorfahren ordnet die systematische Komponente des sozialen Bearbeitungsprozesses Objekte in einer solchen Weise, dass sie entweder in den Bereich der feststehenden Annahmen oder in den Bereich der Flexibilität fallen. Objekte im Bereich feststehender Annahmen sind eindeutig und diejenigen im Bereich der Flexibilität unbestimmt. Das lässt sich folgendermaßen veranschaulichen:
Abbildung 9
Da gezeigt werden kann, dass manche Objekte, die einmal unbestimmt waren, nun eindeutig sind und andere, die einmal eindeutig waren, nun unbestimmt sind, kann die Grenze zwischen diesen beiden Bereichen nicht geschlossen werden. Das heißt, das System ist nicht statisch. Es müssen Grenzüberschreitungen möglich sein, und es muss Mechanismen geben, mit deren Hilfe diese Grenzüberschreitungen vollzogen werden. Im Falle der Kategorien des Dauerhaften und des Vergänglichen zum Beispiel entwickeln sich diese Mechanismen im unsichtbaren Bereich zwischen dem Rohen und dem Bearbeiteten: zwischen dem Universum der Objekte und dem kognitiven Rahmen, der aus unserer systematischen Bearbeitung jenes Universums – der Kategorien des Dauerhaften und der des Vergänglichen – resultiert. Im obigen Venn-Diagramm (Abb. 9) erschöpfen p und nicht-p das Universum der Objekte. Das heißt, es gibt nichts, was nicht entweder p oder nicht-p ist. Weil wir als »nicht-kosmisch Verbannte« immer innerhalb eines kognitiven Rahmens operieren müssen, neigen wir irrtümlicherweise zur Annahme, dass das Gleiche auch für die Kategorie des Vergänglichen und des Dauerhaften gelte. Tatsächlich muss das Schaubild aber, um richtig zu sein, eine weitere Klasse von Objekten umfassen, die weder p noch nicht-p sind. Das vollständige Bild erfordert drei Bereiche: zwei, die den kognitiven Rahmen darstellen, und einen dritten, der das umfasst, von dem der kognitive Rahmen behauptet, dass es nicht existiere. Dieses vollständige Bild kann in folgendem Diagramm dargestellt werden:
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Abbildung 10
Der kognitive Rahmen q entspricht nun einfach dem ersten Venn-Diagramm (Abb. 9), und es erscheint fast, als erhielte man das vollständige Bild, indem man Abb. 9 und Abb. 10 kombinierte. Eine derartige Kombination ist aber unmöglich, und ich möchte behaupten, dass es der in dieser Kombination enthaltene fundamentale Widerspruch ist, der Gesellschaft möglich macht. Dieser Widerspruch kann in seiner allgemeinsten und abstraktesten Form in einem Satz einfacher Gleichungen ausgedrückt werden, die eine Kombination dieser beiden Venn-Diagramme darstellen: p + nicht p = 1 (Abb. 9) q + nicht q = 1 (Abb. 10) p + nicht p = q < 1 (Abb. 9 + Abb. 10) Auf dieser Grundlage ist es nun möglich, die in der anfänglichen Hypothese versuchsweise vorgetragene, unangemessene Definition von Müll zu revidieren. Wer Müll definieren will, muss mit schrecklichen Fallgruben rechnen. Das Problem kann folgendermaßen formuliert werden: Wenn Müll in der Lücke zwischen jedem beliebigen kognitiven Rahmen des Universums und dem Universum selbst angesiedelt ist, wie können wir ihn dann, wo wir doch immer innerhalb eines kognitiven Rahmens operieren müssen, überhaupt wahrnehmen? Oder anders ausgedrückt: Wenn wir Müll wahrnehmen, muss er sich innerhalb und kann sich nicht außerhalb unseres kognitiven Rahmens befinden, wo er sich aber als Müll (definitionsgemäß) befinden müsste. Dies ist aber nur der übliche Trugschluss eines erdgebundenen Beobachters, der den »kosmischen Verbannten« spielt: Er behauptet fälschlicherweise, eine
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Position außerhalb jeglichen kognitiven Rahmens bezogen zu haben. Er behauptet, mit anderen Worten, er habe die unkombinierbaren Venn-Diagramme kombiniert. Indessen vorgewarnt zu sein, bedeutet gewappnet zu sein, und meine Rüstung in diesem Falle ist die Unterscheidung zwischen Weltbildern, die sowohl beschreibbar als auch sozial zu verwirklichen sind, und Weltbildern, die nur beschrieben werden können. Die Grundzüge dieser Unterscheidung können hier unter Bezugnahme auf Wittgensteins bewundernswert freimütige Äußerungen über Ästhetik dargestellt werden.2 Charakteristischerweise beginnt Wittgenstein damit, zu versichern, dass der Gegenstand der Ästhetik sehr weitreichend sei und gänzlich missverstanden werde. Dieses Missverständnis resultiere aus dem Versäumnis, das ästhetische Urteil auf das »Spiel« zu beziehen, innerhalb dessen es gefällt werde, und dazu nennt er eine Reihe von Beispielen. Er stellt sich vor, Lehrling eines Schneiders zu sein und beschreibt, wie er in den Regeln gedrillt wird. Er spricht davon, dass er ein Gefühl für die Regeln entwickeln, die Regeln auslegen und alles ablehnen muss, was nicht richtig ist, das heißt, was nicht den Regeln entspricht. Ästhetische Urteile – ob etwas richtig oder falsch ist – werden hier von den Regeln bestimmt, und wenn er die Regeln nicht gelernt hätte, wäre er nicht in der Lage, ästhetische Urteile zu fällen. Dann kontrastiert er das ästhetische Spiel des Schneiders mit den »wundervollen« Dingen in der Kunst. Das Spiel des Schneiders mag noch in gewissen Architekturstilen angemessen sein, in denen man zum Beispiel die »Richtigkeit« einer Tür zu schätzen weiß. »Aber bei einer gotischen Kathedrale finden wir nichts »richtig« – sie spielt für uns eine ganz andere Rolle. Das ganze Spiel ist anders.«3 Dann überschreitet er die Grenzen der europäischen Kultur und versetzt sich in die Lage von jemandem, der einen fremden Stamm studiert und der nicht nur dessen Ästhetik, sondern auch dessen Sprache zu lernen versucht. Um herauszufinden, welche Wörter der Stammessprache den Worten »schön«, »fein« usw. entsprechen, muss er sich das Verhalten der Stammesmitglieder ansehen, ihr Lächeln und ihre Gesten beobachten, feststellen, was sie essen und was sie nicht essen, das Spielzeug der Kinder sehen und wie sie damit spielen. Wittgensteins Vorlesung läuft sich nun wirklich warm, und er verlässt die Grenzen seines Planeten, um über die Ästhetik der Marsbewohner zu spekulieren: »Wenn man auf den Mars käme, und die Menschen dort wären Kugeln mit Antennen, dann wüßte man nicht, wonach man Ausschau halten sollte. Oder wenn man 2 Genau genommen handelt es sich nicht um das, was er sagte, sondern um das, was seine Studenten notierten, um das, was es an Aufzeichnungen zu seinen Vorlesungen über Ästhetik (und andere Themen) in Cambridge im Jahre 1938 gibt. Wittgenstein, L.: Vorlesungen und Gespräche über Ästhetik, Psychologie und Religion, Göttingen 1971. 3 A.a.O., S. 28.
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zu einem Stamm käme, wo alle Geräusche, die aus dem Mund kommen, nur mit dem Atmen oder mit Musik zu tun hätten, und die Sprache mit den Ohren erzeugt würde. Man denke an ›Wenn die Bäume sich im Winde bewegen, sprechen sie miteinander.‹ Da vergleicht man die Zweige mit Armen [...]. Wie weit uns das von der üblichen Ästhetik wegführt! Wir gehen nicht von bestimmten Worten aus, sondern von bestimmten Anlässen oder Tätigkeiten.« 4 An diesem Punkt der Wittgensteinschen Ausführungen kann es der Anthropologe kaum erwarten, Beifall zu spenden. Aber in seiner lobenswerten Hervorhebung des sozialen Eingebettetseins der Ästhetik hat Wittgenstein die Trennung zu weit getrieben, denn was er sagt, ist, dass es keinen Vergleich zwischen Spielen gibt (oder, um eine andere Terminologie zu benutzen, zwischen Weltbildern). Mit anderen Worten, er nimmt eine Position extremer kultureller Relativität ein. Er betont sehr richtig, dass man, um einen Satz ästhetischer Regeln vollständig beschreiben zu können, den sozialen Kontext beschreiben muss, innerhalb dessen sie gültig sind. »Um zu beschreiben, was man unter einem kulturellen Geschmack versteht, muss man eine Kultur beschreiben [...]. Was zu einem Sprachspiel gehört, ist eine ganze Kultur.«5 Zwar argumentiert er, dass das, was wir heute einen kultivierten Geschmack nennen würden, im Mittelalter möglicherweise überhaupt nicht existiert hat, doch schon in seinem nächsten Satz verschwindet das »vielleicht«: »Verschiedene Zeiten haben ganz und gar verschiedene Spiele.«6 Er beharrt nachdrücklich auf der völligen Trennung der Spiele und betont sie weiter, indem er seine Studenten auffordert anzunehmen, einer von ihnen, Lewy, habe im Hinblick auf die Beurteilung von Malerei tatsächlich das, was man einen kultivierten Geschmack nennt. »Das ist dann etwas ganz anderes, als das, was im fünfzehnten Jahrhundert kultivierter Geschmack genannt wurde. Damals wurde ein ganz anderes Spiel gespielt. Er macht mit seinem kultivierten Geschmack etwas ganz anderes, als man es damals getan hätte.«7 Lewy, ermutigt durch Wittgensteins Doktrin der kulturellen Relativität, geht jedoch einen Schritt weiter. Er betrachtet verschiedene Individuen in derselben Gesellschaft zum gleichen Zeitpunkt und macht Wittgenstein den Vorschlag: »Wenn meine Wirtin sagt, ein Bild sei sehr hübsch, und ich sage, ich finde es gräßlich, dann widersprechen wir einander nicht.« 8
4 A.a.O., S. 21. 5 A.a.O., S. 28 f. 6 A.a.O., S. 28. 7 A.a.O., S. 30. 8 A.a.O., S. 32.
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Wittgensteins Antwort ist kaum befriedigend. Er umgeht die von Lewy aufgeworfenen Probleme und nimmt stattdessen Zuf lucht im Schwadronieren: »In einem gewissen Sinne widersprechen Sie einander schon. Die Wirtin staubt das Bild sorgsam ab, betrachtet es oft, usw. Und Sie wollen es ins Feuer werfen. Das ist gerade diese dumme Art von Beispielen, die einem in der Philosophie immer gegeben werden. Als ob Dinge wie ›Dies ist gräßlich‹ oder ›Dies ist hübsch‹ das einzige wären, was jemals gesagt wird. Aber es handelt sich nur um ein Ding in einem weitläufigen Reich von anderen Dingen – um einen Sonderfall. Angenommen, die Wirtin sagt ›Das ist gräßlich‹ und Sie sagen ›Das ist schön‹ – nun gut, das ist es dann eben.«9 Nun, das reicht einfach nicht. Das Spiel, das Lewy spielt, ist eindeutig nicht das gleiche Spiel, das seine Wirtin spielt (egal was sie nun spielen), aber sind sie deswegen völlig voneinander verschieden? Die ästhetischen Urteile »Das ist grässlich« und »Das ist schön« widersprechen einander und können beide nur gültig sein, wenn sie sich auf gänzlich verschiedene Spiele beziehen. Diese Trennung scheint von den begleitenden Handlungen und Gesten bestätigt zu werden. Die Wirtin staubt es sorgsam ab und betrachtet es oft, Lewy bemüht sich, es nicht anzusehen und möchte es am liebsten ins Feuer werfen, wenn er es doch einmal anschaut. Aber die Wirtin möchte das Bild abstauben und tut es auch, während Lewy es ins Feuer werfen möchte, doch dies nicht tut (wenigstens nicht, solange er sein angenehmes Verhältnis zu seiner Wirtin beibehalten möchte). Wenn wir also Wittgensteins Mahnung befolgen, nicht nur die ausgesprochenen Werturteile zu berücksichtigen, sondern auch all die anderen Gesten und Handlungen – »eine ganze Situation und eine Kultur«10 –, dann stellen wir fest, dass das Spiel der Wirtin und Lewys Spiel in mancher Hinsicht voneinander verschieden sind und in anderer Hinsicht übereinstimmen. In dem Maße, in dem sie verschieden sind, werden sie in unterschiedlichen Sphären gespielt und sind nicht widersprüchlich; und in dem Maße, in dem sie übereinstimmen, werden sie in der gleichen Sphäre gespielt und sind widersprüchlich. Die wechselseitige Anpassung der Spieler macht die Beziehung zwischen ihnen möglich. Herr Lewy zahlt seine Miete und beherbergt das Bild, und als Gegenleistung beherbergt die Wirtin Herrn Lewy. Sich vorzustellen, die Wirtin/Mieter-Beziehung sei ausschließlich von den finanziellen Abmachungen bestimmt, die beide treffen, und beide würden dementsprechend handeln, hieße Unheil heraufzubeschwören. Es bleibt uns nur die unglückliche Schlussfolgerung übrig, dass die Spiele Lewys und seiner Wirtin sowohl widersprüchlich als auch nicht widersprüchlich sind. 9 A.a.O., S. 32. 10 A.a.O., S. 32.
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Nehmen wir nun einmal an, die Wirtin stürbe unerwartet und ihre Habseligkeiten würden versteigert, dann wäre es höchst wahrscheinlich, dass ihr Bild als unverkäuf lich ins Feuer geworfen würde. Ihr unzeitiger Tod würde die Wirtin/ Mieter-Beziehung auf lösen. Lewy müsste mit ihrem Spiel nicht mehr übereinstimmen (könnte es tatsächlich auch nicht länger), und die Funktionsweise des Marktes, des Makro-Systems, das ihre Beziehung in Gang hielt, würde nun die Handlung veranlassen, die Lewy immer vorzunehmen wünschte, aber nie vornehmen konnte. Die Wirtin maß dem Bild einen hohen ästhetischen Wert bei; Lewy einen extrem geringen. Wenn kein Vergleich zwischen ihren jeweiligen Spielen erfolgt, sind diese Bewertungen nicht widersprüchlich. Der Markt zieht diesen Vergleich in einer höchst brutalen Art. Er sagt, ganz unmissverständlich: »Die Wirtin hat unrecht und Lewy hat recht.« Damit Wittgensteins Beweisführung gültig bleiben kann, müssen demnach die Marktkräfte in jedem Fall unberücksichtigt bleiben. Welcher Weg könnte aber ein besserer sein, um sicherzustellen, dass derartig vulgäre Angelegenheiten nie diskutiert werden, als einen Bund von Gentlemen zu bilden?11 Wert (ästhetischer Wert) und Preis (ökonomischer Wert) sind eindeutig miteinander verknüpft, doch ebenso eindeutig sind sie nicht ein und dasselbe. Noch ist es gerechtfertigt anzunehmen, dass diese Beziehung unveränderlich sei. Als Wilde den Zyniker als einen Menschen beschrieb, »der von allem den Preis und von nichts den Wert kennt«, akzeptierte er, dass die beiden miteinander verknüpft sind und dass, leider, die Beziehung nicht unveränderlich ist. Wittgenstein widersetzt sich dieser offenkundigen Tatsache (indem er als Beispiele Spiele wählt, die zwangsläufig zeitlich oder räumlich oder sowohl zeitlich als auch räumlich voneinander getrennt sind) und besteht darauf, dass sie nicht miteinander verknüpft werden können. Kein Wunder, dass er bei Malern ein so beliebter Philosoph ist. Seine Beweisführung lenkt von der Tatsache des Eindringens des ökonomischen Wertes (Galeriensystem, Auktionsraum und Händler) in den Bereich der ästhetischen Werte ab, indem er sie einfach leugnet – und so können die Künstler den Glauben aufrechterhalten, dass ihre Berufung ganz rein sei und zu Recht den hohen Status einer Tätigkeit genieße, die von allen geschmacklosen Belästigungen aus dem politökonomischen Bereich verschont zu bleiben habe. Wenn wir also Wittgensteins Beweisführung akzeptieren, bleibt uns nur die unglückliche Schlussfolgerung, dass es keinen Vergleich zwischen Spielen geben und dass das soziale Leben nur dann weitergehen kann, wenn es einen solchen gibt.
11 Ernest Gellner bemerkte in: Words and Things, London 1959, dass die »gewöhnliche Sprachphilosophie« im Wesentlichen von der Gentlemenkultur Nord-Oxfords entwickelt worden sei.
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Diese unglückliche Schlussfolgerung leitet sich aus der ungerechtfertigten Annahme ab, dass, weil manche Spiele völlig verschieden sind, alle Spiele völlig verschieden sein müssten. Wittgenstein muss darauf bestehen, die Spiele Lewys und seiner Wirtin folgendermaßen zu sehen:
Abbildung 11
Aber in Wirklichkeit sehen sie so aus:
Abbildung 12
Es gibt nicht ein Spiel für Lewy und ein Spiel für die Wirtin, sondern nur ein komplexes Spiel, in dem jeder seine Rolle spielt. Wer, so könnten wir dann fragen, spielt dieses komplexe allumfassende Spiel? Die Antwort lautet »niemand« oder »jeder«.12 Lewy spielt seine Rolle gemäß seinen Regeln, das heißt, gemäß seines Weltbildes. Die Wirtin spielt ihre Rolle gemäß ihrer Regeln, das heißt, gemäß ihres Weltbildes. Insofern diese Regeln widersprüchlich sind, befinden sich ihre Weltbilder im Konf likt, und wenn sie ihre Beziehung aufrechterhalten wollen, müssen entweder er oder sie oder alle beide ihre Handlungen modifizieren. Diese Modifikationen wiederum mögen seine, ihre oder beider Weltbilder modifizieren, aber das ist im Moment unwichtig. Was ich deutlich machen möchte, ist, dass Lewy ein Weltbild hat, das er beschreibt und das er im Großen und Ganzen auch realisiert. Er sagt: »Das ist grässlich«, bemüht sich, das Bild nicht anzusehen und ist mit seiner negativen Haltung weitgehend erfolgreich. Die Wirtin hat zwar ein anderes, aber nicht gänzlich unterschiedliches Weltbild, das sie ihrerseits zum Ausdruck bringt und im Großen und Ganzen realisiert. Sie sagt: »Das ist schön«, möchte 12 Die Absurdität und Widersprüchlichkeit dieser Antwort setzt die gegenwärtige Argumentation nicht außer Kraft, sondern deutet eher darauf hin, dass Analogien zu Spielen nach Regeln für die Erklärung sozialer und kultureller Phänomene von begrenztem Nutzen sind.
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das Bild oft ansehen, was sie auch tut, und möchte es abstauben, was sie ebenfalls tut. Allerdings sind beide Weltbilder, jeweils für sich genommen, ungeeignet, um zu definieren, was insgesamt vor sich geht. Um das zu können, müssen wir sowohl die beschreibbaren als auch die realisierbaren Weltbilder als auch die Beziehung zwischen ihnen kennen: den Umfang, in dem sie sich überschneiden, und das Maß, in dem sie in diesem Überschneidungbereich modifiziert werden (also die Zahl der widersprüchlichen Punkte vermindert wird) und zu wechselseitiger Übereinstimmung gelangen. Nun ist auch dieses kombinierte Bild wiederum ein Weltbild. Es kann beschrieben werden, aber im Gegensatz zu seinen beiden einfachen Komponenten ist es sozial nicht realisierbar. Das heißt, dass ich es, obschon es dem, was vor sich geht, in vollem Umfang gerecht wird, nicht zur Grundlage meines Handelns machen könnte, da es zum Beispiel von mir verlangen würde, das Bild abzustauben und zugleich ins Feuer zu werfen, oder es ständig zu bewundern und zugleich zu sehen vermeiden. Man könnte auch sagen, dass dieses Weltbild zwar sozial realisierbar ist (da es eine Beschreibung dessen ist, was vor sich geht), es aber keinen Ausgangspunkt innerhalb jener Welt gibt, von dem aus ein Betrachter sich dieses Weltbild zu eigen machen könnte. Darauf zu beharren, alle Spiele seien gänzlich voneinander verschieden, heißt, die Möglichkeit jeglicher intern erzeugter Änderungen der Spielregeln wie auch die Möglichkeit einer wechselseitigen Interaktion zwischen Spielen abzustreiten. Die Existenz der Regeln muss dann als irgendwie von Außen auferlegt betrachtet werden und Änderungen der Regeln, sofern sie auftreten, können dann nur durch einen äußeren Eingriff bewirkt werden. Für Wittgenstein sind die Regeln einfach gegeben, und die Frage danach, wie und von wem sie festgelegt werden, muss daher von ihm als sinnlos zurückgewiesen werden. »Es ist eben eine Tatsache, daß Menschen solche Regeln festgelegt haben [...]. Die Harmonieregeln, so könnte man sagen, drücken aus, welche Abfolge von Akkorden die Menschen gewünscht haben – ihre Wünsche haben sich in diesen Regeln kristallisiert [...]. Und obgleich wir von ›Wünschen‹ gesprochen haben, haben wir es hier einfach mit der Tatsache zu tun, daß diese Regeln festgelegt wurden [...]. Die größten Komponisten haben in Übereinstimmung mit diesen Regeln gearbeitet.« 13 Als ein Student an dieser Stelle einwandte, große Komponisten hätten die Regeln geändert und seien damit durchgekommen, worin im Übrigen ein Zeichen für ihre Größe zu sehen sei, erwiderte Wittgenstein: »Man kann sagen, daß jeder Komponist die Regeln verändert hat; aber solche Änderungen waren immer sehr
13 A.a.O., S. 25.
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geringfügig; nicht alle Regeln wurden geändert. Die Musik war auch an alten Regeln gemessen immer noch gut.«14 Wenn wir versuchen, dieses schmachvolle Stück Tatsachenverdreherei mit den um 180 Grad entgegengesetzten, bei Stevenbildern, Häusern und Vorfahren geltenden Regeln in Übereinstimmung zu bringen, ist Wittgensteins Spiel aus. Es ist absolut möglich, zwei oder mehrere voneinander verschiedene (aber nicht gänzlich unterschiedliche) Weltbilder zu nehmen, die sowohl beschreibbar als auch realisierbar sind, und sie miteinander in einem alles umfassenden Weltbild zu verknüpfen, das nicht realisierbar ist. Dazu ist sowohl der »eindringende« Anthropologe mit seiner Technik der teilnehmenden Beobachtung in der Lage als auch der Eingeborene, der definitionsgemäß ein Teilnehmer ist. Damit soll nicht behauptet werden, dass alle Eingeborenen teilweise distanzierte Beobachter sind, die leidenschaftslos über die Natur ihrer sozialen Lage nachdenken, aber in einem gewissen begrenzten Sinne muss das so sein. Im Prozess sozialen Lebens werden ständig Weltbilder miteinander konfrontiert, und diese sind zwangsläufig voneinander verschieden oder stimmen wenigstens nicht völlig überein. Ein Beispiel dafür ist die Konfrontation der Weltbilder Lewys und seiner Wirtin. Hier ist Lewy gezwungen, eine Möglichkeit (nämlich die Schönheit des Bildes seiner Wirtin) in Betracht zu ziehen, die ihm bis dahin entweder nicht bewusst war oder die er absichtlich ignoriert hatte. Wäre er ein Feld-Anthropologe, dessen Rüstzeug Leidenschaftslosigkeit ist, dürfte er denken, »wie außerordentlich interessant«, und würde sofort damit beginnen, ein (unrealisierbares) Anthropologenmodell zu konstruieren. Sollte er ein leidenschaftlicher Ästhet sein, für den eine solche Möglichkeit eine Unmöglichkeit darstellt, würde er entweder schreiend aus dem Haus laufen oder das anstößige Bild ins Feuer werfen. Wenn er sich jedoch, wie die meisten von uns, irgendwo zwischen diesen Polen der Leidenschaft und der Leidenschaftslosigkeit befände, würde er diese Impulse wohl zügeln und sich mit der Gegenwart des Bildes abfinden, indem er versuchte, es möglichst nicht anzusehen, und später die ganze unerfreuliche Angelegenheit zu seinem Vorteil zu wenden, indem er sie zum Gegenstand eines Universitätsseminars machte. Die möglichen Reaktionen können demnach lauten: »Das ist höchst interessant« oder »Das ist Müll« oder »Das ist Müll (aber höchst interessant)« beziehungsweise »Das ist höchst interessant (aber selbstverständlich Müll)«. Die erste Reaktion gestattet, ja garantiert geradezu die Konstruktion eines unrealisierbaren Weltbildes, das die realisierbaren Weltbilder Lewys und seiner Wirtin umfasst, und führt, was noch wichtiger ist, unvermeidlich zu einer Verlagerung von Lewys früherem Weltbild. Dies ist im Allgemeinen zwar eine ziemlich seltene Reaktion, doch wenn sie erfolgt, das heißt, wenn Müll ganz verschwindet und ein realisierbares Weltbild durch ein unrealisierbares ersetzt wird, dann 14 A.a.O., S. 25 f.
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müssen Bedingungen der Instabilität vorherrschen, und ist schneller Wandel unvermeidbar. Die zweite Reaktion erstickt das unrealisierbare Weltbild im Keim und lässt Lewys realisierbares Weltbild intakt, indem sie die Möglichkeit des Weltbildes der Wirtin vollständig leugnet. Eine derartige Reaktion presst soziale Interaktion in eine »p und nicht-p«-Schablone: »Wenn Du nicht für uns bist, dann bist Du gegen uns«. Die dritte Reaktion erlaubt die Entwicklung eines alles umfassenden, unrealisierbaren Weltbildes, aber gleichzeitig blockiert sie dessen Tendenz, das realisierbare Weltbild zu ersetzen. Lewy ist sowohl in der Lage, über das unrealisierbare Weltbild zu ref lektieren, als auch diese Ref lektion außer Kraft zu setzen, um auf der Grundlage seines realisierbaren Weltbildes zu handeln. Wenn wir die Dynamik analysieren wollen, die Toleranz, Intoleranz und den Widerspruch der das Universum der Objekte darstellenden Venn-Diagramme mit der Stabilität und Instabilität sozialer Systeme verknüpft, dann müssen wir wissen, wie die Natur des Mülls beschaffen ist. An dieser Stelle ist es nun möglich, Müll zu definieren, ohne in eine unbemerkte Fallgrube zu fallen. Denn das Problem, etwas wahrzunehmen, das definitionsgemäß nicht wahrnehmbar sein sollte, existiert nicht mehr. Die Wahrnehmbarkeit von Müll wird durch den Prozess des sozialen Lebens erzeugt, der zwangsläufig, indem immer wieder Weltbilder miteinander konfrontiert werden, zumindest partielle Konstruktionen von alles umfassenden Weltbildern bewirkt, die diese Konfrontationen subsumieren, doch wahrscheinlich unrealisierbar sind. Selbstverständlich wird der Wechsel zwischen Weltbildern durch die soziale Verformbarkeit der Objekte ermöglicht, und ich muss vermeiden, in die Falle der Vorstellung zu gehen, dass dieser Verformbarkeit keine natürlichen Grenzen gesetzt seien. Das bedeutet, dass Müll nicht nur als Folge einer Konfrontation von Weltbildern wahrnehmbar werden kann, sondern auch als Folge einer Konfrontation zwischen einem Weltbild und einer oder mehreren natürlichen Grenzen. Die Fallgruben sind nicht zugeschüttet, sie sind nur kartiert. In Bezug auf Müll können wir zwei Formen von Blindheit unterscheiden: mit Bezug auf die Dinge oder Bereiche, die wir nicht sehen können (obgleich diejenigen, die ein ganz anderes »Spiel« spielen, in der Lage sein mögen, sie zu sehen), und mit Bezug auf solche Dinge oder Bereiche, die wir nicht sehen wollen. Wenn letztere in unser Gesichtsfeld gelangen und wir nicht mehr umhin können, sie wahrzunehmen, verbannen wir sie aus unseren Augen (oder anders ausgedrückt, neutralisieren wir ihre Sichtbarkeit), indem wir sie einer einzigartigen, quer durch alle Kulturen verlaufenden kulturellen Kategorie zuordnen, die wir mit dem Etikett »Müll« versehen. So gesehen, ist Müll ein universelle Eigenschaft, nicht unbedingt des menschlichen Geistes, noch der Sprache, noch der sozialen Interaktion, aber eine der
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soziokulturellen Systeme.15 Müll ist die Konsequenz der Unmöglichkeit, jemals genau die Beziehung zwischen einem Prozess und seiner Wahrnehmung zu bestimmen, da die Beobachterposition unabdingbar in die Beziehung selbst eingeschlossen sein muss. Doch Müll ist eine höchst merkwürdige universelle Eigenschaft, da sie (zeitweilig) völlig verschwinden kann und ihre Definierbarkeit neben der Erkenntnis, dass das, was wir nicht wahrnehmen können, undefinierbar ist, bestehen kann. Außerdem gibt es Überschreitungen der Grenze zwischen dem, was nicht zu sehen wir uns verschworen haben, und dem, was wir nicht sehen können: Die Grenze ist durchlässig. Das Problem besteht darin, einen methodischen Rahmen für die Auseinandersetzung mit den Überschreitungen einer Grenze zu ersinnen, die wir stets nur von einer Seite kennen können. Die kulturelle Relativität (wie sie von Wittgenstein vertreten wird) ignoriert die Existenz dieser Überschreitungen. Die kulturelle Universalität ignoriert die Existenz der Grenze. Die eine behauptet, es gebe unzählige unvergleichbare Spiele, von denen jedes ganz für sich auf seinem eigenen kulturellen Dorfrasen gespielt wird; die andere geht davon aus, dass es nur ein großes Spiel gäbe, das wir wohl oder übel alle spielen müssten. Die Anziehungskraft der Mülltheorie besteht darin, dass sie von uns nicht verlangt, einen dieser beiden widersprüchlichen Standpunkte einzunehmen. Vielmehr rückt sie diese Grenze in den Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit und macht damit klar, welcher Irrtum sowohl in der relativistischen als auch in der universalistischen Position steckt. Die Mülltheorie ist insofern allgemein und dynamisch, als sie sowohl die Grenze als auch die verschiedenen Möglichkeiten ihrer Überschreitung abbildet. Damit schließt sie die relativistische und die universalistische Position als statische Sonderfälle mit ein. Die relativistische Position entspricht jenen Momenten, in denen, aus welchen Gründen auch immer, zufällig keine Überschreitungen der Grenze stattfinden. Die universalistische Position entspricht den extremen Situationen, in denen die Grenze, als Folge einseitiger Überschreitungen, vollständig zur einen oder zur anderen Seite verschoben wird. Ohne die Mülltheorie kann das Allgemeine immer nur in Begriffen des Besonderen und das Dynamische nur in Begriffen des Statischen behandelt und immer nur in der einen oder anderen dieser extremen und widersprüchlichen Sprachen gesprochen werden. Dies ist die kartesianische Lösung. Obwohl sie beinahe alles ausschließt, was an sozialen Phänomenen von Interesse ist, ist sie doch weiterhin außerordentlich verbreitet. Das hängt mit dem Widerspruch zwischen Konzepten, die immer statisch sind, und Prozessen, die niemals statisch sind, zusammen. Wenn wir über 15 Sie wäre ein wesentlicher Bestandteil einer wahrhaft kulturellen künstlichen Intelligenz – ein sehr fernes Ziel für die als »künstliche Intelligenz« benannte Disziplin, die z. Z. mit der Computersimulation von Hand und Auge kämpft.
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irgendeinen Prozess zu sprechen beginnen, haben die Konzepte, die wir dazu benutzen, die eingebaute Tendenz, zu den statischen Extremen zu wandern und das, was zwischen ihnen liegt, zu ignorieren. Diese Tendenz ist nicht allein auf die Sozialwissenschaften beschränkt; ein Atomphysiker, Louis de Broglie, hat uns zu diesem Phänomen eine nette Beschreibung geliefert: »[...] Die Individualität der Elementarteilchen ist um so geringer, je stärker die Interaktion zwischen ihnen ist. Da es einerseits kein völlig isoliertes Teilchen gibt und andererseits die Einbindung der Teilchen in ein System praktisch nie so total ist, als daß sie nicht etwas von ihrer Individualität behielten, kann davon ausgegangen werden, daß die Realität im allgemeinen irgendwo zwischen dem Konzept der autonomen Individualität und dem Konzept eines völlig fusionierten Systems liegen muß.«16 Das Gleiche trifft auf Lewy und seine Wirtin, auf die Verschmelzung oder Trennung ihrer Spiele zu. Wenn die Realität nie, nicht einmal für einen kurzen Augenblick, eines dieser beiden polaren Konzepte berührt, sondern immer irgendwo dazwischen liegen muss, dann können wir niemals, nicht einmal f lüchtig, die dynamische Situation, die wir zu beschreiben versuchen, von einer dieser konzeptuellen Positionen aus in den Griff bekommen. Diese Unmöglichkeit bestätigt sich, wenn wir uns bemühen, eine Synthese herzustellen, die uns den Zugang zu der Realität verschaffen würde, die zwischen diesen Polen f luktuiert, sie aber niemals erreicht. Jede derartige Synthese ist durch den Widerspruch der Konzepte ausgeschlossen – ein völlig fusioniertes System negiert autonome Individualität und umgekehrt. Die Realität ist also von beiden konzeptuellen Polen aus ebenso wenig erreichbar wie ihre Synthese möglich ist. Jeder Versuch in dieser Richtung heißt, der Realität eine Form aufzwingen zu wollen, die sie niemals haben kann, und gleichzeitig alle Mittel aufzugeben, mit denen der Umfang dieser Verzerrung gemessen und womöglich kompensiert werden könnte. Weder eines der beiden Konzepte für sich allein noch ihre Synthese kann dieses Problem lösen. Ist dieses Problem unlösbar? Müssen wir den Phänomenen, die wir untersuchen wollen, immer solche Gewalt antun? Sind wir immer und ewig dazu verdammt, die eine oder die andere dieser widersprüchlichen Sprachen zu sprechen? Nun, eine Möglichkeit könnte die sein, Bilder statt Wörter zu verwenden. Das Problem ist schließlich nur vom Standpunkt der zwei polaren Konzepte aus betrachtet unlösbar; innerhalb der sozialen Realität – der Phänomene, die dem Zugriff der Konzepte immer entgehen – existiert es nicht einmal. Wenn wir diesen Konzepten aus dem Weg gehen, dann kann uns nichts daran hindern, eine Position zwischen diesen beiden extremen Polen einzunehmen, eine Position, in der die Spiele weder ein und dasselbe noch völlig verschieden sind. 16 de Broglie, L.: Continu et Discontinu en Physique Moderne, Paris 1941.
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Um diese Position einzunehmen, brauchen wir eine Mülltheorie. Unauf hörlich kontrastiert die soziale Interaktion Weltbild mit Weltbild und lässt so fortwährend gerade die Elemente scharf hervortreten, die diese Weltbilder unterscheiden und ihre Kombination sozial unrealisierbar machen. Ein Beispiel ist die soziale Interaktion zwischen Lewy und seiner Wirtin; Lewy ist gezwungen, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, das Bild seiner Wirtin sei schön – eine Möglichkeit, die die Regeln seines Spiels, seines Weltbildes nicht zulassen. Damit soll nicht gesagt werden, dass alle Elemente, die die soziale Interaktion hervortreten lässt, die Modifizierung der Weltbilder ausschließen. Wenn seine Wirtin zum Beispiel, was ziemlich wahrscheinlich ist, Kaldaunen mit Zwiebeln, einem Gericht, das außerhalb Lewys Geschmacksrahmen liegt, einen hohen gastronomischen Wert beimisst, dann wird Lewy, im Interesse seiner guten Beziehungen zu seiner Wirtin, sein anfängliches Unbehagen über etwas, das nicht von seinem Weltbild gedeckt wird, vielleicht überwinden, das Gericht essen, es ganz schmackhaft finden und so zu einer Bewertung kommen, die derjenigen im Spiel seiner Wirtin entspricht. Eine derartige Übereinstimmung ist im Falle des Bildes seiner Wirtin nicht möglich, denn dessen Integration in sein Weltbild würde ihm widersprüchliche und miteinander nicht zu versöhnende Handlungen abverlangen. Das Überleben eines Weltbildes kann nur gewährleistet werden, wenn die störenden und gefährlichen Elemente, die die anhaltende Koexistenz unterschiedlicher Weltbilder ausschließen, eliminiert, zurückgewiesen oder ignoriert werden. Elemente, die derartige Reaktionen auslösen, bilden die kulturelle Kategorie »Müll«. Diese Definition von Müll besitzt einen hohen Abstraktionsgrad und liefert den gültigen Rahmen für die leichter verständliche Vorstellung von Müll, die in dem strukturellen Ansatz der Verunreinigung enthalten ist.17 Die Vorteile dieses weniger abstrakten Ansatzes werden aufgewogen durch seine eher intuitive Grundlage, was bedeutet, dass die Tatsache, ob er annehmbar ist oder nicht, letztlich nicht von durchdachten Argumenten, sondern von einer persönlichen und dogmatischen Überzeugung abhängt. Das intuitive Element bei diesem Ansatz entspringt der Unterscheidung, die er gezwungenermaßen zwischen Kultur und Natur treffen muss: Eine Unterscheidung, die voraussetzt, dass wir wissen könnten, was Natur (im Gegensatz zur Vorstellung von Natur) ist. Dagegen ist eine der expliziten Annahmen der abstrakteren Beweisführung nicht nur, dass dies eine ungerechtfertigte Annahme und dass unsere Vorstellung von Natur in gewissem Maße sozial determiniert ist, sondern dass der Grad der sozialen Determiniertheit dieser Vorstellung unbekannt ist, außer in ihrem negativen Aspekt, in Form bestimmter Grenzen, jenseits derer sie nicht manipuliert werden kann, wie es zum Beispiel Buckminster Fuller in einem seiner Aphorismen zum Aus-
17 Douglas, M.: Purity and Danger, London 1966 ; dt.: Reinheit und Gefährdung, Berlin 1985.
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druck brachte: »Wenn man es tun kann, ist es natürlich. Wenn es unnatürlich ist, kann man es ohnehin nicht tun.« Eine weniger anspruchsvolle Beweisführung zur Auseinandersetzung mit Müll lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Natur ist von Grund auf chaotisch und durch f ließende Übergänge gekennzeichnet; Kultur ist geordnet und in einzelne Teile unterteilt. Die Natur droht also ständig, die Einteilungen zu durchbrechen, die die Kultur ihr aufzuzwingen versucht. Da natürliche Einteilungen, wenn überhaupt, selten vorkommen, ist es wahrscheinlich, dass es einige natürliche Elemente geben wird, die sich auf der Grenze zwischen zwei kulturellen Kategorien befinden können, egal wo diese Grenze gezogen wird. Diese Grenzfälle drohen (wenn sie »sichtbar« sind) die von der Kultur mühsam errichtete Ordnung zu zerstören, und deshalb müssen sie einer speziellen Behandlung durch die Kulturträger unterworfen werden. In allen Kulturen kommt es im Zusammenhang mit diesen Grenzfällen zu Tabuverhalten und Verunreinigungsvermeidung, und so können wir uns, indem wir nach den Anomalien, den Tabus und den zu vermeidenden Verunreinigungen Ausschau halten, indirekt den kulturellen Kategorien selbst nähern. Aber wie sollen wir verstehen, warum manche anomale Elemente »unsichtbar« bleiben? Die Natur ist nicht nur chaotisch und mit f ließenden Grenzen versehen, sondern sie ist auch so unermesslich, dass sie schwer zu handhaben ist. Außerdem erlegen wir der Natur eine Ordnung auf, indem wir sie auf handhabbare Proportionen zurechtstutzen. Wir machen Dinge wichtig, indem wir andere Dinge unwichtig machen. Das, was wir wegwerfen, meiden, verabscheuen, von dem wir unsere Hände säubern oder was wir mit Wasser wegspülen, überantworten wir der Müllkategorie. Doch das ist nicht ganz richtig. Wir bemerken Müll nur dann, wenn er sich am falschen Ort befindet. Etwas, das ausgeschieden worden ist, aber niemals zu stören droht, beunruhigt uns nicht im Geringsten. Zum Beispiel sind wir uns der Küchenabfälle in unseren Mülleimern und des Schleims in unseren Taschentüchern bewusst, aber wir machen nicht viel Auf hebens davon. Diese negativ bewerteten Dinge befinden sich am richtigen Ort, und wir können sie im Großen und Ganzen ignorieren. Nicht so den Tropfen an der Nasenspitze eines Freundes oder die Exkremente des Hundes auf dem Wohnzimmerteppich. Das ist Müll am falschen Ort: deutlich sichtbar und höchst bestürzend. Das Ausgeschiedene, aber dennoch Sichtbare bildet, weil es immer noch beeinträchtigt, eine eigene kulturelle Kategorie besonderer Art – die Müllkategorie. Das, was ausgeschieden, aber nicht sichtbar ist, bildet dagegen, weil es nicht stört, überhaupt keine kulturelle Kategorie, es ist einfach ein ‹Residuum› des ganzen Kategoriensystems. Eine weitere Schwierigkeit bei dieser weniger abstrakten Definition von Müll kann folgendermaßen formuliert werden: Wenn etwas als störend empfunden wird, dann wird es vermutlich nicht an seinen richtigen Ort gebracht, als viel-
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mehr mit der Reaktion »Das ist Müll!« von seinem falschen Ort entfernt. Die Verwirrung entsteht aus dem Gebrauch des Ausdrucks »am falschen Ort«, der impliziert, dass es irgendwo einen richtigen Ort geben könne. Dem mag sein oder nicht. In manchen Fällen gibt es einen richtigen Ort. Der richtige Ort zum Beispiel für Haushaltsabfälle ist der Mülleimer, und der richtige Ort für einen Tropfen ist entweder das Innere des Nasenf lügels (vorausgesetzt, er kann mit Hilfe eines unhörbaren und unsichtbaren Nasehochziehens unauffällig wieder dort hineinpraktiziert werden) oder das Taschentuch. Anhand solchen Mülls am richtigen Ort lässt sich eine weitere Art von Grenze angeben, nämlich diejenige zwischen öffentlich und privat oder zwischen sozial und persönlich. Jeder von uns kann nach Belieben den Inhalt seines Mülleimers oder seines Taschentuchs inspizieren, doch kollektiv unterdrücken wir deren Anblick. Allein in ihrer Küche oder ihrem Hinterhof mag die Hausfrau den Inhalt ihres Mülleimers ziemlich genau untersuchen, doch wenn wir Leute in einer belebten Straße dies tun sehen – seien es Landstreicher, die nach einem schmackhaften Bissen wühlen, oder Müllologen, die Bob Dylans Müll durchsieben, um irgendwelche Beweise zu finden, mit denen sie ihre Doktorarbeit untermauern können –, sind wir bestürzt, vielleicht mitfühlend, vielleicht indigniert, aber nie unberührt, und versuchen, dieses auf der Grenze zwischen privat und öffentlich gähnende Loch zu stopfen, indem wir unsere Augen abwenden. Ähnlich verhält es sich mit Rotze. Es besteht kein Zweifel, dass manche (ich vermute: alle) Leute, soweit sie allein sind, nach einem wirklich guten Nasenschneuzer fröhlich den Inhalt ihrer Taschentücher erforschen. Doch würde es den meisten Leuten nicht im Traum einfallen, dies in der Öffentlichkeit zu tun; und manche Menschen sind sich dieser Grenze zwischen öffentlich und privat so sehr bewusst, dass sie jedes Mal, wenn sie ihre Nase schneuzen müssen, den Raum verlassen. Umgekehrt bedeutet das, bei einer Abendgesellschaft eine Unterhaltung über vergleichendes Nasenbohren in Gang zu bringen, in aufsehenerregender Weise den Grad an Förmlichkeit zu vermindern und eine Zusammenkunft aus gesellschaftlichen Anlass in eine sehr intime soziale Interaktion zu verwandeln. Unter solchen Umständen werden die Umgangsformen des gesellschaftlichen Lebens aufgehoben, da die notwendigen Voraussetzungen für ihre Existenz mit derartig aufdringlichen Körperprozessen unvereinbar sind. Kein Mensch ist in den Augen seines Dieners ein Held, und wenn wir das Heldentum bewahren wollen, müssen wir uns irgendwie verschwören, die beschmutzten Bettlaken und die durchweichten Taschentücher nicht wahrzunehmen. Wieder sind die soziologischen Implikationen von Müll offensichtlich, denn mit seiner Hilfe können wir die Verbindung zwischen den Mikro- und Makroebenen des sozialen Lebens herstellen. Müll zu verstehen, ist eine grundlegende Voraussetzung, wenn wir die Mechanik der f ließenden Übergänge zwischen Privatem und Öffentlichem, Informalität und Formalität, Zweckdienlichkeit und
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Prinzip wahrnehmen wollen. Ohne diesen Schlüssel müssen wir uns zwangsläufig entweder auf den Diener oder auf den Helden konzentrieren und können uns nie mit der Beziehung zwischen ihnen auseinandersetzen. Im Gegensatz zu den Dingen, die mittels der Müll-Reaktion vom falschen Ort entfernt werden und schließlich am richtigen Ort landen, gibt es Dinge, die überhaupt keinen Platz haben. »Zigeuner« zum Beispiel werden in weiten Teilen der britischen Gesellschaft als sozialer Müll betrachtet, und sie brauchen sich mit ihren Wohnwagen nur den Rändern der Vorstädte zu nähern, um die wütende Müll-Reaktion der sesshaften Anwohner hervorzurufen. Unvermeidlich werden die örtlichen Behörden und die Polizei herbeigerufen, um sie in Bewegung und damit, paradoxerweise, an ihrem Platz zu halten. Das Paradox verschwindet (um durch ein neues ersetzt zu werden), wenn man erkennt, dass ihr Platz das Nirgendwo ist.18 Solche Heimatlosigkeit entsteht, wenn die Grenzen so klar und so allumfassend gezogen sind, dass sie dem »p und nicht-p«-Typ angehören, und wenn die Macht über sie so vollkommen und so weitreichend ist, dass das, was weder »p« noch »nicht-p« ist, niemals ein eigenes schmutziges, unbeachtetes Eckchen finden kann. Derartige Slums sind alle abgerissen worden. Fähig zu sein, die Verbundenheit aller Dinge zu sehen, ist ein sehr gemischter Segen, und die Politisierung, die eine Folge ökologischer Besorgnis und ganzheitlicher Betrachtungsweise – ungeachtet irgendeiner expliziten Absicht – ist, muss totalitäre Untertöne enthalten. Es ist ein philosophischer Allgemeinplatz, dass wir von Dingen umgeben sind, über deren Identität wir keine Zweifel haben, die zu definieren wir jedoch große Schwierigkeiten hätten. Ein klassisches Beispiel ist Burkes Charakterisierung der britischen Verfassung, die wahrgenommen werden kann, sich aber jeder Definition entzieht. Ein anderes beliebtes Beispiel unter Philosophen ist ein Hund. Wir alle erkennen einen Hund, wenn wir einen sehen, dennoch könnten nur wenige von uns eine Definition geben, die nicht alle möglichen Arten von Tieren einschlösse, die (wie Katzen) eindeutig keine Hunde sind, und die nicht alle möglichen Arten von Tieren ausschlösse, die eindeutig Hunde sind (wie zum Beispiel solche Züchtungen, die keine Haare haben oder nicht bellen). Ist es nicht möglich, dass das Gleiche auch auf Müll zutrifft? Umgekehrt, ist es nicht möglich, dass dies auch auf Hunde nicht zutrifft? Eines der auffälligsten Merkmale von Müll ist, dass wir ihn sofort erkennen, wenn wir ihn sehen, hören, lesen, riechen oder, oh Schreck, oh Graus, berühren. So wie Hunde zweifellos Hunde sind, so ist Müll zweifellos Müll. Es gibt keine Abstufungen. Ein Tier ist entweder ein Hund oder es ist kein Hund, und etwas ist entweder Müll oder es ist kein Müll, mit dem Unterschied, dass im einen Falle 18 Zum Beweis, dass dies tatsächlich die vorherrschende Reaktion auf »Zigeuner« ist, siehe Swingler, N.: Move on Gipsy, in: New Society, Nr. 352, 1969.
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(augenscheinlich) völlige Einmütigkeit darüber besteht, welche Tiere Hunde sind und welche nicht, während im anderen Falle oft große Ungewissheit herrscht. Zwei Beispiele sollen zeigen, dass dieser Unterschied sich von selbst versteht. Anscheinend bilden Hunde einen Bestandteil unseres Bereiches feststehender Annahmen. Wir sind alle einer Meinung darüber, was Hunde sind, und darüber, was ein Hund ist und was nicht. In diesem Sinne liegt die Identität »Hund« außerhalb des politökonomischen Bereiches. Es können keine Stimmen gewonnen oder Profite dadurch erzielt werden, dass man die Behauptung aufstellt, Hunde seien in Wirklichkeit gar keine Hunde. In diesem Sinne stellen Hunde also einen Teil der Gewissheit dar, einen Teil des innersten Kerns unseres Weltbildes, das heißt derjenigen Überzeugungen, die wir alle ohne Vorbehalt teilen, Überzeugungen, die so tief verwurzelt sind, dass wir uns oft nicht einmal der Tatsache bewusst werden, dass wir sie haben. Sie sind selbstverständlich. Der Molekularbiologe Jacques Monod19 hat darauf hingewiesen, dass, obgleich Werte eine notwendige Bedingung für Gesellschaft seien, die Wissenschaft Werten Gewalt antue. Monod ist der Meinung, seine eigene Arbeit drohe die Grenze zwischen dem Bereich der feststehenden Annahmen und dem Bereich der Flexibilität zu verwischen, indem sie zeige, dass wir letztlich doch nicht wüssten, was ein Hund ist. Ein äußerst wichtiges Element in unserer Gewissheit mit Bezug auf Hunde ist die in sich selbst evidente Tatsache, dass sie sich reproduzieren. Das heißt, Hunde produzieren mehr Hunde (und wir vertreiben bequemerweise die Probleme aus unseren Gedanken, die die Evolutionstheorien aufgeworfen haben, welchen wir ebenfalls beipf lichten, und die von uns verlangten, jene fernen Geschöpfe in Betracht zu ziehen, ohne die es keine Hunde gegeben hätte, deren Hundecharakter jedoch höchst umstritten ist). Für Monod ist sogar die Reproduktion der heutigen Hunde durchaus nicht selbstverständlich, sondern etwas ganz Außergewöhnliches. Die skurrile Frage, »Warum bringen Hunde keine Kamele zur Welt?«, ist das Leitprinzip seiner 25-jährigen Forschung, die mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde. Ich benutze dieses ausgefallene Beispiel, weil Monod selbst es benutzt hat, als er seinen Standpunkt in der BBC-Fernsehproduktion Controversy im September 1972 gegen ein gewaltiges Aufgebot an Kritikern (einschließlich George Steiner und Stuart Hampshire) verteidigte. Bisher jedoch sind die Folgen, die dieser wissenschaftliche Vorstoß zu haben drohte, nicht eingetroffen. Es bleibt ein hoher Grad an kognitiver Isolation zwischen Molekularbiologie und der Welt in ihrer Gesamtheit bestehen. Es ist anzunehmen, das Monod selbst Hunde und Kamele außerhalb seines Laboratoriums nicht durcheinander brachte. Solche Monstrositäten treten nur auf, wenn die Verschiebungen der Grenze zwischen dem Bereich der feststehenden Annahmen und dem Bereich der Flexibilität in Verbindung mit 19 Monod, J.: Zufall und Notwendigkeit, München 1971.
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dem Weltbild des Biologen in den verschiedenen Weltbildern innerhalb der Gesellschaft vollständig und systematisch durchgearbeitet werden: wenn Monods Theorie Glaubwürdigkeit nicht nur in der wissenschaftlichen Gemeinschaft, sondern auch in der ganzen Gesellschaft, in der jene enthalten ist, erlangt. Darüber zu spekulieren, was geschähe, wenn diese gesellschaftlich auferlegten Isolatoren zerstört und durch vollkommene Leiter ersetzt würden, hieße einen Fehlstart zu verursachen und das Risiko einzugehen vorherzusagen, was passieren würde, wenn etwas, das nicht passieren kann, passierte. Zunächst müssen wir die sozialen Kräfte erforschen, die Glaubwürdigkeit verleihen oder vorenthalten, die Mechanismen, die über soziale Anerkennung und Ablehnung bestimmen und bei denen es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um die Bedingungen handelt, ohne die Gesellschaft nicht möglich wäre. Ein bescheidener Schritt in diese Richtung, und der wichtigste Punkt an diesem Beispiel, ist zu zeigen, dass die Identität »Hund« zwar eindeutig ist, diese Eindeutigkeit aber nicht von irgendwelchen intrinsischen Eigenschaften des Hundes herrührt. Ganz im Gegenteil: Eine solche Gewissheit wird nur durch die Unterdrückung der Ungewissheit erreicht. Mein zweites Beispiel soll die Umkehrung dieser Situation zeigen. In den frühen siebziger Jahren gab es eine große Kontroverse wegen des geplanten Abbruchs des riesigen und stark verfallenen, neoklassizistischen Herrenhauses Grange Park in Hampshire. Im Folgenden habe ich die Ansichten zweier Experten über den Zustand dieses Gebäudes nebeneinander gestellt, so dass sie leicht verglichen werden können. »[...] das Innere rechtfertigt jetzt nur eine detaillierte Aufzählung, und es war (sowieso) enttäuschend, da es keinen formalen Bezug zu dem großen Säulengang und zu der Fassade hat, die das Haus aus dem siebzehnten Jahrhundert im Jahre 1809 von Wilkins erhielt.«
»Gerade die kunsthandwerkliche Qualität im Inneren des Hauses ist hervorragend [...]«
»Äußerlich ist die Verwandlung ins Griechische sogar noch atemberaubender, als zeitgenössische Abbildungen einen glauben machen möchten. Es ist mit Zeichnungen oder Photographien praktisch unmöglich, das räumliche Gefühl der Bewegung um ein Gebäude herum zu vermitteln, und deshalb wäre der Verlust des Landhauses unersetzlich.«
»Es ist nichts Erhabenes oder Gefälliges an dem Landsitz. Im Gegenteil, es läßt sich am besten als neoklassizistische Scheußlichkeit, als Schwindel beschreiben! Das ganze Äußere des Gebäudes besteht aus imitiertem Stein, einschließlich der massiven Säulen.«
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»Das Gebäude muß in seiner Beziehung zur Landschaft erhalten werden. Das Haus steht hoch auf einer Terrasse, die dramatisch über einen Bergrücken in ein Tal ausläuft.«
»Dem Landhaus fehlt jeglicher Bezug zur Umgebung. Wie ein vielbeiniges prähistorisches Monster schwebt es auf einer Hügelspitze, umgeben von einer der schönsten Landschaften in Hampshire.«
»Die Kombination von Regency-Landschaft und griechischem Tempel macht Grange Park zum Inbegriff der englischen Verbindung von Klassizismus und Romantik.«
»Ich kenne Grange Park seit mehr als einem Vierteljahrhundert, und es ist in meinen Augen der größte Schandfleck, der mir in den 35 Jahren meiner Tätigkeit als Designer und Restaurator englischer Landhäuser begegnet ist.«
(Aus einem Brief von Peter Inskip aus dem Fachbereich Architektur der Cambridge Universität an The Times, 9. September 1972.)
(Aus einem Brief von Michael Toone an die Sunday Times, 10. September 1972.)
Die Tatsache, dass diese Briefe gleichzeitig in der Post gewesen sein müssen, schließt die Möglichkeit nicht aus, dass der eine die Erwiderung auf den anderen ist. Das macht ihre diametrale Gegensätzlichkeit nur noch bemerkenswerter. Der offene Stil sowohl von Herrn Inskip als auch von Herrn Toone sowie die Tatsache, dass beide hinsichtlich Grange Park genügend starke Empfindungen hatten, um den Zeitungen dazu zu schreiben, lassen die Vermutung zu, dass für beide die Identität des »Grange« eindeutig ist. Für den Ersten ist es ein bedauerlich zweckentfremdetes dauerhaftes Gut, für den Zweiten ein anstößiger, langlebiger Müllhaufen – ein vergängliches Gut, das länger als wünschenswert überdauert hat. Beide können, zumindest in diesem Fall, Müll und Dauerhaftigkeit erkennen, so sicher, wie sie Hunde erkennen können. Tatsächlich nehmen beide Zuf lucht zu Tierbildern. Herr Toone sieht in dem Landhaus ein scheußliches vielbeiniges prähistorisches Monster, das, als ob dies nicht genug wäre, nicht einmal ein echtes Monster, sondern eine Imitation, eine Fälschung ist. Herr Inskip kann nicht die geringste Spur einer Fälschung erkennen. Der Stammbaum des edlen Tieres ist einwandfrei und unbestreitbar: Es ist der Inbegriff der reinrassigen Züchtung des Klassizismus aus der Romantik. Es ist klar, dass des einen Müll das begehrenswerte Objekt des anderen sein kann; dass Müll wie Schönheit Ansichtsache ist. Dennoch wäre es falsch, den Unterschied zwischen dem Nicht-Widerspruch bei Hunden und dem Widerspruch bei Müll durch die Unterscheidung zwischen Tatsachen und Ansichten wegerklären zu wollen, da bei beiden Standpunkten wahrscheinlich die gleiche
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Gewissheit herrscht, die für den Umgang mit Tatsachen charakteristisch ist. Die Feststellung, dass das, was dem einen nützt, dem anderen schadet, erklärt überhaupt nichts, sondern wirft nur die nächste Frage auf, die lautet: Von was hängt es ab, wer von beiden den Schaden hat? Im September 1972 war der Streit immer noch in vollem Gange, und Grange Park stand immer noch. (Es ist, hoffe ich, mittlerweile klar geworden, dass jedes Beispiel, das zur Illustration der Argumentation herangezogen wird, mit einem Zeit- und Ort-Etikett versehen werden muss, das die Situation spezifiziert, in der es gültig ist. Grange Parks, Stevenbilder und Vorfahren befinden sich ständig in Bewegung. In diesem Sinne sind alle Dinge im Fluss. Wenn wir uns also auf die Entwicklung irgendeines spezifischen Dinges konzentrieren, müssen wir die besondere Zeit und den besonderen Ort spezifizieren, innerhalb derer jene Entwicklung stattfindet. Diese spezifischen Entwicklungen selbst führen jedoch, insgesamt genommen, zu einer Verschiebung und Modifizierung der Grenze zwischen dem Bereich der Flexibilität und dem Bereich der feststehenden Annahmen. Und folglich, wenn wir unsere Aufmerksamkeit von den Dingen auf die Grenzen zwischen den Dingen verlagern, gelangen wir vom Spezifischen und Zeitgebundenen zum Allgemeinen und Ewigen.) Wenn die Genehmigung, Grange Park abzureißen, widerrufen und seine Erhaltung als entweder restauriertes Gebäude oder als romantische Ruine sichergestellt würde, dann wäre sein dauerhafter Charakter bestätigt und Herr Toone hätte den Schaden. Andererseits, wenn es Herrn Baring (dem Besitzer) gestattet werden würde, mit dem Abbruch fortzufahren, würde das Pendel zu Gunsten der Vergänglichkeit ausschlagen, denn es heißt ja »Aus den Augen, aus dem Sinn«. Aber das endgültige Resultat wäre immer noch in der Schwebe. Es ist möglich, wenn auch schwierig, eine negative Dauerhaftigkeit zu erzeugen, ähnlich der Lücke, die das Ziehen eines Zahnes in einem sonst vollkommenen Gebiss hinterlässt, im Vergleich zu der der Abbruch von Grange Park jedoch als ein beinahe-krimineller Akt von Philistern erscheint und zu einem unersetzbaren Verlust für die Gemeinschaft führt. Das dorische Propyläum an der Bahnstation Euston erlangte diese negative Dauerhaftigkeit, nachdem es abgerissen worden war, hauptsächlich dank der Bemühungen der Smithsons (den hervorragenden Architekten, die ein detailliertes und leidenschaftliches Buch geschrieben haben, in dem sie jeden Schritt in dieser schändlichen Affäre festhalten),20 durch die British Rail für alle Zeiten zum Vandalen abgestempelt wurde. Die Entscheidung über Grange Park musste für oder gegen die Erhaltung ausfallen, es gab keine Zwischenlösung. Einer der beiden Protagonisten musste sich geschlagen geben; doch gab es an dem Landhaus selbst eigentlich nichts, was diese Entscheidung herbeiführen konnte. Zugegeben, Grange Park gehörte dem 20 Smithson, A. und P.: The Euston Arch and the Growth of London, Midland and Scottish Railway, London 1968.
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Klassizismus an, und die Tatsache, dass es 1972 mehrere wichtige, dem Klassizismus gewidmete Ausstellungen gab und verschiedene maßgebliche Bücher über Klassizismus entweder kurz zuvor veröffentlicht worden waren oder kurz vor der Veröffentlichung standen, legte die Vermutung nahe, dass Dauerhaftigkeit das wahrscheinlichste Ergebnis sein würde. Doch das hieße, ein spezifisches Problem einfach durch seine Generalisierung zu ersetzen; außerdem besitzt der Klassizismus immer noch keine inneren Eigenschaften, die seine Dauerhaftigkeit sicherstellen würden. Man sollte nicht die Tatsache übersehen, dass der Klassizismus das einzige bedeutende Thema der europäischen Künste des 18. und 19. Jahrhunderts war, dem das zweifelhafte Privileg erschöpfender kunstgeschichtlicher Neubewertung bis dahin nicht zuteil wurde, und dass es deshalb, wie ein nicht eindeutig feststehender Tiwi-Vorfahr, hervorragend geeignet war, als Vehikel für Großbritanniens historischen Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft zu dienen. (Die Ausstellungen waren mit verschiedenen anderen Manifestationen des kulturellen Reklamerummels unter der Überschrift »Fanfare für Europa« verbunden.) Gleichzeitig können wir erkennen, warum diese anscheinend überfällige Neubewertung des Klassizismus nicht früher erfolgt war. Um den Klassizismus als Ganzes behandeln zu können, muss man eine pan-europäische Betrachtungsweise wählen – eine gradlinige Abstammungslinie zu Napoleon als seinem namensgebenden Vorfahr, doch war dies durch die vorhergehende Abzweigung einer kleinenglischen Unterabstammungslinie zu Wellington als ihrem Begründer ausgeschlossen. Die Fanfare für Europa war, so könnte man sagen, die Form des Eintretens des ewigen Objekts Geschichte in die Aktualität der Geopolitik, und im Verlaufe des Eintretens wurden beide verändert. Nicht nur die akephalen Tiwi manipulieren ihre Genealogien. Es lohnt sich, an diesem Punkt vom Klassizismus zu den Viktoriana abzuschweifen, um ein für allemal dieses beliebte Schlupf loch unbrauchbar zu machen, mit dessen Hilfe die von den Stevenbildern aufgeworfenen Probleme gerne umgangen werden. Eine allgemein verbreitete Reaktion besteht darin, die spektakuläre Wertänderung der Stevenbilder einem allgemeinen Erwachen des Interesses an Dingen viktorianischer Herkunft zuzuschreiben. Die sechziger Jahre erlebten das Auftauchen der Industriearchäologie, die Veröffentlichung gelehrter Bücher über die großen Ingenieure und Baumeister der viktorianischen Periode – Brunel, Telford, Cubitt, Butterfield –, die ästhetische Neubewertung der Prä-Raphaeliten und des Art Nouveau, die Bergung des von Brunel gebauten Dampfschiffes Great Britain von den Falkland Inseln (und seine anschließende Besichtigung durch die Königin in Bristol im Sommer 1973), die Erhaltung des Kennet-und-Avon-Kanals und die Eröffnung von Sothebys ausschließlich den Viktoriana gewidmeten Belgravia Auction Rooms. McLuhan21 hat diesen Prozess studiert und ihm in seiner 21 McLuhan, M.: The Gutenberg Galaxy, London 1962.
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verallgemeinerten Form in einer Art Naturgesetz Ausdruck verliehen. Indem wir ein Zeitalter hinter uns lassen (zum Beispiel die Industrielle Revolution) und in ein anderes eintreten (zum Beispiel in das Zeitalter der Elektrischen Revolution), wird, McLuhan zufolge, aus dem früheren Zeitalter (in seiner Terminologie) eine Kunstform. Wenngleich diese Formel hervorragend dazu geeignet ist, eine Beschreibung des allgemeinen Kontextes dieses Prozesses zu veranschaulichen, so liefert sie doch keine Erklärung für diesen. Zunächst einmal geht sie von der falschen Voraussetzung aus, die Frage nach den Kriterien für die Definition eines Zeitalters gelöst zu haben, indem sie einen einfachen technologischen Determinismus annimmt. Zweitens, so wird uns gesagt, müssen die von den Stevenbildern aufgeworfenen Probleme einfach als ein Element innerhalb der historischen Neueinschätzung der viktorianischen Perioden verstanden werden. Wenn wir aber fortfahren und fragen, welche Form diese historische Neueinschätzung denn annimmt, so stellen wir fest, dass sie nichts anderes ist als die Summe der zahlreichen besonderen Elemente, von denen eines die Stevenbilder sind. McLuhan ist in einer »Natürliche-Ordnung-der-Dinge«-Zirkularität gefangen, daher sein »Naturgesetz«. Grange Park steht immer noch. Es ist nun (1979) völlig ausgeschlachtet, und die äußere Hülle befindet sich unter der Aufsicht des Umweltministeriums, das sie als romantische Ruine erhalten will. Wenigstens scheint die Dauerhaftigkeit der Wilkin-Fassade gesichert zu sein. Das endgültige Ergebnis der Kontroverse war nicht die Folge natürlicher Kräfte, sondern eines politischen Kampfes, in dem Geld nur eine Waffe unter anderen war. Der Besitzer, Herr Baring, war Handelsbankier, und infolgedessen argumentierte er – was nicht weiter verwunderlich ist – ökonomisch. Das Haus, so versicherte er, sei dermaßen verfallen, dass jede Form von Restaurierung wirtschaftlich nicht möglich sei, und so habe er widerstrebend der Tatsache ins Auge sehen müssen, dass der einzig gangbare Weg für ihn der Abbruch sei. Der gleiche schlaue Instinkt leitete seine Entscheidungen, nachdem er die erforderliche Abbruchgenehmigung erhalten hatte. »[...] mit dem Abbruch muß begonnen werden, bevor es zu weiteren Plünderungen an den noch im Haus befindlichen wertvollen Gegenständen kommen kann, und ein öffentlich angekündigter Verkauf all der Dinge, die meine Berater für verkaufbar hielten und die ich nicht behalten wollte, hat vor ein oder zwei Monaten stattgefunden.« (Aus einem Brief von Herrn John Baring an The Times, 9.9.1972.) Wenn man diese Äußerung neben die von Herrn Toone stellt, derzufolge »gerade die kunsthandwerkliche Qualität im Innern des Hauses hervorragend ist und Herr Baring all dies gerettet hat«, dann wird die Unparteilichkeit von Herrn Toone als Experte fragwürdig, und seine Rolle gleicht verdächtig derjenigen des Archi-
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tekten, der die Geige spielt, während irgend so ein Oberschicht-Bursche die Melodie vorgibt. Es mag sich dabei jedoch um einen unglücklichen Zufall handeln, und es ist völlig klar, dass, selbst wenn ökonomische Kräfte die Bildung von Wissen und die daraus gezogenen Schlüsse beeinf lussen, jene doch nicht die völlige Herrschaft über diese haben. Somit kann Herr Inskip, dessen einzige Waffe seine Sachkenntnis als Architekt und die mit seinem profunden Verständnis des historischen Zusammenhangs und der Bedeutung von Grange Park verbundene Autorität ist, den Kampfplatz von der anderen Seite betreten – mit einer sehr guten Aussicht auf Erfolg. Aus all dem geht deutlich hervor, dass das Wissen des Experten, auch wenn es weder die Ursache noch der Gegenstand des Streites ist, doch nicht davon zu trennen ist. Es ist eine der Waffen, die im Kampf benutzt werden, und als solche ist es allen Kräften unterworfen, die seine Schneide schärfen. (Es ist ebenfalls möglich, dass es auf der Höhe seiner Entwicklung verdrängt wird, geradeso wie das Pferd dem Panzer weichen musste.) Die Integrität von Herrn Inskip oder Herrn Toone wird nicht in Frage gestellt, wenn man darauf hinweist, dass, wer von beiden auch immer sich auf der Siegerseite befinden sollte, man feststellen wird, dass das Wissenssystem, das seine Orientierung bestimmte, jenes entscheidende bisschen Mehr an Anerkennung finden wird und dass die Institution, innerhalb derer sie vorgetragen wurde, jenes entscheidende bisschen Mehr an Ansehen erringen, jene ausschlaggebenden paar Wissenschaftler mehr gewinnen und jenen entscheidenden Zuwachs der Mittel zu verzeichnen haben wird. Dieses Verknüpftsein des Wissens mit der Politik wird heute deutlich erkannt. Zuerst darauf hingewiesen hat der Physiker Max Planck, der die anerkannte Auffassung vom wissenschaftlichen Fortschritt durchschaute, derzufolge die Wissenschaftler, wenn die Mängel einer bestehenden Theorie erst einmal aufgedeckt wären und eine neue Theorie, die diesen Mängeln Rechnung trüge, entwickelt worden sei, entsprechend ihrem Berufsethos die alte Theorie automatisch aufgäben und sich die neue zu eigen machen würden. Die Wahrheit war viel weniger ethisch, viel weniger hübsch und viel menschlicher. Was geschah, war nur, dass diejenigen, die die alte Theorie vertraten, schließlich starben. Ist dies erst akzeptiert, gleicht wissenschaftlicher Fortschritt eher einem ziellosen Umherwandern, und die Vorstellung, dass eine Wissenschaft ihre Reife erst erreicht hat, wenn sie es sich leisten kann, ihre eigene Geschichte zu ignorieren, muss auf den Kopf gestellt werden. Nur dadurch, dass sie ihre Geschichte unterdrückt, kann eine Wissenschaft den Anschein von Reife erwecken. Kuhns22 Theorie der wissenschaftlichen Revolutionen ist die logische Entwicklung der Wissenschaftssoziologie, die aus Plancks Erkenntnis folgen muss. Aufeinanderfolgende Theorien werden durch besonders wichtige Arbeiten oder 22 Kuhn, S.: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt a. M. 1973.
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Experimente exemplifiziert, die Kuhn »Paradigmen« nennt. Der größte Teil wissenschaftlichen Bemühens ist der Entwicklung eines unbestritten anerkannten Paradigmas gewidmet – eine als »normale Wissenschaft« bezeichnete Aktivität. Wenn aus einer Vielzahl möglicher Gründe ein Verlust an Vertrauen in das etablierte Paradigma eintritt, werden vielleicht verschiedene konf ligierende Alternativen vorgeschlagen, und darauf folgt dann eine aufregende und turbulente Periode der »Paradigma-Konfusion«, die schließlich, dank Plancks biologischem Mechanismus, zur Etablierung eines neuen Paradigmas und zu einer neuen Periode normaler Wissenschaft führt. Ein wichtiger Punkt ist, dass, wenngleich viel Energie darauf verwandt werden mag, das Gegenteil zu beweisen, es innerhalb der Theorie keinen allmählichen Übergang von einem Paradigma zum nächsten gibt, sondern nur eine totale Diskontinuität – einen epistemologischen Bruch. Anthropologen, denen der missachtete Fulani-Schäfer bekannt ist, der, obgleich noch am Leben, von seinem Sohn abgelöst worden ist, würden eher eine soziologische als biologische Definition vom Tod geben.23 Das hat eine potentielle Beschleunigung des Prozesses zur Folge. Der akademische Ruhestand zum Beispiel geht häufig dem physischen Tod voraus, und die Missachtung geht sogar häufig dem Ruhestand voraus. Damit löst sich der Prozess wechselnder Perioden normaler Wissenschaft und wissenschaftlicher Revolutionen, obgleich er weiterhin den biologischen Faktoren untergeordnet bleibt, weitgehend von diesen ab und unterliegt zunehmend einer sozialen Bestimmung. Der Besitz von Wissen verleiht dem, der es besitzt, die Möglichkeit einer größeren und stärkeren Macht über Zeit und Raum, als derjenige erlangen kann, der kein derartiges Wissen besitzt. Es ist von wesentlicher Bedeutung, dass die Ansichten derjenigen, die ein klassizistisches Landhaus nicht von einer neugotischen Pfarrei unterscheiden könnten, in diesem Streit belanglos sind (es sei denn, sie wären gleichzeitig der Besitzer, der Kaufinteressent oder der zukünftige Abbruchunternehmer). Es ist ein Kampf zwischen epistemologischen Riesen, und der Gewinner ist in der Lage, die räumliche Konfiguration der Gegenwart so neu zu ordnen, dass sie die raum-zeitlichen Erfordernisse dieses besonderen Wissenssystems bestätigt (wie bei der Restrukturierung von Lineage-Gerüsten). Damit soll nicht gesagt werden, dass die Grenze zwischen dem Vergänglichen und dem Dauerhaften beliebig verschoben werden kann, sondern nur, dass derartige Verschiebungen, wenn sie auftreten, weder willkürlich noch natürlich noch homostatisch sind. Sie sind das Ergebnis durch Wissen vermittelter sozialer Kräfte, und infolgedessen kann man sagen, dass sie die Realität zurechtbiegen, damit diese in die vorherrschende Theorie passt.
23 Stenning, D. J.: Savannah Nomads. A study of the Wodaabe pastoral Fulani of western Bornu Province, Nothern Region, Nigeria, International African Institute, London 1959.
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Dies mag in vielerlei Hinsicht als ein trostloses Bild der Wissensindustrie erscheinen, besonders denjenigen, die an dem Glauben festhalten, dass das Streben nach Wissen die tapfere Suche nach der Wahrheit darstelle – an der Vorstellung, dass man, auch wenn man vielleicht tatsächlich nie dorthin gelangen mag, ihr doch immerhin näher kommen könne. Aber wenigstens ist es ein realistisches Bild, und wenn es von uns verlangt, dass wir eine heraklitische Soziologie betreiben, in der alles Kampf und Konf likt ist und in der es keine Neutralität gibt, und dass wir die kartesianische Soziologie aufgeben, die das Gegenteil behauptet, dann ist dies gewiss kein zu hoher Preis für den Fortschritt der Selbsterkenntnis.
6. Kunst und die Ziele ökonomischer Aktivitäten
Der Erklärungsrahmen zu den Begriffen »Vergängliches«, »Müll« und »Dauerhaftes« sowie zu den zulässigen Transfers zwischen diesen Kategorien ist ja ganz schön, aber er beantwortet nicht alle Fragen. Was geschieht langfristig mit dem dauerhaften Gegenstand, wenn er, bei weiter zunehmendem Wert, aus der rechten oberen Ecke der Abbildung 3 verschwindet? Was geschieht, wenn es zu einem vermeintlich unmöglichen Transfer kommt? Wenn zum Beispiel etwas Dauerhaftes vergänglich oder zu Müll wird; wenn ein altes Meistergemälde in Fetzen gerissen wird, ein venezianisches Kelchglas zerbricht und in tausend Stücke geht oder eine georgianische Silber-Teekanne auf der Heizplatte überhitzt wird und zu einem glänzenden Klumpen zerschmilzt? Was ist mit solchen Situationen, in denen aus heiterem Himmel plötzlich ein neuer Gegenstand auftaucht oder ein existierender auf rätselhafte Weise plötzlich verschwindet? Das heißt, wie ist dieses dynamische Kategoriensystem mit dem Produktions- und Konsumtionsprozess verknüpft? Im Idealfall halten dauerhafte Güter ewig und ihr Wert nimmt im Lauf der Zeit zu. In einem solchen System treten ständig Gegenstände in die Kategorie des Dauerhaften ein, verlassen diese jedoch nie, und die Tatsache, dass sie alle an Wert zunehmen müssen, verschärft lediglich einen bereits expansiven oder gar explosiven Trend. Wir müssen fragen, ob dies tatsächlich geschieht oder ob langfristig andere Faktoren dieser Entwicklung eine Grenze setzen oder sie wenigstens verlangsamen, damit die Situation nicht außer Kontrolle gerät. Trägt das System den Keim seiner eigenen Zerstörung in sich? Eine Grenze, der sich dauerhafte Güter zweifellos nähern und die einige Klassen dauerhafter Gegenstände tatsächlich erreichen, ist die völlige Entfernung aus dem (Wirtschafts-)Kreislauf. Dies stellt eine perfekte Lösung des Problems dar, da das Aus-dem-Verkehr-ziehen die Expansion verlangsamt, ohne den dauerhaften Gegenständen in irgendeiner Weise Eigenschaften aufzuoktroyieren, die mit ihrer Mitgliedschaft in der Kategorie des Dauerhaften unvereinbar wären. Der vollständige Transfer einer Klasse von Gegenständen in Museen und öffentliche Sammlungen steht mit der allgemeinen Überzeugung im Einklang, dass diese Gegenstände, befänden sie sich im Umlauf, an Wert zunehmen würden. Mit anderen Worten, sie sind so dauerhaft, dass sie unbezahlbar sind.
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Ab und zu werden, das ist unvermeidlich, dauerhafte Gegenstände zerstört. Auch das führt zur vollständigen Entfernung aus dem Umlauf, doch in diesem Falle wird das Kategoriensystem tatsächlich bedroht. Selbstverständlich wissen wir alle, dass keinem physischen Objekt ewige Dauer beschieden ist, und folglich müsste die Kategorie des Dauerhaften logischerweise eine Klasse ohne Mitglieder sein. In der Praxis jedoch ist dieses scheinbar unüberwindliche Hindernis leicht zu bezwingen, denn Objekte in der Kategorie des Dauerhaften müssen nicht ewig überdauern, sondern nur lange genug. Solange die Mehrzahl der Gegenstände in der Kategorie des Dauerhaften die Lebenszeit des individuellen Kulturträgers überlebt und, was noch wichtiger ist, die Leute sich während dieser Zeit gegenüber jenen Objekten so verhalten, als ob diese von ewiger Dauer wären, ist die Kategoriengrenze nicht in Gefahr. Wenn man einen alltäglich-menschlichen und nicht gerade kosmischen Standpunkt einnimmt, erkennt man, dass die unbegrenzte Lebensdauer dauerhafter Objekte einem heiligen Hüteramte anvertraut ist. Dieses sorgt dafür, dass unsere dauerhaften Güter, genau wie unsere Badezimmer, der nächsten Generation in dem Zustand hinterlassen werden, in dem wir sie gerne vorfinden würden. Wie die meisten Dinge im Leben müssen wir unsere dauerhaften Güter holen, wo wir sie finden können. Dennoch greifen die von der Natur auferlegten Grenzen gelegentlich auf die wackelige Ordnung über, die das Kategoriensystem ermöglicht hat, und drohen sie umzustürzen. All unseren Bemühungen zum Trotz, dauerhafte Güter lange genug überdauern zu lassen, hören sie jedoch bestürzenderweise hin und wieder auf zu existieren, und wenn dies geschieht, reagieren wir darauf emphatisch mit Kummer, Zorn, Briefen an die Zeitungen und finanziellen Beiträgen an Unterstützungsfonds: So wollen wir verhindern, dass etwas Derartiges noch einmal passiert. Zum Beispiel verursachte die Überschwemmung von Florenz im Jahr 1966 einen gewaltigen Schock. Sowohl der Schock als auch die Reaktion auf sie standen in keinem Verhältnis zu dem Verlust an Leib und Leben, dem Kriterium, an dem wir gewöhnlich Katastrophen im Ausland messen (wie zum Beispiel in der erfundenen Geschichte von der siegreichen Meldung im Wettbewerb um die langweiligste Zeitungsschlagzeile: »Kleines Erdbeben in Peru. Nur wenige Tote«). Hilfsfonds wurden eingerichtet, Briefe bedeutender Personen wurden in The Times veröffentlicht und in Annabels Nachtclub wurde ein »f lorentinischer Wohltätigkeitsabend« veranstaltet, dessen Kosten das Management trug und dessen Ausschmückung ein bekannter Designer mit seinen Assistenten kostenlos besorgte. Diese extreme Reaktion entspricht dem schrecklichen Schlag, der unseren konzeptuellen Kategorien durch die Nachricht zugefügt wurde, dass einige der dauerhaftesten Objekte der westlichen Welt (die Kunstschätze der Renaissance) über Nacht höchst vergänglich geworden waren. Eine solch extreme Reaktion auf die Vernichtung von dauerhaften Gütern ist vergleichbar mit dem Tabuverhalten oder dem Vermeiden von Verunreinigung. Es
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ist eine rituelle Form, ein symbolischer Prozess, der die klaffende Wunde heilen soll, die die chaotische Natur der empfindlichen kulturellen Membran zugefügt hat, die das Vergängliche vom Dauerhaften trennt. Tatsächlich löscht diese Reaktion den kränkenden Transfer und modifiziert das, was tatsächlich geschieht, so weit, dass es mit dem, was im Idealfall möglich ist, übereinstimmt. Eine ähnliche Bedrohung dieser Grenze stellen Objekte dar, die, anstatt plötzlich und unerwartet von der Kategorie des Dauerhaften in die Kategorie des Vergänglichen oder gar in die Müllkategorie zu springen, als Folge ihrer physischen Eigenschaften die Tendenz haben, immer wieder in diese zurückzugleiten. (Eine Qualität, die von denen, die mit Verbrauchsgütern handeln und spekulieren, als »innerer Mangel« bezeichnet wird. Kupfer zum Beispiel leidet nicht an einem solchen Mangel, Dosenlachs hingegen schon. Auch Unberührtheit ist ein Vorzug, der an einem inneren Mangel leidet: »Das Grab ist ein schöner, verschwiegener Ort, doch niemand, so denk‘ ich, umarmet sich dort.«) Kunstwerke, besonders Gemälde mit ihren dünnen Leinwänden, wurmstichigen Rahmen und verblassenden Farben, sind häufig in Gefahr, und eine ganze Restaurierungsindustrie ist ins Leben gerufen worden, um dieser Tendenz zu begegnen und den Objekten die Eigenschaften jener Kategorie aufzuzwingen, in der sie sich befinden. Die in den Kellern unserer Museen und Galerien im Verborgenen arbeitenden Restauratoren sind das konzeptionelle Äquivalent zu jenen einsamen Jackaros auf australischen Schaffarmen, die ihr ganzes Arbeitsleben damit verbringen, die Zäune zu reparieren, die die Schafe drinnen und die Kaninchen draußen halten sollen. Die Entfernung einiger dauerhafter Güter aus dem Umlauf und das bedauerliche Verschwinden anderer setzen der endlosen Ausweitung der Kategorie des Dauerhaften zwar eine oberste Grenze, doch reicht das noch nicht aus, stabile Bedingungen innerhalb der Kategorie des Dauerhaften zu schaffen. Das liegt daran, dass die Geschwindigkeit, mit der Gegenstände in die Kategorie des Dauerhaften eintreten, durchweg viel größer ist als die Geschwindigkeit, mit der sie aus dem Umlauf gezogen werden, ungeachtet der Tatsache, dass Umfang und Zahl der öffentlichen Sammlungen in außergewöhnlichem Maße zugenommen haben. Der langfristige Trend ist unleugbar, doch auch wenn ein solches expandierendes System mit einiger Wahrscheinlichkeit schließlich eine unüberschreitbare Grenze erreichen wird, wäre es äußerst unklug anzunehmen, dass eine derartige Krisensituation unvermeidbar sei oder gar kurz bevorstehe. Die Gefahr, dass die Vermehrung der Museen uns schließlich alle heimatlos machen wird, und dass wir alle kognitive Zaunreparaturen ausführen werden und niemand mehr übrigbleibt, produktive Arbeit zu leisten, ist nicht sehr real. Apokalyptische Propheten
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drohen uns mit Strafen, die wohlverdient und angesichts unseres zügellosen Verhaltens unvermeidlich sein mögen. Doch setzt dies voraus, dass der Abgrund, in den wir kopfüber stürzen, einen Boden hat, auf dem unser Sturz enden kann. Das Bild des Mannes, der von einem unendlich hohen Wolkenkratzer springt und bei jedem Stockwert, an dem er vorbeikommt, vor sich hinmurmelt »So weit, so gut, so weit, so gut«, ist soziokulturellen Systemen vielleicht angemessener als der topographische Vergleich mit den dummen mythischen Schweinen. Der Wechsel von der Müllkategorie in die Kategorie des Vergänglichen ist aus dem folgenden Grund theoretisch unmöglich. Sowohl Wert als auch erwartete Lebensdauer eines Gegenstandes sind in der Müllkategorie Null. In der Kategorie des Vergänglichen sind sie positiv und abnehmend. Wenn ein Gegenstand von der Müllkategorie in die Kategorie des Vergänglichen wechselte, dann würde das seinen Wert erhöhen, doch Wertzunahme ist das Kriterium für die Zugehörigkeit zur Kategorie des Dauerhaften. Das würde den Gegenstand folglich aus der Kategorie des Vergänglichen ausschließen. Aber kommen solche theoretisch unmöglichen Kategorienwechsel in der Praxis vor? Sie kommen in begrenztem Umfang – in einem Umfang, der die Aufrechterhaltung der Grenze nicht ernsthaft bedroht – in bestimmten Geschäftspraktiken von Händlern vor: Der erfolgreiche Händler betreibt seine Geschäfte, indem er den Wert und die erwartete Lebensdauer eines Gegenstandes manipuliert: indem er sie in der einen Transaktion vermindert und in der folgenden Transaktion erhöht. Der Gebrauchtwagenhändler ist in dem Maße erfolgreich, wie es ihm gelingt, den Übergang eines Gegenstandes von der Kategorie des Vergänglichen in die Müllkategorie zu verzögern; der Antiquitätenhändler ist in dem Maße erfolgreich, wie es ihm gelingt, die Dauerhaftigkeit eines Gegenstandes hervorzuheben. Wechsel von der Müllkategorie in die Kategorie des Vergänglichen kommen begrenzt bei Lumpensammlern, Altwarenhändlern, Zigeunern und Schrotthändlern vor und finden in Slogans wie »Wir nehmen, was Sie nicht mehr wollen« oder »Kostenlose Entrümpelung« ihren Ausdruck. Es ist bezeichnend, dass der Antiquitätenhändler, dessen Aktivitäten sich in Übereinstimmung mit den idealen Eigenschaften des Kategoriensystems befinden, traditionell als achtbar und gelehrt angesehen wird – die, wie manche behaupten, letzte Zuf lucht des Gentleman –, während Lumpensammler, Altwarenhändler, Zigeuner, Schrotthändler und Gebrauchtwagenverkäufer, deren Aktivitäten den idealen Eigenschaften des Systems zuwiderlaufen, als Randerscheinungen gelten und als kriminelles Reservoir betrachtet werden, das unsere gegenwärtige soziale Ordnung verschlingen wird, wenn es nicht gelingt, sie einzudämmen. Die theoretisch unmöglichen Wechsel von »vergänglich« zu »dauerhaft« und von »dauerhaft« zu »vergänglich« können zusammen betrachtet werden. Sie entsprechen der anscheinend unmöglichen Marktsituation, dass einige Leute erwarten, weniger und weniger für einen bestimmten Gegenstand bezahlen zu müssen,
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während andere erwarten, mehr und mehr dafür bezahlen zu müssen. Eine derartige Situation, sollte es sie geben, wäre ihrer Natur nach instabil und würde sich so lange ändern, bis der Markt diejenigen ganz ausgeschlossen hätte, die erwarteten, immer weniger bezahlen zu müssen. Ähnlich könnten wir uns in einer Krise wie dem Wall Street-Börsensturz die hypothetische Situation vorstellen, dass der plötzliche Vertrauensschwund zu einer Verringerung der Zahl der Leute führen würde, die erwartet hatten, für, sagen wir, antikes Silber immer mehr bezahlen zu müssen – mit dem Resultat, dass die Leute, die erwartet hatten, immer weniger bezahlen zu müssen und die das Silber vermutlich haben wollten, um ihren Tee daraus zu trinken oder damit zu essen, in den Markt eintreten und ihn vielleicht ganz übernehmen. Es ist offensichtlich, dass das langfristige Überleben des Kategoriensystems und das Vorhandensein von Transfers zwischen den Kategorien des Vergänglichen und des Dauerhaften nicht miteinander zu vereinbaren sind. Derartige Transfers stellen eine automatische Bedrohung für die Erhaltung der Grenze dar, und ihr Auftreten scheint den bevorstehenden Zusammenbruch der Kategorie des Dauerhaften zu signalisieren. Beispiele dafür sind der Zusammenbruch der Mittelklassen im Deutschland der Weimarer Republik oder die Entbehrungen der Kriegszeit, die zu dem (bedauerlichen) Tausch von alten Meistern gegen Corned-Beef-Büchsen führten. Dass sie in unruhigen Zeiten leben, wird den Leuten nicht nur wegen realer physischer Gefahren bewusst, sondern auch aufgrund realer ideeller Gefahren. Es ist sehr alarmierend, wenn Objekte auf hören, den von ihnen erwarteten Eigenschaften zu entsprechen, denn diese von Objekten und Ideen erwarteten Eigenschaften stellen unsere Werte, unsere Zivilisation dar, und mancher Krieg wurde geführt, weil diese Eigenschaften bedroht schienen. Es gab in Oxford einen Universitätslehrer, der, als einige seiner uniformierten ehemaligen Studenten ihm zu verstehen gaben, dass er seinen Elfenbeinturm vielleicht verlassen und sich am Krieg beteiligen sollte, erwidert haben soll: »Ich bin, wofür ihr kämpft.« Aber es gibt noch eine andere Möglichkeit. Wir können uns die Errichtung einer permanenten kulturellen Grenze zwischen denjenigen vorstellen, die erwarten, immer mehr bezahlen zu müssen und denjenigen, die erwarten, immer weniger bezahlen zu müssen, wobei die, die erwarten, immer mehr bezahlen zu müssen, den Markt vollständig übernehmen und die, die erwarten, immer weniger bezahlen zu müssen, ihren Ausschluss vom Markt akzeptieren, indem sie für sich die Relevanz dauerhafter Gegenstände leugnen. Eine solche Grenze würde die Konkurrenz in Begriffen der Gegenstände, die sie definieren, praktisch aufheben: Es wäre die Art von Grenze, wie sie eher zwischen Kasten als zwischen Klassen existiert. Es ist die Art von Grenze, die, zumindest auf den ersten Blick, die »Knockers-Through« von den »Ron-and-Cliffs« zu trennen scheint. Aber in diesem Falle beseitigt sie die Konkurrenz nicht, weil die »Knockers-Through«, anstatt nach den dauerhaften Häusern in Belgravia zu streben, versuchen, den
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vergänglichen bzw. den Müllhäusern, die bis vor Kurzem ausschließlich den »Ron-and-Cliffs« vorbehalten waren, Dauerhaftigkeit zu verleihen. In dieser, für beide Seiten durch unterschiedliche Regeln bestimmten Konkurrenz gewinnen die »Knockers-Through« an Status und Macht (über den zunehmenden ästhetischen und ökonomischen Wert ihrer Häuser). Die »Ron-and-Cliffs« profitieren von den sich mehrenden Gelegenheiten, Mut und Großzügigkeit zu beweisen (mittels Umwandlung von Dauerhaftigkeit in Umsatz – zum Beispiel, indem sie aus den dauerhaften Häusern der »Knockers-Through« den dauerhaften Inhalt stehlen und verscheuern). Wenn man die Grenze überschreitet, verwandelt sich die Kriminalität der »Ron-and-Cliffs« von einem abweichenden in ein normales Verhalten. Nur die Existenz dieser kulturellen Grenze kann die beobachtbare Tatsache erklären, dass ein beträchtlicher Teil der britischen Gesellschaft sich durchweg so verhält, als gäbe es so etwas wie dauerhafte Güter nicht, und dass manche, wenn nicht alle, Mitglieder dieser Gruppe sich weiterhin so verhalten, obwohl sie sich völlig im Klaren darüber sind, dass dauerhafte Güter existieren, einfach nur, weil diese »nicht für sie« sind. Dies ist nicht in einem geringschätzigen oder gönnerhaften Sinne gemeint. Eine derartige Person mag sich sehr wohl dessen bewusst sein, dass es, innerhalb ihres sozialen Kontextes, eine viel bessere Investition ist, für fünf Pfund alten oder potentiellen Freunden und Bekannten Drinks zu spendieren, als im Wert von fünf Pfund Aktienanteile zu kaufen. Zwei Anekdoten aus dem Baugewerbe mögen diesen Punkt veranschaulichen. Während wir letzte Hand an ein jüngst zur Dauerhaftigkeit emporgestiegenes Haus in Nord-London anlegten, kam ein Installateur, um die Umstellung auf Gas vorzunehmen. Schon als er die sechsfach getäfelte Eingangstür und die WilliamMorris-Tapete im Flur gesehen hatte, rief er aus: »Obere Mittelschicht.« Er selbst, obwohl in Islington geboren, lebte jetzt in einem völlig elektrifizierten modernen Haus auf seinem eigenen Grundstück in Barnet. Doch nachdem er dann auch die Zentralheizung, die Dusche, das Bidet und die Brazilia-Badezimmereinrichtung, den geschliffenen und versiegelten Fußboden des Küchen-Ess-Wintergartenbereiches sowie den roten gasbetriebenen Aga gesehen hatte, stellte er fest: »Egal was man mit einem Haus wie diesem anstellt – für mich wird es immer ein SlumHaus bleiben.« Ein Zimmermannskollege (der später das Au-pair-Mädchen aus einem der Häuser, an denen wir arbeiteten, heiratete) sagte, dass er aus ästhetischen Gründen die echten Leder-Chesterfields und die Regency-Walnussesstische der dauerhaften Häuser schätzen gelernt habe. Er fuhr dann fort zu erklären, dass er seine eigene Wohnung nicht so möblieren könne, da derartige Gegenstände leider nicht für ihn seien, denn sich mit dauerhaften Gütern umgeben zu können und nicht alle paar Jahre seine dreiteilige Kunststoffgarnitur auswechseln zu müssen, wäre für seine (sozial und ökonomisch für ihn lebenswichtigen) Freunde und Genossen ein Zeichen dafür gewesen, dass er ihre Kultur der Vergänglichkeit verlassen habe.
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Verallgemeinernd kann man sagen, dass, wenn Konkurrenz ausgeschaltet wird, diese kulturelle Grenze Kasten und, wenn Konkurrenz besteht, Klassen voneinander trennt. Konkurrenz wird aber durch den Kategorienwechsel von »vergänglich« zu »Müll« zu »dauerhaft« ermöglicht. Daraus folgt, dass unter Bedingungen, die mit einer zunehmenden Verringerung der Möglichkeit dieser Kategorienwechsel einhergeht, die soziale Schichtung tendenziell nicht mehr auf Klassen, sondern auf Kasten aufgebaut sein wird. (Es ist in dieser Phase nicht möglich, irgendeine Aussage darüber zu machen, ob der Übergang von einer auf Klassen zu einer auf Kasten basierenden Schichtung allmählich und glatt oder plötzlich und diskontinuierlich erfolgt. Diese Frage wird in Kapitel 8 behandelt.) Die Erklärung dieses Phänomens ist ganz einfach: Das Kategoriensystem »Vergänglich-Müll-Dauerhaft« gestattet die ungleiche Verteilung von Macht und Status innerhalb unserer Gesellschaft und ist die Grundlage für die kulturellen Unterschiede zwischen den Klassen, die entsprechend dieser Verteilung angeordnet sind. Die zulässigen, aber sorgfältig kontrollierten Transfers zwischen den Kategorien erlauben ein Maß an sozialer Mobilität, das ausreicht, um diese Klassen zu modifizieren, so dass sie die sich unvermeidlich ändernde Machtverteilung innerhalb unserer Gesellschaft widerspiegeln. Das heißt, sie erlauben die ständige Neuordnung von Macht und Status. Nun könnte man einwenden: »Aber Macht und Status gehen doch immer Hand in Hand, wie könnten sie also einer Neuordnung bedürfen?« Im Westen war dies dank der Transfers zwischen den Kategorien zwar tatsächlich tendenziell der Fall, doch in Indien zum Beispiel gab es praktisch keine Transfers durch die Müllkategorie hindurch und variierten Macht und Status ziemlich unabhängig voneinander. Der f leischessende Prinz zum Beispiel saß sicher an der Spitze der Machtstruktur, aber innerhalb der Kastenhierarchie stand er unter dem vegetarischen Brahmanen. Dies ist der Unterschied zwischen Klasse und Kaste, und es gibt keinen Grund nicht anzunehmen, dass Macht und Status nicht auch hier im Westen künftig unabhängig voneinander variieren könnten. Das Maß an Kontrolle, das notwendig ist, um die ständige Neuordnung von Macht und Status zu gewährleisten, ohne dass gleichzeitig die Gefahr einer Zerstörung der kulturellen Grenzen zwischen den Klassen bestünde, ist nicht leicht zu bestimmen. Wenn die Kontrolle zu rigide ist, werden Machtverteilung und Statusverteilung die Tendenz haben, sich auseinander zu entwickeln, da Transfers, die deren Auseinanderentwicklung verhindern könnten, nicht erlaubt wären. Auf diese Weise werden Macht und Status zunehmend unabhängig voneinander variieren: Diejenigen an der Spitze der Prestigeklasse werden sich immer weniger mit Objekten als Quellen der Macht und immer häufiger damit befassen, sich bestimmte Objekte als Indikatoren für Reinheit und Trennung anzueignen beziehungsweise andere zurückzuweisen. Im Ergebnis wird sich die Basis der sozialen Schichtung von der Klasse auf die Kaste verlagern. Wenn die Kontrolle zu locker
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ist, werden Macht und Status zwar gekoppelt bleiben, aber das Statusgefälle wird unterhöhlt, da zu viele und zu schnelle Transfers zwischen den Kategorien erfolgen, und es wird nicht länger möglich sein, die deutlichen Unterscheidungen zwischen ihnen aufrechtzuerhalten. Das heißt, die Schichtung wird abnehmen, die Kategorie des Dauerhaften wird verschwinden und die Gesellschaft wird sich in Richtung auf den egalitären Pol hin entwickeln und sich ausschließlich um universelle Unterscheidungen wie zum Beispiel Alter, Geschlecht und physische Merkmale organisieren. Indem wir die Argumentation zu Gunsten einer dynamischen Soziologie bis zu ihrem logischen Ende treiben und nicht nur die Möglichkeiten von Transfers zwischen den kulturellen Kategorien betrachten, sondern auch die Möglichkeiten verschiedener Veränderungen, die als Folge dieser Transfers in der völligen Eliminierung einiger dieser Kategorien bestehen können, können wir nun erkennen, dass wir ein einfaches Dreieck von Transformationen erhalten, innerhalb dessen die vermeintlich grundlegenden sozialen Dimensionen »Schichtung« und »Konkurrenz« als sekundäre Abstraktionen erscheinen (siehe Abbildung 13).
Abbildung 13: Das Müll-Dreieck
Die Verallgemeinerung muss jedoch noch nicht in diesem Stadium auf hören. Das Müll-Dreieck liefert, in Umrissen, eine Beschreibung aller Möglichkeiten der Konzeptualisierung der sich in einer beliebigen Gesellschaft in Umlauf befindlichen Güter und der Art der Beziehungen, die zwischen diesen Konzeptualisierungen und allen möglichen Varianten der fundamentalen Eigenschaften sozialer Sys-
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teme vorkommen können. Mit anderen Worten, es stellt die sozialen Gesetze dar, die Güterverteilung und -austausch regieren. Wir können nun fragen, welche Beziehung zwischen diesem Modell aller sozial realisierbaren Varianten der Verteilungs- und Austauschweisen und den beiden anderen Bereichen der Wirtschaftsaktivität, Produktion und Verbrauch, besteht. Doch zuvor sollten wir klären, in welchem Verhältnis sich das Müll-Dreieck und das für die Analyse von Stevenbildern und Nord-London-Häusern benutzte Modell zueinander befinden. Dieses Modell ist in Abbildung 14 dargestellt.
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Abbildung 14
Dieses Modell stellt von allen mit dem Müll-Dreieck gegebenen sozial realisierbaren Möglichkeiten nur eine spezifische Möglichkeit dar. Es ist tatsächlich diejenige Möglichkeit, die der rechten oberen Ecke des Dreiecks, der durch ein hohes Schichtungs- und Konkurrenzniveau charakterisierten Klassengesellschaft, entspricht. Es ist die Darstellung einer der historischen Bedingungen der Verteilung und des Austauschs. Im Gegensatz dazu liefert das Müll-Dreieck eine skizzenhafte Darstellung aller historischen Bedingungen, die tatsächlich eingetreten sind, und all derer, die, obwohl möglich, noch nicht eingetreten sind. Es ist also eine Darstellung der universellen Qualitäten der Güterverteilung und des Güteraustausches.
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Die Unterscheidung zwischen universellen und historischen Qualitäten bildet den Ausgangspunkt für Marx‘ soziale und ökonomische Theorie. Den nicht-sozialistischen Ökonomen wirft er vor, die beiden durcheinanderzubringen und von der Annahme auszugehen, dass die besonderen historischen Qualitäten, die für die rechte obere Ecke des Müll-Dreiecks charakteristisch sind, für alle Zeit Gültigkeit besäßen; dass das kapitalistische System also ein echtes ewiges Objekt sei. Damit spannt er sein methodologisches Netz weiter als das seiner Widersacher, und da ich das Gleiche getan habe, ist es gerechtfertigt, wenn ich seiner Darstellung der universellen Natur des Produktions- und Konsumptionsprozesses folge. (Daraus folgt allerdings nicht, dass ich mich in irgendeiner Weise verpf lichtet fühle, mich Marx‘ Ansichten bezüglich der sozialen Gesetze, die Güteraustausch und Güterverteilung bestimmen, anzuschließen.) Die universelle (oder natürliche) Bedingung dieser Bereiche ist, nach Marx, die Identität von Produktion und Konsumtion, aber diese Identität wird verschleiert durch das Dazwischentreten der historischen (oder kulturellen) Bedingungen von Güterverteilung und -austausch, die uns daran hindern, diese Identität wahrzunehmen. Dieser historischen Trennung von Produktion und Konsumtion widerspricht die Existenz von Prozessen, die nur auftreten können, wenn sie nicht getrennt sind – die produktive Konsumtion (die Verwendung eines Produktes zur Reproduktion des menschlichen Lebens). Diesen Sachverhalt kann man sich als zwei opponierende Kräfte vorstellen. Die eine ist die historische Bedingung, die Produktion und Konsumtion trennt, so dass erstere der Anfang und letztere das Ende wird, die andere ist die universelle Bedingung, die beide wieder miteinander verbindet, so dass sie einen geschlossenen Kreis bilden, der die Vorstellung von Anfängen und Enden unsinnig erscheinen lässt. Die Art und Weise, wie die historische Bedingung interveniert und die universelle Einheit verschleiert, kann folgendermaßen dargestellt werden (Abbildung 15). Von den vielfältigen möglichen und unmöglichen Transfers im Schaubild sind diejenigen innerhalb des Güter-im-Umlauf-Bereichs bereits erklärt worden (ebenso Marx‘ in sich selbst evidente, aber lästige »produktive Konsumtion« und »konsumtive Produktion«); deshalb sollten wir uns vor allem diejenigen Transfers genauer ansehen, die von »Produktion« zu »Güter-im-Umlauf« und von »Güterim-Umlauf« zu »Konsumtion« stattfinden. Nehmen wir zunächst den unmöglichen Wechsel von »dauerhaft« zu »Konsumtion«, so können wir sehen, dass dies theoretisch unmöglich ist, da dauerhafte Objekte idealtypisch von ewiger Dauer sind. Sie mögen aus dem Kreislauf entfernt werden (dargestellt durch den Bereich der Kategorie des Dauerhaften, der sich außerhalb der Grenze der »Güter-im-Umlauf« befindet), aber sie können nicht auf hören zu existieren, das heißt, konsumiert werden. Dieser Transfer ist eine einfache Variante des theoretisch unmöglichen Transfers von »dauerhaft« zu »Müll«, die bereits behandelt worden ist. Er entspricht der Zerstörung eines
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Abbildung 15 dauerhaften Gutes, von dem nichts zurückbleibt, wie das zum Beispiel der Fall ist, wenn man einen Diamanten in einen Hochofen fallen lässt. Wenn diese Art von Transfer möglich würde und ziemlich häufig aufträte, würde das den Zusammenbruch der Kategorie des Dauerhaften ankündigen (durch deren Aufgehen in der Kategorie des Vergänglichen). Das heißt, diese besondere historische Bedingung würde sich zur egalitären Spitze des »Müll-Dreiecks« verlagern. Die anderen fünf Transfers (von »Produktion« zu »Güter-im-Umlauf« und von dort zu »Konsumtion«) sind theoretisch möglich, und wir sollten uns ansehen, ob sie in der Praxis auftreten und, wenn dem so ist, welcher Form von vernünftigen Alltagstransaktionen sie entsprechen. Der Transfer von »Produktion« zu »vergänglich« stellt kein Problem dar. Er ist, sozusagen, die Norm. Er entspricht dem, was wir gewöhnlich als den eigentlichen Zweck der Produktion ansehen: der Erzeugung nützlicher Dinge. Manche dieser nützlichen Dinge, wie Nahrungsmittel, mögen sehr schnell verbraucht werden, andere, wie Autos und Waschmaschinen, weniger schnell; und wieder andere, wie Bücher und Häuser, tatsächlich sehr langsam. Das wesentliche Merkmal ist aber, dass sie, indem sie gebraucht werden, sich verbrauchen und, indem sie sich verbrauchen, der Transfer von »vergänglich« zu »Konsumtion« stattfindet. Damit entspricht dieser Transfer von »vergänglich«
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zu »Konsumtion« ebenfalls der Norm, und in der Tat verläuft der normale Weg von der Produktion zur Konsumtion über die Kategorie des Vergänglichen. Alle anderen Wege werden im Allgemeinen als ziemlich unnormal betrachtet, und schon die Existenz derartiger nicht-normaler Wege wird häufig ignoriert und manchmal sogar geleugnet. Der Transfer von »Produktion« zu »Müll« erscheint auf den ersten Blick ziemlich unwahrscheinlich. Wer würde schließlich all die Kosten und Schwierigkeiten auf sich nehmen, um Müll zu produzieren? Natürlich würde dies niemand absichtlich tun, aber die Produktion nützlicher Dinge ist oft zwangsläufig mit der Produktion von Müll in Gestalt unwillkommener, aber unvermeidbarer Nebenprodukte verbunden. Der »Produktion-zu-Müll«-Transfer entspricht also den Produkten, die fortbestehen, aber nutzlos sind. Das ist ein Aspekt der Produktion, der häufig außer Acht gelassen und vielleicht sogar geleugnet wird. In gewissen Kreisen jedoch wird ihm zur Zeit viel Aufmerksamkeit gewidmet. Der Transfer von der Produktion zum Müll entspricht der Verschmutzung. Der Transfer »Müll-zu-Konsumtion« ist ziemlich verbreitet. Er tritt auf, wann immer Müll beseitigt wird, zum Beispiel beim Sammeln und Verbrennen von Müll, bei der Abwasserauf bereitung, der Wiederherstellung von Ödland, der Slumsanierung, der Deportation unerwünschter Fremder und, im Extremfall, der Vergasung von Juden und Zigeunern in Nazi-Deutschland. Eine derartige Konsumtion wird im Allgemeinen als ein sozialer Dienst angesehen: als ein notwendiger Transfer, der aber nichtsdestoweniger eine Belastung für die Gemeinschaft darstellt. Das wirklich Entsetzliche an Nazi-Deutschland ist nicht in dessen kollektiver Verrücktheit zu sehen, sondern in der perfekten Vernünftigkeit des Verhaltens im Hinblick auf den besonderen Kategorierahmen, der seine historische Bedingung bildete. Der letzte Transfer, der von »Produktion« zu »dauerhaft«, ist äußerst selten, aber er kommt manchmal vor. Er entspricht dem Wahrwerden des Traumes eines hungernden Künstlers. Manche Leute verfolgen mit ihrer Tätigkeit die Absicht, ihre Produkte direkt in die Kategorie des Dauerhaften einzuführen, doch gelingt das selten. Ein besonders berühmter Maler mag das erreichen, vor allem, wenn seine Produktionsrate gering ist. Beispiele aus der jüngsten Vergangenheit sind Bacon, Coldstream oder Hundertwasser. Das Gleiche mag manchmal mit kunsthandwerklichen Objekten, wie zum Beispiel Fabergé-Ostereiern, Tif fany-Lampen und Lutyens-Häusern, geschehen, aber diejenigen Objekte, die direkt von der Produktion in die Kategorie des Dauerhaften gelangen, stellen in der Regel einen winzigen Bruchteil aller produzierten Objekte dar. Objekte, die diesen Transfer vollziehen können, unterscheiden sich klar von denjenigen, die den anderen oben beschriebenen Transfers unterliegen; sie sind Kunst. (Alle Objekte, die direkt von der Produktion in die Kategorie des Dauerhaften gelangen, sind Kunst, aber nicht allen Kunstobjekten gelingt dieser besondere Transfer.)
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Alle Personen, die sich speziell mit der Kontrolle über die Transfers zwischen den Kategorien befassen – Kunstkritiker, Golfclubsekretäre, Oxford-Philosophen und Kavallerieregiment-Obersten –, legen vor allem ästhetische Maßstäbe an, weigern sich also, die Vulgaritäten der Wirtschaft hinzunehmen und wenden ihre ganze Energie auf die alles überragende Aufgabe an, Reinheit zu bewahren, indem sie Müll identifizieren und diesen daran hindern, dahin zu gelangen, wo er nicht hingehört. Als Beispiele könnte man T. S. Eliots Vorstellung von der Aufgabe des Dichters, »die Stammessprache rein zu halten«, oder Quines Idee von der Aufgabe des Philosophen, »Paradoxe aufzudecken und zu lösen, Unstimmigkeiten zu glätten, verkümmerte Triebe zu stutzen, ontologische Slums zu beseitigen«,1 nennen. Manche Kunst- und Literaturkritiker (zum Beispiel Clement Greenberg2 und Roy Fuller3) unterscheiden drei Ebenen von Kunst – die anspruchsvolle, die durchschnittliche und Kitsch – und behaupten, dass alle Kunstwerke in der Kitsch-Kategorie ohne jeden ästhetischen Wert seien, diejenigen in der durchschnittlichen Kategorie einen begrenzten Wert hätten, und nur diejenigen in der anspruchsvollen Kategorie wirklich ernsthafter (das heißt ihrer) Aufmerksamkeit wert seien. Ihre Schlussfolgerung lautet somit, dass man mit Kitsch nichts zu tun haben sollte, dass man ein leichtherziges Interesse für die Durchschnittskunst haben dürfe, die man frei nach seiner eigenen Einschätzung beurteilen könne, dass man jedoch, wenn es um anspruchsvolle Kunst gehe, diese, weil sie einen so hohen Wert besitze, nicht eigenen Bewertungen unterwerfen dürfte, sondern dieses Geschäft der hohen Priesterschaft professioneller Kritiker zu überlassen habe. Es ist verführerisch zu behaupten, die Beziehungen zwischen (sowohl ökonomischen als auch ästhetischen) Werten und Müll seien einfacher Natur, weil Müll einfach das sei, was keinen oder einen negativen Wert habe. Dies ist in der Tat die allgemein übliche Definition von Müll, sie ist das Grundprinzip unseres täglichen Ordnens der Umwelt. Sie ist jedoch hoffnungslos unzureichend, denn erstens kann diese Definition nichts über den Wechsel eines Gegenstandes von der Kategorie des Vergänglichen in die Müllkategorie aussagen, das heißt über die Prozesse, in deren Verlauf Werte vernichtet oder geschaffen werden; ja, sie leugnet sogar die Möglichkeit eines Kategorienwechsels. Zweitens kann etwas, das einen Wert hat, als Müll betrachtet werden, wenn es sich am falschen Ort befindet. Es sei an Lord Chesterfields Definition von Schmutz erinnert: eine Sache am falschen Ort. Diese Definition geht schlicht von einer (beliebigen) methodischen Ordnung und dem Verfall dieser Ordnung aus. Dieser Argumentation zufolge ist ein Unkraut 1 Quine, W. V. O.: Word and Object, Cambridge, Mass. 1960, S. 275. 2 Greenberg, C.: Art and Culture, London 1973. 3 Fuller, R.: Antrittsvorlegung als Professor für Poetik an der Oxford University, in: Times Literary Supplement, 20. Februar 1969.
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einfach eine Pf lanze am falschen Ort – eine Tomatenstaude zwischen Gladiolen oder, umgekehrt, eine Gladiole zwischen Tomatenstauden. Fuller verwahrt sich auf das Schärfste gegen das »Durchschnittliche, das in der Verkleidung des Anspruchsvollen auftritt«: gegen die Beatles, die sich unter die Schuberts mischen, oder gegen die Aufmerksamkeit, die Kritiker der Fernsehversion der Forsythe Saga angedeihen lassen, »obwohl Galsworthys Anspruch, ein ernsthafter Romanschriftsteller zu sein, vierzig Jahre zuvor angezweifelt worden war«. Aber hätte er ebenso reagiert, wenn Schubert sich unter die Beatles gemischt oder Dickens, sagen wir, sich auf die gleiche Stufe mit Galsworthy oder Harold Robbins gestellt hätte? Ich glaube nicht. Lord Chesterfields Definition ist unzulänglich, da sie nichts darüber sagt, ob die methodische Anordnung hierarchisch aufgebaut ist oder nicht – darüber, ob der richtige Platz eines Objektes sich auf einer höheren Stufe befindet als der richtige Platz eines anderen Objektes. Manche, vielleicht alle Ordnungen sind hierarchisch strukturiert – und nicht alles, was sich am falschen Ort befindet, ist Müll; sondern eine Funktion zwischen Verschiebung und Wertgefälle. Ein Druck eines alten Meisters im Fenster des Trödelladens mag sich am falschen Ort befinden, aber er ist ganz gewiss kein Müll. Und wenn eine Blume zwischen Gemüsepf lanzen ebenso Müll wäre wie eine Gemüsepf lanze zwischen Blumen, dann hätte Gracie Fields mit ihrem Lied »I’m a lonely little petunia in the onion patch« wohl niemals so viel Erfolg haben können. Da die Abfolge von »Produktion« zu »vergänglich« zu »Konsumtion« die Norm darstellt und die Müllkategorie verdeckt ist, besteht die Tendenz, die Tatsache der Konsumtion von Müll zu ignorieren und sogar bewusst zu leugnen. Verbraucht werden normalerweise Dinge, die einen Wert haben, und folglich liefert das Konsumniveau einer Person einen Indikator für ihren Status und ihre Macht. Die offene Einbeziehung des Transfers von »Müll« zu »Konsumtion« würde auf das Bestreben, mit den Nachbarn Schritt zu halten, verheerende Auswirkungen haben. Schließlich ist es kaum wahrscheinlich, dass sich die Familie mit einem Wagen für ihn und einem für sie von den Komposthaufen der ökologisch bewussten Nachbarn aus der Fassung bringen lässt. Aber vielleicht ist das gar nicht so lächerlich, wie es klingt. Wenn man die Konsumtion von Müll als einen Teil der Konsumtion akzeptiert – das heißt, wenn man Müll aufdeckt, statt ihn zu verdecken –, dann wird der Komposthaufen zu einem mächtigen Statussymbol. Das wachsende Interesse für Ökologie, Verschmutzung und Energieeinsparung macht Müll zwangsläufig offenkundig und ermöglicht es, dass sich die prestigereichste aller Konsumtionsaktivitäten, der auffällige Nicht-Konsum, entwickelt. Daher also die Komposthaufen, die makrobiotischen Nahrungsmittel, die kleinen französischen Autos, die Liebe zu den Bäumen und die Bauernhäuser derjenigen, deren Einkommens- und Bildungsniveau so beschaffen ist, dass wir sie nicht einmal einen Moment lang mit einfachen Bauern verwechseln könnten, die tatsäch-
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lich so arm sind, dass sie sich keine chemischen Düngemittel, kein frisches Fleisch und selbstgebackenes Brot, keine Motorsäge und keine vernünftigen Autos leisten können. Hier, in dieser Verschiebung des Weltbildes, können wir die ersten Anzeichen für eine Veränderung der historischen Bedingungen erkennen. Die Offenkundigkeit von Müll und die Bereitschaft innerhalb eines einf lussreichen Teils der Mittelschicht – meistens sind es Intellektuelle – die Verbundenheit aller Dinge anzuerkennen, erschwert und verhindert vielleicht sogar ganz den Kategorienwechsel von »vergänglich« zu »Müll« zu »dauerhaft«, der die Unverbundenheit aller Dinge – die Unsichtbarkeit von Müll – zur notwendigen Voraussetzung hat. Unvermeidbar streben Status und Macht auseinander, breiten sich die neuen Kasten aus und bewegt sich die historische Entwicklung auf die Kasten-Spitze des Müll-Dreiecks zu. Die gleiche Art einer Verschiebung des Weltbildes kann man in den jüngsten künstlerischen Entwicklungen feststellen. Der erste Schritt ist das Ausfindigmachen des für Kunst gültigen kulturellen Kategoriensystems, das mit den gegenwärtigen historischen Bedingungen übereinstimmt, die bereits in Form der Kategorien des Mülls, des Dauerhaften und des Vergänglichen beschrieben wurden. Nehmen wir dazu ein sehr einfaches Beispiel, ein ideales System mit nur zwei Kategorien, die wir als »Kunst« und als »Nicht-Kunst« bezeichnen wollen. Nehmen wir ferner den einfachsten, mit der jüngsten historischen Entwicklung von Kunst übereinstimmenden Fall, dass die Kandidaten für die Mitgliedschaft in einer der beiden Kategorien materielle Objekte sind. Ob ein Kandidat der einen oder der anderen Kategorie zuzurechnen ist, wird von den Kriterien bestimmt, die die jeweilige Kategorie definieren. Wieder nehmen wir den einfachsten idealen Fall an und gehen davon aus, dass diese Kriterien explizit, unzweideutig und allgemein akzeptiert sind, so dass jedes Objekt eindeutig der richtigen Kategorie zugeordnet werden kann. Dieses einfache System lässt vier logische Möglichkeiten zu: 1. Ein Kunstobjekt befindet sich in der Kunstkategorie. 2. Ein Nicht-Kunstobjekt befindet sich in der Nicht-Kunstkategorie. 3. Ein Nicht-Kunstobjekt befindet sich in der Kunstkategorie. 4. Ein Kunstobjekt befindet sich in der Nicht-Kunstkategorie. Als einfache reale Beispiele für diese vier logischen Möglichkeiten ließen sich nennen: 1. die Mona Lisa in einer Kunstgalerie, dargestellt in Büchern zur Kunstgeschichte usw.; 2. eine Hutablage aus Bugholz in einem vorstädtischen Flur, behängt mit Hüten, Mänteln usw.; 3. eine mit dem Namen des Künstlers, Titel und Preis versehene Bugholz-Hutablage (ohne Hüte oder Mäntel) im Katalog einer Kunstgalerie; 4. eine in einem vorstädtischen Haushalt mit Bügeleisen, Kleidern, Stuhl, Hausfrau usw. als Bügelbrett benutzte Mona Lisa. Das dritte und das vierte Beispiel sind anomal insofern, als sie die Art empörter, amüsierter oder angewiderter Reaktionen auslösen (oder ausgelöst haben), die auftreten, wenn eine kulturelle Membran durchstoßen wird. Gemäß dieser Technik, die man als Anomalie-Tech-
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nik bezeichnen könnte, bestätigen diese zwei Beispiele die Gültigkeit unserer eingangs aufgestellten Hypothese, dass die Kategorien »Kunst« und »Nicht-Kunst« durch eine kulturelle Grenze voneinander getrennt werden. Der zweite Schritt besteht darin, ausfindig zu machen, ob diese sehr einfache Anordnung hierarchisch ist oder nicht. Wenn sich die beiden Kategorien »Kunst« und »Nicht-Kunst« nicht hierarchisch zueinander verhalten, dann haben sie den gleichen Status. Wäre dies der Fall, dann wären sowohl die beiden anomalen als auch die beiden »richtigen« Beispiele gleichermaßen wahrscheinlich. Wenn wir uns ansehen, was tatsächlich geschieht, stellen wir jedoch fest, dass das nicht zutrifft. Die erste Möglichkeit tritt nur schwer ein und ist stabil. Das heißt, Objekte, die die strengen Kriterien der Zugehörigkeit zur Kunstkategorie erfüllen, finden Aufnahme in diese und haben, nachdem das geschehen ist, die Tendenz, dort zu bleiben. Die zweite Möglichkeit tritt leicht ein und ist ebenfalls stabil. Das heißt, Objekte, die die viel weniger strengen Kriterien der Mitgliedschaft in der NichtKunst-Kategorie erfüllen, finden Aufnahme in diese und haben, nachdem das geschehen ist, ebenfalls die Tendenz, dort zu verbleiben. Die dritte Möglichkeit tritt nur sehr schwer ein, ist dann aber auch stabil. Klassische Beispiele dafür sind Duchamps Pissoir, signiert »F. Mutt«, und seine Ready-mades, einschließlich der berühmten Bugholz-Hutablage. Diese sind so stabil, dass anlässlich einer Retrospektive zu Duchamps Arbeiten limitierte und signierte Auf lagen dieser Objekte einen aufnahmebereiten Markt fanden und beträchtlich höhere Preise erzielten, als dies in Baumärkten oder Einrichtungshäusern der Fall ist. Die vierte Möglichkeit ist die überzählige. Sie tritt fast nie ein, und wenn, ist sie immer instabil. Von Degas erzählt man, er habe eine Rodin-Skulptur als Wäscheständer benutzt; doch ist anzunehmen, dass sie in die Kunst-Kategorie heimkehrte und einen angemessenen Preis erzielte, als seine Besitztümer verkauft wurden. Ein weiteres Beispiel: Ich habe von einer Familie gehört, die einen sehr großen Turner zu einem Esstisch verarbeiten wollte, war aber enttäuscht zu hören, dass sie, anstatt direkt von der Ölfarbe zu essen, plante, ihn mit einem versiegelten Glasrahmen zu schützen. Als man den Leuten dann sagte, es könne nicht garantiert werden, dass das Bild unverändert überdauere, gaben sie das Projekt auf – ein Beweis dafür, dass man nicht seinen Kunst-Kuchen haben und zugleich davon essen kann. Aus diesen Beispielen folgt, dass die Beziehung zwischen den Kategorien »Kunst« und »Nicht-Kunst« nicht symmetrisch ist, da Mitglieder der Kategorie »Nicht-Kunst« in die Kategorie »Kunst« überwechseln können und dies manchmal auch tun, während die Mitglieder der Kategorie »Kunst« einen stabilen Transfer in die Kategorie »Nicht-Kunst« nicht vollziehen können. Diese Beziehung ist vergleichbar mit derjenigen zwischen Offizieren und Unteroffizieren im Garderegiment. Ein Offizier brachte dieses Verhältnis treffend zum Ausdruck, indem er erklärte, er würde erwarten, zu der Hochzeit seines Sergeanten eingeladen zu
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werden, während der Sergeant nicht erwarten könne, zu seiner eingeladen zu werden. Diese Asymmetrie lässt erkennen, dass der Status »Offizier« höher ist als der Status »Unteroffizier«, und entsprechend wird der Kategorie »Kunst« ein höherer Status als der Kategorie »Nicht-Kunst« zugeschrieben. Symmetrische Ordnungen implizieren eine horizontale Kontrolle: Manche Objekte nehmen diesen Weg, andere jenen. Hierarchische Ordnungen implizieren dagegen eine vertikale Kontrolle: Ein Aufstieg ist möglich, der Abstieg ausgeschlossen. »Kunst« und »Nicht-Kunst« sind vertikaler Kontrolle unterworfen, aber viele Künstler versuchen so zu operieren, als sei das nicht der Fall. Ein derartiges Verhalten kann zu sehr interessanten Kunstwerken führen, beseitigt jedoch nicht die vertikale Kontrolle, sondern verlagert sie nur. Die hierarchische Ordnung tritt plötzlich wieder zutage als Unterscheidung zwischen der kleinen Gruppe, die aus dem Künstler und seinesgleichen besteht, und der viel größeren Gruppe, die der Kunstmarkt darstellt. Für die kleinere Gruppe befinden sich alle vom Künstler produzierten Objekte, da sie von einem Künstler in einem künstlerischen Kontext gemacht werden, in der Kunstkategorie. Die größere und herrschende Gruppe akzeptiert dies, betrachtet es aber als unwichtig. Die größere Gruppe unterscheidet stattdessen zwei Kategorien von Kunstobjekten: »Gute Kunst« und »Müll-Kunst«. Die »Müll-Kunst« besitzt nur einen geringen Status, und wer anders denkt, läuft Gefahr, verseucht zu werden und den eigenen Status auf das gleiche Niveau herabsinken zu sehen. »Gute Kunst« besitzt dagegen einen hohen Status und das sowohl hinsichtlich der Aufmerksamkeit, die ihr die Gelehrten widmen, als auch hinsichtlich der für sie auf dem Kunstmarkt bezahlten Summen. Wir haben uns auf den einfachen Fall beschränkt, dass die Kandidaten für die Mitgliedschaft in den beiden Kategorien materielle Objekte sind, und deshalb sind alle Angehörigen der Kategorien »Müll-Kunst« und »Gute Kunst« Objekte, aber nicht alle Objekte sind Angehörige der Kategorien »Müll-Kunst« oder »Gute Kunst«. Die Kategorien »Müll-Kunst« und »Gute Kunst« bilden also ein Subsystem innerhalb des größeren Klassifizierungssystems, in dem nach den Kategorien »vergänglich«, »Müll« und »dauerhaft« unterschieden wird. Die Beziehung zwischen diesen beiden Systemen ist sehr einfach. Ein Künstler, der ein Kunstobjekt produziert, wird feststellen, dass es, ohne Rücksicht auf seine Absicht, entweder der Kategorie des Dauerhaften und damit der Kategorie »Gute Kunst« oder der Müllkategorie zugeordnet und damit als »Müll-Kunst« angesehen wird. Doch kann es selbstverständlich (da die Müllkategorie ja verdeckt ist) zu einem späteren Zeitpunkt entdeckt werden und in die Kategorie des Dauerhaften überwechseln. Die Beziehung kann anhand der Abbildung 16 dargestellt werden. Zu behaupten, die beste Kunst sei diejenige, die den höchsten Preis erziele, ist wirklich Blasphemie, denn natürlich werden Kunstwerke auch auf der Grundlage einer anderen, ganz aus dem Kunstkontext abgeleiteten Ästhetik den Kategorien »Müll-Kunst« oder »Gute Kunst« zugeordnet. Das genaue Wesen dieser Ästhetik
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Abbildung 16: Der Deutlichkeit halber werden nur die möglichen Kunsttransfers gezeigt. Von der »Müll-Kunst« wird ein großer Teil konsumiert, nicht aber von der »Guten Kunst«. Die Kategorie »Nicht-Kunst« ist nun überf lüssig: Denn sie ist alles, was nicht »Müll-Kunst« oder »Gute Kunst« ist.
zu beschreiben, wäre mit außerordentlichen Schwierigkeiten verbunden, deshalb wollen wir uns hier einfach damit begnügen anzuerkennen, dass es sie gibt. Wenn es sich bei dem Kunst-Subsystem um ein geschlossenes System handelte, würde die Zuordnung eines Kunstobjektes zur richtigen Kategorie nach Kriterien erfolgen, die gänzlich von dieser Ästhetik abgeleitet wären, aber das Kunst-Subsystem ist nicht geschlossen. Weil Kunst Kunstobjekte hervorbringt, ist sie zwangsläufig ein Subsystem eines umfassenderen Systems, nämlich des Systems der Beziehungen zwischen Objekten im Allgemeinen, und somit ist es zwangsläufig auch den Kriterien unterworfen, die sich von einer kommerziellen Ästhetik herleiten. Ob uns das gefällt oder nicht: Indem der Künstler Kunstobjekte produziert, akzeptiert er die kommerzielle Ästhetik und verstärkt darüber hinaus die Machtstruktur. Dies ist ein Tabubereich für die Künstler, aber auch für die Kunstliebhaber:
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»Der Times Sotheby‘s Index 1968 ist der Gipfel der Vulgarität und des krassen Kommerzialismus. Er spiegelt in trauriger Weise den vorherrschenden Materialismus in diesem Lande wider und zeigt, daß Kunstwerke nicht mehr nach ihrem eigenen Wert beurteilt, sondern bloß als eine weitere Möglichkeit zur Spekulation betrachtet werden. Eines Tages wird sich, so Gott will, das Blatt wenden. Dann werden die klimatisierten Tresore der banausischen Geschäftsleute aufgebrochen, ihres Inhalts beraubt und ihr erbärmlichen Kunstjournalisten mit gefälschten etruskischen Bronzen zu Tode gesteinigt«.4 Das Tabuverhalten versucht einen unannehmbaren Widerspruch zu verbergen. Abscheu vor dem Galeriensystem und seiner kommerziellen Ästhetik erlaubt dem Künstler, sich damit auszusöhnen, dass er Müll produziert. Sollte er feststellen, dass seine Produkte in die Kategorie »Gute Kunst« eingeordnet werden, vollzieht er eine plötzliche Kehrtwendung und macht sich die Ansicht des Galeriebesitzers zu eigen, dass die beiden Ästhetiken, die des künstlerischen Kontextes und die des kommerziellen Kontextes, einfach verschiedene Aspekte irgendeines Ganzen darstellen und dass die besten Kunstwerke, nach dem Urteil der Kunstästhetik, zwangsläufig die höchsten Preise erzielen werden. Diese Analyse mit Hilfe kultureller Kategorien deckt das »verborgene« System auf, das hinter der Fassade des gesunden Menschenverstandes, mit dem wir normalerweise einem Kunstobjekt begegnen, am Werk ist. Innerhalb dieses »verborgenen« Systems ist vollkommen klar, dass die Kunstästhetik und die kommerzielle Ästhetik nicht voneinander getrennt, sondern über das Kunstobjekt miteinander verbunden sind. Und was noch wichtiger ist, ist, dass diese Beziehung nicht symmetrisch ist: Die Kunstästhetik ist in der kommerziellen Ästhetik enthalten, weil das Kunstobjekt in der ganzen Skala übertragbarer Dinge enthalten ist. Doch wenn wir uns die Fassade des gesunden Menschenverstandes ansehen, ist von dieser Beziehung nichts zu erkennen. Hier werden Kunstästhetik und kommerzielle Ästhetik klar voneinander getrennt; sie beziehen sich auf getrennte Systeme, die, idealerweise, in keiner Verbindung zueinander stehen. Daher die Empörung, wenn, wie im Falle des Times Sotheby‘s Index, diese unzulässige gegenseitige Durchdringung sichtbar wird. In einem System aber, das verlangt, dass seine Kunst in Form von Objekten daherkommt – in Form besitzbarer Objekte (und die Tatsache, dass sogar Erd-Künstler und Konzept-Künstler Förderer gefunden haben, zeigt, dass nahezu alles besitzbar gemacht werden kann) –, können kommerzielle Ästhetik und Kunstästhetik nie voneinander getrennt sein – und dennoch können sie nur existieren, wenn wir darauf bestehen, dass sie es sind.
4 Aus einem Brief von Herrn F. J. Oliver an The Times, 22. Oktober 1968.
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Wir können nicht davon ausgehen, dass das Tabuverhalten diesen Widerspruch immer verborgen hat und immer verbergen wird. Kunst hat es nicht immer in Form von besitzbaren Objekten gegeben, und es besteht kein Grund für die Annahme, dass sie auch weiterhin nur in dieser Form auftreten wird. Ändern sich die Triebkräfte des Kategoriensystems, so wird das Tabuverhalten den Widerspruch unter gewissen Bedingungen wirkungsvoll verbergen, und unter anderen Bedingungen wird es zunehmend die Tendenz haben, die Aufmerksamkeit gerade auf das zu lenken, was es zu verbergen bemüht ist. Die Verschiebungen zwischen der Verborgenheit und dem Hervortreten des Widerspruchs sind es, die, indem sie Weltbilder umformen, die historischen Entwicklungen innerhalb des Müll-Dreiecks hierhin und dorthin treiben. Zum Beispiel allein die Tatsache, dass ich in der Lage bin, diese Analyse vorzutragen, ist ein Beweis für eine Veränderung meines eigenen Weltbildes und lässt erkennen, dass ich unter Bedingungen ans Werk gegangen bin, unter denen sich meine Aufmerksamkeit zunehmend auf diesen eklatanten Widerspruch konzentriert hat. Auch kann ich keine besondere Originalität für mich in Anspruch nehmen, da die Analyse5 bereits zum Zeitpunkt, als ich sie formuliert hatte, nicht mehr den Tatsachen entsprach, und viele Künstler in ähnlicher Weise von diesem anscheinend tabuisierten Widerspruch gefesselt waren. Ihre Arbeit nahm, auf unterschiedliche Weise, die Form einer Ablehnung entweder des Kunstobjektes selbst oder der Kriterien, mit deren Hilfe es definiert wird, an. Wenn wir analysierten, was während der siebziger Jahre in den Kunstschulen produziert wurde, würden wir feststellen, dass nur ein kleiner Teil der Aktivitäten der Herstellung von Kunstobjekten gewidmet war, und dass, wenn tatsächlich ein Kunstobjekt hergestellt wurde, dies häufig nur geschah, um seine Unwichtigkeit zu betonen. Neue Kunstrichtungen, die nur wenig, wenn überhaupt etwas, miteinander gemeinsam haben, können als alternative Reaktionen auf die Veränderung von Weltbildern betrachtet werden: als Versuche, das nun sichtbare Paradox in Bezug auf die kommerzielle Ästhetik und Kunstästhetik zu transzendieren. Auto-destruktive Kunst ist ein explizit revolutionärer Frontalzusammenstoß mit dem Establishment, das sie einfach auf den Kopf stellen möchte. Das Establishment beharrt darauf, dass Kunst in Gestalt von Objekten daher kommen muss und dass diese Objekte dauerhaft und besitzbar sein sollen (oder zumindest diesen Kriterien angepasst werden können). Auto-destruktive Kunst bringt Objekte hervor, die nicht dauerhaft sein können, da sie sich selbst zerstören. Häufig geschieht dies, indem Objekte bewusst als vergängliche Objekte hergestellt werden. Auto-destruktive Kunst ist ferner bestrebt, das Objekt zu beseitigen, indem sie an seine Stelle das Ereignis setzt. Happenings leisten selbstverständlich das Glei5 Eine frühe Version dieser Ausführungen erschien in: Art & Language: the journal of conceptual art, Bd. 1, Nr. 2, Warwickshire 1970.
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che. Auto-destruktive Kunst ist eine grundlegend chiastische Bewegung, die sich der Umkehrung der Positionen der Klassen-Spitze und der egalitären Spitze des Müll-Dreiecks verschrieben hat: ein fesselnder, wenn auch ohnmächtiger Müllgüter-Kult. Man kann Kunst produzieren, die vermeintlich nicht besessen werden kann – Land-Art, verpackte Küstenlinien oder Furchen voller Wasser und Prozess-Kunst; oder massenhaft aufgelegte (multiple) Kunst, die zwar innerhalb des etablierten Rahmens von Kunst wirksam wird und dauerhafte Objekte hervorbringt –, die jedoch das Ziel hat, von innen zu zerstören: den Markt zu überschwemmen und eine chronische Inf lation zu erzeugen, so dass schließlich diejenigen, die glauben, Status und Macht könnten durch den Besitz von Kunstobjekten erlangt werden, sich mit Koffern voller wertloser alter Meister abschleppen werden wie Käufer während der Inf lationszeit in der Weimarer Republik, die sich mit Schubkarren voller Markstücke auf den Weg machten, um einen Laib Brot zu kaufen; oder demokratische Kunst, die bestrebt ist, keine hohe Kunst, sondern Kunst für alle zu produzieren: Menschenrechts-Kunst. Die Hausbesetzer behaupten, dass das Recht auf Wohnung ein grundlegendes Menschenrecht sei; die Teilnehmer des Isle of Wight Pop-Festival, von Stones in the Park, Arts Laboratory und Underground – der optimistischen und ausgelassenen Landmarken der sechziger Jahre – sahen in der Kunst ein grundlegendes Menschenrecht. Diese Haltung greift die etablierte Ordnung an, indem sie versucht, die Knappheit von Kunst zu beseitigen. Wenn es keine Knappheit gibt, verlässt Kunst die Sphäre des Ökonomischen. Doch ist es gerade das Eingebundensein von Kunst in das kommerzielle System, das den gemeinsamen Ausgangspunkt all dieser disparaten Bewegungen in der zeitgenössischen Kunst bildet. Im Allgemeinen handelt es sich dabei um Bewegungen innerhalb des Müll-Dreiecks von der Klassen-Spitze weg zur egalitären Spitze hin, und insofern sollten diese künstlerischen Ansätze von der Konzept-Kunst unterschieden werden, die eine Bewegung in Richtung der Kasten-Spitze darzustellen scheint. Kunst besitzt immer einen hohen Status, da Künstler mit den Symbolen der Gesellschaft umgehen. Auch andere, zum Beispiel Politiker und Ingenieure, gehen mit Symbolen um, aber nur gelegentlich und implizit. Künstler handeln ausschließlich und explizit mit Symbolen. Dieser Unterschied wird graphisch in Abbildung 16 sichtbar, wo der vulgäre Handel, der im Wesentlichen mit der Produktion und der Konsumtion nützlicher Dinge zu tun hat, seinen Weg primär durch den unteren Teil des »Güter-im-Umlauf«-Kastens nimmt. Die Kunst, die sich im Wesentlichen mit der Schaffung von Dauerhaftigkeit befasst, nimmt ihren Weg dagegen durch den oberen Teil des »Güter-im-Umlauf«-Kastens. Die Tatsache, dass die Müllkategorie verdeckt ist, dient ferner dazu, diese Trennung hervorzuheben, indem sie den Bereich der Überlappung verschleiert und die dem gesunden Menschenverstand entsprechende Ansicht unterstützt, die Ökonomie
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befasse sich mit Vergänglichkeit, die Kunst aber mit Dauerhaftigkeit. Dies ist eine Ansicht, die von den meisten Ökonomen und Künstlern dankbar akzeptiert wird.6 Konzept-Kunst löst in gründlicher und wohldurchdachter Weise Kunst vom Kunstobjekt. Es werden zwar immer noch Objekte produziert, aber sie sind nicht als Objekte von Bedeutung. »Die Bedeutung der Unwichtigkeit des Kunstobjekts« ist möglicherweise der zentrale Satz der Konzept-Kunst, ganz bestimmt aber ist es der politisch wichtigste. Denn es ist das Kunstobjekt, das Kunst mit der Machtstruktur innerhalb unserer Gesellschaft verbindet und auf sie ausrichtet, und indem sie dies tut, erhält sie die Koppelung von Macht und Status aufrecht. Indem die Konzept-Kunst die Kunst vom Kunstobjekt löst, streift sie die Machtstruktur ab, löst die Verbindung zwischen Macht und Status und hat folglich die Tendenz, unsere historische Bedingung auf die Kasten-Spitze hin zu bewegen. Dies ist eine in mancher Hinsicht erstaunliche Schlussfolgerung. Zum Beispiel stimmt sie in keiner Weise mit dem überein, was Konzept-Künstler selbst zu tun behaupten. Konzept-Künstler neigen dazu, ihre Arbeit als eine Art höhere Kunsttheorie zu betrachten: als eine neutrale, logische, sogar asketische MetaKunst. Mit ihrem Minimalismus zwingen sie der intellektuellen Kost einfach eine anspruchsvolle vegetarische Diät auf; ihre Verachtung des Kunstobjekts und der ökonomischen Kräfte, die es vermittelt, enthüllt ein Bemühen um Reinheit; ihre unverständliche und oft prätentiöse Sprache lässt vor allem einen Drang nach hohem Ansehen erkennen. Sie hüllen sich in ihre undurchdringliche Sprachrüstung, strahlen Reinheit aus und weisen hochmütig ihre verachtungswürdigen NichtKonzept-Kunst-Kollegen (deren Ernährungsweise sogar das widerliche kraftvolle Fleisch der Emotionen einschließt) als bloße Objektemacher und Staffeleiratten ab. Die Konzeptualisten geben sich so, als wollten sie die Brahmanen der Kunstgemeinschaft werden. Müssen wir daraus den Schluss ziehen, dass dieser ganze Puritanismus eine raffinierte Verstellung ist, um unsere Aufmerksamkeit von den politischen Zielen abzulenken, um die es den Konzept-Künstlern in Wirklichkeit geht? Müssen wir Konzept-Kunst als eine Ideologie, die als Theorie verkleidet auftritt, verstehen? Eine plausiblere Erklärung ist vielleicht die, dass die Konzeptkünstler einfach deshalb so auf ihre Situation reagieren, weil sie diese nicht richtig einschätzen. Anstatt Verständnis dafür zu entwickeln, wie die kommerzielle Ästhetik und Kunstästhetik miteinander verbunden sind, erklären sie, eine derartige Verbundenheit sei inakzeptabel. Da sie an der kommerziellen Ästhetik wenig ändern können, haben sie keine andere Wahl, als zu versuchen, die Kunst selbst in Sicher6 Sogar von Keynes, der sein Leben abwechselnd mit Bloomsbury-Kunst und Cambridge-Ökonomie verbrachte. Die Trennung wird in seiner berühmten Tischrede (an Ökonomen) deutlich, in der er von Ökonomen nicht als Hüter der Zivilisation (Kunst), sondern als »Hüter der Möglichkeit von Zivilisation« sprach.
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heit zu bringen. Was immer dabei mit der Kunst zu geschehen habe und was auch immer die politischen Folgen sein mögen, erscheint so einfach als Bestandteil des Preises, den wir freudig für die Korrektur dieser unerträglichen Situation zu bezahlen haben. Anstatt zu sehen, dass zwischen der Kunstästhetik und der kommerziellen Ästhetik eine Verbindung besteht, sie wenig anziehend zu finden und zu fragen, welche anderen Möglichkeiten es gibt, und ob diese attraktiver oder vielleicht auch weniger attraktiv sind – das heißt zu fragen, »Welche Möglichkeiten enthält diese Verbindung?« –, empfinden sie die Verbindung als problematisch, als etwas, das man um jeden Preis abstoßen müsse. Da sie sich durch ihren anfänglichen intoleranten Standpunkt der Möglichkeit beraubt haben, von ihrer unmittelbaren Situation Abstand zu gewinnen, werden sie unfähig, das Schlechte vom Schlimmeren zu unterscheiden. Wenn ich besonders hart gegen die Konzept-Kunst argumentiere, dann deshalb, weil ich, in bescheidenem Maße, mit ihr zu tun hatte und weil ich glaube, dass sie die Meta-Kunst, die sie anstrebt, tatsächlich herstellen könnte, wenn sie sich nur davon überzeugen ließe, ihre Aufmerksamkeit statt auf Probleme auf Möglichkeiten zu konzentrieren. Denn nachdem wir sowohl das kommerzielle als auch das ästhetische System in Form eines einzigen dynamischen Modells beschrieben haben, sind wir nun in der Lage, die vorherrschende Auffassung des gesunden Menschenverstandes zu verwerfen, der, indem er auf dem Getrenntsein der beiden Systeme beharrt, behauptet, Ökonomie habe mit Vergänglichkeit zu tun und Kunst mit Dauerhaftigkeit. Wir können nun den Rahmen für eine allgemeine Theorie entwerfen, die beide Aspekte in einer einzigen Formel subsumiert. Wenn wir uns auf das letzte Schaubild (Abbildung 16) zurückbesinnen, stellen wir erstens fest, dass alle Gegenstände, die in die Kategorie des Vergänglichen gelangen, schließlich entweder konsumiert werden oder in die Müllkategorie hinüberwechseln, und zweitens, dass ein Teil des Mülls entweder von öffentlichen Dienstleistungsbetrieben (zum Beispiel der Müllabfuhr oder Abwasserauf bereitung) konsumiert wird oder in die Kategorie des Dauerhaften eintritt. Ein anderer Teil bleibt als Müll zurück. Wenn wir aus diesem Schaubild die verschiedenen zulässigen Abfolgen isolieren, erhalten wir folgende Aufstellung: 1. Produktion – Kategorie des Vergänglichen – Konsumtion 2. Produktion – Kategorie des Vergänglichen – Müllkategorie – Konsumtion 3. Produktion – Kategorie des Vergänglichen – Müllkategorie – Kategorie des Dauerhaften 4. Produktion – Müllkategorie – Kategorie des Dauerhaften 5. Produktion – Kategorie des Dauerhaften 6. Produktion – Müllkategorie 7. Produktion – Kategorie des Vergänglichen – Müllkategorie 8. Produktion – Müllkategorie – Konsumtion
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Im Falle aller Abfolgen, die mit Konsumtion enden, müssen wir zusätzlich unterscheiden zwischen denjenigen, die wirklich mit Konsumtion enden, und denjenigen, die nur künstliche Abstraktionen dessen sind, was in Wirklichkeit eine zyklische Abfolge ist: bei der die Konsumtion über die Prozesse der konsumtiven Produktion und der produktiven Konsumtion wieder mit der Produktion verbunden ist. Ordnen wir diese neu, so stellen wir fest, dass aus einer Summe von elf möglichen Abfolgen drei zyklisch und acht linear sind. Von diesen acht enden drei in Konsumtionen, drei in der Kategorie des Dauerhaften und zwei in der Müllkategorie. Daraus folgt, dass eine Auffassung, die den Konsum für den alleinigen Zweck und das alleinige Ziel wirtschaftlichen Handelns hält,7 außerordentlich kurzsichtig ist, da sie nicht erkennt, dass ein großer Teil der wirtschaftlichen Aktivität zyklischer Natur ist, also kein Ende hat und somit nicht mit Hilfe von Zielen beschrieben werden kann, und dass es sogar in jenen Bereichen wirtschaftlicher Aktivität, die mit Hilfe von Zielen beschrieben werden können, im Allgemeinen nicht nur eines, sondern drei alternative Ziele gibt: die Konsumtion, die Erzeugung von Müll und die Erzeugung von Dauerhaftigkeit. Überall sind wir von den Folgen dieser Kurzsichtigkeit umgeben. Je mehr wir darauf bestehen, das ästhetische und das ökonomische System als klar voneinander getrennt zu sehen, desto mehr sind wir gezwungen, uns auf die Verbindung zu konzentrieren, die zwischen ihnen besteht. Zwei Beispiele sollen diesen Punkt veranschaulichen: Das erste zeigt unsere Unfähigkeit, uns gegenüber dem Klassifikationsschema, das wir dem Universum der Objekte auferlegt haben, angemessen zu verhalten, das zweite unsere Unfähigkeit, Objekte in Übereinstimmung mit ihrer Klassifikation zu bringen, selbst wenn wir uns angemessen verhalten. Die Mehrwertsteuer soll eine Steuer auf den Verbrauch sein. Im Wesentlichen stellte man sich in Großbritannien darunter eine Rationalisierung der bestehenden Steuerstrukturen (besonders der Umsatzsteuer) vor, die dazu beitragen würde, das Land mit dem Gemeinsamen Markt in Einklang zu bringen. Zu keiner Zeit wurde zu erkennen gegeben, dass es sich um eine radikale Reform handelte, die unsere gegenwärtige soziale Ordnung so verändern sollte, dass sie nicht mehr wiederzuerkennen ist. Wenn sie eine Steuer auf den Verbrauch darstellt, dürfte sie nur auf diejenigen Güter Anwendung finden, die den unter 1., 2. und 8. genannten Wegen folgen – auf die also, die tatsächlich verbraucht werden –, und müsste diejenigen ausnehmen, die einem zyklischen Verlauf folgen oder in Dauerhaftigkeit oder im Müll enden. Wenn dies geschähe, dann würde dadurch 7 Zum Beispiel Schumacher, E. F.: Die Rückkehr zum menschlichen Maß, Reinbek 1977, Kapitel »Buddhistische Wirtschaftslehre«: »Die moderne Wirtschaftswissenschaft [betrachtet] Verbrauch als den einzigen Zweck und das einzige Ziel allen wirtschaftlichen Handelns. Dabei sieht sie die Produktionsfaktoren – Boden, Arbeit und Kapital – als Mittel an.«
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ein mächtiger Anreiz geschaffen, Güter vom Konsum auf diese von der Steuer ausgenommenen Wege zu leiten, wodurch ein schneller Wandel der Austauschund Verteilungsstruktur und damit der sozialen Ordnung, die diese reguliert, eingeleitet würde. Diese Ausnahmen wurden aber einfach deshalb nicht gemacht, weil man die Existenz dieser alternativen Wege nicht erkannte. Man nahm vielmehr an, dass alle Wege im Verbrauch enden, und die Tatsache, dass viele dies nicht tun, bedeutete, dass, sogar noch bevor die Mehrwertsteuer Eingang in die Gesetzessammlung fand, Steuerausnahme auf Steuerausnahme gemacht wurde. Antiquitäten und Kunstwerke sind, ungeachtet der Definitionsprobleme, nicht von der Steuer ausgenommen, und dadurch, dass man diese dauerhaften Güter als vergängliche behandelt, schafft die Mehrwertsteuer einen starken Anreiz für den Wechsel der Güter von der Kategorie des Dauerhaften in die Kategorie des Vergänglichen und hemmt ganz gewiss in ebensolchem Maße den Transfer von der Kategorie des Vergänglichen über die Müllkategorie in die Kategorie des Dauerhaften. Wenn wir annehmen, dass nicht alle unsere Gesetzgeber an einer Verschwörung mit dem Ziel beteiligt sind, uns in eine egalitäre Kastengesellschaft zu verwandeln, kommen wir nicht umhin, den Schluss zu ziehen, dass sie von dem, was sie tun, nur wenig Ahnung haben. Das zweite Beispiel bezieht sich auf den Garten als Kunstform. Angesichts des Nachdrucks, den wir auf die Dauerhaftigkeit von Kunst legen, ist es kaum überraschend, dass Kunstformen dazu neigen, hierarchisch angeordnet zu sein, wobei sich an der Spitze diejenigen befinden, die leicht aufzubewahren, zu überliefern und kunsthistorischen Untersuchungen allgemein zugänglich sind, wie Malerei, klassische Musik, Literatur, Bildhauerei, Architektur und heute auch der Film, und am unteren Ende diejenigen, die weitaus weniger über diese Eigenschaften verfügen, wie zum Beispiel Kochkunst, Feuerwerke, Tanzen und Gartenbau. Heutzutage wird oft behauptet, dass Englands größter Beitrag zu den Bildenden Künsten der Landschaftsgarten des 18. Jahrhunderts gewesen sei. Wenn dem so ist, muss England, um seinen rechtmäßigen Platz im Kunstkontext der westlichen Welt einzunehmen, diesem einzigartigen Erbe Dauerhaftigkeit verleihen. Unglücklicherweise stellt sich aber heraus, dass diese Landschaftsgärten hervorragende Konzeptkunstwerke waren und dass die mit ihrer Erhaltung verbundenen, besonderen Probleme unüberwindbar sind. Tatsächlich sind die Kunstwerke ja nicht dazu da, um konserviert zu werden.8
8 Ein elegant vorgetragener Gedankengang Frickers, dem ich ebenso für die Definition des Gartens verpflichtet bin. Fricker, L. J.: Report on special problems connected with the conservation of gardens of historical interest in Great Britain, vorgetragen auf dem ersten Symposium über Probleme im Zusammenhang mit Gärten von historischem Interesse. Organisiert vom International Council of Monuments and Sites und der International Federation of Landscape Architects, abgehalten in Fontainebleau, September 1971.
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Im Allgemeinen ist ein Garten in der Hauptsache eine Ansammlung von Pf lanzen, die durch die Kunst des Gartenbaus in einem ganz besonderen ökologischen Entwicklungszustand gehalten werden. Daraus folgt, dass der Garten aufhört, ein Garten zu sein, wenn er nicht mehr gepf legt wird. In welchem Verhältnis steht der englische Landschaftsgarten des 18. Jahrhunderts zu dieser Definition von Gärten im Allgemeinen? Horace Walpole hat in seinem berühmt gewordenen Ausspruch die Antwort darauf gegeben: »[William Kent] sprang über den Zaun und sah, dass alle Natur ein Garten war.«9 Aber wenn dies das einzige Charakteristikum von Kents Landschaften ist, dann folgt daraus, dass sie keine Gärten sein können. Der Widerspruch kann folgendermaßen dargelegt werden. Gärten im Allgemeinen: Natur = keine Pflege (Kontrolle) ≠ Garten Kents Landschaften: Natur = Garten Wir können aber Walpoles Geist auch in folgender Weise befragen: Wir: Walpole: Wir: Walpole: Wir: Walpole:
»Über welchen Zaun sprang Kent?« »Über den Gartenzaun.« »Aus dem Garten wo hinein?« »In die Natur natürlich.« »Aber wenn, wie Sie sagen, alle Natur ein Garten ist, sprang er demnach aus dem Garten in den Garten, und folglich kann dort kein Zaun gewesen sein.« »Nun ... äh ...«
Es führt kein Weg daran vorbei: Der Landschaftsgarten des 18. Jahrhunderts ist ein auf diesem Paradox aufgebautes Konzeptkunstwerk. Die unüberwindlichen Probleme, die sich unseren Bemühungen, dem Kunstobjekt (der physischen Form der Gärten) Dauerhaftigkeit zu verleihen, entgegen stellen, beweisen paradoxerweise, dass nur das Kunstkonzept des Landschaftsgartens aus dem 18. Jahrhundert dauerhaft ist. Wenn unser Festhalten an der Dauerhaftigkeit in wachsendem Maße verlangt, dass wir Dingen Eigenschaften aufzwingen, die sie niemals annehmen können, dann ist der Fortbestand der Kategorie des Dauerhaften selbst bedroht. Diese beiden Beispiele, die Mehrwertsteuer und der englische Landschaftsgarten des 18. Jahrhunderts, machen deutlich, dass es keine Neutralität gibt: Dass die Dynamik des Prozesses, durch den Menschen, Dinge und Ideen alternativen kulturellen Kategorien zugewiesen werden, fortwährend auf das diesen Prozess unterstützende soziale System reagiert, indem sie dieses, die sozialen Kontexte der Mitglieder des Systems und ihre Weltbilder transformiert. 9 Walpole, H.: Essay on Modern Gardening, London 1784, S. 55.
6. Kunst und die Ziele ökonomischer Aktivitäten
Kommen wir zurück auf das Beispiel des Wandels, dem in der jüngsten Vergangenheit die Weltbilder der Künstlerschaft unterworfen sind und der sich darin äußert, dass nicht mehr das Kunstobjekt, sondern das Kunstkonzept im Mittelpunkt steht, und versuchen wir, die Dynamik zu beschreiben, die diesen Wandel verursacht hat. Es existieren zwei Möglichkeiten: Die erste ist das bekannte Argument, dass der Kapitalismus in seiner fortgeschrittenen Form seine Macht auf alle menschlichen Aktivitäten ausgedehnt hat und dass er nun in solchem Maße in die Kunstästhetik eingedrungen ist, dass ihn keine Verschwörung in Blindheit mehr verbergen kann. Wenn dies der Fall ist, dann bedeutet das eine Verschiebung von der Klassen-Spitze des Müll-Dreiecks zur egalitären Spitze: eine Erklärung, die gut zu den Phänomenen der auto-destruktiven, multiplen und demokratischen Kunst passen würde. Die zweite Möglichkeit ist weniger bekannt und mag aus bestimmten autonomen Veränderungen innerhalb der Kunsterziehung selbst abgeleitet werden; Veränderungen, die, wenigstens in Großbritannien, während der späten 1960er und frühen 1970er Jahre dieses Jahrhunderts eingetreten sind. Sie können vielleicht als ein Fortschreiten von einer hierarchischen Organisationsstruktur zu einer Netzwerkstruktur beschrieben werden (was sie in der Tat auch waren). Die Verschiebung würde Seitenverbindungen zwischen Bereichen aufdecken, die bisher nicht miteinander verbunden waren oder nur durch die höheren Ebenen der Hierarchie, die dadurch alle eventuell zustande kommenden Verbindungen überformen und kontrollieren konnte. Daraus folgt, dass es viel schwieriger ist, in einem Netzwerksystem eine Verschwörung in Blindheit zu verheimlichen als in einem hierarchischen System. Eine Reaktion dieser Art als eine Verschiebung von der Klassen-Spitze zur egalitären Spitze zu beschreiben, ist nicht ausreichend, denn außerdem – und das ist noch wichtiger – erfolgt eine Verschiebung im rechten Winkel dazu: eine Verschiebung zur Kasten-Spitze hin. Die adäquate Erklärung des Phänomens der konzeptuellen Kunst muss dieser Verschiebungsrichtung Rechnung tragen. Eine umfassende Beschreibung der Reaktionen im Allgemeinen und der Veränderungen der Weltbilder, die jene begleiten, muss beide Richtungen und die Beziehung zwischen ihnen berücksichtigen, das heißt alle im Müll-Dreieck enthaltenen Möglichkeiten. (Die Verschiebung von der Klassen-Spitze zur Kasten-Spitze wird in Kapitel 8 behandelt, die Verschiebung von der Klassen-Spitze zur egalitären Spitze in Kapitel 9.) Eine Beschreibung, die all dies berücksichtigt, würde – über die kulturellen Kategorien – die Grundlage für eine allgemeine, Zukunftsaussagen ermöglichende Theorie der alternativen Verteilung von Menschen, Dingen und Ideen erstens zwischen zyklischen Wegen und zielgerichteten Wegen und zweitens zwischen Verbrauch, Müll und Dauerhaftigkeit liefern. Als solche würde sie eine Art MetaWirtschaftswissenschaft darstellen, die sich nicht nur mit dem herkömmlichen Gegenstand der Wirtschaftswissenschaft, sondern auch mit dem ganzen Spektrum sozialer, kultureller und ökonomischer Phänomene befasste: eine einheitliche Feldtheorie der Sozialwissenschaften.
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Wenn überhaupt zu irgendetwas, dann kann die Mülltheorie dazu dienen, unsere Aufmerksamkeit auf die Art und Weise zu lenken, wie Objekte sozial bearbeitet werden, und darauf hinzuweisen, dass eine Beschreibung dieses Prozesses in der Antwort auf die Frage »Wie ist Gesellschaft möglich?« enthalten sein sollte. Wenn ich diese gewaltige Frage mit nur einem einzigen Wort beantworten müsste, würde es »Widerspruch« heißen; und so besteht für mich der besondere Reiz der Mülltheorie eben auch gerade darin, dass sie immer geradewegs ins Unlogische, Anomale und Paradoxe zu führen scheint. Bedauerlicherweise gibt es viele Menschen, die diese Eigenschaften weniger reizvoll und stattdessen monströs finden, ja manche würden sogar so weit gehen zu behaupten, dass es Sinn und Zweck des wirklich ernsthaften Denkens sein sollte, derartige Monster systematisch auszuschließen. Das Ausschließen von Monstern ist, im schlimmsten Falle, intolerant, puritanisch und repressiv. Im günstigsten Falle enthüllt es den zweifelhaften Versuch, durch Beschönigung den Anschein zu erwecken, Dinge in einem besseren Zustand erscheinen zu lassen, als sie es in Wirklichkeit sind. Das Ausschließen von Monstern ist ein charakteristischer, häufig dominanter intellektueller Stil. Ein sehr klares Beispiel für diesen Stil ist uns bereits mit Herrn Toone‘s Versuch begegnet zu verhindern, dass Grange Park ernsthaft als ein Teil unseres ruhmreichen Erbes betrachtet werden könnte. Weil das Gebäude alle ästhetischen Prinzipien Toone‘s verletzt (wie zum Beispiel Harmonie mit der Natur, Materialtreue und die Konsistenz zwischen Innen und Außen), wird es für ihn zu einer Scheußlichkeit, »[...] ohne Bezug zur Umgebung [...] der größte Schandf leck [...] Schwindel [...] ein klassizistischer Horror [...] ein vielbeiniges prähistorisches Monster.« Natürlich ist Ästhetik ein besonders rechthaberisches Geschäft voller widersprüchlicher Meinungen, die bestritten und verteidigt werden, aber der gleiche Stil findet sich auch in Wissenschaft und Philosophie. Monod, dessen Definition von Objektivität (die bei ihm in hohem Ansehen steht) Monster ausschließt und eine systematische Verleugnung aller Finalursachen darstellt, hat einen ganz anderen Denkstil als, sagen wir, Aristoteles, den es beglückte, alle möglichen Arten verschiedener Ursachen zulassen zu können. Der gleiche Unterschied besteht auch zwischen jenen Philosophen, die nicht nur die
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Dinge, von denen sie wissen, dass sie geschehen, sondern auch die Dinge, die geschehen könnten, in die Betrachtung einbeziehen, und ihren schmallippigen Kollegen, die schon der Gedanke, ihr Universum könne auf alle möglichen Entitäten ausgedehnt werden, entsetzt. Herbert Marcuse1 zum Beispiel ist ängstlich darauf bedacht, bestimmte mögliche Entitäten einzubeziehen: Am liebsten würde er seine Idee von Schönheit auch auf all das noch nicht realisierte Schöne ausdehnen, doch ignoriert er dabei die Tatsache, dass das Erkennen von etwas möglichem Schönen die Unterdrückung, das Nicht-Erkennen, von etwas anderem möglichen Schönen bedingt. Folglich ist er irritiert, wenn er auf einen anderen Philosophen, nämlich Quine, trifft, der sich lebhaft mit dem Prozess auseinandersetzt, den Marcuse ignoriert hat. Quine ist von möglichen Entitäten nicht begeistert; für ihn sind sie »sogenannte mögliche Entitäten«, und er möchte sie ganz entschieden draußen halten: »[...] ein derartig überbevölkertes Universum ist in vieler Hinsicht unschön. Es beleidigt das ästhetische Empfinden derjenigen von uns, die wir Gefallen an Wüstenlandschaften finden. Aber das ist noch nicht das Schlimmste: (ein derartiger) Slum an Möglichem ist eine Brutstätte für unbotmäßige Elemente.«2 Allerdings haben auch Strauße Gefallen an Wüstenlandschaften, und Quine weigert sich vorsätzlich, ganz reale Möglichkeiten zuzulassen. Was Marcuse so erbost, ist, dass die »sogenannten möglichen Entitäten«, die Quine ablehnt, zufällig all das umfassen, was ihm, Marcuse, lieb und teuer ist. Quine lehnt die Möglichkeit einer anderen gesellschaftlichen Ordnung ab, an der Marcuses Herz hängt. Für Marcuse ist eine »mögliche Entität« etwas, das er gern eintreten sähe. Für Quine ist eine »sogenannte mögliche Entität« etwas, das er am liebsten nicht eintreten sähe. Beide schließen sie Monster aus, nur dass Quines Monster zufällig Marcuses heilige Kühe sind. Könnte es sein, dass in Wirklichkeit der Stil die Philosophie ist und dass all das Gerede von Entitäten und ihren Möglichkeiten bloß eine irrelevante Ablenkung darstellt? Lautet die Antwort »ja«, dann könnte nur ein Verständnis der rivalisierenden Stile, von denen der eine darauf beruht, die Monster auszuschließen, und der andere darauf, sie einzubeziehen, zu einer Synthese (zur Erhaltung der Monster) führen, die es uns einerseits erlauben würde, die Monster, die zweifellos in unserer Welt existieren, zu dulden, und uns andererseits zugleich davor bewahren würde, uns ihnen auszuliefern. Die Auswirkungen des Ausschlusses von Monstern sind in den Sozialwissenschaften viel weitreichender als in den Naturwissenschaften. Wenn zum Beispiel der Gedanke, dass sich die Erde um die Sonne dreht, einer bestimmten Glaubenslehre widerspricht, kann das Monster ausgeschlossen werden: Die Erde zieht wei1 Marcuse, H.: Der eindimensionale Mensch, Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, Neuwied 1967. 2 Quine, W. V. O.: From a Logical Point of View, Cambridge, Mass. 1953, S. 4.
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ter ihre Bahn, doch der Gedanke, dass es eine Umlauf bahn ist, wird unterdrückt. In gesellschaftlichen Angelegenheiten kann man mit dem Ausschluss eines Monsters bewirken, dass die Erde stillsteht und sich stattdessen die Sonne um die Erde dreht. Herr Toone zum Beispiel schlägt nicht vor, dass wir Grange Park ignorieren sollen, sondern er tritt für dessen Abbruch ein. Er wäre entzückt, wenn derartige Monster in seiner wunderschönen Hampshire-Landschaft ausgelöscht würden. Die Tatsache, dass soziale Prozesse, im Unterschied zu physikalischen und natürlichen Prozessen, die Fähigkeit haben, sich selbst zu erfüllen, bedeutet, dass das Ausschließen von Monstern nur zu leicht in ihre Ausrottung umschlagen kann. Die Ausrottung von Monstern kann sich in der andauernden Leugnung der Ausnahmen zu einer gesellschaftlichen Theorie äußern, und so sind Monstervertilger vor allem in den Sozialwissenschaften häufig anzutreffen. Daraus ergibt sich, dass soziale Prozesse, deren Existenz eben gerade auf Widersprüchen beruht, fast immer durch in sich widerspruchsfreie theoretische Modelle beschrieben werden. Im Gegensatz dazu sollte sich ein Monsterbewahrer bemühen, Modelle zu entwerfen, die die Widersprüche berücksichtigen. Ein Schritt in diese Richtung wäre ein monsterbewahrendes Modell der Beziehung zwischen Weltbild und Handeln, und die Mülltheorie hilft uns, diesen Schritt zu tun. Sie dient einem doppelten Zweck. Denn sie kann uns nicht nur zeigen, wie verbreitet monsterausschließende Modelle gegenwärtig sind, sondern auch Hinweise darauf geben, wie weniger repressive Modelle konstruiert werden können. Um der Welt, in der wir leben, einen Sinn geben zu können, brauchen wir ein Weltbild, aber welches Weltbild würden wir nehmen, wenn wir die Wahl hätten? Die Mülltheorie hat klar gezeigt, dass alle Weltbilder in einem bestimmten Sinne restriktiv sind. Denn wenn wir uns dafür entscheiden, die Dinge auf die eine Weise wahrzunehmen, entscheiden wir uns zugleich dafür, die Dinge nicht auf eine andere Weise zu sehen. Die Ironie besteht jedoch darin, dass wir gar keine Wahl haben. Wir könnten nur dann zwischen Alternativen wählen, wenn wir erstens wüssten, dass es sie gibt, und zweitens, wenn wir über die Mittel verfügten, sie zu beurteilen. Erfüllen wir aber diese notwendigen Bedingungen, dann haben wir bereits ein Weltbild und sind nicht mehr in der Lage, eines auszuwählen. Die Menschen, so könnte man sagen, werden zwar mit einem Blickfeld von 360 Grad geboren, doch sehen wir sie immer mit Scheuklappen herumlaufen. Die drei großen Fragen sind daher: »Wie kommt man zu Scheuklappen?«, »Wie viele Arten von Scheuklappen gibt es?« und »Von was hängt es ab, welche Scheuklappen der eine oder andere bekommt?« Das klassische Modell für die Art und Weise, wie Menschen ihre Scheuklappen erwerben, liefert die Transaktionstheorie.3 Die Transaktionstheorie geht wie 3 Siehe Barth, F.: Models of Social Organisation, in: Royal Anthropological Institute of Great Britain and Ireland: Occasional paper, 23, London 1966.
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die Mülltheorie davon aus, dass Weltbilder nicht einfach durch einsame Innenschau, sondern durch die Beschäftigung sowohl mit Menschen als auch mit Objekten erworben werden. Der Gedanke ist der, dass ein Individuum anfänglich über einen Lumpensack an unterschiedlichen Werten verfügt und dass es auf der Grundlage dieser Werte zwischen ihm und anderen Individuen zu Transaktionen über unterschiedlich bewertete Objekte kommt. Dieser Lumpensack an Bewertungen bestimmt sein Weltbild und liefert ihm eine Art Basis für die Entscheidung darüber, welche Handlungsmöglichkeiten ihm offen stehen und zu welchen Resultaten sie wahrscheinlich führen werden. Als intelligentes und denkendes Individuum folgt der Mensch gewöhnlich der Handlungsmöglichkeit, die ihm gemäß seines Weltbild die größten Vorteile zu versprechen scheint. Beim Interagieren über ein bewertetes Objekt wird es aber höchstwahrscheinlich feststellen, dass sein Lumpensack ganz andere Werten enthält als der des Individuums, mit dem es sich austauscht. Mit anderen Worten, es ist sehr wahrscheinlich, dass die erwarteten nicht mit den tatsächlichen Folgen seiner Handlungen übereinstimmen werden. Angesichts dieser Diskrepanz wird das Individuum seine Werte in der Hoffnung, beim nächsten Mal besser abschneiden zu können, neu ordnen. Das Ergebnis dieser unzähligen und sich oft überschneidenden Transaktionen ist daher, dass sein Lumpensack an Werten systematisierter, innerlich konsistenter und dem jener Individuen ähnlicher wird, mit denen es in Austausch gestanden hat. Auf diese Weise werden Weltbilder geordneter, genauer vorhersagbar und erlangen größere Übereinstimmung. Das Problem bei diesem Modell des Scheuklappenerwerbs besteht darin, dass es zu gut ist. Es hat zur Folge, dass alle Transaktionspartner schließlich das gleiche Weltbild haben und dass verschiedene Weltbilder nur zwischen Populationen existieren können, die nicht miteinander im Austausch stehen. Mit anderen Worten, die Transaktionstheorie ist zu deterministisch angelegt. Diese Überdeterminierung ergibt sich aus der falschen Voraussetzung, dass jedermanns Lumpensack die gleichen Inhalte habe und dass nur die mit diesen Inhalten verknüpften Werte verschieden seien. Doch ist es eine Tatsache, dass das Universum der Objekte zu groß ist, als dass es gehandhabt werden könnte, und dass wir es uns, um es handhabbar zu machen, erst zurechtstutzen müssen: Wohl oder Übel können wir unser Weltbild nur aus denjenigen Objekten konstruieren, die wir zufällig in unseren Lumpensack gesteckt bekommen haben. Und das hat zwangsläufig eine kognitive Verzerrung zur Folge: Die Inhalte unserer Lumpensäcke statten uns mit einer bestimmten Sichtweise aus, die eine andere Sichtweise notwendigerweise ausschließt. Wenn dieser zwangsläufig auftretenden kognitiven Verzerrung im Transaktionsmodell Rechnung getragen wird, ergibt sich eine kleine, aber wesentliche Veränderung: Ein transagierendes Individuum modifiziert dann seine Werte nun nicht mehr auf der Grundlage seiner Handlungsergebnisse, sondern auf
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der Grundlage dessen, wie diese Handlungsergebnisse wahrgenommen werden. Auch wenn zwei im Austausch stehende Individuen ganz verschiedene kognitive Voreingenommenheiten haben sollten, ist es aufgrund dieser Modifizierung nun durchaus möglich, dass ihre Weltbilder sowohl jeweils systematisierter und innerlich konsistenter werden als auch zugleich weniger übereinstimmen. Mit anderen Worten, die Individuen werden zwar immer noch Scheuklappen erwerben, doch werden es unterschiedliche Arten von Scheuklappen sein. Diese kleine Modifikation der Transaktionstheorie durch die Hinzufügung des Wortes »wahrgenommen« trägt den Einwänden der Mülltheorie Rechnung. Die Mülltheorie stellt die Vorstellung in Frage, dass wir schon durch die Betrachtung gesellschaftlicher Prozesse Zugang zu ihren konkreten Wirklichkeiten finden könnten. Stattdessen zeigt sie uns, dass wir nur zu sozial bearbeiteter Realität mit all ihren f ließenden Varianten Zugang haben können. Auf welche Weise die Transaktionstheorie aber das Monster ausschließt, das die Mülltheorie zu erhalten bemüht ist, lässt sich am besten verdeutlichen, wenn man die Annahmen vergleicht, die den beiden Theorien zugrunde liegen. Ursprünglich wurde die Transaktionstheorie mit dem Ziel entwickelt, ein genaueres und realistischeres Modell zwischenmenschlicher Beziehungen zu erhalten. Personen, so wurde dargelegt, interagieren nicht bloß, sondern interagieren über etwas. Die Transaktionstheorie machte sich daran, das bestehende Modell zu verbessern, indem sie das grundlegende Element, die Interaktion Person-Person, durch die Transaktion Person-Objekt-Person ersetzte. Daran hat die Mülltheorie nichts auszusetzen, allerdings lehnt sie die weitere Annahme der Transaktionstheorie ab, wonach dieses grundlegende Element Person-Objekt-Person ein natürliches sei. Wenn wir in der Lage wären, von einem genügend hohen Aussichtspunkt auf irgendein soziales System herabzublicken, könnten wir unter uns - in Myriaden von Transaktionen zwischen Menschen, die über nahezu unzählige Objekte interagieren – den Prozess des sozialen Lebens ausgebreitet sehen. Angenommen, wir könnten jedes Individuum eindeutig identifizieren und jedes Objekt mit einem Erkennungsschild versehen, fast wie Ornithologen, die an den Beinen der Vögel Ringe anbringen, um ihre Wanderungsmuster nachzuvollziehen, dann wären wir vielleicht in der Lage, die Bedeutung dessen zu erkennen, was sich da abspielt. Die einzigen isolierbaren Einheiten in einem solchen System wären zwei deutlich voneinander verschiedene Arten von Ketten. 1. Es gibt Ketten, die mit dem Eintritt eines bestimmten Objektes in den Umlauf beginnen und mit seiner Entfernung aus dem Umlauf enden. Eine derartige Kette könnte künstlich in eine Anfangstransaktion Person-Objekt, in eine variable Anzahl (m) Transaktionen des Typs Person-Objekt-Person und in eine Schlusstransaktion Objekt-Person zerlegt werden. Nur in dem Sonderfall,
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dass m gleich Null wäre, würde diese natürliche Einheit die Form Person-Objekt-Person annehmen. In allen anderen Fällen ist die Transaktion Person-Objekt-Person eine künstliche Abstraktion von dieser natürlichen Einheit. 2. Es gibt Ketten, die mit dem Eintritt eines bestimmten Individuums ins soziale Leben beginnen und seinem Tod enden (oder mit seiner Entfernung aus dem sozialen Leben, sollte dies seinem Tod vorausgehen). Eine derartige Kette könnte künstlich in eine Anfangstransaktion Objekt-Person, in eine variable Anzahl (n) Transaktionen des Typs Objekt-Person-Objekt und in eine Schlusstransaktion Person-Objekt zerlegt werden. Diese Ketten, und nicht die Triade Person-Objekt-Person, sind also die natürlichen isolierbaren Einheiten, die den Prozess des sozialen Lebens ausmachen. Die Triade Person-Objekt-Person charakterisiert einen bestimmten Kettentyp; indem die Transaktionstheorie jedoch behauptet, dass dieser die natürliche Einheit sei, ignoriert sie vollständig den zweiten Kettentyp, der durch die andere Triade Objekt-Person-Objekt charakterisiert ist. Da diese beiden Kettentypen komplementär sind, hat dieses Stück Monsterausschließung einige schwerwiegende Folgen. Die erste Kettenart beschreibt den Werdegang von bestimmten Objekten auf ihrem Weg durch eine Umgebung von Individuen und Gruppen; die zweite beschreibt den Werdegang bestimmter Individuen oder Gruppen auf dem Weg durch eine Umgebung von Objekten. Keine von beiden hat, soweit es die Eigenschaften des Prozesses des gesellschaftlichen Lebens betrifft, Vorrang vor der anderen. In der einen Situation mag es vernünftig sein anzunehmen, dass Menschen von Objekten manipuliert werden, und in einer anderen, dass Menschen sowohl Objekte manipulieren als auch von diesen manipuliert werden. Darüber hinaus können im Laufe dieses dynamischen Prozesses Situationen immer wieder so transformiert werden, dass der Manipulator zum Manipulierten wird und umgekehrt. Diese systemtheoretische Betrachtungsweise, die beide Arten natürlicher Einheiten gleichermaßen betont, ist der Ausgangspunkt für das analytische Verfahren, das ich bei der Untersuchung des Stevenbildes angewandt habe. Die Eigenschaft, die im Falle des Stevenbildes die ständigen Transformationen unterstützt, ist dessen soziale Verformbarkeit. Das Variieren der sozialen Kontrollen hinsichtlich der Verteilung von Stevenbildern auf die Kategorien des Vergänglichen, des Mülls und des Dauerhaften und hinsichtlich der Transfers zwischen diesen Kategorien bedeutet, dass an der Länge der natürlichen Ketten nichts Natürliches ist. Ketten wird es zwar geben, aber die Längen der Ketten (die Werte von m und n) sind Variablen, das heißt in erheblichem Maße sozial bestimmt. Indem die Transaktionstheorie eine Kettenart gänzlich ignoriert und behauptet, dass im Falle der anderen Kettenart der Wert von m immer Null sei, schließt sie dieses f ließende Monster aus. Ist dieses Monster aber erst einmal ausgeschlossen, kann der Theoretiker für sich in Anspruch nehmen, ein »kosmischer
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Verbannter« mit direktem Zugang zu den rohen, unbearbeiteten, »natürlichen Einheiten« zu sein, die die »konkrete Realität« konstituieren. Der große Vorteil, den das Bewahren dieses f ließenden Monsters hat, ist der, dass wir die Fallgruppe des »kosmischen Verbannten« vermeiden können und stattdessen dazu veranlasst werden, jene Bereiche zu kartographieren, in denen Objekte von Menschen und Menschen von Objekten manipuliert werden. Unsere Aufmerksamkeit kann sich dann auf die Schwankungen in der Verteilung dieser Bereiche der Flexibilität und der feststehenden Annahmen konzentrieren, und wir sind dann in der Lage zu untersuchen, auf welche Weise die Grenze zwischen diesen Bereichen sich verändern mag. Somit kann die Mülltheorie, indem sie die kulturelle Verzerrung berücksichtigt, den f ließenden Charakter des Prozesses des gesellschaftlichen Lebens bewahren, während die Transaktionstheorie ihn ausschließt. Aufgrund dieser Modifikation, also der Einbeziehung der kognitiven Verzerrung, ändert sich die Antwort auf die zweite große Frage, wie viele verschiedene Arten von Scheuklappen es gibt. Statt »eine« lautet die Antwort nun »mehr als eine«. Wenn es nur eine gäbe, würden die »Ron-und-Cliffs« und die »KnockersThrough« infolge ihrer gesellschaftlich bedingten Beschäftigung mit Objekten schließlich zum gleichen Weltbild gelangen. Das ist jedoch entschieden nicht der Fall. Dank unterschiedlicher kognitiver Vorlieben (im einen Falle für das Vergängliche, im anderen für das Dauerhafte) treten ihre voneinander abweichenden Weltbilder umso deutlicher hervor, je mehr sie transagieren. Dies ist wahrscheinlich eine sehr entmutigende Antwort für Sozialwissenschaftler und erklärt, warum sie so gerne mit jeder monsterausrottenden Theorie einverstanden sind, die ihnen andere Antworten verspricht. Wenn sie die Antwort »eine« erhalten, können sie sich daran machen, konkrete Realität zu analysieren, und tatsächlich zu Ergebnissen kommen, aber was ist, wenn die Antwort »mehr als eine« lautet? Wenn die Realität, mit der sie sich auseinandersetzen müssen, nicht fest umrissen, sondern f ließend ist, welche Chance haben sie dann? Dann könnten sie ebenso gut ihre Sachen packen und nach Hause gehen. Dies war in der Tat die Schlussfolgerung, die ich zuerst aus der Mülltheorie zog. Aber ist dieser Schluss wirklich stichhaltig? Schließlich bedeutet »mehr als eine« nicht das Gleiche wie »unendlich«, und nur wenn sozial bearbeitete Realität so f ließend wäre, dass sie alles sein könnte, wäre mein Schluss, dass Sozialwissenschaft unmöglich ist, gerechtfertigt gewesen. Dies hätte das Ende der ganzen Angelegenheit sein können, wäre ich nicht eines Tages im Times Literary Supplement zufällig auf einen Artikel über etwas namens »Katastrophentheorie« gestoßen.4 Die Katastrophentheorie wurde 1968 von einem französischen Mathemati4 Zeeman, E. C.: The Geometry of Catastrophe, in: The Times Literary Supplement, 10. Dezember 1971.
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ker, René Thom,5 erfunden. Ihre Bedeutung für die Sozialwissenschaft besteht in dem Hinweis, dass die Skala unterschiedlicher Arten von Scheuklappen, die wir tragen können, tatsächlich ziemlich begrenzt ist. Für die Mülltheorie ist Thoms rechtzeitige Erfindung der Katastrophentheorie ein besonderer Glücksfall, denn sie ermöglicht es uns, die Schlussfolgerungen der Mülltheorie zu modifizieren, den Trugschluss aufzudecken, der im Prozess des gesellschaftlichen Lebens steckt, wenn man ihn unter dem Gesichtspunkt der »konkreten Realität« betrachtet, und das Bild der »konkreten Realität« durch das einer f ließenden, sozial erzeugten Realität zu ersetzen. Die Katastrophentheorie liefert uns die Werkzeuge, die wir benötigen, um diese f ließende Realität handhaben zu können. Wie es in der angewandten Mathematik häufig geschieht, brauchen wir für diesen Zweck tatsächlich nur sehr wenige Dinge aus Thoms Werkzeugtasche. Diese spezifischen Werkzeuge lassen sich anhand der Beispiele, die in den beiden folgenden Kapiteln behandelt werden, leicht erklären; doch muss zunächst die der Katastrophentheorie zugrundeliegende Philosophie erklärt werden. Thoms Vorgehensweise hat einen sehr starken monstererhaltenden Charakter, und wenn man vergleicht, was er in der Mathematik erreicht hat und was ich, blind umherstolpernd, mit der Mülltheorie zu erreichen versucht habe, kann man vielleicht verstehen, warum die Katastrophentheorie uns den Schlüssel zu einer monsterbewahrenden Sozialwissenschaft liefert. Der Grund dafür, dass ich mich so lange bei der Transaktionstheorie aufgehalten habe, ist einfach der, dass wir, indem wir die Fehler ihrer Voraussetzungen aufdecken, vielleicht vermeiden können, sie zu wiederholen. Die Transaktionstheorie war ausdrücklich dafür bestimmt, Modelle empirischer sozialer Formen zu liefern und beobachtete soziale Prozesse widerzuspiegeln. Das heißt, sie ist streng auf Dinge beschränkt, von denen wir zufällig wissen, dass sie geschehen, und befasst sich nicht mit Dingen, die, obwohl wir nicht wissen, dass sie geschehen, vielleicht geschehen könnten. Dieses mangelnde Interesse an möglichen Entitäten ist direkt für das Ausschließen von Monstern verantwortlich, das die Theorie so schwächt. Um zu vermeiden, dass wir die gleichen Fehler wiederholen, brauchen wir eine Methode, die es uns erlaubt, unser Hauptaugenmerk von den sozialen Phänomenen auf die Möglichkeit sozialer Phänomene zu verlagern. Die Katastrophentheorie liefert uns diese Methode. Wie Thom versucht, seinen Untersuchungsradius zu erweitern, indem er nicht die Phänomene, sondern die Möglichkeit ihres Auftretens berücksichtigt, kann anhand eines Vergleichs zwischen seinem und Monods Ansatz deutlicher werden.
5 Thom, R.: Topological models in biology, in: Topology Bd. 8, 1969; ders.: Stabilité Structurelle et Morphogénèse. Essai d‘une theorie générale des modèles, Reading, Mass. 1972.
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Monod überträgt den genetischen Code und das zufällige Auftreten von Mutationen von der Molekularbiologie auf das ganze Universum und kommt zu dem Schluss, dass Zufall ein grundlegendes Naturgesetz ist. Dann schließt er von der Natur weiter auf die Gesellschaft und argumentiert, dass der Mensch Grundwerte brauche, dank der modernen Biologie nun aber wisse, dass er sie nie haben könne. Aber ist dieser Schluss von der Natur auf die menschliche Natur gültig? Die Mülltheorie zeigt, dass wir keinen Zugang zur rohen Natur haben, sondern nur zu ihrer sozial bearbeiteten Form. Wenn Monod also von »Natur« spricht, muss er die »Vorstellung von der Natur« meinen; diese »Vorstellung von der Natur« ist aber ein gesellschaftliches Produkt. Den Anthropologen interessiert an den von den verschiedenen Spezialisten vorgetragenen, untereinander rivalisierenden und konf ligierenden Schöpfungsvorstellungen weniger, ob diese wahr oder falsch sind, sondern vor allem ob sie Überzeugungskraft haben, also in der Lage sind, neue Anhänger zu gewinnen und ihm dadurch höheres Ansehen zu verschaffen. Wenn also Monod, indem er von der Natur auf die menschliche Natur schließt, den Wagen vor das Pferd spannt, sollten wir darin nicht ein Zeichen der Naivität in Transportangelegenheiten, sondern den schlauen und geschickten Versuch sehen, den Status und die Bedeutung der Molekularbiologie zu erhöhen. In dem Maße aber, wie ihm dies gelingt, werden wir zu der Überzeugung gelangen, dass der Wagen vor das Pferd gespannt werden muss und dass wir es all die Jahre falsch herum gemacht haben. Die Anthropologie selbst kann sich von dieser Analyse natürlich nicht ausnehmen, und indem der Anthropologe sie durchführt, enthüllt und betritt er gleichzeitig die Arena, in der die verschiedenen Spezialisten um Status und Macht, Ansehen und Anhänger konkurrieren. Wo Monod von der Biologie ausgeht, um dann das ganze Universum einzubeziehen, geht Thom von einer theoretischen Position aus, die praktisch nicht nur dieses Universum, sondern alle möglichen Universen berücksichtigt. Dann verengt er seinen Blickwinkel immer mehr, bis er die moderne Biologie im Visier hat. Der Artikel, in dem Thom diese Methode zum ersten Mal anwandte, ist sehr technisch und beschäftigt sich mit dem Erkennen und Lösen eines spezifischen Problems, dem der Morphogenese, dem Ursprung und der Entwicklung biologischer Strukturen. In seiner Schlussfolgerung tritt er dann aber für einen Augenblick zurück, um einen Blick auf das zu werfen, was er tut. Er unterbreitet keine wissenschaftliche Theorie, sondern eine Methode, und diese Methode führt nicht zu spezifischen Techniken, sondern zu dem, was er »eine Kunst der Modellbildung« nennt. Diese »Kunst der Modellbildung«, glaubt er, befriedige ein fundamentales, epistemologisches Bedürfnis. Dieses Bedürfnis ist aber – das schlage ich hier vor – das Bedürfnis nach Monstererhaltung, und entsprechend verstehe ich Thoms »Kunst der Modellbildung« als die Methode, die es uns erlaubt, eben dieses Bedürfnis zu befriedigen.
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Die Art, wie Thom mit seiner »Kunst der Modellbildung« Monster erhält, wird ganz klar, wenn wir untersuchen, wie er die Frage behandelt, ob physikalische Prozesse deterministisch oder nicht deterministisch sind. Das Monsterausschließen tendiert dazu, die deterministische Hypothese vorzuziehen, wonach alle äußeren Phänomene streng determiniert sind und in den Fällen, in denen wir nicht spezifizieren können, wie der deterministisches Mechanismus beschaffen ist, dies auf die Unvollkommenheit unserer Techniken und Werkzeuge zurückzuführen. Für Thom ist das Beharren darauf, dass der Determinismus vorhanden sein muss und dass wir ihn, wenn wir nur genau genug hinsehen, zweifellos entdecken werden, ein repressiver Glaubensartikel, den nicht anzuerkennen er ängstlich bedacht ist. Andererseits möchte er aber auch kein Monsterverehrer werden, der unter allen Umständen darauf beharre, dass nichts determiniert sei. Er weist bloß darauf hin, dass, da man sowohl Phänomene auswählen kann, die die deterministische Hypothese stützen, als auch solche, die sie außer Kraft setzen, es wünschenswert sei so zu verfahren, dass keine der beiden Phänomenreihen ausgeschlossen werden müsse. Statt Beispiele für Indeterminiertheit zu wählen, die in jenen rätselhaften Bereichen auftreten, die an der äußersten Grenze des menschlichen Beobachtungsvermögens liegen – zum Beispiel im Bereich der Kosmologie oder der Elementarteilchen-Physik –, nimmt er ein ganz alltägliches Beispiel von beunruhigender Vertrautheit: Wenn wir den Stöpsel aus der Badewanne ziehen, läuft das Wasser ab, manchmal im Uhrzeigersinn, manchmal gegen den Uhrzeigersinn. Damit weist ein Teil unserer Welt, den zu beobachten wir keine Schwierigkeiten haben, eine sehr hohe Instabilität auf. Unter experimentellen Bedingungen werden ideale Zustände hergestellt: Die Badewanne ist völlig zylindrisch, sie ist mit Wasser gefüllt, das sich in völliger Ruhe befindet, und niemand ist in der Wanne. Wenn der Stöpsel entfernt wird, beginnt das Wasser sich in einer zentrifugalen Bewegung zu drehen, deren Richtung praktisch unbestimmt ist. Der Endzustand weist damit eine geringere Symmetrie auf als die Anfangsdaten, das heißt, es kommt zu einem »Bruch der Symmetrie«. Thom argumentiert, ein Phänomen, das einen solchen Bruch der Symmetrie aufweise, könne nicht in einem deterministisch formalisierbaren Modell dargestellt werden. Verfechter der deterministischen Hypothese mögen vielleicht einwenden, dass die Ausgangsdaten nicht vollkommen symmetrisch waren. Sie mögen darauf verweisen, dass das Wasser nicht ganz stillgestanden, dass sich die Luft über seiner Oberf läche bewegt oder dass der Coriolos-Effekt eine Rolle gespielt habe, aber damit lenken sie nur vom eigentlichen Einwand ab. Da es ihnen bisher noch nicht gelungen ist, das deterministische Bindeglied zwischen einer dieser anfänglich asymmetrischen Datenreihen und der Art und Weise, wie das Wasser den Abf luss hinunterläuft, nachzuweisen, sollten sie sich lieber mit der Möglichkeit vertraut machen, dass kein solches deterministisches Bindeglied existiert. (Im Gegensatz zu dem weitverbreiteten Glauben läuft das Badewasser
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übrigens in der nördlichen Hemisphäre nicht in einer anderen Richtung als in der südlichen Hemisphäre und am Äquator nicht senkrecht nach unten ab. Vielmehr läuft es überall entweder in der einen oder in der anderen Richtung und niemals senkrecht nach unten ab.) Indem er sich den Phänomenen zuwendet, die die deterministische Hypothese stützen, weist Thom darauf hin, dass es im Gegensatz zu dem höchst instabilen Badewasser viele Fälle gibt, in denen der determinierte Charakter eines Prozesses experimentell offensichtlich ist. Dies ist häufig bei morphogenetischen Prozessen der Fall. Zum Beispiel ist ein hohes Maß an Determinismus erforderlich, um sicherzustellen, dass Hühner Eier produzieren, die wieder Hühner produzieren. Wenn in einem derartigen Prozess eine gegebene Morphologie bei geringfügigen Änderungen der Ausgangsdaten stabil bleibt, kann in einem solchen Prozess ein Beweis für das gesehen werden, was Thom ein »morphogenetisches Feld« nennt. Ein anderes Wort, das manchmal Verwendung findet, ist »chreod«; es bedeutet »notwendiger Pfad«.6 Dass wir uns die Mühe machen, die deterministische Komponente auf diese Weise zu definieren, soll gewährleisten, dass wir für den Fall, dass uns die Beschreibung, der an einem Prozess beteiligten »morphogenetischen Felder« oder »chreods«, gelungen sein sollte, nicht in die Falle der deterministischen Hypothese tappen und in den Glauben verfallen, damit eine vollständige Beschreibung erreicht zu haben. Es gibt zum Beispiel einige Personen (unter ihnen Samuel Butler, Marshall McLuhan und manche Schuljungen), die versucht haben, die problematische Beziehung zwischen dem Huhn und dem Ei (d.h. die Frage, welches von beiden eher da war) zu lösen, indem sie die lineare Beziehung Huhn-Ei-Huhn als irrelevant verworfen haben. Ihnen bleibt die einfache Beziehung:
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Die Henne ist dann einfach der Übergangszustand zwischen Ei und Ei, und das Ei der Übergangszustand zwischen Huhn und Huhn. Oder wie es ein Schuljunge ausdrücken würde, »die Henne die Art des Eis, ein weiteres Ei zu produzieren.« Diese einfache Beziehung stellt das »morphogenetische Feld« oder den »chreod« dar; das heißt den Determinismus, der in dem durch die Reproduktion und Evolution des Haushuhns beschriebenen morphogenetischen Prozess enthalten ist. 6 Vgl. Waddington, C. H.: The Strategy of the Genes, London 1958.
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Da aber diese Art der Beziehung die Linearität des Prozesses ausschließt, kann sie natürlich nichts über den Übergang von Urschlamm zu Huhn und von Huhn zu irgendetwas anderem in der Zukunft aussagen. Dieser Prozess mag von anderen »chreods« unterstützt werden oder nicht, doch selbst wenn diese identifiziert worden sein sollten, ist der Prozess noch nicht umfassend beschrieben. Tatsächlich definieren die »chreods« die Grenze zwischen dem, was beschreibbar, und dem, was nicht beschreibbar ist, und es ist eines der großen Verdienste von Thoms Theorie der strukturellen Stabilität, dass sie uns zum ersten Mal erlaubt, diese Grenze zu erkennen und das, was nicht beschreibbar ist, in unsere Überlegungen einzubeziehen. »Es ist sehr wichtig, bei jedem natürlich morphogenetischen Prozess zunächst die Teile zu isolieren, die die »morphogenetischen Felder« unterstützen, also die ›chreods‹ des Prozesses herauszufinden. Sie bilden eine Art Inseln der Stabilität, getrennt durch Zonen der Instabilität oder Unbestimmtheit. Dass ein derartiges Vorgehen möglich ist, läuft auf die Feststellung hinaus, dass die Morphologie mehr oder weniger beschreibbar ist. Tatsächlich weist die Morphologie fast eines jeden natürlichen Prozesses irgendeine Art lokaler Regularität auf, die es einem erlaubt, wiederkehrende, identifizierbare, durch Wörter bezeichnete Elemente zu unterscheiden. Andernfalls wäre der Prozess völlig chaotisch, und gäbe es nichts, über das man sprechen könnte.« 7 Damit nicht der Eindruck entsteht, als würde hier der Möglichkeit eines Zugangs zur rohen, unbearbeiteten Natur das Wort geredet, möchte ich darauf hinweisen, dass, obwohl diese wiederkehrenden, identifizierbaren Elemente in natürlichen Prozessen vorkommen mögen, diese nicht bestimmen, über was wir reden, sondern die Grenzen dessen bestimmen, über was wir sprechen können. In verschiedenen sozialen und kulturellen Kontexten gibt es unterschiedliche wiederkehrende Elemente. Kultur, die Bezeichnung für wiederkehrende, identifizierbare Elemente, kann mehr als eine Form annehmen, und folglich können die benannten wiederkehrenden Elemente des einen leicht das unbenannte Chaos eines anderen sein. Es ist interessant festzustellen, dass die Suche der Biologen nach »chreods« von einer parallelen Entwicklung in der Anthropologie, der Entwicklung des Strukturalismus, begleitet war. So liefert die Butler/McLuhan/Schuljunge-Teillösung des Henne-Ei-Problems mit ihrem Verzicht auf das Lineare, ihrer Konvergenz von Vergangenheit und Zukunft, ihrer Beseitigung binärer Gegensätze und ihrer Betonung vermittelnder Prozesse einen knappen Abriss des strukturalistischen Ansatzes. Weiterhin hat Thoms Definition eines »morphogenetischen 7 Thom, a.a.O., 1969, S. 321.
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Feldes« eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit Lévi-Strauss‘ beinahe mystischer Berufung auf die Struktur,8 was am Beispiel seiner berühmten Puzzlespiel-Analogie deutlich wird. Lévi-Strauss argumentiert, dass es im Falle eines Puzzles, dessen Stücke willkürlich mit der Laubsäge ausgeschnitten werden, überhaupt keine Struktur gebe. Wenn aber (wie es gewöhnlich geschieht) die Stücke mit Hilfe einer mechanischen Säge, deren Bewegungen durch rotierende Nocken gesteuert werden, in unterschiedliche Formen geschnitten werden, hat das Puzzle eine Struktur. Diese Struktur existiert nicht auf der empirischen Ebene, da es viele Möglichkeiten gibt zu erkennen, wie die Stücke zusammenpassen. Vielmehr liegt die Struktur in der mathematischen Formel, die sich in der Form der Nocken und in deren relativer Rotationsgeschwindigkeit äußert. Lévi-Strauss behauptet, dass diese Struktur die alleinige und einzig verständliche Art sei, das Puzzle zu erklären, obschon sie mit dem Puzzle, wie es der Person erscheint, die sich mit ihm beschäftigt, nur sehr wenig zu tun hat. Thoms Ansatz erlaubt es uns, einen entscheidenden Unterschied zwischen der strukturalistischen Technik und dem Strukturalismus zu erkennen. Mit Hilfe der strukturalistischen Technik können wir die »Inseln der Determiniertheit« innerhalb eines Prozesses entdecken. Der Strukturalismus behauptet, dass diese Inseln den Prozess umfassend beschreiben: Das heißt, er leugnet die Existenz des sie umgebenden Ozeans der Nicht-Determiniertheit. Nachdem Lévi-Strauss also sein »chreod«, die mathematische Formel für die Nocken, gefunden hat, geht er, weil er glaubt, er habe die Beschreibung vollendet und das Puzzle erklärt, in die Falle. Die Folge ist, dass der Strukturalismus paradoxerweise mit dem unreifen und repressiven Positivismus zusammenzugehen scheint, den er ausdrücklich ablehnt: Was nicht beschrieben werden kann, ist nicht da. Die strukturalistische Technik sagt: »Dies ist der Teil des Prozesses, der beschreibbar ist.« Der Strukturalismus sagt: »Dies ist die Beschreibung des Prozesses.« Indem er eine Technik in einen »Ismus« verwandelt, hat der Anthropologe sich die deterministische Hypothese zu eigen gemacht und die Monstererhaltung aufgegeben. Weil dies mit so alarmierender Leichtigkeit geschehen kann, gibt sich Thom so viel Mühe, die »philosophisch wichtige Tatsache« zu betonen, deren Erkenntnis die Grundlage für seinen ganzen Ansatz bildet: »[...] ein deterministisches System kann in einer ›strukturell stabilen Weise‹ eine völlige Unbestimmtheit bezüglich der qualitativen Vorhersage des endgültigen Ergebnisses seiner Entwicklung an den Tag legen.«9 Das Problem besteht jetzt darin, die Beziehung zwischen Weltbild und Handeln so herauszuarbeiten, dass diese »philosophisch wichtige Tatsache« erkennbar wird. 8 Lévi-Strauss, C.: On Manipulated Sociological Models, in: Bijdragen tot de taal-, land-, en volkenkunde, Nr. 16, 1960, S. 52. 9 Thom, a.a.O., 1969, S. 321.
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Im Beispiel von der Henne und dem Ei kann die deterministische Komponente, das »chreod«, als ein geschlossenes System mit nur zwei Zuständen, »Ei-sein« und »Küken-sein« sein, verbunden durch zwei irreversible Prozesse, Legen und Brüten, dargestellt werden.
Abbildung 18
Ein solches geschlossenes System kann sich niemals selbst ändern. Es ist also insofern eine unangemessene Darstellung, als es die Entwicklung des Systems ignoriert. Zu der Entwicklung kommt es, weil an irgendeiner Stelle von Zeit zu Zeit neue genetische Möglichkeiten in den Kreislauf eindringen und an irgendeiner anderen Stelle des Kreislaufes von Zeit zu Zeit genetische Möglichkeiten verloren gehen. Diese Unbestimmtheitskomponente kann in die Darstellung aufgenommen werden, indem man zwei Prozesse hinzufügt, die das geschlossene deterministische System mit der Außenwelt verbinden. Wenn wir für einen Moment außer Acht lassen, wo genau im Kreislauf genetische Möglichkeiten gewonnen werden und verloren gehen, erhalten wir ein der Abbildung 19 entsprechendes Bild.
Abbildung 19
7. Erhaltung der Monster
Aus Gründen, die deutlich werden, wenn die »Ströme« bezeichnet worden sind, möchte ich die Beziehung zwischen Weltbild und Handeln folgendermaßen darstellen:
Abbildung 20
Der unbestimmte Gewinn (b) gelangt im Bereich des Handelns in den Kreislauf. Er stellt neues Handeln dar – die Berücksichtigung von Handlungsmöglichkeiten, die vorher nicht berücksichtigt wurden. Der unbestimmte Verlust (d) tritt im Laufe des Prozesses ein, und der Kasten stellt einen Monitor oder Filter dar, der eine Trennung vornimmt zwischen dem, was im Kreislauf bleiben (c), und dem, was verloren gehen soll (d). Wir müssen nun die verschiedenen Prozesse erläutern und erklären, auf welche Weise sie eine Verbindung zwischen den beiden Bereichen Weltbild und Handeln herstellen und dem, was außerhalb von beiden liegt. Das deterministische und monsterausschließende Henne-Ei-Modell ist in der Transaktionstheorie natürlich bereits voll entwickelt. Damit ich von ihr Gebrauch machen kann, will ich nun die Punkte hervorheben, an denen ich von bestehenden Darstellungen abweiche. Das spart Zeit und Mühe, und ich kann so auch besser erklären, was ich zu tun versuche. Die Transaktionstheorie macht sich lobenswerterweise daran, das selbsterzeugte Problem zu lösen, das durch die Trennung von sozialen und kulturellen Abstraktionen entstanden ist. Sie will eine Theorie liefern, die erklärt, wie kulturelle und soziale Abstraktionen miteinander verbunden sind. Sie erkennt an, dass Werte und Verhalten wie Henne und Ei zyklisch miteinander verbunden sind, und entscheidet sich dafür, mit den Werten zu beginnen. Eine Person wird also, bevor sie handelt, über gewisse Werte verfügen, und diese Werte versetzen sie in die Lage, zwischen den verschiedenen Handlungsweisen zu unterscheiden, die ihr offen stehen. Ihre Werte statten sie folglich sowohl mit den Beschränkungen als auch mit den Anreizen aus, die es ihr ermöglichen, eine bestimmte Handlungsweise zu wählen. Dann agiert sie oder, besser gesagt, da sie sich mit irgendeiner anderen Person über die Erreichung irgendeines bewerteten Objekts einigen wird, transagiert sie. Darauf hin ist sie in der Lage, ihre anfänglichen Werte im Verhältnis zu den Ergebnissen neu zu beurteilen. Werden ihre Erwartungen realisiert,
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sind ihre ursprünglichen Werte bestätigt. Werden sie widerlegt oder nur teilweise realisiert, dann kann sie in der Hoffnung, das nächste Mal besser abzuschneiden, gewisse Veränderungen an ihren Werten vornehmen. Auf diese Weise werden ihre Werte und damit folglich ihre späteren Handlungen modifiziert. Wir haben bereits gesehen, dass diese außerordentlich vernünftige Beschreibung der Bindung zwischen Weltbild und Handeln wegen der darin enthaltenen Monsterausschließung nicht gültig ist. Und was noch wichtiger ist, sie besitzt nicht einmal die Stabilität der deterministischen Henne-Ei-Darstellung, auf der sie basiert. Der Transaktionsprozess wird theoretisch folgendermaßen charakterisiert: Indem Menschen über ein bestimmtes Objekt transagieren, nähern sich ihre anfänglich ziemlich verschiedenen Bewertungen aneinander an. Das hat insgesamt die Wirkung, dass Menschen zu ähnlicheren Bewertungen spezifischer Objekte kommen. Doch ebenso wie die Objekte, sind auch die mit ihnen verbundenen Bewertungen nicht völlig voneinander isoliert. Zusätzlich zu spezifischen Werten gibt es »Wertekanons«, die sich auf die Strukturierung von Bewertungen beziehen. Der Theorie zufolge läuft der Transaktionsprozess immer auf eine Systematisierung und Integration dieser Kanons hinaus, und dabei betont sie die Rolle des kulturellen Integrators, die von denjenigen Individuen, »Unternehmern«, gespielt wird, die Verbindungen zwischen bisher unverbundenen Wertmustern herstellen und, indem sie dies tun, überwölbende Wertekanons festsetzen. Ein solches System ohne Gewinne oder Verluste von außen würde sich stetig in Richtung einer zunehmenden Ordnung bewegen. Werte und Wertmuster würden immer konsistenter, systematisierter und integrierter werden, bis es nicht mehr ginge. Dann würden sie die bestmögliche Grundlage für die Entscheidung zwischen Alternativen darstellen, und die Resultate der auf diesen Alternativen gegründeten Handlungen würden die Werte nicht mehr modifizieren, da diese Werte ihre optimale Konfiguration erreicht hätten und jede Veränderung die Resultate der Alternativen tatsächlich weniger vorhersagbar machen würde. Mit der Annäherung an diesen optimalen Punkt und mit seiner schließlichen Erreichung würden die Alternativen (die Möglichkeit der Wahl) abnehmen und schließlich verschwinden. Mit anderen Worten, die beiden Verbindungsströme würden aufhören zu existieren. Dies bedeutet, dass das dem gesunden Menschenverstand entsprechende transaktionstheoretische Modell der Art und Weise, wie Werte und Verhalten miteinander verbunden sind, wenn es gültig wäre, dazu führen würde, dass diese nicht mehr miteinander verbunden sein könnten. Ich habe den Verdacht, dass dies nicht ganz der Lösung entspricht, die die Transaktionstheorie im Auge hatte. Die schwerwiegenden Konsequenzen der monsterausschließenden Methode der Transaktionstheorie werden nun deutlich sichtbar. Das Modell hat die beiden Ströme ausgeschlossen (die Schaffung und Vernichtung von Werten), die, indem sie den ordnenden Prozess ständig in Unordnung bringen, der einzige Weg
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sind, wie das Modell funktionieren kann. Wenn wir uns auf diese ausgeschlossenen Ströme konzentrieren, sind wir jedoch in der Lage, das Modell zum Funktionieren zu bringen und über die logischen Voraussetzungen für eine adäquate soziologische Theorie der Kreativität (und ihrer dunklen Seite, die Destruktivität) nachzudenken. Wir haben anhand der Stevenbilder, der Vorfahren, der Wohnhäuser und der Kunstobjekte bereits gesehen, dass die Residuen des Systems kultureller Kategorien wichtige soziologische Implikationen haben und dass die Transaktionstheorie die Existenz dieser Prozesse nicht zur Kenntnis nimmt und diese damit praktisch leugnet. Ferner wissen wir, dass das Kategoriensystem uns mit einer bestimmten Art wahrzunehmen ausstattet und dass eine bestimmte Art wahrzunehmen immer auch, und das ist noch wichtiger, eine Art nicht wahrzunehmen ist. Von den Resultaten unserer Handlungen können wir also immer nur einen bestimmten Teil wahrnehmen – und den anderen eben nicht. Dieser Relevations-/Irrelevationsprozess wird im Schaubild (Abbildung 20) durch den Monitor dargestellt. Die Inhalte des Weltbildbereiches bestimmen die Kriterien, die der Monitor bei der Unterscheidung zwischen den Strömen (c) und (d) anwendet, aber die vom Monitor ausgeübte Kontrolle kann niemals vollständig sein: Sie kann die Situation niemals so stabilisieren, dass das Weltbild nicht mehr geändert werden kann. Kognition – unsere Art zu sehen und nicht zu sehen – kann in dem Bereich, den ich »offenkundig« genannt habe, vollkommen festgelegt sein, nicht aber im »verborgenen« Bereich, denn diesen nehmen wir ja nicht wahr: Wirksame Gesetze gegen etwas zu machen, von dem behauptet wird, dass es nicht existiere, ist einfach unmöglich. Die Folge dieser zwangsläufig unvollkommenen Steuerung durch den Monitor ist, dass allen Anstrengungen zum Trotz einige widerspenstige Elemente in den Weltbildbereich gelangen. Es ist wahrscheinlich, dass das Erscheinen solcher neuen Elemente den Ordnungsprozess in Unordnung bringt und in einigen Fällen sogar ernste Widersprüche zwischen bisher integrierten Wertmustern hervorrufen kann. Wenn der Weltbildbereich in dieser Weise eine Veränderung erfährt, wird sich auch die Wirkungsweise des Monitors verändern, und zwar mit dem Ergebnis, dass manche Informationen, die vorher nicht ausgewählt worden wären, nun ausgewählt werden, und andere Informationen, die vorher ausgewählt worden wären, nun zurückgewiesen werden. Diese neue Bereicherung des aus dem Kreislauf herausführenden Stroms ist der negative Aspekt der Kreativität. Er umfasst das, was ehedem sichtbar war und nun unsichtbar ist. Die Beschreibung des Monitors und der in ihn hinein und aus ihm herausführenden Ströme ist damit abgeschlossen, und es müssen nun nur noch die Ströme dargestellt werden, die in den Handlungsbereich f ließen. Die Transaktionstheorie erkennt an, dass häufig eine deutliche Diskrepanz zwischen den erwarteten oder erhofften Resultaten unserer Handlungen und dem, was tatsächlich ge-
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schieht, besteht; und in ihrem Modell wird nur die Art und Weise dargestellt, wie wir versuchen, diese Diskrepanz zu minimieren. Der Strom, der Weltbild und Handlungsbereich verbindet, bleibt also unverändert (das bestehende Weltbild stellt ein Sortiment an Beschränkungen und Anreizen zur Verfügung, die auf die Wahlmöglichkeiten einwirken). Die Transaktionstheorie nimmt jedoch fälschlicherweise an, dass damit das Universum des Handelns erschöpft sei. Denn es gibt auch noch den Strom (b), der das zyklisch deterministische System mit dem äußeren Reich der »möglichen Entitäten« verbindet. Ungeachtet der Annahmen der Transaktionstheorie wissen wir, dass nicht alle Handlungen das Ergebnis von auf etablierten Werten beruhenden Wahlmöglichkeiten sind. Wir müssen die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass manche Handlungen vorsätzlich irrational sind: das Ergebnis entweder impulsiven oder ziellosen Experimentierens, und selbst wenn dies ausgeschlossen wäre, müsste man immer noch mit Zufällen rechnen. Sich ständig wiederholende Zufälle treten weiterhin auf, obschon sie dem Weltbild zufolge von Nachteil sind. Sie scheinen ein nicht reduzierbares Residuum innerhalb des Systems darzustellen. Zum Beispiel modifizieren wir jedes Mal, wenn wir an einem schweren Verkehrsunfall vorbeikommen, vorübergehend unsere Handlungen (unsere Fahrtgeschwindigkeit), um den Erfordernissen des Wertsystems besser zu entsprechen, doch bleibt das Wertsystem unverändert. Wenn andererseits ein zufälliges Ereignis eintritt, das niemals zuvor aufgetreten ist, kann unser Wertsystem auf der Grundlage der wahrgenommenen Resultate eine Modifizierung erfahren. Wenn man zum Beispiel erkannt hat, dass bestimmte Todesfälle auf das Einatmen von Asbestpartikeln zurückzuführen sind (Asbestose), kann das Gesetz über die Arbeitsbedingungen geändert werden; damit ändert sich auch das Verhalten der Arbeiter. Die Resultate anderer, zum ersten Mal auftretender zufälliger Ereignisse mögen uns vielleicht nützlich erscheinen, und wir sind dann dank ihnen in der Lage, Vorteile zu genießen, die uns andernfalls unbekannt geblieben wären. Solche glücklichen Zufälle bilden ein wichtiges Element der Kreativität. Wenn wir Kreativität definieren als das, was Weltbilder zu verändern vermag, müssen wir zwei Arten von Kreativität unterscheiden: Erstens die Kreativität, die die innere Anordnung, nicht aber den Inhalt des Weltbildbereiches ändert; zweitens die Kreativität, die den Inhalt des Bereiches (und vielleicht auch seine innere Anordnung) ändert. Die erste Art wird auch ohne die Ströme (b) und (d) auftreten. Folglich ist sie die einzige Form, die von der Transaktionstheorie anerkannt wird. Ihrer Betonung des »Unternehmers« als Schöpfer folgend, uns aber des Urteils darüber enthaltend, ob er der Hauptintegrator der Kultur ist, können wir diese Art der Kreativität als »unternehmerische Kreativität« bezeichnen. Die zweite Art der Kreativität schließt die Ströme (b) und (d) ein. Zwei Faktoren sind dafür verantwortlich. Erstens die unvollkommene Kontrolle durch den
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Monitor, besonders im offenkundigen Bereich. Dies ist die Art der Kreativität, die den Müll mit einbezieht. Wenn das, was unsichtbar und wertlos war, sichtbar wird und einen Wert erhält, können wir von »Wildniskreativität« sprechen (zum Beispiel die vom »Rufer in der Wüste« verkündeten Innovationen; auch die Vorstellung vom Künstler, der mit den Füßen im Müll steht, und die vom Journalisten, der in der einen Hand eine Feder und in der anderen eine Mistgabel hält). Wir haben gesehen, dass ein zwangsläufiger Begleitumstand dieser Art von Kreativität ihr negativer Aspekt ist – etwas, das früher sichtbar und kein Müll war, wird unsichtbar und, sollte es in irgendeiner Weise stören, zu Müll. Dies ist die Wertzerstörung oder Destruktivität. Um der terminologischen Konsistenz willen wollen wir dies »negative Kreativität« nennen. Der zweite Faktor betrifft »glückliche« Handlungen. Ihre Definition muss weit gefasst werden. Sie umfassen zufällige Ereignisse, irrationale Handlungen und Zufallsexperimente, die für die Kulturträger insgesamt und nicht bloß für die betroffene Person erfreulich sind (denn wir bemühen uns ja um eine soziologische und nicht um eine individualpsychologische Theorie der Kreativität). Stellen wir uns vor: Eine Person isst zum ersten Mal eine bestimmte Pf lanze und findet sie nahrhaft und genießbar; eine andere Person isst zum ersten Mal eine andere Pf lanze und stirbt daran. Beide haben, ungewollt, Taten vollbracht, die ein positives Ergebnis hatten. Natürlich war es für die Person, die die giftige Pf lanze gegessen hat, ein höchst unglücklicher Zufall, doch für die Gemeinschaft als Ganze ist es ein erfreulicher Zufall, da sie jene Pf lanze in Zukunft als giftig kategorisieren und, indem sie bei der Wahl ihrer Nahrungsmittel diese neue Beschränkung berücksichtigt, vermeiden kann, dass die Pf lanze gegessen wird. Dies können wir als »ungewollt positive Kreativität« bezeichnen.
Abbildung 21
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Mit diesen vier Arten der Kreativität (unternehmerische, Wildnis-, negative und ungewollt positive Kreativität) sind die denkbaren kreativen Möglichkeiten genannt, und wir können nun die Bezeichnungen der verschiedenen Ströme eintragen, um eine vollständige Darstellung der möglichen Beziehung zwischen Weltbild und Handeln zu erhalten. An dieser Stelle muss ich innehalten, um zu gestehen, dass ich einem früheren monsterbewahrenden Theoretiker verpf lichtet bin. Dies tue ich eigentlich weder aus purer Höf lichkeit noch um dem Vorwurf des Plagiats zu entgehen, sondern mehr deshalb, weil sich hier eine Gelegenheit bietet aufzuzeigen, welche Tyrannei und Unterdrückung die Entwicklung der monsterausschließenden Soziologie bewirkt hat. Die grundlegende Unterscheidung zwischen dem, was den Inhalt eines Weltbilds und dem, was nur seine innere Ordnung zu verändern vermag, ist der Ausgangspunkt für die von Samuel Johnson vorgetragene Theorie der Kreativität. »Die Aufgabe eines Autors besteht darin, entweder zu lehren, was nicht bekannt ist, oder bekannte Wahrheiten zu empfehlen, indem er ihnen Glanz verleiht; entweder den Geist mit neuem Licht zu erfüllen und neue Aussichten zu eröffnen oder Aufmachung und Situation bekannter Objekte zu variieren, um ihnen neuen Reiz und stärkere Anziehungskraft zu verleihen, um die Blüten in Gebieten zu verbreiten, die der Intellekt bereits durcheilt hat, damit er vielleicht verführt wird zurückzukehren und einen zweiten Blick auf Dinge zu werfen, an denen er hastig vorbeigegangen ist oder die er nur oberflächlich betrachtet hat.« 10 Zwei Jahrhunderte später ist von dieser Unterscheidung nichts mehr zu erkennen. Die Möglichkeit zu lehren, was nicht bekannt ist, wird bestritten, und der einzig anerkannte Bereich der Kreativität ist der, der vom »Unternehmer« der Transaktionstheorie besetzt wird, welcher, indem er neue überwölbende Wertekanons festlegt, ständig seine Beschränktheit neu organisiert, damit sie innerlich konsistenter, systematisierter und integrierter werde. In der Tat muss man fragen, wie es geschehen konnte, dass eine so vortreffliche, mit solcher Klarheit und Überzeugungskraft von einer so bedeutenden Persönlichkeit wie Samuel Johnson vorgetragene Auffassung von Kreativität jemals unterdrückt werden konnte. Diese Untat muss diejenigen, die an den Fortschritt des Wissens glauben, umso mehr schockieren, die sich Wissenschaftler und Gelehrte als Menschen vorstellen, die in ihrer unerschütterlichen Entschlossenheit, der Wahrheit immer näher zu kommen, keinen Stein auf dem andern lassen. Für jene muss der Weg, den die Soziologie eingeschlagen hat, einen bösen Verrat dar10 Johnson, S.: An Allegory on Critism, 27. März 1750, neu veröffentlicht in: The Rambler, Bd. 1, London 1800, S. 14.
7. Erhaltung der Monster
stellen: ein systematisches Kanalisieren der Forschung im Bestreben, das Wissen immer weiter von der Wahrheit wegzuführen; oder den Versuch zu verhindern, dass die Leute jemals erkennen können, wie die Dinge wirklich sind – »le trahison des clercs«. Johnson selbst gibt uns die Antwort. Wissen sollte nicht als eine asymptotische Annäherung an ein Etwas namens Wahrheit, sondern höchstens als eine Begleiterscheinung der Gesellschaft angesehen werden: »Beide Bemühungen [um die zwei Erscheinungsformen der Kreativität] sind mit großen Schwierigkeiten verbunden; denn damit sie nicht fruchtlos sind, müssen die Menschen nicht nur von ihren Irrtümern überzeugt, sondern auch mit ihrem Führer versöhnt werden; sie müssen nicht nur ihr Unwissen einsehen, sondern auch, was noch weniger erfreulich ist, zugeben, dass der, von dem sie lernen sollen, wissender als sie selbst ist.« 11 Aber natürlich hat er nicht wirklich die Antwort gegeben. Sein großes Verdienst besteht vielmehr darin, dass er die richtige Frage gestellt hat: Wie wird Glaubwürdigkeit erzeugt und verbreitet, wie wird sie gewonnen und wie geht sie verloren? Die Katastrophentheorie wird es uns vielleicht – wenn auch spät – möglich machen, der Antwort auf diese Frage näher zu kommen.
11 Johnson, a.a.O.
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8. Die Geometrie der Glaubwürdigkeit
Die Vereinigten Staaten von Amerika sind auf der »offenkundigen« Wahrheit begründet, dass alle Menschen gleich beschaffen seien. Den fünf Millionen Hindus des indischen Subkontinents wird dagegen beigebracht, die Menschen seien zutiefst ungleich. Warum glaubt man im Westen das eine und im Osten das andere? Bevor man hoffen kann, Fragen wie diese zu beantworten, muss man sie erst einmal stellen, aber das ist etwas, wogegen sich westliche Gelehrte hartnäckig sträuben. Der große Indienspezialist Louis Dumont hat sie für diese geistige Faulheit heftig getadelt. In einem scharfen Angriff auf die angelsächsische Anthropologie hat er die Angehörigen dieser Disziplin verächtlich mit jenen trägen Gelehrten eines früheren Zeitalters verglichen, die sich damit zufrieden gaben, ihre Lehnstuhlforschung weiter zu betreiben, obwohl sich die Feldforschung als gültige wissenschaftliche Methode schon längst etabliert hatte: »Man könnte von unseren Kollegen sagen, dass sie sich, je mehr sie die politische Dimension betonen, umso weniger in den Lehnstühlen ihrer Metaphysik rühren und sich umso wohler im Irrtum fühlen, der das neunzehnte Jahrhundert beherrscht hat: Statt das Leben des Menschen in der Gesellschaft zu beschreiben, pf legen sie ihren moralischen und politischen Individualismus.«1 Dumont verglich die Gesellschaften, in denen Macht und Hierarchie unabhängig voneinander variieren, mit Gesellschaften in denen Macht und Hierarchie gekoppelt sind. Die indische Gesellschaft gehört zu den ersteren, die zeitgenössische westliche Gesellschaft zu den letzteren. Die herrschende Ideologie in Indien betont die Gesellschaft und die Ungleichheit der Menschen: Homo Hierarchicus. Die herrschende Ideologie im Westen betont das Individuum und die Gleichheit der Menschen: Homo Aequalis. Dumont argumentiert, dass es der Soziologie, die im Wesentlichen eine Fortschreibung der Ideologie des Homo Aequalis darstelle, nicht gelinge, die Bedeutung der ganz anderen Ideologie des Homo Hierarchicus zu erfassen; sie beharre darauf, die indische Gesellschaft nach westlichem Muster 1 Dumont, L.: Vorwort zur französischen Ausgabe von E. E. Evans-Pritchard: Die Nuer. Übersetzt von Douglas, M. und J., in: Beattie, J. H. und Lienhardt, R. G. (Hg.): Studies in Social Anthropology: Essays in Memory of E.E. Evans-Pritchard, Oxford 1975.
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zu interpretieren, und mache sich folglich eines groben und bedenklichen Soziozentrismus schuldig, der zu Unrecht davon ausgehe, dass die Spannweite der sozialen Erfahrung der Menschen in der westlichen Gesellschaft das Potential der Spezies Mensch voll und ganz ausschöpfe. Die Anklage wird auf Philosophen wie Sartre, Marcuse, Weil und Koyré ausgedehnt, weil sie »eine natürliche Tendenz« hätten, »die soziale Umgebung, in der die philosophische Tradition sich entwickelt hat, mit der Menschheit als Ganze zu identifizieren«.2 Die fraglose Annahme, Macht und Hierarchie gingen immer zusammen, existiert innerhalb der westlichen Gesellschaft aber auch auf weniger gehobenem intellektuellen Niveau. In den dreißiger Jahren zum Beispiel enthielt eine respektlose und mitleidlose Version von The Red Flag folgende Zeilen: »They treat us all like frogs and snails Why can‘t we all be Prince of Wales.« Die erste Zeile, in der erkannt wird, dass »sie« »uns« in einer höchst unerfreulichen Weise unterdrücken, handelt eindeutig von der ungleichen Verteilung der Macht innerhalb der Gesellschaft. In der zweiten Zeile geht es um die ungleiche Verteilung von zeremoniellem oder rituellem Status, das heißt um Hierarchie. Die beiden Zeilen zusammen sind allerdings nur dann bedeutungsvoll und amüsant, wenn sowohl Spötter als auch Verspottete annehmen, dass Macht und Hierarchie immer eng miteinander verbunden sind. In einer Gesellschaft, in der Macht und Hierarchie unabhängig voneinander variieren, sind diese Zeilen jedoch ohne jeden Witz oder Humor. Soziologie, wie immer sie sich entwickelt und bemüht, sich selbst zu ref lektieren, kann sich niemals von diesem Soziozentrismus befreien. Die einzige Möglichkeit, dies zu erreichen, besteht darin, eine andere Soziologie zu entwickeln, nämlich eine Soziologie, die den sozialen Systemen angemessen ist, in denen Macht und Hierarchie unabhängig voneinander variieren – und dann beide einander gegenüberzustellen. Einen solchen Versuch hat Dumont unternommen. Er beginnt mit der Entlarvung des verführerischen Komforts unseres mit Individualität und Gleichheit gepolsterten, Hierarchie und Ungleichheit den Rücken kehrenden metaphysischen Lehnstuhls. Bewusst und in edler Selbstbeschränkung weist er diesen Lehnstuhl zurück und begibt sich an die Entwicklung einer anderen, der indischen Gesellschaft angemessenen Soziologie. Zum Schluss kommt er zur Gegenüberstellung, in der er »zwei offenbar inkommensurable soziale Typen miteinander vergleicht«, wobei er streng auf die Bewahrung ihrer Unterschiede achtet, und die Beziehung »von rechts nach links betrachtet, um Indiens Reaktion auf den Einf luss des Wes2 Dumont, L.: Homo Hierarchicus, London 1970.
8. Die Geometrie der Glaubwürdigkeit
tens zu berücksichtigen, und von links nach rechts, um wieder zum Ausgangspunkt zurückzukehren«3. Doch kehrt er nicht ganz zum Ausgangspunkt zurück. Er bricht auf, indem er den komfortablen Lehnstuhl des Westens verlässt, und er kehrt zurück, um auf dem harten Holzstuhl des Ostens zu sitzen. Das entscheidende Problem, die Synthese der beiden unterschiedlichen Soziologien, lässt er jedoch ungelöst. Im Zusammenhang mit der von rechts nach links betrachteten Beziehung fragt er: »Wer aber kann sagen, ob diese Veränderungen nicht doch insgeheim zerstörend gewirkt haben und ob nicht eines Tages die Kastenordnung wie ein innerlich von Terminen zerfressendes Möbelstück in sich zusammenfallen wird?« Seine rhetorische Frage impliziert die Antwort »niemand«, denn »die Grobheit unserer Begriffe und Untersuchungsmethoden und das Fehlen einer präzisen Vorstellung vom früheren Zustand des Systems«4 schließen die Lösung dieses grundlegenden Problems aus: der Synthese von Ost und West in einer neuen globalen Soziologie. Statt einer einzigen Soziologie haben wir dank Dumont nun zwei. In Kiplingscher Tradition sagt er zum Schluss: Osten sei Osten und Westen sei Westen, und er macht keinerlei Vorschläge, wie eine Annäherung zwischen beiden stattfinden könne. Es mag sein, dass dieses Problem in den Grenzen der indischen Gesellschaft unlösbar ist und bleibt, aber die gleiche Konfrontation existiert heute in einem Bereich, in dem die Begriffe und Untersuchungsmethoden weniger grob sind und in dem der frühere Zustand des Systems genauer bekannt ist: in der Soziologie der Erziehung. Jüngere Arbeiten auf dem Gebiet der Soziologie der Erziehung haben ihre Aufmerksamkeit auf die Grenzen innerhalb der Erziehungssysteme gerichtet. Sie beschäftigen sich in erster Linie mit der Natur der Grenzen zwischen Kategorien; mit ihrer Klarheit oder Verschwommenheit und damit, welche Beziehung die Kategorien zueinander haben oder auch nicht haben; mit ihrer Verbundenheit oder Unverbundenheit. Das im Allgemeinen größere Interesse an den Inhalten der Kategorien – an dem, was da eigentlich gelehrt wird – wird als vordergründige Ablenkung betrachtet und auf den zweiten Platz verwiesen. Homo Hierarchicus und Homo Aequalis unterscheiden sich in Bezug auf solche Grenzen: In dem einen Fall sind sie streng vorgeschrieben, werden deutlich gezogen und respektiert, halten die Rivalität im Zaum und lassen sie nur in bestimmten Bereichen zu. Im anderen Fall sind sie f lexibler, verschwommener und werden oft geschmäht, wird Rivalität gefördert und sorgt für Grenzverschiebungen. Diese Merkmale der beiden von Dumont definierten Gemeinden, der im Osten und der im Westen, lassen sich in den Bildungssystemen erkennen. Während also die Anthropologen herumstehen und sich, was die Beziehung zwischen Ost und West betrifft, verlegen die Köpfe 3 Dumont, a.a.O., S. 282. 4 Dumont, a.a.O., S. 266.
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kratzen und ihren Mangel an Datenmaterial beklagen, hat Basil Bernstein,5 der ausschließlich auf dem Gebiet der Soziologie der Erziehung arbeitet, dieses Problem beinahe gelöst. Mein Ausgangspunkt ist eine der kühnsten Schlussfolgerungen von Bernstein: die Unterscheidung zwischen zwei grundlegenden Curriculum-Typen, dem »Sammelcurriculum« und dem »integrierten Curriculum«, und was noch wichtiger ist, die zyklische Beziehung zwischen ihnen, der »Curriculumkreislauf«. Das Sammelcurriculum ist buchstäblich eine Ansammlung von Fächern. Jedes Fach wird ohne Bezug auf ein anderes Fach gelehrt; es besteht unabhängig und ist in sich abgeschlosssen. Die klare Trennung der Fächer und die Eliminierung von Kriterien, die Vergleich und Rivalität ermöglichen könnten, finden ihren höchsten Ausdruck im Stundenplan, der unanfechtbar die zeitliche Zuständigkeit der einzelnen Fächer festlegt. Der Stundenplan ist die Verkörperung des unbestimmbaren Glaubens an die gottähnliche Einheit des Ganzen; unbestimmbar, weil die Einheit des Ganzen nur aufrechterhalten werden kann, wenn man auf der klaren Trennung der Teile besteht. Dies ist die »Reinheitsregel«, die postuliert, dass die Summe des Wissens in den verschiedenen Fächern enthalten ist und dass die Grenzen, die sie definieren, absolut sind. Im integrierten Curriculum liegt, wie der Begriff schon andeutet, die Betonung nicht auf der Autonomie der verschiedenen Fächer, sondern auf den Verbindungen zwischen ihnen. Hier wird die Reinheitsregel verworfen, und der Stundenplan unterteilt den Tag nicht mehr in Fächer, sondern, f lexibler, in »Themen«. Da ist kein Platz für Unabhängigkeit; der Lehrer muss bereit sein, die Relevanz seines Spezialistentums anderen gegenüber zu vertreten. Er muss seinen Beitrag zu der gemeinsamen Aufgabe leisten, indem er die Schüler in das Thema einführt. Die Parallele zwischen Sammelcurriculum und integriertem Curriculum einerseits und Homo Hierarchicus und Homo Aequalis andererseits ist vielleicht nicht unmittelbar offensichtlich; sie lässt sich am besten anhand der Grenzen innerhalb der Erziehungssysteme verdeutlichen. Die relevanten Grenzen sind die zwischen Lehrer und Schüler und die zwischen den Disziplinen. Letztere werden auf zwei deutlich voneinander unterschiedenen Ebenen gezogen: Da sind einmal die Grenzen zwischen den Praktizierenden (den Physikern, den Vertretern der klassischen Bildung, den Biologen und so weiter), und da sind zum anderen die Grenzen, die um die verschiedenen Gebiete gezogen werden, auf die die Praktizierenden jeweils Anspruch erheben. Dem Homo Hierarchicus entspricht die herrschende Ideologie des Sammelcurriculum. Hier wird die Ungleichheit von Lehrer und Schüler betont. Es wird akzeptiert, dass der Lehrer mehr weiß oder, besser, mehr Wissen besitzt, das er in mehr oder weniger starkem Maße dem Schüler vermittelt, sofern dieser die Un5 Bernstein, B.: Beiträge zu einer Theorie des pädagogischen Prozesses, Frankfurt a. M. 1977.
8. Die Geometrie der Glaubwürdigkeit
gleichheit der Beziehung akzeptiert. Hier werden die Grenzen zwischen den Disziplinen betont. Nur in Institutionen, die auf dem Sammelcurriculum basieren, wird man wahrscheinlich den Toast hören: »Auf die reine Mathematik, möge sie nie irgendjemandem von Nutzen sein.« Die preisgekrönten Tugenden im Sammelcurriculum sind Spezialisierung (immer mehr über immer weniger wissen) und Gelehrsamkeit (das peinlich genaue Abstecken des eigenen Weges durch das Studiengebiet). Im Sammelcurriculum wird die Konkurrenz von der Hierarchie in Schach gehalten, da die Grenzen durch politisch-ökonomische Manöver nicht verändert werden können. Natürlich verändern sich die Grenzen mit der Zusammensetzung der Männer an der Spitze, aber dort herrscht die Überzeugung, dass jede Disziplin ihre Rechtfertigung in sich trägt und nur aus sich selbst heraus beurteilt werden kann. Interdisziplinärer Vergleich ist nicht möglich. Daher kann die Grenze einer Disziplin zum Beispiel nicht durch die Forderungen ihrer vereinten Studenten oder durch interdisziplinäre Störfaktoren verändert werden: Sie ist unverletzbar. Hier geht es nicht um: »Wenn du sie nicht besiegen kannst, schließe dich ihnen an.« Denn es gibt keine Auseinandersetzung. Entweder schließt man sich ihnen zu ihren eigenen Bedingungen an oder man schließt sich überhaupt nicht an. Die Macht wird durch die Hierarchie gezügelt, und die Grenzen bestehen unabhängig von allen Auseinandersetzungen. Dem Homo Aequalis entspricht die herrschende Ideologie des integrierten Curriculums. Die Ungleichheit von Lehrer und Schüler wird verschleiert und ihre Gleichheit wird betont (was in gemischten Lehrer/Studenten-Ausschüssen und in der offensichtlichen Billigung der Forderungen nach Studentenbeteiligung durch die Universitätsverwaltungen zum Ausdruck kommt). Zugleich sind die Grenzen zwischen den Disziplinen verschwommen und transitorisch und werden eher aus administrativer Bequemlichkeit als aus epistemologischen Erfordernissen gezogen. Tatsächlich können die Grenzen zwischen den Disziplinen völlig beseitigt werden, und Kurse können alle möglichen Arten unwahrscheinlicher Kombinationen umfassen; sie sind um Themen statt um Fächer organisiert. Studenten werden dadurch angelockt, dass die Ordnung der Fakultäten nach Fächern durch ein f lexibleres System mit verschwommeneren Bezeichnungen (wie zum Beispiel Verhaltenswissenschaften oder Soziales Denken) ersetzt wird, das in der Forderung einiger desillusionierter Eigenbrötler nach der Einrichtung eines »Lehrstuhl für eigenwillige Studien« gipfeln kann. In einem derartigen System wird Konkurrenz nicht mehr durch die Hierarchie gebändigt. Die Grenzen sind nicht mehr unversehrt. Sie sind alle provisorisch, der Kritik ausgesetzt und der Veränderung unterworfen. Die Beseitigung »willkürlicher« oder »repressiver« Grenzziehungen (zum Beispiel zwischen Lehrpersonal und Studenten oder zwischen Disziplinen) wird gefördert. Die Disziplinen tragen ihre Rechtfertigung nicht mehr in sich selbst und sind nicht mehr
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gegen Kritik von außen immun. Interdisziplinäre Beurteilungen sind möglich und werden vorgenommen. Die preisgekrönte Tugend ist die Fähigkeit, Querverbindungen herzustellen und eigenständig zu denken. Die Disziplinen müssen bereit sein, sich gegenüber anderen zu rechtfertigen. Es geht darum, sich auszubreiten oder unterzugehen – andere zu schlucken oder von anderen geschluckt zu werden, entweder spurlos zu verschwinden oder die Schluckenden in eine »schillernde Metamorphose«6 zu transformieren. Es kommt zu einem fortschreitenden Zusammenbruch der disziplinären Autonomie; die Mitglieder desertieren oder bleiben einer immer kleiner werdenden Gemeinschaft gegenüber loyal. Dieser Rest argumentiert nicht, wie im System Sammelcurriculum, über die Lage der Grenzen, sondern darüber, welche der beste Moment sei sich schlucken zu lassen. Einige, die sich weigern, das Unvermeidliche zu akzeptieren und zum Durchhalten auffordern, setzen sich durch, gewinnen an Stärke und schlucken dann diejenigen, die darauf dringen, sich jetzt schlucken zu lassen. Dies ist die kreative Verdauungsstrategie: Man springt, solange man noch Leben in sich hat, bewusst in die Speiseröhre der herrschenden Disziplin, noch bevor man richtig genießbar ist – in der Hoffnung, dass das dadurch hervorgerufene Sodbrennen in einem nicht einmal von Lamarck erahnten Prozess die Morphologie des Schluckenden verwandeln könne.
Abbildung 22 6 Diese Handlungsweise hat Needham der anthropologischen Disziplin empfohlen. Needham, R.: The Future of Social Anthropology, in: Anniversary Contribution to Anthropology, Leiden 1970.
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Bernstein weist darauf hin, dass diese beiden Curricula kreisförmig miteinander verbunden sind: dass ein fortschreitender Zusammenbruch der Grenzen ein Sammelcurriculum in ein integriertes Curriculum transformiert und dass die fortschreitende Neudefinition der Grenzen eines integrierten Curriculums ein (anderes) Sammelcurriculum hervorbringt. Dieser Curriculum-Kreislauf lässt sich in Form eines Schaubildes darstellen (Abbildung 22). Dies ist ein echter Kreislauf und nicht bloß ein oszillierendes lineares System. Denn der Weg vom Sammelcurriculum zum integrierten Curriculum ist eindeutig anders als der vom integrierten Curriculum zum Sammelcurriculum. Denn erstens führt uns der Kreislauf zwar wieder zum Sammelcurriculum zurück, doch ist dies nicht dasselbe Sammelcurriculum, von dem wir ausgegangen sind. Es hat eine Veränderung seiner Grenzverläufe und Inhalte stattgefunden. Zweitens ist der Zusammenbruch der Grenzen auf dem Weg von Sammelcurriculum zu integriertem Curriculum ein ungestümer und irreversibler Prozess, während die Neudefinition als ein fortschreitendes Auf bauen erscheint. Das Sammelcurriculum kann, wie wir wissen, stabilisiert werden; es ist das Curriculum, mit dem die meisten Menschen gegenwärtig vertraut sind. Das integrierte Curriculum steht im Verdacht, eine instabile, aber wichtige Übergangsform zwischen aufeinanderfolgenden Sammelcurricula zu sein. Es müsste eine angenehme Aufgabe sein, diesen Verdacht untersuchen zu können, also herauszufinden, ob das integrierte Curriculum wirklich eine instabile Zwischenform ist und ob diese Instabilität eine absolute Bedingung ist oder nur innerhalb begrenzter Bedingungen gilt, außerhalb derer das integrierte Curriculum ebenso stabil wäre wie das Sammelcurriculum. Während diese Untersuchung an sich schon reizvoll wäre, gibt es jedoch auch handfeste ökonomische Gründe dafür, eine solche Untersuchung vorzunehmen. Es ist kein Zufall, dass das Sammelcurriculum in der Darstellung des Kreislaufs wie ein kleiner Parthenon aussieht, während das integrierte Curriculum einer bänderförmigen Darstellung ähnelt. Architekten, scheint es, sind einfache Seelen, und man sollte nie das eklatant Offenkundige übersehen, selbst wenn man ihre Arbeit zu verstehen versucht. Butterfield zum Beispiel entwarf Keble College Chapel als eine physische Darstellung der Belohnung für harte Arbeit. Die unsichtbaren Fundamente werden in der frühen Jugend gelegt, und im Laufe der langen, harten Jahre mühseliger Plackerei streben die soliden, aber schlichten und unauffälligen Stützpfeiler in die Höhe, um erst, wenn ihre strukturgebende Aufgabe erfüllt ist, mit ornamentalem Mauerwerk und verzierten Mauerkappen zur Blüte zu gelangen. Erziehungsgebäude sind der materielle Ausdruck der Curricula. Hohe Gebäude stellen das Sammelcurriculum dar, besonders wenn sie unten einfach und breit angelegt sind und oben Verzierungen aufweisen und zusammenstreben. Langgestreckte, f lache Gebäude, amorph im Entwurf, f lexibel, durch verglaste Brücken und Fußgängerstege miteinander verbunden, stellen das
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integrierte Curriculum dar. Doch Gebäude repräsentieren nicht nur bestimmte Curricula, sondern bestimmen sie auch. Sie fungieren als Scheuklappen, indem sie diejenigen, die sie bewohnen, daran hindern zu erkennen, dass die Dinge anders sein könnten, als sie es sind. Die Sammelcurriculum-Architektur betont die Vertikale, die integrierte Curriculum-Architektur betont die Horizontale. Das vollkommenste und gelungenste Beispiel für erstere ist die Radclif fe Camera in Oxford: ein rundgebauter Parthenon, der in allen Richtungen eine perfekte Fassade aufweist. Kein vernachlässigter Lieferanten-Eingang stört hier, durch den der verachtenswerte, grenzüberschreitende Eindringling von geringem Status sich unbemerkt einschleichen könnte. Ein schönes Beispiel für letztere ist die – noch nicht verwirklichte – Linear University:7 eine weit auseinander gezogene Anlage, in ihrem Entwurf auf eine einzige Dimension beschränkt, ohne festes Zentrum oder eindeutigen Abschluss. Neue Einheiten können angefügt, veraltete Einheiten abgerissen werden, das Ganze ist einfach die Summe seiner Teile, die von den Gezeiten des Bildungslebens mal hierhin und mal dorthin getragen werden, sein Zentrum nichts anderes als der f lüchtige Mittelpunkt zwischen seinen sich ständig verschiebenden offenen Enden. Angenommen, einer, der an Grenzen festhält, könnte sich zur Linear University Zugang verschaffen, und einer, der Grenzen zerstört, zur Radclif fe Camera, so würden beide sich an diesen Orten gleichermaßen unwohl fühlen. Wenn es folglich zu einem schnellen Wandel der ideologischen Einstellung unter den Bewohnern kommt, ist nur zu erwarten, dass ihre Unzufriedenheit mit dem bestehenden Curriculum und ihre Anstrengungen, dies zu ändern, sich in der Sprache der Bau- und Abbruchindustrie äußern werden. Einerseits sehen wir uns genötigt, überragende Zentren zu bauen (und das bereits Bestehende zu konservieren): zu akzeptieren, dass mehr schlechter ist. Andererseits werden wir aufgefordert einzusehen, dass viktorianische und edwardianische Schulen (viele von erstaunlicher Eigenwilligkeit und handwerklicher Kunstfertigkeit) dem Erdboden gleichgemacht werden müssen, weil sich die Toiletten außerhalb befinden und es nicht genug davon gibt. Die Tatsache, dass die Schule und die Toiletten in einem Kuppelbau zu einem Bruchteil der Kosten für dessen Abbruch und die Errichtung eines neuen Flachbaus untergebracht werden könnten, macht deutlich, dass nicht das Gebäude, sondern das Curriculum veraltet ist. Es spricht vieles für den Einwand des verzweifelten Architekten, dass es leichter (und billiger) sei, die Erziehungspolitik den bestehenden Gebäuden anzupassen als diese jener; aber für ihn Partei zu ergreifen, hieße zuzugeben, dass man versagt hat, und damit zynisch 7 Das Produkt der Archigram-Gruppe. Eine fast-lineare Universität existiert in Vancouver; sie hat allerdings noch ein identifizierbares Zentrum (das der geeignete Platz für eine Besetzung durch Studierende war, was dank der linearen Anordnung die Institution völlig paralysierte). Vergleichbare Beispiele in Deutschland finden sich in Bielefeld und Bochum [M.F.].
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und fälschlicherweise anzunehmen, dass sich Erziehungspolitik und ihre Realisierung niemals decken können. Gebäude für Bildungszwecke stellen eine massive Kapitalinvestition dar. Ihre erwartete Lebensdauer (in neuem Zustand) ist beträchtlich, und wenn sie gebaut sind, weisen sie eine starke Tendenz auf zu bleiben, wo sie und wie sie sind. Die Trennung der Erziehungspolitik von ihrer Realisierung ist das direkte Resultat des Beharrungsvermögens von Kapital, das durch die unvorhergesehenen Veränderungen der erwarteten Lebensdauer von Investitionen sowohl in Gebäude und Ausrüstung als auch in die Rekrutierung und Ausbildung des Personals bewirkt wird. Gegenwärtig sind diese Veränderungen der erwarteten Lebensdauer unvorhersehbar; doch wenn wir einen systematischen Rahmen entwickeln können, der die genaue Vorhersage von Veränderungen der erwarteten Lebensdauer erlaubt, ist das Problem gelöst, und das Zusammentreffen von Politik und Umsetzung wird aus dem Wohnwagen des Wahrsagers (wo es derzeit sein sollte, aber nicht ist) auf den Schreibtisch der Verwaltung (wo es derzeit ist, aber nicht sein sollte) übertragen. Unter bestimmten Umständen sind es die Veränderungen im Curriculum, die ein Gebäude unmodern werden lassen und damit die ihm gewährte Zeitspanne verkürzen, während unter anderen Umständen ein längst veraltetes Gebäude gerade dann abgerissen wird, wenn das Curriculum, nachdem es einen vollen Kreis durchlaufen hat, ihm ein neues Leben gewähren könnte. Daraus folgt, dass das Vorhersagesystem, nach dem wir Ausschau halten, eines sein muss, das die Veränderungen im Curriculum bestimmen lässt. Was wir brauchen, ist nichts weniger als ein Modell, das in der Lage ist, den Curriculum-Möglichkeiten der Erziehungssysteme in vollem Umfang Rechnung zu tragen. Ich möchte mich auf Grenzveränderungen konzentrieren, und zu diesem Zweck wird es angemessen sein, eine imaginäre, doch ziemlich konventionelle, höhere Bildungsanstalt zu nehmen. Zwei Arten von Grenzveränderungen können unterschieden werden: erstens Grenzveränderungen, die zwar die Form des Sammelcurriculums ändern, aber keine integrierte Zwischenstufe einschließen; zweitens Grenzveränderungen, die die integrierte Zwischenstufe umfassen. Erstere könnten wir als »evolutionäre Grenzveränderungen« bezeichnen, letztere als »revolutionäre Grenzveränderungen«. Im Allgemeinen, aber nicht immer, sind die Grenzen eines Faches nicht so scharf gezogen und werden nicht so rücksichtslos eingehalten, dass keine Grenzaktivitäten oder Gewichtsverlagerungen mehr möglich wären, und diese allmählichen Veränderungen können allmähliche Veränderungen in der Position der Grenze bewirken. Manchmal aber verursachen genau diese Veränderungen infolge der Grenzaktivitäten den plötzlichen totalen Zusammenbruch des Sammelcurriculums und seinen Ersatz durch das integrierte Curriculum. Wenn es gelingt, ein methologisches System zu ersinnen, das sowohl die Beschreibung als auch die Vorhersage dieser beiden Arten von Veränderung erlaubt, dann wird dieses grundlegende Problem der Soziologie lösbar.
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Die Ideologie des Sammelsystems legt die Betonung auf Reinheit und Getrenntheit, wobei sie gleichzeitig auf der verschwommenen Vorstellung von der Einheit aller Teile, das heißt von der Einheit des Wissens, beharrt. Folglich sind die Grenzen einer jeden Disziplin/Fakultät scharf von innen heraus definiert, und es existiert die Überzeugung, dass Wissen privater Besitz und das Verhalten dieser Überzeugung angemessen sei. Wenn wir die dem britischen Erziehungssystem angemessene Metapher aus dem Gartenbau 8 übernehmen, können wir sagen, dass das Land mit akademischen Besitzungen übersät ist, deren jede von einer gut instand gehaltenen Umzäunung umgeben ist, denn nach englischem Gesetz ist es die Aufgabe des Landbesitzers, sich vor dem herumstreunenden Vieh seiner Nachbarn zu schützen. Manche dieser Besitzungen mögen einen gemeinsamen Grenzzaun haben, doch besteht kein Grund zu der Annahme, dass alles Land von Zäunen umschlossen sei. Das mit Steinen oder stachligen Sträuchern bedeckte Land, das für niemanden einen Wert hat, wird nicht beachtet. Es mag manchmal zu Überlappungen kommen, aber dann sind diese immer klar und eindeutig spezifiziert. Man kann vielleicht das gegenseitige Recht haben, das Stoppelfeld des anderen abzuweiden. Dementsprechend könnten sowohl ein Sozialpsychologe als auch ein Linguist, ein Ernährungswissenschaftler und ein Sozialanthropologe theoretisch gleichzeitig denselben Stamm untersuchen, ohne sich dabei in die Haare zu geraten. Gewöhnlich definieren die Mitglieder einer Disziplin diese jeweils unter Berufung auf die entsprechende Ideologie: die legitimierenden Vorfahren zum
8 Bernstein hat im Spaß behauptet, die geeignete Metapher für das britische System sei der Gartenbau, während das amerikanische System ejakulatorischen Charakter habe. Der erfolgreiche britische Forscher kann sich demnach entfalten oder sogar blühen, und vielleicht trägt sein zartes Pflänzchen schließlich Früchte. Sein amerikanischer Kollege indessen schafft sich was »ran, hält sich an harte Fakten, und schon kommt es ihm mächtig. Ein von seinem Beruf desillusionierter amerikanischer Psychologe beschreibt seine Kollegen als »potente, aber unfruchtbare Wüstlinge, die scharenweise vergewaltigte Jungfrauen, aber keinen lebensfähigen Nachwuchs hinterlassen.« So Meehl, P.: Theory testing in psychology and physics: a methodological paradox, in: Journal of the Philosophy of Science, Juni 1968. Ein Engländer in einer ziemlich ähnlichen Situation formuliert es folgendermaßen: «Meanwhile the mind, from pleasure less, / Withdraws into its happiness. / Annihilating all that’s made / To a green thought in a green slade.” Aus: Marvell, A.: The Garden, o. O. o. J. Die Gartenbaumetapher stand im (elitären) französischen Erziehungssystem offensichtlich in großer Blüte: »Die Augen, die sich so spontan entwickeln, sind immer die der Endsprossen, das heißt: diejenigen, die von der Mitte des Familienstammes am weitesten entfernt sind. Nur das Beschneiden oder Umbiegen der Zweige zwingt den Saft, indem es ihn zurückstaut, die dem Stamme näheren Keime, die sonst unterentwickelt geblieben wären, zu beleben. Und auf solche Weise erhält man Früchte von selbst den widerspenstigsten Sorten, die, hätte man sie nach Belieben treiben lassen, bestimmt nur Blätter hervorgebracht hätten. Oh, welch gute Schule ist so ein Fruchtgarten, eine Obstwiese! Und welch trefflichen Pädagogen gäbe so mancher Gärtner ab!« Gides, A.: Die Falschmünzer, Stuttgart 1964, S. 136.
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Beispiel und die Grenzen, die diese Disziplin umschließen und sie von anderen Disziplinen unterscheiden. Es kann, besonders in Zeiten schneller Grenzveränderungen, aber auch der Fall sein, dass sie sich stattdessen auf den entsprechenden Handlungsrahmen beziehen, bei der Definition von Mathematik zum Beispiel also auf das, was Mathematiker tun. Um zu verstehen, wie Grenzen sich verändern, müssen wir unseren Blick auf das soziale Handeln richten. Wir ändern die Grenze einer Disziplin nicht, indem wir unsere Meinung ändern. Vielmehr müssen wir auf der Grundlage unserer neuen Überzeugungen handeln. Die leichteste Art, eine Grenze zu verändern, ist, die Umzäunung ein kleines bisschen so zu verschieben, dass sie ein Stück Brachland umfasst. Dieser Vorgang weist drei Phasen auf. 1. Der Handelnde muss seine Ideologie so weit in Frage stellen, dass er selbst in der Lage ist, das unkultivierte Land als potentiell fruchtbar zu erkennen. Das heißt, er muss seine Meinung ändern. 2. Er muss hinausgehen und sein Stück Brachland kultivieren. Das bedeutet, dass er versuchen muss, Mittel und Unterstützung zu erhalten: Keine leichte Sache, wenn die übrigen Mitglieder der Disziplin daran interessiert sind, die Parzelle, die er kultivieren möchte, auszuschließen. Es entsteht eine interessante Drinnen-Draußen-Situation. Der kreative Innovator draußen hält seine Parzelle für fruchtbares Land, das kultiviert werden sollte. Die drinnen sehen darin ein gegen sie gerichtetes Komplott. 3. Nachdem er seine Parzelle kultiviert hat, muss er seine Kollegen davon überzeugen, dass es sich um wertvolles Land handelt, das in die Umzäunung mit einbezogen werden sollte. Seine Kollegen werden dies gewöhnlich tun, indem sie erklären, dass es sich im Grunde genommen schon immer innerhalb des Zauns befunden und nur brachgelegen habe. Wenn alle diese Bedingungen erfüllt worden sind, hat sich die Grenze verlagert und Ideologie und Handeln stimmen wieder überein. Wenn es viele Kultivatoren außerhalb der Besitzungen gibt, wird es zu Verwirrungen und Streitigkeiten hinsichtlich der genauen Position der Umzäunungen kommen und, schlimmer noch, Individuen verschiedener Besitzungen können möglicherweise feststellen, dass sie dieselben oder benachbarte Parzellen Brachland kultivieren und untereinander eine stärkere Affinität als zu ihren Elterndisziplinen empfinden. Wenn sich diese Außenseiter dann aufgrund ihrer gemeinsamen Bestrebungen und ihrer gemeinsamen Opposition gegen ihre Eltern vereinigen, geraten die Eltern in einen erbitterten Streit um die Eigentumsrechte an der nun wertvollen Parzelle, die ihre widerspenstigen Kinder gemeinsam kultiviert haben. Die Ideologie einer Disziplin beschränkt somit in starkem Maße die Handlungen ihrer Mitglieder, doch können die illegitimen Handlungen, die sie nicht ver-
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hindert oder verhindern kann, ihrerseits die Ideologie verändern. Auf diese Weise kann ein Sammelsystem sich allmählich transformieren, ohne dies zu realisieren. Es kann aber auch unter genau den gleichen Bedingungen plötzlich zusammenbrechen und in ein integriertes System übergehen. Warum? Ich habe bereits f lüchtig auf den Mechanismus hingewiesen, der beinahe unvermeidlich zu dieser Art von Zusammenbruch zu führen scheint: der Fall der beiden Co-Kultivatoren, die durch die gleichen Kräfte, die ihre Elterndisziplinen in Konf likt zueinander bringen, immer stärker vereint werden. In einer solchen Situation werden die einem integrierten System angemessenen horizontalen Verbindungen gestärkt, während die Trennung (die für das Überleben des Sammelsystems so wesentliche Katze-und-Hund-Nichtbeziehung zwischen den Disziplinen) in Frage gestellt wird. Vernünftigerweise ist zu erwarten, dass ein Sammelsystem zu jedem Zeitpunkt nur mit einer begrenzten Anzahl solcher Situationen fertig werden kann und dass es ein kritisches Niveau gibt, bei dessen Überschreitung der ganze Parthenon zusammenfallen wird. Dieser kritische Punkt könnte in dem Moment erreicht sein, in dem die Geschwindigkeit, mit der Grenzen errichtet und verstärkt werden, der Geschwindigkeit entspricht, mit der sie beseitigt und verwischt werden. Wenn wir uns die Lokalisierung von Forschungsprojekten ansehen, stellen wir fest, dass manche Parzellen sich eindeutig innerhalb der Umzäunung der Disziplin befinden, andere außerhalb. Diejenigen innerhalb des Zauns können nicht dazu beitragen, dass dieser niedergerissen wird, doch diejenigen außerhalb schon. Wir können also sagen, dass die Definition der Grenze eine Funktion zweier Variablen ist: der Anzahl der Forschungsprojekte, die mit Billigung der SammelIdeologie durchgeführt werden, und der Anzahl der Projekte, die der SammelIdeologie zum Trotz durchgeführt werden. Man stelle sich nun eine Situation vor, in der die Anzahl der von der Ideologie gebilligten Projekte abnimmt, während die Anzahl der von der Ideologie nicht gebilligten Projekte zunimmt. Das letzte, was wir erwarten können, ist allmählicher Wandel, die anhaltende Stabilität des Sammelsystems. Früher oder später muss irgendetwas weichen. Es ist die Art von Situation, die in den Autobiographien gewisser, am Nietzscheanischen Übermenschen orientierter Bergsteiger vorkommt. In den Beschreibungen ihrer Versuche, irgendeine schreckliche Nordwand zu bezwingen, steigen sie höher und höher, die Felswand wird steiler und steiler, das Klettern wird schwieriger und schwieriger, die Kletterer werden müder und müder, hungriger und hungriger, durstiger und durstiger. Zum Schluss kommt der Augenblick der Wahrheit. »Weiterzugehen war unmöglich, umzukehren undenkbar.« Stabilität ist das am wenigsten wahrscheinliche Ergebnis. Sie stürzen ab.9 9 Diese Analogie verdanke ich dem verstorbenen Dr. Tom Patey. Damit der Leser sich nicht den Kopf darüber zerbrechen muss, wie der Bergsteiger seine Autobiographie schreiben kann, nach-
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Wir haben es mit einem System zu tun, das in seiner verallgemeinerten Form vielen Phänomenen zugrunde liegt, besonders jenen, die sich auf die Sozialwissenschaften beziehen. Ich habe darauf hingewiesen, dass, wenn sich zwei Variablen ändern, die dritte Variable, die Grenzerhaltung, sich ebenfalls ändert. Manchmal verändert sie sich ganz allmählich und bewirkt einen evolutionären Wandel innerhalb eines Sammelsystems. Manchmal verändert sie sich sprunghaft und bewirkt einen revolutionären Wandel, der zur Folge hat, dass das Sammelsystem zusammenbricht und durch ein (vorübergehendes?) integriertes System ersetzt wird. Wie können wir mit derartigen Phänomenen fertigwerden? Wenn Dinge sich allmählich ändern, können sie sich nicht plötzlich ändern, und wenn Dinge sich plötzlich ändern, können sie sich nicht allmählich ändern. Da wir eine Darstellung des Wechsels von einer Form der Veränderung zur anderen benötigen, können wir dieses Paradox nicht umgehen, indem wir zwei getrennte Darstellungen liefern, eine in der Sprache einer allmählichen Veränderung, die andere in der Sprache einer plötzlichen Veränderung. An dieser Stelle kommt die Katastrophentheorie ins Spiel. Statt zu Sprachen Zuf lucht zu nehmen, die zueinander im Widerspruch stehen, zeichnet sie uns ein einfaches und zugleich verallgemeinertes und überzeugendes Bild dessen, was vor sich geht. Die »Bildentwurfsabteilung« der Mathematik wird als Topologie bezeichnet, und die Katastrophentheorie leitet sich von einem zuerst von René Thom formulierten Theorem der Topologie ab: Seine Katastrophentheorie kann mit plötzlichen und diskontinuierlichen Veränderungen ebenso gut fertig werden wie mit allmählichen und kontinuierlichen Veränderungen. Die dem Curriculum-Kreislauf angemessene topologische Darstellung kann in Form einer dreidimensionalen Abbildung erfolgen. Sie zeigt die Beziehung zwischen dem Grad der Grenzerhaltung, den die Grenzen erhaltenden Kräften und den die Grenzen unterhöhlenden Kräften und stellt die ganze Skala an Curriculum-Möglichkeiten dar, von denen der von Bernstein vorgeschlagene Curriculum-Kreislauf sich als eine spezifische Abfolge von Möglichkeiten erweisen wird. Diese Variablen lassen sich, wie in Abbildung 23 gezeigt, in folgenden dynamischen Parametern ausdrücken: x-Achse: Menge der von der Sammelideologie gebilligten Forschungsprojekte. y-Achse: Menge der von der Sammelideologie nicht gebilligten Forschungsprojekte. Diese entspricht in etwa der Menge der von der integrierten Ideologie gebilligten Projekte, und somit veranschaulichen die x- und die y-Achse zusammen den partiellen Widerspruch zwischen diesen beiden Ideologien. dem er abgestürzt ist, sollte ich erklärend hinzufügen, dass dank der modernen Sicherungstechniken nur ein ganz geringer Teil der Abstürze beim Bergsteigen tödlich verläuft.
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Rate der von der Sammelidelogie nicht gebilligten Projekte Abbildung 23
z-Achse: Index der Grenzerhaltung. In einem Sammelsystem würde sich dieser aus der Gesamtzahl der nach ihrer Dichte, das heißt ihrer Eindeutigkeit oder Verschwommenheit, ihrer Durchlässigkeit oder Undurchlässigkeit gewichteten Grenzen im System ergeben. In einem integrierten System müssten alle derartigen Grenzen verschwinden, um durch eine einzige, das Eingeschlossene von dem Ausgeschlossenen trennende Grenze ersetzt zu werden: eine Grenze, die sich nicht aus der Reinheits-, sondern aus der Relevanz-Regel ergibt. Zu jedem beliebigen Zeitpunkt kann die Forschungssituation durch x und y als ein Punkt auf der Grundf läche des Würfels dargestellt werden. Eine sich ändernde Forschungssituation kann als eine Abfolge solcher Punkte beschrieben werden, die eine zweidimensionale Abbildung mit einem Pfeil ergeben, der die Richtung der Veränderung anzeigt. Diese x/y-Ebene (die Grundf läche des Würfels) fungiert als »Kontrollraum«. Sie wird so genannt, nicht, weil wir sie kontrollieren, sondern weil Veränderungen der Werte x und y zu Veränderungen der Wirksamkeit der Grenze führen. Veränderungen von x und y bestimmen somit das »Verhalten« von z. Aus diesem Grund wird die z-Achse als »Verhaltensdimension« bezeichnet. Die z-Achse repräsentiert also nicht menschliches Verhalten, sondern vielmehr das Verhalten eines Systems, dessen wesentlicher Bestandteil Menschen sind. Das menschliche Verhalten liefert den Mechanismus, der sicherstellt, dass Veränderungen im Kontrollraum zu Veränderungen entlang der Verhaltensdimension führen. Dieser Mechanismus ist nichts anderes als das monsterbewahrende Modell der Beziehung zwischen Weltbild und Handeln, und die entscheidende Komponente in diesem Modell ist das intelligente Individuum, das im Lichte der wahrgenommenen Resultate seiner Handlungen eine ständige Neubeurteilung seiner Werte vornimmt und sich dann auf der Basis dieser modifizierten Wer-
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te zwischen seinen zukünftigen Wahlmöglichkeiten entscheidet. Zu Veränderungen in der Beschaffenheit der Grenze insgesamt kommt es deshalb, weil die meisten Individuen in dem Modell die meiste Zeit danach streben, ihre Werte so zu modifizieren, dass die Diskrepanz zwischen den erwarteten (oder erhofften) Resultaten ihrer Handlungen und den tatsächlichen Resultaten, die sie erkennen, minimiert wird. Diese Art Mechanismus wird als »die Dynamik« bezeichnet; wir können eine dreidimensionale Abbildung konstruieren, die die vollständige Beziehung zwischen den drei Variablen x, y und z darstellt, indem wir berücksichtigen, wie sich z wahrscheinlich verändern wird, wenn sich die Situation in Form von x und y allmählich und auf verschiedene Weise ändert. Nehmen wir eine beliebige Ausgangssituation in diesem Kontrollraum, so wird dank der Dynamik ein bestimmter, höchst wahrscheinlicher Grad an Grenzerhaltung damit verbunden sein. Was passiert mit dieser »Wahrscheinlichkeitsverteilung«, wenn die Werte von x und y variieren? (1) Weder x noch y nehmen zu: Dies ist die Situation, in der keine Veränderung hinsichtlich der relativen Stärke der die Grenzen erhaltenden und unterhöhlenden Kräfte eintritt; das wahrscheinlichste Ergebnis wird daher sein, dass es zu keiner Veränderung in Bezug auf den Grad der Grenzerhaltung kommt.
Abbildung 24
(2) x nimmt zu, y bleibt konstant: Wenn es immer mehr Forschungsprojekte innerhalb der Umzäunung gibt, die Zahl der außerhalb der Umzäunung liegenden aber konstant bleibt, dann ist das wahrscheinlichste Ergebnis, dass der Grad der Grenzerhaltung zunehmen wird. Dies ist die Art von Situation, die man erwarten würde, wenn Bernsteins instabiles integriertes System einem neuen Sammelsystem Platz machte. Es kommt zu einer Verhärtung der Grenzen und zu einer Neuetablierung der Hierarchie.
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(3) y nimmt zu, x bleibt konstant: Wenn es immer mehr Forschungsprojekte außerhalb der Umzäunung gibt, die Zahl der innerhalb der Umzäunung liegenden jedoch konstant bleibt, dann geraten die Grenzen zwangsläufig zunehmend unter Beschuss, und das wahrscheinlichste Ergebnis wird eine Abnahme der Grenzerhaltung sein. Dies ist die Art von Situation, die man erwarten würde, wenn Bernsteins Sammelsystem sich in Richtung seines Zusammenbruchs und seiner Ablösung durch ein integriertes System hinbewegte.
Abbildung 26
(4) Sowohl x als auch y nehmen zu: Wenn nur x zunähme, würden wir erwarten, dass sich z erhöht. Wenn nur y zunähme, würden wir erwarten, dass z fällt. Wenn beide zunehmen, werden die auf die Grenze einwirkenden entgegengesetzten Kräfte zunehmend verstärkt, und die Wahrscheinlichkeit, dass sie im Gleichgewicht bleiben (was anfänglich ziemlich wahrscheinlich ist), wird entsprechend abnehmen. (Schließlich entspricht die Situation, in der sie im Gleichgewicht bleiben und in der das wahrscheinlichste Ergebnis überhaupt keine Veränderung ist, derjenigen, in der weder x noch y zunehmen.)
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Abbildung 27
In dem Maße, wie x und y zunehmen, nimmt also auch die Wahrscheinlichkeit zu, dass die Situation zur einen oder zur anderen Seite ausschlägt (und entsprechend die Stärke dieses Ausschlagens), und die Wahrscheinlichkeit ab, dass nichts geschieht. Dies ist die Art von Situation, die innerhalb eines leidlich toleranten Sammelsystems existieren würde, das plötzlich einem exponentiellen Zuwachs an Wissen, Forschungsprojekten, Personal und Abteilungen ausgesetzt wäre: eine grobe Charakterisierung der allgemeinen Erziehungssituation also, auf die sich Bernsteins Analyse bezieht und aus der diese hervorgegangen ist. Nun könnte der Eindruck entstehen, dass alle diese Achsen und Wahrscheinlichkeitsverteilungen nur eine lächerlich komplizierte Art der Darstellung des Offensichtlichen sind und dass die Bemühung, sie zu erläutern und zu verstehen, nicht dadurch belohnt würde, dass die Phänomene nun besser zu begreifen wären. Doch der äußere Anschein kann täuschen: Denn Thoms Theorie führt zum erstaunlichen Ergebnis, dass die Grenzerhaltungsgrade mit der größten und mit der geringsten Wahrscheinlichkeit (das heißt die Maxima und Minima) für alle möglichen Situationen im Kontrollraum innerhalb einer einzigen glatten Fläche liegen, welche aufgrund der zweigipf ligen Wahrscheinlichkeitsverteilung einen merkwürdig überhängenden, »Scheitelkatastrophe« genannten Bereich enthält. Das sieht etwa wie in Abbildung 28 dargestellt aus. Die Aufgabe besteht nun darin zu untersuchen, ob Bernsteins CurriculumKreislauf in dieses Schaubild eingefügt werden kann, und weiterhin, sollte dies der Fall sein, das, was in einer solchen geometrischen Darstellung enthalten ist, in überzeugende soziale Begriffe zu übersetzen. Diese Übersetzung muss auf zwei Ebenen erfolgen. Erstens sollte sie eine nüchterne, von einem außenstehenden Beobachter gegebene Beschreibung dessen sein, was vor sich geht. Zweitens sollte sie eine Insider-Beschreibung dessen liefern, was es heißt, in all das verstrickt zu sein. Die (vom Ursprung gesehen) extreme linke und extreme rechte Kante des Schaubildes (die die Scheitelkatastrophe enthaltende, gekrümmte Fläche) stellen recht gut dar, was man die totalitären Bedingungen des Systems nennen könnte.
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Abbildung 28: Die Möglichkeiten des Curriculums
Alle Forschungsprojekte entlang der rechten Kante liegen innerhalb der bestehenden Umzäunungen; in dem Maße, wie die Anzahl der Projekte zunimmt, kommt es zu einer Verstärkung der Zäune; der Index der Grenzerhaltung wächst. Dies verkörpert die extreme Form des Sammelsystems, dessen einzig haltbare und geduldete Ideologie die des Homo Hierarchicus ist. Tatsächlich ist die im Wege dieser Ideologie ausgeübte Kontrolle so total, dass nicht ein einziges Forschungsprojekt außerhalb der anerkannten Grenzen zugelassen wird. Dem hohen Grad an Ordnung, Klarheit und Vorhersagbarkeit eines solchen Zustandes stehen seine völlige Unfähigkeit, sich veränderten äußeren Umständen anpassen zu können, und der zwangsläufig daraus folgende, verfeinerte und sterile Scholastizismus gegenüber. Alle Projekte entlang der linken Kante entsprechen dagegen der dem integrierten Curriculum angemessenen Ideologie, der des Homo Aequalis. Wenn also hier die Menge der Projekte zunimmt, dann nimmt der Index der Grenzerhaltung eben nicht zu, denn es werden keine Projekte zugelassen, die eine solche Zunahme verursachen würden, das heißt Projekte, die von der Relevanz-Regel abweichen und heimlich die Konturen eines Sammelcurriculums annehmen
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könnten. Wieder ist die durch die Ideologie ausgeübte Kontrolle so total, dass jedes abweichlerische oder revisionistische Projekt im Keime erstickt wird. Das Überleben eines solchen extremen Zustandes ist, wenn er sich erst einmal etabliert hat, problematisch, denn es scheint so, als würde er eine auf ewig geltende Definition von Relevanz voraussetzen. Begeben wir uns von diesen extremen Zuständen ein wenig nach innen, so gelangen wir zu den beiden punktierten Linien innerhalb der Fläche. Diese Linien verkörpern den kleinen Anteil der Projekte, die, obgleich sie sich nicht in Übereinstimmung mit der herrschenden Ideologie befinden, dennoch zugelassen oder zumindest nicht wirklich bekämpft werden. Ein derartiger Zustand kann im Gleichgewicht gehalten werden, wenn die Geschwindigkeit, mit der diese divergierenden Projekte der Ideologie einverleibt werden, der Geschwindigkeit entspricht, mit der sie auftreten. Dies mag im Falle des Sammelcurriculums durch eine allmähliche Verlagerung der Position der relevanten Umzäunung geschehen und im Falle des integrierten Curriculum durch eine Änderung der Kriterien für die Definition von Relevanz. Auf diese Weise behält die herrschende Ideologie in hohem Maße ihren Einf luss, gleichzeitig aber erfährt sie als Folge des Drucks, den sie nicht kontrolliert oder kontrollieren kann, eine Veränderung. Eine solche ausgeglichene und stabile Situation mag zwar vorkommen, ist aber keineswegs besonders günstig; und viel wahrscheinlicher ist, dass Veränderungen hinsichtlich der Lokalisierung von Forschungsprojekten entweder eine Stärkung oder eine Schwächung der herrschenden Ideologie zur Folge haben werden. Das heißt, die Situation wird beginnen, sich auf das eine oder das andere der Extreme zuzubewegen, und sich dabei vielleicht dem Scheitel nähern oder ihn sogar passieren. Als Beispiel für eine solche Entwicklung wollen wir Bernsteins CurriculumKreislauf nehmen (siehe Abbildung 29). Wir können davon ausgehen, dass zu Beginn der Entstehung eines Sammelsystems die meisten Forschungsprojekte von der Ideologie gebilligt werden. Anders ausgedrückt, sie verleihen der Ideologie Substanz. Mit dem Voranschreiten auf diesem Kreislauf macht sich ein entscheidender Unterschied zwischen den beiden Variablen x und y bemerkbar. In einem Sammelsystem ist der Bereich innerhalb der Umzäunung einer Disziplin zu jedem Zeitpunkt begrenzt, während der Bereich außerhalb unbegrenzt ist. Unter Bedingungen langfristigen Wachstums heißt stillstehen untergehen. Jede Abteilung muss danach trachten, sich mindestens so schnell auszudehnen wie die anderen. Folglich werden immer mehr Forschungsprojekte in Angriff genommen, alle oder fast alle innerhalb der Umzäunung, die dank eben dieser Projekte immer schärfer hervortritt. Im Kontrollraum liegt die Anfangssituation außerhalb des Scheitels und etwas rechts von der extremen rechten Seite (Punkt A in Abbildung 29). In dem Maße, wie die Grenzen infolge der gestiegenen Zahl an Forschungsprojekten immer klarer hervortreten, bewegt sich die Situation auf die extreme rechte Seite zu und erreicht diese vielleicht sogar (Punkt B im Schaubild).
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Abbildung 29: Der Curriculum-Zyklus
Der Druck auf das verfügbare Land innerhalb der Umzäunung nimmt nun explosionsartig zu, da es immer mehr Forscher gibt, und jedes erfolgreiche Forschungsprojekt seine Parzelle erschöpft zurücklässt. Gleichzeitig ist das Land außerhalb der Umzäunung überhaupt keinem Druck ausgesetzt, da dieses Gebiet unbegrenzt ist. Die Forschung innerhalb der Zäune wird zunehmend beengt und unbefriedigend. Jungfräuliche Parzellen (um die Metaphern zu verbinden) sind äußerst knapp, und diejenigen, die sich selbst anbieten, sind meistens »alte Jungfern«. Somit deutet alles auf die Parzellen außerhalb der Umzäunungen. Die Anzahl der Forschungsprojekte muss in jeder Abteilung zunehmen, schon allein um mit den anderen Schritt halten zu können. Fast zwangsläufig lassen die Kontrollen nach, so dass der Zuwachs der Forschungsprojekte überwiegend außerhalb der Umzäunungen erfolgt. In den frühen Phasen dieses Prozesses werden die auf dem außerhalb gelegenen Gelände Forschenden hinsichtlich der Lage ihrer Parzellen sehr verschämt und kleinlaut sein und sich ängstlich bemühen, sie so schnell wie möglich innerhalb der Umzäunung anzusiedeln. Ihre Vorgesetzten und konformistischeren Kollegen, die drinnen geblieben sind, werden, wahrscheinlich mehr aus dem Wunsch, einen anomalen Zustand den Regeln zu unter-
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werfen, als aus Sympathie, darauf erpicht sein, entsprechende Verschiebungen in der Position der Umzäunung zu erleichtern. Mit anderen Worten, sie alle heißen noch die Sammelideologie gut. Trotzdem können sie die Flut nicht auf halten, und ihre Disziplin wird mit jedem eigennützigen Schritt, den sie machen, immer weniger diszipliniert. Im Kontrollraum hat sich die Situation von der rechten Seite entfernt und steuert mit immer weiter zunehmender Menge der Forschungsprojekte auf den Scheitelpunkt C zu. Die komplexen Kräfte, die die Situation von A nach B nach C und weiter vorwärtstreiben, sind in toto die Dynamik des Curriculum-Kreislaufs. Am leichtesten lassen sich all die verschiedenen Dinge, die infolge dieser Dynamik geschehen, begreifen, wenn man den Kreislauf ABC zunächst in den projizierten Kontrollraum einzeichnet (das heißt nur mit Hilfe von x und y für die Lage der Forschungsprojekte). Um zu sehen, was mit der Grenzerhaltung passiert, muss dieser Kreislauf dann nach oben projiziert werden, bis er die dreidimensionale Abbildung A1 B1 C1 schneidet. Hier können wir aber erkennen, dass die Grenzerhaltung bei der Bewegung von A1 nach B1 beträchtlich gestiegen und bei der Bewegung von B1 nach C1 beträchtlich gefallen ist. Bei C1 trifft die Situation zum ersten Mal auf einen »Spaltungsfaktor«. Das heißt, wenn die Situation sich über C1 hinaus in den Scheitel hinein entwickelt, gibt es plötzlich zwei wahrscheinlichste Werte für z für jede Situation (x, y), die innerhalb des Scheitels ständig divergieren können. Die Übersetzung dieser topologischen Beschreibung in eine soziologische Beschreibung ist von entscheidender Bedeutung. Die Soziologie wird topologische Methoden und die tiefgreifenden, daraus resultierenden Implikationen allerdings nur dann akzeptieren, wenn diese Übersetzung klar und überzeugend bewerkstelligt werden kann. Glücklicherweise habe ich die soziologische Beschreibung des Spaltungsfaktors bereits geliefert. Es ist die Situation, in der die außerhalb der Besitzung tätigen Kultivatoren sich einander mehr als ihren jeweiligen Elterndisziplinen verwandt fühlen. Der Spaltungsfaktor steckt in der Tatsache, dass die gleiche Kraft, die sie immer stärker zueinander treibt, auch für den Streit zwischen ihren Elterndisziplinen verantwortlich ist. Zugleich werden die ersten zarten, dem integrierten Curriculum angemessenen horizontalen Verbindungen geknüpft, während der Streit zwischen den Elterndisziplinen die Reinheitsregel verletzt, die auf der klaren Trennung der Teile und auf ihrer wechselseitigen Nicht-Verantwortlichkeit besteht, einmal abgesehen von ihrer Vermittlung in der verschwommen Vorstellung einer Einheit des Ganzen. Die außerhalb der Umzäunung Forschenden beginnen nun zum ersten Mal das Verlangen nach einer Rückkehr in ihre Disziplinen in Frage zu stellen. Sie sehen sich immer weniger veranlasst, den Ort und die Lage ihrer Projekte zu rechtfertigen; vielmehr erfüllt sie ihr Tun zunehmend mit Stolz und Selbstbewusstsein und fangen sie an, die Auffassung zu vertreten, dass es nicht an ihnen sei, in
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ihre Disziplinen zurückzukehren, sondern dass die Disziplinen selbst sich ihnen anpassen müssten. Diese Anpassung kann aber nicht in einer einfachen, kleinen Verschiebung der Umzäunung bestehen, durch die die wertvoll gewordene Parzelle in die eine oder andere Disziplin integriert werden könnte, vielmehr bedeutet sie das vollständige Niederreißen aller Zäune und ihren Ersatz durch das System horizontaler Verbindungen, das die »wahre« Natur ihrer gemeinsamen Errungenschaft verkünden und legitimieren würde. Gleichzeitig beginnen diejenigen, die sich innerhalb der jeweiligen Umzäunungen befinden, zum ersten Mal, das Verlangen nach einer Integration der lästigen Außenseiter in Frage zu stellen. Sie beginnen zu fordern, dass dem Opportunismus ein Ende gemacht und ein prinzipieller Standpunkt eingenommen werde. Es ist ihnen klar, dass die Grenzen, die das Sammelsystem, dem sie angehören, stützt, durch derartige opportunistische Maßnahmen zunehmend und gefährlich geschwächt werden und daher verstärkt werden müssen, um das Überleben zu garantieren. Aber welches wäre der bessere Weg, die Grenzen zu verstärken, als einen festen Standpunkt einzunehmen und sich zu weigern, die bedrohlichen Außenseiter aufzunehmen, die ohnehin nur zu ihren eigenen Bedingungen aufgenommen werden wollen? Es ist eine Polarisierung eingetreten: Die Drinnen sind bestrebt, mit Hilfe der immer noch herrschenden Sammelideologie, die sie gutheißen, eine stärkere Kontrolle auszuüben; die Draußen weigern sich jedoch, diese Situation zu akzeptieren, und versuchen sie so zu verändern, dass sie sich immer mehr einem Zustand annähert, der mit der immer noch verdeckten integrierten Ideologie übereinstimmt, der Ideologie, zu der sie sich nun schamlos bekennen. Anfänglich ist an dieser Polarisierung nur ein winziger Teil der Forscher beteiligt, und dies bedeutet im Kontext mit der herrschenden Position der Sammelideologie, dass der volle Ernst der sich verändernden Lage (genaugenommen die Tatsache, dass sie sich schon verändert hat) von denen, die in ihr befangen sind, nicht erkannt wird. Ohne sich des Rubikons bewusst zu sein, den sie überqueren, sind sie unfähig umzukehren, und unter wachsender Verwirrung und Bitterkeit machen sie bis über den Scheitel hinaus und in die Katastrophe hinein beharrlich weiter so wie bisher. Bezogen auf die Abbildung bedeutet die Dominanz der Sammelideologie, dass die Situation bedenklich auf der oberen Fläche verweilt, während der Spaltungsfaktor, allmählich immer mehr die im System Befangenen in Mitleidenschaft ziehend, einen Keil zwischen einerseits die kleiner werdende Gruppe derjenigen, die der alten Ideologie treu bleiben, und andererseits die wachsende Gruppe derjenigen treibt, die sich der neuen Ideologie anschließen. Die Situation verlagert sich von C nach D. In D füllt die Polarisierung die ganze akademische Arena aus, die Sammelideologie kann ihren Herrschaftsanspruch nicht länger aufrechterhalten, und schon ein einziges Forschungsprojekt außerhalb der Umzäunungen oder ein zusätzlicher Co-Kultivierungsfall kann die Re-
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volution zum Ausbruch bringen, die diejenigen innerhalb der Grenzen so sehr fürchten, doch durch ihr vermeintlich prophylaktisches Handeln allererst ermöglicht haben. Das ideologische Machtgleichgewicht hat sich plötzlich verschoben, die integrierte Ideologie des Homo Aequalis wird dominant und die des Homo Hierarchicus geht unter: In dem Maße, wie die Situation den Scheitel verlässt und sich von D nach E bewegt, bricht der Index der Grenzerhaltung in einer katastrophalen Entwicklung in sich zusammen. In der Folge wird auch das der Ideologie des Sammelsystems entsprechende Weltbild bedeutungslos und erlangt das dem integrierten System entsprechende Weltbild plötzlich und spektakulär Bedeutung. Wenn die Verbindungslinie ABCDE nach oben projiziert wird, werden die katastrophalen Folgen dieses winzigen Schrittes von D nach E im plötzlichen und massiven Sturz der Grenzerhaltung von der oberen Fläche unmittelbar anschaulich. Der Scheitel verkörpert also die geometrische Darstellung des partiellen Widerspruchs zwischen den beiden Ideologien. Wäre die Situation durch eine weniger wilde, von einer langsameren oder sogar negativen Wachstumsgeschwindigkeit begleiteten Dynamik vorangetrieben worden, hätte sie den Scheitel vielleicht überhaupt vermieden (indem sie sich, sagen wir, von P nach Q entwickelt hätte) und den Übergang vom Sammelsystem zum integrierten System in einer sanften Evolution vollzogen. Damit wäre sowohl die Polarisierung des Personals als auch der katastrophale Zusammenbruch der Grenzen vermieden worden. Diejenigen, die mit der Geschichte der Hornsey und Guildford Schools of Art in Großbritannien oder mit der Columbia University in den USA vertraut sind, können keinen Zweifel daran haben, dass der von diesen eingeschlagene Weg durch den Scheitel verlief. Der plötzliche Zusammenbruch in D1 stellt »das maoistische Moment« dar und ist für die Integrations-Ideologen äußerst erheiternd, erleben sie doch das augenblickliche und faktisch gänzliche Verschwinden all der ärgerlichen Grenzen, die sie so lange behindert haben. In diesem Sinne können wir vielleicht den sprunghaften Übergang von der oberen zur unteren Scheitelf läche als »Revolution der Linken« bezeichnen. Dies ist aber nicht der einzig mögliche sprunghafte Übergang. Wenn eine Dynamik die Situation in der umgekehrten Richtung durch den Scheitelpunkt vorwärtstriebe, käme es mit dem Sprung von der unteren zur oberen Scheitelf läche zu einer plötzlichen und massiven Einrichtung von Grenzen. Eine solche Veränderung könnten man als »Revolution der Rechten« bezeichnen. Topologen nennen diese oberen und unteren Flächen der Scheitelkatastrophe Attraktoren, die beide versuchen, die Situation an sich zu reißen, während die mittlere Fläche, die das am wenigsten wahrscheinliche Ereignis repräsentiert, als »Abweiser« fungiert. Es wäre völlig falsch, derartige revolutionäre Veränderungen bloß als ziemlich große Schwankungen um einen Mittelwert zu betrachten. In oder kurz nach E wird die Dynamik irgendwie hypothetisch. Es kommt zur Invasion in die Autonomie der Institution, die Wachhunde ziehen ein, die Tore
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werden geschlossen und das Personal gesäubert. Wenn die Tore sich wieder öffnen, befindet sich die dramatisch korrigierte Situation wieder irgendwo bei A oder B. Diese Invasion ist möglich, weil diejenigen, die sich innerhalb einer Bildungsinstitution befinden, nicht völlig von denjenigen isoliert sind, die sich außerhalb befinden. Sie sind sowohl im Hinblick auf die Finanzen als auch im Hinblick auf die Studenten auf die Außenwelt angewiesen; und auch hier gilt, dass diejenigen, die den Geiger bezahlen, früher oder später den Ton angeben. Die Melodie, die sie spielen, ist aber die einer Einheit des Wissens, und der Text ist der einer süßen ökonomischen Vernunft. Hier ist die moderne Version eines an der London School of Economics zu Besuch weilenden Geigers: »Nur der Ökonom fasst die ganz gewöhnliche Tatsache klar ins Auge, dass akademische Bildung nie ein freies Gut gewesen ist und es auch nie sein kann [...] Man stelle sich nur einmal vor, was geschehen würde, wenn, sagen wir, Harrods unter der Voraussetzung operieren müsste, dass Konsumenten nicht kaufen, Verkäufer nicht verkaufen und Besitzer nichts zu sagen haben. Chaos wäre mit einem Schlag an der Tagesordnung und Gewalt würde bald auf Kosten all dessen triumphieren, was vernünftig und natürlich ist […] Dennoch ist es genau dieses sonderbar irrationale Austauschmuster, das wir in der Welt der höheren Bildung von heute feststellen [...] Die Konsumenten, die Studenten, bezahlen nicht die vollen ökonomischen Kosten der Dienste, die sie in Anspruch nehmen; die Produzenten, die Fakultät, verkaufen die Dienste nicht, die sie anbieten; und den Steuerzahlern, die die Rechnung für diese Großzügigkeit begleichen, wird heuchlerisch das Recht verweigert, die Dienste, die sie finanzieren, zu beaufsichtigen.« 10 Die Instabilität des integrierten Curriculums ist nicht die Folge irgendwelcher innerer Eigenschaften des Erziehungssystems, sondern sie ist den Interventionen der Außenwelt geschuldet, die auf der Einheit des Wissens beharrt. Einer der Vorteile, die sich aus der Verwendung dieses topologischen Modells ergeben, ist der, dass es eine geometrische Darstellung der Unterscheidung zwischen inneren und äußeren Eigenschaften ermöglicht. Wenn wir uns den Kontrollraum ansehen, erkennen wir, dass der nicht-hypothetische Bereich der Dynamik die Form einer
10 Professor Devletoglou: Ansprache an die Hellenistische Gesellschaft, London 1974 (laut Bericht in The Times).
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ebenmäßigen Ellipse hat, während die Intervention von außen als scharfe Unterbrechung dargestellt werden muss.11 Aus dem Modell selbst ergibt sich die nächste Frage: Was würde geschehen, wenn die Außenwelt nicht intervenierte? Würde die Dynamik der unterbrochenen Linie entsprechen, die den feststehenden Teil der Ellipse glatt vervollständigt? Was würde diese hypothetische Reise von E nach F nach A für Folgen haben, und was wäre es für ein Gefühl, darin verwickelt zu sein? (Siehe Abbildung 30.)
Abbildung 30
Zum einen sinkt die Gesamtzahl der Forschungsprojekte in diesem ganzen dynamischen Sektor ständig ab, vom Höchststand um D herum bis zur Rückkehr zur anfänglichen, bescheidenden Zahl in A. Aber dieses Absinken verteilt sich nicht gleichmäßig auf die von der Sammelideologie gebilligten und auf die von ihr nicht gebilligten Projekte. Zweitens, wenn wir uns die Verhaltensdimensionen ansehen 11 Dies bedeutet natürlich, dass wir noch nicht über das vollständige Bild verfügen, das die Beziehung zwischen dem Erziehungssystem und dem umfassenderen sozialen System, in das jenes eingebettet ist, darstellt. Ein solches Bild wird vermutlich mehr Dimensionen und eine komplexere Katastrophe aufweisen, die diese aus der »Intervention von außen« resultierende Veränderung veranschaulichen und vorhersagen wird. Es zeigt die Richtung der zukünftigen Forschung an. Dies ist nicht irgendein System chinesischer Kästchen, in dessen kleinstem diese komplexe Katastrophe sitzt, die wiederum in einem größeren mit einer noch komplexeren Katastrophe steckt. Vielmehr ist dies das größte Kästchen: Es gibt keine kosmische Polizeimacht, die wir zu einer exzentrischen Intervention in das gesamte soziale System auffordern können.
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(siehe Abbildung 29), können wir feststellen, dass die Veränderung des Grenzerhaltungsindexes geringfügig ist: Dass sein Wert, in E1 bereits stark gefallen, noch weiter abnimmt und schließlich einen Minimalwert erreicht. Danach beginnt er zu steigen, zuerst langsam, dann schneller, bis er schließlich den ziemlich hohen Wert in A1 erreicht. Wieder muss das Problem von der topologischen in die soziologische Darstellung übersetzt werden. In E1 hat die Bildungssituation soeben das Trauma eines plötzlichen katastrophalen Zusammenbruchs der Grenzerhaltung erfahren, verbunden mit dem daraus resultierenden Umschwung der herrschenden Ideologie – von der dem Sammelcurriculum entsprechenden Ideologie zu derjenigen, die dem integrierten Curriculum entspricht. Gleichzeitig entzieht die äußere Welt – das sozioökonomische Umfeld der Institution – ihre wohlwollende Zustimmung, und die neuen Männer müssen, umgeben von Misstrauen, Missbilligung und offener Feindseligkeit, ein gut funktionierendes integriertes Curriculum organisieren und die Überreste des Sammelcurriculums beseitigen. Diejenigen innerhalb der Institution können hinsichtlich weiterer Unterstützung in Form von Geldmitteln und Personal nicht mehr auf die Außenwelt zählen. In einer solchen, unmittelbar auf die Bitterkeit, die Auf lösung und den rapiden Wandel der Revolution der Linken folgenden, verworrenen Situation verf lüchtigen sich der anfängliche Optimismus und die wilde Euphorie des maoistischen Moments recht bald. Die Eliminierung der unter dem früheren System begonnenen irrelevanten Forschungsprojekte und die Förderung der relevanten, neuen Projekte, die der integrierten Ideologie Substanz verleihen werden, finden vor dem Hintergrund von Rücktritten, Mittelkürzungen und Empfehlungen der Rektoren an ihre fähigeren Schüler, sich bei anderen, weniger radikalen Institutionen zu bewerben, statt. Dies ist die Kombination von Umständen, die die Instabilität und den unvermeidlichen Zusammenbruch dieses hypothetischen Sektors der Dynamik verursacht, aber selbst wenn diese äußeren Kräfte nicht wirksam wären, würde es dennoch zu einem Rückgang der Anzahl der Forschungsprojekte kommen, da irrelevante Projekte schneller eliminiert als relevante begonnen würden. Wenn keine anderen Kräfte intervenierten, würde sich die Situation von E fortbewegen, anfänglich entlang dem hypothetischen Segment, dann tangential davon abweichend, bis sie den extremen Zustand G erreichte, um schließlich dort zu verharren (siehe Abbildung 30). Der Grund, warum das aber nicht geschähe und warum dies durch eine Abnahme an Forschungsprojekten verhindert würde, auch dann, wenn diese von der integrierten Ideologie gebilligt würden und es keine Feindseligkeit von außen gäbe, ist der, dass Streitigkeiten hinsichtlich der Definition von Relevanz offenbar unvermeidbar sind; und weiterhin, dass sich mangels eines auch noch so vagen, derartige Meinungsverschiedenheiten mäßigenden oder zügelnden Einigungsprinzips zwangsläufig ein Machtkampf zwischen den verschiedenen Parteien,
8. Die Geometrie der Glaubwürdigkeit
von denen jede ihre eigene Definition der Relevanz durchzusetzen versucht, entwickelt und unter immer größer werdendem Zeit- und Energieaufwand eine Verringerung der Forschungsprojekte bewirkt. Wie können die Leute die schwierige Aufgabe erfüllen, das Ziel zu erreichen, wenn keine Einigung über das Ziel zustande kommt? Die Situation wandert nach F, zu dem Punkt, der einer aus der Ideologie des Homo Aequalis abgeleiteten Politik am nächsten liegt. Wir wollen an dieser Stelle nicht auf die Frage eingehen, ob es möglich ist, das System in diesem Punkt oder in der Nähe dieses Punktes zu stabilisieren, doch benötigen wir an dieser Stelle in jedem Fall eine soziologische Beschreibung des Wendepunktes und dessen, wie sich die Situation allmählich und stetig vom integrierten System in F wegbewegt hin zum leidlich toleranten Sammelsystem in A. In dem Maße, wie die Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der Definition von Relevanz zunehmen, nimmt die Attraktivität mit Bezug auf Forschung, die relevant ist, ab. In einem solchen Klima gedeihen Manipulatoren und Opportunisten. Mangels eines Einigungsprinzips wird das Individuum oder die Gruppe, dem oder der es gelingt, die meisten Anhänger anzuziehen, den Sieg davontragen, und werden diejenigen, die sich von der Relevanzerhöhung zu irgendeiner Art von Reinheit hinbewegen, indem sie kein Interesse für die relevanten Fragen, sondern für die schwierigeren Fragen (die immer, wenn auch verschleiert, gegenwärtig sind) entwickeln, in der Lage sein, ein gewisses Maß an Ordnung, Disziplin und Status anzubieten, wo andere mit verschiedenen Arten von Unordnung, Disziplinlosigkeit und Gleichheit wetteifern. Indem sie auf diese Weise ihre Kräfte sammeln, können diese Leute bewirken, dass das neue Sammelsystem allmählich Gestalt annimmt. Dies macht verständlich, dass Hierarchie und die Trennung der Disziplinen zwangsläufige Begleiterscheinungen des akademischen Betriebs sind und beide Phänomene tendenziell immer dort besonders gedeihen, wo die Möglichkeit ihrer Existenz geleugnet wird. Sie sind wie Unkraut: immer gegenwärtig, solange nicht ständig etwas unternommen wird, um es auszurotten. Solange die Auseinandersetzung um die Definition von Relevanz anhält, unterbleiben jedoch solche Maßnahmen, weil sich der Streit darum dreht, welche Pf lanzen im integrierten Garten als Blumen und welche als Unkraut zu betrachten sind. Dennoch kann man das integrierte Curriculum offenbar dadurch stabilisieren, dass man den fruchtlosen Streit um die Relevanz, der für den Wendepunkt verantwortlich ist, vermeidet. Bei der Intervention von außen, die verhindert, dass der integrierte Sektor des Kreislaufs überhaupt realisiert wird, ist das Insistieren der Außenwelt auf der Einheit des Wissens das Entscheidende. Es ist also wahrscheinlich, dass das integrierte System stabilisiert werden kann, wenn diese Bedingung aufgehoben wird. Anstelle der Einheit des Wissens hätten wir dann die Vielfalt des Wissens, wobei Wissen und Relevanz durch den Kontext, höchstwahrscheinlich den beruf lichen Kontext, definiert würden. Dementsprechend
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würde die eine Art von Wissen als für Handarbeiter relevant betrachtet werden und eine andere für Kopfarbeiter und so weiter. Ein Beispiel dafür ist die Ausbildung der Londoner Taxifahrer, die, bevor ihnen erlaubt wird, ihren Beruf auszuüben, eine mörderische Prüfung zum Londoner Straßenplan, zu den Einbahnstraßensystemen, Hotels, Krankenhäusern, kürzesten und schnellsten Routen und dergleichen ablegen müssen. In der Branche nennt man diese Prozedur »Doing the knowledge«. Das »Wissen« ist in diesem Falle durch den beruf lichen Kontext definiert und (noch) nicht Bestandteil der universitären Ausbildung. Wenn aber zugelassen wird, dass Wissen in diesem Sinne vielfältig sein kann, also Relevanz eindeutig durch den (beruf lichen) Kontext definiert wird, dann kann ein jedes Bildungssystem so dauerhaft stabilisiert werden, dass sein integriertes Curriculum vollkommen der Ideologie des Homo Aequalis entspricht. Vieles deutet darauf hin, dass in bestimmten, von den Forderungen der Nationalökonomie ausgenommenen Erziehungsinstitutionen (Sonderschulen für Behinderte zum Beispiel) derartige stabilisierte Bedingungen existieren. Der radikale Erziehungswissenschafter Ivan Illich12 ist sowohl für die Ideologie des Homo Aequalis als auch für die Vielfalt des Wissens eingetreten. Wenn aber die Einheit des Wissens entthront wird, muss der beruf liche Status an die erste Stelle rücken. Können die Verfechter der »Entschulung« dies wirklich wollen? Das sieht verdächtig nach Aldous Huxleys »Schöne Neue Welt« aus. Das topologische Modell zeigt, dass der von Illich so leidenschaftlich befürwortete Zustand wohl kaum zu erreichen ist. Das liegt daran, dass es, um die beiden Bedingungen zu erfüllen (einerseits die Vielfalt des Wissens und andererseits die Ideologie des Homo Aequalis nicht nur innerhalb jedes beruf lich relevanten Wissenssystems, sondern auch zwischen all den diversen Systemen), eine Gesamtdefinition von Relevanz geben müsste. Eine derartige Definition ist aber nicht möglich, denn um die integrierten Curricula zu stabilisieren, muss Relevanz für jeden Beschäftigungskontext unterschiedlich definiert werden. Daraus folgt, dass Beschäftigungskontexte nur in Form von Ungleichheit zueinander in Beziehung gesetzt werden können. Holzhauer und Wasserträger werden wahrscheinlich weniger gleich sein als andere. Anders ausgedrückt, es gibt keinen Punkt auf der dreidimensionalen Fläche, der Illichs Bedingungen erfüllt, und da diese Fläche alle wahrscheinlichen Situationen abbildet, ist zu erwarten, dass Illichs Ideale sich als unerreichbar herausstellen. Das Modell ermöglicht also eine Unterscheidung zwischen erreichbaren und unerreichbaren Idealen: eine Trennung von »möglichen Entitäten« und »sogenannten möglichen Entitäten« auf einer anderen Basis als der des persönlichen Vorurteils. Mit Hilfe des Modells ist es zum Beispiel möglich, detailliert Situationen zu berücksichtigen (nämlich diejenigen im hypothetischen
12 Illich, I.: Entschulung der Gesellschaft, Reinbek 1977.
8. Die Geometrie der Glaubwürdigkeit
Sektor des Curriculum-Kreislaufs), für die es keine Beispiele gibt, die aber dennoch möglich sind. Es ist klar, dass die topologische (monsterbewahrende) Soziologie von der vertrauteren empirischen (monsterausschließenden) Form weit entfernt ist. Um zu Dumonts rhetorischer Frage (hinsichtlich der Synthese von Ost und West) zurückzukehren, die den Ausgangspunkt für diese Analyse bildete, können wir nun erkennen, dass der normale Prozess der Entwicklung von den Tatsachen zur Theorie völlig umgedreht wurde. Dumont beschäftigt sich damit, wie allmähliche Veränderungen eine herrschende Ideologie unterminieren und schließlich dazu führen, dass diese allmählich oder plötzlich durch eine andere, ihr teilweise widersprechende, Ideologie ersetzt werden kann, die bis zu jenem Moment unterdrückt wurde oder überhaupt nicht vorhanden war. Dazu liefert er, in informeller Sprache, die Beschreibung einer »Dynamik«, die eine Situation durch allmähliche Veränderungen in den Kontrollraum und schließlich durch den Scheitel hindurch vorwärtstreibt und eine plötzliche, sprunghafte Veränderung in der Verhaltensdimension und in der damit verbundenen Ideologie herbeiführt. Die herrschende Ideologie, Homo Hierarchicus, ist Dumonts Holzstuhl; die »Dynamik« das langsame verborgene Nagen der Termiten in dessen Inneren, das deshalb nicht wahrgenommen wird, weil die Ideologie, die ein solches Nagen sichtbar machen würde, die des Homo Aequalis, unterdrückt wird. Schließlich tritt die Situation in den Scheitel ein und durchquert diesen, bis eine winzige graduelle Veränderung im Kontrollraum, eine einzige weitere Kaubewegung einer Termite den katastrophalen Zusammenbruch der herrschenden Ideologie bewirkt. Der Stuhl zerfällt zu Staub und wird sofort durch den bequemen Lehnstuhl des Westens ersetzt. Indem Dumont ausruft: »Wer kann aber sagen, ob diese Veränderungen nicht doch insgeheim zerstörend gewirkt haben und ob nicht eines Tages die Kastenordnung wie ein von Innen von Termiten zerfressenes Möbelstück in sich zusammenfallen wird«, stellt er die richtige rhetorische Frage. Leider unterstellt er die falsche Antwort. Sie lautet nicht »niemand«, sondern »jeder«, und ich muss nun meine Äußerung zurücknehmen, dass Dumont innerhalb der Grenzen der indischen Gesellschaft sehr wohl recht haben mag. Dass wir einige historische Details nicht kennen oder dass etwas, was vollkommen möglich wäre, noch nicht geschehen ist, bedeutet keineswegs, dass wir nicht beschreiben könnten, wie es gewesen sein muss, oder voraussagen könnten, wie es sein wird. Ein dynamisches Phänomen wie zum Beispiel ein Curriculum ist mit einem bestimmten Bild (oder einer »Morphologie«) verbunden. Diese Morphologie stellt nicht nur eine Beschreibung derjenigen Fragmente des Phänomens dar, die wir beobachtet haben oder über die wir zufällig historisches Material besitzen. Sie ist eine Beschreibung aller Möglichkeiten dieses dynamischen Phänomens. Natürlich müssen wir mit irgendwelchen empirischen Daten beginnen. Wir führen ein
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paar Untersuchungen durch und stellen ein paar Beobachtungen an, und diese, registriert in Form einiger Variablen, liefern uns einen Schwarm von Punkten in einem euklidischen Raum. Vorausgesetzt, es sind genügend davon vorhanden, und vorausgesetzt, nicht alle von ihnen sind falsch, dann können wir mit Hilfe der Katastrophentheorie die Morphologie entdecken, deren vereinzelte winzige und ungenaue Fragmente sie sind. Wenn wir diese Morphologie haben, kennen wir alle Möglichkeiten jenes Phänomens. Wir können nicht nur Möglichkeiten beschreiben, die noch nicht eingetreten sind, und Geschichte rekonstruieren, die unzureichend aufgezeichnet ist, wir können außerdem auf unsere ursprünglichen empirischen Daten zurückgreifen und sie korrigieren, dasjenige ausscheiden, was offensichtlich falsch ist, und berichtigen, was schlecht beobachtet oder infolge der Voreingenommenheit des Forschers entstellt wurde. Die Beschreibung braucht nicht länger auf empirische Beweise zu warten: Die Theorie braucht nicht mehr erst im Nachhinein konstruiert zu werden.
9. Die Geometrie des Vertrauens
Die Behandlung des Curriculum-Kreislaufs im vorangegangenen Kapitel, obgleich rein qualitativ und sehr metaphorisch angelegt, lässt, so hoffe ich, erkennen, auf welche Weise die Katastrophentheorie zum Verständnis zyklischer Phänomene beitragen kann.1 Zyklische Phänomene sind dynamisch: Sie verändern sich ständig, sind aber auch aufgrund der sich wiederholenden Regelmäßigkeiten persistent; sich ständig verändernde Phänomene, die sich nicht wiederholen, werden dagegen wahrscheinlich unbemerkt bleiben, wenn sie nicht bereits bei ihrem ersten Auftreten wahrgenommen werden. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird es sich also bei Phänomenen, die wahrgenommen werden, um solche handeln, die periodisch wiederkehrende Regelmäßigkeiten aufweisen – entweder in der Weise, dass ein und dasselbe immer wieder geschieht, oder aber aufgrund des Umstands, dass die gleiche Abfolge von Ereignissen immer wiederkehrt. Wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf Phänomene richten, besteht eine grundsätzliche Schwierigkeit daher darin, dass dabei immer schon eine Vorauswahl stattgefunden hat: Denn wir können uns nur mit den Phänomenen auseinandersetzen, die wir als solche wahrnehmen, und diese haben zwangsläufig die Tendenz, Wiederholungen ein- und Einmaliges auszuschließen. Die Katastrophentheorie ist ein Werkzeug, mit dessen Hilfe wir unsere Aufmerksamkeit von der Ebene der Phänomene auf die Ebene der Möglichkeit von Phänomenen verlagern können. Damit versetzt sie uns in die Lage, auch solche Phänomene, die zwar vorhanden sind, doch normalerweise unserer Aufmerksamkeit entgehen, wahrzunehmen und zu beschreiben. Wenn wir zum Beispiel Curriculum-Phänomene betrachten und nur Sammelcurricula oder nur integrierte Curricula und nicht die Verbindungen, die vom einen zum anderen führen, erkennen können, dann sehen wir statische Regelmäßigkeiten: Ein und dasselbe scheint immer wieder stattzufinden. Mit anderen Worten, wir sehen nur isolierte 1 Eine detailliertere und mehr technische Version dieses Kapitels erschien in Mitchell, J. Clyde (Hg.): Numerical Techniques in Social Anthropology, Institute for the Study of Human Issues, Philadelphia 1979. Zusätzlich zu einer ausführlicheren Diskussion des Zeremonialtausches enthält sie ein ziemlich umfassendes Literaturverzeichnis.
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Punkte innerhalb der oberen und der unteren Fläche der die Scheitelkatastrophe darstellenden Abbildung. Unsere Betrachtungsweise ist zwar insoweit vollkommen korrekt, als dass sie den qualitativen Unterschied zwischen diesen beiden Curriculumstypen erkennt, jedoch furchtbar beschränkt, insofern sie keinen Hinweis darauf gibt, wie diese miteinander verknüpft sind. Andererseits, wenn wir Curriculum-Phänomene betrachten und dabei das Sammelcurriculum, das integrierte Curriculum und die zyklischen Verbindungen zwischen ihnen sehen, dann nehmen wir sowohl dynamische Veränderungen als auch sich wiederholende Regelmäßigkeiten wahr: Mit anderen Worten, wir sehen den zyklischen Verlauf, der die obere und die untere Fläche des Schaubildes in Gestalt zweier deutlich voneinander verschiedener Pfade miteinander verbindet, von denen der eine stetig außerhalb des Scheitels verläuft, während der andere den Scheitel sprunghaft durchquert. Die Kombination dieses wahrscheinlich umfassendsten Blickwinkels, der uns überhaupt möglich ist, mit Thoms Theorem gestattet es uns aber, die ganze Fläche mit ihrer Scheitelkatastrophe darzustellen. Das heißt, im Gegensatz zu einfachen repetitiven Phänomenen können uns zyklische Phänomene einen Ausschnitt aus der Fläche liefern, der uns mit Hilfe von Thoms Theorem genügend Informationen bietet, um die ganze Fläche zu skizzieren: Der Ausschnitt aus der Fläche beschreibt die Phänomene, die gesamte Fläche aber deren Möglichkeit. Die Anwendung der Katastrophentheorie auf die Untersuchung zyklischer Phänomene ist daher hervorragend geeignet, unsere Aufmerksamkeit von den Phänomenen auf die Möglichkeit ihrer Existenz zu verlagern. Diese Art von Ansatz ist für die so genannten weichen Wissenschaften wahrscheinlich am lohnendsten, denn er stellt ein qualitatives Verfahren bereit, mit dessen Hilfe man bisher unvermutete Verbindungen, Verwandtschaften und Familienähnlichkeiten entdecken kann. Die Beziehung, die ich im Folgenden untersuchen möchte, ist die zwischen dem Konjunkturzyklus des industrialisierten Westens und dem zyklischen Zeremonialtausch von Schweinen im Hochland von Neuguinea. Das sind zwei Phänomene, die gewöhnlich nicht auf die gleiche Stufe gestellt werden. Der Konjunkturzyklus, der periodische Wechsel von Boom und Krise, wird normalerweise als ein Resultat der fortgeschrittenen Industrialisierung betrachtet und in überzeugender Weise von den Wirtschaftswissenschaften integriert. Der Zeremonialtausch ist dagegen eine der größten Wonnen der Anthropologie. Er ist etwas, was im industrialisierten Westen nur sehr selten, in primitiven Gesellschaften aber sehr häufig vorkommt. Ich bin der Auffassung, dass sowohl die Wirtschaftswissenschaften als auch die Anthropologie von einer Auf hebung dieser untauglichen Unterscheidung zwischen dem Westen und dem Rest, zwischen Uns und Denen, nur profitieren können. Das Phänomen, das ich als »Schweinezyklus« bezeichnet habe, ist ein kompliziertes Zeremonialtauschsystem im zentralen Hochland von Neuguinea. Perlaustern, Federn, Steinäxte und dergleichen spielen eine wesentliche Rolle beim
9. Die Geometrie des Vertrauens
Tausch, aber das wichtigste Tauschobjekt sind Schweine (und in geringerem Maße Schweinef leisch). Das System erstreckt sich über 150 Meilen Gebirgsland und umfasst mehrere unterschiedliche Kulturen. Bestimmte Teile dieses Systems sind bereits von Anthropologen beschrieben worden, doch gibt es bislang keine umfassende Darstellung des gesamten Systems. Der Blickwinkel, aus dem die dem System angehörenden verschiedenen Völker das System betrachten, ist ebenso beschränkt wie der ihrer Ethnographen. Die Enga nennen das System »te« und sehen es als ein lineares System, wobei die Tauschgüter auf der einen Seite in ihr Gebiet gelangen und es auf der anderen Seite wieder verlassen. Die Kyaka, die sich an dem einen Ende des Systems befinden, nennen es »moka« und nehmen es ganz anders wahr als die Enga, nämlich als an einem Ende offen und als für sie geschlossen am anderen. Es ist wahrscheinlich keine Übertreibung zu sagen, dass der Schweinezyklus ein so außergewöhnliches Phänomen ist, dass, wäre da nicht die Tatsache seiner Existenz, ihn niemand für möglich halten würde. Das erstaunlichste Merkmal dieses Tauschsystems ist seine Periodizität. Es ist kein stetiger Strom, noch ist es ein saisonaler Strom. Etwa alle vier Jahre erreicht es einen gewaltigen Höhepunkt. Elkin, der Anthropologe, der zuerst darauf stieß, gelangte zufällig gerade zu dem Zeitpunkt in das Wabag-Gebiet des Hochlandes, als es zu einer solchen spektakulären Klimax kam. Er fand einen Landungssteg mit Tausenden von Schweinen, alle ordentlich in Reihen an Pfosten angebunden. Zwischen den dicht geschlossenen Reihen organisierten Individuen, die alle diese Schweine zusammengebracht hatten, in einem Paradiesvogelaufputz deren Verteilung. Diese Periodizität erzeugt Beobachtungsprobleme, da der Anthropologe seine Feldarbeit auf vier Jahre ausdehnen müsste, um den ganzen Zeitabschnitt zwischen zwei Höhepunkten beobachten zu können. Aber selbst dieser Aufwand wäre noch nicht ausreichend, weil in den folgenden vier Jahren der ganze Austauschstrom in die entgegengesetzte Richtung f ließt. Um also einen kompletten Zyklus beobachten zu können, müsste er wenigstens acht Jahre dortbleiben. Die nun folgende Beschreibung ist aus den Berichten vieler verschiedener Feldforscher zusammengesetzt. Wenn man sich den Zyklus genauer ansieht, stellt man fest, dass er in eine Anzahl deutlich voneinander unterscheidbarer Phasen unterteilt werden kann (unterscheidbar sowohl für den Beobachter als auch für das betreffende Volk). Der Zyklus ist natürlich ein kontinuierlicher Prozess, aber die Darstellung muss irgendwo einsetzen, und es ist nur praktisch, dabei mit dem Moment unmittelbar nach dem Höhepunkt zu beginnen, dann, wenn Tausende von Schweinen ausgetauscht und die meisten von ihnen verzehrt worden sind und nur noch ein minimaler Schweinebestand übriggeblieben ist, der dann als Grundstock für die Neuaufzucht dient.
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• Phase A. Vorleistungen (»kenju«), das heißt, Beine von Schweinen, lebende Schweine, Perlmuscheln und Äxte werden während der ersten Hälfte des Zyklus von Partner zu Partner in Richtung der Hauptleistungen (ein technischer Ausdruck, der nützlich ist, um die eine Hälfte eines verzögerten Tausches zu beschreiben) weitergegeben. Diese Phase dauert zwischen sieben Monaten bis über ein Jahr. • Phase B. Die Hauptleistungen (»kuma pilyanin«, wörtlich: »echtes moka«) gehen in die entgegengesetzte Richtung. Dies sind viel gewichtigere Gaben in der Größenordnung von acht oder zehn Schweinen pro Vorleistungseinheit. Diese Phase findet konsekutiv in jedem Klan entlang der Sequenz statt, und es können zwei Typen von Festen unterschieden werden: das interne »moka« zwischen den Mitgliedern eines Klans und das viel spektakulärere externe »moka« zwischen den Mitgliedern verschiedener Klans. • Phase C. Die Phase beginnt, wenn die Hauptfeste den letzten Klan in der 150-Meilen-Kette erreicht haben. Die Schweine, oder die Mehrzahl von ihnen, werden dann getötet und gekocht, ihr Fleisch wandert wieder von Partner zu Partner zurück, eine epidemische Spur gastritischer Erkrankungen hinter sich herziehend. • Phase D. Vorleistungen wie in Phase A, aber in umgekehrter Richtung. • Phase E. Hauptleistungen wie in Phase B, aber in umgekehrter Richtung. • Phase F. Gekochtes Schweinef leisch wie in Phase C, aber in umgekehrter Richtung. • Der Zyklus ist nun vollendet, die siebte Phase ist mit Phase A identisch. Obgleich es so aussieht, als sei das »te/moka« ein einzigartiges Phänomen, scheinen die verschiedenen Kulturen, die es durchquert, ziemlich ähnlich und für das Hochland von Neuguinea im Allgemeinen recht typisch zu sein. Es sind sesshafte, Ackerbau treibende Völker, deren Wirtschaft hauptsächlich auf dem Anbau von Süßkartoffeln und der Schweinezucht basiert. Ihre territoriale und politische Organisation beruht auf einem segmentären »Lineage«-Gerüst, ähnlich dem der Nuer, der Tiwi oder der Kuma, und jeder Klan umfasst zwischen 1000 und 5000 Personen. Hinsichtlich der Strenge, mit der die territoriale und politische Organisation an das segmentäre »Lineage«-System gebunden ist, und hinsichtlich des Umfangs, in dem Vorfahren »frisiert« werden können, kommt es zu beträchtlichen Schwankungen. Versuche, Schwankungen in der Unbeweglichkeit und Flexibilität des segmentären »Lineage«-Systems zu Schwankungen in der Bevölkerungsdichte, dem Druck auf das Land oder auf das für den Süßkartoffelanbau verfügbare Land in Beziehung zu setzen, waren wenig erfolgreich, und einer der führenden Ethnographen2 hat in 2 Meggitt, M. J.: The Pattern of Leadership among the Mae-Enga of New Guinea, Anthropological Forum, Bd. 2, Nr. 1, London 1967.
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diesem Zusammenhang die Ansicht geäußert, dass es, in Bezug auf diese Merkmale, in jeder »Lineage« im Zeitablauf zu einer ziemlich regelmäßigen und vorhersagbaren Schwankung komme, was auf den Einf luss einer berühmten politischen Figur Neuguineas, den »Großen Mann«, zurückzuführen sei. »Großer Mann« ist der Pidgin-Ausdruck für die schlauen, mächtigen und tatkräftigen Unternehmer, die eine überaus einf lussreiche Rolle im Leben des Hochlands spielen. Die Gesellschaft im Hochland von Neuguinea ist hochindividualistisch, konkurrenzorientiert und materialistisch. Dieser Konkurrenzkampf wird gewöhnlich mit Muschelgeld, kunstvoll gearbeiteten Kleidern und Schmuck und vor allem mit Schweinen bestritten. Die Aufzucht von Schweinen verlangt erstens die Dienste der Frauen und zweitens die Unterstützung durch die Anhänger, deren Gefolgschaft von den persönlichen Qualitäten und dem Ehrgeiz des potentiellen »Großen Mannes« abhängt. Wie es ein typisch materialistischer »Großer Mann« ausgedrückt hat: »Die Dinge, die mir in meinem Leben etwas bedeuten, sind meine Schweine, meine Frauen, mein Muschelgeld und meine Süßkartoffeln.« Die meisten Männer erreichen den Status »Großer Mann« nie, und diejenigen, die ihn erreichen, können ihn nur in der Blüte ihrer Jahre erhalten. Kein Mann kann hoffen, als »Großer Mann« zu sterben. Das »te/moka«-Zeremonialtauschsystem ist zyklisch, insofern es zu einer periodischen Vernichtung von Schweinen kommt, aber es entspricht auch dem Muster einer linearen Oszillation zwischen den beiden extremen Enden, Orte namens Talembais und Miniyip. Anderswo im neuguineischen Hochland existiert der Zyklus ohne die lineare Oszillation. Weiter entfernt (auf den Inseln vor der Südostküste Neuguineas und bei den Aborigines Nordaustraliens) gibt es Tauschsysteme, die linear, aber weder mit einem Zyklus noch mit einer Oszillation verbunden sind. Dieses besondere System, das »te/moka«, ist also das komplexeste und wirft drei getrennte Probleme auf: den Zyklus, die Linearität und die Oszillation. Der lineare Güterstrom, bei dem ein Individuum oder eine Gruppe bloß als ein Glied in einer sich oft über Hunderte von Meilen erstreckenden Kette von Tauschbeziehungen oder Partnerschaften fungiert, ist ein vertrautes Phänomen in der Wirtschaftsanthropologie und kann leicht verstanden werden als das Ergebnis einer gleichmäßig gestreuten Nachfrage nach Gütern, die in bestimmten lokalen Produktionszentren hergestellt werden. In den nordaustralischen Handelsbeziehungen zum Beispiel haben europäische Güter wie Kaliko, die aus dem Darwin-Gebiet kommen, die Tendenz, im Tausch gegen steinerne Speerspitzen, Perlmuscheln und Bumerangs nach Süden zu f ließen, deren Produktionszentren wiederum weit im Süden liegen. Im Gegensatz dazu wandern »churinga« (heilige geschnitzte Holztafeln), deren Produktion nicht auf bestimmte Orte beschränkt ist, in beide Richtungen. Linearität ist also in Tauschsituationen zu erwarten, in denen Rohstoffe und/oder besondere Fertigkeiten auf bestimmte Orte beschränkt sind. Topographische
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Merkmale, die die Verkehrswege und Siedlungsmuster bestimmen, werden lediglich dazu beitragen, diese lineare Natur der Tauschfolge zu betonen. Solche Systeme mögen sowohl dem Ethnographen als auch dem Eingeborenen, die beide nur ein kleines Segment des ganzen Systems wahrnehmen können, als im Wesentlichen ähnlich erscheinen. Aber das entscheidende Merkmal des Systems – sein Funktionieren im Zeitablauf – wird determiniert durch das, was an den Enden der linearen Sequenz, jenseits dieser Beobachtungsgrenzen, geschieht. In Bezug auf die Enden gibt es drei Möglichkeiten: Eine lineare Sequenz kann in einer Sackgasse enden, sie kann in ein größeres und komplexeres System von Tauschbeziehungen einmünden oder sie kann einen Bogen beschreiben und sich schließlich wieder mit ihrem anderen Ende vereinigen, also einen Kreis bilden. Jedes System lässt sich, wie komplex es auch sein mag, auf lineare Sequenzen (mit offenen oder geschlossenen Enden) und Kreissequenzen reduzieren. (Das offene Ende ist natürlich nur ein heuristischer Kunstgriff, so dass letztlich nur geschlossene Enden und Kreise übrigbleiben.) Im Fall der nordaustralischen Tauschbeziehungen wird jeder Überschuss, der an den offenen Enden auftritt, schnell von den größeren und komplexeren Systemen, mit denen sie in Verbindung stehen, absorbiert, und auf diese Weise wird der Umfang des Güterstromes im Zeitablauf normalerweise ziemlich konstant bleiben. Es ist ein stabiles System. (In der Nachrichtentechnik wird eine grundlegende Unterscheidung zwischen »stabilen« und »generativen« Systemen getroffen. Ein stabiler Zustand herrscht in einem System interdependenter Variablen, die keine fortschreitende oder irreversible Veränderung aufweisen. Bei einem generativen Zustand treten fortschreitende und irreversible Veränderungen auf. Wenn der Input konstant bleibt und die fortschreitende und irreversible Veränderung zu einer Abnahme des Outputs führt, können wir das System als »degenerativ« bezeichnen. Wenn die Veränderung eine Zunahme des Outputs bewirkt, können wir das System als »regenerativ« bezeichnen.) Im Falle des »te/moka« wird der Umfang des Güterf lusses in jedem Punkt der Sequenz konstant bleiben, aber das System als Ganzes wird nicht stabil, sondern regenerativ sein, da es zu einer ständig zunehmenden Anhäufung von Gütern an den beiden geschlossenen Enden kommt. Ein solches regeneratives System würde, sich selbst überlassen, schließlich entweder zusammenbrechen oder sich transformieren, da nur ein stabiles System die Chance hat, im Zeitablauf verändert zu überleben. In einem linearen System mit geschlossenen Enden sind jedoch gewisse Modifikationen möglich, die, selbst wenn sie das System nicht in einen stabilen Zustand überführen, so doch zumindest seine Fluktuationen im Rahmen einer gewissen Stabilität halten können. Wenn, anstelle eines stetigen Flusses, die Güter periodisch in Clustern übermittelt würden, dann wäre es, wenn es zur Ansammlung an dem einen Ende käme, möglich, die Richtung des Flusses umzukehren und die akkumulierten Güter abzuleiten. Derartig oszillierende Systeme sind in der Elektronik hinlänglich bekannt, und es gibt keinen Grund, warum
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sie nicht auch in der Güterübermittlung vorkommen sollten. Ein solches System wird, wenn es erst einmal in Schwingung versetzt worden ist, so lange fortfahren, mit einer konstanten Frequenz und Schwingungsweite zu oszillieren, wie der umgekehrte Strom nicht von einem Ende zum anderen gelangt, und dadurch das Ausmaß der Anhäufungen fortlaufend vergrößern. Diese Bedingung wird vom »te/moka« erfüllt, bei dem das gekochte Schweinef leisch niemals den ganzen Weg von einem extremen Ende (Miniyip) zum anderen (Talembais) zurücklegt. Die Transformation der Ansammlung lebendiger, verhältnismäßig dauerhafter Schweine in totes und von selbst verderbendem, gekochtem Schweinef leisch kann als eine sekundäre Modifikation betrachtet werden, die den Zweck hat sicherzustellen, dass der den Schweinezyklus enthaltende Rahmen stabil bleibt. Darüber hinaus gewährleistet die ungerade Zahl der Phasen – mit ihren drei Leistungstypen, Vorleistungen, Hauptleistungen und gekochtes Schweinef leisch, wobei jede Phase das Signal für den Beginn der reziproken Phase in der entgegengesetzten Richtung ist – die regelmäßige Umkehrung der Flussrichtung. Eine gerade Anzahl von Phasen könnte niemals den Schaltmechanismus für die Umkehrung der Flussrichtungen auslösen und somit niemals ein oszillierendes System entstehen lassen. Manche Tauschsysteme in solchen Gesellschaften sind also zweifellos generative Phänomene und können niemals mit einer für stabile Systeme konzipierten Theorie adäquat erfasst werden. Leider beruhen alle derzeitigen Versuche, ökonomische Phänomene bei so genannten Naturvölkern zu erklären, auf für stabile Systeme gültigen Theorien. Alle Wirtschaftsanthropologen stimmen in einem (und nur einem) Punkt überein, nämlich, dass die keynesianische Wirtschaftstheorie auf diese Gesellschaften nicht anwendbar sei. Indem sie diese Ansicht vertreten, erscheinen sie der Gemeinschaft der Wirtschaftswissenschaftler, die heutzutage alle Keynesianer sind (nicht in dem Sinne, dass sie eine Sammlung spezifischer Begriffe anerkennen, sondern in dem Sinne, dass sie ein Theoriegebäude anerkennen, das sowohl mit stabilen als auch mit generativen Phänomenen fertigwerden kann), wie lebende Fossilien. Die klassischen Ökonomen betrachteten den Konjunkturzyklus als ein stabiles Phänomen. Zugegebenermaßen war da eine Wechselfolge, ein Aufschwung und ein Abschwung, aber das Ganze besaß einen stabilen Rahmen, und die Möglichkeit eines regenerativen oder degenerativen Trends wurde nicht in Betracht gezogen (eine Auffassung, die Keynes vernichtend kritisierte, da sie vorhersage, dass die See wieder ruhig sein wird, wenn der Sturm vorbei ist). Keynes nahm keinen stabilen Zustand an. Am Anfang seiner Theorie stand die Überzeugung, dass ökonomische Phänomene wahrscheinlich generativ sind und dass sie nur bei einer ganz bestimmten Kombination der Parameter stabil seien und dem klassischen Modell entsprächen.
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Die Wirtschaftsanthropologen sind in zwei Lager gespalten. Da sind die »Neoklassiker«, die die Auffassung vertreten, die klassische Theorie sei, angemessen modifiziert, auch auf »Naturvölker« anwendbar; und da sind die »Substantivisten«, die einen derartigen Ansatz mit der Begründung ablehnen, dass die wirtschaftlichen Beziehungen in solchen Gesellschaften von denjenigen in der »westlichen« Gesellschaft völlig verschieden seien. Einer der führenden Substantivisten hat die vermeintliche Unanwendbarkeit der keynesianischen Theorie sogar als Stock benutzt, um damit die Neoklassiker zu schlagen. »[...], wenn man schon glaubt, dass die westliche Preistheorie für die primitive Wirtschaft relevant sei, warum sollen es dann nicht auch andere Zweige der westlichen Theorie, zum Beispiel die keynesianische Einkommens- und Beschäftigungstheorie sein? Die Antwort ist vielleicht die, dass bei dem Versuch, die keynesianische Theorie auf primitive Wirtschaften anzuwenden, deutlich würde, dass die Annahme der funktionalen Ähnlichkeit wirtschaftlicher Organisation bei Naturvölkern und im Westen empirisch unhaltbar ist. Mit einem Wort, es ist nicht möglich.« 3 Die neoklassische Antwort auf diese reductio ad absurdum lautet: »Richtig, aber andererseits hat niemand behauptet, es sei möglich.«4 Ich betrachte die Aufforderung, die keynesianische Theorie auf »primitive« Gesellschaften anzuwenden, nicht als eine reductio ad absurdum, sondern als einen völlig vernünftigen und richtigen Schritt: Mit einem Wort, es ist möglich. Da die Anthropologen eine ganze Menge aufzuholen haben, wäre es tatsächlich das Beste, wenn sie diesen Schritt machten. Der Schweinezyklus, das Verhältnis von totalem Schweinebestand zur Zeiteinheit, lässt sich qualitativ aus verschiedenen Invarianten der neuguineischen Schweinewirtschaft ableiten. Dazu gehört beispielsweise die durchschnittliche Wurfgröße, die Verfügbarkeit stillender Frauen für das zusätzliche Säugen der kleinsten Schweine und die Dauer der Trächtigkeit von Schweinen. Auf diese technischen Details, die gewiss faszinierend sind, wollen wir hier nicht eingehen, weil das zu umfangreich würde. Stattdessen wenden wir uns gleich der Kurve in Abbildungen 31 zu.
3 Dalton, G.: Economic Theory and primitive Society, American Anthropologist, Bd. 62, Malden, Mass. 1961, S. 16. 4 Frankenberg, R.: Economic Anthropology, in: Association of Social Anthropologists, Monograph, Nr. 6, Theories in Economic Anthropology, London o. J.
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Abbildung 31: Schweinebestand
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Ich möchte für einige Augenblicke die Betrachtung und anschließende Ablehnung verschiedener Erklärungen, die für den Schweinezyklus vorgebracht worden sind oder vorgebracht werden könnten, zurückstellen und die kühne Feststellung treffen, dass die einzige völlig befriedigende Erklärung, die gegeben werden kann, von der Kausalbeziehung zwischen dem Schweinezyklus und der Gesamthöhe des Kredits auszugehen hat. Ebenso wie es sichtbare, greif bare zyklische Fluktuationen im Schweinebestand gibt, besteht parallel dazu ein nicht sichtbarer, nicht greif barer Kreditzyklus. Das enorme Wachstum des Schweinebestandes zu Beginn des Zyklus fällt mit der Periode zusammen, während der die potentiellen »Großen Männer« ihre Gefolgschaften auf bauen, indem sie ihre Energie, ihre Tatkraft und ihre Rhetorik dazu benutzten, bei ihren Stammesgenossen Vertrauen zu erwecken. Ist dieses Vertrauen geschaffen, können sie ihre Stammesbrüder durch die Ausweitung des Kredits in Anhänger verwandeln. Die Ausweitung des Kredits bewirkt eine größere Gefolgschaft und der Umfang der Gefolgschaft des »Großen Mannes« fördert das Vertrauen derjenigen, die noch ungebunden sind, in ihn, und so werden auch diese wiederum seine Anhänger. Dieser gewaltige Vertrauenszuwachs hat ein enormes Ansteigen des Schweinebestandes zur Folge. Entsprechend führt der Verlust an Vertrauen zu einer Einforderung der Schulden und in deren Folge zu einem rapiden Rückgang der Wachstumsrate des Schweinebestandes. Herrscht zum Zeitpunkt dieser Wende außerdem ein unbarmherziger Konkurrenzkampf, in dessen Verlauf manche Männer durch Bankrott ruiniert werden, während andere triumphal überleben, indem sie zuerst der Zurschaustellung Tausender von Schweinen und anschließend den Festen, bei denen diese Tausende von Schweinen verzehrt werden, präsidieren, dann wird es zu einem scharfen Rückgang des gesamtes Schweinebestandes kommen. Der hypothetische Kreditzyklus weist die gleiche Schwingungsdauer auf wie der Schweinezyklus, aber seine Wendepunkte verlagern sich dergestalt, dass sie die Wendepunkte des gesamten Schweinebestandes vorwegnehmen; zurückzuführen ist diese Verlagerung beim unteren Wendepunkt auf die Zeit, die nötig ist, um den Zuwachs an Vertrauen und die Kreditgewährung in lebendige Schweine umzuwandeln, und beim oberen Wendepunkt auf die Zeit, die nötig ist, um einen Vertrauensverlust und die Rückforderung von Krediten in gekochtes Schweinef leisch umzuwandeln. Die beiden Kurven, der Schweinezyklus (ausgedrückt in realen Schweinen) und der hypothetische Kreditzyklus (ausgedrückt in versprochenen Schweinen), werden also die in Abbildung 32 dargestellte Form annehmen. Ich muss nun innehalten, um zu erklären, wie es kommt, dass die in der Beziehung zwischen diesen beiden Kurven enthaltene Hypothese eine Erklärung für den Schweinezyklus liefert, und warum diese Erklärung im Wesentlichen keynesianisch ist.
Abbildung 32: Schweinebestand: Kreditniveau
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Zyklische Schwankungen sind den Ökonomen seit der Geburt ihrer Disziplin bekannt, und die Entwicklung der ökonomischen Theorie ist in erheblichem Maße auf die verschiedenen Versuche zurückzuführen, diese Schwankungen zu erklären. Diese Schwankungen sind unter der Bezeichnung »Konjunkturzyklus« bekannt geworden, und das Theoriegebäude, das diese Schwankungen zu erklären versucht, wird »Konjunkturtheorie« genannt. Die Konjunkturschwankungen wurden zuerst im 19. Jahrhundert wahrgenommen (oder wenigstens einer Erklärung für Wert erachtet); die erste Erklärung lieferte Jevons im Jahre 1878. Von da an bis noch vor verhältnismäßig kurzer Zeit standen der Konjunkturzyklus und das Problem seiner Erklärung im Mittelpunkt der ökonomischen Theorie. Besonders die keynesianische Theorie hat ihre Ursprünge in den Problemen des Konjunkturzyklus und liefert eine Erklärung, die zu geben die klassische ökonomische Theorie außerstande war. Seit der ökonomischen Revolution, die darin bestand, dass insbesondere die Vereinigten Staaten und Großbritannien eine auf der keynesianischen Theorie basierende Wirtschaftspolitik einführten, scheinen sowohl der Konjunkturzyklus als auch die Konjunkturtheorie für die Wirtschaftswissenschaftler an Interesse verloren zu haben. Es wäre vielleicht zu optimistisch zu sagen, das liege daran, dass Keynes die erste adäquate Erklärung des Konjunkturzyklus gegeben hat. Doch hat die Einführung einer auf seiner Theorie basierenden Politik dazu beigetragen, den Konjunkturzyklus selbst zu zähmen, vor allem die gewaltigen Ausschläge von Booms und Krisen und die wiederkehrenden Perioden schwerer Arbeitslosigkeit. Die erste Erklärung für den Konjunkturzyklus, die gegeben wurde, sah seine Ursache in einem anderen Umweltzyklus, in gewissen regelmäßigen Schwankungen in der Natur. In diesem Falle war es der Sonnenf leckenzyklus (ungefähr sieben Jahre), der sich, wie man beobachtet hatte, mit einem Unwetterzyklus deckte. Man vermutete, dass dieser klimatische Zyklus die Ernteerträge beeinf lusse und folglich, da die Landwirtschaft zu der Zeit den größten Teil der Wirtschaft ausmachte, einen wirtschaftlichen Zyklus verursache. Diese höchst elegante Erklärung musste aufgegeben werden, als entdeckt wurde, dass die Länge des Konjunkturzyklus nicht ganz der Länge des Sonnenf leckenzyklus entsprach und dass außerdem die Schwankungen des Konjunkturzyklus zunahmen, als der Anteil der Landwirtschaft an der gesamten Wirtschaft abnahm. Die Tatsache, dass der Schweinezyklus eine Dauer von sechs bis acht Jahren hat, legt die Vermutung nahe, dass er nicht von irgendeinem natürlichen Umweltzyklus verursacht wird, und dieser Schluss findet seine Bestätigung in der Feststellung, dass die Dauer des Zyklus sich im Laufe der Jahre geändert hat und dass es ähnliche Zyklen in anderen Gegenden im Hochland von Neuguinea gibt, von denen manche von längerer und andere von kürzerer Dauer sind. In jüngster Zeit feiern Erklärungen der Konjunkturschwankungen vom Jevons-Typ Wiederauferstehung: die Intervention durch äußere und natürliche Be-
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schränkungen. Roy Rappaport5 hat eine ökologische Erklärung für einen anderen Schweinezyklus in Neuguinea gegeben, die sich auf die Homöostase zwischen dem Schwein und seiner Umgebung und die Parasiten des Schweins und deren Umgebung (das Schwein) bezieht. Ich weiß nicht so recht, was ich zu solchen ökologischen Erklärungen sagen soll, denn es geht ihnen in erster Linie darum, die natürlichen Grenzen menschlicher Aktivitäten aufzuzeigen, und nicht um ein Verständnis der möglichen Formen, die diese menschlichen Aktivitäten annehmen können. Vorausgesetzt, derartige ökologische Argumente enthalten keine Fehler, habe ich nichts gegen sie einzuwenden: Sie sind jedoch für meine Betrachtungsweise insofern irrelevant, als dass die menschlichen Aktivitäten, die ich untersuchen möchte, einfach nicht vorhanden wären, wenn sie ökologisch nicht möglich wären. Die meisten ökonomischen Erklärungen für den Konjunkturzyklus sind Erklärungen dieser Art gewesen; bestimmt von der Idee, dass Menschen ihren kulturellen Werten folgen, bis sie kollektiv gegen irgendeine natürliche Grenze stoßen. Diese Theorien sind Puffer-Theorien. Manchmal enthalten sie zwei Puffer mit einer zwischen ihnen hin und her springenden Variablen, manchmal nur einen, eine Decke oder einen Boden, mit einer ballon- oder kugelartigen Variablen. Es gibt aber eine Erklärung, das Hansen-Samuelson-Modell des Konjunkturzyklus, die zeigt, dass ökonomische Schwankungen selbst bei gänzlicher Abwesenheit natürlicher Grenzen oder Beschränkungen auftreten können. In diesem Modell wird der Zyklus allein auf die Wechselwirkung jener beiden keynesianischen Konzepte zurückgeführt: den »Multiplikator« und den »Akzelerator«. Zum Glück brauchen wir uns nicht mit den technischen Einzelheiten des Hansen-Samuelson-Modells zu befassen. Es genügt hier zu erklären, dass der Multiplikator Keynes dazu veranlasste, sein berühmtes fundamentales psychologisches Gesetz vorzutragen, »dass die Menschen in der Regel und im Allgemeinen geneigt sind, ihren Konsum mit wachsendem Einkommen zu erhöhen, aber nicht in gleichem Maße wie das Einkommen.« Keynes hielt es also für notwendig, die individuelle Motivation in seine ökonomische Erklärung einzubeziehen, jedoch behandelte er sie bequemer und leider fälschlicherweise als eine Konstante. Der Akzelerator ist mehr technischer Natur. Er basiert auf der Vorstellung, dass ein bestimmtes Verhältnis zwischen dem Wert des Kapitals und dem jährlichen Output bestehe. Einfacher gesagt, es ist der Gedanke, dass ein bestimmtes Verhältnis zwischen der Anzahl der Maschinen in einer Fabrik und der Anzahl der in dieser Fabrik produzierten Güter bestehe. Selbstverständlich kann man Maschinen zu viel oder zu wenig nutzen, aber in diesem Zusammenhang ist der optimale Zustand gemeint, bei dem die Maschinen weder so überbeansprucht wer5 Rappaport, R. A.: Pigs for the Ancestors: Ritual in the Ecology of a New Guinea People, New Haven, Conn. 1967.
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den, dass sie und ihre Bediener einer unangemessenen Belastung ausgesetzt sind, noch so unterbeansprucht werden, dass ein Teil des in ihnen gebundenen Kapitals brach liegt. Der nächste Schritt beim Akzelerator ist der Gedanke, dass in dem Maße, wie die Nachfrage nach den Produkten der Fabrik variiert – was unweigerlich der Fall sein wird –, der Fabrikbesitzer bestrebt ist, seinen Kapitalbestand anzupassen, indem er mehr Maschinen kauft oder den Kauf weiterer Maschinen hinausschiebt oder in extremis Maschinen verkauft, damit er immer so nah wie möglich beim Optimum bleibt. Das wird ihm gelingen, indem er sich ansieht, wie die Geschäfte gehen, was allerdings in Wirklichkeit bedeutet: wie die Geschäfte gelaufen sind, denn der Informationsrückf luss in Bezug darauf, wie gut oder wie schlecht seine Produkte sich verkaufen, unterliegt zwangsläufig einer zeitlichen Verzögerung. Auf das Wesentliche reduziert, beruht der Akzelerator auf der verzögerten Beziehung zwischen dem Betrieb und dem Produkt und lässt sich auf jeden Prozess anwenden, bei dem die Produktion einer bestimmten Sorte von Gütern bestimmt wird. Die Schweinewirtschaft ist ein solcher Prozess: Die Produktion von Schweinen, die wir als »disponibel« bezeichnen können, wird von der Produktion von »Zuchtschweinen« bestimmt. Der Akzelerator ist eine formalisierte Darstellung des rationalen Entscheidungsprozesses, der festlegt, warum dieses kleine Schweinchen auf den Markt kommt und jenes kleine Schweinchen zu Hause bleibt. Das Hansen-Samuelson-Modell des Konjunkturzyklus verkörpert diesen sehr einfachen Rückkopplungsmechanismus – die zwangsläufig zeitverzögerte Informationsrückkopplung bezüglich der Nachfrage – und lässt trotz der Abwesenheit von Puffern Zyklen entstehen. Diese Zyklen werden im Allgemeinen generativ sein: entweder gehemmt (langsam nachlassend und verebbend) oder ungehemmt (zunehmend schlimmer werdend), und nur bei einer bestimmten Kombination von Parametern werden sie konstante Ausschläge aufweisen. Das Hansen-Samuelson-Modell ist außerdem eine schön kondensierte Wiedergabe keynesianischen Geistes: Auch hier sind ökonomische Phänomene im Allgemeinen generativ und nur im Sonderfall stabil; die Aufmerksamkeit wird auf Prozesse der wirklichen Welt wie zum Beispiel die Fabrik mit ihren Maschinen und Produkten gelenkt; und es verleiht vor allem der Überzeugung Ausdruck, dass Totalität als die Gesamtheit der individuellen Beiträge verstanden werden muss, die im Hinblick auf die Situation eines jeden Individuums in sich selbst rational erscheinen. Wie zyklische Schwankungen aus diesen verzögerten Anpassungen entstehen, lässt sich ganz leicht anhand eines berühmten mechanischen Beispiels erklären, das diesem Prozess entspricht. Man stelle sich ein ziemlich schlecht konstruiertes Zentralheizungssystem vor, bei dem die Brennstoffzufuhr zum Kessel über einen Thermostat in einem der Zimmer reguliert wird. Wenn die Temperatur des Zimmers unter die gewünschte Höhe fällt, wird der Thermostat veranlassen, dass mehr Brennstoff zugeführt wird, aber natürlich wird die Wirkung nicht sofort
Abbildung 33: Hinweis: Beide Kurven zusammengenommen entsprechen der Kurve des gesamten Schweinebestands
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spürbar, da es einige Zeit braucht, bis dieser zusätzliche Brennstoff die Temperatur des Zimmers erhöht. Der Thermostat bewirkt also, dass mehr als nötig Brennstoff zugeführt wird, obgleich die bereits zugeführte Menge bei etwas Geduld ausreichen würde, die Zimmertemperatur auf die gewünschte Höhe zu bringen. Der Raum überhitzt sich, worauf der Thermostat dann wiederum mit einer Verringerung der Brennstoffzufuhr reagiert. Aber natürlich braucht es einige Zeit, bis diese verringerte Brennstoffzufuhr sich auf die Zimmertemperatur auswirkt, und folglich reduziert der Thermostat die Brennstoffzufuhr weiter mit dem Resultat, dass das Zimmer zu kalt wird. Der Thermostat übersteuert also, und so beginnt der Kreislauf wieder von vorn. Wenn das System schlecht konstruiert ist, können diese Zyklen ungehemmt verlaufen, und man braucht am Ende einen neuen Heizkessel. Wenn es nicht allzu schlecht konstruiert ist, werden die Schwankungen gedämpft, bis sie zwischen mehr oder weniger erträglichen Temperaturen oszillieren. Wenn man die Variation sowohl der Brennstoffzufuhr als auch der Zimmertemperatur in Abhängigkeit von der Zeit in ein und dasselbe Schaubild einzeichnen würde, erhielte man zwei oszillierende Kurven, die im Gleichschritt zueinander verliefen, wobei aber die Höhe- und Tiefpunkte der Brennstoff kurve denen der Temperaturkurve immer vorausgingen: Die Vorwegnahme des Tiefpunktes würde die Zeit widerspiegeln, die erforderlich wäre, um zusätzlichen Brennstoff in eine Zunahme der Zimmertemperatur umzusetzen, und die Vorwegnahme des Höhepunktes würde die Zeit widerspiegeln, die erforderlich wäre, um eine Verringerung der Brennstoffzufuhr in ein Sinken der Raumtemperatur zu verwandeln. Es ist nicht allzu schwierig qualitativ abzuleiten, wie die Kurven für den disponiblen Schweinebestand und den Zuchtschweinebestand im Falle des Schweinezyklus aussehen müssen. Sie nehmen ungefähr die in Abbildung 33 dargestellte Form an. (Addiert man diese beiden Kurven, so erhält man die Kurve des gesamten Schweinebestandes in Abbildung 31.) »Aha!« oder sogar »Heureka!« ruft man: Kurven mit genau den gleichen Charakteristika wie sie das Zentralheizungssystem aufweist. Es ist nur eine Frage des Herumspielens mit den Parametern, bis man eine nahezu völlige Übereinstimmung zwischen dem Schweinezyklus und dem Hansen-Samuelson-Modell erzielt. Aber die Sache hat einen Haken und einen schwerwiegenden dazu! Ein Schweinezüchter wird seine Herde in jedem Augenblick vor seinem geistigen Auge einteilen in Schweine, die er sich für die Zucht vorbehält, und in Schweine, die er als disponibel betrachtet, aber diese Einteilung ist nicht unveränderlich (außer in den Fällen kastrierter männlicher Schweine), und er kann, wenn er möchte, ein Zuchtschwein in ein disponibles Schwein verwandeln oder vice versa sozusagen von einem Augenblick zum anderen, indem er einfach seine Meinung ändert. Folgendes geschieht nun im Schweinezyklus: Nahe dem Höhepunkt des
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Aufschwungs sehen sich die einzelnen Schweinezüchter vor der kritischen und schwierigen Entscheidung, wann genau sie damit beginnen sollen, jene Zuchtschweine, die nicht in der Lage sein werden, rechtzeitig für die Hauptleistungen einen reifen Wurf zu produzieren, in disponible Schweine zu verwandeln. Die Entscheidung ist kritisch zum einen, weil er so viele ausgewachsene disponible Schweine wie möglich für die Hauptleistungen zur Verfügung haben muss, zum anderen aber, weil er, obwohl er weiß, dass die Zeit der Hauptleistungen näher rückt, nicht deren genauen Zeitpunkt kennt. Diese Art von Problem ist nicht durch einen Rückkopplungsprozess lösbar. Wenn wir zu der mechanischen Analogie des Rückkopplungssystems zurückkehren, in dem die Zimmertemperatur über einen Thermostat die Menge der zusätzlichen Brennstoffzufuhr bestimmt, stellen wir fest, dass die Umwandlung von Zuchtschweinen in disponible Schweine äquivalent ist mit der direkten Umwandlung der überschüssigen Wärme im Zimmer in nicht verbrannten Brennstoff – ein unmöglicher Prozess, der einen Thermostat völlig überf lüssig machen würde. Rückkopplungsmechanismen beruhen auf der Rückkopplung von Information – über die Temperatur im Falle des Zimmers und des Brenners, über das Wissen um Veränderungen in der Höhe des Investitionsniveaus im Falle des Konjunkturzyklus. Im ersten Falle ist der Rückkopplungsmechanismus der Thermostat; im zweiten Falle der Unternehmer, der sein tatsächliches Anlagekapital dem gewünschten Anlagekapital anpasst. Der Rückkopplungsmechanismus wird nur so lange funktionieren, wie die beiden Teile des Systems, zwischen denen er vermittelt, nicht konvertierbar sind. Dies ist ganz sicher so im Falle des Zimmers und des Brenners, aber ganz sicher nicht so im Falle der Zuchtschweine und der disponiblen Schweine. Wir haben damit etwas vor uns, das zwar wie ein oszillierendes und rückgekoppeltes System aussieht, jedoch keines ist. Was ist also der »Brennstoff«, der den Schweinezyklus antreibt? Es ist das aggregierte Vertrauen der einzelnen Schweinezüchter. Wenn ihr Vertrauen groß ist, werden sie darauf erpicht sein, den Kredit auszudehnen (wenn sie danach streben, selber »Große Männer« zu werden) bzw. einen Kredit zu akzeptieren (wenn sie Anhänger des »Großen Mannes« sind). Schwindet ihr Vertrauen, werden sie entsprechend eifrig bemüht sein, diesen Kredit einzufordern bzw. diese sie belastenden Schulden zurückzuzahlen. Es ist nun, so hoffe ich, klar geworden, warum die einzige völlig zufriedenstellende Erklärung allein in Form der ursächlichen Beziehung zwischen dem Schweinezyklus und dem aggregierten Kreditniveau gegeben werden kann. Kehrt man zum hypothetischen Schaubild dieser Beziehung (Abbildung 32) zurück, so wird ersichtlich, dass es sich um genau die gleiche Art von Kurven handelt, die zu einem auf einem Rückkopplungsmechanismus beruhenden oszillierenden System gehören. In diesem Falle kann der Kredit in Schweinen nur über den Schweinezuchtprozess umgesetzt werden, dessen zeitliche Erstreckung von In-
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varianten bestimmt wird, die mit dem menschlichen Zuchtzyklus, dem Schweinezuchtzyklus, der Süßkartoffelwachstumsrate, dem Jahreszeitenzyklus usw. verknüpft sind; das heißt von Invarianten, die aus dem Ökosystem abgeleitet sind. Die Kredit-in-Schweine-Transformation kann also nur über diesen Mechanismus und mit dieser Zeitverzögerung erfolgen, und wenn gezeigt werden kann, dass der Kreditzyklus diese Form haben muss, dann liegt folglich auch die Form des Schweinezyklus fest. Das expansive Verhalten des »Großen Mannes« scheint die Aufschwungsphase dieses hypothetischen Kreditzyklus zu bestätigen, aber was ist mit dem Wendepunkt und dem Fallen der Kurve? Einen Anhaltspunkt für die Erklärung des Wendepunktes liefert einer der Erklärungsversuche, die der fruchtlosen Debatte über die Veränderungen hinsichtlich der Starrheit und Flexibilität des neuguineischen »Lineage«-Systems ein Ende setzen. Meggitt6 hat in seiner Erörterung der politischen Aspekte der Enga-Organisation darauf hingewiesen, dass sich in jeder »Lineage« ein zyklisches Muster bilde, das auf die Interaktion zwischen dem »Großen Mann«-System und dem segmentären »Lineage«-System zurückzuführen sei. Er behauptet, es gebe in der Lebensgeschichte eines jeden Klans einen ziemlich genau vorhersagbaren Wechsel im Verhalten des »Großen Mannes«: Expansiver Optimismus weiche defensivem Pessimismus und Perioden des Friedens wechselten mit Kriegsausbrüchen. Ich möchte nicht behaupten, dass die zyklischen Schwankungen des Schweinezyklus und die von Meggitt vorgetragenen Schwankungen der »Lineage«-Geschicke ein und dasselbe seien. Vielmehr sollten sie als zwei Möglichkeiten betrachtet werden, die sich aus der Beziehung zwischen zwei partiell konf ligierenden Ideologien ergeben können, der des »Großen Mannes« und der der segmentären »Lineage«-Struktur. Der Konf likt zwischen diesen beiden nebeneinander existierenden Ideologien beruht auf der einfachen Unterscheidung, dass die »Großer Mann«-Ideologie egozentriert ist, während die »Lineage«-Ideologie dies nicht ist. Erstere liefert einen wunderbar bestätigenden Rahmen für die Maximierung des individuellen Vorteils, kann aber nicht als Grundlage für die Kooperation zum Wohle des Ganzen dienen. Die »Großer Mann«-Ideologie ist im Wesentlichen die einer »Macht ist Recht«. Die »Lineage«-Ideologie liefert ebenfalls einen bestätigenden Rahmen für die Maximierung des individuellen Vorteils, aber innerhalb bestimmter Grenzen. Welches genau diese Grenzen sind, lässt sich nicht entscheiden, denn die Starrheit/Flexibilität des »Lineage«-Rahmens variiert räumlich (das heißt innerhalb jeder Gesellschaft im Zeitablauf). Theoretisch liefert der »Lineage«-Rahmen eine Rangfolge der Unterstützungsansprüche, die zwischen jedem einzelnen Mann und seinen Stammesgenossen existieren, wobei diese Rangfolge eine Funktion der genealogischen Distanz zwischen ihm und seinen Genossen ist. 6 Meggitt, a.a.O.
9. Die Geometrie des Vertrauens
In der Praxis jedoch ist diese Rangordnung niemals absolut, da häufig die Möglichkeit besteht, den »Lineage«-Rahmen so umzustrukturieren, dass im Hinblick auf die Maximierung des Vorteils eines bestimmten Individuums eine besonders gewünschte Verkettung an die erste Stelle in der Rangordnung befördert wird. Nichtsdestotrotz ist die einfache Tatsache, dass der Rahmen, wenn auch kontinuierlich verändert, im Zeitablauf erhalten bleibt, ein Beweis dafür, dass nicht alle möglichen Umstrukturierungen gleichermaßen wahrscheinlich sind und dass beträchtliche Beschränkungen hinsichtlich der Möglichkeiten für das einzelne Individuum existieren, seinen eigenen Vorteil zu maximieren. Diese Bedingungen sind in dem den Schweinezyklus enthaltenden sozialen System gegeben. Der »Große Mann« ist immer da, manchmal farbenprächtig auf dem Kamm einer Woge reitend, aufgepeitscht von seinem eigenen Überf luss, manchmal das Segel niederholend, seine Kredite einfordernd und sich fragend, wie er den Sturm überstehen kann, den er durch seinen schnellen Wechsel vom Wellenkamm zum Wellental herauf beschworen hat. Und während all dieser Hochs und Tiefs bleibt in der einen oder anderen Form, manchmal praktisch ganz verschüttet, der »Lineage«-Rahmen bestehen, den der »Große Mann« in seinem zielbewussten Streben nach Schweine-Macht so wirkungsvoll gebraucht und missbraucht hat. Das Problem besteht nun darin, zu einer Beschreibung des Spektrums der Möglichkeiten zu gelangen, die durch die Beziehung zwischen diesen beiden koexistierenden und partiell konf ligierenden Ideologien erzeugt werden können. Eine solche Beschreibung kann in Form von Person-zu-Person-Kreditbeziehungen ausgedrückt werden, und zwar sowohl derjenigen innerhalb eines einzelnen Ausschnitts des Systems als auch derjenigen, die von diesem Ausschnitt in das übrige System hinüberreichen. Nehmen wir als einen solchen Ausschnitt den Klan an, der die größte, in diesem segmentären »Lineage«-Rahmen enthaltende Gruppierung darstellt, dann können wir sicher sein, dass alle Kreditbeziehungen, die zwischen diesem Ausschnitt und dem übrigen System hergestellt werden, nur durch die »Großer Mann«-Ideologie Gültigkeit erlangen können, da sie die größte Ausdehnung des »Lineage«-Rahmens überschreiten. Im Verlauf des Schweinezyklus treten signifikante Veränderungen in diesen aggregierten Kreditbeziehungen auf, und zwar sowohl im Hinblick auf ihre Dichte (ausgedrückt in der Gesamtzahl solcher Beziehungen innerhalb sowie außerhalb der Klan-Grenze) als auch ihre Intensität (ausgedrückt in der mit diesen Beziehungen verbundenen Gesamtkreditbelastung). Alle Kreditbeziehungen sind das Resultat der von den Teilnehmern wahrgenommenen Vorteile, aber nur wenige werden darüber hinaus durch die »Lineage«-Ideologie für gültig erklärt (sie repräsentieren den Gebrauch, den der »Große Mann« von der »Lineage«-Ideologie macht). Andere Beziehungen (einschließlich all derer, die die Klan-Grenze überschreiten) werden der »Lineage«-Ideologie zum Trotz hergestellt (sie repräsentieren den Missbrauch, den der »Große Mann« damit treibt).
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Drei Variablen können isoliert werden: (1) das Kreditniveau; (2) die Anzahl der durch die »Lineage«-Ideologie für gültig erklärten Kreditbeziehungen; (3) die Anzahl der der »Lineage«-Ideologie zuwiderlaufenden Kreditbeziehungen. Diese Variablen können auf folgende Weise neu angeordnet werden: (1a) das Kreditniveau; (2a) die Gesamtzahl der Kreditbeziehungen; (3a) das Verhältnis zwischen dem Umfang der Kredite, die aus den der »Lineage«-Ideologie zuwiderlaufenden Beziehungen resultieren, und dem Umfang der Kredite, die aus den nach der »Lineage«-Ideologie für gültig erklärten Beziehungen resultieren. Ein diese Variablen enthaltendes dreidimensionales Schaubild liefert uns die Beschreibung, die wir suchen; die Form der Beziehung zwischen dem Kreditkreislauf (1a), den unternehmerischen Aktivitäten des »Großen Mannes« (2a) und dem partiellen Widerspruch zwischen den beiden Ideologien (3a). Die ersten beiden Variablen sprechen für sich selbst, aber die dritte bedarf einer Erläuterung. Sie geht von der Annahme aus, dass das Ausmaß des Konf likts vom Verhältnis der Kreditlast zwischen den die Ideologie bestätigenden und den die Ideologie nicht bestätigenden Beziehungen abhängt. (Das scheint eine sinnvolle Annahme zu sein, da ein »Großer Mann«, der, sagen wir, die Hälfte seiner Beziehungen entgegen der »Lineage«-Ideologie unterhält, diesen Beziehungen aber nur, sagen wir, ein Viertel der Ausdehnung seines Kredits verdankt, ganz sicher mehr Verwirrung stiftet als ein anderer, der demselben Verhältnis der Beziehungen, sagen wir, drei Viertel der Ausdehnung seines Kredits verdankt.) Die Bedeutung dieser den Umfang des ideologischen Konf likts ausdrückenden Variablen liegt in der Tatsache, dass die »Großer Mann«-Ideologie als egozentrierte Ideologie die Auffassung bestätigt, die nach Hobbes‘ als Krieg aller gegen alle charakterisiert ist, während die »Lineage«-Ideologie behauptet, dass dieser Krieg auf bestimmte Bereiche der Welt beschränkt sei, dass es mithin Bereiche gebe, auf die er nie übergreifen könne und die daher als feste Inseln der Gewissheit aus der turbulenten See des Nicht-Vorhersagbaren herausragten. Wenn man bereit ist, diesen philosophischen Standpunkt zu akzeptieren, dann wird die Veränderung dieser dritten Variablen zum Ausdruck des Umfangs, in dem Gewissheit zerstört wird (oder wenn ihr Wert negativ sein sollte, zum Ausdruck des Umfangs, in dem Gewissheit geschaffen wird).
9. Die Geometrie des Vertrauens
Abbildung 34
Von solchen tiefgründigen Spekulationen einmal abgesehen und trotz des völligen Fehlens quantitativer Daten, ist es dennoch möglich, einige geometrische Eigenschaften dieser drei Variablen festzustellen. Wie beim Curriculum-Kreislauf muss die Beziehung in einem dreidimensionalen Raum mit Achsen wie in Abbildung 34 enthalten sein. Die Vorgehensweise ist nun genau die gleiche wie im Falle des CurriculumKreislaufs: (1) Nehmen weder x noch y zu, wird das wahrscheinlichste Ergebnis sein, dass das Kreditniveau unverändert bleibt.
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(2) Nimmt x zu, während y konstant bleibt, erhalten wir eine Situation, in der mehr Kreditbeziehungen geschaffen werden, in der aber die Gewissheit nicht ausgehöhlt wird. Das heißt, die Kluft zwischen den sich auf den »Lineage«-Rahmen beziehenden Erwartungen der Leute und dem, was tatsächlich passiert, wird weder größer noch kleiner. Das wahrscheinlichste Ergebnis in einer solchen Situation ist eine Zunahme des Kreditniveaus (siehe Abbildung 36).
Abbildung 36
(3) Nimmt y zu, während x konstant bleibt, erhalten wir eine Situation, in der keine neuen Kreditbeziehungen mehr geschaffen werden. Vielmehr kommt es zu einem fortschreitenden Kredittransfer von den durch die »Lineage«-Ideologie für gültig erklärten Beziehungen zu denjenigen, die dieser Ideologie zuwiderlaufen. Mit anderen Worten, die Gewissheit wird ständig ausgehöhlt, und die sich auf die Genealogien beziehenden Erwartungen der Leute werden zunehmend durch das, was tatsächlich geschieht, widerlegt. Solche Situationen wachsender Ungewissheit und Unvorhersagbarkeit sind einer Zunahme des Optimismus nicht förderlich, und das wahrscheinlichste Ergebnis ist eine Abnahme des Kreditniveaus.
Abbildung 37
9. Die Geometrie des Vertrauens
(4) Nehmen sowohl x als auch y zu, so bedeutet das, dass mehr Beziehungen hergestellt werden und folglich der Kredit ausgeweitet wird, gleichzeitig aber laufen diese neuen Beziehungen zunehmend dem »Lineage«-Rahmen zuwider. Die beiden Ideologien geraten hier zunehmend in Konflikt. Während die »Großer Mann«Ideologie das Entstehen ständig neuer Beziehungen und die verschwenderische Ausweitung des Kredits fördert, wird zugleich und mit wachsender Geschwindigkeit die Gewissheit ausgehöhlt und damit die Unvorhersagbarkeit erhöht, was zu einer fortschreitenden Rückforderung des Kredits führt. Die Annahme irgendeiner Art von Gleichgewicht zwischen der Ausweitung und der Rückforderung des Kredits ist (außer in den ganz frühen Phasen) durch nichts zu rechtfertigen, und mit fortschreitendem Prozess muss das Pendel immer stärker zur einen oder zur anderen Seite ausschlagen und nimmt die Wahrscheinlichkeit in zunehmendem Maße ab, dass das Kreditniveau sich nicht verändert.
Abbildung 38
Da keine quantitativen Daten vorhanden sind, ist es nicht möglich, irgendetwas über die genaue Form und den Umfang dieser Wahrscheinlichkeitsverteilungen zu sagen. Die Beschreibung kann sich ausschließlich auf die qualitativen Fakten stützen, wie zum Beispiel darauf, ob es ein oder zwei Maxima, ein oder kein Minimum gibt, ob diese keine Veränderung, eine Zunahme oder eine Abnahme des Kreditniveaus verraten und wie ihre relative Position im Vergleich zu früheren oder späteren Situationen beschaffen ist. Wenn sich zum Beispiel in den Fällen (2) und (3) die Zuwachsrate von x und y ändert, werden sich auch die Maxima in Richtung einer größeren Zu- bzw. Abnahme des Kreditniveaus verändern, und ist darüber hinaus die Beziehung, obwohl sie wahrscheinlich nicht linear ist, mit Sicherheit stetig und kontinuierlich: Allmähliche Veränderungen der Zuwachsraten führen zu allmählichen Veränderungen in der Lage der Maxima. Entsprechend kommt es zu einer kontinuierlichen Abfolge von Veränderungen, wenn man die Beispiele (1) und (4) verbindet,
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wobei x und y zunächst unverändert sind und dann stetig zunehmen, und im Laufe dieser Entwicklung wird das einzige Maximum in Beispiel (1) zunehmend f lacher werden und dann ein f laches Minimum ausbilden, das sich allmählich vertieft, während die Maxima, die es trennt, sich mehr und mehr seitwärts verlagern. Ebenso führt eine allmähliche Veränderung im Verhältnis der Veränderungsraten von x und y in Beispiel (4) zu einer fortschreitenden Asymmetrie der Wahrscheinlichkeitsverteilung: Eines der beiden Maxima wird kleiner, sie entfernen sich in zunehmend ungleichem Maße vom Nullpunkt, und das Minimum verschiebt sich entsprechend, bis es an irgendeinem Punkt dieses Vorgangs ganz verschwindet; an den Grenzen, da wo sich die Zuwachsraten von x und y Null annähern, wird sich die Verteilung jedoch mit einer der Konfigurationen aus den Beispielen (2) oder (3) decken. Aus dieser rein erzählenden Darstellung scheint also hervorzugehen, dass alle Maxima und Minima auf einer einzigen glatten und kontinuierlichen Fläche liegen, und Thoms Theorem zufolge muss das so sein – vorausgesetzt, gewisse Bedingungen sind erfüllt. Eine dieser Bedingungen ist, dass eine Dynamik vorhanden sein muss, ein Mechanismus, der so funktioniert, dass, wenn die Werte von x und y sich verändern, sich auch das aggregierte Kreditniveau verändert, und der diesem entsprechend seine neue Position auf der gekrümmten Fläche einnimmt. Eine andere Bedingung, die erfüllt sein muss, ist, dass diese Dynamik wirksam sein muss. Man könnte zum Beispiel nichts mit einer Dynamik anfangen, die sich mit der gleichen Geschwindigkeit vollzöge wie die Veränderungen im Kontrollraum (die Werte von x und y). Wenn dies der Fall wäre, dann würde sich die entsprechende Position in der Fläche verändern, lange bevor die Dynamik das Kreditniveau auf den richtigen Wert gebracht hätte. Damit eine Dynamik wirksam sein kann, muss sie also in kürzerer Zeit ablaufen als die Veränderungen im Kontrollraum. In Bezug auf die Dynamik müssen wir zwei Fragen stellen. Erstens, auf welche Weise vollzieht sich die Veränderung des Kreditniveaus (so wie sie sich in den Positionsverlagerungen der Maxima äußert)? Zweitens, was geschieht im letzten Fall (4), wo sich zwei entgegengesetzte Veränderungen erkennen lassen? Die Kreditausweitung erfolgt auf dem Wege zahlloser Beziehungen zwischen Kreditgebern (bzw. Rückforderern), also den »Großen Männern«, und Kreditempfängern (bzw. Rückzahlern), also den Anhängern der »Großen Männer«. Das Kreditniveau innerhalb der Gesellschaft ist gleich der Summe der individuellen Kreditaufnahmen. Jedes Individuum wird in jedem Augenblick eine Vorstellung von dem gewünschten Umfang seiner Kreditaufnahme haben – die Optimisten wollen das Niveau ihrer Kreditaufnahme erhöhen, die Pessimisten das ihrige vermindern. Die Wahrscheinlichkeitsverteilungen bilden diesen Spielraum der individuell angestrebten Kreditaufnahmen ab. Die »Großen Männer« (Kreditgeber und Rückforderer) sind zu allen Zeiten bestrebt, die Zahl ihrer Anhänger zu maximieren, was heißt, dass sie die Auswei-
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tung ihres Kredits ständig dem von den Empfängern am meisten gewünschten Kreditniveau anzupassen versuchen. Nun beeinf lussen allerdings diese Kreditgewährung und die Aktivitäten der »Großen Männer« die individuellen Empfänger und veranlassen sie, das gewünschte Niveau ihrer Kreditaufnahme zu revidieren. Die Folge ist, dass die Form der Wahrscheinlichkeitsverteilungen sich wieder verändert, und die »Großen Männer« ihren Kredit ausweiten oder ihn mit dem Ziel zurückfordern, ihre Gefolgschaften zu maximieren, indem sie sich der neuen Lage des Gipfels anpassen. Auf diese Weise sorgen die Beziehungen zwischen dem »Großen Mann« und seinen Anhängern für die Dynamik, die wirkungsvoll den stetigen, kontinuierlichen Prozess gewährleistet, in dessen Verlauf der »Große Mann« ständig bestrebt ist, das Maximum zu erreichen: Den Kredit in einem Umfang auszuweiten (oder zurückzufordern), der ihm die größte Zahl an Anhängern verschafft. Sein Verhalten ist also sehr ortsgebunden (er jagt seinem Gipfel hinterher, so weit wie dieser seine Position verändert) und dabei muss er die globale Situation außer Acht lassen, also das, was an anderen Stellen der Verteilung passiert. Aber der Gipfel ändert nicht einfach nur seine Lage; er verändert auch seine Form, und unter gewissen Bedingungen verschwindet er ganz. Was geschieht dann? Der »Große Mann« passt sich ständig seinem lokalen Maximum an und wird so weder der Tatsache gewahr, dass dieses sich immer weniger ausprägt, noch, dass sich auf einem sehr viel geringeren Kreditniveau ein anderer Gipfel gebildet hat. Wenn dieser neue Gipfel wächst, während sein lokaler Gipfel sich abf lacht, dann wird ein Moment kommen, wo letzterer völlig verschwindet. In dieser Situation gibt es kein lokales Maximum mehr, an das er sich anpassen könnte, und er hat keine andere Wahl, als den plötzlichen und diskontinuierlichen Sprung zu dem neuen Maximum auf dem viel geringeren Kreditniveau zu machen. Nehmen wir zum Beispiel die durch diese Kurve im Kontrollraum beschriebene Abfolge von Veränderungen.
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Wenn sich die Werte von x und y auf diese Weise ändern, ergeben sich aufgrund der Dynamik folgende Kurvenverläufe (Abbildung 40).
Abbildung 40
Das Resultat ist der plötzliche Sprung von der oberen Fläche zur unteren Fläche der Scheitelkatastrophe, der in dem Augenblick eintritt, in dem die Situation im Kontrollraum den Scheitel verlässt. Die Frage ist nun: Welches sind die Wahrscheinlichkeiten im Schweinezyklus? Welche Arten von Veränderungen hinsichtlich der Werte von x und y treten dort auf? Auch hier ist es trotz des Fehlens quantitativer Daten möglich, etwas über die zu erwartenden qualitativen Veränderungen auszusagen. Erstens, es gibt eine begrenzte und tatsächlich sehr kleine Zahl potentieller Beziehungen, die durch die »Lineage«-Ideologie für gültig erklärt werden, während die Zahl der durch sie nicht für gültig erklärten potentiellen Beziehungen theoretisch unbegrenzt und praktisch sehr groß ist. Zweitens, es erscheint vernünftig, dass ein Mann, der seine Kontrolle über Schweine zu maximieren bemüht ist, in erster Linie versuchen wird, diejenigen potentiellen Beziehungen zu aktivieren, die durch die »Lineage«Ideologie für gültig erklärt werden, und dass er erst, nachdem dies geschehen
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Abbildung 41
ist, danach trachten wird, diejenigen zu aktivieren, die in gewissem Maße umstritten sind, und dann die, die überhaupt nicht für gültig erklärt werden. Die Ethnographie trägt dazu bei, diese Annahme zu stützen. Eine Folge dieser beiden qualitativen Faktoren ist, dass die sich im Verlauf des Schweinezyklus ergebende Beziehung zwischen x und y folgendermaßen aussehen muss: Das lässt sich auch so ausdrücken, dass mit zunehmender Dichte und Intensität der Kreditbeziehungen die Zahl derjenigen Beziehungen wachsen wird, die nicht durch die »Lineage«-Ideologie für gültig erklärt werden. Das bedeutet, die Situation wird zwangsläufig, früher oder später, in den Scheitel eintreten. Hier können wir mit einer plötzlichen, diskontinuierlichen Veränderung rechnen; in diesem Falle mit einer Reduzierung des Kreditniveaus, wie sie während der Phase der Hauptleistungen des Zyklus erfolgt. Wenn wir annehmen, dass nicht-aktivierte Kreditbeziehungen verkümmern, dann wird diese plötzliche Reduzierung des Kreditniveaus von einer rapiden Abnahme der Dichte und Intensität besonders derjenigen Beziehungen gefolgt sein, die von der »Lineage«-Ideologie nicht
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für gültig erklärt werden. In solch düsteren unvorhersehbaren Zeiten wird sich herausstellen, wer die wirklichen Freunde sind, und es liegt in der Natur dieser Dinge, dass es, da Blut dicker ist als Wasser, gerade diejenigen sein werden, die einem aufgrund der Abstammung am nächsten stehen. Folglich wird die Zahl der Kreditbeziehungen zurückgehen, und die, die übrigbleiben, werden zunehmend diejenigen sein, die durch die »Lineage«-Ideologie für gültig erklärt werden. Die Situation kehrt zu ihrem Ausgangspunkt zurück. Anhand von x und y ausgedrückt folgt die Situation einem kreisförmigen Verlauf, der einmal den Scheitel durchquert.
Abbildung 43
Um ein Gesamtbild dieses Verlaufs zu erhalten, müssen wir ihn dreidimensional darstellen, indem wir diesen zweidimensionalen Kreislauf nach oben projizieren, bis er die Fläche der dreidimensionalen Abbildung schneidet: Dies ist die Darstellung dessen, was in jedem Klan der »te/moka«-Sequenz passiert. Ein Zyklus mit drei Phasen (A, B und C oder D, E und F) umfasst etwa vier Jahre. Während eines solchen Zyklus steigt das Kreditniveau von seinem niedrigsten Stand ziemlich steil an, bis es sich auf seinem Höhepunkt, der Zeit der Hauptleistungen, abf lacht. Dies ist der Punkt, an dem die Situation den Scheitel verlässt, und in diesem Moment werden alle Darlehen zurückgefordert und das Kreditniveau fällt plötzlich auf seinen niedrigsten Wert:
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Abbildung 44
Um das Gesamtbild zu erhalten, müssen alle Klans summiert werden. Die Hauptleistungen wandern entlang der Sequenz über einen Zeitraum von mehreren Monaten von einem Klan zum anderen, und dies bedeutet, dass es für das ganze System im Zeitablauf ein etwas f lacheres Kreditniveau ergeben wird, vor allem aber wird der plötzliche Übergang vom Gipfel zum Tiefpunkt verschwinden und durch eine steile Neigung ersetzt. Das heißt, wir erhalten die hypothetische Kurve für den Kreditzyklus (siehe Abbildung 32). Die Existenz des Wendepunktes lässt sich nun ohne Rückgriff auf äußere Interventionen erklären. Die Handlungen der Gesamtheit der individuellen Schweinezüchter transformieren das System, dem jeder einzelne von ihnen angehört und das nichts anderes ist als die Totalität aller individuellen Beiträge. Diese Transformationen treiben das System in den Scheitel und durch ihn hindurch, wobei, bevor es den Scheitel verlässt, das wahrscheinlichste Ergebnis ein plötzlicher katastrophaler Zusammenbruch des Kreditniveaus ist und das am wenigsten wahrscheinliche, dass es keine derartige Veränderung geben wird. Die Protagonisten der Katastrophentheorie legen besonderen Wert auf die Feststellung, dass man mit einem einzigen einfachen kleinen Bild etwas darstellen könne, für das sonst Seiten und Seiten verbaler Beschreibung notwendig wären. Außerdem könne man mit dem richtigen Bild etwas eindeutig, präzise und ohne Widerspruch darstellen, das entweder mit Worten nicht adäquat beschreibbar wäre oder sonst einer verbalen Beschreibung bedürfte, die voller scheinbarer Widersprüche und Tautologien wäre. Eine derartige offensichtliche Tautologie ist eben die keynesianische Bemerkung, die ich gerade gemacht habe, dass nämlich die Gesamtheit nichts anderes ist als die Summe ihrer Teile. Wenn man sich aber das Katastrophenbild ansieht, für das dies eine so inadäquate verbale Beschreibung ist, verschwindet die Tautologie, und das sonst hartnäckige Problem der Beziehung zwischen Mikro (Individuum) und Makro (Totalität) ist gelöst. Darum ist der Anteil der Katastrophentheorie an der Erklärung so wesentlich, weil wir, ausgerüstet mit dieser topologischen Formulierung, nun reibungslos, ohne uns selbst zu widersprechen und uns in Tautologien zu verstricken, vom individuellen Schweinezüchter zum Gesamtsystem übergehen können.
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Es bleiben noch zwei Aufgaben. Erstens den Versuch zu machen, den Schleier des Geheimnisses zu lüften, der gegenwärtig alle katastrophengeometrischen Erklärungen umhüllt. Zweitens zu fragen, was überhaupt die Bedeutung von all dem ist. Die Forschungsreisenden in W. H. Audens »The Quest« waren: »auf alles gefasst, hätte es nur Umstände gegeben, in denen sie hätten sein können; leider waren sie die Umstände selbst.« 7 Das Gleiche gilt für die Schweinezüchter von Neuguinea. Die Scheitelkatastrophe mit ihrer Dynamik ist eine eindrucksvolle und komprimierte Art der Beschreibung gerade dieser Form von Beziehung zwischen Handelndem und Situation. Das Schaubild ermöglicht eine Darstellung der Wahrscheinlichkeiten bestimmter sozialer Phänomene, und bei diesen Phänomenen handelt es sich im Allgemeinen um soziale Handlungen, hinsichtlich derer partiell widersprüchliche Ideologien existieren können. Der zyklische Verlauf folgt einer bestimmten Sequenz solcher Wahrscheinlichkeiten, von denen jede, soweit es den einzelnen Schweinezüchter betrifft, seine Situation definiert. Die Antwort auf die Frage »Welche Kräfte zwingen die Situation, der besonderen, durch diesen Verlauf beschriebenen Wahrscheinlichkeitssequenz zu folgen?« muss folglich lauten: »das rationale Maximierungsverhalten der individuellen Schweinezüchter.« Mit anderen Worten, die Katastrophentheorie ermöglicht es uns, ein Bild zweier verschiedener Arten von Scheuklappen zu zeichnen: ein Bild des nicht auf lösbaren Widerspruchs zwischen nebeneinander bestehenden Ideologien. Sie beschreibt also, wie es kommt, dass manche Leute die eine Art von Scheuklappen und andere die andere Art von Scheuklappen erwerben, und sie zeigt weiter, wie und warum eine Person die eine Art von Scheuklappen gegen die andere vertauschen mag. Sie zeigt, wie es kommt, dass intelligente und denkende Menschen, wenn sich ihre Situationen ändern, die Grundlagen ihres rationalen Verhaltens ändern, und sie zeigt, wie das aggregierte rationale Verhalten ihre individuellen Situationen verwandelt. Beim Versuch zu beurteilen, welche Bedeutung all dies hat (abgesehen vom reinen Vergnügen, das der Versuch, schwierige Probleme zu lösen, mit sich bringen mag), fällt mir auf, dass, obwohl dieser katastrophentheoretische Ansatz selbst da erfolgreich ist, wo sogar das Hansen-Samuelson-Modell versagt, er dennoch ganz dem Geiste Keynes« entspricht. Die Katastrophentheorie sollte also – wenn überhaupt zu irgendetwas – eher dazu führen, Keynes zu verbessern, als ihn abzulehnen (was angesichts unserer post-keynesianischen Übel gegenwärtig der populäre Trend ist). 7 Der Originaltext lautet: «In W.H. Auden’s expedition the members were: «sound on Expectation / Had there been situations to be in; / Unluckily they were their situation.”
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Keynes nannte sein Hauptwerk, in Entsprechung zu Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie, ganz bewusst eine Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes, denn er war der Meinung, dass seine Theorie die klassische Nationalökonomie in der gleichen Weise subsummiere wie Einsteins Theorie die Newtonsche Mechanik. Die Katastrophentheorie bietet die Möglichkeit, Keynes mit Hilfe von Keynes zu verbessern. Keynes macht eine Annahme – sein berühmtes fundamentales psychologisches Gesetz – bezüglich des Punktes, an dem die Wirtschaftstheorie soziale Überlegungen in Betracht ziehen muss, und entschied sich dafür, jenen Input als Konstante anzusehen. Indem der Schweinezyklus seine heftigen Auf- und Ab-Bewegungen durchläuft, wird nur zu deutlich, dass die Enga-Schweinezüchter nicht geneigt sind, »im Großen und Ganzen durchschnittlich« einen »konstanten« Anteil ihres Einkommenszuwachses zu sparen. Die marginale Konsumneigung ist meistens keine Konstante. Im Allgemeinen variiert sie nicht infolge ökonomischer Kräfte, sondern infolge der mit dem Schwanken der Gewissheit innerhalb des Systems verbundenen sozialen und kulturellen Kräfte – infolge des Hobbesschen Tauziehens also. Die Anthropologen sind nachlässig gewesen, insofern sie sich nicht besonders darum bemüht haben herauszufinden, welches diese Kräfte sein könnten, aber nun, ziemlich verspätet, sieht es so aus, als erlaube uns die Katastrophentheorie, die allgemeine Gleichung zu schreiben, deren Sonderfall die keynesianische Theorie mit ihrer sozialen Konstante ist. Dies, so scheint mir, können wir erreichen, indem wir den Westen und den Rest, also Wirtschaftswissenschaft und Anthropologie, zusammenbringen.
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10. Das Nadelöhr
Ich habe mit der kühnen Behauptung begonnen, der Anthropologe könne, indem er Müll studiere, zu einem tieferen Verständnis der Beziehung des Menschen zu seiner Umwelt gelangen als der Ökologe oder der Ökonom. Lassen Sie mich zum Schluss, etwas bescheidener, die Ansicht äußern, dass die Katastrophentheorie die Hypothese liefert, die uns zu einem tieferen Verständnis und zur Lösung der Widersprüche führen kann, die durch die Theorie des Mülls aufgedeckt werden. Das Beharren der Ökologen auf der Verbundenheit aller Dinge kann nicht die Gewissheit aus der Welt schaffen, dass wir niemals alles berücksichtigen können. Das Vertrauen der Ökonomen, auf dem festen Boden der Knappheit einen sicheren Standort zu haben, wird erschüttert, wenn sie erkennen, dass sie tatsächlich im Treibsand kultureller Werte stehen. Wenn Menschen beginnen, sich unzulänglich zu fühlen, verhalten sie sich defensiv. Das ist eine verständliche, aber unglückselige Reaktion, denn der einzige intellektuelle Stil, der den Ökologen und den Ökonomen aus ihrer allgemeinen Misere befreien kann, ist expansiver, leichtsinniger Optimismus; etwas, das auf Sicherheit bedachten, theoriesammelnden Pessimisten nicht leichtfällt. Sie sollten die Vorsicht und, wenn es sein muss, liebgewonnene Konzeptionen über Bord werfen. Der Ökologe sollte tief Atem holen und sich dann ganz anderen Fragen im Hinblick auf Verbundenheit widmen. Welche Art von Verbindung existiert zwischen dem Drang, die Verbundenheit aller Dinge zu verstehen, und dem sozialen Kontext, den sozialen Beschränkungen und Freiheiten der Person, die jenen Drang verspürt? Und wie unterscheidet sich dieser soziale Kontext von dem des Individuums, das keinen solchen Drang verspürt? Warum wird eine Person ermutigt, Trost in wachsender Gewissheit zu suchen, und eine andere, von der Aushöhlung dieser Gewissheit zu profitieren? Welche Verbindung besteht zwischen diesen beiden Kontexten? Welche Odysseen erwarten die Individuen, die die Reise von einem Kontext zum anderen unternehmen? Der Ökonom wäre für seinen Teil gut beraten, ein Verständnis für die dynamischen Eigenschaften der Kulturtreibsände zu entwickeln, die ihn zu verschlingen drohen. Da der Ökologe und der Ökonom angesichts ihrer gegenwärtigen misslichen Lage wohl kaum imstande sein werden, selbst irgendetwas an all dem zu ändern, habe ich mir die Freiheit genommen, es, in zugegeben, ziemlich weitschweifiger Weise, für sie zu tun.
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Mülltheorie
Die Hypothese der Katastrophentheorie ist eine grundlegend neue Art der Annäherung an das zentrale Mysterium der Sozialwissenschaften: die Beziehungen zwischen Kategorie und Handeln, zwischen Kultur und Gesellschaft, zwischen Werten und Verhalten. Sie rückt die Vorstellung in den Vordergrund, dass kulturelle Kategorien, auch wenn sie in gewissem Maße sozial aushandelbar sind, doch eine gewisse Unnachgiebigkeit an den Tag legen. Sie können zwar verschoben werden, aber sie lassen sich nicht überall hinschieben. Dies ist an sich kein besonders neuer Gedanke und die meisten, wenn nicht alle Sozialwissenschaftler würden wahrscheinlich damit übereinstimmen. Diese Übereinstimmung wird jedoch immer nur in informeller Sprache ausgedrückt. Wenn die Sprache undurchlässiger, präziser, stärker formalisiert wird und weniger Widersprüche duldet, dann wird die Vorstellung von der Beziehung zwischen beiden zum einen oder zum anderen Extrem hingezwungen. Entweder erscheint Kultur so formbar, dass sie sich unbegrenzt verschieben lässt, bis sie nur noch ein Epiphänomen des sozialen Handelns ist; oder sie wird als so rigide verstanden, dass Verhandeln unmöglich wird – und Kultur das soziale Handeln bestimmt. An diesem Punkt wird der Sozialwissenschaftler, plötzlich in die Informalität zurückgleitend, zugeben, dass die Beziehung zwischen Kategorie und Handeln tatsächlich etwas von beiden hat. In Wirklichkeit hat sie aber von beiden nichts. Wer segmentäre Abstammungs-Systeme erforscht, wird hin und wieder aus den Tiefen seiner Analyse emportauchen, um die übliche Ankündigung zu machen: »Bei den Soundso wird Politik in der Sprache der Blutsverwandtschaft geführt.« Die Annahme besteht hier darin, dass es zwei autonome Bereiche gebe, Blutsverwandtschaft (Kategorie) und Politik (Handeln), die nach Art von Medium und Botschaft oder wie die Spielregeln für Schach und das Spielen von Schach miteinander verbunden sind, und dass mit Bezug auf jedes einzelne Ereignis diese Analogie gültig sei. Das ist der nächste Schritt in der herkömmlichen Argumentation, der nicht gültig ist. Hier wird die Behauptung aufgestellt, dass, wenn es zwei autonome Bereiche im Hinblick auf dieses Ereignis gebe, es folglich auch zwei autonome Bereiche im Hinblick auf das nächste Ereignis gebe, und daraus wieder folgend zwei autonome Bereiche im Hinblick auf beide Ereignisse. Das ist der bequeme Trugschluss, den Whitehead mit seiner Philosophie des »ewigen Objekts« aufzudecken und richtig zu stellen bemüht war. Der Irrtum entsteht in folgender Weise: Das Ereignis verbindet die beiden Bereiche, und folglich können die beiden Bereiche im Verlauf des Ereignisses nicht völlig voneinander getrennt bleiben (obgleich sie nicht völlig miteinander verschmolzen sein müssen und dies sehr oft auch nicht sind). Nach dem Ereignis gibt es wieder zwei getrennte Bereiche, daher kann nicht angenommen werden, dass es dieselben Bereiche sind. Nur in dem speziellen Fall, dass sich zufällig der verschmolzene Teil in Segmente aufspaltet, die identisch sind mit denen, aus denen er sich gebildet hat, ist diese Annahme gültig. Dies ist der Spezialfall, in
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dem es Beständigkeit und keine Veränderung gibt. Ich will also sagen, dass es bis jetzt noch keine formelle Sprache gibt, mit deren Hilfe wir die Begriffe Beständigkeit und Veränderung in den Griff bekommen können, unbeschadet der Tatsache, dass es natürlich möglich ist, über alles informell zu sprechen. Indem der Sozialwissenschaftler diese Annahme macht, wählt er zwei polare Spezialfälle aus der Allgemeinheit aus, die sich zwischen diesen beiden Polen erstreckt, ohne irgendeinen Grund dafür anzugeben, warum sie auf diese Weise privilegiert sein sollten. Dass es keine »privilegierten Momente« gibt, ist ein Leitprinzip für Astronomen. Würde es doch nur auch von jenen geteilt, die auf die Menschheit starren! Wenn der Sozialwissenschaftler erst einmal seine zweifelhafte Annahme der Getrenntheit gemacht hat, kann er einen Prozess entweder von einem Standpunkt innerhalb des einen Bereiches oder von einem innerhalb des anderen aus analysieren. Er kann dann zwar nicht mit gespaltener, aber doch mit zwei Zungen reden. Die eine sagt, dass kulturelle Kategorien die Widerspiegelung oder das Nebenprodukt sozialen Handelns seien; die andere sagt, dass Kultur das Regelbuch sei, in dem festgelegt ist, welche Handlungen möglich sind. Anschließend behauptet er, in der Lage zu sein, seine zwei Zungen wieder zusammenzunähen, ohne eine von beiden am Sprechen zu hindern. Diese zusammengenähte Zunge sagt, dass kognitive Systeme, natürlich, nicht einfach in der Isolation entstehen. Sie sagt, dass ein Weltbild immer eng an den sozialen Kontext gebunden ist, dem es Bedeutung verleiht. Aber es muss ein besonderes Band sein: Die beiden Teile, Weltbild und sozialer Kontext, müssen vollkommen ausgeglichen sein. Mit anderen Worten, die beiden Zungen können sich nur in dem speziellen Fall, dass es Beständigkeit und keine Veränderung gibt, in völliger Harmonie miteinander bewegen. Wenn das Weltbild den sozialen Kontext ändern könnte und wenn dieser das Weltbild ändern könnte, dann würde seine zusammengenähte Zunge ihm wohl einige sehr peinliche Sprechhemmungen verursachen. Wenn wir darauf bestehen, brauchbare Klassifikationsprinzipien immer in Verhältnis zu funktionierenden gesellschaftlichen Organisationsformen zu untersuchen, dann kann deutlich werden, dass schon die Natur der Sprache, in der wir sie beschreiben, uns nahe legt anzunehmen, dass dieses Verhältnis sich selbst perpetuiert. Natürlich muss in ihm selbst ein sich perpetuierendes Element enthalten sein, denn sonst gäbe es ja keine wiederkehrenden Regelmäßigkeiten, die unsere Aufmerksamkeit auf sie lenken könnten. In diesem Sinne, mit Bezug auf eine erkennbare Beständigkeit im Rahmen einer sozialen Erfahrung, verwende ich den Begriff »funktionierend«. Die Art von Sprache aber, die wir benutzen, um diese funktionierenden Beziehungen zu beschreiben (Henne-oder-Ei-Feststellungen nach dem Muster »Wir formen unsere Bauwerke, und unsere Bauwerke formen uns«), unterstellt nicht bloß irgendeine erkennbare Beständigkeit, sondern eine ewige Wiederholung. Doch waren weder unsere Bauwerke immer so,
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wie sie es jetzt sind, noch wir immer so, wie wir es jetzt sind. Wir interpretieren also durch solche Formeln eine sich verändernde Realität als statisch und stellen uns gegen den Strom des sozialen und kulturellen Wandels. Worte sind, wenn es um dynamische Prozesse geht, Fallstricke und können sogar den Wachsamen in die Irre führen. Bilder sind da viel besser. Das entsprechende Verhalten ist ein Resultat des monsterausschließenden Stils, der zwangsläufig aus der Annahme folgt, Dinge ließen sich voneinander trennen; das aber hat ernsthafte Konsequenzen. Der Monsterbewahrer, der Trennbarkeit nicht voraussetzt, wird versuchen, einen Ansatz zu wählen, der, manchmal als phänomenologischer Ansatz bezeichnet, die Aufmerksamkeit auf das Spektrum und die Vielfalt sozialen Verhaltens richtet, und versuchen, dieses Spektrum und die Vielfalt dadurch zu erklären, dass er die Geschmäcker bestimmt, die diesem Verhalten entsprechen. Dann wird er untersuchen, welche Geschmacksrichtungen von der Gesellschaft akzeptiert und welche abgelehnt werden, und ob Annahme und Ablehnung auf innere oder äußere Faktoren zurückzuführen sind. Auf diese Weise führte Ruth Benedict ihre Untersuchungen durch. Seither (seit den dreißiger Jahren) sind die Monsterbewahrer aus den Sozialwissenschaften offenbar verschwunden. Ruth Benedict bekämpfte die extremen Kategorientheoretiker, die mit Durkheim riefen: »Das Individuum existiert nicht!«, ebenso wie die extremen Handlungstheoretiker, die behaupten, dass »die Gesellschaft weder etwas ist noch sein kann, das über den Einzelpersonen steht, aus denen sie sich zusammensetzt.«1 Sie war der Meinung, dass es sich dabei um einen falschen Antagonismus handele, der nicht auf irgendeiner intrinsischen Unvereinbarkeit zwischen Kategorienund Handlungstheorie beruhe, sondern auf die Eigentümlichkeiten der Anthropologie und der Soziologie zurückzuführen sei. »Der Streit zwischen denjenigen, die es für nötig hielten, in der Gruppe mehr als nur die Summe ihrer Teile, also der Einzelindividuen zu sehen, und denen, die dies überflüssig fanden, glich größtenteils dem zwischen zwei Wissenschaftlern, die verschiedene Daten verwenden. Durkheim, der auf langjähriger Vertrautheit mit der Vielfalt der Kulturen und besonders mit der australischen Kultur fußte, wies immer wieder, wenn auch in oft recht unbestimmter Formulierung, auf die Notwendigkeit von Kulturstudien hin, während andererseits Soziologen, die sich mehr mit unserer »genormten« Kultur befassten, eine Methodik bekämpften, die sich bei ihrer Arbeit einfach als nicht erforderlich erwies.«2
1 Benedict, R.: Patterns of Culture, London 1935, S. 166; dt.: Urformen der Kultur, Reinbek 1955, S. 177. 2 Benedict, a. a. O., S. 167.
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Auch Ruth Benedict verfügte über eine langjährige Vertrautheit mit der Vielfalt der Kulturen, aber mit deren bestürzender Mannigfaltigkeit konfrontiert, fiel sie nicht (wie Wittgenstein) in die Doktrin des Kulturrelativismus zurück. Sie fand, dass Kultur nicht isoliert untersucht werden solle, sondern eng mit funktionierenden Sozialstrukturen verbunden gesehen werden müsse. Dies bedeutet, dass sie über die Mittel verfügte, Kulturrelativismus abzulehnen, ohne sich deshalb einem Kulturuniversalismus hingeben zu müssen. Jede Kultur könne einzigartig sein, aber das sei von geringer Bedeutung, da die Bedingung des Funktionierens bedeute, dass Kulturen unvermeidbar bestimmte begrenzte und spezifizierbare Konfigurationen annehmen: Es gebe »kulturelle Muster«. Diese Muster und nicht die einzelnen Kulturen, die wie verschiedenfarbige Tintensorten nur die Mittel waren, mit deren Hilfe die Muster gezeichnet wurden, müssten von Anthropologen beschrieben und zu verstehen versucht werden. »Bei allen Sittenstudien liegt die Schwierigkeit darin, dass die untersuchten Verhaltensweisen durch das Nadelöhr der gesellschaftlichen Anerkennung gehen müssen.«3 So greif bar nahe war sie dem Erfolg, doch dann verschenkte sie ihn wieder: »Nur die Geschichte im weitesten Sinne kann über ihre Annahme und Ablehnung durch die Gesellschaft Auskunft geben.«4 Ihr verhängnisvoller Fehler war ihre Überzeugung, dass zwischen Kategorien- und Handlungstheorie kein Widerspruch bestünde: dass Anthropologie und Soziologie miteinander versöhnt werden könnten, ohne gleichzeitig bis zur Unkenntlichkeit transformiert zu werden. Sie glaubte, beide seien wahr und ihr Antagonismus sei falsch, doch war es genau umgekehrt. Der Antagonismus ist wahr, und Anthropologie und Soziologie sind beide falsch. Der Prozess am Nadelöhr ist der Schlüssel zum Verhältnis zwischen Beständigkeit und Wandel. Wenn es keinen Prozess gäbe, wenn nie irgendetwas durch das Nadelöhr gegangen wäre, dann würde das Beständige beständig bleiben und das Veränderliche veränderlich. Wenn am Nadelöhr ein Prozess stattfindet, wenn einst beständige Dinge veränderlich werden und einst veränderliche Dinge Beständigkeit erlangen können, dann kann dieser Prozess im Allgemeinen erklären, warum das, was jetzt als traditionell gilt, nicht genau dem entspricht, was vorher als traditionell verstanden wurde. Monsterausschließende Anthropologen müssen entweder die Existenz des Nadelöhrs leugnen oder aber seine Existenz anerkennen und es einer anderen Disziplin überlassen: der Physiologie, der Psychologie oder den Naturwissenschaften. (Als Ruth Benedict feststellte, dass das Nadelöhr sich immer noch in ihrer Sphäre befand, verlor sie in letzter Minute die Nerven und schob es auf »die Geschichte im weitesten Sinne«.) Gewöhnlich entschuldigen sie ihr Verhalten, diesen lästigen Teil ihres Erstgeburtsrechts zu verschenken, indem sie auf Wittgensteins Ausrede zurückgreifen, dass es eigentlich 3 Benedict, a. a. O., S. 167. 4 Benedict, a. a. O., S. 167.
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nichts schade. Wie Wittgenstein, der behauptet, es spiele keine Rolle, dass die Kompositionsregeln sich ändern, weil sie sich so langsam ändern, argumentieren sie, der Prozess am Nadelöhr vollziehe sich so allmählich, dass er nur von geringer Bedeutung sei. Die Monsterausschließer verharmlosen also den Widerspruch, der sich daraus ergibt, dass sie Tradition als das definieren, was sich nicht verändere. Doch im nächsten Atemzug reden sie über die »sich ändernde Tradition« und nehmen an, dies sei zu vernachlässigen, weil es allmählich geschehe. Welchen besseren Weg kann es daher geben, als die schädlichen Folgen dieses Widerspruchs durch die Infragestellung dieser Annahme aufzuzeigen? Im Jahre 1972 wurde eine Seminarreihe über »Tradition« auf folgende Weise eingeleitet: »[...] der Gedanke eines zeitlichen Akkumulations- und Selektionsprozesses, in dessen Verlauf einige Elemente überleben, andere dahinschwinden, neue auftauchen und einen Platz im Kontext dessen einnehmen, was überlebt hat. Es ist ein Bild eines zeitlichen Prozesses, in dessen Verlauf ein Muster sowohl fortbestehen als auch sich verändern kann. Ein beherrschendes »Thema« oder Muster durchdringt das Beständige und beeinflusst die neuen Elemente; unterdessen verändert sich das frühere »Thema« selbst unter dem Einfluss der neuen Elemente, so dass das frühere »Thema« dahinschwindet und durch ein anderes ersetzt wird. Dieser Prozess der Akkumulation, der Selektion und des Dahinschwindens existiert in jedem Bereich des sozialen und kulturellen Lebens […].5 Die Annahme einer allmählichen Veränderung wird in ähnlicher Weise häufig auch von Kunst- und Architekturhistorikern bevorzugt. Die »klassische« Tradition in der englischen Architektur zum Beispiel wird häufig in dieser Weise präsentiert, wobei die Themen »Geschmack«6 und »Gleichgewicht« als Reaktion auf soziale, technologische und intellektuelle Veränderungen verschmelzen, während wir von den aufregenden Innovationen eines Inigo Jones, der die Arbeit von Palladio frei interpretierte, zu den beschränkten Wahlmöglichkeiten der Klassizisten fortschreiten, die pedantisch auf archäologischer Genauigkeit bestehen. Dies ist zweifellos ein nützlicher Erklärungsrahmen, aber seine Nützlichkeit und Gültigkeit steht in umgekehrt proportionalem Verhältnis zur Veränderungsrate der Tradition. Wenn wir uns ansehen, was in den Jahren des 19. Jahrhunderts geschah, so stellen wir fest, dass nicht ein Thema allmählich das vorhergehende, von 5 Aus den vervielfältigten Einführungspapieren, die von dem Vorsitzenden, Professor E. Shils, verteilt wurden. 6 Verwirrenderweise nicht »Geschmack« im üblichen Sinne, sondern im speziellen Sinne des 18. Jahrhunderts, wonach die exklusive snobistische Anerkennung von gewissen festgelegten Werten durch gewisse Leute gemeint ist.
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dem angenommen wurde, dass es nach und nach verschwand, ersetzte, sondern dass zwei Themen vorhanden waren, die in direkter Opposition einander gegenüberstanden. Diejenigen, die wir heute Klassizisten nennen (Soane, Cockerell, Wilkins, Smitke, Adams) betrachteten sich selbst einfach als Vertreter des klassischen Stils. Zu Unrecht, wie ihre Gegner behaupteten. Dass es um »allmähliche Veränderung« gegangen sei, stimmt nicht. Diese Prozesse spalteten sogar kleinste Familien. Sir John Soane und sein Architekturjournalisten-Sohn befanden sich in entgegengesetzten Lagern. Als sich das gegnerische Thema entwickelte und die englische Landschaft mit den massiven Säulen emphatischer architektonischer Äußerungen übersät war, wurde die Allmählichkeitsauffassung zunehmend unhaltbar, und die unvermeidbare endgültige Kraftprobe war, als sie schließlich eintraf, dramatisch, total und praktisch augenblicklich entschieden: Die »Revolution gegen den Geschmack« führte zum plötzlichen und vollständigen Sturz der klassischen Tradition durch das rivalisierende Thema, das gleichzeitig die Oberhand gewann. »Allzu oft wird dieses Phänomen bloß als eine pietistische Intensivierung der antiquierten Neugotik dargestellt. Es war viel mehr als das. In ihr zeigte sich eine tiefe und ungeheure Einsicht. Man wusste, was man zerstören wollte, wahrscheinlich besser, als was man errichten wollte. Die Herrschaft des Geschmacks zu stürzen, war das erste Ziel, das mit unglaublicher Leichtigkeit erreicht wurde. Das dreihundert Jahre alte Gebäude stürzte im Laufe von zehn Jahren nach der Veröffentlichung von Pugins Contrasts im Jahre 1836 in sich zusammen; das minderwertige Zeug der frühen viktorianischen Architektur war aus seinen Trümmern zusammengesetzt. Was an seiner Stelle geschaffen werden sollte, war das Problem, das drei Generationen von Architekten verwirrte und in Verlegenheit brachte.« 7 Hier ist also der Grenzfall, wo der Allmählichkeitsstandpunkt völlig untauglich wird; wo ein einzelnes Ereignis (die Veröffentlichung eines Buches) den Rahmen, in dem es vermeintlich enthalten ist, total verändert und an dessen Stelle ein Ödland architektonischer Anomie zurücklässt. Statt allmählicher Veränderung – einer Menge Tradition und ein bisschen Veränderung – stellen wir eine plötzliche Veränderung – keine Tradition und nur Veränderung – fest. Es scheint also, dass die Veränderungen, die aus dem Prozess am Nadelöhr resultieren, überraschend, diskontinuierlich und manchmal sehr umfassend sein können. Daraus folgt, dass man sich dem Allmählichkeitsstandpunkt nur annähern kann, wenn man eine genügend distanzierte Haltung einnimmt. Im Grenzbereich, wo alles Veränderung ist, existiert ein solcher Standpunkt nicht.
7 Summerson, J.: Georgian London (1945), London 1962, S. 292.
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Wenn die Phänomene, die wir untersuchen, sowohl von allmählichen als auch von plötzlichen Veränderungen bestimmt sind, wie können wir ihnen dann gerecht werden? Die Lösung liefert das, was als »nicht-Hamiltonsche Mathematik« bezeichnet wird, und die Unterscheidung zwischen dieser und der Hamiltonschen Mathematik kann auch der Veranschaulichung der gegenwärtigen Dominanz einer intellektuellen Tradition (der kartesianischen), deren Thema allmähliche oder plötzliche Veränderung ist, und der Unterdrückung der rivalisierenden Tradition (der heraklitischen) dienen, deren Thema allmähliche und plötzliche Veränderung ist. Die Hamiltonsche Mathematik ist eine Mathematik der allmählichen Veränderung, bei der »marginale Veränderungen im Jetzt auch später nur marginale Veränderungen verursachen.«8 Die Naturwissenschaften stützten sich fast ausschließlich auf die Hamiltonsche Mathematik (in der Infinitesimalrechnung zum Beispiel), und mit ihrer Hilfe haben sie so beeindruckende Vorhersageerfolge erzielt, dass die angewandte Mathematik weitgehend unter die Herrschaft der Naturwissenschaften geraten ist mit dem Ergebnis, dass Hamiltonsche Mathematik wie Mathematik überhaupt, verständlicherweise, aber fälschlicherweise, als ein und dasselbe betrachtet wurden. Die Naturwissenschaften (einschließlich der Biologie und der Sozialwissenschaften) kennen jedoch viele Beispiele plötzlicher und diskontinuierlicher Veränderung als Reaktion auf marginale Veränderungen, wie zum Beispiel die Umwandlung von Wasser in Wasserdampf; diese Phänomene werden mit Hilfe einer expliziten Rechtfertigung, der so genannten Konvention9 behandelt (aber nicht erklärt oder beschrieben). Eine Konvention ist einfach eine Faustregel, mittels derer der Wissenschaftler automatisch von einem Allmählichkeitsstandpunkt zu einem Plötzlichkeitsstandpunkt überwechseln kann (oder umgekehrt). Solange die Konventionen deutlich sichtbar sind und die für ihre Überschreitung erforderlichen Verfahren anstandslos beachtet werden, gestatten sie die Koexistenz der sich gegenseitig widersprechenden Themen des Allmählichkeitsstandpunkts und des Plötzlichkeitsstandpunkts. Eine derartige explizite Rechtfertigung und ein derartig gewissenhafter Gebrauch der Konventionen sind der Art und Weise, wie diese Themen in den Sozialwissenschaften behandelt werden, weit überlegen. Dort werden sie nämlich verschleiert, entweder indem man ihre Existenz leugnet und als belanglos abtut oder indem man zwischen formeller und informeller Sprache hin und her springt und dabei ständig behauptet, sie seien ein und dasselbe. Wenn dieser schlampige 8 Zeeman, E. C.: The Geometry of Catastrophe, in: Times Literary Supplement, 10. Dezember 1971. 9 Beispiele sind die »Maxwell-Konvention« in der kinetischen Gastheorie, »Stoßwellen« in der Flüssigkeitsdynamik und die »Neumannschen Linien« in der Elementarteilchenphysik. Die »Verzögerungskonvention« in der Katastrophentheorie ist falsch benannt, in Wirklichkeit handelt es sich um ein Theorem.
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Zustand jedoch erkannt worden ist und die Konventionen der Sozialwissenschaften explizit gemacht werden, befinden sich die Naturwissenschaften und die Sozialwissenschaften im selben Boot und können der gleichen Kritik unterworfen werden. Der Physiker, der sich einer expliziten Konvention bedient, sagt: »Ein Gas ist immer ein Gas, außer wenn es etwas anderes ist, wie zum Beispiel eine Flüssigkeit oder ein fester Körper.« Der Sozialwissenschaftler, der sich einer impliziten Annahme bedient, sagt entweder: »Wenn die Dinge bleiben, wie sie sind, gibt es keine Veränderung« oder: »Wenn die Dinge sich ändern, geht mich das nichts an.« Diese entmutigend trivialen Schlüsse könnten vermieden werden, wenn wir einen Beschreibungs- und Vorhersagerahmen finden könnten, der sowohl die allmählichen als auch die plötzlichen Veränderungen umfasste, denn dann würde die Notwendigkeit von Konventionen verschwinden. Die Katastrophentheorie liefert diesen Rahmen. Aber zuerst muss das Problem in eine geeignete Form gebracht werden. In Bezug auf ein einzelnes Ereignis kann man vom Beständigen und vom Veränderlichen sprechen; in Bezug auf eine Ereignisfolge ist das nicht möglich, da es häufig vorkommt, dass ein Ereignis die Inhalte der Kategorien des Beständigen und des Veränderlichen verändert. Derartige Einwände entfallen, wenn wir unsere Aufmerksamkeit nicht auf die Kategorien, sondern auf die Grenze zwischen ihnen richten. Diese Grenze existiert so lange, wie manche Dinge beständig und andere veränderlich sind und die Veränderungen, die sich hinsichtlich der Inhalte dieser Kategorien ergeben, als Überschreitungen dieser Grenze registriert werden. Somit kann man sich die Grenze vorstellen als Umschließung einer endlichen Kategorie beständiger Dinge, umgeben von einem unendlichen Ozean der Veränderlichkeit. Diese Grenze ist nicht unveränderlich, sondern selbst eine Variable, abhängig von zwei anderen Variablen, den Überschreitungen vom Veränderlichen zum Beständigen und den Überschreitungen vom Beständigen zum Veränderlichen. Diese beiden Variablen verursachen eine Veränderung der Grenze sowohl, was ihre Eindeutigkeit oder Verschwommenheit, als auch, was ihre Position betrifft. Dieser Art von Grenzveränderung haben wir mit dem Begriff des Grenzerhaltungsindex bereits qualitativen Ausdruck verliehen. Auf welche Weise diese beiden Variablen miteinander verbunden sind, kann mit Hilfe eines einfachen Beispiels erklärt werden. Vor einigen Jahren, als die »Unruhen« an den Guildford und Hornsey Art Schools gerade ihren Höhepunkt erreichten, bewarb ich mich um einen Posten als Dozent für »Liberal Studies« an einer Kunstakademie und wurde zu einem Einstellungsgespräch eingeladen. Der Rektor erklärte mir, dass er, als er selbst – lange vor dem Krieg – Student war, während seiner vielen Jahre an Provinz-Colleges und Londoner Colleges nur einen Helden gehabt habe (Monet oder Cezanne, ich habe vergessen, welchen der beiden). Auch seine Kommilitonen seien, sagte er, obgleich sie nicht denselben Helden wie er hatten, dem ihren treu geblieben.
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Heutzutage aber hätten die Studenten, die sich von journalistischen und daher vergänglichen Publikationen (wie zum Beispiel Studio International und Art Forum) nährten, häufig schon am Ende des Semesters ganz andere Helden als zu dessen Beginn, ja wechselten ihre Helden zuweilen sogar wöchentlich aus. Ein derartig rapider Heldenumsatz war ihm sichtlich ein Gräuel, und er wollte wissen, ob ich ihnen, wenn ich sie in Anthropologie unterrichtete, etwas Beständiges und Dauerhaftes bieten würde, an das sie sich halten könnten. Er war eindeutig der Meinung, dass Tradition erstens eine Notwendigkeit sei; zweitens, dass Tradition zerstört würde, und dass dies drittens schlecht sei; und weiterhin, dass dieser Zerstörungsprozess aufgehalten und, wenn möglich, zum Stillstand gebracht und umgekehrt werden müsse. Darüber hinaus befand er sich in einer Position, die es ihm erlaubte, in diesem Sinne aktiv zu ein. Ohne weiter auf meine Antwort einzugehen, verrate ich nur noch, dass ich die Stelle nicht erhielt, und dass sie darauf hin neu ausgeschrieben und schließlich an einen Archäologen vergeben wurde. Viele Grenzkräfte wirken auf das »feste Zentrum der Dinge«10 in der Kunsterziehung ein: Unbekümmert befördern Studenten Künstler in dieses hinein, aus ihm heraus und manchmal praktisch geradewegs mitten hindurch; das Establishment ist meistens erfolglos bemüht, diese Transfers zu verhindern, Kunstzeitschriften zu beeinf lussen und Stellenbewerber auf ihr Traditionsbewusstsein zu überprüfen. Die Addition all dieser Teilkräfte, sowohl nach der Stärke des Engagements des Individuums als auch nach seinem Zugang zu den Kontrollen gewichtet, ist keine leichte Aufgabe. Sie braucht aber nicht in Angriff genommen zu werden, da es für unseren gegenwärtigen Zweck genügen mag, wenn wir den Schluss ziehen, dass eine bestimmte Gesamtkraft am Werke ist, die auf die Erhaltung der Grenze hinwirkt, und eine andere bestimmte Gesamtkraft, die auf ihre Auf hebung abzielt. Stabilität, der Sonderfall, in dem die Grenze unberührt bleibt, ist eindeutig das am wenigsten wahrscheinliche Ergebnis von allen (selbst
10 Eine anschauliche, von Georg Simmel geprägte Wendung, die, obzwar unrichtig hinsichtlich ihrer Annahme der Festheit, dazu dienen kann, sowohl die entscheidende Rolle der Tradition als auch ihre Lokalisierung innerhalb von Raum und Zeit und nicht bloß innerhalb der zeitlichen Dimension hervorzuheben. Das heißt, Tradition wird in den Behauptungen »Wir haben das immer gemacht« und »Jeder tut das« beschworen. Die Unmöglichkeit, in der Anthropologie Zeit und Raum als völlig voneinander trennbare Variablen zu behandeln, folgt zwangsläufig aus der Tatsache, dass die grundlegende Komponente jedes menschlichen sozialen Systems, das individuelle menschliche Wesen, nicht zur gleichen Zeit an zwei Orten sein kann. Die formale Anerkennung dieser selbstverständlichen Tatsache ist die Grundlage der jüngst entwickelten »Zeitgeographie«. Den informellen Ausdruck der gleichen Empfindung lieferte in den dreißiger Jahren Barbara Stanwyck an Bord der Queen Elizabeth, als sie fragte: »Wann kommt dieser Ort in New York an?« Vgl. Simmel, G.: Fashion, in: International Quarterly, New York 1904, Neuabdruck in: The American Journal of Sociology, Bd. 62, Nr. 6, Chicago 1957.
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wenn es sich dabei um das bewusste Ziel der Mehrheit derjenigen handelte, die mit Kunsterziehung zu tun haben, was aber nicht der Fall ist). Die ungerechtfertigte Annahme der Grenzstabilität erhält manchmal einen formelleren Ausdruck im Begriff des »Kontrakts«. Ein Beispiel dazu aus der Soziologie der Erziehung ist der »pädagogische Kontrakt«, der den Grundgedanken der Software von Computerlehrsystemen ausmacht. Dieser Kontrakt zwischen Lehrer und Schüler wird als eine notwendige Bedingung der Pädagogik angesehen: Es ist der beiderseitig gebilligte Rahmen, innerhalb dessen der Lehrprozess abläuft, wobei es möglich ist (so lautet das Argument), diesen Rahmen mit fortschreitendem Prozess zu modifizieren, so denn beide Seiten damit einverstanden sind. Ein solcher Kontrakt ist jedoch nur eine weitere verschleierte Konvention, die die dynamische Beziehung zwischen Kategorie und Handeln leugnet, indem sie darauf besteht, dass es sich bei ihnen um autonome Bereiche handele.11 In Wirklichkeit ist der »Kontrakt« weit davon entfernt, ein beiderseitig gebilligter, nur durch einhellige Zustimmung veränderbarer Rahmen zu sein, sondern ist ein sich ständig verschiebendes Ereignis konf ligierender und sich widersprechender Haltungen gegenüber dem »festen Zentrum der Dinge«. Sogar ein Kunstakademie-Direktor könnte vielleicht der Meinung sein, dass der pädagogische Kontrakt, der dem Gurkha-Söldnerrekruten, welcher seinen militärischen Ausbildungsoffizier mit »Guruji« (»Oh großer und gelehrter Lehrer«) anredet, aufgezwungen wird, seine wildesten Träume von studentischer Disziplin übersteigt. Die jüngste Geschichte der Hochschulausbildung sieht man am besten nicht als ein gemütliches Zusammenarbeiten zwischen Personal und Studenten unter einem auf vorurteilsfreiem, eigennützigem Interesse basierenden, beiderseitig gebilligten Kontrakt, sondern als einen ausgedehnten Konf likt, in dessen Verlauf der Goodwill und ein großer Teil des in das Erziehungssystem investierten Kapitals in bittere Klausel-für-Klausel-Rechtsstreitigkeiten über die Gültigkeit des Kontraktes verschwendet werden. Die Beziehung zwischen Beständigkeit und Wandel umfasst drei Variablen: die Gesamtkraft, die auf die Erhaltung der bestehenden Grenze hinwirkt, die Gesamtkraft, die auf eine Auf hebung der Grenze hinwirkt, und den Index der Grenzerhaltung. Daraus folgt, dass es möglich sein muss, diese Beziehung, wie auch immer sie beschaffen sein mag, in einem dreidimensionalen Raum darzustellen. Die Annahme der Grenzstabilität (wie sie in der Handlungstheorie und in 11 Es gibt keinen ernsthaften Einwand gegen den Gedanken des pädagogischen Kontrakts (oder des »experimentellen Kontrakts«, wie Pask ihn nennt), wenn er dazu dient, kurzfristige Lehrsysteme zu entwerfen. Er stellt eine nützliche Annäherung dar. Der Einwand erhebt sich, wenn man das Modell für eine Beschreibung dessen hält, was Lehren ist. Pask selbst ist sich dieser Gefahr wohl bewusst und unterscheidet zwischen »zielsuchenden« (Lehrsystemen) und »zielsetzenden« (Sozialsystemen). Vgl. Pask, G.: Learning strategies and teaching strategies, Surrey 1969.
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der Kategorientheorie anzutreffen ist) verlangt, dass jede in diesen Raum eingezeichnete Darstellung eine horizontale Ebene ist, da jede andere Form der Fläche Veränderungen des Wertes der Grenzerhaltung (das heißt der Grenzinstabilität) beinhalten würde.
Abbildung 45
Die der militärischen Ausbildung des Gurkha-Rekruten entsprechende Ebene wird sich in der Nähe der Spitze der vertikalen Achse befinden und einen hohen Grenzerhaltungsindex aufweisen; die der britischen Kunsterziehung entsprechende Ebene wird sich infolge der häufigen Grenzverletzungen viel weiter unten befinden. Diese Annahme der Grenzstabilität hat zwei wichtige Konsequenzen. Erstens ist es nicht möglich zu erklären oder zu beschreiben, wie die eine Ebene in die andere transformiert werden kann, das heißt, wie das britische Kunsterziehungssystem dem Gurkha-System ähnlich werden könnte oder umgekehrt. Eine derartige Beschreibung würde voraussetzen, dass beide durch eine kontinuierliche Fläche miteinander verbunden wären – eine Unmöglichkeit, wenn die Grenzen immer stabil sind. Zweitens können solche Veränderungen, wenn sie auftreten, nur als diskontinuierliche Sprünge von einer Ebene zur anderen dargestellt werden, das heißt, man kann sich mit ihnen nur mit Hilfe einer Konvention befassen. Es könnte der Eindruck entstehen, als würden wir mit dem Aufgeben der Annahme der Grenzstabilität vom Regen in die Traufe geraten. Anstelle eines wunderschön strukturierten Blätterteigs, dessen einzelne Schichten durch einen bestimmten Grenzerhaltungsgrad charakterisiert und durch spezifische Konven-
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tionen miteinander verbunden sind, scheinen wir einen chaotischen Würfel mit Rührei vor uns zu haben, in dem es keine Diskontinuitäten und eine Million und einen Weg gibt, vom British zum Gurkha-System zu gelangen.
Abbildung 46
Der Anschein kann jedoch täuschen. Thoms Theorem beweist, dass graphische Darstellungen mit beliebigen Dimensionen nur aus einer begrenzten und spezifizierbaren Anzahl von Bestandteilen zusammengesetzt sind. Ferner können gewöhnliche und außergewöhnliche Bestandteile nach dem Kriterium des stetigen oder diskontinuierlichen Wandels unterschieden werden. Gewöhnliche Bestandteile sind mit allmählicher Veränderung verbunden, außergewöhnliche Bestandteile mit diskontinuierlicher Veränderung. Wenn wir also die Beziehung zwischen Beständigkeit und Wandel graphisch darstellen wollen, und wenn diese Beziehung (wie wir wissen) manchmal kontinuierliche Veränderungen und manchmal diskontinuierliche Veränderungen einschließt, dann muss diese graphische Darstellung dreidimensional sein und den außergewöhnlichen Bestandteil, die Scheitelkatastrophe, enthalten. Wir finden also, wenn wir in den Würfel hineinsehen, meiner Ansicht nach nicht Rührei, sondern etwas, das so aussieht wie in Abbildung 46 dargestellt. Die Einfachheit dieser Hypothese, die Tatsache, dass der größte Teil des Würfels unbewohnt ist und dass die bei den bewohnten Regionen alle innerhalb einer stetigen und kontinuierlichen Fläche liegen, hat (paradoxerweise) die Tendenz, ihre Implikationen zu verschleiern, nämlich dass wir zum ersten Mal sowohl all-
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mählichen als auch plötzlichen Wandel, sowohl Evolution als auch Revolution, sowohl Kategorie als auch Handeln, sowohl Beständigkeit als auch Veränderung formal handhaben könnten. Diese heraklitische Hypothese erweist sich der kartesianischen als haushoch überlegen, denn sie setzt an die Stelle einer unendlichen Zahl stabiler zweidimensionaler Abbildungen von Sonderfällen, die durch eine unendliche Anzahl von Konventionen (der Blätterteig) miteinander verbunden sind, ein einziges dreidimensionales Modell, das keine Stabilitätsannahmen einschließt und keine Konventionen enthält. Ich habe damit begonnen, Rätsel über Rotze aufzugeben, und ende damit, Würfel gefüllt mit Rührei zu diskutieren. Welche Verbindung besteht zwischen beiden, sofern es überhaupt eine gibt? Was hat die Mülltheorie mit der Katastrophentheorie zu tun? Die wahrscheinlich einfachste Art, diese Fragen zu beantworten, ist zu sagen, dass Müll in ernsthaftem Erwachsenendenken ein ausgeschlossenes Monster ist, und dass, da die in jenem Monster enthaltenden Prozesse und Widersprüche für das soziale Leben von entscheidender Bedeutung sind, sein Ausschluss bedauerlich ist. Die Mülltheorie liefert die Beschreibung des Monsters; die Katastrophentheorie liefert die Technik, mit der wir es bewahren können. Die beiden zusammen, Mülltheorie und Katastrophentheorie, erlauben uns, einen weniger repressiven Stil anzunehmen, der Möglichkeiten an die Stelle von Problemen treten lässt.
Engineering Anthropology – Nachwort Co-Autor M. Bruce Beck
Die Erde, unser Haus, scheint sich immer mehr in eine gigantische Mülldeponie zu verwandeln.1 Papst Franziskus Reines Wasser ist, außerhalb von Laboren, ein ziemlicher Widerspruch in sich selbst. Als ein fast universelles Lösungs- und Transportmittel ist Wasser niemals nur H2O, auch wenn wir dazu neigen, darauf zu beharren, dass es das ist oder dass es das sein sollte, wenn es das nicht ist.2 »Vermeide jeden Kontakt mit dem Zeug«, sagte der amerikanische Komödiant (und harte Trinker) W.C. Fields, »Fische scheißen hinein«, eine gleichermaßen unwiderlegbare wie unliebsame Feststellung. Der im 15. Jahrhundert lebende indische Heilige und Dichter Kabir hatte die gleiche Einsicht, als er sich (freundlich, doch subversiv) über die Verherrlichung der reinigenden Eigenschaften des Ganges durch die Brahmanen lustig machte: 1 Papst Franziskus: Enzyklika Laudatio si‘. Über die Sorge für das gemeinsame Haus, § 21, 2015. 2 Was wir tagtäglich (außerhalb der Labore) als Wasser erleben, ist bei der Trinkwasserversorgung nahezu H2O. Die Innovationen der Membrantechnologie innerhalb der letzten drei Jahrzehnte waren ausgesprochen erfolgreich – so sehr, dass dieses Wasser nicht mehr den gleichen Geruch und Geschmack hat wie das Wasser, das man als »gesund« wahrnimmt und trinkt. Das gefilterte Wasser muss förmlich re-mineralisiert werden, das heißt, vor dem Verbrauch müssen dem Wasser die üblichen Verunreinigungen wieder hinzugefügt werden (Poffet, M: persönliche Auskunft gegenüber MBB, 2010). Mindestens seit einem halben Jahrhundert werden die Düngemittel Stickstoff (N) und Phosphor (P) als Verunreinigungen des Wassers verstanden, die vor der Einleitung ins »Abwasser« »eliminiert« werden müssen. Denn wenn sie in zu großen Mengen in die Gewässer gelangen, können sie ein »unausgewogenes«, nachgerade explosives Wachstum grüner Biomasse im Wasser (anstatt auf dem Land, das heißt von Pflanzen) verursachen. Allerdings fügen Fischer und Wassermanager seit etwa zwanzig Jahren diese Verunreinigungen absichtlich den fast unberührten Flüssen entlang der Pazifik-Nordwestküste Nordamerikas mit dem Ziel zu, die kollabierenden Lachspopulationen zu erhalten (Compton, J. E. et al.: Ecological and Water Quality Consequences of Nutrient Addition for Salmon Restoration in the Pacific Northwest, in: Frontiers in Ecology and Environment, 4 (1), S. 18-26.; Pellett, K.: Salmon River Watershed Enrichment for Fish Habitat Restoration, Report (Project # 09.CBR.03), British Columbia Conservation Foundation, Nanaimo, British Columbia März 2010.
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Gelehrte denken Bevor sie Dieses Wasser trinken. Durch das Haus aus Lehm, in dem Du sitzt Strömt die ganze Schöpfung. Fünfundfünfzig Millionen Yadavs haben hier gebadet Und achtundachtzig Tausend Weise. Auf Tritt und Schritt ist ein Prophet begraben. All ihre Körper sind verrottet. Fische, Schildkröten und Krokodile haben hier gebrütet. Das Wasser ist dick vom Blut. Die Hölle fließt in diesem Strom, voll von Mensch- und Tierkadavern.3 Natürlich sollten wir die bemerkenswerten chemischen Wirkungen nicht übersehen, die gelöster Sauerstoff, diese omnipräsente, Leben stiftende »Unreinheit«, hat und über die der Ganges selbst nach einem halben Jahrtausend immer noch reichlich verfügt. Aber dennoch hat Kabir recht, wie das Beispiel der Wasserversorgung der Stadt Varanasi (wie das Benares zu Kabirs Zeiten heute heißt) bestätigt. Varanasis Wasser wird aus dem Ganges über einen mitten im Fluss errichteten Betonturm gewonnen, dessen Einlassöffnungen von Gittern bewehrt sind. Leider wird die Wasserversorgung jedoch immer wieder unterbrochen, weil in Baumwolltücher eingewickelte Leichen die Einlässe verstopfen. Der im Fluss gelöste Sauerstoff (und das aquatische Leben, das er beherbergt) kann es einfach nicht mit dem verzweifelten Verhalten derjenigen Hindus aufnehmen, die so arm sind, dass sie sich noch nicht einmal das Brennholz für eine Feuerbestattung leisten können. Und selbstverständlich gibt es keinen Filter, der verhinderte, dass einem die Asche der etwas bessergestellten Toten in den Frühstückstee gelangt.4 Auch wenn man es nicht wahrhaben will, die Wahrheit ist: dass es nichts Reines gibt; dass nichts von nichts ganz getrennt, verschieden oder durchmischt ist; dass jede Substanz zumindest Spuren aller anderen Substanzen in sich enthält – oft wie bei gelöstem Sauerstoff ziemlich deutliche Spuren – und dass jeder von uns, wie Kabir bestürzend klar macht, nicht mehr ist als ein momentaner Wir3 Pundit think / Before you drink / That water. / The house of clay you are sitting in – / All creation is pouring through it. / Fifty-five million Yadavs [buffalo herders] soaked there / And eighty-eight thousand sages. / At every step a prophet is buried. / All their clay has rotted. / Fish, turtles and crocodiles hatched there. / The water is thick with blood. / Hell flows along that river, / With rotten men and beasts. 4 Vgl. Ahmed, S.: Whose concept of participation? State-society dynamics in cleaning the Ganges at Varansi, in: Chapman, G. P. und Thompson, M. (Hg.): Water and the Quest for Sustainable Development in the Ganges Valley, London 1995, S. 141-162.
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bel in einem trüben, durchmischten, wechselseitig von Allem durchdrungenen Strom. Doch scheint das gesellschaftliche Leben nur dann funktionieren zu können, wenn wir darauf bestehen, dass es nicht so ist, wie es tatsächlich ist. Mehr noch, gesellschaftliches Leben, wie wir es kennen, ließe sich ohne all die technischen Errungenschaften, die es zur Voraussetzung hat, nicht führen – Varanasis Wassergewinnung eine von ihnen. Kabirs unbequeme Wahrheit (dass die Dinge weder diskret noch rein sind) muss daher sowohl für diejenigen, die an unserer Wasser- und Lebensmittelinfrastruktur arbeiten, wie für die auf Reinheit fixierten Brahmanen beunruhigend sein. Einige der Trennungslinien, die zwischen den Vorstellungen von Reinheit und Unreinheit gezogen werden, machen Sinn, sind gesund und nützlich, andere nicht. Wie müsste sich die Technik verändern, wenn Kabirs Wahrheit berücksichtigt würde? Das ist die Frage, mit der wir uns im Folgenden im Hinblick auf die Wasserversorgung und die Behandlung von Abwässern beschäftigen wollen.
Die Mutter aller technologischen Sackgassen: Menschliche Exkremente im Wasserkreislauf Im 19. Jahrhundert wurden in London zwei Patente angemeldet: von Thomas Crapper das Wasserklosett und von Pfarrer Henry Moule ein Erdklosett. Das Wasserklosett war ein kleines bisschen früher da, und deshalb kam das Erdklosett (bei dem die menschlichen Ausscheidungen in einem Behälter mit etwas getrockneter Erde aufgefangen werden und sich durch mikrobielle Zersetzung alsbald in einen süßlich riechenden, wertvollen Dünger verwandeln, der regelmäßig abtransportiert wird) nicht zum Zuge. Es dürfte gegenwärtig weit mehr als eine Milliarde Wassertoiletten in der Welt geben, doch nur ein patentiertes Erdklosett: Es ist in einer Vitrine im Dorset County Museum im südlichen England ausgestellt, in dem Ort, in dem sich Henry Moules Pfarrei befand. Diesen Umstand dürften die meisten Wirtschaftswissenschaftler mit dem Hinweis kommentieren, dass das Wasserklosett einfach effektiver als sein Gegenstück war (das heißt, dass seine Stückkosten geringer waren). Doch lässt sich dies bezweifeln, vor allem dann, wenn man die Infrastruktur berücksichtigt, die für sein Funktionieren nötig ist. Daher ist dies wahrscheinlich ein Fall von »unter zunehmenden Skalenerträgen konkurrierenden Technologien«: Eine Situation, in der, wie unser Kollege Brian Arthur gezeigt hat, kleine historische Ereignisse dazu führen können, dass wir uns in weniger effektiven Technologien verfangen.5 In solchen Situationen sind »Veränderungen am Rand« niemals stark genug, um die effizientere Technologie 5 Arthur, W. B.: Competing Technologies, Increasing Returns and Lock-in by Historical Events: The Dynamics of Allocation Under Increasing Returns, in: Economic Journal 99, 1989, S. 116-131.
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plausibel zu machen. Es braucht einen Schock – das, was Ökologen eine »optimale Störung« nennen –, um aus der Sackgasse heraus in eine »bessere Mausefalle« zu gelangen. Nahezu zweihundert Jahre später müssen wir feststellen, dass die entwickelte Welt sich massiv in der Technologie des Wasserklosetts, der Kanalisation und der Abwasserauf bereitung festgefahren hat. Und nachdem nun zunehmend klar erkannt wird, dass menschliche Exkremente in den Wasserkreislauf einzutragen und aus den Städten zu schaffen einige signifikante Folgeprobleme erzeugt,6 gibt es eine zunehmende Zahl von Beobachtern, die sich wünschen, dass sich die Dinge damals anders entwickelt hätten: zu Gunsten von Pfarrer Henry Moules Erdklosett. Die Kosten, die uns über eine »optimale Störung« auf diesen wünschenswerten (oder zumindest weniger beschissenen) Pfad bringen könnten, dürften in die Billionen Dollar gehen. Schwellenländer, wie zum Beispiel Nepal, die sich nicht in der Wasserklosett-Technologie festgefahren haben, hätten dagegen keine Kosten zu erwarten. Sie können die Probleme der entwickelten Welt einfach überspringen und irgendwo in der Nähe des Pfads landen, den Henry Moule markiert hat, der jedoch nicht genommen wurde. Die technische Herausforderung, der sich die entwickelte Welt stellen muss,7 ist deshalb als ein zweifaches Umschalten zu bewerkstelligen, aufgrund dessen Fäkalien und Urin nicht mehr in den Wasserkreislauf gelangen, und darüber hinaus als wertvolle Ressourcen und nicht als Abfall wahrgenommen werden. Dieses Umschalten – es bedeutet, die Grenze zwischen dem Reinen und Unreinen neu zu ziehen – ist technisch machbar, sieht sich jedoch mit drei Hindernissen konfrontiert: praktikable Übergangslösungen zu finden,8 die Mittel aufzutreiben, um eine 6 Niemczynowicz, J.: New Aspects of Sewerage and Water Technology, in: Ambio 22 (7), 1993, S. 449-455; Larsen, T. A., Udert, K. M. und Lienert, J. (Hg.): Source Separation and Decentralization for Wastewater Management, IWA Publishing, London 2013. 7 Die entsprechende Herausforderung in den Entwicklungsländern besteht darin, eine Festlegung auf die »nasse« Technologie zu vermeiden, um direkt und ohne die irreversiblen Kosten, die in den Industrieländern entstanden sind, auf die »trockene« Alternative springen zu können. Das ist selbstverständlich, könnte man meinen, doch zum Beispiel in Nepal haben mächtige Entwicklungsorganisationen – darunter die Weltbank – das Gegenteil getan (siehe Gyawali, D., Thompson, M. und Verweij, M. (Hg.): Aid, Technology and Development: The Lessons From Nepal, Earthscan, London 2017. 8 Es gelingt selten, etwas einfach zu überspringen. Manchmal ist es in mehreren Etappen möglich oder indem wir die gewünschte Technologie in allen neuen Stadtentwicklungsgebieten installieren und dann später (wenn die Kinderkrankheiten behoben sind) die älteren Stadtteile umgestalten (eine Skizze dazu zeigt Abbildung 12, S. 89, in: Beck, M. B.: Cities as Forces for Good in the Environment: Sustainability in the Water Sector, Warnell School of Forestry and Natural Resources, University of Georgia 2011; abrufbar unter http://cfgnet.org/archives/587). Miteinander kombiniert können auf diese Weise mehrere mögliche Wege, also mehrere Übergangspfade, gefunden werden, um das Ziel zu erreichen.
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»optimale Störung« zu induzieren, und seine soziale Akzeptanz zu sichern. Doch bevor wir diese dreifache Herausforderung in den Griff bekommen können, müssen wir uns genauer ansehen, welche Faktoren in dem Prozess eine Rolle spielen, bei dem Wasser zu Abwasser wird.
Der Schmutz auf dem Weg (und die Grundlagen der Engineering Anthropology) In der Natur gibt es – das wurde schon oft, zuletzt von Papst Franziskus, gesagt – keinen Abfall. Dennoch setzen Bauingenieure, die ihre Berufung darin sehen, »die Kräfte der Natur in den Dienst der Menschheit zu stellen«, einen großen Teil ihrer Zeit und Energie daran, Abfall und Müll zu entsorgen, damit zumal in den Städten das gesellschaftliche Leben weitergehen kann. Dieser Abfall ist aber etwas, das in der Natur, die diese Ingenieure zu beherrschen versuchen, nicht vorkommt.9 Nimmt man alle Unternehmen und kommunalen Einrichtungen, die in der International Solid Waste Association (ISWA) zusammengeschlossen sind, und sieht sie zusammen mit ihren Pendants, die sich mit Gasen und Flüssigkeiten beschäftigen und die unter anderem in der International Water Association (IWA) organisiert sind, dann hat man die (nach der Touristikindustrie) weltweit zweitgrößte Industrie vor Augen. Also, woher kommt der Abfall? Die Antwort ist selbstverständlich, er stammt aus der Kultur. Abfall, Umweltverschmutzung, Müll, Dreck, Schmutz, Abschaum, Slum, Ekel, Kitsch, Gesindel und viele andere abfällige Begriffe: Sie alle haben mit der Aufrechterhaltung von Ordnung, von sozialer Ordnung zu tun. Das ist so, weil unsere äußere Welt so chaotisch, so andauernd und in ihren Variationen so unübersehbar ist, dass sie nicht handhabbar erscheint. Wir machen sie uns handhabbar, indem wir sie auf kleinere Proportionen zurechtstutzen. Wir machen einige Dinge 9 Diese Formulierung aus der Tredgold-Definition von 1828 wurde kürzlich überarbeitet, zum zweiten Mal im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts. Der derzeitige Wortlaut lautet wie folgt: »Das Bauwesen ist eine lebenswichtige Kunst, die mit den großen Kraftquellen der Natur für den Wohlstand und das Wohlergehen der gesamten Gesellschaft arbeitet.« (www.nce.co.uk/ new-definition-for-civil-engineering, letzter Zugriff am 23. Februar 2015.) Einige dieser »großen Kraftquellen« haben mit der Biogeochemie des materiellen Abbaus, der Transformation und der Erneuerung zu tun, wie sie im Design-Mantra »Abfall ist Nährstoff› (McDonough, W. und Braungart, M.: Cradle to Cradle: Remaking the Way We Make Things, New York 2002) treffend zusammengefasst sind, das seinerseits aus der Beobachtung abgeleitet ist, dass es in der Natur tatsächlich keinen Abfall gibt (wie Papst Franziskus jetzt bekräftigt hat). Die Website New Civil Engineer enthält jedoch nicht mehr die Seite, auf der die überarbeitete, vorstehende Definition veröffentlicht wurde. Ist es möglich, dürfen wir daher vermuten, dass sich die Definition des Bauingenieurwesens noch einmal weiterentwickelt hat – vielleicht als ein Zeichen für die sich rasch verändernde Welt, in der sich das Bauwesen im 21. Jahrhundert befindet?
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wichtig, indem wir andere Dinge unwichtig machen. Alles, was wir wegwerfen, abstoßen, verabscheuen, von unseren Händen abwaschen oder wegspülen, soll aus unserer idealen Welt verschwinden und wegbleiben – wie beim Wasserklosett und Erdklosett (auf ihre jeweils eigene Weise). Doch das passiert natürlich nicht immer. Wenn aber das, was wir aus unserer Lebensweise ausgeschlossen haben, dennoch in sie eindringt und unsere Aufmerksamkeit auf sich zieht, dann sehen wir unseren Ordnungssinn, also unsere Fähigkeit, die uns umgebende Welt kontrollieren zu können, ernsthaft bedroht. Diese Intrusionen müssen wir daher abwehren und dies tun wir, indem wir sie einer eigenen kulturellen Kategorie verweisen: die der Dinge, die verunreinigen, die verschmutzen, die entstellen und die Ekel erregen. Das ist der Grund, warum einige Substanzen – zum Beispiel menschliche Fäkalien und Urin – Wasser zu Abwasser machen, andere Substanzen hingegen – beispielsweise gelöster Sauerstoff oder Schlick – dies nicht tun. Ja klar, aber das ist doch nur alles eine Frage von Hygiene und öffentlichem Gesundheitswesen, dürfte dagegen eingewandt werden. Nicht ganz, ist unsere Antwort. Denn erstens haben sich die Menschen schon immer mit dem Müll beschäftigt, und das lange bevor wissenschaftliche Untersuchungen die »Präventivmedizin« untermauert und legitimiert haben, was erst seit etwa zweihundert Jahren der Fall ist. Schon ein ganzes Jahrhundert vor diesem Wendepunkt lag Jonathan Swift vollkommen richtig, als er (wie im ersten Kapitel der Mülltheorie dargestellt) festhielt, dass demjenigen, der Abfall mit der »richtigen« Umsicht zu behandeln versteht, sozialer Status und intellektueller Respekt zuteil wird. Eine solche Person, so sagt er uns, bewegt sich: »mit der Vorsicht dessen, der morgens durch die Straßen von Edinburgh geht und dabei so sorgfältig wie möglich Acht gibt, den Schmutz auf seinem Wege rechtzeitig zu bemerken; nicht, weil er aus Wissbegierde Farbe und Zusammensetzung des Kots10 beobachten oder etwa seinen Umfang abschätzen wollte; und noch viel weniger, um darin herum zu waten oder davon zu kosten; sondern einzig in der Absicht, so sauber wie nur möglich durch ihn hindurchzukommen.« 11 Allein auf der Grundlage, dass er die öffentliche Gesundheit gefährden könne, lässt sich also nicht argumentieren, dass der Abfall »weggehen und wegbleiben« solle.
10 Der deutsche Künstler Anselm Kiefer hat auf den künstlerischen Reiz der Vielfalt der Farben und Beschaffenheit der (ansonsten überhaupt nicht bemerkten) unzähligen Haufen menschlicher Fäkalien an den Stränden Indiens hingewiesen, die wahrnehmbar werden, wenn die Flut abgelaufen ist. 11 Swift, J.: Eine Abschweifung über Kritiker, in: ders. (Hg.): Satiren, Frankfurt a. M. 1966, S. 83f.
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Zweitens, viele Leute, die die Absicht haben, »möglichst sauber davon zu kommen«, sind vorsichtig mit Substanzen, die Vertreter des öffentlichen Gesundheitswesens als harmlos einschätzen dürften, »waten in oder kosten von« anderen Substanzen, die bei diesen Vertretern die Alarmglocken schrillen lassen würden (so beobachtete einer von uns (MT) einen guyanischen Amerindianer, der einen Wickel mit Rattenkot auf eine schlimme Brandwunde legte; und es gibt viele Menschen – unter ihnen ein früherer indischer Ministerpräsident –, die auf die positive gesundheitliche Wirkung eines morgendlichen Glases mit ihrem eigenen Urin schwören). Drittens – und das ist die Stelle, an der die Notwendigkeit einer Engineering Anthropology (das vernachlässigte Gegenstück zu den gut etablierten Wirtschaftsingenieurwissenschaften) sichtbar werden kann – wird Umweltverschmutzung von den verschiedenen sozialen Akteuren unterschiedlich definiert. Diese nicht reduzierbare Pluralität ist wichtig, weil dies bedeutet, dass ein bestimmter Pfad des Übergangs, der für die eine Gruppe sozialer Akteure akzeptabel ist, von einer anderen Gruppe erbittert abgelehnt werden kann; aktuell ist das Fracking dafür ein gutes Beispiel (so wie es viele Jahrzehnte lang die Nuklearenergie war). Mit anderen Worten: Ingenieure benötigen eine »Typologie sozialer Akteure«, und die ist genau das, was die Cultural Theory aus Mary Douglas‘ analytischem System der Gruppenverteilung entwickelt hat (wie in der Einführung zu diesem Buch skizziert). Verschmutzung, argumentiert sie Emile Durkheim (1893) folgend, ist sozial so konstruiert, dass bevorzugte Muster sozialer Beziehungen (oder Formen sozialer »Solidarität«, um es in Durkheims Terminologie zu sagen) unterstützt werden.
Die grundlegende Typologie Natürlich sind Urin und Fäkalien nicht die einzigen Körperprodukte. Tatsächlich sind sie zahlreich, oft unter Namen, die sich nicht in Lexika finden: Popel zum Beispiel (die halbfesten Überbleibsel in der Nase). Außerdem werden nicht alle als Müll eingeordnet; Nicht-Müll-Dinge sind Milch, Tränen und Babys und, unter bestimmten Umständen, Blut und Samenf lüssigkeit. Als Müll gelten dagegen Scheiße, Pisse, Finger- und Fußnägelabschnitte, Popel, Eiter, Rotz, menstruales Blut, Schuppen, Schorf und so weiter. Allein dies zu schreiben und zu lesen, ist schon unangenehm, wie wir feststellen. Wenn der Müllcharakter selbstevident wäre, also von den physischen Eigenschaften der Dinge selbst abgeleitet werden könnte, dann wäre die Unterscheidung zwischen Müll und Nicht-Müll festgelegt und unveränderlich. Doch haben einige Körperprodukte in den letzten Jahrzehnten die Seiten gewechselt. Phlegma (dicker Schleim, der abgehustet wird) wird heutzutage eindeutig als Müll wahrgenommen, hatte jedoch einmal eine durchaus noble Bedeutung. So ging englisches
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Phlegma (der unbewegte Gesichtsausdruck angesichts bedrohlicher Ereignisse) mit einer anderen englischen Tugend einher: der steifen Oberlippe. Ähnlich ist es mit dem Schweiß. Einst war er gut, ehrlich und edel. Deshalb konnte Churchill 1940 den Geist von Dünkirchen mit diesen berühmten Worten entfachen: »Ich kann Euch nichts als Blut, Mühen, Tränen und Schweiß versprechen.« Heutzutage dagegen ist Schweiß für viele Menschen ein fester Bestandteil der Müllkategorie geworden. (Eine gewisse Zeit lang gab es eine Werbung für Femfresh, bei der gefragt wurde: »Haben Sie ein Problem mit vaginalen Gerüchen? Machen Sie es nicht auch zu seinem.«) Feministinnen und andere Kritiker industrieller Exzesse haben sich vehement gegen diesen Wandel eingesetzt, und für sie ist Schweiß keineswegs Müll.12 Andererseits würden sie es wahrscheinlich nicht witzig finden, wenn die essentielle Natürlichkeit des Schweißes von einem großen männlichen Anführer wie Churchill gekapert würde.13 Diese drei Charaktere – Churchill, der die Nation hinter sich versammelt und auf allen Ebenen an die Menschen appelliert, einen selbstlosen Beitrag zum Wohl des glorreichen Ganzen zu leisten, der Industrielle, der nach einer weiteren Möglichkeit Ausschau hält, auf ehrliche Weise Geld verdienen zu können, und die radikalen Aktivisten, die sich mit anderen zusammentun, um die Art von Ungerechtigkeiten zu verhindern, die mit sowohl starker Führerschaft wie allgegenwärtiger Profitorientierung einhergeht – lassen sich direkt auf der Douglas‘schen Tabelle abbilden: als »Hierarchie«, »Individualismus« und »Egalitarismus«. Doch eine Solidarität fehlt noch: die in »Fatalismus«.14 Wie lässt sie sich in das dynami12 Neuerdings wird behauptet, dass vaginale Gerüche nicht von Schweiß verursacht werden. Doch die Werbeleute haben diese Verbindung hergestellt und sich damit den Ärger eingehandelt. 13 Und es gibt noch mehr von dieser Art Ebbe und Flut bei dem, was Abfall und Müll ausmacht. Der Eintrag in Wikipedia für die moderne so genannte fäkale Bakteriotherapie lautet wie folgt (https://en.wikipedia.org/wiki/Fecal_microbiota_transplantation; letzter Zugriff März 2017): »Die F[a]ecal-Mikrobiota-Transplantation (FMT), auch Stuhltransplantation genannt, ist das Verfahren der Transplantation von Fäkal-Bakterien von einem gesunden Individuum auf einen Empfänger. Die FMT beinhaltet die Wiederherstellung der Mikroflora des Dickdarms durch Einführung einer gesunden Bakterienflora über die Infusion von Stuhl, z.B. durch einen Einlauf, eine Magensonde oder oral in Form einer Kapsel mit gefriergetrocknetem Material, das von einem gesunden Spender stammt.« 14 Die vollständige Theorie, so kann man argumentieren, erfordert eine fünfte und sozial etwas losgelöste Solidarität: die der »Autonomen«, für die der Einsiedler charakteristisch ist (siehe z.B. Thompson, M. et al.: Cultural Theory, West View, Boulder, Colorado 1990; Thompson, M.: Organising and Disorganising, Triarchy, Axminster 2008; Dake, K. und Thompson, M.: Making Ends Meet, in the Household and on the Planet, in: GeoJournal 47, 1999, S. 417-424). Um die Darstellung nicht zu überfrachten, werden wir hier nicht weiter darauf eingehen, sondern nur vorschlagen, dass diese distanzierte Position, soweit sie zugänglich ist, für den Ingenieur eine gute Beobachtungsposition bei der Betrachtung des vierfachen Getümmels darstellte, in dem er unweigerlich gefangen ist. Sie könnte tatsächlich ein integraler Bestandteil einer Art »postmo-
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sche und sich selbst organisierende Ganze integrieren? Einige von uns sind in bestimmten Lebensumständen niemals in der Lage, ganz den Rechten und Pf lichten des Hierarchischen zu entsprechen, schaffen es niemals, das bisschen an Ressourcen zusammenzukratzen, das man braucht, um am Marktgeschehen teilnehmen zu können, oder bringen niemals das Engagement und den moralischen Eifer derjenigen auf, die sich im Widerstand gegen diese Quellen der Ungleichheit solidarisieren. In dem Maße, wie wir uns außerhalb dieser drei Organisationsformen wiederfinden, sind wir aber fatalistische Akteure: Die Welt tut etwas mit uns, ohne dass wir darauf Einf luss nehmen könnten. Im Deutschen gibt es dafür einen Ausdruck – »alles Scheiße« –, der die äußerst rationale Reaktion auf diese missliche Position treffend erfasst. Denn wenn die ganze Welt aus Scheiße besteht, dann macht es keinen Sinn etwas dagegen zu unternehmen.15
Abbildung 47: Die grundlegende Typologie – Das Douglas‘sche Schema (nach fünfzig Jahren)
derner« Steuerungstheorie sein, zum Beispiel beim stabilen Betrieb von Clustern intelligenter Gebäude. 15 Doch Mehta, L. und Movik, S. behaupten: Shit Matters: The Potential of Community-led Total Sanitation, Practical Action Publishing, Rugby 2011.
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Wenn wir, um konkret zu bleiben, nun das immerzu aktuelle Thema »gefährliche Abfälle« aufgreifen,16 dann können wir jetzt darstellen, wie diese Solidaritäten ihre jeweils eigene, eindeutige Definition von Verschmutzung entwickeln: • Hierarchischen Akteuren geht es besonders um Ordnung, um die soziale wie die natürliche Ordnung, und sie sehen diese beiden Ordnungen in einem isomorphen Verhältnis zueinanderstehen; in einem Verhältnis, bei dem die Natur der Gesellschaft sozusagen einen Spiegel vorhält. Für sie ist Umweltverschmutzung eine Verunreinigung der sozialen Ordnung, die sich in der Natur widerspiegelt: New Age-Reisende, die ihren Karavan in einem Grüngürtel abstellen, oder Mitglieder des Occupy-Movement, die im Hof der St. Pauls Kathedrale kampieren. Hierarchische Akteure (in jedem Fall die Planer unter ihnen) sprechen dann sogleich von einem »nicht-konformen Nutzer«; und ihre Lösung ist, die Dinge wieder an ihren alten Platz zurückzustellen, womöglich unter deutlich vernehmbarem, rituellem Tamtam. Sollte dies allerdings nicht möglich sein, dann muss eben die Natur so weit verändert werden, bis sie der modifizierten sozialen Ordnung entspricht. Die Kalkung von Seen, die durch Schwefel- und Stickstoffemissionen von Kraftwerken versauert wurden, ist ein schönes Beispiel für die hierarchische Lösung eines hierarchischen Problems. Natur ist für den hierarchischen Akteur reparierbar; alles, was dazu benötigt wird, ist Wissen, Gewissheit und Planbarkeit, die von denjenigen zur Verfügung gestellt wird, deren Hauptaufgabe darin besteht, alle Elemente der verschiedenen Aktionsbereiche, die sozialen wie die natürlichen, an den vorgesehenen Positionen zu halten (Hierarchen sind die großen Arbeitsaufteiler). Die Definitionen von Umweltverschmutzung und ihrer Beseitigung werden dabei so miteinander verbunden, dass uns Expertenausschüsse, Standardsetzungen, craddle-to-grave-Rechnungssysteme, Reisetickets, Standortgenehmigungen, Stichprobenkontrollen und präzise detaillierte Listen mit gefährlichen Abfällen zur Verfügung gestellt werden. • Individualistische Akteure sind nach Mary Douglas glücklicher Formulierung »pragmatische Materialisten«. In der Umweltverschmutzung sehen sie nicht eine Verunreinigung, sondern einfach Etwas zur falschen Zeit am falschen Platz. Weil aber dieses Etwas eine finanzielle Belastung, ein Hindernis für den Fortschritt oder ein Schandf leck in der Landschaft sein kann, sind sie natürlich sehr daran interessiert, dieses Etwas zur richtigen Zeit an den richti-
16 Vgl. Thompson, M.: Hazardous waste: what is it? Can we ever know? If we can’t, does it matter? in: Homburger, F. (Hg.): Safety Evaluation and Regulation of Chemicals 3, in: 3rd International Conference, Zürich, Basel 1984, S. 230-236.
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gen Platz zu bringen.17 Ihre bevorzugte Lösung für derart überschaubare Probleme ist eine Stimulierung der Marktkräfte. Sie befürworten die Schaffung eines Markts für Verschmutzungsrechte, Deregulierung, um Maklern (Händlern in Erdlöchern zum Beispiel) die Transaktions- und Informationskosten für das Verknüpfen der Abfallströme einiger Firmen mit den Materialien anderer Firmen reduzieren zu können, und Selbstkontrolle, um das Vertrauen der Verbraucher zu stärken und das Image der Firmen aufzupolieren, die für die Umwelt Verantwortung zeigen. Nicht gegen, sondern mit der Natur zu arbeiten, verspricht Gewinne;18 und weil Natur als im Grunde gutartig aufgefasst wird, hält der individualistische Akteur die katastrophalen und irreversiblen Zusammenbrüche, auf die die Mitglieder der egalitären Solidarität hinweisen, für wenig wahrscheinlich. • Egalitäre Akteure stellen die Erde über alles. Die Umweltverschmutzung ist für sie eine gesellschaftliche Überschreitung der natürlichen Ordnung, und daher besteht für sie die Lösung darin, die gesellschaftliche Ordnung (möglichst radikal) so weit zu verändern, bis sie den hohen Anforderungen der natürlichen Ordnung entspricht. Die egalitäre Welt ist ein schrecklich unversöhnlicher Ort (das Gegenteil der individualistischen Welt), und schon der kleinste Stoß kann zu ihrem katastrophalen Zusammenbruch führen: Wir müssen lernen, behutsam mit ihr umzugehen, und diejenigen, die weiter überall herumtrampeln wollen, müssen umerzogen werden oder zerstören uns am Ende alle. Geringstmögliche Störungen werden zum obersten moralischen Gebot, und klein wird schön. Versuche können nur dann gemacht werden, wenn gewährleistet ist, dass keine Fehler entstehen können. Nach diesen Kriterien sind viele Produkte unserer Konsumgesellschaften nicht nur unnötig, sondern untergraben tatsächlich unsere fragilen Lebensgrundlagen. Da die meisten gefährlichen Abfallstoffe in der Umwelt aus Industrien stammen, die uns direkt oder indirekt mit all den Produkten versorgen, die wir nicht benötigen oder nicht haben sollten, besteht die Lösung darin, alle unnötigen Produkte gänzlich zu verbannen (oder besser noch, Konsum generell zu verweigern): eine Lösung, die darüber hinaus den Vorteil hat, uns der gewünschten Zukunft näher zu bringen; einer Zukunft, in der die Unterschiede zwi17 Mary Douglas hielt viel von der Definition »Schmutz ist Materie am falschen Platz«, die sie (einige behaupten jetzt: fälschlich) Lord Chesterfield zuschrieb. Aber sie passt eigentlich nur zur individualistischen Solidarität. Doch gerät sie auch hier in Schwierigkeiten, weil sie die Richtung der Verschiebung im Verhältnis zum »Wertegefälle« ignoriert. Ein Rembrandt-Druck in einem Trödelladenfenster ist fehl am Platz, aber es ist kein Schmutz, wie wir sehen werden. Und dasselbe gilt für Gracie Fields, als sie »I‘m a lonely little petunia in the onion patch« sang. 18 Hawken, P.: The Ecology of Commerce. A Declaration of Sustainability, New York 1993; Hawken, P., Lovins, A. und Lovins, L. H.: Natural Capitalism. The Next Industrial Revolution, Rocky Mountain Institute, Snowmass, Colorado 1999.
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schen den Menschen aufgehoben sind, weil wir alle die der Natur inhärente Fragilität respektieren. • Obwohl hierarchische, individualistische und egalitäre Akteure jeweils Unterschiedliches lernen, teilen sie jedoch die Überzeugung, dass etwas zu Lernen möglich ist. »Schau bevor Du springst!«: Die sachlich begründete Antizipation ist der Weg, über den hierarchisch Disponierte lernen, dass die Natur beherrscht werden kann; »Probieren geht über Studieren«: Versuch und Irrtum ist die Methode, wie die Individualisten verstehen, dass die Natur zum Mittelwert tendiert; und »Vorsicht ist besser als Nachsicht«: Über das Vorbeugeprinzip werden sich die Vertreter des Egalitarismus der Fragilität natürlicher Zusammenhänge bewusst. Diejenigen aber, die sich an den Rand dieser drei Solidaritäten gedrängt sehen, leben in einer Welt, in der man nie eine klare Reaktion erhält, wenn man auf etwas besteht. Das Leben in einer fatalistischen Welt ist eine Lotterie: Da gibt es nichts zu lernen, jedoch viel zu bewältigen. Auch wenn fatalistische Akteure keine Regeln für den Umgang mit gefährlichen Abfallstoffen aufstellen, sind diese für sie keineswegs irrelevant. Sie sind die großen Risiko-Absorbierer – die Dumpees –, die mit Würde und Ignoranz ertragen, was auch immer auf sie zukommen mag. Dennoch folgt diese Solidarität einer bestimmten, hart erkämpften Weisheit, die es zu berücksichtigen gilt: Dass Zeit und Geld für etwas einzusetzen, das sich nicht realisieren lässt, vergeudetes Geld und verschwendete Zeit sind. Die gefährlichen Quecksilberablagerungen am Grund des Lake Superior, die aus den mittlerweile eingestellten Spritzungen der kanadischen Wälder mit Insektiziden stammen, werden nun auf genau diese Weise behandelt: Besser nichts machen, weil außer zu hoffen, dass sie nach und nach verschlammen, nichts gemacht werden kann. Der letzte, insbesondere für Ingenieure wichtige Punkt ist anzuerkennen, dass hierarchische, individualistische, egalitäre und fatalistische Akteure ohne Ausnahme in allen Gesellschaften (verschieden stark und mit unterschiedlichen Interaktionsmustern) vorkommen. Und wenn auch jedes einzelne institutionelle Arrangement (auf der Grundlage der bestimmten Problem- und Lösungsdefinitionen, die zu ihm gehören) allen anderen widersprechen sollte, so kann doch keines für sich allein bestehen. Wo blieben die egalitären Akteure ohne die ungerechten Märkte und Hierarchien, die es zu kritisieren gilt? Wie könnten die Verfechter des Individualismus miteinander Geschäfte machen und handeln, wenn es keine Autorität – keine Hierarchie – außerhalb des Marktes gäbe, die das Vertragsrecht durchsetzen kann? Wie könnte das Hierarchische seine Struktur aufrechterhalten, wenn es keine nicht-konformen Nutzer gäbe, die es ausschließen oder einhegen könnte? Wie könnten fatalistische Akteure fatalistisch bleiben, wenn es keine Konstellationen gäbe, aus denen man ausgeschlossen werden kann? Ob es
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nun gefällt oder nicht: Jede dieser jeweils bevorzugten Lebensweisen kann nur zusammen mit den jeweils anderen existieren und muss sich mit ihnen auseinandersetzen. Das ist, was die vierfältige Vielfalt grundlegend macht.
Technik und grundlegende Vielfalt Wir haben dieses Nachwort damit begonnen zu analysieren, was die scheinbare Einfachheit reinen Wassers ausmacht, was das selbstverständlich Gute daran ist, und warum menschliche Ausscheidungen ebenso offensichtlich wie generell als etwas Schlechtes angesehen werden. Das Streben nach dem Guten eines öffentlichen Gesundheitswesen hat – seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in den Städten des globalen Nordens – zu dem geführt, was wir als die »Mutter aller technologischen Sackgassen« beschrieben haben: menschliche Ausscheidungen in den Wasserkreislauf zu bringen. Im Folgenden ist unser Ziel, die Grenze zwischen dem Reinen und dem Unreinen neu zu ziehen und zu zeigen, dass Wasser als eine »Verunreinigung« eines wichtigen Teils des Nahrungsmittelkreislaufs verstanden werden kann. Dies zwingt uns jedoch, von unserem bisherigen anthropologischen Diskurs zu einer Auseinandersetzung mit dem Ingenieurwesen überzugehen. Wir behaupten, dass die Verwendung von f ließendem Wasser als Transportmittel für die Beförderung menschlicher »Abfallprodukte« aus den engen Räumen der Städte und ihre Ableitung in die aquatische Umwelt latente Kosten (bads) verursacht und nicht nur offensichtliche Vorteile (goods) hat.19 Wir behaupten weiterhin, dass durch das Trocknen der nassen Sanitärtechnik diese Kosten verringern könnte, ohne dass dabei die Vorteile gut funktionierender Entsorgungssysteme, das sind insbesondere ihre Sicherheit und Diskretion, für die Gemeinden geschmälert würden. Gibt es Praktiken, Techniken und technologische Systeme, um dies zu erreichen? Gibt es, kurz gefragt, technisch machbare und dazu wirtschaftlich effiziente und sozial akzeptable Übergangspfade, die von der nassen zu weniger nassen Formen der Entsorgungstechnik führen? Und schließlich, ließen sich solche technischen Alternativen mit den Ansätzen einer Engineering Anthropology in Übereinstimmung bringen, die auf der vierfältigen Ratio der Cultural Theory auf baut?
19 Das fließende Wasser muss hier natürlich nicht »reines« (Trink-)Wasser sein. Es kann akzeptabel »unrein« sein; es gibt viele Beispiele dafür, dass solches Wasser für die Toilettenspülung verwendet wird. Vgl. Tchobanoglous, G., Leverence, H.: The Rationale for Decentralization of Wastewater Infrastructure, in: Larsen, T. A., et al., 2011, S. 101-115; sowie Truffer, B., Binz, C., Gebauer H. und Störmer, E.: Market Success of On-site Treatment: A Systemic Innovation Problem, in: Larsen, T. A., et al. (wie oben), S. 209-223.
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Beginnen wir mit dem großen Bild, das sich aus der Perspektive der Systemanalyse der Erde (oder des Earth Systems Engineering) ergibt. Materialien zirkulieren um den Globus herum: schnell in der Luft, weniger schnell im Wasser und in Organismen, und relativ langsam in der Erde; und in diesen Bewegungen von Luft und Wasser sowie den »Verunreinigungen«, die sie mit sich führen, finden sich feste Partikel von Erde, Wurzelsystemen und Gesteinen. Es macht Sinn, diese Materialien zu unterscheiden – üblicherweise als Kombinationen von Kohlenstoff (C), Stickstoff (N), Phosphor (P), Schwermetallen und anderen Elementen, Wasser und so weiter – um uns so die Welt handhabbar zu machen.20 Üblicherweise wird die Stadt, oder genauer gesagt der Einzelhaushalt, als das Ende einer Versorgungskette und als Anfang einer Abfallkette begriffen. Alles, was wir brauchen und haben wollen, nicht zuletzt unser tägliches Brot und Wasser, wird rund um den Globus eingesammelt: Stellen Sie sich all diese Stränge globaler Materialströme vor, die konzeptionell so angelegt sind, dass sie in den singulären Knoten einzelner Haushalte münden. Das Bild, das einem dazu in den Kopf kommt, ist das eines elektrischen Schaltplans, mit dem Haushalt als Endpunkt und Symbol für einen Erdungspunkt – für ein »Ende«, in dem der elektrische Strom »verschwindet«. Die konzeptionelle Trennung zwischen dem Haushalt als eine Senke des Konsums und als einer Quelle des Mülls ist in unserer Denkweise tief verwurzelt.21 Es ist diese konzeptionelle Trennung, die wir gerne auf heben möchten, um die Dinge anders verstehen zu können. Ressourcen f ließen in den Haushalt; und Ressourcen f ließen aus dem Haushalt heraus. Jeder von uns (jeder unserer Haushalte) ist nur ein »Verarbeitungsknoten« in den riesigen, untereinander verwobenen Netzen der globalen Materialströme. Unverbrauchte Ressourcen, die in den rund um den Globus angeordneten Verarbeitungsknoten nach und nach umgewandelt werden, f ließen in uns hinein; post-konsumtive Ressourcen, menschlichen Produkte inbegriffen, f ließen aus uns heraus zu wiederum anderen Verarbeitungsknoten. Schließlich erreichen die post-konsumtiven Ressourcen wieder die Verarbeitungsknoten, an denen Ressourcen für den Gebrauch gewonnen werden und das Material wieder an uns zurück gelangt und so weiter und weiter. Es gibt einen Begriff, der diesen Zusammenhang genau und auf den einzelnen Haushalt bezogen bezeichnet: den
20 Da die Ströme dieser Elemente entscheidend sind und nicht die der verschiedenen Verbindungen (oft recht komplexe Verbindungen), in die sie zufällig eingebaut werden, verwenden wir im Folgenden die Symbole C, N und P, wenn wir darüber sprechen, was tatsächlich Ströme einer großen Anzahl verschiedener Verbindungen dieser Elemente sind. 21 Diese Trennung an sich ist nicht in jeder Hinsicht schlecht. Die strikte Trennung der Trinkwasserversorgung von der Sanitärversorgung kann, wie etwa bei der Bekämpfung von Cholera, lebenserhaltenden Nutzen haben.
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Prosumer – eine Einheit, die (wie jede andere Einheit) sowohl produziert als auch verbraucht.22 Zusammengefasst: Wir verstehen den Haushalt (und das Individuum) als einen aus der riesigen Anzahl biogeochemischer Verarbeitungsknoten, die den globalen Materialkreislauf konstituieren. Dies ist eine Idee, die, wenn auch spät, doch intuitiv einem von uns (MBB) gekommen ist, der als Chemieingenieur ausgebildet und in den Techniken und Technologien der petrochemischen Komplexe geschult wurde. Es ist nun der Punkt gekommen, unsere Aufmerksamkeit auf die Vielzahl der Schulen des ingenieurwissenschaftlichen Denkens zu fokussieren: Lassen sich eine hierarchische oder eine individualistische, eine egalitäre oder fatalistische Schule des technischen Denkens mit Bezug auf die Frage ausmachen, wie wir aus der Sackgasse der nassen Entsorgung herauskommen können?
Vielfältige Möglichkeiten technischer Machbarkeit Mit dem Vorteil, fast ein halbes Jahrhundert lang auf das Thema Müll zurückblicken zu können, fällt es leicht, in den gegenwärtigen Regelungen für Wasserkreisläufe und der damit verbundenen Trennlinie zwischen Reinheit und Unreinheit eine »hierarchische Hand« zu erkennen (jedenfalls im Hinblick auf die nassen Abwasseranlagen in der entwickelten Welt). Die städtische Wasserinfrastruktur ist zentralisiert, das heißt, in großem Maßstab koordiniert, kapitalintensiv, wissensintensiv sowie stark reguliert, um erstens das Risiko einer unzureichen22 Es handelt sich dabei nicht um das aus dem Geschäftsleben stammende Kunstwort, bei dem professional und consumer kombiniert werden, sondern um das Wort, das zur Beschreibung jener (technisch klugen) Hausbesitzer verwendet wird, die, an das Netz angeschlossen, sowohl elektrische Energie verbrauchen als auch produzieren können (Grijalva, S., Tariq, M. U.: Prosumer-based Smart Grid Architecture Enables a Flat, Sustainable Electricity Industry, in: Innovative Smart Grid Technologies [ISGT], IEEE Power and Energy Society 2011, S. 1-6 [DOI: 10.1109/ ISGT.2011.5759167]). An dieser Stelle reicht es sich vorzustellen, dass jeder von uns mit unserem täglichen Brot bestimmte Mengen von N und P verbraucht und bestimmte Mengen von N und P insbesondere in unserem Urin erzeugt. Es lohnt sich wahrzunehmen, dass viel von unserer »Low-C-Zukunft« die Rede ist, das heißt einer Zukunft, in der unser Verbrauch an fossilem C zur Energieerzeugung und zur Bereitstellung von Mobilität und Wärme sehr viel geringer ist als heute. Wie niedrig auch immer wir diesen C-Verbrauch senken, essen werden wir immer noch müssen und damit Ströme von C (wie von N und P) erzeugen. Weiterhin ist zu bedenken, dass für den Bereich der Wasserverschmutzung das Akronym CAFO entstanden ist, um die Fütterungsvorgänge von Tieren in geschlossenen Systemen (Confined Animal Feeding Operations) zu benennen und in der Folge eine landwirtschaftliche Infrastruktur zu entwickeln, über die verhindert werden kann, dass die post-konsumtive, massive Produktion von N und P die Gewässer kontaminiert. Was sind dann Städte, wenn nicht CHFOs – Confined Human Feeding Operations – Geschlossene Fütterungsbetriebe für Menschen (Vgl. Beck, a.a.O., Anmerkung 8)?
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den (ungesunden) Trinkwasserversorgung zu minimieren und um zweitens eine ausreichende Qualität der gereinigten Abwässer bei der Einleitung in natürliche Gewässer zu garantieren. Aus dieser Perspektive ließe sich mithin ein Übergangspfad durch eine Anpassung der Funktionsweise der unappetitlichen Kläranlagen bewerkstelligen, die ja traditionell »stromabwärts«, weit entfernt von den meisten Haushalten und Verbrauchern liegen (und auf diese Weise räumlich wie organisatorisch »marginalisiert« werden). Dort könnten, wie wir sehen werden, die »Verunreinigungen« des Abwassers mit N und P anstatt »eliminiert« zurückgewonnen werden. Entlang dieses hierarchischen Übergangspfades wäre es nicht schlecht, wenn auch das Wasserklosett mit etwas weniger (»reinem«) Wasser funktionieren würde, also etwas weniger nass wäre, weil das, was dann zur Kläranlage geleitet wird, »reicher« (stärker verunreinigt, weniger stark verdünnt) an rückgewinnbaren Ressourcen wäre. Schließlich ist es in der Regel kostengünstiger, Ressourcen aus stärker konzentrierten Rohstoffen zu gewinnen, das heißt in diesem Fall aus dickf lüssigerem Abwasser.23 Und an dieser Stelle sollten wir festhalten: Wir haben einen ersten Hinweis darauf, dass wir das Wasser im Abwasser als eine Verunreinigung betrachten können! In der Tat waren es die britischen Wasserklosetts (WCs), die im späten 19. Jahrhundert zunehmend in die Pariser Sanitärinfrastruktur eingebaut wurden, die der einst blühenden Düngemittelrückgewinnungsindustrie dieser Stadt (bei der nasse wie trockene Düngemittel hergestellt wurden) das Totenglöckchen einläuteten.24 Das Wasser der WCs verdünnte die potentiellen Rohstoffe einfach zu stark. Weniger Wasser beim Betrieb von Toiletten einzusetzen, bedeutet weiterhin, dass weniger große Wassermassen in eine Stadt hinein und aus ihr heraus verfrachtet werden müssen, und führt deshalb zu einem insgesamt geringeren Energieverbrauch. Wir erkennen hier die komplexe und komplizierte Verf lechtung von Nahrung, Wasser und Energie in der Stadt. Der Wasser-Nahrungsmittel-Energie-Klima »Nexus« ist der in Mode gekommene Begriff dafür.25 Und dass wir sie so bezeichnen müssen (als Notwendigkeit, die Dinge wieder miteinander zu verbinden), spricht für die Art und Weise, wie die seit Jahrzehnten immer weitere Ausdifferenzierung der Fachdisziplinen zu der daraus resultierenden Abschottung im Hinblick auf Problemlösungen geführt 23 Wo Paul Brunner über die Rohstoffrückgewinnung durch »Urban Mining« schreibt, propagiert er die Ausbeutung nach dem gleichen Prinzip. Vgl. Brunner, P. H.: Urban Mining: A Contribution to Re-industrializing the City, in: Journal of Industrial Ecology, 15 (3), 2011, S. 339-341. 24 Barles, S.: Feeding the City: Food Consumption and Flow of Nitrogen, Paris, 1801-1914, in: Science of the Total Environment, 375, 2007, S. 48-58; ders.: Urban Metabolism and River Systems: An Historical Perspective — Paris and the Seine, 1790-1970, in: Hydrology and Earth System Sciences, 11, 2007, S. 1757-1769. 25 World Economic Forum (WEF): Water Security. The-Water-Food-Energy-Climate Nexus, Washington 2011.
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hat. Der Ruf nach mehr »Nexus-Denken« ist nun endlich da – allerdings sehen wir darin nichts anderes als das, was wir schon lange als »systemisches Denken« bezeichnen.26 Für die individualistische Solidarität dürfte der Übergangspfad ein Weg sein, der nicht nur, weil er weniger nass ist, effizienter, sondern in dem Maße profitabler sein dürfte, wie er (an der richtigen Stelle) stärker verunreinigt ist. Ingenieure mit dieser Einstellung sehen in der Vermarktung der zurückgewonnenen N und P Nährstoffverunreinigungen (als Ausgangsstoffe für Düngemittel) wie in den C Verunreinigungen des Abwassers (für die Erzeugung von Biokraftstoffen und anderen C-basierten Produkten) eine Möglichkeit, Geld zu verdienen.27 So kann die große (organisatorisch zentralisierte, doch funktional räumlich verteilte) Kläranlage Billund in Dänemark sich heute darüber freuen, dass sie sowohl als Bioraffinerie wie auch als Kraftwerk bezeichnet wird.28 Am anderen Ende des Spektrums, im kleinen und lokalen Maßstab (unmittelbar und sehr persönlich), bleibt der Urin, den ein jeder von uns produziert, der wohl wertvollste durch Verbrauch entstehende Rohstoff (N und P), solange er nicht durch das Wasser der WC-Spülung »verunreinigt« wird. Wenn er sich in größeren Mengen sammeln ließe, könnte unser reiner Urin daher für einen auf dem individualistischen Übergangspfad arbeitenden, gewinnorientierten Unternehmer ziemlich attraktiv werden. Doch um zu verstehen, was sich hier entwickeln könnte, müssen wir uns nochmals mit dem großen Ganzen beschäftigen. Die Biota, die in einem früheren geologischen Zeitalter zu fossilen Brennstoffen wurden, können aus den Bausteinen N, P und C im Abwasser, das C aus dem CO2 in der Atmo26 Beck, M. B. Villarroel Walker, R.: On Water Security, Sustainability, and the Water-Food-EnergyClimate Nexus, in: Frontiers of Environmental Science and Engineering, 7 (5), 2013, S. 626-639; dies.: Nexus Security: Governance, Innovation, and the Resilient City, in: Frontiers of Environmental Science and Engineering, 7 (5), 2013, S. 640-657; Villarroel Walker, R., Beck, M. B.: Nutrient Recovery. Nexus Innovation Impact Analysis, in: Insight, 1, August 2014, S. 30, siehe auch: www.becleantech.org und www.cfgnet.org/archives/1191; Villarroel Walker, R. et al.: The Energy-water-food Nexus. Strategic Analysis of Technologies for Transforming The Urban Metabolism, in: Journal of Environmental Management, 141, 2014, S. 104-115. 27 Der Unternehmer, der diesen Weg verfolgt, braucht allerdings eine gute Geschäftsidee, um Hausbesitzer (und staatliche Aufsichtsbehörden) ihren emotionalen Ekel überwinden zu lassen und die zurückgewonnenen und umgewandelten, in ihren Augen aber weiterhin »unreinen« Produkte aus der Kläranlage in ihre Häuser aufzunehmen. Denn diese Produkte gelten genau als die Dinge, die durch ihr Eindringen den sozialen Frieden und unsere Fähigkeit, die Außenwelt kontrollieren zu können, bedrohen. Dennoch könnte unser Zurückzucken vor diesem unangenehm engen Recyclingkreislauf an Bedeutung verlieren, wenn man ihn mit dem noch engeren Recyclingkreislauf (und der Realität) der Fäkalbakteriotherapie vergleicht. 28 Vgl. https://www.kruger.dk/infocenter/projekter/billund-biorefinery-fremtidens-renseanlaeg, letzter Zugriff am 10.01.2021. Der chemische Ingenieur unter uns beiden ist tatsächlich versucht, die alten städtischen Kläranlagen als glitzernde Metro-Chemie-Komplexe neu zu lancieren.
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sphäre und mit Sonnenlicht gewonnen werden (und damit zusätzlich CO2 der Atmosphäre entziehen). Man kann sich daher vorstellen, dass ein an der Gewinnung von Biokraftstoffen aus Algen interessierter Energieriese wie Exxon-Mobil sich in der Wasserwirtschaft mit einer Technologie, die Urin aufzufangen vermag, engagieren könnte, um seine Biokraftstoffe auf der Grundlage einer intensiven Kultivierung von Algenbiomasse zu erzeugen.29 Die größten Player beim Klimawandel könnten daher die Entwicklung der Märkte für die kleine und bescheidene Erfindung einer Urin trennenden Toilette (UST) antreiben, die im Zentrum jedes Einzelhaushalts genau das leistete, was ihre Beschreibung verspricht: den wertvollen Urin streng von den anderen Unreinheiten, von Wasser und Fäkalien, getrennt zu halten.30 Die Trennungslinie zwischen Reinheit und Unreinheit würde so, um ein oder zwei Grad von ihrem ursprünglichen Verlauf verschoben, neu gezogen. Vom herkömmlichen Duopol der hierarchischen Position, Risiken zu managen, und der individualistischen Position, Risiken zu suchen, wird der archetypische Akteur, der Risiken zu vermeiden versucht, sehr oft übersehen: Das sind die Menschen, die, mit einer egalitären Geisteshaltung ausgestattet, nach einem »einfachen Leben« suchen. Das Feuchtgebiet, der Schilfteich, die Klärgrube, die Komposttoilette (eine Variante des Erdklosetts) oder die so genannte »lebende Maschine«31 sind charakteristische Technologien für den Übergangspfad, der von 29 Algen wurden jedoch lange Zeit als ausgesprochen schlechte Phänomene einer unzureichenden Kontrolle der Umweltverschmutzung durch die Landwirtschaft und einer unvollständigen Behandlung der städtischen Abwässer betrachtet, das heißt des unzureichend eingedämmten Stoffwechsels unserer CAFOs (zum Teil) bzw. unserer CHFOs. Dabei handelt es sich um die bereits oben erwähnten grünen (und roten) Biomassen, die als störend für die natürliche Ordnung der Seen-, Ästuar- und Meeresökosysteme angesehen werden, wenn die Algen an diesen »falschen Stellen« zur übermäßigen Blüte angeregt werden, das heißt bei ausreichender Sonneneinstrahlung, reichlicher N- und P-Nährstoffdüngung und natürlich dem gelösten CO aus der darüber liegenden Atmosphäre. Solche unerwünschten Algenblüten gehören zum biogeochemischen Prozess namens Eutrophierung, der, als »schlecht« eingeordnet, als einer der neun Planetengrenzen gilt, die nicht überschritten werden dürfen, ja sogar einer der drei ist, der sie bereits »überschritten« hat. Vgl. Rockström, J. et al.: A Save Operating Space for Humanity, in: Nature 461, 2009, S. 472-475. 30 Die bescheidene UST könnte der »Nagel« sein, mit dem ein »Königreich« der Ressourcengewinnung und -erhaltung zurückgewonnen werden könnte (Vgl. Beck, a.a.O., Anmerkung 8). In der angedeuteten Art und Weise eingesetzt, könnte die UST auch einige der massiven Energiemengen einsparen, die bei der Entnahme von N aus der Atmosphäre zur Erzeugung von Düngemitteln (vor ihrem Verbrauch) durch den Haber-Bosch-Prozess verbraucht werden, und in ähnlicher Weise beträchtliche Energiemengen einsparen, die (nach dem Verbrauch) bei der Rückführung des »unerwünschten« N in die Atmosphäre während der Abwasserbehandlung verbraucht werden. 31 Vgl. Todd, J., Brown, E. J. G. und Wells, E.: Ecological Design Applied, in: Ecological Engineering, 20, 2003, S. 421-440. Die Website von Biopolus (www.biopolus.org) mit ihrem vorgeschlagenen Netzwerk von »BioMakeries« erinnert an diese charakteristischen egalitären Technologien und ist eher kommerziell ausgerichtet.
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der egalitären Solidarität bevorzugt werden dürfte. Denn diese Technologien unterstützen ein einfaches, dezentralisiertes und autarkes Leben. In London gibt es in der unmittelbaren Nachbarschaft zum Flughafen Heathrow eine Gemeinde, die sich Grow Heathrow nennt – eine Gemeinde, die (ab etwa 2010) im Zusammenhang mit den Protesten gegen die Pläne für einen Ausbau des Flughafens entstand, wodurch einige kleine Dörfer zerstört und deren Bewohner vertrieben worden wären. »Grow Heathrow« ist die Überschrift eines Artikels, der beschreibt, wie »ein Londoner Öko-Dorf Energie- und Nahrungsmittelalternativen schafft«. Der Artikel wurde auf der Website von occupy.com veröffentlicht, die ihrerseits als »To Be the News Media Site for the 99%« eingerichtet wurde.32 Die technologischen und technischen Präferenzen der egalitären Akteure werden mit dem folgenden Zitat aus dem occupy.com-Artikel gut illustriert: »Die Kompost-Toiletten [in Grow Heathrow] sind ebenfalls eine niederenergetische Alternative. Die erzeugte Humanure ist überraschend geruchsfrei und wird nach zwei Jahren als Dünger eingesetzt. Wie Lizzy [Honest (eine Bewohnerin von Grow Heathrow)] andeutet, ›ist das westliche Konzept der Abwasserentsorgung wirklich intensiv, und [daher] haben sich viele Gesellschaften wie zum Beispiel die chinesische an lokale Lösungen gehalten.‹« Grow Heathrow benötigt ausreichend Raum und Zeit, wir halten fest: zwei Jahre am dünn besiedelten Stadtrand, um die »kreative Zerstörung« der natürlichen Recycling-Biogeochemie zu nutzen und auf diese Weise das einfache, egalitäre Leben realisieren zu können. So viel Raum-Zeit hätte sich die (vergänglichere) Schwestergemeinde, die vor der St. Pauls-Kathedrale im Herzen der Stadt ihr Lager aufgeschlagen hatte, nie leisten können. Denn in diesem Lager hing die Aufrechterhaltung des öffentlichen Gesundheitswesens ironischerweise völlig von der Infrastruktur des hierarchisch-individualistischen Duopols ab, gegen das das Occupy-Movement opponierte. Doch in einer pluralistischen Demokratie müssen alle Stimmen – alle miteinander im Wettstreit liegenden Überzeugungen darüber, wie wir miteinander und mit der Natur leben sollen – gehört werden. Die Technologien zu ignorieren, die von den egalitären Stimmen bevorzugt werden, würde die Bandbreite der möglichen Übergangspfade drastisch reduzieren und »elegante Lösungen« erzwingen, bei denen eine oder zwei Stimmen die anderen übertönen. Damit würde die Gesamtheit der sehr viel konstruktiveren Ergebnisse verloren gehen – sie gelten als »ungehobelte Lösungen«,33 die nur dann zustande 32 http://www.occupy.com/article/grow-heathrow-london-eco-village-creating-energy-andfood-alternatives, letzter Zugriff am 10. Januar 2021. 33 Vgl. Verweij, M. und Thompson, M. (Hg.): Clumsy Solutions for a Complex World (Revised paperback edition), Basingstoke 2011.
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kommen, wenn sich alle Stimmen Gehör verschaffen können und aufeinander eingehen (und sie nicht ablehnen). In der egalitären Welt werden die aus dem Verbrauch stammenden Ressourcenströme in zunehmend kürzeren und räumlich begrenzten Recyclingkreisläufen zu Rohstoffen für den Verbrauch. »Kürzer« meint hier jedoch ausschließlich Raum (nicht Zeit). Auch in technischer Hinsicht können sich die Egalitären leicht durchsetzen. Menschliche Ausscheidungen müssen nicht in den Wasserkreislauf eingebracht werden. Man denke nur an die Komposttoilette oder die Urin ableitende Trockentoilette (UDDT; das trockene Gegenstück zur UST), deren postkonsumtive Ressourcenströme zur Grundlage einer städtischen Landwirtschaft eingesetzt werden können und damit (zumindest im Prinzip) den Weg für einen gewissen technologischen Sprung eröffnen. Dies ist nicht nur für die Egalitären in London wünschenswert, sondern gilt für jedermann (ganz unabhängig von ihrer jeweiligen kulturellen Perspektive), wenn das Paradigma der nassen Sanitäranlagen des globalen Nordens nicht länger der Ausgangspunkt für ein Verlassen der gegenwärtigen Verhältnisse bleibt.34 Wenn menschliche Ausscheidungen aber dennoch in den Wasserkreislauf gelangen, dann könnte der egalitäre Ingenieur darauf drängen, die anfallenden Abwässer in einen Nährstoff kreislauf zu integrieren. Dieser würde mit den ‹Verunreinigungen› im Abwasser beginnen, sich über die mikroskopisch kleinen Algen und ihre Fresser fortsetzen und möglicherweise durch das ganze Ökosystem hindurch bis zur Ebene der Fische, das heißt der Aquakultur, führen – siehe die Living machine von Todd et al. und die traditionellen, lokalen chinesischen Praktiken, auf die sich Lizzy Honest von Grow Heathrow beruft.35 Vor allem aber sollte die anmaßend-kontrollierende Hand des konventionellen (hierarchischen) Ingenieurs so weit wie möglich aus den Techniken des egalitären Übergangsweges herausgehalten werden, sobald diese etabliert sind und ihren Lebenszyklus entwickeln. Die Natur soll machen können, was Na-
34 Dagerskog, L., Coulibaly, C. und Ouandaoga, I.: The Emerging Market of Treated Human Excreta in Ouagadougou, in: Urban Agriculture Magazine 23, 2010, S. 45-48. 35 In den Entwicklungsländern und in der Landwirtschaft könnten (im Gegensatz zur Aquakultur) die zurückgewonnenen, düngenden Verunreinigungen aus menschlichen Abfällen durchaus ihren Weg in die Kraftstoffproduktion finden – als »trockenes« Gegenstück in den Industrieländern zu den nassen Technologien von Exxon-Mobil zur Herstellung von Biokraftstoffen. In Nepal beispielsweise sind inzwischen mehr als 250.000 Biogasgeneratoren installiert. Ein Haushalt muss mindestens eine Kuh besitzen (so dass die Technologie in städtischen Gebieten nur wenig Anwendung findet), aber es können auch menschliche Abfälle genutzt werden (und das ist heute selbst bei anspruchsvollen Brahmanen-Familien Routine; persönliche Auskunft an M. T. von D. Gellner, 2015). Solche Hausbesitzer verwenden also die Scheiße ihrer letzten Mahlzeit, um die nächste zu kochen: ein Zyklus, wie man ihn sich kaum kleiner und enger vorstellen kann; sozusagen der Gegenpol zu dem massiven und lockeren Kreislauf, der in die Städte der westlichen Welt hineingebaut wurde.
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tur am besten kann: Abfall in Nahrung zu verwandeln.36 Die »Niere der Natur«, die Metapher für das Feuchtgebiet, ist die gepriesene Ikone dieser dritten Denkschule. Eine gewöhnliche konventionelle Kläranlage, die nach der hierarchischen Schule des Ingenieurwesens riecht, lässt sich nicht durch die Zuschreibung einer solchen Analogie nobilitieren. Es fällt allerdings auf, dass in der Denkschule des egalitären Ingenieurwesens detaillierte Kenntnisse über die Krankheitserreger unterdrückenden Aspekte ihrer zentralen Übergangstechnologien fehlen. Der enorme Vorteil, den die konventionelle städtische Wasserinfrastruktur im Hinblick auf die Gewährleistung öffentlicher Gesundheit bietet, darf nicht aufgegeben oder gefährdet werden. Wenn Feuchtgebiete tatsächlich in jeder Hinsicht die »Nieren der Natur« sein sollten, wäre dies nicht schlecht, doch müssen die von hierarchischen Vorstellungen Geprägten davon erst einmal überzeugt werden. Im Hinblick auf die Entwicklungsländer geht Gyawali für Nepal davon aus, dass drei wissenschaftliche und technische Denkschulen existieren und sich untereinander austauschen.37 Als staatliche Ingenieur-, Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaften sind sie voll und ganz auf die vielfältigen Aspekte der Cultural Theory ausgerichtet: auf die Risiken managenden Hierarchisten, auf die Risiken suchenden Individualisten und die Risiken vermeidenden Egalitären. Ingenieure mit einer etwas fatalistischen, Risiken neutralisierenden Einstellung – wenn es sie denn in ausreichender Zahl geben sollte, um von einer Denkschule (entweder in der sich entwickelnden oder in der entwickelten Welt) sprechen zu können – müssten allerdings noch skizzieren, welche Technologien sie für einen Übergangspfad einsetzen wollen.38 36 Das Problem ist, dass es sich dabei um sehr komplizierte, sich selbst organisierende ökologische Systeme handelt, deren Technik eine (im Prinzip) recht umfangreiche technische Wissensbasis und wissenschaftliches Verständnis voraussetzt. Wenn sie einmal hergestellt und in Betrieb genommen sind und die führende Hand des Menschen weitgehend zurückgenommen ist, können sie aufwachsen und ganz »unerwünschte« Verhaltensweisen verursachen, ähnlich wie launische Teenager! 37 Gyawali, D.: Rivers, Technology and Society, Katmandu 2001. 38 Könnte eine solche Schule existieren? Eine erste Antwort darauf könnte sein, dass jeder, der davon überzeugt ist, dass die Welt weder mit Reim noch mit Vernunft funktioniert, dass folglich nichts, was wir tun, einen Unterschied macht, keinen Anreiz hätte, Ingenieur zu werden. Aber es besteht immer noch die Möglichkeit, dass ein qualifizierter und praktizierender Ingenieur fatalisiert werden könnte. Dass es solche Leute gibt, und zwar in recht großer Zahl, könnte vielleicht helfen, wiederkehrende technische Fehler zu erklären: große Staudämme in Nepal zum Beispiel, die durchweg den teuersten Strom der Welt erzeugen und die zugleich alle zehnmal schneller als erwartet mit Schlick zugesetzt werden. Mit anderen Worten, wir haben hier einen Fall, in dem es kein Lernen gibt: dass nicht wenigstens beim zweiten Versuch die Technik als nicht »fit for purpose« verstanden wurde. Doch entweder wird dies nicht als solches erkannt oder werden die Fakten zynisch manipuliert, um zu zeigen, dass die fehlgeschlagene zweite Anwendung der Technologie
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Technische Einzelheiten: Zeit und Energie Wenn wir Bilanz ziehen, so können wir festhalten, dass die so wichtige Trennungslinie zwischen dem Reinen und dem Unreinen immer erfolgreicher durch Membrantechniken verwirklicht werden kann, bei denen selbst auf engstem Raum Reines und Verunreinigtes diskret ko-existieren können. Mit anderen Worten, diese auf Osmose basierende Technologie könnte die gesamte gegenwärtige Technik mit ihren ganzen Abwasserkanälen und Kläranlagen überf lüssig machen. Zweitens ließe sich die Trennlinie über das Verhältnis von Entfernung und Zeit konzeptionell fassen: So benötigen unsere biogeochemischen Materialverarbeitungsprozesse ja nur relativ wenig Zeit (und einen kurzen Weg), um zuhause unser tägliches Brot und Wasser – das Reine unserer persönlichen Zufuhr – in das Unreine unserer menschlichen Produkte umzuwandeln. Die Reinheit von Unreinheit trennende Linie wird hier im konzeptionellen Bruch innerhalb des (nicht-)prosuming (biogeochemischen) Verarbeitungsknoten »Einzelhaushalt« verkörpert (und das meinen wir wörtlich). Auf der anderen Seite dauert es jedoch etwas länger, bis aus dem Unreinen wieder etwas Reines wird. Die kürzeste dieser lokalen Rückkopplungsschleifen, die bei einigen größten Ekel hervorrufen dürfte, ist für diejenigen, die sich für dieses einfache, quasi-autarke, dezentralisierte Leben entschieden haben, allerdings kein Problem.39 Wie die Trennlinie zwischen dem, was als rein, und dem, was als unrein empfunden wird, verläuft, hängt also von der jeweils eigenen Sicht auf die Dinge ab, so wie wir es aufgrund unserer grundlegenden Typologie nicht anders erwarten.40 doch funktioniert und voll und ganz zweckdienlich ist (siehe Gyawali, D., Thompson, M. und Verweij, M. (Hg.): Aid, Technology and Development: The Lessons From Nepal, Earthscan, London 2017). Diese Merkmale, so behaupten wir, sind charakteristisch für einen solidarischen oder individuellen Ingenieur, der fatalisiert wurde – unabhängig von der Art des Ingenieurwesens (oder der Gemeinschaft), aus der er ursprünglich als jüngeres Mitglied des Berufsstandes stammt. Allein wegen der Art und Weise, wie sie aufgehört haben zu lernen, werden die Technologien, die sie heute bevorzugen, diejenigen sein, die von ihren jeweiligen Ingenieur-Gemeinschaften Jahrzehnte früher propagiert wurden. In der Wissenschaft gibt es jedoch dokumentierte Fälle, in denen tödlich verunglückte Forscher dramatische Durchbrüche erzielten: nach dem Vorbild des apokryphen Chemikers, der sein Thermometer zerbrach, während er damit seinen Becher umrührte – etwas, was man niemals tun sollte –, nur um festzustellen, dass Quecksilber der Katalysator für eine Reaktion mit großem kommerziellen Potenzial war. 39 »Quasi-autark«, denn dies ist nicht das Leben des Einsiedlers. 40 Hier könnte es noch eine weitere wichtige Trennlinie geben, die (letztendlich) den Wechsel zu dem einen oder anderen Übergangspfad (und aus der tiefen, historischen Engführung des Wassersektors heraus) auslösen könnte. Wir könnten sie als soziale oder wirtschaftliche »Unreinheit« bezeichnen. Aber vielleicht wäre es besser, dies mit einem invasiven unternehmerischen Agenten zu vergleichen, der in ein bestimmtes techno-ökonomisches Ökosystem einzudringen versteht (mit dem Potenzial eine ernsthafte Umstrukturierung des Ökosystems zu bewirken, in das
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Die Biogeochemie der Materialverarbeitung ist allerdings nicht so geschmeidig: Was »weggeht«, bleibt natürlich nicht für immer »weg«. Um das post-koneingedrungen wird, wie zum Beispiel der Natur). Der vermutete Eintritt des Energiesektors von Exxon-Mobil in den Wassersektor ist ein Hinweis darauf. Sozio-technologische Studien zu den so genannten Nachhaltigkeitsübergängen (vgl. Geels, F.: Co-evolution of Technology and Society: The Transition in Water Supply and Personal Hygiene in The Netherlands (1850-1930) — A Case Study in Multi-level Perspective, in: Technology in Society 27 (3), 2005, S. 363-397; Geels, F.: The Hygienic Transition from Cesspools to Sewer Systems (1840-1930): The Dynamics of Regime Transformation, in: Research Policy 35 (7), 2006, S. 1069-1082; Smith, A. und Stirling, A.: The Politics of Socio-ecological Resilience and Sustainable Socio-technical Transitions, in: Ecology & Society 15 (1), 2010, S. 11; abrufbar unter www.ecologyandsociety.org/vol15/iss1/art11) legen eine Art Kampf zwischen professionellen »Insidern«, die sich dem Wandel widersetzen, und unternehmerischen »Outsidern« nahe, die eine Revolution anzetteln: eine Gruppenunterscheidung, die aus einem anderen Blickwinkel als die kulturtheoretische Unterscheidung zwischen hierarchisch und egalitär usw. getroffen wird. Wenn man sich auf unsere Typologie bezieht (Abbildung 47), sieht dieser »Kampf« wie die Unterscheidung zwischen orthodoxen Hierarchien und Märkten aus: hierarchische Akteure, die sich dem Wandel widersetzen, und individualistische Akteure, die ihn fördern. Nun ja, ließe sich sagen, doch würde ein wirklich »ungehobelter« [clumsy] Übergang – auf den wir in unseren abschließenden Abschnitten hinweisen (und wir an anderer Stelle viel ausführlicher diskutieren, zum Beispiel in Thompson und Beck [2014] sowie Beck et al [2011]) – auch die egalitären Akteure einbeziehen. In der Tat kommt ein Großteil der gegenwärtigen Übergangsimpulse im Wassersektor, wie wir gerade gesehen haben, aus der Wechselwirkung zwischen Egalitarismus und Individualismus, da sie vereint den nahezu hegemonialen Zugriff des völlig hierarchisierten Berufsstandes herausfordern. Auf dem Weltwasserkongress der IWA im September 2014 wurde ein eintägiges Forum zu Wasser und Cleantech einberufen. Sein Zweck war es, die Natur der technologischen Innovationen im Wassersektor zu untersuchen. Zwei Botschaften kamen dabei zustande, klar und deutlich. Die erste war, dass die Barriere – sie wurde als »People-Risk-Culture« bezeichnet – dank der inzwischen massiven Selbsteinschließung des Sektors unüberwindbar zu sein scheint. Die zweite (die wir als Teil der ersten verstehen) war, dass, da es bei der Bereitstellung von gesundem Trinkwasser unter keinen Umständen zu einem (wenn auch vorübergehenden) Versagen kommen darf, das Beste, was wir uns in Bezug auf die Innovationen erhoffen könnten, eine gewisse Verlangsamung und Reduktion des übermäßigen Massenwasserstoffwechsels unserer (entwickelten) Städte sei. Die Menschen dazu zu bringen, ihre Toilettenspülkästen mit Ziegelsteinen zu füllen, sei vermutlich das Meiste, was wir tun könnten. Für uns klingt dieses Urteil unangenehm nahe an der generellen zynischen Definition eines Ausschusses: »Eine Gruppe von Menschen, die als Einzelne nichts tun können, doch zusammenkommen können, um zu entscheiden, dass nichts getan werden kann.« Die Barriere, auf die sie sich berufen – »People-Risk-Culture« – müsste jedoch gar keine sein. Denn erstens sind die Menschen weit davon entfernt, alle gleich und unverbesserlich zu sein, sondern in vier verschiedene Weisen rational (wie in Abbildung 47 dargestellt) und infolgedessen immer lernend und (wenn es für sie sinnvoll ist) bereit, andere Wege einzuschlagen. Zweitens werden die Risiken, weit davon entfernt, uns gänzlich fremd zu sein, so ausgewählt, dass sie bevorzugte Muster sozialer Beziehungen stärken und rechtfertigen (Thompson und Rayner 1998; Thompson et al. 1998). Drittens ist Kultur weit davon entfernt etwas zu sein, das die Menschen einfach haben – und deshalb eine »unverschuldete Ursache«, wie Mary Douglas immer wieder betonte, etwas, das jeden Morgen neu gemacht wird (für »die Regeln der kulturellen Methode« vgl. Thompson et al. [2006]).
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sumtive C, N und P als Ressource für den erneuten Verbrauch nutzbar machen zu können, benötigt man entweder, wo es (wie in der Nähe des Flughafens Heathrow) Platz gibt, Zeit oder, wie bei den auf kleinen Flächen angelegten Abwasseranlagen innerhalb der Städte, Energie. In diesen »komprimierten« technischen Räumen mag es nur Stunden und Tage dauern, bis ein Zyklus durchlaufen ist, nicht Jahre oder Äonen geologischer Zeit. Doch um die biogeochemische Verarbeitungszeit zu beschleunigen, braucht es Energie, kommt es also zu den bekannten Kosten.
Wirtschaftliche Machbarkeit: Für Reichere für Ärmere Um uns auf den Weg vom Nassen ins Trockene zu schubsen oder um uns bewusst die post-konsumtiven Unreinheiten als prä-konsumtive Reinheiten wieder selbst zuzuführen, müssen die ökonomischen Instrumente einer heftigen »optimalen Störung« nicht vollständig mit den Ansichten einer der oben genannten Denkschulen übereinstimmen (obwohl sie es sehr wohl könnten). So hat es beispielsweise mehr als zwanzig Jahre gedauert, bis in den USA endlich voll funktionierende Märkte für den Handel mit Nährstoff krediten (NCT) entstanden.41 Sie sind das f lüssige Äquivalent zum Emissionshandel mit Kohlenstoff und arbeiten meistens auf der Basis der konventionellen (groß angelegten) Technologie der Abwasserauf bereitung. Bezeichnenderweise wird der entsprechende Markt nicht mehr wie ursprünglich als Nährstoff-Schadstoff-Handel bezeichnet. Weiterhin ist bezeichnend, dass dieser NCT-Markt nicht durch staatliche Reglementierungen behindert wird, sondern im Gegenteil ein Markt ist, der erst durch diese Reglementierungen geschaffen wurde und durch sie aufrechterhalten wird. Die hierarchisch aufgezwungenen Reglementierungen erweisen sich als ein relativ neuartiges Mittel, um einen Markt zum Funktionieren zu bringen und so die angestrebten Veränderungen zu fördern. In Kooperation mit der Finanzinitiative des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP FI) und der Principles of Responsible Investment Association (PRI) hat Trucost, ein im Jahr 2000 gegründetes, eher konventionell-hierarchisch orientiertes Unternehmen,42 daran gearbeitet, die Bildung (und Zerstörung) von Naturkapital und ökologische Gewinn- und Verlustrechnungen in die Jahresberichte der Unternehmen aufzunehmen. Die Idee dabei ist, das Geschäftsgebaren selbständiger, risikofreudiger Unternehmen in irgendeiner Weise, sanft oder indirekt, zu lenken. Im Gegensatz zur SustainabilityHQ, die das nachhaltige
41 Der US-Staat Pennsylvania hat eines der ersten dieser erfolgreichen NCT-Programme, siehe: http://www.portal.state.pa.us/portal/server.pt/community/nutrient_trading/21451. 42 Vgl. www.trucost.com.
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Wirtschaften führender Unternehmen bewertet,43 zielt die Wirkung dieses Instruments darauf ab, »die Nachzügler ins Visier zu nehmen«.44 In ihrem eigenen Bericht »Natural Capital at Risk: The Top 100 Externalities to Business« stellt die Trucost Ltd. fest: »Die weltweite Land- und Wasserverschmutzung durch die in dieser Studie analysierten Bereiche der Primärproduktion und Primärverarbeitung [der Wirtschaft] wird auf 0,3 Billionen US-Dollar geschätzt [...]; die Kosten der Wasserverschmutzung resultieren vor allem aus den Auswirkungen der Überdüngung durch Phosphate und Stickstoff.«45 Zum Vergleich – und um die Peitsche eines Blicks in den Abgrund46 in das Zuckerbrot der post-konsumtiven Ressourcenrückgewinnung zu verwandeln – sind die Schätzungen der globalen Märkte für die Nährstoff-Rückgewinnung nicht unähnlich (wenn auch nicht aus völlig überlappenden Wirtschaftssektoren stammend47). Sie belaufen sich auf etwa 235 Milliarden US-Dollar pro Jahr aus dem Rinder-, Schweine- und Gef lügelkot-Sektor (aus CAFO, das heißt mit ihren Anteilen an reicheren »Unreinheiten«); und etwa 65 Milliarden US-Dollar aus städtischen Haushaltsabwässern (ihrem CHFO-Pendant). Anders gesagt: Unsere Überlegung ist, die Externalität der Umweltkosten und -verluste, die durch »Substanzen am falschen Ort« entstehen (»Douglasian dirt«), in den Vorteil der »Internalität« durch die Rückgewinnung von Ressourcen zu überführen, bei der die gleichen Substanzen eben nicht »als am falschen Ort« platziert verstanden würden. Anstatt Materialien am falschen Ort (»Schadstoffe«) mit einem Preis zu versehen, wäre es lohnender, den »Rembrandt« im Fenster des Trödelladens wahrzunehmen. Allerdings könnte sich auch das, was unter ein »bestimmter Ort« verstanden wird, im Laufe der Jahrzehnte und Jahrhunderte aufgrund gesellschaftlicher Entwicklungen verändern. Das Schaufensterglas des Trödelladens ist matt und undurchsichtig geworden, ganz so wie sich auch unsere Sprache verändert hat, und nun nicht mehr wie früher von einem »Klärwerk«, sondern von einer »Wasserwirtschaftsanlage« gesprochen wird. Der »Abfall« 43 Das Unternehmen Sustainable Asset Management (www.sustainabilityhq.com) leitet seit zwei Jahrzehnten die Gelder vermögender Privatpersonen und Firmen in Unternehmen, die dazu beitragen, aus dem Umgang mit Müll Gewinn zu ziehen, wobei sie sich bewusst sind, dass sie auf dem nicht regulierten Markt gedeihen oder scheitern können. 44 Wie im Bericht der PRI-Vereinigung von 2010 »Universal Ownership: Why Environmental Externalities Matter to Institutional Investors« über die Universelle Eigentümerschaft ausgedrückt wird. Wir würden solche Anreize mit Bezug auf das Naturkapital und die ökologischen Gewinn- und Verlustrechnungen als Interaktionen zwischen überwiegend individualistischen und hierarchischen Akteuren identifizieren, da egalitäre Stimmen die monetäre Bewertung der Natur lautstark ablehnen. 45 Trucost: Natural Capital at Risk: The Top 100 Externalities to Business, Trucost, London 2013. 46 Eine Peitsche (oder Sanktion), weil diese kostspieligen Externalitäten größer sein können als die Einnahmequelle, die sie verursacht. 47 Villarroel Walker und Beck, a.a.O., Anmerkung 25.
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wurde vom Wasser getrennt, während wir es für die gegenwärtigen Übergangsprozesse für richtig halten, »Wasser« vom Abfall zu trennen. Der »Rembrandt« war immer da und ist immer noch da. Wir haben ihn einfach nur aus den Augen verloren, je mehr wir uns vom Wasser im Abwasser haben faszinieren lassen. Auf der Ebene der einzelnen Stadt könnte, wenn sie groß genug ist (wie London), eine vollständige »Marktdurchdringung« durch vier technologische Innovationen zusammen mehr als 125 Millionen Dollar an potentiellen, zusätzlichen Einnahmen pro Jahr aus dem Verkauf von Biokraftstoffen, Düngemitteln und C-Krediten generieren und diesen Betrag durch Einsparungen nochmals verdoppeln (durch »reines« Wasser, das nicht verbraucht wird, und Energie, die nicht benötigt wird, um das Wasser durch die Stadt zu pumpen). Der gesamte Wert der zurückgewonnenen oder eingesparten Ressourcen würde sich auf etwa 375 Millionen Dollar belaufen.48 Dies alles würde jedoch entscheidend (und vermutlich sozial ziemlich disruptiv wirkend) von einer der vier Innovationen abhängen, die eher nicht aus dem Stall der hierarchischen (zentralisierenden) Ingenieurschulen stammt, sondern aus dem der (dezentralisierenden) egalitären Schulen: der bescheidenen Urin trennenden Toilette (UST). Nur wenige Kilometer von London entfernt, in Slough, Berkshire, hat sich das bahnbrechende Start-up-Unternehmen Ostara Nutrient Recovery Technologies mit Thames Water zusammengetan, um eine Phosphor-Rückgewinnungsanlage im zentralen Klärwerk der Stadt zu installieren.49 Ihr Düngemittel wird jetzt zur
48 Wir vermuten, dass der Ruck massiv sein muss, um dies in großem Maßstab zu tun. In begleitenden Studien der Stadt Atlanta berechnen wir die relativen Ausgaben und Einnahmen in der folgenden Reihenfolge (für eine typische, große, konventionelle Abwasserbehandlungsanlage): 40 Millionen Dollar müssten für Änderungen an der Anlage (einschließlich der Umbauten in den Haushalten) ausgegeben werden, danach ergäben sich pro Jahr 4 Millionen Dollar für eine jährliche Rendite der Gewinne aus dem Verkauf von Produkten nach dem Verbrauch und Kosteneinsparungen bei den Ressourcen vor dem Verbrauch (Wasser) von etwa 1,5 Millionen Dollar (vgl. Jiang, F., Villarroel Walker, R. und Beck, M. B.: The Economics of Recovering Nutrients from Urban Wastewater: Transitions Towards Sustainability, 2015 [in Vorbereitung]). In vielerlei Hinsicht sind es die Kosten für die Transportlogistik, die lähmend sein können: die Kosten, die entstehen, wenn die Verunreinigungen (nicht das Wasser) dorthin gebracht werden, wo sie in geeigneter Weise biogeochemisch umgewandelt werden können, und von dort zu den anderen Verarbeitungsknoten, wo sie für ihre späteren nützlichen Zwecke eingesetzt werden können. Es spielt eine große Rolle, wie oft die Toiletten gespült werden (um die Reichtümer zu verdünnen), daher werden die Haushaltszisternen für den nicht wasserbasierten (trockenen) Transport per LKW zum nächsten Verarbeitungsknoten im Ressourcenkreislauf geleert. Darüber hinaus ist, wie die Londoner Studie zeigt, »reines« Wasser – das einst (vor anderthalb Jahrhunderten) als so billig für die nasse Form des Transports von Verunreinigungen angesehen wurde (auch im Vergleich zum damaligen Konkurrenten Vakuumtransport) – nicht mehr billig (siehe Villarroel Walker et al., a.a.O., Anmerkung 25). 49 Siehe: http://ostara.com/project/thames-waters-slough-sewage-works-to-build-ostara-facility/.
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Bewässerung von Golfplätzen eingesetzt, doch erst, nachdem die Trading Standards Agency der britischen Regierung zugestimmt hatte, diesen speziellen »unreinen« Output des Werks weder als Verunreinigung noch als Abfall zu bezeichnen. Da die Hierarchen großen Wert auf Präzedenzfälle legen, können wir hier eine neue, konstruktive Rolle der Hierarchen bei der Geburt eines der »ungehobelten« Prozesse sehen, den wir befürworten: sozusagen ein Berufungsgericht, das (vorbehaltlich einer Reihe von Sicherheitsvorkehrungen) es ermöglicht, bestimmte als »Abfall« (möglicherweise als »gefährlicher Abfall«) eingeordnete Materialien als »Ressourcen« zu definieren. Der internationale Handel mit den Chemikalien, die von der niederländischen Firma Reststoffeunie50 bei der Wasserauf bereitung zurückgewonnen werden, wird allerdings bereits durch die unterschiedlichen Normen und Vorschriften (was als Abfall gilt) behindert, die in den vielen nationalen Rechtsordnungen in der Europäischen Union verankert sind.51 Die praktische Realisierung von Brunners Konzept des Urban Mining52 muss möglicherweise ebenfalls an unseren hypothetischen Berufungsgerichtshof appellieren. Aber ein solches Zusammenspiel zwischen einem archetypischen Marktakteur und einem archetypischen Regulator ist, wie wir bereits beobachtet haben, nur der klassische Duopol der individualistischen und hierarchischen Denkschulen. Könnte mehr dahinterstecken? Durchaus. Zum Beispiel könnte ein Technologieunternehmen wie Ostara zu gegebener Zeit auf einen interessanten Konkurrenten (wenn nicht sogar auf den Energieriesen Exxon Mobil) in Gestalt eines eher egalitär orientierten Akteurs treffen. Die Blue Diversion Toilette (die attraktivere Markenversion eines UST) soll in dezentralisierten Kommunen zum Einsatz kommen.53 Ihre Entwicklung wurde von der Bill and Melinda Gates Foundation, einer philanthropischen Nicht-Regierungsorganisation, finanziert. Sie ist vor allem für Entwicklungsländer vorgesehen. Im Gegensatz zu der Ostara, die darauf warten muss, dass ihr Rohmaterial über das Abwassernetz stromabwärts durch die Stadt transportiert wird, geht die Blue Diversion Toilette präventiv an den Ursprung der Sache – an das Fundament, könnte man sagen – in jeden einzelnen (stromaufwärts gelegenen) Haushalt.54 Das wäre sicherlich eine gewaltige, ziemlich viel Aufruhr hervorrufende technologische Innovation in den Städten des globalen Nordens. 50 Siehe: https://aquaminerals.com. 51 Und diese Schwierigkeiten könnten sich noch verschärfen, jetzt, da Großbritannien beschlossen hat, die Europäische Union zu verlassen, vielleicht, um anderen ein Beispiel zu geben, von anderen verfolgt zu werden. 52 Brunner, P. H., a.a.O., Anmerkung 23. 53 Siehe: http://www.bluediversiontoilet.com/. 54 Diese »dritte Schiene« aus wirtschaftlichen Anreizen und Anstößen hat noch weitere Dimensionen. Wenn überhaupt, dann wurden nur wenige unternehmerische Unternehmen (soweit wir wissen) gegründet, um das Wissen über das komplexe Verhalten von Ökosystemen zu kommerzialisieren, wie zum Beispiel das ikonische Feuchtgebiet und die lebende Maschine.
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Je trockner desto besser: Die Grenze zwischen dem Reinen und dem Unreinen neu ziehen Zum Schluss: Man kann sich vorstellen, dass die Wasserströme, die zur Versorgung einer Stadt durch sie hindurchf ließen, nicht nur ihren Stoffwechsel, sondern zugleich die Räder antreiben, die sich zur Wiedergewinnung ihrer Verunreinigungen sowohl stromaufwärts als auch stromabwärts eines fiktiven Haushalts drehen. Stromaufwärts gewinnt das eine Rad die dem Wasser zugefügten Stoffe zurück, um es trinkbar zu machen.55 Das andere Rad aber gewinnt die Verunreinigungen zurück, die durch den Stoffwechsel in den Haushalten der Stadt ins Wasser gelangen. Wir verfügen über ein Portfolio von Technologien und technischen Denkrichtungen sowie ein Portfolio von wirtschaftlichen Anstößen (wenn nicht sogar Typologien von beiden). Diese Technologien und Anstöße sind erforderlich, um die Verunreinigungsräder immer wirkungsvoller einzusetzen und die durch die Stadt f ließenden Wassermassen zu reduzieren. Darüber hinaus muss die Stadt nicht als eine massive Verunreinigung einer ohnehin schon schlechten Umwelt betrachtet werden – als ein Schandf leck in der Landschaft –, sondern als eine Kraft für das Gute in ihrer Umgebung, als ein Netto-Generator von Dienstleistungen für das Ökosystem.56 Mit anderen Worten: Nimm den abstoßenden Eindruck des urbanen ökologischen Fußabdrucks, stel-
Biopolus, das schon Gegenstand einer früheren Fußnote war, ist jedoch eine Ausnahme von dieser Regel. Als gemeinnütziger Verein erfüllt The Natural Step (TNS; www.naturalstep.org) eine sehr interessante (und effektive) Rolle als »Change Agent«, einschließlich der Veränderung der Herzen und Köpfe eines Ingenieurbüros in den Niederlanden (DHV Engineers; www.royalhaskoningdhv.nl), dessen Ergebnis nicht nur eine erfolgreiche und bewusste neue Ziehung der Grenze zwischen städtischen Kläranlagen und dem natürlichen Fluss war, sondern auch eine höchst interessante mechanische Reinigungsvorrichtung, die als Flowformcascade bekannt ist (www.paul-van-dijk.com). Diese Vorrichtung ist, soweit wir wissen, nicht Gegenstand eines Patents, sondern Gegenstand eines Bildhauerateliers. Der ursprüngliche Bericht über die Zusammenarbeit zwischen TNS und DHV-Ingenieuren, der im September 2010 in der Ausgabe des TNS-Newsletters veröffentlicht wurde, ist nicht mehr leicht zugänglich. Seine Bedeutung wird jedoch auf den Seiten 139 und 141 von Beck (a.a.O., Anmerkung 8) ausführlich diskutiert. Wenn die Ökosystemdienstleistungen (Beck, M. B.: Understanding the Science of Ecosystem Services: Engineering Infrastructure for Urban Water Services, in: Applying Systems Thinking: An Outreach Paper, International Water Association, The Hague, The Netherlands 2016, S. 8 und S. 37 einen wirtschaftlichen Status erlangen würden, der es ihnen ermöglicht, Seite an Seite mit dem Wasser- oder Energiesektor oder auch dem Banken- und Finanzdienstleistungssektor zu stehen, könnte dies dem System einen gesunden Schub verleihen. 55 Bereits das Geschäft der niederländischen Firma Reststoffeunie, https://aquaminerals.com. 56 Vgl. Beck M.B., a.a.O., Anmerkung 25; siehe auch: www.cfgnet.org.
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le ihn auf den Kopf und schaffe eine Vision der Stadt, die »auf Wolken geht«.57 Schritte in Richtung dieser Vision werden wahrscheinlich alle Arten von physischen und sozialen Rekonstruktionen der Trennlinie zwischen Reinheit und Unreinheit nach sich ziehen, was uns an unseren Ausgangspunkt zurückbringt: zum Ganges bei Benares und zu Kabirs »unbequemer Wahrheit«. In der entwickelten Welt – in Städten wie London und Atlanta – können wir eine dramatische Verbesserung ihres Stoffwechsels erwarten, wobei ihr ökologischer Fußabdruck immer geringer werden wird, bis er einen Punkt erreicht, an dem sie fast »auf Wolken gehen« können. Dieser Übergang zu den sonnenbeschienenen Landschaften könnte dadurch erreicht werden, dass diese Städte ihre nassen Sanitärsysteme austrocknen und ihre Unreinheiten-Recycling-Räder effizienter arbeiten lassen. In den Entwicklungsländern – in Städten wie Katmandu – können wir eine ganze Reihe von Übersprüngen erwarten, die alle die Sackgassen vermeiden, unter denen die entwickelte Welt derzeit leidet. Wir können hoffen, dass die Städte sich dort auf der Grundlage einer klaren und robusten Trennung zwischen einer »reinen« Trinkwasserversorgung einerseits und andererseits einem ebenso »reinen« Kreislauf aus Nährstoffen, sanitärer Versorgung und Landwirtschaft entwickeln und mit dem, was einst als die Verunreinigungen im Wasser angesehen wurde, gewinnbringend handeln. Reines Wasser wäre dann so sauber von seinen Verunreinigungen getrennt, wie letztere selbst so »frei« von der »Verunreinigung« durch Wasser wären, dass sie als »reine« Kohlenstoff-, Stickstoff- und Phosphorströme gelten können.
57 Vgl. Beck, M. B.: Sustainability and Smartness: A Tale of Two Slogans, in: Sustainability of Water Quality & Ecology 1-2, 2013, S. 86-89.
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Rubbish Theory applied – Ein Bericht Michael Fehr Mit diesem Text knüpfe ich an die Rezeptionsgeschichte der Rubbish Theory an, die Michael Thompson in der Einleitung zu dieser zweiten Ausgabe seines Buchs gibt, und in der er das Karl Ernst Osthaus-Museum in Hagen erwähnt. Dieses Museum hat eine bewegte Geschichte, die ich im ersten Abschnitt kurz referiere, um im zweiten Abschnitt anhand einiger Beispiele zu rekapitulieren, was wir in den Jahren, in denen ich das Haus leiten konnte, bei dem Versuch, die alte Idee, »Kunst und Leben miteinander zu versöhnen« (K.E. Osthaus), neu und zeitgemäß zu interpretieren, unter vielem anderen gemacht haben.1 Das mag, so hoffe ich, von Interesse sein, weil sich mit dieser Museumsgeschichte und den Episoden jüngerer Zeit die Überlegungen, die Michael Thompson vor allem im 6. Kapitel (»Kunst und die Ziele ökonomischer Aktivitäten«) seines Buchs anstellt, für den Bereich der Museen illustrieren lassen, und diese mir darüber hinaus als Grundlage für einige generelle Thesen zur sozioökonomischen Rolle der Museen dienen können, die ich im dritten Abschnitt skizziere.2
I. Das Karl Ernst Osthaus-Museum war die Nachfolgeeinrichtung des »Museum Folkwang«, das 1902 von Karl Ernst Osthaus als privates Institut in Hagen gegründet wurde. K. E. Osthaus war damals ein von seiner »Kunstmission, die Schönheit wieder zur herrschenden Macht im Leben werden zu lassen«, beseelter, sehr 1 Es geht hier um den Zeitraum 1987 bis 2005. Stellvertretend für die Vielen, die sich während dieser Jahre mehr oder weniger lange am und für das KEO-Museum engagiert haben, möchte ich hier Sigrid Godau, Stefan Grohé, Ulrike Ittershagen, Clemens Krümmel, Markus Müller, Olaf Peters, Beate Reese, Thomas W. Rieger, Birgit Schulte und Falk Wolf nennen. 2 Auf Michael Thompsons Buch bin ich ca. 1982 gestoßen. Mein erster Versuch, die Rubbish Theory für die Auseinandersetzung mit Museen fruchtbar zu machen, war der Vortrag: Müllhalde oder Museum. Endstationen der Industriegesellschaft, in: Museum – Verklärung oder Aufklärung. Kulturpolitisches Kolloquium zum Selbstverständnis der Museen (1985), Loccumer Protokolle, 52, Loccum 1986, S. 113-128. Dieser Bericht fasst verschiedene, im Literaturverzeichnis genannte Darstellungen und Überlegungen zu den hier erwähnten Aktivitäten zusammen.
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Abbildung 48: »Silence«, Ausstellung im Karl Ernst Osthaus-Museum, Januar 1988
wohlhabender junger Mann, der mit diesem Museum und vielen weiteren Initiativen und Aktivitäten die soziale Realität seiner von der Schwerindustrie geprägten Heimatstadt zu verändern versuchte. Das Haus erlangte unter seiner Leitung in kürzester Zeit Ruhm als (tatsächlich weltweit) erstes Museum für Moderne Kunst. Osthaus sammelte aber nicht nur Werke der internationalen zeitgenössischen Avantgarde, sondern zeigte sie in von Henry van de Velde »revolutionär« gestalteten Räumen in Kombination mit ausgesuchtem altem Kunsthandwerk und ethnologischen Objekten mit dem zunehmend klarer gefassten Ziel, ein Museum der Weltkulturen zu etablieren. Diese Vision konnte K. E. Osthaus jedoch nicht mehr verwirklichen, denn er verstarb schon 1921, gerade 46 Jahre alt. Entgegen seinem Willen wurde das Museum nach seinem Tod aufgelöst, der gesamte Bestand verkauft und in das Kunstmuseum der Stadt Essen integriert, das auch den Namen »Folkwang« übernahm und heute – nicht zuletzt aufgrund der ehemals Hagener Bestände – als eines der international bedeutenden Kunstmuseen gilt. Hintergrund für diesen Transfer war, dass in der Stadt Hagen damals der Wert des Museums bzw. seiner Sammlungen nicht erkannt wurde und sich die Kräfte durchsetzen konnten, die die Osthaus« Aktivitäten schon immer (als »vergänglich«, wenn nicht sogar als »Müll«) abgelehnt hatten. So ging auch die berühmte Inneneinrichtung des Museumsgebäudes im Zuge seiner Umwidmung zum Büro des lokalen Energieversorgers bis auf wenige Details verloren. Das 1930 von der Stadt Hagen neu eingerichtete, dem »Maler der Moderne«, Christian Rohlfs, gewidmete Kunstmuseum wurde schon 1934 von den Nationalsozialisten als »Haus der Kunst« »gleichgeschaltet« und fungierte ab 1939, nochmals in »Karl Ernst Osthaus-Museum« umbenannt, als Kunstmuseum des »Gau
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Südwestfalen«; im Zuge der Aktion »Entartete Kunst« verlor es den größten Teil seiner (von den Nazis zu »Müll« deklarierten) »modernen« Bestände. Mit seiner Wiedereröffnung Ende 1945 wurde das Museum daher praktisch neu gegründet. Die damalige Museumsleiterin Herta Hesse-Frielinghaus versuchte, an die Geschichte des alten Museum Folkwang anzuknüpfen und eine Sammlung mit Werken der Künstler aufzubauen, die schon K. E. Osthaus unterstützt hatte. Doch wurden diese ehemals umstrittenen Avantgardisten nun der Klassischen Moderne zugerechnet und so hoch bewertet, dass sie nur noch eine kleinere Sammlung mit vor allem expressionistischen Werken auf bauen konnte. Ihr Wirken beschloss sie 1975 mit einem »multifunktionalen« Anbau an das alte Museumsgebäude im damals modischen Stil des »beton brut«, für den der Altbau zu einem erheblichen Teil abgerissen wurde. Es folgte eine Phase, in der sich das Museum vor allem regionaler zeitgenössischer Kunst widmete und, so die Erzählungen, vor allem wegen seines preisgünstigen Cafés besucht wurde. Der etwas glücklose und offensichtlich frustrierte Direktor Johann Heinrich Müller hinterließ es, nachdem er anderweitig ein Auskommen gefunden hatte, 1986 in einem desolaten Zustand – als ein Haus, das nur durch seinen großen Namen und zwei bedeutende Sammlungskomplexe (Werke von Henry van de Velde und Christian Rohlfs) vor der Einordnung in die Museums-Müllkategorie (mehr dazu weiter unten) bewahrt wurde. Nach der vom Rat der Stadt Hagen 1991/92 beschlossenen und von mir verantworteten Neuorientierung des Museums3 wurde das Haus nach meinem Weggang 2009 ein weiteres Mal, nun in »Osthaus-Museum« umbenannt. 4 Mit der neuen Namensgebung wurde auch die bis dahin bestehende Konzeption aufgegeben.5 3 Das Programm war eine Art Marktlückenstrategie, mit der ich die gravierenden Handicaps des Museums (wenig profilierte Sammlung, schlechter Ruf, starke Konkurrenz in der Nachbarschaft, magere finanzielle Ausstattung) zu kompensieren versuchte. Es gab mir die Freiheit (und Sicherheit), Ausstellungen und Ankäufe im Rahmen von vier miteinander verzahnten, inhaltlichen Schwerpunkten planen zu können und nicht jeweils einzeln legitimieren zu müssen. Zwei dieser Schwerpunkte, »natural relations« und »Bewusstsein von Geschichte«, wurden mehr oder weniger direkt aus Hauptwerken von Künstlern entwickelt, der dritte, »triviale Maschinen«, ergab sich wie der vierte, »Museum der Museen«, aus der theoretischen Auseinandersetzung mit der Lage der Künste bzw. des Museums in der Mediengesellschaft. Dazu kam eine systematische Beschäftigung mit der Hagener Kunstgeschichte, die, wie es jemand einmal formulierte, eine »kleine Beule« in der europäischen Kunstgeschichte hinterlassen hat; siehe auch: http://www.keom02.de. 4 »Die jüngste Umbenennung des Museums im Jahre 2009 entstand im Vorfeld der Wiedereröffnung. Die neue Schreibweise ›Osthaus Museum Hagen‹ ist zeitgemäßer und international nachvollziehbarer, da mit dem Ortsnamen verbunden. Zudem hebt sie den in der Zeit des deutschen Nationalsozialismus eingeführten Namen ›Karl-Ernst-Osthaus-Museum‹ auf.« Siehe: https:// de.wikipedia.org/wiki/Osthaus_Museum_Hagen. 5 »[…] Im Osthaus Museum Hagen wird Kunst zum Genuss und Sinnenfreude zum Erlebnis. Als Ort der Inspiration, des sinnlichen Genusses und der kommunikativen Auseinandersetzung agiert
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Abbildung 49_1: »Revision«, Ausstellung im Karl Ernst Osthaus-Museum, Januar/Februar 1988
Abbildung 49_2: »Revision«, Ausstellung im Karl Ernst Osthaus-Museum, Januar/Februar 1988
Zusammengefasst lässt sich festhalten, dass dieses Haus in seiner etwa 100-jährigen Geschichte sechsmal neu gegründet bzw. grundlegend neu orientiert wurde, ein Schicksal, das es in dieser krassen Form mit kaum einem anderen Haus teilt, doch das dem Grunde nach für Museen, die der (jeweiligen) zeitdas Osthaus Museum publikumsnah und besucherorientiert.« Siehe: www.osthausmuseum.de/ web/de/keom/museum/ziele/ziele.html.
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genössischen Kunst gewidmet sind, vor allem dann, wenn sie nicht über einen Kanon abgesicherte (»dauerhafte«) Bestände verfügen, keineswegs ungewöhnlich ist. Allerdings werden solche Veränderungen, bei denen nicht mehr aktuell erscheinende Objekte in die Magazine – die museumsinternen Müllhalden – verbannt werden, oft im Zusammenhang mit Neu- und Umbauten, also im Zuge der Aufwertung der Museumsgehäuse vollzogen und deshalb meistens nur als neue »Hängungen« des vorhandenen Materials wahrgenommen. Im Übrigen sind solche Veränderungen nicht allein auf Kunstmuseen beschränkt, wie zum Beispiel die Neuorientierungen und Umbenennungen ethnologischer Museen im Zuge der postkolonialen Diskurse erkennen lassen.
II. Nicht zuletzt aus Mangel an finanziellen Mitteln begann ich meine Arbeit am Karl Ernst Osthaus-Museum (ab 1987) mit dem verdrängten Vermögen des Hauses, das heißt mit einer Auseinandersetzung mit seiner schwierigen Geschichte, also mit seinen Sammlungen und dem, was vom Gebäude des alten Museum Folkwang übrig geblieben war: mit der Doppelausstellung »Silence/Revision«, bei der ich zunächst ein vollkommen leer geräumtes Haus zeigte und im Anschluss daran den gesamten Bestand des Museums nach Inventarnummern geordnet. Schon dabei wurde deutlich, dass die Beschäftigung mit den Beständen weitaus höhere Verbindlichkeit hat als die Formen des Ausstellungsmachens, bei denen irgendetwas für eine bestimmte Zeit ins Haus geholt wird, um dann einem Nächsten Platz zu machen. Denn die Bestände, das Dauerhafte in den Modus des Temporären, des Vergänglichen zu setzen, lässt die Objekte nicht unberührt, sondern wie unter einem neuen Licht erstrahlen (oder verblassen) und bringt an und mit ihnen in jedem Fall die zeitliche Dimension, die der Sammlungs- und Museumsgeschichte, zur Anschauung, die weder in der permanenten Ausstellung noch im Magazin ohne Umstände erfahrbar ist. Aus diesem ersten Ansatz ergaben sich in den folgenden Jahren mehr oder weniger systematische »Grabungen« in den Archiven des Museums, die zur Grundlage verschiedener Ausstellungen wurden und nicht zuletzt zur Rekonstruktion der zerstörten Innenarchitektur des alten Museum Folkwang und weiterer Gebäude, die in Hagen auf Osthaus« Initiative entstanden waren.6 Die Macht der Kategorie des Dauerhaften zeigte sich auch bei der Ausstellung »Vom Trümmerfeld ins Wirtschaftswunderland. Ein Stück Nachkriegsgeschichte 1945-1955«, einem gigantischen Haufen von Dingen aller Art, die Enno Neumann 6 Vgl. dazu Fehr, M.: Text und Kontext. Die Entwicklung eines Museums aus der Reflexion seiner Geschichte, in: ders. (Hg.): open box – künstlerische und wissenschaftliche Reflexionen des Museumsbegriffs, Köln 1998, S. 12-43.
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Abbildung 50 und 51: Blicke in die Ausstellung »Vom Trümmerfeld ins Wirtschaf tswunderland. Ein Stück Nachkriegsgeschichte: Bochum 1945-1955«, Ausstellung im Karl Ernst Osthaus-Museum, April/ Juni 1988, Gestaltung: Enno Neumann
Abbildung 51
in jahrelanger Sammlungstätigkeit für das Stadtarchiv Bochum buchstäblich aus dem Müll gezogen, das heißt, auf Trödelmärkten und ähnlichen Orten erworben, und in einer, sich durch alle Ausstellungsräume ziehenden, künstlerischen Instal-
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lation verarbeitet hatte.7 Hier war in geradezu »klassischer« Weise zu beobachten, wie aus Müll Kunstobjekte entstehen können, und dies allein aufgrund der Art und Weise, wie Neumann sie aus ihrem Status als bloße Archivalien herauszuholen und als Anschauungsgegenstände einzusetzen verstand. Für diesen Transfer war allerdings der Kontext »Kunstmuseum« eine notwendige Bedingung. Und so fielen die Objekte nach der Ausstellung in ihren Status als Archivalien zurück, verblieben jedoch als gewissermaßen nobilitierte Objekte in der Kategorie des Dauerhaften. Eine zweite Ausstellung, die ich hier erwähnen möchte, entstand 1989 in enger Kooperation mit dem Museum für Gestaltung in Zürich und hieß in Hagen »Imitationen. Das Museum als Ort des Als-Ob«. Sie führte alle nur denkbaren Formen von Imitationen, von Kopien und Nachahmungen über Reproduktionen, Rekonstruktionen und Simulationen bis hin zu Klonen in allen möglichen Medien und aus allen gesellschaftlichen Bereichen vor. Der Witz unserer Version war allerdings, dass ich die Ausstellung nicht nur im Ausstellungstrakt des Hauses stattfinden ließ, sondern in den »Altbau« zog und die dort präsentierte Sammlung (Werke eindeutig in der Kategorie des Dauerhaften) über ihre Idee in eine Art Konjunktiv zu setzen versuchte. So wurden zum Beispiel alle rekonstruierten Architekturteile als falsch oder nicht echt gekennzeichnet, einige Hauptwerke der Sammlung neu datiert, anderen Autoren zugeschrieben oder gleich zu Kopien erklärt und gab es dort auch einen Raum mit Bodybuilding-Geräten sowie eine falsche Besuchertoilette. Das Ergebnis war, dass das Publikum buchstäblich alles, was sich im Haus befand, zu hinterfragen begann und lustvoll auf seine Echtheit prüfte. Dass auf diese Weise »Dauerhaftes« gewissermaßen in die Müllkategorie verschoben wurde und hinterfragt werden konnte, war nicht nur ein Riesenspaß, sondern ließ die Rolle der museumsinternen Absicherungen des Dauerhaften, wie zum Beispiel die Funktion der Objektbezeichnungen, der »Schildchen«, sichtbar, also das Museum als ein Konstrukt erfahrbar werden.8 Dass es überaus schwierig sein kann, etwas mit vergänglichem Charakter aus der Müllkategorie in die Kategorie des Dauerhaften zu überführen und darin zu etablieren, selbst wenn dies bereits schon Jahre zuvor als Kunst eingeordnet worden war und der Künstler selbst als etabliert gelten konnte: Dafür steht der Ankauf und die feste Installation der »Eingeweckten Welt«, die Michael Badura 1967 entwickelt und bis 1977 mehrfach ausgestellt hatte,9 und die ich 1992 in einer
7 Die Ausstellung fand im Frühjahr 1988 statt und ist dokumentiert in: Fehr, M. und Grohé, S. (Hg.): Geschichte – Bild – Museum. Zur Darstellung von Geschichte im Museum, Köln 1989. 8 Vgl.: Fehr, M. (Hg.): Imitationen. Das Museum als Ort des Als-ob, Köln 1991. 9 Vgl. Düsselberg, K. U. (Hg.): Michael Badura. Die Eingeweckte Welt und andere Arbeiten aus den Jahren 1966-1977, Krefelder Kunstverein 1977; Michael Badura hatte an der Documenta 1977 teilgenommen und arbeitete damals als Kunstprofessor.
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Abbildung 52: »Imitationen. Das Museum als Ort des Als-ob«, Ausstellung im Karl Ernst OsthausMuseum, März/April 1990, darin: Paul Kußmann, Brunnen mit fünf Jünglingen nach Georg Minne, 1973/4, Marmor. Auf Anregung von Henry van de Velde entwickelte Georg Minne aus seiner schon 1898 entworfenen Jünglingsplastik die marmorne Brunnenanlage mit fünf knieenden Knaben. Dieser von Minne eigenhändig gearbeitete Brunnen wurde 1905 installiert und kann als das Wahrzeichen des (alten) Museum Folkwang gelten. 1922, nach dem Tod von Osthaus, wurde der Brunnen zusammen mit dem gesamten Bestand des Museums nach Essen verkauf t und im städtischen Folkwang-Museum aufgebaut. Die Replik von Kußmann steht seit 1974 am originalen Standort im K.E.O-Museum in Hagen.
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aktualisierten Version für das Museum erwerben konnte.10 Diese Installation (in einem kleinen, abschließbaren, zuvor als Abstellkammer genutzten Raum) bestand aus einem Regal mit etwa 200 großen Einmachgläsern, in denen Badura verschiedene organische Pf lanzenmaterialien gesammelt, mit Chemikalien versetzt in Wasser eingelegt und so in Reaktion miteinander gebracht hatte. Wie vom Künstler geplant, entwickelten sich in den Gläsern mit der Zeit kleine Biotope unterschiedlicher Art, die gelegentlich bewässert werden mussten, um sie vor dem Austrocknen zu bewahren. Vom Künstler war diese Arbeit als eine dystopische Vision: als ein Blick auf die Erde nach ihrer Zerstörung durch die Menschheit konzipiert, die er dazu ausführlich in einem Text und begleitenden Zeichnungen beschrieben hatte; ein Werk mit einer ähnlichen Thematik wie die »Biokinetische Landschaft« von HA Schult,11 die 1972 von meiner Vorgängerin angeschafft worden war. Hatte diese Arbeit den Charakter eines schaurig-schönen Dioramas, so war die »Eingeweckte Welt« dagegen als buchstäblich offenes Kunstwerk lebendig, zeigte sich in wechselnden Zuständen und roch bei bestimmten Wetterlagen ein bisschen: Anlass für einen, mit der Arbeit des Museums überhaupt nicht einverstanden Politiker und Kunsterzieher, seine Klasse zu einem, wie viele Jahre später aufgedeckt wurde, »Aprilscherz« zu verführen, nämlich in einem Brief an die lokale Presse behaupten zu lassen, dass einer der Schüler nach der Besichtigung dieser Arbeit erkrankt sei.12 Diese Behauptung führte nicht nur zu einem Rauschen im gesamten deutschen Blätterwald, sondern zur Einschaltung unter anderem des städtischen Chemischen Untersuchungsamtes. Dies sah sich allerdings nicht in der Lage, die angebliche Giftigkeit der »Eingeweckten Welt« zu bestätigen, empfahl jedoch, sie in einer Vitrine einzuhausen. In der Zwischenzeit war es in der Stadt vor allem unter Politikern Mode geworden, sich gegenseitig kleine Einmachgläser mit etwas Undefinierbarem darin als »Kunstwerke« zu schenken. Die über ein Jahr andauernde Aufregung hatte sich noch nicht gelegt, als von offizieller Seite die Befürchtung geäußert wurde, dass die nun unter Glas von der Umwelt abgeschirmte Arbeit explodieren könne. Darauf erhielt sie eine Lüftung zur Außenwelt. Einige Jahre später konnte mit einer Untersuchung des auf Luftverschmutzung spezialisierten Fresenius-Forschungsinstituts nachgewiesen werden, dass die Luft innerhalb der »Eingeweckten Welt« weitaus besser war als die Hagener Stadtluft. Dennoch blieb dieses Werk ein Stein des Anstoßes, 10 Die Arbeit fungierte als Gegenstück zur 1990 angeschafften Arbeit »natural relations« von herman de vries, einer großen Sammlung »geistbewegender« Pflanzen, über die der Künstler ein ideales Verhältnis zur Natur zur Anschauung bringen wollte; 2002 kam als weiteres Gegenstück »The Ark« von Marc Dion hinzu. 11 HA Schult, BP – Die Kraft und die Sicherheit, 1972, mixed Media, 80 x 80 x 20 cm. 12 Vgl.: Westfalenpost: Wie ein April-Scherz den Stuhl des Hagner Museumsleiters wackeln ließ, 08. Juni 2012; siehe: https://www.wp.de/staedte/hagen/wie-ein-april-scherz-den-stuhl-des-hagener-museumsleiters-wackeln-liess-id6745513.html.
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Abbildung 53: Michael Badura, »Die eingeweckte Welt – die totale Welt – eine Projektion« (1964), 1992 neu installiert im Karl Ernst Osthaus-Museum, Zustand 2004
Abbildung 54: Michael Badura, »Die eingeweckte Welt – die totale Welt – eine Projektion« (1964), 1992 neu installiert im Karl Ernst Osthaus-Museum, Zustand 2004,
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und es wurde mir immer wieder berichtet, dass Bürger der Stadt erklärt hatten, das Museum nicht aufsuchen zu wollen, solange es darin gezeigt werde. Für mich machte diese Episode deutlich, dass der Rahmen »Museum« keineswegs so stark ist, dass er alles, was sich darin befindet, als »Kunst« akzeptieren lässt, sondern selbst in Frage gestellt werden kann und wird, wenn Erwartungen und Ansprüche an ihn nicht erfüllt werden; wenn also das, was von bestimmten gesellschaftlichen Gruppen der Kategorie des Dauerhaften zugeordnet wird, sich im Museum nicht bestätigt findet, oder dort etwas zur Anschauung gebracht wird, was »man« sich zum Beispiel nicht ins Wohnzimmer stellen würde. Und deutlich wurde mir in diesem Zusammenhang auch, dass das KEO-Museum in die gesellschaftliche Diskussion geraten war, allerdings unter ganz anderen Vorzeichen, als ich es mir erhofft hatte. Den nächsten Besuch eines gewöhnlich nicht mit Kunst befassten Amtes erhielt das Museum Ende 1993 anlässlich der Eröffnung der von Kim Levin erarbeiteten, ziemlich großen, international besetzten Kunstausstellung »Thema Aids«. Diesmal vermutete der Leiter des Gesundheitsamts, dass ein Exponat, die »Aids-Buchstaben« von Dewey Seid, 13 ansteckend sein könnten und verlangte ihre umgehende Entfernung. Denn es schien ihm so, als seien sie aus (echtem) Krankenhausmüll hergestellt; und so bedurfte es einer eingehenden gemeinsamen »Bildbetrachtung«, um ihn davon zu überzeugen, dass es sich bei diesem Werk nur um eine hyperrealistische Darstellung solcher Abfälle handelte. Wenn wir so, glücklicherweise, gerade noch einem weiteren »Skandal« entgehen konnten, blieb jedoch bemerkenswert, dass diese Darstellung von Debris selbst diesen Fachmann, der eigentlich gleich erkannte, dass es sich bei den roten Substanzen in der Arbeit nicht um getrocknetes Blut, sondern nur um rote Farbe handeln konnte, derart schockierte: Etwas aus dem Müll in ein Kunstobjekt zu transformieren ist das eine, tatsächlich eine seit Kurt Schwitters in vielfältiger Weise ausgeübte künstlerische Praxis, an die wir uns gewöhnt haben; Müll wie hier sehr gelungen realistisch darzustellen, bleibt dagegen offensichtlich selbst im Kunstkontext eine Provokation.14 In ganz anderer Weise konnten wir uns ab 1989 bei einem echten Müllproblem engagieren, einem kurz zuvor aufgedeckten Fall von »Brunnenvergiftung« auf einem etwa 120 Hektargroßen Gelände entlang der Ruhr im Norden der Stadt Hagen. Hier waren zwei Jahrzehnte lang Klärschlämme aus dem städtischen Klärwerk als Dünger auf den landwirtschaftlichen Flächen verteilt worden, und nun drohten die darin enthaltenen Schwermetalle das Grundwasser zu verseuchen.
13 Vgl.: Thema Aids. Eine Zeitung zur Ausstellung »Thema Aids« im Karl Ernst Osthaus-Museum Hagen, Hagen 1993, S. 40. 14 Dies gilt auch für andere Werke von Dewey (Dui) Seid: Artist Estate / Aus dem Besitz des Künstlers, (Ausstellungskatalog) Hagen 1997.
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Abbildung 55: Dewey (Dui) Seid: »Artist‘s Estate«, 1996, Installation im Karl Ernst Osthaus-Museum, Januar/März 1997
Diese Situation war der Ausgangspunkt für unseren Versuch, den mit der Sanierung des Gebiets befassten Planern künstlerischen Sachverstand zur Lösung der skizzierten Problematik anzubieten. Ausgehend von einer Idee von herman de vries machte ich 1989 in meiner Eigenschaft als Amtsleiter dem Planungs- und Umweltamt der Stadt Hagen den Vorschlag, eine Entgiftung der Böden mit Hilfe von Pf lanzen zu versuchen. Die Reaktion war positiv. Das Museum erhielt nahe der Wasserburg Werdringen ein etwa drei Hektar großes Stück Land zugewiesen, auf dem entsprechende Versuche vorgenommen werden konnten. Unser Plan war, auf diesem »Hagener Versuchsfeld« genannten Stück Land zunächst eine Sammlung der verschiedenen und unterschiedlich stark verseuchten Böden anzulegen, um so die mögliche Wirkungsweise entsprechender Pf lanzen testen zu können. Die anfallende, hoch verseuchte Biomasse sollte in einer zweiten Stufe kompostiert und in weiteren mit Hilfe anderer Pf lanzen, vor allem Pilzen, auf ein hoch konzentriertes Minimum reduziert werden, das dann gefahrlos verbrannt werden könne. Doch bevor wir selbst entsprechende Versuche in Angriff nehmen konnten, erreichte die Stadt Hagen eine Anfrage des Bundesumweltamtes, das eine Pf lanze, die Schwermetall aufnehmen kann, isoliert hatte und nach entsprechenden Versuchsmöglichkeiten suchte. Für einige Monate schien es, dass sich unser Vorschlag tatsächlich zu einem Großversuch mit Unterstützung der Bundesbehörden entwickeln könne: Unser Konzept wurde vom Umweltamt aufgegriffen und von uns um die Idee erweitert, im Museum selbst ein Versuchslabor zu errichten. Doch stellte
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Abbildung 56: Dewey (Dui) Seid: »Lazarus«, 1996, Installation im Karl Ernst Osthaus-Museum, Januar/März 1997
sich in Vorversuchen alsbald heraus, dass die entsprechenden Pf lanzen für die vorhandenen Böden bzw. deren Vergiftungsgrad nicht geeignet waren: Es hätte vermutlich Jahrzehnte gedauert, sie mit ihrer Hilfe zu sanieren. So kam das »Hagener Versuchsfeld« zwar schon 1991 zum Erliegen, war jedoch noch in Erinnerung, als 1998 das Projekt »Regionale Mittleres Ruhrtal« in Angriff genommen wurde, und das Museum von Seiten der Stadt den Auftrag erhielt, ein »Gutachten« zur Entwicklung des etwa vier Quadratkilometer großen Gebiets, innerhalb dessen sich die (immer noch) verseuchten Flächen befanden, zu erarbeiten. So war es mir möglich, unter dem Namen »Landschaftsbauhütte Ruhrtal« eine Gruppe von Personen mit recht unterschiedlichen Qualifikationen
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Abbildung 57: Der Kaisberg in Hagen, Blick auf Untersuchungsgebiet der »Landschaf tsbauhütte Ruhrtal«
– verschieden arbeitende Künstler, ein journalistisches Team, einen Bauer, einen Kunsthistoriker und eine Landschaftsarchitektin – zu engagieren, die die Gegend jeweils auf ihre eigene Weise analysieren und begutachten sollten.15 Nach etwa einem Jahr konnte ich unser Gutachten den verschiedenen formal zuständigen Fachämtern der Stadt vorlegen; es löste großes Erstaunen aus, weil die Arbeitsgruppe aufgrund ihrer unkonventionellen Methoden und, nicht zuletzt, weil ihre Mitglieder mit den im Gebiet lebenden und arbeitenden Menschen gesprochen hatten, den Zuständigen völlig Unbekanntes oder Neues herausgefunden hatten. Doch zeigten sich diese offen: Die Ergebnisse wurden begrüßt und in einen Beschlussvorschlag für den Rat der Stadt Hagen aufgenommen, der die Sanierung und Neugestaltung des Gebiets zum Ziel hatte.16 Diese Vorlage wurde zwar beschlossen, allerdings bald darauf mangels finanzieller Mittel für Jahre ad acta gelegt. Für das Museum blieb dieses Unternehmen dennoch ein Gewinn. Denn das Museum wurde nun, zumindest innerhalb der Stadtverwaltung nicht länger als Luxus, also als im Grunde überf lüssiges Amt wahrgenommen, sondern als ernst zu nehmendes Element der städtischen Verwaltungsstruktur eingeschätzt.
15 Mitglieder der Gruppe waren: Petra Ersahin, Erhard Freudenberger, Chup Friemert, Künstlergruppe finger, Galerie für Landschaftskunst, Ira und Leandro Mazzoni und Falk Wolf. 16 Einzelheiten zu diesem Projekt sind dokumentiert in: Fehr, M. und Wolf, F. (Hg.): Landschaftsbauhütte Ruhrtal. Ein künstlerisches Gutachten zum Kaisberg in Hagen, Essen 2002.
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III. Museen gelten üblicherweise als Institutionen der Kategorie des Dauerhaften, denen selbst dauerhafter Charakter zugesprochen wird, da sie Dinge bewahren, die als dauerhaft gelten. Museen lassen sich daher insoweit als autopoietische »Organismen« verstehen. Allerdings haben wir es bei Museen, und das mögen allein schon die hier vorgestellten Beispiele sinnfällig machen, nicht mit statischen Konstrukten, sondern mit dynamischen Systemen zu tun, die sich im ganzen Spektrum der Kategorie des Dauerhaften – von ihrer Spitze, dem Reich des Klassischen, bis zu nahe ihrem Gegenpol, der Müllkategorie – befinden und darüber hinaus wechselnde Positionen in diesem Spektrum einnehmen können. Diese Dynamik resultiert aus vielfältigen Faktoren. Ihr jeweiliges Zusammenspiel bestimmt den Charakter einzelner Museen. Ich bezeichne Museen deshalb mit einem Oxymoron als »individuelle Institutionen«, denn mehr als einen einfachen Bauplan (Museumsidee, Museumsgehäuse, Sammlungen und Schausammlung)17 haben sie nicht gemeinsam. Es ist aber gerade die Einfachheit dieses Bauplans, die die Entstehung höchst unterschiedlicher Museen und Museumstypen ermöglicht hat; so dass sich unter dem Begriff »Museum« große und kleine, alte und junge, universell angelegte und hoch spezialisierte Einrichtungen finden, die ganz abgesehen von ihren Inhalten durch unterschiedliche Zielsetzungen, Kontexte und Bezüge aller Art bestimmt werden. Dennoch, wie immer auch ein Museum angelegt sein mag, in jedem Fall muss es die (jeweilige) allgemeine gesellschaftliche Erwartung an die Konstanz der Kategorie des Dauerhaften erfüllen – ein Museum in der Kategorie des Vergänglichen ist nicht vorstellbar, und, wie das Beispiel »Eingeweckte Welt« zeigt, auch ein »Museum des Vergänglichen« wäre es kaum. Der hierfür wichtigste Grund ist, dass die Kategorie des Dauerhaften derjenige gesellschaftliche Ort ist, an dem Werte – seien sie materielle oder/und durch Arbeit geschaffene Werte – erhalten werden (können und sollen).18 Abfall19 kann recycelt, doch kein Museumsobjekt 17 Vgl. dazu Fehr, M.: Stichwort Museum, in: Kritische Berichte, 4, 2008, S. 75-78. 18 Vgl. dazu Lübbe, H.: Schrumpft die Gegenwart? Über die veränderte Gegenwart von Zukunft und Vergangenheit, Luzern 2000, S. 8, aus dessen theoretischem Ansatz die gesellschaftliche Rolle der Museen abgeleitet werden kann: »Die Leistungen des historischen Bewusstseins sind Leistungen zur Kompensation eines änderungstempobedingten Vertrautheitsschwundes. Die Nötigkeit dieser Leistungen nimmt modernitätsabhängig zu. [...] Und diese Nötigkeit ist keine andere als die, die unter den Bedingungen der Gegenwartsschrumpfung expandierende Vergangenheit mit eben dieser Gegenwart verknüpfbar zu halten.« 19 Zur Rezeptionsgeschichte der Rubbish Theorie im deutschsprachigen Raum sei hier festgehalten, dass Roger Fayet in: Reinigungen. Vom Abfall der Moderne zum Kompost der Nachmoderne, Wien 2003, und Theodor M. Bardmann in: Wenn aus Arbeit Abfall wird. Aufbau und Abbau organisatorischer Realitäten, Frankfurt 1994, offensichtlich der nicht zutreffenden ersten Über-
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werden; Müll schon, wenn er in geeigneter Weise transformiert, das heißt, neu bewertet und kontextualisiert wird. Weil Museen daher immer mit Werten umgehen, stehen sie immer auch (und nicht nur als Betriebe) im volkswirtschaftlichen Kontext und nehmen darin eine recht eigentümliche Rolle ein. Sie kann mit der anderer öffentlicher Institutionen kaum verglichen werden. Denn obwohl die Museen aufgrund ihres kulturpolitischen Auftrags in der Regel als wirtschaftlich unselbständige Einrichtungen und Unternehmungen ohne Gewinnorientierung konzipiert und geführt werden, nehmen sie jedoch – und dies gilt vor allem, aber nicht nur für Kunstmuseen – mittelbar wie unmittelbar am Marktgeschehen teil und können unter Umständen darauf ganz erheblichen Einf luss ausüben. Die ökonomische Zwitterstellung der Museen war ihnen zwar schon immer inhärent, wurde jedoch erst im Zuge der andauernden und in den letzten Jahrzehnten sprunghaft voranschreitenden Entwicklung des Museumswesens von der allgemeinen Öffentlichkeit wahrgenommen und zu einem politisch bewerteten Faktum. Allerdings erscheint das Museum nach wie vor als eine »Black box«, die sehr unterschiedliche, ja widersprüchliche Interessen auf mehr oder weniger undurchschaubare Weise vermittelt, und dies in ganz besonderem Maße da, wo es aufgrund seiner vermeintlich am Gemeinwohl orientierten (wissenschaftlichen) Aufgaben (Sammeln, Bewahren) als ökonomischer Faktor auftritt. Idealtypisch lassen sich vier Formen unterscheiden, durch die Kunstmuseen (und nur von diesen soll im Folgenden die Rede sein, auch wenn manche Überlegungen für Museen im Allgemeinen gelten mögen) im Markt in Erscheinung treten:
• als Tresore, • als Wertegeneratoren, • als Förderer und • als Dienstleister. In den meisten, vor allem in den größeren Kunstmuseen sind diese verschiedenen Funktionen in einer jeweils individuellen Mischung zu finden, die sich zuweilen in deutlichen Zielkonf likten zwischen verschiedenen Abteilungen innerhalb eines Hauses manifestieren können. Jüngere oder sehr alte Museumsformen fokussieren dagegen ihre Aktivitäten häufig auf eine oder höchstens zwei dieser Funktionen, so dass unter dem Begriffsdach »Museum« tatsächlich ganz unterschiedsetzung des Buchs als »Theorie des Abfalls« aufgesessen sind. Dagegen hat Martina Heßler in: Abfall als Denkobjekt. Eine Re-Lektüre von Michael Thompsons Mülltheorie, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, 13, 2016, S. 543-549, die Dimensionen der Theorie erfasst und, wie ich finde, zutreffend kritisch eingeordnet.
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lich strukturierte Unternehmen mit entsprechend differenzierten Zielsetzungen zu finden sind. Gerade deshalb scheint es aber sinnvoll, die Analyse des Systems »Museum« auf der Matrix der oben genannten vier idealtypischen ökonomischen Handlungsformen aufzubauen, die ich im Folgenden skizziere. (Tresor) Museen wirken als Sammler bzw. Sammlungen unmittelbar auf den Markt ein, indem sie ihm, sei es durch Kauf oder andere Formen der Übereignung, im Unterschied zu privaten Sammlungen auf praktisch unbegrenzte Dauer Werte entziehen. Diese Tresor-Funktion der Museen hat für den Markt in verschiedener Hinsicht eine wichtige regulierende Funktion: Denn im Unterschied zu allen anderen Objekten haben Kunstgegenstände – oder allgemeiner gesprochen: ästhetisierte Gegenstände – die Eigenschaft, dass sie weder im Konsum verbraucht noch in einem Produktionsprozess aufgezehrt werden, sondern ganz im Gegenteil durch ihren »Konsum« an Wert gewinnen20 und den entsprechenden Wertzuwachs in sich akkumulieren können. Kunstwerke können daher eine ideale Kapitalanlage sein und große Summen an sich binden. Allerdings ist das in Kunstwerken gebundene Kapital nicht aktiv und als Vermögen dem Markt entzogen. Wo es sich bei diesem Vermögen um ein Surplus handelt, werden Kunstwerke »gewinnbringend« Museen gestiftet oder an sie verschenkt. Denn als »absolute Tresore«, das heißt außerhalb des Marktgeschehens operierende Institutionen, können Museen garantieren, dass das in einem Kunstwerk gebundene Kapital tatsächlich dem Markt entzogen bleibt, also praktisch vernichtet wird, doch zugleich als symbolisches Vermögen Bestand erhält, indem sie seinen Träger, das Kunstwerk, auf Dauer bewahren – und darüber seinem Stifter ein von den Umständen des Vermögenerwerbs abgelöstes Andenken sichern.21 Neben dieser Form der Tresor-Funktion spielt eine jüngere eine zunehmend wichtige Rolle: Hier wirkt das Museum als systematischer Abnehmer von vor allem Werken der zeitgenössischen Kunstproduktion unmittelbar auf den Markt ein, indem es einen
20 Dieses Phänomen lässt sich gut auf der Basis der Überlegungen erklären, die Georg Franck in: Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf, München, Wien 1998, angestellt hat. 21 Vgl. Kapitel 6 in diesem Buch. Die Tresor-Funktion des Museums kann man als die bürgerlichkapitalistische Variante der ägyptischen-aristokratischen Pyramide verstehen: Weil es auch wohlhabenden Bürgern in der Regel nicht möglich ist, eine eigene Stätte zur Transzendierung ihres Lebens auf Dauer zu finanzieren, bietet sich das Museum als eine Institution an, die diese Funktion als eine öffentliche, von der Gesellschaft getragene Aufgabe definiert: In die sich Individuen durch die Hingabe einzelner Güter gewissermaßen einkaufen und sich entsprechend des Werts ihrer Investition einen mehr oder weniger bedeutenden Platz: vom Schildchen auf dem Rahmen eines Bildes über die Namensgebung von Sälen bis hin zur namentlichen Besetzung von Gebäudeteilen und ganzen Museen sichern können. Das Museum fungiert hier als Nobilitierungsmaschine, wenn nicht sogar als eine Art Imagewäsche für die natürlichen und juristischen Personen, die es beschenken. Vgl. aktuell den Fall der Sackler family: https://en.wikipedia.org/wiki/Sackler_family.
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Teil der Kunstproduktion thesaurieren kann und damit das Angebot an entsprechenden Objekten verknappt (und den Preis der weiter frei verfügbaren erhöht) wird. In der Praxis gibt es in diesem Feld allerdings vielfache Überschneidungen mit seinen Funktionen als Wertegenerator bzw. Förderer. (Wertegenerator) Als Wertegeneratoren wirken Museen mittelbar auf das Marktgeschehen ein, indem sie durch die wissenschaftliche Bearbeitung, Pf lege und Präsentation ihrer Sammlungen den Wert der Sammlungsgegenstände definieren und erhöhen oder sogar neue Werte schaffen können. Dafür mag hier unsere Beschäftigung mit der Geschichte des KEO-Museums als ein Beispiel stehen. Die Funktion als Wertegenerator ist in der Praxis häufig mit der TresorFunktion verbunden. Denn der Kanon der thesaurierten Werke wirkt als mehr oder weniger direkter Maßstab für Bewertungen noch nicht bewerteter Werke, die allein schon durch die Nachbarschaft mit anerkannten Werten an Bedeutung und Wert gewinnen können.22 Die Funktion als Wertegenerator kann jedoch auch dazu führen, dass schon thesaurierte Sammlungsstücke in ihrem Wert abgestuft werden.23 Allerdings sind die Museen aufgrund ihrer Verfassung als wissenschaftliche und öffentliche Institute in der Regel nicht in der Lage, aus solchen Neubewertungen resultierende Wertzuwächse, die sich indirekt natürlich auch auf entsprechende Objekte im Markt beziehen, selbst im ökonomischen Sinn zu realisieren, sondern müssen dies in der Regel Dritten, zum Beispiel dem Kunsthandel oder privaten Sammlern, überlassen. Dass die durch die Arbeit der Museen ermöglichte Wertschöpfung von großer ökonomischer Bedeutung sein kann, wurde von privaten Sammlern früh erkannt und ausgenutzt. Ausgehend von der ökonomischen Fesselung der Museen konnten sie in dem Maße, wie die Museen 22 Generelle Basis für die Funktion der Museen als Wertegeneratoren ist die Prolongierung des linearen Zeit- und Entwicklungsbegriffs der Kunstgeschichte, dem nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die Zukunft unterworfen wird, und nach dem das, was gerade erst entsteht, schon als Geschichte und damit auch als unter historischen Gesichtspunkten beurteilbar erscheinen kann. So wurde und wird zur gewinnträchtigen Platzierung von zeitgenössischer, insbesondere aber so genannter »Junger Kunst« viel kunsthistorischer Sachverstand und Scharfsinn eingekauft, um die Entwicklungschronologie auszudifferenzieren und mit Rücksicht auf die jeweils neuen Produkte auszubauen. Anders gesagt: Entdeckung, Interpretation und Historisierung fallen hier tendenziell in einem zusammen. Das Ergebnis dieser Arbeit an der Fiktion eines immerwährenden Fortschritts ist allerdings kaum mehr zu übersehen: Vor allem viele Museen für Moderne Kunst sind eben nicht mehr Orte eines kollektiven Gedächtnisses, sondern eher Schaubuden mehr oder weniger gelungener Investments. 23 Historische Beispiele hierfür sind der Einzug der um die Wende ins 19. Jahrhundert entstandenen, mit Schimpfworten bezeichneten »Müllstile« (Impressionismus, Fauvismus, Kubismus und Expressionismus, um nur einige zu nennen) in die Museen und die Verbannung der »SalonKunst« in deren Magazine (und seit etwa vier Jahrzehnten wieder hervorgezogen) oder auch Werke des Jugendstils, die, nach dem Ersten Weltkrieg rigoros abgelehnt, in den 1970er Jahren »wiederentdeckt« und hoch bewertet wurden.
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aufgrund eingefrorener oder gestrichener Ankaufsbudgets nicht in der Lage waren, ihre Bestände aus eigener Kraft zu ergänzen, den Häusern einzelne Werke oder ganze Sammlungen zeitgenössischer Kunst als Leihgaben für einen gewissen Zeitraum anbieten, um sie ihnen sodann – nach ausreichend erscheinender Wertsteigerung durch in der Regel kostenlose wissenschaftliche Bearbeitung und konservatorische Pf lege – wieder zu entziehen und auf dem Markt anzubieten.24 (Förderer) Als Förderer treten Museen vor allem im Hinblick auf vom Handel noch nicht bewertete Kunst oder künstlerische Unternehmungen auf, die sich aufgrund ihrer Faktur oder anderen Gründen einer kommerziellen Verwertung entziehen. Aktivitäten der Museen in diesem Feld können sowohl eine unmittelbare wie eine mittelbare Wirkung auf den Markt haben, indem sie Aufträge erteilen, ihre Realisation ermöglichen oder zur Publikation entsprechender Werke beitragen. Hier überschneidet sich mitunter diese mit ihrer Funktion als Wertegenerator. In jedem Fall aber können Museen hier in der Regel nicht oder allenfalls in geringem Maße (zum Beispiel durch günstige Ankäufe) im materiellen Sinn von entsprechenden Investitionen profitieren, und müssen in der Regel hinnehmen, dass erfolgreiche Promotionen privatwirtschaftlich verwertet werden und bestenfalls ihnen selbst ein gutes Renommee verschaffen können, das sich vor allem im Hinblick auf ihre Rolle als Tresore oder Wertegeneratoren positiv auswirken kann. (Dienstleister) Schließlich treten Museen als Veranstalter von Ausstellungen und sonstigen Events, als Betreiber von Museumsläden, als Verlage oder Dienstleister im Servicebereich sowie auch als Anbieter mit Gewinnorientierung im Markt auf und müssen sich hier dem entsprechenden Wettbewerb unmittelbar stellen. Als eine Variante dieser Funktion, die nicht gewinnorientiert, sondern am Gemeinwohl orientiert war, möchte ich unser Engagement im Zusammenhang mit der »Landschaftsbauhütte Ruhrtal« einordnen. Zusammengefasst: Museen sind – auch und gerade als wissenschaftliche Einrichtungen – in vielfältiger Form: aktiv wie passiv, mittelbar wie unmittelbar am Markt präsent und treten darin als Käufer und Anbieter, als eine Art Bank und als Tresor, schließlich auch als Produzenten und als Wirtschaftsförderer auf. Der Umstand, dass die Museen aufgrund höchst unterschiedlicher Ausgangsbedingungen verschiedene Strategien verfolgen und auf unterschiedliche Weise in unterscheidbaren Feldern Erfolge erzielen können, macht wohl das Hauptproblem für eine angemessene Einschätzung der Arbeit einzelner Häuser aus und darüber hinaus deutlich, dass die beliebteste und häufig einzige Kennzahl, mit der 24 An Museen leihweise gegebene Kunstwerke müssen noch nicht einmal gezeigt werden, um eine steuerlich relevante Wertsteigerung zu erfahren, es genügt die Aufnahme in die Bestände. Zu den Steuervorteilen für Sammler vgl. aktuell Voss, J. und Ackermann, Th.: Karten auf den Tisch, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 08. Juni 2020.
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gewöhnlich gearbeitet wird, die Besuchszahlen, als Maßstab für die Effizienz der Museen nicht viel sagt. Andererseits stellen die Ausgaben der Museums- und Ausstellungsbesucher nicht nur eine wichtige finanzielle Ressource für die Museen dar, sondern bleibt der Zuspruch durch das Publikum mitunter das einzige Argument, mit dem sie ihre Arbeit gegenüber politischen Akteuren legitimieren können. Dabei signalisiert der Begriff »Besuch« allerdings eindeutig, dass die Museen, ihrem Selbstverständnis nach, durchaus ohne Besucher bestehen könnten: Das im Kern hierarchische Verhältnis zwischen denen, die ein Museum betreiben, und denen, die es besuchen, wird auch durch die allfälligen »partizipativen« Programme nicht nur nicht aufgehoben, sondern in Wirklichkeit nur bestätigt.
IV. Das Arbeitsfeld der Kustoden an einem Museum für Zeitgenössische Kunst ist durch die besondere Position dieses Museumstyps an der Grenze zwischen der Müllkategorie und der Kategorie des Dauerhaften bestimmt. Als Museum ist es qua Definition eine Institution der Kategorie des Dauerhaften und mag aufgrund seiner älteren Bestände womöglich weit in die Region der fraglos gesicherten Werte hineinreichen. Als Institut, das sich mit der zeitgenössischen Kunstproduktion beschäftigt, geht es jedoch mit Objekten um, deren Wert nicht gesichert ist. Denn zeitgenössische Kunst entsteht in der Müllkategorie und ist solange ohne Wert, bis sie als »Kunst« bewertet und aus ihr herausgezogen wurde.25 Über entsprechende Bewertungen lässt sich allerdings nicht abstimmen. Vielmehr müssen einzelne Individuen das Risiko eingehen, das mit den Bewertungen verbunden ist. Entsprechend widersprüchlich und schwierig ist die Aufgabe der Kustoden: Sie haben nicht nur die Aufgabe, die Sammlungen des Museums zu erhalten und so vorzuzeigen, dass ihre besonderen Aspekte (die »Werte«) einem allgemeinen Publikum einsichtig werden können; sondern sie sollen andererseits die Sammlungen um zeitgenössische Kunstwerke ergänzen, also entscheiden, welche Objekte aus der Müllkategorie in die des Dauerhaften transferiert werden können. Die Kustoden an einem Museum für Moderne und Zeitgenössische Kunst sind daher unmittelbar mit der Bewertungsproblematik konfrontiert und müssen darauf
25 Anders als Michael Thompson bin ich der Auffassung, dass künstlerische Arbeit, die in welcher Weise auch immer auf die Reflexion von Realitäten oder der Wirklichkeit abzielt, grundsätzlich innerhalb der Müllkategorie stattfindet. Denn sie basiert immer auf einer Form der Neubewertung von Gegebenen, sei dies nun ein Gegenstand, materiell vorhanden oder virtuellen Charakters, oder eine bestimmte Form des Wahrnehmens; doch hat diese künstlerische Neubewertung solange keine Konsequenzen und bleibt selbst ohne Wert, bis sie (von Dritten) als eine Neubewertung erkannt und gewürdigt wird.
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achten, dass ihre Entscheidungen für bestimmte zeitgenössische Kunstwerke ihr Haus als eine Institution des Dauerhaften nicht in Frage stellen. Idealtypisch lassen sich drei Strategien zur Lösung dieses Problems unterscheiden, die allerdings nur selten in Reinform, sondern meistens in unterschiedlichen Kombinationen und innerhalb dieser unterschiedlich gewichtet auftreten: 1. Die erste Strategie, ich nenne sie die des Patrons, besteht darin abzuwarten, bis sich der Wert einzelner Kunstwerke stabilisiert hat und sie dann in die Sammlungen zu übernehmen. Dies setzt die Fähigkeit voraus, über einen langen Zeitraum unabhängig arbeiten und unter Umständen viel Geld einsetzen zu können. Das Risiko dieser Strategie besteht darin, bestimmte Werke nicht mehr erreichen zu können, weil sie schon anderweitig erworben wurden. 2. Eine zweite Strategie, ich nenne sie die des Connaisseurs, ist die Spezialisierung auf ein spezifisches Sammlungsgebiet. Ihre erfolgreiche Realisierung setzt einerseits entsprechende Kennerschaft und andererseits genügend Mittel voraus, um zumindest eine kritische Masse an entsprechenden Objekten auf bauen zu können, durch die die entsprechenden Bewertungen erkennbar und stabilisiert werden. Ihr Risiko ist, in einem Feld zu operieren, das keine Entwicklungschancen hat oder sich mit Bezug auf die allgemeine Entwicklung als obsolet erweist. 3. Die dritte Strategie, ich nenne sie die Sammlungspolitikers, ist, auf eigene Bewertungen zu verzichten und auf die von Dritten, also beispielsweise des Kunsthandels zu setzen, und sich seiner Filterfunktion zu bedienen. Hier wird bestellt und manikürt.26 Das Risiko besteht bei dieser Strategie vor allem darin, ein Opfer externer Bewertungsmechanismen zu werden und das zu erwerben, was auch alle anderen erwerben, also in Uniformität. Alle drei Strategien arbeiten mit zwei Sicherungen: Einerseits mit dem Magazin als einer mehr oder weniger verdeckten Müllkategorie innerhalb der Institutionen des Dauerhaften, in das Objekte, die sich nicht als dauerhaft erwiesen haben, abgeschoben werden können.27 Und andererseits mit der wissenschaftlich begründeten Kunstgeschichte als einer externen Matrix, die die Maßstäbe für die Bewertung der Kunstwerke zur Verfügung stellt. Der Rückbezug auf diese Matrix bietet zwar einige Sicherheit, doch in der Regel nur um einen hohen Preis: Denn ihre Kriterien sind allein auf die Werke bezogen und blenden die konkreten Be26 Vgl. Balzer, D.: Curationism. How curating took over the art world and everything else, Toronto 2014. 27 Dort aber erhalten bleiben, was, und darin unterscheidet sich das Museum recht grundsätzlich von anderen gesellschaftlichen Bereichen, die Möglichkeit einschließt, dass diese Werke zu einem anderen Zeitpunkt wieder neu bewertet und in Gebrauch genommen werden können.
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dingungen aus, denen ein jedes Museum als Gehäuse, also als eine spezifischen Bedingungen unterworfene Institution, zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort unterliegt. In der Konsequenz werden die Sammlungen so gut wie nie im Ganzen und die einzelnen Werke nur als mehr oder weniger bedeutende Belege für die von der Wissenschaft entwickelten Kanones wahrgenommen, also mediatisiert. 4. Eine vierte Strategie setzt dagegen auf das Museum als »Ort der permanenten Konferenz« (Joseph Beuys).28 Hier treten die Kustoden als Advokaten der Werke und der ihnen zugrunde liegenden Ideen auf, in einer avantgardistischen Haltung, die gegenwärtig allerdings, so David Balzer, als hoffnungslos überholt und altmodisch gelten muss. Und dies gilt umso mehr, wenn die Kustoden den Begriff vom Museum, so wie Künstler den Kunstbegriff, zu erweitern versuchen, um bestimmte Werke in das Museum aufnehmen zu können. Anders gesagt: Werden bei diesem Ansatz die Dilemmata mehr oder weniger offen angesprochen, in die gerät, wer etwas aus der Müllkategorie in die des Dauerhaften zu überführen versucht, so ist kaum vorauszusehen, was passiert: Ob sich das Werk im Rahmen des Museums etablieren lässt oder das Museum selbst in den Augen seiner Träger und des Publikums in die Müllkategorie rutscht. Denn auch dann, wenn es wie damals in Hagen klar definierte und von der Politik beschlossene Zielsetzungen für die Arbeit des Museums gibt, ist damit noch nicht ausgemacht, ob und wie sie realisiert werden können: Die Bereitschaft, Konventionen aufzugeben und die Welt im Sinne einer ästhetische Ref lexion29 wahrzunehmen, lässt sich generell nicht erwarten und stellt sich nur unter bestimmten Umständen ein, meiner Erfahrung nach eher in Ausstellungen als im Kernbestand eines Museums. Sie zu etablieren bleibt eine Bildungsaufgabe.
28 Beuys, J.: Das Museum – ein Ort der permanenten Konferenz, in: Kurnitzky, H. (Hg.): Notizbuch, 3 – Kunst Gesellschaft Museum, Berlin 1980, S. 47 ff. 29 Der Begriff »ästhetisch« wird hier, Alexander von Baumgarten folgend, als sinnliche Erkenntnis oder, im Sinne von Kants Kritik der Urteilskraft, als Fähigkeit zu unterscheiden, also nicht in einem idealistischen Sinne verstanden.
Literaturverzeichnis
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Bildnachweis Die Graphiken Nr. 00 – 47 stammen aus der ersten Ausgabe 1979 der Rubbish Theory und wurden leicht überarbeitet. Die Aufnahmen Nr. 48, 50 und 51 wurden von Stephan Schraps, Berlin, Nr. 55 und 56 von Dewey Seid, New York, alle anderen von Michael Fehr gemacht.
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