163 77 2MB
German Pages 430 Year 2018
Schriften zur Rechtsgeschichte Band 182
Das Rechtsdenken Karl Bindings und die „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“
Von
Fedja Alexander Hilliger
Duncker & Humblot · Berlin
FEDJA ALEXANDER HILLIGER
Das Rechtsdenken Karl Bindings und die „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“
Schriften zur Rechtsgeschichte Band 182
Das Rechtsdenken Karl Bindings und die „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“
Von
Fedja Alexander Hilliger
Duncker & Humblot · Berlin
Die Juristische Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München hat diese Arbeit im Jahre 2017 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten
© 2018 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany
ISSN 0720-7379 ISBN 978-3-428-15241-4 (Print) ISBN 978-3-428-55241-2 (E-Book) ISBN 978-3-428-85241-3 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Für meinen besten Freund Robert Anthony Cooke (1984–2010), mit dem ich über so vieles in dieser Arbeit gerne gesprochen hätte.
Vorwort Das vorliegende Buch ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Wintersemester 2016/2017 von der Juristischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München angenommen wurde. Jede literarische Arbeit ist auf gewisse Weise ein Gemeinschaftswerk. Die vorliegende ist keine Ausnahme: Erst die Unterstützung durch zahlreiche Menschen hat sie möglich gemacht. Leider würde es den Rahmen dieses Vorworts sprengen, alle Menschen, die mich im Laufe des Entstehungsprozesses dieser Arbeit unterstützten, namentlich aufzuführen. Nichtsdestotrotz ist ihnen mein Dank gewiss. Und umso freudiger komme ich der schönen Autorenpflicht nach, zumindest diejenigen, die einen besonders großen Anteil daran hatten, auch durch namentliche Danksagungen zu ehren. Unter diesen ist natürlich zuallererst meine verehrte Doktormutter Frau Prof. Dr. Petra Wittig zu nennen, der ich für ihre außergewöhnliche Unterstützung, ihren Rat und ihre Geduld nicht genug danken kann. Ohne sie hätte die vorliegende Arbeit schlicht nicht entstehen können. Zudem möchte ich meinem Zweitgutachter Herrn Prof. Dr. Hans-Georg Hermann für seine gewissenhafte Arbeit, sein Interesse und seine Ratschläge, die der Arbeit sehr zugute kamen, herzlich danken. Auch Herrn Prof. Dr. Armin Engländer bin ich zu Dank verpflichtet. Sein einst im Rahmen des Berufungsverfahrens gehaltener Vortrag zu Norm und Sanktion hat die Arbeit wesentlich beeinflusst. Ferner möchte ich mich bei Herrn Prof. Dr. Dr. Dr. h.c. Alfons Bürge sowie – leider postum – Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Dieter Nörr bedanken, die mich während meiner Zeit als Mitarbeiter am Lehrstuhl für Römisches Recht und Deutsches Bürgerliches Recht trotz fachfremden Dissertationsthemas durch wertvolle Anregungen unterstützten. Auch einigen Freunden bin ich zu Dank verpflichtet. In besonderer Weise gilt dies für Herrn Dr. Georg Christian Langheld, an dessen Kaffeetisch wahrscheinlich alle Punkte der vorliegenden Arbeit einmal Thema waren. Auch Herrn Dr. Benedikt Strobel, Frau Dr. Tanja Johannsen, Frau Emanuela Jipp, Frau Dorothea Herrmann, Frau Tamara Schmidt und den Herren Marc Elxnat, Stefan Sauer und André Rösler sei herzlich gedankt. Gesondert bedanken möchte ich mich bei der Friedrich-Ebert-Stiftung, deren großzügige finanzielle Unterstützung mir die Zeit für notwendige Quellenarbeit verschaffte.
8
Vorwort
Mein letzter Dank gilt meinen Eltern Ulrike und Horst Hilliger sowie meiner Schwester Jule Thereza Hilliger. Ohne ihren Rückhalt hätte ich nichts erreicht. Berlin, im Januar 2018
Fedja Alexander Hilliger
Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Einführung in die Thematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Der Untersuchungsgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
17 17 20
1. Teil Bindings methodische Grundlagen A. Bindings Rechtsverständnis zwischen „Begriffsjurisprudenz“ und juristischem Zweckdenken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Der historische Rahmen einer Einordnung Bindings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die „Begriffsjurisprudenz“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Klassische Darstellungsweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Neubewertung der „Begriffsjurisprudenz“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Grundlagen der „höheren Jurisprudenz“ innerhalb der Historischen Rechtsschule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die unvollständige Induktion als Merkmal der „begriffsjuristischen“ Arbeitsweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Voluntarismus als Grundlage neuer Rechtsbegriffe in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Grundzüge des Bindingschen Voluntarismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Programmatische Abschottung des Rechtsbegriffs gegenüber den Einflüssen anderer Fachwissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ideale als Maßstab oder Geltungsgrund des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Vernunft und Teleologie des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Vorläufige Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Eigengesetzlichkeit des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die ideelle Eigenart des Rechts als Grundlage des Bindingschen Rechtsbilds . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die „esoterische Psychologie“ des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zur Herkunft des Begriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Bindings Beschreibung der „esoterischen Psychologie des Rechts“ . . . 2. Rein juristische Begriffsbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ausschluss formaler Einschränkungen des Rechtsbegriffs . . . . . . . . . . . . a) Imperativentheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Sanktionstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
26
28 29 29 30 33 33 38 42 46 47 52 57 61 63 65 66 66 68 71 76 77 79
10
Inhaltsverzeichnis 4. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Grenzen juristischer Eigengesetzlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das „Lückenlosigkeitsdogma“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtsexternes in Bindings Methodenverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
82 83 83 85
C. Eigenständigkeit des Rechts: die objektive Auslegungstheorie . . . . . . . . . . . . . I. Entwicklung der objektiven Auslegungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Objektive Auslegung im wissenschaftlichen Recht des 19. Jahrhunderts 2. Genese der Idee eines eigenständigen „Rechtswillens“ . . . . . . . . . . . . . . . a) Zurückweisung der subjektiven Auslegung bei Schaffrath . . . . . . . . . . b) Abstraktion eines eigenen „Rechtswillens“ bei Thöl . . . . . . . . . . . . . . . c) Schlesinger und die theoretische Begründung des Rechtswillens . . . . 3. Begründung eines eigenständigen „Rechtswillens“ bei Binding, Wach und Kohler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Mangelnde Wiedergabe des Gesetzgeberwillens im Gesetz . . . . . . . . . b) Unvereinbarkeit subjektiver Auslegung mit der logischen Systematik des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Gleichheit vor dem Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Fortentwicklung des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Natürliche Durchsetzungskraft des „Rechtswillens“ . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zusammenfassung und Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Objektive Auslegung bei Binding im Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zweistufigkeit der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die einzelnen Auslegungsarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Grammatische Auslegung (1. Auslegungsakt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) „Logische“ Auslegung (2. Auslegungsakt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Systematische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Teleologische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Historische Rechtsanalyse bei Binding . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Procedere und Gefahren der objektiven Auslegung Bindings: ein Beispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Befriedigung dogmatischer Bedürfnisse jenseits methodischer Grenzen als spezifische Gefahr des Bindingschen Rechtsdenkens . . . b) Geklärtes und Ungeklärtes in der Auslegung von § 59 RStGB . . . . . . c) Bindings Vorsatzdogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Bindings Auslegung von § 59 RStGB im Sinne seiner Vorsatzdogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Zusammenfassung und Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Philosophische Voraussetzungen in Bindings Auslegungsmethodik . . . . . . .
88 89 90 91 91 93 94 97 98 100 102 103 104 105 106 108 110 110 113 114 115 120 121 122 123 125 127 134 134
D. Bindings Selbstbild als Verteidiger der überkommenen Jurisprudenz . . . . . 138 I. Anschluss an eine Jurisprudenz in der Tradition Wächters . . . . . . . . . . . . . . . 138
Inhaltsverzeichnis
11
II. „Höhere“ Jurisprudenz als Grundlage einer besonderen Würde des Juristenstandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 E. Zusammenfassung und weitergehende historische Einordnung des Bindingschen Rechtsbilds . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Der Schulenstreit als strafrechtliche Manifestation eines Konflikts der Rechtsverständnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Bindings Sichtweise als Ausdruck allgemeiner Immunisierungstendenzen gegenüber den empirischen Wissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
145 145 149 152
2. Teil Bindings Normentheorie
154
A. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 B. Das Strafgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Das Volk als Adressat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Der Richter als Adressat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Der Staat als Adressat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Das Strafgesetz als einfacher Gesetzesbefehl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
159 160 162 163 165
C. Nachweis der Norm als eigenständiger Rechtssatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Mittelbarer Nachweis der Norm aus dem Strafgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Rechtsfolgenteil des Strafgesetzes als Grundlage eines Imperativs . . . . . 2. Imperativ als Zusammenhang zwischen Rechtsfolgenteil und Tatbestand des Strafgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) „Du sollst nicht, wenn du nicht willst, dass ich dich strafe“ . . . . . . . . b) „Du sollst nicht bei Strafe“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Imperativ allein unter Beachtung des Tatbestandsteiles des Strafgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zusammenfassung und Einordnung der bisherigen Ergebnisse . . . . . . . . II. Mittelbarer Nachweis der Norm „aus dem Bedürfnisse“ . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Nachweis der unbedingt-imperativistischen Form der Norm . . . . . . . . . . 2. Nachweis des weiten Umfangs der Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Norm richtet sich gegen Zuwiderhandlungen in beiden Schuldformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Norm richtet sich auch gegen den „Urheber“ . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Unmittelbarer Nachweis der Norm aus dem Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Weitere Möglichkeiten der Normherleitung und ihre Grenzen . . . . . . . . . . . V. Selbständigkeit der Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Norm als eigene Art von Rechtssätzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das gesetzte Recht als Beleg der Selbständigkeit der Norm . . . . . . . .
167 169 170 172 172 173 176 177 178 179 180 181 183 187 188 189 189 189
12
Inhaltsverzeichnis b) Unterschiedlicher Zweck von Norm und Strafgesetz . . . . . . . . . . . . . . . 2. Selbständige Entstehung und Geltungsdauer der Norm . . . . . . . . . . . . . . . 3. Selbständigkeit der Norm als bloße Voraussetzung des Strafgesetzes . . . VI. Zusammenfassung und weitergehende Einordnung: die Norm als echter und selbständiger Rechtssatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Nachweis der Norm als selbständiger Rechtssatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Schnittstellen zu Bindings allgemeinem Rechtsbild . . . . . . . . . . . . . . . . . .
190 194 195
D. Die Rechtsgutslehre Bindings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die unmittelbare Unverletzlichkeit subjektiver Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Rechtsgüter als tatsächliches Angriffsobjekt der Delikte . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Rechtsgut und subjektives Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Etatistische Kritik an subjektiven Rechten wider den Staat . . . . . . . . . b) „Recht am Leben“ als Versachlichung des Menschen . . . . . . . . . . . . . . c) Konflikt mit den Zwecken des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Abgrenzung von Rechtsinteressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Etatistisch-monistisches Rechtsgutsverständnis bei Binding? . . . . . . . . . . 4. Eignung der Rechtsgutslehre zur Bestimmung des materiellen Verbrechensinhalts und zur Strafrechtslegitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
201 202 203 204 208 209 210 211 213
E. Rechtliche Wertungskategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Rechtmäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Unverbotenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Rechtswidrigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Die Notwendigkeit „rechtsfreier Räume“ bei Binding . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
218 219 220 222 223
F. Kritik an der Normenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Argumentationen mit rechtsrealistischen Tendenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Implizite Kritik in Ansätzen zu Normentheorien mit rechtsrealistischer Tendenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Imperativentheorie Thons . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Kulturnormentheorie M. E. Mayers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtsrealismus als schlüssige Form einer Kritik der Normentheorie . . . II. Mangelnde Rechtssatzqualität der Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verständnis des logischen Vorangehens der Norm als ein zeitliches . . . . 2. Die Bindingsche Norm als „Sozialnorm“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Sanktion als Verbindlichkeitsmerkmal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Mangelnde Selbständigkeit der Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Eingrenzung des Problems der Selbständigkeit der Norm . . . . . . . . . . . . . a) Blankettkonstruktionen als Argumentation für die Normselbständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verankerung der Norm außerhalb eines vollständigen Strafgesetzes . .
226 227
198 198 200
216
227 227 232 235 238 239 241 247 252 253 254 255
Inhaltsverzeichnis 2. Die Selbständigkeit der Norm aus heutiger Perspektive . . . . . . . . . . . . . . a) Normselbständigkeit in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Prämissen der Normselbständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Formalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verletzung einer „Gehorsamspflicht“ als formalistischer Verbrechenskern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Materielle Verbrechensmerkmale und Strafrechtslegitimation . . . . . . . . . 3. Die Kritik Liszts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13 258 258 262 265 265 267 272
G. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 3. Teil „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ A. Die „Euthanasie“-Debatte und ihr historischer Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Der Szientismus des 19. Jahrhunderts und seine Folgeentwicklungen . . . . . 1. Entstehung einer naturwissenschaftlichen Weltanschauung . . . . . . . . . . . 2. Positivismus und Materialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Monismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Utilitarismus als Moralphilosophie der naturwissenschaftlichen Weltanschauung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Der biologistische Blick auf den Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Darwinismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sozialdarwinismus und Eugenik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die sogenannte „Rassenhygiene“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die „Euthanasie“-Debatte vor Binding/Hoche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Frühe neuzeitliche Schriften zur „Euthanasie“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Adolf Josts „Das Recht auf den Tod“ (1895) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. „Euthanasie“ als negative Eugenik: Haeckel und Ploetz . . . . . . . . . . . . . . 4. Schriften mit juristischem Fokus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Reaktionen auf die Forderungen nach Zulassung der „Euthanasie“ . . . . . . . 1. Religiöse Erwiderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Areligiöse Argumentationen mit dem Wert des menschlichen Lebens . . 3. Missbrauchsgefahr und Feststellbarkeit der Tatbestandsvoraussetzungen V. Abschließende Bemerkungen zum Streitstand vor Binding/Hoche . . . . . . . .
281 282 283 283 285 289 291 293 294 295 299 300 301 301 303 310 315 318 318 319 321 322
B. Entstehung der „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ . . . . . . 323 C. Inhalt der „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ . . . . . . . . . . . 324 I. Einleitung: Die bisherige Einordnung der „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 1. De lege lata freigegebene Tötungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325
14
Inhaltsverzeichnis 2. Eugenik in der Freigabeschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Autorität Bindings und Hoches und ihre Bedeutung für die historische Einordnung der Freigabeschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Bindings „Rechtliche Ausführung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Nach geltendem Recht „unverbotene“ Tötungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Notstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Selbsttötung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Der Suizid als rechtswidrige, aber straflose Handlung . . . . . . . . . bb) Der Suizid als rechtmäßige Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Der Suizid als „unverbotene“ Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Strafbarkeit des „Mittäters“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Strafbarkeit des „Urhebers“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Qualitative Abstufung des Rechtsguts „Leben“ in Bindings Ausführungen zur „Teilnahme am Suizid“ . . . . . . . . . . . . . . . . c) „Euthanasie in richtiger Begrenzung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Möglichkeiten einer methodengerechten Ermittlung weiterer Fälle unverbotener Tötungen in der lex lata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bereits verbotene Tötungen: Bindings Stellungnahme zum § 216 RStGB 3. Zwischenergebnis: „Leben“ und „Lebenswille“ bei Binding . . . . . . . . . . . 4. „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ als rechtspolitische Forderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Grundlagen der Freigabeentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die einzelnen Fallgruppen in der Darstellung Bindings . . . . . . . . . . . . aa) Physisch unheilbar Kranke, die in ihre Tötung einwilligen . . . . . bb) Psychisch kranke und geistig behinderte Menschen . . . . . . . . . . . cc) Physisch Kranke ohne Möglichkeit der Einwilligung . . . . . . . . . . c) Verfahrenstechnisches zur konkreten Entscheidung über die „Freigabe“ der Tötung eines Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Irrtümliche Annahmen der Freigabevoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . III. Hoches „Ärztliche Bemerkungen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das „relative Verhältnis“ des Arztes zur Lebenserhaltung . . . . . . . . . . b) Zur medizinischen Möglichkeit objektiver Wertlosigkeit menschlichen Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Fehlendes Selbstbewusstsein als maßgebliche Eigenschaft des „geistigen Todes“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Die Verknüpfung von Selbstbewusstsein und subjektivem Recht . . . . 2. Vergleich mit Bindings „Rechtlicher Ausführung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
327 327 328 329 329 332 333 335 338 339 341 343 345 350 352 355 357 358 360 360 362 366 367 370 371 371 372 373 376 377 378
D. Das Verständnis Binding/Hoches in der nachfolgenden Debatte . . . . . . . . . . . 381 I. Die Frage der Zulässigkeit der „Euthanasie in richtiger Begrenzung“ . . . . . . 382 II. Tötungsfreigaben nach geltendem Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383
Inhaltsverzeichnis
15
III. „Recht auf Leben“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 E. Historische Einordnung der Freigabeschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Freigabeschrift als rechtspolitische Forderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Bisherige Einordnungsversuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Freigabeschrift als Impulsgeber ohne inhaltliche Neuheiten . . . . . . . . . .
387 387 388 392
Zusammenfassung und Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 Personen- und Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426
Einleitung I. Einführung in die Thematik Karl Ludwig Lorenz Binding (1841–1920) gilt als einer der bedeutendsten Strafrechtler des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Diesen Status sicherten ihm nicht nur seine präzise Argumentationsfähigkeit und sein beeindruckender schöpferischer Fleiß.1 Binding wird und wurde vor allem für seine Originalität geschätzt. Dieses Ansehen beruht unmittelbar auf dem von ihm entwickelten strafrechtsdogmatischen Lehrgebäude: der sogenannten Normentheorie.2 Dabei fiel die Wertschätzung seiner Zeitgenossen für Binding inhaltlich – naturgemäß in Abhängigkeit von einer Gefolgschaft zu eben dieser Theorie – sehr unterschiedlich aus. Seine Anhänger priesen ihn als Entwickler eines in sich schlüssigen Lehrgebäudes, mittels dessen man sich in der Lage sah, auf zahlreichen alten Baustellen des Strafrechts wesentliche Erkenntnisfortschritte zu erzielen.3 Seine Gegner würdigten eine Bereicherung der wissenschaftlichen Diskussion – und sahen in der Normenlehre damit letztlich einen anregenden Denkanstoß, dessen Erkenntnisgewinn sich allerdings darauf beschränkt, einen vielleicht besonders kreativen Irrweg aufgezeigt zu haben.4 Eine dritte Gruppe übernahm Grundgedanken der Bindingschen Lehre und fügte eigene Ansichten bei. Dies wurde dann – je nach Selbsteinschätzung – als Korrektur oder Weiterentwicklung der Lehre Bindings betrachtet.5 1 Eine Auflistung der Werke Bindings findet sich bei Westphalen, Binding, S. XXXIII–XXXIX. Der beeindruckende Gesamtumfang seiner Arbeiten darf für sich schon als ein Beleg dieses von allen Seiten attestierten Charakterzugs gesehen werden. 2 Der Begriff der Norm wird im Folgenden aus Gründen der Verständlichkeit nach Bindingschem Vorbild als rechtlicher Imperativ im Sinne der heute als „Verhaltensnormen“ bezeichneten Rechtssätze verwendet und hebt sich insofern vom etablierten Sprachgebrauch ab, der „Norm“ als synonym zu „Rechtssatz“ versteht. Abzugrenzen ist die Bindingsche Normentheorie von derjenigen Armin Kaufmanns, die sich selbst als Weiterentwicklung des Gedankengebäudes Bindings versteht. Siehe dazu Armin Kaufmann, Normentheorie, S. 102 ff.; insgesamt zur Normentheorie Armin Kaufmanns aus jüngerer Zeit auch Hoyer, Strafrechtsdogmatik, 1997. 3 Vgl. Beling, Verbrechen, S. 115 ff. u. 161 ff.; Nagler, in: FS Binding, Bd. 2, S. 273 (278 f.; 371 ff.); ders., GS 91 (1925), S. 1 (13 ff.). Auch der frühe Liszt, Lehrbuch, 1. Aufl. 1881, S. 5 f., 10 äußerte sich deutlich in diesem Sinne. 4 Vgl. z. B. Liszt, ZStW 6 (1886), S. 663 (664); Lucas, GS 36 (1884), S. 401 (401 f.); geradezu beleidigend gegenüber Binding Bar, KritVjSchr 15 (1873), S. 560 (577 f.). 5 So bspw. die Imperativentheorie Thons (Rechtsnorm und subjektives Recht, 1878), die Kulturnormentheorie M. E. Mayers (Rechtsnormen und Kulturnormen, 1903) und die Normentheorie Armin Kaufmanns (Normentheorie, 1954).
18
Einleitung
Demgegenüber mutet die heutige Einschätzung der Normentheorie bei genauem Hinsehen etwas seltsam an. Wenigstens weitgehend durchgesetzt hat sich die Bindingsche Normentheorie in Form des geläufigen Dualismus von Verhaltens- und Sanktionsnorm. Insbesondere im Hinblick auf das Verhältnis beider Normarten zueinander konnte sie jedoch die Paradigmen des Strafrechts nicht in einem Maße neu bestimmen, das es erlauben würde, von ihrer allgemeinen Durchsetzung in der Strafrechtswissenschaft zu sprechen. Innerhalb der Forschungsfelder, auf denen Rechtswissenschaftler bis heute mit ihr in Berührung kommen, werden einzelne ihrer dogmatischen Ausformungen zum Teil für formalistische oder typisch autoritär-kaiserzeitliche Phänomene der Rechtsgeschichte gehalten,6 oder aber ihre Grundgedanken werden mit gleicher Selbstverständlichkeit in eigenen Überlegungen vorausgesetzt, ohne dass man sich mit Fragen zu ihrer Haltbarkeit weiter auseinandersetzt. Diese Haltbarkeit bleibt über die bloße Trennung von Verhaltens- und Sanktionsnorm hinaus weitgehend ungeklärt. Auch wäre es falsch zu behaupten, die wissenschaftliche Gemeinde habe die Konsequenzen aus einer Widerlegung oder der Annahme der Normenlehre gezogen. Stattdessen ging die historisch wirkungsvollste Kritik eines angeblichen „Formalismus“ der Normentheorie in der allgemeinen rechtstheoretischen Auseinandersetzung zu Anfang des 20. Jahrhunderts auf: Im Zuge der Abwendung von der für „begriffsjuristisch“ oder zumindest formalistisch gehaltenen Jurisprudenz nahm auch die inhaltliche Auseinandersetzung mit Bindings Normentheorie ab, ohne dass eine formale Widerlegung nötig erschien. So lässt sich die heutige Behandlung seiner Normentheorie als weitgehende Übereinkunft darin beschreiben, dass es verschiedene Kritikpunkte gebe und sich die Theorie insgesamt wohl nicht habe durchsetzen können. Die Ablehnung ohne formale Widerlegung wirkt umso seltsamer, wenn man bedenkt, wie viele Resultate des Bindingschen Gedankengebäudes überlebten und gemeinhin als dogmatisch unstrittig gelten.7 6 So etwa in Bezug auf das Verbrechenselement des „Ungehorsams“ Westphalen, Binding, S. 160 f. Der „Ungehorsam“ als Bezeichnung des Verbrechenselements der Normwidrigkeit ist jedoch allenfalls in seiner Nomenklatur typisch kaiserzeitlich. Tatsächlich steht die dogmatische Erfassung des Schuldprinzips bis heute zu großen Teilen auf dem Fundament der Bindingschen Normenlehre. Siehe dazu Heghmanns, Grundzüge, S. 48 f. sowie u. S. 216 f., 267 ff. Vorwürfe, Bindings strafrechtsdogmatische Grundlagen stünden in wesentlichem Zusammenhang mit seinem autoritären Denken, finden sich ferner bei Pawlik, Unrecht, S. 95, 114. Auch Ehret, Gesetzlichkeitsprinzip, S. 157 ff. und Hassemer, Theorie und Soziologie, S. 43 ff. tendieren in diese Richtung. Zum allgemeinen Rechtsbild Bindings und insbesondere dessen Verhältnis zum strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzip äußerte sich schließlich auch Naucke, in: Zustand des Strafrechts, S. 483 (487 f.) in ähnlicher Weise. Wenn Heghmanns, Grundzüge, S. 39 f. der Formalismuskritik einiger Zeitgenossen Bindings jedoch eine Berechtigung einräumt, so ist dies auf eine Begründung der Normenlehre mit einem bloßen Wortlautargument beschränkt. Heghmanns stellt a. a. O. aber selbst klar, dass sich die Begründung der Normentheorie keineswegs in der sprachlogischen Notwendigkeit einer Norm erschöpft. 7 Siehe dazu nur Armin Kaufmann, Normentheorie, S. 280 f.
Einleitung
19
Es wird Teil dieser Arbeit sein, Inhalt, Konsequenzen und Kritik an der Normenlehre zu beschreiben und zu prüfen. Für die Zwecke dieser Einführung genügt jedoch die Feststellung, dass die Normenlehre als prägnantester Ausdruck der wissenschaftlichen Schöpferkraft Bindings maßgeblich zu seiner besonderen Stellung unter den Strafrechtsgelehrten des 19. Jahrhunderts beitrug. Dieses hohe Ansehen Bindings spiegelte sich schon zu seinen Lebzeiten in zahlreichen Auszeichnungen8 sowie dem dreimaligen Rektorat an der für die Rechtswissenschaft wohl renommiertesten deutschen Universität des 19. Jahrhunderts, Leipzig, wider. Anlässlich des 500. Jubiläums der Universität, das in seine dritte Rektoratszeit fiel, erhielt er die Ehrenbürgerwürde der Stadt.9 Die Wertschätzung seiner Arbeiten setzte sich auch nach seinem Tod im Jahre 1920 lange unvermindert fort. Heute noch wird er als Hauptverfechter der sogenannten Vorsatztheorie,10 oder aber als Antipode zu Franz von Liszt (1851–1919) und der Modernen Schule, das heißt als Kopf der Klassischen Straftheoretiker im Schulenstreit geführt.11 In einer vielzitierten Stelle seiner „Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege“ zählt Eberhard Schmidt ihn hinter Feuerbach und von Wächter zu den drei bedeutendsten Dogmatikern des Strafrechts.12 Diese Beschreibung des Ansehens Bindings wäre wohl kaum ergänzungsbedürftig, hätte er nicht gegen Ende seines Lebens noch eine Schrift zusammen mit dem Freiburger Psychiater Alfred Erich Hoche (1865–1943) verfasst: „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“.13 Die darin zum Ausdruck gebrachten Ansichten, in denen Binding unmissverständlich für die Tötung unheilbar geistig schwerbehinderter Menschen eintritt, haben den Ruf Bindings nachhaltig geschädigt. Nach einer ersten wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Schrift in den 1920er und 1930er Jahren spielte sie im Rahmen des nationalsozialistischen Mordprogramms „T4“ ihre unrühmlichste Rolle.14
8
Siehe die Auflistung bei Westphalen, Binding, S. XXXIII–XXXIX. Siehe dazu und zu weiteren Ehrungen Westphalen, Binding, S. 366 ff. 10 So z. B. Roxin, Strafrecht AT, Bd. 1, § 21, Rn. 6; Schröder, in: ders./Kleinheyer (Hrsg.), Juristen, S. 62 (64 f.); T. Walter, Kern des Strafrechts, S. 397 u. 407. 11 Vgl. Roxin, Strafrecht AT, Bd. 1, § 4, Rn. 3; Schröder, in: ders./Kleinheyer (Hrsg.), Juristen, S. 62 (64); E. Schmidt, Strafrechtspflege, S. 387. Ausführlich wird die Rolle Bindings im Schulenstreit bei Westphalen, Binding, S. 221 ff. beschrieben. 12 Vgl. E. Schmidt, Strafrechtspflege, S. 284. 13 Die nur 62 Seiten umfassende Schrift wurde erst nach dem Tod Bindings 1920 veröffentlicht und erhielt 1922 eine zweite Auflage. 14 „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ als eine Art „Vorlage“ für die Nationalsozialisten zu bezeichnen, würde allerdings weder dem Inhalt der Schrift noch der eugenischen und mörderischen Natur der nach dem leitenden Büro in der Berliner Tiergartenstraße 4 benannten Aktion „T4“ gerecht. In diese Richtung tendiert aber Naucke, in: Vormbaum (Hrsg.), Freigabe, S. XXXVII ff.; vorsichtiger demgegenüber Große-Vehne, Tötung auf Verlangen, S. 106 f. im Anschluss an Reumschüssel, Euthanasiepublikationen, S. 8. Siehe zu dieser Problematik genauer u. S. 400 f. 9
20
Einleitung
Von Seiten der Literatur blieb die Schrift danach zunächst lange Zeit als unschöne Randnotiz in der Biographie eines großen Strafrechtsgelehrten eher unberücksichtigt. Zum Teil wurde sie auch entgegen aller historischen Indikation15 als nicht mehr ganz ernst zu nehmendes Zeugnis des fortgeschrittenen Alters Bindings dargestellt.16 Erst in jüngerer Zeit rückte das Werk wieder vermehrt in den Fokus wissenschaftlicher Betrachtung. Ausgangspunkt dieses Prozesses war ein interdisziplinäres Symposium, das am 2.12.2004 in Leipzig stattfand und der wissenschaftlichen Erschließung der Schrift dienen sollte. Die Zusammenschrift der verschiedenen Beiträge wurde in der Reihe des Instituts für Ethik in der Medizin Leipzig e. V. 2005 veröffentlicht.17 Ein Jahr später wurde Binding/Hoche mit einer vergleichsweise umfangreichen18 Einführung durch Wolfgang Naucke neu aufgelegt. Naucke beabsichtigte eine juristische Einordnung der Schrift.19 Eine etwas umfangreichere, inhaltlich aber weitgehend deckungsgleiche Bearbeitung des Themas durch denselben Autor erschien danach im Sammelband „Eugenik und Euthanasie 1850–1945“ 20 unter dem Titel „Ein fortwirkender juristischer Einbruch in das Tötungsverbot: ,Binding/Hoche. Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form, 1920‘“. Den vorläufigen Höhepunkt der neuerlichen Auseinandersetzung mit der Freigabeschrift stellt die Dissertation Kathrin Hammons aus dem Jahr 2011 dar,21 die sich vor allem mit den historischen Rahmenbedingungen der Schrift auseinandersetzt. Der neuerliche Fokus auf dieses letzte Werk Bindings zeigte Wirkung: Der Leipziger Stadtrat erkannte Binding am 19.5.2010 postum die Ehrenbürgerschaft ab.22
II. Der Untersuchungsgegenstand In den genannten Bearbeitungen des Themas beschränkt sich Naucke nicht auf die „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“, sondern versucht, die 15 Bindings Ruhestand in Freiburg zeichnete sich durch eine besonders rege schriftstellerische Tätigkeit aus; vgl. nur die Darstellung bei Nagler, GS 91 (1925), S. 29 u. bes. S. 31. Nagler bezeichnet diesen Lebensabschnitt seines Lehrers dort als „alten literarischen Segen“. Ein Qualitätsverlust der späteren rechtswissenschaftlichen Arbeiten Bindings ist dem Verfasser nicht feststellbar. 16 In diese Richtung zielt wohl Frommel, Präventionsmodelle, S. 75 f., wenn sie schreibt, es sei „ungerecht, Binding an dieser Altersschrift zu messen.“ Bindings Selbsteinschätzung, er lege auf eine juristische Betrachtungsweise höchsten Wert (Binding/ Hoche, Freigabe, S. 5), sei „mittlerweile fiktiv“. 17 Riha (Hrsg.), ,Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘, 2005. 18 Mit 71 Seiten ist die Einführung länger als die Schrift selbst. 19 Vgl. Naucke, in: Vormbaum (Hrsg.), Freigabe, S. IX ff. 20 Czeguhn u. a. (Hrsg.), Eugenik und Euthanasie, 2009. 21 Hammon, Freigabe, 2011. 22 Stadtrat Leipzig, Beschluss der Ratsversammlung Nr. RBV-386/10 vom 19.5. 2010.
Einleitung
21
Schrift in die Gedankenwelt Bindings einzufügen. Sinnvollerweise stellt er deshalb eine Erläuterung der Normentheorie Bindings voran.23 Da Binding in den Bahnen seiner Normentheorie dachte, sind Begriffe und Argumentation des Strafrechtsgelehrten ohne ein wenigstens grundlegendes Verständnis dieser Theorie teilweise kaum nachvollziehbar. Schließlich wirft Naucke die berechtigte Frage auf, was eine Gesellschaft, insbesondere was die Rechtswissenschaft tun kann, um sich vor einem Denken zu schützen, wie es bei Binding/Hoche zutage tritt.24 Im Laufe seiner Untersuchung gelangt Naucke zu dem Ergebnis, dass Bindings Argumentation in der „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ direkt mit dessen Normentheorie zusammenhänge, sogar erst durch sie ermöglicht werde.25 Die Normentheorie diene Binding gewissermaßen als Instrument zur Erreichung des ansonsten – das heißt auf dem Wege klassischer Gesetzesauslegung – Unerreichbaren: der Darstellung einer Straflosigkeit der Tötung geistig Schwerstbehinderter und todkranker Menschen bereits nach geltendem Recht. Abseits der ethischen Anstößigkeit dieses Gedankens fällt sofort die Schwierigkeit ins Auge, eine solche Ausnahme mit den Mitteln der juristischen Methodenlehre glaubhaft zu machen. Es stellt sich also die Frage, wie eine derartig weitgehende Auslegung bei Binding begründet worden sein konnte. Ihr scheint schon die rechtspositivistische Grundhaltung Bindings entgegen zu stehen, zumal sich das geltende Recht im § 212 RStGB26 nicht weniger eindeutig positionierte als heute und keine entsprechenden Ausnahmeregelungen erkennen ließ. Geht man dennoch von einer solchen Reduktion des Anwendungsbereichs der Strafgesetze aus, so liegt dem offensichtlich eine Bewertung menschlichen Lebens zugrunde, die weder im Recht noch in den gesetzgeberischen Motiven einen Spiegel findet. Die Wertung, die Binding hier angeblich vornimmt, ist und war dem Recht schlechterdings nicht zu entnehmen, müsste also von außen an das Recht herangetragen worden sein. Dementsprechend versucht Naucke nachzuweisen, dass Binding in wenig rechtspositivistischer Manier eine dem Recht vorgelagerte Ordnung von „Sozialnormen“ kenne, die über die Normentheorie massiven Einfluss auf die Auslegung der Strafgesetze gewinne.27 Weiterhin sei durch die objektive Auslegungslehre Bindings, die mit der Normentheorie wesensmäßig zusammen23
Naucke, in: Vormbaum (Hrsg.), Freigabe, S. XIII ff. Naucke, in: Vormbaum (Hrsg.), Freigabe, S. LVII ff. 25 Naucke, in: Vormbaum (Hrsg.), Freigabe, S. XVIII ff. 26 § 212 Abs. 1 RStGB lautete in der bis zum 1.9.1969 gültigen, am 1.1.1872 in Kraft getretenen Fassung: „Wer vorsätzlich einen Menschen tödtet, wird, wenn er die Tödtung nicht mit Überlegung ausgeführt hat, wegen Todtschlags mit Zuchthaus nicht unter fünf Jahren bestraft.“ 27 Naucke, in: Vormbaum (Hrsg.), Freigabe, S. XVI ff.; XXV f.; ders., in: Czeguhn u. a. (Hrsg.), Eugenik und Euthanasie, S. 71 (74). 24
22
Einleitung
hänge,28 auch eine kontrasubjektive Auslegung möglich und unter Umständen auch geboten.29 Letztlich versuche Binding, über eine das Wertesystem des Rechts aufweichende juristische Methodik die Straflosigkeit der Tötung Behinderter und Todkranker zu erreichen; im technischen Sinne handelte es sich dann um nicht weniger als eine teleologische Reduktion des Tatbestandsmerkmals „Mensch“ im § 212 RStGB. Diese Darstellung der Freigabeschrift blieb bislang unwidersprochen und erfreut sich deutlichen Zuspruchs im jüngeren Schrifttum.30 Nicht zufällig gelangen wir beim Versuch, Erklärungen für die beschriebene Sichtweise des Inhalts der „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ zu finden, augenblicklich zu Fragen der Methodik und der Normentheorie Bindings. Die vorgestellte Einordnung basiert maßgeblich auf einem bestimmten Verständnis der juristischen Grundansichten Bindings und wies der vorliegenden Untersuchung den Weg zu einem bislang kaum bearbeiteten Problem: Die Meinungen über die grundlegenden Aussagen und die korrekte rechtshistorische Einordnung Bindings gehen in der Literatur auffallend weit auseinander. So ist Binding bis heute das Objekt unterschiedlichster Versuche zumeist eher beiläufiger31 Einordnungen, die seine Methodik teilweise als strafrechtlichen Ausdruck der Begriffsjurisprudenz,32 andernorts in Bezug auf die objektive Auslegungsmethode aber 28 Vgl. Naucke, in: Czeguhn u. a. (Hrsg.), Eugenik und Euthanasie, S. 71 (73, 77). Naucke versteht die Bindingsche Normentheorie vor allem als Einfallstor aktueller Sozialnormen in das Recht. Setzt man eine solche Funktionalität der Normenlehre voraus, ist eine objektive Auslegungsweise bereits gedanklich inbegriffen. 29 Naucke, in: Czeguhn u. a. (Hrsg.), Eugenik und Euthanasie, S. 71 (73). 30 Wie Naucke bspw. auch Hammon, Freigabe, S. 72 ff. und K. F. Röhl/H. C. Röhl, Rechtstheorie, S. 225. Vor den Untersuchungen Nauckes tendierte bereits Frommel, Präventionsmodelle, S. 76 in diese Richtung. Auch der Theologe Nowak, ,Euthanasie‘ und Sterilisierung, S. 48 ff. und der Historiker Schmuhl, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie, S. 115 äußerten sich bereits zuvor kurz in diesem Sinne. 31 Die letzte größere Arbeit zur Bindingschen Normentheorie lieferte Armin Kaufmann in seiner bekannten Monographie „Lebendiges und Totes in Bindings Normentheorie“, die ihm entgegen dem Titel allerdings vornehmlich zur Darlegung seiner eigenen Theorie diente. An Inhalt und Titel dieses Werks knüpfte Hoyer 1997 in seiner Habilitationsschrift zur „Strafrechtsdogmatik nach Armin Kaufmann. Lebendiges und Totes in Armin Kaufmanns Normentheorie“ an. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit Binding findet sich in letzterem Werk jedoch nicht mehr. Schließlich brachte Heghmanns, Grundzüge, S. 42 ff. Normen im Bindingschen Sinn in einen Bezug zu verwaltungsrechtlichen Verhaltensnormen, ohne dabei jedoch Binding selbst detaillierter in einen historischen Kontext zu setzen. Dies zum Gegenstand einer Kritik am honorigen Unterfangen Heghmanns zu machen, wäre freilich verfehlt; Heghmanns stellt eine aus dem Blickwinkel moderner Dogmatik vertretbare Form der Normenlehre voran, um diese anschließend für ein tieferes Verständnis der Dogmatik strafbarkeitsbegründender behördlicher Einzelakte zu nutzen. Eine rechtshistorische Einordnung, die geeignet wäre, widersprüchliche Aussagen über Binding und seine Schriften zu erklären und zu berichtigen, stand ersichtlich außerhalb seines Untersuchungsgegenstands. 32 Siehe etwa Anschütz, Aus meinem Leben, S. 118 sowie Radbruch, Handlungsbegriff, S. 38, der Binding unter dem starken Einfluss der untrennbar mit der „Begriffsjurisprudenz“ verbundenen „naturhistorischen Methode“ Jherings sieht.
Einleitung
23
auch als beginnende Abkehr33 oder gar als eine Art Gegenmodell34 zur Begriffsjurisprudenz verstehen. Indem man seine Lehre als formalistisch ablehnt,35 knüpft man an eine ältere Kritikform an, die in einem sehr speziellen historischen Kontext steht.36 Binding wird darüber hinaus sowohl als Vertreter des liberalen Strafrechts37 wie auch als autoritär-konservativ orientierter Jurist38 gesehen. Er gilt manchen als Anhänger eines strikten Gesetzespositivismus,39 anderen als Verfechter eines wahlweise von utilitaristischen40 oder rationalistischen41 Sichtweisen durchtränkten Rechtsdenkens. Sogar als latenter Vertreter eines geschichtlichen Naturrechts wurde Binding verstanden.42 Diese Vielseitigkeit in der Binding-Re33
So Larenz, Methodenlehre, S. 33. Arthur Kaufmann, in: ders. u. a. (Hrsg.), Einführung, S. 26 (117); siehe auch dessen Verortung einer teleologisch orientierten objektiven Interpretation gegenüber der „Begriffsjurisprudenz“ als Teil einer schematischen Übersicht in seiner „Rechtsphilosophie“, S. 88. Solange man sich auf eine gewisse Teleologiefeindlichkeit im über weite Teile des 19. Jahrhunderts gepflegten juristischen Methodenideal bezieht, stellt Bindings Rechtsdenken tatsächlich eine Abkehr von der überkommenen Linie dar. Dennoch orientiert er sich insgesamt noch stark an diesem Methodenideal. Siehe dazu genauer u. S. 57 ff. 35 Schon Radbruch, MschrKrimPsych 3 (1905/06), S. 570 (571) kann den Vorwurf des Formalismus gegen Bindings Normentheorie mit Recht als „landläufig“ bezeichnen. 36 Siehe dazu u. S. 139 f. 37 Vgl. Welzel, Abhandlungen, S. 51, Fn. 5; Westphalen, Binding, S. 108 ff. u. a. in Bezug auf das Bindingsche Schuldverständnis; etwas vorsichtiger bei dieser Einordnung A. Koch, in: Hilgendorf/Weitzel (Hrsg.), Strafgedanke, S. 127 (140 ff.). 38 So in Bezug auf Bindings Rechtsgutslehre Ehret, Gesetzlichkeitsprinzip, S. 157 ff. Westphalen, Binding, S. 112 f. kritisiert Bindings Normbegriff in diesem Sinne. Zurecht verweist sie aber selbst auf die prinzipielle Vereinbarkeit autoritär-obrigkeitsstaatlicher und liberaler Elemente auf verschiedenen Feldern Bindingschen Denkens, die jede schlagwortartige Einordnung fragwürdig erscheinen ließe. Bereits Seidenstücker, Strafzweck, S. 12, 27 fand bei Binding Anzeichen für beide Denkrichtungen. In der Tat ist ein solches Nebeneinander gerade in der maßgeblich vom Nationalliberalismus mitbestimmten Schaffenszeit Bindings auch in keiner Weise ungewöhnlich, sondern geradezu erwartbar. 39 So etwa Vormbaum, Strafrechtsgeschichte, S. 138, Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte, Rn. 1969 und Naucke, in: Vormbaum (Hrsg.), Freigabe, S. IX ff. Schröder, in: ders./Kleinheyer (Hrsg.), Juristen, S. 62 (64 f.), Pawlik, Unrecht, S. 34 und Jakobs, in: FS de Figueiredo Dias, Bd. 1, S. 387 (395) sehen in Binding einen Rechts-, nicht aber einen Gesetzespositivisten. Zu diesem Ergebnis wird auch die vorliegende Arbeit gelangen (siehe u. S. 61 ff.). 40 Die Binding-Interpretation Nauckes, in: Freigabe S. XVI mündet in dem Vorwurf, Binding höhle den Rechtsgedanken aus, indem er das Recht ausschließlich als ein Vehikel der Sozialdienlichkeit verstehe und sich auf diese Weise mittels der Behauptung eines bestimmten gesellschaftlichen Nutzens eine fast unumschränkte Auslegungsmacht verschaffe; ähnlich Frommel, Präventionsmodelle, S. 76 mit der Behauptung, Binding betreibe durch seine Normenlehre in Kombination mit seiner objektiven Auslegungsmethodik eine „verdeckte Kriminalpolitik“. 41 Larenz, Methodenlehre, S. 33. 42 So Müller, Normentheorie, S. 128 ff. 34
24
Einleitung
zeption basiert nach hiesiger Ansicht maßgeblich auf einem häufig mangelhaften Abgleich des Behaupteten mit dem juristischen Schrifttum Bindings, allen voran in Form seines Hauptwerks, der „Normen und ihre[r] Übertretung“ 43 sowie seines „Handbuch[s] des Strafrechts“.44 Da sich der eigentliche Inhalt der „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ erst unter Beachtung der grundlegenden juristischen Sichtweisen Bindings erhellt, das neuere Schrifttum diese aber gerade durch einen Verweis auf einen vermeintlichen Inhalt der Freigabeschrift herzuleiten versucht, sind bei einer tiefer gehenden Beschäftigung mit Binding weder der Inhalt der Freigabeschrift noch jene grundlegenden Sichtweisen isoliert darstellbar. Damit aber erfordert eine Auseinandersetzung mit der Freigabeschrift Vorarbeiten, die in ihrem Umfang weit über die Freigabeschrift selbst hinausgehen; das zunächst in der vorliegenden Arbeit anvisierte Verhältnis beider Punkte zueinander kehrt sich um, Binding/Hoche wird zum Prüfstein einer Darlegung der wesentlichen Grundlagen im Bindingschen Rechtsdenken. Die Untersuchung wird somit zunächst Eckpfeiler der rechtstheoretischen Auffassungen und der Normenlehre Bindings darstellen, die im Fortgang auf ihre Vereinbarkeit mit dem Inhalt der „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ geprüft werden. Erkenntnisfortschritte sind derartig auf ganz verschiedenen Gebieten zu leisten. In methodengeschichtlicher Hinsicht sollen die Besonderheiten des Bindingschen Rechtsbildes und seiner objektiven Auslegungstheorie eingeordnet werden. Als Beitrag zur Strafrechtsdogmatik und -geschichte sollen verbreitete, aber nach den Ergebnissen dieser Arbeit nicht oder nur unter bestimmten Prämissen haltbare Verständnisse der Normentheorie Bindings offengelegt und berichtigt werden. Neben dem dargestellten Wert als Prüfstein des zuvor Ermittelten ist schließlich die Auseinandersetzung mit der „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ als allgemein rechtshistorischer Beitrag zu verstehen. Der Verfasser hofft, so einen noch fehlenden Baustein in der historischen Einordnung dieses Werks liefern zu können, fokussierte die bisherige Literatur hierzu doch eher die rein tatsächliche Fortwirkung der Schrift, insbesondere ihre Rezeption im Dritten Reich und ganz speziell ihre Rolle im euphemistisch sogenannten „Euthanasieprogramm“ des nationalsozialistischen Regimes.45
43
Die Normen und ihre Übertretung, 4. Aufl. 1922. Handbuch des Strafrechts, 1885. Das „Handbuch“ Bindings sollte ursprünglich nur das erste von zwei Bänden werden und wird daher häufig als „Handbuch, Bd. 1“ oder dergleichen zitiert. Es blieb jedoch schließlich bei einem einzigen Band, so dass hier auf eine besondere Kennzeichnung verzichtet wird. 45 Vgl. etwa E. Klee, ,Euthanasie‘, S. 21 ff. sowie Naucke, in: Czeguhn u. a. (Hrsg.), Eugenik und Euthanasie, S. 71 (78 f.). 44
Einleitung
25
Aus dem Gesagten ergibt sich die grobe Struktur dieser Arbeit: In einem ersten Schritt werden rechtstheoretische und methodische Grundannahmen Bindings in Augenschein genommen (1. Teil). Sodann wird die Bindingsche Normentheorie thematisiert (2. Teil). Unter anderem soll dort auch das Verhältnis zwischen allgemeinem Rechtsbild und Normentheorie Bindings näher beleuchtet werden. Im nächsten Abschnitt kann dann die „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ untersucht werden (3. Teil). Als Konsequenz des bereits kritisch angesprochenen mangelhaften Abgleichs bisheriger Einordnungsversuche mit dem Schrifttum Bindings greift die vorliegende Arbeit bewusst häufig auf seine Texte zurück.
1. Teil
Bindings methodische Grundlagen Die Beschäftigung mit der juristischen Methodengeschichte birgt ein natürliches Quellenproblem. In Anlehnung an ein berühmt gewordenes Wort David Daubes (1909–1999): Das Selbstverständliche wird nicht erwähnt.1 Nichts aber ist dem Juristen selbstverständlicher als seine Methodik. Er wendet sie – auf konsequente oder weniger konsequente, gute oder schlechte Weise – an, setzt sie alltäglich voraus, redet oder schreibt aber vergleichsweise selten über sie. Eben dieses Problem betrifft teilweise auch die folgende Darstellung Bindingschen Rechtsdenkens, so dass auch sie nicht umhin kann, an der einen oder anderen Stelle bestimmte Grundansichten Bindings aus Stellungnahmen zu schließen, die in einem anderen thematischen Zusammenhang geäußert wurden und jene Grundlagen nur beiläufig berühren. Im Gegensatz zu zahlreichen anderen methodengeschichtlichen Recherchen hat diese Untersuchung aber das Glück, bei Binding auf eine historische Besonderheit zu treffen. Er fällt in die Zeit eines wissenschaftlichen Umbruchs: der beginnenden Dominanz der empirischen Wissenschaften, allen voran der Soziologie. Der neugewonnene Einfluss der empirischen Wissenschaften machte bekanntlich auch vor der Jurisprudenz nicht halt. Binding sah darin eine massive Gefahr für einen gesunden – das heißt aus seiner Sicht: von vermeintlich „äußeren“ Einflüssen freien – Rechtsbegriff und damit für das Objekt seiner Wissenschaft. Zeit seines Lebens wähnte er sich in einem Kampf gegen jede „externe“ Betrachtungsweise des Rechts, die Anspruch auf eine unmittelbare Wirkung auch auf dem Gebiet der Rechtswissenschaft zu erheben wagte. Schon aus diesem Grund finden sich bei ihm in etwas größerer Zahl Bemerkungen zu Rechtstheorie und Methodik, bis hin zu einer „eigenen“ 2 Auslegungslehre. Zu den nicht erwähnten Selbstverständlichkeiten gehören allerdings auch philosophische Bezüge, die insbesondere die Jurisprudenz der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch bestimmten, ohne die aber beispielsweise auch die Lehren Windscheids (1817–1892) oder Jherings (1818–1892) nicht verständlich sind.3 1
Vgl. Daube, SZ RA 90 (1973), S. 1 ff. Zur Frage, inwieweit wirklich von einer „Entwicklung“ der objektiven Auslegungslehre durch Binding gesprochen werden darf, siehe u. S. 88 ff. 3 Siehe zu Windscheid bspw. Larenz’ Methodenlehre, S. 28 ff. Zu Jhering siehe etwa Coing, in: Blühdorn/Ritter (Hrsg.), Philosophie und Rechtswissenschaft, S. 149 (166 f., 2
1. Teil: Bindings methodische Grundlagen
27
Derlei unausgesprochene Grundannahmen sind aus heutiger Sicht nur sehr schwer komplett zu entschlüsseln. Man wird Rückert kaum eine Übertreibung vorwerfen dürfen, wenn er die logisch-philosophische Bildung selbst grundlagenorientierter Rechtswissenschaftler jüngerer Zeit im Vergleich zu denjenigen früheren Juristen, deren Texte sie gelegentlich analysieren, als „so viel schlichter“ bezeichnet.4 Will man in der rechtshistorischen Erforschung des 19. Jahrhunderts allerdings nicht vollends resignieren, so lässt sich die daraus resultierende, generelle Kompetenzfrage nur im Sinne eines Gebots besonderer Obacht im Umgang mit juristischen Schriften dieses Zeitraums beantworten. Die vorliegende Arbeit wird versuchen, diesem Gebot durch eine besondere Beschäftigung mit philosophischen Prämissen der jeweilig untersuchten Rechtsverständnisse sowie der Aufstellung eines gröberen rechtshistorischen Bezugsrahmens gerecht zu werden. Wiederum kommt ihr auch in diesem Bereich der beschriebene historische Glücksfall zugute: Die große Besonderheit der Sichtweise Bindings liegt gerade in einer weitgehenden äußeren Abgeschlossenheit des positiven Rechts. Selbst mit Blick auf die objektive Auslegungstheorie Bindings werden sich Zahl und Ausmaß philosophischer Prämissen als überschaubar erweisen. Die einleitenden Worte legten bereits nahe, an welchem Punkt die Untersuchung anzusetzen hat: Eine Einordnung Bindings, dessen Schaffenszeit vornehmlich in das 19. Jahrhundert fällt, bedarf einer näheren Beschreibung dieses rechtshistorischen Bezugsrahmens. Innerhalb dieses gezwungenermaßen sehr grob gezeichneten Kontexts ist dann eine erste, vorsichtige Verortung des Bindingschen Rechtsverständnisses möglich (A.). Wesentlich genauere Konturen erhält dieses Rechtsverständnis durch einen Blick auf die besondere Betonung einer juristischen Eigengesetzlichkeit bei Binding (B.). Die Betrachtungsweise des Rechts als eigenständiges Gedankenkonstrukt durchzieht seine gesamte Schaffenszeit und wird helfen, seine Normentheorie und seine Reaktionen auf die Kritik an ihr besser zu verstehen. Während Binding die Eigengesetzlichkeit des Rechts als eine rechtswissenschaftliche Selbstverständlichkeit betrachtet, die es nicht erst zu entwickeln, sondern „lediglich“ zu verteidigen gilt, hält er seine Entwicklung der objektiven Auslegungstheorie für eine echte Neuerung (C.). Dennoch knüpft die damit einhergehende Eigenständigkeit des Rechts nahtlos an die zuvor beschriebenen Bindingschen Grundlagen an. Als weiterer Baustein juristischer „Autonomie“ 5 169 f.) sowie Rückert, in: ders./Seinecke (Hrsg.), Methodik des Zivilrechts, S. 501 (510). 4 Rückert, in: ders./Seinecke (Hrsg.), Methodik des Zivilrechts, S. 501 (505). 5 Der Begriff juristischer „Autonomie“ bedarf der Klarstellung. Gemeint ist innerhalb der rechtshistorischen Literatur in Anknüpfung an Rückert, Autonomie, 1988 zumeist die autonome Stellung der Rechtswissenschaft gegenüber der Rechtspolitik, die Möglichkeit einer eigenständigen wissenschaftlichen Tätigkeit abseits der bloßen Empi-
28
1. Teil: Bindings methodische Grundlagen
komplettiert die objektive Auslegungstheorie gewissermaßen die methodischen Grundanschauungen Bindings. Die Analyse dieser Grundlagen steht einem Selbstverständnis Bindings gegenüber, das sich durch einen bloßen Blick auf die rechtshistorischen Darstellungsweisen der juristischen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts nicht unbedingt erschließt. Da es im späteren Verlauf dieser Arbeit auf ein genaues Verständnis der Bindingschen Texte ankommen wird, muss daher auch dieses Selbstverständnis Bindings näher untersucht werden (D.). Zuletzt werden die Ergebnisse zusammengefasst und für eine weitergehende Einordnung des Bindingschen Rechtsverständnisses genutzt (E.). Stritt dieser mit dem „positiven Recht“ auch nur für ein äußerlich abgeschlossenes Forschungsobjekt der Jurisprudenz, so lassen sich doch Parallelen im Sinne einer breiteren geistigen Strömung des ausgehenden 19. Jahrhunderts ausmachen.
A. Bindings Rechtsverständnis zwischen „Begriffsjurisprudenz“ und juristischem Zweckdenken Das 19. Jahrhundert bedeutete für den Großteil aller Wissenschaften eine Vielzahl von Brüchen und Perspektivenwechseln. Bekanntlich gilt dies in besonderem Maße auch für die Jurisprudenz. Bereits die Rechtswissenschaft des frühen 19. Jahrhunderts hatte mit dem dualistischen Rechtsbegriff der Naturrechtszeit gebrochen: Als Rechtsquelle – oder besser: als Rechtserkenntnisquelle – akzeptierte kaum noch ein Jurist dieser Zeit ein Natur- oder Vernunftrecht.6 Selbst innerhalb rechtspositivistischer Prämissen müssen aber eine Vielzahl verschiedener Schattierungen und Tendenzen unterschieden werden, die eine Einordnung Bindings erschweren. Grob lässt sich der maßgebliche Zeitraum als einen Übergang vom überzeugungsbasierten Verständnis der Historischen Rechtsschule hin zu juristischen Voluntarismen beschreiben, die das Recht insbesondere für empirische Zweckmomente öffneten (I.). Bekanntlich mündete diese Entwicklung im soziologischen rie alltäglicher Gesetzgebungsunternehmen und justizialer Praxis. Im Sinne dieser Untersuchung meint die Autonomie des Rechts allerdings mehr: Binding stattet das Recht mit einer besonderen Eigengesetzlichkeit und Eigenständigkeit aus und schafft so ein gegenüber äußeren Einflüssen fast vollständig abgeschlossenes Gedankengebäude, eine fast reine Idealentität. Sein Rechtsbild eröffnet nicht nur die Möglichkeit einer selbständigen wissenschaftlichen Arbeit der Jurisprudenz, sondern schließt in allen geregelten Bereichen kategorisch unmittelbare äußere Einflüsse auf das Recht aus, seien sie Gesetzgeberwille, soziologisches Wissen oder philosophische Betrachtungsweise. Es ist daher auf besondere Weise „autonom“. Siehe dazu genauer u. S. 146 f., 152 f. 6 Eine Ausnahme stellt bspw. Berolzheimer, ARWPh 4 (1910/11), S. 595 (603 f.) dar, der die Übereinstimmung mit dem Sittengesetz offen zu einer Gültigkeitsvoraussetzung des positiven Rechts erklärt.
A. Bindings Rechtsverständnis
29
Rechtsverständnis Jherings, führte später zur Interessenjurisprudenz Hecks und schließlich zur Wertungsjurisprudenz. Der näher zu umreißende Zeitraum beinhaltet also einen bis heute spürbaren Paradigmenwechsel in der Rechtswissenschaft. Binding fällt mitten in diesen Umbruch. Sein spezifischer juristischer Voluntarismus wird sich als interessanter Sonderfall erweisen, in dem das formale Rechtsdenken der Historischen Schule zwar noch deutlich spürbar, das empirische Zweckmoment daneben aber bereits angelegt ist. Gerade vor dem Hintergrund der allgemeinen Neubewertung der sogenannten „Begriffsjurisprudenz“ erscheint Binding damit moderner, als er in der rechtshistorischen Literatur dargestellt zu werden pflegt (II.).
I. Der historische Rahmen einer Einordnung Bindings Im Zentrum der methodengeschichtlichen Bewertung des 19. Jahrhunderts liegt die Einordnung der sogenannten „Begriffsjurisprudenz“: Sie kennzeichnet nach dem klassischen Verständnis der älteren rechtshistorischen Literatur eine begriffslogisch motivierte Entfremdung des Juristen vom positiven Recht als dem eigentlichen Stoff seiner Forschung und mündete schließlich in einer Art „Neuentdeckung“ des Rechts als Ergebnis empirischer Zwecke bei Jhering. Gerade in den letzten Jahren aber zeichnet sich immer deutlicher eine allgemeine Neubewertung dieses zentralen Bestandteils der juristischen Methodengeschichte ab. Die Frage der Existenz und Bedeutung der „Begriffsjurisprudenz“ rückte merklich in den Fokus rechtshistorischer Forschung. Die neueren Erkenntnisse in diesem Bereich werden sich in vielerlei Hinsicht als Schlüssel für ein Verständnis des Bindingschen Rechts- und Selbstbilds erweisen. Aus diesem Grund hat sich auch die vorliegende Arbeit in der gebotenen Kürze mit jener Neubewertung auseinanderzusetzen (1.). Mit der anschließend genauer ins Auge zu fassenden Ablösung des überzeugungsbasierten Rechtsbildes der Historischen Rechtsschule durch voluntaristische Rechtsverständnisse (2.) nähern wir uns dann bereits dem spezifischen Voluntarismus Bindings. 1. Die „Begriffsjurisprudenz“ Das klassische Narrativ einer radikalen Abwendung Jherings von einer als methodisch unzulänglich erkannten begriffsjuristischen Arbeitsweise prägte lange unseren Blick auf die juristische Methodengeschichte des 19. Jahrhunderts.7 Um die Neubewertung der „Begriffsjurisprudenz“ verständlich zu machen, sind zunächst einige Ausführungen zu dieser traditionellen Sichtweise nötig [a)]. In 7 Vgl. bspw. Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 450 f. und auch noch Schlosser, Grundzüge, S. 165 f.
30
1. Teil: Bindings methodische Grundlagen
einem zweiten Schritt kann dann das von der jüngeren rechtshistorischen Literatur gezeichnete Bild in Augenschein genommen werden [b)]. a) Klassische Darstellungsweise Die klassische Darstellung der älteren rechtshistorischen Literatur beruht großteilig auf einem von Philipp Heck (1858–1943) vermittelten Bild, das ab dem zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts den juristischen Methodenstreit zwischen überkommener Arbeitsweise und der sogenannten Interessenjurisprudenz auslöste.8 Heck schloss in seiner Kritik vor allem an Jhering an, der sich ab 1861 in zunächst anonym veröffentlichen Schmähschriften gegen die bis dahin herrschende rechtswissenschaftliche Methode gewandt hatte.9 In den Briefen Jherings treten die Kernpositionen der später an ihn anknüpfenden Zwecktheoretiker bereits zutage. Dies macht Jhering zum idealen Darstellungsobjekt eines Verständnisses der „Begriffsjurisprudenz“,10 das von der rechtshistorischen Forschung vollständig rezipiert und bis in die jüngere Vergangenheit aufrecht erhalten wurde. Der Kern seiner humoristisch verpackten Kritik lässt sich anhand des folgenden Zitats verdeutlichen: „[S]owenig wie eine Dame heutzutage ohne Krinoline zu erscheinen wagt, sowenig ein moderner Civilist ohne Konstruktion. Von wem sich eigentlich diese neue civilistische Mode herschreibt, weiß ich nicht, nur so viel ist mir bekannt, daß einer sogar dies Konstruieren wieder konstruiert [. . .], ja sogar zur Vornahme dieser Arbeit ein höheres Stockwerk der Jurisprudenz angelegt hat, welches danach den Namen der „höheren Jurisprudenz“ erhalten hat. In der untern Etage wird die gröbere Arbeit verrichtet, da wird der Rohstoff gewalkt, gegerbt, gebeizt, kurz – interpretiert, dann aber kommt er in die obere Etage, in die Hände der civilistischen Künstler, die gestalten ihn, geben ihm künstlerisch-civilistische Form. Haben sie diese gefunden, so verwandelt sich jetzt die leblose Masse in ein lebendiges Wesen; durch irgend einen mystischen Vorgang wird demselben, wie dem Tongebilde des Prometheus, Leben und Odem eingehaucht, und der civilistische Humunculus, d.h. der Begriff, wird produktiv und begattet sich mit anderen seinesgleichen und zeugt Junge.“ 11
Die hier beschriebene Konstruktionsarbeit lässt sich verstehen als Einordnung eines einzelnen juristischen Satzes oder Begriffs in ein angenommenes logisches Gesamtsystem aus Prinzipien und Begriffen zwecks Ermittlung weiterer Aussagen über den Rechtssatz oder -begriff.12 In der Fokussierung der logischen Erfassung des Rechts glaubt Jhering den hauptsächlichen Hinderungsgrund einer Jurispru8 Siehe Heck, AcP 112 (1914), S. 1 ff. und zu diesem aus der neueren Literatur etwa Auer, ZEuP 16 (2008), S. 517 ff.; speziell zur Bedeutung Jherings für die Kritik Hecks siehe Henkel, Begriffsjurisprudenz, S. 17 f. 9 Siehe zu Jherings methodischem Bruch Behrends, Art. Jhering, Rudolf von (1818– 1892), in: Cordes u. a. (Hrsg.), HRG, Bd. 2, Sp. 1366 ff. m.w. N. 10 Auf Jhering, Scherz und Ernst, S. 337 geht auch die Bezeichnung selbst zurück. 11 Jhering, Scherz und Ernst, S. 7. 12 Dazu grundlegend M. Rümelin, ARWPh 16 (1922/23), S. 343 (346 ff.).
A. Bindings Rechtsverständnis
31
denz entdeckt zu haben, die ihren praktischen Zwecken gerecht werden kann.13 Eine solche Arbeitsweise würde es sich zur Aufgabe machen, durch methodisch korrekte Interpretation des Rechts das zur Handhabung praktischer Fälle nötige Wissen zu schaffen. Statt dies zu leisten, verliere man sich jedoch in der „höheren Jurisprudenz“ mit induzierten Begriffen oder Rechtsprinzipien, deren logisch-systematische Fortsetzung hin zu immer höheren Begriffen und Prinzipien aus Sicht Jherings zu einer fast absurden Distanz der Rechtswissenschaft zum eigentlichen Grundstoff ihrer Arbeit – dem Gesetz – geführt habe.14 Jherings Kritik setzt an verschiedenen und unterschiedlich relevanten Punkten an: Zunächst hält er zahlreiche theoretische Arbeiten für praktisch wertlos, da sie sich in nicht genügend den empirischen Zwecken des Rechts widmeten.15 Weit gewichtiger ist ihm jedoch eine von ihm diagnostizierte Beliebigkeit der „höheren Jurisprudenz“, die sich faktisch unabhängig von ihrem Forschungsstoff gemacht habe.16 Am dringendsten scheint die Kritik Jherings jedoch dort, wo eine 13
Vgl. Jhering, Scherz und Ernst, S. 9 f. i.d. Fn., 32 ff. u. 53 f. Zur Veranschaulichung erzählt Jhering, Scherz und Ernst, S. 56 f. die humoristische Geschichte eines Professors, dessen Dienstmädchen in seinem Arbeitszimmer einst das Fenster offen ließ, so dass der Wind die Unterlagen jenes Professors durcheinanderwirbelte, welche er für sein anstehendes Werk zur römischen Rechtsgeschichte angefertigt hatte. In ihrer Not versuchte das Dienstmädchen, die durcheinandergebrachte Ordnung wiederherzustellen und schuf dabei eine neue, „eigene“ Ordnung der römischen Rechtsgeschichte. Der schließlich zurückgekehrte Professor las diese „neue“ römische Rechtsgeschichte „ganz als wenn nichts mit ihr vorgefallen, [. . .] und kam so, ohne es zu wissen und zu wollen, immer tiefer in die ihm oktroyierte neue Ordnung hinein, bis er zuletzt nicht mehr zurück konnte und sich schließlich auch mit ihr befreundete. [. . .] Seitdem ich diese Geschichte erfahren, ist mir über manche wunderbare systematische Erscheinungen in unseren juristischen Werken [. . .] ein Licht aufgegangen. [. . .] Der Wind und das Stubenmädchen sind unberechenbar, und was kein Verstand der Verständigen sieht, kann vielleicht durch das Spiel des Zufalls herbeigeführt werden.“ 15 Siehe etwa Jhering, Scherz und Ernst, S. 15: „Eine juristische Schrift, welche die praktische Anwendbarkeit der ganzen Materie grundsätzlich ignoriert – Konstruktion einer kunstvollen Uhr, welche nicht aufs Gehen berechnet ist! Eben darin liegt das Übel, daß die Jurisprudenz zu einer Zoologie hinaufgeschraubt wird, während sie doch die Kunst ist, mit dem civilistischen Zugvieh zu pflügen.“ Spöttisch bedankt sich Jhering, Scherz und Ernst, S. 15 in diesem Sinne beispielsweise bei dem zur Zeit der noch anonymen ersten Veröffentlichung der Jheringschen Kritik (1861) bereits verstorbenen österreichischen Rechtsphilosophen Georg Norbert Schnabel (1791–1857) für dessen Begründung eines Rechts auf Gedankenfreiheit durch das Eigentum der Person an ihrem eigenen Körper: „Erst seitdem diese Schnabeltheorie zu meiner Kunde gekommen ist, fühle ich mein Denken auf eine gesicherte rechtliche Grundlage gestellt, ich weiß, daß dasselbe nicht mehr de facto, sondern de jure geschieht“. Schnabel, Wissenschaft des Rechts, S. 41 f. entwickelt Derartiges tatsächlich aus einem Recht des Menschen auf seine „Sprachwerkzeuge“. Das Beispiel Jherings ist allerdings insofern seltsam gewählt, als Schnabel das fragliche Recht gar nicht aus einer Bearbeitung des positiven juristischen Stoffes im Sinne der „höheren Jurisprudenz“ ermittelt, sondern ein klassisches Vernunftrecht entwirft. 16 Vgl. etwa Jhering, Scherz und Ernst, S. 33: „Alles und jedes, was dasselbe [sc. das römische Erbrecht] bestimmt und nicht bestimmt, hat und nicht hat, läßt sich auf spekulativem Wege entwickeln; und wäre uns kein Wort davon enthalten, Lassalle hätte 14
32
1. Teil: Bindings methodische Grundlagen
nach seinem Dafürhalten von den Realitäten der Welt unbeeinflusste und für sie ungeeignete Theorie dennoch zur praktischen Anwendung kommt. Hier stehe die Jurisprudenz der gerechten Fallentscheidung geradezu im Weg, so dass er schlussendlich zu der Überzeugung gelangt, „daß man erst den Glauben an die Theorie vollständig verloren haben muß, um ohne Gefahr sich ihrer bedienen zu können.“ 17 Diese Bestandsaufnahme der Jurisprudenz machte in den folgenden Jahrzehnten Schule und ist bis heute in der rechtshistorischen Auseinandersetzung mit der Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts spürbar. Im Anschluss an die Darstellung Hecks18 verläuft das daraus entwickelte Narrativ in etwa wie folgt: Die noch weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein herrschende juristische Methode zeichnete sich durch eine besondere Affinität zur Begriffsbildung und logischen Systematisierung aus, die in einem grenzenlosen Formalismus mündete und die praktischen Zwecke des Rechts unbeachtet ließ.19 Namentlich wurde neben Puchta vor allem Jhering in seiner ersten Schaffensphase als „Begriffsjurist“ bezeichnet,20 wogegen Savigny dieses Verdikt zumeist erspart blieb. Weder die Auswahl der als Begriffsjuristen stigmatisierten Autoren, noch die logische Haltbarkeit der kritisierten Begriffsbildung oder das vermeintliche „Eigenleben“ der Begriffe werden in den Spottschriften Jherings jedoch näher erläutert.21 Obwohl die durchschlagende Wirkung seiner Worte für ein betont selbstsicheres Auftreten der Kritiker der Begriffsjurisprudenz in der Folgezeit sorgte, blieb das inhaltliche Verständnis der klassischen juristischen Methodik des 19. Jahrhunderts und ihrer vermeintlichen Mängel überraschend diffus: Die Grenze zur verfemten Arbeitsweise hatte überschritten, wer zu häufig oder in zu großer begrifflicher Höhe „konstruierte“.22
es auf apriorischem Wege entdeckt.“ Gemeint ist der zweite Teil des „System[s] der erworbenen Rechte“ (1861), den Lassalle mit dem Titel „Das Wesen des römischen und germanischen Erbrechts in historisch-philosophischer Entwickelung“ versah. 17 Jhering, Scherz und Ernst, S. 54. 18 Vgl. Heck, DJZ 14 (1909), Sp. 1457 (1458 ff.). 19 Vgl. hierzu Haferkamp, in: Depenheuer (Hrsg.), Reinheit des Rechts, S. 79 (80 f.). 20 So etwa die Aufteilung bei Larenz, Methodenlehre, S. 19 ff. 21 Vgl. auch das Urteil Landaus, SZ RA 109 (1992), S. 1 (30) über Jhering. 22 Schon die unterschiedlichen zeitlichen Einschätzungen sind bezeichnend: So sieht bspw. Kramer, Methodenlehre, S. 136 ff. eher die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts als Hochzeit der Begriffsjurisprudenz, während Strömholm, Rechtsphilosophie, S. 230 sowie Krawietz, Regelsystem, S. 27 und Coing, Europäisches Privatrecht, Bd. 2, S. 41 die mittleren Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts damit identifizieren. Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte, Rn. 1731 schließlich bezeichnet das ganze Jahrhundert als wesentlich von der Begriffsjurisprudenz geprägt. Vgl. zu diesen Diskrepanzen schon Henkel, Begriffsjurisprudenz, S. 12 m. Fn. 58.
A. Bindings Rechtsverständnis
33
b) Neubewertung der „Begriffsjurisprudenz“ Neuere Beiträge zur rechtsgeschichtlichen Forschung23 kommen überwiegend zu dem Schluss, dass in der „Begriffsjurisprudenz“ jedenfalls keine als mangelhaft entlarvte, einheitliche juristische Methodik zu sehen ist. Sie zeichnen im Allgemeinen das Bild einer Rechtswissenschaft, die mit grundsätzlich zulässigen Mitteln der juristischen Methodik arbeitete, der also kein eigentlicher Fehlschluss nachzuweisen ist. Mit einigem Recht wird gefordert, den mit spöttischer Konnotation versehenen Namen der „Begriffsjurisprudenz“ durch „Prinzipienjurisprudenz“ zu ersetzen.24 Diese Frage bedarf hier jedoch keiner weiteren Vertiefung; für die Zwecke dieser Arbeit tragen Anführungszeichen den Vorbehalten ausreichend Rechnung. Im Folgenden werden zunächst Voraussetzungen und Inhalt der später so heftig kritisierten klassischen Arbeitsweise der Jurisprudenz des 19. Jahrhunderts beschrieben [aa)]. Im Anschluss kann das mit der „Begriffsjurisprudenz“ assoziierte juristische Verfahren genauer untersucht werden. Vor allem die logische Figur der unvollständigen Induktion wird darin eine prominente Rolle spielen [bb)]. aa) Grundlagen der „höheren Jurisprudenz“ innerhalb der Historischen Rechtsschule Um Grund und Natur der besonderen Betonung logisch-dogmatischer Arbeit in der Jurisprudenz des 19. Jahrhunderts zu verstehen, ist bei Savigny anzusetzen. Als Schöpfer der Historischen Rechtsschule, deren Vertreter Puchta und Jhering gemeinhin mit der Hochzeit der „Begriffsjurisprudenz“ in Verbindung gebracht werden, lieferte er das Rechtsverständnis, das die begriffliche Durchdringung als Aufgabe „höherer Jurisprudenz“ erst möglich machte. Betrachtet man die allgemeinen Ausführungen Savignys im ersten Band seines „System[s] des Römischen Rechts“, fallen schnell gewichtige philosophischen Einflüsse ins Auge. Schon die Grundauffassung der Historischen Rechtsschule, nach der das Recht nicht mehr wie noch nach absolutistischer Vorstellung als subjektiver Wille eines souveränen Herrschers zu sehen sei, sondern auf der „Überzeugung“ einer einzigen echten Rechtsquelle – des „Volks“ – beruhe, bedient sich offen in der Metaphysik.25 So wird der „Volksgeist“ 26 nicht im Sinne 23 Vgl. etwa Henkel, Begriffsjurisprudenz, S. 12 ff.; Landau, in: Juristische Theoriebildung, S. 69 (88 f.); Rückert, Autonomie, S. 77 ff.; Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 254 ff.; speziell auf Puchta bezogen Haferkamp, Puchta, S. 3, 5 ff. 24 So etwa Landau, in: Juristische Theoriebildung, S. 69 (88 f.); Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 254 ff., 272 sowie S. 394, Fn. 617. 25 Siehe hierzu Savigny, System, Bd. 1, S. 14 ff. 26 Der Begriff wird erst von Puchta verwandt. Sein Inhalt ist allerdings bereits in der Lehre des frühen Savignys (vgl. etwa Beruf unsrer Zeit, S. 8 ff.) deutlich angelegt.
34
1. Teil: Bindings methodische Grundlagen
einer konkreten, vielleicht sogar empirisch messbaren Rechtsauffassung eines bestimmten Anteils der Bevölkerung verstanden, sondern als eine Art metaphysische Wertegemeinschaft,27 die unter anderem stark durch den christlichen Glauben geprägt ist.28 Auf Grundlage eines derart konzipierten „Volksgeistes“ finden sowohl Gerechtigkeits- als auch Vernunftelemente Einzug in das Recht:29 Der Volksgeist bildet keine willkürlichen Rechtsvorstellungen ab. Er ist vielmehr Ausdruck einer Vorstellung, nach der das Recht ein „organisch“ wachsender Komplex von inhärent gerechten und vernünftigen Überzeugungen sein soll. Im Zusammenhang mit dieser Sichtweise steht die Idee einer tieferen Notwendigkeit des Verlaufs der Dinge, eines absoluten, die Wirklichkeit lenkenden Geistes, womit der romantischen Identitätsphilosophie ein merklicher Einfluss auf die Historische Rechtsschule zuzusprechen ist.30 Mit einer solchen Volksgeistvorstellung sind offensichtliche methodische Unsicherheiten verbunden. Allein aus einem metaphysisch durchsetzten Volksgeistverständnis lässt sich schwerlich ein positives Recht entwickeln. Allerdings boten die Pandekten gleichzeitig ein umfangreiches positivrechtliches Arbeitsmaterial. Der Gedanke einer weitgehenden Rezeption des römischen Rechts durch den deutschen Volksgeist verlieh der Historischen Rechtsschule das für die wissenschaftliche Arbeit nötige Mindestmaß an Sicherheit hinsichtlich der Beschaffenheit ihres Forschungsobjekts. Die Idee des Eingangs eines bestehenden Rechtskörpers in den „Volksgeist“ machte die Arbeitsweise der Historischen Rechtsschule vor dem Hintergrund ihres bereits monistischen Rechtsverständnisses erst plausibel. Die Unterstellung einer tiefer gehenden Vernunft und eines organischen Zusammenhangs der hauptsächlich aus den Pandekten bestehenden „Überzeugungen“ des Volksgeistes ermöglicht eine begriffliche Erfassung und Systematisierung dieses Rechts.31 Entsprechende Formulierungen, die eine notwendige, vernünftige und organisch zusammenhängende Form des durch den Volksgeist bestimmten Rechts beschreiben, finden sich vor allem bei Savigny und Puchta zuhauf. Für die Zwecke dieser Arbeit sollen wenige Auszüge genügen:
Siehe umfassend zum Volksgeistbegriff Puchtas und zu dessen Zusammenhang mit Savignys Lehre Mecke, Begriff und System, S. 145 ff. 27 Vgl. Haferkamp, in: Depenheuer (Hrsg.), Reinheit des Rechts, S. 79 (85, 88); genauer hierzu Rückert, Idealismus, S. 240 ff., 312 ff. 28 Vgl. zu dieser Dimension des „Volksgeistes“ Haferkamp, in: Cancik u. a. (Hrsg.), Konfession im Recht, S. 71 (78 ff., insb. 90 ff.); D. Nörr, Lehrjahre, S. 306 ff.; K. N. Nörr, Eher Hegel als Kant, S. 19 f.; Rückert, Idealismus, S. 190, 281. 29 Vgl. Haferkamp, in: Depenheuer (Hrsg.), Reinheit des Rechts, S. 79 (88). 30 Vgl. Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 195 sowie speziell zur Beeinflussung der Volksgeistlehre durch die Romantik Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 360 ff. 31 Vgl. Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 196.
A. Bindings Rechtsverständnis
35
„Es ist dieses [sc. das positive Recht] keinesweges so zu denken, als ob es die einzelnen Glieder des Volkes wären, durch deren Willkühr das Recht hervorgebracht würde [. . .]. Vielmehr ist es der in allen Einzelnen gemeinschaftlich lebende und wirkende Volksgeist, der das positive Recht erzeugt, das also für das Bewußtseyn jedes Einzelnen, nicht zufällig sondern nothwendig, ein und dasselbe Recht ist.“ 32 „Die Gestalt aber, in welcher das Recht in dem gemeinsamen Bewußtseyn des Volks lebt, ist nicht die der abstracten Regel, sondern die lebendige Anschauung der Rechtsinstitute in ihrem organischen Zusammenhang“.33 „[D]as Recht ist etwas Vernünftiges, in seiner Entwickelung einer logischen Nothwendigkeit Unterliegendes. [. . .] Diese vernünftige Seite des Rechts macht auch die Wissenschaft zur Erzeugerin von Rechtssätzen, indem sie aus den im gegebenen Recht anerkannten Principien andere Rechtssätze folgert, die weder im gemeinen Recht, noch im geschriebenen ausgesprochen vorliegen.“ 34
Erst durch ein solches Rechtsbild konnten die in wissenschaftlicher Arbeit des Juristen zutage geförderten Erkenntnisse über das Recht als Teil des „Volksgeistes“ gelten. Zwar wird das Recht mit fortschreitender Entwicklung und zunehmend diffizileren Unterscheidungen für das „Volk“ unzugänglicher, wie bereits Savigny feststellte.35 Da es sich beim „Volksgeist“ aber nicht um den Willen einer bestimmten Bevölkerung handeln soll, sondern um eine empirischer Messung unzugängliche, inhärent vernünftige, organisch gewachsene und notwendig gemeinsame Vorstellung, können auch die komplizierteren Forschungsergebnisse der Jurisprudenz als Teil des „Volksgeistes“ gelten. An diesem Punkt muss der Jurist allerdings in der einen oder anderen Form als Vertreter des Volks verstanden werden.36 Die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen dieser Sichtweise betreffen sowohl Objekt als auch Subjekt der juristischen Forschung: Das Recht muss als selbständiges, über die bloße Summe der bekannten Rechtssätze hinausgehendes Objekt gesehen werden, dessen innere und vernünftige Struktur man bislang nur unzureichend verstand. Nicht zufällig setzte sich mit diesem Rechtsverständnis auch das sogenannte „Lückenlosigkeitsdogma“ zunehmend durch, wonach das 32
Savigny, System, Bd. 1, S. 14. Savigny, System, Bd. 1, S. 16. 34 Puchta, Vorlesungen, Bd. 1, S. 22. 35 Siehe Savigny, System, Bd. 1, S. 45. 36 Vgl. bspw. die Worte Savignys, System, Bd. 1, S. 45: „Dann wird sich ein besonderer Stand der Rechtskundigen bilden, welcher, selbst Bestandtheil des Volkes, in diesem Kreise des Denkens die Gesammtheit vertritt. Das Recht ist im besonderen Bewußtseyn dieses Standes nur eine Fortsetzung und eigenthümliche Entwicklung des Volksrechts. Es führt daher nunmehr ein zwiefaches Leben: seinen Grundzügen nach lebt es fort im gemeinsamen Bewußtseyn des Volks, die genauere Ausbildung und Anwendung ist der besondere Beruf des Juristenstandes.“ Sehr ähnlich äußert sich Puchta, Gewohnheitsrecht, Bd. 1, S. 166. Siehe weiterführend zum komplizierten Verständnis des Juristenrechts in der Historischen Rechtsschule Jakobs, Geschichtliche Rechtswissenschaft, S. 37 ff. 33
36
1. Teil: Bindings methodische Grundlagen
Recht eine Antwort für jede denkbare Fallgestaltung vorsehe, es also nur an der Qualität der Jurisprudenz liege, dem Recht diese Antworten mit den Mitteln der juristischen Methodenlehre zu entlocken.37 Erkenntnisse über ein derartig verstandenes Forschungsobjekt müssen dem Rechtswissenschaftler als erkennendem Subjekt aber auch zugänglich sein. Die metaphysische Prämisse eines in der weltlichen Sphäre erfahrbaren, absoluten Geistes findet sich bereits bei Savigny. Mit dem Zugeständnis der Möglichkeit von Erkenntnissen über ein als Ausdruck des Absoluten gedachtes ideelles Objekt außerhalb des erkennenden Subjekts macht sich der Einfluss des objektiven Idealismus dieser Zeit bemerkbar.38 Die gewachsene Bedeutung einer begrifflichen Erfassung und Systematisierung des Rechts lässt sich schließlich auch im Rechtsquellenverständnis Puchtas ablesen: Im Sinne einer weiteren Ausdrucksmöglichkeit des „Volksgeistes“ wurde die Wissenschaft zur eigenständigen Rechtsquelle erklärt, sollte also nicht mehr lediglich einen Spezialfall des Gewohnheitsrechts bilden.39 Das „Recht der Wissenschaft“ ist nach dieser Sichtweise neues Recht, das durch intensive begriffsbildende und -systematisierende Arbeit am positiven Rechtsstoff gewonnen wird. Anspruch der Rechtswissenschaft war nicht mehr „nur“ eine systematische Ordnung des Rechts und die Klärung strittiger Rechtsfragen, sondern ausdrücklich die Gewinnung neuen Rechts.40 Zwar wandelte sich das eingangs beschriebene und bei Savigny noch stark metaphysische Volksgeistverständnis im Laufe des 19. Jahrhunderts. So begründet beispielsweise Jhering das systematische Element des Rechts vor allem mit dem realen Zusammenhang der geregelten Lebensbereiche und hebt dabei die orga-
37 Siehe dazu Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 436 f.; Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 249 f. 38 So auch Rückert, Idealismus, S. 240; zustimmend K. N. Nörr, Eher Hegel als Kant, S. 19 f. m. Fn. 12; Sandström, Herrschaft der Rechtswissenschaft, S. 113 ff. sowie Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 196. In Bezug auf die Historische Rechtsschule zurückhaltender äußern sich Behrends, in: ders./Henckel (Hrsg.), Gesetzgebung, S. 9 (22 f.), Jakobs, Geschichtliche Rechtswissenschaft, S. 68 und D. Nörr, Lehrjahre, S. 196 f. m. Fn. 13. Die besondere Schwierigkeit einer Klassifikation Savignys wird von D. Nörr a. a. O. treffend umschrieben und betrifft zum einen den Begriff des objektiven Idealismus selbst, zum anderen die erkenntnistheoretischen Grundannahmen Savignys, nach denen die Erkenntnis einer historisch-unbedingten und damit objektiven Wahrheit gerade nicht zu erwarten sei. Mit der Maßgabe, dass jedenfalls insoweit, als die oben dargestellte Ausrichtung der Historischen Rechtsschule als objektiver Idealismus bezeichnet werden darf, auch Savigny in diesem Sinne einzuordnen wäre, kann die Frage für die Belange dieser Arbeit letztlich dahinstehen. 39 Vgl. Puchta, Gewohnheitsrecht, Bd. 1, S. 161 ff. sowie seine Pandekten, 3. Aufl. 1845, S. 25 f. 40 Siehe dazu Landau, in: Juristische Theoriebildung, S. 69 (72 ff.); Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 201 u. 247 ff. sowie Jakobs, Geschichtliche Rechtswissenschaft, S. 31 ff., der sich besonders dem Verhältnis zum Gewohnheitsrecht widmet.
A. Bindings Rechtsverständnis
37
nische Natur des Rechts besonders hervor.41 Nichtsdestotrotz bleibt die „Konstruktion“ höchste Aufgabe einer Jurisprudenz in der Tradition Savignys. Vor seinem Bruch mit der überkommenen Sichtweise markierte noch Jhering selbst den Höhepunkt dieser Entwicklung. Vergleicht man den späteren Spott Jherings über die Methode der juristischen „Construction“ mit Teilen seiner im zweiten Band des „Geistes des römischen Rechts“ enthaltenen „Theorie der juristischen Technik“,42 so wird deutlich, dass sein früheres Selbst Hauptobjekt der Kritik ist. Die „höhere Jurisprudenz“, der Jhering vorwirft, das Recht in einer praxisfernen Auslegung bis zur Beliebigkeit umzugestalten, findet in eben jenem Jheringschen Werk einen so deutlichen Ausdruck, dass sich der noch unter dem Eindruck der zitierten Spottschriften stehende Leser beständig an die Ironielosigkeit der Ausführungen erinnern muss: „Die Rechtssätze verwandeln sich in Rechtsbegriffe, das ganze Recht in einen höhern Aggregatszustand, aus dem niedern eines rein positiven Geltens in den eines begrifflichen und künstlerischen Daseins, das Recht wird Kunstwerk.“ 43 „Die feste, starre Masse, die in dieser Form unserer Kunst die engsten Gränzen setzt, wird [. . .] in Fluß und dadurch in einen Zustand versetzt, in dem sie willig künstlerische Form und Gestaltung annimmt, alles, was in ihr ist, kommt zum Vorschein, die gebundenen Eigenschaften und Kräfte werden frei. Diese Erhebung des Stoffes ist nun zugleich Erhebung der Jurisprudenz selbst. Von einer Lastträgerin des Gesetzgebers, einer Sammlerin positiver Einzelheiten schwingt sie sich auf zu einer wahren Kunst und Wissenschaft; zu einer Kunst, die den Stoff künstlerisch bildet, gestaltet, ihm Leben einhaucht – zu einer Wissenschaft, die trotz des positiven in ihrem Gegenstande sich als Naturwissenschaft im Elemente des Geistes bezeichnen lässt. [. . .] [E]s gibt [. . .] keinen Ausdruck, der das Wesen ihrer Methode so völlig erfasste und träfe, als den der naturhistorischen Methode.“ 44
Die hier von Jhering dargestellte „spekulative“ juristische Methode ist Wesensmerkmal der später kritisierten „Begriffsjurisprudenz“. Sie speist sich aus der Anschauung des zunächst bis in seine kleinsten Bestandteile – die Rechtsbegriffe – zerlegten Rechts; ein Vorgang, der Jhering zu einem Vergleich der Jurisprudenz mit der Chemie und allgemein den Naturwissenschaften führt.45 So soll schließlich ein Gesamtsystem des Rechts entstehen, sollen Aussagen nicht nur über einzelne Rechtssätze und Rechtsprinzipien, sondern auch abstrakt von diesen über Rechtsbegriffe und -institute getroffen werden. Die Betrachtung dieses Systems solle dann in einem letzten Schritt dazu dienen, dem Juristen die nötige 41 Siehe Jhering, Geist des römischen Rechts, Bd. 1, S. 25. Zur von Jhering markierten Entwicklungsstufe der von der historischen Rechtsschule ausgehenden Jurisprudenz siehe Mährlein, Volksgeist und Recht, S. 137 ff. 42 Vgl. Jhering, Geist des römischen Rechts, Bd. 2,2, S. 334 ff. 43 Jhering, Geist des römischen Rechts, Bd. 2,2, S. 346. 44 Jhering, Geist des römischen Rechts, Bd. 2,2, S. 388 f. 45 Jhering, Geist des römischen Rechts, Bd. 2,2, S. 361.
38
1. Teil: Bindings methodische Grundlagen
Inspiration zu liefern, um auch auf Feldern Rechtssätze und -prinzipien „aufzufinden“, „wo der positive Stoff uns im Stich lässt“.46 Kurzum: Der Jurist soll mit dem Hintergrundwissen der inneren Funktionsweisen des Rechtssystems „spekulieren“. Erst dieser Vorgang ermögliche die „juristische Production im engeren Sinn, die Hervorhebung eines absolut neuen Stoffes“ gegenüber der bloßen Erschließung dessen, „was der Gesetzgeber mittelbar gesetzt und gegeben hat“.47 „Frei und ungehindert, wie in der Philosophie“,48 solle der Jurist seinen „Gedanken schweifen“ lassen. Bezeichnenderweise erklärt Jhering selbst die Schöpfung juristischer Lehren zum Ziel, „zu denen das positive Recht [. . .] auch nicht den geringsten Anhaltspunkt, den leisesten Anstoß gegeben hat!“ 49 bb) Die unvollständige Induktion als Merkmal der „begriffsjuristischen“ Arbeitsweise Die Suche nach einem logischen Fehlschluss in der klassischen Arbeitsweise der Jurisprudenz des 19. Jahrhunderts verläuft allerdings ernüchternd: Die Mittel, derer man sich zur logischen Erfassung und wissenschaftlichen „Konstruktion“ von Recht bediente, sind Analogie und Induktion. Die „Spekulation“ im Hinblick auf Lebensbereiche, in denen der Jurist von den Pandekten „im Stich gelassen“ werde, orientiert sich an den Rechtssätzen, -begriffen und -prinzipien eines besonders verstandenen positiven Rechts. Vor allem die Analyse des induktiven Schlusses ist für ein Verständnis des Vorwurfs einer begriffsjuristischen Arbeitsweise entscheidend, stellt doch die Induktion das Verfahren dar, in dem die höheren Prinzipien und Begriffe des Rechts ermittelt werden. Das Induzierte dient dann auf verschiedene Weise der Konstruktion neuer Rechtssätze. So haben aufgeleitete Prinzipien selbst die Form von Rechtssätzen; induzierte Oberbegriffe erlauben überdies Analogieschlüsse auf „neue“ Rechtssätze.50 Das beschriebene Rechtsverständnis der Historischen Rechtsschule ermöglichte es, die durch aufgeleitete Prinzipien gewonnenen Rechtssätze als Teil des positiven Rechts zu begreifen.51 Dieses Induktionsverfahren ist zwingend ein unvollständiges: Da durch einfache Rechtsetzung stets neue Rechtssätze oder -begriffe geschaffen werden können, kann kein Induktionsergebnis je für sich beanspruchen, mit Notwendigkeit allen unterfallenden Rechtssätzen oder -begriffen gerecht zu werden.52 Das lässt 46
Jhering, Geist des römischen Rechts, Bd. 2,2, S. 413. Jhering, Geist des römischen Rechts, Bd. 2,2, S. 412. 48 Jhering, Geist des römischen Rechts, Bd. 2,2, S. 414. 49 Jhering, Geist des römischen Rechts, Bd. 2,2, S. 412. 50 Vgl. Henkel, Begriffsjurisprudenz, S. 90 ff. 51 Vgl. Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 178 f. sowie 252 ff.; vgl. zudem dens., Art. Begriffsjurisprudenz, in: Cordes u. a. (Hrsg.), HRG, Bd. 1, Sp. 501 ff. 52 Vgl. Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 178. 47
A. Bindings Rechtsverständnis
39
sich für die Jurisprudenz im Allgemeinen sagen, in besonderer Weise aber für die Pandekten als Kernstück des Zivilrechts des 19. Jahrhunderts. Die in der Justinianischen Sammlung zusammengefassten Rechtstexte nehmen bekanntlich nur selten die Form abstrakter Rechtssätze ein. Häufiger entsprechen sie der allgemeinen römischen Orientierung an konkreten Fallentscheidungen. Während moderne, abstrakt formulierte Rechtssätze zumindest Raum für juristische „Spekulation“ im Sinne der Aufleitung von Rechtsprinzipien und -begriffen lassen, ist ein sinnvolles Operieren mit dem römischen Recht ohne Induktionsleistung kaum denkbar.53 Dies gilt umso mehr im historischen Kontext des 19. Jahrhunderts: Die juristische Aufgabe, aus antiken Einzelfallentscheidungen brauchbare Regeln für eine sich im Rahmen der Industrialisierung rapide verändernde Gesellschaft bereitzustellen, fordert eine Aufwertung des induktiven Schlusses zur Gewinnung allgemeiner Prinzipien geradezu heraus. Dementsprechend messen die Vertreter der Historischen Rechtsschule der induktiven Gewinnung von Rechtsprinzipien eine besondere Bedeutung bei.54 Sie entspricht überdies in vollem Umfang dem idealistischen Selbstverständnis der Jurisprudenz jener Zeit.55 Interessanterweise finden sich derlei Darstellungen aber auch schon bei Savigny, der dem Vorwurf einer begriffsjuristischen Methode doch bislang entgehen konnte. Bereits das Kernthema seiner bekannten Frühschrift zum „Recht des Besitzes“ ist die induktive Ermittlung des Besitzbegriffs des (geltenden) römischen Rechts.56 Allenfalls die Tragweite des Induktionsschlusses ließe sich bemängeln: Die logische Ermittlung von Sätzen, Begriffen und Prinzipien ist innerhalb eines inhärent vernünftigen, organisch gewachsenen und innerlich verbundenen Rechts unbegrenzt möglich. Konsequenterweise wird offen von einer Konstruktion neuer Rechtssätze gesprochen und damit schon der Anspruch nicht mehr erhoben, in einer tatsächlichen Rechtsüberzeugung des Volks bereits latent angelegte Sätze zu ermitteln. Insoweit das Recht als systematisches, inhärent vernünftiges Ganzes gesehen wird, ist die unvollständige Induktion jedoch zulässiges Mittel juristischer Erkenntnisgewinnung.57 Sie bleibt zwar ein logisch unsicheres Verfahren; eine Gefahr für die juristische Methodik stellt sie jedoch nur dann dar, wenn diese Unsicherheit nicht wahrgenommen wird. Letzteres lässt sich aber gerade für die 53 Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass schon die römischen Juristen in einer rechtlichen Begriffssystematik dachten, die mit der Pandektistik des 19. Jahrhunderts vergleichbar wäre. 54 Vgl. etwa Puchta, Pandekten, S. 25 f.; Jhering, Geist des römischen Rechts, Bd. 2,2, S. 387 ff., 409 ff.; Windscheid, Lehrbuch, S. 55 ff. 55 So auch Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 254. 56 Vgl. Savigny, Recht des Besitzes, S. 180 ff. und weiterführend zu darin enthaltenen Induktionen Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 256 f. 57 Vgl. dazu ausführlicher Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 253 f.
40
1. Teil: Bindings methodische Grundlagen
üblicherweise als „Begriffsjuristen“ Bezeichneten kaum behaupten. Nicht selten weisen diese in ihren Darstellungen ausdrücklich auf die Möglichkeit der Falsifikation hin.58 Entspricht also ein Rechtssatz, Rechtsprinzip, Rechtsbegriff oder Rechtsinstitut nicht dem zuvor induktiv Gewonnenen, so sind nicht diese anzupassen, sondern die jeweilige Induktion. Von einem „Eigenleben“ der Begriffe kann also nur bedingt gesprochen werden, nämlich insoweit Rechtsbegriffe und -prinzipien überhaupt auf logisch unsichere Weise ins Leben gerufen und zur Grundlage eigener Deduktionen und Induktionen wurden. So aber taugt die „begriffsjuristische“ Arbeitsweise nur schlecht zur Grundlagenkritik. Die Kritik an ihr geht von einer Schrift aus, die sich durch ihre humoristische Form einer Festlegung auf den eigentlich kritisierten methodischen Vorgang erfolgreich entziehen konnte. Sie lebt vom historischen Bild eines vermeintlichen59 „Damaskus“-Erlebnisses, das den Werdegang Jherings in eine konstruktionsmethodische Phase vor und eine zweckmethodische Phase nach einer womöglich bahnbrechenden Erkenntnis zur herrschenden Methodik unterstellt, ohne Inhalt und Grund der Neuerung im Einzelnen erkennen zu lassen.60 Bezeichnenderweise widmete Heck 1909 – und damit fast fünfzig Jahre nach Erscheinen des ersten Spottbriefes – einen Aufsatz ausdrücklich der Feststellung des eigentlichen Objekts der Kritik.61 Er wirft der „Begriffsjurisprudenz“ letztlich entweder Banalität oder einen logischen Fehlschluss vor: Banalität für den Fall, dass zunächst mittels einer Zusammenfassung verschiedener Rechtssätze ein Oberbegriff oder ein Prinzip gewonnen werde, dessen Inhalt dann – solange korrekt formuliert worden sei – in eben jenen Rechtssätzen bestehen müsse, die 58 Siehe etwa Puchta, Kleine civilistische Schriften, S. 148 (163 ff.); ders., Vorlesungen, Bd. 1, S. 40; ferner Stahl, Philosophie des Rechts, Bd. 2,1, S. 167 f. Selbst bei Jhering, Geist des römischen Rechts, Bd. 2,2, S. 400 ff. lässt sich Entsprechendes finden. Griffig schreibt Jhering ebd., S. 401: „Die Probe der Construction besteht darin, daß die Wissenschaft ihren Körper durch alle erdenklichen Lagen hindurchführt, ihn in jede mögliche Verbindung mit anderen Körpern bringt, ihn mit jedem ihrer Lehrsätze vergleicht. Erst, wenn alles zusammenstimmt, hat er seine Probe bestanden, ist er ächt und wahr.“ Ist ein positivrechtlich feststehender Befund also nicht mit dem teilweise spekulativ gebildeten Rechtssystem auf methodisch vertretbare Weise in Einklang zu bringen, so hat die Rechtswissenschaft von ihrem spekulativ gewonnenen Satz Abstand zu nehmen. Anzumerken ist freilich, dass Jhering zur weitestgehenden Dehnung des Rechts bereit scheint, um einen solchen Widerspruch auszuschließen. Siehe weiterführend zu den Falsifikationsmechanismen der „Begriffsjuristen“ Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 255 f.; Falk, Windscheid, S. 52 ff.; Mecke, Begriff und System, S. 802 ff. sowie speziell zu Puchtas Herleitung einer bei der actio negatoria für den Kläger günstigeren Beweislage auch Haferkamp, Puchta, S. 206 ff. 59 Siehe dazu schon Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 451 ff. u. Haferkamp, Puchta, S. 26 ff. 60 Vgl. dazu Rückert, in: ders./Seinecke (Hrsg.), Methodik des Zivilrechts, S. 501 (502 f.). 61 Heck, DJZ 14 (1909), Sp. 1457–1461. Der Titel lautet: „Was ist diejenige Begriffsjurisprudenz, die wir bekämpfen?“
A. Bindings Rechtsverständnis
41
allerdings anschließend als Deduktionen aus dem Begriff oder Prinzip dargestellt würden; einen Fehlschluss in all den Fällen, in denen allein durch die begriffliche Konstruktion neues Recht entstehe, zumal dieses schlecht aus den zusammengefassten Rechtssätzen gezogen werden könne.62 Wie Rückert zurecht anmerkt, ist Derartiges aber nie juristische Methode gewesen.63 Begriffs- und Prinzipienbildung dienten stattdessen vornehmlich der Ermittlung positivrechtlicher Parameter zur Einordnung all jener Erscheinungen des täglichen Lebens im 19. Jahrhundert, die im maßgeblich antiken Rechtskörper verständlicherweise keine explizite Erwähnung fanden. Die besondere Situation eines die Lebenswirklichkeit nur noch sehr unvollständig erfassenden Gesetzeskörpers hatte einen bedeutenden Anteil am Procedere der logischen Begriffsund Prinzipienbildung. Die Jurisprudenz im Anschluss an Savigny ist nur aus diesem Bedürfnis einer vollständigen Erfassung der damaligen Lebenswelt durch das Recht zu verstehen.64 Wird diese Lebenswelt in einem logisch-begrifflich geordneten System des Rechts erfasst, ist damit gleichzeitig eine im Hinblick auf die zeitlichen Bedingungen gut verständliche Form der Willkürvorbeugung geschaffen.65 An der bis ins späte 19. Jahrhundert herrschenden Arbeitsweise der Jurisprudenz ist damit allenfalls eine zuweilen falsche Begriffsbildung zu bemängeln. Neben einfachen Scheinlogiken spielt hier vor allem die im damaligen Entwicklungsstand der Jurisprudenz noch mangelhafte Ausarbeitung des teleologischen Moments des Rechts eine Rolle.66 Werden teleologische Aspekte des Rechts außer Acht gelassen, ist das Begriffssystem im Sinne Radbruchs „kategorial“ 67 ausgestaltet, so ist eine teilweise falsche Begriffsbildung ebenso notwendig die Folge, wie ein Ausblenden des Zwecks bei Interpretationen einzelner Rechtssätze zu Fehlern führen wird.68 Beispielsweise die zuweilen anzutreffende Kettung des Rechts an naturwissenschaftlich bestimmte Begriffe69 muss daher zu falschen 62
Vgl. Heck, DJZ 14 (1909), Sp. 1457 (1459 f.). Rückert, in: ders./Seinecke (Hrsg.), Methodik des Zivilrechts, S. 501 (507). 64 Rückert, in: ders./Seinecke (Hrsg.), Methodik des Zivilrechts, S. 501 (512). 65 Siehe zum Zusammenhang der systemorientierten Rechtswissenschaft und der Willkürvorbeugung Rückert, in: ders./Seinecke (Hrsg.), Methodik des Zivilrechts, S. 501 (514). 66 Siehe hierzu allgemein Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 404 f. u. 407 f., der treffend von einer „wertneutralen“ Begriffs- und Prinzipienbildung der „Begriffsjurisprudenz“ spricht (S. 404), sowie speziell in Bezug auf die Rolle Jherings bei der Überwindung der „begriffsjuristischen“ Arbeitsweise Radbruch, Rechtsphilosophie, 4. Aufl. 1950, S. 115 f. 67 Radbruch, Rechtsphilosophie, 4. Aufl. 1950, S. 218. 68 Vgl. das bekannte Beispiel bei Heck, Rechtsgewinnung, S. 17 zur Bindung an ein Angebot beim Vertragsschluss unter Abwesenden. 69 Zum griffigen und daher häufig genutzten Beispiel des Kausalitätsbegriffs siehe Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 403 f. m.w. N. 63
42
1. Teil: Bindings methodische Grundlagen
Schlüssen führen, ist die naturwissenschaftliche Bedeutung eines Begriffs doch weder zwingend den speziellen Zwecken des Rechts noch seiner inneren Systematik angemessen ausgestaltet. Die Eigenständigkeit der rechtlichen Begriffsbildung kann leicht anhand von Diskussionen zum Kausalitätsbegriff im Zivilund Strafrecht abgelesen werden. Selbst vermeintlich klare Begriffe mit naturwissenschaftlichem Bezug wie „Leben“ bilden keine Ausnahme: Wann ein Leben im Rechtssinne beginnt, an welche naturwissenschaftlichen Fakten das Recht also anknüpft, stellt das Recht seinen eigenen Zwecken gemäß fest.70 Mit diesem Vorbehalt aber lässt sich den als „Begriffsjuristen“ bezeichneten Autoren ein Fehlschluss auf methodischer Ebene nicht nachweisen.71 Die enge Orientierung an der nach Kant in der Philosophie typisch gewordenen Arbeit in logischen Begriffssystemen ist für eine solche Fundamentalkritik untauglich. Der Vorwurf einer schon im Ansatz unhaltbaren Vorgehensweise hätte im Übrigen ein Rechtsverständnis zur Voraussetzung, nach dem das Recht nicht als sinnvoll zusammenhängendes Ganzes betrachtet werden dürfe und daher einer logischen Aufarbeitung nicht zugänglich sei. Zurecht bemerkt Schröder, mit einem solchen Rechtsbild sei „eine autonome Dogmatik des positiven Rechts jenseits von Rechtsphilosophie, Rechtssoziologie und Rechtspolitik kaum möglich.“ 72 2. Der Voluntarismus als Grundlage neuer Rechtsbegriffe in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Als herrschende Auffassung wurde die überzeugungsbasierte Sichtweise der Historischen Rechtsschule im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von einem rechtstheoretischen Voluntarismus abgelöst. Ein zuweilen sehr unterschiedlich ausgestalteter „Wille“ als Kernelement des Rechtsbegriffs findet sich ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts vermehrt in den Werken maßgeblicher juristischer Autoren.73 Es ist dies gewissermaßen auch eine Rückwendung: Schon die absolutistische Rechtstheorie des 18. Jahrhunderts hatte dem ius positivum einen (Herrscher-)Willen zugrundegelegt.74 Freilich wollen selbst subjek70
Siehe zu diesem Problem insgesamt Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 403 f. Vgl. Landau, in: Juristische Theoriebildung, S. 69 (88 f.) u. Rückert, Autonomie, S. 77 ff. 72 Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 277. 73 Siehe etwa Jhering, Geist des römischen Rechts, Bd. 3,1, 3. Aufl. 1877, S. 318; Kelsen, Hauptprobleme, 97 ff.; Laband, Staatsrecht, Bd. 2, 5. Aufl. 1911, S. 75; Stammler, Theorie, S. 113; Thon, Rechtsnorm, S. 1 ff., 69, 108. Eine gewichtige Ausnahme stellt bekanntlich Windscheid dar, der noch dem älteren, überzeugungsbasierten Denken der Historischen Rechtsschule verhangen ist (siehe etwa Windscheids Abhandlungen, S. 4 ff. u. bes. 72 ff.). Zu dieser rechtstheoretischen Wende insgesamt siehe Landau, in: Juristische Theoriebildung, S. 69 (79 ff.) sowie Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 281 ff., beide m.w. N. 74 Grundlegend für diese die Zeit des Absolutismus prägende Sichtweise Hobbes, De cive, Kap. 6, § 9. 71
A. Bindings Rechtsverständnis
43
tive Auslegungstheoretiker in dieser moderneren Fassung nun auf einen Gemeinschaftswillen hinaus.75 Allgemein korrespondiert das voluntaristische Rechtsverständnis mit einer Aufwertung der Teleologie. Diese Öffnung des Rechts gegenüber Zwecken ist leicht verständlich, lässt sich doch ein „Wille“ im Gegensatz zum metaphysischen „Volksgeist“ nur schlecht ohne entsprechenden Zweck denken. Insbesondere die innerhalb der Historischen Rechtsschule nur untergeordnet herangezogenen76 nicht lediglich aus der Einordnung in ein logisch-begriffliches System resultierenden Zwecke finden mit Jherings bahnbrechender Veröffentlichung des „Zweck[s] im Recht“ 1877 allgemein größere Beachtung. Die vertretenen voluntaristischen Konzeptionen des 19. Jahrhunderts unterscheiden sich im Einzelnen stark voneinander. Schröder teilt sie in Anknüpfung an Ross77 in „soziologische“, „philosophische“ und rein juristische Konzeptionen auf, Letztere vornehmlich im Sinne der Reinen Rechtslehre Kelsens. Diese Einteilung spiegelt die verschiedenen Stroßrichtungen des Voluntarismus anschaulich wider und wird daher im Folgenden übernommen. Als Voluntarismus mit soziologischer Blickrichtung darf zunächst die spätere Lehre Jherings verstanden werden, die das Recht als „die Sicherung der Lebensbedingungen der Gesellschaft in Form des Zwanges“ 78 versteht und damit das Zweckmoment des Rechts besonders betont. Bekanntlich gehen Rechtstatsachenforschung im Allgemeinen und soziologische Rechtsverständnisse im Besonderen maßgeblich auf diese Formel Jherings zurück. Jedoch ist zu betonen, dass Jhering das Recht nie ausschließlich von seinen empirischen Zwecken her betrachtete. Er behält selbst in seinem „Zweck im Recht“ neben der erwähnten Fassung auch die formale Betrachtungsweise des Rechts bei, nach der das Recht als „Inbegriff der in einem Staate geltenden Zwangsnormen“ zu sehen sei.79 Bereits in seinen Spottbriefen warnt Jhering davor, ihre Ergebnisse im Hinblick auf die klassische Rechtsauffassung zu überhöhen. Zur „spekulativen“ Methode stellt er vielmehr ausdrücklich klar, dass er „nicht die spekulative Richtung schlechthin, sondern die Verirrungen derselben“ habe kritisieren wollen.80 Radikalere Varianten eines soziologischen Voluntarismus finden sich insbesondere bei Ehrlich und Kornfeld.81 Beide neigen dazu, die Rechtstheorie als sozio75 Vgl. bspw. Heck, AcP 112 (1914), S. 1 (13), der trotz subjektivem Auslegungsziel von einem „erklärten Willen der Gesamtheit“ spricht. 76 Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 236 f. 77 Theorie, S. 212 ff. 78 Jhering, Zweck im Recht, Bd. 1, 1. Aufl. 1877, S. 434. 79 Jhering, Zweck im Recht, Bd. 1, 1. Aufl. 1877, S. 318; Hervorhebung aus dem Original nicht übernommen. 80 Jhering, Scherz und Ernst, S. 36. 81 Zu weiteren Beispielen siehe Valkhoff, Recht, Mensch und Gesellschaft, S. 54 f.
44
1. Teil: Bindings methodische Grundlagen
logische Aufgabe zu verstehen. Programmatisch gibt Ehrlich in seiner Grundlegung der Soziologie des Rechts gleich zu Anfang vor: „Da das Recht eine gesellschaftliche Erscheinung ist, so gehört jede Art der Jurisprudenz den Gesellschaftswissenschaften an, aber die eigentliche Rechtswissenschaft ist ein Teil der theoretischen Gesellschaftswissenschaft, der Soziologie. Die Soziologie des Rechts ist die wissenschaftliche Lehre vom Rechte.“ 82
Dabei zeigt er sich stark vom naturwissenschaftlich geprägten Szientismus seiner Zeit beeinflusst; den bisher herrschenden Rechtsbegriff hält er für unwissenschaftlich, da er nicht das gesamte Forschungsobjekt einer „echten“ Wissenschaft vom Recht erfasse: „So wie der Eisenbautechniker, wenn er vom Eisen spricht, nicht den chemisch reinen Stoff damit meint, den der Chemiker oder der Mineraloge so bezeichnet, [. . .] so versteht auch der Jurist unter Recht nicht das, was in der menschlichen Gesellschaft als Recht lebt und wirkt, sondern [. . .] ausschließlich das, was für die richterliche Rechtspflege in Betracht kommt.“ 83
In dieselbe Kerbe schlägt Kornfeld, wenn er – wiederum in ausdrücklicher Anlehnung an die naturwissenschaftliche Methodik84 – in den ersten Sätzen seines bekannten Werks zu „Soziale[n] Machtverhältnisse[n]“ vorgibt, „das positive Recht als einen Inbegriff tatsächlich geltender Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens der Menschen begreifen“ zu wollen.85 In dieser radikal empiristischen Sichtweise noch von einem dem Recht zugrundeliegenden „Willen“ sprechen zu können, ist freilich nicht einfach. Dennoch behält Kornfeld eine voluntaristische Konzeption bei, will seinen Verweis auf einen „Gemeinwillen“ aber besonders verstanden wissen: In „einer reinen Erfahrungslehre von den positiven Rechtsordnungen“ sei der Begriff „nur statthaft als die zusammenfassende Bezeichnung der auf rechtsgesellschaftliche Zwecke gerichteten, in abstrakten Regeln erkennbaren Verhaltensweisen der Gesellschaftsmitglieder.“ 86 Auch die philosophischen Konzeptionen lassen sich wiederum nach der Stärke des festgestellten philosophischen Einflusses unterscheiden. Dabei treten manche philosophische Einflüsse weniger subtil zutage, als es noch in der Historischen Rechtsschule der Fall war. Rechtsphilosophische Momente werden zum Teil offen, das heißt im Sinne einer Rechtsidee als solche in die Lehre vom Rechtsbegriff eingeflochten. Die wohl bekannteste Spielart dieser Anschauungsweise lieferte erst sehr spät Radbruch in Folge der Gräuel des Nationalsozialismus, die er zumindest hinsichtlich der Mitwirkung der Juristen auf deren strukturell mangelnde Wehrhaftigkeit gegen Ungerechtigkeiten in Gesetzesform („Gesetz ist Ge82 83 84 85 86
Ehrlich, Soziologie des Rechts, S. 19. Ehrlich, Soziologie des Rechts, S. 6. Vgl. Kornfeld, Soziale Machtverhältnisse, S. 2 f., 15 f. Kornfeld, Soziale Machtverhältnisse, S. 1. Kornfeld, Soziale Machtverhältnisse, S. 25.
A. Bindings Rechtsverständnis
45
setz“) zurückführte.87 Sein Vorschlag eines rechtstheoretischen „Gegenmittels“ ging als Radbruchsche Formel88 in die Geschichte ein: „[W]o Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung des positiven Rechts bewußt verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur ,unrichtiges‘ Recht, vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur. Denn man kann Recht [. . .] gar nicht anders definieren als eine Ordnung und Satzung, die ihrem Sinne nach bestimmt ist, der Gerechtigkeit zu dienen.“ 89
Weniger bekannte Versuche einer Inkorporation von philosophischen Maßstäben in den Rechtsbegriff – häufig ebenfalls in Form von Gerechtigkeits-, Sittlichkeits- oder Vernunftidealen – wurden bereits seit dem Aufkommen der neueren voluntaristischen Sichtweise vertreten und erlebten in der Weimarer Republik einen späten Höhepunkt.90 Philosophische und soziologische Rechtsverständnisse haben gemeinsam, dass sie die Ergebnisse „fremder“ Wissenschaften in das Recht tragen, beziehungsweise richtiger: diese Ergebnisse zu Bestandteilen der Rechtswissenschaft erklären, sie also in den Rechtsbegriff einbauen. Verändern sich die sozialen Verhältnisse, unter denen Recht wirkt, so verändert sich damit nach den soziologischen Varianten des rechtstheoretischen Voluntarismus gleichsam auch das Recht. Durch das eingebaute Einfallstor der Soziologie ändert sich das Recht dabei nicht etwa über den „Umweg“ einer teleologischen Interpretation, sondern als System rein tatsächlich geltender sozialer Regeln aus seinem eigenen Begriff heraus. Ähnliches gilt für philosophische Einflüsse: Das positive Recht ist hier in der einen oder anderen Form von philosophischen Betrachtungen abhängig. Das „richtige“ Recht dient entweder in gemäßigteren Varianten als Lückenfüllung oder Auslegungsargument,91 oder aber es verdrängt das positive Recht im Konfliktfalle gar, wie es radikaleren Theorien zum Teil entspricht.92 87 Zur Neubewertung dieses bis in die jüngere rechtshistorische Literatur recht unkritisch repetierten Bilds siehe Behrends, in: Dreier/Sellert (Hrsg.), Recht und Justiz im ,Dritten Reich‘, S. 34 (35 ff.); Dreier, in: Borowski/Paulson (Hrsg.), Natur des Rechts, S. 1 (4 ff.); Maus, in: Dreier/Sellert (Hrsg.), Recht und Justiz im ,Dritten Reich‘, S. 80 ff. sowie Rüthers, Unbegrenzte Auslegung, S. 98 ff. 88 Der Begriff geht auf Lange, SJZ 3 (1948), Sp. 655 (656) zurück. 89 Radbruch, SJZ 1 (1946), S. 105 (107). Vgl. zur historischen Einordnung der Radbruchschen Formel überblicksartig Dreier, in: Borowski/Paulson (Hrsg.), Natur des Rechts, S. 1 ff. m.w. N. 90 Exemplarisch für diese Richtung steht die bekannte Rektoratsrede Launs zu „Recht und Sittlichkeit“, 1924. 91 Vgl. bspw. Stammler, Theorie, S. 650 f. (zur Füllung von Lücken des bei Stammler sog. „geformten Rechtes“, da eine Lücke innerhalb des bei ihm als „gesetztes Recht“ Bezeichneten begrifflich nicht denkbar ist). 92 So etwa Berolzheimer, ARWPh 4 (1910/11), S. 595 (603: „Und jene Rechtssätze brechen sogar das Gesetzesrecht“); Manigk, Naturrecht, S. 33 ff.; Schönfeld, AcP 135 (1932), S. 1 (61 ff.; 64: „Das Gesetz ist positiv; das Recht ist vor- und überpositiv“);
46
1. Teil: Bindings methodische Grundlagen
Damit unterscheidet sich die vor allem mit der Person Hans Kelsens (1881– 1973) in Verbindung gebrachte dritte Gruppe des rechtstheoretischen Voluntarismus von beiden bisher genannten. Kelsen versteht die juristische Methodenreinheit als kompletten Ausschluss aller Erkenntnisquellen, die „nicht zu dem exakt als Recht bestimmten Gegenstande“ gehörten.93 Diese Methodenreinheit erklärt er zur entscheidenden Voraussetzung der Wissenschaftlichkeit der Jurisprudenz.94 Die Konsequenz der Reinen Rechtslehre ist durchaus radikal. Ihre Forderung nach Methodenreinheit geht nicht in einem Ausschluss der hier beschriebenen philosophischen oder soziologischen Einflüsse auf. Stattdessen postuliert sie ein reines Sollen und schließt damit alle realen Zwecke des Rechts als fremdartig von der juristischen Betrachtung aus.
II. Grundzüge des Bindingschen Voluntarismus Auch Binding ist dem modernen rechtstheoretischen Voluntarismus des 19. Jahrhunderts unproblematisch zuzuordnen. Er beschreibt Recht wahlweise als „Ausdruck des autoritativen Willens“ einer Rechtsquelle,95 als „Gemeinwillen“,96 „Volkswillen“ 97 oder „Staatswillen“.98 Im Hinblick auf seine Fassung des Gewohnheitsrechts scheint die Bezeichnung als Wille eines „staatlich organisier-
Nelson, System, S. 117 ff. (119: „Nach dem Satz von der Widerrechtlichkeit aller rechtlich nicht notwendigen Beschränkung der Freiheit kann es nur dann erlaubt sein, ein vernünftiges Wesen zu bevormunden, wenn dies rechtlich notwendig ist.“); ferner Landsberg, ARWPh 18 (1924/25), S. 347 (366 f., 376) u. Laun, in: Reden, S. 30 ff. Zutreffend bemerkt Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 289, Fn. 56 hierzu, dass man in diesen Theorien auf gewisse Weise sogar hinter die Zeit des juristischen Dualismus zurückfiel, in der dem Naturrecht eine „nur“ subsidiäre Geltung zukam. 93 Kelsen, Reine Rechtslehre, 1. Aufl. 1934, S. 1. Vgl. auch ebd., S. 9: „Indem man das Recht als Norm bestimmt und die Rechtswissenschaft [. . .] auf die Erkenntnis von Normen beschränkt, grenzt man das Recht gegen die Natur und die Rechtswissenschaft als Normwissenschaft gegen alle anderen Wissenschaften ab, die auf eine kausal-gesetzliche Erklärung natürlicher Vorgänge abzielen.“ 94 Zu diesem neukantianischen Schluss von der Erkenntnismethode auf das Erkenntnisobjekt vgl. Jestaedt, in: ders. (Hrsg.), Reine Rechtslehre, S. XXXV. 95 Binding, Handbuch, S. 3, sowie ähnlich S. 157, Fn. 8, S. 211, 451. Ähnlich auch Bindings Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 155 f. Etwas missverständlich aber Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 42: „autoritärer Wille des Gesetzgebers“, was im Hinblick auf die streng objektive Auslegungsmethodik Bindings keinesfalls als Gesetzgeber im klassischen Sinn zu verstehen ist, sondern im erweiterten Sinn einer Rechtsquelle. Zur Beständigkeit der damit zum Ausdruck gebrachten Sichtweise sei angemerkt, dass der erste Band der dritten Auflage der „Normen“ ein unveränderter Abdruck des ersten Bandes der zweiten Auflage der „Normen“ ist. Die vierte, postum erschienene Auflage wiederum ist nur ein Abdruck der dritten und entspricht daher ebenfalls jener zweiten Auflage von 1890. Im Vorwort des ersten Bandes der dritten Auflage schreibt Binding (S. XIII), er habe sich im ersten Band „ohne Bedenken“ für einen reinen Abdruck entscheiden können, weil die in der vorherigen Auflage „entwickelten Ansichten [. . .] noch alle genau [seiner] jetzigen Überzeugung“ entsprächen.
A. Bindings Rechtsverständnis
47
ten Gemeinwesens“ seine Sichtweise am treffendsten wiederzugeben.99 Sie wird daher im weiteren Verlauf dieser Arbeit verwendet. Die besondere Natur des Bindingschen Voluntarismus ergibt sich aus seiner Ablehnung unmittelbarer soziologischer und philosophischer Einflüsse auf das Recht (1.). Der Ausschluss jedes „externen“ Einflusses auf den Rechtsbegriff verleiht Bindings Voluntarismus einen für seine Zeit ungewöhnlichen Grad rechtspositivistischer „Reinheit“. So lehnt Binding konsequent jede überpositive Bestimmung des Rechtsinhalts oder des rechtlichen Geltungsanspruchs ab (2.). Durch seine voluntaristische Sichtweise umgeht er zudem zahlreiche metaphysische Prämissen der Historischen Rechtsschule (3.). Sein Rechtsbild wird letztlich in besonderer Weise die Zeit des Übergangs zu einer teleologisch ausgerichteteren Rechtswissenschaft versinnbildlichen: Bindings Konzeption ist eine Synthese aus formalem und teleologischem Rechtsdenken. 1. Programmatische Abschottung des Rechtsbegriffs gegenüber den Einflüssen anderer Fachwissenschaften Die weitgehende Außerachtlassung rechtstheoretischer Voraussetzungen wird sich als eines der großen Probleme der Binding-Rezeption erweisen. An diesem Umstand ist Binding selbst allerdings nicht unschuldig. Ohne die eigenen rechtstheoretischen Prämissen genauer zu beschreiben, setzt er ein sehr spezielles Rechtsbild voraus und beschränkt sich in der Auseinandersetzung mit konkurrierenden Ansichten nicht selten auf polemische Kommentare, ohne die unterschiedlichen Ausgangspunkte zu beschreiben. Die Selbstverständlichkeit, mit der Binding sein eigenes Rechtsbild zugrundelegt, behindert bis heute unter anderem die Diskussion zur Normentheorie.100
96 Binding, Handbuch, S. 197 sowie Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 243. Zur leicht missverständlichen Beschreibung dieses Gemeinwillens als „vernünftig“ siehe u. S. 57 ff. 97 Vgl. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 14. 98 Vgl. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 17. 99 Vgl. Binding, Handbuch, S. 198 f., Fn. 6. Binding zeigt sich dort als Anhänger der sog. „Gestattungstheorie“. Das Problem einer denkbaren Gegenläufigkeit von gleich verbindlichen Sätzen des Gewohnheitsrechts und des geschriebenen Rechts versteht er als Indiz einer falschen Auffassung vom zugrundeliegenden Willen des Rechts. Binding hält es daher für zwingend, von einem einheitlichen Willen auszugehen, der sowohl im Gewohnheitsrecht als auch im gesetzten Recht zum Ausdruck kommen soll; Recht werde schließlich erst von einem „staatlich organisirte[n] Gemeinwesen“ hervorgebracht. Die Bezeichnung des rechtserzeugenden Willens als Wille eben dieses staatlich organisierten Gemeinwesens hat gegenüber anderen bei Binding gebräuchlichen Formeln daher voraus, das einheitliche Subjekt der Gesetzgebung in Bindings Vorstellung verständlich zu machen. 100 Siehe dazu u. S. 148 f.
48
1. Teil: Bindings methodische Grundlagen
Dieser Linie entsprechend widmet Binding dem Problem des rechtserzeugenden „Willens“ als Voraussetzung jeder Rechtsgeltung keine eigenständigen Ausführungen. Die besondere Ausgestaltung dieses „Willens“ ergibt sich so vor allem durch eine negative Bestimmung, das heißt durch eine Analyse der zahlreichen kritischen Stellungnahmen Bindings, in denen er seine strikte Ablehnung direkter soziologischer oder philosophischer Einflüsse auf das Recht zum Ausdruck bringt. Auffällig in Bindings Stellungnahmen zu soziologischen oder philosophischen Einflüssen auf das Recht ist zunächst eine deutlich vernehmbare Wut, die aus zahlreichen seiner Werke spricht. Ein Beispiel unter vielen ist das Vorwort zum „Grundriß des Strafrechts“ in der siebten (1907) und achten (1913) Auflage. Der Text war ihm so wichtig, dass er ihn als erste seiner „Strafrechtliche[n] und strafprozessuale[n] Abhandlungen“ in die gleichnamige Zusammenstellung von 1915 aufnahm. Darin wirft er Vertretern konkurrierender rechtstheoretischer Sichtweisen, die soziologischen oder philosophischen Einflüssen offener gegenüberstehen, im Kern einen mangelnden Stolz auf die eigene Wissenschaft vor: „Als ,einseitiger Vertreter des Rechts und des Strafrechts insbesondere‘ übergebe ich meinen Hörern aufs neue diesen Grundriß des Strafrechts – [. . .] dazu [. . .] genötigt durch den Stolz auf meine Wissenschaft und ihren Gegenstand – wer kann des Stolzes auf den wunderbaren Bau der Rechtsordnung weniger entbehren, als der, der ihn so selten hat: der Mann des Rechts? – des weiteren durch meine Abneigung gegen alles dilettantische Treiben, das mir verächtlich wird, wenn es sich aufbläht und mit der Anmaßung verbindet. Ich bin Lehrer des Strafrechts, und als solcher will und darf ich nichts anderes lehren als eben Strafrecht. Mögen die Dilettanten und juristischen Apostaten die Rolle dieses Rechtsteils [. . .] auf das bescheidenste Maß zurückführen wollen: das Verbrechen und der Verbrecher – beide sind unsterblich, und eine Ahndung des Verbrechens wird es geben, solange die Welt steht! Das Verbrechen zu lehren samt seiner Rechtsfolge wird also stets eine große, scharf geschlossene Aufgabe der Rechtswissenschaft bleiben.“ 101
Diese Passage trägt die Besonderheiten des Bindingschen Rechtsdenkens bereits komprimiert in sich. Binding wähnt sich in einem Kampf gegen „dilettantisches Treiben“, gegen eine Form der „Anmaßung“, in der er einen Angriff auf sein Rechtsgebiet zu erkennen glaubt. Der ganze Streit ist zudem eng verbunden mit dem Berufsstolz des Juristen, den Binding verteidigen zu müssen glaubt. Wie noch zu sehen sein wird, lässt sich eine derartige Verbindung nicht nur bei Binding nachweisen. Ähnliches findet sich bereits in Bindings „Handbuch des Strafrechts“, das – 1885 erschienen – gleichzeitig die Kontinuität seines Meinungsbildes in diesem Punkt verdeutlicht: 101
Binding, Abhandlungen, Bd. 1, S. 3 f.
A. Bindings Rechtsverständnis
49
„Es ist ein Werk der Wissenschaft des positiven Rechts. In der Abhängigkeit meiner Forschung und ihrer Ergebnisse von dem Stoff meiner Betrachtung finde ich meinen Stolz. Wer diese Abhängigkeit als selbstverständlich bezeichnet, hat Recht: allein um so mehr muss die Wahrnehmung überraschen, wie vielen aprioristischen Theorien unsere Wissenschaft und fast noch mehr unsere Praxis sehr zum Nachteil für beide huldigt.“ 102 „In einer Zeit, wo so viele unerfreuliche Zeichen eine volle Renaissance des Naturrechts, also eine Abwendung der Wissenschaft vom positiven Rechte andeuten, wo andererseits selbst unter den Juristen die Neigung gross ist, die Jurisprudenz an alle möglichen anderen Wissenschaften ganz oder teilweise auszuliefern, wo es Mode geworden ist, die Terminologie der Naturwissenschaften wie der neueren Psychologie und Logik in juristischen Abhandlungen so glücklich zu verwenden, dass letztere dem praktischen Juristen grossenteils unverständlich werden, handelt es sich darum – unter Hochhaltung der vollen Selbständigkeit der Jurisprudenz –, für eine exacte Wissenschaft des positiven Rechts einerseits die volle Freiheit der Bewegung, andererseits von ihr das richtige Maß an Selbstbeschränkung zu verlangen.“ 103
Binding beschreibt nur scheinbar eine Selbstverständlichkeit, wenn er von einer Abhängigkeit der Jurisprudenz vom positiven Recht als Objekt ihrer Forschung schreibt. Es geht ihm weniger um die Darlegung des in der juristischen Methodenlehre mitunter als „rechtsintern“ beschriebenen Blickwinkels des Juristen;104 die wenigen radikalen Theorien, die auf ein Vernunft- oder Naturrecht zurückgreifen oder die Rechtswissenschaft insgesamt als soziologisches Thema begreifen wollen, hält er kaum für diskussionswürdig. Stattdessen ist ihm an der Abwehr subtilerer Einflüsse auf den Inhalt des Rechts gelegen. Binding propagiert nicht weniger als eine weitgehend konsequente juristische Methodenreinheit, die im zeitlichen Kontext aufkommender soziologischer und idealistischer Rechtstheorien eine Besonderheit darstellt. Soziologisch oder philosophisch geprägte Rechtsauffassungen bezeichnet Binding als „aprioristisch“ und im zweiten Zitat offen als „Naturrecht“. Aus seiner Perspektive setzen solche Theorien mit den Befunden fremder Wissenschaften – einerlei, ob der Soziologie, der Psychologie, der Philosophie oder sonstiger Fachrichtungen – dem positiven Recht etwas voraus und vollenden so einen Methodenbruch. Selbstverständlich können soziologische Einflüsse aber nicht im eigentlichen Sinne apriorische Sätze darstellen. Binding will verdeutlichen, dass derartige Voraussetzungen aller nach juristischer Methodik zulässigen Erkenntnisgewinnung vorausgehen. Aus Sicht des Rechts soll es sich um Annahmen a priori handeln.
102 103 104
Binding, Handbuch, S. VII. Binding, Handbuch, S. 6 f., Fn. 1. Vgl. etwa K. F. Röhl/H. C. Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 8.
50
1. Teil: Bindings methodische Grundlagen
Alle Sichtweisen, die das Recht als derartig „extern“ beeinflusst verstehen,105 bezeichnet Binding daher konsequent als „apriorisch“, „aprioristisch“ oder gar „naturrechtlich“. Der Vorwurf des „Naturrechts“ bezieht sich allerdings eher selten auf eine echte Anhängerschaft des kritisierten Autors zu klassischen Naturrechtslehren.106 Gemeint ist in der Regel eine naturrechtstypische Methodik, nämlich die Interpretation des positiven Rechts anhand eines Maßstabs, der seine Gültigkeit nicht selbst aus dem positiven Recht, sondern aus einer dem Recht vermeintlich vorgelagerten Instanz bezieht. Wie sehr Binding durch sein Plädoyer aus dem Rahmen der vorherrschenden rechtswissenschaftlichen Anschauungen seiner Zeit herausfällt, wird bei einem Blick auf die Ziele seines Vorwurfs schnell deutlich: Unter anderem wirft er Jhering,107 Thon,108 Bierling,109 Buri,110 Haelschner,111 Hold von Ferneck112 und 105 Vgl. Binding, Handbuch, S. 9 m. Fn. 5, in der eine entsprechende, gegenüber der Bindingschen „Naturrechts“-Polemik aber bedeutend klarer formulierte Verwahrung Glasers (Gesammelte Schriften, Bd. 1, S. 188) gegen einen „Anspruch der abstracten Philosophie auf eine unmittelbare Herrschaft innerhalb der Rechtswissenschaft“ ausdrücklich gelobt wird. 106 Hinsichtlich der „Modernen Schule“ des Strafrechts geht Binding allerdings zumindest von einer direkten Beeinflussung durch ältere philosophische Systeme aus. Entsprechend äußert er sich z. B. in seinem Handbuch, S. 7: „Die neueren relativen Theorien über Grund und Zweck der Strafe sind der Philosophie des Naturrechts entsprungen und die einander ablösenden philosophischen Systeme der grossen deutschen Denker bedeuten ebenso viele Perioden deutscher Strafrechtswissenschaft. Es wäre eine interessante Aufgabe der Dogmengeschichte das Maass dieser Abhängigkeit aufzuweisen“. Siehe daneben seine Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 101 zur Imperativentheorie: „Eine der ungesundesten Lehren des durch die historische Schule nur angeblich überwundenen Naturrechts ist neuerdings wieder in üppige Blüte geschossen.“ Ähnlich zum Determinismus in den Normen, Bd. 2,1, S. 456: „Der Satz [sc. über die Bedeutungslosigkeit des Determinismusstreits für die Jurisprudenz] erhält aber eine merkwürdige Beleuchtung durch die Beobachtung der Tatsache, wie grade durch das Wiederaufkommen der deterministischen Grundanschauung die Theorie immer weiter vom geltenden Recht weg und in die Arme des seine volle Renaissance feiernden Naturrechts getrieben wird und wie insbesondere unter dem Druck der Lehre von der menschlichen Unfreiheit die Schuld entschwindet.“ 107 Binding, Handbuch, S. 157, Fn. 8. Binding spricht hier die Imperativentheorie an, die er ebenfalls für ein Produkt naturrechtlicher Anschauungen hält, und rechnet Jhering korrekt dieser Denkrichtung zu. 108 Binding, Handbuch, S. 157, Fn. 8; Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 101 ff. (zur Imperativentheorie). 109 Binding, Handbuch, S. 157, Fn. 8; Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 101 ff. m. Fn. 3 (zur Imperativentheorie); Normen, Bd. 2,2, S. 1199 m. Fn. 15 (zum damals sog. Polizeiunrecht). 110 Binding, Normen, Bd. 3, S. 256 f. m. Fn. 11 (zur Beachtlichkeit des Rechtsirrtums). 111 Binding, Normen, Bd. 2,2, S. 1199 m. Fn. 15 (zum damals sog. Polizeiunrecht); Normen, Bd. 3, S. 256 f. m. Fn. 11 (zur Beachtlichkeit des Rechtsirrtums). 112 Binding, Normen, Bd. 2,1, S. 456 m. Fn. 2 (zur Imperativentheorie und ihrem Zusammenhang mit dem Determinismus).
A. Bindings Rechtsverständnis
51
verschiedentlich auch dem Reichsgericht113 eine „naturrechtliche“ Auffassung vor. Jedesmal geht es entweder um die Interpretation des Rechts im Lichte bestimmter philosophischer Theorien oder um eine von den neueren empirischen Wissenschaften beeinflusste Rechtsauffassung. So sei Jherings Verständnis des Verbrechens als „die von Seiten der Gesetzgebung constatirte nur durch Strafe abzuwehrende Gefährdung der Lebensbedingungen der Gesellschaft“ 114 allenfalls „für den Soziologen, nicht für den Juristen“ brauchbar.115 Auf die häufige Formalismus-Kritik an Bindings Postulat, jedes Verbrechen enthalte in seinem Kern eine Normverletzung im Sinne einfachen Ungehorsams, reagiert er ähnlich: Möge „der Soziolog [sic] die Dinge mit seinem Auge sehen – dem Juristen ist die Unbotmässigkeit ein unentbehrliches Merkmal dessen, was für ihn allein Verbrechen ist.“ 116 Auch gegenüber der Philosophie besteht Binding auf eine strikte Abschottung der Jurisprudenz. Es sei „ebenso unerträglich, wenn seine [sc. des „exacten Forschers“] dem positiven Rechte abgerungenen Wahrheiten als Ausflüsse einer apriorischen Philosophie getadelt werden, als wenn man ihm zumutet, Folgerungen bestimmter philosophischer Anschauungen oder Ausgeburten der Rechtsphantasie als Rechtssätze zu behandeln.“ 117 Angesichts der etwas polemischen Verallgemeinerung der kritisierten Autoren als „Naturrechtler“ überrascht es kaum, wenn M. E. Mayer ihm 1907 vorwirft, er kämpfe gegen „Gespenster“.118 Ohne jeden Versuch einer Erklärung oder Konkretisierung seiner Kritik verwahrt sich Binding dagegen und fügt an, er habe „[i]nsbesondere [. . .] den Kritiker selbst nie für ein Gespenst gehalten“.119 Mit dieser Anmerkung sollten verbliebene Zweifel an der Art des Bindingschen „Naturrechts“-Vorwurfs beseitigt sein: Offenkundig spielt Binding auf die Kulturnormentheorie M. E. Mayers an, deren positivistische Grundhaltung nicht sinnvoll in Frage gestellt werden kann. Der Vorwurf passt indes genau in das vorgestellte Schema: Mit der Einbeziehung von Kulturnormen öffnet M. E. Mayer das Recht für soziologische Phänomene, betreibt also im Sinne der Polemik Bindings „Naturrecht“. Insgesamt geht es Binding negativ um einen Kampf gegen das „Naturrecht“ in Form von zumeist soziologischen oder philosophischen Rechtsverständnissen 113 Binding, Normen, Bd. 3, S. 334 f. m. Fn. 2–5 (zur Beachtlichkeit des Rechtsirrtums). 114 Jhering, Zweck im Recht, Bd. 1, 2. Aufl. 1884, S. 490 f.; Hervorhebungen aus dem Original nicht übernommen. 115 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 339, Fn. 1. 116 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 365 f., Fn. 1. 117 Binding, Handbuch, S. 6. 118 M. E. Mayer, ZStW 27 (1907), S. 759 (760). 119 Binding, Abhandlungen, Bd. 1, S. 3 i. d. Fn.
52
1. Teil: Bindings methodische Grundlagen
und positiv um die Selbständigkeit der Jurisprudenz als ein weitgehend geschlossenes System. Ihre Methodenreinheit und damit zusammenhängend auch die Bestimmung ihres Forschungsobjekts ohne direkte Einflüsse anderer Wissenschaften hält Binding – in diesem Punkt Kelsen nicht unähnlich – für eine Grundbedingung der Wissenschaftlichkeit der Jurisprudenz. Freilich behandelt Binding damit ein Problem des Rechtsbegriffs fast ausschließlich auf der Ebene der juristischen Methodenlehre: Den Ausschluss aller direkten Einflüsse anderer Fachwissenschaften denkt Binding im Begriff des „positiven Rechts“ bereits mit. Schon an diesem Punkt kann festgehalten werden, dass Binding sehr bewusst eine juristische Methodenreinheit einforderte. Pawlik spricht in diesem Zusammenhang zurecht von „geradezu exorzistische[n] Züge[n]“ Bindings.120 Am Beispiel des Kommentars M. E. Mayers wird deutlich, dass er damit auch nach zeitgenössischer Sicht aus dem Rahmen fiel. Wie noch im Einzelnen auszuführen sein wird, sah sich Binding selbst zeit seines Lebens als Teilnehmer eines umfassenden juristischen Grundlagenstreits, der bereits seit Überwindung des dualistischen Rechtsverständnisses kontinuierlich geführt worden sei. Für ihn gehen Auseinandersetzungen um soziologische Theorien im Anschluss an Jhering bis hin zur „Interessenjurisprudenz“ in dieser älteren Auseinandersetzung um den richtigen Rechtsbegriff auf. Daher ist es nur scheinbar eine Selbstverständlichkeit, wenn Binding schreibt, es gebe „keine Jurisprudenz, die etwas anderes wäre als Wissenschaft des positiven Rechtes.“ 121 Tatsächlich handelt es sich um eine Forderung nach konsequenter Methodenreinheit. 2. Ideale als Maßstab oder Geltungsgrund des Rechts Zu Recht wird Kant attestiert, er habe mit seiner Darlegung des Sein-SollenFehlschlusses dem Naturrecht für den deutschen Rechtsraum den Todesstoß versetzt.122 Bekanntlich nahm er dies aber zum Anlass, ein anderes überpositives Recht zu entwerfen, das sich a priori aus der Vernunft des Menschen speisen sollte und in dessen Zentrum der kategorische Imperativ stehen sollte.123
120
Pawlik, Unrecht, S. 34. Binding, Handbuch, S. 9. 122 Siehe die berühmte Stelle bei Kant, Kritik der reinen Vernunft, AA 3, S. 371: „Das Sollen drückt eine Art von Nothwendigkeit und Verknüpfung mit Gründen aus, die in der ganzen Natur sonst nicht vorkommt. Der Verstand kann von dieser nur erkennen, was da ist oder gewesen ist oder sein wird. Es ist unmöglich, daß etwas darin anders sein soll, als es in allen diesen Zeitverhältnissen in der That ist, ja das Sollen, wenn man bloß den Lauf der Natur vor Augen hat, hat ganz und gar keine Bedeutung.“ Ähnliches war zuvor allerdings schon bei Hume, A Treatise of Human Nature, Buch 3, Teil 1, Kap. 1 (S. 469 f.) zu lesen, weshalb der Gedanke auch als „Humesches Gesetz“ bezeichnet wird. 123 Siehe etwa Kant, Metaphysik der Sitten, AA 6, S. 226. 121
A. Bindings Rechtsverständnis
53
Als Rechtserkenntnisquelle trat dieses Vernunftrecht allerdings nicht mehr in Erscheinung. Schon die Historische Rechtsschule betrachtete nur noch das positive Recht als ihr Forschungsobjekt – wenngleich in einer stark philosophisch geprägten Betrachtungsweise, die das Recht als „organisches Ganzes“ betrachtete, ihm eine inhärente Vernunft beimaß und diese in einem sich notwendig zum „Guten“ oder „Richtigen“ bewegenden „Volksgeist“ begründet sah. So diente ein Natur- oder Vernunftrecht zwar noch lange und vielfach als Vorbild des positiven Rechts, als Beispiel für eine inhaltlich wünschenswerte oder gar „richtige“ Gesetzgebung – kurzum: als Rechtserzeugungs- oder Rechtswertungsquelle. Am Befund einer kategorialen Trennung der Sphären des Rechts und der Moral schon früh im 19. Jahrhundert ändert das jedoch nichts.124 Für Binding, dessen hauptsächliche Schaffenszeit in das späte 19. Jahrhundert fällt, ist diese Trennung bereits eine Selbstverständlichkeit. Mit seiner Feststellung, man bezeichne „[d]ie Rechtsnorm [. . .] im Gegensatz zum Sittengesetz mit gutem Grund als ,heteronomes Gesetz‘ für den Rechtsgenossen“,125 knüpft er terminologisch in seiner Beschreibung des Verhältnisses von Moral und Recht an den erwähnten Kant an. Bei Kant zeichnet sich das „juridische“ Gebot dadurch aus, dass es zu seiner Befolgung gerade nicht auf einen mit den Geboten der Sittlichkeit übereinstimmenden Willen ankommt. Die „Triebfeder“ des Menschen muss danach also nicht in einem inneren Anerkenntnis der Richtigkeit der befolgten Norm liegen.126 Entsprechend fordert das Recht auch bei Binding „unter allen Umständen Befolgung ebenso von dem mit seinem Inhalte der Satzung Nichteinverstandenen, als von dem Anarchisten, der jeder rechtlichen Bindung überhaupt widerstrebt.“ 127 Jedoch – darauf legt Binding Wert – dürfe „die Eigenschaft der Heteronomie nicht [. . .] übertrieben werden.“ 128 Häufig würden nur ohnehin in der Gemeinschaft verwurzelte Gebräuche normiert oder allgemeinen Gerechtigkeitsüberzeugungen Ausdruck im Gesetz verliehen.129 Dann – nur dann – werde das Recht „zugleich autonom; sie [sc. die Rechtsgenossen] begreifen, ehren und befolgen es als vernünftige Regelung des Gemeinlebens.“ 130 In diesem Fall ist der Inhalt des Rechts also zugleich Inhalt der Moral oder Sitte.131 Die Verbindung von Rechts- und Sittenordnung geht aber nicht über einen Einfluss auf die Motivation 124
Siehe dazu genauer Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 194 ff., 204 ff. m.w. N. Binding, Normen, Bd. 2,1, S. 226. 126 Vgl. Kant, Metaphysik der Sitten, AA 6, S. 214, 219 f.; weiterführend dazu W. Kersting, Recht, Gerechtigkeit und demokratische Tugend, S. 24 ff. 127 Binding, Normen, Bd. 2,1, S. 226. 128 Binding, Normen, Bd. 2,1, S. 226. 129 Binding, Normen, Bd. 2,1, S. 226. 130 Binding, Normen, Bd. 2,1, S. 226. 131 Binding, Normen, Bd. 2,1, S. 226 f. 125
54
1. Teil: Bindings methodische Grundlagen
der Gesetzgebung hinaus. Sitte und Moral bleiben daher kategorial vom Recht getrennt. Diese Trennung wird beispielsweise in Bindings Vorsatzkonzeption deutlich. Hier stellt er klar, dass von Vorsatz im juristischen Sinn nur die Rede sein könne, insoweit jemand das Gebot als juristisches erkannt habe. Allein das sittlich-autonome Nachvollziehen des Gebots vermöge bei einer Zuwiderhandlung also keinen Vorsatz zu begründen:132 „In diesen Fällen [sc. einer Übereinstimmung von Sitten- und Rechtsnorm] ist es juristisch hochbedeutsam, ob der Rechtsgenosse seine Gebundenheit nur als eine sittliche oder zugleich als eine rechtliche erkennt. Denn nur unter der letzten Voraussetzung ist es für ihn möglich einzusehen, dass er im Begriff ist sich über eine ihn unbedingt bindende Pflicht, eine Rechtspflicht, wegzusetzen. [. . .] Grade weil die Verletzung der Rechtspflicht allein Auflehnung gegen einen höheren Willen, also gegen dessen Träger ist, stellt sie allein die Machtfrage, und findet in diesem Träger des höheren Willens denjenigen, der die Antwort darauf zu geben hat, und sie nur dadurch geben kann, dass er durch Unterwerfung des Pflichtwidrigen unter seinen Willen diesen als den mächtigeren, autoritativen erweist.“ 133
Überschneidungen zwischen rechtlichem und sittlichem Gebot sind also begründet durch die häufige Normierung von Sittengeboten. Übereinstimmungen mit dem Sittengesetz sind dem Recht nicht wesentlich, sondern basieren ausschließlich auf der regelmäßigen gesetzgeberischen Motivation. Wenig überraschend entfernt sich Binding damit zum einen weit von der Konzeption Kants. Zum anderen grenzt er sich mit dieser Sichtweise aber auch von den Versuchen einiger seiner Zeitgenossen ab, das Sittengesetz in der einen oder anderen Form wieder zum Maßstab des Rechts zu erklären. Dasselbe gilt für alle Konzepte, die das Recht einem Ideal nachstreben lassen, jenes zum Maßstab der Auslegung oder zum Geltungsgrund erheben. Versuche, Binding ein in diesem Sinne idealistisches Rechtsbild zuzuordnen,134 lassen sich durch Bindings eigene Beschreibung des Verhältnisses von Recht und philosophischen Idealen entkräften: „Es giebt vor Entstehung der Rechtsnormen keine den Einzelnen nach Art des Rechts bindende Normen – weder der Religion, noch der Sittlichkeit, noch viel weniger der Konvention oder der Verkehrssitte. [. . .] Es ist eine unwürdige Erniedrigung des Rechts durch den Juristen, wenn er dessen Dasein einer weiteren ,Rechtfertigung‘ für bedürftig hält, als derjenigen, die der Gemeinwille selbst aus dem frei erkannten Bedürfniss der Gemeinschaftsregelung entnimmt.“ 135
132 Zu Bindings Konzeption des Vorsatzes, den er als bewusste Rechtsverletzung sieht, sowie dem damit verbundenen Problem des Rechtsirrtums siehe u. S. 72 ff., 125 ff. 133 Binding, Normen, Bd. 2,1, S. 227 f. 134 So einheitlich für die objektive Auslegungstheorie Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 346. 135 Binding, Normen, Bd. 2,1, S. 269.
A. Bindings Rechtsverständnis
55
Die in der Literatur zum Beleg eines „nicht voraussetzungslosen“ 136 Rechtsverständnisses Bindings erhobene Stelle, in der Binding das Recht als dazu bestimmt bezeichnet, „die menschliche Freiheit in höchst möglichem Umfange sicher zu stellen“,137 steht hierzu nur in scheinbarem Widerspruch. Dieses an die kantische Vorstellung einer Ordnung der menschlichen Gesellschaft zur allseitigen Freiheitssicherung angelehnte Rechtsverständnis entspricht voll und ganz dem liberalen Zeitgeist des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Allerdings ist durch die Anlehnung noch nichts über etwaige rechtstheoretische Konsequenzen ausgesagt. Die Frage, ob sich diese Sichtweise praktisch im Sinne einer Mitbestimmung des geltenden Rechts auswirkt oder allenfalls ein Argument zur Kritik geltenden Rechts liefert, ist jedenfalls für Binding schnell beantwortet: Die erwähnte zeittypische Bestimmung des Rechts ist ihm kaum mehr als ein Allgemeinplatz. Bereits der Rest des Satzes verdeutlicht dies: Recht könne aufgrund des allgemeinen Zwecks der Freiheitssicherung „nicht Selbstzweck sondern nur Mittel zum Zweck sein.“ 138 Lediglich zwecklose Vorschriften, geschaffen nur um des damit geprüften Gehorsams willen, bezeichnet Binding als „unwürdig“.139 Nicht einmal, ob Binding zwecklose Vorschriften wirklich außerhalb des Rechtsbegriffs sieht, wird damit letztlich deutlich; der Gedanke solcher Vorschriften scheint ihm nicht weniger absurd, als er heutigen Juristen schiene. Die einzige sichere Konsequenz der wiedergegebenen Wendung Bindings beschränkt sich auf die Annahme, das Recht verfolge stets einen – irgendeinen – Zweck. Die von Binding als Bestimmung des Rechts angenommene Freiheitssicherung ist daher nicht als Axiom, sondern letztlich nicht anders zu verstehen als ein zuweilen präsumiertes Gerechtigkeitsstreben des Rechts. Es handelt sich nicht um eine Rechtsidee im klassisch-idealistischen Sinne; eine auch nur teilweise Entwicklung des Rechts aus dem Gerechtigkeits- oder Freiheitsgedanken ist für ihn undenkbar. Spricht Binding im Rahmen der Auslegung von Gerechtigkeit oder Freiheitssicherung, so gehen diese Begriffe zum Teil in der allgemeinen Zwecksetzung des jeweils interpretierten Rechts auf: Das Objekt der Auslegung wird seiner eigenen Vorstellung von Gerechtigkeit oder Freiheitsgewährung entsprechend ausgelegt, die im jeweilig ausgelegten Rechtssatz zum Ausdruck gebracht wird.140 Eine eigenständige Wirkung bestimmter Gerechtigkeits- oder Freiheitsvorstellungen auf das Recht lässt sich darin nicht sehen. 136 So Armin Kaufmann, Normentheorie, S. 279. In diesem Sinne auch E. Schmidt, Strafrechtspflege, S. 309 f.; Welzel, DtLitZ 1938, Sp. 679 (681) sowie H. Mayer, AT, S. 35, Fn. 38, dem allerdings zuzugeben ist, dass Binding „ohne das starke Vertrauen zur Gerechtigkeit des damaligen Staates“ phasenweise kaum zu verstehen ist. 137 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 52. 138 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 52. 139 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 52. 140 Siehe als zwei von nur wenigen Beispielen Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 175: „Ueber das Maass des erforderlichen, also gerechten Strafzwangs ent-
56
1. Teil: Bindings methodische Grundlagen
Im Übrigen beschränkt sich die Bedeutung dieser Ideale auf besonders naheliegende Präsumtionen bei der Ermittlung des Rechtswillens, die in der Auslegungsarbeit Bindings kaum einmal eine Rolle spielen. Die Darstellung der freiheitssichernden Funktion des Rechts dient ihm also ausschließlich zur Herleitung einer Zweckverfolgung überhaupt, einer wesentlichen Sinnhaftigkeit des Rechts. Dies wirkt sich allenfalls hintergründig bei der Unterstellung objektiver Rechtszwecke aus und bleibt ansonsten bei der Auslegung des Rechts unberücksichtigt. Die Gerechtigkeitspräsumtion nutzt Binding nur, wenn eine Auslegungsalternative auf ein offensichtlich ungerechtes Ergebnis hinausliefe. Zwar werden immer dann, wenn das angeführte Gerechtigkeitsideal nicht lediglich im Sinne rechtseigener Gerechtigkeitsvorstellungen zu verstehen ist, tatsächlich Gerechtigkeitsvorstellungen des Interpreten an das Recht herangetragen – ein Methodenbruch im Hinblick auf Bindings Vorstellung rechtlicher Autonomie. Es handelt sich aber ausschließlich um Fälle, in denen Gerechtigkeitserfordernisse extrem deutlich zutage treten, etwa bei drohenden Verstößen gegen das Schuldprinzip.141 In diesen Situationen glaubt Binding, ein Mindestmaß an Gerechtigkeitsstreben des Rechts unterstellen zu dürfen. Man wird kaum zuviel behaupten, wenn man der heutigen Rechtswissenschaft in derartigen Fällen ein ähnliches Vorgehen attestierte. Eine darauf gestützte Bezeichnung der Rechtsauffassung Bindings als idealistisch vermittelte somit ein falsches Bild. Eine Vorgehensweise, die dem Recht apriorisch ein philosophisches Ideal zugrundeläge, widerspräche zudem schroff einer äußeren Abschottung des Rechtsbegriffs, wie sie Binding in all seinen größeren Werken betreibt. Er scheint auch nicht zu glauben, dass sich feste überpositive Maßstäbe überhaupt entwickeln ließen und gibt sich in dieser Hinsicht offen resigniert: „[H]inter Verbot und Gebot beginnt [. . .] für den, der nach der Rechtswidrigkeit sucht, tiefster undurchdringlicher Nebel.“ 142
scheidet allein der Staat ohne Konkurrenz des Gesetzesverächters.“; ebd., S. 178: „Er [sc. der Staat] greift zum neuen Strafgesetze, wenn die Waffe des alten zu scharf, zu stumpf oder zu kurz war. Das neue Gesetz ist besser, seiner Meinung nach gerechter: die neue Waffe tauglicher den Schuldigen energisch und doch maassvoll zu treffen.“ In der Regel spricht Binding von „Gerechtigkeit“ im Rahmen Gesetzeskritik und meint hier (methodisch unverfänglich) eine absolute Gerechtigkeit, deren stets nur mangelhafte Erkennbarkeit er freilich einräumt. 141 Siehe etwa Binding, Handbuch, S. 214: „Es liegt im Wesen des Rechts und der Gerechtigkeit, die gleichartigen Lebenserscheinungen gleichmässig behandeln zu wollen.“ u. S. 259: „Es griffe ja sonst die Ungerechtigkeit Platz, dass der Teil der Uebertreter, der sich glücklich über den Tag jener Endschaft [sc. eines Strafgesetzes] hinaus der Justiz entzogen hat, trotz anerkannter Strafwürdigkeit seiner Handlung straflos ausginge, während der andere Teil, der genau das gleiche getan, eine Strafe dulden müsste.“; ferner die Normen, Bd. 2,1, S. 195: „Das wäre üble Gerechtigkeit, Jemandem eine von ihm verübte Widerrechtlichkeit ohne Weitres zur Schuld zuzurechnen, weil wir ihn für ,handlungsfähig im Allgemeinen‘ ansehen.“ 142 Binding, Normen, Bd. 2,1, S. 161.
A. Bindings Rechtsverständnis
57
Entsprechend äußert er sich auch zur mit seinem Rechtsverständnis problemlos vereinbaren Nutzung von Gerechtigkeits- oder Freiheitsidealen in der Gesetzeskritik, die zwingend fehlerbehaftet sei und sein müsse: „Vor ihrem [sc. der Wissenschaft] Tadel [sc. einer ungerechten Regelung] aber sei sie eingedenk der Tatsache, dass das Vollkommene die Menschenkraft übersteigt, und der Gerechtigkeit nur in der Unendlichkeit der volle Sieg winkt; starke Abweichungen von ihr müssen, weil unvermeidlich, ertragen werden.“ 143
Festhalten lässt sich letztlich, dass der Rechtspositivismus Bindings weder eine Gerechtigkeitsvorstellung noch eine größtmögliche Freiheitsgewährung des Rechts zur notwendigen Voraussetzung hat. Das Recht bliebe für ihn auch in ungerechten oder mit zweifelhaften Zwecken versehenen Teilen verbindlich, solange es sich auf den Willen des staatlich organisierten Gemeinwesens zurückführen ließe. Die zitierte Stelle aus Bindings „Normen“, in der das Recht als dazu bestimmt bezeichnet wird, „die menschliche Freiheit in höchst möglichem Umfange sicher zu stellen“,144 erweist sich bei näherem Hinsehen als banal: Nicht etwa im Rahmen einer allgemeinen Wesensbestimmung des Rechts, sondern beiläufig im Rahmen der Zweckermittlung von Verboten zieht Binding aus der Bestimmung des Rechts zur größtmöglichen Freiheitsgewährung den wenig spektakulären Schluss, dass es dem Recht jedenfalls nicht um eine reine Gehorsamsübung gehe, die Freiheitsbeschränkung also nicht um ihrer selbst Willen eingeführt sein könne. Die teilweise anzutreffende Einordnung des Bindingschen Rechtsverständnisses als idealistisch ist daher etwas vorschnell. Sicherlich ist Binding rhetorisch noch der älteren, durchaus idealistischen Konzeption verhangen.145 Belege für inhaltliche Auswirkungen dieses Denkens in Bindings Schriften sind jedoch spärlich. Sein „Idealismus“ beschränkt sich auf die Annahme eines Gerechtigkeitsstrebens des Rechts in Fällen, in denen die Erfordernisse an eine gerechte Lösung besonders klar vor Augen treten. Die Präsumtion einer Sinnhaftigkeit des Rechts überhaupt aber darf mit einer klassisch-idealistischen Grundanschauung nur dann identifiziert werden, wenn man auch heutigen Rechtskonzeptionen ein solches Etikett anhängen wollte. 3. Vernunft und Teleologie des Rechts Das Recht strebt nach der Sichtweise Bindings also nicht wesentlich einem philosophischen Ideal nach und ist frei von unmittelbaren Einflüssen der empirischen Wissenschaften. Wie in seiner Einordnung des Sittengesetzes deutlich 143
Binding, Handbuch, S. 33. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 52. 145 E. Schmidt, Strafrechtspflege, S. 304 stellt insofern richtig fest, Binding trage „durchaus das Gepräge des mittleren 19. Jahrhunderts.“ 144
58
1. Teil: Bindings methodische Grundlagen
wurde, gilt dies auch für ein Ideal der „Vernunft“. So warnt Binding beispielsweise davor, die Tauglichkeit aufgestellter Rechtsprinzipien für Analogiehypothesen von ihrer „Vernünftigkeit“ abhängig zu machen: „Ob das Princip vernünftig oder unvernünftig ist, darauf kommt nichts an. Die Analogie kann gegenüber inhaltlich verfehlten Rechtssätzen gerade so Platz greifen müssen, wie gegenüber der verständigsten Bestimmung. Nicht Vernunft-Recht, sondern Recht soll gefunden werden.“ 146
Analogien sollen also unabhängig von der Vernünftigkeit des Ergebnisses dann gezogen werden, wenn ihre rechtstechnischen Voraussetzungen vorliegen. „Vernunft“ wird hier als überpositiver Maßstab verstanden, dessen Zugrundelegung in einem „Vernunftrecht“ münden müsste. Die Ablehnung einer so verstandenen Vernunft als juristischer Maßstab findet sich aber bereits in der überzeugungsbasierten Sichtweise der Historischen Schule.147 Davon zu unterscheiden ist die innere „Vernunft“ des Rechts, seine Wahrnehmung als ein sinnhaftes, in sich logisches Ganzes. Auch diese Art von Vernunft war prägendes Merkmal des Rechtsverständnisses der Historischen Schule. Trotz seiner voluntaristischen Sichtweise zeigt sich Binding diesem alten Rechtsbild verhaftet: „Diesem auf das Ganze des Rechts gewandten Blicke zeigt sich bald, dass [. . .] ein Rechtsprincip vielleicht im Gesetze nur zu einem Teile entwickelt wird, neben diesen Folgesätzen aber Bestimmungen auftauchen, die jenem Grundsatze widersprechen. Dieser Bruch mit der Logik ist nicht lediglich zu constatiren, sondern bedarf vernünftiger Erklärung. Die Wahrnehmung aber, dass Rechtsbegriffe oder Rechtsgrundsätze eine Entwicklung in ihre Consequenzen zulassen, wird besonders dann bedeutsam, wenn das positive Recht jene Folgerungen aus seinem Begriffe oder seinem Satze nicht ausdrücklich oder nicht vollständig oder nicht genau oder in zweifelhaftem Ausdrucke zieht. Dann liegt es nah, durch das logische Verfahren der Consequenz Lücken des Gesetzes auszufüllen und die Fehler seines Ausdruckes, nicht aber die seines Willens zu berichtigen. Der ungenaue Beobachter gewinnt dabei leicht den Eindruck, es sollten in das Recht Begriffe und Regeln eingeschwärzt werden, die der Sanction148 ermangelten. Ist aber der Ausgangspunkt wirklich – wie erfordert – positiven Rechtens, so bedeutet eben die Aufnahme eines Begriffes oder Grundsatzes in dasselbe zugleich die Sanction seiner Consequenzen: denn diese liegen ja – nur anfangs vielleicht latent – in ihm. Damit ist nicht gesagt, dass alle Rechtssätze dergestalt entwickelt, noch auch, dass sie alle bis in die äussersten Consequenzen hinein entwickelt werden dürften. Wenn zwei Rechtssätze convergiren, so kommt ein Punkt, wo die Consequenzen beider feindlich auf einander treffen, und dann ist es quaestio facti, ob eines der beiden Verfahren und welches weiter geführt werden darf, d. h. 146
Binding, Handbuch, S. 215, Fn. 7. Vgl. Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 276. 148 „Sanction“ ist in diesem Zusammenhang zu verstehen als Sanktionierung eines Rechtsgedankens im Rechtswillen. Die sog. Sanktionstheorie, nach der leges imperfectae keine selbständigen Rechtssätze sein sollen, lehnt Binding strikt ab. Siehe dazu u. S. 79 ff. 147
A. Bindings Rechtsverständnis
59
welcher von beiden Rechtsgrundsätzen überwiegt. Dagegen darf an der Berechtigung der Wissenschaft, jenes Verfahren überhaupt zur Ausfüllung von Lücken und zur Beseitigung von Mängeln zu benutzen, und darf an der Positivrechtlichkeit seiner Ergebnisse, soweit es correct und zulässig ist, nicht gezweifelt werden.“ 149
Selten wird das Verfahren der „Lückenfüllung“ durch logische Fortführung der im Recht angelegten Gedanken so bündig und samt seiner Voraussetzungen beschrieben. Ganz offenkundig basiert auch das Rechtsdenken Bindings auf der Arbeit mit induzierten Prinzipien, mittels derer „latentes“ Recht aufgefunden werden soll. Das erinnert zunächst an das Rechtsbild der Historischen Rechtsschule, von dem er sich allerdings letztlich maßgeblich unterscheidet. So stehen die metaphysischen Annahmen über das Recht durch Bindings voluntaristische Grundkonzeption unter neuen Vorzeichen. Beispielsweise sucht man Hinweise auf einen in irgendeiner Form notwendigen Verlauf der Dinge bei Binding vergebens. Das Recht bewegt sich durch keinerlei metaphysisch vorausgesetzten Prozess notwendig auf das „Gute“ oder „Richtige“ zu. Recht ist stattdessen vom Willen des staatlich organisierten Gemeinwesens150 als einziger Rechtsquelle abhängig – und damit wesentlich willkürlich. Der Inhalt des Rechts ergibt sich ausschließlich aus den derzeitigen Bedürfnissen der Rechtsquelle. Diese können kultureller, wirtschaftlicher, religiöser oder sonstiger Natur sein und können den Vorgaben der praktischen Vernunft oder der Gerechtigkeit daher auch widersprechen: „[W]eder haben die Normen in der Geschichte sich als unveränderlich bewährt, noch giebt es ausnahmelose Verbote und Gebote, noch ist endlich auch nur das Verhältniss von Regel und Ausnahme stabil geblieben. [. . .] Unter gewissen Voraussetzungen bedarf die Rechtsordnung also derselben Handlungen, die sie unter anderen Voraussetzungen verbietet, oder sie gestattet sie wenigstens.“ 151 „Es fehlt in der Rechtsgeschichte nicht an zahlreichen unnützen, ja an der Rechtsordnung schädlichen, weil der Gerechtigkeit in der Behandlung der Untertanen widersprechenden oder durch und durch kulturfeindlichen Ver- und Geboten. [. . .] Niemand hat jedoch gewagt, die Rechtsverbindlichkeit solcher – darf ich einmal sagen – rechtsunvernünftiger und kulturfeindlicher Normen zu leugnen. Wer vermag aber die Grenze zwischen Rechtsvernunft und Rechtsunvernunft mit Sicherheit zu ziehen [. . .]?“ 152
Auch die Möglichkeit, etwa im Sinne der Hegelschen Geschichtsphilosophie hinter den scheinbaren historischen Zufälligkeiten dennoch eine innere Notwendigkeit des Geschichtsverlaufs, eine absolute Vernunft zu vermuten, greift Bin149 Binding, Handbuch, S. 10 f.; vgl. dazu etwa Puchta, Pandekten, 3. Aufl. 1845, S. 25 f. 150 Vgl. Binding, Handbuch, S. 198 f., Fn. 6. 151 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 129; Hervorhebung aus dem Original nicht übernommen. 152 Binding, Normen, Bd. 2,1, S. 156.
60
1. Teil: Bindings methodische Grundlagen
ding nicht auf. In den seltenen Stellen, an denen er sich überhaupt zur Hegelschen Dialektik äußert, lehnt er sie ab.153 Allgemein spricht er sich deutlich gegen die Herleitung des Rechts aus einem bestimmten Weltbild aus.154 Dementsprechend ist der Gedanke einer wissenschaftlichen Ermittlung von im eigentlichen Sinne neuem Recht für Binding nicht mehr nachvollziehbar. Alles im Rahmen logischer Arbeit freigelegte Recht war für ihn bereits vorhanden, im rechtserzeugenden Willen „latent“ angelegt. Die Wissenschaft stellt Recht danach nicht her, sondern dar – wenngleich die Ermittlung mitunter sehr komplizierte Wege nehmen darf und muss. Ein bedeutender Unterschied zur Historischen Rechtsschule besteht schließlich in einer spürbaren Öffnung des Rechts gegenüber teleologischen Sichtweisen. Auch hier ist die Begründung in der voluntaristischen Rechtsauffassung Bindings zu suchen. So zielt der rechtserzeugende Wille des staatlich organisierten Gemeinwesens155 letztlich auf eine Ordnung der menschlichen Verhältnisse, einen friedensstiftenden Ausgleich zwischen den Menschen. Mit diesem Gedanken verknüpft Binding die innere Verbundenheit und Logik ebenso wie die Zweckbezogenheit des Rechts: „Alle Rechtssätze sind bestimmt, zwischen ihrem Grund und ihrem Zweck zu vermitteln. In dieser ihrer Aufgabe liegt ihre Vernunftberechtigung. [. . .] Nun liegt aber im Begriff der Ordnung der der Vernünftigkeit. Eine Wissenschaft der Ordnung des Menschengeschlechts kann nicht darauf verzichten, diese in ihrer Vernünftigkeit zu begreifen und auf ihre Zweckmäßigkeit zu prüfen.“ 156
Der zugrundeliegende Wille zielt also auf eine „vernünftige“ Ordnung; „vernünftig“ nicht im Sinne eines philosophisch festgelegten Inhalts, sondern im Sinne eines sinnhaften und in sich logischen Gesamtsystems, das den Erfordernissen einer überpositiven Vernunft prinzipiell auch zuwiderlaufen kann. Vielsagend spricht Binding statt von der „Vernunft“ teilweise synonym auch von der „Psychologie“ des Rechts.157 Diese Vernunft des Rechts liegt für Binding in seiner Ordnungsfunktion begründet, ist also Wesensmerkmal des Rechts.
153 Siehe bspw. Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 240: „Wer nun wie Hegel drei Arten des Unrechts aufstellt und die Strafe aus dem Verbrechen mit dialektischer Notwendigkeit folgen lässt, kann nicht anders als das strafbare Unrecht von dem nicht strafbaren begrifflich aufs Schärfste scheiden. Diesem Zwange aber sind wir noch nicht verfallen.“ Vgl. E. Schmidt, Strafrechtspflege, S. 305, der richtig feststellt, Binding habe „zur Hegelschen Philosophie [. . .] keinen Zugang gefunden.“ 154 Siehe Binding, Normen, Bd. 2,1, S. 69. 155 Vgl. Binding, Handbuch, S. 198 f., Fn. 6. 156 Binding, Handbuch, S. 13. 157 So spricht Binding, Normen, Bd. 3, S. 518 von der „esoterischen Vernunft des Rechts“, während er in seinen Normen, Bd. 2,1, S. 3 ff. das Gemeinte als „esoterische Psychologie“ bezeichnet. Zur „esoterischen Psychologie des Rechts“ insgesamt siehe u. S. 66 ff.
A. Bindings Rechtsverständnis
61
Insgesamt vermeidet Binding damit einige metaphysischen Anleihen der Historischen Rechtsschule: Das Recht gilt, weil und soweit es vom staatlich organisierten Gemeinwesen158 gewollt ist. Es folgt nicht wesensmäßig einem Ideal, obwohl ein bei der Rechtssetzung regelmäßig zugrundeliegender Gerechtigkeitsgedanke besonders für das 19. Jahrhundert eine Selbstverständlichkeit darstellt und daher in Form einer Präsumtion zuweilen auch in der Auslegung gebraucht wird.159 Trotz Bindings vehementem Ausschluss aller unmittelbaren soziologischen oder philosophischen Einflüsse lebt aber letztlich auch sein Bild eines sinnhaften, gegenüber empirischen Zwecken offenen und innerlich verbundenen Rechts von bestimmten wissenschaftstheoretischen Voraussetzungen, die Binding mit Ausnahme seines Verweises auf die Ordnungsfunktion des Rechts aber unerklärt lässt. Binding setzt die Fähigkeit des Interpreten voraus, ein als eigenständig, vernünftig und zweckbezogen gedachtes Rechtssystem auf wissenschaftlich redlichem Wege erkennen zu können, ohne subjektive Einschätzungen beimischen zu müssen. Diese Prämisse Bindings ist jedoch nicht etwa das Ergebnis einer metaphysisch-idealistischen Sichtweise des Rechts, sondern bewusst gesetzte Methode objektiver juristischer Auslegung. Soll das Recht der jeweils gegenwärtigen Gesellschaft als Ordnungssystem dienen, so ist es für Binding als einzelner, innerlich verbundener Wille wahrzunehmen. Anders als die Vertreter der Historischen Rechtsschule stellt Binding keine metaphysisch-idealistische Erkenntnis des Rechts voran, sondern steckt die wissenschaftstheoretischen Bedürfnisse seiner Auslegungslehre ab. 4. Vorläufige Einordnung Eine vorläufige rechtstheoretische Einordnung Bindings offenbart eine besondere Stellung unter den Juristen des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Er ist zu großen Teilen dem überkommenen Rechtsbegriff verhaftet, nach dem das Recht ein vernünftiges Ganzes bilde und die Arbeit des Juristen primär in der logischen Durchdringung des Rechts zu sehen sei, innerhalb derer „latentes“ Recht zutage gefördert werde. Bindings Rhetorik und Methodenideal bewegen sich noch in den Bahnen der klassischen Jurisprudenz des 19. Jahrhunderts. Sein voluntaristisches Rechtsbild macht ihn dennoch zu einem moderneren Juristen. So ist das Recht im Sinne Bindings weniger metaphysisch durchsetzt. Es 158
Vgl. Binding, Handbuch, S. 198 f., Fn. 6. Insoweit richtig Mittenzwei, Teleologisches Rechtsverständnis, S. 269. Zumindest in Bezug auf Binding kann der Behauptung, die Geltung des Rechts beruhe innerhalb der objektiven Auslegungstheorie auf einem Gerechtigkeitsideal, allerdings nicht zugestimmt werden. In diesem Punkt werden rein faktische Gegebenheiten des Rechtsdenkens des 19. Jahrhunderts mit Annahmen über den Wesensgehalt des Rechts verwechselt: Recht diente – auch für Binding – faktisch ganz selbstverständlich der Umsetzung eines Gerechtigkeitsideals. Täte es dies im Einzelfall jedoch nicht, handelte es sich genauso um Recht. 159
62
1. Teil: Bindings methodische Grundlagen
folgt keinem übergeordneten Ideal, sondern bestimmt sich ausschließlich nach dem Willen des staatlich organisierten Gemeinwesens160. Die verbleibende, ungeklärte Grundannahme seines Rechtsbilds liegt in dem Gedanken, ein unter ausdrücklicher Lossagung vom Gesetzgeberwillen gebildeter, objektiver Wille könne einen praktisch vernünftigen Inhalt annehmen, der mit den Mitteln der juristischen Auslegungslehre erkennbar sei. Die angenommene innere Sinnhaftigkeit des Rechts unter voluntaristischen Prämissen öffnet den Rechtsbegriff zudem für die Welt empirischer Zwecke. Im Hinblick auf das Rechtsdenken Bindings relativiert dieser Umstand die schon in Bezug auf die sogenannte „Begriffsjurisprudenz“ zuweilen fragwürdige Kritik an der Arbeit mit einem logischen System aus Prinzipien und Begriffen. Die bekannte Hecksche Kritik an einer Außerachtlassung der Zwecke bei der Prinzipieninduktion ficht Binding nicht mehr an: Sein juristisches Grundkonzept sieht ausdrücklich die Beachtlichkeit des juristischen Zweckmoments vor. Orientiert sich die Zweckermittlung in der Historischen Rechtsschule anhand übergeordneter Prinzipien, erweitert sich dieses Blickfeld nun bei Binding. Der Jheringsche Gedanke, dass jeder Rechtssatz sein Dasein einem Zweck verdanke und dieser Maßstab der Interpretation sein muss, ist ihm keineswegs fremd.161 Dieser Zweck kann einem übergeordneten Rechtsprinzip folgen, sich aus einem sonstigen systematischen Verhältnis eines Rechtssatzes zu anderen Rechtssätzen ergeben, oder auch als grammatisch immanenter Einzelzweck beachtlich sein. In jedem Fall ist die Zweckermittlung zwingender Bestandteil Bindingscher Auslegung: „In demselben Augenblick, wo die Wissenschaft des positiven Rechts sich dieser Notwendigkeit [sc. einer Prüfung des Rechts auf seine Zweckmäßigkeit] bewusst wird, sieht sie ihre Betrachtung über die Sätze des Rechtswillens hinausgedrängt und findet sich hingewiesen auf die ausser ihnen liegenden Gedanken des Warum und Wozu.“ 162
Es handelt sich beim Rechtsverständnis Bindings danach um eine Synthese aus dem überkommenen, logisch zentrierten Denken und moderner Zweckjurisprudenz. Das derartig konzipierte Recht wird für Binding unter striktem Ausschluss unmittelbarer philosophischer oder anderweitig rechtsexterner Einflüsse zum einzig denkbaren Objekt einer Wissenschaft vom Recht. Vorbehaltlich der Rhetorik des 19. Jahrhunderts und eines nicht völlig von philosophischen Annahmen be-
160
Vgl. Binding, Handbuch, S. 198 f., Fn. 6. Sowohl die eigenen Ausführungen Bindings zur Teleologie, nach denen alle Rechtssätze dazu bestimmt seien, „zwischen ihrem Grund und ihrem Zweck zu vermitteln“ (Handbuch, S. 13), als auch seine Zitierungen des „Zweck[s] im Recht“ (etwa im Handbuch, S. 157, Fn. 5; S. 164 f. m. Fn. 1) lassen darauf schließen, dass er die Sichtweise Jherings nicht im Widerspruch zu seiner Lehre sieht. 162 Binding, Handbuch, S. 13. 161
B. Eigengesetzlichkeit des Rechts
63
freiten Rechtsbilds verknüpft Binding also bewusst eine rechtspositivistische Methodenreinheit mit der Wissenschaftlichkeit der Jurisprudenz. Einige Jahrzehnte vor den ersten Werken Kelsens macht Binding dies zu einer rechtshistorischen Besonderheit.
B. Eigengesetzlichkeit des Rechts Mit der Bezeichnung des Bindingschen Rechtsbildes als „rechtspositivistisch“ ist freilich noch nicht viel gesagt, wird der Begriff doch für eine Vielzahl zum Teil sehr unterschiedlicher Konzeptionen gebraucht. Im weitesten Wortsinne meint er einen Ausschluss überpositiver Rechtsbestimmungen. In dieser Bedeutung ist sich Bindings Rechtspositivismus seiner selbst sehr bewusst: Geradezu emphatisch tritt er an, das aus seiner Sicht von soziologischen und philosophischen Einflüssen freie, überkommene Rechtsverständnis zu verteidigen. Da auch neuere juristische Sichtweisen ihre Bewertungsgrundlagen nicht ausschließlich dem Recht selbst entnähmen, sondern dem Recht soziologische Maßstäbe („apriorisch“) vorsetzten, wirft Binding seinen Gegnern in einer eigentümlichen Vereinheitlichung eine „naturrechtliche“ Methodik vor – und meint damit sowohl frühe philosophische Rechtskonzeptionen als auch die Variationen des in seiner Zeit modernen soziologischen Positivismus. Gleichzeitig konzentriert sich Binding in einem großen Teil seiner wissenschaftlichen Arbeit auf die logische Analyse des Rechts. Das prägnanteste Beispiel hierfür bildet sicher seine noch zu besprechende Normenlehre. Da Binding nicht um eine philosophische Begründung des Rechts oder seiner Geltung bemüht ist, sondern seinen Schwerpunkt auf die Erfassung normlogischer Strukturen legt, wird er allgemein dem sogenannten „normlogischen Positivismus“ zugerechnet.163 Diese Einordnung setzt Binding in eine Beziehung zu Kelsen, dessen „Reine Rechtslehre“ zuweilen als das „bedeutendste Werk des normlogischen Positivismus“ 164 bezeichnet wird. Die Nennung Bindings und Kelsens in einem Atemzug führt aber leicht zu Missverständnissen. So bestehen zwar in der Tat einige wichtige Gemeinsamkeiten: Obwohl der Gedanke, dass ein juristisches „Sollen“ nur durch ein anderes juristisches „Sollen“ begründet werden kann, bei Kelsen den deutlich prägnanteren Ausdruck findet, verzichtet auch Binding auf extrajuristische Geltungsbegründungen; keiner von ihnen unternimmt den Versuch einer idealistischen Überwindung des Sein-Sollen-Fehlschlusses. Statt sich rechtsphilosophisch mit Ideen eines „richtigen“ Rechts oder soziologisch etwa mit den
163 Zur juristischen Denkrichtung insgesamt siehe etwa die Beschreibungen des „logischen Positivismus“ bei Alwart, Recht und Handlung, S. 74 oder des „normlogischen Positivismus“ bei Mastronardi, Juristisches Denken, S. 202 ff. 164 So Herbe, Hermann Weinkauff, S. 106.
64
1. Teil: Bindings methodische Grundlagen
empirischen Bedingungen der Rechtsgeltung auseinanderzusetzen, stellen beide Juristen die logischen Grundstrukturen des Rechts in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung und setzen die Geltung des positiven Rechts dabei voraus.165 Dennoch suggeriert die gemeinsame Bezeichnung als „normlogische Positivisten“ letztlich ein falsches Bild. Denn das Recht, dessen Grundstrukturen Binding und Kelsen gleichermaßen erforschen wollen, sehen beide sehr verschieden. Zum einen macht sich diesbezüglich die methodische Verwandtschaft des Bindingschen Voluntarismus zum Rechtsdenken der Historischen Rechtsschule bemerkbar: Binding hält auch weitläufige Induktionen aus Rechtssätzen und -begriffen noch für Zeugnisse des positiven Rechts.166 Ganz selbstverständlich genügen ihm auch minimale Anzeichen des gesetzten Rechts zur Herstellung eines umfassenden rechtlichen Wertungssystems. Hinzu tritt die Besonderheit, dass er dem Recht ein „Selbstbild“ unterstellt, eine ideelle Eigenart, die es für den Juristen zu beachten gelte. Hier unterscheiden sich Binding und Kelsen maßgeblich voneinander: Kelsen schränkt den Rechtsbegriff durch eine Bezugnahme auf die staatliche Sanktion ein, während Binding den gesamten „Willen“ der Rechtsquelle ohne Weiteres als Recht akzeptiert. Vor dem Hintergrund dieses unterschiedlichen Rechtsverständnisses ist auch die an späterer Stelle zu erläuternde Kritik Kelsens an der Normentheorie zu verstehen. Gerade in der Analyse logischer Grundstrukturen des Rechts fallen die Ergebnisse beider Juristen also weit auseinander. Daher ist nicht nur der Wert grober Kategorisierungen als „Positivist“, „Rechtspositivist“ oder „Gesetzespositivist“ 167 fraglich, mit denen zum Teil sehr Unterschiedliches gemeint wird. Auch die Subkategorie des „normlogischen Positivismus“ schafft aufgrund durchaus verschiedener Rechtsverständnisse seiner Vertreter nur eine trügerische Klarheit. In dieser Untersuchung wird lediglich der Begriff des Rechtspositivismus in seiner weitesten Bedeutung als Ausschluss klassisch-überpositiver Begründungsmuster des Rechts (Naturrecht, Vernunft-
165 Binding freilich auf eine weit einfachere Art und Weise als Kelsen, der mit der Lehre von der Grundnorm eine transzendentale Geltungsbegründung des Rechts liefert, welche sich in die Gesamtsystematik seines Rechtsdenkens einfügt. Die Voraussetzung einer Geltung des positiven Rechts ist bei diesem eine bewusste und ausgeführte Hypothese, die sich aus einem an Kant angelehnten, juristischen Transzendentalismus erklärt; bei jenem hingegen fehlt schlechterdings jede tiefere Geltungsbegründung des positiven Rechts, so dass sich über die Grundlagen seiner Annahme kaum Aussagen treffen lassen. Siehe weiterführend zur philosophischen Einordnung der Kelsenschen Grundnorm Edel, in: FS Holzhey, S. 178 ff. m.w. N. 166 Siehe etwa u. S. 183 ff. zum Konzept der „Urheberschaft“. 167 Gut gegen diese Einordnung Bindings argumentieren Schröder, in: ders./Kleinheyer (Hrsg.), Juristen, S. 62 (64 f.) sowie Pawlik, Unrecht, S. 34 und Jakobs, in: FS de Figueiredo Dias, S. 387 (395 f.). Schon in Anbetracht seiner mitunter extrem weitläufigen Annahmen darüber, was noch als positivrechtlich geregelt gelten darf, erscheint diese Beschreibung Bindings tatsächlich nicht sehr gelungen.
B. Eigengesetzlichkeit des Rechts
65
recht) verwendet; auf jeden weiteren schlagwortartigen Einordnungsversuch wird verzichtet. Da das Rechtsverständnis Bindings ohnehin ausführlicher besprochen wird, scheint eine solche, zwingend vereinfachende Einordnung auch unnötig. Die Darstellung jenes Rechtsverständnisses setzt bei der hier sogenannten juristischen „Eigengesetzlichkeit“ an (I.). Danach ist es Aufgabe des Rechtsinterpreten, das Recht in der spezifischen Eigenartigkeit seines zugrundeliegenden Willens wahrzunehmen – es also in keiner Hinsicht formal einzuschränken. Dies ließe eine lückenlose Struktur des Rechts vermuten, wie sie zur Schaffenszeit Bindings tatsächlich häufig vertreten wurde. Trotz seines offenen Kampfes gegen unmittelbare Einflüsse anderer Fachwissenschaften räumt er jedoch natürliche Grenzen intrajuristischer Methodik ein (II.).
I. Die ideelle Eigenart des Rechts als Grundlage des Bindingschen Rechtsbilds Die besondere Eigengesetzlichkeit des Rechts bei Binding wird im Folgenden beispielhaft in positiver und in negativer Hinsicht entwickelt. Sie wird deutlich bei einem Blick auf die von Binding sogenannte „esoterische Psychologie“ des Rechts (1.). Es handelt sich dabei um eine Kollektion methodenrelevanter „Glaubenssätze“, die das Recht dem Juristen vorgibt. Das Recht selbst unterstellt danach Prämissen, deren Erforschung eigentlich den empirischen Wissenschaften obläge. Ähnlich verhält es sich mit weniger zentralen Anleihen bei den empirischen Wissenschaften (2.). Das Recht gibt seine Macht zur umfassenden Begriffsbestimmung nicht aus der Hand, sondern bestimmt die Begriffe ausnahmslos in einem spezifisch juristischen Sinne – und sei dieser auch identisch mit dem soziologischen, psychologischen oder anderweitig extrajuristischen. Negativ wird die Eigengesetzlichkeit des Rechts anschließend anhand der Ablehnung formaler Einschränkungen des Rechtsbegriffs bei Binding erläutert (3.). Danach soll für den Rechtsbegriff allein die Zugehörigkeit zum mit staatlicher Autorität versehenen Ordnungssystem entscheidend sein. Ist ein Satz Ausdruck der freien Gedankenwelt eines insgesamt mit dem Anspruch auf Verbindlichkeit auftretenden Willens des staatlich organisierten Gemeinwesens168, so handelt es sich für Binding um Recht. Von der spezifischen Gedankenwelt dieses Willens habe sich der Jurist leiten zu lassen und dem Recht somit abseits der allgemeinen Ordnungsfunktion weder eine bestimmte Form noch einen bestimmten Inhalt vorzusetzen.
168
Vgl. Binding, Handbuch, S. 198 f., Fn. 6.
66
1. Teil: Bindings methodische Grundlagen
1. Die „esoterische Psychologie“ des Rechts Die „esoterische Psychologie des Rechts“ 169 fand in der Literatur zu Binding bislang keine besondere Beachtung; Naucke beschreibt sie kurz als die „empirischen Bedingungen, unter denen Strafgesetze wirken können“.170 Die weitere Untersuchung wird allerdings zeigen, dass sich die Umrisse Bindingschen Rechtsdenkens bereits aus dem Inhalt dieses Begriffes ermitteln lassen. Zunächst ist der eigentümliche Begriff einer „esoterischen Psychologie“ näher zu beleuchten [a)]. Eine Untersuchung seiner Herkunft wird bereits erste Hinweise auf das Bezeichnete enthalten. Im Anschluss wird dann Bindings eigene Beschreibung des Begriffs in Augenschein genommen [b)]. a) Zur Herkunft des Begriffs Die Darstellung einer besonderen „Psychologie“ des Rechts geht in dieser Sinnrichtung auf Gustav von Rümelin (1815–1889) zurück, der in einem Beitrag von 1876 bereits viel von Bindings späteren Ausführungen vorwegnimmt: „Alles praktische Recht nun, insofern es Normen für menschliches Handeln aufstellt und menschliche Willensacte zu seinem Objecte hat, kann nicht umhin, geschehe es nun bewußt oder unbewußt, von psychologischen und ethischen Grundanschauungen auszugehen. Es muß zwischen seinen Zeilen eine bestimmte Auffassung über das Wesen der Menschenseele und ihrer Functionen erkennen lassen [. . .]. Falls sich nun diese Prämissen wenn auch mit nur annährender Bestimmtheit ermitteln lassen, falls es von anderen Prämissen nachgewiesen werden kann, dass sie unvereinbar wären mit den anerkannten Sätzen des Strafrechts, so gelangen wir, so befremdlich es auch klingen mag, zu der Behauptung: Es gibt neben der Privatpsychologie der Schulen und der freien Wissenschaft auch eine officielle, eine Psychologie der Staatsgewalt, welche die Gesetzgebung als den Ausgangspunkt ihrer rechtlichen Ordnungen behandelt.“ 171
Ganz wie Binding stellt auch Rümelin die rechtseigene Psychologie am Beispiel des freien Willens des Menschen dar: Der Indeterminismus ist ihm eine Grundvoraussetzung des Rechts insgesamt, mit Blick auf das Schuldprinzip aber in besonderer Weise eine des Strafrechts.172 Dabei geht es Rümelin aber vor al-
169
Binding, Normen, Bd. 2,1, S. 4 ff. Naucke, in: Vormbaum (Hrsg.), Freigabe, S. XI. Diese Beschreibung hat einige Berechtigung. Naucke will jedoch ausschließlich auf die übrige Voraussetzungslosigkeit des Bindingschen Rechtsverständnisses und auf einen damit verbundenen Relativismus Bindings hinaus. Wie zu sehen sein wird, hätte eine tiefergehende Analyse des Begriffs Nauckes späterem Schluss, Binding halte extrajuristische Sozialnormen für verbindliche Auslegungsmaßstäbe des Strafrechts, entgegengestanden. 171 G. Rümelin, Reden und Aufsätze, Bd. 2, S. 40 f.; siehe a. den Verweis in Bindings Normen, Bd. 2,1, S. 3, Fn. 1. 172 Vgl. G. Rümelin, Reden und Aufsätze, Bd. 2, S. 42 ff. 170
B. Eigengesetzlichkeit des Rechts
67
lem um den interdisziplinären Forschungswert dieser rechtlichen Annahme.173 Die strafrechtliche Zurechnung fungiert dann als normierter Erfahrungswert, als spezifisch juristische Abbildung einer gesellschaftlichen Gewissheit. Somit soll die juristische Grundannahme menschlicher Willensfreiheit „für die Betrachtung der socialen Erscheinungen in ganz gleicher Weise den Ausgangspunkt und Grundpfeiler“ darstellen, „wie für die Betrachtung physischer Vorgänge die erkannten Naturgesetze.“ 174 Der Gedanke kulminiert im Versuch einer „Widerlegung“ des Determinismus mit Hilfe juristischer Erfahrungswerte.175 Wenngleich auch Binding von der auch naturwissenschaftlichen Richtigkeit eines indeterministischen176 Standpunktes ausgeht,177 legt er weit weniger Wert auf eine Auswertung strafrechtlicher Erfahrungswerte für die Psychologie. Stattdessen geht es ihm vor allem um die juristische Möglichkeit, „offizielle ewige Rechtswahrheiten“ 178 für die Jurisprudenz verbindlich festzustellen. Die Herkunft der eigentümlichen Bindingschen Bezeichnung dieser Psychologie des Rechts als „esoterisch“ ist nicht mit Sicherheit zu entschlüsseln. Einerseits kennen wir den Ausdruck von Ludwig Feuerbach (1804–1872), der ihn in den grundlegenden Schriften des anthropologischen Materialismus abwertend zur Bezeichnung der Metaphysik im Allgemeinen und des Idealismus seines Lehrers Hegel im Besonderen verwendet.179 Auch verweist Binding etwa in der ersten Abteilung des zweiten Bandes seiner „Normen“ auf Feuerbach,180 in der – an anderer Stelle – auch die „esoterische Psychologie des Rechts“ erläutert wird. Allerdings liegt die Bedeutung der „esoterischen Psychologie“ als eigenartiger 173 G. Rümelin, Reden und Aufsätze, Bd. 2, S. 41 f.: „Die Psychologie und das Strafrecht scheinen mir [. . .] wenig Fühlung miteinander zu haben; jeder Theil schließt sein Gebiet ab und betrachtet das, was auf dem andern vorgeht, als eine Sache für sich. Ich kann eine solche Abschneidung nicht für richtig und wissenschaftlich haltbar ansehen.“ 174 G. Rümelin, Reden und Aufsätze, Bd. 2, S. 72. 175 G. Rümelin, Reden und Aufsätze, Bd. 2, S. 72 f.: „Wenn nun der Begriff der Zurechnung einerseits schlechthin unentbehrlich und andererseits schlechthin undenkbar ist ohne einen Herrschaftspunkt in einer lebendigen Seele, ohne Willensfreiheit, ohne Entwicklungsfähigkeit des Charakters, ohne Gewissen und Rechtsgefühl, folgt daraus, daß eben diese Annahmen mehr sind als blose Hypothesen, daß sie als Wahrheit gelten müssen? Ist daraus, daß eine psychologische Theorie zu einem mit jenen Thatsachen übereinstimmenden Ergebnis führt, auf ihre Wahrheit, daraus, daß dieß nicht der Fall ist, auf ihre Falschheit zu schließen? Ich möchte das Letztere, die Falschheit der widersprechenden Theorie unbedingt, das Erstere, die Wahrheit der übereinstimmenden nur sehr bedingt und mit Vorbehalt bejahen.“ 176 Zu Bindings besonderem Verständnis des Indeterminismus siehe u. S. 68 ff. m. Fn. 198. 177 Siehe Binding, Normen, Bd. 2,1, S. 55 f.: „Kein Mensch hat gelebt und lebt, der sich nicht seiner Taten freute, ärgerte oder schämte, und gegen dieses Zeugniss innerer Freiheit kommt keine aller Vernunftstimmen auf.“ 178 Binding, Normen, Bd. 2,1, S. 4. 179 Siehe L. Feuerbach, Kleine philosophische Schriften, S. 58. 180 Binding, Normen, Bd. 2,1, S. 303, Fn. 11.
68
1. Teil: Bindings methodische Grundlagen
Glauben an etwas, das dem Glaubenden zur Erklärung der Welt dient, offenkundig schon zu einem guten Teil in den einzelnen Begriffsbestandteilen: Wird eine „Psychologie“ – die eines einzelnen Menschen oder im fingierten Sinne die der „Gesetzgebung“ (Rümelin) oder des „Rechts“ (Binding) – als „esoterisch“ beschrieben, so liegt es nahe, dass damit die einfache Annahme von letztlich nicht Beweisbarem oder zumindest nicht Bewiesenem gemeint ist. Zudem ist „esoterisch“ bei Ludwig Feuerbach durchaus abwertend gemeint, wohingegen diese Konnotation bei Binding gänzlich fehlt. Daher ließen sich selbst für den Fall, dass sich Binding bei Feuerbach bedient haben sollte, daraus kaum Schlüsse ziehen. b) Bindings Beschreibung der „esoterischen Psychologie des Rechts“ Binding bezeichnet die „esoterische Psychologie“ als „offizielle ewige Rechtswahrheiten, das heisst Wahrheiten, zu denen jede Rechtsordnung sich bekennen muss, so lange sie selbst Bestand hat.“181 Es handelt sich um jedem Recht zugrundeliegende Prinzipien, ohne die ein sinnvolles Recht nicht denkbar ist. Binding fasst sieben Sätze unter die „esoterische Psychologie des Rechts“, die er allerdings anschließend selbst als ergänzungsbedürftig beschreibt.182 Der erste dieser Sätze lautet: „Alle Gesetze wenden sich an die Seelenkräfte des Menschen – davon überzeugt, dass diese allein im Stande sind, ihrer Träger praktisches Verhalten zu bestimmen und so zwischen ihnen und dem Willen des Gesetzes die Brücke zu schlagen.“ 183
Das Recht beabsichtige also stets eine Wirkung auf die „Seelenkräfte des Menschen“, soll eine soziale Ordnung sein, die anders als auf diese Weise nicht durchsetzbar sein kann. Der zweite Satz besagt nicht mehr, als dass diese gezielte Bestimmung des Menschen nie die Zurechenbarkeit einer Handlung zu dem Menschen ausschließen können darf.184 Mit anderen Worten: Eine gewollte Handlung bleibt auch bei erfolgreicher „psychischer Einwirkung“ durch das Recht dem Menschen zurechenbar, der die Handlung vornimmt. Das Recht kann sich selbst nie als „zwingend“ empfinden. Weiterhin betrachte das Recht „des Menschen Seele“ stets als die ausschließliche Quelle „aller seiner Handlungen“185 (3. Satz) und verwerfe „entschieden jede Annahme menschlicher Vorausbestimmung“ (4. Satz).186 Auch die übrigen 181 182 183 184 185 186
Binding, Normen, Bd. 2,1, S. 4. Siehe Binding, Normen, Bd. 2,1, S. 10. Binding, Normen, Bd. 2,1, S. 5. Vgl. Binding, Normen, Bd. 2,1, S. 5. Binding, Normen, Bd. 2,1, S. 5 f. Binding, Normen, Bd. 2,1, S. 7 f.
B. Eigengesetzlichkeit des Rechts
69
Sätze gehen allesamt in dieselbe Richtung: Das Recht pflege eine „durchaus voluntaristisch[e]“ Sichtweise des menschlichen Seelenlebens, betrachte den „Seelenakt“ ausschließlich als „Willensakt oder dessen Vorbereitung“187 (5. Satz) und die Willensfähigkeit dementsprechend als „Handlungsfähigkeit im Rechtssinne“ (6. Satz).188 Die „Fähigkeit zur Normbefolgung und Normverletzung“ hänge also von der Frage ab, ob jemand „befähigt“ sei, „in sich das Pflichtgebot zu der ihm gebührenden Herrschaft gelangen zu lassen“ (7. Satz).189 In ihrer Gesamtheit geben die Sätze ein Weltbild wieder, das den Determinismus ablehnt. Sie alle lassen sich mit dem Begriff der Handlungsfreiheit des Menschen als Voraussetzung rechtlicher Zurechnung zusammenfassen. Das damit Gesagte klingt zunächst banal. So erfordert beispielsweise das klassische Verständnis der „Schuld“ ganz selbstverständlich die Möglichkeit des Menschen, sich anders zu entscheiden – und damit Handlungsfreiheit und Zurechenbarkeit: Ultra posse nemo obligatur. Binding drückt mit der Feststellung einer „esoterischen Psychologie“ des Rechts jedoch noch mehr aus: Das Forschungsobjekt zwinge nicht nur zum Ausschluss jeder „äußeren“ Einflussnahme. Das Bestehen des Rechts an sich zwinge darüber hinaus zur Anerkennung der für es konstitutiven „Wahrheiten“.190 Der „Glaube“ an diese Wahrheiten, beziehungsweise ihre Zugrundelegung bei der juristischen Arbeit, wird damit zum zwingenden methodischen Lehrsatz. So verbietet sich für Binding jede deterministische Äußerung eines Juristen. Ohne Forschungen auf dem Gebiet der Psychologie und der anderen empirischen Wissenschaften behindern zu wollen,191 könne der Jurist – so lange er sich juristisch betätigen wolle – für sein Gebiet keine Unfreiheit des menschlichen Willens unterstellen, weil das Recht selbst für seinen Machtbereich die Ablehnung des Determinismus vorgebe. Es verändert sich also die Natur der beschriebenen Sätze; sie sind nicht deskriptiv als Feststellung der Geltungsbedingungen von Recht, sondern müssen als juristische Vorgaben gedacht werden: „[M]ag der Jurist wollen oder nicht: das Gegenteil dieser Lehre [sc. des Determinismus] muß er glauben.“ 192
187
Binding, Normen, Bd. 2,1, S. 8. Binding, Normen, Bd. 2,1, S. 9. 189 Binding, Normen, Bd. 2,1, S. 9 f. 190 Vgl. Binding, Normen, Bd. 2,1, S. 4 ff. 191 Bindings Glaube an den Wert der Erfahrung, die im Recht wiedergespiegelt ist, geht allerdings so weit, dass er selbst bei strittigen Fragen innerhalb der Psychologie – wie z. B. beim Willensbegriff – nahelegt, das Endergebnis dieser Forschungen werde schließlich nur den Ansatz des Rechts bestätigen. Entsprechend hebt er in den Normen, Bd. 2,1, S. 11 ff. einzelne Fachmeinungen besonders hervor, die in Übereinstimmung mit seinem rechtlichen Willensbegriff stehen. 192 Binding, Abhandlungen, Bd. 1, S. 10; Hervorhebung im Original. 188
70
1. Teil: Bindings methodische Grundlagen
Erst der volle Beweis des Determinismus könne daran etwas ändern. Ein solcher Beweis führte das Konzept des Rechts und damit den Beruf des Juristen für Binding ad absurdum.193 Davon aber sei die Naturwissenschaft „noch eine Unendlichkeit entfernt“.194 Bis dahin müsse der Jurist also unabhängig von der psychologischen Forschung die Fähigkeit des Menschen unterstellen, „alleinige Ursache seiner Handlungen zu werden.“ 195 „Alleinig“ in dem Sinne, dass bei Anerkennung der menschlichen Freiheit die Handlungsentscheidung zwar nicht von äußeren Faktoren unbeeinflusst ist, aber doch der Mensch eine originäre, eigene Ursache in seiner Persönlichkeit hinzufügt, so dass nur noch von diesem als „Ursache“ gesprochen werden kann.196 Wie Binding selbst anerkennt, läuft dies weitgehend auf die kantische Fähigkeit zum sittlich-autonomen Handeln im Gegensatz zur bloßen Triebhaftigkeit hinaus.197 Es ist danach der kantische Freiheitsbegriff, den das Recht zugrundelege und damit dem Juristen vorschreibe; nicht etwa im Sinne philosophischer Vorgaben, die zu kritisieren Binding nie unterlassen hat, sondern im Sinne seiner genuin rechtspositivistischen Sichtweise als Willensäußerung des staatlich organisierten Gemeinwesens. Dass das Recht einen solchen Indeterminismus198 unterstelle, bedeute jedoch keinesfalls, dass der Jurist sich dem eigentlichen Problem der tatsächlichen menschlichen Handlungsfreiheit nicht widmen dürfe. Die Beschäftigung hiermit sei vielmehr „zweifellos Juristenberuf“.199 Ein Jurist, der in dieser Frage zu einem negativen Ergebnis komme, beraube sich allerdings seines eigenen Forschungsobjekts; er müsse daher antreten, die Willensfreiheit zu begründen oder andernfalls aufhören, Jurist zu sein. Seine Arbeit müsse darauf gerichtet sein, nachzuweisen, dass dieser „Satz esoterischer Psychologie für das Recht nicht nur gilt, weil er gesetzlich anerkannt ist, sondern dass er von allem Rechte anerkannt ist, weil ihm unbedingte Gültigkeit zukommt.“200 Binding stellt sich daher deterministischen Strömungen in der Rechtswissenschaft entgegen und wirft ihren Vertretern vor, sie bedrohten den Bestand des Rechts und seiner Wissenschaft.201 193
Vgl. Binding, Abhandlungen, Bd. 1, S. 12. Binding, Abhandlungen, Bd. 1, S. 10. 195 Binding, Normen, Bd. 2,1, S. 17, Fn. 2; zum Verursachungsbegriff siehe Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 113 ff. 196 Vgl. Binding, Normen, Bd. 2,1, S. 16 ff., insb. S. 17, Fn. 2. 197 Vgl. Binding, Normen, Bd. 2,1, S. 16 f. m. Fn. 2. 198 Nicht im Sinne Bindings, der in seinen Normen, Bd. 2,1, S. 18 ff. als Indeterminismus nur Modelle versteht, die eine kausale Bestimmung des menschlichen Willens komplett ablehnen. Sein eigenes Konzept versteht er daher nicht als Indeterminismus, zumal der Mensch darin durch äußere Faktoren zumindest mitbestimmt wird. Heutzutage ist der Begriff also weiter gefasst. 199 Binding, Normen, Bd. 2,1, S. 5, Fn. 5. 200 Binding, Normen, Bd. 2,1, S. 5, Fn. 5. 201 Exemplarisch etwa Binding, Normen, Bd. 2,1, S. VII und 211. 194
B. Eigengesetzlichkeit des Rechts
71
Bindings Begründung ist erwartbar leidenschaftlich, aber an den sozialen Folgen des Determinismus orientiert und damit für die naturwissenschaftliche Argumentation gegen den Determinismus sinnlos: Betrachtete man den Menschen als determiniert, so gäbe es keine „Geschichte außer der Naturgeschichte [. . .]; dass der Mensch handelte, [wäre] Schein; seine Verantwortlichkeit eine Lüge“.202 Deshalb habe „der die Freiheit leugnende Determinismus noch nie gewagt alle seine praktischen Folgerungen kalt und nüchtern zu ziehen.“ 203 Nie habe „es eine Rechtsordnung gegeben, die nicht von dem Grundgedanken der Lenkbarkeit ihrer Angehörigen durch Gesetze ausgegangen wäre.“ 204 Die „esoterische Psychologie des Rechts“ geht damit in ihrer Bedeutung über die Darstellung der Geltungsbedingungen von Recht hinaus. Sie ist Zeugnis einer methodischen Anschauung, die sich nicht nur gegen jeden direkten Einfluss der übrigen Wissenschaften auf die Jurisprudenz ausspricht, sondern überdies dem Recht eine umfassende Macht innerhalb seines Herrschaftsgebiets einräumt: Der Interpret wird zur Annahme der für das Recht konstitutiven „Wahrheiten“ verpflichtet.205 2. Rein juristische Begriffsbildung Im weiteren Sinne eine Aufstellung von „Rechtswahrheiten“ ist auch Bindings Behandlung von aus anderen Wissenschaften entlehnten Begriffen des Rechts. Hier besteht die grundsätzliche Frage, welche Wirkung die Forschung innerhalb dieser Wissenschaften auf den Inhalt der jeweiligen Rechtsbegriffe ausüben kann: Verändern beispielsweise psychologische Forschungen das rechtliche Verständnis des „Willens“? Ist „Kausalität“ auch rechtlich stets im naturwissenschaftlichen Sinne (und damit als conditio sine qua non) zu verstehen? Bindings Antwort auf diese Frage ist vor dem Hintergrund seiner Ausführungen zur „esoterischen Psychologie“ des Rechts nicht überraschend: Zwar wolle das Recht dort, wo es entlehnte Begriffe einführt, nicht selten auf eben jene naturwissenschaftliche Bedeutung hinaus, denen somit zuweilen „das Bürgerrecht auf criminellem Gebiete“ eingeräumt werde.206 Keinesfalls aber ist dieser Zusammenhang der rechtlichen Begriffsbildung wesentlich. Das Recht ist 202
Binding, Normen, Bd. 2,1, S. 53. Binding, Normen, Bd. 2,1, S. 52. 204 Binding, Normen, Bd. 2,1, S. 56. 205 Koriath, Grundlagen, S. 638 m. Fn. 549 scheint das Konzept als eine esoterische Psychologie des Normunterworfenen misszuverstehen. Die beschriebene esoterische Psychologie sei „nicht wirklich Psychologie (i. e. S.)“, sondern „Moralphilosophie jüdisch-christlicher Provinienz verbunden mit einem cartesischen Dualismus von Psychischem und Physischem.“ Die Kritik zielt auf den juristischen Willensbegriff Bindings, der sich aber eher aus dogmatischen Bedürfnissen als aus einem moralphilosophisch geprägten Denken erklären lässt. Siehe dazu u. S. 72 ff. 206 Binding, Handbuch, S. 11. 203
72
1. Teil: Bindings methodische Grundlagen
für ihn weder gezwungen, die Begriffe inhaltsgleich zu übernehmen, noch sei der Rechtsbegriff fest an den naturwissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt geknüpft: „Entlehnt der Gesetzgeber Begriffe der Psychologie oder der Psychiatrie, so verbindet er mit den gebrauchten terminis mehr oder weniger bestimmte Vorstellungen, und gerade durch ihre Einfügung in juristische Tatbestände giebt er ihnen einen bestimmten rechtlichen Feingehalt, den er von allen Aenderungen psychologischer oder psychiatrischer Forschung unabhängig stellen will und muss. [. . .] Sollte die Psychologie die Grenze zwischen Willensbetätigung und Reflexbewegung verwischen wollen, oder der Psychiatriker in jedem Verbrechen das Symptom einer Geisteskrankheit erblicken, oder der Logiker den Unterschied von Ursache und Bedingung leugnen, oder die Thierarzneikunde den Begriff der Rinderpest beseitigen, so lässt der Gesetzgeber sie ruhig ihres Weges wandeln und beharrt bei seinen gegentheiligen Auffassungen.“ 207
Sogleich stellt Binding selbst klar, dass diese juristische Handhabung keinesfalls eine völlige Ignoranz der Jurisprudenz gegenüber den Forschungsgebieten zur Folge haben solle, bei deren Begriffen sich das positive Recht bediene. Das Recht setze sich nicht etwa über die Forschungsergebnisse anderer Wissenschaften hinweg; es sei lediglich in der Lage, mit diesen Begriffen etwas anderes zu bezeichnen. Verengt sich also, um ein Beispiel Bindings zu bemühen,208 innerhalb der veterinärmedizinischen Wissenschaft das für die Diagnose „Rinderpest“ nötige Krankheitsbild des Tieres, so soll diese Neudefinition nicht bedeuten, dass damit auch die Rechtsordnung vorgesehene Maßnahmen zur Seucheneindämmung erst bei Vorliegen jener engeren Voraussetzungen anordnet. Analog ändert sich die zivilrechtliche Fassung adäquater Kausalität – die mit dem naturwissenschaftlichen Kausalitätsverständnis insgesamt wenig zu schaffen hat – durch naturwissenschaftliche Forschung ausschließlich in dem Maße, in dem uns diese Forschungen ein besseres Verständnis des „nach normalen Umständen“ Erwartbaren erlaubt. So werden beispielsweise medizinische Folgewirkungen selbstverständlich erst dann erwartbar, wenn die medizinische Forschung die Grundlage dieser Erwartung liefern konnte. Entsprechend äußert sich Binding: „Diese Begriffe dürfen und müssen innerhalb der Vorstellung, die das positive Recht mit ihnen verbindet, durch Verwertung der Resultate der Psychologie, der Sprachwissenschaft, der Heilkunde, und wenn nötig durch eigene Einkehr der Juristen auf jenen Gebieten zu grösserer Präcision, Klarheit und Vertiefung gebracht werden. Insoweit sind dann diese Begriffe allerdings in den Fluss fortschreitender Erkenntniss gestellt und klären und erweitern sich, indem sie aus ihm schöpfen. [. . .] Aber auch nur innerhalb dieser Grenzen sind jene Wissenschaften Gehilfen der Jurisprudenz wie des Juristen.“ 209
Wie frei er die Rechtsordnung darin sieht, mit dem von ihr begrifflich Bezeichneten vom entlehnten Begriff anderer Wissenschaften abzuweichen, lässt 207 208 209
Binding, Handbuch, S. 12. Binding, Handbuch, S. 12. Binding, Handbuch, S. 12 f.
B. Eigengesetzlichkeit des Rechts
73
sich an einem Beispiel aus seinen „Normen“ verdeutlichen: der Bindingschen Konzeption eines „Willens von Rechtswegen, bei welchem rechtlich relevanter Inhalt und rechtlich anerkannte Fähigkeit seines Urhebers, grade einen solchen Entschluss zu fassen, zusammentreffen.“ 210 Der Begriff wird dabei nur aus dem rechtlichen Bedürfnis ermittelt, das er erfüllt. Sein Inhalt bestimmt sich nach seiner Funktion im Rechtssystem, wodurch er sich im Ergebnis weit von herkömmlichen Willensbegriffen entfernt. Diese Funktion ist innerhalb der Bindingschen Dogmatik die Ausfüllung des Handlungsbegriffs: „Handlung ist verwirklichter rechtlich relevanter Wille. [. . .] Drei Merkmale nun konstituiren die Handlung. Es muss auf dem Gebiete des Rechts, also diesem nicht gleichgültig, eine Veränderung eingetreten sein. Dieser Veränderung muss der rechtlich relevante Wille eines Menschen derart entsprechen, dass grade dieser Mensch die Ursache zu gerade dieser Veränderung hat setzen wollen: es muss der objektiven Seite, dem Geschehniss, ein rechtmässiger oder rechtswidriger Wille gegenüberstehen. Und endlich muss die Kluft zwischen Wille und Tat überbrückt werden durch das Urteil, dass grade dieser Wille Ursache für diese Tat geworden ist. Dieses Urteil heisst die juristische Zurechnung. Sie sagt nicht mehr und nicht weniger, als dass eine Handlung im Rechtssinne vorliege.“ 211
Wie an dieser Aufstellung deutlich wird, dient der Handlungsbegriff bei Binding nicht wie in der modernen Strafrechtsdogmatik der vortatbestandlichen Filterung rechtlich nicht relevanter Vorgänge. Insofern „Handlungen“ im Sinne Bindingscher Dogmatik nicht auf Erwerb oder Ausübung subjektiver Rechte und Pflichten, sondern auf eine Pflichtverletzung gerichtet sind, stellen sie bereits vollständige, das heißt insbesondere auch schuldhafte Delikte dar.212 Der mit diesem Handlungsverständnis korrespondierende „Wille im Rechtssinne“ wird von Binding einheitlich gefasst, was in der Folge für zahlreiche Missverständnisse sorgte: Außerhalb des Willens als allgemeines Handlungsmerkmal, das gleichermaßen für fahrlässige wie für vorsätzliche Delikte tauglich sein muss, lehnt er weitere Willensbegriffe ab. Da eine Vorstellung des rechtswidrigen Erfolgs der eigenen Handlung die Fahrlässigkeit nach Bindings Dogmatik stets ausschließt,213 kann Bindings Willenskonzeption nur noch auf einen Minimalbegriff hinauslaufen. Die Anforderungen der rechtlichen Dogmatik von Vorsatz und Fahrlässigkeit im Sinne Bindings benötigen einen Willensbegriff, der auf die Vorstellung des Gewollten keine Rücksicht nimmt. Die Erfordernisse seiner rechtlichen Dogmatik führen ihn daher zunächst zu einer strengen Trennung des rechtlich relevanten Wollens vom rechtlich relevanten Wissen: 210
Binding, Normen, Bd. 2,1, S. 92; Hervorhebung hinzugefügt. Binding, Normen, Bd. 2,1, S. 92 f. Vgl. dazu ebd., S. 276. 212 Vgl. Binding, Normen, Bd. 2,1, S. 93. 213 Die Konzeption einer bewussten Fahrlässigkeit, die hiermit nicht in Einklang zu bringen ist, lehnt Binding, Normen, Bd. 2,1, S. 815, Fn. 18 sowie Bd. 4, S. 420 ff. ab. 211
74
1. Teil: Bindings methodische Grundlagen „Man kann etwas Widerrechtliches nur wollen oder nicht wollen, aber unmöglich auf verschiedene Art wollen; man kann die gewollte Widerrechtlichkeit als solche nur wissen oder nicht wissen, aber unmöglich auf verschiedene Art wissen.“ 214
Ausdrücklich widerspricht er der Ansicht, „nur das Vorgestellte könne gewollt sein“.215 Um zu vermeiden, dass alle Fahrlässigkeitsdelikte „zu dem einen Unterlassungs-Vergehen der Unachtsamkeit“ 216 erklärt werden, müsse vielmehr auch der Erfolg einer fahrlässigen Rechtsverletzung vom „Willen“ umfasst sein. Der rein juristische Willensbegriff beinhaltet danach „nichts anderes als das kausale Moment in dem Menschen“, unabhängig von einer Vorstellung des kausal Verursachten.217 Er erklärt sich nur aus der rechtlichen Dogmatik und hat mit dem Willen im psychologischen Sinne wenig gemein. Binding wehrt sich vehement gegen die Behauptung, er propagiere die Möglichkeit eines „unbewussten Wollens“, indem er den Inhalt dieses Bewusstseins einfach neu definiert: Das Recht habe es keinesfalls „mit solch unbewusstem Wollen zu tun: was [es] allein [beurteilt], sind Produkte des bewussten Willens, d.h. eines Willens, den mindestens das Wissen vom Wollen begleitet.“ 218 Der übrig bleibende Willensbegriff ist demnach beschränkt auf ein Wissen um das eigene „Ursächlichwerden“, ohne dass es auf eine Vorstellung vom Verursachten ankommt. Damit weicht Binding der Kritik freilich nur aus: Der fahrlässige Delinquent weiß wohl, dass er mit seiner Handlung für „etwas“ ursächlich wird und „will“ insofern bewusst; in Bezug auf die eigentliche Rechtsübertretung jedoch ist ihm der Inhalt seines eigenen Willens nach Bindings Konzeption tatsächlich „unbewusst“. Trotz teils vehementen Widerspruchs durch die rechtswissenschaftliche Gemeinde219 unterscheidet sich Bindings Sichtweise aber inhaltlich weniger von geläufigen Auffassungen, als es auf den ersten Blick scheint: Ohne einen zugrundeliegenden Willen im Sinne Bindings ist von einer Handlung im juristischen Sinne nicht zu sprechen. In diesem Sinne wird seine Konzeption inhaltlich von der gesamten Strafrechtslehre nachvollzogen. Der „Wille“, der hier herangezogen wird, ist jedoch nicht identisch mit demjenigen, der in der strafrechtlichen Literatur zur Beschreibung der Vorsatzstruktur gebraucht wird. Binding beschreibt in diesem Punkt letztlich eine Grundlage des Handlungsbegriffs. Innerhalb seiner Dogmatik lässt sich daher problem- und folgenlos behaupten, dass sowohl vorsätzlichen als auch fahrlässigen Delikten ein „Wille“ zugrundeliege, auch das Fahrlässig214
Binding, Normen, Bd. 2,1, S. 337. Binding, Normen, Bd. 2,1, S. 350; siehe dazu a. ebd., S. 298 ff. 216 Binding, Normen, Bd. 2,1, S. 299. 217 Binding, Normen, Bd. 2,1, S. 302. 218 Binding, Normen, Bd. 2,1, S. 306. 219 Siehe etwa Sigwart, Der Begriff des Wollens, S. 26 ff.; Kelsen, Hauptprobleme, S. 153 ff.; Radbruch, Handlungsbegriff, S. 88 ff. 215
B. Eigengesetzlichkeit des Rechts
75
keitsdelikt daher „Willenswerk“ sei.220 Ein Wollen des eigenen Tuns oder Unterlassens, das nicht notwendig auch die damit verbundene Kausalkette umfassen muss, liegt schließlich in beiden Fällen als allgemeine Handlungsvoraussetzung vor. Hinsichtlich der Rechtswidrigkeit des „Willens“ sind Vorsatz und Fahrlässigkeit für Binding also identisch; da Binding keinen weiteren Willensbegriff zur Beschreibung des Vorsatzes aufstellt, taugt das Merkmal dadurch nicht mehr zur dogmatischen Abgrenzung beider Schuldformen. Die Begrifflichkeiten bedeuten noch keinerlei Vorentscheidung in den relevanten Fragen zum Vorsatz: Das scheinbar gesicherte „voluntative Element“ des Vorsatzes ist schlicht nicht identisch mit demjenigen, das von Befürwortern der sogenannten „Willenstheorie“ gefordert wird. Der Wille, selbst für irgendetwas ursächlich zu werden, ist wesentlich verschieden von demjenigen, der die Kausalkette und das Ergebnis des Bewirkten umfasst. Auch die Bedeutung einer Kenntnis von der Rechtswidrigkeit der eigenen Handlung für den Vorsatz ist damit noch nicht geklärt: Da sowohl Vorsatz als auch Fahrlässigkeit nach Bindings Verständnis einen „rechtswidrigen Willen“ erfordern, bleibt die Frage, welche zusätzlichen Merkmale der Vorsatz beinhalten muss – ob es also auf eine Vorstellung nur der eigenen Kausalkette oder auch der Rechtswidrigkeit ihres Ergebnisses ankommen muss – unberührt. Hier gelangt er schließlich zu dem Ergebnis, dass der Vorsatz als „bewusst gewollte“ Rechtswidrigkeit und der Fahrlässigkeit als „unbewusst gewollte“, aber vermeidbare Rechtswidrigkeit zu fassen sei.221 So nimmt Bindings Schuldlehre durch das Element des Bewusstseins vom Inhalt des eigenen Willens schließlich doch eine Form an, die von geläufigen Vorstellungen nicht so weit entfernt ist, wie es sein eigentümlicher Willensbegriff zunächst vermuten ließ. Nur, wer von der (Möglichkeit einer) Kausalität der eigenen Handlung für einen späteren rechtswidrigen Erfolg weiß, kann danach vorsätzlich handeln. Wer dies nicht weiß, handelt fahrlässig, wenn ihm die fehlende rechtliche oder tatsächliche Einsicht zum Vorwurf gemacht werden kann. Selbst wenn ihm die weite Fassung des „rechtswidrigen Willens“ an anderer Stelle zur dogmatischen Ausfüllung des Versuchs dient, so dass er auch einen „fahrlässigen Versuch“ für rechtsdogmatisch möglich hält,222 ist dies mit dem Verständnis des dogmatisch Gemeinten unproblematisch. Ein solcher, dem geltenden Strafrecht auch nach Bindings Dafürhalten zurecht unbekannter „Versuch“ bezeichnete eine Handlung, die bei ungehindertem Geschehensablauf zu einem rechtswidrigen Erfolg führen würde, der dem Handelnden als Fahrlässigkeit vorwerfbar wäre. Auch bei dieser – gewiss eigentümlichen – Konstruktion mangelte es also nicht an einem dogmatischen Anknüpfungspunkt für die Schuld.
220 221 222
Binding, Normen, Bd. 4, S. 358. Vgl. Binding, Normen, Bd. 4, S. 454 f. Vgl. Binding, Normen, Bd. 4, S. 493 ff.
76
1. Teil: Bindings methodische Grundlagen
Exemplarisch führt die besprochene Sichtweise Bindings vor Augen, wie weit sich Begriffe durch die rechtliche Vereinnahmung von ihrer Bedeutung in den empirischen Wissenschaften entfernen können. Der ermittelte Willensbegriff stimmt weder mit dem allgemeinen Sprachgebrauch, noch mit dem psychologischen Willensbegriff überein; er ist durch und durch ein Wille im Rechtssinne. Dessen seltsame Fassung verdeckt dabei allzu leicht, dass es sich bei der rein juristischen Begriffsbildung prinzipiell um einen rechtswissenschaftlichen Fortschritt handelt: Eine strikte Kettung der juristischen Begriffe an ihre naturwissenschaftlichen Bedeutungen223 hat notwendig eine für gängige Rechtsauffassungen fehlerhafte, da unteleologische Begriffsbildung zur Folge.224 Zum einen sollte also von der eigentümlichen Konstruktion Bindings nicht auf eine grundsätzliche Problematik rein juristischer Begriffe geschlossen werden. Zum anderen ist Bindings Willensbegriff als solcher unschädlich, der Streit dazu maßgeblich ein Streit um Namen. Eine Gefahr geht von seinem Willensbegriff nur aus, insoweit er zur Ausfüllung von Rechtsbegriffen herangezogen wird, die ersichtlich den Inhalt eines Willens im psychologischen Sinne voraussetzen, und für das so entstandene inhaltliche Defizit kein Ersatz angeboten wird; es ist die Gefahr eines Etikettenschwindels. 3. Ausschluss formaler Einschränkungen des Rechtsbegriffs Innerhalb rechtspositivistischer Sichtweisen sind formale Einschränkungen des Rechtsbegriffs vor allem in zwei Richtungen denkbar: Zunächst darf die sogenannte Imperativentheorie als eine derartige Einschränkung gesehen werden. Sie geht auf Jeremy Bentham (1748–1832) und John Austin (1790–1859) zurück,225 ist aber für den deutschen Rechtsraum vor allem mit dem Namen August Thons (1839–1912) verbunden. Dieser unternimmt in seinem Werk „Rechtsnorm und subjektives Recht“ ausdrücklich den Versuch, die noch genauer zu beschreibende Normentheorie Bindings für das Zivilrecht zu verwerten226 und gelangt schließlich zu der These, „das gesammte Recht einer Gemeinschaft“ sei „nichts als ein Complex von Imperativen“.227 Für diese Kernthese der Imperativentheorie gewann Thon unter anderem so namhafte Vertreter wie Jhering228 und Bierling.229 223 Etwa Zitelmann, Irrtum und Rechtsgeschäft, S.19 spricht von juristischen „Blankettbegriffen“ für die empirischen Wissenschaften und wird dafür von Binding, Handbuch, S. 12 zurecht kritisiert. 224 Vgl. Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 403 f. mit dem anschaulichen Beispiel des zivilrechtlichen Kausalitätsbegriffs u. w.N. 225 Siehe Austin, Jurisprudence, Bd. 1, 5. Aufl. 1911, S. 88 f. u. Bentham, Of Laws in General, Chap. I.1, S. 1. Der Grundgedanke ist allerdings bereits bei Hobbes, De Cive, Kap. 14, § 1 angelegt. Siehe zu allen überblicksartig Renzikowski, in: FS Gössel, S. 3 (5). 226 Vgl. Thon, Rechtsnorm, S. VII. 227 Thon, Rechtsnorm, S. 8; Hervorhebungen aus dem Original nicht übernommen. 228 Zweck im Recht, Bd. 1, 4. Aufl. 1904, S. 256 ff.
B. Eigengesetzlichkeit des Rechts
77
Später von Karl Engisch (1899–1990) aufgegriffen,230 erfreut sich dieses rechtstheoretische Verständnis bekanntlich bis heute großer Beliebtheit.231 Eine weitere konzipierbare Einschränkung des Rechtsbegriffs nimmt die Imperativentheorie in sich auf, geht über diese aber noch hinaus, indem sie nur die irgendwie staatlich sanktionierten Imperative als Recht akzeptiert. Insbesondere die damit leicht mögliche Abgrenzung des Rechts von der Moral wird für diese als Sanktionstheorie bekannt gewordene Auffassung angeführt. Als klassische Vertreter dieser Theorie dürfen vor allem Kelsen232 und Carl Schmitt233 (1888–1985) gelten. Neuerdings äußerten sich auch Klaus F. und Hans C. Röhl,234 Andreas Hoyer235 sowie von philosophischer Seite Peter Stemmer236 im Sinne der Sanktionstheorie. Bindings Stellungnahmen zu diesen Auffassungen ermöglichen ein genaueres Verständnis der Besonderheiten seines Rechtsbildes. Sie stellen letztlich ein Beharren auf einer ideellen Eigenartigkeit des Rechts dar, einer eigenständigen juristischen Gedankenwelt, mit der weder die Imperativentheorie [a)] noch die Sanktionstheorie [b)] vereinbar ist. a) Imperativentheorie Die Imperativentheorie kann den von Binding selbst als Satz seiner „esoterischen Psychologie des Rechts“ anerkannten, wesentlichen Zweck des Rechts für sich geltend machen: die Beeinflussung des menschlichen Willens.237 Eine solche Einwirkung auf den menschlichen Willen bezwecken schließlich gerade Imperative. Ist diese Einwirkung wesentliches Ziel allen Rechts – nicht nur des Strafrechts –, so läge es nahe, das Recht normlogisch als eine Sammlung von Imperativen zu verstehen. Rechtssätze, die nicht Imperative sind, wären dann als
229
Kritik, Bd. 2, S. 7 ff. Vgl. Engisch, Einführung, S. 54 ff. 231 Vgl. aus der neueren Literatur etwa Hoerster, Was ist Recht?, S. 10 ff.; S. Mayer, Juristische Geltung, S. 30 ff.; K. F. Röhl/H. C. Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 230 ff. sowie Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 148 ff. 232 Siehe bspw. Hauptprobleme, S. 205 ff. u. Reine Rechtslehre, 1. Aufl. 1934, S. 25 f. 233 Drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, S. 11 ff. 234 Siehe von K. F. Röhl schon JA 1999, 600 (601). Auf dieser Linie liegt nun auch K. F. Röhl/H. C. Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 230 ff. 235 Strafrechtsdogmatik, S. 42 ff. 236 Normativität, S. 155 ff. Stemmer versteht das bedingte Müssen, das in der Sanktionsandrohung zum Ausdruck gebracht wird, als notwendigen Bestandteil des spezifisch Normativen. Ein Ge- oder Verbot vor der entsprechenden Sanktionsandrohung wird damit begrifflich unmöglich. 237 Binding, Normen, Bd. 2,1, S. 5. Tatsächlich argumentiert Thon, Rechtsnorm, S. 1 ff. auch ganz in diesem Sinne für seine Lehre. 230
78
1. Teil: Bindings methodische Grundlagen
„unvollständig“ im Sinne eines bloßen Bestandteils eines oder mehrerer „echter“ Rechtsnormen zu verstehen; Sätze, die sich nicht als Teil eines Imperativs verstehen lassen, ständen als sinnlose Proklamationen außerhalb des Rechtsbegriffs. Schließlich ließe auch die Tatsache, dass Thon sich in seiner Konzeption der Imperativentheorie gerade von Bindings Normenlehre inspirieren ließ,238 zunächst ein entsprechendes Meinungsbild Bindings vermuten. Diese erste Vermutung lässt sich durch einen Blick in Bindings Werke schnell widerlegen. Die Art und Weise seiner Ablehnung erlaubt Rückschlüsse auf sein Rechtsverständnis. So schreibt er zur Imperativentheorie Thons: „Besteht zwischen der natürlichen Freiheit und dem lediglich zu ihrer Beschränkung berufenen Rechte der feindliche Gegensatz, bei dem die Naturrechtslehre nach ihren jede Möglichkeit einer Rechtsordnung verneinenden Voraussetzungen anlangen musste, so kann es kein Recht geben, das Freiheit gewährt, sondern nur solches, das sie vernichtet. Jeder Rechtssatz wird Damm und Schranke, Verbot oder Gebot: die Freiheit ist von der Natur, Rechtens allein ihre Grenze, die Unfreiheit; der Inhalt dessen, was gesunde Anschauung ein subjektives Recht nennt, ist dem Rechte durchaus fremd. Dieses führt seinen Namen zu Unrecht: denn seine einzige Aufgabe ist die Verpflichtung. ,Das gesammte Recht einer Gemeinschaft – sagt neuerdings Thon – ist nichts als ein Komplex von Imperativen [. . .]‘. Die zur Befestigung und Verteidigung dieser Position verwandten Hülfen sind die allerbedenklichsten und trotzdem wird sie nicht haltbar. Das Hauptmittel bildet fortgesetzte Vergewaltigung des geschriebenen Rechtes behufs fortgesetzter Ausschöpfung alles positiven Gehaltes der subjektiven Rechte. Wie unter der Folter die Leiber der Inquisiten, so werden unter dieser Untersucher Händen die Rechtssätze verrenkt, bis die Misshandelten eingestehen, alle seien sie Imperative, oder soweit nicht, dann überhaupt keine Rechtssätze oder keine selbständigen – wobei allerdings der Begriff des selbständigen Rechtssatzes ganz im Dunkeln bleibt – oder nur Rücknahmen von wirklichen oder gar von gedachten Verboten.“ 239
Binding wählt eine deutliche Sprache: Auch die Imperativentheorie hält er für „Naturrecht“, beziehungsweise vom klassischen Naturrecht inspiriert. Nach seinem Verständnis setzt sie eine umfassende natürliche Freiheit des Menschen axiomatisch voraus, die das Recht fortan nur noch einschränken kann. Er spricht damit die subjektiven Rechte an, deren freiheitsgewährenden Inhalt er in der Imperativentheorie nicht ausmachen kann. Er steht mit jener Kritik an der Imperativentheorie bekanntlich nicht allein, eröffnet uns aber durch den bereits aufgezeigten Rahmen seines „Kampfs gegen das Naturrecht“ einen besonderen Einblick in sein Verständnis des Rechts: Binding streitet überhaupt nicht ab, dass subjektive Rechte prinzipiell auch durch ihr Spiegelbild darstellbar sind, das heißt gegen Andere gerichtete Imperative auf ein Tun oder Unterlassen, welches dem Inhalt des jeweiligen subjektiven 238 239
Siehe Thon, Rechtsnorm, S. VII. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 101 f.
B. Eigengesetzlichkeit des Rechts
79
Rechts entspricht. Die für ihn einzig zu stellende Frage ist nicht die der logischen Stringenz der Imperativentheorie. Vielmehr hält er nur für relevant, ob sie das „Selbstbild“ des Rechts, die Weise, in der es sich dem Interpreten als eigenständige Gedankenwelt präsentiert, akkurat wiedergibt. Jenseits aller Fragen nach der logischen Konsequenz der Theorie ist für ihn entscheidend, ob das Recht selbst seinen einzigen Zweck in der Beschränkung von Freiheit sieht. Wird das Recht auf eine Art und Weise dargestellt, die seinem Selbstverständnis nicht entspricht, muss es, in Bindings Worten, zugunsten dieser Theorie „gefoltert“ werden, um im Sinne der Imperativentheorie zu erscheinen – so ist letztere schon aus diesem Grund abzulehnen. In ihrer Gesamtheit will die Sozialordnung „Recht“ also zwar den Willen der Menschen beeinflussen; daraus aber ist für Binding keinesfalls abzuleiten, dass auch jeder einzelne Rechtssatz für sich diesem Zweck zu dienen habe. Daneben unterstellt Binding in seinem Rechtsverständnis keine „natürliche“ Freiheit des Menschen, die das Recht nur einzuschränken bestrebt sein kann. Freiheit im juristischen Sinne kann eingeschränkt oder ausgeweitet werden. Einen natürlichen, dem Recht also vorgelagerten Freiheitsstatus kann es für den Bereich der Rechtswissenschaft aus Sicht Bindings nicht geben. Als Teil der rechtlichen Sphäre entsteht die durch das Recht bestimmte Freiheit erst mit dem Recht. Auch insofern widerspricht die Imperativentheorie für Binding also dem Selbstverständnis des Rechts. b) Sanktionstheorie Auch bei der Sanktionstheorie ließe sich eine Gefolgschaft Bindings zunächst vermuten: Immer wieder betont er den kategorialen Unterschied zwischen Moral und Recht, welchen die Sanktionstheorie mit bestechender Einfachheit nachzuzeichnen im Stande ist. Auch als Imperative ausgestaltete leges imperfectae dürften für Binding dann aber kein Recht sein. Mit Blick auf diese Konsequenz fällt Bindings Urteil aber nicht weniger deutlich aus als im Falle der Imperativentheorie: Völlig unproblematisch können für ihn auch leges imperfectae zum Recht gehören. Dieser Punkt ist ihm so wichtig, dass er ausdrücklich darauf verzichtet, der Kontroverse „vorsichtig aus dem Wege [zu] treten durch den Hinweis darauf, dass die Normen, deren der Kriminalist bedarf, ja solche sind, deren Uebertretung Strafe trifft“.240 Bei der Frage nach der Wesentlichkeit des Zwangsmoments eines Rechtssatzes handle es sich schließlich „um Grundanschauungen mit bedeutsamen Konsequenzen auch für das Strafrecht“,241 so dass er sich zur Stellungnahme gezwungen sieht. Interessanterweise verweist er in dieser allerdings nur auf verschiedene sanktionslose
240 241
Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 58. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 58.
80
1. Teil: Bindings methodische Grundlagen
Gesetze, die etwa höchstpersönliche, mit Blick auf das monarchische Prinzip selbstverständlich sanktionslose Pflichten des Monarchen regeln.242 Eine solche Begründung der rechtlichen Existenz sogenannter unvollständiger Pflichten mutet zunächst seltsam an: Binding will ihre Zugehörigkeit zum Recht beweisen, indem er eine Auswahl an Gesetzen zitiert, deren Rechtsqualität er dabei freilich schlicht voraussetzt. Dennoch wäre es zu kurz gegriffen, hier von einem Zirkelschluss zu sprechen. Vielmehr ist die angebotene Begründung im selben Kontext zu verstehen, in den auch seine Ausführungen zur Imperativentheorie einzuordnen sind: Binding betrachtet Sätze, die problemlos auf eine anerkannte Rechtsquelle rückführbar sind und von dieser als Teil der mit ihrer speziellen Autorität ausgestatteten Ordnung geschaffen wurden, stets als Sätze des Rechts. Allein dem eigenständigen Sinn, der sich aus dem Gesamtsystem aller durch ihren Ursprung mit der Autorität der Rechtsquelle ausgestatteten Sätze ergibt, gilt es für Binding zu folgen. Den speziellen Annahmen dieser Sätze über die Handlungsfreiheit des Menschen, ihrem Gefüge aus freiheitsgewährenden und freiheitseinschränkenden Bestandteilen hat der Jurist danach zu folgen, seien einzelne Sätze nun sanktionsbewehrt oder nicht. Die Wahrnehmung der ideellen Eigenartigkeit des Rechts wird zum Ausgangspunkt aller juristischen Arbeit. An ein solches Recht, „gedacht als Ausdruck des autoritativen Willens“ 243 einer Rechtsquelle, sind für Binding daher nur minimale begriffliche Anforderungen zu stellen. Allein entscheidend ist, dass das staatlich organisierte Gemeinwesen244 als Rechtsquelle diese Sätze als Recht aufstellt.245 Diese Position Bindings mag überraschen, wenn man an Bindings Anlehnung an Kant zurückdenkt, in der er das Recht als „heteronomes Gesetz“ bezeichnete.246 Schon die Grundlagen des Rechtsverständnisses Kants zeigen, dass 242 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 63 f. Verwiesen wird etwa auf Artt. 12 f. RV 1871, die eine jährliche Berufung des Bundesrates und Reichstages durch den Kaiser vorsehen, sowie Art. 11 Abs. 2 RV 1871, der bestimmt, dass der Kaiser für eine Kriegserklärung die Zustimmung des Bundesrates einzuholen habe. Weitere Regelungen kaiserlicher Pflichten, auf die Binding verweist, sind Artt. 10 (Gewährung des „übliche[n] diplomatische[n] Schutz[es]“ für Mitglieder des Bundesrates durch den Kaiser), 17 (Ausfertigung und Verkündung der Reichsgesetze durch den Kaiser), 25 (Neuwahl nach Auflösung des Reichstages innerhalb von 60 Tagen) u. 26 (Vertagung des Reichstages durch den Kaiser ohne Zustimmung des Reichstages nur bis zu 30 Tagen) RV 1871 . 243 Binding, Handbuch, S. 3. 244 Vgl. Binding, Handbuch, S. 198 f., Fn. 6. 245 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 66: „Die Beispiele sollten nur ihr [sc. der leges imperfectae] Vorkommen und die Gesichtspunkte ihrer Verwendung feststellen, sowie dartun, dass der Gesetzgeber nicht einen Augenblick zweifelt durch sie echte Rechtspflichten zu begründen.“ Als „Gesetzgeber“ versteht Binding hier und zum Teil auch andernorts nicht das die jeweilige Rechtspflicht erschaffende Staatsorgan, sondern die Rechtsquelle im genannten Sinn. Vgl. zu dieser teilweisen Gleichsetzung Binding, Handbuch, S. 3. 246 Binding, Normen, Bd. 2,1, S. 226. Siehe dazu schon o. S. 52 ff.
B. Eigengesetzlichkeit des Rechts
81
dieser unvollkommene Rechtspflichten ausschließt: Kant unterscheidet Rechtspflichten inhaltlich nicht von ethischen Pflichten. Beide werden bestimmt durch den kategorischen Imperativ, da sich erst durch diesen feststellen lässt, was sich im Sinne der berühmten Formel „zur allgemeinen Gesetzgebung“ 247 eignet.248 Nur ein äußerer Freiheitsgebrauch in diesem Sinne lässt sich mit demjenigen von jedermann verbinden.249 Die inhaltliche Ausgestaltung des Rechts, die Kant vornimmt, baut ohne jede Bezugnahme auf das positive Recht auf seinem a priori bestimmbaren Freiheitsbegriff auf und äußert sich damit als ein reines Vernunftrecht, unabhängig von der Willkür einer Rechtsquelle.250 Die Unterscheidung von ethischen und rechtlichen Pflichten geschieht demgegenüber gerade durch die Gegenüberstellung ihrer Wirkweisen: Ethische Pflichten sind autonom, werden also von der Vernunft des Menschen als sittliche Gebote anerkannt. Um ethisch zu handeln, müsse die „Triebfeder“ des Menschen danach in jenem inneren Anerkenntnis bestehen. Für die „juridische“ Pflicht hingegen sei es belanglos, ob der Mensch das Gebot als solches anerkenne; der Rechtspflicht sei schon Genüge getan, wenn ihr äußerlich entsprochen wurde.251 Es handelt sich damit wesensmäßig um eine heteronome Pflicht, die zwar innerlich als ethisches Gebot nachvollzogen werden kann, aber keinesfalls muss. Hinreichende „Triebfeder“ der Befolgung eines Rechtssatzes ist daher nicht die Erkenntnis seines Inhalts als moralisch geboten, sondern die Befolgung des darin verwirklichten Satzes vor dem Hintergrund eines Mechanismus äußeren Zwangs.252 Allen unvollkommenen, das heißt nicht mit solchem Zwang ausgestatteten Pflichten spricht Kant damit die Rechtsqualität ab. Die von Binding vorgetragene Rechtsqualität der leges imperfectae deutet also auf eine unterschiedliche Vorstellung des Rechts und seiner „Heteronomität“ hin, die ihn trotz seiner terminologischen Anleihe bei Kant weit von diesem entfernt. Gleich bleibt nur, dass es einer inneren Übereinstimmung mit dem Rechtssatz für eine Befolgung seines Inhalts nie bedarf, das Recht sich also in seiner Zielsetzung auf die Beeinflussung menschlicher Handlungen unabhängig von seiner Anerkennung als ethische Pflicht beschränkt. Nur insofern zieht Binding die Grenze zu moralischen Regeln ähnlich. Ist das Zwangsmoment aber für Kant als rein 247 Kant, Vorarbeiten zu den Metaphysischen Anfangsgründen der Tugendlehre, AA 23, S. 379. 248 Am deutlichsten wohl die Stelle in Kants Metaphysik der Sitten, AA 6, S. 220. 249 Weiterführend hierzu Greismann, Recht und Ethik 14 (2006), S. 3 (25 f.) m.w. N. 250 Vgl. zu dieser Programmatik Kants die bekannte Stelle in dessen Metaphysik der Sitten, AA 6, S. 230: „Eine bloß empirische Rechtslehre ist wie der hölzerne Kopf in Phädrus’ Fabel ein Kopf, der schön sein mag, nur Schade! daß er kein Gehirn hat.“ Zur schwierigen Problematik der Einordnung des positiven Rechts in dieses System siehe Dulckeit, Naturrecht, S. 6 ff., 42 f. u. 49 ff. 251 Vgl. Kant, Metaphysik der Sitten, AA 6, S. 219 f. 252 Vgl. Kant, Metaphysik der Sitten, AA 6, S. 220; siehe dazu Welzel, Naturrecht, S. 164 f. sowie W. Kersting, Recht, Gerechtigkeit und demokratische Tugend, S. 28 f.
82
1. Teil: Bindings methodische Grundlagen
äußere Triebfeder konstitutiv für die Rechtspflicht, glaubt Binding, die im Bereich der leges imperfectae so wichtige Grenze zwischen Moral und Recht allein durch die äußere Quelle des Rechts ziehen zu können. „Heteronomität“ im Sinne Bindings verweist ausschließlich auf eine solche äußere Quelle des zu befolgenden Satzes, der nicht auf seine Anerkennung durch den Folgeleistenden angewiesen ist. Man kann womöglich ein Stück typisch kaiserzeitliches, ordnungsstaatliches Denken darin sehen, dass Binding von einer „Triebfeder“ des Menschen ausgeht, die weder in äußerem Zwang noch in der inneren Nachvollziehung einer Pflicht besteht. Sie kann dann nur in einer staatlichen und damit rein äußeren Pflichttreue liegen, die mit moralischen Pflichten nicht einhergehen muss. Thon253 spricht in diesem Zusammenhang auch von der ideellen Macht des Rechts, die von Anhängern der Sanktionstheorie unterschätzt werde – und meint nichts anderes als Binding: Man folgt einer Pflicht allein deshalb, weil sie aus einer bestimmten Quelle stammt. Mit jener Pflichttreue, so Binding, könne und solle der Staat gesetzgeberisch operieren: „Ist die Norm Befehl, Ausdruck eines Herrscherwillens dem gehorcht werden soll, so wird das Bedürfniss ihre Übertretung mit Zwangsfolgen auszustatten um so geringer, je sicherer die Interessen der Normgebundenen sie selbst zu deren Befolgung drängen, je kleiner der Kreis dieser Personen ist und je grösser zugleich das Zutrauen des Staats zu ihrer Pflichttreue sein darf.“ 254
4. Fazit Bindings Kommentare zur Imperativentheorie und zur Sanktionstheorie sind nur vordergründig zirkelschlüssig. Zwar werden zu ihrer „Widerlegung“ letztlich nur Sätze beschrieben, deren Zugehörigkeit zum Recht vorausgesetzt wird. In dieser Voraussetzung darf aber der unausgesprochene Kernpunkt der Argumentation Bindings gesehen werden, der einiges über sein Rechtsbild verrät: Das Recht wird ausschließlich mit Blick auf die Quelle bestimmt, die ihm seine Autorität verleiht. Rechtsbegriff und Auslegungsmethodik fallen an diesem Punkt zusammen. Aus dem ausschließlichen Bezug auf die Quelle des Rechts und dem damit verbundenen, weiten Rechtsbegriff folgt die spezielle Perspektive, die Binding dem Juristen vorgibt und die hier als „Eigengesetzlichkeit des Rechts“ bezeichnet wird. Mit der vorgestellten „esoterischen Psychologie des Rechts“ wurde bereits ein erstes Beispiel dieses Rechtsverständnisses gegeben: Das Recht erschafft eine eigene Gedankenwelt, ist selbständige Idealentität, die jeder Interpret zum Verständnis des Rechtsinhalts bei seiner Arbeit zugrunde zu legen hat. Dem Willen des staatlich organisierten Gemeinwesens255 ist innerhalb seiner eigenen Gedan253 254 255
Rechtsnorm, S. 6. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 63. Vgl. Binding, Handbuch, S. 198 f., Fn. 6.
B. Eigengesetzlichkeit des Rechts
83
kenwelt strikt zu folgen. Diese Gedankenwelt ist offenkundig in keiner Weise auf eine imperativistische Form oder die Sanktionierung ihrer Sätze angewiesen. Die sich daraus ergebenden Auslegungsmaßstäbe erinnern an die Interpretation literarischer Werke: Hier wie dort hat sich der Interpret vollständig auf die ihm präsentierte Gedankenwelt einzulassen. Das Werk selbst ist in seiner Gestaltungsmacht dieser Gedankenwelt unbeschränkt, der Interpret nicht befugt, eindeutig als diesem Werk zugehörig gedachte Darstellungen und Passagen des Autors unter Aufstellung formaler Kriterien als außenstehend zu betrachten. Ebenso verhält es sich für Binding mit dem Recht: Recht ist die Ordnung, die aus dem Willen des staatlich organisierten Gemeinwesens hervorgeht. Was Recht ist, entscheidet unter nur minimalen formalen Anforderungen die Rechtsquelle selbst.
II. Grenzen juristischer Eigengesetzlichkeit Durch die nur minimalen Anforderungen an den Rechtsbegriff und die Möglichkeit einer logischen Fortführung einzelner Rechtsgedanken wird die Rechtsquelle in die Lage versetzt, ein umfassendes und fein abgestuftes Wertungssystem zu erschaffen, das unter anderem in der Auseinandersetzung mit der Normentheorie deutlich werden wird. Die logische Fortführung des Rechts steht in engem Zusammenhang mit dem sogenannten „Lückenlosigkeitsdogma“ (1.). Dessen weite Verbreitung innerhalb der Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts erlaubt Rückschlüsse auf das zugrundeliegende Rechtsbild. Das Recht geriete zu einem umfassenden System, das Antworten auf alle Rechtsfragen bereitstellte, die es lediglich im Rahmen rechtswissenschaftlicher Arbeit aufzufinden gälte. In Anbetracht der bisherigen Ergebnisse läge die Vermutung nahe, auch Binding zu den Anhängern des „Lückenlosigkeitsdogmas“ zählen zu dürfen (2.). 1. Das „Lückenlosigkeitsdogma“ Das „Lückenlosigkeitsdogma“ ist vor allem mit dem Namen des bekannten Rechtspositivisten Karl Magnus Bergbohm (1849–1927) verknüpft, einem Zeitgenossen Bindings. Es besagt, dass zwar nicht das gesetzte Recht allein, wohl aber das Recht insgesamt als „vollständig“ gesehen werden müsse. Das Recht biete für jede erdenkliche Frage eine Antwort, jede Auslegungsfrage könne letztlich eindeutig beantwortet werden. Das Recht habe keine Lücken, eine noch so schwierige Suche nach der rechtlich vorgesehenen Antwort auf eine Rechtsfrage bleibe doch stets nur Aufdeckung schon existenter Rechtssätze.256
256
Vgl. Bergbohm, Jurisprudenz und Rechtsphilosophie, Bd. 1, S. 371 ff.
84
1. Teil: Bindings methodische Grundlagen
Damit tritt die Verbindungslinie zum Rechtspositivismus bereits deutlich vor Augen. Bergbohm bedient sich des überkommenen Methodenverständnisses der Historischen Rechtsschule, um die Annahme eines „vollständigen“ Systems zu rechtfertigen, das rechtsexterne Überlegungen des Interpreten überflüssig macht;257 das Recht selbst böte auf jede Frage eine Antwort – und sei es die eigene Enthaltung, die Statuierung eines „rechtsleeren Raum[s]“, in dem Willkür herrsche.258 Der Kernpunkt des Streits um das Lückenlosigkeitsdogma liegt also in der Frage, ob in Grenzfällen bei der Interpretation des Rechts Wertungen zugrundegelegt werden müssen, die nicht vorher dem Recht selbst entnommen wurden. Eine bis ins Letzte konsequente rechtsinterne Methodik ist von der Verneinung dieser Frage abhängig. Die methodische Nähe zur idealistischen Jurisprudenz der Historischen Rechtsschule und die Gefahr fragwürdiger Konstruktionen eines Interpreten, der unter der Annahme eines lückenlosen Rechtssystems operiert, werden in Bergbohms eigenen Worten greifbar: „Ist das letzte Ergebnis nach Aufbietung aller Hilfsmittel, um dem positiven Recht einen Ausspruch abzunötigen, wirklich das, daß keine Rechtsentscheidung vorhanden ist, so ist rückwärts die angebliche Rechtsfrage für eine unjuristische erklärt – sie fällt in den erwähnten ,rechtsleeren Raum‘. Kann man dies aber nicht zugeben, so muß eine Entscheidung, d.h. ein Quantum des positiven Rechts, das genau in die sog. Lücke paßt, gefunden werden, wodurch sich dieses scheinbare Vacuum von selbst schließt. Unter einem solchen Zwange steht der Richter. Er kommt oft genug nur mittels schwieriger Deduktionen zu den erforderlichen Rechtssätzen [. . .]; endlich muß er doch dazu gelangen.“ 259
Heute gilt das Lückenlosigkeitsdogma als „tot“.260 Nur noch vereinzelt wird die These vertreten, dem Recht ließe sich ein so detailliertes System aus Wertungen entnehmen, dass jede an das Recht gestellte Frage rechtsintern und eindeutig beantwortet werden könne, es also letztlich nur jeweils eine „richtige“ Auslegung gebe.261 Die Schwierigkeiten einer solchen Annahme sind kaum übersehbar: Zur Genüge kennt die Jurisprudenz Fälle, in denen zwei oder mehr Auslegungsergebnisse sich jeweils auf anerkannte, methodisch saubere Argumente berufen können. An solchen Punkten stößt auch ein Rechtssystem an seine Grenzen, das im 257 Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 327 bezeichnet Bergbohms Rechtsverständnis daher zurecht als ein „Phänomen des Übergangs“. 258 So Bergbohm, Jurisprudenz und Rechtsphilosophie, Bd. 1, S. 375. Zum weiterhin umstrittenen Konzept eines rechtsleeren oder -freien Raumes siehe ferner u. S. 223 ff. 259 Bergbohm, Jurisprudenz und Rechtsphilosophie, Bd. 1, S. 381. Bereits Kelsen, Reine Rechtslehre, 1. Aufl. 1934, S. 99 zieht die Verbindungslinie zur dort sog. „Begriffs-Jurisprudenz“. 260 So z. B. Kruse, Richterrecht als Rechtsquelle, S. 13. 261 Die bekannteste Version einer solchen Sichtweise ist heute die sogenannte „one right answer“-Theorie Dworkins. Siehe dazu dessen Werk „A Matter of Principle“, S. 119 ff.
B. Eigengesetzlichkeit des Rechts
85
Einzelfall einen „rechtsleeren Raum“ zu konstatieren bereit wäre und sich so in unzureichend geregelten Rechtsbereichen auf ein binäres Antwortformat zurückziehen könnte. Selbst mit Hilfe einer – bis dato nicht allseits anerkannten – Rangfolge der Auslegungsarten bliebe immer noch sehr zweifelhaft, ob in derartigen Fällen ein eindeutiges Ergebnis ermittelbar oder auch nur vorhanden wäre.262 Letztlich ist daher weitestgehend anerkannt, dass der Interpret des Rechts gelegentlich in Bereiche vorstoßen kann, in denen verschiedene Auslegungsvarianten sich auf unterschiedliche methodengerechte Argumente stützen lassen. Dann ist es unumgänglich, von einem direkten Einfluss rechtsexterner Maßstäbe auszugehen, etwa in Form des moralischen Dafürhaltens des Interpreten, ökonomischer Erwägungen et cetera.263 2. Rechtsexternes in Bindings Methodenverständnis In Anbetracht der rechtspositivistischen Rhetorik Bindings, seiner Anlehnung an die Methodik der klassischen, idealistischen Jurisprudenz des 19. Jahrhunderts und seines Postulats einer Eigengesetzlichkeit des Rechts wäre erwartbar, dass auch er dem Lückenlosigkeitsdogma folgt. Schließlich wäre ein derart umfassend gedachtes rechtliches System in der Lage, vollständig auf Wertungen zu verzichten, die ihren Ursprung nicht im Willen des staatlich organisierten Gemeinwesens264 haben. Über die Schwierigkeiten der rechtsinternen Ermittlung einer Antwort auf jede erdenkliche Rechtsfrage unter den Prämissen des Rechtspositivismus hälfe dies freilich nicht hinweg. Wie bei Bergbohm gut zu beobachten ist, ist die Fiktion eines vollständigen Wertungskatalogs des Rechts, der eine eindeutige Antwort auf jede Frage zulässt, aber dennoch aufrecht zu erhalten. Nur allzu leicht kann eine eigene Wertung dort, wo sie unumgänglich wird, als juristische ausgegeben werden, das Rechtsexterne gerade in schwierigen Auslegungsprozessen schlechterdings zum Rechtsinternen erklärt werden. Unumwunden behauptet Bergbohm: 262 Ein abstraktes Rangverhältnis der Rechtsfindungsmethoden befürworten etwa F. Bylinski/P. Bydlinski, Methodenlehre, S. 103 ff. Bereits ihre Klarstellung ebd., S. 105 f. zeigt, dass ein solches Rangverhältnis die Frage nach einer in jedem Fall eindeutigen Antwort des Gesetzes unberührt lässt. Gegen eine Rangordnung der Auslegungselemente äußern sich bspw. Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 166. Esser, Methodenwahl in der Rechtsfindung, 126 ff. stellte die bis heute umstrittene These einer theoretischen Unlösbarkeit der Frage nach einem Rangverhältnis der Auslegungselemente auf. 263 Vgl. aus der älteren Literatur etwa Jung, in: FG Dernburg, S. 131 (144 ff.); Radbruch, ASS 22 (1906), S. 355 (363 ff.); Schmitt, Gesetz und Urteil, S. 11 ff. Für die jüngere Literatur siehe statt vieler die schroffe Ablehnung des Lückenlosigkeitsdogmas bei Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 491c. Übersichtliche Darstellungen der geschichtlichen Entwicklung finden sich bei Canaris, Lücken im Gesetz, S. 172 ff. sowie in aller Kürze bei Jestaedt, Grundrechtsentfaltung, S. 285 f. m. Fn. 21. 264 Vgl. Binding, Handbuch, S. 198 f., Fn. 6.
86
1. Teil: Bindings methodische Grundlagen „Wenn Theoretiker kein Endresultat im positiven Recht entdecken, so ist der Hauptgrund der, daß sie ein solches zu finden sich eben nicht nötigen.“ 265
Binding scheint unserer Erwartungshaltung zunächst zu entsprechen, wenn er die rein rechtsfeststellende Natur der richterlichen Urteilsfindung besonders betont und Analogieschlüsse als das Auffinden „latenten Rechts“ bezeichnet.266 In seinem „Handbuch des Strafrechts“ positioniert sich Binding indes eindeutig: „So zahlreich aber auch die latenten Rechtssätze sind, so kann doch, weil das Leben stets neue Gebilde erzeugt und dem Rechte das Erklärungsmoment wesentlich ist, kein positives Recht lückenlos sein. Das Leben aber wartet nicht und der Richter darf mit seinem Spruch nicht warten, bis der Gesetzgeber diese Lücke ausgefüllt hat. Die Privaten schliessen dann ihre Geschäfte ab nach eigner bester Einsicht, und der Richter legt kraft der ihm vom Gesetzgeber erteilten Vollmacht den vermuteten Willen der Rechtsquelle seinem Urteil zu Grunde.“ 267
Binding räumt also die Lückenhaftigkeit des positiven Rechts – selbst unter Hinzurechnung der im Rahmen weitläufiger Induktionen gewonnenen „latenten Rechtssätze“ – ein. Letztere sind damit lediglich die Gesamtheit des eindeutig feststellbaren ungesetzten Rechts. Daneben sieht er einen Bereich, in dem nicht sinnvoll von „latenten Rechtssätzen“ gesprochen werden kann, der Richter aber natürlich nichtsdestotrotz entscheiden müsse. Es kommt an dieser Stelle zum bei einer Ablehnung des Lückenlosigkeitsdogmas unvermeidlichen Bruch mit der streng rechtsinternen Perspektive: In Ermangelung positiven Rechts kann der Richter nicht entsprechend urteilen und ist daher gezwungen, sich im Bereich des Rechtsexternen zu bedienen. Diesen Bruch versucht Binding auf zweifache Weise wieder einzufangen: Zum einen legt er Wert darauf, den Richter wenigstens im Sinne eines vermeintlich zukünftigen Rechts urteilen zu lassen. Er habe nicht seine eigenen moralischen Ansichten zugrundezulegen, sondern den „vermuteten Willen der Rechtsquelle“. Freilich ändert das nichts an der rechtsexternen Natur dieses Willens. Anstelle der moralisch, ökonomisch, religiös oder anderweitig rechtsextern motivierten Sichtweise des Richters wird der Wille für maßgeblich erklärt, den die Rechtsquelle vermutlich gehabt hätte, wenn sie sich mit der fraglichen Situation auseinandergesetzt hätte. Die Entscheidung wird damit unpersönlich, aber nicht weniger rechtsextern. Sie rückt nur insofern näher an das Recht heran, als sie sich bereits an der vermuteten Art und Weise der Schließung einer Rechtslücke orientiert.268
265
Bergbohm, Jurisprudenz und Rechtsphilosophie, Bd. 1, S. 381. Vgl. bspw. Binding, Handbuch, S. 10 f., 28, 202 u. 214. 267 Binding, Handbuch, S. 202. 268 Siehe hierzu die insoweit konsequente Lösung Bindings im Falle intrajuristisch nicht lösbarer Probleme der grammatischen Auslegung eines neuen Rechtsbegriffs u. S. 111 ff. 266
B. Eigengesetzlichkeit des Rechts
87
Zweitens entgeht Binding der Konsequenz eines nicht vollständig ohne die Hilfe rechtsexterner Wertungen auskommenden Rechts schlicht dadurch, dass er jene Wertungen aus dem Recht hinausdefiniert. So entscheide der Richter im obigen Fall gar nicht nach „Recht“: „Sollte sich nun auch auf solche Weise eine konstante Uebung im Gericht und unter den Privaten herausbilden, so entsteht dadurch höchstenfalls ein Rechtssurrogat, aber kein Recht. Der Satz aber, welcher dem Gerichts- oder Geschäftsbrauch zu Grunde liegt, kann von der Rechtsquelle stillschweigend gebilligt werden, und sie manifestirt diese Billigung durch Duldung der weiteren Anwendung des Satzes, dadurch, dass sie der Uebung, obgleich sie ihr bekannt ist, nicht entgegentritt. Erst durch diese Approbation kann der Satz der Uebung die gemeinverbindliche Kraft erhalten, die ihm weder die grösste Zahl der an der Uebung Teil nehmenden Privaten noch die Richter zu geben vermögen.“ 269
An allen Stellen, an denen dem positiven Recht keine methodisch eindeutige Lösung abgerungen werden kann, es sich also nicht lediglich um die Feststellung bislang unbekannter, aber „latent“ vorhandener Rechtssätze handelt, muss der Interpret des Rechts aus dem Rechtsexternen schöpfen. Die Wertung wird jedoch auch durch diesen Akt noch nicht zu Recht, sondern bestenfalls zu einer unter moralischen, ökonomischen oder sonstigen Erwägungen stimmigen Meinung darüber, wie eine solche Lücke rechtlich gefüllt werden könnte – einem bloßen „Rechtssurrogat“. Erst die ausdrückliche Bestimmung oder die durch andauernde Duldung eines Gebrauchs vermittelte „Approbation“ durch die Rechtsquelle schließe dann die Rechtslücke.270 Von seinem Postulat, alles Recht sei positives Recht,271 hat Binding also letztlich keine Abstriche zu machen: Das Recht ist positiv, aber damit auch zwingend unvollständig. Extrajuristische Elemente in der konkreten Fallentscheidung werden als notwendig erkannt und entsprechend gekennzeichnet, also gerade nicht als Teil der Idealentität „Recht“ verstanden. Für Binding, der noch sehr freigie269
Binding, Handbuch, S. 202. Das so entstehende Recht möchte Binding, Handbuch, S. 202 nicht Gewohnheitsrecht nennen, da die Gewohnheit allein das Recht nicht entstehen lasse. Die „Approbation“ als Bedingung einer Verrechtlichung vormals rechtsexterner Sätze ergibt sich aus Bindings Verständnis der Rechtsquelle als staatlich organisiertes Gemeinwesen; vgl. Binding, Handbuch, S. 198 f. m. Fn. 6. Da Recht danach erst durch die staatliche Organisationsform entsteht, bedarf es zur Anerkennung bislang außerrechtlicher Sätze als Recht immer irgendeiner Form der staatlichen Gestattung. Lediglich die Quellen dieser extrajuristischen Sätze sind verschieden: Hier handelt es sich um extrajuristische Erwägungen des Richters zur Entscheidung eines konkreten, intrajuristisch nicht entscheidbaren Falles, im Falle des Gewohnheitsrechts um Überzeugungen des Volkes oder eines Teiles davon. 271 Vgl. bspw. Binding, Handbuch, S. 8 („Das Naturrecht ist eben nichts, wenn es nicht positive Gestalt annimmt“), S. 374 („Nur der Staat hat das Recht sich zu berechtigen; er allein besitzt Kompetenz-Kompetenz trotz allen Protesten des Naturrechts.“) sowie Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 21, Fn. 7 („Das Verbrechen ist Rechtswidrigkeit, das Recht nur positives Recht; mit naturrechtlichen Normen verschone man uns!“). 270
88
1. Teil: Bindings methodische Grundlagen
big die logische Prinzipienbildung zur Erkenntnis positiven Rechts nutzt, ist dies hervorhebenswert; die Grenzen des Rechtspositivismus allgemein und der von ihm selbst propagierten juristischen Eigengesetzlichkeit im Besonderen hat Binding gesehen und akzeptiert. Wieder zeigt sich in seinem Lösungsversuch der Rechtslückenproblematik zudem eine gewisse Verwandtschaft zum späteren Rechtsverständnis Kelsens, der die dargestellte Auffassung im Wesentlichen schlicht in die Terminologie der Reinen Rechtslehre überführt.272
C. Eigenständigkeit des Rechts: die objektive Auslegungstheorie Eine besondere Eigenständigkeit des rechtserzeugenden Willens vervollständigt das Bild eines nach Autonomie strebenden Rechts bei Binding. Jenes letzte Teilstück eines weitgehend autonomen Rechts ist als objektive Auslegungstheorie unauflöslich mit den Namen Bindings, Adolf Wachs (1843–1926) und Josef Kohlers (1849–1919) verbunden. Die fast zeitgleiche Entwicklung des im Wesentlichen selben Gedankens durch gleich drei bedeutende Juristen veranschaulicht, dass die offene Objektivierung des Rechts auf dem Höhepunkt seiner logischen Durchdringung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts einen Nerv der Zeit traf. Dabei wird Binding die Ehre der ersten Ausarbeitung zuzusprechen sein: Die jeweiligen Beiträge Wachs und Kohlers erschienen beide erst nach Veröffentlichung des Bindingschen „Handbuchs des Strafrechts“ (1885), in dem Binding die objektive Auslegungstheorie erstmals beschrieb. Wach bezieht sich in seiner Beschreibung der objektiven Auslegungstheorie sogar ausdrücklich auf Binding.273 272 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, 1. Aufl. 1934, S. 79 f., 95. u. 98 f. Wenn Kelsen, ebd., S. 79 von einer notwendigen „Individualisierung“ der generellen Norm spricht, so meint er sowohl die selbstverständliche Normkonkretisierung durch den Richterspruch als auch die Schaffung echten Richterrechts, das heißt neuer Rechtssätze; vgl. Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 308 f. Diese Rechtssätze aber entstehen für Kelsen nicht schon durch einen einzelnen Richterspruch als Normkonkretisierung, bei der sich der Richter stets aus dem Bereich des Extrajuristischen bedienen muss, sondern erst durch eine Übung der Rechtsprechung und eine staatliche „Approbation“ des neu gewonnenen Rechtssatzes. Wie Binding hängt also auch Kelsen der sogenannten „Gestattungstheorie“ an, nach der sich (Richter-)Gewohnheitsrecht nicht schon durch Rechtsüberzeugung und -übung alleine bilden kann. Siehe dazu Kelsen, Hauptprobleme, S. 101. Trotz unterschiedlicher Rechtsbilder – nach der Reinen Rechtslehre stellt die Konkretisierung einer Norm unter Rückgriff auf das „Rechtsleben“ einen außerhalb des positiven Rechts stehenden Willensakt des Interpreten dar – wird die richterrechtliche Schaffung genereller Normen bei Binding und Kelsen also gleich verstanden. Beide lehnen das klassische Lückenlosigkeitsdogma ab, glauben nicht an die Möglichkeit einer konsequent intrajuristischen Fallentscheidung – Kelsen, bei dem jede richterliche Normkonkretisierung extrajuristisch verläuft, freilich noch weit weniger als Binding. Für beide ist alles Recht positiv, aber unvollständig. 273 Vgl. Wach, Handbuch, S. 258, Fn. 7. Der Befund Hecks, AcP 112 (1914), S. 1 (5), die objektive Auslegungstheorie sei von Binding, Wach und Kohler völlig „unabhängig
C. Eigenständigkeit des Rechts: die objektive Auslegungstheorie
89
Die enge geistige Verwandtschaft der Ausführungen wird schon bei einem kurzen Blick auf die drei Beiträge deutlich. Wohl am eindrücklichsten beschreibt Wach den Kerngedanken der neuen Auslegungslehre. Danach sei das Gesetz „nicht nur Vorstellung [. . .], nicht nur Wunsch, sondern ein kausales normierendes Wollen; nicht ist es Wort, hinter welchem ein Wollen steht, sondern Wort gewordener Wille.“ 274
Ganz ähnlich postuliert Binding: „Inhalt des Rechtssatzes ist nicht ein Gedachtes, sondern ein Gewolltes; Erfassung dieses Inhaltes nicht Gedanken-Rekonstruktion, sondern die Erkenntnis des Inhalts, der Tragweite und der Autorität eines konkreten Stückes des Rechtswillens.“ 275
Bei Kohler wiederum heißt es: „Die Aufgabe der Interpretation ist es nicht, das vom Verfasser des Gesetzes Gedachte wieder zu denken: ihre Aufgabe ist es, das Gesetz in der Weise durchzuarbeiten, dass die in ihm enthaltenen Principien zu Tage treten, so dass sich die gesetzliche Bestimmung in ihrem richtigen juridischen Charakter enthüllt“.276
Das Recht wird demnach als eigenständiger Wille verstanden, der wesentlich unabhängig von seinem Schöpfer zu sehen und zu behandeln ist. Dieser Grundgedanke war allerdings weniger neu, als lehrbuchartige Beschreibungen des objektiven Auslegungsziels es gemeinhin vermuten lassen. Um Bindings Neuerungen und seine Anknüpfungen an frühere Argumentationsmuster zu verstehen, werden also zunächst Entwicklung und Begründung eines eigenständigen „Rechtswillens“ untersucht (I.). Erst in einem zweiten Schritt wird sich die Untersuchung dann mit den Einzelheiten objektiver Auslegung bei Binding befassen (II.). Diese Darstellung der objektiven Auslegungstheorie erlaubt schließlich weitere Schlüsse auf die philosophischen Voraussetzungen im Bindingschen Rechtsdenken (III.).
I. Entwicklung der objektiven Auslegungstheorie In der Auseinandersetzung mit Bindings objektiver Auslegungstheorie wird zuweilen in Zweifel gezogen, inwieweit wirklich von einer methodischen Neuentwicklung gesprochen werden darf. Solche Einwände haben einige Berechtigung und werden daher an dieser Stelle kurz kommentiert (1.). In einem zweiten Punkt geht die Untersuchung der Genese der objektiven Auslegungstheorie nach, die in jedem Fall deutlich vor Binding zu verorten ist (2.). Zuletzt wird Bindings eigene Argumentation für eine Objektivierung der Auslegungsmethodik analysiert (3.). voneinander“ entwickelt worden, ist daher jedenfalls insoweit unzutreffend, als damit die Unkenntnis vom Inhalt der Arbeiten der jeweils anderen gemeint sein soll. 274 Wach, Handbuch, S. 256. 275 Binding, Handbuch, S. 451. 276 Kohler, GrünhutsZ 13 (1886), S. 1 (7).
90
1. Teil: Bindings methodische Grundlagen
1. Objektive Auslegung im wissenschaftlichen Recht des 19. Jahrhunderts Eine deutliche Objektivierung des Rechts zeigt sich bereits bei den klassischen Vertretern der Historischen Rechtsschule. Betrachtet man die Frühphase der Historischen Rechtsschule und damit Savigny, so lassen sich schnell die Grundlagen des andauernden Literaturstreits zur richtigen Einordnung seiner Auslegungsmethodik ausmachen:277 In Anlehnung an die Hermeneutik Schlegels fasst Savigny den Wortlaut und die historischen Umstände des Autors als gleichberechtigte Auslegungsfaktoren auf.278 Die Feststellung eines rein objektiven oder subjektiven Auslegungsziels wird dadurch beträchtlich erschwert; ein Teil der Literatur hält die Frage gar für nicht entscheidbar.279 In jedem Fall sträubt sich Savigny nicht, Rechtsbegriffe ohne Rücksicht auf das Fassungsvermögen eines etwaigen Gesetzgeberwillens in weitreichenden logisch-systematischen Überlegungen zu entwickeln.280 Auch die logische Systematisierung des Rechts bei Puchta, Windscheid und dem frühen Jhering stößt sich nirgends an der Reichweite eines subjektiven Willens. Gerade Windscheid belegt überdies eindrucksvoll, dass sich die mit der begrifflichen Systematisierung des Rechts einhergehende Objektivierung durchaus mit einem subjektiven Auslegungsziel kombinieren lässt.281 Meint die behauptete objektive Auslegung bereits innerhalb der wissenschaftlichen Rechtserfassung des 19. Jahrhunderts aber nicht mehr als objektive Einflüsse und Teilelemente, die Binding, Wach und Kohler zur Beschäftigung mit den theoretischen Voraussetzungen einer konsequent-objektiven Auslegung bewogen haben mögen, so ist dagegen nichts einzuwenden. Tatsächlich ist Bindings Hinweis, das Recht spalte sich in einem natürlichen Prozess unabhängig von der herrschenden Auslegungslehre schließlich ohnehin vom Gesetzgeberwillen ab,282 sicherlich auch auf die wissenschaftliche Erfassung des Rechts innerhalb der Historischen Rechtsschule zurückzuführen. Eine Auslegung, die nicht offen ein objektives Auslegungsziel definiert, aber in ihrem Streben nach einer logischen Erfassung des Rechts notwendig eine stark objektive Prägung erhalten muss, findet sich freilich schon bei Juristen des frühneuzeitlichen Rationalismus.283 Wenn also im Folgenden von objektiver Aus277 Siehe dazu aus der neueren Literatur statt vieler Meder, Verstehen und Mißverstehen, S. 7 f. u. 125 ff. sowie Huber, JZ 2003, S. 1 (12 f.) m.w. N. 278 Siehe dazu Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 212 ff. 279 So etwa Meder, Verstehen und Mißverstehen, S. 125 ff.; Rückert, Idealismus, S. 353 ff. 280 Ein gutes Beispiel hierfür lieferte Savigny bereits mit der Entwicklung eines komplexen Besitzbegriffs in seinem „Recht des Besitzes“, S. 24 ff. 281 Siehe dazu Windscheid, Lehrbuch, Bd. 1, S. 51 ff. 282 Siehe dazu u. S. 104 f. 283 Vgl. Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 62 f. u. 331 m.w. N.
C. Eigenständigkeit des Rechts: die objektive Auslegungstheorie
91
legungsmethodik geschrieben wird, so soll dies eine ältere Auslegungstradition nicht verhehlen, die sich zum Teil durchaus bewusst an objektiven Maßstäben orientierte, jedoch nie ein rein objektives Auslegungsziel formulierte. Was das 19. Jahrhundert in dieser Hinsicht leistete, ist die theoretische Grundlage, die bewusste Formulierung des zuweilen unbewusst bereits als Auslegungsziel Behandelten. 2. Genese der Idee eines eigenständigen „Rechtswillens“ Die These einer Binding, Wach und Kohler zuzuschreibenden Entwicklung des theoretischen Fundaments einer konsequent-objektiven Auslegungstheorie lässt sich durch einen Blick auf den historischen Werdegang ihres Kerngedankens relativieren. So findet sich die erste Formulierung eines klar objektiven Standpunktes bereits bei Schaffrath, dessen Auslegungstheorie sich im Einzelnen jedoch nicht hat durchsetzen können [a)]. In der Folgezeit ist es Thöl, der die argumentative Entwicklung zu Binding einleitet, indem er erstmals einen eigenständigen „Rechtswillen“ konstruiert, ohne diesen Gedanken jedoch konsequent weiterzuführen [b)]. Die bei Thöl noch mangelnde theoretische Untermauerung leistet schließlich wenigstens andeutungsweise Schlesinger, der die Vernünftigkeit einer gesetzgeberischen Beschränkung auf das objektive Recht als alleiniges Auslegungsobjekt darzulegen versucht und damit schon den letzten entscheidenden Schritt hin zur objektiven Auslegungstheorie markiert [c)]. a) Zurückweisung der subjektiven Auslegung bei Schaffrath Ein merklicher Schritt zur objektiven Auslegungslehre ist bereits bei Wilhelm Michael Schaffrath (1814–1893) zu beobachten. Er trägt vor allem zur theoretischen Abgrenzung von objektiver und subjektiver Auslegungsmethodik bei. In seiner „Theorie der Auslegung constitutioneller Gesetze“ (1842) lehnt er den theoretischen Ausgangspunkt subjektiver Interpretationslehren ausdrücklich ab.284 Für diesen Schritt wird er später entsprechend von Binding gewürdigt,285 wenngleich dieser auch hervorhebt, dass dabei noch „mancherlei paradoxes“ vertreten wurde und Schaffrath „sich nicht ganz konsequent“ geblieben sei.286 Ziel der Auslegung ist es nach Schaffrath, den „wahren und wirklichen,287 als empirische Thatsache in der Wirklichkeit“ befindlichen Willen der gesetzgeben284 Siehe das Vorwort bei Schaffrath, Theorie der Auslegung. Damit tritt er in Opposition zu seinem Lehrer, dem auch von Binding hochgeschätzten Carl Georg von Wächter. 285 Vgl. Binding, Handbuch, S. 471. 286 Binding, Handbuch, S. 471, Fn. 8. 287 Diese Versatzstücke idealistischer Rhetorik werden bei Schaffrath recht zwanglos mit dem Verweis auf etwas vermeintlich Messbares – die „empirische Thatsache in der
92
1. Teil: Bindings methodische Grundlagen
den Gewalt zu erforschen288 – was zunächst einmal nach dem genauen Gegenteil einer objektiven Auslegung klingt. Dieser Wille jedoch, stellt er sogleich klar, sei in seinem Ausdruck strikt auf das Gesetz beschränkt: „Die Auslegung eines Gesetzes hat [. . .] nur den Willen der gesetzgebenden Gewalt, nicht dessen Gedanken, Vorstellungen, Urtheile u.s.w. nicht das, woran oder was sie gedacht, sondern das, was sie gewollt und zwar als Gesetz gewollt hat, [. . .] zu erforschen.“ 289
Bedienen dürfe sich die Auslegung nur der Erklärung eben dieses Willens, das heißt des publizierten Gesetzes: „Das Wesen der Auslegung eines Gesetzes besteht also nur darin, zu erforschen und nachzuweisen, was die gesetzgebende Gewalt als Gesetz oder als gesetzgeberischen Willen erklärt, ausgesprochen habe, nicht darin, was sie als Gesetz (nur) gewollt habe oder habe erklären wollen.“ 290
Diese Einschränkung bewirkt eine völlige Objektivierung der Auslegung. Selbst der spätere, bei Binding, Wach und Kohler kultivierte Gedanke eines eigenen Rechtswillens klingt schon an, wenn Schaffrath sagt, „das Gesetz [müsse] ein Product des [. . .] Willens der gesetzgebenden Gewalt oder vielmehr dieser selbst sein.“ 291 Die Motive könnten demgegenüber in der Auslegung keine Rolle spielen und dienten lediglich dazu, „die Kammern oder die Regierung zur [. . .] Zustimmung zu bewegen oder zu überzeugen.“ 292 Auch die Begründung dieser Haltung nimmt schon vieles in zukünftigen Argumentationen für eine objektive Auslegung des Rechts vorweg. Dazu gehört die Hervorhebung der Anforderungen an die Gesetzesform. Nur den formgemäß kundgegebenen „Willen sollen und dürfen Behörden und Unerthanen kennen und befolgen, jeden andern und alle andern Erklärungen der Regierung und gesetzgebenden Gewalt (Motive, Gesetzentwürfe, Deputationsgutachten, Beschlüsse, ständische Schriften der Kammern) nicht“.293 Die von Binding bemängelten Ungereimtheiten finden sich allerdings schnell. Der Befund, Schaffrath sei „etwas zu sehr ins andere Extrem“ gegangen,294 erklärt sich aus dessen Anforderungen an den beschriebenen gesetzgeberischen Willen. Neben der geforderten Form müsse dieser auch als Gedanke „vollstänWirklichkeit“ – kombiniert. In seiner Erklärung des maßgeblichen objektiven Willens des Gesetzgebers belässt er so am Ende vieles im Dunkeln. 288 Schaffrath, Theorie der Auslegung, S. 33. 289 Schaffrath, Theorie der Auslegung, S. 33 f. 290 Schaffrath, Theorie der Auslegung, S. 37. 291 Schaffrath, Theorie der Auslegung, S. 8 f.; Hervorhebung hinzugefügt. 292 Schaffrath, Theorie der Auslegung, S. 10; Hervorhebung aus dem Original nicht übernommen. 293 Schaffrath, Theorie der Auslegung, S. 27 f.; vgl. a. ebd., S. 8 f. 294 Binding, Handbuch, S. 471, Fn. 8.
C. Eigenständigkeit des Rechts: die objektive Auslegungstheorie
93
dig“ 295 und „an und für sich selbst verständlich“ 296 sein. „Ein unverständliches Gesetz“ verpflichte nicht und könne „auch nicht auf eine zurechenbare Weise verletzt werden.“ 297 Diese hohen Anforderungen werden im Verlaufe der Schrift an einigen Stellen relativiert,298 was Bierling später zu dem Vorwurf dient, Schaffrath habe bei diesem „Rückzug [. . .] wohl in dem richtigen Gefühl“ gehandelt, „dass eine consequente Durchführung seiner Anforderungen ad absurda führen müsse“.299 Schaffraths bleibender Verdienst in der Entwicklung einer objektiven Auslegungstheorie liegt daher vor allem in der erstmaligen Benennung eines absolut objektivierten Auslegungsziels, eines eigenständigen Willens des Rechts. Die Konsequenzen der zusätzlichen Betonung des rechtlichen Objektivitätsanspruchs kann Schaffrath aber nicht ganz durchhalten. Er fällt auch hinter die Erkenntnisse Schleiermachers zur Hermeneutik zurück, wenn er behauptet, (vermeintlich) deutliche Texte bedürften keinerlei Interpretation.300 Die zahlreichen Mängel machten es Gegnern dieser Auslegung leicht, die Schrift Schaffraths anzugreifen, wie Binding später richtig bemerkt.301 Durchsetzen konnte sich Schaffrath mit seiner „Theorie der Auslegung constitutioneller Gesetze“ nicht. b) Abstraktion eines eigenen „Rechtswillens“ bei Thöl Eine maßgebliche Weiterentwicklung dieser Arbeiten zur objektiven Auslegungstheorie Bindings leistete wenige Jahre nach Schaffrath der vor allem für seine handelsrechtlichen Beiträge302 bekannte Göttinger Professor und Paulskirchenparlamentarier Johann Heinrich Thöl (1807–1884). In einer einzelnen, kurzen Stelle in seiner „Einleitung in das deutsche Privatrecht“ bemängelt Thöl, „daß man die gesetzgebende Gewalt, deren Wille in dem Wort des Gesetzes publicirt wird, mit den einzelnen Verfassern des Gesetzes [. . .] identificirt.“ Man übersehe dabei nämlich, „daß das Gesetz durch die Publication sich vom Gesetzgeber losreißt, und nunmehr durch den systematischen Zusammenhang, in welchem seine einzelnen Rechtssätze 295
Schaffrath, Theorie der Auslegung, S. 22 f. Schaffrath, Theorie der Auslegung, S. 24. 297 Schaffrath, Theorie der Auslegung, S. 23. 298 Schaffrath, Theorie der Auslegung, S. 50 ff., 68 f. 299 Bierling, ZK 10 (1871), S. 141 (147). 300 Siehe Schaffrath, Theorie der Auslegung, S. 45 ff. Dagegen bereits Savigny in seinem zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der „Theorie der Auslegung“ (1842) schon erschienenen „System“, Bd. 1, S. 207 u. 318 ff. Zu Schleiermacher siehe Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 212 ff. 301 Binding, Handbuch, S. 471, Fn. 8. 302 Als prägend darf vor allem sein zweibändiges Standardwerk „Das Handelsrecht“ angesehen werden, dessen erster Band bereits 1841 erschien und das bis 1879 insgesamt vier Mal aufgelegt wurde. 296
94
1. Teil: Bindings methodische Grundlagen zu einander und zu dem bereits geltenden Recht aufzufassen sind, so selbständig als der publicirte Wille der gesetzgebenden Gewalt heraustritt, daß der Wille und die Einsicht der eigentlichen Verfasser des Gesetzes gleichgültig wird. [sic] Auf dieser Selbständigkeit beruht es, daß das Gesetz einsichtiger seyn kann, als der oder die Gesetzgeber.“ 303
In diesen wenigen Zeilen legt Thöl das eigentliche Fundament der objektiven Auslegungsmethode. Er kultiviert die ursprünglich von August Boeckh (1785– 1867) für die philologische Hermeneutik entwickelte Formel vom „Besser-Verstehen“ eines auszulegenden Texts304 durch die Schöpfung eines eigenständigen rechtlichen Willens als ideelle Konstruktion. Im Gegensatz zu Schaffrath wird dieser Wille nun bewusst dem Gesetzgeberwillen gegenübergestellt und zum alleinigen Auslegungsziel erklärt. Jener „Wille“ der gesetzgebenden Gewalt, so betont Thöl ausdrücklich, liege aber nicht in der Schrift des Gesetzes im Sinne der Originalurkunde. Diese sei „nicht die Quelle, sondern Zeugniß des gesetzlichen Rechts“.305 Auch diese Unterscheidung zwischen dem Erklärungsmoment des Rechts und dem Recht selbst wird bei Binding in Anlehnung an Laband vollzogen.306 Thöl jedoch verfolgte nicht das Ziel, diesen Neuansatz in der Auslegungsmethodik zu einer neuen Lehre auszubauen. Der große Schritt in Richtung der objektiven Auslegungslehre blieb die Abstraktion eines eigenen Rechtswillens. Fast die gesamte Auslegungslehre Bindings zieht lediglich die Konsequenzen aus diesem Grundgedanken Thöls: Nicht der hinter dem Gesetz stehende Wille der Gesetzgeber ist maßgeblich, sondern das Recht wird zum Willen selbst. Der Wille der gesetzgebenden Gewalt wird als eine eigene, von den „Verfassern des Gesetzes“ wesensmäßig abstrakte Entität fingiert. Ist es aber dieser eigene Rechtswille, der den Inhalt des Rechts bestimmt, so kann er auch als Einziger das Ziel der Auslegung sein. Er führt damit zur Außerachtlassung des Willens der Gesetzesverfasser sowie von allem Übrigen außerhalb des objektiven Rechts. c) Schlesinger und die theoretische Begründung des Rechtswillens Rudolf Christian David Schlesinger (1831–1912), wie Thöl Professor in Göttingen und später Richter am neugegründeten Reichsgericht, begründet die beschriebene Abtrennung des „gesetzgebenden Willens“ vom „Willen der Gesetz303
Thöl, Einleitung, S. 150. Vgl. Boeckh, Enzyclopädie, S. 87 f. und zu dessen Bedeutung für die Rechtswissenschaft Meder, Verstehen und Mißverstehen, S. 112 ff. 305 Thöl, Einleitung, S. 128; konsequenterweise überschreibt er den geschichtlichen Teil seiner Arbeit mit „Die einzelnen Quellen und Zeugnisse“; auch sein früheres Werk „Quellen und Zeugniße des Wechselrechts“ (1847) deutet schon auf diese Unterscheidung hin. 306 Siehe dazu u. S. 98 ff. 304
C. Eigenständigkeit des Rechts: die objektive Auslegungstheorie
95
geber“ etwas genauer. In einer allgemein sehr wohlwollend verfassten Rezension zur 1864 gerade erschienenen ersten Abteilung des ersten Bandes des bekannten Handbuchs Goldtschmidts zum Handelsrecht kritisiert Schlesinger dessen subjektive Auslegungsweise und legt bei dieser Gelegenheit den eigenen, objektiven Ansatz genauer dar. Er knüpft hierzu ausdrücklich an Thöl an.307 In seinem Versuch, die Grundidee eines eigenen Rechtswillens theoretisch zu untermauern, bedient sich Schlesinger einer „Analogie“ aus dem Privatrecht: der Figur des Vertragsschlusses.308 Auch dort gelte es schließlich zu ermitteln, wie die Willenserklärung der jeweils anderen Partei vernünftigerweise zu verstehen sei. Ähnlich verhalte es sich beim Gesetz, das mit Blick auf die Rechtsunterworfenen nur so verstanden werden könne, wie es vernünftigerweise von diesen verstanden werden müsse. Schlesinger verwahrt sich ausdrücklich dagegen, die Gesetzesauslegung auf den Stand einer bloßen Wortlautauslegung zurückzuführen.309 Wiederum verhalte es sich ganz wie beim privatrechtlichen Vertragsschluss: Auch hier seien schließlich alle Begleitmomente bei der Auslegung mitzubeachten: eine Sprachgewohnheit unter den Parteien, die Vorgeschichte des Vertragsschlusses et cetera. Übersetzt in eine juristische Auslegungslehre beschränkt Schlesinger die Auslegung also auf allgemeine310 Indizien zum Willensinhalt, das heißt solche, die mittels allgemein zugänglicher Quellen für den Rechtsunterworfenen jedenfalls in der Theorie erfahrbar sind. Der allgemeine Zweck eines Gesetzes ist für Schlesinger daher genauso taugliches Auslegungsindiz wie vergangenes Recht oder eine ausländische Rechtsordnung, an die sich ein neues Gesetz entweder anlehnt oder von der es sich bewusst entfernt.311 Die „Vorgeschichte“ eines Gesetzes identifiziert Schlesinger aber keinesfalls mit den Motiven oder vorhergehenden Entwürfen.312 Auch in der Wortlautauslegung ist er nicht bereit, Erklärungen des Gesetzgebers zur Bedeutung seiner Worte als Auslegungsmaßstab zu akzeptieren.313 Der eigene Vergleich mit dem Vertragsschluss, bei dem vor Vertragsschluss abgegebene Erklärungen einer Partei zur Bedeutung ihrer Worte schließlich problemlos den Inhalt eines späteren Vertrags mitbestimmen können, lässt den Argumentationsstrang Schlesingers hier allerdings etwas haken. Auch wird die Kenntnis von Gesetzesmotiven bei entsprechender Publikation mitunter nicht weniger „allgemein“ als diejenige anderer Rechtsordnungen sein. 307 308 309 310 311 312 313
Vgl. Schlesinger, Gött. gel. Anzeigen 1864, S. 1961 (1970). Vgl. Schlesinger, Gött. gel. Anzeigen 1864, S. 1961 (1971 ff.). Vgl. Schlesinger, Gött. gel. Anzeigen 1864, S. 1961 (1971). Schlesinger, Gött. gel. Anzeigen 1864, S. 1961 (1974 ff.) nennt sie „notorische“. Vgl. Schlesinger, Gött. gel. Anzeigen 1864, S. 1961 (1974 f.). Vgl. Schlesinger, Gött. gel. Anzeigen 1864, S. 1961 (1975). Vgl. Schlesinger, Gött. gel. Anzeigen 1864, S. 1961 (1975).
96
1. Teil: Bindings methodische Grundlagen
Schlesinger begegnet diesem Problem mit einer hervorgehobenen Bedeutung der Publikation. Nach seiner Auffassung wird durch die Gesetzesform der zur Kenntnisnahme durch das Volk bestimmte Wille festgelegt, womit gleichsam auch die Grenzen der Auslegung gezogen seien.314 Andernfalls, so Schlesinger, stände die Nichtnormierung eines Umstandes in der irrigen Meinung, dieser Gedanke finde schon im übrigen Teil des Gesetzes genügend Ausdruck und seine abermalige Erwähnung sei nutzlos, ja einer ausdrücklichen Normierung gleich und der Gesetzgeber könne sich gewissermaßen nicht mehr irren.315 An dieser Stelle verlässt Schlesinger den Pfad der eigenen Argumentation. Die Allgemeinheit von Umständen bestimmt an dieser Stelle ersichtlich nicht mehr ihre Tauglichkeit als Auslegungsindizien. Stattdessen wird eine bestimmte Quelle von Erkenntnissen auf eine besondere Ausdrucksform beschränkt. Freilich nicht grundlos: Der Gesetzgeber hat durch das förmliche Gesetzgebungsverfahren einen unvergleichlich großen Einfluss auf den letztlich als Recht auszulegenden Willen. Dieses Verfahren ist für Schlesinger Privileg und Begrenzung zugleich; die Heranziehung eines anderweitig geäußerten Willens des Gesetzgebers käme aus seiner Sicht einer Entwertung des Gesetzgebungsverfahrens gleich. Allerdings ändert sich durch diesen Argumentationswechsel die Qualität des Auslegungsziels: Schien Schlesinger im Rahmen der Analogie zum privatrechtlichen Vertragsschluss auf eine Beschränkung der Auslegung eines subjektiven Willens hinaus zu wollen, soll nun selbst ein eindeutig für den „Empfänger“ erkennbarer Willensinhalt nicht auslegungsrelevant sein. Auf diese Weise wird das Bild eines verselbständigten Willens des Rechts verdeutlicht. Dem Gesetz sei, so wird bei Schlesinger unterstellt, unabhängig vom konkreten Willen des Gesetzgebers eine Beschränkung auf seine objektive Form wesensmäßig. Das Gesetz könne vernünftigerweise nur in diesem Sinne gewollt sein, wenn es denn Gesetz sein soll.316 Da der Wille der gesetzgebenden Gewalt auch nur so verstanden werden könne, wie er vernünftigerweise gemeint sei, birgt jeder Akt der Gesetzgebung für ihn automatisch den schon bei Thöl angesprochenen Prozess eines „Sich-Losreißens“ des Willens von seinem Schöpfer in sich. Mit der Verständlichkeit des Gesetzes für das Volk und der mangelnden Gesetzesform der Motive bringt Schlesinger für diesen Gedanken einer streng objektiven Auslegung zwei Argumente hervor, die sich in den Begründungen fast jeder folgenden Darstellung einer objektiven Auslegungstheorie finden lassen. Interessanterweise folgt Binding ihm nur in letzterem Argument und auch dort nur mit starken Änderungen.317
314 315 316 317
Vgl. Schlesinger, Gött. gel. Anzeigen 1864, S. 1961 (1975 ff.). Vgl. Schlesinger, Gött. gel. Anzeigen 1864, S. 1961 (1975). Siehe Schlesinger, Gött. gel. Anzeigen 1864, S. 1961 (1974). Siehe dazu u. S. 98 ff.
C. Eigenständigkeit des Rechts: die objektive Auslegungstheorie
97
Ähnlich hingegen ist die in der Rezension Schlesingers angenommene strikte Alternativität zwischen objektiver und subjektiver Auslegung: Die Gesetzesmotive sind entweder authentische Auslegung oder überhaupt kein Maßstab derselben. Ganz in der späteren Manier Bindings spricht Schlesinger den Motiven jegliche Bedeutung für den Bereich der Rechtswissenschaft ab und bedauert ob der „falschen“ Auslegungstheorie, die durch sie hervorgerufen worden sei, ihr Erscheinen bisweilen insgesamt.318 3. Begründung eines eigenständigen „Rechtswillens“ bei Binding, Wach und Kohler Auch Binding319, Wach320 und Kohler321 bedienen sich des Thölschen Gedankens eines vom „Verfasser des Gesetzes“ losgerissenen Willens, den sie nun ausdrücklich „Rechtswillen“ 322 oder „Gesetzeswillen“ 323 nennen. Sie unterscheiden sich von Schlesinger zum einen in einigen Details der Argumentation, zum anderen in der Natur ihrer Ausführung. Während Schlesinger beschreibt, wie sich seine Vorstellungen juristischer Auslegung vom rezensierten Goldschmidt unterscheiden, geht es Binding, Wach und Kohler dezidiert um die Konzeption einer eigenen Auslegungslehre. Diese Intention beschert uns eine breitere Argumentation für den „Rechtswillen“ und eine feinere Ausarbeitung seiner Konsequenzen für die Auslegungsmethodik. Die vorgetragenen Begründungen werden von späteren Autoren immer wieder zur Rechtfertigung oder Darstellung des objektiven Standpunktes herangezogen.324 Sie lassen sich in verschiedene Argumentationsfiguren unterteilen: Zunächst wird schlicht auf die mangelnde Gesetzesform des Gesetzgeberwillens verwiesen [a)]. Kern dieser Begründung ist offenkundig das allgemeine Bedürfnis nach Rechtssicherheit. Weiterhin wird auf die Voraussetzungen eines konsequent subjektiven Auslegungsmaßstabs verwiesen [b)]. Gerade komplexe systematische Argumente erforderten bei Zugrundelegung eines subjektiven Auslegungsziels ein unrealistisches Bild des Gesetzgebers. Letztlich läuft der Argumentationsstrang darauf hinaus, dass sich die subjektive Auslegungstheorie entweder eines solchen Gesetzgeberverständnisses bedienen müsse oder aber einzugestehen habe, dass auch der 318 Siehe Schlesinger, Gött. gel. Anzeigen 1864, S. 1961 (1977); vgl. damit Binding, Handbuch, S. 472 f. 319 Binding, Handbuch, S. 450 ff. 320 Wach, Handbuch, S. 256. 321 Vgl. Kohler, GrünhutsZ 13 (1886), S. 1 (3). 322 Binding, Handbuch, S. 451, 457 u. 459. 323 Wach, Handbuch, S. 277; teilweise auch Binding, Handbuch, S. 622 („Wille des Gesetzes“). 324 Vgl. nur Engisch, Einführung, S. 162 ff.
98
1. Teil: Bindings methodische Grundlagen
ihr zugrundeliegende Wille kein psychologisch-subjektiver sei, sondern reine Fiktion. Binding bemüht als Kritik einer strikt subjektiven Auslegungsmethodik zudem ein Gleichheitsargument [c)]: Der Gesetzgeber werde in einer solchen Auslegung über das Recht gestellt. Will man hier keinen Zirkelschluss unterstellen, muss die Argumentationsfigur freilich in eine drohende Aushöhlung des Rechtsbegriffs umgedeutet werden. Zentral für Bindings Argumentation ist ferner das Bedürfnis einer Fortentwicklung des Rechts im Sinne sich ändernder sozialer Umstände. Diesen könne nur eine veränderliche – und damit objektive – Zweckermittlung des Rechts gewährleisten. Binding trägt in diesem Zusammenhang zwei unterschiedliche Argumente vor: das massive Bedürfnis einer „Schmiegsamkeit“ 325 des Rechts [d)] und die Folge dieses Bedürfnisses, die in einer Art natürlicher Durchsetzungskraft der objektiven Auslegung bestehe [e)]. Das Recht werde also letztlich ohnehin im Sinne objektiver Zwecke ausgelegt; der Jurisprudenz bleibt aus Sicht Bindings lediglich die Wahl, die Entwicklung theoretisch zu erklären oder sie zu verschleiern. a) Mangelnde Wiedergabe des Gesetzgeberwillens im Gesetz Sowohl Binding als auch Wach und Kohler begründen den Ausschluss einer subjektiven Auslegung unter anderem damit, dass die Gesetzesmotive nicht Teil des Gesetzes selbst geworden seien.326 Schon bei Schaffrath327 und Schlesinger328 wird das Gesetz auf das beschränkt, was tatsächlich erklärt, also in der Publikation als Gesetzesform zu lesen ist. In Anlehnung an die These Thöls, der Rechtswille sei nicht identisch mit der Gesetzespublikation, sondern finde darin nur seinen Ausdruck, glaubt Binding allerdings, diese Bezugnahme auf die Publikation korrigieren zu müssen. Entscheidend sei einzig „die Erklärung, die vom Gesetzgeber selbst herrührt.“ 329 Jene „Erklärung“ sei aber nicht gleichzusetzen mit der Veröffentlichung im Sinne der Publikation. Sie könne nämlich „nach ihrer definitiven Feststellung [. . .] eine Aenderung erleiden (Fälschung, Schreibfehler, Druckfehler) und mit dieser Aenderung publicirt werden.“ 330 Wenn dies geschehe, so gelte keinesfalls die veränderte Fassung als der Rechtswille. Ein Fehler in der Übertragung des zu normierenden Gedankens von der Original-
325
Binding, Handbuch, S. 455. Vgl. Binding, Handbuch, S. 469 ff.; Wach, Handbuch, S. 281 ff.; Kohler, GrünhutsZ 13 (1886), S. 1 (21 f.). 327 Theorie der Auslegung, S. 15 f. 328 Siehe o. S. 96. 329 Binding, Handbuch, S. 459. 330 Binding, Handbuch, S. 459. 326
C. Eigenständigkeit des Rechts: die objektive Auslegungstheorie
99
urkunde zur Publikation könne sich daher auf den Inhalt des Rechtswillens nicht auswirken, der schon zuvor in der Beschlussfassung des Gesetzgebers dargelegt und in der Originalurkunde festgehalten worden sei.331 Binding bedient sich bei dieser Überlegung des an die Lehre Labands angelehnten Begriffspaars des Rechtsgedankens und des Rechtswillens, wobei letzterer als der für den letztendlichen Rechtsinhalt entscheidende Wille Binding verwirrenderweise gleichzeitig zur Beschreibung des objektiven Auslegungsziels dient.332 Der Rechtsgedanke bildet den eigentlichen Inhalt der Regelung, während der Rechtswille den bloßen Willen meint, eben diesen Regelungsgehalt auch zu Recht und somit verbindlich werden zu lassen. Beiden, dem Rechtsgedanken und dem Rechtswillen, sei jeweils ein Erklärungsmoment zu eigen.333 Die im dargestellten Szenario Bindings fälschlich im Nachhinein veränderte „Erklärung“ des Gesetzgebers stellt für Binding das Erklärungsmoment des Rechtsgedankens dar, die Publikation das Erklärungsmoment des Rechtswillens.334 Den einmal gefassten Rechtsgedanken könne nun eine fehlerhafte Publikation nicht mehr beeinflussen – sie ist ja lediglich Erklärungsmoment des Rechtswillens im Sinne einer Verbindlichkeitserklärung. Nicht einmal den Einwand, dass dann doch auch die tatsächlich beabsichtigte Regelung nicht Recht geworden sein könne, weil es ihr am Erfordernis der Publikation fehle, lässt Binding zu.335 Inhalt des in der Publikation enthaltenen Rechtswillens sei lediglich die Erklärung, die als Rechtsgedanken formulierte Regelung zum Gesetz zu erheben – mitunter also eine inhaltlich von der publizierten Fassung abweichende. Das damit rein formale Erfordernis der Publikation des Rechtsgedankens werde auch durch die fehlerhafte Publikation erfüllt.336 Umgekehrt verhält es sich für ihn konsequenterweise, wenn schon die Originalurkunde und damit der zum Ausdruck gebrachte Rechtsgedanke nicht dem eigentlich vom Gesetzgeber intendierten Inhalt entspricht.337 Der Inhalt der Originalurkunde ist in diesem Fall für Binding als Gesetz vollständig gültig und dürfte allein wegen seiner mangelnden Übereinstimmung mit der Intention der Verfasser des Gesetzes nicht einmal einschränkend ausgelegt werden. Abermals
331
Binding, Handbuch, S. 459. Vgl. Laband, Staatsrecht, Bd. 2, 1. Aufl. 1878, S. 5 ff. Da dieser an der entsprechenden Stelle um eine Definition speziell des Gesetzesbegriffs bemüht ist, unterscheiden sich allerdings die Begrifflichkeiten. Was bei Binding weiter als „Rechtswille“ gefasst wird, bezeichnet Laband rücksichtlich der Gesetzesform als „Gesetzesbefehl“; während Binding weiter von einem „Rechtsgedanken“ spricht, verwendet Laband den Begriff des „Gesetzesinhalts“. 333 Vgl. Binding, Handbuch, S. 457. 334 Binding, Handbuch, S. 459. 335 Binding, Handbuch, S. 459 f. 336 Binding, Handbuch, S. 459 f. 337 Siehe Binding, Handbuch, S. 460 ff. 332
100
1. Teil: Bindings methodische Grundlagen
wirkt sich hier die völlige Außerachtlassung der subjektiven Perspektive bei der Gesetzesauslegung aus.338 Trotz dieser abweichenden Meinung Bindings zur Rolle der Publikation bei der Rechtsentstehung bleibt der Grundgedanke des „Formarguments“ derselbe: Der Inhalt des geschriebenen Rechts wird auf das beschränkt, was tatsächlich Gesetzesform angenommen hat – unabhängig von den Vorstellungen der Verfasser jenes Gesetzes. Schlesinger und er unterscheiden sich hier ausschließlich in ihrem Verständnis der Voraussetzungen, die an dieses Attribut zu stellen sind. Diese Voraussetzungen aber verbauen Binding sogleich den Weg zum zweiten Argument Schlesingers: dem Verständnisinteresse des Volks. Kommt es nur für das Bestehen des Rechts, nicht aber für seinen Inhalt auf die Publikation an, so steht das „Volk“ kaum besser da als in den von Schlesinger gerügten subjektiven Auslegungstheorien; hier hat es die Gesetzgeberintention in Form von Motiven, vorangegangenen Entwürfen et cetera bei der Ermittlung des Rechtsinhalts zu beachten, dort darf es nicht der Publikation, sondern nur dem mitunter schwer zugänglichen sanktionierten Rechtsgedanken vertrauen. Wenn Binding also in Anlehnung an die Historische Rechtsschule schreibt, das Gesetz denke und wolle, „was der vernünftig auslegende Volksgeist aus ihm entnimmt“ 339 und sich dabei auf die Ausführungen Schlesingers beruft, so geht es ihm jedenfalls nicht um eine Verständlichkeit des Rechts für die Rechtsunterworfenen.340 b) Unvereinbarkeit subjektiver Auslegung mit der logischen Systematik des Rechts Die Notwendigkeit eines eigenen Rechtswillens als alleiniges Auslegungsziel versucht Binding durch eine negative Argumentation zu untermauern, indem er die „falschen“ Prämissen einer jeden subjektiven Auslegung hervorhebt. Diejenigen, „welche die Herausstellung des gesetzgeberischen Willens als Ziel der Auslegung bezeichnen“, täuschten sich nämlich „über ihre eigene Meinung“.341 Denn diese Meinung setze ein unrealistisches Bild des Gesetzgebers voraus. Ein Gesetzgeber, dessen Wille sinnvolles Ziel einer Auslegung sein könne, müsse konsequenterweise „ausgestattet [sein] mit vollem Verständnis der juristischen Technik, mit vollem Ueberblicke über die zu regelnden Lebenserscheinungen, mit dem besten Willen, diese durchaus zweckentsprechend zu gestalten, mit der Fähigkeit, seinen Gedanken im Gesetz den passenden Ausdruck zu geben, mit der vollen Einsicht in den Zusammenhang des Gesetzes und der Gesetze, endlich mit dem Willen eines Charakters,
338 339 340 341
Vgl. Binding, Handbuch, S. 462 f. Binding, Handbuch, S. 456 f. Siehe dazu genauer u. S. 103 f., 118 f. Binding, Handbuch, S. 455; Hervorhebung hinzugefügt.
C. Eigenständigkeit des Rechts: die objektive Auslegungstheorie
101
der zu den Konsequenzen seiner Entschlüsse auch dann steht, wenn er nicht an sie gedacht hat.“ 342
Binding macht sich also das Nebeneinander von subjektivem Ausgangspunkt und teilweise objektiver Auslegung, insbesondere hinsichtlich der Systematik des Rechts, in seiner Argumentation zu nutze. Er begründet dabei weniger die Vernunft einer strikt objektiven Auslegung als die Unvernunft jeder anderen Haltung. Nach seiner Sichtweise unterstellt man dem Gesetzgeber einen Überblick über das rechtliche Gesamtsystem, den er in der Realität nicht hat und nicht haben kann, wenn man den Gesetzgeberwillen zum Ziel der Auslegung erklärt und gleichzeitig eine logisch-systematische Auslegung des Rechts für zulässig hält. Ein solcher Gesetzgeber sei „ein Ideal und kein Mensch“.343 Binding sieht hier keine Gespenster. Er wendet sich mit seiner Kritik vor allem gegen subjektive Auslegungstheorien im Gepräge Windscheids,344 der sich eines entsprechend idealisierten Gesetzgeberbildes bedient, um die Annahme einer dem Recht innewohnenden Vernunft zu rechtfertigen und so die logisch-systematische Auslegung erst plausibel zu machen. Der Gesetzgebergedanke ist für Windscheid nicht wesentlich willkürlich. Stattdessen vermengt er eine streng subjektive Konzeption mit dem objektiven Idealismus der Zeit Savignys und Puchtas, indem er den Gesetzgebergedanken als eingebunden in eine notwendige Entwicklung des Volkes versteht.345 Da Windscheid die Entwicklung eines jeden Volkes als eine notwendige und den Gesetzgeber als darin fest eingebunden versteht, folgt der Gedanke des Gesetzgebers für ihn einer ebenso notwendigen Rechtsentwicklung; der Gesetzgeber trifft Entscheidungen anhand einer vorgezeichneten Linie, die ihm selbst nicht bewusst ist und sein kann. In der Konsequenz äußert sich im Gedanken des Gesetzgebers der jeweilige Entwicklungsstand eines Volkes und damit dessen gesammelte Erkenntnisse; was – in den Worten Windscheids – im Gesetzgeber „wirkt und schafft, wie frei er sich auch zu erheben glaubt, ist nicht seine eigene Weisheit, sondern seiner Zeit und seines Volkes Weisheit.“ Das Recht sei deshalb stets „Rechtsweisheit der Geschichte.“ 346
342
Binding, Handbuch, S. 455 f. Binding, Handbuch, S. 456. 344 Allgemein scheint Binding Windscheid jedoch zu schätzen. Der Kommentar in Bindings Handbuch, S. 454, Fn. 1 zu Windscheids subjektiver Auslegungslehre beispielsweise ist – gemessen an seiner allgemein oft bissigen Kritik an Vertretern konkurrierender Auffassungen von juristischen Grundlagen – geradezu vornehm zurückhaltend: „Der Ueberschätzung des subjektiven Willens für Abschluss und Inhalt des Rechtsgeschäfts geht eine Ueberschätzung desselben Momentes für Zustandekommen und Inhalt des objektiven Rechts parallel.“ Im Hinblick auf die seiner eigenen Lehre gänzlich zuwiderlaufende Konzeption in ähnlich überraschend höflicher Manier auch Bindings Kommentar in seinen Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 292, Fn. 3. 345 Vgl. nur Windscheid, Abhandlungen, S. 7. 346 Windscheid, Abhandlungen, S. 7. Zur Einordnung Windscheids in diesem Punkt siehe Larenz, Methodenlehre, S. 28. 343
102
1. Teil: Bindings methodische Grundlagen
In Bindings Argumentation wird die strikte Alternativität subjektiver und objektiver Betrachtung deutlich, von der er ausgeht; vermittelnde Standpunkte, wie sie heute nicht selten vertreten werden,347 wären für ihn nur über ein idealisiertes Gesetzgeberbild zu rechtfertigen.348 Den Idealismus Windscheids aber vermag Binding nicht mehr zu teilen. Da der Gesetzgeber nicht im Ansatz den Erfordernissen entsprechen könne, die eine objektive, aber formal beim Gesetzgeberwillen ansetzende Auslegung vorauszusetzen hätte, sei der bisherige, subjektive Ausgangspunkt der Auslegung aufzugeben. Binding befindet es deshalb für „besser statt den Willen der Gesetzgeber den Rechtswillen [. . .] als Ziel der Auslegung [. . .] zu bezeichnen, oder wenigstens unter jenem persönlichen Willen diesen unpersönlichen zu verstehen.“ 349 c) Gleichheit vor dem Gesetz Die „Entäusserung eines Individual-Willens“ und damit die Entstehung eines eigenständigen Rechtswillens sieht Binding sogar als „ein Glück für [den Inhaber der gesetzgebenden Gewalt] und für das Gesetz“. Erst so stelle sich der Inhaber der gesetzgebenden Gewalt selbst völlig unter das Gesetz und finde „sich in der Achtung des Rechtes auf dem Boden seiner Untertanen“ wieder.350 Diese etwas pathetische Formulierung erscheint zunächst auch inhaltlich fragwürdig, geht es doch ersichtlich nur um den Inhalt des Gesetzes und nicht um die Achtung vor demselben. Die Achtung des Gesetzes durch den Gesetzgeber selbst steht in keiner prinzipiellen Verbindung zur Frage einer Berücksichtigung seiner Motive bei der Bestimmung des Gesetzesinhalts. Zu bedenken ist aber auch hier, dass Binding von einer strikten Alternativität zwischen objektiver und subjektiver Sichtweise bei der Auslegung des Rechts ausgeht. Das Bild der subjektiven Auslegungstheorien, das er zeichnet, ist ledig-
347 Vgl. etwa Pawlowski, Methodenlehre, Rn. 7 ff.; Esser, Methodenwahl in der Rechtsfindung, S. 125 und letztlich auch Larenz, Methodenlehre, S. 316 ff., wenngleich mit einer starken Tendenz zur objektiven Auslegung. Häufig werden Grundgedanken der objektiven Auslegungstheorie auch für eine Theorie der Rechtsfortbildung verwertet, die dann zum Zuge kommen müsse, wenn die (subjektive) Auslegung versage. So bspw. Mennicken, Ziel der Gesetzesauslegung, S. 78 ff. und K. F. Röhl/H. C. Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 632. 348 In ähnlicher Manier weist Wach, Handbuch, S. 257 darauf hin, dass ein Gesetz ja auch dann gelte, „wenn der Gesetzgeber mit ihm keinerlei Gedanken über seinen Inhalt verband: eine sehr gewöhnliche Erscheinung angesichts der Unmöglichkeit, den Gesamtinhalt des Gesetzes bei seiner Abfassung gegenwärtig und richtig gegenwärtig zu haben.“ Wenn ein subjektiver Wille des Gesetzgebers also gar nicht in allen Fällen zur Verfügung stehe, dann müsse der Rechtswille „unabhängig von der Vorstellung des Gesetzgebers über den Inhalt des Gesetzes“ sein. 349 Binding, Handbuch, S. 456. 350 Binding, Handbuch, S. 455.
C. Eigenständigkeit des Rechts: die objektive Auslegungstheorie
103
lich ihre nach seinem Verständnis konsequente Umsetzung und wird in Wahrheit in dieser zugespitzten Form gar nicht vertreten.351 Eine im Sinne Bindings zu Ende gedachte subjektive Auslegungsmethodik ließe Argumentationen, die sich systematischer Zusammenhänge oder logischer Grundstrukturen bedienen, nur noch in bescheidenem Maße zu. Stets bliebe zu überprüfen, inwieweit der reale Gesetzgeber die gezogenen Schlüsse im konkreten Akt der Gesetzgebung nachvollzog. Im Übrigen verlören sämtliche objektiven Erkenntnisse über das Recht ihre Bedeutung: Ziel der Auslegung wäre einzig ein hinter dem Gesetz stehender, realer Gedanke des Gesetzgebers, der freilich als Gedanke einer Personenmehrheit kaum konstruierbar ist. Jeder Nachweis eines solchen subjektiven Standpunktes wäre für die Auslegung des Rechts verbindlich. Die Auslegungsweise, die Binding hier bekämpft, nutzt also nicht den Gesetzgeberwillen als Mittel zur Rechtserkenntnis, sondern versteht ihn als alleiniges Ziel der Auslegung, als das Recht selbst. Diese spezielle Fassung macht den eingangs erwähnten Satz Bindings nun leichter verständlich: Recht wäre danach einzig ein realer Wille, der weder mit dem Gesetzeswortlaut übereinstimmen muss, noch aus Entwürfen, Motiven oder sonstigen Quellen ermittelbar zu sein braucht. Ein solcher Gesetzgeber, dessen realer Wille strikt verbindlich sein soll, stünde „in der Achtung des Rechtes“ tatsächlich nicht mehr „auf einem Boden seiner Untertanen“.352 d) Fortentwicklung des Rechts Gewichtiger scheint Binding die Bedeutung für das Gesetz selbst. Dieses erlange erst durch ein objektives Auslegungsziel „die Fähigkeit trotz allem Wechsel der Gesetzgeber Generationen auf Generationen zu beherrschen“, also sowohl seinen „Reichtum“ als auch seine „Schmiegsamkeit“.353 Bei der Einschätzung der Überzeugungskraft dieses Arguments ist zu beachten, dass die Arbeiten am gesamtdeutschen BGB 1885 noch vor dem ersten Entwurf standen. Die Bedeutung der „Schmiegsamkeit“ des Rechts in einer sich rapide verändernden Gesellschaft, deren Zivilrecht noch zu großen Teilen aus Partikularrechten älteren Datums oder dem Gemeinen Recht besteht, ist offenkundig. Derartig objektiviert verstanden, vollziehe sich die „weitere Rechtsentwicklung nun in Form der Auslegungsgeschichte“.354 Das will Binding zum Ausdruck bringen, wenn er 351 Auch in der Zeit nach Binding trat eine derart radikal-subjektive Interpretation allenfalls im Nationalsozialismus als Auslegung nach dem „Führerwillen“ zutage. Insbesondere bei älteren Gesetzen gestaltete sich dies freilich schwierig, so dass sich hier umgekehrt ein Trend zur „Objektivierung“ im Sinne einer Anpassung älterer Vorschriften an das totalitäre System einstellte. Als radikal-subjektiv lässt sich diese Auslegung der NS-Justiz daher nur in einem geltungszeitlich-subjektiven Sinne verstehen. Siehe weiterführend hierzu Rüthers, Unbegrenzte Auslegung, S. 175 ff. 352 Binding, Handbuch, S. 455. 353 Binding, Handbuch, S. 455. 354 Binding, Handbuch, S. 457.
104
1. Teil: Bindings methodische Grundlagen
schreibt, das Gesetz wolle, „was der vernünftig auslegende Volksgeist aus ihm entnimmt.“ 355 Mit der ursprünglichen Volksgeistkonzeption der Historischen Rechtsschule hat dieser Wortgebrauch nur wenig zu schaffen. Weder impliziert Binding einen notwendigen Verlauf der Geschichte, noch ein immanent „Gutes“ oder „Richtiges“ dieses Volksgeistes. Das in der überzeugungsbasierten Historischen Rechtsschule noch als „organische“ Fortentwicklung des Rechts Verstandene schrumpft bei Binding auf den Hinweis zusammen, dass gesellschaftliche Veränderungen eine gewisse „Schmiegsamkeit“ des Rechts erforderlich machten, die nur durch eine Beachtlichkeit veränderlicher empirischer Zwecke des Rechts in der juristischen Methodenlehre – und damit nur durch eine objektiv-geltungszeitliche Auslegung – erreicht werden könne. e) Natürliche Durchsetzungskraft des „Rechtswillens“ Eine weitere Begründung leitet Binding auf recht eigentümliche Weise ein: Der „weise Wille“ des Gesetzgebers müsse seine vollständige „Entäußerung“ umfassen: „Durch diese Beschränkung allein vermeidet er den für ihn unglücklich endenden Konflikt zwischen seinem Individuum-Willen und der Macht des objektiven Rechts. Denn dieser ist das neue Gesetz rettungslos preisgegeben. Mit unwiderstehlicher Macht zwingt sie dasselbe mit dem bestehenden Rechte eins zu werden“.356
Binding begründet den vermeintlichen Entäußerungswillen des Inhabers der gesetzgebenden Gewalt also damit, dass sein Wille ansonsten in einen Konflikt mit dem objektiven Recht träte, den er nicht gewinnen könne. Auf den ersten Blick nähert Binding sich hier einem Zirkelschluss, setzt er doch den unumschränkten Vorrang objektiver Auslegung im Konfliktfall voraus, um einen Entäußerungswillen des Gesetzgebers zu begründen, der ihm wiederum nur dazu dient, jenen unumschränkten Vorrang objektiver Auslegung zu begründen. So gelesen setzt er also voraus, was er begründen möchte. Letztlich aber handelt es sich um nicht mehr als die Behauptung der Evidenz eines mit dem Inkrafttreten einsetzenden Prozesses der Verselbständigung des Rechts gegenüber seinem Schöpfer. Gerade in Anbetracht der Argumentation Bindings zur Unvereinbarkeit von logischer Systematik und subjektiver Auslegung des Rechts scheint die Formulierung vom „weisen“ Gesetzgeber, der die eigene Wirkungsmacht durch eine „Willens-Entäußerung“ einschränkt, als eine nicht ganz ernst gemeinte Polemik gegen einen Gesetzgeber, der sich ohnehin nicht gegen die Macht des rein objektiv verstandenen Rechts durchzusetzen im Stande ist. 355 356
Binding, Handbuch, S. 456 f. Binding, Handbuch, S. 455.
C. Eigenständigkeit des Rechts: die objektive Auslegungstheorie
105
Eine solche Verselbständigung ist gerade im Hinblick auf ältere Gesetze kaum sinnvoll abzustreiten. Dass Binding dies absolut selbstverständlich ist, überrascht im Hinblick auf seine Schaffenszeit wiederum wenig. Neben dem schieren Alter zahlreicher Versatzstücke im deutschen Zivilrecht ist zu bedenken, dass das Deutsche Reich bei Erscheinen des Bindingschen „Handbuches“ erst vierzehn Jahre alt war und die Zeit deutscher Kleinstaaterei somit noch nicht weit zurücklag. Juristisch bedeutete sie eine Vielzahl von Gesetzgebern und damit subjektiven Standpunkten. Die Auswirkungen lassen sich am deutlichsten anhand der Möglichkeit wortlautgleicher, aber durch die subjektive Auslegung inhaltlich unterschiedlicher Gesetze ablesen. Diesem die rechtswissenschaftliche Arbeit verkomplizierenden Partikularismus stand fast ein Jahrhundert mehr oder weniger unbekümmert systematisierender Tätigkeit der Pandektisten gegenüber. Die Durchsetzungskraft der logischen Arbeit etwa eines Savignys, Puchtas oder Windscheids gegenüber den einzelnen Motiven der Gesetzgeber teils winziger Staaten ist geradezu augenscheinlich. In diesem Sinne spricht Wach von der Unsinnigkeit der subjektiven Auslegung, wenn „die Regierungen, als sie z. Z. des alten deutschen Bundes den von den Nürnberger und Hamburger Konferenzen festgestellten Entwurf des HGB357 zum Gesetz erhoben, an sich nur die Worte adoptirten, aber ihr Wille ein von dem des Entwurfsverfassers verschiedener gewesen sein“ könnte.358 Das Beispiel ist klug gewählt: Das ADHGB geht auf Vorarbeiten der Revolutionszeit 1848/49 zurück, die von zwei separaten Sachverständigenkonferenzen im Auftrag und unter Beteiligung der souveränen Staaten des Deutschen Bundes aufgegriffen, in den Rahmen eines preußischen Entwurfes eingearbeitet und schließlich sukzessive von den Mitgliedstaaten des Deutschen Bundes umgesetzt wurden.359 Die Schwierigkeiten subjektiver Auslegung treten hier deutlich hervor. Die durch die Pandektistik erfolgte logisch-systematische Bearbeitung des Rechts macht demgegenüber die Schlagkraft objektiver Auslegungsargumente greifbar. Bindings Annahme einer natürlichen Durchsetzung der objektiven Auslegung erklärt sich vor diesem Hintergrund. 4. Zusammenfassung und Einordnung Der Gedanke eines eigenständigen Rechtswillens als das Herzstück der objektiven Auslegungstheorie stammt nicht von Binding, Wach oder Kohler. Der wesentliche Gedankenschritt ist bereits Thöl zuzuschreiben. Ein argumentativer Unterbau findet sich bei Schlesinger. 357 Gemeint ist natürlich das ADHGB, welches wiederum die Grundlage für das am 10.5.1897 erlassene und zusammen mit dem BGB am 1.1.1900 in Kraft getretene HGB bildete. Die Nürnberger Konferenz zur Erarbeitung des ADHGB tagte ab dem 15.1.1857. Auf der ebenfalls angesprochenen Hamburger Konferenz wurde ab dem 26.4.1858 bis zum 22.8.1860 das Seehandelsrecht des ADHGB erarbeitet. 358 Wach, Handbuch, S. 259. 359 Siehe zu diesem Prozess Goldschmidt, Vermischte Schriften, Bd. 1, S. 27 ff.
106
1. Teil: Bindings methodische Grundlagen
An diese Vorarbeiten knüpfen Binding, Wach und Kohler an. Ihnen kommt das Verdienst der Ausarbeitung einer konsequenten Auslegungstheorie zu. In ihrer Begründung dieser Auslegungslehre gleichen sie dem Argumentationsmuster Schlesingers. Seine Argumentation ist eine wesentlich funktionale: Ähnlich wie bei einem Vertragsschluss könne auch das Recht nur so verstanden werden wollen, wie es vernünftigerweise von denjenigen verstanden werden muss, die unter dem Recht stehen. Damit müsse es objektiv ausgelegt werden. Mit einigen Modifikationen wählt auch Binding eine derartige Argumentation: Das Recht entwickle sich ohne Zutun des Gesetzgebers, allein bedingt durch das Fortschreiten gesellschaftlicher Prozesse, weiter. Diese gewissermaßen natürlich-objektive Auslegung setze sich schließlich immer durch. Einen solchen Befund könne eine juristische Methodenlehre nur entweder verschämt hinwegreden, oder erklärend in ein theoretisches Gerüst kleiden. Letzteres könne nur eine geltungszeitlich orientierte objektive Auslegungslehre leisten. Als typisch für die Anfangszeit einer neuen Theorie mag die empfundene strikte Alternativität des subjektiven und objektiven Ansatzes gelten. Binding glaubt, der schon seinerzeit herrschende, durchaus gemischt subjektiv-objektive Ansatz gehe in Wahrheit auf eine Inkonsequenz der subjektiven Theorie zurück. Die subjektiven Auslegungstheoretiker täuschten „sich [. . .] über ihre eigene Meinung“, wenn sie die „Herausstellung des gesetzgeberischen Willens als Ziel der Auslegung bezeichnen und dabei an einen Individual-Willen denken“.360 Grundgedanke Bindings ist, dass ein notwendig in seinem intellektuellen Horizont eingeschränkter Gesetzgeber niemals fähig sein kann, ein logischer und systematischer Betrachtung zugängliches Recht zu schaffen. Wahrhaft subjektive Auslegungstheorien können daher aus Bindings Sicht nur dann konsequent sein, wenn sie ausschließlich den Gesetzgeberwillen als Mittel der Auslegung bemühten und Grammatik sowie logische Zusammenhänge des Rechts als solchen keinerlei Beachtung schenkten; Aussagen über das Recht könnten nie weiter gehen als die Informationen über den empirischen Willen des Gesetzgebers reichten. Es überrascht nicht, dass dem Dogmatiker Binding ein solches Recht ein Graus ist: Was „autoritativ gewollt“ sei, stellt er fest, entscheide „selbst im absolutesten Staate kein Herrscher.“ 361
II. Objektive Auslegung bei Binding im Einzelnen Der „Rechtswille“ ist das objektive Auslegungsziel Bindings. Recht wird, in Anlehnung an Wach,362 selbst zum auslegungsrelevanten Willen, statt einen dahinterliegenden Willen zu normieren. Die überzeugende Darstellung der Argu360 361 362
Binding, Handbuch, S. 455. Binding, Handbuch, S. 454. Wach, Handbuch, S. 256.
C. Eigenständigkeit des Rechts: die objektive Auslegungstheorie
107
mente hierfür bescherten der objektiven Auslegungstheorie bekanntlich eine breite Anhängerschaft. Noch Karl Engisch (1899–1990) kann 1956 in seiner bekannten „Einführung in das juristische Denken“ von ihr sagen, sie sei „durchaus herrschend“.363 Bis heute folgen ihr bekanntlich Rechtsprechung und Literatur in weiten Teilen.364 Nichtsdestotrotz findet die subjektive Auslegungstheorie mit Blick auf eine vermeintlich höhere Beständigkeit rechtlicher Wertungen und den demokratietheoretisch wünschenswerten, klareren Rückbezug des Rechts auf die Autorität der gewählten Legislative in jüngerer Zeit wieder vermehrt Verfechter.365 Das derzeit zu beobachtende Wiederaufleben der subjektiven Auslegungstheorie zu bewerten, fällt ersichtlich außerhalb des Rahmens dieser Arbeit. Inwieweit aber der Vorwurf einer Rechtsaushöhlung zutrifft, die in dem angeblichen Einfluss subjektiver Einschätzungen des Interpreten auf seine insofern nur noch vermeintlich objektive Auslegung liegen soll, ist für eine Gesamtbewertung der Rechtsauffassung Bindings bedeutend. Die Berechtigung dieses Vorwurfs lässt sich durch einen Blick auf die innere Funktionsweise der Auslegungstheorie Bindings klären. Im Folgenden wird daher auf das Procedere der Auslegung bei Binding eingegangen. Dieses folgt einem strengen, zweiaktigen Muster (1.). Darin wird die juristische Interpretation in eine „grammatische“ und eine „logische“ Stufe unterteilt (2.). Letztere Stufe umfasst sowohl die systematische als auch die objektiv-teleologische Auslegung des Rechts. Das historische Element juristischer Interpretation bildet mit Blick auf Bindings Auslegungsziel dagegen einen Sonderfall. Als Analyse historischen Rechts geht es in den genannten Interpretationsstufen auf: Der rechtswissenschaftliche Sprachgebrauch, die Bedeutung einer veränderten Systematik und die Ermittlung der rechtlichen Zwecke sind nur mit Blick auf das gewesene Recht feststellbar. Dieser Art historisch-juristischer Forschung widmet sich Binding in einem Maße, das es rechtfertigt, darauf gesondert zurückzukommen (3.). Mit Bindings Auslegung des § 59 RStGB wird schließlich ein Beispiel für die Besonderheiten und Gefahren seiner Auslegungslehre gegeben (4.).
363
Engisch, Einführung, 1. Aufl. 1956, S. 89. Aus der Rechtsprechung siehe etwa BVerfGE 1, 299 (312); 62, 1 (45); BGHZ 36, 370 (377); 37, 58 (60); BGHSt 1, 74 (76); 10, 157 (159 f.); 12, 42 (43 ff.). Vgl. zudem aus dem neueren Schrifttum H. Köhler, BGB AT, § 4 Rn. 13; Baumann/U. Weber/ Mitsch, Strafrecht AT, § 9 Rn. 76, Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht AT, Rn. 57 sowie Exner, JuS 2009, S. 990 (991). Für w.N. siehe Larenz, Methodenlehre, S. 316 ff.; Kramer, Methodenlehre, S. 119 ff. und Zippelius, Methodenlehre, S. 19. 365 Für die subjektive Auslegungstheorie sprechen sich u. a. Naucke, Gesetzlichkeit, S. 45 ff.; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 786 ff.; Fikentscher, Methoden, Bd. 4, S. 360 f.; Looschelders/Roth, Methodik, S. 46 ff. und Pawlowski, Methodenlehre, Rn. 388 ff. aus. 364
108
1. Teil: Bindings methodische Grundlagen
1. Zweistufigkeit der Auslegung Auslegung ist bei Binding kein völlig freier Vorgang, sondern durch eine vorgegebene Reihenfolge verschiedener „Akte“ festgelegt. Dabei unterteilt er wie oben angesprochen in Anlehnung an Laband366 den Entstehungsprozess allen Rechts in die Erklärung eines Rechtsgedankens als Inhalt der Regelung und die Erklärung eines Rechtswillens als Willen, diesen Regelungsgehalt auch zum Recht und somit verbindlich werden zu lassen. Prinzipiell seien beide eigenständige Objekte der Auslegung. Jedoch sei die Rechtswillenserklärung bei der grammatischen Auslegung „so konstant und [ihr] Wortsinn so klar“, dass man sich guten Gewissens auf die Auslegung des Rechtsgedankens konzentrieren könne.367 Der Rechtswille besage schließlich nicht mehr als die Verbindlichkeitserklärung des Rechtsgedankens, ein „ita jus esto“.368 Im ersten Akt der Auslegung bei Binding ist nun der vermutliche Rechtsgedanke zu ermitteln, das heißt vor allem: grammatisch auszulegen. Jedoch sei auch für den Fall, dass das auszulegende Recht nicht schriftlich niedergelegt ist, dieser erste Auslegungsakt nicht zu unterschlagen, weshalb Binding die übliche Bezeichnung als „grammatische Auslegung“ kritisiert.369 Es handelt sich um eine vorläufige Sinnermittlung durch eine sprachliche Analyse des Rechtssatzes beziehungsweise der ihn voraussetzenden Rechtssätze. Im zweiten Akt der Auslegung geht es ihm um die Beantwortung der Frage, „welcher Gedanke in Wahrheit sanktioniert“ sei.370 Damit lehnt sich Binding an die alte, auf Thomasius371 zurückgehende Zweiteilung der juristischen Interpretation in einen „grammatischen“ und einen „logischen“ Abschnitt an. Den zur Zeit Bindings für die Gesamtheit der nicht-grammatischen Auslegung immer noch üblichen372 Oberbegriff der „logischen“ Auslegung hält er allerdings wiederum für kritikwürdig, zumal hier nicht ausschließlich logische Gesetzmäßigkeiten eine Rolle spielten.373 Neben logisch-systematischen Aspekten kämen schließlich im Rahmen des zweiten Auslegungsakts auch teleologische Momente zum Zuge. Im Fokus steht an dieser Stelle formal der Rechtswille, also die Verbind-
366 Vgl. Laband, Staatsrecht, Bd. 2, 1. Aufl. 1878, S. 5 ff. Zu begrifflichen Unterschieden siehe bereits o. S. 99 m. Fn. 332. 367 Binding, Handbuch, S. 457. 368 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 8. 369 Binding, Handbuch, S. 458. 370 Binding, Handbuch, S. 466; Hervorhebung hinzugefügt. 371 Thomasius, Ausübung der Vernunftlehre, 3. Hauptstück, Nr. 34, S. 166, Nr. 99, S. 203; siehe dazu genauer Ogorek, Richterkönig, S. 107 ff. sowie Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 142 f. 372 Vgl. beispielhaft für die damals übliche Aufteilung Windscheid, Pandekten, S. 46 ff. 373 Binding, Handbuch, S. 458.
C. Eigenständigkeit des Rechts: die objektive Auslegungstheorie
109
lichkeitserklärung des Rechtsgedankens durch die Rechtsquelle. Mit dieser Verbindlichkeitserklärung soll der zuvor vorläufig ausgelegte Rechtsgedanke, der bislang nur losgelöst vom übrigen Recht in seinem Inhalt betrachtet wurde, nun in Kontakt mit dem übrigen Rechtssystem treten. Dies führt Binding zu der Frage, inwieweit der Wille, den grammatisch ausgelegten Gedanken der Regelung unverändert für allgemeinverbindlich zu erklären, wirklich unterstellt werden dürfe. Sei angesichts systematischer oder teleologischer Unstimmigkeiten nicht davon auszugehen, dass der so ausgelegte Rechtsgedanke verbindlich, also Teil dieses rechtlichen Gesamtsystems werden solle, so sei das Ergebnis entsprechend zu korrigieren.374 Über die Bezugnahme auf die Rechtswillenserklärung werden auf diese Weise wiederum Schlüsse für den Rechtsgedanken ermöglicht. Deshalb bringe der erste Akt der Auslegung stets nur ein vorläufiges Ergebnis. Erst wenn feststehe, welchem Rechtsgedanken die Verbindlichkeitserklärung gegolten habe und welchen Umfang diese Verbindlichkeitserklärung annehme, sei die Auslegung abgeschlossen.375 Bei Letzterem geht es Binding um den Geltungsbereich der Gesetze. Da diese Frage für ein tieferes Verständnis der Grundmechanismen Bindingscher Auslegung von untergeordneter Bedeutung ist, handelt die Arbeit im Folgenden nur von Rückwirkungen auf den Rechtsgedanken selbst. Die Zweiteilung der Auslegung bei Binding hat selbstredend nur noch wenig mit dem historischen Modell Thomasius’ zu schaffen. Die Auslegungsakte werden nicht strikt voneinander getrennt; zudem werden im „logischen“ Teil auch teleologische Überlegungen untergebracht.376 Die Methodik bewegt sich damit eher in den Bahnen moderner Auslegungsmodelle. Die Zweiteilung verdeutlicht in dieser Form lediglich, dass zunächst von einer durch ein einfaches Wortverständnis gewonnenen, vorläufigen Bedeutung des Interpretationsobjekts auszugehen ist, die anschließend durch die übrigen Auslegungselemente ihre abschließende Form findet. Da die Zweiteilung der juristischen Auslegung bei Binding insofern noch nichts über Gehalt und Bedeutung der einzelnen Auslegungselemente aussagt, ist sie letztlich geradezu banal: Weder über die Systematik, noch über die Teleologie können ohne ein wenigstens rudimentäres grammatisches Verständnis des juristischen Interpretationsobjekts sinnvolle Aussagen gemacht werden. Binding beschreibt nicht mehr als eine Selbstverständlichkeit juristischer Hermeneutik. Dass sich ähnliche Beschreibungen einer derartigen Zweiteilung zuweilen auch in modernen Werken zur juristischen Methodenlehre finden, darf insofern nicht überraschen.377
374
Binding, Handbuch, S. 466. Vgl. Binding, Handbuch, S. 466. 376 Vgl. Binding, Handbuch, S. 465 f. 377 Vgl. etwa Bydlinski, Methodenlehre, S. 104 und Zippelius, Methodenlehre, S. 37 ff. 375
110
1. Teil: Bindings methodische Grundlagen
2. Die einzelnen Auslegungsarten Die Bindingsche Unterteilung in einen grammatischen [a)] und einen „logischen“ Abschnitt [b)] wird der Übersicht halber auch in der Besprechung der einzelnen Auslegungsarten beibehalten. a) Grammatische Auslegung (1. Auslegungsakt) Bereits beim frühen Savigny ist die grammatische Auslegung teilweise objektiviert. So kommt es ihm zwar auf die „von dem Gesetzgeber angewendeten Sprachgesetze“ an;378 diesen Ausgangspunkt schränkt er jedoch gleichsam stark ein, indem er die Relevanz eines nur „individuellen Sprachgebrauchs“ 379 ausschließt. Einzig der allgemeine Sprachgebrauch zur Zeit der Gesetzgebung könne als Teil des Gesetzes betrachtet werden. Die Zuordnung Savignys ist aufgrund dieser Mischform bis heute umstritten.380 Bezieht man die übrigen Auslegungselemente mit ein, in deren Rahmen er auf die Reichweite des konkreten Gesetzgebergedankens wenig Rücksicht zu nehmen pflegt, so lässt sich aus heutiger Sicht allenfalls von einem formal-subjektiven Auslegungsziel sprechen.381 In der objektiven Auslegungstheorie Bindings werden auch derlei formal-subjektive Begrifflichkeiten aufgegeben. Die Bedeutung, die der Wortlaut für den Gesetzgeber hatte, ist nicht aufgrund einer Objektivierung des Gesetzgeberwillens irrelevant, sondern weil es auf den Gesetzgeberwillen überhaupt nicht mehr ankommen soll. Binding legt daher Wert auf die Feststellung, dass „das Recht seine eigene Sprache spricht, und Gesetz und Urteil Sätze gerade dieser Sprache sind und aus dem juristischen Sprachgebrauch verstanden werden müssen.“ 382 Der Zwiespalt des Gesetzgebers zwischen einer dem Bürger verständlichen Gesetzessprache und dem Bedürfnis nach einem spezifisch juristischen Sprachgebrauch, der den nötigen Grad an Schärfe der rechtlichen Regelung erreichen kann,383 wird bei Binding vollständig zur letzteren Seite hin aufgelöst: „Das Recht verbindet [. . .] mit den Worten seiner Sprache, auch wenn es sie der Umgangssprache entlehnt, stets einen technisch-juristischen Sinn, der immer viel schärfere Grenzen besitzt als der Begriff, den der Laie mit dem gleichen Worte verbindet, 378
Savigny, System, Bd. 1, S. 214. Siehe dazu bereits Savigny, Methodologie, S. 90. 380 Vgl. zu dieser Diskussion überblicksartig Meder, Verstehen und Mißverstehen, S. 3 ff. u. 125 ff. m.w. N. 381 Ob unter Einbeziehung metaphysischer Annahmen Savignys aus seinem Blickwinkel noch vorbehaltlos von einem subjektiven Auslegungsziel ausgegangen werden dürfte, kann hier dahinstehen. Savigny selbst scheint in seinem System, Bd. 1, S. 214 in diese Richtung zu deuten, wenn er pauschal feststellt, der systematische Zusammenhang eines Rechtssatzes habe „dem Gesetzgeber gleichfalls vorgeschwebt“. 382 Binding, Handbuch, S. 463. 383 Zu diesem grundlegenden Problem der Gesetzgebung etwa Larenz, Methodenlehre, S. 320 ff. 379
C. Eigenständigkeit des Rechts: die objektive Auslegungstheorie
111
ausserdem häufig viel weiter geht oder enger ist als dieser, häufig auch wirklich nur mit ihm den Namen teilt und sich sonst völlig von ihm unterscheidet.“ 384
Diese Missachtung des Bedürfnisses einer nicht nur für den Juristen verständlichen Gesetzessprache folgt aus dem Auslegungsziel Bindings. Kann für die Bestimmung des Rechtsinhaltes nur der objektive rechtserzeugende Wille in seiner ideellen Eigenartigkeit zu Rate gezogen werden, so verliert der subjektive Wunsch des Gesetzgebers, vom Bürger verstanden zu werden, jede Relevanz innerhalb der juristischen Auslegung. Das Recht stellt sich dar als ein rundum technisches Konstrukt, bei dem sich die Bedeutung eines Begriffs aus seiner Verwendung im gesamten Recht ergibt. Eine solche grammatische Interpretation setzt jedoch voraus, dass der Begriff im übrigen Recht auch zu finden ist, beziehungsweise bei mehrmaligem Vorfinden nicht offensichtlich unterschiedlich gebraucht wurde; in der Beschreibung Bindings: „Gleichmässigkeit der Sprache, [. . .] Eindeutigkeit der Worte, [. . .] [konstantes Maß] des Gedankenausdrucks.“ 385 Binding ist jedoch weit von einer auf solche Weise idealisierten Vorstellung des Rechts entfernt. Vielmehr lasse in all diesen Belangen „das [RSt]GB mehr als nötig zu wünschen“ übrig.386 Bei den dadurch entstehenden Unklarheiten widerspricht er ausdrücklich der Meinung, es sei in Zweifelsfällen dem üblichen Sprachgebrauch zu folgen.387 Stattdessen sei stets dreistufig vorzugehen: 1. Erhellt sich der Sinn des Wortes aus den Gesetzen selbst, so sei diesem Sinn zu folgen. 2. Ist dieser Sinn so nicht ermittelbar, so soll eine Sinnermittlung aus dem rechtswissenschaftlichen Sprachgebrauch versucht werden, „aus dem der Gesetzgeber präsumtiv geschöpft hat“.388 3. Sollte aber auch die Suche nach begrifflicher Klärung in der Sprache der Rechtswissenschaft nicht zum Erfolg führen, handelt es sich also um einen in den Gesetzen und der Rechtswissenschaft neuen Begriff, so ist für Binding nur noch ein Weg gangbar: Der Inhalt des Begriffes sei dann „aus dem juristischen Bedürfnisse zu gewinnen“.389 Betrachten wir zunächst die ersten zwei Stufen grammatischer Auslegung bei Binding. Ergibt sich der Sinn nicht aus dem Wortlaut der Gesetze selbst, so soll es danach auf den (präsumierten) Willen des Gesetzgebers ankommen, sich der 384 Binding, Handbuch, S. 464; ähnlich auch schon Binding, Organisation des Strafgerichts, S. 29 ff. 385 Binding, Handbuch, S. 464. 386 Binding, Handbuch, S. 464. 387 Vgl. Binding, Handbuch, S. 463 („Nichts ist falscher“). 388 Binding, Handbuch, S. 465. 389 Binding, Handbuch, S. 465.
112
1. Teil: Bindings methodische Grundlagen
juristischen Fachsprache zu bedienen. Nahegelegt wird also eine gesetzgeberische Deutungshoheit – das glatte Gegenteil des methodischen Ausgangspunkts Bindings! Um diesen scheinbaren Konflikt zu erklären, müssen wir uns der besonderen Natur der hier behandelten Situation vergewissern: Der Fall, den Binding hier offenbar vor Augen hat, ist derjenige eines nicht nach der „ersten Stufe“ inhaltlich ermittelbaren Begriffes, den man aber sowohl in einer Bedeutung aus dem allgemeinen Sprachgebrauch als auch in einer Bedeutung kennt, die ihm innerhalb der Rechtswissenschaft zukommt. Beide Bedeutungen gehen jedoch auseinander. In Übereinstimmung mit den Grundlagen der Methodik Bindings dürfte für die Auslegung des Satzes nun eigentlich nicht relevant sein, was der Gesetzgeber mit dem Begriff meinte. Vielmehr müsste entscheidend sein, in welcher Bedeutung das Recht den Begriff verstanden wissen will. Eben diese Bedeutung glaubt Binding jedoch durch die Erfassung des präsumierten Gesetzgeberwillens ermitteln zu können. Das zeigt sich schon im Folgesatz, in dem Binding die Vorzüge der Interpretation anhand eines solchen „gesetzlichen Sprachgebrauchs“ 390 preist – eine Formulierung, die er kaum gewählt hätte, wenn er die Quelle im Satz zuvor als problematisch empfunden hätte. Wie aber soll die Bedeutung, die das Recht dem Begriff beilegt, ermittelt werden, wenn er im Gesetz bisher nicht verwandt wurde? Mangels eindeutiger Nutzung des Begriffes in diesem oder vergleichbaren Gesetzen müsste man auf den Erfahrungswert abstellen, mit welcher Terminologie das Gesetz für gewöhnlich operiert. Dies führt uns zum rechtswissenschaftlichen Sprachgebrauch. Mittelbar kommt es dann doch auf den Urheber des Gesetzes an; nicht etwa aufgrund eines subjektiven Ausgangspunktes bei der Auslegung, sondern weil dieser Gesetzgeber die Gesetze auch in Zukunft formulieren wird und er sich bei dieser Tätigkeit – davon geht Binding jedenfalls aus – erfahrungsgemäß bei der Rechtswissenschaft bedienen wird. Damit wird der Gesetzgeber mittelbar zur Erkenntnisquelle des vom Gesetz Gemeinten. Da der Gesetzgeber die Gesetze formuliert, ist sein Sprachgebrauch in diesem Fall auch derjenige des Rechts. So verstanden ergibt auch das Wort „präsumtiv“ einen Sinn: Ergibt sich später, dass der Gesetzgeber den Begriff nicht im Sinne der Rechtswissenschaft meinte und gebraucht er ihn infolgedessen auch in anderen Teilen des Rechts offenbar mit jener von der Rechtswissenschaft abweichenden Bedeutung, so änderte sich auch die Bedeutung des Begriffes für das Recht. Schließlich kann der Begriff dann schon nach der „ersten Stufe“ bestimmt werden. Präsumtiver Betrachtungen bedarf es dann nicht. Es handelt sich also um einen unumgänglichen subjektiven Einfall in die ansonsten streng objektive Auslegungstheorie Bindings. Unterstellt man Binding 390
Binding, Handbuch, S. 465.
C. Eigenständigkeit des Rechts: die objektive Auslegungstheorie
113
nicht schlichte sprachliche Ungenauigkeit, wird hier die Schwierigkeit eines rein objektiven Ansatzes besonders anschaulich. In bestimmten Bereichen ist ein Rekurs auf den Gesetzgeber auch innerhalb einer objektiven Auslegungslehre unumgänglich, wie Binding hier anerkennen muss. Auch auf der dritten Stufe grammatischer Auslegung misst Binding dem allgemeinen Sprachgebrauch nicht ausdrücklich Bedeutung bei. Stattdessen wird die Wortlautauslegung scheinbar gänzlich verlassen. Es soll ermittelt werden, welchen Inhalt ein Begriff zur Ausfüllung seiner juristischen Funktion benötigt, die sich aus systematischen Bezügen und Zweckmomenten ergibt. Binding suggeriert damit ein Bild des Rechts als eine Art eigenständiger Kunstsprache. Ein solches Bild führt natürlich in die Irre. Zwar können einzelne im Hinblick auf eine rechtsinterne grammatische Vorbestimmung „leere“ Begriffe durch ihre systematische Stellung oder durch teleologische Überlegungen bestimmt werden. Möglich ist dies jedoch nur, weil andere Begriffe des Rechts bereits eine genügende grammatische Bestimmung gefunden haben. Eine vollständig interne grammatische Bestimmung des Rechts von Beginn an ist undenkbar. Wenn das Recht aber wenigstens in seinen Anfängen bei der grammatischen Bestimmung auf einen außerhalb seiner selbst liegenden Sprachgebrauch zurückzugreifen hat, stellt sich die Frage, an welchem Punkt und mit welcher Begründung ein Rekurs auf den allgemeinen Sprachgebrauch bei neu eingefügten Rechtsbegriffen später nicht mehr möglich sein soll. Mit derlei in den Bereich der Sprachwissenschaft driftenden Überlegungen zu einem Mindestmaß an grammatischem Vorverständnis bei jeder Auslegung hält sich Binding allerdings nicht auf. Sein sehr zweifelhaftes Postulat, gänzlich neue Rechtsbegriffe seien ausschließlich durch das „juristische Bedürfnis“ zu bestimmen, kann sich überdies nur dann praktisch auswirken, wenn der aus der Umgangssprache oder aus anderen Wissenschaften bekannte Bedeutungsgehalt eines solchen Begriffes in Konflikt mit systematischen oder teleologischen Schlüssen steht. Ob Binding auch bei einer eindeutigen grammatischen Vorbestimmung allein auf das „juristische Bedürfnis“ abgestellt hätte, darf jedenfalls bezweifelt werden; ein Beispiel hierfür findet sich in seinem Schrifttum nicht. b) „Logische“ Auslegung (2. Auslegungsakt) Im zweiten Auslegungsakt wird nun ein hypothetischer Wille unterstellt, den vorläufig ermittelten Rechtsgedanken verbindlich werden zu lassen. Der vorläufige Rechtsgedanke tritt dann in Verbindung mit dem Rechtssystem und der Lebensrealität. Diese Einordnung erlaube Rückschlüsse darauf, welcher Gedanke wirklich normiert worden sei: Die gedachte Beziehung zum Rechtssystem als Ganzes und zum Grund des Rechtssatzes führe entweder zur Bestätigung des vorläufigen Auslegungsergebnis oder zu seiner Berichtigung im Sinne einer einschränkenden oder erweiternden Auslegung. Deshalb sei Auslegung auch für den
114
1. Teil: Bindings methodische Grundlagen
Fall eines vermeintlich eindeutigen Wortlauts notwendig zweistufig.391 Die etwas komplizierte Beschreibung Bindings bedeutet nichts Anderes als die Beschäftigung mit allen nicht-grammatischen Auslegungsweisen, für Binding also die systematische [aa)] und die teleologische [bb)] Ermittlung des Rechtsgedankens. aa) Systematische Auslegung Die systematische Auslegung im Rahmen der Methodik Bindings kann nach dem oben Gesagten natürlich nicht diejenige Systematik im Auge haben, die dem Gesetzgeber vorschwebte. Sie ist von diesem Willen unabhängig und bezieht sich auf das objektive Sinnganze des Rechts, wie es der systematisch auslegende Interpret für sich erfassen kann. Entscheidend ist daher das objektive Verhältnis des einzelnen Rechtssatzes oder des einzelnen Rechtsbegriffes zum rechtlichen System insgesamt. Die Betrachtung eines Rechtssatzes als „Teil [. . .] aus dem Ganzen“ 392 meint vor allem die allgemeine, begriffserläuternde und -präzisierende Heranziehung anderer Sätze eines als Einheit gedachten Rechtssystems: „Das Moment des Zusammenhangs mit anderen Rechtssätzen ist ganz besonders bei Auslegung der Sätze eines accessorischen Rechtsteils, wie das Strafrecht ihn darstellt, beachtlich. Wir können die Sätze über die Vermögensverbrechen nicht verstehen ohne Zuhilfenahme des Privatrechts, die über Fälschungsverbrechen nicht ohne tiefes Eingehen in den Prozess, die über Staatsverbrechen nicht ohne Zuziehung des Staatsrechts.“ 393
Auch Bindings anschließende Ausführungen zur Teleologie greifen indes selbstverständlich zur Zweckermittlung auf das Rechtssystem als Ganzes zurück. Das muss nicht verwundern: Ein rechtliches Telos kann nur unter Rückgriff auf grammatische, historische394 oder systematische Feststellungen ermittelt werden. Eine absolut trennscharfe Fassung der einzelnen Auslegungsarten ist undenkbar; bei Binding, der ohnehin nur nach logischer und grammatischer Auslegung unterschied, treten diese Einordnungen noch weiter in den Hintergrund. Dies gilt es zu bedenken, wenn Binding einige seiner Ausführungen, die in heutiger Lehrbuchliteratur wohl eher als systematische Argumentationen eingeordnet würden, als teleologische begreift.
391
Vgl. Binding, Handbuch, S. 465 f. Binding, Handbuch, S. 467. 393 Binding, Handbuch, S. 467. 394 Verglichen mit der klassischen Zweckermittlung durch Heranziehung der Gesetzesmotive werden rechtliche Zwecke unter Rückgriff auf historische Feststellungen in der objektiven Auslegungstheorie selbstverständlich auf deutlich unterschiedlichem Wege gewonnen. Siehe dazu u. S. 120 ff. 392
C. Eigenständigkeit des Rechts: die objektive Auslegungstheorie
115
bb) Teleologische Auslegung Auch die teleologische Auslegung findet sich bei Binding in objektivierter Form wieder. Der Wille des Rechts soll also einen bestimmten Zweck voraussetzen. Daraus ergeben sich gravierende konzeptionelle Schwierigkeiten: Wird der Rechtsgedanke selbst zum für den Rechtsinhalt maßgeblichen Willen erklärt, so hat eine Zweckermittlung gewissermaßen aus sich selbst heraus, intrajuristisch zu erfolgen. Ein außerhalb des Rechts stehender Gedanke soll in der Auslegung keine Beachtung finden. Werden Zwecke dennoch geltungszeitlich und unter Beachtung der Lebensrealität festgestellt, so stände eine Beliebigkeit der Zweckfeststellung und damit der juristischen Auslegung insgesamt zu befürchten.395 Die Befürchtung willkürlicher Auslegungsergebnisse relativiert sich jedoch bei einem Blick auf die Bindingschen Ausführungen zur Teleologie. Bei seinen Beispielen arbeitet Binding ausschließlich mit objektiven Auslegungsindizien, die sich aus der logischen Systematik des Rechts ermitteln lassen. So beschreibt er beispielsweise die Zweckermittlung eines Rechtsinstituts am Beispiel der Festungshaft:396 Das System der Freiheitsstrafen zeige „zur Evidenz, dass die Festungshaft nur in dem Bedürfnis des Gesetzesgebers397 nach einer custodia honesta wurzelt, ihr Zweck nur in der Befriedigung dieses Bedürfnisses zu finden ist.“ 398 In der Tat lässt sich dieser Rechtszweck anhand der bevorzugten Behandlung der Festungshäftlinge399 hier ohne interpretatorische Willkür herleiten. Ähnliches gilt für Bindings Ausführungen zur teleologischen Betrachtung einzelner Rechtssätze. Einer solchen Interpretation unterzieht Binding etwa § 216 RStGB, der damals wie heute die Tötung auf Verlangen regelte, zu dieser Zeit aber eine Strafe von „Gefängniß nicht unter drei Jahren“ vorsah.400 Ganz 395
Vgl. dazu allgemein Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 368 f. Die Freiheitsstrafen waren bekanntlich aufgeteilt in Zuchthaus-, Gefängnis- und Festungshaft, mit jeweils leichteren Haftbedingungen in dieser Reihenfolge. Die Festungshaft wurde bereits 1945, die Zuchthausstrafe erst 1969 abgeschafft. 397 Zu bedenken ist bei Bindings Verwendung des Begriffs abermals, dass es sich beim Gesetzgeber für ihn um das staatlich organisierte Gemeinwesen (vgl. Binding, Handbuch, S. 198 f., Fn. 6) in seiner Gesamtheit handelt. Das je nach Staatsorganisation für die Rechtsschöpfung verantwortliche Organ ist in diesem Bindingschen Sinne also nicht der eigentliche Gesetzgeber. 398 Binding, Handbuch, S. 468 f. 399 Obgleich der Strafvollzug im Kaiserreich nur sehr mangelhaft geregelt blieb, kommt die unterschiedliche grobe Ausrichtung der Haftanstalten bereits in den §§ 14– 17 RStGB in der am 1.1.1872 in Kraft getretenen Fassung deutlich zum Ausdruck. Vgl. zudem §§ 6, 11, 16 f., 19 f., 24 ff., 28 ff. der Bundesratsgrundsätze zum Strafvollzug vom 28.10.1897, Zentralblatt für das Deutsche Reich 1897, XXV. Jg. Nr. 45, S. 308 ff., die allerdings lediglich Verwaltungsvorschriften darstellten. 400 § 216 RStGB lautete in der bis zum 15.6.1943 gültigen, am 1.1.1872 in Kraft getretenen Fassung: „Ist Jemand durch das ausdrückliche und ernstliche Verlangen des Getödteten zur Tödtung bestimmt worden, so ist auf Gefängniß nicht unter drei Jahren zu erkennen.“ 396
116
1. Teil: Bindings methodische Grundlagen
offensichtlich diente § 216 RStGB der Privilegierung des Täters gegenüber der Regelung des Totschlags in § 212 RStGB („Zuchthaus nicht unter fünf Jahren“) und des Mordes in § 211 RStGB („mit dem Tode bestraft“). Zweifellos sei es nicht Zweck des Paragraphen, die Strafe des minder schweren Totschlags in § 213 RStGB („Gefängnißstrafe nicht unter sechs Monaten“) zu erhöhen, obwohl der bloße Wortlaut dies zuließe. Der Anwendungsbereich von § 216 RStGB sei daher teleologisch zu reduzieren um die Fälle, die unter § 213 RStGB subsumierbar sind.401 Ein weiteres Beispiel bildet Bindings Auslegung von § 265 RStGB, nach dem derjenige, der „in betrügerischer Absicht eine gegen Feuersgefahr versicherte Sache in Brand setzt [. . .], mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren und zugleich mit Geldstrafe von einhundertfunfzig bis zu sechstausend Mark“ zu bestrafen war. Der Wortlaut sei insoweit eindeutig, als damit jede gegen Feuer versicherte Sache umfasst zu sein scheine. Dennoch führt Binding die logische Auslegung hinsichtlich eines versicherten Wohnhauses zu einem anderen Ergebnis: Dieses sei bereits dem § 306 Nr. 2 RStGB zu unterstellen, der einfachen Brandstiftung.402 Sinn und Zweck von § 265 RStGB sei es nicht, daneben eine eigenständige Bestrafung der Wohnhausbrandstiftung herbeizuführen. Obgleich im Gegensatz zur heutigen Konkurrenzenlehre, entsprach diese Lösung einer damals weit verbreiteten Ansicht.403 Schließlich könne auch eine ganze Anzahl von Rechtssätzen einer gemeinsamen Zwecksetzung unterliegen. Als Beispiel dient ihm jedes Gesetz, das die darin geregelte Materie abschließend bestimmen soll. Der Schluss auf eine „Exklusivität dieser Sätze“ 404 ergebe sich in diesen Fällen stets erst durch die teleologische Sichtweise. Binding hält das allgemeine Beispiel für nicht weiter erläuterungsbedürftig und verzichtet daher auf ein konkretes. Schon durch die allgemeine Funktionsbestimmung „logischer Auslegung“ bei Binding ist ersichtlich, dass sich der abschließende Charakter einer Regelungsmaterie hier nicht aus sich selbst, sondern durch seinen Zusammenhang mit dem Rechtssystem insgesamt ergeben soll. Derartige Beispiele sind natürlich zahlreich; sämtliche Fälle, in denen ein einzelner Gegenstand von einer andernorts geregelten, grundsätzlichen Behandlung ausgenommen wird, lassen sich hier anführen. Dass etwa die außer401 Da der Strafrahmen des § 216 StGB heute geringer ist als der durch die Strafzumessungsregel des § 213 StGB modifizierte Strafrahmen des § 212 StGB, stellt sich das Problem heute nicht mehr. 402 Vgl. Binding, Handbuch, S. 465 f. § 306 Nr. 2 RStGB lautete seit seinem Inkrafttreten am 1.1.1872 bis zum 1.9.1969: „Wegen Brandstiftung wird mit Zuchthaus bestraft, wer vorsätzlich in Brand setzt [. . .] 2. ein Gebäude, ein Schiff oder eine Hütte, welche zur Wohnung von Menschen dienen“. 403 Vgl. Oppenhoff, RStGB, 11. Aufl. 1888, S. 654 m.w. N. 404 Binding, Handbuch, S. 469.
C. Eigenständigkeit des Rechts: die objektive Auslegungstheorie
117
ordentliche Kündigung von Dauerschuldverhältnissen, für die das Gesetz eine von § 314 Abs. 3 BGB abweichende Frist zur Kündigung nach Kenntniserlangung von einem wichtigen Grund vorsieht, nicht alternativ auch binnen eines angemessenen Zeitraums im Sinne von § 314 Abs. 3 BGB möglich sein soll, bedarf keiner weiteren Erklärung. In diesem Sinne haben beispielsweise § 626 Abs. 2 BGB und § 24 Abs. 2 VVG denselben Ausschließlichkeitsanspruch. Ebenso erheben Schadensersatzvorschriften, die sich gegenüber den allgemeinen Bestimmungen des Schuldrechts haftungsbeschränkend auswirken, ganz selbstverständlich Anspruch auf eine abschließende Regelung des Schadensersatzes in den dort bestimmten Fällen. Dass Binding keine speziellen Beispiele herausgreifen zu müssen glaubt, ist angesichts der Fülle des zu jedem Zeitpunkt verfügbaren Materials also nicht weiter verwunderlich. Insoweit sich im Rahmen der „logischen Interpretation“ – das heißt: in der Zusammenschau aller rechtlichen Einzelteile – ein objektiver Zweck ergibt, birgt dies keine besonderen interpretatorischen Gefahren. Die geltungszeitliche Ausrichtung Bindingscher Auslegung erklärt sich dann von selbst: Ändert sich der logisch-systematische Zusammenhang eines Rechtssatzes, so ändert sich damit gleichzeitig der objektive Zweck des auszulegenden Rechtssatzes. Fiele also im erstgenannten Beispiel Bindings § 213 RStGB weg, so bestände kein objektives Indiz für eine Beschränkung des Umfangs von § 216 RStGB auf Fälle, die nicht dem ehemaligen § 213 RStGB unterfielen. Weitere Indizien für eine objektive Zweckermittlung ergeben sich für Binding aus der Genese der analysierten Rechtsmaterie. Obwohl er weit davon entfernt ist, den „Rechtswillen“ in eine Abhängigkeit vom historischen Gesetzgeber zu begeben, übersieht er nicht, dass sich der objektive Zweck eines Rechtssatzes nicht selten nur unter Rekurs auf seine (nicht minder objektive) Entstehungsgeschichte ermitteln lässt. Die auslegungserheblichen „Gedanken des Warum und Wozu“ 405 sind untrennbar verknüpft mit dem Prozess der Gesetzgebung; der subjektive Zweck eines Gesetzes gewinnt so als Bestandteil seiner objektiven Entstehungsgeschichte auch innerhalb der Auslegungslehre Bindings an Bedeutung. Freilich nicht im Sinne des eigentlichen Auslegungsziels, sondern als ein Indiz innerhalb der objektiven Zweckermittlung: „Unleugbar verselbständigt sich das erlassene Gesetz gegenüber seinen Motiven und seinen Zwecken, infolge dessen kleinere oder grössere Inconsequenzen zwischen Grund, Mittel und Zweck entstehen können. Aber seine Beziehung auf den Entstehungsgrund und auf das, was durch es erreicht werden soll, ist zu seinem Verständniss unerlässlich, zu seiner Kritik höchst wertvoll, ist somit integrirender Bestandteil der Wissenschaft vom Recht. Gerade für diese Betrachtung schliessen sich die Rechtssätze wieder zu Gruppen zusammen, die gleichen oder verwandten Gründen entsprungen sind und gleichen oder 405
Binding, Handbuch, S. 13.
118
1. Teil: Bindings methodische Grundlagen
verwandten Zwecken dienen. Und in demselben Maasse tritt an Stelle der Frage nach der Mittelnatur des einzelnen Rechtssatzes die nach Grund und Zweck des einzelnen Rechtsinstitutes: des Eigentums, der Strafe, der Reparationsverbindlichkeit, bis dann die aufsteigende Wissenschaft sich genötigt sieht nach Grund und Zweck des Rechtes überhaupt zu fragen. Immer aber handelt es sich um den wahren Grund und den wahren Zweck des wirklichen Rechtssatzes oder Rechtsinstitutes, welche beide, sofern deren Entstehungsgeschichte keine Auskunft über sie giebt, nur aus der Betrachtung des Rechtslebens erschlossen werden können.“ 406
Wenn Binding also an anderer Stelle das Erscheinen der Gesetzesmaterialien insgesamt bedauert, so geschieht dies nicht, weil er ihren Wert für die Auslegung in Bausch und Bogen verwirft; als Auslegungsbeispiel und als Indiz wenigstens des historischen Gesetzeszwecks, von dem auch die Suche nach einem geltungszeitlichen Zweck ihren Ausgangspunkt nehmen muss, hält er die Gesetzesmaterialien durchaus für wertvoll. Binding kritisiert ihr Erscheinen lediglich mit Blick auf dadurch ausgelöste „Fehlentwicklungen“ in der Jurisprudenz – allen voran die sogenannte Materialienjurisprudenz und die „Paktentheorie“.407 Im Gegensatz zum älteren, vom Volksgeistkonzept der Historischen Rechtsschule beherrschten Denken konzentriert sich die teleologische Interpretation bei Binding nicht mehr auf übergeordnete Rechtsprinzipien. Vor dem Hintergrund seines Voluntarismus ist diese Freiheit juristischen Zweckdenkens konsequent: Der rechtserzeugende Wille muss für Binding keinesfalls in den Bahnen des bisherigen Prinzipiensystems verlaufen, sondern ist wesentlich willkürlich.408 Lässt sich der Zweck eines Rechtssatzes jedoch weder aus logisch-systematischen Zusammenhängen erschließen, noch durch eine Heranziehung der historischen Bedingungen seiner Entstehung bestimmen, so steht die objektiv-geltungszeitliche Auslegung vor einem Problem. Wie lässt sich in diesen Situationen ein Zweck ermitteln, der noch als objektiver Zweck des Rechts gelten darf, der also frei von subjektiven Einflüssen des Interpreten ist? Zwingt eine auslegungserhebliche Einschätzung des „Rechtslebens“ nicht zu solchen Einflüssen? Das Problem lässt sich allenfalls eingrenzen. Tritt der Zweck einer Rechtsmaterie schon im Wortlaut eindeutig hervor, wird man dem Interpreten keine derartigen Vorwürfe machen können. So lässt sich beispielsweise § 138 Abs. 1 BGB problemlos teleologisch einordnen, ohne dass auf das übrige Recht oder die Entstehungsgeschichte eingegangen werden müsste: Sinn und Zweck einer Vorschrift, die gegen die Sittenordnung verstoßende Rechtsgeschäfte für nichtig erklärt, ist ersichtlich der zivilrechtliche Schutz eben dieser Sittenordnung, die wir 406
Binding, Handbuch, S. 14. Vgl. Binding, Handbuch, S. 469 ff. 408 Siehe dazu schon o. S. 57 ff. A. A. wohl mit Blick auf die Bindingsche Hervorhebung „vernünftiger“ Auslegung Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 345 ff. 407
C. Eigenständigkeit des Rechts: die objektive Auslegungstheorie
119
in langer rechtswissenschaftlicher Tradition etwas tautologisch als „Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden“ zu definieren pflegen.409 Wenngleich die Ausfüllung dieser Formel – also des Begriffs der „guten Sitten“ – heute im Sinne der grundgesetzlichen Werteordnung410 eines geltungszeitlichen Rückgriffs auf den logisch-systematischen Zusammenhang der Vorschrift bedarf, gelingt die teleologische Bestimmung der Gesamtvorschrift immanent, da schon mit Blick auf die Grammatik nur ein Zweck konzipierbar ist. Extrajuristische Quellen können erst bei der inhaltlichen Ausfüllung des gesetzesimmanent bestimmten Zwecks relevant werden, im Beispiel also bei der Beantwortung der Frage, was das Anstandsgefühl der als billig und gerecht denkend Geltenden gerade gebietet. Lässt sich aber auch ein immanenter Zweck der auszulegenden Rechtsmaterie nicht eindeutig bestimmen, so stehen in der Auslegungsmethodik Bindings keine weiteren objektiven Entscheidungskriterien zur Verfügung. Die intrajuristische Auslegung gelangt an ihr Ende. Wie in diesem Fall zu verfahren ist, geht aus seinen Beschreibungen leider nicht eindeutig hervor. Denkbar sind zweierlei Einordnungen: Die ehrlichere Lösung wäre es, in diesen Fällen eine „Rechtslücke“ einzuräumen, womit der Interpret nach dem „vermuteten Willen der Rechtsquelle“,411 also des staatlich organisierten Gemeinwesens412 auszulegen hätte. Wahrscheinlicher ist, dass Binding freie Betrachtungen des „Rechtslebens“ noch sehr weitgehend als Ermittlung eines „Rechtswillens“ im Sinne einer „Vernunft“ 413 nicht des Interpreten, sondern des Rechts selbst zu betrachten bereit ist.414 Im Ergebnis spielt die Einordnung freilich gar keine Rolle. Beiden Konstellationen folgt dieselbe Vorgehensweise: Legt der Interpret im Falle einer Rechtslücke nach dem präsumierten Willen der Rechtsquelle aus, wird er sich für eine subjektiv als besonders sachgerecht empfundene Auslegung entscheiden. Spekuliert er ohne intrajuristische Entscheidungshilfen und damit zwingend nach seiner Sichtweise über das „Rechtsleben“ und damit über den rechtlichen Willen, wird dies genauso auf eine in diesem Sinne „vernünftige“ Lösung hinauslaufen.
409
Vgl. etwa RGZ 80, 219 (221). Vgl. hierzu BVerfGE 7, 198 (206). 411 Binding, Handbuch, S. 202. 412 Vgl. Binding, Handbuch, S. 198 f., Fn. 6. 413 Zum Gebrauch des Begriffs bei Binding siehe o. S. 57 ff. 414 Vgl. etwa die Ausführungen in Bindings Handbuch, S. 469: Die Auslegungsmittel des Rechts lägen „nie ausserhalb, sondern stets innerhalb des Rechtsgebietes. Alles dem Recht Fremde ist keine Quelle für seine unmittelbare Erkenntniss.“ In einer Fußnote (9) hierzu heißt es dann, unter anderem ständen auch „Schriften über sociale [. . .] Zustände“, die dazu dienen können, „den Wortlaut des Gesetzes, den Zweck desselben und seine Stellung im Rechtssysteme besser zu erfassen“, in diesem Sinne nicht außerhalb des Rechts. 410
120
1. Teil: Bindings methodische Grundlagen
3. Historische Rechtsanalyse bei Binding Außerhalb ihrer Rolle bei der Suche nach dem objektiven Grund des Gesetzes kann sich die Frage nach dem Willen des historischen Gesetzgebers selbstverständlich in der konsequent objektiven Auslegungslehre Bindings nicht mehr stellen. Eine historische Auslegung im klassischen Sinne, die den historischen Gesetzgeber ins Zentrum der Gesetzesinterpretation stellt, findet sich dementsprechend nicht. Dennoch wäre es falsch, Binding eine mangelhafte Beachtung der historischen Perspektive zu unterstellen. Vielmehr nimmt diese Perspektive einen bedeutenden Raum in seinen Überlegungen ein.415 Sein Vorbild im Hinblick auf diese historisch-empirische Arbeitsweise findet Binding in seinem älteren Leipziger Kollegen Wächter.416 Die historische Arbeitsweise Bindings folgt dabei stets demselben Muster: Der zu untersuchende Rechtssatz oder -begriff wird von seinen frühesten, häufig also römisch- oder germanischrechtlichen Ursprüngen an in Augenschein genommen, um seine Entwicklung bis zum geltenden Recht nachzuweisen. Binding selbst schreibt zur Bedeutung der historischen Rechtsanalyse ganz allgemein in der Vorrede zu seinem „Handbuch“: „Ich sehe das geltende Recht als Durchgangspunkt zwischen Vergangenheit und Zukunft – als Durchschnitt, gelegt durch die lebendigen vorwärts strebenden Rechtsideen, deren Lauf zu verstehen, deren erreichten Entwicklungspunkt zu fixieren, deren vielleicht eingetretene Verschlingung, hie und da wohl gar Verwirrung aufzudecken ich bestrebt war.“ 417
Erst aus dieser Bedeutungsentwicklung erklären sich zahlreiche Bestandteile der Bindingschen Strafrechtslehre. So beruht Bindings dogmatische Konstruktion der Schuldformen und der damit verbundenen Irrtumsproblematik auf einer eingehenden Analyse des römischen dolus-Begriffs und sämtlicher Formen der
415 Das wohl auffälligste Beispiel für eine historische Betrachtung bei Binding ist die „Entschlüsselung“ des dolus-Begriffes im zweiten Band der Normen. Auf 150 Seiten (Binding, Normen, Bd. 2,2, S. 633–783) beschreibt Binding hier zunächst die Bedeutung im römischen Recht und analysiert dabei den Inhalt der Begriffe dolus malus, culpa dolo proxima (culpa lata), lascivia und luxuria. Dabei legt er seine Einteilung von Vorsatz („gewollte“ Handlung im Bewusstsein ihrer Rechtswidrigkeit) und Fahrlässigkeit („gewollte“, Handlung ohne Bewusstsein ihrer Rechtswidrigkeit, aber in Verbindung mit einem Verstoß gegen ein Sorgfaltsgebot) als die einzig logische zugrunde und meint, im Laufe der Geschichte einen langsamen Erkenntnisfortschritt hin zu dieser Ausgestaltung der Schuld vernehmen zu können. Jede von seiner Definition abweichende Fassung von Vorsatz und Fahrlässigkeit muss sich aus seiner Sicht früher oder später als korrekturbedürftig erweisen. Vgl. hierzu Binding, Normen, Bd. 2,2, S. 716 ff. 416 Vgl. dazu Westphalen, Binding, S. 79 ff. sowie Bindings Schüler Nagler, GS 91 (1925), S. 18. 417 Binding, Handbuch, S. VIII.
C. Eigenständigkeit des Rechts: die objektive Auslegungstheorie
121
culpa.418 Das sich ergebende dogmatische System wird anschließend verglichen mit germanischen Vorstellungen, denen Binding eine gesunde Behandlung des Irrtumsproblems attestiert.419 Der deutsche Rechtskreis habe in der Rezeptionszeit ein missverstandenes römisches Schuldsystem übernommen, das mit der von Binding hervorgehobenen Ausnahme der Constitutio Criminalis Carolina420 zu einer starren Behandlung des Rechtsirrtums nach der Formel error iuris nocet geführt habe.421 Tatsächlich aber sei den Römern eine Anwendung dieser Formel auf Delikte fremd gewesen.422 Interessanterweise hat die angeblich fehlerhafte Rezeption des römischen Rechts für Binding aber nicht etwa eine strikte Unbeachtlichkeit von Rechtsirrtümern für das gemeine Recht zur Folge. Die prinzipielle Beachtlichkeit des Rechtsirrtums ergibt sich für ihn aus dem objektiven Inhalt der als Recht rezipierten Quellen. Die dogmatische Struktur der Schuldformen und damit auch des grundsätzlich rechtserheblichen Irrtums war aus seiner Sicht zu jeder Zeit dieselbe. Rechtswissenschaft und -praxis täuschten sich also nach Bindings Sichtweise lange über die Dogmatik des von ihnen angewandten Rechts. Dies verdeutlicht die besondere Art und Weise seiner historischen Rechtsanalyse: Er verfolgt die objektive Bedeutungsgeschichte der rechtlichen Grundbegriffe.423 Im Einzelnen verfährt er in der historischen Rechtsanalyse stets nach den dargelegten Regeln seiner objektiven Auslegungstheorie, die lediglich auf historisches Recht angewandt werden. 4. Procedere und Gefahren der objektiven Auslegung Bindings: ein Beispiel Ein aussagekräftiges, wenngleich kompliziertes Beispiel für die Gefahren der Auslegungsmethodik Bindings stellt seine Sichtweise der reichsstrafrechtlichen Irrtumsregelung dar. Um die Besonderheiten seiner Auslegung von § 59 RStGB herauszustellen, bedarf es nach einigen grundlegenden Ausführungen [a)] zunächst einer Erläuterung der seinerzeit herrschenden Interpretationsweise der Vorschrift [b)] sowie des Bindingschen Vorsatzbegriffs [c)]. Als dogmatische Konstruktion wird dieser schließlich zur Grundlage eines sehr zweifelhaften Auslegungsversuchs Bindings [d)].
418
Binding, Normen, Bd. 2,2, S. 633–783. Binding, Normen, Bd. 3, S. 18 ff., insb. S. 30: „Jedenfalls steht die ganze Behandlung der Irrtumsfrage im germanisch-deutschen Recht turmhoch über ihrer Misshandlung nach angeblich römischem Muster.“ 420 Binding, Normen, Bd. 3, S. 79 ff. 421 Binding, Normen, Bd. 3, S. 35 ff. u. 65 ff. 422 Binding, Normen, Bd. 3, S. 52 ff. 423 In seinen Normen, Bd. 3, S. 40 spricht Binding sogar ausdrücklich von einer „objektive[n] Auslegung der römischen Quellen“. 419
122
1. Teil: Bindings methodische Grundlagen
a) Die Befriedigung dogmatischer Bedürfnisse jenseits methodischer Grenzen als spezifische Gefahr des Bindingschen Rechtsdenkens Nicht erst im Rahmen des merklichen Wiederauflebens der subjektiven Auslegungslehre in jüngerer Zeit wird der objektiven Auslegung vorgeworfen, das Recht letztlich dem Einfluss des persönlichen Meinungsbildes des jeweiligen Interpreten preiszugeben.424 Wenigstens insoweit Materialien zur Verfügung stehen und das Gemeinte präzisieren können, ist eine größere interpretatorische Freiheit bei einem geltungszeitlich-objektiven Auslegungsziel nicht sinnvoll zu bestreiten. Im Sinne der angepriesenen „Schmiegsamkeit“ 425 des Rechts ist sie auch erklärtes Ziel der objektiven Auslegungstheorie. Stehen keine objektiven Indizien für die Auslegung zur Verfügung, wird die Bindingsche Auslegungsmethodik allerdings vor Probleme gestellt, deren intrajuristische Unlösbarkeit Binding zumindest für einen Teilbereich auch offen einräumt. Soweit verfügbar, richtet sich das Auslegungskonzept Bindings aber nach objektiven Indizien: Rechtsimmanente Wortlaut- oder Zweckerklärungen, Genese des Rechts, rechtswissenschaftliche Sprachtradition und logisch-systematische Zusammenhänge erlauben in der Regel objektive Schlüsse auf den Rechtsinhalt. Insbesondere im Strafrecht als Bindings vorrangigem Arbeitsfeld glaubt er kaum auf eine extrajuristische Lückenfüllung zurückgreifen zu müssen. So führt er beispielsweise seine Fahrlässigkeitskonzeption auf eine objektive Auslegung früherer Gesetzeswerke zurück, die er in ihrer Gesamtheit als dogmatische Entwicklungsgeschichte hin zu seiner Auffassung deutet.426 Hinsichtlich einzelner Begriffe des Besonderen Teils stehen ihm häufig einfachere rechtsimmanente Erklärungen zur Verfügung: Man denke nur an die Bestimmung des Tatbestandsmerkmals „fremd“ durch einen Rückgriff auf zivilrechtliche Vorschriften zum Eigentum. Der auf Binding zurückgehende, sogenannte „juristische Vermögensbegriff“ ist nichts anderes als eine Konsequenz der objektiven Auslegungstheorie Bindings, die soweit wie möglich auf objektive Indizien zurückzugreifen versucht.427 Eine spezifische Gefahr objektiver Auslegung bei Binding liegt auch nicht in einer willkürlichen Heranziehung von „Sozialnormen“ bei der Auslegung von Strafgesetzen, wie dies zuweilen in der neueren Literatur unterstellt wird. Bereits nach den bisherigen Ergebnissen zu Bindings juristischen Grundansichten lässt sich feststellen, dass ein derartiger Rückgriff auf nach diesen Grundansichten rechtsexterne Normen für Binding einen schweren methodischen Mangel darstellen musste – ein Befund, der sich im Rahmen der Analyse der Bindingschen Darstellung seiner Normenlehre bestätigen lassen wird.428 424 425 426 427 428
Beispielhaft in dieser Hinsicht Rüthers/Fischer/Brink, Rechtstheorie, Rn. 797. Binding, Handbuch, S. 455. Vgl. Binding, Normen, Bd. 4, S. 8–279. Vgl. Binding, Lehrbuch BT, Bd. 1, S. 237 ff. Siehe dazu u. S. 241 ff.
C. Eigenständigkeit des Rechts: die objektive Auslegungstheorie
123
Nichtsdestotrotz wird man auf der Suche nach zweifelhaften Auslegungsergebnissen Bindings, die mit seiner Methodik in Verbindung stehen, fündig. Solche Ergebnisse gehen allerdings nicht auf einen offen extrajuristischen Einfluss etwaiger „Sozialnormen“ zurück, sondern resultieren aus der Bindingschen Verbindung der objektiven Auslegung mit dem Methodenideal der Historischen Rechtsschule. Die unbegrenzte Prinzipieninduktion und das daraus entstehende weite, in sich logische und fein nuancierte rechtliche Wertungssystem sind die Folge eines Rechtsbilds, das dem juristischen Forschungsgegenstand und der Beschäftigung mit ihm für Binding erst eine besondere Würde verleiht. Die Eleganz eines solchen Systems verleitet schnell zur Außerachtlassung von Auslegungsfaktoren, die ihm in Einzelfällen entgegenstehen. Scheinbare dogmatische Bedürfnisse werden allzu schnell auch dort erfüllt, wo eine sachgerechte Abwägung der Argumente eigentlich zu einem anderen Ergebnis hätte führen müssen. Der Vorwurf lässt sich gegen zahlreiche Juristen des 19. Jahrhunderts vorbringen und steht in enger Verbindung zur allgemeinen Kritik an der „Begriffsjurisprudenz“. Durch das objektive Auslegungsziel Bindings erhält er aber eine besondere Brisanz: Der gewonnene argumentative Freiraum des Interpreten macht ihn empfänglicher für die Versuchung, vermeintliche gesetzgeberische Defizite zugunsten des dogmatischen Systems auch jenseits von Auslegungsgrenzen zu korrigieren. b) Geklärtes und Ungeklärtes in der Auslegung von § 59 RStGB Bindings viel belächelte Auslegung des § 59 RStGB steht exemplarisch für die besondere Gefahr seiner Auslegungslehre. Der Wortlaut der Vorschrift lautete: „Wenn Jemand bei Begehung einer strafbaren Handlung das Vorhandensein von Thatumständen nicht kannte, welche zum gesetzlichen Thatbestande gehören oder die Strafbarkeit erhöhen, so sind ihm diese Umstände nicht zuzurechnen. Bei der Bestrafung fahrlässig begangener Handlungen gilt diese Bestimmung nur insoweit, als die Unkenntniß selbst nicht durch Fahrlässigkeit verschuldet ist.“
Ausdrücklich bestimmten die Motive des § 59 RStGB, dass mit der Wahl dieses Wortlauts keine Änderung der Rechtslage beabsichtigt war.429 Die hatte bis zu diesem Zeitpunkt darin bestanden, den Irrtum über tatbestandliche Tatsachen für vorsatzausschließend zu erklären, den Rechtsirrtum aber ungeregelt zu lassen. In den meisten deutschen Einzelstaaten wurde der Rechtsirrtum im Umkehrschluss als unbeachtlich gesehen; es galt der alte Grundsatz error iuris nocet.430 Dieser war insbesondere auch für das preußische Strafrecht anerkannt,431 dessen
429
Vgl. Schubert (Hrsg.), StGB Norddt. Bund, S. 58. Vgl. den Überblick bei Köstlin, System, Abt. 1, S. 383 ff. m. zahlr. w. N. Siehe a. Binding, Normen, Bd. 3, S. 245 ff. 431 Vgl. die Zusammenstellung bei Goltdammer, Materialien, Bd. 1, S. 377 f. 430
124
1. Teil: Bindings methodische Grundlagen
§ 44 PrStGB432 in den Motiven des RStGB ausdrücklich als Vorbild herangezogen wurde.433 In Anbetracht dieser historischen Grundlage des RStGBs folgte auch das Reichsgericht von vornherein der Linie einer strikten Unbeachtlichkeit strafrechtlicher Rechtsirrtümer, während außerstrafrechtliche bei Verzeihlichkeit den Vorsatz ausschließen sollten und § 59 RStGB als Regelung der Tatsachenirrtümer angesehen wurde.434 Allerdings fand sich im neuen RStGB keine Vorschrift, die als Normierung des Grundsatzes error iuris nocet gelesen werden konnte. In der Argumentation des Reichsgerichts und eines Teils der Literatur sollte das ungeschriebene Recht also eine sehr weitgehende juristische Präsumtion enthalten. Die Weitergeltung eines derart einschneidenden Grundsatzes strikter Unbeachtlichkeit „strafrechtlicher“ Irrtümer ohne Verankerung im geschriebenen Recht, allein aufgrund eines Arguments e contrario zu § 59 RStGB435 oder als bloße Behauptung einer bestimmten „Natur des Strafrechts“,436 wurde in der Literatur daher bereits bald nach Inkrafttreten des RStGBs in Zweifel gezogen.437 Traf die nach der Rechtsprechung weitergeltende Regel error iuris nocet also auch nicht auf ungeteilte Zustimmung in der Rechtswissenschaft, so wurde doch die Beibehaltung der bloßen Trennung in einen (nun in § 59 RStGB) geregelten tatsächlichen und einen im geschriebenen Recht ungeregelten rechtlichen Irrtum nicht in nennenswertem Maße in Frage gestellt.438 Die strittige Frage bestand zu 432 § 44 PrStGB (1851) lautete in der vom Inkrafttreten des PrStGB am 1.7.1851 gültigen Fassung bis zu dessen Ablösung durch das am 1.1.1871 in Kraft getretene StGB für den Norddeutschen Bund: „Wenn die Strafbarkeit einer Handlung abhängig ist, entweder von besonderen Eigenschaften in der Person des Thäters, oder desjenigen, auf welchen sich die That bezog, oder von denjenigen besonderen Umständen, unter welchen die Handlung begangen wurde, so ist eine solche Handlung demjenigen als Verbrechen oder Vergehen nicht zuzurechnen, welchem jene Verhältnisse oder Umstände zur Zeit der That nicht bekannt waren. Wenn durch solche besondere, dem Thäter unbekannt gebliebene Verhältnisse oder Umstände die Strafbarkeit der von ihm begangenen Handlung erhöht wird, so sollen ihm diese erschwerenden Umstände der That nicht zugerechnet werden.“ 433 Vgl. Schubert (Hrsg.), Entwurf, S. 225. In den Motiven des am 1.1.1871 in Kraft getretenen StGBs für den Norddeutschen Bund, dessen Regelungen bekanntlich zu großen Teilen im späteren RStGB übernommen wurden, berief man sich ausdrücklich auf § 44 PrStGB (RGBl. 1871, S. 127). 434 Vgl. etwa RGSt 1, 1 (3); 1, 272 (273 f.); 4, 124 (126 f.); 8, 172 (173). Weiterführend zur Entwicklung der Rechtsprechung zu dieser Frage siehe Dimakis, Rechtswidrigkeit, S. 10 ff. 435 In diesem Sinne etwa Bar, GS 38 (1886), S. 252 (277); Simon, GS 32 (1880), S. 416 (419). 436 So etwa Rüdorff, RStGB, 4. Aufl. 1892, § 59 RStGB, Rn. 3 und Schütze, Lehrbuch, S. 138. 437 Siehe z. B. Hammerer, Rechtsirrtum, S. 65 u. 74 f. 438 Ausgerechnet Liszt kommt in seinem Lehrbuch, 2. Aufl. 1884, S. 161 m. Fn. 3 Bindings nachfolgend ausgeführter Ansicht sehr nahe. Mit Binding stellt er sich offen gegen die Rechtsprechung und herrschende Lehre, wenn er behauptet, die Unterschei-
C. Eigenständigkeit des Rechts: die objektive Auslegungstheorie
125
jedem Zeitpunkt in der Art und Weise der Behandlung von Rechtsirrtümern im ungeschriebenen Recht, nicht jedoch in der Verortung des Problems außerhalb des geschriebenen Rechts. Dass sich § 59 RStGB auf den error facti beziehen sollte, blieb bis zur am 1.1.1975 in Kraft getretenen Strafrechtsnovelle in Literatur und ständiger Rechtsprechung anerkannt.439 Lediglich die Terminologie änderte sich: Zur Betonung der Einbeziehung auch normativer Tatbestandsmerkmale setzte sich der Begriff des Tatbestandsirrtums durch. c) Bindings Vorsatzdogmatik Trotz der Eindeutigkeit der Motive, die für die Beibehaltung des in den meisten einzelstaatlichen Strafgesetzbüchern wiedergegebenen Regelungsgehalts des § 44 PrStGB sprechen, legt Binding die Regelung im Sinne seiner eigenen Vorsatz- und Irrtumsdogmatik aus. Dabei ist die Struktur der Bindingschen Vorsatzkonzeption durch seine bereits erläuterte, eigentümliche Sichtweise des „rechtswidrigen Willens“ keineswegs inhaltlich vorgegeben. Dieser „rechtswidrige Wille“ liegt bei fahrlässigen und vorsätzlichen Delikten gleichermaßen vor und erschöpft sich in einer allgemeinen Handlungsvoraussetzung. Das Wesen des Vorsatzes im Sinne Bindings beruht auf anderen Erwägungen. In scharfen Worten, die den Zusammenhang mit seinen methodischen Grundlagen offenlegen, betont Binding die Rolle rechtlicher Wertungen bei der Bestimmung der Schuld: „Die Schuld erschöpft sich in ihrem Gegensatz zum Recht. Aus ihrer Definition diese Beziehung wegzulassen, ist Todsünde gegen die juristische Methode.“ 440
Binding will auf die Bedeutungslosigkeit des Bewusstseins eines verursachten Kausalverlaufs als solchem für die Schuld hinaus: „Da historisch genau derselbe Erfolg objektiv rechtswidrig und objektiv erlaubt sein kann, gleicht sich die psychische Beziehung zum Erfolg in der verbotenen wie der erlaubten Handlung vollkommen aus: in Wahrheit giebt es also keine spezifische Schuld mehr. Da das Verwirklichtsein eines schuldhaften Willens doch viel mehr enthält als nur eine psychische Beziehung des Täters zum Erfolg, die ihrerseits ja ebenso nur eine reine Gefühls- oder Vorstellungs-Beziehung sein kann, so zeigt sich auch hierin wieder die Schwindsüchtigkeit der Begriffsbildung.“ 441
Zweifellos umfasst der Vorsatz auch für Binding ein intellektuelles Element. Er muss also über den skizzierten „rechtswidrigen Willen“ als allgemeine Handdung zwischen Rechts- und Tatsachenirrtum sei im RStGB aufgegeben worden. Bindings Ansicht, § 59 RStGB beziehe auch auf den Fall eines mangelnden Bewusstseins der Rechtswidrigkeit als solchem, folgt Liszt allerdings auch in dem genannten Frühwerk nicht. 439 Vgl. zur Entstehungsgeschichte des § 59 RStGB Hippel, in: Vergleichende Darstellung AT, Bd. 3, S. 373 (483 f., 486 f.) und zur späteren Auslegung der Vorschrift Mezger, in: LK, 8. Aufl. 1957, § 59 StGB, Anm. I.3 f. 440 Binding, Normen, Bd. 2,1, S. 276. 441 Binding, Normen, Bd. 2,1, S. 277 f.
126
1. Teil: Bindings methodische Grundlagen
lungsvoraussetzung hinausgehen. Dieses Element jedoch in einer „psychischen Beziehung zum Erfolg“ zu sehen, verbietet sich für Binding; der anzubringende Vorwurf sei ein juristischer und könne sich daher nicht auf rechtlich Indifferentes beziehen. Nichts anderes geschehe aber, wenn die Vorstellung eines Menschen nur in ihrer tatsächlichen Beziehung und nicht in ihrer normativen für schuldrelevant erklärt werde. So wird der Zusammenhang mit der Methodik Bindings deutlich: Tatsächliches spielt für das Recht nur insoweit eine Rolle, als es Anknüpfungspunkt für eine juristische Bewertung ist. Dementsprechend ist die Vorstellung von etwas Tatsächlichem als solche für das Recht belanglos. Erst das tatsächliche Geschehnis in seiner rechtlichen Bewertung eignet sich zum Vorwurf und bildet nach der Dogmatik Bindings den logischen Anknüpfungspunkt für eine schuldrelevante Vorstellung: „Aber nach allzeit geltendem Recht war und ist nicht die Tötung Delikt und Verbrechen, sondern die verbotene Tötung, nicht die Brandstiftung und die Sachbeschädigung, sondern die verbotene Brandstiftung und die verbotene Sachbeschädigung, nicht die Freiheitsberaubung, sondern die verbotene Einsperrung.“ 442
Erklärte man stattdessen die Vorstellung vom Kausalverlauf als solchem für schuldrelevant, so bedeute dies entweder, „dass nach der esoterischen Psychologie des Rechts der bewusste Wille etwas Rechtswidriges zu tun und der Wille dasselbe Rechtswidrige mit dem Glauben, es sei etwas Erlaubtes, zu tun genau die gleiche rechtliche Wesenheit und Bedeutung besässen,“ 443 oder es liefe auf eine Präsumtion der Vorstellung auch von der Rechtswidrigkeit der eigenen Handlung für den Fall eines Bewusstseins ihrer tatsächlichen Wirkung hinaus.444 Das intellektuelle Element des Vorsatzes umfasst für Binding danach zwingend das Bewusstsein der Rechtswidrigkeit.445 Der Vorsatz lässt sich damit fassen als Wille, dessen Rechtswidrigkeit dem Täter bewusst ist. Entsprechend verläuft auch die Unterscheidung von Fahrlässigkeit und Vorsatz bei Binding, die hier nur angerissen werden soll: Hängt der Vorsatz vom Bewusstsein der Rechtswidrigkeit ab, wird die Fahrlässigkeit als qualitativ unterschiedliche Schuldform durch selbiges gerade ausgeschlossen.446 Vorsätzlich handelt, wer im Bewusstsein der rechtswidrigen Richtung des eigenen Willens handelt, fahrlässig dagegen derjenige, der in einem vorwerfbaren Irrtum über diese Rechtswidrigkeit ist. Der Vorwurf gelingt hier nur über Sorgfaltspflichten, deren Verletzung jedoch kein eigenständiges Delikt bilden soll und die daher von Binding nur als unselbständige Hilfsnormen gesehen werden konnten.447 So versucht er sich von dog442
Binding, Normen, Bd. 2,2, S. 944. Binding, Normen, Bd. 2,2, S. 949; Hervorhebungen aus dem Original nicht übernommen. 444 Binding, Normen, Bd. 2,2, S. 949 f. 445 Binding, Normen, Bd. 2,2, S. 954. 446 Binding, Normen, Bd. 4, S. 415 ff. 447 Binding, Normen, Bd. 4, S. 501 ff., bes. S. 505. 443
C. Eigenständigkeit des Rechts: die objektive Auslegungstheorie
127
matischen Konstruktionen abzugrenzen, die den deliktischen Kern der Fahrlässigkeit in der Unachtsamkeit sehen. Polemisch schreibt er, fahrlässig verwirklichte Delikte würden nach solchen Sichtweisen zu dem einen „Delikt der Denkfaulheit“ degradiert.448 Für Binding muss sich der strafrechtlich relevante Vorwurf stets auf einen „Willen“ 449 zur Übertretung eines Ge- oder Verbots beziehen, im Vorsatzfall mit Bewusstsein dieser Übertretung, im Falle von Fahrlässigkeit im seinerseits vorwerfbaren Irrtum darüber. d) Bindings Auslegung von § 59 RStGB im Sinne seiner Vorsatzdogmatik Hinsichtlich des Bewusstseins der Rechtswidrigkeit als Vorsatzvoraussetzung legt Binding besonders Wert auf die Feststellung, dass es ausschließlich auf die rechtsverletzende Qualität der eigenen Handlung ankomme. Nicht nur die tatsächliche Richtung des eigenen Willens müsse vom Bewusstsein umfasst sein, sondern auch deren Rechtswidrigkeit. Die Folge ist eine logische Unmöglichkeit des Vorsatzes sowohl im Rechts- als auch im Tatsachenirrtum, da in beiden Fällen kein Bewusstsein der Rechtswidrigkeit der eigenen Handlung angenommen werden kann. Dieser Ausschluss erfolgt in Bindings Dogmatik logisch zwingend und völlig ohne Rücksicht auf Kriterien der „Verzeihlichkeit“ oder „Vermeidbarkeit“. Folgerichtig ist der „Subsumtionsirrtum“ für ihn der einzig relevante und stets vorsatzausschließende Irrtum.450 Tatbestands- und Rechtsirrtum werden zu bloßen „Quellirrtümern“ dieses einen vorsatzausschließenden Irrtums.451 Die eigene Handlung wird irrtümlich nicht als Verletzung des bestehenden Rechts erfasst – entweder, weil das Recht, oder weil die tatsächlichen Umstände der eigenen Handlung nicht richtig erkannt werden. Nur bei Fahrlässigkeitsdelikten seien diese Irrtümer insofern relevant, als Normen spezielle452 Wissenspflichten hinsichtlich des Rechts und der tatsächlichen Umstände der eigenen Handlung aufstellten, deren unverzeihliche Verletzung (Unachtsamkeit) bei Vorliegen der übrigen Tatbestandsmerkmale zur Strafe führe. Eine sinnvolle Unterscheidung zwischen Rechts- und Tatsachenirrtümern hält Binding daher aufgrund der logischen Struktur des Vorsatzes für praktisch unmöglich und juristisch unnötig.453
448
Binding, Normen, Bd. 4, S. 502. Im o. (S. 72 ff.) genannten Sinne. 450 Vgl. Binding, Normen, Bd. 3, S. 144 ff. u. 172 sowie die bündige Darstellung in seinem Grundriss AT, 6. Aufl. 1902, S. 105 f. 451 Siehe bspw. Binding, Normen, Bd. 3, S. 153 ff. 452 Binding lehnt allgemeine Wissenspflichten die Gesetze betreffend strikt ab. Lediglich in den Fahrlässigkeitsdelikten seien bestimmte, einzelne Wissenspflichten festgelegt. Vgl. Binding, Normen, Bd. 3, S. 160 ff. 453 Vgl. Binding, Normen, Bd. 2,1, S. 145 f., Fn. 23; Bd. 2,2, S. 682, 703, 954; Bd. 3, S. 159. 449
128
1. Teil: Bindings methodische Grundlagen
Aus seiner Sicht änderten weder die vergangenen Irrtumsregelungen in den einzelnen deutschen Staaten noch der neue § 59 RStGB etwas an diesem Wesensgehalt des Vorsatzes als Bewusstsein der Rechtswidrigkeit. An seinem logischen Begriffssystem, das er für ebenso positivrechtlich fundiert hält wie die einzelnen Irrtumsregelungen, zweifelt Binding nicht. Was logisch nicht möglich ist – ein Bewusstsein der Rechtswidrigkeit ohne ein Bewusstsein der Rechtswidrigkeit –, könnte nur fingiert werden. Eine Regelung, die Rechts- und Tatbestandsirrtum unterteilt und nur letzteren für generell vorsatzausschließend erklärt, fingiere also einen Vorsatz für den Fall, dass der Täter sich über das Recht, nicht aber über die „wesentlichen Merkmale seiner Handlung“ irre.454 Aus diesem Blickwinkel hält Binding die gebräuchliche Behandlung des Rechtsirrtums für zutiefst ungerecht.455 Die nicht sinnvoll mögliche Abgrenzung zwischen Rechtsund Tatsachenirrtümern habe nur durch Bildung zahlreicher künstlicher Einzelgruppen geleistet werden können, die für den Fall einer Einordnung als error iuris dann entsprechende Folgen bereithielten.456 Dass die Unterscheidung in Grenzbereichen nicht selten eher zufällig zu verlaufen scheint, empfindet Binding als praktischen Beleg seiner Dogmatik. Die offensichtlich im Wortlaut verankerte Trennung von Tatsachen- und Rechtsirrtum in zahlreichen partikularstaatlichen Irrtumsregelungen hat Binding freilich als positivrechtliches Faktum zu akzeptieren. Er bestreitet daher nicht, dass beispielsweise § 44 PrStGB und Art. 69 BayStGB nur den Tatsachenirrtum regelten.457 Bindings Kritik setzt in diesem Punkt erst bei der Behandlung des Rechtsirrtums im ungeschriebenen Recht an: „In demselben Augenblick aber, in dem erkannt wird, dass jene Sätze reine Rechtsvermutungen und nichts mehr sind, in demselben muss auch erkannt werden, dass das Fehlen des Satzes im Preussischen Strafgesetzbuch – zum Trotze Aller, die ihn haben fallen lassen, – sein Fehlen im Preussischen Strafrecht bedeutet. Solche tief einschneidende Beweisregel bedurfte zu ihrer Gültigkeit unbedingt der gesetzlichen Form. Außerdem ist ihr Nachweis unmöglich. Nun weiss ich sehr wol, dass die Interpreten des Preussischen Strafrechts [. . .] sich alle auf den entgegengesetzten Standpunkt gestellt haben. Sie waren eben im Banne des Satzes error juris nocet befangen und haben verkannt, dass es sich hier nur um eine Beweisregel handelt.“ 458
Tragfähige Begründungen einer Weitergeltung des Grundsatzes error iuris nocet sieht Binding nicht. So sei zunächst ein Argument e contrario in diesem 454
Binding, Normen, Bd. 2,2, S. 1190 und hierzu insgesamt S. 1185 ff. Binding, Normen, Bd. 3, S. 173 („Man kann sich eine gräulichere Konfusion gar nicht vorstellen“). 456 Vgl. Binding, Normen, Bd. 3, S. 236 ff. Zu den sogenannten normativen Tatbestandsirrtümern siehe Binding, Normen, Bd. 2,1, S. 951 f. 457 Vgl. Binding, Normen, Bd. 3, S. 269 f. m. Fn. 4 u. 6. 458 Binding, Normen, Bd. 3, S. 266 f. 455
C. Eigenständigkeit des Rechts: die objektive Auslegungstheorie
129
Punkt unsinnig: Schon die dementsprechende Auslegung von § 44 PrStGB hält Binding für „monströs“.459 Allein die Tatsache einer vorsatzausschließenden Wirkung des Tatsachenirrtums könne doch schwerlich für die Annahme einer derartig einschneidenden Regelung des Rechtsirrtums ausreichen; dass das Recht diesen spiegelbildlich nie als beachtlich sehe, sei durch § 44 PrStGB jedenfalls nicht bewiesen. Nur kurz beschäftigt sich Binding daneben mit der Argumentation, die Unbeachtlichkeit von Rechtsirrtümern ergebe sich aus einer Art „Natur des Strafgesetzes“.460 Er beschränkt sich auf die spöttische Bemerkung, damit sei nichts als „lauteres allweises Naturrecht“ gemeint, das als solches „in dem Massengrab überwundener Irrtümer zu bestatten“ sei.461 Wenngleich sich in den Beiträgen zum preußischen Strafrecht nur sehr wenige Stimmen finden, die eine strikte Unbeachtlichkeit von Rechtsirrtümern in Zweifel ziehen,462 weiß sich Binding in der Literatur zum reichsgesetzlichen Strafrecht mit seiner Ablehnung einer weitergeltenden Unbeachtlichkeit von Rechtsirrtümern in guter Gesellschaft.463 Die schwerwiegende Ungerechtigkeit des Grundsatzes error iuris nocet hatte bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein nicht unbedeutender Teil der rechtswissenschaftlichen Gemeinde erkannt. Wie Bindings Beispiel zeigt, lässt sich diese Überzeugung in Anbetracht einer unstrittig fehlenden Regelung im geschriebenen Recht leicht auch in ein methodisch überzeugendes Gewand kleiden. Den Motiven entsprechend zweifelte die Rechtsprechung und der überwiegende Teil der Literatur nach Inkrafttreten des § 59 RStGB allerdings nicht an der rechtlichen Trennung von Tatsachen- und Rechtsirrtum.464 Binding aber vermag eine derart eindeutige Regelung, wie er sie noch in § 44 PrStGB erblickte, trotz der Gesetzesmaterialien in der neuen Regelung nicht mehr zu erkennen. Der vorherige Missstand einer Aufteilung von Rechts- und Tatsachenirrtümern sei vielmehr behoben worden! Erst „mit der Verkennung des Vorsatzes und des
459
Binding, Normen, Bd. 3, S. 285. In diese Richtung etwa Rüdorff, RStGB, § 59 RStGB, Rn. 3 sowie Schütze, Lehrbuch, S. 138. 461 Binding, Normen, Bd. 3, S. 288 f. 462 Vgl. aber etwa Temme, Lehrbuch, S. 183 ff. und Dalke, GA 6 (1858), S. 63 (65 ff.). 463 Siehe etwa Haelschner, Strafrecht, Bd. 1, S. 260, 262; Olshausen, RStGB, Bd. 1, 2. Aufl. 1886, § 59 RStGB, Rn. 30; Hammerer, Rechtsirrtum, S. 65 u. 74 f.; Schwarze, RStGB, S. 253 ff. sowie Allfeld, Rechtsirrtum, S. 32 ff. 464 Siehe etwa Schütze, Lehrbuch, S. 138; Bar, GS 38 (1886), S. 252 (286 ff.); A. Köhler, Rechtsirrtum, S. 59 ff.; Haelschner, Strafrecht, Bd. 1, S. 260 f.; Hippel, in: Vergleichende Darstellung AT, Bd. 3, S. 373 (486 ff.); Heinemann, Schuldlehre, S. 123 ff.; Olshausen, RStGB, Bd. 1, 2. Aufl. 1886, § 59 RStGB, Rn. 1; Lucas, Verschuldung, S. 73 ff., 88 f.; Hammerer, Rechtsirrtum, S. 34. Geyer, Grundriß, Bd. 1, S. 111 hält diesen Umstand selbst für bedauerlich, sieht sich aber dennoch gezwungen, § 59 RStGB entsprechend auszulegen. 460
130
1. Teil: Bindings methodische Grundlagen
[RSt]GBs § 59“ sei „die generelle Schuldvermutung zu einem grossen Teile auch in die Praxis des neuen gemeinen Strafrechts eingezogen.“ 465 Er kommt zu dem Ergebnis, dass der Begriff der „Thatumstände“ mit den „rechtlichen Eigenschaften des vom Täter begangenen Delikts“ 466 gleichzusetzen sei: „Der Täter fasst seine Handlung anders auf, als der nichtirrende Gesetzgeber sie sieht: er subsumirt sie falsch unter das Gesetz.“ 467
Für Binding umfasst der Irrtum über „Thatumstände“ also beide „Quellirrtümer“, den Rechts- und den Tatbestandsirrtum. Dementsprechend würdigt er die neue Regelung als „eines der segensreichsten Gesetze“,468 in dem ein „epochemachender Fortschritt“ 469 zu sehen sei. Endlich sei man „gesetzlich zurückgekehrt zu der [. . .] direkten Behandlung des Irrtums als Handlungsirrtum im germanisch-deutschen Strafrecht.“ 470 Dabei ist ihm völlig bewusst, dass der Gesetzgeber derartiges keinesfalls im Sinn hatte: „Was die Kommission,471 deren hochverdienstliche Gesammtarbeit volle Anerkennung verdient, zu dieser Änderung bestimmt hat, lässt sich nicht feststellen. Ein überlegener Kopf scheint sie nicht beantragt zu haben. Wir erfahren nur von Schwarze,472 der Mitglied in ihr wie in der Reichstagskommission gewesen ist, dass ,principielle Änderung des § 44 des Pr. GB’s von keiner Seite beantragt‘ war, und derselbe versichert auch, aber nur negativ, [. . .] dass in beiden Kommissionen ,zu den Tatumständen, deren Unkenntnis nach § 59 den Täter schützen soll, das Verbotensein der Handlung‘ nicht gerechnet worden sei. Auf den Verdacht, dass eine oder gar zwei ganze Kommissionen plötzlich durch Erleuchtung aus dem Banne ihrer Vorurteile gerissen worden wären, wird auch Niemand verfallen, der das Wesen solcher Kommissionen erfasst hat. Aber Tatsache ist und bleibt die Fassung, wie sie im Gesetz steht. Diese ruht auf ganz eigenen Füssen, und zu ihrer Auslegung trägt ihr Verhältnis zum § 44 des Preuss. StrGB’s, sowie die Auslegung, die dieser gefunden hat, nicht das geringste bei. Auch die Intentionen der sämmtlichen Kommissionsmitglieder kommen für die Auslegung der neuen Fassung schlechterdings gar nicht in Betracht. Ich nehme an, dass ein richtiges Gefühl für das Wesen der Sache ein Mitglied der Sieben bestimmt haben dürfte, grade diese Redaktion vorzuschlagen, und dass die Andern sich ihm richtig ,anempfunden‘ haben. Auf solche ,unbewusste Weise‘ kön-
465
Binding, Normen, Bd. 2,2, S. 789; vgl. a. ebd., S. 965. Vgl. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 91. 467 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 91; vgl. a. Normen, Bd. 2,2, S. 1210. 468 Binding, Normen, Bd. 3, S. 289. 469 Binding, Normen, Bd. 3, S. 294. 470 Binding, Normen, Bd. 3, S. 295. 471 Binding, Normen, Bd. 3, S. 280 legt Wert auf die Feststellung, dass dieser Kommission kein einziger Theoretiker angehörte. 472 Siehe Schwarze, RStGB, S. 254, Fn. 4. 466
C. Eigenständigkeit des Rechts: die objektive Auslegungstheorie
131
nen treffliche Gesetze zu Stande kommen, zum Erstaunen aller ,bewussten Mitarbeiter‘.“ 473
Nach seiner objektiven Auslegungstheorie kommt es auf die Motive nicht mehr an. Er legt offen kontrasubjektiv aus und erntet für sein Ergebnis von Seiten der rechtswissenschaftlichen Gemeinde heiteres Unverständnis.474 Auch innerhalb der Prämissen einer objektiven Auslegungsmethodik erweist sich seine Beweisführung aber als äußerst zweifelhaft. Dabei kommt offenkundig alles auf die Bedeutung des Begriffes der „Thatumstände“ in § 59 RStGB an: Eine Festlegung innerhalb des RStGBs lässt sich eigentlich nicht herleiten. Der Begriff taucht ansonsten nur in § 50 RStGB auf und hilft bei der relevanten Auslegungsfrage nicht weiter.475 Der Blick wäre also nach Bindings eigenen methodischen Vorgaben auf die Tradition des Begriffs zu richten, die sich durch seinen Gebrauch in rechtswissenschaftlichen Werken oder im vergangenen Recht ergibt. Da sich eine gewisse rechtswissenschaftliche Tradition des Begriffs bereits im späten 19. Jahrhundert nicht sinnvoll bestreiten lässt, ist Binding eine Argumentation über das „juristische Bedürfnis“ von vornherein versperrt. Er gibt zunächst auch überraschend freimütig zu, dass einige frühere Gesetze unter Irrtümern über „Thatumstände“ und den verwandten Begrifflichkeiten wohl Tatsachenirrtümer verstanden wissen wollten.476 Auch räumt er ein, dass Art. 69 des BayStGB von 1861 eine dieser Regelungen ist und dem Wortlaut des § 59 RStGB überdies sehr ähnelt.477 § 44 PrStGB spricht daneben zwar nicht von „Thatumständen“, wohl aber von „Umständen, unter welchen die Handlung begangen wurde“. In der strafrechtlichen Literatur hatte sich die Bezeichnung tatbestandsrelevanter tatsächlicher Umstände als „Thatumstände“ weitgehend durchgesetzt.478 473
Binding, Normen, Bd. 3, S. 280 f. Vgl. etwa Heinemann, Schuldlehre, S. 127 ff.; A. Köhler, Rechtsirrtum, S. 63 ff.; Haelschner, Strafrecht, Bd. 1, S. 261; Hammerer, Rechtsirrtum, S. 34. 475 § 50 RStGB lautete in der bis zum 15.6.1943 gültigen, am 1.1.1872 in Kraft getretenen Fassung: „Wenn das Gesetz die Strafbarkeit einer Handlung nach den persönlichen Eigenschaften oder Verhältnissen desjenigen, welcher dieselbe begangen hat, erhöht oder vermindert, so sind diese besonderen Thatumstände dem Thäter oder demjenigen Theilnehmer (Mitthäter, Anstifter, Gehülfe) zuzurechnen, bei welchem sie vorliegen.“ „Thatumstände“ sind also jedenfalls „Eigenschaften oder Verhältnisse“ eines Täters, Anstifters oder Gehilfen, welche die Strafe begründen, erhöhen oder mindern. Ob „Thatumstände“ in § 59 RStGB nun die tatsächlichen Grundlagen meint, an die das Recht unter anderem bestimmte Eigenschaften oder Verhältnisse knüpft, oder auch die rechtliche Bewertung dieser Tatsachen als solche Eigenschaften oder Verhältnisse, lässt sich allein durch § 50 RStGB ersichtlich nicht beantworten. 476 Vgl. Binding, Normen, Bd. 3, S. 269 f. u. 295. 477 Binding, Normen, Bd. 3, S. 281, Fn. 7. 478 Vgl. etwa das Verständnis des Begriffs bei Barsch, BayStGB, S. 29, Fn. 38; Stenglein, BayStGB, Bd. 1, S. 547; Kohlrausch, Irrtum, S. 160 f.; Löffler, Schuldformen, S. 99; Hammerer, Rechtsirrtum, S. 43 ff.; Heitz, Vorsatz, S. 19; Olshausen, RStGB, Bd. 1, 2. Aufl. 1886, § 59 RStGB, Rn. 1. 474
132
1. Teil: Bindings methodische Grundlagen
Binding ficht dies nicht an, da er gar nicht bis zur traditionellen Bedeutung des Begriffs vordringt. Er hält ihn stattdessen für bereits innerhalb des Gesetzes – sogar innerhalb derselben Vorschrift – erklärt: „In § 59 lassen die fünf Worte des Relativsatzes [sc. „welche zum gesetzlichen Thatbestande gehören“], worin seine grosse Neuerung besteht, darüber gar keinen Zweifel, dass das Wort aber gerade in jenem Sinne [sc. als sowohl rechtliche wie tatsächliche Umstände erfassend] verstanden werden muss.“ 479
In dieser Argumentation verbirgt sich bei genauerem Hinsehen eine reine petito principii. Die selbstverständliche Aussage, dass ein beachtlicher Irrtum nur zum gesetzlichen Tatbestand gehörende Umstände betreffen kann, klärt schließlich noch in keiner Weise die Frage, ob auch schon ein Irrtum darüber beachtlich sein soll, dass sie zum gesetzlichen Tatbestand gehören. „Thatumstände“ können problemlos auch dann zum gesetzlichen Tatbestand gehören, wenn sie nur tatsächliche Umstände umfassen sollen. Für eine vorschriftsimmanente Klärung des Begriffs fehlt damit jede Grundlage. Nichtsdestotrotz glaubt Binding, allein mit diesem Satz die zwingende grammatische Auslegung in seinem Sinne bereits hinreichend belegt zu haben und bekundet trotzig: „Sonach verschone man uns mit ganz unnützen Ausführungen über einen molluskenhaften Begriff, nachdem das Gesetz klar gesagt hat, was es darunter versteht!“ 480
Die Möglichkeit der Auflösung eines dogmatischen Problems vor Augen versteigt sich Binding im entscheidenden Moment zu einer fragwürdigen Annahme, die überdies nur in einem einzigen Satz begründet werden soll. Die darauffolgende Argumentation wiederholt nur noch die Vorzüge einer positivrechtlichen Umsetzung seiner Sichtweise, kann aber als Grundlage einer Interpretation des Rechts in diesem Sinne nicht gelten. So führe das von der Mehrheit befürwortete Auslegungsergebnis zu „Widerspruch, Unvernunft und Ungerechtigkeit“.481 In nicht wenigen Fällen seien nämlich Rechtsirrtümer denkbar, die ob der Schwierigkeit einer Gesetzesformulierung weit nachvollziehbarer seien als bestimmte Tatbestandsirrtümer, aber im Gegensatz zu letzteren dann als unbeachtlich behandelt werden müssten.482 Der Rechtsunterworfene werde so gezwungen, das Gesetz besser zu kennen, als man es von demjenigen verlange, der über ihn zu richten hat.483 Ein Verständnis des neuen § 59 RStGB im Sinne der älteren Regelungen führe zu einer „Masse unbegreiflicher Widersprüche“ und einem „große[n] Maass reiner Willkür“.484
479 480 481 482 483 484
Binding, Normen, Bd. 3, S. 296. Binding, Normen, Bd. 3, S. 297. Binding, Normen, Bd. 3, S. 301. Binding, Normen, Bd. 3, S. 305. Vgl. Binding, Normen, Bd. 3, S. 162, 336, 341. Binding, Normen, Bd. 3, S. 386.
C. Eigenständigkeit des Rechts: die objektive Auslegungstheorie
133
Obwohl Binding mit der schwierigen Grenzziehung zwischen Rechts- und Tatbestandsirrtum einen wunden Punkt der Dogmatik trifft, lässt sich seine Sichtweise angesichts des festen Bedeutungsgehalts der „Thatumstände“ schlicht nicht halten. Die richtigen und in aller Breite ausgeführten Argumente Bindings sind allenfalls für die lex ferenda verwertbar. Im gegebenen Zusammenhang einer Auslegung des geltenden Rechts verschleiern sie lediglich, dass diese Auslegung auf einem brüchigen Fundament ruht. Gemeinsam mit der schroffen Polemik Bindings dienen sie so einem rein rhetorischen Zweck. Bindings Auslegung von § 59 RStGB darf daher als sinnbildlich für die Gefahren eines in besonderem Maße auf die logische Durchdringung des Rechts bedachten methodischen Ansatzes gelten, der in der objektiven Auslegungstheorie mit einer großen interpretatorischen Freiheit zusammenfällt. Es fällt in Bindings Methodik leichter, Argumente zu finden, die das eigene Gerechtigkeitsempfinden oder vermeintliche dogmatische Notwendigkeiten stützen. Eine andere Frage ist, wie überzeugend der Schluss innerhalb dieser Methodik ist. Im vorliegenden Fall sprengt Binding nicht nur die Grenzen subjektiver Auslegung, sondern begibt sich durch die angenommene vorschriftsimmanente Klärung des Begriffs „Thatumstand“ auch unter den Prämissen der objektiven Auslegungstheorie auf zweifelhafte Pfade. Insoweit, als sie die gemeinsame Behandlung von Rechts- und Tatsachenirrtümern in § 59 RStGB betrifft, konnte sich Bindings Auslegung wenig überraschend nie durchsetzen. Hinsichtlich der Ablehnung des Grundsatzes error iuris nocet aber führt Bindings objektive Auslegung starke Argumente auf, die eine derart einschneidende und ungerechte Regelung im ungeschriebenen Recht zweifelhaft erscheinen lassen. Hier zeigen sich spiegelbildlich die Vorzüge objektiver Auslegung, die die Gesetzesmaterialien weitgehend außer Acht lassen und das Recht einem fortentwickelten Gerechtigkeitsempfinden anpassen kann. Es ist wohl dieses Verdienst Bindings, ein ungerechtes und positivrechtlich nur ungenügend untermauertes Dogma schließlich erfolgreich bekämpft zu haben, welches in der neueren Literatur teilweise zu dem Missverständnis geführt hat, seine Ansicht weise bereits in Richtung des heutigen § 17 StGB.485 Nur sehr bedingt, nämlich insoweit Rechtsirrtümer darin nicht als strikt unbeachtlich behandelt werden, trifft dies zu. Im Übrigen aber hat unsere heutige Lösung wenig mit Bindings Vorstellungen zu schaffen: Weder schließt ein Rechtsirrtum nach § 17 StGB den Vorsatz aus, noch wurde die unterschiedliche Behandlung von Rechts- und Tatsachenirrtümern (als Tatbestandsirrtümer) aufgegeben. Die heutige Regelung zementiert die unterschiedliche Behandlung beider Irrtümer vielmehr und steht Bindings Hauptanliegen damit entgegen. Unsere Lösung orientiert sich stattdessen an einigen partikularstaatlichen Strafgesetzbüchern, die im Falle „völliger Schuldlosigkeit einer [. . .] Unkunde“ von der Rechtswidrigkeit des eigenen Tuns oder Unterlassens 485
So etwa Schröder, in: ders./Kleinheyer (Hrsg.), Juristen, S. 62 (63).
134
1. Teil: Bindings methodische Grundlagen
Straflosigkeit vorsahen.486 Wie weit Binding dogmatisch von der heutigen Rechtslage entfernt liegt, verdeutlicht der Fall kompletter Normunkenntnis bei objektiver Tatbestandserfüllung: Binding sieht die Kenntnis von der Existenz des fraglichen Rechtssatzes als Teil der konkreten Handlungsfähigkeit an; Ge- und Verbote verlangten nicht den Gehorsam desjenigen, der sie nicht kennt.487 Er fordert stattdessen ein eigenständiges, strafbewehrtes Verbot der Normunkenntnis bei objektiver Tatbestandsbegehung.488 5. Zusammenfassung und Einordnung Im weiten Rahmen des grundlegenden Verständnis des Rechts als ein eigenständiger, sinnhafter Wille mit dem Anspruch an innere logische Kohärenz kommt Bindings Auslegungslehre weitestgehend ohne Rückgriffe auf rechtsexterne Erwägungen aus. Er achtet penibel auf die positivrechtliche Fundierung der eigenen Ansichten und zieht mit geradezu „exorzistische[m]“ 489 Eifer gegen Auslegungen zu Felde, denen er einen Mangel an intrajuristischen Anknüpfungspunkten attestiert. So genießt der Interpret in Bindings objektiver Auslegungstheorie zwar einen größeren argumentativen Freiraum, kann aber keinesfalls schrankenlos agieren; die argumentative Grenze wird durch die Verfügbarkeit objektiver Anhaltspunkte zum Rechtsinhalt gezogen. Das beschriebene Rechtsverständnis Bindings versetzt den Interpreten allerdings in die Lage, eigene Einschätzungen in seiner Auslegung besser zu kaschieren als dies unter den Prämissen einer subjektiven Auslegungslehre möglich wäre, wenn und insoweit aussagekräftige Gesetzesmaterialien zur Verfügung stehen. Das zeigt sich insbesondere an Bindings Auslegung von § 59 RStGB. Um die Vorschrift mit seiner Vorsatzdogmatik in Übereinstimmung zu bringen, überschreitet Binding die auch in seiner eigenen Auslegungslehre angelegten Grenzen methodisch vertretbarer Interpretation. Dieser Methodenbruch ist jedoch vor allem als spezifische Gefahr der Kombination aus objektivem Auslegungsziel und logisch-systematischem Methodenideal zu verstehen.
III. Philosophische Voraussetzungen in Bindings Auslegungsmethodik Binding, Wach und Kohler knüpfen mit ihrer Argumentation an eine Reihe von Vorläufern an, die den Kerngedanken objektiver Auslegung bereits in wesentlichen Punkten ausformulierten und mit Schlesinger das auch später noch domi486 So Art. 99 StGB Württemberg (1839). Ähnliches sahen etwa Art. 84 Nr. 6 StGB Hannover (1840) u. Art. 40 § 3 StGB Oldenburg (1858) vor. 487 Siehe Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 132 ff., insb. 140 ff. 488 Siehe Binding, Normen, Bd. 4, S. 353. 489 So treffend Pawlik, Unrecht, S. 34.
C. Eigenständigkeit des Rechts: die objektive Auslegungstheorie
135
nante Begründungsmuster lieferten. Dieses ist ein funktionales: Das Recht müsse sinnvollerweise objektiv verstanden werden, wolle man eine theoretisch widerspruchsfreie logische Systematik des Rechts und eine relative Anpassungsfähigkeit des Rechts an die empirischen Bedingungen seiner Geltungszeit erreichen. Das Ziel des dem Recht zugrundeliegenden Willens, eine derartig ausgestaltete Ordnung zu schaffen, wird vorausgesetzt. Besonders Binding greift dieses Begründungsmuster deutlich auf: Das Recht birgt den Ordnungsbegriff, der Ordnungsbegriff wiederum den Anspruch einer eigenständigen Sinnhaftigkeit und systematischer Verbundenheit. Dieser Anspruch ergibt sich aus dem „Selbstbild“ des Rechts, einer funktionalen Betrachtung: Die Art und Weise, wie das Recht nach seinem zugrundeliegenden Willen gewollt ist, entspricht den Bedürfnissen einer jetzt geltenden Ordnung, die das Jetzt zu regeln bestimmt ist. Die alte Idee einer inhärent vernunftmäßigen Ordnung, die durch einen metaphysischen Vorgang auf das „Richtige“ steuert, wird zu einem inhaltlich von der Willkür des staatlich organisierten Gemeinwesens490 abhängigen Recht, das aber auf Schaffung einer Ordnung zielt und daher als sinnhaftes Gesamtsystem zu interpretieren ist, obwohl seine Regelungen in Einzelfällen durchaus der „Rechtsvernunft“ widersprechen können.491 Besonderheiten der juristischen Auslegung werden durch den spezifischen Sinn und die spezifische Wirkweise des Rechts vorgegeben: „Inhalt des Rechtssatzes ist nicht ein Gedachtes, sondern ein Gewolltes; Erfassung dieses Inhaltes nicht Gedanken-Rekonstruktion, sondern die Erkenntniss des Inhalts, der Tragweite und der Autorität eines konkreten Stückes des Rechtswillens. Hauptmittel dieser Erkenntniss ist nicht wie bei der Auslegung des Schriftstellers der dem Gedanken untergeordnete Ausdruck, sondern das als maassgebend für den Willensgehalt gewählte, als Teil des autoritativen Willens auftretende Erklärungsmittel. Aus der Verschiedenheit der Ziele: unverbindlicher Gedanke – autoritativer Wille, und aus der Verschiedenheit der Mittel zum Ziel: unverbindlicher Gedankenausdruck – autoritativer Willensausdruck, rechtfertigt sich die Behauptung einer wesentlichen Verschiedenheit zwischen philologischer und juristischer Auslegung.“ 492
Entsprechend ist auch Bindings Bezeichnung des Rechts als „vernünftig“ zu verstehen. Nicht etwa bringt ein „Volksgeist“ das Recht in einem „organischen“ Prozess als ein inhärent vernünftiges hervor; lediglich die Interpretation verläuft „vernünftig“, indem sie einen immanenten Sinn und eine Zusammengehörigkeit des Rechts bei der Auslegung unterstellt.493 Es handelt sich um einen zum Zwecke einer sachgerechten Wirkweise unterstellten Willen zur Ordnung – und damit zur „Vernünftigkeit“. Ein vernünftiges Wesen des Rechts in all seinen Bestandteilen und unabhängig von seiner voluntaristischen Ausgestaltung muss Bin490 491 492 493
Vgl. Binding, Handbuch, S. 198 f., Fn. 6. Siehe dazu o. S. 57 ff. Binding, Handbuch, S. 451. Vgl. nochmals Binding, Handbuch, S. 456.
136
1. Teil: Bindings methodische Grundlagen
ding so weder unterstellen noch begründen: Die objektive Interpretation wird nicht aus einem vernünftigen Wesensgehalt des Rechts abgeleitet. Vielmehr liegt ihr eine Wahl der mit Blick auf das Gewollte sachgerechtesten Interpretationsweise zugrunde. Der später von Anhängern der objektiven Auslegungslehre bemühte Schluss auf ein objektives Auslegungsziel durch den „normativen Sinn des Gesetzes“,494 der im Gegensatz zu einem noch bei Binding vermuteten „mystischen“ Eigensinn des Rechts stehen soll,495 ist sachlich durchaus bereits in Bindings Lehre angelegt. Er liegt begraben unter bunten Bildern zeittypischer Rhetorik. Unterschiedlich muss auch die Beschreibung einer „organischen“ Rechtsentstehung bei den Schöpfern der objektiven Auslegungstheorie verstanden werden. Für die Historische Rechtsschule hatte der Begriff eine zentrale Funktion: Er beschrieb den nicht komplett zu verstehenden oder wenigstens bislang nicht komplett verstandenen Prozess innerhalb des Volkes, in dem dieses als eine Art „metaphysische Wertegemeinschaft“ 496 Rechtsüberzeugungen hervorbringt. Bei Binding taucht der Begriff konsequenterweise fast gar nicht mehr auf. Das einmal hervorgehobene „organische“ Wachstum des Rechts497 bezieht sich auf die Analogie als Modus einer Fortentwicklung des Rechts ohne Zutun des Gesetzgebers – und birgt keinerlei metaphysische Implikationen hinsichtlich der so aufgedeckten Rechtssätze. Die Entwicklung verläuft insofern „organisch“, als Analogien von Zweckbestimmungen abhängen und sich die Zwecke des Rechts innerhalb der geltungszeitlichen teleologischen Auslegung Bindings auch über das „Rechtsleben“ bestimmen lassen.498 Entsprechend muss auch Kohler verstanden werden: „[N]icht was der Verfasser des Gesetzes will, ist entscheidend, sondern was das Gesetz will – allerdings hat das Gesetz keinen Willen im psychologischen Sinne, wohl aber einen Willen im teleologischen Sinne als organisches Zweckstreben; und es treten nicht diejenigen Rechtsfolgen ein, welche der Verfasser des Gesetzes beabsichtigt, sondern diejenigen, welche sich aus dem organischen Zweckstreben des Gesetzes ergeben, welche sich als Ausfluß des im Gesetze geschaffenen geistigen Organismus darstellen.“ 499
Die Beschreibung als „organisch“ dient somit nur noch der Kennzeichnung einer nach der Schaffung des geschriebenen Rechts vom Gesetzgeber losgelösten
494 Larenz, Methodenlehre, S. 318 ff.; ähnlich zuvor schon Radbruch, Einführung, 9. Aufl. 1952, S. 243. 495 Siehe dazu Fikentscher, Methoden, Bd. 3, S. 664 f. 496 Diesen passenden Begriff wählte Haferkamp, in: Depenheuer (Hrsg.), Reinheit des Rechts, S. 79 (85) zur Beschreibung der Rechtsschöpfung nach dem Verständnis Savignys. 497 Binding, Handbuch, S. 222. 498 Vgl. Binding, Handbuch, S. 14. 499 Kohler, GrünhutsZ XIII (1886), S. 1 (1 f.).
C. Eigenständigkeit des Rechts: die objektive Auslegungstheorie
137
Rechtsentwicklung. Das „organische Zweckstreben“ des Rechts bezeichnet das geltungszeitlich-teleologische Moment eines Rechtsverständnisses, das sich gegenüber empirischen Zwecken bereits geöffnet hat.500 Es ist nicht mehr Grundlage einer metaphysischen Vorstellung des Rechts und seiner Fortentwicklung. Obwohl Binding stets darum bemüht ist, die Freiheit des eigenen Rechtsverständnisses von philosophischen Einflüssen zu untermauern – und es ihm in vielen Punkten auch gelingt – lebt aber auch sein Voluntarismus von der Möglichkeit objektiver Erkenntnis einer als eigenständig und sinnhaft gedachten Ordnung. Die Möglichkeit der Herleitung „rechtlicher Vernunft“ auf wissenschaftlichem Wege ist eine unerklärte – und durchaus philosophische, beziehungsweise wissenschaftstheoretische – Grundvoraussetzung des Bindingschen Rechtsverständnisses.501 Dass Binding sie nicht erklärt, ist – soviel sei nur angemerkt – wenig verwunderlich. So wird aus Bindings Sicht schon die praktische Erfahrung mit dem Recht für eine solche Möglichkeit gesprochen haben: Binding ist bei der Ermittlung eines sinnvollen, zusammenhängenden Rechtssystems mit den Mitteln der objektiven Auslegung durchaus erfolgreich. Gleichzeitig achtet er penibel darauf, angenommene Wertungen positivrechtlich untermauern zu können. Wo rechtliche Wertungen nicht verfügbar sind, räumt er die extrajuristische Natur der Ausführungen zumeist502 konzeptionell ein, wenngleich zweifelhaft ist, ob nicht die Auflösung intrajuristisch unentscheidbarer Fragen in seinem Denken vielfach noch als Ermittlung der „Rechtsvernunft“ gilt, wenn ihm das jeweilige Resultat als sachgerecht erscheint. Freilich ist Bindings erfolgreicher Umgang mit der objektiven Auslegungsmethodik kein wissenschaftlicher Beweis der Erkennbarkeit einer Rechtsvernunft auch für den Fall, dass objektive Indizien zur Verfügung stehen. Der Befund könnte allenfalls zeigen, dass ein von außen in das Recht hineingetragener Sinn zuweilen nur schlecht als solcher zu identifizieren ist. Dennoch erschwert die praktische Erfahrung in der Auslegungstätigkeit den geistigen Zugang zur ge500 A. A. wohl Mittenzwei, Teleologisches Rechtsverständnis, S. 271 f., nach dem das Recht im Sinne der frühen objektiven Auslegungsmethodik ein zwingend praktisch-vernünftiges sei und die Bezeichnung als „organisch“ zur Grundlage eben dieser Annahme über das Recht werde. Entsprechend diene die Beschreibung bei Kohler lediglich der „schamhaft[en]“ Verdeckung eines „augenscheinlichen Mangel[s] einer eigenständigen, ganzheitlichen Logik“. Gerade in Bezug auf Binding entstehen bei der Zugrundelegung dieser Sichtweise jedoch massive Probleme: Binding kann beispielsweise unumwunden zugeben, dass bestimmte Rechtssätze „rechtsunvernünftig“ seien (vgl. Binding, Normen, Bd. 2,1, S. 156) und dass die „Vernunft“ im Sinne einer Sinnhaftigkeit oder eines Zweckstrebens des Rechts nicht mit den Erfordernissen praktischer Vernunft übereinstimmen muss (vgl. Binding, Handbuch, S. 215, Fn. 7). 501 Siehe hierzu insgesamt Mittenzwei, Teleologisches Rechtsverständnis, S. 269 ff. 502 Zur etwas zweifelhaften Auslegung neuer, umgangssprachlich bereits belegter Rechtsbegriffe siehe o. S. 113.
138
1. Teil: Bindings methodische Grundlagen
stellten, wissenschaftstheoretischen Frage und erklärt so, warum lange stillschweigend von dieser Grundvoraussetzung ausgegangen werden konnte. Die Frage nach einer erkennbaren objektiven Teleologie des Rechts wird noch nicht lange in der wünschenswerten Deutlichkeit gestellt und behandelt.503
D. Bindings Selbstbild als Verteidiger der überkommenen Jurisprudenz Die nun beschriebenen juristischen Grundansichten Bindings deuten auf ein ungewöhnliches Bild hin: Ganz im Sinne der Historischen Rechtsschule sah Binding die Hauptaufgabe der Jurisprudenz in einer logischen Durchdringung des Rechts. Gleichzeitig war sein Rechtsverständnis konzeptionell offen für teleologische Überlegungen, die über bloße Prinzipienbestimmungen hinausgehen. Zuletzt warb Binding für ein weitgehend abgeschlossenes Recht, das seine eigene Sphäre umfassend beherrscht und damit als eine wesentlich eigenständige Idealentität wahrgenommen wird. Dieses Verständnis ist in vielerlei Hinsicht ein modernes und ließe vermuten, dass Binding sich der Neuerungen seiner Rechtsauffassung im Vergleich zur überkommenen Rechtslehre bewusst war. Wer sich mit dieser Erwartungshaltung der Bindingschen Literatur zuwendet, wird Überraschungen erleben: Mit Ausnahme der objektiven Auslegungstheorie sieht sich Binding stets als Verfechter des überkommenen Rechtsbilds. Binding glaubt an einen bereits von Wächter geführten Kampf um eine rechtspositivistisch konsequente Methodik anzuknüpfen (I.). Von Seiten der Historischen Rechtsschule wiederum übernimmt er den hervorgehobenen Wert einer „höheren Jurisprudenz“ (II.).
I. Anschluss an eine Jurisprudenz in der Tradition Wächters Binding nimmt die überkommene Rechtswissenschaft nicht etwa als eine Arbeitsweise wahr, die sich durch maßlose Begriffsarbeit zu juristischen Konstruktionen jenseits des positiven Rechts hinreißen ließ. Vielmehr knüpft er bewusst an eine Jurisprudenz an, deren Vertreter später zum Teil und in einer mitunter eigenwilligen Auswahl als „Begriffsjuristen“ diffamiert wurden.504 Seine Wahrnehmung entspricht damit in nichts dem lange herrschenden Bild der rechtshistorischen Forschung. Nach seiner Sichtweise befindet sich die Jurisprudenz bereits seit Überwindung des dualistischen Rechtsverständnisses in einem ständigen Kampf um den rechtspositivistischen Ausgangspunkt juristischer Arbeit. Die 503 Vgl. hierzu Mittenzwei, Teleologisches Rechtsverständnis, S. 36 f., 267 ff. m.w. N. 504 Vgl. bspw. den Kommentar in Bindings Abhandlungen, Bd. 1, S. 49, Fn. 28 zu Windscheid, den er in der geistigen Tradition Wächters sieht.
D. Bindings Selbstbild als Verteidiger der überkommenen Jurisprudenz
139
Rechtswissenschaft unterteilt sich danach in Bestrebungen, welche verschiedenen Rechtsexterna die Bahn für einen unmittelbaren Einfluss auf den Inhalt des Rechts zu ebnen versuchen, und die klassische Rechtswissenschaft, als deren Auftrag Binding es empfindet, sich gegen derartige Einflüsse zu wehren. Dabei sieht er sich in der Tradition vor allem Carl Georg von Wächters (1797– 1880). Obwohl „[g]erade die bedeutendsten Criminalisten dieses Jahrhunderts“ – gemeint ist allen voran Feuerbach505 – „nicht nur Jünger, sondern Vorkämpfer der bedeutendsten philosophischen Systeme auf der Arena des Strafrechts“ gewesen seien, müsse Wächter als eine Ausnahme gesehen werden.506 Fast ehrfürchtig schreibt Binding, es sei dessen „bleibendes Verdienst, ungeblendet von der genialen Kraft der Führer beider Schulen [sc. Savigny als Begründer der Historischen Rechtsschule sowie Thibaut und Feuerbach als Köpfe einer philosophischen Schule, die sich der Natur- oder Vernunftrechtskodifikation gewidmet habe], seine ganze wissenschaftliche Existenz auf die pietätvolle Liebe zum geltenden Rechte überhaupt, zum geltenden Strafrechte insbesondere gegründet zu haben“.507
Sowohl in seiner „äußere“ Einflüsse auf das Recht zurückweisenden Auffassung der Jurisprudenz als auch in seiner besonderen Würdigung der historischen Zusammenhänge des Rechts lehnt sich Binding stark an Wächter an. Er empfindet sich mit diesem als Vertreter einer dritten Gruppe von Rechtswissenschaftlern, die sich trotz eines ähnlichen Methodenideals vom idealistischen Rechtsbild der Historischen Rechtsschule abgrenzen und auch den Traum der Kodifikation eines auf Vernunftprinzipien gegründeten Rechts im Anschluss an Thibaut fallen gelassen haben. Binding, der ab 1873 als junger Professor in Leipzig lehrte und somit noch sieben Jahre im Wirkungskreis des bis kurz vor seinem Tode forschend und lehrend tätigen508 Wächters verbrachte,509 tritt nach seinem Selbstverständnis an, den Kampf des großen Strafrechtsdogmatikers fortzusetzen, der sich nun zeitbedingt auch gegen die neue „Bedrohung“ des Rechts von soziologischer Seite zu richten hatte. Ähnlichkeiten zu Wächter werden bei einem Blick in dessen „Lehrbuch des Römisch-teutschen Strafrechts“ schnell deutlich. Im Vorwort rechtfertigt Wächter sein Lehrbuch durch die Ankündigung, sich darin nicht nach dem Vorbild zahlreicher Zeitgenossen von einer „subjectiven Philosophie“, sondern ausschließlich vom „Ansehen der Gesetze“ leiten lassen zu wollen.510 Am Ende komme „Alles
505
Vgl. bspw. Binding, Abhandlungen, Bd. 1, S. 48. Binding, Handbuch, S. 8. 507 Binding, Abhandlungen, Bd. 1, S. 48 f. 508 Vgl. Eisenhart, Art. Wächter, Carl Joseph Georg Sigismund v., in: ADB 40 (1896), S. 435 (437 f.). 509 Siehe zu Wächters Einfluss auf Binding auch Westphalen, Binding, S. 79 ff. 510 Wächter, Lehrbuch, Bd. 1, S. VII f. 506
140
1. Teil: Bindings methodische Grundlagen
darauf an, ob und von welchen Grundprinzipien unsere Gesetze ausgingen.“ 511 Zwar wird das Naturrecht nicht völlig übergangen, was auch nicht weiter verwundern sollte: Wächters Lehrbuch erschien 1825. Eine Beachtung der klassischen Naturrechtslehren, deren große Zeit erst kurz zurücklag und deren Bedeutung in der Literatur noch vielerorts spürbar war, überrascht daher nicht. Jedoch besteht Wächter schließlich nicht weniger vehement als später Binding auf einer strikten Trennung des nur philosophisch interessanten Naturrechts von der Materie der Jurisprudenz, dem positiven Recht: „Allein einestheils darf wohl das Philosophiren oder die Erörterung der Frage, was die allgemeinen Principien der Gerechtigkeit und der Natur der Sache an sich mit sich bringen, nie ganz aus einer zum Unterrichte bestimmten Darstellung auch des positiven Rechts [. . .] ausgeschlossen werden, um durch eine solche Erörterung dem Ganzen ein höheres Interesse und dem Lernenden bleibenderen Halt zu geben; um ferner, da das natürliche Recht für unsere Gesetzgeber doch sehr oft die Quelle war, aus der sie wirklich schöpften, dadurch das positive Recht gehörig erklären zu können“.512
Gegen einen unmittelbaren Einfluss des Naturrechts oder allgemein überpositiver Gerechtigkeitsideen verwahrt sich Wächter also. Vielmehr gehe es um die Frage, wann „die Gesetze uns von der Natur der Sache abzuweichen scheinen“. Erst „durch das Hervorheben dieser Abweichung“ könne man „umso schärfer bezeichnen [. . .], was im Gegensatz zum philosophisch Richtigen praktisch und was, wenn auch philosophisch richtig, doch unpraktisch ist.“ 513 Daneben ist Wächter besonders daran gelegen, in seinen Darstellungen die methodischen Mängel strafrechtlicher Autoren aufzudecken, die das positive Recht mehr oder weniger verdeckt als Ausfluss einer philosophischen Lehre verstehen oder es zumindest im Lichte eines philosophischen Prinzips interpretieren. Spätestens an dieser Stelle wird der Einfluss auf Binding geradezu greifbar: „Anderntheils ist auch bei der Darstellung des positiven Strafrechts die Erörterung [. . .] [sc. des Naturrechts] nothwendig, als nur dadurch mit gehöriger Vollständigkeit [. . .] die Untersuchung über die Ansichten derjenigen Criminalisten erledigt werden kann, welche zum Theil behaupten und zu beweisen versuchten, das philosophische Princip, das sie aufgestellt, sey auch in den Gesetzen enthalten; theils, ohne diesen Beweis zu versuchen, eben geradezu an die Spitze auch des positiven Strafrechts ihr philosophisches Princip stellen und, auf die philosophische Richtigkeit derselben sich stützend, behaupten, daß die Gesetze es haben anerkennen müssen und der Richter es zu befolgen habe.“ 514
Wie später Binding sieht schon Wächter den Hauptanwendungsfall dieser Kritik im Strafrecht in der Diskussion um die Strafzwecke; relative und Mischtheo511 512 513 514
Wächter, Lehrbuch, Bd. 1, S. Wächter, Lehrbuch, Bd. 1, S. Wächter, Lehrbuch, Bd. 1, S. Wächter, Lehrbuch, Bd. 1, S.
40; Hervorhebung hinzugefügt. 40 f.; Hervorhebung hinzugefügt. 41. 41.
D. Bindings Selbstbild als Verteidiger der überkommenen Jurisprudenz
141
rien hätten schlicht keine Verankerung im positiven Recht.515 Vielfach werde unter Inkaufnahme eines Methodenbruchs verdeckte Kriminalpolitik betrieben.516 Die Stoßrichtung Wächters ist damit wesentlich dieselbe wie später diejenige Bindings, dessen Wirken – verstrickt in die heißeste Phase des strafrechtlichen Schulenstreits – gemeinhin aber weit deutlicher in diesen Zusammenhang gesehen wird.517
II. „Höhere“ Jurisprudenz als Grundlage einer besonderen Würde des Juristenstandes Binding glaubt also an eine überkommene Jurisprudenz anzuknüpfen, die bereits mit einem weitgehend autonomen Rechtsbegriff arbeitet. Das stimmt indes nur zum Teil: Mit der besonderen Betonung der Zweckbezogenheit des Rechts und einer streng objektiven Auslegungsmethodik geht Bindings Rechtverständnis deutlich über frühere Modelle zur Autonomisierung des Rechts hinaus. Auf der anderen Seite knüpft er im Sinne der logischen Prinzipieninduktion tatsächlich auch an ein älteres Methodenideal an. Diese Synthese zwischen altem und neuem Denken kennzeichnet Binding und seine besondere Sichtweise der Jurisprudenz. Nach seinem Verständnis stellt sich das Recht dar als eine wesentlich logische und sinnhafte Idealentität, die ein nuanciertes Wertungssystem beinhaltet, welches der jeweils aktuelle Stand der Rechtswissenschaft aber stets nur unzureichend nachzuvollziehen im Stande ist. Nichtsdestotrotz soll ein so verstandenes Rechtssystem unserer Erkenntnis prinzipiell zugänglich sein. Akribische logische Systematisierung unter Beachtung der Zweckgebundenheit des Rechts soll einzelne Facetten bislang „latenten“ Rechts zum Vorschein bringen. Binding gilt es als Aufgabe der Jurisprudenz, das umfassende rechtliche System stückweise unter strikter Beachtung des objektiven Willens der Rechtsquelle in all seinen Wertungsnuancen offenzulegen. Diese Sichtweise des juristischen Forschungsobjekts erklärt Bindings Rhetorik bei der Abwehr von Angriffen auf diesen Rechtsbegriff. Die Leidenschaftlichkeit, mit der er seine Sichtweise zu verteidigen pflegte, war schon für seine Zeitgenossen zuweilen schwer nachzuvollziehen.518 Für ihn ist die besondere Natur
515
Vgl. bspw. Wächter, Lehrbuch, Bd. 1, S. 40 f., 50. Vgl. Wächter, Lehrbuch, Bd. 1, S. 70: „Nur gehen hier [sc. bei der Rechtsanalogie] Manche in so ferne auf eine unbegreifliche Weise zu weit, als sie hier an die Stelle des Geistes der positiven Gesetzgebung die Criminalpolitik und das natürliche Strafrecht oder vielmehr ihre subjectiven Ansichten darüber setzen.“ 517 Zu Bindings Rolle im Schulenstreit siehe Westphalen, Binding, S. 221 ff. 518 Vgl. bspw. M. E. Mayer, ZStW 27 (1907), S. 759 (759 f.). Nichts anderes beschreibt Pawlik, Unrecht, S. 34, wenn er das vehemente Eintreten Bindings für einen rechtspositivistischen Ausgangspunkt der juristischen Arbeit geradezu „exorzistisch“ nennt. 516
142
1. Teil: Bindings methodische Grundlagen
des Rechts Grundlage der Würde des Juristenstandes: Ein Recht, das komplexe logische Operationen nicht nur zulässt, sondern zu seiner Erforschung notwendig macht, verleiht der Jurisprudenz in seinem Denken erst den Status einer eigenständigen Wissenschaft. Nur als autonome Idealentität mit Verbindlichkeitsanspruch wird das juristische Forschungsobjekt einzigartig; nur dann ist es weder mit philologischer Hermeneutik noch mit der Methodik empirischer Wissenschaften zu verstehen, sondern erfordert eine eigenständige Methode zu seiner Erforschung. Aus dieser Sichtweise erklären sich sowohl Bindings leidenschaftlicher Kampf gegen Einflüsse der Philosophie und der Soziologie auf das Recht, als auch seine Ablehnung eines subjektiven Auslegungsstandpunktes. Alle zugrundeliegenden Sichtweisen beschränken für Binding die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Recht, indem sie es philosophischen Theorien Untertan machen, das umfassende Wertungssystem durch eine Fokussierung der realen Wirkweise des Rechts ignorieren oder die logische Systematik auf das gesetzgeberisch intendierte Maß beschränken. Wann immer er eine Missachtung der besonderen Beschaffenheit des juristischen Forschungsobjekts zu erkennen glaubt, gleichen sich seine Kommentare in ihrer drastischen Polemik: Soziologische oder philosophische Rechtstheorien werden im gleichen Stil bekämpft wie formale Einschränkungen des Rechtsbegriffs durch die Sanktions- oder Imperativentheorie oder Einschränkungen der juristischen Auslegung.519 Alle diese Ziele seiner Kritik laufen auf zum Teil sehr unterschiedliche Weise Bindings Rechtsbild zuwider, das die Grundlage seines Berufsstolzes darstellt und daher mit besonderer Vehemenz verteidigt wird. Die zahllosen Kommentare, in denen die Verbindung zwischen der besonderen Beschaffenheit des Forschungsobjekts, Bindings Berufsstolz und der Art und Weise seiner Ablehnung konkurrierender Lehren zutage tritt, erscheinen so in neuem Licht. Uns soll eine kleine Auswahl genügen: „In der Abhängigkeit meiner Forschung und ihrer Ergebnisse von dem Stoff meiner Betrachtung finde ich meinen Stolz.“ 520 „Diese Geschichte wissenschaftlicher Degradation [sc. allgemein die Versuche, Naturrecht zu kodifizieren, insbesondere in Form des Gesetzlichkeitsprinzips] infolge der Ueberschätzung des gesetzgeberischen Könnens ist so merkwürdig und so wenig abgeschlossen, die Vorurteile, die sie ausgebildet hat, sind so hartnäckig, dass sie genauerer Betrachtung bedarf.“ 521 „Ist aber der Wissenschaft [sc. durch das Gesetzlichkeitsprinzip] untersagt per analogiam Rechtssätze zu entdecken, so hat sie sich diesem Verbote einfach zu fügen. Dagegen beginnt damit ihre Pflicht Beseitigung dieser ihrer unwürdigen Fessel zu
519 Vgl. etwa Bindings Handbuch, S. 17 ff. und speziell zur Verknüpfung des Gesetzlichkeitsprinzips mit dem von Binding als Versuch einer extrajuristischen (nämlich philosophischen) Einflussnahme auf das Recht gesehenen psychologischen Zwangstheorie zudem dens., Normen, Bd. 3, S. 93 ff. m. Fn. 8 u. 15. 520 Binding, Handbuch, S. VII. Vgl. dazu schon o. S. 47 ff. 521 Binding, Handbuch, S. 16; Hervorhebung hinzugefügt. Vgl. zudem ebd., S. 27.
D. Bindings Selbstbild als Verteidiger der überkommenen Jurisprudenz
143
fordern, und endet ihre Pflicht nicht, die Tatbestände nachzuweisen, die das Gesetz analogisch ergreifen würde, hätte es sich nicht selbst die Adern unterbunden.“ 522 „Wie so viele Juristen Juristen geworden sind, weil sie sich nicht schlüssig machen konnten, was anders sie werden sollten, so fehlt so vielen der Glaube an den Wert der Anschauungen, in deren Dienst sie sich so oft nur mit halbem Willen gestellt haben. Von dem Schatz und dem Werte der urgesunden Gedanken, der in den Rechtssätzen seit Jahrtausenden aufgenommen und ständig bereinigt und bereichert worden ist, von ihrer Unentbehrlichkeit grade für die Rechtsordnung ist ihnen nichts oder doch viel zu wenig aufgegangen. Und nun wird mit einem Mangel an Wertschätzung des Eigenen [. . .] versucht, dem Recht und seiner Wissenschaft den Wert, der ihrem Eigenbesitz angeblich abgeht, durch Anleihen aus andern Gebieten geistiger Arbeit zu verschaffen. Da werden zunächst die Anschauungen der Geisteswissenschaften ohne Bedenken denen der Naturwissenschaft geopfert [. . .]. Den rechtlichen Anschauungen werden philosophische, psychologische, ethische, wirtschaftliche, politische, sociologische, medizinische untergeschoben, und stets wird in naivster Weise von der Ausbrütung dieser Kukukseier ein ganz neuer, unendlich segensreicher Aufschwung der Rechtswissenschaft verkündet, obgleich nichts andres folgen kann, als zunächst Fälschung und Konfusion, schliesslich jedoch stets dieselbe grosse Enttäuschung. [. . .] Ich sehe auf eine lange, wissenschaftliche Arbeitszeit zurück und bin jederzeit Stolz gewesen, Mann des Rechts und der Gerechtigkeit zu sein. Aber den Stolz des ganzen Standes, den habe ich immer schmerzlich vermisst, und dies als Summe meiner Beobachtung des Rechtslebens gestehen zu müssen, fällt mir hart. So habe ich bei dieser meiner Arbeit fast auf Schritt und Tritt den denkbar unnatürlichsten Kampf kämpfen müssen – den um das wissenschaftliche Recht, dieses juristische Buch als Jurist zu schreiben!“ 523
Obwohl sich Bindings Rechtsverständnis letztlich in vielen Punkten von der idealistischen Jurisprudenz abgrenzt, die über einen Großteil des 19. Jahrhunderts die deutsche Rechtswissenschaft dominierte, liegt die Grundlage seiner Sichtweise doch im Methodenideal der Historischen Rechtsschule. Eine juristische Arbeitsweise, die mittels Prinzipieninduktion ein umfassendes, ausdifferenziertes rechtliches Wertungssystem dar- oder sogar offen herzustellen524 beabsichtigte, wurde schon von Anderen mit einer besonderen Würde des Juristenstandes verknüpft. In den Werken zahlreicher juristischer Autoren des 19. Jahrhunderts finden sich entsprechende Ausführungen, die den Wert dieser speziellen juristischen Tätigkeit auf die ein oder andere Weise hervorheben. Für die Zwecke dieser Arbeit sollen einige wenige Ausschnitte genügen: „Der Auslegende, sagt man, darf sich nicht über das Gesetz stellen. Aber das tut er nur dann, wenn er die eigenen Gedanken dem Gesetzgeber unterschiebt; das tut er 522
Binding, Handbuch, S. 28. Binding, Normen, Bd. 2,1, S. VIII f. 524 Vgl. die Ausführungen in Puchtas Gewohnheitsrecht, Bd. 1, S. 161 ff. sowie Jhering, Geist des römischen Rechts, Bd. 2,2, S. 412 ff. 523
144
1. Teil: Bindings methodische Grundlagen
dann nicht wenn er die Gedanken enthüllt, welche der Gesetzgeber hat denken wollen. [. . .] So mag und soll man warnen vor einer leichtfertigen Handhabung jener höchsten und edelsten Tätigkeit der rechtswissenschaftlichen Auslegung; sie ihr zu untersagen, setzt die Wissenschaft herab und schädigt die Gerechtigkeit.“ 525 „Würden wir das Recht als ein bloßes Aggregat von Rechtssätzen betrachten, so wären wir nie gewiß, den ganzen Umfang desselben uns zu eigen gemacht zu haben; wie von einem Steinhaufen ein Theil fehlen kann, ohne daß der Beschauer den Mangel inne wird, während wenn sie zu einem Kunstwerk verbunden sind, jeder fehlende Stein sich sogleich als Lücke offenbart [. . .].“ 526 „Aber sie [sc. die „niedere Jurisprudenz“] ist eben auch nur eine Vorstufe, und die Jurisprudenz soll nicht länger auf ihr verweilen, als nöthig. Erst auf der höheren Stufe erreicht sie ihre wahre Bestimmung, erst hier wird ihre Aufgabe und Methode eine specifisch juristische, und erst hier gewinnt sie ihren eigenthümlichen wissenschaftlichen Charakter, der sie von allen anderen Wissenschaften unterscheidet.“ 527 „Die feste, starre Masse [. . .] wird, so zu sagen, in Fluß und dadurch in einen Zustand versetzt, in dem sie willig künstlerische Form und Gestaltung annimmt, alles, was in ihr ist, kommt zum Vorschein, die gebundenen Kräfte und Eigenschaften werden frei. Diese Erhebung des Stoffs ist nun zugleich Erhebung der Jurisprudenz selbst.“ 528
Dieses ältere Verständnis einer mit der speziellen Beschaffenheit des Rechts verbundenen juristischen Berufswürde komplettiert das Bild eines eigenartigen Zwischenstatus Bindings: Er ist rhetorisch und mit starken Einschränkungen auch methodisch einer älteren Zeit verhangen. In seinem Bemühen um ein autonomes Recht und seiner daraus resultierenden Bekämpfung „rechtsfremder“ Einflüsse weist er allerdings auch bereits auf modernere Konzeptionen einer rechtlichen Idealentität. Namentlich Kelsens bekannte Kritik eines „Methodensynkretismus“ 529 klingt bereits deutlich an, wenn Binding die Bedeutung eines nur vom Rechtswillen abhängigen Rechtsinhalts für die Wissenschaftlichkeit der Jurisprudenz hervorhebt.530 Während Kelsen für die Bearbeitung des Rechts mit der „normativen Auslegungslehre“ jedoch eigene Maßstäbe aufstellt, bedient sich
525 Windscheid, Abhandlungen, S. 110 f. Allerdings spielt bei Windscheids Bestimmung des Würdegehalts juristischer Arbeit seine stark idealistische Rechtsauffassung eine dominante Rolle, wie im gegebenen Zitat aus seiner Leipziger Rektoratsrede von 1884 in der befürchteten Schädigung der „Gerechtigkeit“ nur anklingt. Deutlicher wird dieser Zusammenhang an anderer Stelle in seinen Abhandlungen, S. 4, die eine Greifswalder Festrede von 1854 wiedergibt: „Das Recht ist mehr als ein Gegenstand lohnender Arbeit oder würdiger Beschäftigung; das Recht dient den höchsten Idealen. Das Recht ist die Grundlage der sittlichen Weltordnung.“ 526 Puchta, Cursus, Bd. 1, S. 100 f. 527 Jhering, Geist des römischen Rechts, Bd. 2,2, S. 387. 528 Jhering, Geist des römischen Rechts, Bd. 2,2, S. 388 f. 529 Kelsen, Reine Rechtslehre, 1. Aufl. 1934, S. 2. 530 Siehe dazu bereits o. S. 47 ff.
E. Zusammenfassung und weitergehende historische Einordnung
145
Binding hierzu noch freigiebig beim überkommenen Methodenideal – und fasst den Rechtsbegriff damit im Ergebnis deutlich weiter.
E. Zusammenfassung und weitergehende historische Einordnung des Bindingschen Rechtsbilds Das gewonnene Gesamtbild kann nun zusammengefasst werden (I.). Bindings Haltung lässt sich darüber hinaus in zwei jeweils größere, äußere Zusammenhänge stellen. So darf Bindings Rechtsverständnis als Bestandteil eines umfassenden Streits um den rechtspositivistischen Ausgangspunkt der Rechtswissenschaft gerade in seiner hauptsächlichen Schaffenszeit und gerade im Strafrecht verstanden werden. Strafrechtlicher Ausdruck dieses Konflikts ist der sogenannte „Schulenstreit“ (II.). Auch dieser Streit aber lässt sich wiederum als Ausdruck eines größeren gesellschaftlichen Konflikts verstehen, der durch die Dominanz der empirischen Wissenschaften gegen Ende des 19. Jahrhunderts hervorgerufen wurde (III.).
I. Zusammenfassung Binding knüpft in vielerlei Hinsicht an ein überkommenes Rechtsverständnis an. Die logische Durchdringung des Rechts mittels juristischer Prinzipieninduktion ist für ihn ein Schwerpunkt juristischer Arbeit. Trotz des ähnlichen Methodenideals grenzt er sich aber bewusst vom Denken der Historischen Rechtsschule ab. Auch das philosophische Prinzipiendenken im Anschluss an Thibaut lehnt er ab. Er sieht sich vielmehr als Verteidiger einer dritten, bereits als weitgehend „methodenrein“ wahrgenommenen Gruppe von Rechtswissenschaftlern in der Tradition Wächters. Direkte philosophische und – als neuere Gefahr für den Rechtsbegriff – soziologische Einflüsse auf das Recht weist er scharf zurück. Beiden unterstellt er eine naturrechtstypische Argumentationsweise. Allerdings unterscheidet ihn sein Voluntarismus von allen dominanten Rechtsverständnissen des frühen und mittleren 19. Jahrhunderts: Ein „Wille“ der Rechtsquelle erzeugt das Recht. Erst die Idee eines solchen Willens nimmt dem Rechtsbild Bindings einige metaphysische Voraussetzungen, die noch die Historische Rechtsschule auszeichnete, muss dieser Wille des staatlich organisierten Gemeinwesens531 als Rechtsquelle doch weder zwingend auf das „Gute“ oder „Richtige“ zielen, noch einem notwendigen Verlauf folgen. Wenngleich ein allgemeiner Gerechtigkeitsbezug532 des Rechts oder das Ziel größtmöglicher Freiheitsgewährung533 Allgemeinplätze im rechtsstaatlich-liberalen Zeitgeist des aus531 532 533
Vgl. Binding, Handbuch, S. 198 f., Fn. 6. Siehe Bindings Handbuch, S. 32 f., 47, 66, 177, 214, 259. Vgl. Binding, Handbuch, S. 4, 156 f.
146
1. Teil: Bindings methodische Grundlagen
gehenden 19. Jahrhunderts sind und auch von Binding als Rechtszwecke zuweilen unterstellt werden, müssen Rechtssätze danach keine dem Recht vorgesetzte Idee von Gerechtigkeit oder Freiheit umsetzen, um Recht zu sein. Die genannten Auslegungspräsumtionen beschränken sich zumeist auf – auch nach heutigen Maßstäben – offensichtliche Ergebnisse, das heißt einfache Gleichheitsproblematiken, einen Ausschluss zweckfreier Freiheitseinschränkungen und dergleichen. Idealistische Züge lassen sich dem Bindingschen Rechtsdenken nur hinsichtlich dieser Präsumtionen sowie in einigen Fällen teleologischer Auslegung attestieren, insoweit es an objektiven Indizien für die Zweckermittlung mangelt, die Auslegung alleinig nach dem „Rechtsleben“ 534 erfolgt und bei der Ermittlung jenes „Rechtslebens“ ein bestimmtes Gerechtigkeits- oder Freiheitsverständnis Bindings zum Tragen kommt. Darf Binding aber eine Rechtsidee im eigentlichen Sinne zugeordnet werden, so liegt diese schlicht im Begriff der Ordnung.535 Trotz dieses um extrajuristische Wertmaßstäbe weitgehend bereinigten Rechtsverständnisses sieht er die Voraussetzungen einer logischen Entwicklung des Rechts aber gegeben. Er unterstellt eine „Vernünftigkeit“ des Rechts. Diese ist mit seinem kaum idealistisch beeinflussten Voluntarismus vereinbar, da er sie nicht als metaphysische Voraussetzung des Rechts, sondern als funktionale Bestimmung des Gewollten fasst: Die Rechtsquelle will eine Ordnung schaffen. „[I]m Begriff der Ordnung“ aber liege derjenige „der Vernünftigkeit“.536 Diese „Vernunft“ meint nicht die Einführung eines materiellen Maßstabs praktischer Vernunft im Recht. Vielmehr soll das Recht lediglich als eine zweckmäßige, innerlich verbundene und in sich logische Ordnung wahrgenommen werden. So kann Binding unumwunden zugeben, dass einzelne Rechtssätze „rechtsunvernünftig“ 537 seien, ohne die Befugnis zur Interpretation des Rechts im Sinne eines „vernünftigen“ Systems insgesamt in Frage stellen zu müssen. Die wissenschaftstheoretische Voraussetzung in Bindings Rechtsdenken ist also nicht das tatsächliche Vorhandensein praktischer Vernunft im Recht,538 sondern die Möglichkeit, im Rahmen einer nur durch eine offene Vernunfthypothese gerechtfertigten, objektiven Auslegung des Rechts zu Erkenntnissen zu gelangen, die ausschließlich aus dieser reinen Idealentität entspringen. Die konkrete Form der Idealentität „Recht“ stellt eine Besonderheit im Bindingschen Denken dar. Sie zeichnet sich gleichermaßen durch Eigengesetzlichkeit und Eigenständigkeit aus und zeugt in diesem Sinne von der Vorstellung 534
Vgl. Binding, Handbuch, S. 14. Mit dieser Herleitung des juristischen Systemgedankens aus dem Ordnungsgedanken bewegt sich Binding wiederum in überraschend modernen Bahnen. Vgl. dazu etwa Canaris, Systemdenken, S. 16 ff. 536 Binding, Handbuch, S. 13. 537 Binding, Normen, Bd. 2,1, S. 156. 538 So aber wohl Mittenzwei, Teleologisches Rechtsverständnis, S. 269 ff. 535
E. Zusammenfassung und weitergehende historische Einordnung
147
eines weitgehend autonomen Rechts. Das Recht bestimmt sich danach einzig aus dem Willen der Rechtsquelle. Dieser soll nicht etwa mit dem Gesetzgeberwillen identisch sein, sondern müsse als eigenständig gelten.539 Ausgeschlossen von der juristischen Betrachtung sind im Umkehrschluss alle Faktoren, die nicht der Gedankenwelt des als eigenständig gedachten, rechtserzeugenden Willens entstammen. Nur die besondere, ideelle Eigenart dieses Willens soll über Form und Inhalt des Rechts entscheiden. Im Hinblick auf formale Anforderungen an den Rechtsbegriff glaubt Binding daher, Imperativen- und Sanktionstheorie schon durch einen pauschalen Verweis auf subjektive Rechte und leges imperfectae in Gesetzen widerlegen zu können. Da deren Rückführbarkeit auf den Rechtswillen nicht sinnvoll anzuzweifeln ist, steht für ihn auch die Rechtsqualität außer Frage. Inhaltlich ermöglicht Binding diese Sichtweise zudem, unmittelbare Einflüsse der Philosophie, der Soziologie und jeder anderen nichtjuristischen Fachwissenschaft auf das Recht auszuschließen. Ihre Macht über das Recht kann für ihn stets nur eine mittelbare sein, die in der Motivation zur Erzeugung eines ansonsten weitgehend autonomen Rechts besteht. Zwar wäre ein solcher Ausschluss auch möglich gewesen, wenn Binding den Gesetzgeberwillen zur Grundlage des Rechts erkoren hätte. Gerade die zeittypisch hervorgehobene Bedeutung der „höheren Jurisprudenz“, der Ermittlung „latenter“ Rechtssätze durch oftmals hochkomplizierte logisch-systematische Überlegungen machte diesen Weg jedoch schwer gangbar. Stellt man die logischsystematische Erfassung und Entwicklung des Rechts in den Mittelpunkt rechtswissenschaftlicher Arbeit und scheidet eine idealistische Überhöhung des Gesetzgeberwillens von vornherein aus, so liegt ein objektives Auslegungsziel mindestens sehr nahe. Das Rechtsbild Bindings ist durch seine konsequente äußere Abschottung durchaus verwandt mit dem Rechtspositivismus Kelsens. Der Versuch einer Erfassung des spezifisch Normativen mittels einer speziell angepassten Methodik und innerhalb einer allgemeinen Geltungshypothese verbindet beide Autoren, wenngleich Binding geistig und rhetorisch noch einer älteren Zeit verhaftet ist. In der Sache rechtfertigt sich auch Bindings Rechtsbild aber nur als Hypothese: Er schließt letztlich von der Möglichkeit der Erkenntnis des Rechts durch eine bestimmte Methodik auf die Beschaffenheit seines Forschungsobjekts. Das durch die Historische Schule tradierte Verständnis des Rechts als inhärent vernünftiger Körper war Binding allerdings noch so selbstverständlich, dass dieser Schluss bei ihm an keiner Stelle beschrieben und vielleicht auch gar nicht bewusst gezogen wurde, obwohl er wesentliche Voraussetzungen der Historischen Schule nicht mehr mittragen konnte. Aller Kritik an seiner Methode zum Trotz sah sich Bin539
Siehe dazu o. S. 97 ff.
148
1. Teil: Bindings methodische Grundlagen
ding nie dazu veranlasst, sein Verständnis des Rechts als zweckgebundene, in sich logische Idealentität theoretisch zu untermauern. Er stellt die Wissenschaftlichkeit des Rechts als gewollte Ordnung voran, folgert daraus eine eigenständige Methode der juristischen Erkenntnisgewinnung und daraus wiederum ein weitgehend autonomes Wesen des Rechts, das jeder Jurist zugrundezulegen habe, solange er Recht als Wissenschaft betreiben wolle. Insoweit erscheint Binding als Bindeglied zur modernen Jurisprudenz: Sein weitestgehend ohne metaphysische Voraussetzungen auskommender Rechtspositivismus ist durchaus mit modernen Sichtweisen zu vergleichen. Kelsen aber begründet seine Ansicht über eine Anlehnung an die Transzendentalphilosophie Kants540 als bewusste Hypothese einer Grundnorm, die es ihm erlaubt, Recht als Wissenschaft zu verstehen und zu betreiben. Kelsen zeigt sich der Voraussetzungen seines Rechtsbildes insofern bewusster als Binding. Die mangelnde Auseinandersetzung mit dem Rechtsbegriff zugunsten einer Analyse der logischen Strukturen des Rechts macht Binding zum frühen Ausdruck einer Abwendung von der Rechtsphilosophie zugunsten einer Allgemeinen Rechtslehre.541 Sie stellt aber auch die wohl größte Quelle für Missverständnisse in zweierlei Richtungen dar: Zum einen schreckt Binding nicht davor zurück, bei der Bewertung konkurrierender Lehren seinen eigenen Rechtsbegriff zugrundezulegen, ohne etwaige Unterschiede in diesem Bereich auch nur anzusprechen. So liegt beispielsweise in seiner Behandlung der Imperativen- und der Sanktionstheorie letztlich nur der schwache Vorwurf, die Vertreter dieser Theorien zögen nicht die Konsequenzen aus einem Rechtsbegriff, den sie nicht teilen. Erhebt man die Wirkrichtung auf den Willen des Einzelnen zum Inbegriff des Rechts, so bleibt für eine autonome Idealentität kein Raum und nicht-imperativistische Rechtssätze werden zu „unvollständigen“ oder fallen gänzlich aus dem Rechtsbegriff heraus. Sieht man die staatliche Sanktionsgewalt als wesentlichen Teil des Rechtsbegriffs, so ergeben Bindings Ausführungen zur Rechtsnatur von leges imperfectae keinerlei Sinn. Zum anderen stellt die unerklärte Anwendung eines sehr speziellen Rechtsverständnisses bis heute das wohl größte Verständnishindernis auch der Bindingschen Lehre selbst dar. Insbesondere in einigen Kritiken der Normentheorie wird sich zeigen, wie sehr auch die heutige Auseinandersetzung mit Binding unter der Außerachtlassung seines besonderen Rechtsverständnisses leidet. Kelsen unterscheidet sich auch in den Einzelheiten seiner normativen Auslegungsmethodik und in dem so zum Ausdruck gebrachten, von teleologischen Gesichtspunkten weitgehend „bereinigten“ Rechtsverständnis massiv von Binding. Vor dem Hintergrund der für Binding methodisch problemlosen logischen Ent-
540 541
Siehe dazu o. Fn. 165. So auch Pawlik, Unrecht, S. 34.
E. Zusammenfassung und weitergehende historische Einordnung
149
wicklung des Rechts nach Maßstäben, die noch die Historische Rechtsschule setzte, wäre eine falsche rechtliche Begriffsbildung unvermeidlich gewesen, wenn Bindings Programm der äußeren Abschottung des Rechts auch die Teleologie erfasst hätte.542 Wiederum zeigt sich hier die besondere rechtsgeschichtliche Bedeutung des Bindingschen Rechtsdenkens: Es trägt Züge des späteren Kelsenschen Rechtspositivismus in sich, pflegt aber noch das Methodenideal der Historischen Rechtsschule und sieht sich trotzdem nicht in einem grundsätzlichen Widerspruch zur teleologischen Öffnung des Rechts im Sinne Jherings. Die autonome Gedankenwelt des Rechts bestimmt sich unter anderem nach ihrer Zweckmäßigkeit. Als ein Modell zwischen der rechtspositivistischen, aber teleologiefeindlichen Sichtweise Kelsens und soziologischen Rechtsauffassungen, die sich stets dem Vorwurf eines „Methodensynkretismus“ ausgesetzt sehen, ist Bindings Auffassung moderner, als sie dargestellt zu werden pflegt: Das Zweckdenken bewahrt seine sicherlich rationale Rechtsauffassung vor einem rigorosen Rationalismus. Seine Auslegungslehre ermöglicht eine zweckorientierte Korrektur der bloß formal-begrifflichen Erfassung des Rechts, wodurch Binding durchaus zu auch aus heutiger Sicht haltbaren Rechtsbegriffen gelangen kann.
II. Der Schulenstreit als strafrechtliche Manifestation eines Konflikts der Rechtsverständnisse Die bislang gezogenen Schlüsse erlauben eine weitergehende Einordnung der historischen Rolle Bindings im sogenannten strafrechtlichen „Schulenstreit“. Letzterer wird in seiner Darstellung häufig auf den strafrechtstheoretischen Gegensatz zwischen „klassischer“ und „moderner“ Schule beschränkt. Dabei folgte bekanntlich die klassische Strafrechtsschule einem Vergeltungsgedanken als Strafzweck, wenngleich dieser Standpunkt von vielen Vertretern im Laufe des Schulenstreits etwas aufgeweicht wurde. Die „moderne Schule“ zeigte sich hauptsächlich als soziologische, welche die Prävention zum bestimmenden Faktor in der Strafrechtswissenschaft erhob und die Kriminologie als Wissenschaftsfeld erst begründete. Binding wird dabei richtigerweise den Vergeltungstheoretikern zugeordnet.543 542 Allgemein zu einer nicht-teleologischen, formalen Begriffsbildung Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 404 f. 543 Siehe etwa Vormbaum, Strafrechtsgeschichte, S. 137 ff. und ausführlich zu Bindings Rolle im Schulenstreit Westphalen, Binding, S. 221 ff. Frommel, Präventionsmodelle, S. 60 ff., 76 glaubt dagegen, in Bindings Theorie einen verdeckt-relativen Strafzweck ausmachen zu können. Sie übersieht dabei, dass ein Strafgesetz bei Binding seinen wesentlichen Zweck der Normstabilisierung bereits mit der Bestrafung erreicht hat – unabhängig davon, ob dadurch ein einziges weiteres Verbrechen verhindert wird. Der Staat stellt die Geltung der Norm durch die Strafe schließlich offen zur Schau. Die Normstabilisierung im Sinne einer wirksamen Prävention ist sicherlich auch für Binding gewünschte Wirkung des Strafgesetzes, nicht aber sein wesentlicher Zweck.
150
1. Teil: Bindings methodische Grundlagen
Die Beschränkung des strafrechtlichen Schulenstreits auf die Diskussion des Strafzwecks lässt den größeren rechtshistorischen Zusammenhang unberücksichtigt. Die Streitsache ist eng verknüpft mit derjenigen um den richtigen Rechtsbegriff, beziehungsweise um die damit verbundene Methodik. Binding selbst lässt keinen Zweifel daran, dass er die Strafzweckdiskussion ausschließlich als Manifestation eines Streits um die Freiheit des Rechtsbegriffs von direkten Einflüssen anderer Fachwissenschaften auf dem Gebiet des Strafrechts sieht: „Weit besser aber hat sich seit Jahrhunderten die Theorie des Strafrechts in anderer Abhängigkeit von der Philosophie [sc. als der methodischen Abhängigkeit im Bereich der Logik] gefallen. Der Grund ist Dankbarkeit. Denn mit deren Hilfe allein glaubt sie sich aus der Dürftigkeit befreit und zu wahrer Wissenschaftlichkeit erhoben zu haben. Die neuere Strafrechtswissenschaft ist geschichtlich ein Spross der Philosophie. Die neueren relativen Theorien über Grund und Zweck der Strafe sind der Philosophie des Naturrechts entsprungen und die einander ablösenden philosophischen Systeme der grossen deutschen Denker bedeuten ebenso viele Perioden deutscher Strafrechtswissenschaft.“ 544
Die „moderne Schule“ kritisiert er dementsprechend weniger für den Sinngehalt einer Bestrafung aus Gründen der Prävention als für methodische Unzulänglichkeiten. Sie gebe das Recht der Philosophie preis und stelle Konzepte oder Erkenntnisse anderer Fachwissenschaften dem Recht voran. Sie ist damit für Binding Ausdruck des von ihm zeit seines Lebens bekämpften Methodenbruchs. Gerade in seiner Teildisziplin sieht er das Gebot der äußeren Abschottung des Forschungsobjekts also nur unzureichend erfüllt. Bereits „seit Jahrhunderten“ gefalle sich „die Theorie des Strafrechts“ in ihrer „Abhängigkeit von der Philosophie“ 545 – nur aktuell in Form der relativen Straftheorien: „Ihr Gepräge erhält eine solche [sc. relative] Straftheorie durch die Annahme einer unendlichen Wertüberlegenheit des philosophischen über den Rechts-Satz, der apriorisch gefundenen Idee über ihre concrete Verwirklichung, der Speculation über die Erfahrung.“ 546
Da Binding nur Vorstellungen des Rechtswillens selbst für juristisch beachtlich hält, der ausgehend von einer Rechtsquelle frei in seiner Gestaltungsmacht ist, sind Sinn oder Unsinn einer Bestrafung unter dem Gesichtspunkt der Prävention für ihn Fragen der lex ferenda. Den Präventionszweck der Strafgesetze hält Binding für nicht mehr als eine philosophische Idee, die als solche keinen Einfluss auf die Jurisprudenz nehmen dürfe. Insbesondere vor dem Hintergrund des positivrechtlich unstrittig verankerten Schuldprinzips ist es für ihn nicht möglich, einem als weitgehend autonom betrachteten positiven Recht einen relativen Strafzweck zu entnehmen.547 544 545 546 547
Binding, Handbuch, S. 7. Binding, Handbuch, S. 7. Binding, Handbuch, S. 8. Vgl. Binding, Handbuch, S. 21 u. ders., GrünhutsZ 4 (1877), S. 417 (420 f.).
E. Zusammenfassung und weitergehende historische Einordnung
151
Die genannten Zitate Bindings sprechen für die enge Verknüpfung zwischen dem Schulenstreit und dem skizzierten Kampf um das Rechtsverständnis der überkommenen Jurisprudenz, der Binding ein nach außen bereits weitgehend abgeschlossenes – im Sinne Kelsens relativ „reines“ – Rechtsbild unterstellt.548 Diese Einordnung rechtfertigt sich auch bei einem Blick auf die andere Seite des Schulenstreits. Franz von Liszt (1851–1919) trat zunächst als treuer „Apostel“ 549 der Bindingschen Normentheorie auf. Deren Unterscheidung zwischen Norm und Strafgesetz als jeweils eigenständige Rechtssätze stellt im Kern eine logische Operation am Recht dar, die Bindings Rechtsbild zu weiten Teilen voraussetzt.550 In Anbetracht der Verknüpfung zwischen dem Rechtsverständnis Bindings und seiner Normentheorie überrascht es kaum, dass Liszts Bruch mit der Normentheorie gegen Mitte der 1880er Jahre551 mit einer Hinwendung zu Jhering einhergeht, dessen soziologisches Rechtsverständnis er nun auf das Strafrecht zu übertragen versucht. Liszt sah seine Moderne Schule als strafrechtliche Umsetzung der Jheringschen Neujustierung der Rechtswissenschaft. Kaum Zufall ist daher auch, dass Liszts Hauptkritikpunkt an der Normentheorie – der Formalismus – gleichzeitig einen der Hauptkritikpunkte an der nun abfällig „Begriffsjurisprudenz“ genannten Methode bildete. Zwar nannte man Bindings Lehre selten „begriffsjuristisch“; die Bezeichnung war fast ausschließlich für Pandektisten reserviert.552 In der Sache handelt es sich aber um denselben Konflikt zwischen einer eher formal-rationalen Sichtweise, die zumindest im Falle Bindings aber weitgehend rechtspositivistisch konsequent bleibt, und einer eher soziologischen Blickrichtung, die das Recht zumindest auch als gesellschaftliche Realität zu verstehen bemüht ist. Liszt nahm die Verknüpfung der Normentheorie mit dem speziellen Rechtsbild Bindings durchaus wahr und bezog seine Kritik ebenso auf dieses Rechtsbild. So wie Jhering seinen soziologischen Rechtsbegriff ausdrücklich als materiellen bezeichnet,553 sieht sich Liszt als Verfechter einer materiellen Straf-
548 Vgl. den kurzen Kommentar Welzels, DlitZ 1938, Sp. 679 (680 f.) zur Einordnung des Schulenstreits. 549 So spöttisch nach Liszts Abwendung Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 61, Fn. 19. 550 Vgl. dazu u. S. 235 ff. 551 Siehe den Aufruf Liszts, ZStW 6 (1886), S. 663 (698). 552 Vgl. aber Anschütz, Aus meinem Leben, S. 118 sowie Radbruch, Handlungsbegriff, S. 38, der Binding unter dem starken Einfluss der untrennbar mit der „Begriffsjurisprudenz“ verbundenen „naturhistorischen Methode“ des frühen Jherings sieht. 553 Jhering stellte diesen Rechtsbegriff allerdings einem formellen gegenüber. Die parallele Verfolgung von soziologischer und juristischer Sichtweise geht vielfach in einer eher eindimensionalen Betrachtung Jherings unter, nach der auf seine „begriffsjuristische“ konstruktionsmethodische eine empiristische zweckmethodische Phase folgte. Dabei bleibt unbeachtet, dass Jhering durchaus beide Denkweisen weiter kultivierte. Rechtsverständnisse aus dieser Zeit, die den Namen „empiristisch“ vorbehaltloser verdienen, sind eher mit den Namen Eugen Ehrlich und Ignatz Kornfeld verbunden. Siehe dazu insgesamt Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 284 ff.
152
1. Teil: Bindings methodische Grundlagen
rechtstheorie, die mit dem überkommenen Formalismus einer älteren Lehre aufzuräumen antritt.554 Auch der Spott, mit dem Liszt von diesem Zeitpunkt an über die Normentheorie herzieht, steht Jherings bekannten humoristischen Beschreibungen seiner früheren, „begriffsjuristischen“ Arbeitsweise kaum nach.555
III. Bindings Sichtweise als Ausdruck allgemeiner Immunisierungstendenzen gegenüber den empirischen Wissenschaften Die rechtstheoretische Auseinandersetzung, in deren Rahmen der Schulenstreit eingeordnet wurde, steht ihrerseits in einem größeren Zusammenhang, der hier allerdings nur angerissen werden kann: Die wissenschaftsorganisatorisch geschickte Selbstbeschreibung der strafrechtlichen Schule Liszts als „modern“ hat durchaus auch inhaltlich ihre Berechtigung. Die zugrundeliegende Sichtweise öffnet das Strafrecht für die Ergebnisse gegen Ende des 19. Jahrhunderts noch junger Wissenschaften, allen voran der Soziologie und der Psychologie. Deren hoher Stellenwert steht unmittelbar mit dem allgemeinen Bedeutungszuwachs der empirischen Methode in dieser Zeit im Zusammenhang: Enorme technische Fortschritte binnen eines relativ kurzen Zeitraums forderten eine Sichtweise geradezu heraus, die den Naturwissenschaften den Nimbus des Wissenschaftlichen schlechthin zuschrieb. Dementsprechend folgte eine massive Expansion der empirischen Methode und empiristischer Denkweisen in andere Fachbereiche, nicht zuletzt auch in die Jurisprudenz.556 Dieser historische Rahmen erklärt die besondere Attraktivität sowohl der Bindingschen als auch der Lisztschen Lehre. Liszt nutzte sein wissenschaftsorganisatorisches Talent gekonnt aus, um die Durchsetzung einer ohnehin dem Zeitgeist entsprechenden Strafrechtsauffassung als einen Prozess erscheinen zu lassen, der im Einklang mit der allgemeinen fundamentalen Modernisierung der menschlichen Lebenswirklichkeit jener Zeit stand. Die Moderne Schule wollte ihre Forderungen stets auch als eine Verwissenschaftlichung des Strafrechts verstanden wissen, als eine Öffnung gegenüber den empirischen Wissenschaften. In diesem Zeichen steht auch die bis heute wohl beliebteste Kritik an der Klassischen 554 Siehe etwa Liszt, Zweckgedanke, 21 ff.: „Wir, die wir auf der empirischen Grundlage der Lebenserscheinungen unsere Ansichten aufbauen, sind ja nicht in der glücklichen Lage der Dialektiker, aus einem ersten gegebenen oder genommenen Begriff das ganze konstruktive Gebäude im einheitlichen Stile aufbauen zu können. Hätte ich noch den Kinderglauben an die Normentheorie – dann freilich gäbe es kein zweifelndes Prüfen und kein unsicheres Schwanken; mit dem Ringen nach Erkenntnis fiele auch die Möglichkeit des Irrtums hinweg.“ 555 Liszt, Aufsätze, Bd. 2, S. 64 f. Die Polemik beider Kontrahenten erreicht im Rahmen eines ab 1896 ausgefochtenen Streits um den Zurechnungsbegriff einen Höhepunkt. Siehe dazu Westphalen, Binding, S. 308 ff. m.w. N. 556 Siehe dazu u. S. 283 ff.
E. Zusammenfassung und weitergehende historische Einordnung
153
Schule: Die Vergeltung sei in Wahrheit archaische Rache, ein Relikt aus den barbarischen, vorwissenschaftlichen Zeiten; ein rationaler Zweck der Strafe könne in der klassische Lehre gar nicht gefunden werden.557 Auf der anderen Seite erklärt dieser historische Zusammenhang auch die besondere Ausrichtung und – in bescheidenerem Maße – die Attraktivität der Auffassung Bindings. Viehweg spricht hinsichtlich der Jurisprudenz des 19. Jahrhunderts griffig von „Immunisierungstendenzen“ und meint damit vor allem das Streben nach einer autonomen Stellung der Rechtswissenschaft gegenüber politischen Einflüssen in einer Zeit des sozialen Umbruchs.558 Der Gedanke lässt sich jedoch ohne Weiteres zu einer geschichtlichen Selbstverständlichkeit verallgemeinern: Keine große gesellschaftliche Entwicklung wurde je unmittelbar mit ihrem Aufkommen vollständig rezipiert. Neue Denkweisen setzen sich nur in einem lebendigen Konflikt mit überkommenen Anschauungen und nicht selten auch bewussten Gegenbewegungen durch. Nichts anderes gilt für den Szientismus des 19. Jahrhunderts und seine Folgewirkungen, im Recht also vor allem für das soziologische Rechtsverständnis im Anschluss an Jhering. Bindings Streben nach juristischer Autonomie ist daher auch in seiner Beziehung zu einem gesamtgesellschaftlichen Prozess, nämlich als Reaktion auf empiristische Expansionsbestrebungen des 19. Jahrhunderts zu verstehen. Seine methodischen Annahmen liefern die theoretische Grundlage für eine Abwehr direkter Einflüsse der neuen empirischen Wissenschaften auf das Recht. Die schroffe Rhetorik in der Verteidigung seines rechtstheoretischen Standpunktes verdeutlicht die besondere historische Situation, in der sich Binding befand. Seine Sichtweise lässt sich damit als strafrechtlicher Ausdruck einer breiteren Strömung im Recht verstehen, der daneben beispielsweise auch Laband und Bergbohm für das Staatsrecht zugerechnet werden dürfen.
557 558
Vgl. aus der jüngeren Lit. Roxin, Strafrecht AT, Bd. 1, § 3, Rn. 1 ff. m.w. N. Viehweg, in: Blühdorn/Ritter (Hrsg.), Positivismus, S. 105 (109 f.).
2. Teil
Bindings Normentheorie Grundstein der strafrechtlichen Lehre Bindings ist seine Normentheorie. Anders als noch im Rahmen der Auseinandersetzung mit den methodischen Grundlagen Bindings stehen für eine ausführliche Erklärung dieser Theorie zahlreiche Werke zur Verfügung. Dennoch ist es der vorliegenden Untersuchung nicht möglich, pauschal auf eine der bisherigen größeren Beschreibungen in der Literatur zu verweisen. Denn die meisten dieser Beschreibungen stellen sich bei näherem Hinsehen als Begutachtungen Bindings aus einem bestimmten, rechtstheoretisch vorgefertigten Blickwinkel dar, der nicht mit Bindings Sichtweise übereinstimmt. Insoweit eine ihm fremde Rechtstheorie aber nicht erst auf Ebene der Kritik angewandt, sondern unerwähnt bereits bei der Entwicklung der Normenlehre aus den Bindingschen Texten zugrundegelegt wird, lässt sich die jeweilige Darstellung in einer historischen Analyse nicht sinnvoll verwerten. So versteht sich etwa die Dissertation Seidenstückers mit dem Titel „Strafzweck und Norm bei Binding und im Nationalsozialistischen Recht“ aus dem Jahre 1938 als Vorarbeit für ein nationalsozialistisches Strafrecht und diskutiert aus diesem Blickwinkel eine Verwertbarkeit der Bindingschen Strafrechtslehre für ein solches Unterfangen. Die Normentheorie wird in diesem Zusammenhang allerdings eher kurz dargestellt und überdies im Sinne der systemkonformen Rechtsanschauung Seidenstückers besprochen.1 Eine umfangreichere Verwertung dieser Arbeit in der vorliegenden Untersuchung erübrigt sich daher.2 Die Dissertation Rudolf Müllers aus dem Jahre 1954 ist eine Beschreibung der Bindingschen Lehre aus Sicht der Kulturnormentheorie M. E. Mayers und kommt daher zu dem wenig überraschenden Ergebnis, Binding habe die nicht rechtliche, sondern kulturell-empirische Natur der Normen nicht erkannt.3 Auch Armin Kaufmanns bekannte, ebenfalls 1954 veröffentlichte Arbeit „Lebendiges und Totes in der Bindingschen Normentheorie“ 4 stellt nicht in erster 1
Siehe Seidenstücker, Strafzweck und Norm, S. 18 ff. Angemerkt sei lediglich, dass die Verwurzelung Bindings im nationalliberalen Gedankengut des Kaiserreichs richtig erkannt wird, so dass Bindings Strafrechtsauffassung im Ergebnis ohne Vorbehalte für unvereinbar mit den Grundideen des Nationalsozialismus befunden wird (siehe Seidenstücker, Strafzweck und Norm, S. 36, 52 f.). 3 Vgl. Müller, Normentheorie, S. 132 ff. 4 Der Titel der Arbeit lehnt sich zwar seinerseits an Croce, Lebendiges und Totes in Hegels Philosophie, 1909 an. Erst Armin Kaufmann aber etablierte diese Titelform für 2
2. Teil: Bindings Normentheorie
155
Linie den Versuch einer historischen Nachzeichnung der Normenlehre Bindings, sondern die Ausarbeitung einer eigenen Normentheorie dar. Dennoch sind die 32 Seiten, die Kaufmann der Bindingschen Normenlehre und einzelner Kritikpunkte an ihr widmete, überaus ergiebig. Der Grund hierfür darf sicherlich zum Teil im kaum bestreitbaren Genius des Juristen Armin Kaufmann gesehen werden; entscheidend für den rechtshistorischen Wert seiner Darstellung ist aber vor allem, dass sich sein Blick auf das Recht in entscheidenden Punkten nicht grundlegend von demjenigen Bindings unterscheidet. Natürlich teilt Kaufmann nicht mehr das klassische Methodenideal der Rechtlehre des 19. Jahrhunderts. Das Wesen des Rechts aber sieht auch er jedenfalls insoweit in einer Idealentität, als er an der rechtlichen Kategorie einer reinen Verbindlichkeit ohne jeden Bezug auf eine rechtliche oder tatsächliche Sanktion nicht zweifelt. Nichtsdestotrotz steht die Darstellung der Normentheorie bei Kaufmann bereits im Stern seiner eigenen Normenlehre und geht daher nicht über ihre absoluten Grundzüge hinaus. Andere Darstellungen der Normentheorie leiden unter einem mangelhaften Abgleich mit den Texten Bindings. Aufbauend auf dem Gedanken, die Bindingsche Norm existiere bereits vor dem sie logisch voraussetzenden Rechtssatz, entwarfen zahlreiche Autoren seit Erscheinen der „Normen“ das Bild einer extrajuristischen Sozialnorm, die Binding für rechtserheblich erkläre.5 Dieses Missverständnis prägt auch die Darstellung der Normenlehre bei Naucke, dem sich kürzlich auch Hammon sowie Klaus F. und Hans C. Röhl anschlossen.6 Auch auf sie kann daher nicht vorbehaltlos zurückgegriffen werden. Eine ausführlichere7 Auseinandersetzung mit der Normentheorie hat daneben in jüngerer Zeit nicht stattgefunden. Gerade im Hinblick auf die mannigfaltigen Einordnungen, die Bindings Lehre erfahren hat, scheint eine historische Analyse der Normenlehre an dieser Stelle daher geboten. Sie bildet gleichzeitig den Boden für die nachfolgende Beschäftigung mit der „Freigabe der Vernichtung
juristische Untersuchungen, die sich mit der Relevanz historischer Theorien in der aktuellen Dogmatik beschäftigen. Die mit „Lebendiges und Totes in Armin Kaufmanns Normentheorie“ untertitelte Habilitationsschrift Hoyers, Strafrechtsdogmatik, 1997 sowie die Dissertation Grecos, Lebendiges und Totes in Feuerbachs Straftheorie, 2009 veranschaulichen den hohen Stellenwert der Arbeit Armin Kaufmanns. 5 Siehe dazu detailliert u. S. 241 ff. 6 Vgl. Naucke, in: Vormbaum (Hrsg.), Freigabe, S. XIII ff.; K. F. Röhl/H. C. Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 225; Hammon, Freigabe, S. 95 ff. Zuvor äußerten sich schon der Theologe Nowak, ,Euthanasie‘ und Sterilisierung, S. 48 ff. und der Historiker Schmuhl, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie, S. 115 kurz in diesem Sinne. Schließlich scheint auch Frommel, Präventionsmodelle, S. 76 zu einer ähnlichen Lesart zu neigen. 7 Einen Überblick bieten allerdings zwei Aufsätze Renzikowskis (in: FS Gössel, S. 3 (3 ff.) sowie ARSP 87 (2001), S. 110 ff.). Der jüngst erschienene Beitrag Engländers, RW 2013, S. 193 ff. beschäftigt sich eher mit neueren Begründungsmodellen der Sanktionstheorie. Hierauf wird an anderer Stelle (S. 247 ff.) zurückzukommen sein.
156
2. Teil: Bindings Normentheorie
lebensunwerten Lebens“, deren heute herrschende Interpretation auf der Darstellung der Normentheorie bei Naucke fußt. Es sind in der vorliegenden Beschreibung somit vorwiegend eigene Erwägungen anzustellen. Wiederum wird in besonderer Weise darauf geachtet, sich zunächst an Bindings eigene Darstellungsweise anzulehnen und sich möglichst häufig seiner Worte zu bedienen. Eine enge Orientierung an Bindings Schriften soll einer allzu freien Interpretation seiner Normenlehre vorbeugen, wie sie sich seit Erscheinen seiner „Normen“ und bis in die heutige Zeit leider nicht selten finden lässt. Strukturell wird sich der Abschnitt nach einer kurzen Einführung in die Normentheorie (A.) zunächst mit der Rolle der Strafgesetze bei Binding befassen (B.). Sie werden bei Binding als berechtigende, adressatenlose Rechtssätze dargestellt, die nicht Objekt einer Übertretung sein können. Dieser Befund schafft den Raum für davon verschiedene Ge- und Verbote, die er als „Normen“ bezeichnet. Diese sind bei ihm als eigenständige Gruppe von Rechtssätzen ausgestaltet, die mit den Strafgesetzen in keinem wesentlichen Zusammenhang stehen (C.). Besondere Bedeutung für den Umfang dieser Rechtssätze hat die Rechtsgutslehre Bindings (D.). Ist der Beweis der Existenz und des wesentlichen Inhalts der Normen erst einmal erbracht, so sind wichtige dogmatische Folgen schnell gezogen. Beispielhaft wird die Bindingsche Einteilung in die Kategorien der Rechtmäßigkeit, Unverbotenheit und Rechtswidrigkeit erörtert (E.). Abschließend werden verschiedene Kritikpunkte an der Normentheorie vorgestellt und eingeordnet, die aus Gründen der Praktikabilität in Argumentationsgruppen zusammengefasst sind (F.). Diese Gruppen ähnlicher Argumentationen umfassen zum Teil Kritiker aus einem Zeitraum von mehr als einem Jahrhundert, was die historische Konstanz einiger Kritikpunkte verdeutlicht. Unter Bezugnahme auf die hergeleiteten Grundlagen werden die Kritikpunkte auf ihre methodischen Prämissen und ihre Stichhaltigkeit geprüft. Letzteres wird die Untersuchung auch zur Frage der Modernität der Bindingschen Normenlehre führen.
A. Einführung Binding legt seine Normentheorie erstmals im ersten Band seines Hauptwerkes „Die Normen und Ihre Übertretung“ (1872) dar. Diesem lässt er 1877 einen zweiten Band folgen, in dem er die Auswirkungen der Lehre für Schuld und Vorsatz aufzeigt. Später baut er dieses Werk auf insgesamt vier Bände aus, die sein normentheoretisches Grundkonstrukt auf die gesamte Strafrechtsdogmatik ausweiten.8 Die vierte und letzte Auflage erscheint 1922 postum und ist identisch mit der dritten. 8 Sein ursprüngliches Konzept bestand in einer Monographie zur Fahrlässigkeit. Schnell aber sei Binding (Normen, Bd. 1, 1. Aufl. 1872, S. VII f.) sich „darüber ins
A. Einführung
157
Der Kerngedanke Bindings besteht in einer Trennung des Strafgesetzes und der von ihm sogenannten „Norm“. Die Trennung ist uns heute vor allem als Unterscheidung von „Sanktions- und Verhaltensnormen“, teilweise auch von „Primär- und Sekundärnormen“ geläufig:9 Ein Täter wird bestraft, weil er auf bestimmte Weise gegen das Recht verstoßen hat. Der rechtliche Vorgang lässt sich also aufteilen in die Zuwiderhandlung gegen das Recht und die Sanktion, die daran anknüpft und die Zuwiderhandlung bestraft. Die rein begriffliche Trennung taucht allerdings nicht erst bei Binding auf, sondern findet sich bereits bei Thomas Hobbes, Jeremy Bentham und John Austin.10 Binding beansprucht auch keine Originalität, sondern hält die Normentheorie für eine universelle Wahrheit des Rechts, die Rechtsgelehrten im Verlauf der Geschichte schon häufig bewusster gewesen sei als zur Zeit der Abfassung des ersten Bandes der „Normen“ im Jahre 1872.11 Die Diskussion um die Trennung von Norm und Strafgesetz entstand in Deutschland als Reaktion auf dieses Werk – und damit einige Zeit vor der flächendeckenden Bentham-Rezeption gegen Ende des 19. Jahrhunderts.12 Durch die Verbindung mit Binding unterscheidet sie sich massiv von derjenigen, die in einer früheren Rezeption Benthams zu erwarten gewesen wäre, da Binding im Gegensatz zu diesem die Selbständigkeit der Normen als Rechtssätze besonders herausstellt und strafrechtlich verarbeitet.13 Die Klare“ gekommen, „dass das Problem der fahrlässigen Handlung nur ein Einzelnes aus einem ganzen Ringe von Problemen darstellt, die sich alle in Relation zueinander befinden, und dass jeder Versuch nur einen Theil des Gesammtproblems isolirt zu behandeln zu einem erspriesslichen Ende nicht führen könne.“ 9 Insbesondere die letztgenannten Bezeichnungen provozieren leicht Missverständnisse und werden daher im Folgenden nicht genutzt. Um in der Auseinandersetzung mit den Schriften Bindings keine unnötige terminologische Vielfalt entstehen zu lassen, lehnt sich diese Untersuchung so weit wie möglich an die Begriffe Bindings an. 10 Vgl. Hobbes, De Cive, Kap. 14, § 6; Bentham, Of Laws in General, Chap. XI.4, S. 133 ff.; Austin, Jurisprudence, Bd. 1, 5. Aufl. 1911, S. 88 f. Siehe weiterführend dazu Renzikowski, in: FS Gössel, S. 3 (5 ff.). 11 Vgl. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 6 f. u. 135 ff. 12 Selbst eine frühere Bentham-Rezeption hätte den Entstehungszeitpunkt einer Normenlehre im deutschsprachigen Raum nicht vorverlegt. Das zugrundeliegende Werk Of Laws in General war lange verschollen und wurde erst 1945 veröffentlicht. Siehe hierzu Renzikowski, in: FS Gössel, S. 3 (4). 13 Dass Bentham im Gegensatz zu Binding eine Verhaltensregel nur in Verbindung mit der Ankündigung einer Sanktion als Motiv für das regelkonforme Verhalten dem Recht zuordnen will und sich demnach sehr weit von Binding entfernt (so Renzikowski, in: FS Gössel, S. 3 (9)), scheint zumindest nicht sicher. So schreibt Bentham, Of Laws in General, Chap. XI.21, S. 145 zu sog. „exemptive circumstances“ in Strafgesetzen: „We have seen [. . .] that the connection between delinquancy and the demand for punishment, however close, is not inseperable: but that there are cases in which though guilt even in the highest degree be indubitable, yet punishment would be improper.“ Will Bentham hier nicht die „delinquancy“ als nur moralische verstanden wissen, so postuliert er nicht weniger als eine über die Sanktionsnorm hinausgehende Verhaltensnorm. Jedenfalls aber behauptet Bentham für den Fall, dass eine Sanktion angeordnet ist, die Verbindung von Verhaltens- und Sanktionsnorm in einem Rechtssatz (vgl.
158
2. Teil: Bindings Normentheorie
nur begriffliche Trennung von Strafgesetz und Norm vermittelt demgegenüber nur wenig, was über eine genauere Erfassung der Grundstruktur des Strafgesetzes hinausginge; Binding widmet ihr daher nur wenige Seiten. Er stellt lakonisch fest, dass Strafgesetze schon rein sprachlich nicht vom Delinquenten „übertreten“ werden könnten. Sie sagten nicht mehr, als dass ein bestimmtes Verhalten mit Strafe belegt werde. Diesen Tatbestand erfülle der Täter jedoch gerade! Von einer Zuwiderhandlung könne in Bezug auf das Strafgesetz daher gar keine Rede sein.14 Dieser erste, sprachlogische Schluss wird direkt mit einem zweiten verbunden: Bestimmten Strafgesetze die Bestrafung eines gewissen Verhaltens und werde gleichzeitig nur bestraft, was auch verboten sei, so sei eine Norm als Objekt der Übertretung vom Strafgesetz logisch vorausgesetzt. Durch diesen einfachen juristischen Syllogismus schließt Binding auf die Existenz von Normen im Sinne der heutigen begrifflichen Trennung von Sanktions- und Verhaltensnormen. Strafgesetz und Norm sind für Binding allerdings nicht nur logisch unterscheidbar, sondern zwei gänzlich verschiedene, wesensmäßig voneinander unabhängige Rechtssätze. Die Bindingsche Norm teilt mit dem Strafgesetz weder zwingend denselben Entstehungs- noch Endigungsgrund. Sie kann ohne das Strafgesetz existieren und der Umfang des in ihr zum Ausdruck gebrachten Ge- oder Verbots ist nur selten deckungsgleich mit dem im Strafgesetz unter Strafe gestellten Verhalten. Die Norm erzeugt die Verbindlichkeit, das Strafrecht knüpft an eine Zuwiderhandlung gegen den verbindlichkeitsbegründenden Rechtssatz erst an.15 In Bindings Worten: „[D]as Gesetz, welches der Verbrecher übertritt, geht begrifflich und regelmässig, aber nicht notwendig auch zeitlich dem Gesetze, welches die Art und Weise seiner Verurteilung anordnet, voraus.“ 16
Diese Sichtweise erlaubt es Binding, weitreichende Konsequenzen für die strafrechtliche Dogmatik zu ziehen. Seine Normfassung ist folgenreich sowohl für die Strafzwecklehre als auch für die juristischen Schuldformen, die Lehre der Verbrechenssubjekte und viele weitere Fragen der Strafrechts- und allgemeinen Rechtsdogmatik. Sie ist zudem präjudiziell hinsichtlich seiner grundlegenden Sichtweise des Rechts, seiner Ablehnung der Sanktionstheorie, seiner Rechtswidrigkeitslehre und seiner Rechtsgutstheorie. Die Abstraktion der Norm als eigen-
Bentham, Of Laws in General, Chap. XI.14, S. 140) und unterscheidet sich schon deshalb stark von Binding. 14 Vgl. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 4. 15 Zum seltenen Fall eines normlosen Strafgesetzes siehe Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 187 f. Tritt beispielsweise das Verweisungsobjekt eines Blankettstrafgesetzes außer Kraft, so gibt es keine Verhaltensvorschrift mehr, deren Übertretung das (immer noch gültige) Strafgesetz sanktionieren könnte. 16 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 4.
B. Das Strafgesetz
159
ständiger Rechtssatz stellt den eigentlichen Kern der Bindingschen Normentheorie dar. Bei der Auseinandersetzung mit Bindings Begründung der Normenlehre ist daher stets zwischen zwei bedeutenden Schritten zu unterscheiden: dem Schluss auf die Existenz der Normen – also ihre begriffliche Trennung vom Strafgesetz – und dem Schluss auf ihre Existenz als eigenständige, echte Rechtssätze, ihre Abstraktion als wesensmäßig in keiner Weise mit dem Strafgesetz verknüpfte Rechtssätze.
B. Das Strafgesetz In der Verwechslung oder Verknüpfung der Strafgesetze mit Normen sieht Binding das Grundproblem der bisherigen Strafrechtsdogmatik. Bevor er sich in seinem Hauptwerk „Die Normen und ihre Übertretung“ den namensgebenden Rechtssätzen widmet, analysiert er jedoch zunächst ausführlich die Natur der Strafgesetze als die scheinbaren Objekte der Übertretung, um von dort zur Notwendigkeit dahinterliegender „Normen“ zu führen. Den Grund für diese Vorgehensweise erklärt Binding selbst: Mit der Darstellung vom Strafgesetz wesensmäßig unabhängiger Normen stemmt er sich gegen die klassische Sichtweise der Strafgesetze, die bis dahin als verbindlichkeitsbegründende Rechtssätze gesehen wurden. Um überzeugend zu sein, muss er nun nicht nur die bisher angenommene Funktion der Strafgesetze ablehnen, sondern eine eigene Erklärung für sie anbieten.17 Binding versucht also zunächst zu beantworten, ob Strafgesetze selbst als Imperative überhaupt denkbar wären. Wichtig für das Verständnis seiner Argumentation ist, dass es ihm an diesem Punkt noch nicht um verbindlichkeitsbegründende Rechtssätze geht, die durch diese Strafgesetze vorausgesetzt werden, selbst wenn man von einem wesensmäßigen Zusammenhang mit den Strafgesetzen ausginge. Ein Imperativ, der lediglich das im Tatbestand beschriebene Verhalten befielt, ist daher nicht Teil der Frage: Ersichtlich handelt es sich beim Tatbestand selbst nicht um einen Imperativ, sondern um eine Umschreibung der Bedingungen, unter denen die Rechtsfolge eintreten soll. Wollte man darin einen rechtlichen Befehl erkennen, so wäre dieser logisch vorausgesetzt, nicht jedoch das Strafgesetz selbst. Binding versucht an dieser Stelle also die Form eines Imperativs darzustellen, der in dem Strafgesetz in seiner klassischen Formulierung von Tatbestand und Rechtsfolge liegt. Die im Raum stehende, verbindlichkeitsbegründende Wirkung des Strafgesetzes muss daher in der Überlegung Bindings den Sanktionsteil beinhalten: Es müsste etwa Pflicht sein, die Strafe zu erdulden, auszusprechen oder zu vollstrecken. Selbst wenn ein derartiger Imperativ angenommen würde, schlösse das den 17
Vgl. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 7.
160
2. Teil: Bindings Normentheorie
Kernpunkt der Normentheorie somit nicht aus: Wenn das Strafgesetz etwa als ein an den Richter gerichteter Imperativ verstanden würde, so wäre daneben ein (zweiter) Imperativ annehmbar, sofern man von einer Verbindlichkeit der dem Recht Unterstehenden ausginge, die beschriebene Handlung zu unterlassen oder im Falle eines Gebots vorzunehmen. Es handelt sich also um eine untergeordnete Frage, die lediglich die systematische Funktion der Strafgesetze im Strafrechtsdenken Bindings verständlich machen soll. Die wesentlich interessantere Frage nach einem wesensmäßigen Zusammenhang von logisch vorausgesetzter Norm und Strafgesetz ist an dieser Stelle noch nicht gestellt. So ist auch erklärlich, dass Binding diesem Teil weit weniger Aufmerksamkeit als der späteren Erläuterung der Normen und ihrer Herleitung widmet. Wie zu sehen sein wird, fällt der Teil nicht nur quantitativ hinter späteren Ausführungen zurück. Ist das Strafgesetz ein rechtlicher Befehl, so ist dessen inhaltliche Ausgestaltung davon abhängig, an wen dieser gerichtet sein soll: das bekannte strafrechtliche Adressatenproblem. Inhalt und Adressat eines möglichen Imperativs des Strafgesetzes werden von Binding daher naheliegenderweise zusammenhängend untersucht, indem er die denkbaren Adressaten und den jeweils denkbaren Inhalt eines an sie gerichteten Imperativs der Reihe nach auf ihre Stichhaltigkeit überprüft. Entsprechend den bekannten Adressatentheorien identifiziert Binding drei potentielle Zielrichtungen eines wesensmäßig mit dem Strafgesetz verbundenen Imperativs: das Volk (I.), den Richter (II.) und den Staat (III.) – und schließt nachfolgend eine Möglichkeit nach der anderen aus. Dies führt ihn zur Adressatenlosigkeit der Strafgesetze als logisch einzig verbleibende Möglichkeit. Statt eines rechtlichen Imperativs handle es sich um einen „Gesetzesbefehl“ nach der Konzeption Labands,18 ein „ita ius esto“, dessen tieferer Sinn in seiner Eigenschaft als berechtigender Rechtssatz liege (IV.).
I. Das Volk als Adressat Der erste potentielle Adressat eines Strafgesetz-Imperativs, den Binding in den Raum stellt, ist „das Volk“ als Summe aller Rechtsunterworfenen.19 Wie aber wäre ein derartiger, an das Volk gerichteter Imperativ zu formulieren? Ein mit Bezug auf den Rechtsfolgenteil des Strafgesetzes formulierter Imperativ, der sich an das Volk richtet, könne nur noch den Befehl enthalten, die Strafe bei Zuwiderhandlung auf sich zu nehmen.20 Der rechtliche Befehl des 18
Vgl. Laband, Staatsrecht, Bd. 2, 1. Aufl. 1878, S. 5 ff. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 13 f. 20 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 13 m. Fn. 25, in der Binding klarstellt, dass sich ein solcher Imperativ dann gleichfalls an „die Strafenden“ zu richten habe, zumal dem Verbrecher natürlich nur das Aufsichnehmen, nicht aber das Strafen selber auferlegt werden könne. 19
B. Das Strafgesetz
161
§ 212 RStGB würde damit beispielsweise darauf lauten, bei rechtswidriger Tötung eines Anderen die dort umrissene und von einem Richter für diesen Einzelfall innerhalb des Strafrahmens festzulegende Strafe auf sich zu nehmen. Ein so verstandener Imperativ führe jedoch ins Absurde, wie Binding gleich darauf aufzuzeigen bemüht ist. Er würde „dann dem Verbrecher die Rechtspflicht auferlegen die verdiente Strafe auf sich zu nehmen. Der Schuldige, der sich der Strafe entzöge, hätte dann eine doppeltes Delikt begangen“.21
Mit dieser Konstruktion einer zusätzlichen Pflicht hält sich Binding dementsprechend nicht lange auf. Seine kurze Erläuterung weist allerdings eine bei ihm seltene und insofern bemerkenswerte Missverständlichkeit auf. So schreibt er, der Verbrecher habe für den Fall eines derartigen zweiten Delikts „dann principiell auch eine Strafe für die Nichterfüllung seiner Straferduldungspflicht verwirkt. Entzöge er sich auch der zweiten Strafe, so gesellte sich zu den zweien noch ein drittes Delikt und der dauernd flüchtige Verbrecher wandelte den Weg der ständig sich verjüngenden Untat.“ 22
Sollte Binding davon ausgegangen sein, dass die zweite Strafe auch auf den Straftatbestand des Strafgesetzes zurückzuführen wäre, dessen Imperativ das Objekt der Zuwiderhandlung war, so liegt hierin eine Inkonsequenz: Normentheoretisch folgerichtig wäre gewesen, für die Bestrafung der Übertretung einer (zweiten) Norm der Straferduldung wiederum ein eigenes Strafgesetz zu fordern, knüpft doch der Tatbestand des Strafgesetzes ersichtlich nicht an eine Verletzung der Straferduldungspflicht, sondern an die rechtswidrige Erfüllung eben jenes Tatbestandes an. Fehlt ein solches Strafgesetz, so bliebe die Verletzung der Straferduldungspflicht also ein unbestraftes Delikt. Der Grund für eine solche Inkonsequenz Bindings lässt sich heute nicht mehr ermitteln. Möglich ist, dass er selbst aufgrund der offensichtlichen Absurdität eines derartigen Imperativs der Genauigkeit der Darstellung desselben keinen allzu hohen Stellenwert beimaß. Nicht auszuschließen ist auch, dass er an dieser frühen Stelle seines Werks zugunsten der Lesbarkeit noch keine normentheoretisch stringente Denkweise voraussetzen wollte. Trotz Bindings wenigstens missverständlichen Ausdruckes in diesem Punkt steht seine Argumentation jedoch klar vor Augen: Sieht der Staat tatsächlich die Strafbarkeit der als Delikt zumindest straffähigen Zuwiderhandlung gegen die Straferduldung vor, so erschüfe er damit eine zweite Straferduldungspflicht, die der Flüchtige wiederum verletzte et cetera. Es ergäbe sich ein Teufelskreis immer neuer strafbarer Deliktsbegehungen. Wahrscheinlich ist, dass die Annahme einer derartigen Pflicht für Binding vor dem Hintergrund des bestehenden Straf21 22
Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 13; Hervorhebung hinzugefügt. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 13 f.
162
2. Teil: Bindings Normentheorie
gesetzbuchs so fernliegend erscheint, dass es ihm auf eine weitergehende Auseinandersetzung nicht ankommt. Das Volk scheidet danach als Adressat des Strafgesetzes aus.
II. Der Richter als Adressat Eine weitere Möglichkeit, die Binding bespricht, ist die des Richters als Adressat der als Imperative verstandenen Strafgesetze. Dabei ist das erste Problem noch völlig unabhängig vom konkreten Inhalt eines solchen Imperativs: „So würden die Strafgesetze [. . .] unverbindlich, sobald es der Zufall auch nur vorübergehend einmal einrichtete, dass der Staat ohne Richter oder Exekutionsbeamten existirte: während der im Gesetze enthaltene Volkswille, dass das Verbrechen gestraft und zwar in der angeordneten Weise gestraft werde, in unveränderter Kraft jene richterlose Zeit überdauerte.“ 23
Die Stelle verdeutlicht wiederum, dass es auch bei Annahme des diskutierten, an den Richter adressierten Imperativs einer zweiten Norm bedürfte. Ohne diese Annahme, die Binding hier unausgesprochen voraussetzt, geriete die ganze Aussage in einen Zirkelschluss: Der Volkswille beschränkte sich dann in der vorgestellten Konstellation gerade darauf, „Richter und Exekutionsbeamte“ und nicht den Straftäter zu verpflichten. Von einem „Verbrechen“, dem eine eigenständige Zuwiderhandlung des Straftäters zugrundeläge, könnte gar nicht gesprochen werden; es würde degradiert von einem Delikt zu einer gesetzlich unbewerteten Handlung, an die der an Richter und Exekutionsbeamte gerichtete Imperativ anknüpfte. Abermals darf spekuliert werden, dass es Binding auf eine normentheoretisch stringente Erklärung an diesem frühen Punkt in der Beschreibung seiner Normenlehre noch nicht ankam. Sein Argument lautet letztlich schlicht auf die Unvorstellbarkeit eines Gesetzesinhalts, der die Verbindlichkeit der Strafgesetze auf das Vorhandensein von Richterschaft und Exekutionsbeamtentum beschränkte. Daneben geht Binding aber auch auf den Inhalt eines solchen Imperativs ein. Danach seien die Delinquenten in dem im Strafgesetz festgelegten Rahmen zu bestrafen. Jedoch sei es offenkundig „nicht Sache des Richters zu strafen.“ 24 Er stelle lediglich „das Recht zwischen den Parteien fest“,25 befinde also darüber, ob dem Staat gegenüber dem Delinquenten ein Strafrecht erwachsen sei. Mit dem Urteil, der Kläger besitze in der Tat ein Strafrecht, gehe zwangsläufig die Feststellung einher, dass der Richter es selbst nicht habe – könne doch niemand Richter und Kläger in einem sein.26
23 24 25 26
Vgl. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 14. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 15. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 15. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 15.
B. Das Strafgesetz
163
Der etwas absurde, von Binding geprüfte Inhalt eines eigenen Strafens durch den Richter führt zu der Frage, warum Binding den Imperativ nicht in der bloßen Zugrundelegung des Strafgesetzes bei der Rechtsprechung, in dem Befinden auf Strafbarkeit im angeordneten Umfang unter den im Strafgesetz festgelegten Bedingungen sehen kann. Einen derartigen schließt Binding mit nur wenigen Worten aus: „Ein Richter, der ein gültiges Gesetz vorsätzlich seinem Urteile nicht zugrunde legt, verletzt nicht das von ihm vernachlässigte Gesetz, bald das wider den Mord [. . .], bald das wider den Betrug [. . .], sondern immer eine und dieselbe Pflicht: seinen Urteilen das geltende Recht zu Grunde zu legen.“ 27
Ersichtlich verletze also ein Richter, der beispielsweise § 211 RStGB bewusst nicht oder falsch anwende, nicht das Strafgesetz wider den Mord. Die Pflicht erwachse ihm nicht unmittelbar28 aus den Strafgesetzen, „sondern aus dem Rechtsgeschäfte seiner Anstellung. Nicht der Richter als solcher wird durch das geltende Strafgesetz gebunden, sondern durch Anstellung und Amtspflicht wird er in seiner Rechtsprechung an dieses Gesetz gebunden.“ 29 Das Argument, eine generelle Pflicht zur Anwendung des Rechts ergebe sich schon aus der Anstellung des Richters, schließt natürlich einen weiteren Imperativ der Strafgesetze mit dem Inhalt, im dort geregelten Fall auf eine Strafe im entsprechenden Strafrahmen zu entscheiden, noch nicht logisch aus. Geht man von einem Imperativ der Anstellung als Richter aus, wäre ein derartiger Imperativ allerdings rechtlich irrelevant; die wesentliche Funktion des Strafgesetzes bliebe die Erschaffung eines Strafrechts bei rechtswidriger und schuldhafter Erfüllung des dort geregelten Tatbestandes. Erwächst dem Staat ein solches Strafrecht, so würde gleichzeitig der von Binding angenommene Imperativ konkretisiert und hätte – auf diesen Einzelfall bezogen – denselben Inhalt wie ein weiterer Imperativ des Strafgesetzes. Genauer betrachtet lautet Bindings Argument damit auf Überflüssigkeit eines zweiten Imperativs, wenn man von der naheliegenden Annahme einer allgemeinen Pflicht des Richters, nach dem Recht zu urteilen, ausgeht. Jedenfalls die wesentliche Funktion bliebe in diesem Fall das von Binding angenommene ita ius esto.
III. Der Staat als Adressat Die einzig verbleibende Möglichkeit der Adresse eines Imperativs im Strafgesetz wäre der Staat selbst. Lehnt Binding sie auch im Ergebnis ab, so zeigt er 27
Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 15. Vgl. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 16. Mittelbar lässt sie die Pflicht gegen ihn natürlich insofern nicht unberührt, als sie die übernommene Pflicht, nach Recht und Gesetz zu urteilen, konkretisiert. 29 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 16. 28
164
2. Teil: Bindings Normentheorie
doch ein gewisses Verständnis für diese Betrachtungsweise30 und hatte sogar selbst noch in der ersten Auflage der „Normen“ diese Ansicht vertreten.31 Damit wird abermals deutlich, dass die diskutierte Frage für die Normentheorie von entscheidender Bedeutung nicht sein kann, sondern den durch die Normentheorie geprägten Blick Bindings auf das Strafrecht lediglich komplettieren soll. Wie ein an die Richterschaft gerichteter Imperativ der Strafgesetze wäre auch ein an den Staat gerichteter Imperativ mit der Normenlehre prinzipiell vereinbar gewesen. Einzig ein an jeden Rechtsunterworfenen gerichteter Imperativ, das mit Strafe belegte Verhalten zu unterlassen, liefe der Normentheorie zuwider, wenn man den verbindlichkeitsbegründenden Rechtssatz im Strafgesetz selbst erblickte. Als logische Voraussetzung des Strafgesetzes ist der verbindlichkeitsbegründende Rechtssatz aber wesentlicher Bestandteil der Normenlehre. Das erste Problem, das Binding beim Staat als Adressat eines imperativistischen Strafgesetzes ausmacht, ist die Übereinstimmung von Subjekt und Objekt eines solchen Imperativs. Sofort stellt er aber fest, dass es sich hierbei nur um ein Scheinproblem handle. Schließlich sei es unbezweifelbar, „dass Staaten und ihre Herrscher Rechtspflichten besitzen.“ 32 Wie könnten derartige Pflichten eines souveränen Staates aber entstehen? Für Binding ist die Frage schnell beantwortet: „Der Staat allein kann, soweit er suverän, sich selbst verpflichten.“ 33 Angesichts seines weiten Rechtsbegriffs ist diese Sichtweise nicht verwunderlich: Der jeweilige Satz muss nach dem Willen der Rechtsquelle zum Ordnungssystem Recht gehören sollen; weitergehende Anforderungen an den Rechtsbegriff erkennt Binding nicht an.34 Allerdings ist der Inhalt eines solchen Imperativs damit noch nicht geklärt. Diesen sieht Binding als Selbstberechtigung und Selbstverpflichtung zugleich: „,Ich, der Staat, erkenne die Verpflichtung an, dies Verbrechen zu strafen; der Verbrecher muss von mir mit der angedrohten und darf mit keiner anderen Strafe belegt werden.‘“ 35
Der Staat ist danach also alleinig berechtigt, aber auch verpflichtet, zu strafen, wie es im Recht vorgesehen ist. Er würde somit zum einzig denkbaren Übertreter dieser Imperative.36 Und in der Tat ist diese Ansicht nicht allzu weit von dem entfernt, was Binding später als „wahre Bedeutung des Strafgesetzes“ bezeichnet.37 Danach beinhalteten die Strafgesetze die allgemeine staatliche Pflicht zur 30 31 32 33 34 35 36 37
Vgl. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 16 ff. Siehe Binding, Normen, Bd. 1, 1. Aufl. 1872, S. 13 f. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 18. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 18. Siehe dazu o. S. 76 ff. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 17. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 18. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 19.
B. Das Strafgesetz
165
Bereitstellung und zum Unterhalt einer Richterschaft, einer Staatsanwaltschaft und der Einrichtungen des Strafvollzugs, zur Schaffung eines Strafprozessrechts et cetera. Kurzum: Der Staat habe die Bedingungen für die Möglichkeit von Strafe zu schaffen.38 Allein das mangelnde Objekt einer persönlichen Verpflichtung hindert ihn daran, an dieser Stelle einen an den Staat gerichteten Imperativ anzunehmen: „Grade die Monarchie zeigt [. . .] klar, dass das Strafgesetz dem Staatsoberhaupte zu strafen nicht befiehlt. Der Monarch muss nicht nur nicht in Person strafen, sondern er darf es gar nicht, selbst wenn er wollte. [. . .] Somit scheitert auch diese letzte mögliche Fassung des Strafgesetzes als eines Imperativs.“ 39
Beim Imperativ geht es ihm um die persönliche Verpflichtung. Wer aber sollte von einem an den Staat gerichteten Imperativ, in dem im Strafgesetz angegebenen Maß zu strafen, persönlich betroffen sein? In der Monarchie, schlussfolgert Binding, käme einzig der Monarch dafür in Frage. Dass diesem persönlich eine derartige Pflicht obliegt, hält er hingegen für ebenso evident falsch wie die Formulierungen der vorangegangenen Imperative, womit auch ein an den Staat gerichteter Imperativ aus seiner Sicht ausscheiden muss.
IV. Das Strafgesetz als einfacher Gesetzesbefehl Nach der Ablehnung aller möglich erscheinender Formen des Imperativs eines Strafgesetzes bleibt Binding nur noch ein Schluss: Das Strafgesetz beinhalte keinen Imperativ im Sinne eines persönlichen Befehls. Es sei in diesem Sinne adressatenlos. Was aber regeln die Strafgesetze dann? Binding drückt den Inhalt folgendermaßen aus: „Im Gesetze ist es [. . .] die Form der feierlichen Aussprache der Rechtswillens-Erklärung: ita jus esto!“ 40
Es ist die Labandsche41 Figur des Gesetzesbefehls, mit der er die Strafgesetze zu erklären versucht. Das Strafgesetz enthalte danach eine Verbindlichkeitserklärung (einen „Gesetzesbefehl“ im Sinne Labands) für den formulierten Rechtsgedanken, die diesem erst die Rechtsqualität verleiht: ita ius esto! 42 Liegt sie vor, handle es sich unabhängig von einer imperativistischen Struktur des Satzes um Recht. Binding sieht sich daher bereits an dieser Stelle genötigt, ausdrücklich der Imperativentheorie zu widersprechen, nach der das gesamte Recht ausschließlich aus einem System von Imperativen bestehe. Das geschaffene Recht binde im
38 39 40 41 42
Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 22. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 18 f.; Hervorhebung hinzugefügt. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 19. Vgl. Laband, Staatsrecht, Bd. 2, 1. Aufl. 1878, S. 5 ff. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 19.
166
2. Teil: Bindings Normentheorie
Falle von Strafgesetzen nur den Staat an sich, ohne persönliche Befehle zu enthalten: „Von den zwei Bedeutungen der Rechtspflicht, wonach diese entweder die höchstpersönliche Verpflichtung zu bestimmten Handlungen oder aber die rechtliche Gebundenheit überhaupt bezeichnet, greift für die Strafpflicht nur die letztere Platz.“ 43
Die hier von Binding angesprochene Unterscheidung zwischen echtem Imperativ und dem bloßen Gesetzesbefehl: etwas solle sein, bildet bis in unsere Tage einen der gängigen Kritikpunkte an der Imperativentheorie.44 Die im Strafgesetz bestimmte Rechtspflicht sei lediglich „Auflage an den Staat, welche aber nicht die Gestalt einer höchstpersönlichen Verpflichtung des Staatsoberhaupts annimmt.“ Das Strafgesetz erzeuge die „Verpflichtung des Staates, die nötigen Voraussetzungen für die Durchführung der Strafansprüche zu schaffen und die Durchführung selbst zu normiren [. . .]. Und nun erwächst – nicht unmittelbar aus dem Strafgesetze, sondern aus dem Strafprozessgesetze – eine Anzahl höchstpersönlicher Verpflichtungen des Staatsoberhaupts, des Gerichts, der Vollstreckungsbehörden.“ 45 Das Strafgesetz ist damit Recht, ohne Befehl zu sein, beeinflusst aber vielfach mittelbar wirkliche Befehle des Rechts, nicht zuletzt durch die Konkretisierung der Amtspflicht des Richters, ein dem Gesetz entsprechendes Urteil zu fällen. Neben diesen mittelbaren Wirkungen hat das Strafgesetz für Binding eine wesentliche, unmittelbare Funktion: Strafgesetze lassen Strafrecht und Strafpflicht unter den in ihnen spezifizierten Bedingungen entstehen. Erst das Strafgesetz schaffe mit Begehung des Delikts ein staatliches Strafrecht, zu dessen Ausübung sich der Staat selbst verpflichtet habe.46 Selbstverständlich wolle das Strafgesetz dieses Rechtsverhältnis „nicht unmittelbar begründen, sondern neben seinem Inhalte nur die Voraussetzungen bestimmen, unter denen allein es entstehen soll.“ 47 Es ist also nicht unmittelbare Voraussetzung für die Entstehung des Strafrechts, aber unmittelbare Voraussetzung für die Möglichkeit seiner Entstehung unter den angegebenen Bedingungen. Da sie mit dem Strafrecht „Entstehung, Inhalt und Ende“ eines subjektiven Rechts regeln, sind sie damit für Binding berechtigende Rechtssätze, die er entgegen der damals wie heute gängigen Terminologie als Gegenstück zu der üblicherweise 43 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 22. Vgl. schon ebd., S. 19: „Dass aber dieser sogenannte Gesetzesbefehl nur zu Unrecht Befehl genannt wird, verschließt sich nur denen, die in eigentümlicher Farbenblindheit in jedem Rechtssatze eine Norm erblicken.“ 44 Vgl. etwa Larenz, Methodenlehre, S. 253 ff. Siehe dazu auch u. S. 227 ff. Zur Imperativentheorie im Zusammenhang mit Bindings grundlegendem Rechtsverständnis siehe bereits o. S. 77 ff. 45 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 22. 46 Vgl. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 132 ff. 47 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 20.
C. Nachweis der Norm als eigenständiger Rechtssatz
167
„verneinende Rechtssätze“ genannten Gruppe allerdings lieber „bejahende Rechtssätze“ nennt.48 Die Berechtigung des Staates zur Strafe bildet in Bindings Normentheorie die Hauptfunktion des Strafgesetzes. Der Delinquent kann dem Strafgesetz unmöglich zuwiderhandeln, sondern nur seinen Tatbestand erfüllen und so den Staat zur Strafe berechtigen: „So ist das bejahende Strafgesetz derjenige Rechtssatz, der Entstehung, Inhalt und Ende des subjektiven Strafrechts, genauer des Strafrechtsverhältnisses zwischen dem Strafberechtigten 49 und dem Verbrecher regelt. Diese Begriffbestimmung allein deckt die Strafgesetze aller Zeiten!“ 50
Die Bedeutung der Strafgesetze liegt für Binding damit gerade nicht in einer Verhaltensanweisung an den Rechtsunterworfenen. Diese Rolle eines echten Imperativs kommt erst der Norm zu, die der Theorie Bindings ihren Namen gab.51
C. Nachweis der Norm als eigenständiger Rechtssatz Wie gesehen, ist die „Norm“ als Verhaltensregel bei Binding schnell dargetan. Freilich ist damit auch noch nicht viel erreicht; dieses Normverständnis wird auch heute problemlos bei der Unterscheidung von „Verhaltens- und Sanktionsnormen“ beziehungsweise „Primär- und Sekundärnormen“ zugrundegelegt. Der Zusammenhang mit dem besonderen Rechtsbild Bindings und das eigentlich Wesentliche seiner Normenlehre liegt nicht in der Trennung von Norm und Sanktion, sondern in der abstrakten Stellung der Norm, ihrer Existenz als eigenständiger Rechtssatz. Binding stellt die Normen als eine eigene Gruppe von Sätzen des öffentlichen Rechts dar, deren Inhalt in einem an die „Rechtsunterworfenen“ gerichteten Imperativ besteht. Dem subjektiven Recht des Staates auf „Botmässigkeit“ steht die Gehorsamspflicht der Rechtsunterworfenen gegenüber. Zur abstrakten Stellung der Norm gelangt Binding, indem er verschiedene Nachweismöglichkeiten untersucht. Diese aufgelisteten Nachweismöglichkeiten sollen ausschließlich Existenz, Form, Inhalt und Eigenständigkeit der Norm belegen und stellen keine vollständige Aufzählung aller Nachweismöglichkeiten der Norm dar. Insbesondere ist der mittelbare Nachweis einer Norm nicht auf den Fall eines Strafgesetzes beschränkt. 48
Vgl. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 96. Dass dieser heute nur noch der Staat ist, sei zwar richtig, hänge aber nicht wesentlich mit der Natur des Strafgesetzes zusammen, wie Binding an anderer Stelle (Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 20 ff.) durchscheinen lässt. 50 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 20; Hervorhebung aus dem Original nicht übernommen. 51 Da beide den Schluss vom Strafgesetz auf die Norm nachvollziehen, überrascht die Einigkeit Bindings mit Thon in diesem Punkt nicht. Freilich versteht Thon, Rechtsnorm, S. 19 ff. das Wesen des von Binding als echte Berechtigung gesehenen Strafrechts als ein Konglomerat von Imperativen. 49
168
2. Teil: Bindings Normentheorie
Das radikale Umdenken, das die Normentheorie von der überkommenen Strafrechtsdogmatik fordert, ist seit jeher das größte Hindernis für die Akzeptanz der Kernthesen Bindings gewesen. Dieses Umdenken betrifft selbstverständlich vor allem die Rolle der Strafgesetze, die nicht nur nicht mit den Verhaltensregeln identisch, sondern darüber hinaus auch nicht wesensmäßig mit ihnen verbunden sein sollen. Der Nachweis der Norm aus dem Strafgesetz stellt also den heikelsten Punkt in Bindings Theorie dar, klärt sich doch in der Art dieser Ableitung vom Strafgesetz zugleich die Frage nach dem Verhältnis der beiden zueinander. Es liegt daher nahe, dass Binding seine Aufmerksamkeit gleich zu Anfang auf diesen Fall eines Nachweises der Norm durch das Strafgesetz richtet (I.). Es handelt sich um die umfangreichsten Ausführungen zum Normnachweis. Untersucht wird, inwieweit der Strafsanktionsteil des Strafgesetzes eine Wirkung auf die Norm abseits der logischen Voraussetzung ihrer Existenz haben kann. Sollte sich der Rechtsfolgenteil des Strafgesetzes – die Strafsanktion – als wenigstens mitentscheidend für die Formulierung der Norm erweisen, so kann von einer abstrakten Stellung der Norm keine Rede sein. Mit anderen Worten: Wäre es wesentliches Merkmal der Norm, dass die Zuwiderhandlung gegen sie unter Strafe steht, dann müsste die Norm als abhängig vom Strafgesetz betrachtet werden. Einen zweiten Punkt bezeichnet Binding etwas unglücklich als Nachweis der Norm „aus dem Bedürfnisse“ (II.).52 Bis heute dient diese Betitelung seinen Kritikern als Vorwurf, die Bindingschen Normen seien keine rechtlichen Verhaltensregeln. Stattdessen verliehen sie als Sozialnormen dem subjektiven Empfinden des Interpreten über das sozial Erforderliche Ausdruck. Die Überschrift suggeriert, die Norm ließe sich auch aus den (sozialen oder sonstigen) Bedürfnissen der Zeit ermitteln. Es wird sich allerdings zeigen, dass Binding für den Nachweis der Norm generell nur das nach seinem Verständnis positive Recht betrachtet, in dem derartige externe Einflüsse weitgehend ausgeschlossen sind. Das „Bedürfnis“, zu dessen Befriedigung die Norm geschaffen wurde, ist die Prävention; aus dieser teleologischen Überlegung zieht Binding generelle Schlüsse zu Form und Umfang aller Normen, leitet aber nicht die Existenz bestimmter Normen ab. Die Grenzen, die sein Rechtspositivismus ihm vorgibt, überschreitet er hier nicht. Demgegenüber bietet die unmittelbare Herleitung von Normen aus dem Gesetz eine weitere Nachweismöglichkeit der Existenz bestimmter Normen (III.). Derlei gesetzte Normen glaubt Binding in einer Vielzahl von Fällen ausmachen zu können. Die verschiedenen Nachweismöglichkeiten der Norm, ihres Umfangs und ihrer Form sind nicht als abschließend zu verstehen. Nach Bindings Rechtsverständnis sind vielmehr weitere Nachweismöglichkeiten denkbar, wie beiläufig auch in der „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ deutlich wird (IV.). 52
Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 51.
C. Nachweis der Norm als eigenständiger Rechtssatz
169
Die verschiedenen Nachweismöglichkeiten zeichnen das Gesamtbild der Bindingschen Norm als echter Rechtssatz, dessen Inhalt unabhängig vom Strafsanktionsteil der Strafgesetze ist, dessen Zweck ein anderer als der des Strafgesetzes ist, dessen Umfang regelmäßig über den Tatbestandsteil hinausgeht und der auch völlig ohne Strafgesetz bestehen kann. Kurzum: Alle dargestellten Nachweismöglichkeiten zusammen dienen dem Nachweis der Eigenständigkeit der Norm als Rechtssatz. Auch deren Folgen, das Entstehen und Verschwinden der Normen unabhängig von den Strafgesetzen, glaubt Binding im geltenden Recht nachweisen zu können (V.).
I. Mittelbarer Nachweis der Norm aus dem Strafgesetz Dass aus dem Strafgesetz überhaupt eine wie auch immer geartete Norm gefolgert werden muss – eine Verhaltensanweisung, die Objekt einer Zuwiderhandlung sein kann – hinterfragt Binding nicht. Eine abweichende Antwort bedürfte eines rechtsrealistischen Blicks auf das Recht und stände somit in direktem Widerspruch zu seinen rechtstheoretischen Grundannahmen; die Suche nach einem Imperativ im Zusammenhang mit dem Strafgesetz kann nur aufgeben, wer das Recht ausschließlich von seinen realen Folgen her wahrzunehmen bereit ist. In Anlehnung an den bekannten amerikanischen Rechtsrealisten Oliver Wendell Holmes Jr. (1841–1935): Besteht das Recht vor allem in einer Wahrscheinlichkeitsprognose darüber, was der Richter im konkreten Fall entscheiden wird,53 erübrigen sich mitsamt eines abstrakten Verbindlichkeitskonzepts auch Überlegungen zu logisch vorausgesetzten Imperativen. Wer das Recht demgegenüber mit Binding als eine Idealentität betrachtet, kann sich auch sinnvoll der Frage nach dem mit dem Strafgesetz verbundenen Imperativ widmen. Es bleibt jedoch die Frage, wie ein solcher Schluss auf die Norm aus dem Strafgesetz gelingen kann. Binding untersucht alle denkbaren Möglichkeiten einer solchen Folgerung: Zunächst widmet er sich denkbaren Einflussmöglichkeiten des Strafsanktionsteils auf den Norminhalt, indem er versucht, allein aus der Sanktion (1.) oder aus ihrem Zusammenhang mit dem Tatbestand (2.) einen sinnvollen Verbindlichkeitsinhalt zu formen. Letztlich geht es ihm bei dieser Vorgehensweise aber um den Nachweis einer abstrakten Stellung der Norm gegenüber den Strafgesetzen: Kann lediglich der Tatbestandsteil des Strafgesetzes Einfluss auf den Norminhalt haben (3.),54 ist die wichtigste Hürde zu dieser abstrakten 53 Vgl. Holmes, Harvard Law Review 10 (1896/97), S. 457 (458). Siehe zu Holmes überblicksartig Zippelius, Rechtsphilosophie, S. 5 f. und ausführlicher Fikentscher, Methoden, Bd. 2, S. 151 ff. 54 Betont sei bereits hier, dass der Tatbestandsteil für die Bindingsche Norm zwar inhaltlich entscheidend sein kann, es aber nicht sein muss. Lediglich für den Fall, dass die Norm nur durch das Strafgesetz nachweisbar ist und jenes Strafgesetz nicht lediglich die Übertretung einer bereits bestehenden Norm sanktioniert, ergibt sich der Norm-
170
2. Teil: Bindings Normentheorie
Stellung bereits genommen. Der Imperativ wäre dann inhaltlich unabhängig von der Bestrafung seiner Übertretung. Wenn ihm im weiteren Verlauf dann der Beweis gelänge, dass der Umfang der Norm bei Entstehung mit dem und durch das Strafgesetz über den Tatbestand dieses Strafgesetzes hinausgehen kann und ein Entstehen von Normen als logische Voraussetzung anderer Rechtssatzarten oder als gesetztes Recht vorkommt, so stände seiner Sichtweise der Normen als von den Strafgesetzen abstrakte Rechtssätze nichts mehr im Wege. Das Auffinden bestimmter Folgen dieser Unabhängigkeit im Recht diente dann nur noch der Bestätigung seines Befunds. 1. Rechtsfolgenteil des Strafgesetzes als Grundlage eines Imperativs Ein Imperativ, der sich auf den Rechtsfolgenteil des Strafgesetzes gründet, liefe abermals auf eine Pflicht zur Strafduldung hinaus. Er hätte keinen anderen Inhalt als den bereits im Rahmen der Bedeutung der Strafgesetze besprochenen:55 „Ihr müsst die Strafe auf Euch nehmen, wenn Ihr die Voraussetzung der Strafverhängung erfüllt habt!“ 56
Der Unterschied zur obigen Diskussion besteht lediglich darin, dass diese Pflicht zur Strafduldung hier nicht „als angeblicher Inhalt der Strafgesetze sondern als ein von ihnen verschiedener Imperativ“ in den Raum gestellt wird.57 Nicht nach dem Inhalt der Strafgesetze wird gesucht, sondern nach der dahinterliegenden Verhaltensbestimmung, die allerdings in diesem Fall wieder in einem Rückbezug auf die Strafgesetze bestände. Aufgrund des gleichbleibenden Inhalts ist es wenig überraschend, dass auch die Begründung für Bindings Ablehnung eines derartig formulierten Imperativs entsprechend ausfällt. Allerdings führt er sie hier etwas weiter aus, was damit zusammenhängen wird, dass der von ihm bekämpfte Strafgesetz-Imperativ immerhin noch ein dahinterstehendes Ver- oder Gebot als Norm denkbar erscheinen ließe. Bestände aber, wie es hier besprochen wird, gerade jene dahinterliegende Norm selbst bloß in einer Strafduldungspflicht, so bliebe für die entscheidenden Ver- oder Gebote kein Raum mehr.
inhalt nur aus dem Tatbestandsteil des Strafgesetzes. Dennoch ist er in aller Regel nicht identisch mit diesem: Aus dem Tatbestandsteil lässt sich auf ein Rechtsgut im Sinne Bindings schließen, das von der Norm vollumfänglich (Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 53 ff., 353) geschützt wird, während der Tatbestandsteil es zumeist nur zu einem Teil, beispielsweise hinsichtlich vorsätzlicher Verletzungen, schützt. Der Umfang der Norm geht also nicht zwingend, aber in der Regel über den Umfang des Tatbestandsteiles des Strafgesetzes hinaus, obwohl sein Inhalt entscheidend für die Norm sein kann. Siehe dazu genauer u. S. 180 ff. 55 Siehe o. S. 160 f. 56 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 37. 57 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 37.
C. Nachweis der Norm als eigenständiger Rechtssatz
171
Während es an anderer Stelle also „nur“ um die positive Bestimmung des Strafgesetzes aus dem normentheoretischen Blickwinkel Bindings geht, handelt dieser Abschnitt von den Normen selbst, auf denen große Teile seiner Strafrechtsdogmatik beruhen. Er stellt zunächst lapidar fest: „Wir sind gewohnt das Verbrechen als verboten zu betrachten“.58
Indes: „[W]äre jener Befehl [sc. einer Strafduldung] der richtige, so läge ein solches Verbot des künftigen verbrecherischen Handelns gar nicht, sondern nur eine Berücksichtigung der begangenen Tat vor. Der Verbrecher, der die Strafe auf sich nähme, hätte seine Rechtspflicht erfüllt.“ 59
Die Rechtspflicht des Rechtsunterworfenen bestände danach nicht etwa in der Nichterfüllung des strafgesetzlichen Tatbestandes, sondern darin, „[a]lles tun zu müssen um die Bestrafung herbeizuführen: sich also selbst anzuzeigen, gegen sich selbst auszusagen, sich freiwillig zum Verfahren und zum Strafvollzug zu stellen, andererseits Alles zu unterlassen um sich der verdienten Strafe zu entziehen: lauter Pflichten, von denen unser positives Recht nichts weiss.“ 60
Die Annahme einer unter ausschließlicher Bezugnahme auf die Strafsanktion gebildeten Norm halte also einem Blick in das positive Recht nicht stand. Binding argumentiert hier freilich etwas ungenau, wäre die inhaltliche Bestimmung der Normen doch gerade eine solche des positiven Rechts. Mit anderen Worten: Steckte hinter jeder Strafsanktion ein rechtlicher Befehl zur Strafduldung, so wäre das positive Recht selbstverständlich voll von Strafduldungsbefehlen. Mit wesentlichen Prinzipien des Strafprozessrechts ständen diese Normen dann allerdings tatsächlich in einem kaum auflösbaren Widerspruch.61 Bindings Argument lautet also darauf, dem positiven Recht könne nicht sinnvoll ein derartiger Norminhalt unterstellt werden. Bestände die Norm nur in einer Pflicht der Strafduldung, würde dem Recht zudem eine neutrale Haltung gegenüber der Tatbestandserfüllung eines Strafgesetzes attestiert; alleinig von Belang wäre die nachfolgende Erfüllung der Strafduldungspflicht. Offenkundig gehe es dem Recht aber um das Ge- oder Verbot der im Strafgesetz dargelegten Handlung selbst, weshalb eine Norm nur unter Bezugnahme auf den Straffolgenteil des Strafgesetzes ausgeschlossen sei. An dieser Stelle tritt wieder deutlich hervor, mit welcher Selbstverständlichkeit Binding das Recht als Idealentität im Sinne eines umfassenden und kohärenten Wertungssystems sieht. 58
Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 37. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 37; Hervorhebung hinzugefügt. 60 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 37 f. 61 Man denke nur an nemo tenetur se ipsum accusare sowie das Recht des Angeklagten, die Unwahrheit zu sagen, um einer Verurteilung zu entgehen. 59
172
2. Teil: Bindings Normentheorie
2. Imperativ als Zusammenhang zwischen Rechtsfolgenteil und Tatbestand des Strafgesetzes Allein aus dem Straffolgenteil des Strafgesetzes lässt sich also für Binding kein Imperativ bilden, der im Recht Widerhall fände. Keinesfalls ist damit aber schon nachgewiesen, dass der Rechtsfolgenteil des Strafgesetzes ganz ohne Einfluss auf die Formulierung des Imperativs sein muss. Binding untersucht auch die Möglichkeiten einer nicht ausschließlichen Bezugnahme des Ver- oder Gebots auf die Straffolge. Für diesen Fall einer wesensmäßigen Verknüpfung von Geoder Verbot mit der Strafdrohung entständen beide dann zwingend gleichzeitig,62 womit wiederum eine echte Abstraktion der Norm vom Strafgesetz nicht vorläge. Die Strafdrohung wäre danach „nicht bedingt durch ein begrifflich ihr vorausgehendes Verbot der dann erst unter Strafe gestellten Handlung“,63 sondern würde einen Teil dieses Verbots selbst ausmachen. Binding sieht zwei denkbare Wege einer solchen Verknüpfung. Eine Möglichkeit hebt die Bedeutung der Strafe als besondere Last des Staates hervor: Man solle etwas tun oder unterlassen, um den Staat nicht in die missliche Lage zu bringen, den Zuwiderhandelnden strafen zu müssen [a)]. Alternativ könne die Verhaltensanweisung auch rein formal an die Strafe gekettet sein, so dass nur dann von einem Ge- oder Verbot auszugehen wäre, wenn eine Strafe vorgesehen ist [b)]. a) „Du sollst nicht, wenn du nicht willst, dass ich dich strafe.“ In dieser Version einer Verknüpfung des Imperativs mit der Strafandrohung werden dem Rechtsunterworfenen lediglich die Folgen einer bestimmten Handlungsweise aufgezeigt, ohne diese selbst kategorisch zu untersagen: „Man könnte aus dieser Verbindung ein bedingtes Verbot in der Weise bilden: ,Ihr sollt keinen Diebstahl begehen, wenn ihr nicht mich, den Staat, zur Ausübung seiner Strafpflicht gegen Euch nötigen und selbst die Erduldung von Strafübeln gewärtigen wollt. Willigt Ihr in letztere Bedingung, so mögt Ihr handeln, wie es Euch beliebt.‘“ 64
Es soll sich in diesem Fall also nicht um ein Ge- oder Verbot im eigentlichen Sinne handeln. Stattdessen werde den Rechtsunterworfenen „der wolgemeinte Rat erteilt es aus Rücksichten auf den Staat oder auf die eigene Bequemlichkeit zu unterlassen.“ 65 Ins Zentrum der Überlegungen rückt somit für Binding eine freie Entscheidung des Täters, die durch die Strafandrohung lediglich beeinflusst werden soll. Solchermaßen bedingte Imperative finden sich hauptsächlich bei Vertretern der „Warnungstheorie“ Anton Bauers (1772–1843),66 der die Andro62 63 64 65 66
Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 38. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 38. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 38. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 39. Grundlegend A. Bauer, Die Warnungstheorie, 1830.
C. Nachweis der Norm als eigenständiger Rechtssatz
173
hung und den Vollzug der Strafe als Mittel fortgesetzter Erziehung des Menschen begreift. Der Mensch soll dabei insoweit als „vernünftig-sinnliches Wesen“ 67 in den Mittelpunkt rücken, als dessen freie Selbstbestimmung nicht mehr durch einen unbedingten Imperativ beschränkt wird, sondern lediglich die Folgen einer bestimmten Handlung in Aussicht gestellt werden. Einen derartigen „Imperativ“ bezeichnet Binding jedoch ohne weitere Erläuterung als in „Form und Inhalt [. . .] widersinnig“.68 Gemeint ist wohl einerseits die Möglichkeit eines Imperativs, der nicht im eigentlichen Sinne gebietet (Form) und andererseits der für Binding offenkundige Wille des Gesetzes, unbedingt zu ge- oder verbieten (Inhalt). Letzteres wird wenigstens in einer Fußnote69 etwas deutlicher, in der er Heinze darin beipflichtet, „die bereitwillige Erduldung der Strafe nähme“ bei einem solchen Imperativ „die Eigenschaft einer Gegenleistung [. . .], das verbrecherische Handeln [. . .] den Charakter eines Rechtsgeschäfts an.“ 70 Die Gründe der Ablehnung Bindings sind also ähnlich gelagert wie bei der psychologischen Zwangstheorie: Stellt die Rechtsordnung dem Delinquenten eine bestimmte Strafe oder einen bestimmten Strafrahmen verbindlich in Aussicht, sieht Binding darin eine unwürdige Verhandlung über den Rechtsbruch, ein „Pacisciren“ 71 mit dem Verbrecher. Dass Binding sich auf eine derartig kurze Ablehnung beschränken zu können glaubt, sollte nicht verwundern. Zum einen sind zahlreiche gegen die Straftheorie Feuerbachs gerichtete Kommentare auf die mit ihr verwandte „Warnungstheorie“ übertragbar. Zum anderen wurde die „Warnungstheorie“ schon zur Zeit der ersten Auflage der „Normen“ (1872) nur noch vereinzelt vertreten. Einer ausführlichen Auseinandersetzung mit ihr hat es schon aus diesem Grund kaum noch bedurft. b) „Du sollst nicht bei Strafe.“ In diesem Fall ist das Ver- oder Gebot zwar nicht identisch mit dem Strafgesetz. Das dahinterliegende und hier im Gegensatz zum obigen Beispiel unbedingte72 Ge- oder Verbot ist aber wesensmäßig mit der Strafe verknüpft und damit nur ein solches im Rechtssinne, wenn es mit einer Strafandrohung versehen ist. Ohne die Rechtsfolgen wäre der untersuchte Imperativ nicht verbindlich.73 67
A. Bauer, Die Warnungstheorie, S. 172. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 39. 69 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 39, Fn. 6. 70 Heinze, GS 13 (1861), S. 397 (420). Wohl in Anspielung auf den bei Aulus Gellius, Noctes Atticae, 20.1.13 überlieferten Fall des wohlhabenden Lucius Veratius, der sich die feste Bußgeldsumme für leichte Körperverletzungen von 25 As zunutze machte und zum eigenen Vergnügen wahllos Menschen auf dem Forum ohrfeigte, fragt Heinze: „Wieviel kostet eine Ohrfeige?“ 71 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 175 f. 72 Zu den wenigen Fällen echter bedingter Normen siehe u. S. 176 f. 73 Vgl. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 39. 68
174
2. Teil: Bindings Normentheorie
Binding beschreibt alle drei denkbaren Varianten der Verknüpfung eines unbedingten Ge- oder Verbots mit der Strafdrohung: Die Verbindlichkeit der Norm könnte sich in diesem Fall nur entweder durch den gesetzlichen Hinweis auf eine bestimmte Strafe, auf die Strafbarkeit überhaupt oder auf irgendeine Rechtsfolge ergeben.74 Da sich die Schuld des Täters nur auf die Zuwiderhandlung beziehen kann, ist die Formulierung der Norm als das Objekt dieser Zuwiderhandlung entscheidend für die inhaltliche Ausgestaltung des Schuldvorwurfs. Dieser Erkenntnis trägt Binding Rechnung, wenn er die Folgen der drei diskutierten Möglichkeiten eines Bezugs der Norm auf den Sanktionsteil des Strafgesetzes skizziert: Der Vorsatz müsse im ersten Fall das Wissen um die spezifischen Rechtsfolgen, im zweiten das Bewusstsein einer Strafe als Rechtsfolge und im dritten wenigstens noch das Bewusstsein einer Rechtsfolge überhaupt umfassen. Es sei aber fraglich, mit welcher Begründung der zu bildende Imperativ in einer der angegebenen Arten an die Rechtsfolgeseite des Strafgesetzes gekettet werden sollte. Zum einen könne damit der Zweck verfolgt werden, die „Uebel, die der Handelnde durch seine Handlung auf sich selbst herauf beschwören würde“, besonders hervorzuheben.75 Von Seiten des Staates betrachtet könne es auch darum gehen, die Rechtsunterworfenen auf die „Pflichten, welche dem Staate aus ihrer verbrecherischen Handlung erwüchsen“, hinzuweisen.76 Für die jeweilige Formulierung des Imperativs bedeuteten diese unterschiedlichen Ansatzpunkte den Unterschied zwischen „,Du sollst nicht töten bei Todesstrafe‘“ und „,Du sollst nicht töten, weil dich der Staat strafen muss‘“.77 In letzterem Falle hätte „die Unterlassung [. . .] nicht aus Rücksicht auf das Leben der Mitmenschen sondern aus Rücksicht auf den im entgegengesetzten Falle zur Strafe verpflichteten Staat zu geschehen.“ 78 Das wiederum sei offenkundig nicht Sinn des Gesetzes. Läge der ihm wesentliche Grund eines Verbots einzig in der staatlichen Last des Strafens, so fiele das Verbot selbst mit jener Strafpflicht. Eine „sofortige Flucht“ mit sicherer Aussicht auf Erfolg, die dem Staat die Erfüllung seiner Strafpflicht unmöglich machte und ihn damit auch nicht mit dem Strafvollzug belaste, müsste konsequenterweise die Unterlassungspflicht selbst beseitigen. Materieller Kern beispielsweise der §§ 211 ff. RStGB sei aber doch der Schutz des Lebens anderer und nicht der Staatsschutz.79 74 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 40. Problematisch an der zweiten genannten Variante sei jedoch, „dass Straffolgen äusserlich oft genug den Rechtsfolgen des Civilrechts täuschend ähnlich sehen“. 75 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 41. 76 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 41. 77 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 41. 78 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 41. 79 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 41. Indem Binding auf den materiellen Verbrechenskern verweist und diesem den bloßen Staatsschutz gegenüberstellt, kritisiert
C. Nachweis der Norm als eigenständiger Rechtssatz
175
Der einzige weitere denkbare Grund einer festen Verbindung zwischen Rechtsfolge und dem Ge- oder Verbot selbst sei danach, dass „die Androhung der Rechtsfolgen das einzig taugliche Gorgonenhaupt abgäbe um die Menschen vom verbrecherischen Handeln zurückzuhalten.“ 80 Das Recht könne die Beschränkung seiner Verbindlichkeit auf die mit Rechtsfolgen ausgestatteten Normen also nur wollen, wenn es die einzige Art der Einwirkung auf das Verhalten der Rechtsunterworfenen darstellte. Wiederum widmet sich Binding dieser Möglichkeit nur kurz, behandelt insbesondere kaum ihren Zusammenhang mit der Frage nach der rechtlichen Qualität von leges imperfectae, da ja zumindest im hier diskutierten Fall eines Nachweises der Norm aus dem Strafgesetz eine Zuwiderhandlung sanktioniert wäre. Ein einziger Punkt genügt aus seiner Sicht zur Widerlegung der beschriebenen Sichtweise: Schon die „regelmässige Hoffnung des Verbrechers nicht entdeckt zu werden“ spreche dagegen.81 Streng genommen bestreitet Binding damit natürlich nur die Effektivität der Präventionswirkung einer Strafandrohung.82 Er hält das Argument an dieser Stelle dennoch für zureichend, weil die spezielle Begründung einer Zusammengehörigkeit von Sanktion und Imperativ, die er hier bespricht, bei genauerem Hinsehen kaum tragen kann. Varianten, die diesen Zusammenhang durch eine bestimmte Straftheorie begründen, hat er bereits diskutiert. In der nun vorgetragenen Begründung soll ein solcher Zusammenhang zwingend sein, weil eine rechtliche Wirkung jenseits der Sanktion gar nicht denkbar sei. Soweit ein Rechtsunterworfener in dem Glauben agierte, sein Handeln würde nicht sanktioniert werden, wäre dem Recht danach keinerlei Wirkung beizumessen. So spricht Binding mit dem zitierten Argument letztlich einen einfachen Glaubenssatz aus, nach dem Recht auch dort Wirkung entfalte, wo es nicht sanktioniere, da Rechtsunterworfene sonst schon aufgrund ihrer regelmäßigen Erwartung, unentdeckt zu bleiben, häufiger delinquierten. Wenn Binding behauptet, die Sanktionierung sei nicht „das einzig taugliche Gorgonenhaupt“ zur Erzeugung normgemäßen Verhaltens,83 so beschreibt er damit in der
er gerade einen Punkt, der von Gegnern der Normentheorie gerne gegen diese bemüht wird. Ein häufiger Vorwurf geht dahin, der Normentheorie eine formalistische Reduktion der Verbrechen auf bloße Rechtsverletzungen zu unterstellen und den materiellen Kern der Verbrechen zu unterschlagen (siehe u. S. 265 ff.). Dass Binding dieses Argument nie nachvollziehen konnte, die primäre Betrachtung des Verbrechens als Rechtsverletzung vielmehr als zwingend und gut vereinbar mit einer Rechtsgutslehre ansah, lässt sich bereits durch die vorgestellte Kritik Bindings erahnen. 80 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 41. 81 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 41 f. 82 Bindings Kommentare zur Präventionswirkung der Straffolge sind insgesamt uneinheitlich. Während er an manchen Stellen die Präventionswirkung grundsätzlich in Abrede zu stellen scheint (vgl. z. B. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 41 f.), bestreitet er im Anhang des ersten Bands der „Normen“ lediglich die Wesentlichkeit der Präventionswirkung für das Strafrecht (ebd., S. 501 f.). 83 Binding, Handbuch, S. 41.
176
2. Teil: Bindings Normentheorie
Sache nichts anderes als Thon, der von einer „idealen Macht“ des Rechts spricht, die die Sanktionstheoretiker nicht genügend würdigten.84 Wiederum offenbart sich in der Argumentationsweise Bindings vor allem sein besonderes Rechtsbild: Das Recht ist einzig von einem sehr weit verstandenen Willen des staatlich organisierten Gemeinwesens85 abhängig, dessen Wertungen nicht formal eingeschränkt werden. Binding sieht eine normative Kraft des Rechts jenseits von Sanktionierungen oder zufälligen Übereinstimmungen mit sozialen oder ethischen Normen. Diese kann nur auf der Quelle des Rechts beruhen: Menschen erkennen den rechtserzeugenden Willen als maßgebliches Instrument ihres Zusammenlebens an und tendieren daher allein aufgrund der besonderen Autorität des Willens zu normgemäßem Handeln. Die eigentliche Grundvoraussetzung der Normenlehre wird damit leider gar nicht angesprochen, sondern als eine rechtstheoretische Selbstverständlichkeit abgehandelt, die sie auch zur Zeit Bindings nicht war. Die Entscheidung für die Norm als abstrakter Imperativ fällt nicht aufgrund der dargestellten strafrechtstheoretischen Argumente Bindings, sondern im Bereich der allgemeinen Rechtslehre. 3. Imperativ allein unter Beachtung des Tatbestandsteiles des Strafgesetzes Im Ausschlussverfahren glaubt Binding nun die richtige Grundform des gesuchten Imperativs gefunden zu haben: „Ihr sollt nicht oder Ihr sollt!“ 86 Diese Fassung ermögliche es, „dass jenes Gebot nicht aus anderweitigen Rücksichten sondern um Vermeidung der bezeichneten Handlung Willen erlassen ist und dass der Widerspruch der verbotenen Handlung gegen das Verbot dadurch nicht im Mindesten alterirt wird, dass diese Handlung für den Täter Rechtsfolgen nicht herbeigeführt hat.“ 87 Beim Nachweis der Norm aus dem Strafgesetz spielt die Straffolge damit nur insofern eine Rolle, als sie logisch ein Ge- oder Verbot voraussetzt; die Formulierung dieser Norm habe jedoch aus den genannten Gründen unter striktem Ausschluss der Straffolge zu geschehen. Dennoch erkennt Binding bedingte Normen durchaus an. Als Beispiel führt er die § 360 Abs. 1 Nr. 10 RStGB zugrundeliegende Norm an,88 nach der eine ent84 Thon, Rechtsnorm, S. 6; vgl. dazu auch Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 431. 85 Vgl. Binding, Handbuch, S. 198, Fn. 6. 86 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 42. 87 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 43. 88 Vgl. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 126. Nach § 360 Abs.1 Nr. 10 RStGB in der bis zum 31.8.1935 gültigen, am 1.1.1872 in Kraft getretenen Fassung wurde bestraft, „wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Noth von der Polizeibehörde oder deren Stellvertreter zur Hülfe aufgefordert, keine Folge leistet, obgleich er der Aufforderung ohne erhebliche eigene Gefahr genügen konnte“.
C. Nachweis der Norm als eigenständiger Rechtssatz
177
sprechende Hilfshandlung nur dann als rechtlich gesollt gelten kann, wenn ein Unglücksfall vorliegt, der Normbetroffene von der Polizeibehörde oder deren Stellvertreter zur Hilfe aufgefordert wurde und er diese Hilfe ohne erhebliche eigene Gefahr leisten kann. Der Unterschied zu den diskutierten Modellen wird sofort deutlich: Die Bedingung, unter der das Verhalten gesollt ist, ist hier in keiner Weise mit der Strafdrohung verbunden. Wenn im Folgenden von der unbedingt-imperativistischen Form Bindingscher Normen gesprochen wird, so bezieht sich dies nur auf die Abwesenheit von Bedingungen, die aus dem Sanktionsteil des Strafgesetzes herrühren. Auf die eher seltenen Fälle anderweitig bedingter Normen kommt es für die Belange der vorliegenden Arbeit nicht weiter an. 4. Zusammenfassung und Einordnung der bisherigen Ergebnisse Schon die Sprachlogik des Gesetzes gebietet für Binding eine begriffliche Trennung zwischen Verbot und eventuell daran geknüpfter Straffolge. Diese geregelte Straffolge hat den einen wesentlichen89 Zweck, dem Staat bei Zuwiderhandlung ein Strafrecht entstehen zu lassen, mit der eine Strafpflicht einhergehen soll. Es handelt sich bei den Strafgesetzen für Binding somit um berechtigende („bejahende“) Rechtssätze. Die davon begrifflich zu trennenden „Normen“ sind für ihn in keiner Weise wesentlich mit den Strafgesetzen verbunden. Die Strafgesetze bilden lediglich eine Beweismöglichkeit für die Normen und versehen sie mit einer Rechtsfolge. Der Imperativ, den die Norm darstellt, ist jedoch zwingend unter striktem Ausschluss der angedrohten Straffolge zu formulieren. Die für den Normnachweis einzig relevante Funktion der Straffolge ist ihre logische Voraussetzung einer Norm. Wenn sich das rechtliche Verbot ausschließlich in dieser Rechtsfolgenandrohung äußert – ist das Strafgesetz also einmal einziger Ausdruck der Norm –, dann ist das Strafgesetz zwar Entstehungsgrund der Norm. Nach dem gleichzeitigen Entstehen der Norm ist diese vom Strafgesetz aber wesentlich unabhängig. Auch in diesem Fall nimmt die Straffolge keinerlei Einfluss auf die Formulierung der Norm. Unter den Prämissen des Bindingschen Rechtsverständnisses ist diese Konzeption konsequent: Das Recht setzt darin problemlos eine Kategorie abstrakter Verbindlichkeit voraus. Für eine wesensmäßige Verbindung mit dem Sanktionsteil des Strafgesetzes besteht dann kein logisches oder teleologisches Bedürfnis. Die Bindingsche Formulierung der Norm ohne Rückgriff auf den
89 Ein weiterer, ihr nicht wesentlicher Nebenzweck besteht freilich in der sicheren Erkenntnis der Rechtsqualität des zugrundeliegenden Verbots. Weiß der Delinquent, dass ein von ihm übertretenes Verbot mit strafrechtlichen Konsequenzen ausgestattet ist, „so liegt darin nicht nur ein Indiz sondern voller Beweis dafür, dass ihm jene Gebote als Rechtsgebote bekannt sind.“ (Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 44).
178
2. Teil: Bindings Normentheorie
Sanktionsteil, das heißt als kategorisches Ge- oder Verbot, entspricht bis heute der herrschenden Meinung in der Rechtswissenschaft.90
II. Mittelbarer Nachweis der Norm „aus dem Bedürfnisse“ Das Strafgesetz ist für Binding eine Beweismöglichkeit der Norm: Eine Handlung, die unter Strafe gestellt ist, muss zuvor verboten sein. Der logisch vorausgesetzte Imperativ ist die Norm. Die genauere Untersuchung des Strafgesetzes als Nachweismöglichkeit brachte zudem die Erkenntnis, dass der Imperativ unabhängig vom Strafsanktionsteil des Strafgesetzes gebildet werden müsse. Zur genaueren Klärung der Form und des Inhalts der Norm führt Binding nun eine zweite „Nachweismöglichkeit“ auf und betitelt diese etwas unglücklich mit dem „mittelbaren Nachweis aus dem Bedürfnisse“.91 Dieser Titel hat vielfach zu Missverständnissen geführt. Er legt nahe, dass allein aus einem irgendwie zu bestimmenden, gesellschaftlichen oder anderweitigen „Bedürfnis“ der Schluss auf einen Rechtssatz, die Norm, gezogen werden darf – nach dem rechtspositivistischen Ansatz Bindings undenkbar! In neuerer Zeit schreibt beispielsweise Naucke hierzu, Binding mache „den Inhalt des positiven Strafrechts von darunter liegenden sozialen Normen abhängig“ und verweist hierzu auf die Passage über den Normnachweis „aus dem Bedürfnisse“.92 Tatsächlich behandelt Binding unter dieser Überschrift jedoch eine andere Frage, die vor allem der Tatsache geschuldet ist, dass er die meisten Normen als logisch vorausgesetzte Rechtssätze dem ungeschriebenen Recht zuordnet. Aus dem Nebeneinander von Norm und Strafgesetz ermittelt er den objektiven Rechtswillen: Das Strafgesetz soll dem Staat bei Zuwiderhandlung gegen die Norm ein Strafrecht entstehen lassen; die Norm sei demgegenüber ein spezifisches Verhalten zu verhindern bestimmt, soll also präventiv wirken. Aus dieser Zielsetzung schließt Binding zurück auf die nähere Ausgestaltung der Norm. Bei dem „Nachweis der Norm aus ihrem Bedürfnisse“ handelt es sich in Wahrheit lediglich um eine teleologische Ermittlung ihrer Form (1.) und ihres Inhalts (2.). Die Existenz eines verbindlichkeitsbegründenden Rechtssatzes soll in der vorliegenden Überlegung bereits feststehen. Sie muss stets bereits ermittelt worden sein, um den Zweck des Rechtssatzes zu bestimmen. Sie wird also nicht im eigentlichen Sinne aus dem „Bedürfnisse“ entwickelt, sondern lediglich kontu90 Vgl. etwa Biewald, Regelgemäßes Verhalten, S. 36 f.; Engisch, Einführung, S. 67 ff.; Hruschka, Rechtstheorie 22 (1991), S. 449 (450). Als hypothetische Urteile werden Normen etwa bei Eltzbacher, Rechtsbegriffe, S. 28 sowie bei Kelsen, Reine Rechtslehre, 1. Aufl. 1934, S. 22 ff. gefasst. 91 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 51. 92 Vgl. Naucke, in: Czeguhn u. a. (Hrsg.), Eugenik und Euthanasie, S. 71 (73); Hervorhebung hinzugefügt.
C. Nachweis der Norm als eigenständiger Rechtssatz
179
riert.93 An keiner Stelle schließt Binding allein aus sozialen oder ethischen Zweckmäßigkeiten auf Normen. Er selbst weist stattdessen in aller Deutlichkeit auf die Gefahr einer solchen Vorgehensweise hin: „Es gilt die Begriffe der Rechtswidrigkeit einer Handlung und Unverträglichkeit einer zur Zeit unverbotenen Handlung mit den Interessen eines geordneten Rechtslebens scharf aus einander zu halten.“ 94
1. Nachweis der unbedingt-imperativistischen Form der Norm Bereits oben wurde ermittelt, dass die Bindingschen Normen im Gegensatz zu den Strafgesetzen dazu dienen, eine bestimmte Handlung des Rechtsunterworfenen herbeizuführen oder zu unterbinden. Sofort stellt sich damit die Frage, wie die Norm sinnigerweise aussehen müsse, um ihr rechtlich vorgesehenes Ziel zu erreichen. Binding gelangt schnell zu einer Antwort: Die Form der Norm müsse „die des Befehls, ihr Inhalt Verbot oder Gebot der Handlung, welche geschehen oder unterbleiben soll“ sein,95 weil schlechterdings keine Form zweckmäßiger sei, „um den Untertanen die Pflichten klar zu legen“.96 Noch deutlicher wird er an anderer Stelle: „Ihre Form erklärt sich aus ihrem Zwecke: die Handlungen, die sie untersagt oder anbefiehlt, sollen schlechthin unterbleiben oder geschehen.“ 97 Mit dieser Argumentation erhellt sich schlagartig der missverständliche Ausdruck des Nachweises „aus dem Bedürfnisse“:98 Es handelt sich um ein Bedürfnis des Rechts, zu dessen Befriedigung die Norm dienen soll. Im Sinne der Auslegungstheorie Bindings wird in einer teleologischen Interpretation vom objektiv ermittelten Zweck der Rechtssätze auf ihre Form geschlossen.99 Es handle sich bei Normen stets um an die Rechtsunterworfenen gerichtete Imperative, die eine 93 Auch der Kommentar Bindings, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 51, es stehe „zu erwarten, dass jene Befehle [sc. die Normen] nicht immer unmittelbar vom Gesetzgeber ausgehen werden“, sollte nicht als rechtspositivistisch inkonsequent missverstanden werden. Es wird lediglich auf eine weitere Erscheinungsform der Norm hingewiesen. Binding spricht hier einen juristischen Allgemeinplatz aus, den er mit der Normentheorie in Zusammenhang bringt: Gesetze sind ungeeignet, konkrete Befehle für sämtliche Lebenslagen zu formulieren. Die vielschichtigen tatsächlichen Verhältnisse vermag der Gesetzgeber, wie Binding es beschreibt, schlechterdings „nicht a priori zu regeln“. Aus diesem Grund würden bestimmte Normen in diesen Bereichen „nicht selten in den Organen der abgeleiteten Gesetzgebungsgewalt ihre Quelle finden müssen“. Bindings eigentlicher Punkt besteht darin, dass „dieser Unterschied des Urhebers der Norm [. . .] auf Form und Inhalt derselben nicht zurückwirken“. 94 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 132 f. 95 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 51. 96 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 51. 97 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 125. 98 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 51. 99 Gleich der erste Satz dieses Abschnitts bei Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 51 lautet: „Die Mittel des Gesetzgebers sind seinem Zwecke genau angepasst.“
180
2. Teil: Bindings Normentheorie
Handlung schlechthin verböten oder geböten, da keine andere Form den beschriebenen Zweck – die Herbeiführung oder Vermeidung bestimmter Handlungen – so effektiv erreichen könne. Sollten die Handlungen nicht „schlechthin“, sondern nur verknüpft mit einer Strafandrohung unterbleiben oder geschehen, schränkte die Rechtsquelle die Effektivität ihrer Regelung nach Bindings Argumentation ohne Not ein. Die Rechtsquelle aber hebt den Wert bestimmter Güter durch ihre Anerkennung als Rechtsgüter doch gerade allgemein hervor; sie sieht diese Güter als schützenswert im Rahmen der von ihr gewollten Ordnung und hat daher keinen Grund, Normen beispielsweise konditional mit Blick auf die Strafe auszugestalten. Der von ihr verfolgte Zweck eines umfassenden Rechtsgüterschutzes würde ohne Grund nur defizitär verfolgt, wenn die Rechtsquelle keinen unbedingten Imperativ an die Rechtsunterworfenen richtete, sondern stattdessen wertungsfrei Rechtsfolgen in den Raum stellte. Die oben beschriebene allgemeine Form der Norm sieht Binding daher als die zur Erfüllung ihres Zwecks ideale. Die häufig fehlinterpretierte Stelle der „Normen“ stellt nichts anderes dar als die Zweckmäßigkeit der bereits durch den mittelbaren Nachweis der Norm aus dem Strafgesetz nahegelegten Form eines schlechthin ge- oder verbietenden Imperativs. Da Normen zumeist dem ungesetzten Recht angehören, uns das geschriebene Recht in diesen Fällen also nicht das Gegenteil beweisen kann, schließt Binding auf diejenige Form, die im Hinblick auf das zu befriedigende rechtliche Bedürfnis anzunehmen sein wird. Binding selbst nennt den Nachweis daher auch ausdrücklich einen „Wahrscheinlichkeitsbeweis“.100 Der hier besprochene, mittelbare Nachweis ist somit nicht mehr als ein bestätigendes Indiz für die unbedingt-imperativistische Form Bindingscher Normen. 2. Nachweis des weiten Umfangs der Norm Binding glaubt allerdings, auch inhaltliche Aussagen über die Norm „aus dem Bedürfnisse“ herleiten zu können. Wiederum kann es dabei nicht um die Existenz einer bestimmten Norm gehen: Den „Wahrscheinlichkeitsbeweis“ sieht Binding nur durch das Vorhandensein ungeschriebener Normen gerechtfertigt, deren Form und Umfang es noch zu ermitteln gelte. Sein teleologischer Schluss auf einen vollständigen Schutz des Rechtsguts durch die Norm wirkt sich sowohl auf die möglichen Schuldformen bei der Deliktsbegehung [a)] als auch auf die möglichen Subjekte eines Delikts [b)] aus. Die Argumentation zum Umfang der Norm verläuft jeweils analog zu Bindings Begründung der imperativistischen Form der Norm.
100
Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 51.
C. Nachweis der Norm als eigenständiger Rechtssatz
181
a) Die Norm richtet sich gegen Zuwiderhandlungen in beiden Schuldformen Jede Bindingsche Norm dient der Prävention der Verletzung eines Rechtsguts, das seinerseits selbstverständlich im positiven Recht verankert sein muss. So diene beispielsweise die § 303 Abs. 1 RStGB101 zugrundeliegende Norm der körperlichen Integrität jeder Sache, auf die sich ein fremdes Eigentumsrecht bezieht. Durch Anerkennung des Eigentumsrechts – nicht nur durch das Tatbestandsmerkmal „fremd“ in § 303 Abs. 1 RStGB – wird die Sache, auf die sich dieses Recht bezieht, für Binding zum Rechtsgut. Aus seiner Sicht muss das Recht, um sich nicht selbst zu widersprechen, das Rechtsgut fortan vollumfänglich schützen wollen.102 Nun setzt § 303 RStGB ein entsprechendes Beschädigungsverbot fremder Sachen zwar logisch voraus, umfasst das Rechtsgut aber mitnichten vollständig, da er nur die vorsätzliche Tatbestandserfüllung unter Strafe stellt.103 Wäre das Strafgesetz mehr als nur Beweis der Existenz der Norm, wären beide also im Umfang voneinander abhängig, so beschränkte sich auch das zugrundeliegende Verbot zwingend auf die vorsätzliche Sachbeschädigung. Hier wirkt sich Bindings Sichtweise einer von dem Strafgesetz abstrakten Norm aus: Als bloßer Rückschluss aus dem Tatbestand eines Strafgesetz ist lediglich (mindestens) eine Norm samt ihres Mindestumfangs, nicht jedoch ihr Gesamtumfang bewiesen. Das rechtliche „Bedürfnis“ eines umfassenden Rechtsgüterschutzes kann im gegebenen Beispiel für Binding nur durch einen weiten Normumfang erfüllt werden, der jede schuldhafte Sachbeschädigung erfasst. Bindings Argument setzt beim materiellen Kern der Verbrechen und Vergehen an, der in der Verletzung von subjektiven Rechten oder Rechtsgütern liege.104 Reduzierte man die Normen ihrem Umfang nach auf die Tatbestandsteile der Strafgesetze, so könnte der Zweck dieser Norm nicht mehr im Schutz dieser subjektiven Rechte oder Rechtsgüter liegen, die ja widersprüchlicherweise zum Teil schutzlos blieben. Hingen die Ausmaße der Rechtsgüter und der Schutzbereich 101 Der Text von § 303 Abs. 1 RStGB änderte sich seit seiner am 1.1.1872 in Kraft getretenen Ursprungsfassung bis zum 1.9.1969 nur in seinen jeweiligen Sanktionen. Der Tatbestand „Wer vorsätzlich und rechtswidrig eine fremde Sache beschädigt oder zerstört“ blieb bis dahin identisch. 102 Vgl. etwa Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 53 f. 103 Die rechtliche Situation unterscheidet sich von der heutigen nur insofern, als § 306d StGB nun auch die fahrlässige Sachbeschädigung zum Teil unter Strafe stellt. 104 Zu den nur eingeschränkten Möglichkeiten echter „Rechtsverletzungen“ siehe Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 292 ff. Wenn Binding im Übrigen von Rechts- oder Gesetzesverletzungen spricht, erlaubt er sich offen eine sprachliche Ungenauigkeit (vgl. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 294). Er bedient sich dieser Ungenauigkeit allerdings sehr häufig, vgl. etwa seine Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 65 f., 72, 98, 118, 133, 159, 186. Gemeint ist in diesen Fällen stets der mittelbare Angriff auf subjektive Rechte durch einen unmittelbaren Angriff auf ihre tatsächlichen Angriffsobjekte, die Rechtsgüter.
182
2. Teil: Bindings Normentheorie
der Normen nicht wesentlich zusammen, so entbehrten die Normen eines materiellen Kerns und „[d]ie Strafe würde nicht verhängt, weil ein Mensch einen der Rechtsquelle empfindlichen Nachteil durch schuldhaftes Handeln herbeigeführt hätte, sondern lediglich wegen des formellen Widerspruchs zwischen der Norm und dem Handeln.“ 105
Die materielle Auffüllung von Norm, Delikt und Verbrechen,106 die Binding mit seiner Rechtsgutstheorie gewährleisten will, wirkt sich hier auf den Normumfang aus. Schließt man nicht auf einen derartig weiten Normumfang, so missachte man das materielle Wesen des Delikts. Es würde reduziert auf ein Zuwiderhandeln gegen ein staatliches Gehorsamsrecht, das staatliche „Recht auf Botmässigkeit“. Eine Verletzung nur dieses Rechts ist in der Dogmatik Bindings Wesensmerkmal des Polizeidelikts,107 das sich infolge einer Beschränkung des Normumfangs daher nicht mehr wesentlich von den übrigen Delikten unterscheiden ließe. Vergehen und Verbrechen entbehren in Bindings Dogmatik jedoch nie eines derartigen materiellen Kerns; erst er erklärt den unterschiedlichen Strafrahmen der Strafgesetze.108 Eine Beschränkung des Normumfangs erscheint Binding daher widersprüchlich: Der Staat würde einerseits bestimmte Interessen zu Rechtsgütern erheben, diesen aber gleichzeitig ungezwungen den Schutzmechanismus des Rechts verweigern. Dem Staat falle „die sehr beschränkte Aufgabe zu die Integrität rechtlicher Güter sicher zu stellen gegen künftige Angriffe verantwortlicher Menschen.“ 109 Die im Hinblick auf diese Aufgabe einzig zweckmäßige Ausgestaltung des Normumfangs sei ein umfassendes Ge- oder Verbot. Da Binding keine rechtlichen Wertpostulate unterhalb von Normen anerkennt, ist dieser Widerspruch für ihn ein logischer, der sich mit dem Wesen des Rechts nicht verträgt. Die Rechtsquelle muss für ihn also sagen: „Ihr sollt überhaupt nicht töten, überhaupt nicht in Bigamie treten [. . .] u.s.w.!“ 110
Hinter jedem Rechtsgut steht danach eine Norm, die es vollumfänglich schützt. Wiederum macht sich die besondere Sichtweise Bindings bemerkbar, nach der das Recht ein weitläufiges, in sich logisches Wertungssystem beinhaltet, dessen 105
Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 53. Jede schuldhafte Zuwiderhandlung gegen eine Norm ist Delikt im Sinne Bindings. Fällt diese Zuwiderhandlung unter ein Strafgesetz, so liegt nach seiner Terminologie ein Verbrechen vor. Vgl. zu diesen Begrifflichkeiten beispielhaft Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 68, 131 ff. 107 Allerdings sind auch die Polizeidelikte (Ordnungswidrigkeiten) bei Binding letztlich nicht reine Gehorsamsübungen, sondern dienen ebenso dem Schutz der Rechtsgüter. 108 Vgl. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 366. 109 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 54. 110 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 54. 106
C. Nachweis der Norm als eigenständiger Rechtssatz
183
„latente“ Sätze es für die Rechtswissenschaft zu ermitteln gilt. Hinter der teleologischen Überlegung Bindings verbirgt sich eine unvollständige Induktion: Die für einen bestimmten Fall vorgesehene Sanktion der Verletzung eines Gutes wird zum Ansatzpunkt der Ermittlung eines allgemeinen juristischen Werts. Auch jenseits zivilrechtlicher Vorschriften, welche die positivrechtliche Existenz des Sacheigentums als juristischen Wert über jeden Zweifel erheben, genügte Binding bereits § 303 RStGB für die Herleitung des Rechtsgutes und der Norm, die es umfassend schützt. b) Die Norm richtet sich auch gegen den „Urheber“ Die vorgestellte Sichtweise Bindings lässt sich anhand seines Konzepts der „Urheberschaft“ weiter verdeutlichen: Bekanntlich sind bereits seit Entstehung des RStGBs die Formen der Teilnahme an einer Straftat in Anlehnung an Art. 59 des napoleonischen Code pénal111 auf die Anstiftung und die Beihilfe begrenzt.112 Binding jedoch kreiert ein logisches System, in dem diese Teilnahmemöglichkeiten nur einen speziell normierten Abschnitt bilden. Grundgedanke ist dabei, dass das Recht jede zurechenbare Tatbestandsverwirklichung verbieten will, also den gesamten Bereich der logisch denkbaren Verwirklichungsmodi abdeckt. So zeige die in § 160 RStGB113 geregelte Verleitung zur Falschaussage bereits zur Genüge, dass das Recht die Verursachung114 ohne Täterwillen durch-
111 Art. 59 des Code pénal lautete in der Ursprungsfassung von 1810: „Les complices d’un crime ou d’un délit seront punis de la même peine que les auteurs mêmes de ce crime ou de ce délit, sauf les cas où la loi en aurait disposé autrement.“ 112 Vgl. §§ 48 f. RStGB. 113 § 160 RStGB wurde seit Inkrafttreten des RStGBs am 1.1.1872 in seinem Tatbestandsteil („Wer einen Anderen zur Ableistung eines falschen Eides verleitet“) nicht verändert. 114 Die „Verursachung“ versteht Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 116 als eine „Veränderung des Gleichgewichts zwischen den sie abhaltenden und den zu ihr hinwirkenden Bedingungen zu Gunsten der Letzteren“ (Hervorhebungen aus dem Original nicht übernommen). Es handelt sich dabei um das Kausalitätskonzept seiner Dogmatik. Unter den vielen Ursachen eines Erfolgs sei eine qualitative Auswahl zu treffen, um so die „positive Hauptbedingung“ festzulegen (vgl. Binding, Normen, Bd. 2,1, S. 494). Diese „positive Hauptbedingung unterschiedet sich [. . .] von allen andern Bedingungen wesentlich dadurch, dass sie bei der bewussten Verursachung von Anfang an in Verursachungsabsicht [. . .] gedacht und gesetzt war, dass sie in allen Fällen die einzige Bedingung ist, die sich im Sinne der Tat zur Ursache auswachsen kann, und dass sie, wenn sie dies tut, ihren Schöpfer zum Urheber macht.“ (Binding, Normen, Bd. 2,1, S. 494). Auffallend nennt Binding im letzten Satz den Verursachenden „Urheber“. Der Widerspruch zur hier dargestellten Bindingschen Figur der Urheberschaft ist allerdings nur ein scheinbarer. In Bindings Nutzung des Begriffs lässt sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Wandel beobachten: Zwar dient die Urheberschaft stets dazu, den gesamten logisch denkbaren Rahmen der Verbrechenssubjekte auszuschöpfen. Während es in früheren Schriften bis zur 6. Auflage des Grundrisses AT, 1902, S. 134 noch heißt, es gebe
184
2. Teil: Bindings Normentheorie
aus auch über die Figur der Anstiftung hinaus kenne.115 Diesen weiten Begriff einer Verursachung fremder Tat nennt Binding „Urheberschaft“, welche folgerichtig in die strafbare Anstiftung und die nur ausnahmsweise strafbare übrige Urheberschaft zerfällt. Durch den aus Bindings Sicht missratenen Anstiftungsbegriff entstehende Strafbarkeitslücken des positiven Rechts kritisiert er scharf.116 In Bezug auf § 160 RStGB stellt er klar: „Obgleich unserm geltenden Rechte der Urheber-Begriff fremd ist, kennt es die Urheberschaft selbst in weitem Umfange.“ 117
Unter anderem an § 160 RStGB anknüpfend induziert Binding also mit der „Urheberschaft“ ein allgemeines Prinzip der bewussten Verursachung ohne Tä-
„nur zwei Typen des Verbrechers, den Urheber und den Gehülfen“, ist in späteren Schriften vom hier vorgestellten Modell die Rede, nach der sich die logisch denkbaren Verbrechenssubjekte in Täter, Urheber und Gehilfe aufteilen lassen (vgl. etwa Bindings Grundriss AT, 7. Aufl. 1907, S. 140 ff. sowie seine Abhandlungen, Bd. 1, S. 316 ff.). Binding will damit offenbar eine verwirrende Begriffsspaltung beheben: Umfasst die Urheberschaft jede Verursachung, so natürlich auch die Täterschaft. Der Verursacher ohne Täterwillen ist dann „nur“ Urheber ohne eine besondere Deklaration, derjenige mit einem solchen Willen Täter. Konsequenz ist damit letztlich eine Art „Urheberschaft i. w. S.“ als generelle Verursachung und „Urheberschaft i. e. S.“, die nur die Verursachung ohne Täterwillen meint. Die begriffliche Loslösung der Urheberschaft von der Täterschaft ist daher ein verständlicher Schritt. In dieser Untersuchung bezieht sich der Begriff der Urheberschaft ausschließlich auf das dogmatische Gegenstück Bindings zum Täter innerhalb der verursachenden Verbrechenssubjekte; es wird also der späteren Terminologie Bindings gefolgt. Für denjenigen, der die „positive Hauptbedingung“ im Sinne des Kausalitätsprinzips Bindings setzt, bleibt dann der weitere Begriff des „Verursachers“. 115 Binding, Normen, Bd. 2,2, S. 894; ders., Abhandlungen, Bd. 1, S. 365 f. 116 Die Anstiftung nach § 48 RStGB ist für Binding zum einen eine unzureichende Erfassung der Urheberschaft; zum anderen okkupiert sie aus seiner Sicht zu Unrecht auch einen Teil der mittelbaren Täterschaft, insofern nämlich die Nutzung vorsätzlicher „Werkzeuge“ als Anstiftung verstanden wird (vgl. Binding, Abhandlungen, Bd. 1, S. 356 u. 377). Als Anstifter i. S. d. § 48 RStGB werde schließlich nur derjenige „Urheber“ bestraft, dessen Vorsatz „auf Verwirklichung eines von ihm nach der Gedankenund Willensseite genau individualisierten Verbrechens“ ziele (Binding, Normen, Bd. 2,2, S. 892). Zudem müsse sich „der Vorsatz des Anstifters“ im Gegensatz zur allgemeinen Urheberschaft „darauf kaprizieren, dass seine Verwirklichung geschehen soll durch einen deliktisch und zwar mit den strafgesetzlich wesentlichen Eigenschaften der Täterschaft handelnden Täter.“ (ebd.). Weiterhin kritisiert Binding die nach § 48 Abs. 1 RStGB vorgesehene Abhängigkeit der Anstiftungsstrafbarkeit von der Strafbarkeit des Angestifteten. Der Gesetzgeber habe schlechterdings nicht erkannt, dass die Strafbarkeit der Anstiftung auf der Verursachung ohne Täterwillen – der Urheberschaft – fuße, und damit originär sei (vgl. Binding, Abhandlungen, Bd. 1, S. 329, 359 f., 366 f. u. 377). Es sei in diesem Zusammenhang daran erinnert, dass die Akzessorietät der Teilnahme zu Bindings Zeiten nach § 48 Abs. 1 RStGB noch eine unlimitierte war, d.h. eine strafbare Handlung des Angestifteten erforderlich war. Erst zum 15.6.1943 wurde die limitierte Akzessorietät eingeführt, die heute in §§ 26 f. StGB festgehalten ist. 117 Binding, Normen, Bd. 2,2 S. 886. Vgl. a. Binding, Grundriß AT, 8. Aufl. 1913, S. 161 und zum historischen Vorbild § 1414 II 20 PrALR (1794) Binding, Abhandlungen, Bd. 1, S. 366.
C. Nachweis der Norm als eigenständiger Rechtssatz
185
terwillen, dass zusammen mit der Täterschaft den gesamten Bereich der zurechenbaren Verursachung abdecken soll.118 Den Urheber charakterisiere „die Verursachung eines fremden Täterdelikts, und er verursacht dieses, entweder weil er selbst es nicht begehen kann, wie der Verleiter zum Meineid [. . .], oder es nicht begehen will, wie der Verleiter eines armen Teufels zu Diebstahl oder Betrug“,119 wenn der Verleiter selbst keinen Aneignungsvorsatz hat.120 Nur Urheber und nicht etwa mittelbarer Täter ist danach auch, wer „ohne den zur Täterschaft unentbehrlichen konkreten Täterentschluss“ einen Anderen zur Begehung einer Straftat bestimmt.121 Das letztlich Verursachte müsse weder von einem schuldhaften, noch auch nur handlungsfähigen Werkzeug unmittelbar ausgeführt worden sein;122 es dürfe dem Urheber „gleichgiltig sein, ob der Täter123 das Eine oder das Andere von zwei in der Vorstellung des Urhebers liegenden Delikten begeht“.124 Sogar eine „Urheberschaft in blanco“ 125 hält Binding für möglich. Beispielhaft führt er einen Redner an, der „zu sofortiger Rache an den Mitgliedern der gerichteten Gesellschaftsklasse oder der Gegen-Partei“ aufruft: „Er nennt kein Verbrechen beim Namen [. . .]; sein Vorsatz geht vielmehr dahin: die Erfinderischkeit der erhitzten Mitglieder der Versammlung – sie soll die Tätervorsätze zu den einzelnen Verbrechen aus ihrer Wut schaffen, das Blankett auszufüllen, was er ihnen gezeichnet hat, – und dann soll das Unheil seinen Lauf nehmen.“ 126
In allen anderen Fällen, in denen der einen Anderen zur Tat Bestimmende diese nicht als fremde will, selbst alle notwendigen Tätereigenschaften auf sich vereint und einen auf die bestimmte Tat konkretisierten Willen aufweist, liegt für Binding nicht Urheberschaft, sondern mittelbare Täterschaft vor. Binding versteht die mittelbare Täterschaft damit bedeutend weiter als die bis heute herrschende Lehre; einen „Defekt“ des Vordermanns hält er nicht für notwendig.127 Dieses System aus zwei verschiedenen Arten von Verursachern, dem Urheber und dem (mittelbaren oder unmittelbaren) Täter, erweitert Binding noch um ein 118
Binding, Normen, Bd. 2,2, S. 887. Binding, Normen, Bd. 2,2, S. 886 f. 120 Vgl. Binding, Grundriß AT, 8. Aufl. 1913, S. 161 sowie 148, Fn. 1. 121 Binding, Grundriß AT, 8. Aufl. 1913, S. 161. Vgl. dazu Binding, Normen, Bd. 2,2, S. 888: „Der Vorsatz des [. . .] mittelbaren Täters muss sich auf Begehung eines in seiner Vorstellung vollständig konkretisirten Deliktstatbestands richten: er ist ja ein Tätervorsatz. Der Urheber-Vorsatz kann es, muss es aber nicht.“ 122 Vgl. Binding, Normen, Bd. 2,2, S. 887, Fn. 4. 123 Da der „Täter“ nicht einmal handlungsfähig zu sein braucht, ist der Begriff natürlich ungenau, wie Binding, Normen, Bd. 2,2, S. 887, Fn. 4 auch selbst feststellt; er wird in Ermangelung eines besseren dennoch genutzt. 124 Binding, Normen, Bd. 2,2, S. 888. 125 Binding, Normen, Bd. 2,2, S. 888; gerade diese Gefahr nimmt Binding zum Anlass, die „umfassende Kriminalisierung der Urheberschaft“ zu fordern. 126 Binding, Normen, Bd. 2,2, S. 889. 127 Binding, Normen, Bd. 2,2, S. 888. Vgl. dazu Binding, Grundriß AT, 8. Aufl. 1913, S. 169 u. 148 m. Fn. 3. 119
186
2. Teil: Bindings Normentheorie
weiteres Deliktssubjekt, das nicht Verursacher ist: den Gehilfen.128 Mit dieser dritten Kategorie, die hier nicht näher beleuchtet werden muss, ist das System der Verbrechenssubjekte für ihn komplett. Da er damit nicht weniger als die Ausfüllung des gesamten logischen Rahmens der Deliktssubjekte durch das positive Recht propagiert, kann er zu Recht schlussfolgern: „Andere Formen des Verbrechenssubjekts sind undenkbar.“129 Trotz des Indizes in § 160 RStGB existieren die beschriebenen Formen der Deliktssubjekte für Binding bereits mit der Anerkennung eines deliktischen Zurechnungskonzeptes durch das positive Recht, das heißt unabhängig von einer strafrechtlichen Anknüpfung an sämtliche Formen in einzelnen Strafgesetzen. Die Bedeutung der positivrechtlichen Ansatzpunkte für ihn sollte nicht überschätzt werden: Er sieht sie eher als ein unfreiwilliges Eingeständnis des Strafgesetzgebers, dass es Verbrechenssubjekte jenseits von Täterschaft, Anstiftung und Beihilfe gibt, die ihrer wissenschaftlichen Erfassung harren. Die positivrechtliche Existenz der Urheberschaft stände für ihn auch ohne eine solche Anknüpfung außer Frage, wenngleich sie dann unter keinen Umständen mit Strafe belegt wäre. Den Redner im obigen Beispiel bezeichnet er daher als „Urheber im Rechtssinne“.130 Aus dem Zweck des Rechtsgüterschutzes ergeben sich bei Binding also Normen, die ihre jeweiligen Rechtsgüter vollständig, das heißt auch gegen sämtliche Schuld- und Beteiligungsformen, schützen: „Die Verursachungsverbote untersagen jede Art der Setzung der Tatbestände: es ist ebenso unrichtig als unnötig, für die Urheberschaft besondere Normen zu fordern.“ 131
Die teleologischen Schlüsse Bindings hinsichtlich des Normumfangs wirken zunächst seltsam, sind allerdings vor dem Hintergrund eines älteren Methodenideals zu verstehen, dem Binding zeit seines Lebens verhaftet blieb. Sein Rechtsdenken erklärt sich zu großen Teilen aus dem Versuch, mittels gezielter Induktionen aus positivrechtlichen Ansatzpunkten ein möglichst umfassendes, in sich logisches Rechtssystem zu ermitteln. Dieser Grundgedanke hat einerseits wenig mit dem heute vorherrschenden Rechtsdenken gemein. Andererseits stellt er auch unter Zugrundelegung heutiger methodischer Maßstäbe noch keinen Fehlschluss dar: Die entscheidende, aber vielleicht gar nicht mit letzter Sicherheit zu beantwortende Frage lautet ganz grundsätzlich auf die Reichweite teleologischer 128
Siehe dazu weiterführend Binding, Abhandlungen, Bd. 1, S. 370 ff. Binding, Abhandlungen, Bd. 1, S. 328. 130 Binding, Normen, Bd. 2,2, S. 889; Hervorhebung hinzugefügt. 131 Binding, Abhandlungen, Bd. 1, S. 331. Der Bezug auf die „Setzung der Tatbestände“ ist leicht missverständlich: Die Norm ist für Binding nicht in der Form und in aller Regel auch nicht im Umfang identisch. Dennoch ist Bindings Formulierung, die vor allem auf die Einbeziehung der Urheberschaft in den Normumfang abzielt, nicht falsch: Wer den Tatbestand setzt, verstößt selbstverständlich auch immer gegen die Norm. Lediglich die Umkehr des Satzes ist nach der Normenlehre Bindings nicht zulässig. 129
C. Nachweis der Norm als eigenständiger Rechtssatz
187
Schlüsse. Die hier von Binding aufgezeigte Möglichkeit eines sehr weitgehenden Normumfangs, der das gesamte Rechtsgut schützt, wurde ohne Rekurs auf Binding beispielsweise unter dem Schlagwort eines „materiellen Unwertverständnisses“ in den 1980er Jahren breit diskutiert.132 Auch wird in der modernen Normlogik der teleologische Schluss von Verletzungs- auf Gefährdungsverbote problemlos nachvollzogen.133 Selbst der Gedanke, den Bereich der Verbrechenssubjekte logisch zu erfassen und seine Ausfüllung anhand entsprechender Vorschriften des Strafrechts zu überprüfen, ist aus heutiger Sicht lediglich ungewöhnlich, für sich aber noch kein methodischer Fehlschluss. Da nicht alles Rechtswidrige strafbar sein muss, ist auch die Frage des positivrechtlichen Systems der Subjekte von Rechtsverletzungen nicht zwingend identisch mit der strafgesetzlichen Konzeption der Deliktssubjekte. Binding greift hier modernen Versuchen voraus, mittels normlogischer Überlegungen den juristischen Zurechenbarkeitsbegriff besser zu erfassen. Da seine Überlegungen lediglich den Normumfang, nicht aber den Umfang der Strafgesetze betreffen, sind auch die Auswirkungen seiner dogmatischen Schlüsse überschaubar.
III. Unmittelbarer Nachweis der Norm aus dem Gesetz Abschließend beschreibt Binding den einzig möglichen unmittelbaren Nachweis der Norm: die Norm als geschriebenes Recht. Aus dem Strafgesetz ließ sich die Existenz der Norm logisch schließen. Mit der Unabhängigkeit der Norm vom Rechtsfolgenteil des Strafgesetzes glaubte Binding, zumindest negative Aussagen über den Inhalt der Normen machen zu können. Genaueres über Form und Umfang ungeschriebener Normen ergaben sich dann durch Untersuchung der rechtlichen „Bedürfnisse“, deren Befriedigung sie zu dienen bestimmt sind. Diese Aussagen über die Normen wären nach Bindings Auffassung auch für sich schon tragfähige Grundlage der Normenlehre; es bedürfte für sie eigentlich keiner Norm des geschriebenen Rechts.134 Da ein angeblich mangelndes positivrechtliches Fundament aber ein beliebter Kritikpunkt an der Normenlehre ist, versucht Binding in einem Abschnitt über geschriebene Normen, verbliebene Zweifel an seiner Auffassung zu beseitigen. Durch die Aufzählung verschiedener Beispiele für Normen des geschriebenen Rechts sollen die Ergebnisse zu Existenz, Form und Umfang der Norm bestätigt werden. Vielfach erkennt Binding diese Normen in der Form von leges imperfectae. Im Gegensatz zu den vorangegangenen Argumenten wird es für ihn daher an dieser Stelle unumgänglich, zur Rechtsqualität solcher Sätze Stellung zu nehmen. Seine 132
Siehe dazu ausführlich u. S. 260 ff. Vgl. etwa die teleologische Begründung von Handlungsnormen durch Verursachungsverbote bei Ast, Normentheorie, S. 26 ff. sowie S. 66 mit Verw. auf entspr. Ausführungen bei Engisch, Kausalität, S. 53 ff. 134 Vgl. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 55. 133
188
2. Teil: Bindings Normentheorie
Argumentation erfolgt in der bereits beschriebenen Weise durch einfachen Hinweis auf die Rechtssätze selbst; sie setzt damit ein Rechtsbild stillschweigend voraus, das diese geschriebenen Sätze zweifelsfrei dem Recht zuordnet. Insbesondere im Beamtenrecht glaubt Binding eine Vielzahl gesetzter Normen ausmachen zu können. Der Staat glaube in diesem Bereich „meist ohne Strafdrohung auszureichen, und mit Recht, weil der fehlende Beamte der Disciplinargewalt unterliegt.“ 135 Aufgrund möglicher disziplinarrechtlicher Konsequenzen dürften diese Normen freilich auch nicht als leges imperfectae bezeichnet werden.136 Anschließend macht Binding jedoch eine Reihe von Gesetzen aus, die zumindest für einen Teil der Betroffenen echte leges imperfectae darstellen. Beispielsweise war für die Spielenden § 2 Satz 3 des Spielbankgesetzes vom 1.7.1868137 eine solche Norm.138 Überdies weist Binding darauf hin, dass Geschworene139 gemäß ihrem Eid doch unzweifelhaft das Recht nicht beugen dürften, obwohl sie für eine solche Tat nach keinem Rechtssatz sanktioniert werden können.140 Binding nennt noch weitere Beispiele von Normen ohne Rechtsfolge.141 Sie dienen ihm sämtlich zur Untermauerung seiner Grundthese: Wie könne man an der Existenz von Normen zweifeln, wenn sie sich doch teilweise sogar im gesetzten Recht nachweisen lassen?
IV. Weitere Möglichkeiten der Normherleitung und ihre Grenzen Das Strafgesetz nimmt als möglicher Entstehungsgrund einer Norm keine besondere Stellung ein. Die Sanktionierung eines Verhaltens durch ein Disziplinargesetz142 sowie jeder Rechtssatz, der ein Rechtsgut schafft, setzt nach Bindings 135
Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 65. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 65. 137 § 2 S. 3 des am 7.7.1868 im Gebiet des Norddeutschen Bundes in Kraft getretenen Spielbankgesetzes lautete: „Bei allen Banken ist das Spiel an Sonn- und Feiertagen mit dem Tage verboten, an welchem dieses Gesetz in Geltung tritt.“ 138 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 65. 139 Das Geschworenengericht wurde in Deutschland erst durch Verordnung der Reichsregierung vom 4.1.1924 abgeschafft (sog. „Emmingersche Reform“; RGBl. I, S. 15). 140 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 66. 141 U. a. Art. 10 der Maaß- und Gewichtsordnung für den Norddeutschen Bund vom 17.8.1868, welcher lautete: „Zum Zumessen und Zuwägen im öffentlichen Verkehre dürfen nur in Gemäßheit dieser Maaß- und Gewichtsordnung gehörig gestempelte Maaße, Gewichte und Waagen angewendet werden. Der Gebrauch unrichtiger Maaße, Gewichte und Waagen ist untersagt, auch wenn dieselben im Uebrigen den Bestimmungen dieser Maaß- und Gewichtsordnung entsprechen. Die näheren Bestimmungen über die äußersten Grenzen der im öffentlichen Verkehr noch zu duldenden Abweichungen von der absoluten Richtigkeit erfolgen nach Vernehmung der im Artikel 18. bezeichneten technischen Behörde durch den Bundesrath.“ Sanktionen gegen die Händler waren zunächst nicht geregelt. 136
C. Nachweis der Norm als eigenständiger Rechtssatz
189
Rechtsverständnis ebenfalls eine Norm logisch voraus und lässt sie entstehen, wenn sie nicht bereits vor Implementierung des sie voraussetzenden Rechtssatzes existierte. Die von Binding angeführten Nachweismöglichkeiten der Norm dienen dem Beweis der Existenz von Normen überhaupt, nicht aber der Darlegung sämtlicher tauglicher Beweise für Normen. Nach seinem Rechtsverständnis ist ganz unzweifelhaft, dass die aufgelisteten Nachweismöglichkeiten nicht als abschließend verstanden werden können. So ist es auch nicht verwunderlich, wenn Binding später in der „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ eher beiläufig den Schluss auf Normen aus „rechtlich feststehenden Prämissen“ für grundsätzlich zulässig erachtet.143 Sobald das Recht durch irgendeine seiner Äußerungsformen erkennen lässt, dass es ein bestimmtes Verhalten als ge- oder verboten ansieht, schafft es auf diesem Wege eine Norm.
V. Selbständigkeit der Norm Erst die von Binding angenommene Selbständigkeit der Normen verleiht seiner Normentheorie ihre besondere Bedeutung. Unter Nutzung der vorgestellten Ergebnisse widmet er sich möglichen Einwänden gegen diese Sichtweise. Solche Einwände könnten in drei verschiedenen Formen auftreten: Einerseits könne die Selbständigkeit der Normen gegenüber den Strafgesetzen insgesamt geleugnet werden (1.). Weiterhin könne zwar die inhaltliche Selbständigkeit zugestanden werden, also ein von den Tatbeständen der Strafgesetze verschiedener Umfang eingeräumt werden, ihre Entstehung und Geltungsdauer aber vom Bestehen des Strafgesetzes abhängig gemacht werden (2.). Schließlich sei als letzte Möglichkeit auch denkbar, die Selbständigkeit der Normen nur für den Fall ihres ausschließlichen Erscheinens als stille Voraussetzung des Strafgesetzes in Abrede zu stellen (3.). 1. Die Norm als eigene Art von Rechtssätzen Die Auffassung der Normen als eine von den Strafgesetzen unterschiedliche Art von Rechtssätzen ist für Binding schon nach dem positiven Recht unbestreitbar. Sie ergebe sich durch einige Gesetzesformulierungen [a)]. Zudem verfolgten Normen und Strafgesetze unterschiedliche Zwecke [b)]. a) Das gesetzte Recht als Beleg der Selbständigkeit der Norm Die Behauptung, die Norm sei gegenüber dem Strafgesetz keine eigenständige Gruppe von Rechtssätzen, sieht Binding schon durch ausdrückliche Formulierun142 Vgl. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 79, 83, 301. Der Disziplinarstrafe spricht Binding, ebd., S. 501 interessanterweise eine wesentlich präventive Wirkung zu. 143 Vgl. Binding/Hoche, Freigabe, S. 9.
190
2. Teil: Bindings Normentheorie
gen des positiven Rechts widerlegt. So stelle beispielsweise § 110 RStGB die Aufforderung zum Ungehorsam gegen „Gesetze“ unter Strafe.144 Unstreitig waren damit „Gebots- oder Verbotsnormen“ gemeint.145 Ein Strafgesetz verweist also jedenfalls an dieser Stelle ausdrücklich auf Normen im Sinne der Normentheorie Bindings, der dies als deutlichen Beleg der Verschiedenheit beider Arten von Rechtssätzen wertet. Dass die Norm auch eine eigene Gruppe von Rechtssätzen bilden müsse, werde dadurch deutlich, dass neben den aus Strafgesetzen gewonnenen Normen auch eigenständig geregelte unter den Begriff der „Gesetze“ des § 110 RStGB fielen.146 Andere Fälle, in denen Binding Normen oder einen ausdrücklichen Hinweis auf sie im gesetzten Recht entnehmen zu können glaubt, wurden bereits im Rahmen des unmittelbaren Normnachweises aus dem gesetzten Recht vorgestellt. Binding weist nochmals darauf hin, dass nicht nur strafrechtliche, sondern beispielsweise auch disziplinarrechtliche Folgen für eine Normübertretung in Frage kommen.147 Bereits dargestellt wurde auch der regelmäßig unterschiedliche Umfang von Norm und Strafgesetz. Schließlich könne sich auch die Schuld nur auf Normen, nie aber auf Strafgesetze beziehen.148 An der Existenz eigenständiger Normen sei daher nicht sinnvoll zu zweifeln. b) Unterschiedlicher Zweck von Norm und Strafgesetz Normen und Strafgesetze müssten zudem schon deshalb als getrennte Gruppen von Rechtssätzen betrachtet werden, weil sich ihr Zweck unterscheide.149 Die Norm verfolge einen dezidiert präventiven Zweck. Sie richte sich an die Rechtsunterworfenen150 und solle als Ge- oder Verbot ganz selbstverständlich ein bestimmtes Verhalten verhindern oder herbeiführen: „Aus jenen [sc. den Normen] erfährt der Monarch, erfahren alle Beamten, alle Gesetzesuntertanen, wie weit die höchst persönlich zu erfüllende Rechtspflicht in ihr 144
Vgl. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 82. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 82, Fn. 2 kann hierfür mit Recht etwa auf RGSt 10, 296 (298) verweisen. 146 Der am 20.3.1876 in Kraft getretene § 110 RStGB lautete in seinem Tatbestandsteil bis zu seiner Außerkraftsetzung zum 1.9.1969 unverändert: „Wer öffentlich vor einer Menschenmenge oder wer durch Verbreitung oder öffentlichen Anschlag oder öffentliche Ausstellung oder anderen Darstellungen zum Ungehorsam gegen Gesetze oder rechtsgültige Verordnungen oder gegen die von der Obrigkeit innerhalb ihrer Zuständigkeit getroffenen Anordnungen auffordert“. Bindings Auslegung des Tatbestandsbegriffs „Gesetze“ entspricht der damals h. M., vgl. etwa Schwartz, RStGB, § 110 RStGB, Rn. 4 m.w. N. 147 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 83. 148 Vgl. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 83. 149 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 82. 150 In aller Regel sind dies sämtliche Rechtsunterworfene; vgl. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 82 („[D]ie Rechte, die sie [sc. die Normen] schaffen, sind meist absolute, d.h. sie gehen wider Alle, die dem Gesetz Gehorsam schulden.“). 145
C. Nachweis der Norm als eigenständiger Rechtssatz
191
Leben eingreift: sie sind da um das Rechtsleben [. . .] im Grossen und im Kleinsten zu bestimmen.“ 151
Als berechtigender Rechtssatz lässt die Norm danach zwar ein Gehorsamsrecht des Staates entstehen, fordert diesen Gehorsam aber natürlich nicht um seiner selbst willen ein; sie dient ihrerseits den Rechtsgütern, die durch die Umsetzung des geforderten Verhaltens geschützt werden.152 Auch das Strafgesetz ist berechtigender Rechtssatz und dient bei Binding zunächst schlicht dazu, dem Staat ein Strafrecht in den im Strafgesetz geregelten Fällen entstehen zu lassen. Dieses Strafrecht erzeuge jedoch keinerlei Gehorsamspflichten gegenüber den Rechtsunterworfenen, sondern bestehe in einem Recht auf einen Zwang, den Binding als „Bewährungszwang“ bezeichnet.153 Die Strafe diene alleine der „Bewährung der Rechtsherrlichkeit durch Beugung des Verbrechers unter den Rechtszwang“ 154 und habe damit in der Vergeltung einen absoluten Zweck. Die Prävention zukünftiger Verbrechen könne zwar durchaus erwünschte Wirkung der Strafe, nie jedoch wesentlicher Zweck des Strafgesetzes sein.155 Zwecke der Strafe sind dabei für Binding ausschließlich „[beabsichtigte] Wirkungen, denen das Strafverfahren und die Strafe als Mittel angepasst sein müssten.“ 156 Bindings Straftheorie wird hier in Grundzügen deutlich. Bereits in seiner Antrittsvorlesung als Professor in Leipzig 1877 nimmt er zu dieser gesondert Stellung.157 Der Ansatz, den er in seiner Argumentation verfolgt, kann als typisch für ihn gelten: Philosophische Betrachtungen werden konsequent des Gebiets der Jurisprudenz verwiesen.158 Rechtsphilosophie habe sich in den Grenzen des positiven Rechts zu bewegen;159 sie ist bei ihm damit bereits eher Allgemeine Rechtslehre.160 Dieser Position entsprechend versucht Binding, die Verankerung der absoluten Straftheorie im positiven Recht nachzuweisen und gleichsam die Unvereinbarkeit des positiven Rechts mit jeder relativen Theorie aufzudecken.161
151
Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 82. Vgl. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 52. 153 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 426. 154 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 420; Hervorhebung aus dem Original nicht übernommen. 155 Vgl. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 502. 156 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 420. 157 Binding, Abhandlungen, Bd. 1, S. 61 ff. 158 Binding, Abhandlungen, Bd. 1, S. 64 beschränkt sich darauf, die Straftheorie Kants lobend hervorzuheben. 159 Vgl. Binding, Abhandlungen, Bd. 1, S. 72. 160 So auch Arthur Kaufmann, Rechtsphilosophie, S. 95. 161 Vgl. etwa Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 412 f. Entgegen seines eingangs erwähnten Programms bedient sich Binding letztlich aber auch bei moralphilosophischen Argumenten, um die ethischen Grundgedanken des geltenden Strafrechts dar152
192
2. Teil: Bindings Normentheorie
Da Strafgesetze die Strafbarkeit eines Delikts und damit einer bereits geschehenen rechtswidrigen und schuldhaften Tat vorschrieben, beziehe sich das positive Strafrecht eindeutig auf die Vergangenheit und strafe stets quia peccatum est.162 Nur die absoluten Straftheorien könnten problemlos erklären, dass ausschließlich nach einer Tat gestraft werden könne, da die Tat für sie der Grund der Strafe sei.163 Zudem sei Strafe immer Übelszufügung; konsequenterweise habe das Recht „zu allen Zeiten das gleiche Gewicht“ darauf gelegt, die Straffähigkeit an die Fähigkeit zur Empfindung jenes Übels zu koppeln.164 Allerdings fühle „[a]uch der Wahnsinnige [. . .] Schmerzen“, weshalb aus generalpräventiven Gründen „der Strafvollzug am Wahnsinnigen grade so gut dienstbar“ wäre.165 Offenkundig gehe es dem positiven Strafrecht mit der Leidensfähigkeit somit darum, „dem Verächter des Gesetzes [. . .] für Verstand wie Gefühl klar“ zu machen, „dass neben der verbindlichen Norm, deren seine Tat gespottet, die Macht, der Rechtszwang steht, der diese Verbindlichkeit geltend macht, indem er die ganze Person des Verbrechers unter das Recht beugt.“ 166 Schließlich weise das positivrechtliche Strafvollstreckungsverfahren mit dem Verbrecher und dem Strafberechtigten auch nur zwei Subjekte auf. Der Strafzweck sei daher „nur an diesen zwei Subjekten erreichbar“;167 wie die Zwangsvollstreckung im Zivilrecht ihren Zweck nur im Verhältnis Gläubiger-Schuldner erfülle, bezwecke auch der Strafvollzug keine Wirkung auf Dritte.168 Für relative Theorien jedoch sei die rechtswidrige Tat nicht der eigentliche Grund der Strafe. Die Tat werde lediglich als Symptom verbrecherischer Neigung zur Strafvoraussetzung: postquam peccatum est, ne peccetur.169 Zweck der zustellen. So klingen die bekannte Beschreibung menschlicher Würde bei Kant (Metaphysik der Sitten, AA 6, S. 462) und die Begründung der absoluten Straftheorie bei Hegel (Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 99, S. 133 ff., insb. 135) an, wenn er in seinen Abhandlungen, Bd. 1, S. 70 fragt: „Und wie kann es die relative Theorie rechtfertigen, den Delinquenten, also doch einen Menschen, herabzuwürdigen zum Objekt des Experiments, ob durch seine Bestrafung Quellen künftigen Unheils für andere ihm gleichartige und gleichwertige Menschen verstopft werden können, noch dazu, da dieses Experiment in so vielen Fällen kläglich mißlingt, also die Strafe, deren einziger Rechtsgrund die Zweckmäßigkeit sein soll, ihren Zweck verfehlt?“ Soll der Delinquent dem „Versuche der Verwandlung seines inneren Menschen“ unterworfen werden, so gelange man schließlich zum „von Psychiatern gemachten, dann wahrhaftig von Juristen aufgenommenen [Vorschlag] der Abschaffung des Strafmaßes“. Wieder sehe man, „daß Teleologen, die unmöglichen Zwecken nachjagen, allzuleicht gemeingefährlich“ würden (Binding, Abhandlungen, Bd. 1, S. 74 f.). 162 Binding, Abhandlungen, Bd. 1, S. 67, 70. 163 Vgl. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 414 sowie ders., Abhandlungen, Bd. 1, S. 70. 164 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 418. 165 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 418 f. 166 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 419. 167 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 420. 168 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 420.
C. Nachweis der Norm als eigenständiger Rechtssatz
193
Strafe könne für die relativen Straftheorien nur die Sicherheit der Gesellschaft sein.170 Mit diesem Zweck in der Sicherheit der Gesellschaft müsse der relative Straftheoretiker jedoch am positiven Recht verzweifeln, könne er doch nie erklären, warum das „Delikt das einzige Symptom“ sein soll, „woraus die Gefahren der Gesellschaft erkannt werden können“.171 Eine relative Straftheorie lasse das Recht inkonsequent erscheinen. Die von generalpräventiven Theorien unterstellten „Zwecke“ sind für Binding in Wahrheit der Strafe unwesentliche Reflexwirkungen: Die Strafe könne „Hass und Rachedurst gegen den Strafvollzieher, Abscheu sowie Mitleid bezüglich des Sträflings, Genugtuung über ihre Gerechtigkeit, Zorn über ihre Ungerechtigkeit, Achtung oder Verachtung gegen dieses Gesetz wecken.“ 172 All diese Empfindungen Dritter mögen erwünscht sein oder nicht; wesentlich seien sie der Strafe jedenfalls nicht. Trotz dieser scheinbar klaren Abgrenzung gegenüber relativen Straftheorien wird Bindings Auffassung vom Zweck der Strafe zuweilen als „verdeckt relativ“ bezeichnet173 – und dies mit einigem Recht, obwohl die Bezeichnung leicht zu Missverständnissen führen kann. Der Grund für diese Bezeichnung liegt in dem Nebeneinander von Normen und Strafgesetzen als unterschiedliche Rechtssätze. Diese Dichotomie ermöglicht Binding einen vergleichsweise eleganten Ausweg aus der straftheoretischen Konfrontation. Kaum zu bezweifeln sollte dabei der Rechtszweck der Normen sein: Dass Ge- und Verbote Handlungen von Menschen herbeizuführen oder zu verhindern bestimmt sind, bedarf keiner weiteren Erläuterung. Damit aber verleiht Binding der präventionstheoretischen Sichtweise einen normlogischen Ort, ohne von seiner straftheoretischen Argumentation abrücken zu müssen. Das Strafrecht dient danach wesentlich nur dazu, dem Normübertreter die „Rechtsherrlichkeit“ vor Augen zu führen. Modern gesprochen soll die Geltung der Norm durch vergeltende Bestrafung ihrer Übertretung stabilisiert werden. Diese Geltung wird nach Bindings Sichtweise des Strafrechts unmittelbar durch die vergeltende Bestrafung unter Beweis gestellt, der Zweck der Strafe tritt unabhängig von einer präventiven Wirkung, allein durch ihren Vollzug ein. Eine „verdeckt relative“ Straftheorie liegt also jedenfalls nicht vor, insoweit damit ein relativer Zweck der Strafe gemeint sein soll. Zwar erkennt Binding an, dass die moderne Strafgesetzgebung zuweilen auch die Besserung des Delinquenten beabsichtige; da die Spezialprävention jedoch nicht notwendiger Teil einer jeden Strafbegründung sei und stets nur im schuldangemessenen Rahmen 169 Vgl. Binding, Abhandlungen, Bd. 1, S. 68; ders., Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 414 f. 170 Binding, Abhandlungen, Bd. 1, S. 68; vgl. a. ebd., S. 71. 171 Binding, Abhandlungen, Bd. 1, S. 70. 172 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 420. 173 Siehe Frommel, Präventionsmodelle, S. 61.
194
2. Teil: Bindings Normentheorie
berücksichtigt werden dürfe, handle es sich dabei nicht um einen wesentlichen Zweck der Strafe.174 Die Generalprävention sei lediglich „erwünschte Nebenfolge“ 175 der Bestrafung, in Ermangelung entsprechender Indizien im positiven Recht jedoch nicht Strafzweck. Nichtsdestotrotz knüpfen die Strafgesetze nach Bindings Konzeption an durchaus präventiv ausgerichtete Rechtssätze an, deren Übertretung sie wenigstens zum Teil sanktionieren. Auf diese Weise kann Binding die relativen Straftheorien als eine Art modernes Missverständnis beschreiben, die unter einer Verwechslung der Strafgesetze mit den tatsächlich präventiv ausgerichteten Rechtssätzen – den Normen – litten.176 Nichtsdestotrotz ist die Trennung nach verschiedenen Zwecken lediglich als Unterstützung des von Binding gezeichneten Bildes selbständiger Normen zu verstehen. Seine absolute Straftheorie ist nicht konstitutiv für die Normenlehre: Gerade mit Blick auf die Normstabilisation ließe sich grundsätzlich genauso gut annehmen, dass beide Rechtssatzformen den einheitlichen präventiven Zweck verfolgten, dem in der Norm spezifizierten Verhalten entgegenzuwirken oder im Falle eines Gebots ein bestimmtes Verhalten hervorzurufen. Eine derartige Zwecksetzung führte das vorgestellte Argument Bindings ad absurdum, erlaubte aber seinerseits nicht den Schluss auf die Unselbständigkeit der Norm. 2. Selbständige Entstehung und Geltungsdauer der Norm Als möglichen Einwand gegenüber seinem Rechtsverständnis sieht Binding auch die Behauptung, Normen seien gegenüber Strafgesetzen zwar andersartig, in ihrer Entstehung und Geltungsdauer jedoch von diesen abhängig.177 Eine derartige Sichtweise verbietet sich für Binding nach dem oben Gesagten jedoch von vornherein: Die teilweise Ausgestaltung von Normen als leges imperfectae oder als nur mit disziplinarrechtlichen Folgen ausgestattete Ge- oder Verbote stände dieser Sichtweise bereits entgegen.178 Aber selbst in den Fällen, in denen die Norm mit einer Strafandrohung versehen ist, sei sie keinesfalls wesensmäßig mit dem Strafgesetz verknüpft. Schon ihr Urheber könne verschieden sein: Das Reich könne für das Eine, ein Bundesstaat für das jeweils Andere zuständig sein.179 Auch könne etwa eine Behörde zum Erlass von Normen, nicht aber zum Erlass dazugehöriger Strafgesetze befugt sein.180 174 175 176 177 178 179 180
Vgl. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 421 ff. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 502; siehe a. ebd., S. 419. Vgl. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 51 ff. Vgl. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 83 ff. Vgl. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 83. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 83 f. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 84.
C. Nachweis der Norm als eigenständiger Rechtssatz
195
Ob Norm und Strafgesetz tatsächlich von demselben Urheber stammen, spielt für Binding natürlich keine Rolle: Stets könne jeder Teil unabhängig vom anderen geändert oder aufgehoben werden. „Beider Wandlung oder Aufhebung“, wie Binding es ausdrückt, geschehe „auf sehr verschiedenen Wegen“.181 Die Norm müsse also eigenständig auf ihre Gültigkeit hin überprüft werden.182 Sei die Norm gültig, das Strafgesetz aber ungültig, so bestehe die Norm als lex imperfecta fort. Auch umgekehrt könne ein Strafgesetz gültig sein, wenn die Norm nicht gelte. Allerdings sei das Strafgesetz in solchen Fällen gegenstandslos.183 Gemeint sind damit selbstverständlich nicht Konstellationen, in denen eine neben dem Sanktionsgesetz ausdrücklich geregelte Norm wegfällt, wenn der außerkraftsetzende Rechtsakt nicht auch das Strafgesetz erfassen soll; wenigstens insoweit der Tatbestand des Strafgesetzes den Inhalt der vormaligen Norm wiedergibt – und aus teleologischen Gründen in der Regel auch weit darüber hinaus – existierte die Norm in einem solchen Fall für Binding im ungesetzten Recht als logische Voraussetzung des Strafgesetzes problemlos weiter. Gemeint sind vielmehr Fälle, in denen das Verweisungsobjekt eines Blankettstrafgesetzes wegfällt. Sollen nicht zumindest vergangene Normübertretungen noch nach dem weitergeltenden Strafgesetz geahndet werden, so wäre das Strafgesetz tatsächlich inhaltsleer. In Anbetracht des vermeintlichen184 Wertes solcher Konstruktionen für seine Argumentation ist es kaum verwunderlich, dass die erstmalige wissenschaftliche Erfassung von „Blankettstrafgesetzen“ Binding zuzuschreiben ist.185 3. Selbständigkeit der Norm als bloße Voraussetzung des Strafgesetzes Die letzte von Binding identifizierte Möglichkeit einer Verknüpfung von Norm und Strafgesetz betrifft den Fall, dass sich die Norm ausschließlich als Voraussetzung des Strafgesetzes äußert.186 Hier ist also das Strafgesetz die einzige Quelle der Normerkenntnis; ein Ge- oder Verbot äußert sich ausschließlich in der Strafdrohung für seine Übertretung. Auch in diesem Fall könne die Norm nie Bestandteil der Sanktion werden, deren Voraussetzung sie schließlich sei:187 „Die Quelle der Erkenntnis muss für die Frage der Selbständigkeit eines Rechtssatzes gleichgültig sein.“ 188 181 182 183 184 185 186 187 188
Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 85. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 84. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 84 ff. Siehe aber u. S. 254 f. Vgl. Binding, Normen, Bd. 1, 1. Aufl. 1872, S. 74 f. u. 96 f. Vgl. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 85 ff. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 86. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 86.
196
2. Teil: Bindings Normentheorie
Diese Selbständigkeit soll auch bei einer ausschließlichen Erkenntnis der Norm aus dem Strafgesetz keineswegs rein formal sein. Es besteht für Binding also nicht einmal eine „zufällige“, auf diesen besonderen Fall beschränkte Abhängigkeit der Norm vom Strafgesetz, die ihr eigentlich nicht wesensmäßig ist. Vielmehr teile die Norm auch hier „mit Nichten das ganze Schicksal des Strafgesetzes, das sie uns erschließt.“ 189 Als Beispiel nennt Binding eine Änderung der §§ 211 ff. RStGB.190 Keinesfalls habe der Gesetzgeber doch im Sinn gehabt, „das Verbot der Tötung mit dem 31. Dezember 1870191 erlöschen und mit dem folgenden Tage revivisciren zu lassen; er betrachtet ein Rütteln an dieser Norm und den Gedanken sie auch nur für eine unmerkbare Zeit aufzuheben als schlechthin ausgeschlossen.“ 192 Die Konzeption einer mit dem 1.1.1871 neu entstehenden Tötungsnorm bliebe indes offenkundig folgenlos, so dass sich Bindings Argumentation in diesem Punkt darauf beschränkt, schon eine rein formale Aufhebung des Tötungsverbots zu seiner unmittelbaren Neubegründung im Rahmen dieser Gesetzesänderung sei im Hinblick auf die kulturelle Bedeutung der Norm undenkbar. Als Argument zur logischen Struktur des Rechts ist die Ausführung Bindings daher ohne größeren Wert. Anders verhält es sich in einem etwas komplizierteren Beispiel aus der Rechtsprechung, das Binding bemüht. § 345 Nr. 7 PrStGB193 drohte demjenigen eine Geld- oder Gefängnisstrafe an, der in „Stöcken oder Röhren“ verborgene „Stoß-, Hieb- oder Schußwaffen“ feilhielt oder mit sich führte. Mit dem Rest des PrStGB fiel auch dieses Gesetz durch das Inkrafttreten des StGBs für den Norddeutschen Bund am 1.1.1871 weg. In § 367 Abs. 1 Nr. 9194 hielt das StGB für den Nord-
189
Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 86. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 86. 191 Am 1.1.1871 trat zunächst das StGB für den Norddeutschen Bund in Kraft, dessen §§ 211 ff. den Regelungen im späteren RStGB entsprachen. 192 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 86. Die von Binding gewählte Formulierung ist natürlich mit Blick auf seinen streng objektiven Auslegungsansatz, in welchem der Gesetzgeberwillen gerade nicht maßgeblich sein soll, etwas inkonsequent. Ein Abrücken von diesem Standpunkt ist jedoch nirgends beschrieben. Am wahrscheinlichsten ist daher, dass Binding hier nicht auf einen individuellen, persönlichen Gesetzgeberwillen verweist, sondern auf einen unpersönlichen, der – rein objektiv bestimmt – mit dem „Gesetzeswillen“ in seinem „Handbuch des Strafrechts“ von 1885 (siehe dazu bereits o. 1. Teil, Fn. 95 u. 245) übereinstimmt. 193 In seiner bis zum Inkrafttreten des StGBs für den Norddeutschen Bund am 1.1.1871 geltenden, seinerseits am 1.7.1851 in Kraft getretenen Fassung lautete § 345 Nr. 7 PrStGB (1851) in seinem Tatbestandsteil: „wer Stoß-, Hieb- oder Schusswaffen, welche in Stöcken oder Röhren oder in ähnlicher Weise verborgen sind, feilhält oder mit sich führt.“ 194 § 367 Nr. 9 des StGBs für den Norddeutschen Bund (bzw. § 367 Nr. 9 RStGB) sah die Bestrafung desjenigen vor, der „einem gesetzlichen Verbot zuwider Stoß-, Hieb-, oder Schußwaffen, welche in Stöcken oder Röhren oder in ähnlicher Weise verborgen 190
C. Nachweis der Norm als eigenständiger Rechtssatz
197
deutschen Bund (und zum 1.1.1872 wortgleich das RStGB) allerdings eine Regelung parat, die selbiges Feilhalten oder Mitsichführen für den Fall unter Strafe stellte, dass dies „einem gesetzlichen Verbot zuwider“ geschehe. Durch ein Urteil des Preußischen Obertribunals vom 28.2.1879195 hierzu sieht sich Binding nun in gleich mehreren Punkten bestätigt. Das Gericht führt darin zunächst aus, dass ein solches Verbot im ehemaligen § 345 Nr. 7 PrStGB logisch vorausgesetzt und daher mitgeschaffen worden sei.196 Durch die Aufhebung des alten und die Aufstellung des neuen Strafgesetzes sei dieses Verbot nicht berührt worden. Es sei schlicht „nicht denkbar [. . .], daß der Gesetzgeber, welcher in § 367 n. 9 des RStGB.s die bestehenden gesetzlichen Verbote durch eine Strafsanktion schützt, gerade durch dieselbe Bestimmung [. . .] ein derartiges Verbot nur darum aufgehoben haben sollte, weil es redaktionell mit einer Strafandrohung verbunden war.“ 197
Ein neues Verbot aus dem neuen Strafgesetz herauszulesen, wäre nach der Gesetzesformulierung, in der für die Bestrafung ausdrücklich ein Zuwiderhandeln gegen ein „gesetzliches Verbot“ gefordert wird, kaum vertretbar. Es muss sich also um ein fortbestehendes Verbot handeln, das schon vor dem neuen entstanden ist – eine Konstruktion, die Binding durch seine Normentheorie sehr gut erklären kann. Letztlich vollzieht das Preußische Obertribunal hier Bindings Gedanken nach, indem es teleologisch zum Fortbestehen des Verbots des Mitsichführens von in „Stöcken oder Röhren“ verborgenen „Stoß-, Hieb- oder Schußwaffen“ gelangt. In ähnlicher Weise argumentiert Binding auch für den Fall nicht einer Änderung, sondern einer Aufhebung des Strafgesetzes, das die einzige „Quelle der Erkenntnis“ der Norm war:198 Es sei zwar gut möglich, aber keinesfalls zwingend, dass diese Aufhebung gleichfalls den Wegfall der Norm bedeuten solle. Ob die Aufhebung auch die Norm betreffen solle, sei vielmehr stets eine Frage der Auslegung des entsprechenden Aufhebungsgesetzes.199 Er pflichtet seinem Schüler Oetker200 darin bei, dass beispielsweise eine Aufhebung des § 288 RStGB201 noch keinesfalls das Verbot der Hinterziehung der Zwangsvollstreckung berühren sind, feilhält oder mit sich führt“. Die Vorschrift blieb zeit ihres Bestehens unverändert und wurde zum 1.12.1968 aufgehoben. 195 PrObTSt 20 (1879), S. 110 ff.; siehe dazu Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 87. 196 PrObTSt 20 (1879), S. 110 (113). 197 PrObTSt 20 (1879), S. 110 (115). 198 Vgl. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 88. 199 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 88; siehe a. Oetker, Rechtsirrtum, S. 16. 200 Oetker, Rechtsirrtum, S. 15. 201 Mit Ausnahme von Rechtschreibungsanpassungen hat sich der Tatbestandsteil des § 288 Abs. 1 RStGB seit seinem Inkrafttreten mit dem RStGB zum 1.1.1872 nicht verändert.
198
2. Teil: Bindings Normentheorie
müsse.202 Ein Aufhebungsgesetz zu § 288 RStGB könne genauso gut einer mangelnden Strafwürdigkeit des Normverstoßes geschuldet sein und somit keine Aufhebung der durch das Strafgesetz logisch vorausgesetzten Norm bezwecken. Neben solchen teleologischen Betrachtungen von Änderungs- und Aufhebungsgesetzen begründet Binding die Selbständigkeit der Norm als bloße Voraussetzung des Strafgesetzes auch mit dem ausdrücklichen Gesetzeswillen. Die Selbständigkeit der Norm werde immer dann „gesetzlich [. . .] anerkannt“,203 wenn ein Rechtsakt ein Ge- oder Verbot ab einem bestimmten Zeitpunkt aufhebe, „das Strafgesetz aber für die früher verübten Zuwiderhandlungen in Kraft“ lasse.204 Hier habe die Norm bereits aufgehört, zu existieren, während das Strafgesetz weiterbestehe. Denkbar sei dies nur, wenn die Norm auch im Falle ihres Bestehens ausschließlich als bloße Voraussetzung des Strafgesetzes nicht Teil desselben werde. Sie sei dann lediglich „Voraussetzung seines Inkrafttretens.“ 205
VI. Zusammenfassung und weitergehende Einordnung: die Norm als echter und selbständiger Rechtssatz Hauptgedanke der Bindingschen Normentheorie ist also die Selbständigkeit einer Norm, deren Umfang in aller Regel über den Tatbestandsteil von Strafgesetzen hinausreicht, denen sie zugrundeliegt (1.). Innerhalb des Bindingschen Rechtsbildes ist die Normentheorie logisch konsequent (2.). 1. Nachweis der Norm als selbständiger Rechtssatz Ein sinnvoller Imperativ kann dem Strafgesetz aus Bindings Sicht nicht entnommen werden. Die Funktion des Strafgesetzes beschränkt sich für ihn auf die Schaffung eines Strafrechts unter spezifizierten Bedingungen; es handelt sich damit um einen berechtigenden Rechtssatz. Nichtsdestotrotz zweifelt Binding aber weder an der Existenz der Verbindlichkeit als eigenständige juristische Kategorie, noch am Bestehen eines Ge- oder Verbots, das wenigstens den Inhalt des Tatbestandes eines Strafgesetzes umfasst, da nur die Zuwiderhandlung gegen ein Ge- oder Verbot bestraft werde. Wenn das Strafgesetz dieser verbindlichkeitsbegründende Rechtssatz aber nicht sein kann, so muss ein anderer diese Funktion erfüllen. Aus dieser Überlegung erwächst das Bedürfnis einer Norm im Sinne Bindings. Ist die Norm nicht bereits vor Entstehung eines ihr im Tatbestand wenigstens teilweise entsprechenden Strafgesetzes positivrechtlich verankert, entsteht sie 202 203 204 205
Vgl. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 88. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 86. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 86 f. Vgl. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 87.
C. Nachweis der Norm als eigenständiger Rechtssatz
199
nach dieser Sichtweise mit dem Strafgesetz, dessen Voraussetzung sie ist. Dass auch in modernen Kritiken206 der Normenlehre davon ausgegangen wird, die Normen im Sinne der Theorie Bindings hätten den Strafgesetzen zwingend auch zeitlich voranzugehen, überrascht im Hinblick auf dessen klaren Ausdruck: „[D]as Gesetz, welches der Verbrecher übertritt, geht begrifflich und regelmäßig aber nicht notwendig auch zeitlich dem Gesetze, welches die Art und Weise seiner Verurteilung anordnet, voraus.“ 207
Im Gegensatz zum Strafgesetz, das einem repressiven Strafzwang im Sinne der Vergeltungslehre Bindings dienen soll, verfolgt die Norm nach dieser Sichtweise stets einen präventiven Zweck. Auch sie ist berechtigender Rechtssatz, da sie das subjektive Recht des Staates „auf Botmässigkeit“ wider den Rechtsunterworfenen schafft, der spiegelbildlich die Gehorsamspflicht jenes Rechtsunterworfenen gegenübersteht. Wird die Norm erst und nur als Voraussetzung eines Strafgesetzes geschaffen, so steht sie danach dennoch in keiner wesensmäßigen Beziehung zu diesem. Eine Verbindung des Imperativs der Norm mit dem Strafgesetz nach der Grundstruktur „Du sollst/sollst nicht bei Strafe“ hält Binding für rechtlich undenkbar. Die Verbindung mit dem Strafgesetz kann für ihn nur erfolgen, um den Staat vor einer kostspieligen Strafpflicht zu schützen oder um die Strafe dem Einzelnen als Motivation entgegenzuhalten, nicht dem Imperativ zuwiderzuhandeln. Die Ausgestaltung aller rechtlichen Imperative als solche des Staatsschutzes entspricht nicht der Gedankenwelt des Rechts. Auch letztere Verbindung scheint für ihn nur oberflächlich betrachtet plausibel: Ist sie wirklich wesentlicher Teil des Imperativs, so hielte das Recht den Einzelnen nur bei Strafe an, sich auf eine bestimmte Weise zu verhalten. In der konsequenten Ausgestaltung einer eigenen Gedankenwelt des Rechts bei Binding bedeutete dies, dem Recht Gleichgültigkeit zu unterstellen, solange der Einzelne nur mit der Strafe einverstanden wäre. Die Unhaltbarkeit einer solchen Sichtweise unter den Voraussetzungen des Bindingschen Rechtsverständnisses erklärt sich von selbst. Da die Norm mit der Verbindlichkeitsbegründung einen eigenständigen Inhalt aufweist und nicht sinnvoll mit dem Strafgesetz zu verbinden ist, muss sie danach als von diesem abstrakt gesehen werden.208 Die Schöpfung der Norm geschieht allerdings durch einen Gesetzgeber, der in seinem „unvollständigen Lapidarstyl notwendige Voraussetzungen gesetzlicher Bestimmungen nicht“ ausformuliert, „sondern uns die Ableitung aus der geschriebenen Folgesatzung zumutet.“ 209 Der 206 Siehe dazu u. S. 239 ff. Kritiken, die vor der Zweitauflage der „Normen“ (1890) erschienen, kann dieser Vorwurf nicht gemacht werden. Binding, Normen, Bd. 1, 1. Aufl. 1872, S. 4 beschrieb die Normen zunächst selbst noch fehlerhaft als zeitlich den Strafgesetzen (zwingend) vorangehend. 207 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 4; Hervorhebung hinzugefügt. 208 Vgl. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 88. 209 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 86, Fn. 15.
200
2. Teil: Bindings Normentheorie
Gesetzgeber bedenke also schlechterdings nicht, dass er mit seinem Gesetz gleich zwei Rechtssätze schafft, wolle dies aber dennoch laienhaft, insofern er nicht ein inhaltsleeres Strafgesetz im Sinn habe. In Reaktion auf die Kritik an dieser Sichtweise schreibt Binding etwas boshaft: „Ich dachte, das wäre jedem Juristen so geläufig, dass es Keinem auffiele, wenn ich die Wahrheit auch für die Normen behauptete.“ 210
Diese Eigenständigkeit der Normen zeigt sich nach Bindings Sichtweise praktisch, wenn Norm und Strafgesetz unabhängig voneinander geschaffen oder aufgehoben werden. Eine Norm ohne Strafgesetz ist leicht vorstellbar: Sie wäre eine lex imperfecta. Binding glaubt, dem Recht eine Vielzahl solcher Sätze entnehmen zu können. Sie könnten zudem entstehen, wenn ein Strafgesetz, das alleiniger Entstehungsgrund einer entsprechenden Norm war, aufgehoben wird, die Auslegung des aufhebenden Gesetzes aber ergibt, dass die Norm unberührt bleiben soll. Auch ein Strafgesetz, dass zeitlich der Norm vorausgeht, ist für Binding denkbar, wenngleich selten: Wird beispielsweise erst ab einem bestimmten, in der Zukunft liegenden Zeitpunkt ein Tatbestand unter Strafe gestellt und fällt dieser Tatbestand nicht schon unter ein anderweitig vorausgesetztes oder sogar ausdrücklich normiertes Ge- oder Verbot, so wird die zugrundeliegende Norm erst mit dem Zeitpunkt bestehender Strafbarkeit logisch notwendig – und entsteht erst zu diesem Zeitpunkt. Für die Zeit des Mangels einer Norm ist das Strafgesetz damit aber notwendig inhaltsleer.211 2. Schnittstellen zu Bindings allgemeinem Rechtsbild Die genaue Ausgestaltung der Normentheorie Bindings folgt konsequent den Vorgaben seines allgemeinen Rechtsbildes. Seine Sichtweise des Rechts als Konstrukt mit einer eigenen Gedankenwelt, die sich ausschließlich aus dem objektivierten Willen des staatlich organisierten Gemeinwesens212 als einziger Rechtsquelle ergibt, lässt kaum andere Schlüsse zu, als er sie in seinen normentheoretischen Grundannahmen vollzieht. Ohne vollständigen Bruch mit diesem Rechtsverständnis ließe sich die Lehre Bindings allenfalls nach dem Vorbild Armin Kaufmanns dahingehend erweitern, dass rechtliche Wertungen unterhalb der Schwelle von Normen angenommen werden.213 Eine solche Wertungsebene hätte gravierende Folgen für die teleologischen Schlüsse Bindings zum Umfang der 210
Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 86, Fn. 15. Ein Beispiel, das Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 83 nennt, ist das Strafgesetz betreffend die Schonzeit für den Fang von Robben v. 4.12.1876, welches dereinst auf eine noch nicht existente Regelung der Schonzeiten verwies. Die zugehörige Schonzeitenregelung (und damit die Norm zu diesem Strafgesetz) enthielt erst die Kaiserliche Verordnung v. 29.3.1877. 212 Vgl. Binding, Handbuch, S. 198 f., Fn. 6. 213 Vgl. hierzu ausführlich Armin Kaufmann, Normentheorie, S. 67 ff. 211
D. Die Rechtsgutslehre Bindings
201
Norm, stellte aber auch nicht die Existenz der Normen im Sinne seiner Lehre in Frage. Dahingegen ist etwa die spätere Auffassung Kelsens, die „Verbindlichkeit“ sei keine rechtliche Kategorie, sondern für sich nur der unrechtliche Zweck rechtlicher Sanktionen,214 unter den Bindingschen Prämissen schlicht nicht nachzuvollziehen: Eine solche rechtliche Kategorie muss für ihn schon deshalb existieren, weil sie offenkundig als Recht gewollt ist, sie also der spezifisch juristischen Gedankenwelt des rechtserzeugenden Willens entspringt. Schon die Prämisse einer rechtlichen Verbindlichkeit führt für ihn zwingend zum Schluss auf die Norm als verbindlichkeitsbegründenden Rechtssatz. Das Recht lässt sich danach nicht auf seine technische Wirkweise beschränken, sondern erhebt den Anspruch, ein widerspruchsfreies, umfassendes Wertungssystem zu sein. Die hinter den Sanktionen stehenden Wertungen sind für ihn daher nicht weniger Teil des positiven Rechts als die Sanktionssätze selbst. Auch mit weitreichenden Induktionen aus nur schwachen Indizien darf und muss die Jurisprudenz danach operieren, um Aussagen über dieses umfassende Wertungssystem zu gewinnen. Bereits an dieser Stelle kann demnach festgehalten werden, dass die Grundlagen der Normentheorie keinen Bruch mit den Prinzipien des Rechtspositivismus bedeuten; sie stellen vielmehr dessen Folgen unter den Bedingungen einer speziellen Sichtweise des Rechts dar.
D. Die Rechtsgutslehre Bindings Bereits in der Behandlung des Nachweises der Norm „aus dem Bedürfnisse“ wurde der weite Umfang der Normen als Besonderheit der Bindingschen Lehre hervorgehoben. Der Anspruch einer inneren Wertkohärenz des Rechts führt dazu, dass der Umfang einer Norm in der Regel selbst dann über den Tatbestandsteil eines sie zugrundelegenden Strafgesetzes hinausgeht, wenn sie diesem Strafgesetz ihre Entstehung verdankt. Der Grund hierfür liegt im allgemeinen Normzweck eines umfassenden Rechtsgüterschutzes: „Kein Rechtsgut darbt des Normenschutzes; jedes wird [. . .] Gegenstand einer Respektspflicht“.215
Grundlage dieser Bindingschen Besonderheit ist also seine Rechtsgutslehre. Die dogmatische Notwendigkeit eines Rechtsgutsbegriffs ergibt sich für ihn schon aus der Unmöglichkeit unmittelbarer Verletzungen subjektiver Rechte durch das Delikt (I.). Das Rechtsgut dient danach ausschließlich als tatsächliche und damit unmittelbar angreifbare Seite subjektiver Rechte (II.) und beschränkt sich in seiner Funktion auf die Komplettierung Bindingscher Dogmatik. Die 214 215
Vgl. Kelsen, Hauptprobleme, S. 272 ff. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 353.
202
2. Teil: Bindings Normentheorie
Rechtsgutslehre Bindings macht Ausführungen zum Normumfang und zum Angriffsobjekt des Delikts verständlich und ist weder geeignet noch bestrebt, eine Legitimationsbasis für das Strafrecht zu bieten (III.).
I. Die unmittelbare Unverletzlichkeit subjektiver Rechte Nach der Bindingschen Lehre ist eine Norm Grundlage jeder Handlungs- oder Unterlassungspflicht des Einzelnen; sie ist die verbindlichkeitsbegründende Form des Rechtssatzes. Da sie ein subjektives Recht des Staates auf „Botmässigkeit“ erzeugt, ist sie zudem berechtigender Rechtssatz. Damit bildet sie für Binding das eigentliche Objekt der Zuwiderhandlung, als das die Strafrechtslehre gemeinhin das Strafgesetz identifiziert. Selten216 jedoch stelle jenes staatliche Recht auf „Botmässigkeit“ das einzige Objekt der Verletzung dar: Beispielsweise im Falle der Sachbeschädigung werde natürlich nicht nur eine staatliche Gehorsamspflicht verletzt, sondern auch das Eigentumsrecht des Opfers, das den eigentlichen Grund der Regelung bilde. Diese Darstellung einer Verletzung subjektiver Rechte sei jedoch ungenau: Das Eigentumsrecht bestehe schließlich ebenso wie das öffentliche Recht auf „Botmässigkeit“ vor, während und nach dem Delikt unverändert weiter. Gerade im Falle einer Zuwiderhandlung bedürfe „das subjektive Recht seiner vollen Rechtskraft um sich durchzusetzen. [. . .] Ein Recht besteht entweder ganz oder gar nicht: ein verletztes Recht giebt es nicht.“ 217 Die Rechtsquelle allein bestimme die Gültigkeit des subjektiven Rechts.218 „Was man Verletzung subjektiver Rechte nennt,“ sei daher „nie Aufhebung ihrer Gültigkeit, sondern eine tatsächliche Beschränkung ihrer Geltung.“ 219 Ein echter Angriff auf das subjektive Recht selbst mit dem Ziel seiner Vernichtung ohne eine Rechtsgütervernichtung wäre für Binding höchstens als „gewaltsame Änderung des objektiven Rechts zwecks Beseitigung subjektiver Rechte“ denkbar.220 Weiterhin stelle natürlich jeder erfolgreiche Angriff auf das 216 Zu Bindings sehr spezieller Konzeption der Ordnungswidrigkeiten siehe dessen Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 397 ff. Binding versucht, das sog. Polizei-Unrecht nicht anhand eines etwaig unterschiedlichen ethischen Unwerturteils, sondern normlogisch von den übrigen Strafbewehrungen abzugrenzen. Dabei lässt er allerdings keinen Raum für den Begriff der abstrakten Gefährdungsdelikte; folgerichtig lehnt er die ganze Deliktsgruppe ab und teilt sie in Ordnungswidrigkeiten und versuchte konkrete Gefährdungsdelikte auf. 217 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 296. 218 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 295 ff. Dies gelte selbst für den Fall einer Revolution: Nicht die Revolution selbst vernichtet subjektive Rechte, sondern die Entscheidung einer bei Erfolg der Revolution entstandenen neuen Rechtsquelle. 219 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 296. 220 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 333.
D. Die Rechtsgutslehre Bindings
203
Rechtsgut „Leben“ letztlich auch eine Vernichtung subjektiver Rechte dar. Indessen nehme das Recht auf diesen Aspekt, das heißt auf die Vernichtung subjektiver Rechte durch Tötung eines Menschen, strafrechtlich gerade keine gesonderte Rücksicht.221 Ausschließlich die Tötung selbst – die Vernichtung des Rechtsguts – sei materieller Kern der Tötungsverbrechen. Diese mittelbare Vernichtung subjektiver Rechte sei jedoch beschränkt auf die Tötung des Trägers dieser Rechte. Nur scheinbar gelte dasselbe auch für andere Fälle: Zwar gehe etwa das Eigentum an einer Sache mit dem Delikt, durch das die Sache zerstört wird, unter. Jedoch bringe das Delikt das Eigentumsrecht hier nur mittelbar zum Untergang; unmittelbar besorgt dies das Recht selbst. Jedes Recht habe schließlich „seine gesetzlich bestimmten Endigungsgründe“.222 Im beispielhaft erwähnten Eigentumsrecht sei einer dieser Endigungsgründe eben der Untergang der Sache. Die Rechtswidrigkeit sei für diese Endigung gar nicht entscheidend, zumal Rechte offenkundig auch auf völlig rechtmäßigem Wege untergehen könnten.223 Mit dieser Darstellung unmittelbarer Unverletzlichkeit subjektiver Rechte schafft Binding Raum und Notwendigkeit der Rechtsgutslehre, die sich erst durch ihn im Strafrecht gänzlich etablierte. Sein Einstieg folgt allerdings dem klassischen Muster Johann Michael Franz Birnbaums (1792–1877), des Schöpfers der Rechtsgutslehre.224
II. Rechtsgüter als tatsächliches Angriffsobjekt der Delikte Die unmittelbaren Angriffsobjekte des Delikts bezeichnet Binding als Rechtsgüter. Sie stellen gewissermaßen die tatsächliche Seite der Rechte dar, seine „tatsächlichen Voraussetzungen, seine Gegenstände, seine Subjekte, den Willen der darüber zu verfügen hat.“ 225 Ihnen liegen Wertentscheidungen des positiven Rechts zugrunde (1.). Diese Abhängigkeit nur von den im positiven Recht verankerten Wertentscheidungen trennt sie auch vom bloßen Interessenbegriff (2.). Bindings Aussage, Rechtsgüter seien stets solche der Rechtsgemeinschaft als Ganzes, führte zum Vorwurf eines typisch kaiserzeitlichen „Etatismus“ (3.), dessen Berechtigung zu überprüfen ist. Schließlich wird die Brauchbarkeit der Bindingschen Rechtsgüter als Legitimationsmöglichkeit von Strafrechtssätzen untersucht (4.).
221 222 223 224 225
Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 333. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 297. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 297. Vgl. Birnbaum, Archiv des Criminalrechts, Neue Folge 1834, S. 149 ff. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 338.
204
2. Teil: Bindings Normentheorie
1. Rechtsgut und subjektives Recht Scheint bei einem Delikt neben der bloßen Gehorsamspflicht ein weiteres subjektives Recht als Verletzungsobjekt im Raum zu stehen, so ist die unmittelbare Unverletzlichkeit dieses subjektiven Rechts durch das Delikt in den meisten Fällen offenkundig: Nicht das Eigentumsrecht ist das Angriffsobjekt, sondern die Sache, der das Eigentumsrecht anhaftet. In Bindings Worten: „Der Angriff aber, der dem Rechte gilt, kann dieses nicht unmittelbar erreichen: er ergreift dessen tatsächliche Voraussetzungen, seine Gegenstände, seine Subjekte, den Willen der darüber zu verfügen hat. Er sucht das Recht von der Seite der Rechtsgüter zu treffen.“ 226
Zur Beschreibung der Rechtsgüter greift Binding auf die Schrift Birnbaums „Ueber das Erforderniß der Rechtsverletzung zum Begriffe des Verbrechens“ 227 zurück.228 Auf dieser Grundlage entwirft Binding eine eigene Rechtsgüterlehre. Als Rechtsgut bezeichnet er darin „[a]lles, was selbst kein Recht doch in den Augen des Gesetzgebers als Bedingung gesunden Lebens der Rechtsgemeinschaft für diese von Wert ist, an dessen unveränderter und ungestörter Erhaltung sie nach seiner Ansicht ein Interesse hat, und das er deshalb durch seine Normen vor unerwünschter Verletzung oder Gefährdung zu sichern bestrebt ist.“ 229
Er unterteilt die verschiedenen Angriffe auf subjektive Rechte „von der Seite der Rechtsgüter“ in Anmaßungen der Berechtigung zur eigenen Ausübung fremder subjektiver Rechte und Entziehungen der faktischen Ausübung dieser Rechte.230 Befasst man sich näher mit den einzelnen Rechtsgütern, die Binding anerkennt, so offenbaren sich eine kaum überschaubare Vielzahl und ein großer Artenreichtum. Rechtsgut sei „zunächst der Gegenstand der Rechtsgewalt, d.h. die Person oder die Sache, die dem Berechtigten unterworfen wird.“ 231 Die Begründung hierfür fällt Binding leicht: „Sähe das Gesetz diese nicht als Güter an, so hätte es keinen Grund sie zum Gegenstand von Rechten zu machen.“ Die innere Konsequenz des Rechts zwingt also zur Anerkennung aller gewaltunterworfenen Personen und Sachen als Rechtsgüter. Zur Schaffung eines Rechtsguts reiche bereits die rechtliche Anerkennung eines „Okkupations- oder Forderungsrechtes“ vor der Entstehung einer rechtlichen
226
Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 338. Archiv des Criminalrechts, Neue Folge 1834, S. 149 ff.; näher dazu Dalbora, in: ders./Vormbaum (Hrsg.), Zwei Aufsätze, S. 67 (79 ff.) m.w. N. 228 Vgl. Binding, Normen, Bd. 1, 1. Aufl. 1872, S. 189 m. Fn. 312. 229 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 353 ff. 230 Vgl. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, 338. 231 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 344. 227
D. Die Rechtsgutslehre Bindings
205
Gewalt aus.232 Ferner seien Rechtsgüter auch „alle die Leistungen, die der Gläubiger vom Schuldner zu erwarten“ habe.233 Ein Rechtsgut werde sogar durch die Schonzeitregelungen erschaffen, da diese „die Erhaltung der Möglichkeit künftiger Begründung von Rechten bestimmter Art“ bezweckten.234 Neben diesen Rechtsgütern als „Gegenstände subjektiver Rechte“ 235 findet Binding noch weitere Gruppen wie die „rechtlich anerkannten Fähigkeiten [. . .] subjektive Rechte zu erlangen oder auszuüben“ 236 und die rein „tatsächliche Möglichkeit ein Recht auszuüben.“ 237 Vielsagend, wenngleich etwas umständlich hält Binding zudem fest: „Alle Beziehungen zwischen Rechtsgütern und subjektiven Rechten ausser denen auf Botmässigkeit werden gelöst, wenn es sich darum handelt die Rechtssubjekte durch Verbot des Angriffs auf ihre Rechtsgüter sicherzustellen.“ 238
Dieser Satz deutet auf einen wichtigen Punkt im Verständnis der Bindingschen Rechtsgutslehre: Die Anerkennung eines subjektiven Rechts durch die Rechtsordnung hat stets auch den Schutz der sich daraus ergebenden Rechtsgüter zur Folge, beispielsweise in Form von Gegenständen dieses Rechts oder den tatsächlichen Bedingungen seiner Ausübung. Rechtsgüter bilden sich aber auch unabhängig von subjektiven Rechten durch Anerkennung und rechtliche Ausgestaltung dieser Rechtssubjekte selbst. Ihr Schutz soll dann direkt über Normen im Bindingschen Sinne erfolgen, während die bisher genannten Rechtsgüter aus subjektiven Rechten der einzelnen Rechtssubjekte hervorgehen, die ihrerseits Entstehungsgrund für die sie schützenden Normen sind. Es gehöre „eben zum gesunden Rechtsleben so vieles, was im subjektiven Rechte als solches nicht enthalten ist.“ 239 Zuletzt forme der Staat auch ganz unabhängig von subjektiven Rechten und Rechtssubjekten Rechtsgüter. So schütze er beispielsweise den „[monogamischen] Charakter der Eheordnung“ 240 (§ 172 Abs. 1 RStGB241) ebenso wie die 232 So Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 345; als Beispiele nennt er etwa „das Wild auf den Jagdgründen“, „die Eier und Jungen von jagdbarem Federwild“ sowie den „Bernstein am Ostseestrand“. 233 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 345. 234 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 345. 235 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 345; Hervorhebungen aus dem Original nicht übernommen. 236 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 346; Hervorhebungen aus dem Original nicht übernommen. Binding nennt als Beispiele u. a. die Rechts- und die Testamentsfähigkeit. 237 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 346; hierunter fasst Binding so Verschiedenes wie den Besitz als tatsächliche Ausübung des Eigentums und die Zahlungswilligkeit des Schuldners. 238 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 346. 239 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 346; Hervorhebungen aus dem Original nicht übernommen. 240 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 348.
206
2. Teil: Bindings Normentheorie
„Sicherheit des Eisenbahnverkehrs“ 242 (§ 315 Abs. 1 RStGB243) und die „Ungeschlechtlichkeit des Verkehrs zwischen nächsten Blutsverwandten und den Angehörigen gleichen Geschlechts“ 244 (§ 173 Abs. 1, 2 und 4 sowie § 175 RStGB245). Damit lässt sich der Bindingsche Rechtsgutsbegriff in seinem Verhältnis zu subjektiven Rechten etwas genauer umreißen. Keine Unterscheidungsmöglichkeit bietet zunächst das Begriffspaar materiell/immateriell, denn es gebe „sowohl Rechte an materiellen wie an immateriellen Gütern (Eigentum – Autorrecht), und es giebt andrerseits der Sinnenwelt angehörige und ihr nicht angehörige Rechtsgüter, welche nicht Gegenstände subjektiver Rechte sind (Leben – Ehre).“ 246
Der Weg einer Unterscheidung zwischen „Tatsächlichem“ und bloß „Rechtlichem“ führt aber auf eine richtige Spur: Alle bei Binding aufgelisteten Rechtsgüter – auch die immateriellen – sind durch die Zuwiderhandlung gegen die sie
241 In der erst zum 1.9.1969 abgeschafften Ehebruchsregelung des alten, mit dem RStGB am 1.1.1872 in Kraft getretenen § 172 Abs. 1 RStGB hieß es: „Der Ehebruch wird, wenn wegen desselben die Ehe geschieden ist, an dem schuldigen Ehegatten, sowie dessen Mitschuldigen mit Gefängniß bis zu sechs Monaten bestraft.“ 242 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 349. 243 § 315 Abs. 1 RStGB lautete in der bis zum 1.9.1935 geltenden, am 1.1.1872 in Kraft getretenen Fassung: „Wer vorsätzlich Eisenbahnanlagen, Beförderungsmittel oder sonstiges Zubehör derselben dergestalt beschädigt, oder auf der Fahrbahn durch falsche Zeichen oder Signale oder auf andere Weise solche Hindernisse bereitet, daß dadurch der Transport in Gefahr gesetzt wird, wird mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren bestraft.“ 244 Vgl. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 348 f. Die Annahme ist durchaus rechtspositivistisch konsequent und beinhaltet für sich keine moralische Bewertung. Sie spiegelt lediglich die jeweiligen Strafgesetze (§§ 173 u. 175 RStGB) wider. Siehe u. S. 216 ff. zur Untauglichkeit der Bindingschen Rechtsgutslehre als Strafrechtslegitimation. 245 § 173 Abs. 1, 2 und 3 RStGB lauteten in der bis zum 1.10.1953 geltenden, am 1.1.1872 in Kraft getretenen Fassung: „(1) Der Beischlaf zwischen Verwandten auf- und absteigender Linie wird an den ersteren mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren, an den letzteren mit Gefängniß bis zu zwei Jahren bestraft. (2) Der Beischlaf zwischen Verschwägerten auf- und absteigender Linie, sowie zwischen Geschwistern wird mit Gefängniß bis zu zwei Jahren bestraft. [. . .] (4) Verwandte und Verschwägerte absteigender Linie bleiben straflos, wenn sie das achtzehnte Lebensjahr nicht vollendet haben.“ § 175 RStGB lautete in der bis zum 1.9.1935 geltenden, am 1.1.1872 in Kraft getretenen Fassung: „Die widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen männlichen Geschlechts oder von Menschen mit Thieren begangen wird, ist mit Gefängniß zu bestrafen; auch kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden.“ Bekanntlich wandte man sich gerade gegen diese Vorschrift im Verlaufe ihrer unrühmlichen Geschichte immer wieder mit dem Argument einer fehlenden Rechtsgutsverletzung. Wie zu sehen sein wird, eignet sich Bindings Rechtsgutslehre für eine solche Kritik jedoch nicht im Geringsten. 246 Binding, Handbuch, S. 169 f.
D. Die Rechtsgutslehre Bindings
207
schützende Norm tatsächlich verletzbar.247 Wird das Rechtsgut „Leben“ eines Menschen verletzt, ist es unwiederbringlich verloren. Auch das Rechtsgut, auf das sich ein subjektives Eigentumsrecht bezieht, ist verletzbar, die körperliche Unversehrtheit des Menschen, sein Vermögen, seine Freiheit et cetera. Schließlich wird auch die Ehre als immaterielles Rechtsgut von einer Ehrverletzung tatsächlich beeinträchtigt. Umgekehrtes gilt für die subjektiven Rechte. Dass auch das Recht an der Sache untergehen kann, ist, wie bereits beschrieben und von Binding zurecht betont, Ergebnis nicht des tatsächlichen Geschehnis, sondern seiner rechtlichen Ausgestaltung als Endigungsgrund des Eigentumsrechtes. Auch das Urheberrecht überlebt den Verstoß unbeschadet. Gerade das macht ein subjektives Recht aus, gerade das soll nicht zuletzt auch für die Norm als staatliches, subjektives Gehorsamsrecht gelten: „Was man Verletzung subjektiver Rechte nennt, ist nie eine Aufhebung ihrer Gültigkeit, sondern eine tatsächliche Beschränkung ihrer Geltung. Das Leben weigert sich den Rechten gemäss sich auszugestalten oder wandelt seine bisherige Rechtsgestalt zum Schlechteren um. [. . .] Grade wenn ihm nicht entsprochen wird, bedarf das subjektive Recht seiner vollen Rechtskraft um sich durchzusetzen. Büsst es aber im Moment der Gefahr Haupt oder Glieder ein, so war es von Anfang an des Untergangs wert.“ 248
Alles Tatsächliche, dessen Wert das Recht besonders hervorhebt, ist für Binding also ein Rechtsgut. Die Kette der Herleitungen von Norm und Rechtsgut kann dabei in beiderlei Richtungen verlaufen: Der Gesetzgeber kann ein Strafrecht schaffen, das wiederum eine Norm logisch voraussetzt, deren tatsächliches Schutzobjekt Rechtsgutstatus erlangt. Gewährt der Gesetzgeber dem Einzelnen aber beispielsweise ein subjektives Recht, so verläuft die Kette umgekehrt. Dann werden die tatsächlichen Bedingungen der Ausübung dieses Rechts gleichsam zum Rechtsgut erhoben; der Anspruch innerer Wertkohärenz des Rechts führt zur Annahme einer Norm zum Schutz dieses Rechtsguts. Zuletzt lässt sich feststellen, dass der Schutz von Rechtsgütern bei Binding auffallend häufig selbst dann nicht mit einem subjektiven Recht (außer dem staatlichen Recht auf „Botmässigkeit“) korrespondiert, wenn es sich um Individualrechtsgüter handelt.249 Ein Großteil der Individualrechtsgüter ist nach der Sichtweise Bindings nicht das tatsächliche Schutzobjekt subjektiver Rechte. Derartiges behauptet er in Bezug auf so elementare Rechtsgüter wie Leben, Gesundheit, Freiheit und persönliche Ehre, aber auch hinsichtlich zahlreicher weniger bedeutender Rechtsgüter, etwa des Pietätsgefühls.250 Ein subjektives „Recht am 247
Vgl. bspw. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 343. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 296. 249 Vgl. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 347 ff. zum Schutz der „Rechtsgüter des Reichs und seiner Bundesstaaten als Rechtssubjekte“, der „ziemlich analog“ (S. 347) zum Schutz der Personen verlaufe. 250 Vgl. die Übersicht bei Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 346 f. 248
208
2. Teil: Bindings Normentheorie
Menschenleben oder an der Körperintegrität“ ist für ihn ebenso undenkbar wie ein „Recht auf Ehre“,251 ohne dass dies Auswirkungen auf das Verbot der Tötung, von Körper- oder Ehrverletzungen hätte. Diese aus heutiger Sicht eigentümlich erscheinende Ansicht, nach der es lediglich ein rechtlich geschütztes Gut „Leben“, aber kein Recht des Rechtsgutträgers252 darauf gibt, lässt sich in sämtlichen Auflagen der „Normen“ sowie in einer Stelle der „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ belegen.253 Entsprechend dem Bindingschen Verständnis eines Eigentumsrechts neben einem Rechtsgut „Eigentum“ als tatsächliche Angriffsfläche des Rechts wäre jedoch auch ein Recht auf Leben, auf körperliche Unversehrtheit, auf Freiheit und so weiter problemlos konzipierbar gewesen. Die Statuslehre Jellineks, erstmals erschienen 1892 im „System der subjektiven öffentlichen Rechte“, zeigte die mögliche Struktur solcher subjektiven Rechte bereits detailliert auf.254 Obwohl die Ansicht Bindings an keiner Stelle ausführlich erklärt wird, lassen sich doch Rückschlüsse aus einzelnen Kommentaren ziehen. Die Gründe, die ihn dazu bewogen, subjektive Rechte in diesen Fällen abzulehnen, scheinen für verschiedene Rechtsgüter jeweils unterschiedlich zu sein. Verstreut über sein Gesamtwerk verfolgt er insgesamt drei Argumentationslinien: Zum einen scheint er subjektive Rechte gegenüber dem Staat in einer zeittypisch etatistischen Argumentationsweise generell abzulehnen [a)]. Im „Recht auf Leben“ sieht er darüber hinaus eine „Versachlichung“ des Menschen, die dem positiven Recht nicht zu entnehmen sei [b)]. Schließlich kritisiert er die Annahme bestimmter subjektiver Rechte, weil diese den Zwecken des Rechts zuwider liefen [c)]. a) Etatistische Kritik an subjektiven Rechten wider den Staat Eine Anzahl Juristen bestritt im Anschluss an Bornhak255 bis zum Ende der Kaiserzeit die Möglichkeit subjektiver Rechte gegenüber dem Staat insgesamt. Auch unter jenen, welche die grundsätzliche Möglichkeit solcher Rechte zugestanden, blieb die subjektive Natur der Grundrechte in den Verfassungen der 251
Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 343. Leben, körperliche Integrität, Ehre usw. sind natürlich insofern Gegenstände subjektiver Rechte, als staatliche Normen ihre Verletzung verbieten; ein Schutz, der bei Binding jedem Rechtsgut zukommen muss. Diese subjektiven Rechte des Staates konzipiert Binding allerdings als staatliche Rechte auf Gehorsam. Weder handelt es sich also um subjektive Rechte des Rechtsgutträgers, noch ist das Rechtsgut unmittelbarer Inhalt dieses subjektiven Rechts. Der Schutz dieser Rechtsgüter geschieht lediglich mittelbar, indem die Gehorsamspflicht wiederum zum Inhalt hat, jene Rechtsgüter nicht zu verletzen oder zu gefährden. 253 Siehe dazu u. S. 209 ff., 335 ff. 254 Vgl. Jellinek, System, S. 89 ff. 255 Bornhak, Preussisches Staatsrecht, Bd. 1, S. 269. Für einen Überblick zur historischen Entwicklung dieser Frage siehe Kraft, in: Kluth/Rennert (Hrsg.), Entwicklungen im Verwaltungsprozessrecht, S. 13 (18 ff.). 252
D. Die Rechtsgutslehre Bindings
209
Bundesstaaten überaus strittig.256 Man befürchtete eine Verwechslung bloßer Reflexwirkungen des objektiven Rechts mit subjektiven Rechten. Für eine solche Verwechslung scheint Binding jedenfalls den Schluss auf bestimmte subjektive Rechte gehalten zu haben. Insbesondere hinsichtlich solcher subjektiver Rechte, die den Rechtsgütern Leben, körperliche Unversehrtheit und Freiheit gegenüberstehen, bedient er sich dieses Arguments. So habe „die falsche Verwandlung von Rechtsgütern in Rechte“ zu der Vorstellung geführt, jedes Verbrechen bestehe aus der Verletzung wenigstens eines weiteren subjektiven Rechts neben dem bloßen staatlichen Gehorsamsrecht.257 Noch deutlicher spricht er später in der „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ von einer „Verwechslung der Reflexwirkungen von Verboten mit solchen [sc. subjektiven] Rechten“.258 Es findet sich überdies an keiner Stelle in Bindings Werken ein Verweis auf öffentliche subjektive Rechte, die nicht subjektive Rechte des Staates gegenüber seinen Bürgern wären. Auch Bindings Rechtsquellenverständnis legt eine solche Sichtweise nahe: Wie Rechtsgüter hätten schließlich auch die in den Raum gestellten subjektiven Rechte ihren Ursprung im staatlich organisierten Gemeinwesen259 als Rechtsquelle. Die Rechtsquelle garantierte dann ein Recht gegen einen wesentlichen Teil ihrer selbst. Wenn die Verletzung aber im Einklang mit dem Willen der Rechtsquelle geschieht, so kann sie im Denken Bindings auch keinem subjektiven Recht zuwiderlaufen. Ein Recht gegen den Staat musste im staatsgläubigen Kaiserreich auf Widerstand stoßen; in diesen breiteren Widerstand einer etatistischen Jurisprudenz scheint sich Binding hier einzureihen. Einiges deutet darauf hin, dass Binding jedenfalls die positivrechtlichen Anknüpfungspunkte der hier diskutierten Rechte als unzureichend für die Begründung subjektiver Rechte gegen den Staat sah. Damit blieb nur die implizite Ausformung als Rechtsgüter durch Anerkennung des Rechtssubjektes und durch verschiedene Strafgesetze, die Normen zum Schutz dieser Rechtsgüter voraussetzen.260 b) „Recht am Leben“ als Versachlichung des Menschen Besonders interessant im Hinblick auf die spätere Analyse der „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ ist ein weiterer Argumentationsstrang, in dem Binding die Konzeption eines subjektiven „Rechts am Leben“ zur Frage 256 Ablehnend etwa O. Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, Bd. 1, S. 74 f.; Laband, Staatsrecht, Bd. 1, S. 138; Anschütz, in: Encyklopädie der Rechtswissenschaft, Bd. 2, S. 534 f. Siehe für einen geschichtlichen Überblick i. Ü. H. Bauer, Lehre vom subjektiven öffentlichen Recht, S. 65 ff. m.w. N. 257 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 342. 258 Binding/Hoche, Freigabe, S. 11. 259 Vgl. Binding, Handbuch, S. 198 f., Fn. 6. 260 Vgl. Binding, Handbuch, S. 719.
210
2. Teil: Bindings Normentheorie
menschlicher Würde stilisiert. Diese hat für Binding als Rechtspositivist natürlich nicht per se rechtliche Relevanz. Allerdings verschwimmt hier die Grenze zwischen positiver und überpositiver Argumentationsweise insofern, als dem Willen des staatlich organisierten Gemeinwesens261 ohne weitere Belege eine Beachtung eines gewissen menschlichen Würdegehalts zugesprochen wird. Binding hält diesen überpositiven Wert offenbar für gesellschaftlich so stark verankert, dass seine Existenz auch im Geist des positiven Rechts selbstverständlich ist und daher keiner weiteren Argumentation bedarf.262 Zu einem subjektiven „Recht am Leben“ führt er nun aus: „[D]em Rechte als der Ordnung des menschlichen Gemeinschaftslebens widerstrebt [es] die Scheidung von Rechtssubjekt und Rechtsobjekt auf das Individuum zu übertragen und dieses einem Dualismus untertan zu machen, wonach es auch für sich selbst Güterqualität, vielleicht gar Sachenqualität annehmen muß, damit es Rechte an sich selbst und Rechtspflichten wider sich selbst erlangen könne.“ 263
Wie weit diese Bedenken gingen, ob sie sich neben dem hier gemeinten Rechtsgut „Leben“ tatsächlich auch auf alle anderen denkbaren subjektiven Rechte auf bestimmte Facetten der Person, ihre Freiheit, Gesundheit, Ehre und so weiter beziehen sollen, lässt sich nicht mehr ermitteln. Nimmt man Binding an dieser Stelle beim Wort, so ist der Ausschluss eines Rechts auf oder am Leben für ihn ein allgemeiner rechtlicher Grundsatz, nachdem eine als unwürdig empfundene „Versachlichung“ des Menschen auszuschließen sei; modern gesprochen hielte er die Zuerkennung eines subjektiven Rechtes auf Leben – kurioserweise – für menschenunwürdig. c) Konflikt mit den Zwecken des Rechts Gesundheit, Freiheit, Ehre und Leben können laut Binding als „Qualitäten des Menschentums“ nicht Gegenstand von Berechtigungen des Menschen sein. Derartige Rechte an oder auf Gesundheit et cetera seien „schlechterdings undenkbar“.264 Leider sind die Anhaltspunkte zum konkreten Inhalt dieses Arguments in den Bindingschen Schriften eher spärlich. Grundlage seiner Annahme ist wohl ein Schluss aus den bereits vorgestellten Argumentationen: Den (teilweise in den Verfassungen der Bundesstaaten enthaltenen) Grundrechten spricht er allem Anschein nach die subjektivrechtliche Natur ab. Das für ihn hier in Frage stehende subjektive Recht ist daher die ausdrücklich zugebilligte privatrechtliche Verfügungsmacht über die genannten Güter. Ein durch das staatlich organisierte Ge261
Vgl. Binding, Handbuch, S. 198 f., Fn. 6. Zu derartigen idealistischen Tendenzen in Bindings Auslegung siehe bereits o. S. 52 ff. 263 Binding, Handbuch, S. 699; in der Freigabe, S. 13 zitiert Binding sich mit diesen Worten selbst. 264 Binding, Handbuch, S. 697. 262
D. Die Rechtsgutslehre Bindings
211
meinwesen265 anerkanntes Recht, über die genannten Rechtsgüter zu verfügen, mithin die eigene Ehre, Gesundheit oder Freiheit auch zu verringern oder ganz aufzugeben oder das eigene Leben zu beenden, widerspricht dem Verständnis Bindings. Etwa hinsichtlich der Rechtsgüter Leben und körperliche Unversehrtheit führt er aus, entsprechende Rechte liefen „so allen Zwecken des Rechts zuwider, dass nur derjenige auf den Gedanken verfallen kann, der wie die Naturrechtslehrer zumeist unverboten mit erlaubt verwechselt.“ 266 Wie wir sahen, hält er solche Rechte an sich selbst für eine unwürdige Verdinglichung des Menschen. Binding fällt es auch deshalb leicht, die Behauptung derartiger Rechte als Verwechslung von Unverbotenheit und Rechtmäßigkeit abzutun, weil die Konsequenzen seiner Ansicht unter der Prämisse einer rein objektivrechtlichen Natur der Grundrechte überschaubar sind: Hinsichtlich Beeinträchtigungen der eigenen Ehre, der eigenen Gesundheit und so weiter ergibt sich durch die bloße Unverbotenheit kein Unterschied gegenüber der Rechtmäßigkeit solcher Handlungen. Wird ein Rechtsgut durch Private verletzt, so ist diese Verletzung schon nach der das Rechtsgut schützenden Norm untersagt. Zudem ergäben sich verschiedentlich private subjektive Rechte – etwa aus § 823 Abs. 1 BGB –, die an eine derartige Rechtsgutsverletzung anknüpfen. Ein subjektives Recht auf oder an der Gesundheit, dem Leben et cetera hätte für Binding also in vielen Fällen schlicht keinen denkbaren Inhalt, der über den allgemeinen Normschutz von Rechtsgütern und den Schutz durch das Privatrecht hinausginge. Die Tragweite dieser Argumentationsweise wird von Binding freilich deutlich überschätzt, wenn er in der „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ behauptet, ein „Recht auf Leben“ sei schon deshalb undenkbar, weil es dazu führe, dass „die Tötung des beachtlich Einwilligenden [. . .] als rechtmäßige Tötungshandlung betrachtet werden“ müsse.267 § 216 RStGB lässt sich nicht nur mit Bindings Annahme einer fehlenden Verfügungsmacht über das betroffene Rechtsgut erklären, sondern ebensogut mit der unwiderleglichen Vermutung einer Übereilung. Binding wartet hier letztlich nicht mit einem sachlogischen Argument auf, sondern mit einem einfachen Postulat. 2. Abgrenzung von Rechtsinteressen Hinter dem beschriebenen Rechtswillen, einen bestimmten Zustand, eine Person oder eine Sache als schutzwürdig zu betrachten und somit zum Rechtsgut zu erklären, sieht Binding ein Werturteil. Dieses Werturteil sei „zweifellos das einzige Motiv gesetzgeberischen Rechtsschutzes“ und komme „zum Ausdruck in Norm und Strafgesetz.“ 268 Keinesfalls dürfe dieses „Motiv“ als das bloße 265 266 267 268
Vgl. Binding, Handbuch, S. 198 f., Fn. 6. Binding, Handbuch, S. 698. Binding/Hoche, Freigabe, S. 13. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 357.
212
2. Teil: Bindings Normentheorie
„Interesse“ der Rechtsordnung am Bestehen dieses Rechtsguts jedoch mit dem Rechtsgut selbst verwechselt werden. Das Werturteil bilde „den Grund jeder, den Gegenstand keiner Norm.“ 269 Den in der Literatur vielfach als Gegenbegriff zum Rechtsgut bevorzugten Begriff des „Interesses“ weist Binding damit scharf zurück. Er führe in letzter Konsequenz dazu, dass man stets nachzuweisen hätte, „dass die Gutsverletzung im konkreten Fall dem Unwerturteil der Gemeinschaft“ entspreche270 – und damit zu äußerst schwierigen Beweisfragen, die das Gesetz aber gar nicht vorsehe. Den „Interessenbegriff“ zeichnet Binding so als einen außerrechtlichen. Die Rechtsgüter ergäben sich strikt aus dem Recht selbst und hätten Bestand, bis die Rechtsquelle ihren Willen ändere. Ob die Rechtsgemeinschaft zwischenzeitlich das Interesse am Weiterbestehen des Rechtes verloren habe oder nicht, spielt für Binding also nur insoweit eine Rolle, als dies die Motivation für eine Änderung des Rechts darstellen könnte. Der Unterschied seiner Sichtweise zu interessenbasierten Rechtsgutslehren ist dennoch unbedeutend, wenn diese die geschützten Interessen in völliger Abhängigkeit von den Wertentscheidungen des positiven Rechts ermitteln, wie dies beispielsweise bei Liszt geschieht.271 Durch die Rückführung auf übergeordnete Interessen lässt sich zwar die unübersichtliche Vielzahl von Rechtsgütern ordnen. Die Stellung der Rechtsgüter in teleologischen Überlegungen Bindings unterscheidet sich aber nicht von derjenigen der Interessen bei Liszt. Insoweit rechtliche Wertungsunterschiede ermittelt werden sollen, geschieht dies nämlich hauptsächlich anhand des Strafmaßes, mit dem die Übertretung einzelner Normen belegt ist, welche wiederum dem Rechtsgüterschutz dienen. Unterscheiden sich die vorgesehenen Strafen für die Verletzung zweier verschiedener Rechtsgüter im Sinne Bindings, denen aber ein gemeinsames Interesse im Sinne Liszts zugrundeliegt, so muss auch letzterer im Ergebnis auf die einzelnen Rechtsgüter schließen, deren Verletzung das Gesetz offenbar eine unterschiedliche Bedeutung für das jeweils geschützte Interesse beimisst. So hält Binding etwa das Rechtsgut, welches von derjenigen Norm geschützt wird, die durch § 173 Abs. 2 RStGB vorausgesetzt wird, für die „Ungeschlechtlichkeit des Verkehrs zwischen nächsten Blutsverwandten und den Angehörigen gleichen Geschlechts“,272 während § 176 Abs. 1 Nr. 1 RStGB eine Norm voraussetzen soll, die neben der körperlichen Unversehrtheit und der freien Selbstbestimmung der Frau auch das Rechtsgut der „Geschlechtsehre der Frau“ 273 schützen soll. Liszt hingegen fasst beide Strafgesetze als Ausdruck des Interesses der „geschlechtli269
Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 357. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 359. 271 Vgl. Liszt, Lehrbuch, 21. u. 22. Aufl. 1919, S. 4 f.; siehe dazu Schünemann, in: Hefendahl u. a. (Hrsg.), Rechtsgutstheorie, S. 133 (142 f.). 272 Vgl. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 348 f. Siehe dazu bereits o. Fn. 245. 273 Vgl. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 347. 270
D. Die Rechtsgutslehre Bindings
213
chen Sittlichkeit“, spaltet dieses aber alsbald weiter auf in das „geschlechtliche Gefühl“ und „geschlechtliche Freiheit“ und setzt letzteres schließlich „wegen der sozialen Bedeutung des Geschlechtslebens auch mit der Ehre“ in Beziehung.274 Die unterschiedliche Strafbarkeit in den genannten Paragraphen begründet sich bei ihm dadurch, dass die Rechtsordnung das Interesse an der geschlechtlichen Sittlichkeit durch die Delikte unterschiedlich stark verletzt sehe. In der Dogmatik Bindings wurde dieselbe Erwägung zur Grundlage der Schaffung zweier unterschiedlicher Rechtsgüter, deren Gewicht die Rechtsordnung unterschiedlich bemesse. In der Sache ergeben sich also keine Unterschiede. Mit seinem Rechtsgutsbegriff kann Binding daher sämtliche teleologischen Überlegungen interessenbasierter Theorien nachvollziehen, insoweit das jeweilige Interesse wie seine Rechtsgüter streng intrajuristisch hergeleitet wird. In der Lehre Bindings hat der Interessenbegriff somit keine sinnvolle Funktion; er kann ihn neben den Rechtsgütern nicht verorten und lehnt ihn deshalb als Teil strafrechtlicher Dogmatik insgesamt ab. Übergeordnete Interessen hinter den Rechtsgütern versteht er als extrajuristische Motivation des Gesetzgebers für die Aufstellung der jeweiligen Rechtsgüter. 3. Etatistisch-monistisches Rechtsgutsverständnis bei Binding? Binding legt wert auf die Feststellung, dass sich das Werturteil, welches als Motivation für ein bestimmtes Rechtsgut diente, nur als „ein solches der Rechtsgemeinschaft für diese“275 auffassen lasse. Dieser zunächst banal klingende Satz birgt weitreichende Konsequenzen, die ihm in jüngerer Zeit den Vorwurf einer „monistisch-etatistischen Rechtsgutslehre“ einbrachten:276 Das Individualinteresse an einem bestimmten Zustand, einer Person, einer Sache oder einer Eigenschaft derselben – kurzum an allem, das nach Binding zu einem Rechtsgut erhoben werden könnte – ist für ihn als solches belanglos. Bedeutung komme ihm nur insoweit zu, als die Rechtsgemeinschaft erkennen könnte, dass die Befriedigung dieses Interesses auch in ihrem Interesse liege. In diesem Fall könnte das Ge-
274 Vgl. Liszt, Lehrbuch, 21. u. 22. Aufl. 1919, S. 347. Dass Liszt selbst die interessenorientierte Rechtsgutslehre im Regelfall zugunsten einer Binding sehr ähnlichen Betrachtungsweise vernachlässigte, belegt sein eigenes Lehrbuch, 21. u. 22. Aufl. 1919 an zahlreichen Stellen. So überschreibt er, um nur ein Beispiel zu nennen, den zweiten Abschnitt seines Werks (S. 323 ff.) mit „Strafbare Handlungen gegen unkörperliche Rechtsgüter“; das Interesse an bestimmten tatsächlichen Umständen als Rechtsgut in seinem Sinne ist aber stets unkörperlich. Gemeint sind hier wie andernorts die tatsächlichen Umstände, auf die sich das Interesse bezieht, wenn und soweit dieses Interesse rechtliche Anerkennung gefunden hat. Der sachliche Unterschied zu Binding schmilzt so noch weiter zusammen. 275 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 357; Hervorhebung hinzugefügt. 276 Benthin, Subventionspolitik, S. 209 ff.; ähnlich Ehret, Gesetzlichkeitsprinzip, S. 157 ff.; in dieselbe Richtung zielt auch Pawlik, Unrecht, S. 114.
214
2. Teil: Bindings Normentheorie
meinschaftsinteresse nach oben beschriebenem Muster zum Gesetzgebungsmotiv werden und damit mittelbar zur Entstehung eines Rechtsguts führen. „Das Rechtsgut“, schreibt Binding daher, „ist stets Rechtsgut der Gesamtheit, mag es scheinbar noch so individuell sein.“ 277 Korrelationen zwischen Individual- und Gemeinschaftsinteresse seien natürlich möglich, wenn „die Gesamtheit ein Gut der [. . .] Person lediglich insoweit für schutzbedürftig erachtet als deren individueller Erhaltungswille sich auf dieses Gut richtet.“ 278 Wesensmäßig aber bestehe zwischen den Interessenlagen Einzelner und Rechtsgütern keinerlei Zusammenhang. Wenn Binding also beispielsweise in seinem „Handbuch“ die Strafbarkeit des Selbstmordversuchs mit dem wohlklingenden Argument ablehnt, sie setze „einen herabwürdigenden Dualismus voraus, in dem der Einzelne zu sich selbst in eine sachenähnliche Beziehung gesetzt wird“,279 dann ist stets zu bedenken, dass dieses Argument für Binding nicht für sich von Wert ist. Es hat vielmehr nur insofern Bedeutung, als die Rechtsgemeinschaft es nachvollzieht und bedeutet mitnichten die Anerkennung menschlicher Würde als festen Wert unabhängig vom Willen der Gemeinschaft. Ein solcher hätte in Bindings Rechtsdogmatik auch keinen Platz: Jeder rechtliche Wert ist für ihn zwingend abhängig vom geäußerten Willen der Rechtsquelle. Der Vorwurf eines „monistischen Etatismus“ ist trotz der vorgestellten Ausführungen allerdings nicht gerechtfertigt. Es handelt sich bei Bindings Rechtsgutskonzeption nicht etwa um eine besondere Hervorhebung der Rolle des Staats, sondern schlicht um einen konsequenten Rechtspositivismus: Die staatlich organisierte Gemeinschaft280 ist nach der Auffassung Bindings die einzige Rechtsquelle, auf ihren Willen lassen sich sämtliche Rechtssätze zurückführen. Trotz der durchaus etatistischen Konsequenz, die Binding hieraus wohl bezüglich möglicher Abwehrrechte gegen den Staat zieht,281 ist die zugrundeliegende Sichtweise bis heute herrschend. Recht bedarf nämlich nach allen positivistischen Rechtstheorien begrifflich eines Moments der Wirksamkeit.282 Die Feststellung dieses Moments geschieht allgemein durch einen Verweis auf einen bestimmten 277
Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 358; Hervorhebung hinzugefügt. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 358; als Beispiel nennt Binding die Einwilligung bei der Körperverletzung. 279 Binding, Handbuch, S. 699. 280 Vgl. Binding, Handbuch, S. 198 f., Fn. 6. 281 Siehe dazu bereits o. S. 208 f. 282 Selbst Kelsen, Reine Rechtslehre, 1. Aufl. 1934, S. 65 erkennt eine derartige Voraussetzung allen Rechts implizit an, wenn er die historisch erste Grundnorm einer Rechtsordnung auf den Willensakt eines „Usurpator[s]“ oder eines „irgendwie gebildeten Kollegium[s]“ zurückführt. Entscheidend für die Entstehung einer Rechtsordnung ist damit in letzter Instanz ein tatsächlicher, durchsetzungsfähiger Wille. Mit diesem räumlich-zeitlichen Ursprung des Rechts befasst sich die Reine Rechtslehre freilich nicht weiter; um ihrem eigenen Reinheitsanspruch gerecht zu werden, hypothetisiert sie die Grundnorm. 278
D. Die Rechtsgutslehre Bindings
215
Grad an tatsächlicher Durchsetzbarkeit und tatsächlicher Anerkennung gesetzter Normen. Beide Elemente, die in verschiedenen positivistischen Rechtstheorien selbstverständlich teilweise sehr unterschiedlich betont werden, führen auf die Gemeinschaft zurück, in der die Normen existieren sollen: Tatsächliche Durchsetzbarkeit setzt einen Mechanismus des Zwangs durch eine übergeordnete Stelle voraus, die als „Staat“ zu bezeichnen kaum zu weit gegriffen sein wird; ein bestimmter Grad der Anerkennung kann nur von einer irgendwie bestimmten Gemeinschaft von Menschen ausgehen. Außerhalb dieses weiten Rahmens ist Recht kaum vorstellbar. Insbesondere bilden die Möglichkeiten privater Rechtsschöpfung keine Ausnahme vom dargestellten Gedanken: Recht entsteht auch dort nur, wenn und insoweit die Willenserklärungen Einzelner mit rechtlichen Wirkungen ausgestattet werden. Privatautonomie selbst lässt sich – abseits naturrechtlicher Argumentationsmuster – nicht privatautonom begründen. Die private Rechtsmacht ist damit nie originär, sondern beruht auf der Entscheidung einer Rechtsquelle, die sich mit Binding durchaus bis heute als staatlich organisiertes Gemeinwesen283 bezeichnen ließe. Da sich die Bindingschen Rechtsgüter ausschließlich aus den Wertentscheidungen des positiven Rechts ergeben sollen, sind auch sie in ihrer Gesamtheit zwingend auf den Willen dieser Rechtsquelle zurückzuführen. Entgegen dem ersten Anschein dürfen die Ausführungen Bindings daher nicht als Ablehnung individualistischer Betrachtungsweisen in der Rechtsgutslehre gewertet werden. Lediglich den letzten Grund eines Individualrechtsguts, dessen Bestand vollständig in die Hände seines Inhabers gelegt wird, sieht er in der Entscheidung der Rechtsquelle, das Rechtsgut als ein individuelles zu wollen. Nur insofern versteht er alle Rechtsgüter als solche der Gesamtheit und nur aus dieser Erwägung heraus kritisiert er die dogmatische Unterteilung in Individual- und Kollektivrechtsgüter.284 Auch nach Bindings Verständnis des positiven Rechts ist also das Leben des Einzelnen Rechtsgut – und nicht etwa sein Wert für die Gemeinschaft. Gleiches gilt für jedes andere Individualrechtsgut: Die Schriften Bindings liefern weder Anhaltspunkte für einen Ausschluss, noch für eine generelle Entwertung individueller Rechtsgüter.285 Binding macht die Rechte und Rechtsgüter Einzelner 283
Vgl. Binding, Handbuch, S. 198 f., Fn. 6. Vgl. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 340 f. m. Fn. 4. Wie seine Kritik zu verstehen ist, offenbart sich bereits durch seinen Verweis auf Jhering, mit dessen Konzeption er sich nicht im Widerspruch sieht. Da jedes Rechtsgut auf einer Wertbeimessung der Rechtsgemeinschaft beruht und deshalb auch Rechtsgüter des Einzelnen dogmatisch problemlos dessen eigenem Zugriff entzogen werden können, hält Binding zwar eine scharfe Unterteilung der verschiedenen Rechtsgüter für schädlich, sperrt sich aber ausdrücklich nicht gegen eine „[praktikabele] Gruppirung“. 285 Wenn Pawlik, Unrecht, S. 114 also kritisiert, die Auffassung Bindings sei „unvereinbar mit einem Rechtsverständnis, das auf dem Grundsatz originärer, nicht von der politischen Gemeinschaft abgeleiteter Freiheiten einzelner beruht“, so ficht dies Bindings Lehre nur bedingt an. Ist eine Form von Naturrecht gemeint, das unabhängig von einer irgendwie bestimmten Gemeinschaft von Menschen begründet werden kann und 284
216
2. Teil: Bindings Normentheorie
auch nicht prinzipiell von ihrer Sozialdienlichkeit abhängig. Die Rechtsquelle kann sich bei der Bestimmung des Rechts vielmehr ebensogut von kollektivistischen wie von individualistischen Motiven leiten lassen; sie ist „in der Schaffung von Rechtsgütern [. . .] nur durch ihre eigene Erwägung und durch die Logik beschränkt.“ 286 Selbst die Anerkennung eines Naturrechtssystems stellte Bindings Sichtweise nicht auf die Probe, wenngleich sich dessen Geltung (positiviert) aus dem Willen der Rechtsquelle ergäbe. „Monistisch“ ist damit ausschließlich das positivistische Rechtsquellenverständnis Bindings, nicht aber seine Rechtsgutslehre. Unter rechtspositivistischen Prämissen stellen seine Ausführungen daher letztlich eine Selbstverständlichkeit dar. Jede Lehre, die Rechtsgüter als Schutzobjekte ausschließlich den Wertungen des positiven Rechts entnimmt, muss die Darstellungen Bindings bis heute als logisch zwingend nachvollziehen. Während Binding also im Allgemeinen durchaus das typische Autoritätsdenken der Kaiserzeit unterstellt werden darf, ist seine Rechtsgutslehre gerade kein Beispiel dieser Geisteshaltung. 4. Eignung der Rechtsgutslehre zur Bestimmung des materiellen Verbrechensinhalts und zur Strafrechtslegitimation Die Rechtsgutslehre dient Binding dazu, die bloß formale Verbrechensbestimmung als schuldhafte und strafbewehrte Normübertretung materiell aufzufüllen.287 Diese Zweckbestimmung ist aus heutiger Sicht leicht misszuverstehen: Keinesfalls dachte Binding damit an einen Verbrechensbegriff jenseits des positiven Rechts, etwa im Sinne einer moralisch verwerflichen Schädigung Anderer, des Gemeinschaftsschädlichen oder „an sich“ Strafwürdigen. Auch der materielle Verbrechensinhalt steht im Einklang mit der rechtspositivistischen Denkweise Bindings. Er folgt vorgabenlos dem Willen der Rechtsquelle und kann damit jeden Inhalt haben, den ihm die staatlich organisierte Gemeinschaft geben will. Bei der Rechtsgutslehre geht es Binding also nicht um eine Eingrenzung des Strafwürdigen. Seine ausgiebige Beschäftigung mit dem Angriffsziel des Delikts dessen Geltung sich nicht mit dem Willen einer positiven Rechtsquelle begründen lässt, so steht es tatsächlich in auflösbarem Widerspruch mit der Bindingschen Lehre. Geht es Pawlik allerdings um ein dem modernen demokratischen Staatswesen zugrundeliegendes, freiheitliches Rechtsdenken, das dem Staat den Zugriff auf bestimmte Freiheitsrechte seiner Bürger entzieht, so ist dies problemlos mit Bindings Rechtsverständnis vereinbar. Binding beschreibt nicht mehr als die begriffliche Abhängigkeit allen Rechts von einer Form der Gemeinschaft, keinesfalls aber die kollektivistische Ausrichtung eines so bestimmten Rechts. 286 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 340. Dies übersieht Pawlik, Unrecht, S. 114, wenn er Bindings Sichtweise mit derjenigen Sauers, Grundlagen, S. 336 vergleicht. Das Gemeinwohl als solches wird bei Sauer zum Maßstab erhoben, um die rechtfertigende Wirkung der Einwilligung in die Verletzung eines bestimmten Rechtsguts festzustellen. Dieser Gedanke liegt Binding fern. 287 Siehe nur Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 366 f.
D. Die Rechtsgutslehre Bindings
217
adressiert vielmehr einen häufigen Kritikpunkt an seiner Normenlehre: Wenn im Kern des Delikts lediglich ein Ungehorsamsmoment gegenüber einer Norm zu finden sei, es also nicht über einen darüber hinausgehenden Inhalt verfüge, dann bestehe kein materieller Unterschied mehr zwischen einer Urkundenfälschung und einem Mord. In einer rein rechtsdogmatischen Betrachtungsweise erschiene das unterschiedliche Strafmaß als willkürliche Entscheidung des Gesetzgebers, obwohl doch das gesetzliche Leitbild eines materiellen Unterschieds zwischen beiden Delikten allzu deutlich hervorsticht. Das rein formale Ungehorsamsmoment in Bindings Lehre übergehe, so der Vorwurf, das eigentliche Schutzobjekt der Norm und lasse sie als reine Gehorsamsübung erscheinen.288 Die Rechtsgutslehre erlaubt es Binding, die unterschiedlichen Strafmaße verschiedener Strafgesetze mit dem unterschiedlichen Wert der Rechtsgüter zu erklären, die sie schützen. Dieser Wert ist für Binding vollständig abhängig vom Recht, ist selbst Teil des Rechtswillens und kann damit beliebigen Inhalt haben, solange er nur von der Rechtsquelle gewollt ist.289 Rechtsexterne Einflüsse auf den Wert, der einem Rechtsgut beigemessen wird, liegen danach lediglich in der Lebenswirklichkeit der staatlich organisierten Gemeinschaft, die als Rechtsquelle über diesen Wert entscheidet; Ethik, Religion und andere Leitprinzipien gewinnen nur mittelbar – über ihre Wirkung auf die Rechtsquelle – Einfluss auf rechtliche Wertentscheidungen. Sie haben weder unmittelbare Wirkung auf die Gestaltung des Rechtsguts, noch stellen sie absolute Werte dar. Letztere und ein damit verknüpftes „Verbrechen schlechthin“ lehnt Binding ausdrücklich ab:290 „Allein beide Voraussetzungen [sc. die historische Unwandelbarkeit der Normen und ihre ausnahmslose Geltung] für die absolute Natur des verbrecherischen Unrechts treffen nicht zu: weder haben die Normen in der Geschichte sich als unveränderlich bewährt, noch giebt es ausnahmslose Verbote und Gebote, noch ist endlich nur das Verhältnis von Regel und Ausnahme stabil geblieben.“ 291
Als Rechtfertigung des Strafgesetzes oder des Strafmaßes kann Bindings Rechtsgutslehre daher nicht dienen. Sie führt keine rechtsexternen Maßstäbe an das Recht heran; was Rechtsgut ist, wird vollständig den Wertungen eines positiven Rechts entnommen, das weitestgehend ohne die Einflüsse anderer Fachwissenschaften auskommt. Der Weg zu einer systemkritischen Funktion der Rechtsgutslehre ist damit versperrt.292 Möglich bleibt natürlich eine Kritik de lege
288
Siehe dazu u. S. 265 ff. Vgl. wiederum Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 340. 290 Vgl. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 127 ff. 291 Binding, Normen, 4. Aufl. 1922, Bd. 1, S. 129. 292 So auch Amelung, in: Hefendahl u. a. (Hrsg.), Rechtsgut, S. 155 (159) u. Vormbaum, Strafrechtsgeschichte, S. 63. 289
218
2. Teil: Bindings Normentheorie
ferenda, indem die Frage gestellt wird, ob bestimmte Rechtsgüter tatsächlich den Schutz des Rechts benötigen oder verdienen. Der Vorteil der Rechtsgutslehre auch auf diesem Gebiet wäre indes überschaubar, zumal eine solche Kritik auch unmittelbar an den Normen oder den Strafgesetzen ansetzen könnte, die beide Ausdruck jener positivrechtlichen Wertung sind, welche zur Grundlage des jeweilig geschützten Rechtsguts wurde. Im Sinne moderner Bestrebungen systemkritischer Rechtsgutstheorien ist Bindings Lehre also weitgehend wertlos. Insoweit Anspruch und Wert der Rechtsgutslehre jedoch eher in der Allgemeinen Rechtslehre gesehen werden,293 darf Binding als Vorreiter der modernen Rechtsgutsdogmatik gelten. Sein weiter Rechtsgutsbegriff vereint die denkbaren Schutzobjekte der Normen. Er bezeichnet zum einen die tatsächlichen Angriffsziele der Normübertretungen. Zum anderen ermöglicht eine genaue Darstellung der Rechtsgutssystematik im Zusammenhang mit den verschiedenen Strafrahmen, welche die Übertretung der die Rechtsgüter schützenden Normen bewehren, ein tieferes Verständnis der positivrechtlichen Wertentscheidungen. Die Rechtsgüter sind zudem Grundlage der teleologischen Überlegungen zum Umfang der Norm in Bindings Theorie. Die Rechtsgutslehre ist somit integraler Bestandteil der Bindingschen Dogmatik. Sie wird nach seinem Verständnis zwingend für eine Darstellung der inneren Funktionsweisen des Rechts gebraucht, ist in einem systemkritischen Sinne jedoch untauglich. Sie bietet einen materiellen Kern der Verbrechen an, bleibt aber selbst formal.
E. Rechtliche Wertungskategorien Aus dem beschriebenen normentheoretischen Grundgerüst ergibt sich im Zusammenspiel mit methodischen Vorstellungen Bindings auch seine Sichtweise verschiedener Bewertungsformen des Rechts. Die Rechtsquelle ist danach nur durch die Logik in ihren Bewertungsmöglichkeiten beschränkt: „Dieselbe Veränderung in der Aussenwelt“, schreibt Binding, „ist bald geboten, bald erlaubt, bald unverboten, bald verboten aber nicht strafbar, bald Verbrechen, also verboten und strafbar.“ 294 Etwas gröber lassen sich diese Begrifflichkeiten in die Kategorien „rechtmäßig“ (I.), „unverboten“ (II.) und „rechtswidrig“ (III.) einordnen.295 Bindings Stellungsnahme fügt sich letztlich in die immer noch aktuelle rechtswissenschaftliche Diskussion um einen „rechtsfreien Raum“ ein und zeigt die häufig unbeachteten geistigen Voraussetzungen der verschiedenen Verständnisse auf (IV.).
293 294 295
Vgl. etwa Amelung, in: Hefendahl u. a. (Hrsg.), Rechtsgut, S. 155 (182). Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 131. Vgl. bspw. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 248.
E. Rechtliche Wertungskategorien
219
I. Rechtmäßigkeit Jede Norm besteht nach Binding als eine Regel mit Ausnahmen.296 Eine solche Ausnahme kann den Geltungsbereich einer entgegenstehenden Norm darstellen; wenn diese eine Handlung gebietet, die ansonsten den Teilbereich eines Verbots beträfe, so ist die Handlung trotz eines isoliert betrachtet einschlägigen Verbots geboten und damit rechtmäßig. Eine Norm bildet dann die Ausnahme der anderen, weil das gebotene Verhalten als den Zwecken der Rechtsordnung besonders förderlich gesehen wurde.297 Eine weitere Beschränkung des Normumfangs soll stattfinden, wenn ein bestimmtes Verhalten zwar in Übereinstimmung mit den Zwecken der Rechtsordnung steht, die Rechtsquelle durch ein der vorgestellten Handlungsweise entgegenstehendes Verhalten ihre Ziele aber nicht in einem Maße gefährdet sieht, das ein Gebot und den gegebenenfalls mit einer Unterlassung verbundenen Schuldvorwurf rechtfertigen könnte. In solchen Fällen erlaube die Rechtsordnung also ein Recht auf das entsprechende, ansonsten normwidrige Verhalten. Da beispielsweise die Notwehr neben der den Zwecken der Rechtsordnung allgemein dienlichen Rechtsbewährung auch den Individualrechtsgüterschutz im Blick habe, sich der Individualrechtsgüterbestand bei einer Entscheidung für die Notwehrhandlung aber nicht selten einer noch größeren Gefährdung aussetzen würde, werde ein Recht gewährt, statt ein Verhalten einzufordern.298 Erlaubte und gebotene Handlungen machen bei Binding zusammen den Bereich „rechtmäßiger“ Handlungen aus. Gemeinsam ist diesen eine grundsätzlich positive Bewertung der jeweiligen Handlung durch die Rechtsordnung. Unterschiedlich ist allerdings das Gewicht dieser Bewertung: Im Falle der Erlaubnis wird ein Recht auf die jeweilige Handlung gewährt und Handlungen eines anderen, die auf Verhinderung jener erlaubten Handlung gerichtet sind, werden rechtswidrig; nicht aber wird über denjenigen, der auf die Durchführung der erlaubten Handlung verzichtet, ein Unwerturteil gefällt. Das auf diese Weise entstehende Stufenverhältnis der Bewertungen rechtmäßiger Handlungen hängt bei Binding selbstverständlich ausschließlich von der Willkür der Rechtsquelle ab.299 Diese Erfassung der Rechtmäßigkeit hebt Beling als besonderen Vorteil der Normenlehre hervor.300 Der Tatbestand könne für sich nicht das Verbot darstellen, erlaube er angesichts möglicher Rechtfertigungen doch nicht einmal den sicheren Schluss auf die Rechtswidrigkeit seiner Erfüllung. Erst die festgestellte 296
Vgl. hier und im Folgenden Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 127 ff. Vgl. Binding, Handbuch, S. 174. 298 Vgl. Binding, Handbuch, S. 730 ff. sowie dens., Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 127 ff. 299 Vgl. etwa Binding, Handbuch, 666 f. 300 Beling, Verbrechen, S. 115 ff. 297
220
2. Teil: Bindings Normentheorie
Zuwiderhandlung gegen die Norm im Sinne Bindings erlaube den Schluss auf die Rechtswidrigkeit.
II. Unverbotenheit Die Fassung des „Rechtmäßigen“ stellt für Binding allerdings nicht den gesamten Bereich nicht verbotenen Verhaltens dar. Vielmehr sei die Gestattung eines bestimmten Verhaltens stets darauf zu untersuchen, ob in ihr eine positive Bewertung zum Ausdruck komme oder die Rechtsordnung ihr neutral gegenüberstehe oder sich aus anderen Gründen einer Bewertung entziehen wolle. Dann sei das Verhalten zwar nicht rechtswidrig, aber auch nicht rechtmäßig im oben beschriebenen Sinne. So wird der dogmatische Raum für die weitere Kategorie der bei Binding sogenannten „Unverbotenheit“ geschaffen. Keinesfalls darf dieser Bereich mit der Frage der Lückenlosigkeit des Rechts gleichgesetzt werden. Lückenhaft ist das Recht für Binding nur dort, wo keine intrajuristische Entscheidung möglich ist. Was unverboten ist, unterliegt demgegenüber schlicht keiner rechtlichen Regelung; hier von einer „Lücke“ zu sprechen, suggerierte eine falsche Planwidrigkeit unverbotener Bereiche. In jedem Fall könnte eine konkrete Fallentscheidung hier problemlos intrajuristisch erfolgen: Ein geltend gemachtes subjektives Recht bestände nicht, es wurde gegen kein Ge- oder Verbot verstoßen et cetera. Beispielsweise hebt Binding den Notstand in seinem Handbuch als eine solche Fallgruppe hervor: Der Notstand bilde die seltene „Ausnahme [. . .], dass die regelmässig verbotene Handlung, nicht verboten und nicht erlaubt, sondern dass sie als unverboten anerkannt wird.“ 301 Binding spricht hier noch exemplarisch für die sogenannte Exemtionstheorie.302 Ab der 3. Auflage der „Normen“ formuliert er vorsichtiger: Das Strafgesetzbuch habe sich „nicht entschieden, ob [Notstandsverletzungen] rechtmässig oder nur unverboten oder unerlaubt jedoch straflos“ seien.303 Die unterschiedlichen Einordnungen zeigen, wie schwer Binding die innerhalb seiner Rechtsauffassung konsequente Unterscheidung nach verschiedenen Bewertungskategorien des positiven Rechts fällt. Die Einordnung erfordert eine Suche nach Indizien für eine positive oder negative Stellungnahme des Rechts, die nicht selten von komplizierten Prinzipien- oder Wertinduktionen abhängig sein wird. An einem anderen Beispielsfall wird diese Schwierigkeit noch einmal besonders deutlich. Bindings Auffassung vom Umfang der Normen, die stets das Rechtsgut insgesamt schützten und sich nicht auf den strafrechtlichen Tatbestand beschränkten, führt zu Schwierigkeiten bei der Bestimmung der Grenzen eines Rechtsguts: Welchen Umständen misst das Recht noch eine schützenswerte Be301 302 303
Binding, Handbuch, S. 174. Vgl. dafür z. B. Jakobs, Strafrecht AT, 13. Abschn., Rn. 3 m.w. N. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 131.
E. Rechtliche Wertungskategorien
221
deutung zu, was fällt schon in den Bereich des Unverbotenen? Das Beispiel des Suizids ist bereits vor dem Hintergrund der „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ interessant:304 Zwar sprächen gute Gründe für die Auffassung des Selbstmords als verbotene, aber unbestrafte Handlung. Ob das Recht die Vernichtung des zweifellos zum Rechtsgut erhobenen menschlichen Lebens aber auch dann als Normwidrigkeit ansieht, wenn es sich um das eigene Leben handelt, ist anhand positivrechtlicher Indizien nur schwer ermittelbar. Es nimmt also keine Wunder, dass Binding bei seiner Erklärung auf Befunde zurückgreift, die strengen rechtspositivistischen Ansprüchen kaum gerecht werden können. So stellt Binding zunächst in einer kollektivistischen Argumentation den Wert des Einzelnen für die Gesellschaft in den Raum: „Selbstmord und [. . .] Selbstverstümmelung“ könnten „für die Rechtsordnung nicht gleichgiltig sein“. Diese hätte vielmehr „sehr wohl Anlass [. . .] die Normen auf die Selbstverletzung mit zu erstrecken.“ 305 Mit einer besonderen Würde des Individuums, die im Sinne einer zeittypischen idealistischen Tendenz in Bindings Auslegung eher als eine Art Selbstverständlichkeit der Rechtsordnung vorausgesetzt306 denn als positivrechtlicher Befund begründet wird, schließt er jedoch letztlich auf die Unverbotenheit des Suizids. Rechte an sich selbst liefen danach auf eine Art „Güterqualität“ des Menschen hinaus.307 Somit könne der Suizid weder rechtmäßig noch rechtswidrig sein. Binding sieht ihn als „unverboten“ und präzisiert diesen Ausdruck als außerhalb der „sozialen Sphäre des Rechts“ stehend.308 Die Rechtsquelle müsse also nicht unbedingt Indifferenz bekunden wollen. Gerade im Falle des Suizids mit seinen womöglich schwerwiegenden Auswirkungen auf die gesellschaftlichen Verhältnisse hält Binding eine solche Bewertung auch für undenkbar. Unverbotenheit in seinem Sinne bezeichnet somit lediglich den Willen der Rechtsquelle, einen bestimmten Bereich keiner rechtlichen Regelung zu unterstellen. Die Gründe hierfür können sehr verschieden sein: Es kann sich um eine gezielte Beschränkung staatlicher Macht aus Rücksicht vor den Privatinteressen seiner Bürger handeln. Beim Notstand wiederum halte sich der Staat zurück, weil er angesichts gegenüberstehender, gleichermaßen schützenswerter Interessen seiner Bürger keine Entscheidung zu treffen im Stande sei.309 Schließlich ist natürlich auch möglich, dass bestimmte Bereiche keinerlei Relevanz für das Rechtsleben besitzen und 304
Siehe dazu u. S. 332 ff. Binding, Handbuch, S. 698. 306 Vgl. dazu o. S. 52 ff. 307 Siehe wiederum Binding, Handbuch, S. 699. Interessanterweise begründet Savigny, System, Bd. 1, S. 335 ff. seine Ablehnung eines Rechts an der eigenen Person auf ähnliche Weise. 308 Binding, Handbuch, S. 699. 309 Vgl. Binding, Handbuch, S. 756, 759, 765 f. sowie dens., Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 484 f. 305
222
2. Teil: Bindings Normentheorie
deshalb ungeregelt bleiben – in diesem einen Fall tatsächlich als eine bekundete Indifferenz der Rechtsquelle.
III. Rechtswidrigkeit Das subjektive Recht steht bei Binding im Zentrum jeder Rechtswidrigkeit310 und dient gleichzeitig als einzig denkbarer Anknüpfungspunkt für eine Unterteilung verschiedener Unrechtsarten: „Ist alles Unrecht sog. ,Verletzung‘311 subjektiven Rechts, so giebt es keinen einheitlichen Tatbestand desselben sondern soviel Unrechtsarten als Arten subjektiver Rechte.“ 312
So kann Binding das „Civil-Unrecht“ 313 schlicht als Verletzung privater subjektiver Rechte fassen und es der großen Gruppe des öffentlichen Unrechts gegenüberstellen, dessen Teilbereich das Delikt als schuldhafter Verstoß gegen ein öffentliches Recht auf „Botmässigkeit“ bilde.314 Je nach Eigenart des im Raum stehenden subjektiven Rechts bestimmt er auch das jeweils dazugehörige Unrecht. Über die Verletzung eines subjektiven Rechts hinausgehende Forderungen an den Unrechtsbegriff stellt er nicht. Schuldhaftigkeit beispielsweise sei Merkmal ausschließlich des Delikts als besondere Unrechtsart, die unter anderem dem Strafrecht zugrundeliegt. Dies folge aus der Natur der Norm als Gehorsamspflicht: „Wie der Herr seine Aufträge dem Diener in Erwartung dieser werde sie erfüllen nicht dann geben wird, wenn der Bediente schläft oder betrunken ist oder im Fieber liegt, so bindet auch die Norm diejenigen nicht, die im einzelnen Falle ihres Tätigwerdens handlungsunfähig sind.“ 315
Die angesprochene Handlungsfähigkeit des Täters beinhaltet bei Binding die Schuldhaftigkeit der Tat: „Wenn aber ein Handlungsfähiger eine Norm verletzt, so kann er der Schuld nicht ermangeln, sonst hörte er eben auf handlungsfähig zu sein: eine normwidrige Handlung muss vorsätzlich oder fahrlässig sein.“ 316
Ganz im Sinne seines Programms einer logischen Systematisierung des Strafrechts wird hier also ein Oberbegriff des Unrechts aufgestellt. Die Bedeutung der Norm innerhalb dieser Obergruppe wird nun deutlich: Normen im Sinne Bin310 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 295: „Undenkbar ist eine rechtswidrige Handlung oder ein rechtswidriges Verhalten, die nicht wider ein subjektives Recht liefen. In diesem Punkte, im Angriffsobjekt, ist alles Unrecht identisch.“ 311 Zu der Beschreibung als „Verletzung“ eines subjektiven Rechts siehe o. S. 202 ff. 312 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 298 f. 313 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 300. 314 Vgl. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 298 ff. 315 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 243 f. 316 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 244.
E. Rechtliche Wertungskategorien
223
dings sind die subjektiven Rechte des Staates auf Gehorsam der Rechtsunterworfenen, die nur schuldhaft übertreten werden können.317 Sie sind nicht wesentlich mit Sanktionsgesetzen verknüpft, sondern stellen lediglich eine besondere Gruppe subjektiver öffentlicher Rechte dar. Ihre Bedeutung für das Strafrecht liegt darin, dass Sanktionsgesetze sinnvollerweise nur an derartige Normen anknüpfen, womit das strafrechtliche Schuldprinzip für Binding eine normentheoretische Vorgabe ist. Als Strafrechtler beschäftigen ihn also nach seinem Selbstverständnis die strafsanktionierten Übertretungen dem Rechtsgüterschutz dienender subjektiver öffentlicher Rechte auf „Botmässigkeit“.
IV. Die Notwendigkeit „rechtsfreier Räume“ bei Binding Mit der dargestellten Aufteilung setzt Binding die Existenz eines heute sogenannten „rechtsfreien Raumes“ voraus und nimmt so Stellung zu einem bis heute diskutierten Problem. Wichtig ist vorab die Feststellung, dass sich dieser rechtsfreie Raum nicht bereits aus dem Kern der Normentheorie ergibt, sondern unabhängig von diesem diskutiert werden kann. Die bloße Existenz wesensmäßig von den Strafgesetzen unabhängiger Normen zwingt lediglich zur Anerkennung einer rechtlichen Kategorie der Verbindlichkeit.318 Sie sagt nichts darüber aus, ob daneben ein Bereich denkbar ist, der weder rechtmäßig noch rechtswidrig ist. Die Notwendigkeit eines solchen Bereichs resultiert eher aus methodischen Vorstellungen Bindings, dem Bild einer weitestgehend autonomen Idealentität „Recht“. Nichtsdestotrotz wird sich zeigen, dass sich die Normenlehre in besonderer Weise zur Veranschaulichung einer Dogmatik der Unverbotenheit eignet. Angestoßen wurde die moderne Diskussion um den „rechtsfreien Raum“ 1952 durch einen Beitrag Engischs.319 Erst im Zusammenhang mit den Versuchen einer Reform des Rechts des Schwangerschaftsabbruchs in den 1970er Jahren schenkte die rechtswissenschaftliche Gemeinde dem Problem allerdings größere Beachtung. Arthur Kaufmann unterscheidet in einem Beitrag aus dem Jahre 1972 den nur rechtsfolgenfreien Raum vom Bereich des Unverbotenen.320 Während der nur rechtsfolgenfreie Raum durchaus mit einer positiven oder negativen Wertung versehen sein könne, zeichne sich der Bereich des Unverbotenen gerade durch den bewussten Verzicht der Rechtsordnung auf jede Wertung aus. Dieses 317
Siehe dazu weiterführend Armin Kaufmann, Normentheorie, S. 147 f. Siehe dazu ausführlich u. S. 235 ff., 262 ff. 319 Engisch, ZStaatW 108 (1952), S. 385 ff. Siehe dazu weiterführend J. Everling, Der rechtsfreie Raum, S. 7 f. sowie Priester, in: FS Arthur Kaufmann, S. 499 (501 f.). 320 Arthur Kaufmann, in: FS Maurach, S. 327 (336 f.). Daneben erkennt er auch noch einen „rechtssatzfreien Raum“, an dessen Regelung das Recht schlechterdings kein Interesse hat, sich also nicht bloß gegen eine Wertung entscheidet, sondern schon den Sinn einer solchen verneint. Siehe zur weiteren Entwicklung einer Dogmatik des rechtsfreien Raumes etwa Schild, JA 1978, S. 449 ff., 571 ff., 631 ff. 318
224
2. Teil: Bindings Normentheorie
Ergebnis entspricht weitgehend demjenigen Bindings, auf den sich Kaufmann auch ausdrücklich beruft:321 Mit dem Bereich des „Unverbotenen“ bringt die Rechtsordnung ihre Zurückhaltung zum Ausdruck und zeigt sich in diesem Punkt somit gerade nicht lückenhaft. Ergibt sich ein Bereich des „Unverbotenen“ auch nicht zwingend aus der Normentheorie, ist doch zumindest der rechtsfolgenlose Raum durch sie vorgegeben. So entsteht ein Teilbereich des rechtsfolgenlos Rechtswidrigen immer dann, wenn der Umfang einer Norm über das sie voraussetzende Strafgesetz hinausgeht. Spiegelbildlich besteht die Möglichkeit der positiven Bewertung durch ein Gebot, dessen Missachtung aber nur teilweise strafbar ist. Freilich sind beide Kategorien nur wesensmäßig nicht auf eine Rechtsfolge angewiesen, nicht jedoch immer rechtsfolgenlos; man denke beispielsweise an die mögliche Entstehung eines Notwehrrechts. Die Nützlichkeit der Normentheorie bei der Erfassung der juristischen Kategorie der „Unverbotenheit“ lässt sich anhand eines bekannten Problemfeldes aus dem Besonderen Teil veranschaulichen. Die rechtliche Ausgestaltung des indikationslosen Schwangerschaftsabbruchs hat nach den Vorgaben der bekannten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 28.5.1993322 die Bewertung desselben als rechtswidrig ohne Zweifel zu lassen. Die dogmatische Problematik der gewählten gesetzlichen Formulierung bringt Julius Everling auf den Punkt, wenn er mit Blick auf § 218a Abs. 1 StGB die Existenz eines „nicht tatbestandsmäßigen, aber dennoch rechtswidrigen“ Schwangerschaftsabbruchs als „dogmatisch, logisch und rechtstheoretisch wenig erfreuliches Ergebnis“ bezeichnet.323 Ohne die grundlegende Frage eines „rechtsfreien Raumes“ damit zu beantworten, beständen aus Sicht der Normentheorie innerhalb der methodischen Grundannahmen Bindings in der heutigen Gestaltung der §§ 218 f. StGB jedenfalls keinerlei dogmatische, logische oder rechtstheoretische Ungereimtheiten. Mit der Rechtfertigung in Folge einer Indikation ginge laut Binding eine grundsätzlich „positive“ Bewertung durch die Rechtsordnung einher, die sich in Form eines Rechts auf den Schwangerschaftsabbruch äußerte, aber in ihrer Intensität noch deutlich hinter einem an dieser Stelle absurden Gebot zurückbliebe. „Positiv“ ist in diesem Zusammenhang freilich nur allzu leicht misszuverstehen: Das Rechtsverständnis Bindings zugrundegelegt, gibt die Rechtsordnung durch diese Bewertung lediglich kund, aufgrund einer kriminologischen, medizinischen, embryopathischen324 oder sozialen Indikation die Bedenken der Schwangeren zu teilen und
321
Vgl. Arthur Kaufmann, in: FS Maurach, S. 327 (336 f.). BVerfGE 88, 203 (261 f.); vgl. schon BVerfGE, 39, 1 (53). 323 J. Everling, Der rechtsfreie Raum, S. 6. 324 Zur ganz eigenen verfassungsrechtlichen Problematik dieser Indikation siehe Hofstätter, Schwangerschaftsabbruch, S. 67 ff. 322
E. Rechtliche Wertungskategorien
225
ihr ein entsprechendes Recht auf den Abbruch der Schwangerschaft zugestehen zu wollen. Jeder indikationslose Schwangerschaftsabbruch, der die Voraussetzungen des § 218a Abs. 1 StGB erfüllt, fiele demgegenüber in den Geltungsbereich einer Norm, die durch § 218 Abs. 1 StGB vorausgesetzt würde und die Unterlassung des Abbruchs anordnete. Ein solcher Schwangerschaftsabbruch wäre somit – den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts entsprechend – stets rechtswidrig. Während die Norm den gesamten indikationslosen Bereich abdeckte, knüpfte der Tatbestand des von der Norm wesensmäßig unabhängigen Strafgesetzes an weitere Voraussetzungen an. Das grundsätzliche Problem, dass Everlin in einer „nicht tatbestandsmäßigen, aber dennoch rechtswidrigen“ Handlung erblickt, stellt sich in der Normenlehre Bindings nicht, da Norm und Strafgesetz danach zwei grundverschiedene Rechtssätze darstellen. Selbstverständlich kann eine solche Lösung ausschließlich logische und dogmatische Bedenken beheben. Insbesondere die praktischen Auswirkungen einer dogmatischen Figur des „Unverbotenseins“ werden in keiner Weise adressiert; so lässt sich bezweifeln, ob der feine dogmatische Unterschied zum „Erlaubtsein“ im Gefühl der Rechtsadressaten ihren Niederschlag findet, die unterschiedlichen Wertungen also zumindest laienhaft begriffen werden.325 Zumindest bietet die Normentheorie aber einen logischen Rahmen; sie kann einordnen, das Eingeordnete aber weder ästhetisch aufwerten, noch die Frage nach dem Sinn einer solchen Bewertung durch das positive Recht beantworten. Analog zur Rechtsgutslehre eignet sich auch die Normentheorie in keiner Weise zur Legitimierung von Recht. Da die Existenz eines rechtlich nicht geregelten Bereichs unbestreitbar ist, beläuft sich die Argumentation gegen eine rechtliche Kategorie der Unverbotenheit auf die Frage, ob nicht auch die scheinbare „Enthaltung“ des Staates eine Wertung birge, indem sie die bestimmten moralischen Vorstellungen entsprechenden Handlungen zulasse und damit erlaube.326 Als Problem wird diese Sichtweise rechtlicher Wertungen von Binding nur beiläufig behandelt. Wenig überraschend lehnt er sie ohne Weiteres ab. Die Rechtsordnung ist nach seinem Rechtsverständnis problemlos in der Lage, differenzierte Stellungnahmen bis hin zur Neutralität abzugeben, ohne durch die rein praktischen Folgen einer (Nicht-)Regelung an ein bestimmtes Werturteil gebunden zu sein: 325 In diesem Sinne kritisiert Duttge, in: FS Philipps, S. 369 (376) die dogmatische Figur des „rechtsfreien Raumes“. Diese praktischen Belange hätten für Binding freilich nur insoweit Relevanz, als ein „erlaubender“ Gewohnheitsrechtssatz aus ihnen hergeleitet werden könnte. Gerade angesichts der dogmatisch sehr feinen Unterscheidung wäre diesbezüglich allerdings schon die notwendige Übung kaum vorstellbar. Ein Argument, dass die Möglichkeit eines solchen Wertungsausspruchs des Rechts selbst angreift, ist aus den dargestellten Bedenken innerhalb der rechtstheoretischen Grundannahmen Bindings nicht zu formen. 326 Vgl. Arthur Kaufmann, in: FS Maurach, S. 327 (331).
226
2. Teil: Bindings Normentheorie
„Die Freiheit als das ,Dürfen‘ ist dem Gesetzgeber als Mittel zu seinen Zwecken ebenso unentbehrlich, wie die Beschränkung der Freiheit, das ,Müssen‘ – das subjektive Recht ebenso wie die subjektive Pflicht. In dem richtigen Verhältnisse zwischen Gewährungen und Normen allein ruht die Gewähr für den Bestand der jeweiligen rechtlichen Ordnung. Nicht sind die Normen in dem Sinne zugleich Gewährungen, dass sie den Menschen erlaubten, was sie nicht verbieten. Zwischen dem Verbotenen und dem Erlaubten erstreckt sich das weite Gebiet der rechtlich indifferenten Handlungen, die unverboten wie unerlaubt sind.“ 327
Der Gedanke, die Bewertung einer Handlung nicht einem inhaltlich weitgehend ungebundenen Rechtswillen, sondern den praktischen Folgen einer Regelung oder Nichtregelung entnehmen zu wollen, lässt ein eher empiristisches Rechtsverständnis anklingen, wie Binding es zeit seines Lebens bekämpfte. Wiederum führt die Dogmatik des Unverbotenen so zu seinem grundlegenden Rechtsbild zurück: Er sieht das Recht als weitgehend autonomes Konstrukt mit uneingeschränkter Wertungsfreiheit. Bindings Kommentar veranschaulicht, wie sehr die unterschiedlichen Konzeptionen von grundsätzlichen Fragen abhängen, die in der Regel unangesprochenen bleiben: Wird das Recht als ein solches autonomes Konstrukt verstanden, so gibt es keinen Grund, die Möglichkeit der rechtlichen Enthaltung in einer Wertungsfrage zu bestreiten. Versucht man, das Recht von seinen realen Folgen her zu erfassen, so reduzieren sich dessen Wertungsmöglichkeiten automatisch. Die Erlaubnis eines bestimmten Verhaltens unterscheidet sich dann nicht mehr von einem Regelungsmangel.
F. Kritik an der Normenlehre Das Bild der Normenlehre, das sich nach der Auseinandersetzung mit Bindings Schriften ergibt, steht im Einklang mit den im ersten Teil untersuchten Grundanschauungen Bindings: Die Normentheorie lässt sich insgesamt als den Versuch beschreiben, die logische Struktur des Strafrechts unter den Prämissen einer weitgehenden Autonomie des Rechts und des in besonderer Weise auf eine logische Erfassung des Rechts durch Prinzipieninduktion gerichteten Methodenideals darzulegen. Mit diesem Vorbau werden nun die historischen Kritikpunkte an Bindings Normenlehre in Augenschein genommen und bewertet. Sie werden dafür in Argumentationsgruppen zusammengefasst. Diese Vorgehensweise dient dem Überblick und rechtfertigt sich aus zahlreichen inhaltlichen Überschneidungen auch von zeitlich weit auseinanderliegenden kritischen Bemerkungen zur Normentheorie. Eine eigenständige Form der Kritik stellen Argumentationen dar, deren gemeinsames Merkmal eine gewisse rechtsrealistische Tendenz ist (I.). Stufenartig lässt sich die vorzufindende Abkehr von der Vorstellung des Rechts als eine weit327
Binding, Handbuch, S. 157 f.
F. Kritik an der Normenlehre
227
gehend autonome Idealentität, wie sie sich bei Binding findet, in verschiedene Grade einteilen. Bewertungen, die zumindest ein Mindestmaß an Akzeptanz des grundlegenden Standpunkts Bindings aufweisen, können wiederum an verschiedenen Punkten ansetzen. Radikalere Kritiker unter ihnen streiten schon die Rechtsqualität Bindingscher Normen ab (II.). Andere setzen erst bei seiner Darstellung der Normen als eine eigenständige Gruppe von Rechtssätzen an (III.). Der klassische Vorwurf an Lehren, die nach dem alten, induktionsbasierten Methodenideal des 19. Jahrhunderts operieren und sich nicht selten die Bezeichnung als „Begriffsjurisprudenz“ gefallen lassen mussten, lautet auf „Formalismus“. Obwohl Binding als Strafrechtler dem Verdikt als „Begriffsjurist“ zumeist entging, traf auch die Normentheorie dieser klassische Formalismusvorwurf (IV.).
I. Argumentationen mit rechtsrealistischen Tendenzen Aus einem rechtsrealistischen Blickwinkel lässt sich mitunter eine zulässige Grundlagenkritik an der Normentheorie formulieren. Der Grad der Abweichung von Bindings Rechtsbild einer weitgehend autonomen Idealentität legt fest, inwieweit die Norm noch als Rechtssatz gesehen werden kann. Zu unterscheiden sind diesbezüglich zum einen Theorien, die an Bindings Vorarbeit anknüpfen, diese aber im Sinne der realen Wirkrichtung des Rechts fortzuentwickeln versuchen (1.), und zum anderen rechtsrealistische Kritiken, die den Standpunkt Bindings gänzlich verlassen (2.). 1. Implizite Kritik in Ansätzen zu Normentheorien mit rechtsrealistischer Tendenz Als besondere Kritikform lassen sich Theorien aufführen, die zunächst ganz bewusst an Bindings Normenlehre anknüpfen, dann aber mit dieser nicht vereinbare Schlüsse ziehen, da sie jedenfalls stückweise von der Vorstellung des Rechts als weitgehend autonomer Idealentität abrücken. Aus einer Analyse der Kernaussagen, ihrer Haltbarkeit und der Stichhaltigkeit ihrer Kritik an Bindings Normenlehre lassen sich erste Erkenntnisse über die logischen Voraussetzungen einer solchen Grundlagenkritik gewinnen. Die bekanntesten „Fortführungen“ des Bindingschen Ansatzes in diesem Sinne sind die Imperativentheorie Thons [a)] und die Kulturnormentheorie M. E. Mayers [b)]. a) Die Imperativentheorie Thons Die Entdeckung328 der Norm durch Binding war der Grundstein der Imperativentheorie Thons, wenngleich diese in Austin und vorher in Bentham bereits 328 Nach Bindings eigenem Verständnis handelt es sich eher um eine Wiederentdeckung. Er geht davon aus, dass die Unterschiedlichkeit der beiden Rechtssätze in frühe-
228
2. Teil: Bindings Normentheorie
Vorläufer in der englischen Jurisprudenz hatte. Nach Thon sind alle vollständigen Rechtssätze nur Imperative nach Art der Bindingschen Norm; die übrigen Rechtssätze seien insofern unvollständig, als sie lediglich die Bedingungen der Entstehung dieser Imperative regelten.329 Die implizite Kritik an der Normentheorie ist hier eine angebliche Inkonsequenz: Bindings Ergebnisse ließen sich auf das gesamte Recht übertragen, die Norm sei nicht nur eine bestimmte Form von verbindlichkeitsbegründendem Rechtssatz, sondern der Rechtssatz an sich. Bis heute findet die Theorie bekanntlich zahlreiche Anhänger und ebenso viele Kritiker. Diese Einordnung als Auffassung mit rechtsrealistischer Tendenz mag überraschen, ist Thons Rechtsanschauung doch zweifellos weit entfernt von soziologischen Rechtstheorien. Die rechtlichen Imperative entnimmt er einem als logisch kohärent gedachten System, innerhalb dessen er sich methodisch kaum größeren Restriktionen ausgesetzt sieht als Binding. Nichtsdestotrotz liegt bereits in der Beschränkung auf die Form des Imperativs eine teilweise Abkehr vom Verständnis des Rechts als eine weitgehend autonome Idealentität. Indem Thon das Recht als Komplex von Imperativen sieht, zwingt er es in eine Form, die nicht mit einem als autonom verstandenen Willen der Rechtsquelle übereinstimmt. Das Bestechende an seiner Theorie verdeutlicht gleichzeitig die gegenüber Binding realistischere Sichtweise. Das Recht wird reduziert auf die Satzform, in der es real zu wirken im Stande ist: den Befehl. Ein subjektives Recht für sich hat noch keinerlei reale Wirkrichtung. Real äußert sich das subjektive Recht in Befehlen an andere als den Rechtsinhaber, beispielsweise den Eingriff in das fremde Eigentum zu unterlassen, das geschuldete Geld zu zahlen et cetera. Erst aus diesem Gedanken rechtfertigt sich die Imperativentheorie. Der Wert der impliziten Kritik durch die Imperativentheorie erschöpft sich in diesem Nebeneinander verschiedener Rechtsauffassungen. Versuche, die Imperativentheorie unter der Prämisse eines Rechtsverständnisses zu widerlegen, nach dem das Recht eine mehr oder minder autonome Idealentität ist, sind inhaltlich über die Kommentare Bindings nicht wesentlich hinausgegangen. Das verdeutlicht ein Abgleich mit der modernen und bekannten Grundlagenkritik an der Imperativentheorie bei Larenz:330 Wie viele Vorgänger hält auch er die Imperativentheorie zunächst für unzureichend zur Erklärung bestimmter Rechtsphänomene, allen voran der subjektiven Rechte. Vielleicht unbewusst, jedenfalls aber ohne Verweis knüpft Larenz damit an Bindings Beantwortung der Thesen Thons an. Bereits Binding weist darauf hin, dass man der Bedeutung subjektiver Rechte nicht gerecht werden könne, wenn man sie lediglich als Reflex zahlreicher Imperen Zeiten im Rechtsdenken präsenter war und gewissermaßen intuitiv vorausgesetzt wurde; vgl. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 135 ff. 329 Vgl. Thon, Rechtsnorm, S. 13 u. 345 ff. 330 Hier und im Folgenden Larenz, Methodenlehre, S. 253 ff.
F. Kritik an der Normenlehre
229
rative wahrnehme. So fasst Thon beispielsweise den Eigentümer im Sinne der Imperativentheorie als denjenigen, „welcher gegen den Genuss der Sache Seitens dritter Personen in relativ weitestem Umfange durch Normen geschützt wird.“ 331 Da aber im Rahmen eines Nießbrauchs ein Großteil der mit dem Eigentum verbundenen Befugnisse übertragen werden kann, schlussfolgert Binding korrekt, dass nach dieser Definition der Nießbraucher bei einer weitestgehenden Übertragung der Befugnisse als Eigentümer erscheine. Abschließend fügt Binding etwas süffisant hinzu: „[U]nd der frühere Eigenthümer ist – ja! was dieser jetzt ist, vermag ich nicht zu sagen –: jedenfalls aber hat er aufgehört Eigenthümer zu sein.“ 332 Es blieben nurmehr quantitative Unterschiede zwischen subjektiven Rechten, die sich an der Zahl der sie schützenden Imperative festmachen ließen. Binding kritisiert die Imperativentheorie aus dem ihm eigenen Verständnis, nach dem der Jurist eine eigene Gedankenwelt des Rechts, dessen besonderen Geist zu erforschen habe. Nicht anders ist sein Verdikt zu verstehen, keine Theorie des Rechts könne ohne dessen positive Seite, die Berechtigung, überzeugen.333 Unwillens, eine andere Herangehensweise an das Recht auch nur in Betracht zu ziehen, wirft er der Imperativentheorie zuletzt gar einen Verstoß gegen die Gesetze der Logik vor, da Imperative zum Schutz des Eigentums das Eigentum selbst bereits begrifflich voraussetzten.334 Ein zweiter Punkt Larenz’ sorgte maßgeblich für die besondere Popularität seiner Kritik an der Imperativentheorie. Darin verbindet er die Erkenntnisse Reinachs335 über die Natur der von ihm sogenannten „Bestimmungssätze“ mit der Hartmannschen Theorie vom objektivierten Geist,336 um darzulegen, dass die Imperativentheorie auch nicht im Wege einer Interpretation der Geltungsanordnung eines Rechtssatzes als Imperativ im Sinne Thons „gerettet“ werden könne. Die jedem geltenden Rechtssatz zugrundeliegende Anordnung jener Geltung sei zwar ein „Sollen“ im weiteren Sinne. Dieses Sollen aber sei ein rein juristisches: Etwas „solle“ gelten. Es beziehe sich damit unmittelbar nur auf eine normative Realität und sei vom Befehl im Sinne an Menschen gerichteter Ge- oder Verbote wesentlich verschieden, wenngleich die Geltungsbestimmung natürlich im Einzelfall auch echte Befehlssätze anordnen könne. Schon Binding schreibt 1879 in seiner Kritik der Imperativentheorie, man könne versucht sein, die Theorie durch Rekurs auf den Rechtswillen zu rechtfertigen – in der Sache ist dies nichts anderes als die bei Larenz besprochene Gel-
331
Thon, Rechtsnorm, S. 161. Binding, KritVjSchr 21 (1879), S. 542 (572). 333 Vgl. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 105 f. m. Fn. 17 sowie dens., KritVjSchr 21 (1879), S. 542 (554 ff.). 334 Vgl. Binding, KritVjSchr 21 (1879), S. 542 (566 ff.). 335 Siehe Reinach, Phänomenologie des Rechts, S. 170 ff. 336 Siehe Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, S. 406 ff. 332
230
2. Teil: Bindings Normentheorie
tungsanordnung.337 Deutlicher als in der Larenzschen Kritik etwa ein Jahrhundert später beschreibt er den fundamentalen Unterschied zwischen Geltungsanordnungen und echten Imperativen: Der Rechtswille entscheide danach rechtlich ausschließlich die Frage „ob – oder ob nicht“.338 Mit anderen Worten: Nicht, dass etwas sein soll, wird durch die Erklärung unmittelbar bewirkt, sondern dass etwas in rechtlicher Hinsicht ist, dass eine Vorschrift als Recht existiert, dass sie gilt. Das im Rechtswillen enthaltene „Sollen“ bezieht sich nicht auf das Verbot der Tötung, sondern auf den Rechtssatz selbst, der hiermit gelten soll: „ita jus esto“. Wenn Larenz also einwendet, die Rechtsordnung enthalte „Geltungsanordnungen verschiedenster Art, und deshalb ist die Imperativentheorie unzureichend, um die Eigenart der Rechtssätze [. . .] gegenüber anderen Sätzen (insbesondere Aussagesätzen) zu kennzeichnen“,339 so geht er damit nicht wesentlich über Binding hinaus. Das System Thons ist dennoch in sich logisch konsequent. Thon nimmt den normativen Unterbau der Imperative durchaus wahr, wenngleich diese Sätze für ihn kein Recht darstellen. Die bloße Negation dieses Unterbaus als Recht vollzieht sich dann logisch problemlos.340 Das Eigentumsrecht besteht in diesem Fall in einem Komplex aus Imperativen, deren Verletzung Entstehungsgrund für weitere Imperative ist, etwa in Form einer Herausgabeverpflichtung. Was manche als subjektives Recht wahrnehmen, wirkt sich real für jeden Einzelnen nur als eine Zusammenstellung bestimmter Befehle aus. Ist kein derartiger Befehl konstruierbar, so ist auch der Schutzbereich des subjektiven Rechts nicht betroffen. Recht im so verstandenen Sinne sind daher für Thon nur die mit einem Geltungsanspruch ausgestatteten Sätze einer Rechtsquelle, welche Menschen ein bestimmtes Verhalten befehlen. So könnte sich im Hintergrund der tatsächlichen Auswirkungen eine ganze normative Welt ändern; solange sich die Änderungen nicht auf die Imperative und die tatsächlichen Bedingungen ihrer Entstehung auswirkten, bliebe das Recht für Thon unverändert. Vor dieser Anforderung an den Rechtsbegriff muss natürlich jedes subjektive Recht, jedes Statusrecht und jede Begriffsbestimmung kapitulieren. So besteht auch die von Binding monierte Inkonsequenz des Eigentumsbegriffs nicht: Auch die Imperativentheorie ist zur Attribution eines Eigentümertitels im Rahmen eines unvollständigen Rechtssatzes fähig, sieht das Wesen jedes subjektiven Rechtes aber in den Reflexwirkungen von Imperativen zum Schutz des Inhabers dieser Rechte. Sätze ohne Bezug zu Imperativen fallen bei Thon daher schlicht aus dem Bereich des Rechtlichen heraus. Eine Kritik mit dem Inhalt, es könne sich auch bei Sätzen ohne jeglichen Bezug 337
Binding, KritVjSchr 21 (1879), S. 542 (549 ff.). Binding, KritVjSchr 21 (1879), S. 542 (552). 339 Larenz, Methodenlehre, S. 256 Rn. 7. 340 Dass der imperativentheoretische Blickwinkel logisch durchgehalten werden kann, hat J. Schmidt, Rechtstheorie 1979, S. 71 (71 ff.) für die subjektiven Rechte nachgewiesen. 338
F. Kritik an der Normenlehre
231
zur Seinswelt um Rechtssätze handeln, geht von einem anderen Rechtsbegriff aus und bleibt stets eine bloße Behauptung. Indes: Die Möglichkeit der imperativentheoretischen Betrachtungsweise sagt noch nichts über ihren Sinn aus. Die Ausklammerung rein normativer Realitäten aus dem Rechtlichen kann zwar logisch durchgehalten werden. Sie kann darüber hinaus für sich beanspruchen, die tatsächliche Wirkrichtung des Rechts gut zu erfassen, die sich letztlich immer in einzelnen Befehlen äußern muss. Um ein überzeugendes Bild des Rechts zu entwerfen, muss das Modell jedoch sämtliche Schlüsse, die im klassischen Rechtsverständnis aus der Analyse subjektiver Rechte gewonnen werden, in der Auslegung von selbst nicht als Recht anerkannten Sätzen nachvollziehen. Eine Auslegung der Imperative geriete so letztlich zur Auslegung aller von der Rechtsquelle als Recht geschaffenen Sätze. Das Wesen, die innere Eigenart der Rechtsordnung wird erst innerhalb einer als eigenständig gesehenen normativen Realität deutlich. Diese aber – darauf weist auch Binding hin – bestimmt sich mitnichten nur aus Pflichten. Das Recht will auch eine berechtigende Ordnung sein, die Freiheitsbereiche absteckt.341 In diesem Sinne ist auch Bindings Bemerkung zu verstehen, das Recht sei „eine Ordnung menschlicher Freiheit.“342 Das Wesen einer solchen Freiheitsordnung kann nur schlecht durch reine Negativa im Sinne von Befehlen an die Rechtsunterworfenen verstanden werden. Es erhellt sich demgegenüber schnell bei einem Blick auf die Ordnung subjektiver Rechte. In Larenz’ Worten muss das Recht „im Sinne einer nicht naturalistischen Ontologie“ als „eigene Seinsebene“ aufgefasst werden,343 um das in der Rechtsordnung angelegte System der Abgrenzung von Freiheitsräumen herauszuarbeiten. Die eine Seite des Rechts als Reflex der anderen darzustellen ist zwar logisch möglich, birgt für Erkenntnis und Fortentwicklung eines im Grundsatz immer noch als Idealentität verstandenen Rechts aber mehr Nach- als Vorteile.344 Da die Imperativentheorie ein in sich logisch konsequenter Blickwinkel auf das Recht ist, der von Bindings Sichtweise abweicht, trifft sie höchstens der zuletzt beschriebene Kritikpunkt. Umgekehrt vermag die Imperativentheorie aus demselben Grund kaum etwas zu einer Kritik an der Normenlehre Bindings beizutragen. Sie betrachtet das Recht von einer anderen Warte aus und muss Binding als Inspirationsquelle der Imperativentheorie loben,345 kann aber zu zahlreichen anderweitigen Ergebnissen seiner Arbeit nicht sinnvoll Stellung beziehen, insoweit die von Binding behandelten Fragen für sie außerhalb des genuin Rechtlichen liegen. Lediglich die von ihr behauptete Möglichkeit der schuldlosen Zu341 342 343 344 345
Vgl. Binding, KritVjSchr 21 (1879), S. 542 (555). Binding, KritVjSchr 21 (1879), S. 542 (554). Larenz, Methodenlehre, S. 256. So auch Larenz, Methodenlehre, S. 254. Vgl. Thon, Rechtsnorm, S. VII.
232
2. Teil: Bindings Normentheorie
widerhandlung gegen einen Imperativ greift Bindings Lehre an. Sie allerdings ist bei einem ausschließlich aus Imperativen bestehenden Recht eine Notwendigkeit, wenn man die zivilrechtlichen Möglichkeiten schuldloser Haftung in das Imperativensystem einordnen will, und kann für den Bereich der Bindingschen Normen recht einfach abgestritten werden.346 b) Die Kulturnormentheorie M. E. Mayers Leichter als Lehre mit rechtsrealistischen Zügen zu identifizieren ist die sogenannte Kulturnormentheorie Max Ernst Mayers (1875–1923). Im Vergleich zur Imperativentheorie setzt sich diese Lehre wesentlich stärker von der Normentheorie ab. Geteilt wird einzig der Gedanke Bindings, dass neben den Strafgesetzen Normen bestehen, die an die Rechtsunterworfenen gerichtet sind und das eigentliche Objekt der Übertretung darstellen.347 Grundpfeiler der Kulturnormentheorie wird nun der Gedanke, dass der gewöhnliche Rechtsunterworfene als juristischer Laie das Strafgesetz zumeist gar nicht kenne.348 Statt wie Binding mit dieser Begründung die Ungerechtigkeit der Regel error iuris nocet herauszustellen und die Kenntnis der Norm zur Schuldvoraussetzung zu erklären, sieht M. E. Mayer das Objekt der Übertretung und auch das Bezugsobjekt der Schuld als etwas ausdrücklich Außerrechtliches, als Kulturnorm. Damit verändert sich der gesamte Blickwinkel der Normenlehre: Die Norm ist für Mayer nicht Rechtssatz, sondern eine innerhalb einer nicht näher bestimmten Gruppe von Menschen anerkannte Verhaltensanforderung.349 Die diese Kulturnorm anerkennende Gruppe kann, wie Armin Kaufmann in Bezug auf die Kulturnormentheorie etwas polemisch, aber inhaltlich richtig anmerkt, genauso gut im allgemeinen deutschen Kulturkreis wie in einem Skatclub bestehen.350 Einziges Merkmal ist die Anerkennung einer Pflicht innerhalb dieses Kulturkreises, dessen Größe keine Rolle spielen soll. Das Recht bestehe demgegenüber in einem System von Amtsvorschriften, die Staatsbedienstete zu einem bestimmten Verhalten verpflichteten. Strafgesetze beispielsweise dienten unmittelbar nur dazu, dem Richter die Verhängung einer Strafe innerhalb eines bestimmten Rahmens zu befehlen, wenn die Erfüllung der im Strafgesetz bestimmten Bedingungen unter Beachtung der strafprozessualen Regelungen bewiesen werden konnte und das Recht nicht andernorts etwas anderes vorschreibt. Sie richten sich nach der Sichtweise zudem an andere Staats346
Vgl. nur Binding, KritVjSchr 21 (1879), S. 542 (582, Fn. *). Vgl. M. E. Mayer, Kulturnormen, S. 15 ff. 348 M. E. Mayer, Kulturnormen, S. 7: „Ja, es ist meistens ein böses Zeichen, wenn ein Nichtjurist über eine auffällig eingehende Gesetzeskenntnis verfügt“. 349 Vgl. M. E. Mayer, Kulturnormen, S. 17 ff. 350 Armin Kaufmann, Normentheorie, S. 192. 347
F. Kritik an der Normenlehre
233
bedienstete, soweit diese im Rahmen ihrer amtlichen Funktion auf sie zurückgreifen müssen; eine Handlungsanweisung für die Allgemeinheit beinhalte das Strafgesetz aber nie.351 Obwohl Rechts- und Kulturnormen in der Theorie M. E. Mayers verschiedene Kategorien bilden, sind sie nicht ohne Wechselwirkungen. Das Recht hat darin insofern Einfluss auf die Schöpfung neuer allgemeiner Pflichten, als die Rechtspflege gleichzeitig „Kulturmacht“ ist.352 Sehen die im Sinne der Kulturnormentheorie als Amtsvorschriften verstandenen Rechtsnormen die Bestrafung eines Verhaltens vor, das mangels entsprechender Kulturnorm nicht pflichtwidrig ist – sehen sie also im Verständnis des entsprechenden Kulturkreises ungerechte Urteile vor – so baue sich eine Spannung zwischen Recht und Kultur auf, die sich früher oder später auf zweierlei Weise entladen könne: Entweder die Kulturnorm sei so fest verankert, dass die Rechtsnorm auf dem ein oder anderen Wege wieder verschwinde,353 oder die ständige Aburteilung gewinne Einfluss auf die kulturellen Vorstellungen und schaffe so eine der Rechtsnorm inhaltlich entsprechende Kulturnorm.354 Durch das gezeichnete Spannungsverhältnis von Kultur- und Rechtsnormen wird auch die mit der Kulturnormentheorie verbundene strafrechtspolitische Programmatik deutlich. Gesetze sollten danach nur die Bestrafung anordnen, wenn nach dem Dafürhalten des relevanten Kulturkreises auch Pflichtwidrigkeiten zu beklagen sind, womit Mayer ausschließlich Zuwiderhandlungen gegen Kulturnormen meint. Mit anderen Worten: Erst die Kulturnorm rechtfertigt die Existenz der Strafe. Ein kluger Gesetzgeber orientiere sich bei der Schaffung der Rechtsnormen weitestgehend an den Kulturnormen.355 Die Kulturnormentheorie stellt mit dieser Dichotomie von Kultur- und Rechtsnormen einen Sonderfall in der Rechtsgeschichte dar: Sie ist positivistisch – sogar rechtspositivistisch – und erkennt dennoch eine nichtrechtliche normative Instanz für die Begründung der Pflicht an, die zum Abknüpfungspunkt des Rechtsbegriffes der Schuld wird. Ihr gelingt dieses Kunststück, indem sie klar zwischen beiden Ebenen trennt und sich mit den Kulturvorstellungen eines nicht näher bestimmten Kulturkreises nicht eines überpositiven Wertmaßstabs, sondern eines weiteren Positivums bedient. Diese Anlehnung des Rechts an ein außerrechtliches normatives Positivum geschieht allerdings nur in der Theorie reibungslos; als Sichtweise des geltenden Rechts ist die Theorie nicht tragbar. Wirkt auch die Behauptung einer weitgehenden Rechtsunkenntnis des Volkes, auf der die Theorie fußt, zunächst bestechend 351
Vgl. M. E. Mayer, Kulturnormen, S. 4 f. M. E. Mayer, Kulturnormen, S. 49; siehe a. ebd., S. 24. 353 Vgl. M. E. Mayer, Kulturnormen, S. 26 mit dem Beispiel des Gesetzes gegen die „gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“. 354 Vgl. M. E. Mayer, Kulturnormen, S. 24 f. 355 M. E. Mayer, Kulturnormen, S. 26 f. 352
234
2. Teil: Bindings Normentheorie
realistisch, so betrifft der Befund lediglich die Frage der ethischen Rechtfertigung des Satzes error iuris nocet, nicht jedoch seine Auslegung. Es sprengt ersichtlich den Rahmen jeder vertretbaren Auslegungstechnik, beispielsweise den heutigen § 17 StGB als Verweis auf die Ordnung der Kulturnormen im Sinne M. E. Mayers zu verstehen. Anknüpfungspunkt der Schuld ist für das Recht eben nicht die Kultur-, sondern die Rechtsnorm.356 Für die Annahme einer Kenntnis der Rechtsnorm als Grundlage des Anderskönnens und damit der Schuld bedarf es auch nicht der Kulturnormentheorie. Schon Binding muss sich hierfür keiner Fiktion bedienen. Schließlich gehe es nicht um die Kenntnis der genauen Formulierung eines Rechtssatzes, sondern um das Wissen von der rechtlichen Ge- oder Verbotenheit des konkreten eigenen Tuns. Dazu genüge schon die laienhafte Vorstellung vom Inhalt des Rechtssatzes. Dass die Tötung eines Menschen nicht nur kulturell verpönt, sondern rechtlich verboten ist, erschließt sich jedem, unabhängig von seiner Kenntnis der §§ 211 ff. StGB und der Fähigkeit, daraus die Tötungsnorm korrekt zu extrapolieren. Die Kenntnis dieser und der meisten anderen Rechtsnormen atmet ein jeder „mit der Luft ein, derer er bedarf“, wie Binding es ausdrückt.357 Dieser Grundfehler, der über viele positive Anreize der Lehre nicht hinwegtäuschen sollte, bringt die Kulturnormentheorie letztlich um ihr Fundament und entkräftet auch ihre Kritik an der Normenlehre Bindings. So bemängelt M. E. Mayer, dass die angeblich an die Rechtsunterworfenen gerichteten Normen Sätze des ungeschriebenen Rechts seien, die sich nur als logische Voraussetzung geschriebenen Rechts ergäben. Ausgerechnet „Rechtssätze, zu denen der Gelehrte nur mit Mühe vordringt, sind Befehle, die sich an das Volk richten, sind Vorschriften, die dem Gesetzesunterthanen Pflichten auferlegen!“ 358
Dieser Punkt stellt den beschriebenen Grundfehler der Kulturnormentheorie besonders deutlich zur Schau; kommt es doch nicht auf die Kenntnis der Norm in der Form an, in der sie sich über logische Schlüsse einigen Rechtsgelehrten offenbart. Gerade Mayer legt eindrücklich dar, dass abstrakte und häufig ungeschriebene Befehle durch die Kultur vermittelt durchaus in das Bewusstsein des Einzelnen vordringen können. Der einzige Unterschied zwischen der Kulturnormentheorie und der Auffassung Bindings in diesem Punkt besteht darin, dass eine kulturell anerkannte und vermittelte Verhaltensanforderung für Binding nicht nur als Kulturnorm, sondern auch in ihrer rechtlichen Qualität erkannt werden muss. Gerade bei kulturell besonders fest verankerten Vorstellungen, wie sie im Kernstrafrecht wiedergegeben werden, scheint dieser gedankliche Schritt nicht besonders weit. Hinsichtlich der spezielleren Normen, die dem Sonderstrafrecht 356 357 358
So auch Armin Kaufmann, Normentheorie, S. 193 f. Binding, Normen, Bd. 2,1, S. 149. M. E. Mayer, Kulturnormen, S. 133.
F. Kritik an der Normenlehre
235
zugrundeliegen, zieht Binding die Konsequenzen seiner Auffassung, indem er an der Straflosigkeit des Verhaltens bei Normunkenntnis festhält.359 Der Vorwurf, die logische Konstruktion der Bindingschen Norm sei dem Bewusstsein des einzelnen Rechtsunterworfenen nicht zugänglich, trifft daher nicht zu. Wenn von einer derartigen Kenntnis tatsächlich nicht ausgegangen werden kann, fingiert Binding diese nicht, sondern fordert konsequent Straflosigkeit.360 M. E. Mayers Ansatz zeigt allerdings deutlich auf, warum Theorien mit rechtsrealistischen Tendenzen als Grundlagenkritik an der Normentheorie prinzipiell tauglich sind: Wird das Recht von seiner realen Wirkung her verstanden, so lassen sich abstrakte Verhaltensanforderungen nicht mehr als Rechtssätze begreifen. Was für Binding eine Norm ist, erscheint dann eher als außerjuristisches Ziel eines Sanktionensystems, als Grundlage zur Berechnung der Wahrscheinlichkeit einer bestimmten richterlichen Entscheidung oder im Falle von leges imperfectae schlicht als rechtliches Nullum. Dass die Kritik M. E. Mayers letztlich nicht stichhaltig ist, liegt ausschließlich am beschriebenen Nebeneinander von Rechtsund Kulturnormen. Das Recht wird nicht nur in seinen realen Auswirkungen gesehen, sondern als durchaus eigenständiges normatives System verstanden, das aus Amtsvorschriften bestehe und an soziologisch ermittelbare Normen anknüpfe. Erst durch diese Konzeption ergibt sich der dargestellte Widerspruch. 2. Rechtsrealismus als schlüssige Form einer Kritik der Normentheorie Ein überzeugender Angriff auf die absolute Grundlage der Normentheorie – die Existenz von Normen als verbindende Imperative – gelingt nur unter Inkaufnahme schwerwiegender Folgen für unser Rechtsbild. Er geht zwingend einher mit einem rechtsrealistischen Verständnis, einer weitestgehenden Abkehr von der Wahrnehmung des Rechts als Idealentität. Wie noch zu sehen sein wird, müssen sich alle anderen Kritikversuche den Vorwurf gefallen lassen, die normentheoretische Sichtweise unter anderem Namen zu bemühen. Richtig nennt Armin Kaufmann im Zusammenhang mit einer Grundlagenkritik von rechtsrealistischer Seite Laun, der unter Betonung des Subordinationsverhält359 Vgl. Binding, Normen, Bd. 2,1, S. 132 ff. Die schuldhafte Verletzung der Pflicht zur Kenntnisnahme von den jeweils für den Verpflichteten geltenden Normen stelle ein eigenes Delikt dar, dem es bislang lediglich an einer Strafdrohung ermangele. Eine derartige (geringe) Strafdrohung befürwortet Binding; siehe dazu Binding, Normen 2,1, S. 143 f. Für die schuldhafte Pflichtwidrigkeit lässt M. E. Mayer, Kulturnormen, S. 79 ff. aus Zweckmäßigkeitsgründen hingegen bereits die Möglichkeit der Kenntnisnahme von der Kulturnorm genügen, welche die Pflicht begründet. Die feine Unterscheidung Bindings fehlt bei M. E. Mayer völlig. 360 Natürlich nur, insoweit das Strafgesetz betroffen ist, dessen zugrundeliegende Norm übertreten wurde. Ist die Normunkenntnis ihrerseits fahrlässig und wurde die fahrlässige Normunkenntnis eigens mit Strafe belegt, steht für Binding einer Verurteilung nach einem solchen Strafgesetz nichts im Wege.
236
2. Teil: Bindings Normentheorie
nisses zwischen Befehlsgeber (Staat) und -empfänger (Bürger) den Imperativ als die „Gewalt desjenigen, der auf einem gewissen Gebiete der Stärkere [. . .] ist“, bezeichnet.361 Freilich ist bei dieser Formulierung klarzustellen, dass sich Laun letztlich für die idealistische Vorstellung der Sittlichkeit als Verbindlichkeitsgrund ausspricht und allein aus diesem Grunde ein aus dem positiven Recht folgendes „Sollen“ nicht anerkennt.362 Er skizziert eine rechtsrealistisch anmutende Sichtweise, um sich schließlich gegen sie auszusprechen. Seine Stellungnahme zum Mangel einer verbindenden Wirkung des positivrechtlichen Imperativs als solchem zeigt aber nichtsdestotrotz eine schlüssige Kritik der Normenlehre: Wird das Recht ausschließlich als tatsächliches Machtverhältnis begriffen, so bedarf es der Figur der Bindingschen Norm nicht. Das unbedingte Sollen wird in diesem Moment zu einem bedingten Müssen: Der Rechtsunterworfene muss etwas tun, wenn er dem Zwang entgehen will.363 Wird Rechtswissenschaft jedoch als die Erforschung eines Willens aufgefasst, den wir an dieser Stelle der Einfachheit halber als Gemeinwillen bezeichnen wollen, und das rechtliche Sollen als eine Kategorie desselben, so verliert die genannte Sichtweise ihren Sinn. Das Sollen ist in diesem Fall nur abhängig vom konkreten Inhalt des rechtserzeugenden Gemeinwillens, nicht aber von einer konkreten Zwangsdrohung. Eine derartig verstandene Idealentität „Recht“ geht also mit einem Konzept reiner juristischer Verbindlichkeit einher. Auf der anderen Seite hängt das Bestreiten einer von den tatsächlichen Wirkungen des Rechts zu unterscheidenden Verbindlichkeit von einer Hinwendung zu eher rechtsrealistischen Positionen ab. Theorien, die Recht eher als Real- denn als Idealentität auffassen und mit dieser Maßgabe das klassische Verständnis von Verbindlichkeit kritisieren, lesen sich somit stets gleichzeitig als schlüssige Grundlagenkritik an Bindings Normentheorie.364 Versteht man das Recht als Seinswissenschaft, in Anlehnung an eine Formulierung Llewellyns also von seinen realen Auswirkungen her,365 so verliert ein als unabhängig davon gedachtes 361
Laun, Recht und Sittlichkeit, S. 8. Vgl. Laun, in: Reden, S. 27 ff. 363 Vgl. wiederum Laun, in: Reden, S. 22 ff., der diese seitdem häufig und in verschiedenen Variationen wiederholte Sichtweise wohl am anschaulichsten darstellte. Abermals ist klarzustellen, dass Laun ein solches Rechtsverständnis schließlich als sinnentleert ablehnt. Der beschriebene Gedanke wird allerdings in der modernen Literatur teilweise wieder aufgegriffen. So äußern sich in diesem Sinne etwa Stemmer, Normativität, S. 51 ff., 155 ff., der das bedingte Müssen zu einem Wesensmerkmal des spezifisch Normativen erklärt, sowie Hoyer, Strafrechtsdogmatik, S. 44 ff., der ein vom bedingten Müssen zu unterscheidendes Sollen als unnötig ablehnt. 364 Vgl. neben den hier zitierten auch die Ausführungen Ross’, Om ret og retfaerdighed, S. 46 ff. und dazu Vogel, Der skandinavische Rechtsrealismus, S. 51. 365 Llewellyn, Recht, S. 41. Llewellyn propagiert freilich nicht die Exklusivität dieser Sichtweise, sondern sieht sie als Teilstück der Jurisprudenz u. a. neben der juristischen Dogmatik, wenngleich er für die „Seinswissenschaft des Rechtslebens“ mehr Beachtung einfordert und in späteren Schriften (siehe etwa Llewellyn, Jurisprudence, S. 39 ff.) of362
F. Kritik an der Normenlehre
237
Sollen seinerseits jede Bedeutung. Der Inhalt des Rechts speist sich dann aus der Gesamtheit der tatsächlichen staatlichen Zwänge: „Normen“ schrumpfen zum Voraussetzungsteil staatlicher Sanktionen zusammen, der in ihnen verkörperte Befehl ist teleologische Interpretation einer staatlichen Zwangsankündigung. „Verbindlichkeit“ deutet als Begriff in diesem Fall nicht auf Sollensvorschriften, sondern auf jene Drohung mit staatlichen Zwängen und das darin zum Ausdruck kommende tatsächliche Machtverhältnis. Das angewandte Strafgesetz wird auf diese Weise zum Inbegriff der Verbindlichkeit und erfordert keinen logischen Schluss auf einen daneben bestehenden, eigenständigen Rechtssatz. Beispielsweise versucht Kornfeld in seiner soziologischen Rechtslehre, Verbindlichkeit gerade nicht als genuin juristische Kategorie und damit als System aus Imperativen und Erlaubnissen zu denken. Stattdessen überführt er den Begriff in sein empiristisches Rechtsbild, womit sich der Inhalt maßgeblich ändert: Der „generelle Wohlfahrtszweck eines Rechtsverhältnis“ erfahre „je nach Lage der jeweiligen natürlichen und rechtlichen Umstände besondere Gestaltungen, die ihm untergeordnete Verhältnisse“ bildeten.366 Diese Herstellung konkreterer Untergruppen könne wiederholt werden, bis sich schließlich ein tatsächliches Machtverhältnis ergebe, welches „nur einer ganz bestimmten, keiner Unterteilung mehr unterliegenden Art von Handlungen oder Unterlassungen“ zukommt. Dieses rein tatsächliche Machtverhältnis bezeichne der „herrschende Sprachgebrauch“ als „Befugnisse und Verbindlichkeiten.“ Der Verbindlichkeitsbegriff Kornfelds bezieht sich damit deutlich nicht auf abstrakte Sollenssätze, sondern dient zur Bezeichnung eines nicht mehr weiter konkretisierbaren tatsächlichen Machtverhältnisses. Die logischen Schlüsse, die Binding zu den Normen führen, sind unter den Prämissen dieses Rechtsbildes nicht zulässig. Ähnlich unüberbrückbare Differenzen zum Bindingschen Rechtsdenken treten im klassischen amerikanischen Rechtsrealismus zu Tage, der ebenfalls nur in der gebotenen Kürze behandelt werden kann. Man denke etwa an Jerome Franks (1889–1957) bekannte Beschreibung des Rechts: „For any particular lay person, the law, with respect to any particular set of facts, is a decision of a court with respect to those facts so far as that decision affects that particular person. Until the court has passed on those facts no law on that subject is yet in existence. [. . .] Law, then, as to any given situation is either (a) actual law, i. e., a specific past decision, as to that situation, or (b) problable law, i. e., a guess as to a specific future decision.“ 367 fensiver für eine rein realistische Betrachtungsweise des Rechts wirbt. Zu Llewellyn siehe Rea-Frauchiger, Der amerikanische Rechtsrealismus, S. 44 ff. Vgl. speziell zu rechtlichen Imperativen auch Llewellyn, K. N. Lewellyn, S. 188. 366 Hier und im Folgenden: Kornfeld, Soziale Machtverhältnisse, S. 39. 367 Frank, Law, S. 46; siehe dazu Rea-Frauchiger, Der amerikanische Rechtsrealismus, S. 78 ff.
238
2. Teil: Bindings Normentheorie
Jedenfalls für denjenigen, über den gerichtet werde, existiere zum Zeitpunkt der Entscheidung noch kein Rechtssatz. Recht ist nach dieser Sichtweise gar nicht in der Lage, abstrakte Sollensvorschriften aufzustellen; es steuert Verhalten ausschließlich über autoritative Einzelentscheidungen (oder die Erwartung eben solcher), die den Kern des Rechtsbegriffs ausmachten. Unter diesen Prämissen verbietet sich wiederum der Schluss auf Normen im Sinne Bindings. Eine Vernachlässigung des spezifisch normativen Sinns des Rechts als Generalkritik an rechtsrealistischen Positionen müssen sich solche Ansichten allerdings gefallen lassen. Beispielhaft kritisiert Kelsen, man ignoriere mit einem solchen Rechtsbild „bewußt den normativen Sinn, mit dem diese [sc. rechtsetzenden] Akte auftreten, weil man den Sinn eines vom Sein verschiedenen Sollens nicht annehmen zu können“ glaube.368 Auf diese Weise gehe „der spezifische Sinn des Rechts völlig verloren. Spricht man der ,Norm‘ oder dem ,Sollen‘ jeden Sinn ab, dann hat es keinen Sinn zu behaupten: dies sei rechtlich erlaubt, jenes rechtlich verboten“.369 Erforscht man also mit Binding eine eigenständige, spezifisch normative Gedankenwelt, deren einzige tatsächliche Voraussetzung ihre Rückführbarkeit auf den Willen der Rechtsquelle ist, so lassen sich ohne die Denkform der Norm als Grundlage rechtlichen Sollens keine Aussagen über den spezifischen Sinn des Rechts treffen.370 Jede Rechtstheorie, nach der das Recht nicht reine Realentität, sondern eine spezifisch normative Gedankenwelt ist, hat daher auch Grundannahmen der Bindingschen Normenlehre zu teilen.
II. Mangelnde Rechtssatzqualität der Normen Außerhalb des Rechtsrealismus ist die Existenz von Normen als verbindlichkeitsschaffende Sätze nicht sinnvoll zu leugnen. Ihre Rechtsqualität hingegen wurde von verschiedenen Seiten bestritten. Der Ansatz einer solchen Kritik liegt zum einen in der Annahme, die Normentheorie Bindings postuliere ein zwingend auch zeitliches Vorangehen der Norm gegenüber dem Strafgesetz (1.). Weiterhin wurden und werden Bindingsche Normen teilweise für außerrechtliche Sollensvorschriften gehalten (2.). Eine letzte Möglichkeit, die Rechtsqualität Bindingscher Normen abzustreiten, führt unter anderem Kelsen371 vor, der auf die Abwesenheit eines Zwangsmechanismus in der Norm verweist und diesen Zwangsmechanismus zum Kriterium des Rechts erhebt (3.).
368 369 370 371
Kelsen, Reine Rechtslehre, 1. Aufl. 1934, S. 33. Kelsen, Reine Rechtslehre, 1. Aufl. 1934, S. 35. Ähnlich schon Armin Kaufmann, Normentheorie, S. 46 ff. Vgl. Reine Rechtslehre, 1. Aufl. 1934, S. 25 ff.
F. Kritik an der Normenlehre
239
1. Verständnis des logischen Vorangehens der Norm als ein zeitliches Gleich zu Anfang seiner zu Recht für ihren polemischen Charakter kritisierten372 Rezension bezweifelt Carl Ludwig von Bar (1836–1913) die Rechtsqualität Bindingscher Normen. Er versteht das von Binding behauptete Vorausgehen der Norm gegenüber dem Strafgesetz als ein logisches und zeitliches.373 Dieses Verständnis scheint zunächst seltsam, ist doch jedenfalls die Möglichkeit des gleichzeitigen Entstehens in dem Fall offensichtlich, dass die vorausgesetzte Norm bis zum Inkrafttreten des sie voraussetzenden Strafgesetzes noch keinen Anker im positiven Recht hatte. Dennoch ist das Verständnis als zwingend auch zeitliches Vorangehen Bar nicht anzulasten: Binding selbst schreibt im ersten Band der ersten Auflage der „Normen“, welcher der Kritik zugrundeliegt, von einem „begriffliche[n] und zeitliche[n]“ Vorangehen der Norm!374 Erst die Korrektur der Passage in der zweiten Auflage der „Normen“ beseitigt diesen eklatanten Fehler in der Darstellung.375 Die Stoßrichtung zahlreicher früher Kritiker der Normenlehre hat Binding daher selbst zu verantworten; unerklärlich bleibt allerdings, dass auch moderne Kritiken zuweilen ein solches zeitliches Vorangehen voraussetzen und auf dieser Basis die Normentheorie darstellen.376 Aus der erwähnten fehlerhaften Darstellung Bindings erklärt sich nun auch Bars Widerlegungsversuch der Normentheorie: „Es hat (vielleicht immer) Strafgesetze gegeben und wird (vielleicht immer) Strafgesetze geben, von denen ein Theil der Bevölkerung annimmt, sie seien ungerecht [. . .]. Hier wird die Norm erst mit dem Strafgesetze selbst gegeben, wenngleich in der Vorstellung des Gesetzgebers die Norm [. . .] früher vorhanden sein muß, als die Strafe, mit welcher er den Zwang herbeiführen will.“ 377
Im Hinblick auf das postulierte zeitliche Vorangehen der Norm liegt es tatsächlich nahe, Bindings Normen außerhalb des Rechts zu verorten. Ganz im Sinne Bars stände zu befürchten, Binding verwechsle in allen Fällen, in denen Strafgesetze erstmals bestimmte Normen voraussetzten, die Gerechtigkeitsvorstellungen des Gesetzgebers mit rechtlichen Normen. Entsprechend führt er an späterer Stelle aus, die Normen Bindings seien „nichts Anderes, als der Respekt, den wir empfinden vor gewissen rechtlichen Beziehungen oder wenn man lieber will, Gütern“ 378 und damit der Grund, nicht aber der Gegenstand der Gesetzge372
Vgl. Wach, GS 25 (1873), S. 432 (433 f.). Vgl. Bar, KritVjSchr 15 (1873), S. 560 (563). 374 Binding, Normen, Bd. 1, 1. Aufl. 1872, S. 4. 375 Binding, Normen, Bd. 1, 2. Aufl. 1890, S. 4. 376 Siehe etwa u. S. 241 ff. 377 Bar, KritVjSchr 15 (1873), S. 560 (563). 378 Bar, KritVjSchr 15 (1873), S. 560 (571). An anderer Stelle spricht Bar, KritVjSchr 15 (1873), S. 560 (573) von der Norm als „dem Triebe, aus welchem [das Recht] hervorgeht.“ 373
240
2. Teil: Bindings Normentheorie
bung. Freilich ist diese Kritik, die schon zur Zeit ihrer Formulierung dem übrigen Inhalt des ersten Bandes in der ersten Auflage der „Normen“ nicht gerecht werden konnte, spätestens mit Bindings Korrektur der Passage gegenstandslos geworden. Angesichts der Ausführungen Bindings in späteren Auflagen kann nicht der geringste Zweifel bestehen, dass er bloße Gerechtigkeitsempfindungen des Gesetzgebers nicht als Normen anerkennt.379 Die entscheidende Frage, ob Bar den Rechtscharakter der (richtig verstandenen) Norm nicht zumindest für einen Teilbereich anerkennen will, lässt sich aus der im Übrigen fast durchweg polemisch gehaltenen Kritik nicht beantworten. Etwas bestimmter äußert sich demgegenüber Lucas.380 Auch er wirft Binding zunächst vor, zu irren, „wenn er die den Strafgesetzen von ihm zu Grunde gelegten Normen sämmtlich als Rechtsnormen ansieht, denn nur ein Theil derselben ist wirklich rechtlicher Natur, der andere Theil gehört anderen Gebieten der gesellschaftlichen Ordnung an, wie der Moral, der Politik, der Volkswirtschaft, der Polizei.“ 381 „Die complicirten Verhältnisse der modernen Zeit“ hätten es erforderlich gemacht, „Strafvorschriften rein positiver Art“ zu erlassen, „welche nicht einen bereits bestehenden Rechtssatz mit einer Strafsanction versehen, sondern den Satz als Rechtssatz neu eingeführt haben.“ 382 Mit anderen Worten: Für Lucas sind Bindingsche Normen wenigstens im Umfang des Tatbestandes des sie voraussetzenden Strafgesetzes sicher auch Rechtsnormen. Auch nicht mit einer Strafsanktion versehene Normen erkennt er darüber hinaus als Rechtsnormen an: „So finden sich die dem Diebstahlsstrafgesetze zu Grunde liegenden Normen“ für ihn nicht erst im § 242 RStGB, sondern bereits „in den Satzungen des bürgerlichen Rechts über Besitz und Eigenthum“.383 Die dem Diebstahl zugrundeliegenden Normen würden damit auch bei Abschaffung des Diebstahlsparagraphen als Recht weiterexistieren. Entgegen der Selbsteinschätzung Lucas’ stimmt er daher in vielen Bereichen mit Binding überein. Er akzeptiert die Existenz von Normen, deren rechtliche Qualität er über den Tatbestand eines Strafgesetzes hinaus wenigstens insoweit nicht in Zweifel zieht, als diese in den Vorschriften des übrigen Rechts verankert sind. Zwar nimmt Lucas an, jedes eine Norm voraussetzende Gesetz schaffe eine eigene Norm. Normen hätten „an jeder Stelle ihre besondere selbständige Bedeutung“ und dürften „nicht zusammengeworfen werden.“ 384 Damit aber bestreitet 379
Vgl. dazu ausführlich o. S. 52 ff., 57 ff. GS 36 (1884), S. 401 ff. 381 Lucas, GS 36 (1884), S. 401 (402). 382 Lucas, GS 36 (1884), S. 401 (402). 383 Lucas, GS 36 (1884), S. 401 (402). 384 Lucas, GS 36 (1884), S. 401 (405). Ob Lucas dies für wirklich jedes Gesetz, also beispielsweise auch Qualifikationen und Privilegierungen, annimmt, kann nicht mit letzter Klarheit entschieden werden, liegt angesichts seiner generellen Kritik an jeder Selbständigkeit der Norm vom Gesetz, das sie voraussetzt, jedoch nahe. 380
F. Kritik an der Normenlehre
241
Lucas nicht die Rechtsqualität der Normen, sondern ihre Selbständigkeit in Entstehung, Untergang und Umfang gegenüber dem Gesetz, das sie voraussetzt.385 Insoweit seine Kritik die rechtliche Qualität von Normen vor Schaffung eines Strafgesetzes betrifft, gilt für sie das oben Gesagte. Wiederum wirkt sich hier Bindings fehlerhafte Beschreibung der eigenen Lehre in der ersten Auflage der „Normen“ aus. 2. Die Bindingsche Norm als „Sozialnorm“ Neuerdings stellt auch Naucke die Rechtsqualität Bindingscher Normen in Frage.386 Seiner Sichtweise schlossen sich auch Hammon387 in ihrer Dissertation sowie Klaus F. und Hans C. Röhl in ihrem Lehrbuch zur Allgemeinen Rechtslehre an.388 Naucke glaubt, in der Normentheorie eine relativistisch-positivistische Programmatik erkennen zu können.389 Geltungsgrund sei bei Binding die „Herrlichkeit“ des Rechts, die wiederum allein durch die gesellschaftssichernde Funktion des Rechts begündet werde. Diese Sicherung der Gesellschaft sei Drehund Angelpunkt im Bindingschen Rechtsdenken, die Normentheorie nur das dogmatische Konstrukt, das es ihm erlaube, diesem Zweck unter Beibehaltung eines positivistischen Blickwinkels gerecht zu werden. Der Imperativ, der von den Strafgesetzen vorausgesetzt wird und dem der Delinquent zuwiderhandelt, erhält nach dieser Sichtweise Inhalt und Form durch seinen sozialen Sicherungszweck. Darunter versteht Naucke nicht nur eine logische Herleitung der Normen aus dem Recht; es soll sich ausdrücklich nicht um soziale Sicherungszwecke handeln, die dem Recht selbst entnommen wurden. Eine solche Herleitung aus dem Recht kommt für Naucke schon deshalb nicht in Frage, weil er das bei Binding als begriffliches beschriebene Vorangehen der Norm als zeitliches missversteht: „Diese Normen [. . .] gehen nach Binding den Gesetzen sachlich und zeitlich voraus.“ 390
Während Bar und Lucas sich ein Jahrhundert zuvor allerdings auf Bindings eigene Beschreibung der Normenlehre berufen konnten, stand Naucke die korrigierte Fassung zur Verfügung, in der Binding unmissverständlich von einem gerade nicht notwendig auch zeitlichen Vorangehen der Norm schreibt.391
385
Siehe dazu u. S. 258 ff. Naucke, in: Vormbaum (Hrsg.), Freigabe, S. XIII ff. 387 Hammon, Freigabe, S. 95 ff. 388 Vgl. K. F. Röhl/H. C. Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 223 ff. 389 Siehe hierzu und im Folgenden Naucke, in: Vormbaum (Hrsg.), Freigabe, S. XI ff. sowie dens., in: Czeguhn u. a. (Hrsg.), Eugenik und Euthanasie, S. 71 (73). 390 Naucke, in: Vormbaum (Hrsg.), Freigabe, S. XIV; Hervorhebung hinzugefügt. 391 Vgl. nochmals Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 4. 386
242
2. Teil: Bindings Normentheorie
Hat Naucke die Bindingschen Normen allerdings einmal als ungeschriebene, den Gesetzen immer zeitlich vorausgehende Ge- und Verbote definiert, so sind sie selbstverständlich nicht mehr als Entwicklung aus diesen Gesetzen konzipierbar. Die Normen können nach dieser Sichtweise kein positives Recht sein. Ganz in diesem Sinne meint Naucke im Hinblick auf Bindings Auslegungsmethodik: „Alles Argumentieren beginnt beim positiven Recht, geht zu den Normen zurück und endet beim positiven Recht.“ 392
Normen werden in dieser Interpretation der Bindingschen Lehre allein als Konsequenz eines sozialen Sicherungszwecks geschaffen. Sie gewinnen Macht über das Recht, das auf sie Bezug nimmt und in ihrem Sinne auszulegen ist. „Das Gesetz“ sei in der Theorie Bindings „nur die Oberflächenerscheinung der Norm“,393 die damit zum Einfallstor eines allgemeinen gesellschaftssichernden Zwecks in der Rechtsauslegung werde. Das Recht gelte für Binding, weil es herrlich sei. Es sei herrlich, weil es die Gesellschaft sichere. Damit müsse es im Sinne der Normen interpretiert werden, die unmittelbar aus diesem sozialen Sicherungszweck hervorgingen: „Das positive Recht muß bei Binding ,herrlich‘ sein, weil es die Normen für die ,soziale Selbstbehauptung‘ garantiert.“ 394
Die teleologische Auslegung wird auf diese Weise zur Auslegung im Sinne sozialer Normen, die letztlich gleichbedeutend wären mit dem aus Sicht des jeweiligen Interpreten größtmöglichen sozialen Nutzen.395 Ist das Recht stets im Sinne der Normen und die Normen immer im Sinne aktueller sozialer Nützlichkeit zu verstehen, sei damit gleichfalls der objektive Auslegungsansatz Bindings erklärt. Die Auslegung nach der Norm sei dann nämlich immer auch „zeitadäquate objektive Auslegung“.396 Objektive Auslegungslehre und Normentheorie sind für Naucke zwei Seiten einer Medaille, nämlich einer Programmatik des säkularen Positivismus, der sich der Ketten eines rechtlich festgezurrten Wertesystems entledigen möchte. Nauckes Kritik zielt unter anderem auf die Rechtsqualität Bindingscher Normen. Binding sei ein „Verherrlicher von Sozialnormen“ und damit gerade „kein großer Positivist“.397 Darin liegt die unterstellte Programmatik: Die Normen als Instrument „zeitadäquater, objektiver Auslegung“ könnten das Recht verändern, 392
Naucke, in: Vormbaum (Hrsg.), Freigabe, S. XVIII. Naucke, in: Vormbaum (Hrsg.), Freigabe, S. XVI. 394 Naucke, in: Vormbaum (Hrsg.), Freigabe, S. XV; vgl. a. dens., in: Czeguhn u. a. (Hrsg.), Eugenik und Euthanasie, S. 71 (73). 395 Vgl. Naucke, in: Czeguhn u. a. (Hrsg.), Eugenik und Euthanasie, S. 71 (73). 396 Naucke, in: Vormbaum (Hrsg.), Freigabe, S. XV. 397 Naucke, in: Vormbaum (Hrsg.), Freigabe, S. XVI; vgl. a. dens., in: Czeguhn u. a. (Hrsg.), Eugenik und Euthanasie, S. 71 (73). In dieselbe Richtung zielt K. F. Röhl/H. C. Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 225. 393
F. Kritik an der Normenlehre
243
ohne selbst auf eine Rechtsquelle rückführbar zu sein und setzten so einen Werterelativismus im Recht durch, der Bindings ganzes Denken bestimme. Das Gesetz verdiene nach einer solchen Sichtweise der Normentheorie „keinen Respekt“ 398 mehr – dieser sei vielmehr den Normen entgegenzubringen. Ein solches Recht wäre freilich nur scheinbar objektiv bestimmbar. Ihrer beschriebenen Natur entsprechend wären die Normen verschiedenen Einschätzungen über das sozial Nützliche anheim gegeben, die auf diese Weise massiven Einfluss auf das Recht gewönnen und einen objektiven Wertekanon des Rechts unmöglich machten. In Nauckes Worten: „Wer Zugriff auf die Normen hat, hat den Zugriff auf den Inhalt des Gesetzes.“ 399
Nur im Hinblick auf dieses politischen Erwägungen schutzlos gegenüberstehende Recht ist auch die weitere Bewertung Nauckes zu verstehen: „Diese Theorie liefert entschlossen die Konsequenz aus der Säkularisierung und naturrechtsfreien Rationalisierung des Strafrechts bei gleichzeitiger Erhaltung, ja Verstärkung seiner politischen Macht.“ 400
Die Kritik Nauckes kann der Normentheorie bereits im Ansatz nicht gerecht werden. Schon der vermutete Zusammenhang von Normen und Rechtsgeltungslehre geht fehl. Die bloße Postulation einer rechtlichen „Herrlichkeit“, die auf einem sozialen Nutzen der Normen fußen soll, stände in zweifachem Widerspruch zu Bindings Lehre. Auch wenn Binding die genauen Maßstäbe der Rechtsgeltung, von denen er ausgeht, an keiner Stelle genauer darlegt, steht angesichts seiner Fassung des Rechts als Wille des staatlich organisierten Gemeinwesens401 außer Frage, dass er darin eine empirische Frage der Anerkennung durch dieses Gemeinwesen sieht. Die Begründung der Geltung von Recht mit seinem sozialen Nutzen liefe hingegen auf einen immensen und unmittelbaren Einfluss soziologischer Forschung auf das Recht hinaus. Die Bekämpfung derartiger Einflüsse auf das Recht lässt sich ohne Übertreibung als Hauptanliegen im wissenschaftlichen Gesamtwerk Bindings beschreiben. Die „Herrlichkeit“ des Rechts begründet bei ihm nicht die Geltung, sondern bezeichnet den Geltungsanspruch des Rechts an sich selbst. Es ist dies eine Selbstherrlichkeit, mit der zum Ausdruck gebracht wird, dass der rechts- und insbesondere verbindlichkeitserzeugende Wille sich nicht in Abhängigkeit vom Willen des einzelnen Rechtsunterworfenen versteht. Dieser selbstherrliche Wille wird natürlich in besonderem Maße durch willensgesteuerte Zuwiderhandlungen gegen seine Vorschriften in Frage gestellt; Strafe versteht Binding dementsprechend auch als einschneidends398
Naucke, in: Vormbaum (Hrsg.), Freigabe, S. XVI. Naucke, in: Vormbaum (Hrsg.), Freigabe, S. XVI. 400 Naucke, in: Vormbaum (Hrsg.), Freigabe, S. XVII, Fn. 20. 401 Vgl. Binding, Handbuch, S. 198 f., Fn. 6. Siehe a. ebd., S. 9: „Das positive Recht besteht nur in der Form des Rechtssatzes, der feierlichen Erklärung des Gemeinwillens.“ u. S. 197: „Alles objektive Recht ist erklärter Gemeinwille“. 399
244
2. Teil: Bindings Normentheorie
te Form der Selbstbehauptung jenes Willens. Das Recht stellt seine eigene Geltung zur Schau, indem es die Bestrafung desjenigen vorschreibt, der seinen Anordnungen zuwiderhandelte.402 Durch das beschriebene Missverständnis Nauckes, nach dem Binding von einem zwingend auch zeitlichen Vorangehen der Normen ausgehe, wird überdies der gesamte Sinn der Normenlehre verkehrt. Wenn die Norm auch demjenigen Strafgesetz zeitlich vorausginge, das diese erstmalig in der Rechtsordnung verankert, dann kann es sich bei Normen selbstverständlich nur um dem Recht vorausgehende Sätze handeln. Dies aber entspricht in keiner Weise der Theorie Bindings, welche die Normen als eigene Gruppe von Rechtssätzen, als Teil des positiven Rechts sieht.403 Die Existenz Bindingscher Normen ergibt sich nach den akzeptierten Regeln der Rechtsquellenlehre. Sie entstehen ungeschrieben als Gewohnheitsrecht oder als Implikation anderer Rechtssätze, können aber auch gesetzt als eigenständiger Teil eines Rechtssatzes oder als eigenständiger Rechtssatz geschaffen werden. Für Binding kann sich Existenz, Form, Inhalt und Umfang der Norm selbst im Falle ihrer Regelung ausschließlich als Voraussetzung eines Strafgesetzes nur nach den Vorgaben eines als weitgehend autonom verstandenen positiven Rechts richten. Mit diesem Rechtsverständnis ist es nicht möglich, Normen aus der Idee des Sozialnützlichen zu extrapolieren. Vielmehr können Normen für Binding rechtsdogmatisch einwandfrei Vorstellungen über das sozial Nützliche diametral zuwiderlaufen. Weder die methodischen Grundlagen Bindings, noch seine eigene Beschreibung der Normentheorie sind daher mit der von Naucke gezeichneten Lehre in Einklang zu bringen. Nauckes Skizzierung der Normenlehre ähnelt insofern der Kulturnormentheorie M. E. Mayers, als ein Anknüpfungspunkt des Rechts außerhalb des positiven Rechts verortet wird. Allerdings entstehen Kulturnormen durch die willkürliche Anerkennung innerhalb einer Gruppe von Menschen und lassen sich damit ebenfalls nicht ohne Weiteres nach dem Sozialnutzen bestimmen. Soweit ersichtlich, wurde die von Naucke beschriebene Theorie nie vertreten. Da Naucke in seiner Kritik der Normentheorie also bereits vielfach falsche Prämissen setzt, kann sie im weiteren Verlauf nicht zu sachgerechten Ergebnissen führen. Dies bestätigt sich auch bei einem Blick auf den angeblichen Zweck Bindingscher Normen. Richtig ist, dass die von Naucke als Quelle der Normen verstandene Gesellschaftssicherung und die Normen selbst nicht völlig bezugslos nebeneinander stehen. Tatsächlich weist die Erfassung der Norm eine starke teleologische Komponente auf. Wie beschrieben geht der Umfang Bindingscher Normen in aller Regel über den Tatbestandsteil des Strafgesetzes hinaus, das sie voraussetzt. Die Begründung hierfür liegt im Normzweck des Rechtsgüterschut402 Vgl. bspw. Bindings Formulierungen in den Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 419, 421, 423, 426, 433, 500 u. 502. 403 Siehe dazu ausführlich o. S. 167 ff.
F. Kritik an der Normenlehre
245
zes: Der Schutz des Rechtsguts wäre unvollständig, wenn die Norm nicht jede schuldhafte Verursachung oder Beihilfe zur Verletzung oder Gefährdung eines Rechtsguts erfasste. Teleologische Konsequenz fordert für Binding damit einen sehr weiten Normumfang. Nun liegt natürlich nur die unmittelbare Begründung der Norm im Rechtsgüterschutz. Da das Rechtsgut bei Binding in strikter Abhängigkeit vom Recht ohne jegliche vor- oder überpositiven Wertmaßstäbe bestimmt wird, kann dies aber nicht das Ende der teleologischen Überlegung sein; das Recht verwiese andernfalls als Endzweck auf sich selbst. Den übergeordneten Zweck der Rechtsgüter gibt Binding bereits in seinem Definitionsversuch vor: Rechtsgut ist für ihn „Alles, was selbst kein Recht doch in den Augen des Gesetzgebers als Bedingung gesunden Lebens der Rechtsgemeinschaft für diese von Wert ist, an dessen unveränderter und ungestörter Erhaltung sie nach seiner Ansicht ein Interesse hat, und das er deshalb durch seine Normen vor unerwünschter Verletzung oder Gefährdung zu sichern bestrebt ist.“ 404 Liegt der unmittelbare Zweck der Normen auch im Rechtsgüterschutz, so sind diese Rechtsgüter doch wiederum nur Ausdruck des aus Sicht des Gesetzgebers zur Erhaltung eines „gesunden Lebens der Rechtsgemeinschaft“ Nötigen. Rechtsgüter und die zu ihrem Schutz bestimmten Normen dienen somit bei Binding tatsächlich auch der „Gesellschaftssicherung“. Allerdings wird der allgemeine Zweck der Gesellschaftssicherung damit noch nicht zu einem eigenständigen Interpretationsmaßstab. Teleologisch beachtlich ist, welche Rechtsgüter die Rechtsquelle für erforderlich hält, um die Gesellschaft zu sichern. In Bindings Hinweis auf die Gesellschaftssicherung spiegelt sich lediglich die kaum zu widerlegende Annahme, dass die Rechtsquelle mit Blick auf die Erhaltung und Förderung eines aus ihrer Sicht gesunden Zusammenlebens in der Gesellschaft Recht setzt. Das konkrete Rechtsgut, die Art und Weise, wie die Rechtsquelle ein gesundes Zusammenleben sieht, ist entscheidend – und nicht etwa das nach dem Dafürhalten des Interpreten sozial Erforderliche. Der Zweck der Gesellschaftssicherung lässt weder Rechtsgüter noch die schützenden Normen entstehen, sondern bezeichnet in erster Linie den Willen der Rechtsquelle bei der Schaffung dieser Rechtssätze. Rechtsgüter und Normen entspringen beide nicht überpositiven Wertmaßstäben, sondern eben jenem Willen.405 Seiner Erforschung sind selbst unter den Vorgaben der objektiven Auslegungstheorie Grenzen gesetzt, deren Konturen mit der beschriebenen Heranziehung von Sozialnormen schlicht nicht in Einklang zu bringen sind. Die hier beschriebene Rolle der „Gesellschaftssicherung“ für die Auslegung der Normen bei Binding bestätigt sich auch bei genauerer Betrachtung der von 404 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 353 ff.; Hervorhebung hinzugefügt. Vgl. hierzu Naucke, in: Vormbaum (Hrsg.), Freigabe, S. XI ff., der daraus richtig schlussfolgert, dass es keine inhaltlichen Grenzen für Bindingsche Rechtsgüter gibt. 405 Dass sich der Gesetzgeber regelmäßig von überpositiven Wertmaßstäben leiten lässt und diese damit eine mittelbare Relevanz erhalten, ist damit natürlich nicht bestritten.
246
2. Teil: Bindings Normentheorie
Naucke zur Untermauerung seiner These herangezogenen Stellen. Verwiesen wird im Wesentlichen auf den oben bereits behandelten Abschnitt zum „Nachweis der Norm aus ihrem Bedürfnisse“ im ersten Band der „Normen“.406 Das Missverständnis einer Entstehung der Norm durch das sozial Erforderliche – beziehungsweise das, was der Interpret dafür hält – liegt hier nahe. Ein Blick in den Text selbst jedoch widerlegt diese Behauptung schnell: Er handelt nicht von der Entstehung, sondern vom Umfang der Normen. Dieser wird überdies nicht danach bestimmt, was dem Interpreten sozial erforderlich erscheint, sondern richtet sich nach dem allgemeinen Bedürfnis eines Schutzes der durch das Recht mit einem besonderen Wert versehenen Güter.407 Schließlich ist auch die von Naucke angesprochene werterelativistische Programmatik der Normentheorie nicht feststellbar. Diese wird insbesondere in ihrer angeblichen Verknüpfung mit der objektiven Auslegungslehre Bindings gesucht. Freilich wäre die Auslegung des Rechts im Sinne der beschriebenen, sich mitunter wandelnden „Sozialnormen“ zwingend eine objektive. Indes handelt es sich bei den Bindingschen Normen gerade nicht um derartige Normen des sozial Erforderlichen, sondern um rechtslogisch ermitteltes und teleologisch ausgeformtes positives Recht. Da es sich bei Normen für Binding um gewöhnliche Rechtssätze handelt, liegen ihnen keine anderen Modi der Ermittlung oder Auslegung zugrunde als anderen Rechtssätzen. Ist eine Norm ungeschrieben und nur als logische Voraussetzung eines einzelnen Strafgesetzes im positiven Recht verankert, so setzt dieses Strafgesetz gleichzeitig Auslegungsgrenzen für die Norm. Zwar zieht Binding diese Grenzen durch seine objektive Auslegungsmethodik recht weit, wenn er vom Strafgesetz auf ein Rechtsgut und von diesem auf den Normumfang schließt. Der generell größere interpretatorische Spielraum in objektiven Auslegungstheorien wird durch die Existenz Bindingscher Normen jedoch in keiner Weise berührt. Damit ist auch der behauptete Zusammenhang zwischen objektiver Auslegung und Normentheorie hinfällig. Obwohl Binding eine rein objektive Auslegungslehre entwirft, ist seine Normentheorie in ihren absoluten Grundlagen davon nicht abhängig. Eine logische und teleologische Analyse des Rechts, die zu einer solchen Gruppe von Rechtssätzen gelangt, ist vielmehr auch mit einer subjektiven Auslegungsweise möglich, wenngleich sich dann in einzelnen Bereichen neue Fragen stellten. Abhängig ist seine Konzeption einzig vom Verständnis des Rechts als eine Idealentität. Natürlich lässt sich die von Naucke kritisierte Möglichkeit einer Aushöhlung des gesetzgeberisch intendierten rechtlichen Wertesystems durch eine geltungszeitlich-objektive Auslegung kaum bestreiten. Versteht man diese Aushöhlung als eine Entfernung vom im Sinne subjektiver Auslegungslehren ursprünglich in406 407
Vgl. Naucke, in: Vormbaum (Hrsg.), Freigabe, S. XIV m. Fn. 14. Siehe dazu o. S. 178 ff.
F. Kritik an der Normenlehre
247
tendierten Rechtsinhalt, so wird dieses Potential schon anhand veränderlicher Wortbedeutungen oder systematischer Bezüge offensichtlich. Tatsächlich können auf diese Weise auch Sozialnormen im Rahmen der teleologischen Auslegung Einfluss auf den Inhalt des Rechts gewinnen, der allerdings nicht grenzenlos ist.408 Diese jedoch sind von Bindingschen Normen unbedingt zu unterscheiden. Letztere unterliegen als gewöhnliche Rechtssätze vielmehr selbst der objektiven Auslegung, könnten also ihrerseits durch veränderte Zweckerwägungen anders zu interpretieren sein. Sie sind Objekt, nicht Ziel teleologischer Auslegung. Die Normentheorie erweitert daher nicht die interpretatorischen Grenzen objektiver Auslegung. An der Normentheorie geht diese Kritikform insgesamt vorbei. Auch im Hinblick auf die objektive Auslegung bedarf es jedoch einer Klarstellung. Trotz einer relativen Wertinstabilität gegenüber einer streng subjektiven Auslegung ist der Gesetzgeber auch unter den Prämissen einer objektiven Auslegungslehre durchaus in der Lage, den beabsichtigten Wertekanon auf das Recht zu übertragen. Er bleibt schließlich Urheber des Rechts, das lediglich mittels anerkannter Auslegungsmethoden Gegenstand objektiver Auslegung wird. Eine deutliche Sprache und gegebenenfalls eine Korrektur des Gesetzten schränken gleichsam jede vertretbare objektive Auslegungstechnik wirksam ein. Unbeherrschbar wird der Inhalt des Rechts erst dann, wenn der Interpret bei der Ermittlung der objektiv gewollten Wertmaßstäbe nicht mehr vom Recht ausgeht, sondern von Beginn an rechtsfremde Erwägungen auf das Recht überträgt. Ein solches Vorgehen lag Binding allerdings zu jeder Zeit fern. Der von Naucke ebenfalls erhobene Vorwurf eines programmatischen Wertrelativismus im Gegensatz zu der beschriebenen relativen Wertinstabilität trifft damit weder die Normenlehre noch die objektive Auslegungstheorie Bindings. Beide sind lediglich insofern wertrelativistisch, als der Gesetzgeber- oder Rechtswille darin nicht an einen überpositiven Wertekanon gebunden ist und den Verlust von Werten zulassen oder betreiben könnte, wenn er denn wollte. Dieser Vorwurf lässt sich aber nicht sinnvoll gegen eine bestimmte Auslegungstheorie und noch weniger gegen eine Theorie zur Struktur des Strafrechts vorbringen. Sein logisches Bezugsobjekt sind vielmehr alle Theorien, die heute als rechtspositivistisch bezeichnet werden. 3. Sanktion als Verbindlichkeitsmerkmal Eine Einordnung Kelsens als Kritiker der Bindingschen Normenlehre gestaltet sich schwierig. Ähnlich wie Bar und Lucas wendet er sich scheinbar nicht gegen die Rechtsqualität der Normen, wenn er ihre rechtliche Existenz als leges imperfectae bestreitet,409 sondern beschränkt nur den Umfang der Normen auf den Tatbestandsteil von Sanktionsgesetzen. Tatsächlich geht die Kritik Kelsens an der 408 409
Siehe dazu o. S. 118 f. Vgl. Kelsen, Hauptprobleme, S. 286.
248
2. Teil: Bindings Normentheorie
Normenlehre jedoch über diejenige Bars und Lucas’ hinaus: Auch, insofern das Zuwiderhandeln gegen eine Norm mit einer Sanktion versehen ist, ist diese Norm für Kelsen nämlich kein Recht, sondern als Unrechtsverhinderung lediglich der Zweck des Sanktionsgesetzes. Diese Sichtweise erklärt sich aus den Grundlagen der Reinen Rechtslehre, die bekanntlich in besonderem Maße um eine scharfe Bestimmung des Rechtsbegriffs bemüht ist. Zur Erfassung des spezifisch Rechtlichen wird zunächst das normative „Sollen“ vom empirischen „Sein“ abgegrenzt; ein Schritt, der in seiner konkreten Form weit weniger selbstverständlich und im Hinblick auf die Normentheorie weit folgenreicher ist als er zunächst klingt. So soll der „Frieden“ als ein Sein – als Zweck des Rechts – streng vom Recht als Sollen und Mittel, diesen Frieden zu erreichen, getrennt werden.410 Rechtslehren, die diesen „Frieden“ selbst als Teil des Rechts ansehen, bezeichnet Kelsen als „soziologisch“.411 Auf einer solchen Grundlage könne die Jurisprudenz nicht als eigenständige Wissenschaft gelten.412 Da aber auch Sitte, Moral, Religion und Naturrecht Sollenssätze formulieren, grenzt Kelsen den Rechtsbegriff noch weiter ein, indem er ein Zwangsmoment voraussetzt. Die „spezifische Autorität des Staates“ als Rechtssetzer beruhe „ausschließlich auf der Vorstellung der Strafe oder sonstigen Zwangsgewalt“.413 In der kompaktesten Form darf das Recht im Sinne Kelsens somit als ein mit staatlichem Zwang bewehrtes Sollen bezeichnet werden. Wesensmäßig verbunden mit dem Zwangsmoment wird aus dem einfachen „Sollen“ ein sanktionsbewehrtes „Müssen“; das Rechtssubjekt muss, wenn es nicht den Zwangsapparat des Rechts gegen sich aktivieren will. Kelsen lehnt die Rechtsqualität der Norm daher auch in den Fällen ab, in denen sie strafbewehrt ist. Die Norm bilde lediglich den Zweck des Strafgesetzes, nämlich die Verhinderung von Unrecht. Nur das Mittel aber, das heißt das Strafgesetz selbst, dürfe als Recht gelten.414 Liegt das Wesen rechtlicher Verbindlichkeit für Kelsen im Zwangsmoment, so kann das reine Ge- oder Verbot auch nicht verbindlichkeitsbegründend sein, sondern fällt insgesamt aus dem Rechtsbegriff heraus. „Die juristische Betrachtung“, schreibt Kelsen, habe „nicht zu fragen, was den Untertanen befohlen [. . .] wird, nicht welche Handlungen und Unterlassungen der Menschen durch das Recht verhindert oder [. . .] ,verboten‘ werden sollen [. . .] – sondern wie dieser Zweck verfolgt wird.“ 415 Die Verbindlichkeit 410 Kelsen, Hauptprobleme, S. 272 f.; siehe a. dens., Reine Rechtslehre, 1. Aufl. 1934, S. 28 f. 411 Siehe Kelsen, Hauptprobleme, S. 209, 214 f., 344, 352. 412 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, 1. Aufl. 1934, S. 1 ff., 9 ff. 413 Kelsen, Hauptprobleme, S. 284. 414 Vgl. Kelsen, Hauptprobleme, S. 276 ff. 415 Kelsen, Hauptprobleme, S. 279.
F. Kritik an der Normenlehre
249
wird dann nicht mit Blick auf die materielle Frage entschieden, wozu verbunden wird, sondern bestimmt sich rein formal als ein – für sich nicht rechtlicher – staatlich-zwangsbewehrter Sollensinhalt. Das ist gemeint, wenn Kelsen als Kernpunkt seiner Kritik feststellt, Binding verkenne den „rein formalen [Charakter] einer in den Grenzen der Jurisprudenz auf das Wesen des verpflichtenden Rechtssatzes gerichteten Fragestellung.“ 416 Und aus diesem Grund soll die Bindingsche Norm nach dieser Sichtweise auch dann außerhalb des Rechts einzuordnen sein, wenn sie in einem Strafgesetz zugrundegelegt wird. Sie ist für Kelsen nur Zweck, nicht Inhalt des Rechtssatzes. Der staatliche Wunsch, ein bestimmtes Verhalten des einzelnen Rechtsunterworfenen zu erreichen, ist Teilaspekt des allgemein beabsichtigten „Friedens“ und gerade nicht mit dem rechtserzeugenden Willen identisch, der nur die Vorgehensweisen des Staates selbst betreffen kann. Die Kritik Kelsens entpuppt sich bei näherem Hinsehen in vielen Bereichen als einfache und folgenarme Begriffskritik. Das gedanklich enthaltene Ge- oder Verbot wird zwar gleichgesetzt mit seinem tatsächlichen Ziel, der Bewirkung eines Tuns oder Unterlassens; das Recht kennt nach Kelsen nicht für sich Ver- oder Gebotenes, sondern beschränkt sich formal auf die staatliche Androhung von Zwangsfolgen für bestimmtes Verhalten. Den gedanklichen Schritt einer Norm muss er dennoch nachvollziehen. Auch er kann – um im begrifflichen System der Reinen Rechtslehre zu bleiben – den „Zweck“ als materiellen Inhalt einer Verbindlichkeit nicht ignorieren, sondern diesen nur des Bereichs des Rechtlichen verweisen. Mit anderen Worten: Wird auch nur das staatlich-zwangsbewehrte Sollen als Recht definiert, so lässt sich dieses immer noch begrifflich aufteilen in ein Sollens- und ein Zwangsmoment. Auch Kelsen muss daher einräumen, dass Normen in den Strafgesetzen „begrifflich enthalten“ sind,417 selbst wenn sie für ihn kein Recht darstellen. Welchem Bereich aber soll dieses reine Sollen dann angehören?418 Kelsen gibt hierauf keine eindeutige Antwort und stellt nur fest, dass sich Rechtsnormen auf die staatliche Autorität als Zwangsapparat zurückführen lassen müssten. Kann die Motivation zur Befolgung eines Sollenssatzes nicht in der Vorstellung von Zwang liegen – wie es bei den als reine Sollenssätze gedachten Normen der Fall wäre – so beziehe der Satz seine Autorität nicht vom zwingenden Staat, sondern aus anderen Gebieten, etwa der Religion, der Sitte, der Moral und so weiter.419 Normen im Sinne Bindings wären demnach Ratschläge jedenfalls nichtrechtlicher Natur.
416
Kelsen, Hauptprobleme, S. 279. Kelsen, Hauptprobleme, S. 282. 418 Diese Frage stellte bereits Armin Kaufmann, Normentheorie, S. 263 in Bezug auf Werturteile, die von Bindingschen Normen vorausgesetzt werden. Sie lässt sich problemlos auf die Normen selbst erweitern. 419 Kelsen, Hauptprobleme, S. 283 ff. 417
250
2. Teil: Bindings Normentheorie
Den Anhängern einer ohne Bezug auf den Zwangsapparat operierenden Rechtsquellenlehre, die Recht wie Binding allein mit Blick auf die Herkunft bestimmen will, wirft Kelsen einen Trugschluss vor.420 Das Abstellen auf die Autorität des Staates verschiebe die Frage doch nur auf das Wesen dieser Autorität, das im Zwangsmoment zu sehen sei. Allerdings wird die Frage nach der Autorität des Staates als rechtsetzender Macht von Kelsen selbst nur mit Blick auf eine Abgrenzung von anderen normativen Systemen vorgenommen421 und bewegt sich damit selbst am Rande eines Zirkelschlusses, beweist doch die Abwesenheit eines staatlichen Zwangsapparats für Sollenssätze anderer Gebiete noch nicht dessen Wesensmäßigkeit für den einzelnen Rechtssatz. Auch der Gedanke, der Staat könne nur eigene Vorgehensweisen wollen, setzt ein bestimmtes Rechtsverständnis eher voraus als es zu begründen. Die Sichtweise des Rechts als ein nur insgesamt mit dem staatlichen Sanktionsapparat ausgestatteter Wille, der durchaus ein Tun oder Unterlassen des einzelnen Rechtsunterworfenen betreffen kann, wird auch von einigen Juristen geteilt, die sich um eine kritische Fortsetzung der Theorie Kelsens bemühen.422 Insofern das Operieren mit dem staatlichen Zwangsapparat als Wesensmerkmal des Rechtssystems insgesamt, nicht aber als Wesensmerkmal jedes einzelnen Rechtssatzes gesehen wird, fällt die gesamte Kritik Kelsens an Bindings Normenlehre aber in sich zusammen. Zudem wären die Folgen selbst dann überschaubar, wenn Normen mit Kelsen aus dem Bereich des Rechtlichen verwiesen würden. Sie existierten dann auf zweifache Weise: Zum einen als Beschreibung des mit dem Strafgesetz bezweckten Verhaltens, eines „Seins“, zum anderen als „Sollen“ im Sinne eines „Ratschlags“ ohne Rechtsqualität. Auf dieses nur um seine Rechtsnatur erleichterte Sollen könnte das Recht in Form von Strafgesetzen et cetera weiterhin Bezug nehmen. Der praktische Unterschied Kelsens zu den Kritikern einer Selbständigkeit der Normen besteht lediglich darin, dass auch im Falle einer solchen Bezugnahme die Normen aus rein formalen Gründen nicht Teil des Rechts würden, sondern ein Fremdkörper blieben. Bezeichneten wir logisch durch Recht vorausgesetzte Sollenssätze stattdessen ebenfalls als Recht, ergäbe sich hierdurch in der Sache kein Unterschied.423 Kelsens Kritik stellt sich, insofern sie die Rechtsnatur der Normen betrifft, daher als Begriffskritik dar. Noch weiter von Binding entfernt sich Hoyer, der in seiner Arbeit zur „Strafrechtsdogmatik nach Armin Kaufmann“ den Gedanken eines mit dem Bürger abgeschlossenen Geschäfts wiederbelebt, in welchem diesem Straflosigkeit für die 420
Kelsen, Hauptprobleme, S. 224 ff. u. 349 f. Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, 1. Aufl. 1934, S. 25 f. 422 Vgl. etwa Weinberger, in: Memoria del X. Congreso Mundial Ordinario de Filosofía del Derecho y Filosofía Social, Bd. 6, Symposia 2, S. 23 (29); MacCormick/Weinberger, Grundlagen, S. 90 ff.; Krawietz, in: Winkler u. a. (Hrsg.), Reine Rechtslehre im Spiegel ihrer Fortsetzer und Kritiker, S. 315 (331 ff.). 423 Vgl. Armin Kaufmann, Normentheorie, S. 52 f., 236 f. 421
F. Kritik an der Normenlehre
251
Vornahme einer Handlung oder den Verzicht auf eine Handlung zugesichert werde.424 Nur in diesem Geschäft, nicht in einem von der Sanktionsandrohung abstrakten Ge- oder Verbot komme eine Verhaltenserwartung zum Ausdruck. Das Strafrecht sei damit auch ohne abstrakte Ge- und Verbote konzipierbar; neben der Sicherung der vollen Entschließungsfreiheit des Bürgers lautet das zentrale Argument Hoyers gegen die Bindingsche Lehre daher auf die Überflüssigkeit abstrakter Normen.425 Der Gedanke einer Wahrung der vollen Entschlussfreiheit des Bürgers auch in strafrechtlich sanktionierten Bereichen ist uns freilich bereits aus älteren Theorien, etwa der Warnungstheorie Bauers426 und besonders aus der Strafrechtslehre Fichtes,427 bekannt. Angesichts der Schnittmenge der „alethischen“ 428 Strafrechtslehre Hoyers mit diesen Auffassungen ist es nicht verwunderlich, dass auch die moderne Replik auf Hoyer der älteren Kritik an jenen Lehren gleicht. So bemängelt beispielsweise Heghmanns, das Wertesystem des Rechts würde untergraben, wenn man die Verletzung von Rechtsgütern konzeptionell zur freien Disposition der Bürger stellte, sie zu „Tauschobjekten“ gegen strafrechtliche Sanktionen erklärte.429 Diese Kritik unterscheidet sich inhaltlich kaum von derjenigen, die Binding mehr als ein Jahrhundert zuvor an den genannten Strafrechtslehren übte: Nur durch echte Sollenssätze lasse der Wille des Rechts zutreffend wiedergeben, bestimmte Werte schützen zu wollen.430 Hintergründig machen sich wiederum verschiedene Sichtweisen des Rechts überhaupt bemerkbar. Die Wahrnehmung des Rechts als eine Idealentität fordert die Darstellung einer eigenständigen Gedankenwelt, während ein realistischeres Verständnis den vermeintlichen Sollenssatz für eine bloße Bezeichnung der Wirkung einer Sanktionsandrohung halten muss. Dass etwas gesollt ist, ist für jene realistischeren Sichtweisen also nicht etwa die Konsequenz einer Sanktionsandrohung; vielmehr ist das Sollen für sie die missverständliche Bezeichnung der durch eine Sanktionsandrohung geschaffenen tatsächlichen Situation.
424
Vgl. Hoyer, Strafrechtsdogmatik, S. 46 ff., 265 f. Hoyer, Strafrechtsdogmatik, S. 43 ff. 426 A. Bauer, Warnungstheorie, S. 40 ff. 427 Fichte, Werke, Bd. 3, S. 260 ff. Die Bestrafung basiert für ihn letztlich auf dem freien Willen des Verbrechers selbst. Dieser verletzte durch seine Tat den bei Fichte sog. „Bürgervertrag“; da ein Ausschluss aus diesem Vertrag (und damit der Rechtsgemeinschaft) als Reaktion auf jedes noch so kleine Vergehen wenig sinnvoll erscheint, schließen in der Theorie Fichtes alle mit allen einen sog. „Abbüssungsvertrag“ ab, der die Strafe als Mittel, trotz des Vergehens in der Rechtsgemeinschaft verbleiben zu dürfen, erst schafft. 428 Siehe zu diesem Begriff Hoyer, Strafrechtsdogmatik, S. 48 m.w. N. 429 Heghmanns, Grundzüge, S. 49. 430 Vgl. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 37 ff. Siehe dazu ausführlich o. S. 180 ff. 425
252
2. Teil: Bindings Normentheorie
III. Mangelnde Selbständigkeit der Normen Eine größere Gruppe von Kritikern bemängelt, zunächst unter Meinungsführerschaft Merkels431 und Wachs,432 Bindings Konzeption der Normen als eigenständige und insbesondere von den Strafgesetzen wesentlich unabhängige Rechtssätze. Die positivrechtliche Verankerung der Lehre Bindings wird jedoch anerkannt, seine logischen Schlüsse zur Gewinnung der Normen aus den Strafgesetzen im Grundsatz nachvollzogen.433 In die moderne Terminologie übertragen zieht diese Autorengruppe die Trennung von Verhaltens- und Sanktionsnormen also nach und zweifelt nicht an der Zugehörigkeit beider zum Recht. Die Vertreter dieser Kritiklinie zeichnen sich durch einen eher wohlwollenden Umgang mit Binding aus.434 Nichtsdestotrotz wird mit der abstrakten Stellung der Norm ein Aspekt der Normentheorie bestritten, welcher ihr erst ihre eigentliche Bedeutung verleiht. Ausgangspunkt der Kritik ist die Überlegung, dass die Norm logisch nur in zweierlei Verhältnissen zu einem neuen Strafgesetz stehen kann: Entweder sie bestand zeitlich vor diesem Strafgesetz, war also bereits Teil der Rechtsordnung, in die das neue Strafgesetz aufgenommen wird. Dann sei diese Norm zwar notwendig unabhängig vom neu entstehenden Strafgesetz;435 was die Strafbarkeit ihrer Übertretung angehe, komme es aber doch auch dann nur auf das Strafgesetz an. Beinhaltet das Strafgesetz beispielsweise eine Qualifikation und geht damit in seinen Voraussetzungen über die Norm hinaus, so kann auf seiner Grundlage natürlich nur verurteilt werden, wer auch diese zusätzlichen Voraussetzungen erfüllt. Nach dieser Ansicht erwächst der Strafrechtswissenschaft aus der genauen Herausarbeitung der angeblich abstrakten Norm im beschriebenen Fall also kein besonderer Vorteil. Gelange eine Norm aber erst durch das Strafgesetz zur Entstehung, so könne von ihrer Selbständigkeit keine Rede sein. Die Norm verdanke in diesem Fall schließlich dem Strafgesetz ihre Existenz und gehe gegebenenfalls auch mit diesem wieder unter. In der Sache sei sie nur eine Umwandlung des Tatbestandsteils eines jeden Strafgesetzes und damit als Teil des Strafgesetzes aufzufassen, das sie voraussetzt. Ihre Selbständigkeit beschränke sich darauf, dass dieser Tatbestandsteil unabhängig vom Straffolgenteil des Strafgesetzes verändert werden könne.
431 432 433
A. Merkel, ZStW 6 (1886), S. 496 ff.; ders., GrünhutsZ 6 (1879), S. 367 ff. Wach, GS 25 (1873), S. 432 ff. Vgl. A. Merkel, ZStW 6 (1886), S. 496 (515 f.); Wach, GS 25 (1873), S. 432
(437). 434 Wach war, wie er selbst in seiner Kritik, GS 25 (1873), S. 432 (434) bekundet, mit Binding befreundet, bestand aber darauf, dies in seinem besonderen Bemühen um Objektivität allenfalls zu Bindings Ungunsten berücksichtigt zu haben. Auch A. Merkel, ZStW 6 (1886), S. 496 äußert sich zum Teil sehr wohlwollend zu Binding. 435 Vgl. Wach, GS 25 (1873), S. 432 (438); Laband, Staatsrecht, Bd. 1, S. 443 f. m. Fn. 1.
F. Kritik an der Normenlehre
253
Der Tatbestand enthalte damit beides, die Voraussetzungen der Strafbarkeit und das entsprechende Ge- oder Verbot.436 Schon immer sei der Strafrechtswissenschaft klar gewesen, dass ein Strafgesetz nur in Form des mitnormierten Ge- oder Verbots verletzt werden könne. Daher dürfe mit dieser Maßgabe weiterhin von einer Verletzung der Strafgesetze gesprochen werden.437 Bindings Verdienst beschränke sich auf eine besonders klare Herausarbeitung dieses Unterschieds, innerhalb derer er aber zu weit gegangen sei. Endresultat der Kritik ist danach der Vorwurf einer Überschätzung des Wertes der Normentheorie für die Strafrechtswissenschaft.438 Die Anziehungskraft dieser Sichtweise wird sofort deutlich: Die überzeugenden Ergebnisse Bindings zur Existenz von Normen im Recht können nachvollzogen und ausgewertet werden, ohne die umständliche Konsequenz einer neuen Klasse eigenständiger Rechtssätze anerkennen zu müssen. Letzteres bedeutete schließlich das Eingeständnis, ein zentrales Element in der logischen Struktur des Strafrechts jedenfalls in seiner konkreten Form und Bedeutung bislang übersehen zu haben. Die Normentheorie schrumpft im selben Moment zur Erläuterung der logischen Strukturen des eigentlich schon immer Gedachten und Verstandenen zusammen. In der Analyse dieser Kritik wird zunächst genauer beschrieben, welchen Bereich der Normentheorie sie betrifft, was also eine „Abstraktion“ der Norm vom Strafgesetz im Einzelnen ausmacht. Hier wird sich herausstellen, dass die postulierte Selbständigkeit der Norm zumeist folgenlos bleibt (1.). Erst im Anschluss wird die prinzipielle Frage einer Selbständigkeit der Norm behandelt, die zuweilen bis heute in etwas abgewandelter Form in der Literatur gestellt wird (2.). 1. Eingrenzung des Problems der Selbständigkeit der Norm Bereits die heutige Unterscheidung in Verhaltens- und Sanktionsnormen bedeutet die begriffliche Selbständigkeit dessen, was Binding als „Norm“ begreift. Bindings Normentheorie wirkt sich allerdings erst aus, wenn das Gesetz nicht nur an eine solche begriffliche Selbständigkeit anknüpft. Weder Blankettkonstruktionen [a)] noch Situationen, in denen eine Norm nicht nur in einem vollständigen Strafgesetz positivrechtlich verankert ist [b)], taugen zum Beweis einer wesensmäßigen Selbständigkeit der Bindingschen Norm. In diesen Fällen ergibt sich durch Bindings Kernaussage der Normselbständigkeit kein Unterschied.
436 437 438
(446).
Vgl. Wach, GS 25 (1873), S. 432 (438 f.). Vgl. A. Merkel, ZStW 6 (1886), S. 496 (518 f.). Vgl. A. Merkel, ZStW 6 (1886), S. 496 (520 f.); Wach, GS 25 (1873), S. 432
254
2. Teil: Bindings Normentheorie
a) Blankettkonstruktionen als Argumentation für die Normselbständigkeit Binding selbst führt Blankettkonstruktionen als Beleg der Normselbständigkeit an.439 Solche Blankettkonstruktionen finden sich heutzutage vermehrt in Form von Verweisungen auf europäische Verordnungen,440 immer noch häufig aber auch auf nationaler Ebene.441 Tatsächlich lassen sich aus solchen juristischen Erscheinungen jedoch keine Argumente für oder gegen eine wesensmäßige Selbständigkeit der Norm herleiten. Zwar ist eine Selbständigkeit des Verweisungsobjekts in strafgesetzlichen Blankettkonstruktionen nicht sinnvoll zu bestreiten. Schon die Möglichkeit, den verweisenden Rechtssatz und sein Verweisungsobjekt unabhängig voneinander zu verändern oder aufzuheben, zeigt dies zur Genüge. Belegt ist dadurch aber nur die Selbständigkeit dieses ge- oder verbietenden Rechtssatzes. Gegen diese Selbständigkeit lässt sich die Anwendung des Gesetzlichkeitsprinzips als Auslegungsvorschrift auf strafgesetzliche Blankettsituationen nicht anführen. Zwar spräche aus Sicht der Bindingschen Normentheorie zunächst alles für eine gespaltene Auslegung, wann immer ein Blankettstrafgesetz auf eine außerstrafrechtlich geregelte Norm verweist. Das Gesetzlichkeitsprinzip erstreckt sich schließlich nur auf das Strafrecht; allenfalls als inkorporierter Tatbestand unterläge das Verweisungsobjekt nach den Vorgaben der Bindingschen Normentheorie bei Strafbarkeitsfragen dem Gesetzlichkeitsprinzip. Dennoch eignet sich die Ablehnung einer solchen gespaltenen Auslegung mit dem Argument der „Einheit der Rechtsordnung“, wie sie heute von Rechtsprechung und der herrschenden Meinung in der Literatur vertreten wird,442 nicht als Begründung der Unselbständigkeit Bindingscher Normen. Blankettkonstruktionen ermöglichen schließlich auch die Regelung der Verhaltensvorschrift nicht nur durch eine andere Rechtsquelle, sondern auch auf einer anderen Stufe in der Normenhierarchie. Europarechtlich ist dieser Schluss besonders leicht nachzuvollziehen: Deutsche Auslegungsregelungen zu deutschen Strafgesetzen, die wiederum auf eine europäische Verhaltensvorschrift verwiesen, könnten ansonsten die Auslegung des Unionsrechts festlegen. Dass sich Derartiges nicht mit dem Anwendungsvorrang des Unionsrecht verträgt, bedarf keiner weiteren Vertiefung. Da somit eine gespaltene Auslegung in einzelnen Fällen doch stattfinden muss, kann ihre Ab439 Vgl. Binding, Handbuch, S. 180 m. Fn. 15; ders., Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 185 ff. 440 Siehe dazu etwa Schützendübel, Blankettstrafgesetze, S. 27 ff.; Moll, Blankettstrafgesetzgebung, S. 23, 49 ff. 441 Vgl. etwa § 19 GüG, § 64 ZAG, § 34 AWG oder § 56 KWG. 442 Vgl. etwa BGH NZI 2011, S. 809 (811); Veil/Dolff, AG 2010, S. 385 (389 f.); Fleischer/Bedkowski, DStR 2010, S. 933 (936 f.); Bülow/Petersen, NZG 2009, S. 1373 (1376); Widder/Kocher, ZIP 2010, S. 457 (459).
F. Kritik an der Normenlehre
255
lehnung auch nicht auf einer normentheoretischen Notwendigkeit beruhen. Vielmehr handelt es sich insoweit um Zweckmäßigkeitsüberlegungen zum Anwendungsbereich von Art. 103 Abs. 2 GG. Um ein Nebeneinander verschiedener Auslegungen derselben Vorschrift zu vermeiden, sollen die im Gesetzlichkeitsprinzip enthaltenen Auslegungsregeln im Rahmen des normlogisch Möglichen auch auf das Verweisungsobjekt eines Blankettstrafgesetzes anzuwenden sein.443 Die hier beschriebene Form der Selbständigkeit wird allerdings auch kaum bestritten. Sie ist vielmehr selbstverständlich: Sind trennbare Regelungsmaterien – hier die bloße Verbindlichkeitsbegründung und die Sanktion einer Zuwiderhandlung – in verschiedenen Rechtssätzen geregelt, so können diese auch unabhängig voneinander verändert oder aufgehoben werden. Zur Frage, ob ein Strafgesetz die Begründung der Verbindlichkeit als ein ihm wesentliches Element beinhaltet, sagt diese Feststellung nichts aus. Überträgt man die Fragestellung von vollständigen Sanktionsgesetzen auf Blankettstrafgesetze, wird dies schnell deutlich: Herrschend ist heute die sogenannte „Inkorporationstheorie“, nach der das Verweisungsobjekt innerhalb des Anwendungsbereichs des Blankettstrafgesetzes als dessen Teil aufgefasst wird.444 Ob diese Inkorporation nun im Sinne einer „zweiten“ Norm oder lediglich als Auffüllung des Tatbestandsteiles des Blankettstrafgesetzes aufzufassen ist, lässt sich aus Bindings Argumentation, die lediglich die Möglichkeit einer unterschiedlichen Urheberschaft von Blankettstrafgesetz und Verweisungsobjekt hervorhebt, nicht schließen. Da bei einem Wegfall des Verweisungsobjekts auch eine Inkorporation unmöglich würde und folglich der Anknüpfungspunkt für eine eigenständige Verbindlichkeitsbegründung durch das Strafgesetz wegfiele, lassen sich aus Blankettkonstruktionen schlechterdings keine zwingenden Aussagen zur Kernthese der Bindingschen Normentheorie gewinnen. b) Verankerung der Norm außerhalb eines vollständigen Strafgesetzes Die Annahme einer Selbständigkeit der Norm ist folgenlos, wenn die Norm neben dem Strafgesetz einen zusätzlichen Anker in der Rechtsordnung aufweist. Ob nun im entsprechenden Strafgesetz eine abermalige Regelung des Verhaltens zu sehen ist oder die Norm als einfache gedacht wird, ist für das Ergebnis der Selbständigkeit ohne Belang: Das Verhalten bliebe auch nach einer Aufhebung des Strafgesetzes und der eventuell darin enthaltenen zweiten Norm ge- oder verboten, so dass Verbindlichkeit und Strafgesetz in jedem Fall unabhängig voneinander sind. 443 In diese Richtung tendiert auch die Formulierung von Veil/Dolff, AG 2010, S. 385 (389). 444 Vgl. schon BVerfGE 26, 338 (368); 47, 285 (309 f.) und aus der Literatur Satzger, Europäisches Strafrecht, § 9, Rn. 63; Karpen, Verweisung, S. 30 ff.; Moll, Blankettstrafgesetzgebung, S. 61ff., 75 ff.; Schützendübel, Blankettstrafgesetze, S. 61 ff., 67 ff. u. 257.
256
2. Teil: Bindings Normentheorie
Sogar ein selbständiger – das heißt im einzig relevanten Fall: weiterer – Umfang des Ge- oder Verbots gegenüber dem Strafgesetz ist ohne die Details der Bindingschen Normentheorie problemlos begründbar, wenn sich der Normumfang nicht nur aus dem Strafgesetz ergibt, sondern sich noch auf andere Teile der Rechtsordnung stützen kann. Stellt beispielsweise § 303 StGB nur die vorsätzliche Sachbeschädigung unter Strafe, so ist ein generelles Verbot jeder schuldhaften Sachbeschädigung zumindest dann problemlos auch ohne Stellungnahme zur Normselbständigkeit zu bejahen, wenn sich dieses aus anderen geschriebenen Rechtssätzen ergibt. Entsprechend ist auch das bekannte Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 28.5.1993 zum Schwangerschaftsabbruch für die Frage einer wesensmäßigen Selbständigkeit der Norm im Sinne Bindings in Wahrheit bedeutungslos. In der Entscheidung heißt es: „Die Rechtsordnung muß das verfassungsrechtliche Verbot des Schwangerschaftsabbruchs bestätigen und verdeutlichen. [. . .] Wenn das Strafrecht einen Rechtfertigungsgrund vorsieht, muß das im allgemeinen Rechtsbewusstsein so verstanden werden, als sei das im Rechtfertigungstatbestand bezeichnete Verhalten erlaubt.“ 445
Das Bundesverfassungsgericht erkennt also einen über den Tatbestand des § 218 a StGB a. F. hinausgehenden, verfassungsrechtlich begründeten Normumfang nach Artt. 1 und 2 GG an. Es stellt einen bereits durch die Verfassung vorgegebenen Bereich des Verbotenen beziehungsweise des Rechtswidrigen446 bei Schwangerschaftsabbrüchen fest, von dem nur ein Teil mit Strafe bewehrt sei. Der alte § 218a StGB wurde für verfassungswidrig befunden, weil er etwas von der Verfassung als rechtswidrig Vorgegebenes als rechtmäßig beschrieb. Normentheoretisch gewendet: Das Grundgesetz gab einen Normumfang vor, dessen Unterschreitung ein Gesetz nicht nahelegen durfte. Mitnichten klärt jedoch die Verankerung eines weitergehenden Verbots einer Tötung ungeborenen menschlichen Lebens in einem normenhierarchisch höheren Bereich die Frage einer Selbständigkeit der Bindingschen Norm auch in Fällen, in denen sie ausschließlich von einem Strafgesetz vorausgesetzt wird. Das Bundesverfassungsgericht setzt lediglich die – offensichtliche – Trennbarkeit von Verbot und Sanktion voraus. Der bei Wach447 zu findende Hinweis, die behauptete Selbständigkeit der Normen wirke sich wenig aus, ist damit durchaus berechtigt. Anzumerken ist aber 445
BVerfGE 88, 203 (273); Hervorhebung hinzugefügt. Dass das BVerfGE 88, S. 203 (279, 295) verständlicherweise nicht alle Konsequenzen dieser Rechtswidrigkeit ziehen will und insofern die Titulierung als „rechtswidrig“ durchaus in Zweifel gezogen werden kann (siehe etwa K. F. Röhl/H. C. Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 228 f.), mag an dieser Stelle dahinstehen. Hier soll nur dargelegt werden, dass die Entscheidung nicht für eine Selbständigkeit der Norm im Sinne Bindings herangezogen werden kann. Dies gälte selbst dann, wenn das Gericht alle Konsequenzen der Rechtswidrigkeit gezogen und damit unzweifelhaft den Normumfang bestimmt hätte. 447 GS 25 (1873), 432 (438 f.). 446
F. Kritik an der Normenlehre
257
gleichfalls, dass Binding selbst die Bedeutung kritisierte, die manche Kritiker der Norm innerhalb seiner Strafrechtsauffassung beizumessen versuchten. So zeigt er sich mit der These Liszts, Rechtsgut und Norm seien „die beiden Grundbegriffe des Rechts“,448 in keiner Weise einverstanden. Sie nötige ihn zu einer Richtigstellung, die, wie er selbst einräumt, eher seltsam anmutet: „[I]ch verteidige v. Liszt als zweifellosen Anhänger der Normentheorie wider sich selbst, die Norm aber wie gegen Thons so auch gegen Liszts Ueberschätzung. Nicht die Norm und noch viel weniger das Rechtsgut sind ,die beiden Grundbegriffe des Rechts‘.“ 449
Feststellbar bleibt damit, dass sich die Selbständigkeit der Norm vor allem dann auswirken kann, wenn ein Strafgesetz den einzigen Anhaltspunkt einer Rechtsordnung für eine Norm darstellt. Sie spielt bei der Normentstehung überhaupt keine Rolle: Ist die Norm bereits Teil der Rechtsordnung, bevor sie durch ein weiteres Strafgesetz vorausgesetzt wird, lässt sich ihre Präexistenz nicht bestreiten. Ist sie dies aber nicht – existiert sie also für das Recht ausschließlich als Voraussetzung dieses Strafgesetzes – dann kann sie innerhalb rechtspositivistischer Prämissen auch erst mit dem Strafgesetz entstehen. In Anlehnung an Binding: Die Norm ist die logische Voraussetzung eines (nicht inhaltsleeren450) Strafgesetzes, besteht aber nicht zwingend auch zeitlich vor dem Strafgesetz. Nur für den Fall einer ausschließlichen Fundierung der Norm in einem Strafgesetz wirkt sich das von Binding behauptete selbständige Erlöschen der Norm aus. Ist es möglich, dass eine Norm den Wegfall des sie alleinig in der Rechtsordnung voraussetzenden Strafgesetzes überlebt, so ist der Beweis für eine Selbständigkeit der Norm im Sinne Bindings erbracht. Hinsichtlich des Umfangs zeigt sich die Selbständigkeit erst dann, wenn behauptet werden kann, der Umfang einer nur als Voraussetzung eines oder mehrerer Strafgesetze im Recht verankerten Norm gehe über den jeweils weitesten Tatbestand der sie voraussetzenden Strafgesetze hinaus. Alle anderen Fälle erfordern keine wesensmäßige Selbständigkeit der Norm, sondern kommen mit einer Sichtweise, die eine vom Strafgesetz vorausgesetzte Verhaltensnorm in einer wesensmäßigen Verbindung zu diesem sieht, zu denselben Ergebnissen. Eine zweite Verankerung der Norm im positiven Recht wäre dann stets die Formulierung einer weiteren, vom Strafgesetz unabhängigen Norm desselben Inhalts. Eine solche Sichtweise wäre vielleicht umständlich, nicht jedoch unlogisch. Bindings Behauptung, allein die Tatsache, dass „es Normen giebt, ohne dass sich ein Strafgesetz daran schlösse“ beweise schon „die volle
448 Liszt, Lehrbuch, 10. Aufl. 1900, S. 54. Interessanterweise hielt Liszt an diesem Urteil bis zuletzt fest, vgl. dessen Lehrbuch, 21. u. 22. Aufl. 1919, S. 5. 449 Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 63, Fn. 19. 450 Siehe o. S. 195.
258
2. Teil: Bindings Normentheorie
Selbständigkeit der Normen“,451 verdient damit eher keinen Beifall. Die Möglichkeit des Rechts, separat an Verhaltens- oder Sanktionsnormen anzuknüpfen, diese unabhängig voneinander in oder außer Kraft zu setzen oder inhaltlich zu verändern, beweist nur die begriffliche Trennbarkeit der Rechtssätze. Sie zwingt nicht, die Norm auch dann als selbständig anzusehen, wenn sie lediglich als Voraussetzung eines Strafgesetzes vorliegt. 2. Die Selbständigkeit der Norm aus heutiger Perspektive Nach einer kurzen Sichtung der älteren und neueren Literatur zum Problem der Normselbständigkeit [a)] lassen sich die Prämissen ihrer Anerkennung in der heutigen Rechtswissenschaft darstellen [b)]. a) Normselbständigkeit in der Literatur Beide Ausdrucksformen der Selbständigkeit der Norm, der selbständige Endigungsgrund und der selbständige Umfang, wurden und werden von zahlreichen Kritikern bestritten. Beispielhaft behauptet Wach, die Selbständigkeit einer nur als Voraussetzung eines Strafgesetzes verstandenen Norm reduziere sich auf die Möglichkeit der Änderung nur des Tatbestandsteils des Strafgesetzes.452 Er beschränkt die Selbständigkeit damit auf die Folgen der rein begrifflichen Unterscheidbarkeit von Verhaltens- und Sanktionsnorm. Einen über den Tatbestandsteil des Strafgesetzes hinausgehenden Umfang der Norm lehnt er ab, weil eine nur als Voraussetzung des Strafgesetzes verstandene Norm von jenem nicht unabhängig bestimmt werden könne.453 Hinsichtlich der Möglichkeit einer vom Untergang des Strafgesetzes nicht betroffenen Norm bleibt diese Ablehnung allerdings ohne tiefergehende Begründung. Einzig seine Kritik an einem weiteren Umfang der Norm im Vergleich zum Tatbestandsteil des sie voraussetzenden Strafgesetzes führt Wach weiter aus: Bindings teleologische Begründung eines durch den Schutzweck der Norm vorausgesetzten Rechtsguts, das diesen weiteren Normumfang erfordere, werde 451
Binding, Handbuch, S. 162. Wach, GS 25 (1873), S. 432 (438 f.). 453 Wach, GS 25 (1873), S. 432 (442 ff.). Stattdessen nimmt Wach dort für jedes Strafgesetz eine eigenständige Norm an. Nach dieser Sichtweise umfasst die durch ein Strafgesetz vorausgesetzte Norm auch in dem Fall, dass ein über den Tatbestandsteil jenes Strafgesetzes hinausgehendes Verbot anderswo in der Rechtsordnung zu finden ist, lediglich den Tatbestand des sie voraussetzenden Strafgesetzes. Praktisch macht es freilich keinen Unterschied, ob man zur Bestimmung des Verbotenen verschiedene Normen mit sich überschneidenden Regelungsbereichen annimmt oder daraus eine einheitliche Norm formt, die das Gesamtausmaß des verbotenen Bereichs wiedergibt. Der theoretische Unterschied beschränkt sich darauf, dass Wach widerspruchslos behaupten kann, auch für den Fall des Fortbestehens eines Verbots in einem anderen Rechtssatz sei „die Norm“ nicht unabhängig vom erloschenen Strafgesetz. 452
F. Kritik an der Normenlehre
259
letztlich nur mit der Vernunft begründet, nicht aber mit dem positiven Recht.454 Dieser Vorwurf einer fehlenden rechtspositivistischen Konsequenz Bindings wird auch an anderen Stellen in Wachs Kritik erhoben. So bemängelt er, dass Normen in Bindings Rechtsdenken stets schon „fertige Rechtssätze“ seien, wohingegen sie doch tatsächlich vielfach erst durch die Strafgesetze erschaffen würden. An dieser Stelle wirkt sich Bindings fehlerhafte Beschreibung der Norm in der ersten Auflage der „Normen“ aus, in der er noch von einem zwingend auch zeitlichen Vorangehen der Norm schrieb.455 Wenigstens, insoweit sich die Betrachtung Wachs auf dieses Normenverständnis stützt, ist sie daher heute gegenstandslos. Gleiches gilt für Merkel, der in dieselbe Kerbe schlägt. Er sieht in der Normentheorie einen logischen Fehlschluss: Binding könne nicht gleichzeitig behaupten, Normen seien logische Voraussetzung der Strafgesetze, und daran festhalten, dass bestimmte Normen erst durch die Strafgesetze geschaffen würden.456 Auch Merkel hält die logische Voraussetzung der Normen durch Strafgesetze offenbar nicht für ein rein begriffliches, sondern für ein zeitliches Vorangehen. In seiner Rezension des Bindingschen „Handbuch[s]“ bemängelt Merkel aber daneben, Binding träte einen Beweis der Selbständigkeit letztlich gar nicht an.457 Zwar widmet Binding der Normselbständigkeit einige Seiten des Werks.458 Die für die behauptete Selbständigkeit entscheidende Möglichkeit eines über das Strafgesetz hinausgehenden Normumfangs sowie des Weiterbestehens einer ausschließlich als Voraussetzung eines Strafgesetzes entstandenen Norm nach Erlöschen des sie voraussetzenden Strafgesetzes wird darin allerdings tatsächlich nur behauptet und nicht weiter ausgeführt. Binding beweist so nur die begriffliche Trennbarkeit von Verhaltens- und Sanktionsnormen, nicht aber eine wesentliche Selbständigkeit der Norm gegenüber dem Strafgesetz in jeder erdenklichen Situation. Die übrigen älteren Kritiken der Selbständigkeit der Bindingschen Norm gelangen über Wach und Merkel nicht hinaus. Sie beschränken sich auf das bloße Abstreiten eines selbständigen Umfangs und selbständigen Erlöschens einer nur als logische Voraussetzung des Strafgesetzes bestehenden Norm.459 454
Wach, GS 25 (1873), S. 432 (442). Vgl. Binding, Normen, Bd. 1, 1. Aufl. 1872, S. 4; siehe dazu bereits o. S. 239 ff. 456 A. Merkel, ZStW 6 (1886), S. 496 (515). 457 Siehe A. Merkel, ZStW 6 (1886), S. 496 (516). 458 Vgl. Binding, Handbuch, S. 161 ff. 459 Vgl. etwa Bar, KritVjSchr 15 (1873), S. 560 (566 ff.) u. Lucas, GS 36 (1884), S. 401 (402 ff.). Einzig Kelsens kurz nach Bindings Tod erschienene Habilitation zu den „Hauptproblemen des Staatsrechts“ setzt sich etwas ab, hat aber insgesamt eine andere Stoßrichtung. Seine Kritik steht ganz im Zeichen seiner bereits beschriebenen Kritik der Rechtsqualität von Normen. Schon die Möglichkeit des Rechts, als solches an den begrifflichen Unterschied zwischen Verhaltens- und Sanktionsnorm anzuknüpfen, 455
260
2. Teil: Bindings Normentheorie
Bereits kurz nach dem Tod Bindings schläft die Auseinandersetzung mit seiner Normentheorie dann insgesamt ein, so dass auch die behauptete Selbständigkeit der Normen lange nicht diskutiert wurde. Auch das bekannte Werk Armin Kaufmanns zur Bindingschen Normentheorie widmet sich nur beiläufig der Frage.460 Seither findet der Diskurs zu diesem Thema unter anderen Titeln und außerhalb einer Auseinandersetzung mit Binding statt. Er verlagerte sich beispielsweise auf das strafrechtliche Adressatenproblem, die Frage eines materiellen Unwertverständnisses und in den andauernden Streit über Existenz und Wert der dogmatischen Figur des Rechtsguts. Alle drei Bereiche sind eng miteinander verwoben, wie sehr gut anhand der Auseinandersetzung um den materiellen Unwert aufgezeigt werden kann, die Schmidhäuser und Hoerster Ende der 1980’er Jahre führten.461 Schmidhäuser kritisierte das seiner Ansicht nach formalistische Verständnis der Verhaltensnorm als Bestandteil des Strafgesetzes zunächst in seiner Schrift „Form und Gehalt der Strafgesetze“: Die Übertretung des Strafgesetzes begründe als solche nicht das Unrecht. Grundlage des Unwertgehalts der Tat ist bei Schmidhäuser vielmehr die Zuwiderhandlung gegen eine Verhaltensnorm, welche durchaus über den Umfang des Strafgesetzes hinausgehen kann.462 Zur Gewinnung dieser Norm könne daher auch nicht einfach der Text des Straftatbestandes umformuliert werden.463 Die gelieferte Begründung für diese These mit dem Beispiel des § 258 StGB liest sich wie eine Paraphrasierung Bindings, obwohl weder Schmidhäuser noch Hoerster in ihrer Auseinandersetzung auf Binding eingehen: „Ist eine Formel, nach der ,bestraft wird‘, wer die Bestrafung eines anderen vereitelt, ganz formal in ein Verbot umzuformulieren und dann so zu lesen, als hieße es ,du darfst die Bestrafung eines anderen nicht vereiteln‘ (d.h. die eigene darfst du vereiteln, denn ein zivil- oder allgemein öffentlich-rechtliches Verbot gibt es hierfür nicht)? – oder schildert diese Vorschrift das für die Strafe vorausgesetzte Tatgeschehen insgesamt, so daß zuerst gefragt werden muß, wie der Unwertgehalt des geschilderten Geschehens nach der Art des Rechtsguts und dem Grund der Straflosigkeit bei der eigennützigen Strafvereitelung strukturiert ist? [. . .] Bei materialer Unwerterfassung [. . .] erfaßt der Unrechtstatbestand jede Vereitelung, und die Straflosigkeit der eigennützigen Vereitelung ist als ein aus der Strafvorschrift zu entnehmender Entschuldigungsgrund [. . .] zu verstehen“.464 muss er abstreiten. Einfache Beispiele gesetzlicher Trennungen von Verhaltens- und Sanktionsnorm kann Kelsen nicht anerkennen. Als Recht existent ist für ihn nur ein zusammengesetztes Strafgesetz (vgl. Hauptprobleme, S. 290 f.). Kann bei einem sanktionslosen Imperativ schon nicht von Recht gesprochen werden, so kann die Norm selbstverständlich auch nicht als unabhängiger Rechtssatz gedacht werden. 460 Vgl. Armin Kaufmann, Normentheorie, S. 39 f., 117 ff. 461 Vgl. Hoerster, JZ 1989, S. 10 ff. u. 425 ff. sowie Schmidhäuser, JZ 1989, S. 419 ff. 462 Vgl. Schmidhäuser, Form und Gehalt der Strafgesetze, S. 16 f., 20 ff. u bes. 36 ff. 463 Schmidhäuser, Form und Gehalt der Strafgesetze, S. 36 ff. 464 Schmidhäuser, JZ 1989, S. 419 (420); ähnlich ders., Form und Gehalt der Strafgesetze, S. 24 ff.
F. Kritik an der Normenlehre
261
Mit Blick auf das geschützte Rechtsgut sei also – insofern ganz wie bei Binding – die Verhaltensnorm entsprechend weit auszulegen; sie umfasst das gesamte Rechtsgut und ist nicht auf den Tatbestand beschränkt, der sie voraussetzt. Wiederum im Sinne Bindings sind die Auswirkungen, die Schmidhäuser für die Adressatenfrage im Strafrecht formuliert: Nicht die Strafgesetze richteten sich an „jedermann“, sondern die davon zu unterscheidenden Verhaltensnormen.465 Die Frage einer wesensmäßigen Selbständigkeit der Verhaltensnorm wurde aber trotz aller Parallelen zu Bindings Ausführungen in der dogmatischen Klarheit, in der sie im ersten Band der „Normen“ zutage tritt,466 nicht erkannt oder jedenfalls nicht gestellt. Die Diskussion verlagerte sich stattdessen auf eine Besonderheit im Rechtsdenken Schmidhäusers, das ihn letztlich doch weit von Binding entfernt und in die Nähe der Kulturnormentheorie M. E. Mayers bringt: Schmidhäuser sieht den Ursprung dieser vorausgesetzten Norm nicht im Recht, sondern in der Sozialmoral467 – eine Behauptung, die auf entschiedenen Widerspruch Hoersters stoßen musste.468 So konnten Schmidhäusers Beantwortungen der Adressatenfrage und der Frage des Normumfangs, die ohne Rekurs auf die Sozialmoral bei Binding sehr ähnlich zu lesen sind, schließlich mit den Argumenten abgetan werden, die üblicherweise gegen Theorien im Gepräge der Kulturnormenlehre vorgebracht werden.469 Die dargestellten, impliziten Stellungnahmen zur Frage der Selbständigkeit der Norm beziehen sich ausschließlich auf einen selbständigen Normumfang. Zur Möglichkeit eines vom Strafgesetz unabhängigen Erlöschens der Norm finden sich keinerlei Kommentare. Dies ist wahrscheinlich auf die überschaubaren Auswirkungen der Frage zurückzuführen: Schon für Binding bedeutet das Erlöschen des Strafgesetzes, das der einzige Anker einer Norm im geschriebenen Recht war, regelmäßig, aber eben nicht zwingend auch das Verschwinden dieser Norm. Ob sie mit dem Strafgesetz wegfällt, sei Auslegungsfrage des jenes Strafgesetz außerkraftsetzenden Rechtsaktes.470 Während das für die Relevanz der Norm465 Vgl. Schmidhäuser, JZ 1989, S. 419 (420 ff.). Im Gegensatz zu Binding sind die Strafgesetze bei Schmidhäuser allerdings nicht adressatenlos, sondern an die im Rahmen der Strafverfolgung „zum Handeln berufenen Staatsorgane“ (421) adressiert. Der Unterschied ist indes nicht gravierend: Auch Binding geht von an den Richter, den Staatsanwalt etc. gerichteten Imperativen aus, die durch die jeweils anzuwendende Strafvorschrift konkretisiert werden. Lediglich die Quelle jenes Imperativs erblickt Binding nicht im Strafgesetz selbst, sondern in der Anstellung des jeweiligen Organs. Siehe dazu o. S. 162 ff. 466 Vgl. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 81 ff. 467 Vgl. Schmidhäuser, Von den zwei Rechtsordnungen, S. 10 ff. Auch die Konsequenz einer „eingleisigen Adressatentheorie“ (Hoerster, JZ 1989, S. 10 (11)) wird sowohl von M. E. Mayer als auch von Schmidhäuser gezogen; siehe hierzu Schmidhäuser, JZ 1989, S. 421 m. Fn. 3, in der er auch selbst hierzu auf M. E. Mayer verweist. 468 Vgl. Hoerster, JZ 1989, S. 10 ff. u. 425 ff. 469 Vgl. etwa Hoerster, JZ 1989, S. 10 (11). 470 Vgl. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 88.
262
2. Teil: Bindings Normentheorie
selbständigkeit notwendige Auslegungsergebnis eines Überlebens der Norm trotz Verlustes ihres einzigen Ankers im geschriebenen Recht leicht bei einer subjektiven Auslegungsmethode zu erreichen wäre – es müsste sich lediglich ein entsprechender Wille in den Motiven nachweisen lassen – fällt dies im Rahmen einer objektiven Auslegungsmethodik im Gepräge Bindings ungleich schwerer. Unter welchen Bedingungen kann ein Rechtsakt, der den letzten Halt einer Norm im geschriebenen Recht beseitigt, objektiv anders zu interpretieren sein als im Sinne eines Wegfalls sowohl des Strafgesetzes als auch der durch das Strafgesetz vorausgesetzten Norm? Das bereits vorgestellte471 Beispiel Bindings zum RStGBNachfolgeparagraph des alten § 345 Nr. 7 PrStGB ist klug gewählt, offenbart aber gleichzeitig die im Regelfall fehlende Relevanz der Normselbständigkeit beim Erlöschen des Strafgesetzes. b) Prämissen der Normselbständigkeit Tatsächlich sprechen keine überzeugenden Argumente gegen die von Binding geforderte Selbständigkeit der Norm. Das durch das Strafgesetz vorausgesetzte Ge- oder Verbot ist nicht identisch mit dem bloß scheinbar imperativistischen Anwendungsbefehl der Sanktionsnorm („Es soll Strafe sein“), sondern bildet einen echten Imperativ, der inhaltlich nicht mit dem im Schema Tatbestand-Rechtsfolge formulierten Strafgesetz übereinstimmt. Eine bloße Umformulierung der gesetzlichen Bedingungen der Strafbarkeit hilft schon angesichts der Existenz von objektiven Strafbarkeitsbedingungen nicht weiter, die gerade nicht Teil des Unrechtstatbestandes sein sollen. In der Frage des Anknüpfungspunktes der Schuld wird die Verschiedenheit des verhaltensvorschreibenden Rechtssatzes und des Strafgesetzes allgemein akzeptiert. Dementsprechend wird auch das Gesetzlichkeitsprinzip in aller Regel nicht auf das Schuldprinzip zurückgeführt, da sich die Schuld gerade nicht auf das Strafgesetz beziehe.472 Auch die gemeinhin angenommene „zweispurige Adressierung“ der Strafgesetze zwingt nicht zur Annahme einer Verhaltensnorm im Strafgesetz. Nach dem Sinn und Zweck des Gesetzlichkeitsprinzips muss das Strafgesetz dem Rechtsunterworfenen ebenso zur Feststellung der Strafbarkeitsbedingungen dienen wie dem Richter bei der Urteilsfindung. Eine solche Form der „Adressierung“ als Kundgabe von Strafbarkeitsbedingungen ist jedoch nicht mit der Wirkrichtung eines Imperativs identisch und erlaubt daher auch keine logischen Rückschlüsse auf die hier diskutierte Frage. Darüber hinaus ist das Gesetzlichkeitsprinzip in diesem Punkt argumentativ nicht zu verwerten.
471
Siehe o. S. 196 f. Vgl. Grünwald, ZStW 76 (1964), S. 1 (11 f.); Krey, Keine Strafe ohne Gesetz, Rn. 128; Schreiber, Gesetz und Richter, S. 209 ff.; Schünemann, nulla poena sine lege?, S. 15. 472
F. Kritik an der Normenlehre
263
Diskutabel ist damit nicht eine Identifikation von Norm und Strafgesetztatbestand, sondern einzig eine wesensmäßige Verbindung beider als verschiedene Rechtssätze. Die Norm ist dann erst das Produkt eines juristischen Syllogismus: Gilt der Satz, dass nur pflichtwidriges Verhalten unter Strafe gestellt werden kann, so erlaubt ein Strafgesetz den logischen Schluss auf einen verhaltensregelnden Rechtssatz. So selbstverständlich uns diese Reihung erscheinen mag, ist doch zu beachten, dass sie mitnichten von der gesamten Jurisprudenz nachvollzogen wird: Erkennt man mit Kelsen in der negativen Bewertung des bestraften Verhaltens durch die Rechtsquelle keine abstrakte Kategorie der Verbindlichkeit, sondern lediglich eine extrajuristische Zielvorstellung, durch die Sanktion das gesellschaftliche Leben vom sanktionierten Verhalten zu befreien, so fällt der gesamte Syllogismus und damit auch Bindings Normentheorie in sich zusammen. Wie gesehen führen darüber hinaus auch rechtsrealistische Sichtweisen eine Kategorie abstrakter Verbindlichkeit ad absurdum. Dem stehen Sichtweisen gegenüber, die das Recht vor allem als Idealentität verstehen und eine eigene juristische Kategorie der Verbindlichkeit als selbstverständlichen Teil der juristischen Gedankenwelt akzeptieren. Das juristische Denken auch in Formen „nackter“ Verbindlichkeiten darf ohne Weiteres für die Vergangenheit und die Gegenwart und nicht nur für das Strafrecht als geläufig bezeichnet werden. Dann aber stellt sich das Strafgesetz als reine Sanktionsvorschrift („Wer Handlung X vornimmt, wird bestraft“) dar, die den logischen Schluss auf einen verbindlichkeitsbegründenden und kategorial davon unterschiedlichen Rechtssatz („X ist verboten“) erlaubt. Eine wesensmäßige Verbindung beider Rechtssätze erscheint unter diesen Umständen zumindest beweisbedürftig. Eine Rechtsquellenlehre, nach der das Recht im letztgenannten Sinne aufgefasst wird, bietet jedoch keine Argumente, die dazu zwängen, den Umfang oder das Bestehen des vorausgesetzten Rechtssatzes stets an die Formulierung des ihn voraussetzenden zu ketten. Das aber ist die gedankliche Voraussetzung der behaupteten Unselbständigkeit der Verhaltensnorm: Ist die Verhaltensnorm nur durch ein wegfallendes Strafgesetz im Recht verankert, so könne selbst dann nicht von ihrem Fortbestehen ausgegangen werden, wenn die teleologische Auslegung des das Strafgesetz außer Kraft setzenden Rechtsaktes überdeutlich dafür spricht. Ohne die Folgen einer solchen Sichtweise überhöhen zu wollen, spricht also einiges für ein Verständnis der Bindingschen Norm als wesensmäßig selbständig gegenüber dem Strafgesetz. Ein Grund für die gängige Annahme einer wesensmäßigen Abhängigkeit der Verhaltensnorm vom Strafgesetz dürfte im bisherigen Mangel einer ausführlichen Diskussion liegen. Dieser kann wiederum sicherlich auf die überschaubare Relevanz des Themas zurückgeführt werden: Hinsichtlich der Entstehung der Norm wirkt sich ihre wesensmäßige Selbständigkeit gar nicht,
264
2. Teil: Bindings Normentheorie
hinsichtlich ihres Erlöschens kaum einmal aus. Lediglich ein möglicher selbständiger – d.h. in einem rechtspositivistischen System zwingend ein über den Tatbestand hinausgehender – Umfang wäre folgenreich, da er den Bereich des Rechtswidrigen erweiterte.473 Daher verwundert es auch nicht, dass sich zumindest hierzu eine Diskussion unter dem etwas missverständlichen Titel eines „materialen Unwertverständnisses“ findet. Die Möglichkeit eines solchen, über die Grenzen des Straftatbestandes hinausgehenden Normumfangs auch im Falle einer ausschließlich durch ein Strafgesetz vorausgesetzten Norm hängt allerdings stark mit den methodischen Grundlagen Bindings zusammen.474 Nur innerhalb bestimmter rechtstheoretischer Vorstellungen und unter Einschränkungen können diese Grundlagen bis heute Gültigkeit beanspruchen. In dem Maße, in dem heute der Gedanke eines umfassenden juristischen Wertungssystems, das es logisch anhand weitreichender Induktionen selbst bei nur geringsten Indizien zu erfassen gelte, als Grundidee juristischer Methodik aufgegeben wurde, sind Bindings Ausführungen zum Normumfang heute nicht mehr haltbar. Auch die Darstellung juristischer Wertungsebenen unterhalb der Aufstellung eines Imperativs bei Welzel475 hat massive Rückwirkungen auf die Normenlehre: Zwingt die juristische Anerkennung eines Werts durch Aufstellung eines Rechtsguts nicht mehr zur Annahme einer Norm im selben Umfang, so verringert sich die praktische Bedeutung einer wesensmäßigen Selbständigkeit der Norm noch weiter. Die häufig implizit angenommene Verbindung von Norm und Strafgesetz ist dementsprechend jedenfalls in der Regel unschädlich. Inwieweit man Bindings Gedankengänge zur selbständigen Norm heute nachvollzieht, hängt also eher von rechtstheoretischen Prämissen als von der Logik der Bindingschen Ausführungen ab. Wird das Recht als Idealentität verstanden und eine eigenständige Kategorie juristischer Verbindlichkeit anerkannt, sind bereits zahlreiche Grundannahmen der Normentheorie unumstößlich. Erst in der Ausgestaltung des so geschaffenen Rechtssatzes kommt die methodische Verankerung Bindings im 19. Jahrhundert voll zum Tragen. Mit dieser Maßgabe ist der von Beling aufgestellten und von Armin Kaufmann 1954 bestätigten These somit bis heute beizupflichten, dass eine Widerlegung der Normenlehre in ihren Grundlagen „nie geglückt, kaum je ernsthaft unternommen worden ist.“ 476
473 Man denke – um nur ein Beispiel zu nennen – etwa an Folgewirkungen für die Feststellung eines Notwehrrechts. 474 Siehe dazu bereits o. S. 180 ff. 475 Das neue Bild, S. 14 ff. 476 Beling, Verbrechen, S. 115; zustimmend Armin Kaufmann, Normentheorie, S. 280 f. In Belings Aufzählung dieser „Wahrheiten“ findet sich der Großteil der hier erörterten Grundlagen der Normenlehre Bindings wieder.
F. Kritik an der Normenlehre
265
IV. Formalismus477 Der wohl bekannteste Einwand gegen die Normentheorie ist ihr vermeintlicher Formalismus. Insgesamt lassen sich drei Ansätze zu einer Formalismuskritik der Normentheorie unterscheiden: Eine Variante bezieht sich auf die formale Verbrechensdefinition Bindings als strafbare Übertretung einer Gehorsamspflicht und sieht darin eine formalistische Nivellierung klarer Wertungsunterschiede des Rechts (1.). Davon zu unterscheiden ist ein Einwand, der die fehlende materielle Eingrenzung des Bindingschen Verbrechensbegriffs bemängelt (2.). Schließlich vertritt Liszt einen alternativen Kritikansatz, wenn er Bindings Handlungsund Rechtsgutsdefinition als eine Verwechslung von Recht und Tatsachen beschreibt (3.). 1. Verletzung einer „Gehorsamspflicht“ als formalistischer Verbrechenskern Der Vorwurf des „Formalismus“ ist der wohl bekannteste Einwand gegen die Normenlehre Bindings. Historischer Wortführer ist insofern der Binding in leidenschaftlicher Feindschaft verbundene Liszt. Mit zunehmender Dauer und Intensität der Auseinandersetzung werden die Wortmeldungen beider Seiten polemischer. Diese Tendenz wirkt sich, wie zu sehen sein wird, in zahlreichen Punkten auch auf die Substanz der in dieser Grundsatzkritik an der Normentheorie angeführten Argumente aus. Anders als Liszt bezieht sich der überwiegende Teil der Formalismus-Kritiker auf eine Grundannahme der Bindingschen Normentheorie: Jedes Verbrechen birgt in seinem Kern einen Verstoß gegen eine Gehorsamspflicht, eine Norm im Sinne eines staatlichen Rechtes auf Gehorsam. Das Verbrechen sei strafbarer Normverstoß. Der Vorwurf des Formalismus wurde insbesondere durch die in der ersten Auflage der „Normen“ nur unzureichende Behandlung der Rechtsgutslehre478 zusätzlich genährt: Sehe man mit Binding den Kern jedes Verbrechens nur in einer bloßen Zuwiderhandlung gegen eine Gehorsamspflicht, so würden die materiellen Unterschiede zwischen einzelnen Verbrechensarten ignoriert, deutlich hervorstechende Wertungsunterschiede würden verschleiert. Diese klassische Kritikform wurde seit Erscheinen der Normen 1873 beständig wiederholt. Für Binding blieb die Kritik zeit seines Lebens unverständlich: „Wem es nicht genügt, dass der Verbrecher ein Recht auf Botmässigkeit oder Gehorsam verletzt, wer darauf hinweist, dass bei den schweren Verbrechen wie bei Mord und Raub hinter der Verletzung der wertvollsten Rechtsgüter das Moment der Unbot477 Eine solche Kritik findet sich insb. bei Liszt, ZStW 6 (1886), S. 663 ff.; A. Merkel, Lehrbuch, S. 69; Engelhard, Einführung, S. 36 f., Fn. 3; Kohlrausch, Irrtum, S. 42 ff.; M. E. Mayer, Kulturnormen, S. 135; Müller, Normentheorie, S. 136; Heinemann, Schuldlehre, S. 34 ff. sowie Lammasch, KritVjSchr 32 (1890), S. 544 ff. 478 Vgl. Binding, Normen, Bd. 1, 1. Aufl. 1872, S. 189 ff.
266
2. Teil: Bindings Normentheorie
mässigkeit ganz zurücktritt, dem sei erwidert, dass die ,freche Auflehnung des Mörders und des Räubers gegen das Gesetz‘ nur ein pathetischer Ausdruck für gerade jenes Moment, und dass das Recht auf Botmässigkeit in diesen Fällen identisch ist mit dem Recht die Respektirung jener edelsten Rechtsgüter zu fordern. Es handelt sich bei jeder Norm um eine Gehorsamspflicht bestimmten Inhaltes, und nicht um eine formalistische Unterordnung des Einzelnen unter den Staatswillen, vielmehr um Befolgung einer vernünftigen zum Heile der Rechtsordnung erlassenen Vorschrift.“ 479
Die Antwort Bindings trifft den Kern. Der Formalismusvorwurf lebt von einer Sichtweise der Normen, die nie diejenige Bindings war. Dessen Beschreibung der Normen als Gehorsamspflichten der Rechtsunterworfenen480 trug jedoch zu dem Missverständnis bei, nach dem die Normentheorie unterschiedslos den bloßen Gehorsam zum Verbrechenskern erkläre und so das Strafrecht auf eine neue, um das materielle Element einer unterschiedlichen Sozialschädlichkeit verschiedener Straftaten bereinigte Grundlage zu stellen versuche. Indes ist die von Binding postulierte Gehorsamspflicht nichts anderes als der Verbindlichkeitsinhalt, der in Ge- oder Verboten zum Ausdruck gebracht wird. Insoweit sich überhaupt von solchen Ge- oder Verboten sprechen lässt, schuldet der Rechtsunterworfene nach der Terminologie Bindings also auch „Gehorsam“; die Einforderung desselben ist das Ge- oder Verbot einer Handlung. Wiederum sind die Annahmen Bindings damit ausschließlich abhängig von einem Rechtsverständnis, das eine abstrakte Verbindlichkeitskategorie anerkennt. Insofern die Behauptung rechtstheoretisch nachvollzogen wird, dass Strafgesetze auch ein Ge- oder Verbot zumindest im tatbestandlich erfassten Bereich voraussetzen, muss auch eine „Gehorsamspflicht“ im Sinne Bindings vorliegen. Die Norm ist für Binding daher Mittel, nie aber selbst schon Zweck der (unter anderem) in Strafgesetzen vorausgesetzten Verbindlichkeit. Was aus welchen Gründen zum Inhalt einer Verbindlichkeit erklärt wurde, ist mit der Postulation einer „Gehorsamspflicht“ noch nicht erwähnt, bildet aber durchaus einen wesentlichen Teil der Bindingschen Strafrechtsdogmatik. Die Kritik, Binding nivelliere materielle Unterschiede verschiedener Verbrechen, musste ihm daher absurd erscheinen; im Kern bedeutet sie für ihn die Annahme, zwischen dem Mord und nichtigsten Ordnungswidrigkeiten bestehe kein wesentlicher Unterschied, da sie beide gleichermaßen verboten seien. Dass in diesen Fällen gleichermaßen von Verbindlichkeiten auszugehen ist, sich die verbindlichkeitsbegründenden Rechtssätze insgesamt als eine besondere Gruppe von Rechtssätzen darstellen und die Bindingschen Normen wiederum als eine besondere Gruppe unter diesen, sagt selbstverständlich noch nichts über die Gleichwertigkeit der Normen aus.
479 480
Binding, Handbuch, S. 186. Vgl. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 107 f.
F. Kritik an der Normenlehre
267
Gerade im Strafrecht kommen diese Unterschiede besonders deutlich zur Geltung, wie Binding anmerkt: Das Rechtsgebiet erlaubt über die Tatbestände schließlich nicht nur Rückschlüsse auf den unterschiedlichen Inhalt der in den Normen zum Ausdruck gebrachten Verbindlichkeiten, sondern legt auch die unterschiedliche Bedeutung der jeweils geschützten Rechtsgüter für das Rechtsleben aus Sicht der Rechtsquelle durch verschiedene Strafrahmen offen.481 Schon diese Bemerkung Bindings verdeutlicht, dass es nicht einmal eines Rekurses auf die Rechtsgutslehre bräuchte, um den klassischen Formalismusvorwurf gegen die Normentheorie zu widerlegen. In der Rechtsgutslehre beschäftigt sich Binding ausschließlich mit den verschiedenen tatsächlichen Angriffsobjekten der Normzuwiderhandlungen. Binding versucht, die tatsächlichen Schutzgüter aufzuzeigen, die im umfassenden Wertungssystem der Rechtsquelle verborgen liegen. Die Feststellung der materiellen Unterschiede zwischen verschiedenen Verbrechen aus Sicht der Rechtsquelle fällt für Binding vollständig in den Bereich der Strafrechtswissenschaft. Der Vorwurf eines Formalismus der Normentheorie ist damit insoweit hinfällig, als er sich auf eine vermeintliche formalistische Wertungsnivellierung verschiedener Verbrechen, Vergehen und Ordnungswidrigkeiten bezieht, deren gemeinsames Merkmal der „Gehorsamspflichtverletzung“ die Normenlehre hervorhebt. Binding erforscht die Grundstrukturen des Rechts, deren klassifikatorische Einordnungen noch keine Rückschlüsse auf materielle Wertungsunterschiede erlauben. Ebensowenig wie eine Einordnung des Lebens und der Nachtruhe als Rechtsgüter den Schluss auf deren Gleichwertigkeit bedeutet, lässt sich dieser Schluss bei Normen verschiedenen Inhalts fassen. Bindings Verständnis des Verbrechens als strafbare Normwidrigkeit trifft die verschiedenen zur Konstruktion eines Verbrechens gebrauchten juristischen Einzelteile: die Norm als Verbindlichkeitsbegründung und die Sanktion, die an eine Zuwiderhandlung gegen die Norm anknüpft. Da die Verbrechensdefinition alle mit Strafe belegten Handlungen erfassen soll, wird man Binding schwerlich anlasten können, an dieser Stelle materielle Unterschiede außer Acht gelassen zu haben. 2. Materielle Verbrechensmerkmale und Strafrechtslegitimation Im letzten Kapitel seines bekannten Werks „Rechtsnormen und Kulturnormen“ widmet sich M. E. Mayer der Normentheorie Bindings. Zuvor wird die sogenannte Kulturnormentheorie entwickelt und Bindings Sichtweise nur beiläufig behandelt. Als besonderen Vorzug der Kulturnormentheorie hebt Mayer die Rechtfertigung der Strafe durch eine Kongruenz von Straftatbeständen und Kulturnormen hervor.482 Zur Feststellung der Strafwürdigkeit eines bestimmten Ver481 482
Vgl. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 366. M. E. Mayer, Kulturnormen, S. 16.
268
2. Teil: Bindings Normentheorie
haltens könne auf die entsprechende Kulturnorm aus dem Bereich der Sitte, der Moral et cetera verwiesen werden. Die spiegelbildliche Kritik der Normentheorie, sie biete keine solche Möglichkeit einer Strafrechtslegitimation, ist jedoch nicht nur Werbung in eigener Sache, sondern genuine Kritikform an der Normentheorie Bindings. Mayer leitet seine Kritik leicht missverständlich ein, wenn er betont, er halte „die eine Grundlehre Bindings, dass jedes Delikt die Uebertretung eines Befehles ist, der ausserhalb der Strafdrohung besteht und logisch ihr vorausgeht“ für „eine bedeutungsvolle Einsicht“.483 Es ist nämlich nicht die Erkenntnis der inneren Struktur des Strafrechts, die er für „bedeutungsvoll“ hält, sondern die durch diese Trennung ermöglichte Bestimmung der Strafwürdigkeit eines Verhaltens – nicht innerhalb der Bindingschen Normentheorie, sondern unter Nutzung eines anderen Normenkonzepts. Die von Mayer gelobte Normenkonstruktion ist nicht die Bindings, sondern seine eigene: die Norm als Produkt der Moral, der Sitte et cetera.484 Das scheinbare Lob ist also bereits Grundlage seiner Kritik. Setzt man die Sichtweise Mayers aber voraus, unterliegt der lobende Satz schon einem logischen Grundfehler: Werden die Normen als solche der Moral, der Sitte und so weiter verstanden, kann von dem ausdrücklich lobend erwähnten logischen Vorangehen der Norm keine Rede mehr sein. Die Kulturnorm könnte zwar als legitimatorische, keinesfalls aber als logische Voraussetzung des Strafgesetzes gesehen werden. Schon die von Mayer ausdrücklich anerkannte Möglichkeit von Strafgesetzen ohne entsprechende Kulturnorm zeigen den Fehlschluss auf.485 Wenn Mayer also bemängelt, Binding setze die „Praeexistenz“ der Normen „berechtigten Zweifeln“ aus, indem er sie als Rechtssätze formuliert,486 so muss ihm die Konsequenz seiner eigenen Lehre entgegengehalten werden. Gerade als Kulturnormen formuliert sind Normen kulturell-normativ und können nicht mehr logische Voraussetzung rechtlich-normativer Sätze sein. Als außerrechtliches Element können sie nicht aus einem juristischen Anspruch an logische Kohärenz hervorgehen. Unabhängig von dieser Aussage bleibt die Kritik einer mangelnden Rechtfertigungsmöglichkeit des Strafrechts durch die Normentheorie. Sieht man Normen mit Binding als Rechtssätze, so erkläre man „die Strafwürdigkeit der Handlungen, die nicht auf der staatlichen Thätigkeit des Rechtssetzens beruhen kann, schließlich doch wieder aus Rechtssätzen.“ 487 Strafrechtsdogmatisches Ziel dieser Kritik ist Bindings Verbrechensbegriff, der tatsächlich keine materiellen Merkmale aufweist. Die Kritikform ist daher keinesfalls abhängig von der Kul483 484 485 486 487
M. E. Mayer, Kulturnormen, S. 133. Vgl. M. E. Mayer, Kulturnormen, S. 17 ff. u. 131 ff. Vgl. M. E. Mayer, Kulturnormen, S. 19 ff. M. E. Mayer, Kulturnormen, S. 133. M. E. Mayer, Kulturnormen, S. 133 f.
F. Kritik an der Normenlehre
269
turnormentheorie, wie schon ihr Echo außerhalb der Anhängerschaft dieser Theorie zeigt. Beispielsweise bemängelt Kohlrausch an der Normentheorie, sie beantworte die Frage, „worin denn das Wesen der verbotenen Handlung bestehe“, letztlich nur mit dem Verbot selbst.488 Neuerdings kritisiert auch Naucke eine mangelnde materielle Eingrenzung des Bindingschen Norm- und Rechtsgutsbegriffs.489 Insoweit der Formalismusvorwurf den beschriebenen Inhalt hat,490 geht er vollständig im dargestellten Konflikt um den richtigen Rechtsbegriff auf. Von der Warte des Bindingschen Rechtsverständnisses aus, nach dem die Rechtsquelle frei und weitestgehend autonom den Rechtsinhalt bestimmt, ist eine solche Eingrenzung nicht zu leisten. Ein derart freier Rechtswille muss sich jeder materiellen Einschränkung seines Verbrechensbegriffs entziehen. Eine gänzlich unsinnige Bestrafung oder eine in der gewählten Höhe unsinnige Bestrafung mag Anlass zu einer Revolution sein, welche die Rechtsquelle insgesamt zu ersetzen versucht; eine Einschränkung der Rechtsetzungskompetenz der Rechtsquelle bereits durch den Begriff des Rechts ist für Binding jedoch undenkbar.491 Solange aber eine anerkannte Rechtsquelle derartige Bestrafungen anordnet, erfüllen die zugrundeliegenden, ungerechten Rechtssätze auch den Bindingschen Verbrechensbegriff. Bindings Antwort auf Forderungen nach einer materiellen Eingrenzung des Verbrechensbegriffs fällt erwartbar aus: „Der angebliche ,Formalismus‘ der Lehre, alles Delikt sei Normwidrigkeit und deshalb Unbotmässigkeit, Ungehorsam, besteht in der genauen juristischen Bezeichnung der einzigen Quelle, die eine Handlung zur rechtswidrigen stempeln kann. Nicht ihre gemeinschädliche, im Modejargon ,antisoziale‘ Natur macht sie rechtswidrig, sondern allein das Gesetz erklärt sie dazu. [. . .] Der ,Soziologe‘ mag versuchen, das Delikt anders als mit Hülfe des Gesetzes zu bestimmen: er wird juristisch stets unsaubere Arbeit machen.“ 492
Der Eindruck, Binding entbinde die Jurisprudenz von der Aufgabe der Strafrechtslegitimation, täuscht. Sein Plädoyer gilt ausschließlich der sauberen Trennung zwischen bestehender lex lata und wünschenswerter lex ferenda; nicht eine Bekämpfung rechtssoziologischer Forschung als solcher ist sein Ziel, sondern die „Reinhaltung“ des Rechtsbegriffs in seinem Sinne: „Der Einladung, den Weg einmal über die Norm hinauszugehen, komme ich gerne nach, konstatire aber zunächst, dass ich das Wesen der verbotenen Handlung in nichts anderem erblicken kann als darin, dass eine Handlung von der Rechtsquelle 488
Kohlrausch, Irrtum, S. 46. Vgl. Naucke, in: Vormbaum (Hrsg.), Freigabe, S. XI ff. sowie dens., in: Czeguhn u. a. (Hrsg.), Eugenik und Euthanasie, S. 71 (73 ff.). 490 Einen derartigen Inhalt hat der Vorwurf jedenfalls bei Kohlrausch, Irrtum, S. 42 ff.; M. E. Mayer, Kulturnormen, S. 135 und Müller, Normentheorie, S. 136. 491 Vgl. etwa Binding, Abhandlungen, Bd. 1, S. 94. 492 Binding, Grundriss AT, 6. Aufl. 1902, S. 61. 489
270
2. Teil: Bindings Normentheorie
und von niemandem sonst verboten ist. Die Göttin der Weisheit selbst, glaube ich, könnte dieses Wesen nicht besser oder auch nur anders bezeichnen. Werde ich aber weiter gefragt, warum sie verboten worden ist, so muss ich wieder ,ganz formalistisch‘ antworten: weil der Gesetzgeber die Handlung zur Zeit des Verbotes als eine nichtzuertragende Störung der Rechtsordnung glaubte auffassen zu müssen, und, wenn er sich zu einem Gebote aufschwang, weil er glaubte, die Rechtsordnung bedürfte der gebotenen Handlung unbedingt.“ 493
An anderer Stelle lobt Binding die Versuche Jherings („Gefährdung der Lebensbedingungen der Gesellschaft“ 494) und Jellineks (Angriff auf die Existenzbedingungen der Gesellschaft495), das soziologisch Strafwürdige zu umschreiben.496 Beide Formulierungen seien „von glücklichster Vagheit“ und trügen so der Tatsache Rechnung, dass eine genaue Umschreibung des Strafwürdigen aus rein soziologischer Sicht unmöglich sei. Hinzu treten rechtsphilosophische Gerechtigkeitserwägungen, die rechtssoziologischen Zweckmäßigkeitsbetrachtungen nicht unbedingt in jedem Einzelfall entsprechen müssen. Ein „richtiges“ Recht kann es daher für Binding nicht geben: „So ist die Jagd nach dem Delikt und nach dem Deliktsvorsatz vor dem Verbote der Handlung eine Jagd nach Dingen, die es nicht gibt – Ausfluss ungesundester Ideologie. Dafür spricht mit den beredtesten Zungen die bisherige Jagdbeute des vorpositiven Rechts. Sie sind an Vagheit und rechtlicher Unbrauchbarkeit alle gleich unübertrefflich. [. . .] Nicht die Tötung, nicht die Aneignung sind Delikte, sondern die verbotene Tötung, die verbotene Aneignung. Jede andere Auffassung des Deliktstatbestandes ist unwissenschaftlich: „Tatbestände“ aufzustellen, die zugleich solche rechtmässiger wie rechtswidriger Handlungen sein können, ist wissenschaftlich wertlos und führt nach wenigen Schritten ganz in die Irre.“ 497
Welchen Sinn hat es also, wenn Binding sich bereit erklärt, „einmal über die Norm hinauszugehen“? Binding hält die Möglichkeit einer Verbesserung des Rechts natürlich keinesfalls für aussichtslos. Seine ganze Kritik an einer überoder vorpositiven inhaltlichen Rechtsbegründung richtet sich ausschließlich gegen die Idee, es handle sich dabei um einen endlichen Vorgang mit einem einzigen richtigen Ergebnis. Das Zusammenspiel von Rechtspraxis, Rechtswissenschaft und rechtsexternen Wissenschaften bei der Verbesserung des Rechts – gegebenenfalls unter Auflösung konvergierender Sichtweisen zur einen oder anderen Seite hin – sieht Binding als fortdauernden und fruchtbaren Prozess, der 493
Binding, Normen, Bd. 2,1, S. 155 f. Jhering, Zweck im Recht, Bd. 1, 1. Aufl. 1877, S. 481; Hervorhebungen aus dem Original nicht übernommen. 495 Vgl. Jellinek, Sozialethische Bedeutung, S. 60. 496 Vgl. Binding, Normen, Bd. 2,1, S. 154, Fn. 32. 497 Binding, Normen, Bd. 2,1, S. 159 ff. 494
F. Kritik an der Normenlehre
271
schon aufgrund sich ständig verändernder gesellschaftlicher Bedingungen keinen Abschluss finden kann: „Wer könnte so kleinmütig sein, trotz unserer stolzen Strafgesetzbücher [. . .] und trotz der zweifellos hohen Blüte der Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts den Gedanken Raum zu geben, ob denn wirklich zurzeit das Verhältnis der Faktoren, von deren richtigem Zusammenwirken die Gesundheit alles Rechtslebens abhängt, das unserer Zeit angemessene wäre – und wenn ja, ob diesem Einklang nicht in nächster Zukunft Störung drohte? Solchen Gedanken nachzugehen ist aber nicht nur kein Zeichen pessimistischer Sorge: es ist geradezu eine Pflicht dessen, der weiß, daß jede Zeit ihr eigentümliche Gefahren zu bekämpfen hat, und den die Erfahrung tagtäglich belehrt, wie unvollkommen unsere Gesetze sind [. . .]. Von den Gipfeln, nach denen wir streben, wenn uns auch nie sie zu erreichen vergönnt ist, sind wir wahrlich noch entfernt genug!“ 498 „Alle Wissenschaft des geltenden positiven Rechtes aber hat eine doppelte Aufgabe zu lösen: der Gegenwart das Bewußtsein ihres Rechtszustandes zu vermitteln und der Zukunft besseres Recht vorzubereiten.“ 499
Damit erhellt sich die Linie der Bemerkungen Bindings in dieser Sache: Er lehnt die Suche nach einem „richtigen“ Recht ab, hält eine vom jeweiligen zeitlichen Kontext abhängige Verbesserung des Rechts aber durchaus für möglich und fordert Beiträge aus allen Teilen der Wissenschaft und Praxis hierzu ein, solange rechtsexterne Wissenschaften keinen Anspruch auf eine direkte Beeinflussung der lex lata erheben. Der beschriebene Kritikpunkt ist also inhaltlich richtig und geht doch am Sinn und Selbstverständnis der Lehre Bindings vorbei. Bindings Normenlehre dient einzig der rechtswissenschaftlichen Erfassung des Strafrechts. Ihr Nutzen liegt in einem genaueren Verständnis des dogmatischen Anknüpfungspunkts der Schuld, in der Erfassung von Blankettkonstruktionen, der Konkurrenzenlehre und vielen anderen strafrechtsdogmatischen Feldern. Aus diesen Erkenntnisfortschritten zieht sie ihre Berechtigung; darüber hinaus ist sie unter den Voraussetzungen des Bindingschen Rechtsverständnisses kaum etwas zu leisten im Stande. Die angebrachte Frage ist daher keine solche der Normentheorie, sondern vorgelagert eine solche der Rechtstheorie: Ein rechtspositivistisch „reines“ Rechtsverständnis kann als Grundlage des Rechts nichts anderes akzeptieren als dessen Herkunft aus einer anerkannten Rechtsquelle. Ein Maßstab der Strafwürdigkeit – sei er soziologischer, philosophischer oder sonst im obigen Sinne rechtsexterner Natur – stellt nach dieser Sichtweise bereits eine rechtstheoretische „Verunreinigung“ dar. Die Bindingsche Strafrechtsdogmatik kann zu einer Rechtfertigung des Rechts nicht antreten, da ihr nur der Wille der Rechtsquelle zur Verfügung steht. 498 499
Binding, Abhandlungen, Bd. 1, S. 30 f. Binding, Abhandlungen, Bd. 1, S. 46.
272
2. Teil: Bindings Normentheorie
Als Kritik an der Normenlehre geht das angebrachte Argument damit über die Feststellung einer logischen Selbstverständlichkeit nicht hinaus: Recht eignet sich nicht zur Legitimation von Recht. 3. Die Kritik Liszts Liszts Kritik hält sich interessanterweise nur kurz mit der Bindingschen Definition des Verbrechens als strafbewehrte Normwidrigkeit auf.500 Er versteht den Aussagegehalt der Bindingschen Verbrechensdefinition richtig und führt diese auch in späteren Auflagen seines Lehrbuchs noch neben einer „materiellen“ Definition auf.501 Zwar sieht er das einseitige Verständnis des Verbrechens ohne ein materielles Element der Sozialschädlichkeit als Ausdruck formalistischen Denkens;502 seine Kritik setzt aber an einem anderen Punkt an: Liszt hält Bindings Rechtsguts- und Handlungsbegriff für unlogisch und führt diese Begriffe dann auf die Normenlehre zurück, deren methodische Fehlerhaftigkeit er so unter Beweis zu stellen versucht. Der Formalismus der Normenlehre bestehe in einer „Abkehr von den Thatsachen des Rechtslebens“ zugunsten rechtlicher Begriffe.503 Recht und Tatsache würden bei Binding beharrlich vertauscht.504 Liszt setzt in seiner Kritik beim Rechtsgutsbegriff an, den er in Form des Jheringschen interessenbasierten Verständnisses für eine strafrechtliche Grundlage hält.505 Bindings Beschreibung der Rechtsgüter aber sei voller Widersprüche und offenbare die Inhaltsleere seines Rechtsgutsbegriffs, den Liszt daher einen „Scheinbegriff“ nennt.506 Einmal würden Rechtsgüter als mit rechtlichem Schutz ausgestattete tatsächliche „Zustände“ 507 bezeichnet, ein anderes Mal fänden sich in Aufzählungen verschiedener Rechtsgüter sowohl die Objekte bestimmter subjektiver Rechte auch die Rechte selbst wieder.508 Beispielsweise beschreibe Binding an einer Stelle die Sache, auf die sich ein Eigentumsrecht bezieht,509 als Rechtsgut, während er andernorts510 das Eigentum selbst als Rechtsgut aufführe. 500 Anzumerken ist, dass Liszt zum Zeitpunkt dieser Kritik an der Methodik Bindings (1886) nur das gerade erschienene „Handbuch des Strafrechts“ (1885) und die 1. Aufl. der „Normen“ (1872 u. 1877) zur Verfügung stand. 501 Vgl. Liszt, Lehrbuch, 21. u. 22. Aufl. 1919, S. 5 f. 502 Liszt, ZStW 6 (1886), S. 663 (671). 503 Liszt, ZStW 6 (1886), S. 663 (698). 504 Vgl. Liszt, ZStW 6 (1886), S. 663 (672). 505 Vgl. Liszt, ZStW 6 (1886), S. 663 (672 f.). 506 Liszt, ZStW 6 (1886), S. 663 (674). 507 Liszt, ZStW 6 (1886), S. 663 (676) m. zutr. Verw. auf Binding, Normen, Bd. 1, 1. Aufl. 1872, S. 189. 508 Liszt, ZStW 6 (1886), S. 663 (677 f.) m. zutr. Verw. auf Binding, Handbuch, S. 169. 509 Binding, Handbuch, S. 169. 510 Binding, Handbuch, S. 391.
F. Kritik an der Normenlehre
273
Vor allem am Beispiel des Eigentums formuliert Liszt seine Kritik der Rechtsgutslehre Bindings.511 Warum diese Konfusion in Bindings Werken auf die Normentheorie zurückzuführen sein soll, spricht Liszt allerdings nicht deutlich aus. Er beschränkt sich auf die Darstellung begrifflicher Unklarheiten und behauptet implizit ihr Beruhen auf der formalisierenden Wirkung normentheoretischen Denkens. Der wohl gemeinte Zusammenhang soll darin bestehen, dass Binding das Verbrechen nicht als tatsächliches Geschehnis verstehe, sondern durch die Brille der Normentheorie lediglich einen Verstoß gegen eine strafbewehrte Norm als rechtlich abstrakte Bewertung dieses tatsächlichen Geschehnis erkenne, womit der tatsächliche Charakter des Angriffsobjekts des Verbrechens verkannt und mit einem rechtlichen Begriff verwechselt werde. Von diesem Grundfehler ausgehend soll es nach der Kritik Liszts zu den Unklarheiten in der Bezeichnung des Angriffsobjekts gekommen sein: Wer schon nicht erkennt, dass gar keine Rechtsbegriffe, sondern Tatsachen im Raum stehen, kann auch nicht zur richtigen Eingrenzung dieser Rechtsbegriffe gelangen. Liszts Kritik begrifflicher Ungenauigkeiten im Bereich der Rechtsgutslehre ist durchaus zutreffend; auch die Spekulation, die einseitige Betonung der Norm habe zu einer Vernachlässigung des Rechtsgutsbegriffs geführt,512 kann sich zumindest auf die inhaltliche Gewichtung in Bindings „Handbuch“ stützen. Dieser Mangel, den Binding in späteren Auflagen der „Normen“ beseitigte,513 beweist freilich weder einen Zusammenhang mit der Normenlehre noch deren Formalismus. In Bindings „Handbuch“, das der Kritik Liszts zugrundeliegt, wird der Rechtsgutsbegriff zusammenhängend tatsächlich nur auf zwei Seiten514 erklärt. Dennoch erhellt sich bereits dort das von Binding beabsichtigte Rechtsgutskonzept: Das objektive Recht sei „unmittelbar nicht anzugreifen.“ 515 Auch subjektive Rechte würden nicht tatsächlich „verletzt“, sondern lediglich „die ihm entsprechende Ordnung gestört“.516 Jedoch dürfe man – mit dem Wissen um das eigentlich Gemeinte – „auch in ungenauem Ausdruck von einer Rechtsverletzung reden“.517 Zuwiderhandlungen gegen das subjektive Gehorsamsrecht des Staates – die Norm – können für Binding also in diesem Sinne ebenso wie die Verletzung von Rechtsgütern, welche die tatsächlichen Objekte anderer subjektiver Rechte (des Eigentumsrechts, des Erziehungsrechts und so weiter), ungenau auch als Verletzungen der Norm oder eines anderen subjektiven Rechts bezeichnet wer511 512 513 514 515 516 517
Vgl. Liszt, ZStW 6 (1886), S. 663 (678 u. 685 f.). Vgl. Liszt, ZStW 6 (1886), S. 663 (671). Vgl. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 338 ff. Binding, Handbuch, S. 169 f. Vgl. Binding, Handbuch, S. 168. Binding, Handbuch, S. 168. Binding, Handbuch, S. 168; Hervorhebung hinzugefügt.
274
2. Teil: Bindings Normentheorie
den. Diese um der Einfachheit willen hingenommene Ungenauigkeit sorgt an mancherlei Stellen für Verwirrung und dient Liszt zu seiner insoweit gerechtfertigten Kritik. Dass sie sich zur geäußerten Kritik an den methodischen Grundlagen nicht eignet, wird bei einem Vergleich der Rechtsgutsverständnisse Liszts und Bindings schnell deutlich: Das Angriffsobjekt des Verbrechens ist für Binding das Rechtsgut. Dieses tritt in den verschiedensten Formen auf und lässt sich begrifflich fassen als tatsächliche Angriffsfläche des Rechts. Die körperliche Integrität einer Sache, auf die sich ein Eigentumsrecht bezieht, wird somit für Binding ebenso zum Rechtsgut wie die faktische Einwirkungsmöglichkeit auf die Sache, deren Garant das Eigentumsrecht sein soll. Diese tatsächlichen Angriffsflächen sind für Binding Rechtsgüter, so dass er problemlos von ihrer Verletzung sprechen kann. Rechtsgut ist aus seiner Sicht daher weder das staatliche Interesse an einem Recht (dieses ist für ihn das Motiv518), noch das private Interesse als solches. Dieses kann nach seinem Rechtsverständnis zwar mittelbar durch ein Werturteil des Gesetzgebers als rechtlich schützenswert anerkannt werden; Angriffsobjekt des Verbrechens bleibt jedoch stets das Objekt dieses Interesses, nicht das Interesse selbst. Liszt dagegen bestimmt Rechtsgüter als das tatsächliche Interesse des Rechtsträgers an dem jeweiligen Inhalt seines Rechts, im gegebenen Beispiel das durch das Eigentumsrecht geschützte Interesse des Einzelnen an der Ver- oder Gebrauchsmöglichkeit einer Sache, auf die sich dieses Eigentumsrecht bezieht.519 Es sei „das Recht selbst unter dem Gesichtspunkte des Zweckgedankens, mithin ein Begriff.“ 520 Dieser Begriff bezeichne die rechtlich geschützten Interessen als tatsächliche Umstände.521 In dieser Hinsicht mag man Liszts Rechtsgutsbeschreibung als etwas genauer sehen. Binding denkt nur in den zwei Kategorien der „Rechte“ und „Rechtsgüter“. Mit „Rechtsgut“ bezeichnet er sowohl die konkrete tatsächliche Angriffsfläche – beispielsweise die körperliche Integrität eines Menschen – als auch die rechtliche Wertentscheidung, nach der die Gesamtheit dieser tatsächlichen Angriffsflächen als schützenswert hervorgehoben werden. Das Rechtsgut ist also der rechtliche Begriff für diese Wertung und die Bezeichnung für die konkreten tatsächlichen Angriffsflächen der Normen. Natürlich können nur letztere tatsächlich verletzt werden: Nicht die körperliche Integrität als abstrakter rechtlicher Wert lässt sich verletzen, sondern nur die konkrete körperliche Integrität einzelner Menschen. Liszt nutzt zur Bezeichnung der tatsächlichen Angriffsfläche des Ver518
Siehe dazu o. S. 211 ff. Vgl. Liszt, ZStW 6 (1886), S. 663 (674). Interessanterweise kommt diese hier für so wichtig erachtete Differenzierung später in Liszts eigenem Lehrbuch, 21. u. 22. Aufl. 1919, S. 408 f. kaum zur Geltung. 520 Liszt, ZStW 6 (1886), S. 663 (674). 521 Vgl. Liszt, ZStW 6 (1886), S. 663 (673). 519
F. Kritik an der Normenlehre
275
brechens den Begriff des Interesses: Spricht er von Interessenverletzung, so ist das konkrete Interesse an der Erhaltung bestimmter tatsächlicher Umstände, nicht aber die abstrakte rechtliche Wertung gemeint. Bindings Rechtsgutsbegriff brandmarkt Liszt dementsprechend als Verwechslung des Rechtlichen mit dem Tatsächlichen.522 Indes ergeben sich durch diese Differenzierung Liszts keine gravierenden Unterschiede zu Binding. Beide betonen gleichermaßen, dass Angriffsobjekt der Verbrechen nur etwas Tatsächliches sein kann. Die vermeintliche Ungenauigkeit Bindings liegt lediglich darin, dass beispielsweise die Beschädigung einer Sache, auf die sich das Eigentumsrecht einer Person bezieht, als Rechtsgutsverletzung beschrieben wird, obwohl das betroffene Gut doch nach wie vor rechtlichen Schutz genießt und damit Rechtsgut ist. Der Wert dieser Unterscheidung darf angesichts ihrer praktischen Folgenlosigkeit allerdings bezweifelt werden. Binding ist nicht vorzuwerfen, dass er die Ebenen des Tatsächlichen und nur Rechtlichen praktisch durcheinanderbrachte: Weder will er mit der Rechtsgutsverletzung die Verletzung eines Rechtsbegriffes (!) zum Ausdruck bringen, noch war er sich darüber im Unklaren, dass es sich beim Rechtsgut um einen Rechtsbegriff handelt. Auch wird die Unterscheidung zwischen der rechtlichen Bewertung eines tatsächlichen Umstands und diesem Umstand selbst den Leser im Einzelfall kaum überfordern. Obwohl die Diagnose Liszts, das „Handbuch“ zeichne sich durch eine einseitige Betonung der Norm aus523 und leide unter den beschriebenen Ungenauigkeiten, nicht insgesamt grundlos ist, fehlt jedenfalls die Berechtigung, aus diesem Vorwurf auf methodische Mängel Bindings zu schließen. Ähnlich verhält es sich mit Liszts Kritik an Bindings Handlungsbegriff. Bekanntlich war Liszt einer der Wortführer der sogenannten kausalen Handlungslehre. Eine Handlung bezeichnet er als jede „willkürliche Verursachung oder Nichtverursachung einer Veränderung in der Außenwelt“.524 Die Handlung als Rechtsbegriff bezeichnet also unmittelbar einen tatsächlichen Vorgang. Auch an der Herausarbeitung der Funktion eines solchen Handlungsbegriffes war Liszt maßgeblich beteiligt: Als Gattung, deren Unterart der Verbrechensbegriff sei, spiele der Handlungsbegriff zunächst eine Rolle bei der systematischen Erfassung des Strafrechts.525 Die praktische Rolle eines solchen Begriffs sieht Liszt im Rahmen der kausalen Handlungslehre zum einen in einer Filterfunktion vor einer weiteren strafrechtlichen Prüfung,526 zum anderen in der Konkurrenzenlehre bei der Unterscheidung von Real- und Idealkonkurrenzen.527 522 523 524 525 526 527
Vgl. Liszt, ZStW 6 (1886), S. 663 (679). Vgl. Liszt, ZStW 6 (1886), S. 663 (669 ff.). Liszt, Lehrbuch, 10. Aufl. 1900, S. 102. Liszt, ZStW 6 (1886), S. 663 (687 f.). Vgl. Liszt, Lehrbuch, 10. Aufl. 1900, S. 102 ff. Vgl. Liszt, Lehrbuch, 10. Aufl. 1900, S. 216 ff.
276
2. Teil: Bindings Normentheorie
Bindings Handlungslehre – oder besser: sein Verständnis des Handlungsbegriffs – unterscheidet sich hiervon grundlegend. Er definiert die Handlung im Rechtssinne als die „Verwirklichung eines rechtlich relevanten Willens“, das Verbrechen als Handlung im Sinne des Strafrechts sei danach „Selbstverwirklichung des verbrecherischen Entschlusses und Setzung des verbrecherischen Thatbestandes.“ 528 Begrifflich steht die Handlung natürlich auch hier oberhalb des Verbrechensbegriffs. Das mit der Handlung Bezeichnete ist jedoch wiederum normativ, da der bezeichnete tatsächliche Wille von seiner Bewertung als „rechtlich relevant“ abhängig sein soll. Der Handlungsbegriff geht damit in den allgemeinen Voraussetzungen der Strafbarkeit auf und entbehrt folglich jeder „Filterfunktion“. Das Vorliegen einer Handlung bildet für Binding konsequenterweise auch keinen eigenständigen Prüfungspunkt. Zwar bezeichnet er mit der Willensverwirklichung ganz wie Liszt etwas Tatsächliches; die „Verwirklichung“ weicht von der kausalen Handlungslehre nicht ab. Das Willenselement jedoch ändert die Bedeutung des Handlungsbegriffs von Grund auf. Durch die Ausgestaltung der normwidrigen Willensrichtung als wesentliches Handlungsmerkmal entfernt sich Binding letztlich deutlich vom Handlungsbegriff Liszts, wie in einem Beispiel schnell deutlich wird: Ein Beischlaf des verheirateten Vaters mit seiner Tochter besteht für Binding rechtlich aus zwei Handlungen.529 Mit dem Beischlaf setze der Vater schließlich zweifach zur Verwirklichung eines normwidrigen Willens an und begehe sowohl Ehebruch als auch Inzest. Nach der Definition Bindings müssen mit diesen zweifach normwidrigen Willensrichtungen auch zwei unterschiedliche Handlungen vorliegen. Die wesentliche Funktion des Handlungsbegriffs beschränkt sich bei Binding danach auf einen Umstand, der für Liszt nur einen Teilaspekt darstellt. Die Handlung im Rechtssinne dient als Oberbegriff, dessen Unterfall das Verbrechen bildet. Die Handlung im Strafrechtssinne ist für Binding das Verbrechen und geht daher in den Voraussetzungen der Strafbarkeit auf: wie viele Handlungen, so viele Verbrechen.530 Wie der Handlungs- bezeichnet auch der Verbrechensbegriff bei Binding damit nicht unmittelbar etwas Tatsächliches, sondern dessen rechtliche Bewertung. Bei Liszt bezeichnen Handlung und Verbrechen im materiellen Sinne jedoch beide einen natürlichen Vorgang, so dass er im genannten Beispiel nur eine Handlung erkennt.531 Für ihn ist das Verbrechen nicht die rechtliche Bewertung des erwähnten Beischlafs, sondern dieser selbst. Wie steht es nun um den Vorwurf Liszts? In der Tat wirkt das Handlungsverständnis Bindings zunächst wie ein formalistisches Augenverschließen vor der 528 Binding, Handbuch, S. 565; zu Bindings besonderem Verständnis des Willensbegriffs siehe o. S. 72 ff. 529 Vgl. Binding, Handbuch, S. 568. 530 Vgl. Binding, Handbuch, S. 565 f. 531 Vgl. Liszt, ZStW 6 (1886), S. 663 (691 ff.).
F. Kritik an der Normenlehre
277
Realität: „Ich kann“, konstatiert Liszt etwas süffisant, „beim besten Willen nur einen Beischlaf erkennen!“ Kaum zu übersehen ist allerdings, dass Binding und Liszt mit ihren jeweiligen Handlungsbegriffen gänzlich Unterschiedliches bezeichnen. Hier die Handlung als natürlicher Vorgang und Basis für die Konkurrenzenlehre, dort ein Begriff, der bereits eine rechtliche Bewertung enthält. Formalismus könnte Binding vorgeworfen werden, wenn er seinen Handlungsbegriff auch in Fällen verwandte, in denen es dem Recht eindeutig auf die Handlung im Sinne eines natürlichen Vorgangs ankommt. Bei einem Blick auf Bindings Verständnis der Idealkonkurrenz erhellt sich sofort, dass ein solcher Vorwurf nicht aufrecht zu erhalten ist. Unumwunden stellt Binding klar, dass die Handlungseinheit des § 73 RStGB532 auf eine andere Art von „Handlung“ abstelle als er. „Es ist [. . .] darunter und folgeweise auch in § 74 nur die Einwirkung des Handelnden auf die Aussenwelt [. . .] zu verstehen.“ 533
Geht es um die tatsächliche äußere Erscheinung des Verbrechens, verwendet Binding damit problemlos den von ihm ansonsten als „krass realistisch“ 534 gebrandmarkten – kausalen – Handlungsbegriff Liszts. Die Kritik, Binding verwechsle Tatsächliches mit Rechtlichem,535 verliert auf diese Weise ihre Grundlage. Binding entwirft einen Handlungsbegriff mit völlig anderem Inhalt und anderer Funktion. Er bezeichnet mit der „Verwirklichung einer bestimmten Willensrichtung“ etwas anderes und steht mit der kausalen Handlungslehre gar nicht in Konkurrenz, wenngleich dies von den Protagonisten des Streits selbst anders empfunden wurde. Bindings rein juristische „Handlung“ verleugnet nicht, dass es einer Einwirkung auf die Außenwelt bedarf („Verwirklichung“) und fingiert an keiner Stelle mehrere natürliche Handlungen, wo nur eine solche zu finden ist. Sein Handlungsbegriff ist damit jedenfalls schadlos. Nur Liszt kann jedoch zugute gehalten werden, mit der systematischen Hervorhebung des Handlungsbegriffs eine segensreiche wissenschaftliche Entwicklung auf diesem Gebiet mit eingeleitet zu haben. Nichts anderes als eine Projektion der Lisztschen Kritik auf das Feld der Schuldlehre stellt die Kritik des Liszt-Schülers Heinemann dar, die auch die Zustimmung Lammaschs536 findet. So sieht Heinemann eine weitere Verwechslung 532 § 73 RStGB lautete in der bis zum 1.4.1970 gültigen, am 1.1.1872 in Kraft getretenen Fassung: „Wenn eine und dieselbe Handlung mehrere Strafgesetze verletzt, so kommt nur dasjenige Gesetz, welches die schwerste Strafe, und bei ungleichen Strafarten dasjenige Gesetz, welches die schwerste Strafart androht, zur Anwendung.“ 533 Binding, Handbuch, S. 574. Er sieht in den §§ 73 f. RStGB insofern eine Abweichung vom eigentlichen Handlungsbegriff des Strafrechts, den er als „Selbstverwirklichung des verbrecherischen Entschlusses und Setzung des verbrecherischen Tatbestandes“ (Binding, Handbuch, S. 565) bestimmt. 534 Binding, Handbuch, S. 567, Fn. 7. 535 Vgl. Liszt, ZStW 6 (1886), S. 663 (672). 536 KritVjSchr 32 (1890), S. 544 ff.
278
2. Teil: Bindings Normentheorie
von Rechtlichem und Tatsächlichem in der Bindingschen Bestimmung der Schuld als rechtswidrige Willensverwirklichung.537 Die Rechtswidrigkeit als Rechtsbegriff sei der Kausalität unzugänglich, weshalb kein Wille für eine Rechtswidrigkeit im eigentlichen Sinne ursächlich sein könne. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit dieser Kritik, in der alle wesentlichen Punkte entkräftet werden, findet sich bereits in der Arbeit Armin Kaufmanns zu Bindings Normentheorie.538 Für die Zwecke dieser Untersuchung erscheinen daher wenige Sätze ausreichend: Es lassen sich die gleichen Fehler feststellen, die schon im Aufsatz Liszts auftreten und zu großen Teilen auf eine wenig wohlwollende Lesart Bindings zurückzuführen sind, in der die Begriffsbestimmungen Bindings missachtet und stattdessen die Bezeichnungen der eigenen Lehre unterstellt werden.539 So unterstellt Binding mit der „Verursachung des rechtswidrigen Erfolges“ keine Verursachung der Bewertung dieses Erfolges als rechtswidrig, sondern schlicht die Verursachung eines Erfolges, den das Recht zum rechtswidrigen erklärt hat.540 Das Verursachte lässt sich selbstverständlich logisch problemlos mit einem Rechtsbegriff bezeichnen, solange die Bezeichnung oder Bezeichnungskette schließlich die Ebene des Tatsächlichen erreicht. Der Streit zwischen Binding und Liszt erklärt sich insgesamt eher aus der gegenseitigen persönlichen Abneigung der Kontrahenten und einem damit verbundenen Mangel an wohlwollender Interpretation, welche die Rechtswissenschaft vor manch unnötiges Hindernis stellte. Der Vorwurf des Formalismus muss überdies vor dem Hintergrund eines umfassenderen Methodenstreits gesehen werden, der dieser Kritikform eine besondere Schlagkraft verlieh. Sachliche Unterschiede Bindings zu Liszt, dessen Rechtsverständnis trotz einer starken Tendenz zum Jheringschen Zweckdenken stets den eher formalen Betrachtungen rechtlicher Grundstrukturen zugänglich blieb, rechtfertigen die Kritik jedenfalls nicht. Wie der Streit um den Rechtsguts- und den Handlungsbegriff exemplarisch aufzeigte, ließ der Konflikt der beiden Strafrechtler dogmatische Unterschiede vielfach gravierender erscheinen, als sie es in Wahrheit waren. Der abschließende Hinweis Liszts in seiner Kritik, die Wissenschaft könne im Rahmen dieser Auseinandersetzung „nur gewinnen“,541 wirkt im Hinblick auf die geschaffenen Verständnishindernisse unfreiwillig komisch.
537
Heinemann, Schuldlehre, S. 34 ff. Armin Kaufmann, Normentheorie, S. 187 ff. 539 Zu Recht weist Armin Kaufmann, Normentheorie, S. 187 f. beispielsweise auf die Verschiedenheit der Bindingschen Verursachungslehre zur von Heinemann unterstellten Kausalität hin. Die Kritik Heinemanns weist hier große Ähnlichkeit zu derjenigen seines Lehrers Liszt auf. 540 In diesem Sinne auch Armin Kaufmann, Normentheorie, S. 188. 541 Liszt, ZStW 6 (1886), S. 663 (668). 538
G. Zusammenfassung
279
G. Zusammenfassung Die Normentheorie Bindings postuliert als ihre Kernaussage eine selbständige, das heißt insbesondere vom Strafgesetz wesensmäßig unabhängige Norm. Diese Grundlage ist lediglich abhängig von einem Verständnis des Rechts als in sich logische Idealentität, das eine Kategorie reiner Verbindlichkeit kennt. Die insbesondere für die Methodik Bindings entscheidende weitgehende Autonomie des Rechtswillens wird durch die Annahme einer selbständigen Norm noch nicht vorausgesetzt. Die Norm ist nichts weiter als der verbindlichkeitsbegründende Rechtssatz, mit dem der Staat den Rechtsunterworfenen zu einem bestimmten Tun oder Unterlassen, mithin auf „Gehorsam“ verpflichtet. Insofern es also sinnvoll ist, von juristischer Verbindlichkeit unabhängig von einer Sanktion zu sprechen, wird auch diese Kernaussage der Bindingschen Normenlehre implizit anerkannt. Anders verhält es sich mit Bindings Konturierung dieser Norm. Bindings weitläufige Annahmen über den Normumfang stellen neben dem Vorwurf des Formalismus das historisch wohl größte Rezeptionshindernis der Normentheorie dar. Während sich ein besonderer Formalismus Bindings nicht feststellen lässt, sind seine Aussagen zum Normumfang unbestreitbarer Bestandteil der Normentheorie. Gleichwohl basieren sie nicht auf der bloßen Grundannahme einer Kategorie reiner juristischer Verbindlichkeit. Aus ihnen spricht vielmehr Bindings methodische Verankerung im 19. Jahrhundert. Seine Sichtweise des Rechts als ein umfassendes und weitgehend autonomes Wertungssystem, das auch unter Nutzung kleinster Indizien induktiv erschlossen werden muss, ist der Schlüssel zu seinen Ausführungen zum Normumfang. Aus dieser Sichtweise erklärt sich, dass stets beide Schuldformen und alle Verbrechenssubjekte – inklusive der von Binding sogenannten „Urheberschaft“ – von der Norm umfasst sein sollen; aus ihr erklären sich auch die diffizilen Wertungsmöglichkeiten des Rechts. Ist das Recht eine autonome Gedankenwelt, sind zahlreiche Schlüsse Bindings, die ihn zuweilen weit von der heutigen Strafrechtsdogmatik entfernen, nur schwer anzugreifen. Seine Ausführungen folgen strikt den Voraussetzungen seines Rechtsbildes. Gerade der am kontroversesten erscheinende Punkt der Normentheorie, die Selbständigkeit der Norm, lebt von der Zulässigkeit sehr weitgehender Schlüsse aus dem allgemeinen Normzweck des Rechtsgüterschutzes. Sind derartige Schlüsse methodisch unzulässig, spielt die theoretische Selbständigkeit des logisch vorausgesetzten Rechtssatzes praktisch kaum einmal eine Rolle. Die Lehre Bindings beschränkt sich dann weitestgehend auf die saubere Trennung von Verhaltensund Sanktionsnorm, die Herausstellung des Anknüpfungspunktes der Schuld und der Erfassung einzelner strafrechtsdogmatischer Figuren wie den objektiven Strafbarkeitsbedingungen und Blankettstrafgesetzkonstruktionen. Die Frage der Haltbarkeit der Normentheorie Bindings verlagert sich so größtenteils auf die Frage nach der Haltbarkeit seiner rechtstheoretischen Prämissen und damit ver-
280
2. Teil: Bindings Normentheorie
bundener methodischer Grenzen. Ist das Recht weitgehend autonome Idealentität, ist es eigenständiger und eigengesetzlicher Wille, abhängig einzig von seiner logischen Widerspruchsfreiheit, so sind die Kernpunkte der Bindingschen Normentheorie kaum sinnvoll zu hinterfragen.
3. Teil
„Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ Die folgende Auseinandersetzung mit der „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ verfolgt zwei Ziele. Zunächst dient sie einer Verifikation des Vorangegangenen. So wird der Beitrag Bindings zur Freigabeschrift in der neueren Literatur teilweise als Beleg eines speziellen Verständnisses seiner Normentheorie angeführt, dem in der vorliegenden Arbeit widersprochen wird; schon aus diesem Grund ist eine Beschäftigung mit der „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ unumgänglich. Die vorliegende Arbeit ließe aber eine Gelegenheit zur Einordnung der Freigabeschrift sträflich verstreichen, wenn sie sich auf den negativen Beleg beschränken wollte, das Werk weise einen bestimmten Inhalt nicht auf. Die gewonnenen Erkenntnisse über den Inhalt der Freigabeschrift sollen daher auch zu einer Einordnung des Werks in seinen ideengeschichtlichen Kontext genutzt werden. Um nicht uferlos zu werden, bedarf es in diesem Punkt allerdings einiger Restriktion. So kann diese Arbeit ersichtlich keine umfangreiche Geschichte der „Euthanasie“ 1 voranstellen, auf die in einer Einordnung Binding/Hoches zurückgegriffen werden könnte. Sie muss sich auf grobe Leitlinien dieser Geschichte beschränken, die eine Einschätzung der ideengeschichtlichen Bedeutung der Freigabeschrift erlauben (A.), und im Übrigen auf andere Werke verweisen. In der Folge schreitet die Arbeit zum eigentlichen Untersuchungsobjekt voran, der „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“. Im ersten Teil der Auseinandersetzung mit dem Gemeinschaftswerk Bindings und Hoches werden zunächst die wenigen verfügbaren Daten zu seiner Entstehung zusammengetragen (B.). In einer detaillierten Analyse seines Inhalts wird dann zuerst der Beitrag Bindings im Fokus stehen; Hoches „Ärztliche Bemerkungen“ werden vor allem auf ihre inhaltliche Übereinstimmung mit Binding hin untersucht (C.). Im Anschluss wird das Verständnis der Freigabeschrift in der nachfolgenden historischen „Euthanasie“-Debatte in Augenschein genommen (D.). Die kritische Auseinandersetzung mit dem Inhalt und der Rezeption der Freigabeschrift dient schließlich einer ideengeschichtlichen Einordnung des Werks (E.). 1 Der zum Teil sehr unterschiedlichen und in der historischen Literatur mitunter euphemistischen Nutzung des Euthanasiebegriffs soll in dieser Arbeit durch Anführungszeichen Rechnung getragen werden.
282
3. Teil: „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
A. Die „Euthanasie“-Debatte und ihr historischer Rahmen „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ entspricht so wenig den herrschenden Moralvorstellungen ihrer Entstehungszeit wie den heutigen. Und dennoch steht sie mit ihren Ansichten nicht alleine, sondern wird flankiert von vorhergehenden und nachfolgenden Schriften, die ähnliches Gedankengut vortragen. Bereits dieser Umstand legt nahe, dass die Freigabeschrift nicht als vollständiger Bruch mit der geistigen Welt des frühen 20. Jahrhunderts gesehen werden darf, sondern Ausdruck verschiedener Denkrichtungen ist, die mit den überkommenen Ansichten in Konkurrenz traten. Dieser Befund zwingt die vorliegende Untersuchung zu einem Balanceakt: Einerseits muss zur Einordnung der Freigabeschrift gegebenenfalls auf bestimmte Denkrichtungen des 19. Jahrhunderts zurückgegriffen werden, die die geistigen Grundlagen für die „Euthanasie“- und Eugenikdebatte schufen. Eine Vermittlung dieser Grundlagen würde allerdings den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Zudem wäre der im Hinblick auf die Einordnung der „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ zu erwartende Erkenntnisgewinn – gemessen an der erforderlichen Darstellungsbreite – überschaubar. Auf der anderen Seite bestände die Gefahr einer Unübersichtlichkeit der Arbeit und einer dadurch mangelhaften Vermittlung der wirklich bedeutenden Verbindungslinien der Freigabeschrift zu ihren geistigen Vorläufern. Sinnvollerweise kann daher nur auf die entsprechenden Zusammenhänge und weiterführende Literatur hingewiesen werden. Einzelne Aspekte werden nur dann vertieft dargestellt, wenn ihre Bedeutung über die bloße Vermittlung des geistigen Klimas hinausgeht, das der historischen „Euthanasie“-Debatte zugrunde lag. Dieses lässt sich insgesamt beschreiben als naturwissenschaftliches Expansionsstreben,2 das sich auf ganz verschiedenen Gebieten Bahn brach (I.). Etwas genauer wird anschließend auf die Entwicklung der Eugenik und einige ihrer Vertreter eingegangen. Hier zeigen sich bereits deutliche Schnittstellen zur „Euthanasie“-Debatte (II.). Da auch einige Eugeniker die „Euthanasie“ – freilich in einem pervertierten Wortsinne – als negativ-eugenische Maßnahme begriffen, kann nicht mit absoluter Schärfe zwischen den Beitragsfeldern getrennt werden. Die zu nennenden Autoren zeichnen sich jedoch alle durch einen Fokus auf die vermeintliche Verbesserung der durchschnittlichen menschlichen Erbanlagen aus und besprechen die Möglichkeit eines „Euthanasie“-Programms allenfalls beiläufig als die moralisch heikelste von vielen weiteren denkbaren Maßnahmen. Im Hinblick auf die „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ wird sich erweisen, dass eugenisches Gedankengut nur im Beitrag Hoches auftaucht und auch dort nur eine untergeordnete Rolle spielt. 2 Siehe dazu Bayertz/Gerhard/Jaeschke, in: dies. (Hrsg.), Weltanschauung, Bd. 1, S. 7 (9).
A. Die „Euthanasie‘‘-Debatte und ihr historischer Rahmen
283
Erheblich bedeutender für die Einordnung der Freigabeschrift sind daher die in einem dritten Teil zu besprechenden Vertreter der „Euthanasie“-Debatte im engeren Sinne (III.), das heißt solche, deren primäres Anliegen die Zulassung von „Euthanasie“ in einem gewissen Umfang ist. Die Tiefe der Auseinandersetzung dieser Arbeit mit den einzelnen Beiträgen wird – je nach Bedeutung eines Werks oder Autors für die spätere Einordnung von Binding/Hoche – zum Teil deutlich variieren.
I. Der Szientismus des 19. Jahrhunderts und seine Folgeentwicklungen Die „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ hat ihre geistigen Wurzeln im 19. Jahrhundert. Die Arbeit ist im historischen Rahmen der fortschreitenden naturwissenschaftliche Dominanz zu verstehen, die die gesamte Wissenschaftsgeschichte dieser Zeit auszeichnet (1.). Unter den aus dieser Entwicklung hervorgehenden oder durch diese Entwicklung gestärkten Strömungen, die mit der historischen „Euthanasie“-Debatte in Verbindung stehen, sind vor allem Positivismus und Materialismus zu erwähnen (2.), weiterhin aber auch der Monismus (3.), unter dessen Banner sich vor allem viele der noch anzusprechenden Eugeniker versammelten. Wie Positivismus und Materialismus speist sich auch der Utilitarismus (4.) aus verschiedenen antiken Philosophierichtungen und ist daher nicht im eigentlichen Sinne auf den beginnenden Szientismus zurückführbar. Die parallele Entwicklung einer naturwissenschaftlich orientierten Weltanschauung und des Utilitarismus Benthamscher Prägung ist jedoch kein historischer Zufall; Kern der utilitaristischen Thesen ist schließlich die empirische Messbarkeit des moralisch Gebotenen und damit die Anwendung jener naturwissenschaftlichen Methodik, die im Großbritannien des späten 18. Jahrhunderts zum ersten Mal den Zeitgeist traf. 1. Entstehung einer naturwissenschaftlichen Weltanschauung Der berühmte, teils visionäre und teils utopische Vortrag Werner von Siemens’ (1816–1892) über „Das naturwissenschaftliche Zeitalter“ (1886) zeugt wohl am eindrücklichsten von der Gewissheit, mit der Naturwissenschaftler gegen Ende des 19. Jahrhunderts das eigene Handwerk als Heilsbringer der Menschheitsgeschichte feierten: „Und so [. . .] wollen wir uns nicht irremachen lassen in unserem Glauben, daß unsere Forschungs- und Erfindungstätigkeit die Menschheit höheren Kulturstufen zuführt, sie veredelt und idealen Bestrebungen zugänglicher macht, daß das hereinbrechende naturwissenschaftliche Zeitalter ihre Lebensnot, ihr Siechtum mindern, ihren Lebensgenuß erhöhen, sie besser, glücklicher und mit ihrem Geschick zufriedener machen wird.“ 3 3 W. Siemens, in: Autrum (Hrsg.), Von der Naturforschung zur Naturwissenschaft, S. 143 (154 f.).
284
3. Teil: „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
Die grundlegenden Veränderungen, die die Naturwissenschaften binnen eines Jahrhunderts für das Leben der Menschen brachten, schienen diese Sichtweise zu rechtfertigen, gar zu fordern. Eine gleichsam gewachsene Zerstörungskraft des Menschen wider sich selbst war zwar nicht abzustreiten, milderte jedoch einstweilen und bis zum Ersten Weltkrieg nicht die allgemeine Euphorie eines technikbegeisterten europäischen Bürgertums über die immer rasanter verlaufende Entwicklung: Neue Technik bedeutete neue Forschungsmöglichkeiten, die wiederum neue Technik hervorbrachten und so weiter. Der damit verbundene Mentalitätsumschwung zeigt sich auch im Inhalt der gesellschaftlichen Bildungsexplosion in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Die sogenannte „Wissenschaftspopularisierung“ dieser Zeit stellt sich vor allem als Naturwissenschaftspopularisierung dar.4 Die immer zahlreicheren und praktisch verwertbaren Forschungsergebnisse bestätigten die Naturwissenschaftler nicht nur in ihrer empirischen Methodik, sondern verlieh dieser bald den Nimbus des Wissenschaftlichen schlechthin. Das Potential gewichtiger Erkenntnisfortschritte wurde fortan eher empirischen Wissenschaften als der Philosophie oder anderen Geisteswissenschaften zugetraut.5 Das massiv gestiegene Ansehen der Erfahrungswissenschaften leitete eine Expansion ihrer Methode und Weltanschauung auf andere Gebiete ein. Auf den verschiedensten kulturwissenschaftlichen Feldern lässt sich eine derartige Entwicklung nachweisen: In der Philosophie hebt der Materialismus den Wert der Erfahrungswelt in bewusster Abgrenzung zu idealistischen Grundsätzen hervor. Selbst in der Literatur lässt sich ein Hang zu naturwissenschaftlicher Faktizität und eine verstärkte Auseinandersetzung mit naturwissenschaftlichen Themen ausmachen, die sich beispielsweise in der Zurechnungsproblematik in Büchners unvollendetem „Woyzeck“ niederschlägt.6 Auch in der Jurisprudenz nimmt mit der empiristischen Ausrichtung Jherings in seiner zweiten Schaffensphase und der allgemeinen Herausbildung der Rechtstatsachenforschung eine derartige Entwicklung ihren Anfang. Nichtsdestotrotz scheint es retrospektiv verfehlt, von einem „Jahrhundert der Naturwissenschaft“ zu sprechen.7 Ein solcher Titel suggerierte eine Einhelligkeit in der Weltanschauung dieser Zeit, die nicht der Realität entspricht. Er verschwiege die Kontroverse, die den beschriebenen Einflussgewinn der Naturwis4 Vgl. Bayertz/Gerhard/Jaeschke, in: dies. (Hrsg.), Weltanschauung, Bd. 1, S. 7 (10) und siehe zur Naturwissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert insgesamt Daum, Wissenschaftspopularisierung, 1998. 5 Vgl. Bayertz/Gerhard/Jaeschke, in: dies. (Hrsg.), Weltanschauung, Bd. 1, S. 7 (8 f.). 6 Siehe dazu ausführlich Ritzer, in: Bayertz u. a. (Hrsg.), Weltanschauung, Bd. 1, S. 275 ff. 7 So zurecht Bayertz/Gerhard/Jaeschke, in: dies. (Hrsg.), Weltanschauung, Bd. 1, S. 7 (12 f.) in Anspielung auf den erwähnten Vortrag Siemens’ aus dem Jahre 1886.
A. Die „Euthanasie‘‘-Debatte und ihr historischer Rahmen
285
senschaft begleitete: Der emporkommende Materialismus brach nicht die Vormachtstellung idealistischer Sichtweisen, sondern wurde in weiten Kreisen als unchristlich, unsittlich und antiphilosophisch abgelehnt.8 Auch der Bedeutungsgewinn empirischer Wissenschaften in der Jurisprudenz wurde bekanntlich stets kritisch begleitet.9 So kann zwar für den ins Auge gefassten Zeitraum keine uneingeschränkte Dominanz der Naturwissenschaft festgestellt werden. Die Etablierung eines naturwissenschaftlich geprägten Weltbilds aber, ohne das verschiedene nachhaltige Entwicklungen unter anderem in der Erkenntnistheorie, der Moralphilosophie und in der Jurisprudenz gar nicht denkbar wären, tritt deutlich hervor. Zurecht wird daher für das 19. Jahrhundert auch von der Entstehung einer „dritten Kraft“ in Weltanschauungsfragen neben der Religion und der Philosophie geschrieben.10 2. Positivismus und Materialismus Der Positivismus ist eine Manifestation der dargestellten naturwissenschaftlichen Weltanschauung des 19. Jahrhunderts auf wissenschaftlichem Gebiete. In seiner einfachsten Form handelt es sich um die Beschränkung der Wissenschaft auf das Positive, als „bestehend“ Beweisbare – und damit um einen Ausschluss der Metaphysik.11 Der Positivismus im weitesten Sinne ist damit im Kern methodischer Ansatz, nicht Philosophie. Er schließt weder die Möglichkeit noch die Richtigkeit, sondern lediglich die Wissenschaftlichkeit metaphysischer Annahmen aus. Nach einem 1848/49 politisch gescheiterten Idealismus und unter dem Eindruck ständiger, sichtbarer naturwissenschaftlicher Erkenntnisfortschritte ist die Attraktivität des positivistischen Denkansatzes für die gesamte Wissenschaft die8 Siehe dazu etwa Buchholz, in: Bayertz u. a. (Hrsg.), Weltanschauung, Bd. 1, S. 309 ff. m.w. N. 9 Wie o. S. 47 ff. beschrieben, verfolgt u. a. der Rechtspositivismus Bindings das Ziel einer Abgrenzung zu den empirischen Wissenschaften – allerdings auch zur Philosophie. Gleiches kann selbstverständlich von Kelsen gesagt werden, dessen Name am ehesten mit einer solchen Abschottung des Rechtsbegriffs verbunden wird. Natürlich wurde auch der Versuch unternommen, sich gerade durch die enge Verknüpfung des Rechtsbegriffs mit philosophischen Grundanschauungen des Einflusses naturwissenschaftlicher Betrachtungsweisen auf das Recht zu erwehren. Beispielhaft hierfür lassen sich einige Vertreter des Neukantianismus in seinen südwestdeutschen Varianten anführen; vgl. etwa Lask, Rechtsphilosophie, S. 9 f. sowie Radbruch, Rechtsphilosophie, 3. Aufl. 1932, S. 3. 10 Vgl. etwa Bayertz/Gerhard/Jaeschke, in: dies. (Hrsg.), Weltanschauung, Bd. 1, S. 7. 11 Dass Tripp, Einfluß des Positivismus, S. 75 f., 94 f., 138 ff., 256, 277, 282 u. 287 ff. stattdessen gerade den Positivismus in all seinen Varianten außerhalb rein naturwissenschaftlicher Forschung als stark metaphysiklastig ansieht, versteht sich nur durch den besonderen Blickwinkel der Realistischen Rechtstheorie seines Lehrers Ernst Wolf, welche seine gesamte Untersuchung beherrscht. Eine tiefergehende Beschäftigung mit dieser Lehre sprengte ersichtlich den Rahmen dieser Arbeit und brächte sie im eigentlichen Thema auch nicht voran.
286
3. Teil: „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
ser Zeit allzu leicht verständlich: Er erlaubt ein den geänderten Sichtweisen angepasstes Verständnis der Wissenschaft, hat aber nicht die gleichen antireligiösen Tendenzen wie etwa der Materialismus. Wie der Positivismus hat auch der Materialismus seinen Ursprung in der Antike.12 Wer heute von „Materialismus“ spricht, impliziert allerdings in der Regel zwei Eigenschaften dieser Geisteshaltung, welche sie im 19. Jahrhundert verorten: den historischen Zusammenhang mit der beschriebenen Emanzipation der Naturwissenschaft als „dritte Kraft“ neben Religion und Philosophie sowie die bewusste Abgrenzung vom Idealismus und seinen geistigen Grundlagen. Die ursprüngliche Form des Materialismus, heute häufig als naturwissenschaftlicher oder mechanistischer Materialismus bezeichnet, erscheint als direkter Ausfluss der neugewonnenen Bedeutung und Selbstsicherheit der Naturwissenschaft. Seine Hauptvertreter in Deutschland, Carl Vogt (1817–1895), Ludwig Büchner (1824–1899) und der Niederländer Jakob Moleschott (1822–1893), sind allesamt Naturwissenschaftler. Sie prägen ein Selbstverständnis des Materialismus dieser frühen Zeit, das zurecht als „antiphilosophisch“ 13 beschrieben wird, wenngleich bei dieser Bezeichnung auch die Dominanz des Idealismus vor allem in der deutschen Philosophie jener Zeit beachtet werden muss. Ihre Lehre stellt sich in erster Linie als antiidealistisch dar: Nicht im Reich der Ideen sei das Wesen der Dinge verborgen, sondern die Erforschung des Wesens der Dinge – wie auch des Menschen selbst – sei gleichzusetzen mit der erfahrungswissenschaftlichen Erforschung ihrer Natur.14 Entsprechend ist die Erkenntnistheorie dieser naturwissenschaftlichen Variante des Materialismus ausgestaltet, nach der alle Erkenntnis Interpretation von Erfahrungswerten ist.15 Der Ausschluss der Metaphysik aus der Wissenschaft folgt für den Materialismus bereits aus der angenommenen Nichtexistenz einer Metaphysik: Ist alles Materie (im aristotelischen Sinne Physik), so kann es keine Metaphysik geben. Metaphysischen Überlegungen religiöser, ethischer oder sonstiger Natur entzieht daher zumindest diese simple Form des Materialismus, die sich allerdings einiger Popularität erfreute,16 jede Grundlage. Konsequenterweise wird auch der menschliche Wille naturwissenschaftlichen, zunächst vor allem mechanischen Gesetzen unterworfen, was die 12 Siehe hierzu Overmann, Ursprung, S. 21 ff. m.w. N. Kritisch zur Frage der Kontinuität materialistischer Anschauungen seit der Antike äußert sich bspw. Mensching, in: Bayertz u. a. (Hrsg.), Weltanschauung, Bd. 1, S. 23 (24). 13 Bayertz/Gerhard/Jaeschke, in: dies. (Hrsg.), Weltanschauung, Bd. 1, S. 7 (18). 14 Vgl. Moleschott, Kreislauf des Lebens, S. 21 ff., bes. 27 ff. u. 32 ff.; Büchner, Kraft und Stoff, S. 155 ff. 15 Vgl. Moleschott, Kreislauf des Lebens, S. 21, 32 ff.; Büchner, Kraft und Stoff, S. 157. 16 Büchners Werk „Kraft und Stoff“ erschien bis 1904 in 21 Auflagen, Moleschotts „Kreislauf des Lebens“ bis 1887 in fünf Auflagen und Vogts „Köhlerglaube und Wissenschaft“ bis 1856 (und damit nur ein Jahr nach seinem Erscheinen) in immerhin vier Auflagen.
A. Die „Euthanasie‘‘-Debatte und ihr historischer Rahmen
287
enge Verbindung zwischen naturwissenschaftlichem Materialismus und Determinismus aufzeigt.17 Eine größere Bedeutung in der Philosophie verlieh dem Materialismus erst Ludwig Feuerbach (1804–1872). Zwar reduziert dieser den Menschen nicht auf mechanischen Gesetzen unterworfene Materie.18 Nach seiner Abkehr vom Idealismus wendet er sich aber strikt gegen die Vorstellungen seines Lehrers Hegel.19 Die Sinnlichkeit sei kein Hindernis auf dem Weg zur Erkenntnis, das es auf dem Wege zum absoluten Geist in einer reinen, nur vom eigenen Denken abhängigen Abstraktion zu überwinden gälte. Vielmehr sei der Mensch als sinnliches Wesen in den Mittelpunkt aller philosophischer Betrachtung zu stellen: „Der Anfang der Philosophie ist nicht Gott, nicht das Absolute, nicht das Sein als Prädikat des Absoluten oder der Idee – der Anfang der Philosophie ist das Endliche, das Bestimmte, das Wirkliche. Das Unendliche kann gar nicht gedacht werden ohne das Endliche.“ 20
Es soll also explizit der idealistische Wunsch nach Erkenntnis des Absoluten außerhalb des erkennenden Subjekts aufgegeben werden.21 Feuerbach macht damit nicht einen vom Menschen getrennten absoluten Geist zum Thema der Philosophie, sondern eben jenen Menschen als Träger des Geistes. Nur die Perspektive eines menschlichen Geistes, der selbst innerhalb der empirischen Welt steht und diese betrachtet, könne zu echter Erkenntnis führen; in diesem Sinne bezeichnet er Hegels Metaphysik und Metaphysik im Allgemeinen als „esoterische Psychologie“.22 Ludwig Feuerbachs Neuansatz hob die Bedeutung der Sinnlichkeit und damit der Erfahrungswelt als Quelle der ersten Erkenntnis hervor – und offenbart sich insofern als materialistisch. Er stellt überdies den Menschen als Teil dieser Erfahrungswelt in den Mittelpunkt und ist insofern anthropologisch. Er wird daher mitunter als „anthropologischer Materialismus“ 23 bezeichnet. Beide genannten Varianten des Materialismus zeigen sich grundsätzlich religionskritisch und wirken so wesentlich an einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung mit, die eine Grundvoraussetzung für die spätere Entstehung einer 17
Siehe beispielhaft zum Materialismus Moleschotts Ritzer, in: Bayertz u. a. (Hrsg.), Weltanschauung, Bd. 1, S. 275 (300 ff.) m.w. N. 18 Vgl. L. Feuerbach, Briefwechsel, Bd. 2, S. 308 und dazu Wahsner, in: Bayertz u. a. (Hrsg.), Weltanschauung, Bd. 1, S. 71 (88). 19 Siehe dazu Mensching, in: Bayertz u. a. (Hrsg.), Weltanschauung, Bd. 1, S. 23 (36 f.). 20 L. Feuerbach, Kleine philosophische Schriften, S. 63. 21 Vgl. L. Feuerbach, Kleine philosophische Schriften, S. 58 ff. und siehe dazu Mensching, in: Bayertz u. a. (Hrsg.), Weltanschauung, Bd. 1, S. 23 (35 ff.). 22 L. Feuerbach, Kleine philosophische Schriften, S. 58. Siehe dazu schon o. S. 66 ff. 23 A. Schmidt, Emanzipatorische Sinnlichkeit, 1973.
288
3. Teil: „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
„Euthanasie“-Debatte bildet. Für den naturwissenschaftlichen Materialismus ist dies evident: Er sieht in allem (gegebenenfalls „kraftbegabten“ 24) „Stoff“ und zielt auf eine Entmythologisierung der Weltanschauung.25 Religion sieht er mit Ludwig Feuerbach als anthropologisches Phänomen,26 als Verabsolutierung und Verherrlichung uns wesentlich bestimmender Faktoren. Beispielsweise wird der Verstand eingesetzt, um zu bestimmten Erkenntnissen zu gelangen; der Verstand selbst aber erscheint als uns vorgelagert. Die Unfassbarkeit der Existenz uns beherrschender Eigenschaften wird bei L. Feuerabach zum Motor religiöser Erklärungen, die den Ursprung dieser Wesensmerkmale außerhalb des Menschen selbst lägen. In ihrer absoluten Form, als reiner Verstand, reine Liebe et cetera gerieten diese Wesensmerkmale des Menschen zum Objekt religiöser Verehrung.27 Das Verständnis dieses Vorgangs und die Heilung des menschlichen Geistes von dieser Vorstellung sind erklärtes Ziel Ludwig Feuerbachs,28 womit dessen Religionskritik trotz ihrer äußeren Form als anthropologische Studie im Ergebnis nicht weniger radikal ausfällt als die des naturwissenschaftlichen Materialismus: Religion sei lediglich eine Eigenart menschlicher Psychologie, die sich zur Erklärung des für sie Unerklärlichen in Esoterik flüchte. Ganz analog zu (Feuerbachs Verständnis) der Metaphysik Hegels sei sie lediglich „esoterische Psychologie“.29 Diese offen antireligiöse Haltung entfachte die als „Materialismus-Streit“ bekannte Auseinandersetzung erst richtig und erklärt die argumentative Schärfe der Gegenseite. Man fürchtete einen Verfall von Sitte und Religion durch den Einfluss materialistischer Sichtweisen. Verständlicherweise lehnte die Kirche im 19. Jahrhundert und im größten Teil des 20. Jahrhunderts den Materialismus fast ausnahmslos und in allen seinen Varianten ab.30 Aber auch unter den Naturwissenschaftlern überwogen die Kritiker materialistischer Positionen,31 so dass 24 Mit dieser Wortkombination Büchners, Natur und Geist, S. 286 wird die stoffliche Eigenschaft des Geistes umschrieben. Die Einheit von Geist und Mensch als Träger des Geistes wird bei Ludwig Feuerbach als erkenntnistheoretische Aufwertung des Empirischen betrieben: Der Geist selbst ist Teil der empirischen Welt und muss, will er erkennen, diese Welt zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen machen. Im naturwissenschaftlichen Materialismus jedoch ist diese Einheit substantiell: Der Geist ist insofern Teil des Menschen, als auch er nur Materie ist. Vgl. dazu Ritzer, in: Bayertz u. a. (Hrsg.), Weltanschauung, Bd. 1, S. 275 (299 ff.). 25 Vgl. etwa Moleschott, Kreislauf des Lebens, S. IV, 323 ff. 26 Vgl. Moleschott, Kreislauf des Lebens, S. 11 ff., bes. 18 ff. 27 L. Feuerbach, Wesen des Christentums, S. 37 ff. 28 L. Feuerbach, Wesen des Christentums, S. VI bezeichnet die „Bilder der Religion“ ausdrücklich als „psychische Pathologie“. 29 L. Feuerbach, Kleine philosophische Schriften, S. 58. 30 Siehe für einen Überblick Buchholz, in: Bayertz u. a. (Hrsg.), Weltanschauung, Bd. 1, S. 309 ff. m.w. N. 31 Wohl am eindrücklichsten ist die Kritik des Mediziners Rudolph Wagner, die gemeinhin als Höhepunkt des Materialismus-Streits angesehen wird. Als Replik auf die
A. Die „Euthanasie‘‘-Debatte und ihr historischer Rahmen
289
keinesfalls von einer Dominanz dieser Ansichten ausgegangen werden darf. Ihre bloße Existenz aber eröffnete neue Argumentationsmuster und bot Raum für die Selbstinszenierung als eine „rationale“ Weltanschauungsalternative. Gerade der Ansatz Feuerbachs zeigt ein derartiges Argumentationsmuster auf, dass sich vielfach auch in den Diskussionen zu „Euthanasie“ und Eugenik wiederfinden wird. Religiöse Bedenken werden als psychologisch verständliche, aber letztlich irrationale Folgen einer archaischen und überwindbaren Weltsicht gedeutet, die allenfalls für sich als anthropologisches Forschungsobjekt dienen könne. Demgegenüber stehe eine rationale, (natur-)wissenschaftliche Erfassung eines Problems, nach der Positionen vorab auf ihre Berechtigung innerhalb der Voraussetzungen einer naturwissenschaftlichen Weltanschauung zu prüfen seien. Bestehen keine innerhalb dieser Voraussetzungen begründbaren Bedenken, so sei es danach geradezu der zentrale Entwicklungsschritt des Menschen in der Moderne, sich Stück für Stück über die als unbegründet „entlarvte“ Moral hinwegzusetzen. Gemein ist diesen Positionen die Einnahme einer Metaperspektive, von der aus Religion weniger als ernstzunehmende Quelle moralischer Leitsätze denn als anthropologisches Forschungsthema begriffen wird. 3. Monismus Eine Darstellung der für die Debatte um „Euthanasie“ und Eugenik in Deutschland entscheidenden wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen kommt nicht ohne die Erwähnung des Monismus aus. Nicht nur förderte der Monismus als Bewegung massiv die Verbreitung der bereits erwähnten, naturwissenschaftlich orientierten Weltanschauung; er führt überdies besonders deutlich die Verbindung zwischen jener weltanschaulichen Entwicklung und den aufkommenden Forderungen nach „Euthanasie“ und Eugenik vor Augen.
„Physiologischen Briefe“ Carl Vogts (1846) hält Wagner 1854 vor der 31. Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte in Göttingen eine Rede mit dem Titel „Menschenschöpfung und Seelensubstanz“ und bringt darin seine Kritik deutlich zum Ausdruck (S. 23 ff.): „[A]lle jene ernsten und grossen Gedanken, welche die tiefsinnigsten philosophischen und historischen Forscher in den Bewegungen des menschlichen Geistes und deren Ausdruck, der Weltgeschichte, erkannt, alle grossen Ideen, an denen sich ganze Generationen erwärmt und zu Thaten begeistert, für die sie gekämpft und geblutet haben, [. . .] sind [sc. für die Materialisten] eitle Träume, leere Phantasmen, Spiele mechanischer mit zwei Armen und Beinen umherlaufender Apparate, die zuletzt prasselnd als Todtengerippe übereinander stürzen, sich in chemische Atome auflösen, welche sich wieder von Neuem zu Menschengestalten zusammenfügen, um den alten gedankenlosen Kreislauf ihrer Thätigkeit von Neuem zu beginnen, [. . .] ohne Zukunft, ohne Lösung der Geheimnisse, die sich an unsere Entstehung und unser Dasein knüpfen, ohne sittliche Basis, ohne Vertrauen auf eine moralische Weltordnung, ohne Hoffnung auf ein gerechtes Gericht dessen, was die Einzelnen Gutes oder Böses gedacht und gethan, ohne einen Glauben an ein jemaliges harmonisches Walten im Reiche geistigen Geschehens“.
290
3. Teil: „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
Schon eine genaue Begriffsbestimmung des Monismus fällt indes schwer. Einend ist lediglich die Ablehnung dualistischer, also von einer wesentlichen Verschiedenheit von Geist und Materie oder Leib und Seele ausgehenden Lehren. In seiner allgemeinsten Bestimmung verweist der Begriff danach schlicht auf ein einziges, allumfassendes Prinzip. Der Inhalt dieses Prinzips wurde von verschiedenen monistischen Strömungen sehr unterschiedlich beurteilt. Es stehen drei Wege zur Bestimmung eines solchen Prinzips offen, die auch allesamt Vertreter unter den Monisten fanden:32 Entweder der Dualismus von Geist und Materie wird zu einer Seite hin aufgelöst, also alles zu Materie (Materialismus) oder alles zu Geist (Spiritualismus) erklärt. Oder ein drittes, transzendentales Prinzip wird eingeführt, das Geist und Materie umfasst, aber in keinem von beiden aufgehen soll und sich unserer Erkenntnis verschließt (sogenannter „neutraler“ Monismus). Die besondere Bedeutung des Monismus liegt damit sicher nicht in seiner konzeptionellen Geschlossenheit. Neben grundlegend unterschiedlichen Verständnissen des „einen Prinzips“, dem alles unterfallen soll, lassen sich die konkreten Ausprägungen verschiedener monistischer Konzeptionen überdies häufig bestimmten naturwissenschaftlichen Sparten zuordnen. So darf beispielsweise das monistische Konzept des Chemie-Nobelpreisträgers Wilhelm Ostwald (1853– 1932) als „physikalisch-chemisch motivierten Energetismus“ 33 beschrieben werden, während der Monismus des Psychiaters August Forel (1848–1931) seine Grundlage in der Einheit von Hirnströmen und psychischen Erscheinungen hat.34 Der Zoologe Ernst Haeckel baute die Evolutionsbiologie Darwins zum theoretischen Fundament seines Monismus aus.35 Vor dem Hintergrund tiefgreifender Unterschiede der einzelnen Theorien – sowohl hinsichtlich des zu identifizierenden „einen Prinzips“ als auch der jeweiligen naturwissenschaftlichen Fachrichtung – ist Breidbach uneingeschränkt Recht zu geben, wenn er den Monismus um 1900 als eine „Sammelbezeichnung für eine in sich heterogene, nur in ihrer wenig detaillierten Grundausrichtung, alles naturwissenschaftlich begreifen zu wollen, eindeutig definierbare Gruppe von Theoretikern“ beschreibt. Jedenfalls „im deutschen Sprachraum“ sei der Monismus „eben nicht eine einheitliche Theorie, sondern ab Ende der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts vor allem eine Organisationseinheit“ gewesen.36 Gemeint ist der am 11.1.1906 in Jena gegründete Monistenbund, der verschiedenste Vertreter einer strikt naturwissenschaftlichen Weltanschauung zu einer wirkungsmächtigen Bewegung einte. Die Organisation in einem Bund erklärt sich daraus, dass seine Mitglieder eine naturwissen32
Siehe hierzu Gabriel, in: Ziche (Hrsg.), Monismus um 1900, S. 23 (23). Ziche, in: ders. (Hrsg.), Monismus um 1900, S. 3 (3) m.w. N. 34 Siehe zu Forels Monismus H. Weber, in: Ziche (Hrsg.), Monismus um 1900, S. 81 (92 ff.) m.w. N. 35 Siehe zu Haeckels Monismus H. Weber, in: Ziche (Hrsg.), Monismus um 1900, S. 81 (85 ff.) m.w. N. sowie u. Fn. 67. 36 Breidbach, in: Ziche (Hrsg.), Monismus um 1900, S. 9 (14). 33
A. Die „Euthanasie‘‘-Debatte und ihr historischer Rahmen
291
schaftliche Sicht nicht nur vertraten, sondern für die Umsetzung daraus abgeleiteter, politischer Forderungen warben. Der Monistenbund hatte ein gesellschaftspolitisches Reformprogramm und stellte damit gewissermaßen eine politische Kraft der neuen Weltanschauung dar. 4. Utilitarismus als Moralphilosophie der naturwissenschaftlichen Weltanschauung Eine Aufzählung wesentlicher ideengeschichtlicher Grundlagen der Forderungen nach einer Straflosigkeit der „Euthanasie“ und staatlich forcierter Eugenik im späten 19. Jahrhundert darf auch die utilitaristische Argumentationsweise vieler dieser Forderungen nicht unerwähnt lassen. Dabei sollte jedoch nicht der Eindruck eines zwangsläufigen Zusammenhangs mit dem Utilitarismus entstehen. Eine utilitaristische Argumentation war und ist lediglich besonders geeignet, die gesetzliche Umsetzung sozialdarwinistischen Gedankenguts zu begründen. Der historische Zusammenhang zwischen Sozialdarwinismus und Utilitarismus führt über die bereits beschriebene naturwissenschaftliche Weltanschauung des 19. Jahrhunderts, mit der beide Erscheinungen eng verwoben sind. So bestimmt Bentham (1748–1832) in den „Anarchial Fallacies; Being an Examination of the Declaration of Rights Issued During the French Revolution“ 37 von 1792 die Chemie – als Sinnbild naturwissenschaftlicher Methodik insgesamt – zum Vorbild für die Gesetzgebung. Während in dieser Disziplin durch die Anwendung empirischer Methodik atemberaubende Fortschritte erzielt worden seien, befinde sich die Gesetzgebung noch immer in einem Zustand der „profoundest ignorance“.38 Der Grund für diese Unwissenheit liege in einer unwissenschaftlichen Moralphilosophie, die keine Vorgaben für eine inhaltlich „richtige“ Gesetzgebung liefern könne. Gerade für diesen Bereich fordert Bentham daher Wissenschaftlichkeit – das heißt für ihn: ein System zur Auswertung empirischer Daten – ein. Die Frage nach dem „richtigen“ Recht führe automatisch zur „inquiry after a reason: and this reason, if there be any at bottom that deserves the name, is always a proposition of fact relative to the question of utility. Such a law ought not to be established, because it is not consistent with the general welfare – its tendency is not to add to the general stock of happiness. I say, it ought not to be established; that is, I do not approve of its being established: the emotion excited in my mind by the idea of its establishment, is not that of satisfaction, but the contrary. How happens this? Because the production of inconvenience, more than equivalent to any advantage that will ensue, presents itself to my conception in the character of a probable event. Now the question is put, as every political and moral question ought to be, upon the issue of fact; and mankind are directed into the only true track 37 Der Titel erklärt sich aus Benthams allgemeiner Ablehnung metaphysischer Rechtsbegründungen, die hier in Form der naturrechtlichen „Déclaration des droits de l’homme et du citoyen“ auftritt. 38 Bentham, in: Works, Bd. 2, S. 489 (521).
292
3. Teil: „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
of investigation which can afford instruction or hope of rational argument, the track of experiment and observation.“ 39
Das Nützlichkeitsprinzip wird so zur Grundlage einer empirischen Morallehre. Mit dem für die gesamte Menschheit diagnostizierten Glückseligkeitsstreben wird die empirische Basis hierfür geschaffen; Glück sei das Produkt messbarer Faktoren und damit selbst prinzipiell messbar. Daher sei stets diejenige Handlungsalternative die nützlichste und damit die moralisch gebotene, die das größte Glück für die größte Zahl von Menschen nach sich ziehe.40 In Deutschland breiten sich utilitaristische Positionen erst später und nicht in einem mit Großbritannien vergleichbarem Maße aus. Dabei spielt neben der dort erst in den 1830ern spürbar einsetzenden Industrialisierung vor allem die deutsche philosophische Tradition eine Rolle. Das konsequentialistische Denken der Utilitaristen musste in der philosophischen Landschaft Deutschlands, die die Sittenlehre Kants geradezu als Inbegriff der Moralphilosophie auffasste, auf Ablehnung stoßen. Vor dem Hintergrund einer selbstsicheren kantischen Grundausrichtung der deutschen Philosophie überrascht nicht, dass die spärliche frühe Kritik, die Benthams Werke in Deutschland erfahren, vernichtend und wenig reflektiert ausfällt.41 Mit fortschreitender Popularisierung der Naturwissenschaften im Zuge des nun auch in Deutschland beginnenden industriellen Zeitalters und dem schleichenden Niedergang des deutschen Idealismus nach dem Tod Hegels (1831) setzt allerdings noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein teilweises Umdenken ein. Die nun vermehrt auftretende und konstruktivere Kritik des Utilitarismus konzentriert sich auf seine methodischen Unsicherheiten, ohne bereits den Ansatz einer konsequentialistischen Morallehre zu verwerfen.42 Auch positive Beurteilungen des Utilitarismus finden sich im Verlaufe des 19. Jahrhun39
Bentham, in: Works, Bd. 2, S. 489 (495). So das grundlegende Axiom des Utilitarismus nach Bentham, A Fragment on Government, Bd. 1, S. II. Zum sich daraus ergebenden Maßstab der Nützlichkeit im Einzelnen siehe dens., Morals and Legislation, S. i ff. Die weiteren Protagonisten des klassischen Utilitarismus, allen voran John Stuart Mill (1806–1873) und Henry Sidgwick (1838–1900), variierten diesen Maßstab bekanntlich. Siehe zu den Eigenheiten dieser Fortführungen Quinton, Utilitarian Ethics, S. 39 ff., 87 ff. 41 Vgl. hierzu umfassend Luik, Die Rezeption Benthams, S. 94 ff. Ausnahmen bleiben zunächst zwei Rezensionen zu Benthams „Traités de législation civile et pénale“ (1802) und seiner „Théorie des peines et des récompenses“ von 1811 (Hermes oder kritisches Jahrbuch der Literatur 15 (1822), S. 316 ff.), die unter dem Pseudonym „N.L.“ erschienen sind, bei dem es sich um den Verfasser des „Neuen Leviathans“, Friedrich Buchholz, handeln könnte. 42 Vgl. hierzu Luik, Die Rezeption Benthams, S. 97 f. u. 178 ff., jeweils m.w. N. Der Bedeutungsgewinn empirischer Wissenschaften wird in diesen Kritiken neueren Typs spürbar, die nicht mehr den empirischen Ansatz des Utilitarismus verwerfen, sondern zunächst an dessen Durchführbarkeit zweifeln, da Glück schlechterdings nicht auf eine für alle Menschen gültige Weise quantifizierbar sei. Voraussetzung einer utilitaristischen Morallehre sei daher eine rein mechanische Auffassung vom Menschen, die seinem Wesen nicht gerecht werde. 40
A. Die „Euthanasie‘‘-Debatte und ihr historischer Rahmen
293
derts in immer größerer Zahl, so dass der Utilitarismus gegen Jahrhundertmitte insgesamt wenigstens als eine von mehreren gängigen Moraltheorien akzeptiert wird.43 In Teilen der Wissenschaft erlangt er gar eine gewisse Dominanz. Die Äußerungen zahlreicher Naturwissenschaftler zu moralischen Fragen – der bereits erwähnte Haeckel ist dafür nur ein Beispiel unter vielen – deuten für ihre Reihen in diese Richtung. Die Attraktivität einer empirischen Morallehre, die nach dem Vorbild der Naturwissenschaften geschaffen wurde, erklärt sich für sie von selbst. Auch in der Rechtswissenschaft dieser Zeit hinterlässt der Utilitarismus bleibende Spuren. Erwartungsgemäß findet er vor allem unter den Vertretern eines empiristischen Rechtsverständnisses Befürworter, im Strafrecht also insbesondere unter den Vertretern relativer Straftheorien. Obwohl solche Straftheorien wiederum nicht zwingend mit einer utilitaristischen Morallehre einhergehen, korrespondieren beide Sichtweisen doch gut miteinander: Die Strafe dient nicht der Vergeltung, sondern wird in ihrem Bezug auf einen general- oder spezialpräventiven Effekt bewertet, der empirischer Erforschung zugänglich ist. Eine solche Prävention lässt sich mühelos auch als Ausdruck von Nützlichkeit im Sinne einer utilitaristischen Morallehre verstehen,44 womit die Sympathien etwa Anselm Feuerbachs oder Liszts für derartige Sichtweisen kaum überraschen.45 Auch die starke Präsenz utilitaristischer Argumentationsweisen in der „Euthanasie“-Debatte ist verständlich. Die empirische Ermittlung des moralisch Gebotenen oder wenigstens Erlaubten bietet auch auf diesem Feld eine nachvollziehbare, nüchterne Analyse der Handlungsalternativen, während die christlich-religiöse Seite von den Befürworten der Euthanasie in erster Linie als mögliches Hemmnis einer sinnvollen Lösung der Frage dargestellt wird. Insofern sich die „Euthanasie“-Befürworter überhaupt mit religiösen Bedenken auseinandersetzen, zeichnen sich ihre Darstellungen nicht selten durch eine groteske Vereinfachung der christlichen Lehren aus, die bei Haeckel sogar die Form einer wohl bewussten Verfälschung annimmt.46
II. Der biologistische Blick auf den Menschen Die Begründung der Evolutionslehre durch Charles Darwin (1809–1882) hatte massive Auswirkungen auf das Menschenbild seiner Zeit. Wohl am eindrücklichsten verkörpert sie die naturwissenschaftliche Sichtweise des 19. Jahrhunderts in 43
Luik, Die Rezeption Benthams, S. 207 f. Bentham, Morals and Legislation, S. clxvi ff. selbst verband seine Morallehre mit einem präventionistischen Verständnis des Strafrechts. 45 Vgl. etwa die Formulierung in P. J. A. Feuerbachs Grundsätze und Grundbegriffe, Bd. 1, S. 33 ff. In Liszts „Zweckgedanken im Strafrecht“ (Aufsätze, Bd. 1, S. 126 ff.) kommt eine sozialutilitaristische Ausrichtung seiner Theorie deutlich zum Ausdruck. 46 Siehe dazu u. S. 298 f. 44
294
3. Teil: „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
ihrem Konflikt mit der älteren, durch christlich-religiöse Offenbarung maßgeblich geprägten Weltanschauung. Darüber hinaus steht sie in direktem Zusammenhang mit der Entwicklung der Eugenik, die für einige Befürworter einer Vernichtung von angeblich „lebensunwertem“ Leben ein Begründungsmuster darstellt. Nachfolgend werden daher zunächst der Darwinismus (1.) und anschließend die zum Teil aus ihm entwickelten Lehren des Sozialdarwinismus und der Eugenik (2.) sowie der sogenannten „Rassenhygiene“ (3.) behandelt. Dabei werden einzelne Autoren nur angesprochen, um die Bezüge dieser Denkrichtungen zueinander sowie ihre gemeinsame Verankerung im szientistischen Zeitgeist zu verdeutlichen. Für umfassende Darstellungen dieses Themas und der maßgeblichen Autoren muss die vorliegende Untersuchung auf andere Arbeiten verweisen.47 1. Darwinismus Das Erscheinen von Darwins „On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life“ im Jahre 1859 markiert auf gleich zweifache Weise einen Umbruch. Zum einen selbstverständlich in der Naturwissenschaft, für die Darwin sowohl seine Theorie der Artausbildung als auch deren empirischen Beweis lieferte. Zum anderen stellt die Schrift auch im kulturellen Bereich eine Zäsur dar. Die immense kulturelle Bedeutung der Thesen Darwins kann kaum akkurat beschrieben werden und lässt sich wohl am ehesten anhand der bekannten Einordnung Sigmund Freuds (1856– 1939) erahnen, der in ihnen die zweite „Kränkung der Menschheit“ nach der Aufgabe des geozentrischen Weltbildes erblickte.48 Die Entdeckung der evolutionären Entwicklung des Lebens liefert eine Erklärung der Umwelt, die wenigstens hinsichtlich der Artenentstehung ohne einen göttlichen Schöpfungsakt auskommt. Allein die größere Nachkommenschaft der am besten an die vorherrschenden Lebensbedingungen angepassten Exemplare einer Art bedinge die Entstehung neuer Arten, das bekannte „survival of the fittest“.49 Die natürliche Auslese sorgt für einen stetigen Optimierungsprozess hinsichtlich der Anpassung einer Art an die Bedingungen, die die Umwelt an sie richtet. Der – selbstverständlich von massiver Kritik begleitete – Erfolg der Evolutionstheorie Darwins versteht sich mit Blick auf den vorherrschenden Geist der Zeit, in den sie fällt, fast von selbst. Darwin schlägt genau in die Kerbe der neugewonnenen Popularität der Naturwissenschaften und befördert diese weiter, 47 Siehe weiterführend zu diesem Thema etwa Conrad-Martius, Menschenzüchtung, 1955 sowie Weingart/Kroll/Bayertz, Rasse, Blut und Gene, 1988. 48 Vgl. Freud, Imago 5 (1917), S. 1 (4). Die dritte „Kränkung“ sah Freud bekanntlich in seiner eigenen Entdeckung, dass der Mensch nicht unumschränkter Herr seines eigenen Seelenlebens ist. 49 Vgl. Darwin, Origin of Species, S. 62 ff.
A. Die „Euthanasie‘‘-Debatte und ihr historischer Rahmen
295
indem er einen der grundlegendsten Bausteine der naturwissenschaftlichen Welterklärung liefert. Die Evolutionslehre wird zum Sinnbild einer naturwissenschaftlichen Erklärung der Welt, die sich mit den Antworten einer religiösen Offenbarung nicht mehr zufrieden gibt. Durch eine bis auf den Affen rückführbare Abstammungsgeschichte verliert der Mensch die besondere Stellung, die ihm die christlichen Schöpfungslehre zumisst. 2. Sozialdarwinismus und Eugenik Der sogenannte Sozialdarwinismus entstand als sozialwissenschaftliche These schon bald nach dem Erscheinen der Grundlagen der Evolutionslehre. Er stellt den von Darwin aufgezeigten natürlichen Selektionsprozess in den Mittelpunkt der Betrachtung menschlicher Gesellschaften und unterscheidet dabei zwischen „gutem“ und „schlechtem“ Erbmaterial. Da zivilisierte Gesellschaften die Auslese durch einen als kontraselektorisch gesehenen „Schutz der Schwachen“ behinderten, werden ethische, rechtliche und wirtschaftliche Neuordnungen gefordert, die eine menschliche „Höherentwicklung“ garantieren sollen.50 Grundlage dieser besonderen Anwendung der Forschungsergebnisse Darwins auf den Menschen ist also eine wertende Betrachtung: Die Entwicklung hin zu einer komplexeren Form des Organismus, die in der Evolution des Menschen aus dem Affen zu beobachten ist, wird nicht deskriptiv als das Ergebnis eines fortschreitenden „Anpassungsprozesses“ an die Natur verstanden, sondern normativ als unbedingt fortzusetzender Prozess. Bereits Darwin selbst zeigte sich sozialdarwinistischen Thesen gegenüber sehr aufgeschlossen, konzentrierte sich zeit seines Lebens aber auf rein deskriptive, biologische Studien. Die nicht ganz zu Unrecht vorgebrachte Darstellung Darwins als der Welt „erster Sozialdarwinist“ 51 ist ohne diese Klarstellung leicht misszuverstehen.52 Die Eugenik beschäftigt sich mit praktischen bevölkerungspolitischen Möglichkeiten einer „Verbesserung“ des menschlichen Erbguts. Eugenische Maßnahmen lassen sich unterteilen in die Förderung erwünschter Kombinationen von Erbanlagen (positive Eugenik) und die Verhinderung unerwünschter Kombinationen (negative Eugenik). Die Denkrichtung stellt insofern eine Reaktion auf die vom Sozialdarwinismus prognostizierte Degeneration der zivilisierten Gesellschaft dar. Eine scharfe Trennung von Sozialdarwinisten und Eugenikern ist aufgrund dieses engen Zusammenhangs kaum möglich; in der Regel findet sich in den einschlägigen Schriften neben der Darstellung jenes biologistischen Indeter50 Vgl. die griffige Beschreibung der Wesensmerkmale des Sozialdarwinismus bei Wuketits, Kulturgeschichte der Biologie, S. 115. 51 So H. Koch, Sozialdarwinismus, S. 64, der die Bezeichnung allerdings genau in den beschriebenen Kontext setzt. 52 Kritisch zu dieser Darstellungsweise daher Reusch, Ethik des Sozialdarwinismus, S. 37 ff. m. zahlr. w. N.
296
3. Teil: „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
minismus, in dem eine unkontrollierte Selektion innerhalb der zivilisierten Gesellschaft langsam zu deren Degeneration führen soll, auch das angebliche „Heilmittel“ der Eugenik. Schon bei Herbert Spencer (1820–1903), auf dessen Wirken die Einführung eines teleologischen Moments in der Evolutionslehre, einer „Höherentwicklung“ in positiv-wertendem Sinn zurückgeht und der daher allgemein als Wegbereiter des Sozialdarwinismus gesehen wird,53 zeigt sich dieses Nebeneinander von sozialdarwinistischen Sichtweisen und der Forderung eugenischer Maßnahmen. Entsprechend seiner utilitaristischen Moralphilosophie54 unterschied er „gute“ und „schlechte“ Erbanlagen nach ihrer Bedeutung für eine langfristige Vermeidung von Leid in der Gesellschaft. Das Ziel des christlich-humanistisch geprägten Spencers blieb allerdings stets die evolutionäre Erschaffung einer sozialen Gesellschaft.55 Im deutschen Sprachraum zeigt sich dieses Nebeneinander von Sozialdarwinismus und Eugenik besonders deutlich in den Schriften einiger Mitglieder des Monistenbundes. Das ist nicht weiter verwunderlich, wenn man bedenkt, dass sich der Monistenbund als politische Kraft satzungsgemäß für die gesellschaftliche Umsetzung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse einsetzte und die Eugenik in der Literatur des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts nicht selten als fester Bestandteil eines solchen gesellschaftlichen Wandels gesehen wurde. Auf diese Weise erklärt sich auch das Nebeneinander von geradezu visionär-progressiven Forderungen und der Befürwortung teilweise drastischer eugenischer Maßnahmen in diesen Schriften. Ein Beispiel hierfür ist der Schweizer Psychiater und Gründungsmitglied des Monistenbundes August Forel,56 der 1910 in den „Kulturbestrebungen der Gegenwart“ eine neue Ethik auf Grundlage seiner naturwissenschaftlichen Weltanschauung einforderte. Nach seiner Sichtweise des Menschen, die vor allem dessen biologische Stellung als komplexestes Erzeugnis der Evolution hervorhebt, 53 Vgl. Reusch, Ethik des Sozialdarwinismus, S. 52. Abgesehen von dieser unstrittigen Rolle als Vorbereiter drastischerer sozialdarwinistischer Positionen fällt eine Einordnung Spencers allerdings schwer. Siehe zu diesen Schwierigkeiten Reusch, ebd., S. 42 f. m.w. N. 54 Vgl. etwa Spencers Prinzipien der Ethik, Bd. 2,1, S. 51 f.: „Wenn wir im Auge behalten, dass die größtmögliche Summe von Glück [. . .] das entferntere Endziel ist, so sehen wir leicht ein, dass das Gebiet, innerhalb dessen ein Jeder sein Glück verfolgen darf, eine bestimmte Grenze hat, jenseits deren die ebenso begrenzten Thätigkeitsgebiete seiner nächsten Nachbarn liegen“. 55 Wie Spencer sind auch Thomas Huxley (1825–1895) und Alfred R. Wallace (1823–1913) einem eher gemäßigten Sozialdarwinismus zuzurechnen. Siehe weiterführend Reusch, Ethik des Sozialdarwinismus, S. 56 f. m.w. N. 56 Forel vertrat einen „psycho-physischen Monismus“, war also der Ansicht, dass Hirntätigkeit und psychische Erscheinungen letztlich dasselbe seien und sich nur verschieden äußerten (siehe etwa Kulturbestrebungen, S. 13 f.). Vgl. dazu und im Folgenden H. Weber, in: Ziche (Hrsg.), Monismus um 1900, S. 81 (S. 92 ff.) m.w. N.
A. Die „Euthanasie‘‘-Debatte und ihr historischer Rahmen
297
mussten kulturell bedingte Behinderungen der künftigen menschlichen Fortentwicklung als geradezu kleingeistig erscheinen; ausdrücklich tritt Forel etwa für die Bekämpfung des Nationalismus,57 die Einführung eines Völkerbundes zur Vermeidung von Kriegen,58 einen zollfreien Wirtschaftsraum aller Staaten59 und die Gleichberechtigung von Mann und Frau ein.60 Wenig überraschend plädiert Forel mit der Modernen Schule überdies für die Umsetzung eines reinen Präventionsstrafrechts, das sich die Erkenntnisse aus der Kriminologie zunutze macht.61 Zu eben solchen Umsetzungen konkreter Ergebnisse der Naturwissenschaft zählt er allerdings ausdrücklich auch die „Rassenhygiene“, wenngleich er „rassischer Reinheit“ als solcher keinen Eigenwert beimisst, sondern im Sinne des zeittypischen Rassismus ganz selbstverständlich von einer durchschnittlich „wertvolleren“ Erbanlage weißer Menschen ausgeht.62 Statt als „Rassenhygieniker“ zeigt sich Forel vor allem als überzeugter Eugeniker, wenn er sich vehement für die Zwangssterilisation von Verbrechern oder erblich schwer kranken Menschen einsetzt.63 Seine Ideen hierzu konnte Forel in seiner Schweizer Heimat sogar teilweise praktisch umsetzen.64 In ähnlicher Weise tritt auch der Jenaer Zoologe und Ehrenvorsitzende des Monistenbundes Ernst Haeckel (1834–1919) auf. Auch er fordert eine neue Ethik auf naturwissenschaftlicher Grundlage65 und hält eugenische Maßnahmen für in diesem Sinne moralisch geboten.66 Das Beispiel Haeckels verdeutlicht die Verankerung der Vertreter der Eugenik im szientistischen Zeitgeist: Sein Monismus67 läuft auf einen mechanistischen Materialismus hinaus,68 nach dem die 57
Vgl. Forel, Kulturbestrebungen, S. 32 ff. Vgl. Forel, Kulturbestrebungen, S. 49. 59 Vgl. Forel, Kulturbestrebungen, S. 31 f. 60 Vgl. Forel, Kulturbestrebungen, S. 29 f., 49. 61 Vgl. Forel, Kulturbestrebungen, S. 28 f. 62 In dieser Hinsicht eindeutig Forel, Kulturbestrebungen, S. 20 f. 63 Vgl. Forel, Hygiene, S. 264 f.; siehe a. dens., Kulturbestrebungen, S. 26 ff. 64 Siehe hierzu Huonker, Diagnose, S. 80 ff. 65 Haeckel, Welträtsel, S. 375 ff.; ders., Lebenswunder, S. 477 ff. 66 Haeckel, Lebenswunder, S. 135 f. und näher dazu u. S. 310 ff. 67 Siehe zu diesem H. Weber, in: Ziche (Hrsg.), Monismus um 1900, S. 81 (85 ff.). Das „eine Prinzip“, auf dem der Monismus Haeckels aufbaut, ist die „Substanz“. Grundlage für seinen Gedankengang ist die Konstanz aller Substanz, formuliert in zwei Sätzen: Auf Lavoisier geht das Gesetz von der Erhaltung der Materie zurück, nach dem Materie nur von einer Form in andere übergehe, indem sie sich auf kleinster Ebene neu zusammensetze, die Menge an Materie aber stets konstant bleibe. Als zweiten Teil des „Substanzgesetzes“ versteht Haeckel das Helmholtzsche Gesetz von der Konstanz der Energie, nach dem Energie innerhalb eines geschlossenen Systems stets konstant bleibe, sich also nur von einer Form in eine andere verwandeln könne. Beides, Materie und Energie, sei als „Substanz“ also konstant. Da Haeckel die Übergänge der Materie und Energie von einer Form in die andere für ausschließlich kausal bedingt hält, stellt sich für ihn die gesamte Geschichte des Universums als Kausalkette solcher Übergänge dar (vgl. Haeckel, Welträtsel, S. 225 ff., 258 f.). 58
298
3. Teil: „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
eine Substanz, auf die sowohl Materie als auch Energie zurückzuführen seien, stets rein kausal von einer Form in eine andere übergehe. Da er auch die Entwicklung des Menschen unter Rückgriff auf Darwin als von Beginn an kausal festgelegt sieht, schließt er die menschliche Willensfreiheit aus.69 Mit einer derartigen Weltsicht wäre eine Ethik an sich unvereinbar, da alles Geschehene naturnotwendig geschähe und einer ethischen Bewertung unzugänglich wäre. Dass Haeckel dennoch mit einer eigenen, als Naturwissenschaft verstandenen Ethik aufwartet, ist daher nur um den Preis eines grundlegenden Widerspruchs in seiner Theorie möglich: Die determiniert fortschreitende Entwicklung wird mit einer Wertung versehen. Der Anpassungsvorgang der Art über Generationen hinweg wird – logisch unhaltbar – mit einem ethischen Wert versehen. Ethik sind danach ererbte „[soziale] Instinkte“,70 die insgesamt der Arterhaltung dienen.71 Moralisch geboten ist für Haeckel, was für das Bestehen und die Fortbildung der Art zu einem komplexeren, höherentwickelten, konkurrenzfähigeren Gebilde förderlich ist. Ein solches Verhalten kann egoistisch oder altruistisch sein; in der Balance zwischen beiden Verhaltensweisen erblickt Haeckel das Ideal einer natürlichen Ethik.72 Aus dem beschriebenen, biologistischen Blickwinkel ist seine Darstellung konsequent: Egoismus kann dem Stärkeren einen Vorteil verschaffen und wäre damit insofern im oben genannten Sinne „gut“, als damit gleichzeitig die Erbanlagen der Gemeinschaft gestärkt würden; andererseits sind Situationen denkbar, in denen die Selbstaufopferung des Einzelnen einen förderlichen Zweck für die Gemeinschaft erfüllt. Die Balance, von der Haeckel schreibt, entpuppt sich freilich umgehend als schlichter Verhaltenskodex des Sozialdarwinismus, der darauf abzielt, einer „Kontraselektion“ durch den Schutz der Schwachen in modernen Gesellschaften entgegenzuwirken. Trotz seiner strikten Ablehnung eines Schöpfergottes beschreibt Haeckel sein ethisches Konzept ausdrücklich als „christlich“; es laufe auf die in der Bergpredigt73 beschriebene Goldene Regel hinaus, in der Haeckel eine naturnotwendige Entwicklung sieht, die in den menschlichen Erbanlagen zu finden und fälschlich mit einer religiösen Offenbarung identifiziert worden sei.74 Selbstverständlich 68 Haeckel, Welträtsel, S. 21 selbst streitet dies vehement ab. Diese Haltung Haeckels darf zum einen auf die kritische Sichtweise des Materialismus zurückgeführt werden, welcher als amoralisch und antichristlich galt und daher wenig geeignet schien, die Verbreitung eines damit assoziierten Monismus zu fördern. Zudem zeigt Haeckel ein fehlerhaftes Verständnis des Materialismus, wenn er diesem vorwirft, auch in Lebewesen nur „[tote] Atome“ zu sehen (Haeckel, ebd.). 69 Haeckel, Welträtsel, S. 139 f. 70 Haeckel, Welträtsel, S. 379. 71 So die Darstellung bei Haeckel, Lebenswunder, S. 449 ff., 477 ff. 72 Vgl. Haeckel, Welträtsel, S. 377 ff. 73 Mt. 7, 12: „Alles nun, was ihr wollt, daß euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch! Das ist das Gesetz und die Propheten.“ 74 Haeckel, Welträtsel, S. 379 ff.
A. Die „Euthanasie‘‘-Debatte und ihr historischer Rahmen
299
hat das ethische Konzept Haeckels tatsächlich nur wenig mit der christlichen Regel zu schaffen: Hier gilt das Prinzip im Sinne allgemeiner Menschenliebe gegenüber allen, dort nur im Sinne der Förderung einer Gemeinschaft von Menschen mit ähnlichen Erbanlagen. Seine Anlehnung wird – seiner Reaktion auf den Vorwurf des Materialismus nicht unähnlich – vor allem auf den Versuch zurückzuführen sein, seine monistische Ethik zu popularisieren, die sich als klassischer Sozialdarwinismus gezeigt hat. 3. Die sogenannte „Rassenhygiene“ Mit Forels Betonung einer angeblichen rassischen Überlegenheit weißer Menschen hat auch die Verbindung von Sozialdarwinismus und Eugenik mit rassistischem Gedankengut bereits ein Beispiel erhalten. Eine rassistische Komponente ist allerdings in den Schriften der meisten Befürworter eugenischer Maßnahmen um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zu finden und rechtfertigt für sich noch keine Sonderstellung der sogenannten „Rassenhygiene“. Die Höherwertigkeit einer als „weiß“, „europäisch“, „arisch“ oder „germanisch“ beschriebenen „Rasse“ bildete in der wissenschaftlichen Diskussion zu diesem Thema einen Allgemeinplatz.75 Schon die Lehre Francis Galtons (1822–1911), eines Cousins Darwins, auf den der Begriff der Eugenik zurückgeht, muss als rassistisch beschrieben werden.76 Eine rassistische Ausrichtung hat auch das Werk Otto Ammons (1842–1916), der als gemäßigter Sozialdarwinist gilt und sich aufgrund seines teilweise als naiv beschriebenen77 Verständnisses der „natürlichen Zuchtwahl“, nach dem der Mensch bloßes Objekt eines übergeordneten Prinzips sein soll, auch nicht für eugenische Maßnahmen ausspricht.78 Eine Zuordnung als Rassenhygieniker rechtfertigt sich erst aus einer entsprechenden Schwerpunktsetzung. So trägt etwa das Werk des Monisten, Forel-Schülers und Begründers des „Archivs für Rassen- und Gesellschaftsbiologie“ Alfred Ploetz (1860–1940) überaus rassistische Züge. Sowohl die sozialdarwinistische Diagnose einer drohenden Degeneration als auch seine Befürwortung eugenischer Maßnahmen sind durchtränkt vom Rassegedanken.79 Der Begriff der „Rassen75 Zum Begriff der „Rasse“ und seiner unterschiedlichen historischen Verwendung, auf die für die Zwecke dieser Arbeit nicht weiter eingegangen werden muss, vgl. Zur Mühlen, Rassenideologien, S. 74 ff. 76 Vgl. nur Galton, Genie und Vererbung, S. 359 ff. 77 So Conrad-Martius, Menschenzüchtung, S. 63; zustimmend Reusch, Ethik des Sozialdarwinismus, S. 58. 78 Siehe etwa das rein deskriptiv gehaltene Schlusswort bei Ammon, Natürliche Auslese beim Menschen, S. 313 ff. 79 Siehe dazu Becker, Geschichte der Rassenhygiene, S. 81 ff. m.w. N. Im Vergleich zu früheren Schriften, in denen Ploetz eine Höherentwicklung der „westarischen Rasse“ auch durch gezielte Vermischung mit Trägern wünschenswerter Erbanlagen aus anderen „Rassen“ für möglich hält (interessanterweise gerade in Bezug auf die in Deutschland lebende jüdische Bevölkerung, vgl. Ploetz, Die Tüchtigkeit unsrer Rasse, S. 141 f.), ar-
300
3. Teil: „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
hygiene“ geht auf ihn zurück. Seine Sichtweise entwickelte Vorbildcharakter für die Rassenlehre der Nationalsozialisten, deren Politik Ploetz vor allem aufgrund ihres ausgeprägten „rassehygienischen“ Programms ausdrücklich begrüßte.80 1937 trat er in die NSDAP ein.81 Ein besonderes Moment der „rassenhygienischen“ Diskussion mag man überdies in einem gelegentlich anzutreffenden Bruch mit Darwin sehen: Unabhängig von der Annahme einer durchschnittlichen Höherwertigkeit einer „europäischen Rasse“ wird die Vermischung verschiedener Rassen gelegentlich per se als Degeneration gesehen. Dies wird teilweise mit der angeblichen Gefahr einer „Verdünnung“ der Erbanlagen begründet.82 Eine andere Grundlage für „rassenhygienische“ Überlegungen bilden rassistische Schriften eher mythologischer Natur, die mit dem streng wissenschaftlichen System Darwins selbstverständlich unvereinbar sind. Beispielhaft für diese pseudowissenschaftlich-rassistische Argumentationsweise steht etwa das Werk Houston Stewart Chamberlains (1855–1927).83 4. Zusammenfassung Innerhalb des im 19. Jahrhundert entstehenden biologistischen Menschenbilds variieren die Argumentationsweisen und Thesen von Sozialdarwinisten, Eugenikern und „Rassenhygienikern“ mitunter stark. Das Beispiel Spencers veranschaulicht einen gemäßigten Szientismus, der das christliche Weltbild nicht grundlegend in Frage stellt und schon deshalb vor einem allzu drastischen Sozialdarwinismus zurückschreckt. Von anderer Seite wird allerdings in aller Deutlichkeit der vollständige Bruch mit überkommenen Wertvorstellungen geprobt. Innerhalb des radikaleren Meinungsspektrums lässt sich zudem eine gewisse taktische Tendenz ausmachen, die beispielsweise bei Haeckel und Ploetz zu finden ist: Danach wird insofern Rücksicht auf das herrschende christliche Welt- und Menschenbild genommen, als man die eigenen Forderungen als Gedankenexperiment anbringt oder als mit christlichen Wertvorstellungen vereinbar ausgibt. Nichtsdestotrotz fällt die hohe Warte der neuen, scheinbar wissenschaftlich gesicherten Erkenntnis auf, von der aus gegenläufige Argumentationen betrachtet werden: Religion und christliche Ethik werden eher als anthropologisch zu erforschendes Phänogumentiert er später (vgl. etwa Ploetz’ Ausführungen in: Schwalbe/Fischer (Hrsg.), Kultur der Gegenwart, S. 606 f. und siehe dazu Schäfer, Vermessen, S. 181 f.) zusehends auf Linie mit den aufstrebenden Nationalsozialisten für den Gedanken der „Rassereinheit“. Siehe zu dieser Entwicklung Przyrembel, ,Rassenschande‘, S. 31 f. m.w. N. 80 Vgl. etwa das Schreiben Ploetz’ an Hitler vom 6.4.1933, BAK RMI 15.01 26243; weiterführend dazu Kühl, Internationale der Rassisten, S. 123. 81 Parteimitgliedsnummer 4457957 (Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde). 82 Zur in im 19. Jahrhundert herrschenden „Bluttheorie“ bei der Vererbung siehe Senglaub, in: Jahn/Löther/Senglaub (Hrsg.), Geschichte der Biologie, S. 554 f. 83 Siehe zum Beleg der pseudowissenschaftlichen Methodik bei Chamberlain nur dessen Grundlagen, S. 271 ff.
A. Die „Euthanasie‘‘-Debatte und ihr historischer Rahmen
301
men wahrgenommen, das den Fortgang des Menschen als rational bestimmtes Wesen auf Dauer nicht ernsthaft wird gefährden können. An dieser Stelle tritt ein bereits angesprochenes, gegenüber der Religion unverblümt herablassendes Charakteristikum des Szientismus dieser Zeit deutlich hervor. Es lassen sich allerdings auch Gemeinsamkeiten der radikalen und der gemäßigten Sozialdarwinisten, Eugeniker und Rassenhygieniker ausmachen. So zeigt sich bei vielen eine Affinität zu utilitaristischen Begründungen. Zudem ist eine gewisse Dominanz kollektivistischer Argumentationsmuster festzustellen: Der Fortschritt ist vor allem ein Fortschritt der „Gruppe“ im weitesten Sinne, das heißt der Spezies, der Art, der „Rasse“, des Volks et cetera. Einige der vorgestellten, typischen Sicht- und Argumentationsweisen treten später auch bei Binding/ Hoche deutlich hervor.
III. Die „Euthanasie“-Debatte vor Binding/Hoche Nach der Darstellung einiger der wichtigsten Bedingungen, unter denen eine Debatte über die Zulassung von „Euthanasie“ überhaupt entstehen konnte, wird es im Folgenden um diese Debatte selbst gehen. Die verschiedenen Forderungen beziehen sich auf das gesamte Spektrum der möglichen Bedeutungen des „Euthanasie“-Begriffs, von der Straflosigkeit der Tötung auf Verlangen eines Schwerkranken bis hin zur Kindstötung aus eugenischen Gründen. Anzumerken ist, dass dieser Teil ausschließlich die Literatur vor Binding/Hoche ins Auge nehmen wird. Für das primäre Ziel eines inhaltlichen Verständnis der Freigabeschrift sind naturgemäß vor allem diese von Bedeutung. Ab 1920 erschienene Beiträge werden aufgrund dieser Zielsetzung im Anschluss an eine inhaltliche Auseinandersetzug mit Binding/Hoche vor allem auf ihr jeweiliges Verständnis des Werks und die Verwertung seiner Ergebnisse hin untersucht. Nach einer kurzen Zusammenstellung früher Schriften (1.) wird das Werk „Das Recht auf den Tod“ von Adolf Jost intensiver besprochen (2.). Die kurze Schrift hinterließ deutliche Spuren in der nachfolgenden „Euthanasie“-Debatte. Auch Bindings Beitrag zur „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ beeinflusste sie stark. Im Anschluss werden Schriften aufgeführt, in denen die „Euthanasie“ offen als Maßnahme negativer Eugenik angepriesen wird (3.). Schließlich werden Autoren besprochen, die sich bereits vor Binding aus juristischer Perspektive mit dem Thema befassten (4.). 1. Frühe neuzeitliche Schriften zur „Euthanasie“84 Vor Adolf Josts Schrift „Das Recht auf den Tod“, die 1895 den Anstoß für eine intensive Diskussion über die Zulassung von „Euthanasie“ gab, finden sich 84 Die „Euthanasie“ hat selbstverständlich antike Vorbilder. Da diese für die Ziele der vorliegenden Arbeit nicht weiter von Bedeutung sind, muss sie sich auf Literatur-
302
3. Teil: „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
nur vereinzelte Schriften zu dem Thema. Den wohl frühesten neuzeitlichen Beitrag lieferte Thomas Morus (1478–1535) 1516 in seiner bekannten „Utopia“.85 Im dort beschriebenen Staat drängen Priester und Mitglieder der Obrigkeit Patienten, deren Krankheit als unheilbar diagnostiziert wurde, zum Freitod oder zur Einwilligung in die Tötung. Ihnen wird erklärt, sie fielen anderen zur Last und sollten daher „nicht darauf bestehen, [ihrer] Krankheit noch länger Gelegenheit geben, [sie] zu verzehren“.86 Willigt der Patient ein, so bringt er sich entweder selbst um oder wird mit seinem Einverständnis betäubt und damit „ohne eine Todesempfindung erlöst“.87 Der so übersetzte lateinische Satzteil „aut sopiti sine mortis sensu solvuntur“ lässt trotz Passivkonstruktion letztlich offen, ob es Morus um die bloße Gabe eines Mittels mit entsprechender Wirkung zur Selbstverabreichung oder um eine aktive Tötung geht.88 In jedem Fall beschreibt Morus ein Drängen auf die „gemeinschaftsdienliche“ Wahl des eigenen Todes unter bestimmten Voraussetzungen. Ob er selbst dieses Modell für wünschenswert hielt, ist nicht abschließend ermittelbar; die literaturgattungprägende Darstellungsform der Utopie lässt auch Raum für andere Interpretationen. Jedenfalls im Sinne eines Denkanstoßes lieferte Morus aber einen ersten nennenswerten Beitrag zur „Euthanasie“-Debatte der Neuzeit. Später geht auch Francis Bacon (1561–1626) in seinem Werk „De Dignitate et Augmentis Scientiarum“ (1623) auf das Thema ein.89 Bacon fordert darin Ärzte auf, nicht nur um die Heilung ihrer Patienten, sondern im Falle der Unheilbarkeit einer Krankheit auch darum bemüht zu sein, „die Sterbenden leichter und friedlicher aus dem Leben scheiden zu lassen.“ 90 Ohne das später bedeutsame Thema einer vom Arzt nicht intendierten, aber möglichen Lebensverkürzung durch die Gabe von Narkotika zu behandeln, wirbt Bacon hier deutlich für eine ärztliche Sterbebegleitung im Sinne einer „[äußerlichen] Euthanasia“ als Gegenstück zum geistlichen Beistand vor dem Tod. Die Ermöglichung eines sanften Todes sieht er als ärztliche Aufgabe. In der nachfolgenden Diskussion des 18. und frühen 19. Jahrhunderts setzt sich dieser Standpunkt Bacons zusehends durch. Zum Streitpunkt entwickelte sich die Frage der Inkaufnahme einer potentiell lebensverkürzenden Wirkung der zur Ermöglichung eines schmerzfreien Todes eingesetzten Narkotika. Die Herbeiführung des sofortigen Todes des Patienten zur Beendigung seines Leids, wie hinweise beschränken. Einen Überblick bietet Benzenhöfer, Der gute Tod?, S. 11 ff. m.w. N. 85 Zur Rolle Morus’ in der „Euthanasie“-Debatte siehe Benzenhöfer, Der gute Tod?, S. 54 ff. m.w. N. 86 Morus, Utopia, S. 93. 87 Vgl. Morus, Utopia, S. 93. 88 Siehe dazu auch Benzenhöfer, Der gute Tod?, S. 57 m. Fn. 10. 89 Siehe dazu Benzenhöfer, Der gute Tod?, S. 58 ff. 90 Bacon, Würde und Förderung der Wissenschaften, S. 237.
A. Die „Euthanasie‘‘-Debatte und ihr historischer Rahmen
303
es in Morus’ „Utopia“ beschrieben ist, stand als mit christlichen Moralvorstellungen unvereinbare Praxis außer Frage und wurde nicht vertreten. Die sich durchsetzende Meinung in der zunehmend von ärztlicher Seite geführten Debatte ging dahin, dass der Arzt bei der Gabe schmerzstillender Mittel dafür Sorge tragen müsse, dass diese keine Lebensverkürzung bewirke.91 Ähnliches lässt sich von deutscher Seite auch bei Christoph Wilhelm Hufeland (1762–1836) lesen.92 Interessant im Hinblick auf die spätere Einordnung der „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ ist die weitere Ausführung seiner Position: Jeder Arzt, der bei einer nicht der Lebensverlängerung dienenden Behandlung das Risiko einer Lebensverkürzung eingehe, fälle eine Wertentscheidung über das betroffene menschliche Leben. Setze man die grundsätzliche Befugnis des Arztes, über den Wert eines Menschenlebens zu entscheiden, jedoch voraus, so drohe der Dammbruch; dann brauche „es nur stufenweise Progressionen, um den Unwerth, und folglich die Unnöthigkeit eines Menschenlebens auch auf andere Fälle anzuwenden.“ 93 Es handelt sich um die wohl erste moderne konsequentialistisch begründete Zurückweisung einer Bewertung menschlichen Lebens.94 1941, mehr als ein Jahrhundert später, wird Clemens von Galen (1878–1946), seinerzeit Bischof von Münster, eben dieses Argumentationsmuster auch in seiner berühmten Reaktion auf das bekannt gewordene „Euthanasie“-Programm der Nationalsozialisten bemühen.95 2. Adolf Josts „Das Recht auf den Tod“ (1895) Mit der 52 Seiten fassenden Schrift „Das Recht auf den Tod“ lieferte der damalige Student Adolf Jost 1895 das erste breit diskutierte Werk, das sich ausschließlich mit der „Euthanasie“ beschäftigt. Es diente, wie zu sehen sein wird, in vielerlei Hinsicht zum Vorbild für den Textbeitrag Bindings in der „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“. In seiner „Socialen Studie“ stellt sich Jost die Frage, ob es „ein Recht auf den Tod für arme geistig oder körperlich kranke Menschen geben könne“ und ob wir nicht „alle eine Pflicht verletzen, wenn wir diese Unglücklichen ihren hoffnungs91 Eine ähnliche Position vertritt bspw. auch der im Übrigen sehr pragmatisch auf das Patientenwohl bedachte niederländische Mediziner Nicolaus Paradys (1740–1812). Die Gabe von Narkotika zur Erleichterung des Sterbens stimme zweifellos „mit dem Geschäfte des Arztes [. . .] überein“, da von der angedachten Dosis keine Verkürzung, eher eine Verlängerung des Lebens zu erwarten sei (Paradys, Neues Magazin für Aerzte 18 (1796), S. 560 (566)). Zu den Protagonisten der Diskussion um die Sterbehilfe in dieser Zeit insgesamt vgl. Benzenhöfer, Der gute Tod?, S. 62 ff. m.w. N. 92 Vgl. hierzu Benzenhöfer, Der gute Tod?, S. 64 ff. m.w. N. 93 Hufeland, Journal der practischen Heilkunde 23, (1806), 3. Stück, S. 15 f. 94 Siehe dazu Benzenhöfer, Der gute Tod?, S. 65. 95 Siehe dazu etwa F.-W. Kersting, in: Kuropka (Hrsg.), Clemens August Graf von Galen, S. 205 ff. und Süss, in: Clemens August von Galen, S. 181 ff.
304
3. Teil: „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
losen Leiden überlassen.“ 96 Es geht ihm dabei nicht etwa um „Recht“ und „Pflicht“ im juristischen, sondern im moralischen Sinne, wie anhand seiner Kritik der bestehenden Rechtslage und seiner Forderung einer Gesetzesreform schnell deutlich wird.97 Systematisch und mit dem Anspruch auf Vollständigkeit98 versucht er aufzuzeigen, dass alles für die Annahme eines solchen „Rechts“ und einer korrespondierenden „Pflicht“, nichts aber dagegen spricht. Der zu führende Kampf richte sich also nicht gegen entgegenstehende Interessen, „sondern nur gegen die Dummheit“.99 Ein zweites, sich daran anschließendes Thema der Arbeit ist die Frage der praktischen Umsetzbarkeit seiner Ergebnisse in der Gesetzgebung. Bereits in der Formulierung der relevanten Fragen lassen sich einige Grundannahmen Josts erahnen, die in der anschließenden Darstellung des „Für und Wider“ eines „Rechts auf den Tod“ deutlicher hervortreten. Er zeigt sich in vielfacher Weise als überzeugter Anhänger des fortschrittsoptimistischen Geistes, der die Entstehungszeit seines Werkes beherrscht. Schon die Gleichsetzung von „Moral“ und „Wohlfahrt der menschlichen Gesellschaft“ 100 zu Anfang seiner Schrift zeigt, dass ihm eine kategorische Moral fremd ist; moralische Fragen werden als Kalkulation des sozialen Nutzens entschieden. Den Geist der neuen Zeit lobt Jost als „natürliche Weltauffassung“, die das „[religiöse] Dogma“ ersetzt habe.101 „Niemals“ würden inzwischen – außerhalb des zu besprechenden Themas – „die Probleme der Metaphysik oder der Religion in die Fragen des praktischen Lebens“ hineingezogen.102 Auch wenn diese Behauptung bis heute, jedenfalls aber für das Jahr 1895 reichlich fragwürdig erscheint, verdeutlicht sie doch, wie fest Jost dem neuen Geist seiner Zeit verpflichtet ist. Die Unhaltbarkeit von Religion und Metaphysik ist ihm geradezu evident. Überdies hält er den Schopenhauerschen Satz, nach dem Mitleid die alleinige Quelle der Moral sei, für bewiesen.103 Allerdings geht es Jost dabei ausschließlich um den moralphilosophischen Ansatz einer (empirischen Beweisen zugänglichen) Mitleidsethik, nicht um die gesamte Moralphilosophie Schopenhauers. Bereits den zweiten wichtigen Baustein der Moralphilosophie Schopenhauers teilt Jost nicht mehr: Die Welt ist ihm kein „Jammertal“,104 ist nicht durch einen unstillbaren „Willen“ aller Dinge zum ewigen Leiden verdammt. Sie ist für ihn 96
Jost, Recht auf den Tod, S. 2. Vgl. Jost, Recht auf den Tod, S. 14, 17, 47. 98 Jost, Recht auf den Tod, S. 5. 99 Jost, Recht auf den Tod, S. 4. 100 Vgl. Jost, Recht auf den Tod, S. 3. 101 Jost, Recht auf den Tod, S. 4. 102 Jost, Recht auf den Tod, S. 10. 103 Vgl. Jost, Recht auf den Tod, S. 4. 104 Vgl. Jost, Recht auf den Tod, S. 12. Die bekannte Beschreibung der Welt als Jammertal findet sich bei Schopenhauer, Welt als Wille und Vorstellung, Bd. 1, S. 326 ff. 97
A. Die „Euthanasie‘‘-Debatte und ihr historischer Rahmen
305
vielmehr ein Gemisch aus Lust und Leid, wie es die Moralphilosophie des Utilitarismus zur Grundlage hat: Den Satz, nach dem „nicht blos die materiellen“, sondern „auch die ideellen Güter der Menschheit [. . .] ihre Bedeutung darin [haben], daß sie Schmerz entfernen oder Lust herbeiführen“, hält er für „selbstverständlich“.105 Er verwahrt sich aber ausdrücklich „gegen den Vorwurf des Pessimismus“ und sei keineswegs der „Auffassung, daß das menschliche Leben nur negativen Werth habe“. Indes bedeute dies nicht, „daß jedes Leben, auch das des unheilbar Kranken des Lebens werth sei.“ 106 Damit setzt Jost die Parameter für die Bearbeitung der eigentlichen Hauptfrage nach einem moralischen „Recht auf den Tod“ und einer korrespondierenden moralischen Pflicht zur Anerkennung dieses Rechts seitens der Gesellschaft. Diese Hauptfrage schränkt Jost auf eine besondere Fallkonstellation ein, die wiederum seine utilitätsbezogene Sichtweise verdeutlicht. So gebe es ersichtlich nur drei denkbare Fälle, in denen ein „Recht auf den Tod“ in Frage stehen könne: ein Interesse sowohl der Gesellschaft als auch des Betroffenen an seinem Tod, ein Interesse nur der Gesellschaft oder aber ein Interesse nur des Betroffenen daran. Josts Untersuchung handelt vor allem vom ersten Fall. Die beiden anderen Fälle hält er für praktisch weit weniger relevant: Habe die Gesellschaft kein Interesse am Tod eines bestimmten Menschen, sei dieser offensichtlich noch nützlich – damit aber auch faktisch in der Lage, sein Leben selbst zu beenden.107 Diskussionen beispielsweise religiöser Natur zur Zulässigkeit eines Selbstmords in diesen Fällen hält Jost für geradezu „tragikomisch“,108 da es keine Mittel gebe, einen gesunden und entsprechend entschlossenen Menschen vom Selbstmord abzuhalten. Für den zweiten Fall, also ein Interesse nur der Gesellschaft am Tod eines Einzelnen, gibt Jost als Beispiele die Todesstrafe und den Einsatz von Soldaten im Krieg an. Zwar erscheint jedenfalls das „gesellschaftliche Interesse“ am Tod der eigenen Soldaten im Kriegsfall eher zweifelhaft. Letztlich kommt es darauf für Jost aber nicht an. Ihm geht es um ein Recht auf den Tod – hier aber werde nur eine Sterbepflicht formuliert.109 In einer gemeinsamen Abwägung versucht Jost nun alle Fälle abzuhandeln, in denen sowohl die Gesellschaft als auch der Betroffene selbst ein Interesse an seinem Tod hätten. Der Selbstmord des für die Gesellschaft vermeintlich unnützen Menschen unterliegt bei ihm derselben Argumentation wie die Tötung von physisch oder psychisch unheilbar Kranken durch Dritte. Diese Argumentation ist deutlich utilitaristisch beeinflusst. Nur zwei Faktoren sollen entscheidend sein: 105 106 107 108 109
Jost, Recht auf den Tod, S. 12 f. Jost, Recht auf den Tod, S. 12. Jost, Recht auf den Tod, S. 8 f. Jost, Recht auf den Tod, S. 9. Jost, Recht auf den Tod, S. 8.
306
3. Teil: „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
„Der erste Factor ist der Werth des Lebens für den betreffenden Menschen selbst, also die Summe von Freude und Schmerz, die er zu erleben hat. Der zweite Factor ist die Summe von Nutzen oder Schaden, die das Individuum für seine Mitmenschen darstellt. Die Fragestellung für das Recht auf den Tod ist jetzt identisch mit der Frage: ,Giebt es Fälle, in welchen beide Factoren negativ werden?‘“ 110
Die Frage ist für Jost leicht beantwortet: Unheilbar Kranke konsumierten „eine beträchtliche Menge materieller Werthe, mehr als der gesunde Mensch“, bildeten „zuweilen auch Ansteckungsherde für ihre Umgebung“, produzierten aber im Gegenzug nichts oder kaum etwas für die Gesellschaft.111 Für die Mitmenschen seien diese Leben daher wertlos. Offenkundig ist daneben auch ein Interesse des Betroffenen am eigenen Tod denkbar. Allerdings hält Jost ein solches Interesse nicht nur bei lebensmüden psychisch gesunden Menschen für gegeben; auch für psychisch unheilbar Kranke sei der Tod jedenfalls dann eine „Wohltat“, wenn ihr Leben mit Qualen verbunden sei.112 Könne man die genannte Frage daher in zahlreichen Fällen bejahen, so müsse man „nicht blos aus Mitleid, sondern auch aus Egoismus das Recht auf den Tod anerkennen, dann giebt es auch ein solches Recht.“ 113 Alle Argumente gegen eine solche Gewährung des „Rechts auf den Tod“ hält Jost für entweder inkonsequent oder sachlich falsch. Beides treffe auf Ansichten zu, die das Menschenleben als einen absoluten Wert verstehen. Falsch sei diese Ansicht schon deshalb, weil es keinen Grund für eine sachliche Unterscheidung des Wertes von Gegenständen und Menschen gebe.114 Stets werde hier mit metaphysisch-religiöser Begründung eine besondere Stellung des menschlichen Lebens innerhalb des Wertesystems vorausgesetzt. Angesichts der für Jost zweifellosen Unhaltbarkeit einer derartigen Sichtweise fragt er: „Mit welchem Rechte wollen wir in unserer Zeit den Werth eines Menschenlebens übernatürlich hoch anschlagen, da wir doch an die Uebernatürlichkeit des Menschen längst nicht mehr glauben? Wie kann man Ideen, die man aus der wissenschaftlichen Theorie hinausgeworfen hat, in der Praxis dulden?“ 115
Selbst wenn man dem menschlichen Leben aber einen solchen Wert zumessen wollte, sei eine solche Begründung nicht konsequent durchzuhalten: Wie bei der grundsätzlichen Frage nach der Tötung eines Menschen nur aus gesellschaftlichem Interesse heraus verweist Jost dazu auf den Kriegsfall, in dem der Staat „indirekt“ sage: „,[M]eine Handlungsbeziehungen sind mir werthvoller als das
110 Jost, Recht auf den Tod, S. 13. Die Formulierung Josts diente Binding in der „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ als Vorlage; vgl. u. S. 358 f. 111 Jost, Recht auf den Tod, S. 17. 112 Vgl. Jost, Recht auf den Tod, S. 16. 113 Jost, Recht auf den Tod, S. 13. 114 Vgl. Jost, Recht auf den Tod, S. 18. 115 Jost, Recht auf den Tod, S. 19.
A. Die „Euthanasie‘‘-Debatte und ihr historischer Rahmen
307
Leben von so und so viel Unterthanen.‘“ 116 Dies geschehe – daran lässt Jost keinen Zweifel – auch zurecht.117 Da man also auch gesunde Menschenleben als abwägungsfähige Werte behandle, müsse man doch erst recht bereit sein, „nutzlose, ja schädliche Glieder der Gesellschaft“ in den Tod zu schicken.118 Es bleibt somit bei einer reinen Interessenkalkulation. Selbst durch die Möglichkeit von Fehldiagnosen unheilbarer Krankheiten sieht er seine Argumentation nicht gestört. Denn es werde sich dabei um wenige Fälle handeln, so dass man sich nur die Frage stellen müsse: „Was haben wir mehr zu berücksichtigen, die nutzlosen Qualen, die Tausende von Unheilbaren erdulden müssen, die Beschwerde und Gefahr, die sie für andere bedeuten, oder – das Leben einiger weniger?“ 119
Wenn einer unter tausend wider Erwarten gerettet würde, so laute die Frage spezieller: „Was konsumiren oder schaden die 999 Sterbenden und was produciert der eine Genesende“? Verglichen mit dem durch die vielen Sterbenden angerichteten „Schaden“ falle der Nutzen, den die Gesellschaft durch einen Genesenden erhält, nicht weiter ins Gewicht.120 Ohnehin würden die wenigen Genesenden „doch in der Regel nie mehr zur vollen Gesundheit und Lebenskraft des Durchschnittsmenschen gelangen“.121 Auch an dieser Stelle wird Jost zum argumentativen Vorbild Bindings.122 Selbst ein konsequentialistisches „Dammbruch“-Argument weist Jost entschieden zurück: Keinesfalls würde die vorgeschlagene Vorgehensweise dazu führen, dass der Respekt vor dem Leben Anderer sinke. Schließlich gehe es ihm um ein „Verfügungsrecht über unser eigenes Leben“, das sicherlich keine „Geringschätzung des Lebens anderer herbeiführen“ könne.123 Wieder beruft sich Jost darauf, es gehe ihm ausschließlich um ein Recht auf den eigenen Tod, nicht aber um das Recht Dritter daran. Schließlich trage auch der religiöse Hinweis auf ein „Herrscherrecht Gottes“ über unser aller Leben nicht, da „nach religiöser Auffassung“ doch alle „Uebel der Welt aus Gottes Schickung hervorgegangen“ seien.124 Das dahinterstehende Theodizee-Problem hält Jost schon für einen ausreichenden und klaren „Beweis gegen das Dasein Gottes selbst.“ 125 Jedenfalls aber müsse innerhalb der religiö116 117 118 119 120 121 122 123 124 125
Jost, Recht auf den Tod, S. 19 f. Vgl. Jost, Recht auf den Tod, S. 20. Jost, Recht auf den Tod, S. 20. Jost, Recht auf den Tod, S. 22. Jost, Recht auf den Tod, S. 23. Jost, Recht auf den Tod, S. 23. Vgl. u. S. 370 f. Jost, Recht auf den Tod, S. 31. Jost, Recht auf den Tod, S. 35. Vgl. Jost, Recht auf den Tod, S. 36.
308
3. Teil: „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
sen Auffassung hierdurch jede Nächstenliebe verboten sein, da sie einen Eingriff in ein Leiden bedeutete, das auf einen göttlichen Willen zurückführbar sei.126 Auch die Ansicht, Gott habe sich ausschließlich „die Entscheidung über Leben und Tod“ vorbehalten, könne nicht durchgehalten werden, zumal auch „die Religionen“ dem Staat das Recht zusprächen, „gegebenen Falles politischer Interessen wegen das Leben vieler zu vernichten.“ 127 Wiederum wird also der Vergleich mit dem Kriegsfall als Argument bemüht. Da somit keiner der für Jost überhaupt denkbaren Gegenargumente durchdringt, sei das zuvor ermittelte „Recht auf den Tod“ unter den beschriebenen Umständen anzuerkennen, das heißt sowohl für Selbstmorde, als auch für die Tötung physisch oder psychisch kranker Menschen. Zugrunde liegt stets eine objektive Ermittlung des Interesses der Gemeinschaft am Tod des Einzelnen und eine ebenso objektive Ermittlung des Interesses jenes Einzelnen am eigenen Tod. Subjektive Faktoren spielen lediglich bei der Frage der Einwilligung eine Rolle, die Jost als von der Interessenabwägung zu unterscheidende notwendige Voraussetzung ansieht, insoweit der Betroffene einwilligungsfähig ist. Josts Hinweis, er frage nach einem Verfügungsrecht über das eigene Leben, wenn es weder für den Betroffenen noch für die Gemeinschaft einen Wert habe,128 verschleiert, dass der autonomen Entscheidung des Einzelnen in seiner Schrift überhaupt kein eigenständiger Wert beigemessen wird. Deutlich wird dies immer dann, wenn es nicht um den Selbstmord oder die Tötung einwilligungsfähiger unheilbar physisch Kranker geht, sondern um die Tötung psychisch unheilbar kranker Menschen, die keinen entsprechenden Willen bilden oder kundgeben können. In diesen Fällen beschränkt sich die Prüfung Josts auf die Ermittlung der objektiven Interessen von Gemeinschaft und Einzelnem; eine Einwilligung sei nur bei physisch Kranken nötig.129 Bei psychisch Kranken gehe die „Verwaltung“ des vermeintlichen „Rechts“ „wieder auf den Staat zurück und es genügt die Diagnose auf Unheilbarkeit an und für sich, die Tötung zu vollziehen.“ 130 Damit wird die gesamte Systematik des Werks auf einmal konfus: Ausdrücklich möchte Jost keine staatlich geforderte Sterbepflicht formulieren, vehement wehrt er sich gegen den Vorwurf, seine Ideen führten zu einer Erosion des Respekts vor dem Leben Anderer, weil es doch stets um eine autonome Entscheidung gehe.131 Hier aber stellt sich das angebliche „Recht auf den Tod“ als schlichte objektive Interessenermittlung dar, die für die Entscheidung über Leben und Tod eines Menschen allein maßgeblich sein soll. 126 127 128 129 130 131
Vgl. Jost, Recht auf den Tod, S. 35. Jost, Recht auf den Tod, S. 35 f. Jost, Recht auf den Tod, S. 7 f. Jost, Recht auf den Tod, S. 28. Jost, Recht auf den Tod, S. 32. Jost, Recht auf den Tod, S. 31.
A. Die „Euthanasie‘‘-Debatte und ihr historischer Rahmen
309
Diese objektive Interessenkalkulation verläuft in zweierlei Richtungen. Zum einen wird intern mangels Zugriffsmöglichkeit auf einen subjektiven Willen das objektive Interesse des Betroffenen am Weiterleben bewertet, das aber im Falle einer schweren und unheilbaren geistigen Krankheit für Jost stets einen Nullwert ergibt. Weiterhin erfolgt eine externe Berechnung, in der die Interessen der Gemeinschaft aufgelistet werden. Die Argumente auf staatlicher Seite umfassen dabei Faktoren vom Ressourcenverbrauch des Kranken bis zum „deprimierende[n] Einfluß auf die Gemüther in seiner Nähe.“ 132 Inwieweit ein Interesse des psychisch unheilbar Kranken am Leben noch beachtlich sein soll, wie schwer also die psychische Erkrankung sein muss, um ihm das (nun vollauf zynische) „Recht“ ohne weiteres und im Ergebnis allein aufgrund einer externen Interessenabwägung zusprechen zu können – zu all diesen Fragen äußert sich Jost nicht. Ob schon die psychische Krankheit an sich für Jost ein „Leiden“ bedeutet, das zu einem solchen „Recht“ verhilft, oder ein tatsächliches Unwohlsein des Kranken vorliegen muss, von dem dieser erlöst werden soll, wird ebenfalls nicht geklärt. In jedem Fall wandelt sich durch den Verzicht auf die Einwilligung und die feststellbare Dominanz der staatlichen Interessen das „Recht“ zu sterben an dieser Stelle deutlich zu einer Sterbepflicht. So tritt das Wertesystem Josts offen zutage: Ist eine unheilbare psychische Krankheit erst einmal festgestellt, fokussiert die utilitaristische Interessenabwägung vor allem das Externe, den Nutzen der Gemeinschaft. Da Jost absolute Werte ablehnt, kann auch der autonomen Entscheidung des Kranken kein solcher beigemessen werden. Deutlich wird dies auch, wenn die Möglichkeit von Fehldiagnosen handstreichartig mit dem Argument abgefertigt wird, dass die Interessenkalkulation unter Bezugnahme auf die vielen anderen, richtig als unheilbar diagnostizierten Menschen immer noch aufgehe. Dass in diesen Einzelfällen die objektive Interessenermittlung auch innerhalb des utilitaristischen Denkens nicht auf einen „Nullwert“ hinausläuft und dass im Falle des physisch Kranken die Einwilligung nur unter dem Eindruck der fehlerhaften Diagnose geschehen ist – all dies spielt bei Jost keine gewichtige Rolle, solange nur die Zulassung des „Rechts auf den Tod“ gesamtgesellschaftlich mehr genutzt als geschadet habe. Auch das Einwilligungserfordernis bei der Tötung einwilligungsfähiger Menschen kann daher im Denken Josts nicht etwa einem besonderen Wert der Privatautonomie geschuldet sein. Es ist zu verstehen als kulturelle Notwendigkeit. Obwohl sie nach der Systematik des im Grunde sehr einfachen Konsequentialismus Josts eigentlich angezeigt gewesen wäre, war die Tötung eines Anderen gegen dessen erklärten Willen auch für ihn nicht vorstellbar. Wie weit dieses kulturelle Erfordernis reichen und bis zu welchem Grad der psychischen Erkrankung ein Wille beachtlich sein soll, ist allerdings vollkommen den zukünftigen kulturellen 132
Jost, Recht auf den Tod, S. 23.
310
3. Teil: „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
Entwicklungen preisgegeben und ruht auf keinerlei theoretischem Fundament. Deutlich wird dies, wenn er sich der praktischen Umsetzbarkeit seiner Idee in der Gesetzgebung widmet. Eine zeitnahe Umsetzung seiner Ideen hält er durchaus nicht für undenkbar, rät aber, Schritt für Schritt vorzugehen: Die Tötung psychisch Kranker, die ja ohne Einwilligung vollzogen werden müsste, solle erst später einen Rechtfertigungstatbestand erhalten.133 Der Mangel eines entsprechenden Willens des Betroffenen im Fall der Tötung psychisch Kranker sieht Jost lediglich als ein zeitweiliges kulturelles Hindernis. Schärferen Ansichten sind also Tür und Tor geöffnet. 3. „Euthanasie“ als negative Eugenik: Haeckel und Ploetz Die „Lebenswunder“ von 1904 sind neben den „Welträthsel[n]“ das wohl bekannteste Werk Haeckels. Das Buch ist konzipiert als Beantwortung verschiedener, zumeist biologischer Fragestellungen, die Haeckel in den „Welträthsel[n]“ unberücksichtigt gelassen hatte und die nach seinem Bekunden Auslöser zahlreicher Leseranfragen waren.134 Die „Lebenswunder“ sollen daher nicht mehr der Erörterung von „Grundfragen der Naturerkenntnis – als kosmologische Probleme“ und damit der eigenen Naturphilosophie Haeckels dienen.135 Das Werk widmet sich stattdessen den Problemen der „organischen Naturwissenschaft“ im Zusammenhang mit jener Philosophie.136 Des Weiteren reagierte Haeckel mit dem Werk auch auf zwei Bücher des Kieler Biologen Johannes Reinke (1849– 1931),137 in denen dieser einen dualistischen Standpunkt und dessen Vereinbarkeit mit der modernen Biologie vertreten hatte. Aussagekräftig für die spätere Beschäftigung mit der Freigabeschrift sind insbesondere zwei Stellen im ersten, methodischen Teil. Bereits zu Anfang des Werks fordert Haeckel die Zulassung der Tötung geistig oder körperlich behinderter Neugeborener, „wie sie z. B. die Spartaner behufs der Selection des Tüchtigsten übten“.138 Ein solches Verhalten scheint ihm vernunftmäßig geboten. Ein besonderer Respekt vor menschlichem Leben könne dem nicht entgegenstehen, zumal Neugeborene generell noch nicht die Eigenschaften besäßen, die diesen Respekt erst rechtfertigen könnten. Sowohl Selbstbewusstsein als auch Vernunft entwickelten sich schließlich erst in späteren Stadien des menschlichen Lebens. In der unmittelbar postnatalen Phase könne man aber von einem „,Sitz der
133
Jost, Recht auf den Tod, S. 47. Vgl. Haeckel, Lebenswunder, S. VII f.; auf dem Titelblatt wird das Werk daher als „Ergänzungsband“ zu den „Welträtsel[n]“ beschrieben. 135 Haeckel, Lebenswunder, S. VIII. 136 Haeckel, Lebenswunder, S. VIII. 137 „Die Welt als That“, 1899 und „Einleitung in die theoretische Biologie“, 1901. 138 Haeckel, Lebenswunder, S. 23. 134
A. Die „Euthanasie‘‘-Debatte und ihr historischer Rahmen
311
Seele‘ [. . .] ebenso wenig sprechen, wie von einem ,menschlichen Geiste‘, als Inbegriff des Denkens und Erkennens, des Begreifens und Bewußtseins.“ 139 Zunächst impliziert Haeckel also, dass das konkrete Vorhandensein dieser Eigenschaften in der betreffenden Person den einzigen vernünftigen Grund für einen rechtlichen Lebensschutz darstellt. Da es aber selbstverständlich nicht sein Anliegen ist, die Tötung Neugeborener generell von Strafe zu befreien, begründet er den grundsätzlichen Lebensschutz von Menschen in dieser Phase durch deren spätere „Nützlichkeit“ für ihre Mitmenschen. In Bezug auf die Tötung „verkrüppelter“ Neugeborener „behufs der Selection des Tüchtigsten“ besteht deshalb für Haeckel keine argumentative Grundlage für einen rechtlichen Lebensschutz. Eine Revision des Strafrechts in diesem Sinne hält er daher für erforderlich. Da die Eigenschaften, die das „Menschsein“ gegenüber animalischen Lebensformen hervorhebe und erst ausmache, noch nicht vorhanden seien, könne eine Tötung der betroffenen Kinder „vernünftigerweise gar nicht unter den Begriff des ,Mordes‘ fallen“.140 Ist die Fähigkeit zur Selbstreflexion und damit auch die Vernunftbegabung eines Menschen nicht gegeben, soll sein Lebensschutz also ausschließlich Zweckmäßigkeitserwägungen anheim gegeben werden. Noch deutlicher wird Haeckels Vorstellung einer eugenisch motivierten „Euthanasie“ an späterer Stelle. Abermals werden dort die Spartaner für die Praxis der Tötung geistig oder körperlich behinderter Kinder gelobt. Allein dieser Sitte „verdankten [sie] einen großen Theil ihrer hervorragenden Tüchtigkeit, sowohl körperlicher Kraft und Schönheit, als geistiger Energie und Leistungsfähigkeit“.141 Haeckels nach eigenem Bekunden schon 1868 erstmals vorgetragenen Ansicht sei man jedoch mit einem „Sturm der Entrüstung entgegnet, wie jedesmal, wenn die ,reine Vernunft‘ es wagt, den herrschenden Vorurtheilen und traditionellen Glaubenssätzen der öffentlichen Meinung entgegen zu treten.“ 142 Die Vernunft gebietet es also für Haeckel, die Frage nach der Schutzwürdigkeit dieser Menschen auf eine reine Nutzenkalkulation zu reduzieren. Ausdrücklich fragt er: „Welchen Nutzen hat die Menschheit davon, daß die Tausende von Krüppeln, die alljährlich geboren werden, Taubstumme, Kretinen, mit unheilbaren erblichen Uebeln Belastete u.s.w. künstlich am Leben erhalten und groß gezogen werden? Und welchen Nutzen haben diese bemitleidenswerthen Geschöpfe selbst von ihrem Leben? Ist es nicht viel vernünftiger und besser, dem unvermeidlichen Elend, das ihr armseliges Leben für sie selbst und ihre Familie mit sich bringen muß, gleich von Anfang an den Weg abzuschneiden?“ 143
139 140 141 142 143
Haeckel, Lebenswunder, S. 23. Haeckel, Lebenswunder, S. 23. Haeckel, Lebenswunder, S. 135. Haeckel, Lebenswunder, S. 135 f. Haeckel, Lebenswunder, S. 136.
312
3. Teil: „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
Für Haeckel ist diese Frage natürlich nur noch rhetorisch. Entlang der dargestellten Grundlinien für eine eugenisch motivierte Tötung Neugeborener entscheidet er auch die Frage der Behandlung erwachsener Kranker. Er plädiert für eine Vorgehensweise, die der von Jost vorgetragenen ähnelt: Körperlich schwer Kranken soll danach auf ihren Wunsch hin eine schmerzlose Tötung gewährt werden.144 Psychisch unheilbar Kranke hingegen sollten allein aufgrund eines Beschlusses „einer Commission von zuverlässigen und gewissenhaften Aerzten“ durch eine Überdosis Morphium getötet werden.145 Interessanterweise stützt Haeckel – auch insoweit ganz wie Jost – seine Argumentation zusätzlich mit dem Hinweis, die Tötung der Menschen in den beschriebenen Fällen sei ein Akt des Mitleids. Im Gegensatz zu Jost beruft er sich hierzu jedoch nicht auf Schopenhauer, sondern versteht das Mitleidsgebot im Sinne seiner monistischen Naturphilosophie. Diese ist im Grunde deskriptiv und sieht das moralische Empfinden als Bestandteil unserer Erbanlagen. Da das angeblich evolutionär herausgebildete Moralempfinden die Überlebensfähigkeit einer Gemeinschaft von Menschen erhöhe und damit auch ihren weiteren evolutionären Fortschritt ermögliche, seien seine Erfordernisse als Gebote zu betrachten.146 Dieser deutliche Sein-Sollen-Fehlschluss bildet die Grundlage der gesamten Moralphilosophie Haeckels. Das auf eine Erbanlage reduzierte Moralempfinden begründet seine weiteren Thesen. Teil unserer menschlichen Erbanlagen und damit auch Inhalt dieser Moral sei das Mitleid. Ein in diesem Sinne natürliches Mitleid zeige sich beispielsweise, wenn man liebgewonnene, aber unheilbar kranke und unter Schmerzen leidende Haustiere von ihren Qualen erlöse.147 Dass bei Menschen nicht genauso verfahren werde, sei hingegen Ausdruck religiös tradierter Moral. Die Voraussetzung eines transzendentalen Gottes – und damit eines Dualismus – kann Haeckel als überzeugter Monist natürlich nicht teilen; wie Jost genügt auch ihm bereits das Theodizee-Problem als abschließender Beweis der Nichtexistenz Gottes.148 Haeckels seltsamer Hinweis, auch das (wahre) Christentum teile seine Position,149 ist nichts anderes als der Versuch, auch überzeugten Christen einen Weg zu seinen Thesen zu weisen. Das präsentierte „Christentum“ verneint die Existenz eines transzendentalen Gottes und ist inhaltlich identisch mit dem Moralempfinden, das Haeckel in unseren Erbanlagen vermutet. Das darin enthaltene „Mitleidsgebot“ verleihe uns „das Recht, oder wenn
144 145 146 147 148 149
Haeckel, Lebenswunder, S. 135. Haeckel, Lebenswunder, S. 135. Siehe dazu schon o. S. 297 ff. Haeckel, Lebenswunder, S. 131 f. Vgl. Haeckel, Lebenswunder, S. 134. Vgl. Haeckel, Lebenswunder, S. 136.
A. Die „Euthanasie‘‘-Debatte und ihr historischer Rahmen
313
man will die Pflicht, den schweren Leiden unserer Mitmenschen ein Ende zu bereiten“.150 Auch Ploetz, ebenso Mitglied im Monistenbund, findet im „Die Tüchtigkeit unsrer Rasse und der Schutz der Schwachen“ betitelten ersten Teil seines Werks zu den „Grundlinien der Rassenhygiene“ (1895) lobende Worte für die Praxis der Spartaner. Wie einst Thomas Morus trägt er diese in Form einer „Utopie“ vor. In ihr solle deutlich werden, „welch’ ein Bild etwa eine Gesellschaft [. . .] darbieten würde“, die gemäß Ploetz’ „Forderungen zur möglichst raschen Vermehrung und Vervollkommnung einer Rasse“ eingerichtet wäre.151 Die Funktionsweisen dieser Gesellschaft werden anhand eines fiktiven Ehepaars erläutert, „dem die Fortpflanzung auf Grund ihrer Qualitäten [. . .] erlaubt war“.152 Ihre gesamte „Lebensführung [. . .] ist beherrscht von der Rücksicht auf die Erzeugung guter Kinder“, weshalb sie alle Anstrengungen sowohl für ihre Gesundheit als auch die besagter Kinder unternähmen.153 Sobald die Ehefrau schwanger sei, werde sie „als höchst wichtige Persönlichkeit betrachtet“ und entsprechend umsorgt.154 Sollte das neugeborene Kind trotz dieser Anstrengungen „ein schwächliches oder missgestaltetes Kind“ sein, so werde „ihm von dem Ärzte-Collegium, das über den Bürgerbrief der Gesellschaft entscheidet, ein sanfter Tod bereitet, sagen wir durch eine kleine Dose Morphium.“ 155 Das Ehepaar, das Ploetz sich in seinem Gedankenexperiment vorstellt, verzagt über diesen Schicksalsschlag „in strenger Achtung vor dem Wohl der Rasse“ nicht lange, und versucht es „frisch und fröhlich ein zweites Mal“ – vorausgesetzt freilich, den beiden sei „dies nach ihrem Zeugniss über Fortpflanzungsbefähigung erlaubt“.156 Sollte aber ein „gutes Kind“ im Sinne Ploetz’ aus der Verbindung dieses Paares hervorgehen, so sei ein vordringliches Ziel seiner Erziehung, bei diesem „einen starken Sinn für das Rassewohl zu erwecken.“ 157 Neigt sich die Erziehung des Kindes dem Ende zu, würde es einer allgemeinen Prüfung unterzogen, die seine Fähigkeiten misst.158 Das Ergebnis dieser Prüfung laute dann „nicht bloss gut, genügend, ungenügend etc., sondern auch: darf keine, eines, zwei, drei oder mehr Kinder zeugen in einer Ehe, die eventuell eingegangen wird.“ 159 Einer erteilten Erlaubnis zur Ehe und zur Fortpflanzung aber folge die „Zuchtwahl“, die etwa durch die Einrichtung 150
Haeckel, Lebenswunder, S. 132. Ploetz, Die Tüchtigkeit unsrer Rasse, S. 143; vgl. zum Beitrag Ploetz’ auch Benzenhöfer, Der gute Tod?, S. 77 ff. 152 Ploetz, Die Tüchtigkeit unsrer Rasse, S. 144. 153 Ploetz, Die Tüchtigkeit unsrer Rasse, S. 144. 154 Ploetz, Die Tüchtigkeit unsrer Rasse, S. 144. 155 Ploetz, Die Tüchtigkeit unsrer Rasse, S. 144. 156 Ploetz, Die Tüchtigkeit unsrer Rasse, S. 144. 157 Ploetz, Die Tüchtigkeit unsrer Rasse, S. 145. 158 Ploetz, Die Tüchtigkeit unsrer Rasse, S. 145. 159 Ploetz, Die Tüchtigkeit unsrer Rasse, S. 145. 151
314
3. Teil: „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
„gemeinsame[r] Seebäder“ staatlich zu fördern sei.160 Die Anzahl der Kinder, die eine Ehe hervorbringen dürfe, solle sich nach dem Durchschnitt dieser Fortpflanzungserlaubnis der Eltern bemessen, wobei Ploetz großzügigerweise aufzurunden bereit ist.161 Menschen, die bei dem erwähnten Test zu schlecht abschnitten, sei schon die Ehe zu verbieten.162 Auch außerhalb des Eherechts werden in der Utopie Ploetz’ rechtliche Vorkehrungen getroffen, die einen fairen „Kampf ums Dasein“ und damit optimale Voraussetzungen für die „Höherentwicklung“ bieten sollen: Das Erbrecht solle weitgehend abgeschafft werden, um nicht schwächere Nachkommen zu bevorteilen;163 soziale Hilfen dürften nur ausnahmsweise gewährt werden, damit die offenbar unvorteilhaften Erbanlagen der Verlierer im „ökonomischen Kampf“ durch die „ausjätenden Schrecken“ der Armut aus der Gesellschaft getilgt würden;164 die Wehrpflicht solle gerade auch die Schwächeren erfassen, die dann im Krieg vor allem dort einzusetzen seien, „wo man hauptsächlich Kanonenfutter braucht.“ 165 Ploetz gibt noch weitere Beispiele, die zur Verdeutlichung seiner Grundhaltung jedoch nichts Weiteres beitragen können. Offenkundig ist, dass der erwähnte „sanfte Tod“ bestimmter Neugeborener bei ihm als Teil eines großangelegten eugenischen Programms gedacht ist. Was nun die Darstellungsform der Utopie angeht, stellt Ploetz zwar gleich zu Anfang des Abschnitts klar, dass diese aus Sicht „gewisser darwinistischer Kreise“ und damit von einem „einseitigen, durchaus nicht allein berechtigten Standpunkt aus“ entworfen sei.166 Sein anschließender Vorschlag eines „realistischen Kompromiß“ 167 bezeichnet Benzenhöfer jedoch zurecht als „wohl eher nolens als volens“.168 Die Rassenhygiene ist für Ploetz im Ganzen eine Forderung der Vernunft, die nicht mehr zu rechtfertigenden Traditionen gegenüberstehe.169 Sein ganzer Lebensweg – von seinen wissenschaftlichen Publikationen über die Gründung des „Archivs für Rassen- und Gesellschaftsbiologie“ (1904) und die Organisation verschiedener Geheimbünde zur Beförderung der Rassenhygiene bis hin zu seinem Einfluss auf die frühe Rassenpolitik des Dritten Reichs170 – 160
Ploetz, Die Tüchtigkeit unsrer Rasse, S. 146. Ploetz, Die Tüchtigkeit unsrer Rasse, S. 145. 162 Ploetz, Die Tüchtigkeit unsrer Rasse, S. 145. 163 Ploetz, Die Tüchtigkeit unsrer Rasse, S. 147. 164 Ploetz, Die Tüchtigkeit unsrer Rasse, S. 146 f. 165 Ploetz, Die Tüchtigkeit unsrer Rasse, S. 147. 166 Ploetz, Die Tüchtigkeit unsrer Rasse, S. 143 f. 167 Ploetz, Die Tüchtigkeit unsrer Rasse, S. 230. 168 Benzenhöfer, Der gute Tod?, S. 78. 169 So Ploetz, Die Tüchtigkeit unsrer Rasse, S. 147 über die „Pflege der Kranken, Blinden, Taubstummen, überhaupt aller Schwachen“. 170 Ploetz war Mitglied im 1933 einberufenen „Sachverständigenbeirat für Bevölkerungs- und Rassenpolitik“. 161
A. Die „Euthanasie‘‘-Debatte und ihr historischer Rahmen
315
zeugt von einem unbedingten Willen zur möglichst konsequenten Umsetzung seiner rassenhygienischen Vision. Wenn er also von einem „nicht allein berechtigten Standpunkt“ der Rassenhygiene spricht, so kann dies als Beschwichtigungsversuch aufgefasst werden, der Kritiker besänftigen und einer Abschreckung moderaterer potentieller Anhänger vorbeugen soll. Der Versuch ist insofern demjenigen Haeckels nicht gänzlich unähnlich, der das Christentum mit eugenisch motivierter „Euthanasie“ vereinbaren zu können vorgibt. Denkbar ist auch, dass Ploetz auf die Berechtigung bestimmter Facetten unseres Moralempfindens – womöglich wie bei Haeckel als Teile der menschlichen Erbanlagen – hinweisen will, die eine allzu modellgetreue Umsetzung seiner Utopie unmöglich macht und damit zu gewissen Rücksichtnahmen zwingt. Es wäre jedoch ein Fehler, Ploetz’ einleitenden Hinweis als Disponibilität der in der Utopie zutage getretenen Prinzipien zu verstehen. Sein Anliegen ist eine möglichst konsequente Umsetzung dieser Prinzipien, die bereits als erste Vorzeichen des rassehygienischen Geistes des Dritten Reiches gesehen werden müssen.171 4. Schriften mit juristischem Fokus172 Schon die Schrift „Das Recht auf den Tod“ (1895) des damaligen Psychologiestudenten Jost weist auch eine juristische Argumentation auf. Bis zur Veröffentlichung der „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ im Jahre 1920 folgen noch eine Reihe genuin juristischer Beiträge zur „Euthanasie“-Debatte, deren zumeist sehr ähnliche inhaltliche Linie hier wiedergegeben werden soll. Die Beiträge lassen sich in ihrer Mehrzahl als eher gemäßigt beschreiben. Fast ausschließlich beschränken sich die Autoren auf eine interne Interessenabwägung für den Fall der Einholbarkeit einer Einwilligung – und damit auf den kulturell noch am ehesten vermittelbar erscheinenden Fall der „Euthanasie“. Innerhalb dieser Abwägung wird in der Regel beides für erforderlich gehalten: das subjektive Empfinden einer Wertlosigkeit des restlichen Lebens, kundgegeben durch das eindeutige Verlangen einer Tötung, und eine objektive Wertlosigkeit der Restlebensspanne, die in der Diagnose einer unheilbaren Krankheit oder Verletzung bestehen soll, welche jede Form des Lebensgenusses durch zu erwartende Schmerzen unmöglich machte. Mehrmals wird der schon bei Haeckel vorzufindende Vergleich mit der Mitleidstötung eines Tieres bemüht: „Dem Hunde einen
171
Vgl. etwa Ploetz, Die Tüchtigkeit unsrer Rasse, S. 49 f., 130 ff. u. 202 ff. Wilutzky, Das Recht 5 (1901), S. 458; Käubler, Mittheilungen über die Verhandlungen des ordentlichen Landtags im Königreiche Sachsen, 1. Kammer (1901/02), S. 55 f.; Röder, Beilage zur Allgemeinen Zeitung 1904, Nr. 130, S. 433 ff.; Dosenheimer, Das monistische Jahrhundert 4 (1915), S. 66 ff. und Elster, ZStW 36 (1915), S. 595 ff. 172
316
3. Teil: „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
Gnadenstoß, dem Menschen keinen“.173 Allgemein beruft man sich auf das Mitleidsmotiv und gibt zu diesem Zweck das teilweise ungeheure Leiden Sterbender im Detail wieder.174 Auch die später bei Binding/Hoche bekannt gewordene Terminologie des „lebensunwerten Lebens“ findet sich bereits 1901 in einer ähnlichen Wendung als „das nicht mehr lebenswerte Leben (vita non jam vitalis)“.175 Teilweise wird argumentiert, die Beendigung eines solchen Lebens auf Wunsch des Kranken oder Verletzten widerspreche nicht mehr ohne Weiteres dem Rechtsgefühl der Allgemeinheit, sondern sei vielmehr Gegenstand einer sich langsam ändernden Wertvorstellung.176 Auch handle es sich, wie verschiedentlich hervorgehoben wird, bei der Zulassung der aktiven Tötung eines Menschen nicht um einen juristischen Prinzipienbruch. Die Vorlage Josts ist deutlich spürbar, wenngleich er in keinem der zitierten Beiträgen genannt wird: Der Staat lasse Tötungen längst in den Formen der Todesstrafe und kriegerischer Auseinandersetzungen zu.177 Es gehe daher lediglich um die Legalisierung eines weiteren Falls der Tötung eines Menschen. Schließlich glaubt man auch, der Gefahr eines hier naturgemäß besonders folgenschweren Missbrauchs Herr werden zu können. Die bereits bekannte Forderung nach einem Gremium von Ärzten und einem strengen behördlichen Verfahren zur Feststellung der jeweilig befürworteten Voraussetzungen einer Tötungszulassung wird mehrfach wiederholt. Ein Missbrauch soll durch das Erfordernis der Einstimmigkeit dieses Gremiums ausgeschlossen werden.178 Nur vereinzelt finden sich Stimmen, die auch externe Faktoren bei der Bewertung des Wertes eines Menschenlebens beachten wollen. Sehr deutlich in diese Richtung äußert sich Elster, der Jost insofern am nächsten steht. Zwar scheint auch er sich schlussendlich auf Fälle eines Tötungsverlangens neben einer behaupteten objektiven Wertlosigkeit der Restlebenszeit für den Kranken beschränken zu wollen. Einzelne Formulierungen ließen jedoch auch andere Schlüsse zu:
173 So der Titel eines Beitrags des Oberlandesgerichtsrats Wilutzky, Das Recht 5 (1901), S. 458. Auf diese Weise argumentiert auch der Invalide Jakob Richters in einer Petition an den Sächsischen Landtag im Jahr 1902, vgl. Käubler, Mittheilungen über die Verhandlungen des ordentlichen Landtags im Königreiche Sachsen, 1. Kammer (1901/ 02), S. 55 f. 174 Vgl. z. B. die Darstellungen bei Wilutzky, Das Recht 5 (1901), S. 458 und bei Röder, Beilage zur Allgemeinen Zeitung, 1904, Nr. 130, S. 433 (434). 175 Wilutzky, Das Recht 5 (1901), S. 458. 176 So bspw. Dosenheimer, Das monistische Jahrhundert 4 (1915), S. 66 (66 f.). 177 So am ausführlichsten Röder, Beilage zur Allgemeinen Zeitung, 1904, Nr. 130, S. 433 ff. Ähnlich auch Dosenheimer, Das monistische Jahrhundert 4 (1915), S. 66 (68) und Elster, ZStW 36 (1915), S. 595 (596). 178 Röder, Beilage zur Allgemeinen Zeitung 1904, Nr. 130, S. 433 (434); Elster, ZStW 36 (1915), S. 595 (596 f.); in dieselbe Richtung zielt wohl auch der Beitrag Dosenheimers, Das monistische Jahrhundert 4 (1915), S. 66 (68).
A. Die „Euthanasie‘‘-Debatte und ihr historischer Rahmen
317
„Selbstverständlich nicht lediglich das verlorene Privatinteresse am Leben kann und darf hier zur Begründung der Tötungsermächtigung herangezogen werden, sondern Forderungen in allgemeinem Interesse“.179
Es müsse der Satz gelten: „Das Leben weicht höheren Rücksichten!“ 180 Was diese höheren Rücksichten sein sollen, wird alsbald deutlich: Die Tötung solle dort zugelassen werden, wo es „aus ethischen, zivilisatorischen, rassenbiologischen oder ähnlichen Gründen [. . .] erforderlich erscheint.“ 181 Wiederum mit Verweis auf ein bestehendes Todesverlangen des Betroffenen führt Elster an späterer Stelle, die in ihrem Wortlaut nicht recht zu einem solchen Verlangen passen will, hinzu: „[D]ie gesellschafts-biologischen, eugenischen, sozialhygienischen Tendenzen fordern sogar vielfach die Beseitigung lebender Ansteckungsherde, und verlangen keineswegs den wirtschaftlichen und psychischen, oft auch physischen Niedergang einer ganzen Familie infolge unheilbaren Siechtums eines ihrer Angehörigen!“ 182
Eine besondere Achtung vor dem Leben des betroffenen Menschen werde schon deshalb nicht gefährdet, weil sie als solche gar nicht mehr existiere. Das gesellschaftliche Interesse gehe inzwischen vielmehr „auf Gesundung und Stärkung hin, es hat von der Erhaltung wirklich wertlos gewordener Leben gar nichts“.183 Schließlich handle es sich um „Leben, das im Sinne hohen Persönlichkeitsgefühls und schaffenden Persönlichkeitsrechtes kaum eines mehr ist“.184 Gerade derjenige, der das Leben besonders achte, müsse sich daher für die Vernichtung solchen Lebens aussprechen.185 Elster stellt damit in einer ansonsten vergleichsweise gemäßigten juristischen Literatur zum Thema „Euthanasie“ vor der Freigabeschrift eine Ausnahme dar. So fordert er in einer mit Jost vergleichbaren Weise deutlich die Beachtung externer Faktoren bei der Entscheidung über die Zulassung einer aktiven Tötung kranker Menschen. Die Formulierungen an manchen Stellen ließen kaum vermuten, dass seine Ausführungen sich auf Fälle von Todesverlangen unheilbar kranker oder verletzter Menschen beschränken.186 Insbesondere die Anmerkungen zur 179
Elster, ZStW 36 (1915), S. 595 (596). Elster, ZStW 36 (1915), S. 595 (596). 181 Elster, ZStW 36 (1915), S. 595 (596). 182 Elster, ZStW 36 (1915), S. 595 (597). 183 Elster, ZStW 36 (1915), S. 595 (597). 184 Elster, ZStW 36 (1915), S. 595 (597). 185 Elster, ZStW 36 (1915), S. 595 (597: „Setzen wir nicht das wertlose Leben ein, wird uns das wertvolle Leben nicht gewonnen werden!“). 186 So auch Hanauer, Therapeutische Monatshefte 31 (1917), S. 107 (111), der den Wechsel von der internen zur externen Betrachtungsweise bei Elster genau bemerkt und dazu ausführt: „[B]ewusst oder unbewusst behandelt er ein ganz neues Problem, er versteht unter Euthanasie etwas ganz anderes, als man bisher verstanden hat, denn für ihn handelt es sich gar nicht darum, den Sterbenden die letzten Qualen zu erleichtern, um ihm persönlich damit einen Dienst zu tun, vielmehr will er den unheilbar Kranken [. . .] 180
318
3. Teil: „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
Eugenik oder zur „Sozialhygiene“ könnten ebensogut auf Fälle bezogen sein, in denen eine Einwilligungsfähigkeit nicht mehr besteht. Auch der Verweis auf ein „kaum“ noch bestehendes Persönlichkeitsgefühl des zu tötenden Menschen deutet stark in diese Richtung. Ohne den Schritt bereits an dieser Stelle187 zu gehen, liefert Elster so doch alle wesentlichen Argumentationsstränge zur Tötung einwilligungsunfähiger Menschen, wie sie vor ihm bei Jost gefordert worden war und nach ihm bei Binding und Hoche gefordert werden wird.
IV. Reaktionen auf die Forderungen nach Zulassung der „Euthanasie“ Sämtliche Argumente, die sich später in komprimierter Form als Reaktion auf die „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ finden, lassen sich auch schon in den Erwiderungen auf die genannten Schriften vor Binding/Hoche ausmachen. Erwartbar ist die Erwiderung von christlich-religiöser Seite, die dem menschlichen Leben kategorisch einen Eigenwert beimisst (1.). Areligiöse Begründungen eines solchen Werts fallen schwerer. So überrascht es nicht, dass sich derlei Argumentationen eher auf die faktische Anerkennung eines solchen Werts berufen und seine Herleitung dahinstehen lassen (2.). Schließlich warnen viele Kommentare vor den praktischen Konsequenzen einer Zulassung der „Euthanasie“ (3.). 1. Religiöse Erwiderungen Der natürliche Gegner einer Zulassung der „Euthanasie“ in jedem denkbaren Umfang war und ist die christlich-religiöse Seite. Ihre Argumentationsweise erlaubt es, einen absoluten Lebensschutz als kategorische Wertentscheidung aufzustellen; aus ihrer Perspektive ist es daher schlicht nicht notwendig, auf eine wissenschaftlich überprüfbare Besonderheit zu verweisen, die das menschliche Leben über das tierische erhebt und ihm insofern eine besondere Würde verleiht. Die besondere Würde des Menschen beruht für sie auf einer offenbarten göttlichen Entscheidung, die den Wert menschlichen Lebens unabhängig von konkreten Eigenschaften über tierisches erhebt und so einen besonderen Schutz rechtfertigt. Auf diesen gegenüber der gesamten übrigen Debatte unterschiedlichen
ausmerzen, um damit vor allem den Angehörigen und der Allgemeinheit zu nützen.“ Entsprechend zeigt sich Hanauer, ebd. hinsichtlich der Ausmaße der von Elster angestrebten Zulassung der „Euthanasie“ irritiert: „Wenn Elster in diesem Zusammenhang von Beseitigung lebender Ansteckungsherde aus biologischen und sozialhygienischen Gründen spricht, so ist uns dies nicht recht verständlich. Uns ist wohl die Tötung von Tieren aus Gründen des Seuchenschutzes bekannt, zur Tötung von Menschen ist man nicht einmal in der Vergangenheit zum Zwecke der Beseitigung von ansteckenden Krankheiten gelangt.“ 187 Siehe aber die späteren Äußerungen Elsters, ZStW 44 (1924), S. 130 ff.
A. Die „Euthanasie‘‘-Debatte und ihr historischer Rahmen
319
Ausgangspunkt weist Grübler treffend hin, wenn er von einem „Konflikt zwischen dem ,Wert des Lebens‘ und der ,Heiligkeit des Lebens‘“ schreibt.188 Auch Gegner einer Zulassung der „Euthanasie“, die im Wesentlichen areligiös argumentieren, bemühen häufig zusätzlich einen traditionell-christlichen Standpunkt. Beispielsweise erinnert der Jurist und Bautzener Oberbürgermeister Konrad Johannes Käubler (1849–1924) in seinem Bericht über eine Petition für die Zulässigkeit der „Euthanasie“ die Mitglieder des Sächsischen Landtags an die Haltung des Christentums in der Frage: „Das Leiden des Menschen ist ein anderes als das Leiden des Tieres; wir betrachten das Leiden als eine von dem höchsten Lenker der Geschicke des Menschen auferlegte Prüfung, und den Menschen dieser Prüfung zu entziehen, zu entrücken, einzugreifen in den Arm des Schicksals, dazu hat vom ethischen Standpunkte aus weder der Leidende selbst, noch ein anderer Sterblicher, sei er noch so mitleidig, eine Berechtigung.“ 189
In ähnlicher Manier stellt schließlich auch der Arzt Sticker fest, dass niemandem das Recht zustehe, über sein eigenes Leben zu verfügen – gleichgültig, ob der Tod durch eigene oder fremde Hand herbeigeführt werden soll.190 2. Areligiöse Argumentationen mit dem Wert des menschlichen Lebens Gegen religiöse Einwände standen und stehen den Befürwortern der rechtlichen Zulassung von „Euthanasie“ zahlreiche argumentative Wege zur Verfügung. Wie wir bereits sahen, verstiegen sich einige gar mittels der Verzerrung christlicher Grundsätze zu der These, die „Euthanasie“ sei mit der christlichen Religion problemlos vereinbar. In der Regel aber wird die entgegenstehende traditionellreligiöse Meinung nicht geleugnet, sondern als überholte Metaphysik einem angeblich rationalen und wissenschaftlich fundierten Ansatz gegenübergestellt. Das Argumentationsschema verläuft diesbezüglich stets gleich: Um endgültig aus der dunklen, von Aberglaube und Metaphysik beherrschten Vergangenheit herauszutreten, müssten die Menschen sich zukünftig an rationalen Maßstäben und empirisch überprüfbaren Ergebnissen orientieren. Religiöse Ansichten hätten danach zwar ihre Berechtigung im privaten Bereich, sollten aber in einer modernen Gesellschaft nicht zur Grundlage gesetzlicher Regelungen werden, die stark leidenden Menschen eine aus Mitleid gebotene Erlösung versagten. Die dargestellte Sichtweise entspricht somit weitgehend der populären, szientistischen Geisteshaltung der Jahre vor Binding/Hoche.
188
Grübler, in: ders. (Hrsg.), Euthanasie-Diskussion 1895–1941, S. 11 (18). Käubler, Mittheilungen über die Verhandlungen des ordentlichen Landtags im Königreiche Sachsen, 1. Kammer (1901/02), S. 55 (56). 190 Sticker, Hochland 2 (1904), S. 616 (619 f.). 189
320
3. Teil: „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
Um dennoch einen uneingeschränkten Lebensschutz zu rechtfertigen, musste ein besonderer Wert des menschlichen Lebens auch abseits der Religion gefunden werden. Dieser wird auch vielfach postuliert; interessanterweise verzichten die Gegner einer Zulassung der „Euthanasie“ jedoch auf seine theoretische Herleitung. In zahlreichen Schriften wird vielmehr darauf verwiesen, dass die bestehende Rechtsordnung einen solchen Wert auch als areligiös begründet anerkenne: Für die allgemeine Rechtsanschauung stehe ein „Rechte der Allgemeinheit, über die Lebensbefugnis des einzelnen zu entscheiden“, völlig außer Frage.191 Jeder Mensch sei ein Teil der Gemeinschaft, zu deren Schutz die Rechtsordnung berufen sei: „[E]in Gesetz zu schaffen, das ein Menschenleben gefährdet, indem es die Möglichkeit einer vorzeitigen Vernichtung desselben offen lässt, hiesse das Fundament zu untergraben, auf welchem das Gebäude des Staates ruht.“ 192
Auf einen Gemeinschaftssinn, der „dem Verlangen des einzelnen auf Untergang als einer antisozialen Forderung“ gegenüberstehe, geht auch Kaßler ein, dessen kurzer Aufsatz „Das Recht auf Sterbehilfe (Euthanasie)“ 1915 hohe Wellen schlug.193 Obwohl Kaßler letztlich ebenfalls eher auf die tatsächliche gesellschaftliche Anerkennung eines besonderen Werts des menschlichen Lebens hinaus will,194 lässt er mit dem Bild eines „antisozialen“ Todesverlangens auch eine alte, aristotelische und eigentlich gegen den Suizid gerichtete Argumentation anklingen.195 Damit liefert Kaßler eine der eher seltenen Begründungen für einen absoluten Lebensschutz auch jenseits der Religion. In größerer Zahl lassen Autoren die Begründbarkeit des besonderen Lebensschutzes aber offen dahinstehen und verweisen auf gesetzgeberische Grenzen, die durch das Rechtsgefühl der Allgemeinheit gezogen würden.196 Beispielhaft 191
Bozi, Das monistische Jahrhundert 2,1 (1913), S. 576 (579). Oppler, Das Recht 5 (1901), S. 510; ähnlich Stenglein, Die Krankenpflege 1 (1901/02), S. 351 (355). Einen besonderen Wert menschlichen Lebens impliziert auch Hanauer, Therapeutische Monatshefte 31 (1917), 107 (111) aus, wenn er die Tötung von Menschen aus externen, „biologischen oder sozialhygienischen Gründen“ ablehnt, die nur bei Tieren eine Rolle spielen könnten. 193 Kaßler, DJZ 20 (1915), Sp. 203 (203 f.). 194 Vgl. Kaßler, DJZ 20 (1915), Sp. 203 (204). 195 Nach Aristoteles steht es dem Menschen als z Áµon politikün nicht frei, sich selbst oder einen anderen Menschen aus dem Gemeinwesen zu entfernen. Den Suizid behandelt er folglich als Ungerechtigkeit gegenüber der staatlichen Gemeinschaft (vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, V, 1138a). Die argumentative Linie wird schließlich von Thomas von Aquin (Summa Theologica II-II, quaestio 64, 5) wiederaufgegriffen und so unter christlichen Gelehrten popularisiert. Siehe dazu ausführlich Murray, Suicide, Bd. 2, S. 229 ff. 196 So widerspreche gemäß Kaßler, DJZ 20 (1915), Sp. 203 (204) die „Befugnis [. . .], einen Mitmenschen, wenn auch noch so schmerzlos und aus dem tiefsten Mitleid heraus zu töten, [. . .] so sehr dem Rechtsempfinden des Menschen, dass der Gesetzgeber ein solches Recht auf Tötung keinem Menschen zusprechen darf.“ 192
A. Die „Euthanasie‘‘-Debatte und ihr historischer Rahmen
321
kommentiert Alfred Bozi (1857–1938), der Gesetzgeber habe darauf zu achten, ob eine Reform in die „lebendigen Rechtsanschauungen der Gegenwart“ hineinpasse. Denn „Rechtssätze sind [. . .] Formen für die tatsächlichen Beziehungen der Gemeinschaftsgenossen untereinander und zu der Gemeinschaft. Sie sollen nicht das theoretisch ,richtige‘, sondern die tatsächlich herrschenden Anschauungen zum Ausdruck bringen“.197 Schon aus diesem Grunde spricht er sich strikt gegen eine Zulassung der „Euthanasie“ in jedem Umfang aus. 3. Missbrauchsgefahr und Feststellbarkeit der Tatbestandsvoraussetzungen Die Vorschläge der „Euthanasie“-Befürworter wurden auch mit Blick auf die Konsequenzen einer solchen Gesetzesänderung abgelehnt. Zum einen seien die Voraussetzungen für die Zulassung von „Euthanasie“ selbst im geringsten denkbaren Umfang nie mit letzter Sicherheit feststellbar. „[D]ie Feststellung, ob der Fall so liegt, dass eine Tötung in jenem Sinne zulässig sei“, biete „die größten Schwierigkeiten“ zumal in diesen Extremsituationen des menschlichen Lebens „der Affekt, die augenblickliche Wallung [. . .] eine sehr große Rolle“ spiele.198 Da angesichts der Folgen aber nur eine mit hundertprozentiger Sicherheit gegebene Diagnose ausreichen könne, wird die „Feststellung der Voraussetzungen“, die ein solches Gesetz enthalten müsste, zuweilen „nach jeder Richtung hin [. . .] für ein Ding der Unmöglichkeit“ gehalten.199 Für den Arzt sei angesichts der Konsequenzen einer Fehldiagnose schon die Aufgabe einer solchen Feststellung eine Zumutung.200 Gerade von ärztlicher Seite wird vor diesem Hintergrund vielfach deutliche Kritik an den Vorschlägen geäußert. Hanauer gibt in seiner Reaktion auf den genannten Beitrag Elsters das Meinungsbild der Ärzte wie folgt wieder: „Es ist falsch, wenn er annimmt, dass sie [sc. die Euthanasie] die Ärzte nur aus juristischen Gründen ablehnen, sie lehnen sie ebensowohl aus ethischen, humanitären wie aus medizinischen Gründen ab“. Überhaupt sei es „merkwürdig, dass, während sonst die Juristen vielfach über das ärztliche Wissen und Können sehr geBei Stenglein, Die Krankenpflege 1 (1901/02), S. 351 (356) lässt sich daneben auch die zirkelschlüssige Behauptung finden, die vorgeschlagenen Gesetzesreformen beruhten „auf dem irrigen Grundsatz“, dem Einzelnen stehe eine Verfügungsmacht über sein eigenes Leben zu. Er verweist hierzu auf § 216 RStGB (Die Krankenpflege 1 (1901/ 02), S. 351 (353 f.)). Würde den Vorstellungen einiger Befürworter der „Euthanasie“ entsprochen, wäre die Folge freilich gerade eine solche Verfügungsmacht in einem gewissen Umfang. 197 Bozi, Das monistische Jahrhundert 2,1 (1913), S. 576 (576). 198 Käubler, Mittheilungen über die Verhandlungen des ordentlichen Landtags im Königreiche Sachsen, 1. Kammer (1901/02), S. 55 (56). 199 Oppler, Das Recht 5 (1901), S. 510. 200 Olshausen, Medizinische Klinik 8 (1913), S. 1918.
322
3. Teil: „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
ringschätzig urteilen, sie hier der ärztlichen Kunst mehr zutrauen, als sie kann.“ „Ärztliche Irrtümer“ seien schließlich immer möglich, „selbst wenn der Ausspruch des dreigliedrigen Ärztekollegiums sich in einmütigem Sinne ausspricht“.201 Der Arzt Sticker bezweifelt sogar, ob es Fälle, in denen ein beachtlicher Todeswunsch ausgesprochen wird, überhaupt gebe: „Wo sind denn diese zahllosen Unglücklichen, die aus dem Leben sehnlichst hinaus verlangen?“ 202 Er für seinen Teil sei in seiner zwanzigjährigen Tätigkeit nie mit einem ernsthaften Todesverlangen konfrontiert worden – „außer in flüchtigen Augenblicken verminderten Bewusstseins“.203 Daneben sei auch die Missbrauchsgefahr einer gesetzlichen „Euthanasie“-Zulassung nicht von der Hand zu weisen. Fast sämtliche Gegner der „Euthanasie“ bemängeln in der einen oder anderen Form die „ungeheure Gefahr, dass unter der Beihülfe eines vielleicht nur leichtfertigen, wenn nicht gewissenlosen Arztes (ein jeder Stand hat seine zweifelhaften Elemente) ein unbequemes Menschenleben beseitigt werden könnte“.204 Schließlich wird in einem klassischen Dammbruch-Argument auch eine Erosion der allgemeinen Achtung vor menschlichem Leben in Aussicht gestellt, sollten sich die Befürworter der „Euthanasie“ durchsetzen. Dieses „allgemeine menschliche, soziale und staatliche Gebot der Achtung und Erhaltung des Lebens des Mitmenschen“ sei schließlich „ungleich wichtiger und wertvoller, als die private Rücksicht auf das erloschene Lebensinteresse des einzelnen.“ 205
V. Abschließende Bemerkungen zum Streitstand vor Binding/Hoche Die frühen Gegner einer Zulassung der „Euthanasie“ decken bereits fast das gesamte argumentative Spektrum der modernen Diskussion ab. Aus heutiger Sicht tritt im Wesentlichen eine weitere Komponente hinzu, die in den besprochenen Beiträgen naturgemäß nicht berücksichtigt werden konnte, jetzt aber als ein zentrales Argument gegen die Zulassung jeder Form der „Euthanasie“ genutzt wird: Die historischen Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus zeigen überdeutlich die besondere Gefahr einer Aufweichung des absoluten Lebensschutzes. 201
Hanauer, Therapeutische Monatshefte 31 (1917), S. 107 (112). Sticker, Hochland 2 (1904), S. 616 (617). 203 Sticker, Hochland 2 (1904), S. 616 (617). 204 So Oppler, Das Recht 5 (1901), S. 510. Ähnlich auch Käubler, Mittheilungen über die Verhandlungen des ordentlichen Landtags im Königreiche Sachsen, 1. Kammer (1901/02), S. 55 (56), Sticker, Hochland 2 (1904), S. 616 (620) und Kaßler, DJZ 20 (1915), Sp. 203 (204). 205 Kaßler, DJZ 20 (1915), Sp. 203 (204). Ähnlich Bozi, Das monistische Jahrhundert 2,1 (1913), S. 576 (579). 202
B. Entstehung der „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
323
Die hohen Opferzahlen durch die nationalsozialistische „Aktion T4“ 206 führen nicht etwa die Gefahr des Einzelmissbrauchs einer echten Euthanasieregelung, sondern eines Missbrauchs des Euthanasiebegriffes selbst plastisch vor Augen; sie verleihen dem Kritikpunkt der Missbräuchlichkeit und der möglichen Erosion der allgemeinen Achtung vor dem menschlichen Leben eine neue Dimension. Schon die frühe „Euthanasie“-Debatte darf aus heutiger Sicht als Hinweis auf diese Gefahr gewertet werden: Die vereinzelt auftretenden Vermischungen externer und interner Interessen am Tod eines Menschen fallen nur wenigen auf 207 und werden stets unter der Überschrift der „Euthanasie“ mitdiskutiert.
B. Entstehung der „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ Die genauen Gründe, die Binding dazu bewogen, die „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ zu verfassen, sind nicht bekannt und lassen sich wohl auch nicht mehr rekonstruieren. Es bleibt diesbezüglich letztlich bei Spekulationen, die vor allem um das Leid in der Zeit des Ersten Weltkriegs und den politischen Zusammenbruch an dessen Ende kreisen.208 Tatsächlich ist gut vorstellbar, dass Binding in seiner nationalen Gesinnung die Tötung vor allem der geistig Kranken als eine Art Bündelung der verbliebenen Kräfte Deutschlands nach dem verlorenen Krieg für notwendig befand. Auch eine Stelle in der Freigabeschrift weist in diese Richtung.209 Daneben legen einzelne Tagebucheinträge Bindings Derartiges nahe.210 Nagler, ein Schüler Bindings, berichtet in einem umfangreichen Nachruf auf seinen von ihm hochverehrten Lehrer ferner von dessen besonderer Stimmungslage zur Zeit der Entstehung der „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“. Binding sei in dieser Zeit bereits ohne jeden Lebensmut gewesen – auf diese Gemütslage führt Nagler das letzte Werk seines Lehrers zurück.211 Die Bedeutung des fortgeschrittenen Alters Bindings und sei206 Die sog. Hartheimer Statistik gibt allein die Summe der Vergasten („Desinfizierten“) mit 70.273 an. Siehe dazu und zu den nach Abbruch der „Aktion T4“ in einer zweiten Welle getöteten kranken und behinderten Menschen E. Klee, ,Euthanasie‘, S. 263 ff., 280 ff. m.w. N. 207 Eine Ausnahme bildet der Beitrag Hanauers, Therapeutische Monatshefte 31 (1917), S. 107 (111), der äußerst präzise auf diesen Perspektivwechsel hinweist. Siehe dazu o. Fn. 186. 208 Vgl. Hammon, Freigabe, S. 91 ff. m.w. N. 209 Binding/Hoche, Freigabe, S. 27: „Denkt man sich [. . .] ein Schlachtfeld bedeckt mit Tausenden toter Jugend [. . .] und stellt man in Gedanken unsere Idioteninstitute mit ihrer Sorgfalt für die lebenden Insassen daneben – und man ist auf das tiefste erschüttert von diesem grellen Mißklang zwischen der Opferung des teuersten Gutes der Menschheit im größten Maßstabe auf der einen und der größten Pflege nicht nur absolut wertloser, sondern negativ zu wertender Existenzen auf der anderen Seite.“ 210 Siehe dazu Hammon, Freigabe, S. 94 f. 211 Vgl. Nagler, GS 91 (1925), S. 1 (40).
324
3. Teil: „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
ner Sorge um das Wohl der Nation für die Entstehung der Freigabeschrift wird darüber hinausgehend nicht mit letzter Sicherheit geklärt werden können. Über einen anderen Umstand verschafft die erst kürzlich erschienene, erstmalige Auswertung der Tagebuchaufzeichnungen Bindings in der Dissertation Kathrin Hammons zur Freigabeschrift nun allerdings Klarheit:212 Werner Leibbrand hatte 1946 die Behauptung aufgestellt, Bindings Beitrag zur „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ sei als selbständiges Werk unter demselben Titel bereits 1913 erschienen.213 Auslöser war wohl ein Eintrag im Literaturverzeichnis des Werkes „Euthanasie“ von Fritz Barth (1924), in dem dieser die Freigabeschrift auf 1913 datierte, Hoche allerdings als Mitautor aufführte.214 Nicht mehr aufzuklären ist daher, wie es zur Vermutung einer selbständigen Publikation des Beitrags Bindings kam. Der Behauptung Leibbrands schlossen sich in der Folgezeit mit Winau,215 Schmuhl,216 Seidler217 und schließlich Hattenhauer218 zahlreiche weitere Autoren bis in die jüngste Vergangenheit an. Die Datierung auf 1913 passt nicht zu den Aufzeichnungen Bindings, in denen er für den 21.12.1919 unter anderem vermerkt: „Ich schreibe an Hoche, ich sei mit meinem Aufsatz fertig“.219 Schon aus den zuvorigen Einträgen zur Fertigstellung seines Beitrags geht recht deutlich hervor, dass dieser erst 1919 verfasst wurde. Allem Anschein nach handelt es sich beim früheren Datum also wirklich um eine Fehldatierung, die auf jenen einzelnen fehlerhaften Eintrag in einem Literaturverzeichnis zurückzuführen ist. Es ist davon auszugehen, dass Bindings Beitrag erstmals postum in der Erstauflage der „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ erschien. Die Schrift war schnell vergriffen, so dass sie bereits 1922 ein zweites Mal in unveränderter Form aufgelegt wurde.
C. Inhalt der „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ Nach einer einleitenden Darstellung bisheriger Interpretationen der Freigabeschrift (I.) kann nun ihr Inhalt detailliert dargestellt und analysiert werden. Dabei 212
Vgl. Hammon, Freigabe, S. 90 f. Vgl. Leibbrand, in: ders. (Hrsg.), Menschenrechte der Geisteskranken, S. 10 (11). 214 Der genaue Eintrag bei Barth, Euthanasie, S. 87 lautet: „Binding-Hoche: Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Leipzig 1913“. 215 In: Bleker/Jachertz (Hrsg.), Medizin im Dritten Reich, S. 162 (164). 216 Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie, S. 117. 217 Freiburger Universitätsblätter 25 (1986), Heft 94, S. 65 (72). 218 Europäische Rechtsgeschichte, Rn. 2127. 219 Binding, Kleineres und Größeres aus meinem Leben, Freiburg i.B. 1917–1920, Deutsches Literaturarchiv in Marbach am Neckar, Eintrag: 21.12.1919; siehe dazu Hammon, Freigabe, S. 91 f. 213
C. Inhalt der „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
325
werden die Ausführungen Bindings im Mittelpunkt stehen (II.). Der Beitrag Hoches wird anschließend vor allem auf seine inhaltliche Vereinbarkeit mit dem Bindingschen Teil überprüft werden (III.). Auf dieser Grundlage wird dann untersucht, inwieweit bisherige Einordnungsversuche mit dem ermittelten Inhalt der Schrift im Einklang stehen (IV.). Schließlich wird die Freigabeschrift in den historischen Rahmen der „Euthanasie“-Diskussion eingeordnet (V.).
I. Einleitung: Die bisherige Einordnung der „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ In der Sekundärliteratur zu Binding/Hoche lassen sich grob drei Standpunkte ausmachen, die massiv auf das Verständnis und die historische Einordnung der Freigabeschrift rückwirken. Als herrschend scheint sich die Interpretation Nauckes etabliert zu haben, nach der Binding durch die zweckgerichtete Verwendung einer bestimmten juristischen Methodik versucht habe, eine Tötungsfreigabe bereits nach geltendem Recht zu begründen (1.). Eine andere Lesart versteht Binding/Hoche vor allem als wirkungsmächtigen Beitrag zur Eugenik (2.). Andere Beiträge der Sekundärliteratur legen nahe, dass die historische Bedeutung der Freigabeschrift weniger in ihrem konkreten Inhalt zu sehen sei, der sich von anderen Werken der Zeit kaum abhebe; die historische Bedeutsamkeit verdanke die Schrift eher der schieren Autorität ihrer Verfasser (3.). 1. De lege lata freigegebene Tötungen Bereits erwähnt wurde die Sichtweise Nauckes, die auf einem bestimmten, schon seit längerem von ihm vertretenen Verständnis der Normentheorie fußt. Danach sei die Freigabeschrift der Versuch, die Straflosigkeit der Vernichtung dort als „lebensunwert“ bezeichneten Lebens de lege lata darzulegen.220 Das solle vor allem über Sozialnormen erreicht werden, die nach der Bindingschen Normentheorie den Inhalt der Strafgesetze maßgeblich mitbestimmten.221 Da nach einer so geschaffenen Sozialnorm für Binding die Tötung eines Menschen, dessen Leben keinen Wert mehr habe und der keinen Lebenswillen mehr aufbringe, keine Tötung sei, liege auch keine Tötung im Rechtssinne vor. Die Tötung eines solchen Menschen falle daher aus dem Schutzbereich der §§ 211 ff. RStGB heraus. Sowohl das Lehrbuch Klaus F. und Hans C. Röhls zur „Rechtstheorie“ in der dritten Auflage als auch Hammon in ihrer Dissertation zur Freigabeschrift schließen sich dieser Lesart an.222 220
Vgl. Naucke, in: Czeguhn u. a. (Hrsg.), Eugenik und Euthanasie, S. 71 (72). Vgl. Naucke, in: Czeguhn u. a. (Hrsg.), Eugenik und Euthanasie, S. 71 (74 f.). 222 K. F. Röhl/H. C. Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 225; Hammon, Freigabe, S. 72 f. Hammon verweist a. a. O., Fn. 478 überdies auf Schumann, in: Riha (Hrsg.), Freigabe, S. 35 (56), die dort allerdings lediglich Bindings Behauptung der strafrechts221
326
3. Teil: „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
Bereits zuvor tendierten einige Autoren zu einer solchen Interpretation. Zu nennen ist etwa Eduard Seidler, der 1986 in einer Arbeit zu Hoche eher beiläufig den Inhalt der Freigabeschrift referiert und der Ansicht zu sein scheint, Binding behaupte die Straflosigkeit der Tötung aller darin beschriebener Personengruppen bereits nach geltendem Recht.223 Etwas deutlicher gelangt Ulf Bade 1988 in seiner Untersuchung über den „Arzt an den Grenzen von Leben und Recht“ zu einem solchen Schluss.224 Sowohl Binding als auch Hoche hielten danach „die Vernichtung ,lebensunwerten Lebens‘ für zulässig.“ Als Beleg wird aus Bindings Beitrag zur Freigabeschrift zitiert, in dem es ausdrücklich heißt: „So muß die Handlung als unverboten betrachtet werden, auch wenn das Gesetz ihrer gar nicht im Sinne der Anerkennung Erwähnung tut.“ 225
Unter Anführung eines Zitats aus demselben Abschnitt schreibt ferner Lukas Vörös in seiner Diplomarbeit zum Thema „Kinder- und Jugendeuthanasie zur Zeit des Nationalsozialismus am Wiener Spiegelgrund“, Binding behaupte, „dass die Ermordung Behinderter keine ,Tötungshandlung im Rechtssinne‘ sei, sondern ,nur eine Abwandelung der schon unwiderruflich gesetzten Todesursache‘.“ 226 Eine Sichtweise, die besonders der später von Naucke vorgetragenen ähnelt, zeigt schließlich Monika Frommel in der ihrer 1987 veröffentlichten Habilitationsschrift. Sie verweist auf den Abschnitt in der Freigabeschrift,227 der auch für das Verdikt Bades und Vörös’ herangezogen wird, um einen vermeintlich starken Einfluss von Sozialnormen auf das Recht in Bindings Normenlehre zu belegen. Etwas vorsichtiger als die genannten Autoren, aber auch inhaltlich etwas unklar behauptet Frommel ferner, Binding bereite dort „seine rechtspolitischen Forderungen [. . .] durch die extensive Deutung der Rechtfertigungsgründe, d.h. der weitgehenden Straflosigkeit der Euthanasie schon nach geltendem Recht“ vor.228 Ihr abschließendes Urteil, Binding betreibe „[verdeckte] Kriminalpolitik mit dogmatischen Mitteln“,229 weist wiederum deutlich in die spätere Stoßrichtung Nauckes.
dogmatischen Stimmigkeit einer weitergehenden Freigabe herausstellt. Dass im Bindingschen Beitrag eine Gesetzesänderung hierfür gar nicht erforderlich sein soll, schreibt Schumann an keiner Stelle. 223 Vgl. Seidler, Freiburger Universitätsblätter 25 (1986), Heft 94, S. 65 (72). 224 Vgl. Bade, Arzt, S. 44. 225 Binding/Hoche, Freigabe, S. 19. Das Zitat stammt allerdings aus einem Abschnitt in Bindings Beitrag, der von Tötungen handelt, die jetzt wenigstens größtenteils in den Bereich sogenannter „indirekter aktiver Sterbehilfe“ fallen – und damit auch heute nicht als Totschlag oder gar Mord geahndet würden. Siehe dazu ausführlich u. S. 345 ff. 226 Vörös, Kinder- und Jugendeuthanasie, S. 23 unter Berufung auf Binding/Hoche, Freigabe, S. 18. 227 Siehe Frommel, Präventionsmodelle, S. 76. 228 Frommel, Präventionsmodelle, S. 76. 229 Frommel, Präventionsmodelle, S. 76.
C. Inhalt der „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
327
2. Eugenik in der Freigabeschrift Eine weitere Lesart sieht Binding/Hoche vor allem im Zeichen des Sozialdarwinismus und der Eugenik – und steht damit nicht in grundsätzlichem Widerspruch zur bereits besprochenen Einordnung. So meint Fichtner, die „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ sei „durch sozialdarwinistisches Gedankengut geprägt.“ 230 Verwiesen wird vor allem auf ein Zitat Hoches, in dem dieser die Gesellschaft mit einem „menschliche[n] Organismus“ vergleicht, der „im Interesse der Wohlfahrt des Ganzen auch einzelne wertlos gewordene oder schädliche Teile oder Teilchen preisgibt und abstößt.“ 231 Noch deutlicher äußert sich Hoche an anderer Stelle, wenn er beklagt, dass es „bisher nicht möglich gewesen, auch nicht im ernste versucht worden ist, [Schwächlinge aller Sorten] von der Fortpflanzung auszuschließen.“ 232 In ähnlicher Weise behauptet Gämmerler in einem Aufsatz zur sogenannten Früheuthanasie etwas pauschal: „Namentlich Binding und Hoche rechnen zu diesen Fällen die unheilbar Geschädigten, die sich schon im Zustande einer Art ,geistigen Todes‘ befinden. Die Beseitigung dieser ,Blödsinnigen‘ liege im Volksinteresse, ihre Tötung erfolge aus eugenischen Gründen.“ 233 3. Die Autorität Bindings und Hoches und ihre Bedeutung für die historische Einordnung der Freigabeschrift Eine dritte Interpretationsweise verweist nicht auf einen in irgendeiner Hinsicht von vorangegangenen „Euthanasie“-Forderungen zu unterscheidenden Inhalt der Freigabeschrift, sondern sieht Binding/Hoche vor allem aufgrund der besonderen Autorität der Autoren als Kulminationspunkt älterer Entwicklungen. So hebt beispielsweise Benzenhöfer in seiner Arbeit zur Geschichte der „Euthanasie“ hervor, dass Binding und Hoche die vorgetragene rechtspolitische Forderung mit ihrem „Rang und Namen“ versahen und ihr auf diese Weise neuen Auftrieb verschaffen konnten;234 eine trickreiche juristische Wendung, mittels derer eine Straflosigkeit der „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ schon de lege lata vertreten wird, erkennt er darin nicht. Auch Fichtner lässt sich neben dem beschriebenen Verweis auf sozialdarwinistische Züge des Werks dementsprechend ein.235 Schipperges fordert ausdrücklich, Binding und Hoche nicht als „Pioniere der
230
Fichtner, in: Eser (Hrsg.), Suizid und Euthanasie, S. 24 (29). Binding/Hoche, Freigabe, S. 56; der Verweis findet sich bei Fichtner, in: Eser (Hrsg.), Suizid und Euthanasie, S. 24 (29). 232 Binding/Hoche, Freigabe, S. 55. Siehe dazu u. S. 375 f. 233 Gämmerler, in: Arthur Kaufmann (Hrsg.), Moderne Medizin und Strafrecht, S. 161 (163). 234 Vgl. etwa Benzenhöfer, Der gute Tod?, S. 89. 235 Vgl. Fichtner, in: Eser (Hrsg.), Suizid und Euthanasie, S. 24 (25). 231
328
3. Teil: „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
Euthanasie“, sondern als „formalistische[n] Abschluss“ einer längeren ideengeschichtlichen Entwicklung zu sehen.236 Im genannten Sinn ist auch Engischs Werk „Euthanasie und Vernichtung lebensunwerten Lebens in strafrechtlicher Beleuchtung“ zu verstehen. Er diskutiert darin nüchtern die vorgebrachten Argumente Bindings und Hoches und hält die Autoren für „verantwortungsbewusst, ehrlich überzeugt, human gesinnt und das Gute wollend“.237 Als methodisches Kuriosum hätte die Behauptung einer Freigabemöglichkeit bereits nach der lex lata eine intensive Besprechung Engischs erwarten lassen. Stattdessen wird sie mit keinem Wort erwähnt. Engisch behandelt die Schrift als einen strafrechtlichen Reformvorschlag und argumentiert entsprechend. So bekräftigt er den ärztlichen Berufsethos und wendet sich gegen das klassische Argument einer angeblichen Ressourcenverschwendung durch die Unterbringung geistig Kranker oder Behinderter.238 Kurzum: Engisch kritisiert die „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ nicht in einem streng juristischen Kontext, sondern liefert Argumente zur Gestaltung des zukünftigen Rechts.
II. Bindings „Rechtliche Ausführung“ Viele der tragenden Argumente in der „Euthanasie“-Debatte wurden bereits vor Binding/Hoche vorgebracht. Im Folgenden soll nun in einer detaillierten Analyse des Bindingschen Beitrags zur „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ unter anderem ermittelt werden, inwieweit dieser neue hinzufügte. Darüber hinaus soll der bislang strittige Inhalt der Schrift geklärt werden, wobei auf bisherige Einordnungen an den entsprechenden Stellen Bezug genommen wird. Die „Rechtliche Ausführung“ Bindings in der „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ wird von einer einzelnen Frage beherrscht: „[S]oll die unverbotene Lebensvernichtung, wie nach heutigem Rechte – vom Notstand abgesehen –, auf die Selbsttötung des Menschen beschränkt bleiben, oder soll sie eine gesetzliche Erweiterung erfahren und in welchem Umfange?“ 239
Dieser Fragestellung wird systematisch nachgegangen. Aus ihr erklärt sich der gesamte Bindingsche Abschnitt. Nach der Reihe werden zwei Unterfragen beantwortet, in die sich die obige Frage zerlegen lässt. Zunächst erklärt Binding, inwieweit nach seiner Sicht des geltenden Rechts die Tötung eines Menschen überhaupt „unverboten“ sei. Wie bereits erläutert wurde, enthält sich die Rechts-
236 237 238 239
Schipperges, in: Eser (Hrsg.), Suizid und Euthanasie, S. 13 (21). Vgl. Engisch, Euthanasie, S. 36. Engisch, Euthanasie, S. 36 ff. Binding/Hoche, Freigabe, S. 5.
C. Inhalt der „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
329
ordnung nach Bindings Sichtweise in Fällen der „Unverbotenheit“ einer Bewertung des Geschehens.240 Auf den bis heute andauernden Streit hierzu kommt es indes an dieser Stelle nicht an: Es geht Binding lediglich um den Verlauf des Verbots; die konkrete dogmatische Einordnung des Bereichs jenseits dieses Verbots ist insofern irrelevant. Die Frage nach dem Umfang des Verbots beantwortet Binding gewissermaßen von beiden Seiten her: In einem ersten Punkt wird der Bereich der jedenfalls unverbotenen Tötungen näher beschrieben. Es werden also bestimmte Ausnahmesituationen diskutiert, in denen die Tötung eines Menschen nach der Rechtsansicht Bindings bislang keinem Verbot unterfallen soll (1.). Umgekehrt vom Verbotsbereich ausgehend sollen Bindings Ausführungen zu § 216 RStGB anschließend einen Blick auf den Grenzverlauf zwischen verbotener und unverbotener Tötung ermöglichen (2.). Es wird sich zeigen, dass sein besonderes Verständnis dieses Privilegierungsgrundes in gleich mehrfacher Hinsicht seine späteren Ausführungen zur „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ präjudiziert. Der damit komplettierte Blick Bindings auf die geltende Rechtslage wird in einem kurzen Zwischenergebnis festgehalten werden (3.). Die in der Folge behandelte Entscheidung über die „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ bildet die zweite große Frage und das eigentliche Hauptanliegen Bindings: Sollte es beim dargestellten Rahmen des Tötungsverbots bleiben oder sollte es „eine gesetzliche Erweiterung“ der Tötung geben (4.)?241 1. Nach geltendem Recht „unverbotene“ Tötungen Zwei von drei Fallgruppen „unverbotener“ Tötungen wurden in seiner bereits vorgestellten, zentralen Fragestellung deutlich. Neben dem „Notstand“ [a)] nennt Binding auch den Suizid bereits „unverboten“ [b)]. Darüber hinaus sieht er aber auch die „reine Bewirkung der Euthanasie in richtiger Begrenzung“ als „unverboten“ [c)] – und beschreibt damit, wie zu sehen sein wird, größtenteils die bis heute geltende Rechtslage. Im heutigen Schrifttum zur „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ wird allerdings nicht selten unterstellt, dass Binding auch darüber hinaus straflose Tötungen anerkenne. Zu solchen Versuchen einer weitergehenden Auslegung der lex lata äußert sich Binding jedoch ausdrücklich, so dass diesbezüglich kein Raum für Spekulationen bleibt [d)]. a) Notstand Die Erwähnung des Notstandes als Fall der „unverbotenen“ Tötung in Bindings Ausgangsfrage entspricht seiner Dogmatik in diesem Bereich: Die Not240 241
Siehe o. S. 220 ff. Binding/Hoche, Freigabe, S. 5.
330
3. Teil: „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
wehr242 schränkt für Binding den Umfang jeder Norm ein und ist Ausdruck des staatlichen Interesses, Rechtsgutsverletzungen nach Möglichkeit gar nicht erst entstehen zu lassen. Die durch ein Notwehrrecht gedeckte Handlung ist erlaubt und somit rechtmäßig im Sinne der Bindingschen Dogmatik. Der Notstand ist demgegenüber Ausdruck einer Konfliktlage zwischen Rechtsgütern, welche die Rechtsordnung – in Bindings Worten – grundsätzlich „beide gern erhalten sähe“.243 Die für Binding maßgebliche alte Notstandsregelung des § 54 StGB fiel wie der alte Notwehrparagraph 53 StGB der Reform des Allgemeinen Teils zum Opfer und ging zum 1.1.1975 in den §§ 34 f. StGB auf. Sie lautete: „Eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn die Handlung außer dem Falle der Nothwehr in einem unverschuldeten, auf andere Weise nicht zu beseitigenden Nothstande zur Rettung aus einer gegenwärtigen Gefahr für Leib oder Leben des Thäters oder eines Angehörigen begangen worden ist.“
Schon bald nach dem reichsweiten Inkrafttreten des Paragraphen zum 1.1.1872 verbreitete sich die Ansicht, dass die vorausgesetzte Konfliktlage durchaus nicht auf „Leib und Leben“ beschränkbar sei. Vielmehr sei anzunehmen, dass die Rechtsordnung eine grundsätzliche Entscheidung im Konfliktfall zweier Rechtsgüter zugunsten des höherwertigen Rechtsguts getroffen habe.244 Mit der Behandlung des Konfliktfalles zweier Rechtsgüter in einem einzelnen Paragraphen wurden heute als grundverschieden behandelte Fälle in der frühen Notstandsdogmatik zusammengefasst: die sogenannte rechtfertigende Pflichtenkollision ebenso wie die Fälle des rechtfertigenden und des entschuldigenden Notstandes. Von einem mit dem Notwehrrecht vergleichbaren Notstandsrecht auszugehen, war Binding unter diesen Umständen unmöglich; käme es dann zu einem Konflikt „zwischen Leben und Leben [. . .], so würden diese [sc. die Notstandsrechte] sich kreuzen, also bestimmungsgemäss paralysiren. Jeder der Lebensträger dürfte dem anderen angriffsweise ans Leben. Keiner von ihnen dürfte sich aber wider den Angriff des Gegners verteidigen. Kämen im Kampfe beide
242 Der alte Notwehrparagraph 53 lautete bis zur 1975 in Kraft getretenen Umgestaltung des Allgemeinen Teils des StGBs: „(1) Eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn die Handlung durch Nothwehr geboten war. (2) Nothwehr ist diejenige Vertheidigung, welche erforderlich ist, um einen gegenwärtigen, rechtswidrigen Angriff von sich oder einem Anderen abzuwenden. (3) Die Überschreitung der Nothwehr ist nicht strafbar, wenn der Thäter in Bestürzung, Furcht oder Schrecken über die Grenzen der Vertheidigung hinausgegangen ist.“ Wie bereits aus der Formulierung ersichtlich ist, entspricht Inhalt und Dogmatik des damaligem Notwehrrechts dem des heutigen § 32 StGB. Das bereits früh ausgereifte Verständnis des Notwehrrechts stand lange dem vergleichsweise unterentwickelten des Notstandes gegenüber. 243 Vgl. Binding, Handbuch, S. 756. 244 So etwa Haelschner, Strafrecht, Bd. 1, S. 500 f.; Olshausen, RStGB, Bd. 1, 7. Aufl. 1905, § 54 RStGB, Rn. 10; Binding, Handbuch, S. 758 m.w. N.
C. Inhalt der „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
331
um, so lägen zwei rechtmässige, also gebilligte Tötungen vor.“ 245 Da der einzelne Paragraph eine gemeinsame Lösung für die oben beschriebenen Fälle vorzuschreiben scheint, gelangt Binding bei dem Gedankenspiel eines Notstandsrechts in den heute als bloße Entschuldigungsgründe ausformulierten Fällen zu für ihn untragbaren Wertungen. Auch die umgekehrte Auffassung, der Notstand sei ein Strafausschließungsgrund, der die Deliktsnatur der Handlung unberührt lasse, führte ihn jedoch zu merkwürdigen Ergebnissen. Nur beiläufig verweist Binding dafür auf „kleine Notstände“, in denen die unterstellte Wertung, die Rechtsordnung verlange von niemandem „aussergewöhnlichen Heroismus“, nicht so recht passen will.246 Auf Fälle, in denen ein Rechtsgut unzweifelhaft überwiegt und das höhere Interesse der Rechtsordnung an der Erhaltung dieses Rechtsguts die Bewertung als „deliktisch“ zweifelhaft macht, wird überhaupt nicht hingewiesen, was umso seltsamer erscheint, als gerade Binding das Rangverhältnis der Rechtsgüter stets besonders betonte.247 Das von Binding gewählte Argument gegen ein Verständnis der unter den Notstand fallenden Handlungen als rechtswidrig, aber straflos, wirkt stattdessen aus heutiger Sicht und gerade vor dem Hintergrund des § 35 StGB zunächst etwas eigentümlich: „Lässt sie [sc. die Rechtsordnung] aber die Normen für die Notstandskonflikte in Kraft – und nur dann kommt es ja zum Delikt! –, so fordert sie also die Wirksamkeit des Pflichtmotivs, sie verlangt das Bestehen des Notstandes, und unbegreiflich wäre es der Verletzung ihres Verlangens deshalb Straflosigkeit zuzusichern, weil dies Verlangen in der Unbilligkeit gründe!“ 248
Es scheint hier zunächst, als übersähe Binding, dass die Rechtsordnung durch den bloßen Wegfall der Strafbewehrung nicht etwa die Unbilligkeit des Pflichtmotivs, sondern lediglich die Unbilligkeit der Bestrafung einer Zuwiderhandlung ausdrückt. Eine Norm an eine Person zu richten, obgleich man die Strafbewehrung dieser Pflicht angesichts einer im Einzelfall besonderen Schwierigkeit der Pflichtbefolgung als unbillig ansieht – ein heute allgemein akzeptierter und in § 35 StGB auch normierter Gedanke – ist selbstverständlich keinesfalls „unbegreiflich“. Wieder wirkt sich aber aus, dass Binding nach einer tragbaren gemeinsamen Behandlung aller Notstandsfälle sucht. Zu diesen gehören auch solche, in denen das Verlangen selbst zweifellos unbillig ist – und die deshalb heutzutage dem rechtfertigenden Notstand unterfallen. Hier führte die beschriebene Behandlung des Notstands tatsächlich zu fragwürdigen Wertungen. Nach seiner Feststellung bleibt für Binding so nur noch eine einzige mögliche gemeinsame Behandlung aller Notstandsfälle: Der § 54 RStGB führe zur „Un245 246 247 248
Binding, Handbuch, S. 763. Vgl. Binding, Handbuch, S. 765. Siehe nur wenige Seiten zuvor Binding, Handbuch, S. 761. Binding, Handbuch, S. 765.
332
3. Teil: „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
verbotenheit“ der Handlung. Die Rechtsordnung enthalte sich also einer Wertung. Diese Einordnung vertritt Binding auch in seinem „Handbuch“ und in seinen „Normen“ ab der zweiten Auflage.249 In der ersten Auflage der Normen ist Binding unsicherer und beschränkt sich auf den Hinweis, das „deutsche Strafgesetzbuch“ habe „nicht entschieden [. . .] ob sie rechtmässig oder aber unerlaubt jedoch straflos seien.“ 250 Bindings Schwierigkeiten verdeutlichen die verfahrene Situation, die durch die gemeinsame Behandlung aller Notstandsfälle entstanden war. b) Selbsttötung Einen weiteren Fall von de lege lata unverbotenen Tötungen, den Binding behandelt, ist die Selbsttötung. Der Suizid – beziehungsweise die Teilnahme daran sowie sein Versuch – ist bereits seit Inkrafttreten des StGB nach einhelliger Ansicht in Rechtswissenschaft und Rechtsprechung straflos. Auch Binding zweifelt nicht an dieser Rechtslage.251 In objektiv-historischer Auslegung des § 212 RStGB252 verweist er hierzu nur kurz auf einige frühere deutsche Partikularstrafgesetze, die eine Strafbarkeit des Suizidversuchs vorschrieben.253 Bis auf den heutigen Tag wird die Straflosigkeit des Suizidversuchs mit dem Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen begründet, das sich seit Inkrafttreten des Grundgesetzes auch auf dessen Artt. 1 und 2 stützen lässt. Bereits Binding begründet die Unverbotenheit des Suizids auf diese Weise: Der Mensch sei „der geborene Souverän über sein Leben.“ 254 In den „engen Grenzen seiner Bewegungsfreiheit“ müsse der Einzelne „selbst bestimmen“, wie er mit der „ihm vom Leben auferlegten Traglast“ umgehe.255 Diese unstrittige Straflosigkeit des Suizids erschöpft jedoch für den Dogmatiker Binding keineswegs dessen rechtliche Einordnung. Analog zur lange strittigen Dogmatik des Notstands sind auch hier
249
Vgl. Binding, Handbuch, S. 765 f.; ders., Normen, Bd. 1, 2. Aufl. 1890, S. 484 f. Binding, Normen, Bd. 1, 1. Aufl. 1872, S. 53. Derselbe Kommentar findet sich trotz der genannten Einordnung als „unverboten“ an anderer Stelle auch noch in späteren Auflagen, vgl. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 131 (= 2. Aufl. 1890 = 3. Aufl. 1916). 251 Vgl. Binding/Hoche, Freigabe, S. 6 ff., übereinstimmend mit Binding, Lehrbuch BT, Bd. 1, S. 25. 252 Bis zur am 15.9.1941 in Kraft getretenen Reform des § 212 RStGB lautete dieser: „Wer vorsätzlich einen Menschen tödtet, wird, wenn er die Tödtung nicht mit Überlegung ausgeführt hat, wegen Todtschlages mit Zuchthaus nicht unter fünf Jahren bestraft.“ 253 Binding, Lehrbuch BT, Bd. 1, S. 25 m. Fn. 3, die zutreffend auf III § 25 Codex Juris Bavarici Criminalis (1751), Art. 93 Constitutio Criminalis Theresiana (1768) und §§ 803–805 II 20 PrALR (1794), unzutreffend aber auf §§ 90–92 Josephina (1787) verweist. Die Regelung des Suizids findet sich in § 123 der Josephina (1787). 254 Binding/Hoche, Freigabe, S. 6. 255 Binding/Hoche, Freigabe, S. 6. 250
C. Inhalt der „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
333
drei verschiedene Sichtweisen möglich: Einerseits könnte der Suizid als rechtswidrig, aber straflos betrachtet werden [aa)]. Weiterhin wäre es denkbar, den Suizid als rechtmäßig anzusehen [bb)] oder aber drittens davon auszugehen, dass sich die Rechtsordnung einer Wertung ganz enthalte, der Suizid in Bindings Terminologie also als „unverboten“ zu gelten habe [cc)]. aa) Der Suizid als rechtswidrige, aber straflose Handlung Zunächst widmet sich Binding dem Verständnis des Suizids als rechtswidrige, aber straflose Handlung. Diese Ansicht fand tatsächlich überraschend lange eine gewisse Verbreitung.256 Vorab ist daran zu erinnern, dass Binding selbstverständlich keinerlei grundsätzliche dogmatische Bedenken gegen eine solche Auffassung vorbringen kann. Die Möglichkeit eines Normumfanges, der über den Tatbestand des Strafgesetzes hinausgeht, der die Norm voraussetzt, ist integraler Bestandteil der Normentheorie. Binding spricht sich aber deutlich gegen diese Sichtweise aus, weil sich ein solcher Normumfang in diesem Fall im Wege der Auslegung schlechterdings nicht ergebe: Häufig repetierte religiöse Argumente hält er dabei schon für inhaltlich unrichtig. Sie beruhten „auf ganz unwürdiger Gottesauffassung,“ 257 die davon ausgehe, „der Gott der Liebe könne wünschen, daß der Mensch erst nach unendlicher körperlicher und seelischer Qual stürbe“.258 Den in Matthäus 27, 3–10 überlieferten Suizid Judas Ischariots unterschlagend behauptet Binding weiterhin, das Neue Testament berühre „das Problem mit keinem Wort.“ 259 Zudem müssten religiöse Gründe als Beleg ohnehin von vornherein ausscheiden: Zur grundsätzlichen Frage der Relevanz religiöser Momente für die Rechtsauslegung hält Binding schlicht fest, das Recht sei „durch und durch weltlich“.260 Gemeint ist damit freilich nicht, dass sich das Recht religiöse Anschauungen nicht zu eigen machen 256 Binding/Hoche, Freigabe, S. 7, Fn. 5 konnte hierzu auf P. J. A. Feuerbach, Lehrbuch, 3. Aufl. 1805, S. 210 f. (§ 241); Heffter, Lehrbuch, S. 179 ff.; Lion, GA 6 (1858), S. 458 (459) sowie Schütze, Nothwendige Theilnahme, S. 288 ff. verweisen. Auch nach den zwei Auflagen der Freigabeschrift wurde diese Ansicht verschiedentlich vertreten. Sie findet sich noch in der jüngeren Rechtsprechung, vgl. etwa BGHSt 46, 279 (285). 257 Binding/Hoche, Freigabe, S. 7. 258 Binding/Hoche, Freigabe, S. 6 m. Fn. 3, der hierfür u. a. auf Jost, Recht auf den Tod, S. 36 verweist. Dieser wählt an der bezeichneten Stelle tatsächlich drastische Worte: Die Religion frevle „gegen die Gottesidee, indem sie den gütigen Regenten des Weltalls zum asiatischen Despoten stempelt“. Im Übrigen aber argumentiert Jost offen i. S.e. „natürliche[n] Weltauffassung statt des religiösen Dogmas“ (Jost, Recht auf den Tod, S. 4), während Binding nur ganz am Rande die Vereinbarkeit seiner Thesen mit seinem Gottesbild anspricht (Binding/Hoche, Freigabe, S. 6 f.). Binding darf mit Westphalen, Binding, S. 202 ein eher entspanntes Verhältnis zur Religion unterstellt werden. Laut Nagler, GS 91 (1925), S. 1 (40) glaubte er aber an ein jenseitiges Weiterleben. 259 Binding/Hoche, Freigabe, S. 7. 260 Binding/Hoche, Freigabe, S. 7.
334
3. Teil: „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
könne. Solange sich diese aber nicht aus dem Recht selbst ergeben, sind sie für Binding nicht von Belang. Methodisch in jedem Fall unzulässig wäre es für ihn, vom hier angesprochenen externen Einfluss der Religion auf das Recht auszugehen. Analog zur religiösen Begründung kann auch ein behaupteter Sittenverstoß durch den Suizid für Binding nicht zur Rechtswidrigkeit führen. Die Rechtsquelle kann vermeintliche Sittenerfordernisse selbstverständlich in rechtliche Formen gießen oder die „guten Sitten“ gar pauschal als Rechtsbegriff verwenden, wie es etwa im § 138 BGB geschehen ist. Eine Einwirkung der Sitten auf das Recht, die nicht auf einer Entscheidung des Rechtswillens beruht, ist für Binding jedoch undenkbar. Es ist diese methodische Grundauffassung, die er in der Freigabeschrift noch einmal in gebündelter Form mit den Worten wiedergibt: „[D]ie unsittliche Handlung als solche [ist] durchaus [. . .] nicht rechtswidrig und die rechtmäßige durchaus nicht immer sittlich.“ 261
Dass er nicht schreibt, die unsittliche Handlung sei nicht immer rechtswidrig, ist durchaus konsequent: Die unsittliche Handlung als solche, das heißt nur aufgrund ihrer Unsittlichkeit, ist für Binding nie rechtswidrig. Methodisch korrekt könne „der Beweis der Widerrechtlichkeit“ also einzig und allein „aus dem exakten Nachweis der positivrechtlichen Tötungsnorm geführt werden.“ 262 Dieser kann in der Normenlehre zum einen recht einfach in den Fällen geführt werden, in denen die Strafbarkeit eines Verhaltens angeordnet oder es „sonst unzweideutig als Delikt gekennzeichnet ist.“ 263 Ein solcher Beweis der Norm ist vorliegend aber offensichtlich nicht zu führen. Die zweite, ungleich schwierigere Möglichkeit des Nachweises der Existenz einer Norm, die nicht selbst als Gesetz erlassen oder in einem Rechtssatz offenkundig vorausgesetzt wird, bestände in der „Folgerung aus rechtlich feststehenden Prämissen“.264 Gemeint sind Fälle, in denen der Schluss auf die Deliktsnatur eines Verhaltens weniger offenkundig ist als durch die Aufstellung eines Strafgesetzes oder die anderweitige öffentlich-rechtliche Begründung eines Rechts oder Rechtsguts. Bereits oben wurde erwähnt, dass für Binding grundsätzlich auch aus der positivrechtlich unstrittigen Existenz von bestimmten Strukturen oder Prinzipien der Rechtsordnung der Schluss auf eine Norm zulässig ist, insofern sie diese voraussetzen.265 Der Nachweis einer solchen Prämisse wird indessen selten gelingen. Das zeigt auch das einzige von Binding besprochene Beispiel eines solchen Versuchs: Paul Johann Anselm von Feuerbach (1775–1833) geht davon aus, schon der Eintritt in den Staat verpflichte einen Menschen, diesem seine ganzen 261 262 263 264 265
Binding/Hoche, Freigabe, S. Binding/Hoche, Freigabe, S. Binding/Hoche, Freigabe, S. Binding/Hoche, Freigabe, S. Siehe o. S. 188 f.
8 f. 9. 9. 9.
C. Inhalt der „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
335
Kräfte zu widmen, so dass er rechtswidrig handle, „wenn er ihm diese durch Selbstmord eigenmächtig raubt.“ 266 Die für Binding relevante Prämisse bestände dann darin, dass die positivrechtlich unstrittige Existenz des Staates ohne die Einbringung aller Kräfte seiner Bürger nicht denkbar sei. Unabhängig von dieser sehr fraglichen Grundthese bemängelt Binding aber schon, dass ein Neugeborener offensichtlich nicht in etwas eintrete.267 Darüber hinaus wäre natürlich die Voraussetzung dieser Norm für den Staat als rechtliches Konstrukt beweispflichtig. Setzt man sie jedoch einfach voraus, wird das Argument zirkulär, weshalb Binding hierzu letztlich schlicht festhält, es handle sich bei der Behauptung Feuerbachs um „eine nichtssagende petitio principii.“268 Da die Straflosigkeit des Suizidversuchs unstrittig ist und auch sonst keine Möglichkeit gefunden werden konnte, eine Norm wider den Suizid nachzuweisen, scheidet die Rechtswidrigkeit des Suizids aus Sicht Bindings also aus. bb) Der Suizid als rechtmäßige Handlung Die zweite Möglichkeit der rechtlichen Einordnung des Suizids ist seine Rechtmäßigkeit im Sinne der Dogmatik Bindings. Diese dogmatische Kategorie zeichnet sich durch eine positive Bewertung des Verhaltens durch die Rechtsordnung aus. Eine besonders starke positive Bewertung stellt die Rechtmäßigkeit in Form eines Gebots dar, welche an dieser Stelle selbstverständlich indiskutabel ist. In der hier relevanten zweiten Form bringt die Rechtmäßigkeit eine den Zwecken der Rechtsordnung förderliche Wirkung zum Ausdruck, sieht diese Wirkung aber entweder als weniger bedeutend an oder will aus Rücksicht auf eine besondere Situation auf den mit einem Gebot gegebenenfalls verbundenen Schuldvorwurf verzichten. Ob die durch einen Rechtssatz vorgesehene Straflosigkeit also tatsächlich zur „Rechtmäßigkeit“ in diesem Sinne oder aber nur zur „Unverbotenheit“ führt, ist danach erst das Ergebnis der Auslegung, welche das tatbestandlich umschriebene Verhalten auf Übereinstimmung mit den Zielen der Rechtsordnung zu überprüfen hat. Binding fragt sich daher, ob „die Selbsttötung [. . .] Ausübung eines Tötungsrechtes“ im beschriebenen zweiten Sinne sein könne.269 Die Grundlagen Bindingscher Strafrechtsdogmatik verbieten es von vornherein, die bloße Straflosigkeit des Suizids als Argument hierfür heranzuziehen; Normverstöße außerhalb des Geltungsbereichs eines Strafgesetzes und damit „straflose Delikte“ gebe es schließlich „in Fülle“.270 Auch sei es nicht möglich, ein solches subjektives 266 267 268 269 270
P. J. A. Feuerbach, Lehrbuch, 3. Aufl. 1805, S. 210. Binding/Hoche, Freigabe, S. 9. Binding/Hoche, Freigabe, S. 9. Binding/Hoche, Freigabe, S. 11. Binding/Hoche, Freigabe, S. 11.
336
3. Teil: „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
Recht auf die Beendigung des eigenen Lebens als Konsequenz des allgemeinen Tötungsverbots zu sehen. Es handle sich insofern um die „[übliche] Verwechslung der Reflexwirkungen von Verboten mit solchen Rechten (. . .). Da die Tötung nur des Nebenmenschen verboten ist, so wird gefolgert, hat jeder Mensch ein Recht entweder auf Leben oder am Leben oder gar über das Leben (. . .) und kraft dieses Besitzrechts darf er das Leben ebenso behaupten als von sich wenden, besitzt also ein Tötungsrecht an sich selbst oder wider sich selbst.“ 271
Alle drei genannten Versionen eines solchen subjektiven Rechts hält Binding für falsch,272 was für den weiteren Verlauf der Untersuchung von elementarer Bedeutung sein wird. Der beschriebene Schluss aus einer „Reflexwirkung“ der Verbote muss unter den Prämissen der Normenlehre tatsächlich ausgeschlossen sein. Zwar bedeutet danach jeder Normverstoß die Verletzung eines subjektiven Rechts. Das für Binding insofern spezifisch strafrechtliche Unrecht aber zeichnet sich dadurch aus, dass dieses betroffene subjektive Recht in einem strafbewehrten staatlichen Gehorsamsrecht besteht. Dieses wiederum ist entweder dazu bestimmt, subjektive Rechte zu schützen, indem die Verletzung oder Gefährdung derjenigen Rechtsgüter untersagt wird, die die tatsächliche Angriffsfläche dieser subjektiven Rechte bilden. Oder aber es werden Rechtsgüter geschützt, die nicht Ausformung bestimmter subjektiver Rechte sind273 – wie für Binding im Falle des Rechtsguts „Leben“. Daher erlaubt aus seiner Sicht weder das Strafgesetz noch die durch es vorausgesetzte Norm einen logischen Schluss auf ein weiteres subjektives Recht neben dem staatlichen Gehorsamsrecht. Ein Argument gegen ein solches subjektives Recht lässt sich daraus freilich ebensowenig ziehen. Es bleibt damit aber die Frage, warum Binding ein Recht auf oder am Leben (und damit gegebenenfalls auf den Tod) so vehement ablehnt. Bereits beschrieben wurde, dass Binding insgesamt bei der Ankerkennung subjektiver Rechte – beispielsweise auf „körperliche Unversehrtheit“, „Ehre“ oder „Freiheit“ – auffallend zurückhaltend ist. Dies hat wohl verschiedene Gründe:274 Hinsichtlich eines Rechts auf Leben war zunächst schon das positivrechtliche Fundament durchaus zweifelhaft; ausformuliert findet sich ein derartiges Recht in der deutschen Verfassungsgeschichte erst im Grundgesetz. Zugleich scheint Binding in der Konzeption eines solchen Rechts vorauszusetzen, dass damit auch jede Einwilligung in die eigene Tötung rechtfertigend wirken müsste, was doch eindeutig von § 216 RStGB ausgeschlossen werde.275 In diesem Argument übergeht Binding schlicht eine ganze Reihe möglicher Gesetzeszwecke: Dammbrucherwägungen, 271 272 273 274 275
Binding/Hoche, Freigabe, S. 11. Binding/Hoche, Freigabe, S. 11. Vgl. bspw. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 53. Siehe dazu ausführlich o. S. 208 ff. Vgl. Binding/Hoche, Freigabe, S. 11.
C. Inhalt der „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
337
Beweisschwierigkeiten, Übereilungsschutz und andere.276 Er setzt ein Recht auf den Tod mit dem Lebensrecht gleich und reduziert letzteres dann ebenso unbegründet auf eine Ausgestaltung als veräußerliches Recht. Die angesichts des klaren Wortlauts von § 216 RStGB dann wenig überzeugende Beschreibung dieses Rechts ist natürlich leicht abzulehnen, so dass Binding schließlich süffisant bemerkt: „Die angeblich mögliche Veräußerung des eigenen Lebensrechtes an Dritte ist eine der gloriosesten Erfindungen des reinen Unsinns. Der Veräußerer lebt dann rechtlos weiter.“ 277
Neben dieser bereits besprochenen Argumentation meldet Binding in der Freigabeschrift unter Verweis auf die nach dem Vorbild Josts ebenfalls „Das Recht auf den Tod“ betitelte Dissertation Elisabeth Rupps aus dem Jahre 1913 erstmals auch formallogische Bedenken hinsichtlich eines Lebensrechtes an. Rupp konstatiert in ihrer Arbeit: „Es ist merkwürdig, daß fast von keiner Seite bemerkt wird, daß das Leben, das Dasein, überhaupt kein Recht ist. Das Dasein ist etwas, an das sich Rechte knüpfen, die Basis für das Existentwerden, Inerscheinungtreten von Rechten; der Seiende ist Träger von Rechten. Wie aber soll die Basis für ein Akzidentielles identisch sein mit diesem Akzidentiellen?“ 278
Das hier gezeichnete Problem ist freilich nur ein scheinbares. Zu bemängeln ist schon die Identifikation von „Leben“ und „Dasein“; das Recht ist zwar logisch nicht im Stande, etwas Nichtexistentem subjektive Rechte zuzugestehen. An ein konkretes „Leben“ ist es indes weder formallogisch noch praktisch gebunden, wie die vorgeschriebene Rechtssubjektsqualität zahlreicher Körperschaften zur Genüge zeigt. Zum anderen scheint Rupp auch die Natur eines subjektiven „Rechts auf Leben“ misszuverstehen: Logisch denkbar ist nur ein Recht entweder auf Beibehaltung, also Schutz des Lebens, oder ein Recht am Leben im Sinne eines Selbstbestimmungsrechts in Fragen über Leben und Tod. Selbstverständlich kann ein Recht auf Leben im eigentlichen Sinne nicht gemeint sein; ein solches ergäbe schließlich nur dann einen Sinn, wenn der Träger sein Leben nicht schon hätte; hat er es aber nicht, wird ihm naturgemäß auch ein Recht darauf nicht weiterhelfen. Noch viel weniger ergibt sich ein Sinn in der beschriebenen Verwechslung von „Sein“ und „Leben“: Ein „Recht auf Sein“ im eigentlichen Sinn, wie es hier von Rupp kritisiert wird, wäre sinnlos und wurde noch nie behauptet. Binding bewertet Rupps Ausführungen als „ganz gut“, was viel Raum für Meinungen darüber lässt, welchen Stellenwert er ihnen tatsächlich beimisst.279 Wenn 276 Vgl. hierfür statt vieler Schneider, in: MünchKomm StGB, § 216 StGB, Rn. 3 ff. m.w. N. 277 Binding/Hoche, Freigabe, S. 11, Fn. 17. 278 Rupp, Das Recht auf den Tod, S. 15. 279 Binding/Hoche, Freigabe, S. 11.
338
3. Teil: „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
er hier und andernorts von einem „Recht auf Leben“ schreibt, so meint er stets das von ihm abgestrittene Selbstbestimmungsrecht des Menschen in diesen Fragen, ein Recht am Leben. Damit aber verliert die Passage Rupps jede Bedeutung. Ein letzter Grund für Bindings Ablehnung des infragestehenden Rechts wird sich als besonders folgenschwer erweisen. Der Mangel eines solchen Rechts beruhe auf einer prinzipiellen Auffassung der Rechtsordnung, einem Menschenbild, nach dem der Mensch keine Rechte an sich selbst haben könne, da er sonst eine Art „Güterqualität“ erlange.280 Gerade dieses rechtliche Verständnis einer besonderen „Würde“ des Menschen – bei aller Sensibilität hinsichtlich der historischen Bedeutung dieses Begriffs – wird sich als Schlüssel zum Verständnis der Freigabeschrift erweisen. Einstweilen ist jedoch nur festzuhalten, dass die Annahme eines Rechts zur Selbsttötung für Binding aus gleich mehreren Gründen undenkbar ist. cc) Der Suizid als „unverbotene“ Handlung Da somit der Suizid weder rechtmäßig noch rechtswidrig sein könne, sei er unverboten. Diese Einordnung ist grundsätzlich denkbar entweder als Indifferenz der Rechtsordnung oder als ihre bewusste Entscheidung, ein bestimmtes Verhalten aus praktischen Gründen nicht mit einer Wertung zu versehen. Im Hinblick auf den Suizid bleibe nur Letzteres, da er ja „mitten im Rechtsleben“ stattfinde.281 Übe die Selbsttötung „doch in einer nicht kleinen Zahl ihrer Vorkommnisse auf dem Rechtsgebiet sehr empfindliche schädliche Wirkungen aus: etwa die Begründung weitgehender öffentlicher Unterstützungspflichten“ oder als Flucht vor bestimmten Pflichten, etwa „seine Schulden zu bezahlen, seine Strafe zu verbüßen, an gefährlicher Stelle vor dem Feinde Vorpostendienste zu leisten oder einen Angriff mitzumachen.“ 282 Allein diese praktischen Belange bilden in der Normentheorie Bindings keine genügende Grundlage eines Verbots, das deshalb ausscheidet. Umgekehrt führe aber auch die Rechtmäßigkeit des Suizids zu untragbaren praktischen Konsequenzen: Niemand dürfte den Suizidenten oder etwaige Helfer an der Tat hindern, es stände ihm und ihnen sogar ein Notwehrbeziehungsweise Nothilferecht gegen jeden Retter beiseite.283 Die Einordnung als „unverboten“ soll gewährleisten, dass einerseits diese Konsequenzen umgangen werden und andererseits dennoch eine Selbstbestimmungsmacht des Einzelnen auch rechtliche Anerkennung findet. Ohne dass dies an der entsprechenden Stelle bereits deutlich wird, stört Binding an den beschriebenen Konsequenzen einer Rechtmäßigkeit des Suizids letzt280 Binding/Hoche, Freigabe, S. 13 m. Fn. 21, in der er auf sich selbst (Handbuch, S. 699) verweist. Siehe dazu schon o. S. 209 f. 281 Vgl. Binding/Hoche, Freigabe, S. 13 m. Fn. 20. 282 Binding/Hoche, Freigabe, S. 12. 283 Binding/Hoche, Freigabe, S. 12.
C. Inhalt der „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
339
lich nur die Behandlung möglicher „Teilnehmer“, worunter Binding in seinen Werken in offenem Protest gegen die Terminologie des Strafgesetzbuches auch Mittäter fasst.284 Alles weitere ergibt sich für ihn genauso in der von ihm bevorzugten Sichtweise des Suizids als „unverboten“: Auch nach dem Dafürhalten Bindings ist „der Zwang gegen“ den Suizidenten, „die Handlung zu unterlassen, [. . .] rechtswidrige Nötigung“, wenngleich der Retter meist im Glauben an ein Unglück und somit vorsatzlos handeln werde und daher im Regelfall straflos bleibe.285 Mit der „Unverbotenheit“ der Selbsttötung sei aber gewährleistet, dass die „sog. Teilnahme am Selbstmord [. . .] der Tötungsnorm“ unterfalle und damit rechtswidrig sei.286 Erst hierin liegt für Binding der dogmatische Vorzug seiner Sichtweise. Mit seiner Behauptung setzt Binding einfach voraus, dass für die „Teilnehmer“ eines Suizids keine Ausnahme von der Tötungsnorm geschaffen wurde, was natürlich mit der Unverbotenheit dieser Tat für den Suizidenten keinesfalls begründet werden kann. Noch eigentümlicher sind die weiteren Folgen, die Binding über die einfach angenommene Widerrechtlichkeit der Teilnehmerhandlungen hinaus feststellt: Die Teilnahme am Suizid „kann, ja muß unter Umständen unter Strafe genommen werden, falls es nicht, was möglich ist, an der Schuld fehlt. Das ,kann‘ besagt: de lege ferenda, das ,muß‘ besagt: de lege lata [!], falls der sog. Teilnehmer Mittäter oder Urheber ist.“ 287 Diese Passage bedarf weiterer Klärung. Zunächst werden daher die in Aussicht gestellte Strafbarkeit des „Mittäters“ (1.) und des „Urhebers“ (2.) näher erläutert; letztlich werden in Bindings Textabschnitt jedoch unauflösbare Widersprüche verbleiben. Aussagekräftig mit Blick auf den weiteren Verlauf der Freigabeschrift ist allerdings seine qualitative Abstufung verschiedener Menschenleben in seiner Darstellung der „Teilnahme“ am Suizid (3.). (1) Strafbarkeit des „Mittäters“ Das genannte Zitat lässt wenig Raum für Missverständnisse. Binding spricht sich dort für die Strafbarkeit des „Mittäters“ am Suizid aus. Dogmatisch müsste dem Mittäter zur Begründung seiner Strafbarkeit also ein Tatbeitrag des Suizidenten zugerechnet werden. Den jedoch hält die Rechtsordnung auch nach Bindings Darstellung als solchen für unverboten. Die Schwierigkeit einer Zurechnung unverbotener oder, wenn man diese dogmatische Kategorie insgesamt abgelehnt, sogar rechtmäßiger Tatbeiträge wurde 284 Mit seiner Kritik war Binding nicht allein. Ähnliches ist bspw. auch bei Wach, DJZ 15 (1910), Sp. 108 (109) zu lesen. 285 Binding/Hoche, Freigabe, S. 16. 286 Binding/Hoche, Freigabe, S. 14. 287 Binding/Hoche, Freigabe, S. 14.
340
3. Teil: „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
früh erkannt und führte dazu, dass die Möglichkeit einer Mittäterschaft am Suizid schon zur Zeit der Abfassung der „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ im Großteil der Lehrbuchliteratur gar nicht erwähnt wird. Dort, wo sie doch Erwähnung findet, wird sie als „undenkbar“ abgetan.288 Einzig in einer Dissertation zur „Strafbarkeit der Teilnahme am Selbstmord“ aus dem Jahre 1913 findet sich die eigentümliche Bemerkung, der „Dritte, der die Tötungshandlung zusammen mit dem Selbstmörder ausführt, ist, wenn auch nicht Mittäter, so doch Täter, vielleicht Mörder, vielleicht nur Totschläger“, und müsse folglich als solcher bestraft werden.289 Bezeichnenderweise sieht sich auch diese einzelne Stimme, die sich neben Binding für eine Strafbarkeit ausspricht, hierzu nur um den Preis einer seltsamen dogmatischen Einordnung des Mittäters als eine Form von Alleintäter im Stande: Von einem „Mitwirken in der Ausführung einer strafbaren Handlung“, wie es für die Mittäterschaft erforderlich wäre, kann auch für sie „beim Selbstmord keine Rede sein, denn dieses Tun ist kein verbrecherisches.“ 290 Es stellt sich also die Frage, warum Binding eine strafbare Mittäterschaft am Suizid bejahen zu können glaubte.291 Er selbst erklärt sich hierzu nicht, so dass eine Antwort allenfalls durch Rückschlüsse aus seinen dogmatischen Grundansichten möglich ist. Aufschlussreich sind insofern einige seiner Ausführungen über die Mittäterschaft, in denen er betont, „[d]ie Einheit der Tat“ bilde „das einzige Band, das die Mittäter zur Einheit verbindet.“ 292 Keinesfalls sei aber der Täter als Einheit zu denken: „[E]in Gesamtsubjekt im Rechtssinne für ein in Mittäterschaft begangenes Verbrechen ist undenkbar.“ 293 Dieses Verständnis durchzieht konsequent die gesamte Bindingsche Lehre der Mittäterschaft. Allein die objektiv gemeinsame Tat entscheide über den Status als Mittäter, unbeeinflusst von der Möglichkeit oder dem Ausmaß eines Schuldvorwurfs: „Es gibt also zum Setzen eines und desselben objektiven Verbrechenstatbestandes ein täterschaftliches Zusammenwirken von Zurechnungsfähigen und Unzurechnungsfähigen, und die Zurechnungsfähigen können alle denselben Vorsatz oder alle dieselbe Fahrlässigkeit teilen oder zum Teil in dolo, zum Teil in culpa versieren.“ 294
Das heute herrschende Modell der Einheitstäterschaft im Bereich der Fahrlässigkeit lehnt Binding also ab. Die problemlose Trennung in vorsätzliche und fahr288 So H. Meyer/Allfeld, Lehrbuch, 8. Aufl. 1922, S. 206, Fn. 15 a. E. Das entspricht auch der heutigen Auffassung, die Kindhäuser, Strafrecht BT, Bd. 1, § 4 Rn. 10 beispielhaft und m.w. N. beschreibt. 289 O. Weber, Strafbarkeit der Teilnahme am Selbstmord, S. 41 f. 290 O. Weber, Strafbarkeit der Teilnahme am Selbstmord, S. 41 f. 291 Diese Meinung entwickelt Binding nicht erst in der Freigabeschrift. Sie findet sich bereits in seinem Handbuch, S. 702. 292 Binding, Abhandlungen, Bd. 1, S. 251 (301); Hervorhebung hinzugefügt. 293 Binding, Abhandlungen, Bd. 1, S. 251 (301). 294 Binding, Abhandlungen, Bd. 1, S. 251 (293).
C. Inhalt der „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
341
lässige Mittäter entspricht auch seinem Verständnis der Schuld: Fahrlässige und vorsätzliche Täter handeln für ihn beide willentlich295 derselben Norm zuwider. So lässt sich unter Zugrundelegung des besonderen Bindingschen Willensbegriffs auch von einer gemeinsam „gewollten“ und verwirklichten Tat sprechen, wenn einer, mehrere oder sogar alle Mittäter nicht vorsätzlich handeln. Auf diese Weise kann Binding die mittäterschaftliche Zurechnung nur an die Tat knüpfen und sowohl die Normgeltung als auch den damit verbundenen Schuldvorwurf von ihr loslösen. Für die hier behandelte Mittäterschaft beim Suizid heißt das: Nicht die Frage des Geltungsbereichs der Norm und des damit verbundenen Schuldvorwurfs ist für die gegenseitige Zurechnung der Tatbeiträge entscheidend, sondern nur die gemeinsam gewollte und umgesetzte Tat, wobei „Tat“ in einem sehr weiten Sinne eines äußeren, durch menschliches Verhalten bewirktes Geschehens verstanden wird.296 Bezogen auf den Suizid kann Binding so von einer strafbaren Mittäterschaft ausgehen, obwohl beide Täter normativ unterschiedlich angesprochen werden: Der Suizident überhaupt nicht, da seine Tat keiner Norm zuwiderläuft, der „Mittäter“ aber von der allgemeinen Tötungsnorm, denn er handle „widerrechtlich gegen das Leben eines Dritten“.297 (2) Strafbarkeit des „Urhebers“ Noch problematischer ist Bindings Nennung des „Urhebers“ eines Suizids als de lege lata strafbar.298 Auf die Lehre von der „Urheberschaft“ ist bereits an anderer Stelle eingegangen worden.299 Gemeint ist jeder „Verursacher“ eines Verbrechens im Bindingschen Sinne der Übertretung einer strafbewehrten Norm, der dieses als fremdes, nicht als eigenes will.300 Der mittelbare Täter ist also in keinem Fall „Urheber“. Damit aber bliebe kein denkbarer Fall der Strafbarkeit des „Urhebers“ eines Suizids. Der größte Bereich der Bindingschen „Urheberschaft“ wird von der An-
295
Siehe zu Bindings besonderem Willensbegriff o. S. 72 ff. Probleme, die man heutzutage durch Hilfskonstruktionen wie die sog. „Pflichtdelikte“ zu lösen bemüht ist, stellen sich für Binding aufgrund der allein entscheidenden gemeinsamen „Tat“ in diesem Sinne gar nicht. Tatbeiträge von Menschen, denen es an einer für ein bestimmtes echtes Sonderdelikt maßgeblichen Eigenschaft fehlt, können aus seiner Sicht problemlos zugerechnet werden – obwohl sie normativ von der entsprechenden Norm gar nicht betroffen sind. Die gravierenden Nachteile der Ansicht Bindings zeigen sich allerdings sogleich in der Anwendung dieser Grundsätze auf Suizidfälle. 297 Binding/Hoche, Freigabe, S. 10. 298 Vgl. Binding/Hoche, Freigabe, S. 14. 299 Siehe o. S. 183 ff. 300 Wiederum im Sinne des Bindingschen Willensbegriffs; siehe dazu o. S. 72 ff. 296
342
3. Teil: „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
stiftung ausgefüllt, deren Konzeption Binding scharf kritisiert.301 Insbesondere die (zur Zeit der Abfassung der „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ sogar strikte302) Akzessorietät lehnt er ab. Nichtsdestotrotz muss er diese für den Bereich des geltenden Strafrechts akzeptieren – und schreibt dementsprechend auch nur einige Seiten zuvor in der Freigabeschrift selbst, aus der Straflosigkeit des Suizidenten folge die der Teilnehmer „[d]e lege lata [. . .] dann, wenn das Gesetz für die Strafbarkeit des Anstifters und des Gehilfen ganz verkehrterweise Strafbarkeit der Handlung, zu der angestiftet und geholfen wurde, verlangt. So ja unser GB §§ 48 u. 49.“ 303 Auch der Verweis Bindings auf sein eigenes „Handbuch“ hilft nicht weiter. Hier wie dort scheint er eine Strafbarkeit der Anstiftung zum Suizid zum Ausdruck bringen zu wollen. Im Unterschied zum in der Freigabeschrift gewählten Begriff stellt Binding hier allerdings klar, dass er von einer (mittelbaren) Täterschaft ausgeht, also den Teil der Anstiftung darunter verstanden wissen will, der nach seinem Dafürhalten eine Form von Täterschaft darstellt.304 Gleiches findet sich in seinem Lehrbuch zum Besonderen Teil des Strafgesetzbuchs: „Wer einen Andern bestimmt, sich selbst zu töten, nimmt dessen Willen in den eigenen Dienst und setzt so die Ursache zur Vernichtung eines fremden Lebens. Es kann nur irreführen, hier von ,Anstiftung zum Selbstmorde‘ zu reden. Wer den [. . .] Täterbegriff einigermaßen erfaßt hat, erkennt jenen angeblichen Anstifter als Täter rechtswidriger Tötung – und zwar nicht nur, wenn der Bestimmte ein Wahnsinniger oder ein Kind war.“ 305
Die Ausführungen zur Strafbarkeit der Anstiftung zum Suizid im „Handbuch“ sind daher als vorbehaltlich einer Anerkennung der weiteren mittelbaren Täterschaft zu lesen, die Binding vorschwebt. Dieses weitere Verständnis sieht Binding durchaus mit dem geltenden Recht im Einklang. In der „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ schreibt Binding allerdings „Mittäterschaft oder Urheber“ 306, verweist dazu auf die eben erwähnten Stellen und macht so die Konfusion komplett: Im Lehrbuch und im Handbuch wird gerade behauptet, es handle sich bei der Anstiftung zum Suizid in 301
Vgl. Binding, Abhandlungen, Bd. 1, S. 251 (355 ff.). Erst mit der am 15.6.1943 in Kraft getretenen Reform des § 48 RStGB wurde die sog. limitierte Akzessorietät eingeführt. Die bis dahin gültige Fassung vom 1.1.1872 lautete in ihrem ersten Absatz: „Als Anstifter wird bestraft, wer einen Anderen zu der von demselben begangenen strafbaren Handlung durch Geschenke oder Versprechen, durch Drohung, durch Missbrauch des Ansehens oder der Gewalt, durch absichtliche Herbeiführung oder Beförderung eines Irrthums oder durch andere Mittel vorsätzlich bestimmt hat.“ Hervorhebung hinzugefügt. 303 Binding/Hoche, Freigabe, S. 10, Fn. 15. 304 Vgl. Binding, Handbuch, S. 701 f. 305 Binding, Lehrbuch BT, Bd. 1, S. 26. 306 Binding/Hoche, Freigabe, S. 14; Hervorhebung hinzugefügt. 302
C. Inhalt der „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
343
aller Regel um einen verkannten Fall der mittelbaren Täterschaft – und damit gerade nicht um einen Urheber im Sinne Bindingscher Dogmatik. Meinte Binding nun den Urheber in diesem Sinne, so passt dies zum einen nicht zu seiner eigenen Zitierung. Zum anderen wäre es inhaltlich schlicht inkorrekt: Sein Urheberbegriff wird zu einem großen Teil gesetzlich als Anstiftung aufgefasst und damit im Falle des Suizids nicht bestraft, wie Binding selbst zwei Seiten zuvor eingesteht. Meinte er die im „Handbuch des Strafrechts“ und in seinem Lehrbuch zum Besonderen Teil beschriebene mittelbare Täterschaft zum Suizid, so wäre zwar seine Behauptung einer Strafbarkeit de lege lata nachvollziehbar, nicht aber die Bezeichnung als Urheber. Täter – auch mittelbarer Täter – und Urheber bilden bei Binding zwei von drei verschiedenen Grundformen des Verbrechenssubjekts und schließen sich gegenseitig aus.307 Aufgrund der räumlichen Nähe seiner Behauptung zur Feststellung der Straflosigkeit des Anstifters, den zitierten Stellen in seinen Werken und des Sinnzusammenhangs muss daher wohl davon ausgegangen werden, dass es sich um einen Fehler handelte und „mittelbare Täterschaft“ gemeint ist. (3) Qualitative Abstufung des Rechtsguts „Leben“ in Bindings Ausführungen zur „Teilnahme am Suizid“ Binding hält also nicht nur die mittelbare Täterschaft, sondern auch die Mittäterschaft beim Suizid für möglich und strafbar, während Anstiftung und Beihilfe zwar mangels strafbarer308 Haupttat unbestraft blieben, aber nichtsdestotrotz gegen die Norm wider die Tötung anderer Menschen verstießen und damit rechtswidrig seien. Hinsichtlich der Schuld in all diesen Fällen führt er aus: „Die bewußte Beihilfe zum Selbstmord des Todkranken wiegt erheblich leichter wie die zu dem der Gesunden, der sich etwa seinen Gläubigern entziehen will.“ 309
Dasselbe soll für die „Schuld der sog. Teilnehmer“ am Suizid generell gelten, also ebenso für die Anstiftung und – bei Binding – auch die Mittäterschaft. Verstanden als Spekulation über die Beweggründe des Normverstoßes hätte diese Behauptung bis heute Geltung. Die Tötung aus einem verständlichen Mitleidsmotiv geht regelmäßig mit einem verminderten Schuldvorwurf einher. Um die Motivlage des wider die Norm Handelnden geht es Binding jedoch nicht. Der Satz ist nicht zufällig ohne Rücksichtnahme auf das Motiv formuliert: Eine Beihilfe „zum Selbstmord des Todkranken“ hat für Binding per se einen geringeren Schuldvorwurf zur Folge, als ihn die Rechtsordnung gegen einen Teilnehmer am Suizid eines Gesunden erheben würde. Nicht die verschiedenen Gefühlslagen des 307
Siehe nur Binding, Abhandlungen, Bd. 1, S. 251 (301 ff., 316 ff.). Zum Prinzip strikter Akzessorietät im alten § 48 RStGB siehe bereits o. 2. Teil, Fn. 116. 309 Binding/Hoche, Freigabe, S. 16. 308
344
3. Teil: „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
Normübertreters werden diskutiert, sondern eine objektive Abstufung innerhalb des Rechtsguts „Leben“. Das Leben eines Todkranken ist für Binding schlichtweg ein geringwertigeres Rechtsgut als dasjenige eines gesunden Menschen. Auffallend ist, dass diese Abstufung offenbar nicht dem Strafgesetz entnommen werden konnte. Die §§ 211 ff. RStGB unterscheiden in keiner Weise danach, ob der Getötete jung oder alt, krank oder gesund war. Dass Binding dennoch eine verschieden hohe Schuld annehmen zu können glaubt, ist also nicht der Formulierung der Strafgesetze geschuldet. Grundlage dieser Einschätzung ist vielmehr seine Sichtweise der Rechtsgüter im Allgemeinen und des Rechtsguts „Leben“ im Besonderen: Rechtsgüter sind für Binding Ausdruck des Interesses der Rechtsordnung am Schutz einer bestimmten Begebenheit, die „als Bedingung gesunden Lebens der Rechtsgemeinschaft für diese von Wert ist“.310 Diese Sichtweise gilt gleichermaßen für Rechtsgüter der Gemeinschaft und individuelle Rechtsgüter, die Binding als solche gar nicht anerkennt. Auch Individualrechtsgüter sind für Binding insofern Rechtsgüter der Rechtsgemeinschaft, als in ihnen eine Entscheidung der Rechtsordnung zum Ausdruck kommt, in ihrem Interesse den Gütern Einzelner Schutz zukommen zu lassen. Die Bedeutung dieser Rechtsgüter für ihren Träger spielt dabei nicht schon für sich eine Rolle, sondern nur insofern, als die Rechtsordnung auf sie aus moralischen, politischen, ökonomischen oder sonstigen Gründen Rücksicht nehmen zu müssen glaubt.311 Dieses Interesse der Rechtsordnung an der Erhaltung bestimmter Rechtsgüter kann offenkundig unterschiedlich groß sein, wie bereits durch die verschiedenen Strafrahmen aufgezeigt wird, mit denen Verstöße gegen Normen sanktioniert werden, die jeweils unterschiedlich wichtige Rechtsgüter schützen.312 Es lässt sich anhand dieser Strafrahmen ein abstraktes Rangverhältnis zwischen den Rechtsgütern ausmachen. Die für das Maß der Schuld mitentscheidende konkrete Rechtsgutverletzung kann aber selbstverständlich nicht über den Gesamtwert des jeweiligen Rechtsguts hinausgehen: In quantitativer Hinsicht wiegt der Diebstahl einer wertvollen Sache schwerer als der Diebstahl einer geringwertigen Sache, die deliktische Erlangung eines großen Vermögens schwerer als die eines kleineren, die schon schwer beschädigte Gesundheit eines Menschen lässt sich nur noch in ihrem verbliebenen Maß verletzen et cetera. Aus diesem Allgemeinplatz strafrechtlicher Schuldbewertung folgert Binding – grundsätzlich zurecht –, dass jedes einzelne Rechtsgut anhand seiner konkreten Ausgestaltung auch für sich noch einmal abstufbar sein muss. Die Abstufungsmöglichkeit an sich ist dem Recht vorgelagert; 310 311 312
Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 353 ff. Siehe dazu o. S. 213 ff. Vgl. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 366.
C. Inhalt der „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
345
es bliebe dem Recht lediglich unbenommen, Unterschiede in bestimmten Fällen unberücksichtigt zu lassen. In Ermangelung eines gesetzlichen Hinweises darauf hält Binding ganz selbstverständlich auch die Abstufung des Rechtsguts „Leben“ für einen maßgeblichen Faktor bei der Bestimmung der Schwere der Schuld. Entsprechend schreibt Binding in Bezug auf die Unverbotenheit des Suizids: „Der rechtlich und sozial schwache Punkt der Freigabe aller Selbsttötung ist der Verlust einer ganzen Anzahl noch durchaus lebenskräftiger Leben, deren Träger nur zu bequem oder zu feig sind, ihre durchaus tragbare Lebenslast weiter zu schleppen.“ 313 Der von Binding diagnostizierte unterschiedlich hohe Wert des Lebens für die Rechtsgemeinschaft sei es, der „für die Wertung der Schuld der sog. Teilnehmer stark in die Wagschale“ falle.314 Quantitativ verstanden ließe Binding damit eine besondere Eigenschaft des Rechtsguts „Leben“ schlicht unberücksichtigt, bezeichnet dieses Rechtsgut in der Rechtsordnung doch nicht etwa den bloßen Schlusspunkt einer Verletzung der körperlichen Integrität oder der Gesundheit eines Menschen. Es ist in den §§ 211 ff. (R)StGB erkennbar als Rechtsgut mit eigenständigem Wert ausgestaltet. So aber ist jeder Weg zu einer objektiv-quantitativen Abstufung des Rechtsguts bereits versperrt: Ein Mensch kann eine fast völlig zerstörte Gesundheit aufweisen oder eine kaum noch intakte körperliche Integrität; solange sich das Leben qualitativ von den Rechtsgütern der Gesundheit und der körperlichen Integrität unterscheiden soll, ist es jedoch unmöglich, in einem geringeren Maße als Andere am Leben zu sein. Für objektiv-qualitative Abstufungen des Lebens jenseits der Betrachtung der Gesundheit und körperlichen Integrität eines Menschen hingegen fehlte und fehlt es im Gesetz an jedem Hinweis. Binding selbst moniert das Fehlen einer qualitativen Unterscheidung zwischen lebenswertem und (vermeintlich) lebensunwertem Leben an anderer Stelle ausdrücklich.315 Gemessen an seinen eigenen juristischen Grundanschauungen argumentiert Binding hier somit inkonsequent. c) „Euthanasie in richtiger Begrenzung“ In einem häufig missverstandenen Abschnitt beschreibt Binding die „Herbeiführung sog. Euthanasie“ als „bisher [. . .] strafrechtlich noch nicht verfolgt.“ 316 Die heute übliche Bezeichnung als „Sterbehilfe“ lehnt er ausdrücklich als mehrdeutig ab.317 Die „reine Bewirkung der Euthanasie in richtiger Begrenzung“ will er als „die Verdrängung der schmerzhaften, vielleicht auch noch länger dauernden, in der Krankheit wurzelnden Todesursache durch eine schmerzlose andere“ 313 314 315 316 317
Binding/Hoche, Freigabe, S. 16. Binding/Hoche, Freigabe, S. 16. Siehe u. S. 355. Binding/Hoche, Freigabe, S. 16. Vgl. Binding/Hoche, Freigabe, S. 16.
346
3. Teil: „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
verstanden wissen.318 Beispielsweise dürfe in schmerzhaften und sicher tödlich verlaufenden Krebsfällen dem Patienten „eine tödliche Morphiuminjektion“ gegeben werden, die „vielleicht auch rascher, vielleicht aber auch erst in etwas längerer Zeit den Tod herbeiführt.“ 319 Stets müsse aber gewährleistet sein, dass „der Tod von der Krankheit oder der Wunde (. . .) sicher und zwar alsbald“ bevorstehe, so dass kein nennenswerter „Zeitunterschied zwischen dem infolge der Krankheit vorauszusehenden und dem durch das untergeschobene Mittel verursachten Tode“ bestehe.320 Komme es aber zu einer spürbaren Verkürzung der mit Krankheit oder Wunde zu erwartenden Lebenszeit, so sei Tötung „ohne rechtliche Freigabe321 unzulässig“.322 Den Begriff der „Euthanasie“ verwendet Binding – anders als viele Andere in der Diskussion um vermeintlich „lebensunwertes Leben“ – fast323 ausschließlich für diejenige aktive Tötung, die auch heute wenigstens größtenteils als „indirekte Sterbehilfe“ nach einhelliger Ansicht in der Rechtsprechung324 und weit überwiegender in der Literatur325 straflos ist. Es handelt sich dabei um die Gabe schmerzstillender Mittel unter Inkaufnahme einer lebensverkürzenden Wirkung als unbeabsichtigte Nebenfolge in Übereinstimmung mit dem erklärten oder gegebenenfalls mutmaßlichen Patientenwillen, wenn der ansonsten schmerzvolle Tod des Patienten bereits unmittelbar bevorsteht.326 Allerdings ist die von Binding skizzierte Tötung mit der heutigen indirekten aktiven Sterbehilfe inhaltlich nicht identisch. Der heutige Rahmen für eine straflose aktive Sterbehilfe ist etwas enger, als er von Binding gezogen zu sein scheint. So legen seine Ausführungen die Vermutung nahe, dass er nicht nur die für die Schmerzfreiheit des Betroffenen inkaufgenommene Tötung darunter fasst. Allem Anschein nach versteht er auch die gezielte Schmerzbefreiung durch die Tötung als „Euthanasie in richtiger Begrenzung“, solange nur kein wesentlicher Zeitunterschied zwischen einem drohenden schmerzhaften krankheits- oder verletzungsbedingten Todeseintritt und dem zuvorkommenden durch das Narkotikum festzustellen sei. Auch im übrigen Schrifttum Bindings finden sich hierzu 318
Binding/Hoche, Freigabe, S. 17. Binding/Hoche, Freigabe, S. 17. 320 Binding/Hoche, Freigabe, S. 17. 321 D.h. im Sinne Bindings eine rechtliche Ausgestaltung entweder als unverboten oder als rechtmäßig. 322 Binding/Hoche, Freigabe, S. 18. 323 Siehe aber Binding/Hoche, Freigabe, S. 37. 324 Vgl. aus jüngerer Zeit BGH NJW 1997, S. 807 (810); NJW 2010, S. 2963 (2966 f.). 325 Vgl. etwa Knauer/Brose, in: Spickhoff (Hrsg.), Medizinrecht, § 216 StGB, Rn. 23; Eser/Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, StGB, Vorb zu §§ 211 ff., Rn. 26; Schneider, in: MünchKomm StGB, Vorb zu §§ 211 ff., Rn. 104 f., jew. m. zahlr. w. N. 326 Vgl. BGH NJW 1997, S. 807 (810). 319
C. Inhalt der „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
347
keine klärenden Erläuterungen; noch im „Handbuch“ hatte er eine solche Ausnahme ausdrücklich abgelehnt.327 Die weitergehende Einschränkung der Tötungsnorm bei Binding verschreckt aus heutiger Perspektive damit, dass auch beabsichtigte Tötungen zugelassen werden. Dieser Affekt legt sich jedoch etwas bei einem Blick auf den dogmengeschichtlichen Kontext seiner Äußerungen. Schon um die Wende zum 20. Jahrhundert setzte sich in der Strafrechtswissenschaft die Ansicht durch, dass Ärzte sich bereits nach geltendem Recht durch eine Morphiumgabe trotz einer absehbar tödlichen Folge nicht strafbar machen, wenn dies als der einzige Weg erscheint, den sterbenden Patienten zuverlässig von Schmerzen zu befreien. Obwohl sich die große Mehrheit für eine solche Lösung aussprach, verzichteten die Befürworter einer einschränkenden Auslegung des § 212 RStGB großteilig auf den Versuch, den straffreien Raum genau zu umreißen.328 Genaueres hierzu lässt sich neben den Ausführungen Bindings in dieser Zeit nur in Jakob Richard Spinners Werk „Ärztliches Recht“ von 1914 finden. Dieser verfolgt im Gegensatz zu Binding einen subjektiven Ansatz. Spinner hält den Arzt, der zur Schmerzlinderung eines sterbenden Patienten eine womöglich tödliche Dosis eines Narkotikums verabreicht, für im Sinne der §§ 211 ff. StGB vorsatzlos. Schließlich sei in diesen Fällen „der ärztliche Wille nicht auf Tötung gerichtet, sondern wie beim Integritätseingriff auf eine Besserung des ,status ante‘“.329 Die zwei grundlegenden Ansätze zur Bewältigung des Problems lassen sich fortan und noch bis weit in das 20. Jahrhundert auffinden, ohne dass der inhaltliche Unterschied eigens thematisiert worden wäre. Aus heutiger Sicht mag überraschen, dass sich zunächst der objektive Bindingsche Ansatz unter Beibehaltung zum Teil sehr ähnlicher Formulierungen durchzusetzen schien: Noch 1951 in der sechsten (und kriegsbedingt gleichzeitig siebten) Auflage des Leipziger Kommentars heißt es etwa, die Frage, ob „auch die gegebene, in martervollen Auswirkungen begriffene Todesursache durch eine andere, leichtere oder schmerzlose vertauscht werden“ dürfe, sei „höchst umstritten“. Sie wird dort schließlich im Sinne Bindings beantwortet.330 1974 wird dieselbe Frage in der neunten, im entsprechenden Ab327
Siehe Binding, Handbuch, S. 803. Ebermayer/Lobe/Rosenberg, in: LK, 3. Aufl. 1925, S. 15 stimmen Binding ausdrücklich zu. Eher für einen subjektiven Ansatz scheint sich dagegen Hippel, Strafrecht, Bd. 2, S. 249 f. m. Fn. 7 aussprechen zu wollen. Er begründet die Straffreiheit der „Euthanasie“ etwas kurios als Geschäftsführung ohne Auftrag. Da anzunehmen ist, dass er das „fremde Geschäft“ in der Befreiung von Schmerzen (und nicht in der Tötung) sieht, wäre als Fremdgeschäftsführungswillen konsequenterweise auch ein entsprechendes subjektives Element zu fordern. Wie die meisten Beiträge lässt er jedoch letztlich offen, unter welchen genauen Bedingungen die „Euthanasie“ straffrei sein soll. In diesem Sinne ähnlich sind bspw. auch die Ausführungen Liszts, Lehrbuch, 21. u. 22. Aufl. 1919, S. 148. Zu den verschiedenen Formulierungen siehe überblicksartig C. Merkel, ,Tod den Idioten‘, S. 71 ff. m. zahlr. w.N. 329 Spinner, Ärztliches Recht, S. 261. 330 Nagler/Schaefer, in: LK, 6. u. 7. Aufl. 1951, § 212 StGB, Anm. III. 328
348
3. Teil: „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
schnitt von Lange kommentierten Auflage ebenfalls bejaht: „Dies ist nicht widerrechtlich, wenn zwischen dem Zeitpunkt des von selbst verlöschenden Lebens und dem Augenblick des durch die Sterbehilfe vermittelten Verscheidens kein merklicher (erkennbar ins Gewicht fallender) Unterschied besteht.“ 331 Jene auch von Binding vorgetragene Annahme der methodischen Zulässigkeit einer Einschränkung der Tötungsnorm unter dem teleologischen Gesichtspunkt der Schmerzvermeidung bei alsbald bevorstehendem Tod des Patienten setzt sich hier in vollem Umfang durch. Tatsächlich wird das Unbehagen, mit dem der Leser die objektive Lösung Bindings heute zunächst vernehmen wird, großteilig auf den Zusammenhang mit den übrigen Forderungen Bindings in der „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ zurückzuführen sein. Für sich genommen bietet die „reine Euthanasie in richtiger Begrenzung“ jedenfalls wenig Skandalöses. Die Positionen Bindings und Spinners beruhen auf demselben Gedanken und teilen denselben, auch heute noch anerkannten Zweck. Für den Fall eines alsbald bevorstehenden, schmerzhaften Todes formulieren sie eine Einschränkung der Norm, die dem Patienten ein würdeloses Sterben ersparen soll. Auch praktisch werden sich beide Ansätze aufgrund der schwierigen Beweislage kaum einmal unterscheiden. Dass die Rechtsprechung zur Erreichung dieses Ziels nicht den Bindingschen Ansatz wählte,332 dürfte vor allem auf der Erkenntnis beruhen, dass es einer theoretisch so weitgehenden Einschränkung der Tötungsnorm gar nicht bedarf. Das Ziel einer Schmerzfreiheit des Patienten ist in den allermeisten Fällen auch ohne intendiert-tödliche Schmerzmittelgabe zu erreichen, indem nicht tödliche, aber hohe Dosierungen verabreicht werden. Sollte es unter diesen Umständen doch zum verfrühten Tod kommen, ist der Arzt bereits nach der Konzeption Spinners straflos, wenn der Tod nicht beabsichtigt war – was zumindest regelmäßig nicht nachzuweisen sein wird. Verbliebene kritische Fälle ließen sich durch extensive Auslegungen von Entschuldigungstatbeständen sowie die – für Ärzte freilich bis dato berufsrechtlich nicht unproblematische – Beihilfe zum Suizid lösen.333 Ein Bedürfnis für eine noch weitere Einschränkung der Tötungsnorm ohne gesetzlichen Anlass besteht daher kaum.
331 Lange, in: LK, 9. Aufl. 1974, § 212 StGB, Rn. 10; zu Unrecht beruft sich Lange als Beleg seiner Ansicht auf ein Urteil des OLG Frankfurt a. M. (SJZ 1947, Sp. 621 (627)), das in dieser Hinsicht mit der Behauptung vage bleibt, es wäre im betreffenden Fall „vielleicht“ dann eine Entschuldigung anzunehmen gewesen, „wenn es sich um eine Euthanasie im eigentlichen Sinn gehandelt hätte, um einen Gnadentod also, der dem Tode verfallenden Kranken zur Abkürzung schmerzhaften Leidens Todeskampfes [sic] gewährt wird.“ 332 Vgl. BGH NJW 1997, S. 807 (810). 333 Darauf rekurriert auch Engisch in seiner 1948 erschienenen Arbeit zur „Euthanasie“, S. 10 ff.
C. Inhalt der „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
349
Das zentrale Argument für die objektive Lösung Bindings ist und bleibt hingegen die Rechtssicherheit aus ärztlicher Sicht; so ist unschwer zu erahnen, dass bei einer entsprechend hohen Dosierung eines Schmerzmittels die Grenze zwischen bedingtem und direktem Vorsatz gerade durch einen gut geschulten Palliativmediziner leicht überschritten sein kann. Vermehrt findet sich daher in der neueren Literatur zum Ausgleich der Schwächen einer subjektiven Lösung wieder der Versuch einer Objektivierung. Beispielsweise schreibt Jähnke in der elften Auflage des Leipziger Kommentars: „Der Unterschied [sc. der indirekten aktiven Sterbehilfe] zur verbotenen aktiven Euthanasie liegt [. . .] nicht im Vorsatzbereich, sondern in der objektiven Zwecksetzung des ärztlichen Handelns.“ 334 Diese Auffassung rückt von der allseits als zulässig erachteten indirekten aktiven Sterbehilfe wiederum sehr nah an die Ausführungen Bindings heran: Selbst wenn der Arzt im Falle eines alsbald bevorstehenden Todes seines Patienten weiß, dass ihn das verabreichte Schmerzmittel früher als auf natürlichem Wege sterben lassen wird, handelt es sich danach um eine indirekte aktive Sterbehilfe, solange nicht dieser verfrühte Tod das objektive Ziel der ärztlichen Handlung war, sondern das Erreichen der Schmerzfreiheit. Selbstverständlich ist auch in der von Binding skizzierten Vertauschung einer schmerzhaften Todesursache mit einer schmerzlosen anderen die Tötung nicht das eigentliche Ziel.335 Binding kann es nur deshalb als „unverbotenes Heilwerk“ bezeichnen, weil es auch ihm in diesem Punkt um die Schmerzfreiheit des Patienten geht. Damit positioniert sich Binding auch hinsichtlich des bis heute umstrittenen Problems der dogmatischen Einordnung einer Einschränkung der §§ 211 ff. RStGB als Rechtfertigung oder als Tatbestandslosigkeit des ärztlichen Verhaltens deutlich im Sinne des Letzteren. Es handle sich um „keine ,Tötungshandlung im Rechtssinne‘, sondern nur eine Abwandelung der schon unwiderruflich gesetzten Todesursache“ und somit um „eine reine Heilbehandlung.“336 Parallel zur Frage der körperverletzenden Natur ärztlicher Heileingriffe, in der Binding für eine Behandlung als tatbestandslos und unverboten votiert,337 werde hier ein ganz ähnlicher Streit geführt. Wiederum wählt Binding den Weg einer teleologisch-einschränkenden Normauslegung, womit die Konstruktion einer Rechtfertigung überflüssig wird. Sinn und Zweck der Tötungsnorm kann es für ihn nicht sein, die schmerzlose Ausgestaltung des schon eingesetzten Sterbevorgangs auch um den Preis einer möglichen Verkürzung der Lebenszeit zu verhindern. Hier von
334
Jähnke, in: LK, 11. Aufl. 2005, Vor § 211, Rn. 15; Hervorhebung hinzugefügt. Auf diesen Umstand weist Strassmann, Ärztliche Sachverständigen-Zeitung 27 (1921), S. 7 (7) hin, der einen wesentlichen Unterschied zwischen der Fallgruppe Bindings und einer Konzeption, die auf die Zwecksetzung der Schmerzmittelgabe abstellt, nicht erkennen kann. 336 Binding/Hoche, Freigabe, S. 18. 337 Siehe Binding, Lehrbuch BT, Bd. 1, S. 54 ff. 335
350
3. Teil: „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
einer relevanten Verkürzung zu sprechen bezeichnet Binding als Pedanterie.338 Eine „Ausnahme von der Tötungsnorm“ zu konstruieren sei daher nicht nötig, da das Verhalten von vornherein nicht unter die Norm falle.339 Weil Binding weder ein „Recht auf Leben“ oder auf den Tod, noch ein „Recht auf oder zur Sterbehilfe“ zugesteht, ist die „Euthanasie in richtiger Begrenzung“ für ihn „unverboten“.340 Die heute mehrheitlich vertretene Ansicht, nach der sich ein Arzt auch dadurch einer Körperverletzung schuldig machen kann, dass er keine indirekte Sterbehilfe leistet, hätte Binding daher wohl kritisch gesehen.341 Resümierend handelt es sich bei den Ausführungen Bindings zur „Euthanasie in richtiger Begrenzung“ um einen methodisch durchaus vertretbaren Standpunkt, der lange unverändert auch vorgetragen wurde und bis heute in seiner Tendenz Anhänger findet.342 Bindings Ansicht kann vor allem ein Rechtssicherheitsargument für sich geltend machen und bedeutet jedenfalls praktisch gegenüber der heutigen Situation keine bedeutsame weitere Einschränkung der Strafbarkeit. Er kommt darüber hinaus in diesem Punkt argumentativ ohne die beschriebene qualitative Abstufung menschlichen Lebens aus, indem er die beabsichtigte Schmerzfreiheit des bereits feststehenden Todes in den Mittelpunkt stellt und sich gegen eine allzu formalistische Betrachtungsweise der Kausalität ausspricht. Auch die späteren Ausführungen Bindings zur „weiteren Freigabe“ sind durch seine Ausführungen zur „Euthanasie in richtiger Begrenzung“ in keiner Weise präjudiziert. Zu Unrecht wird die Passage Bindings daher in der Literatur zur Freigabeschrift mit den nachfolgenden Fallgruppen „lebensunwerten Lebens“ in Verbindung gebracht. Auch aus heutiger Sicht beinhaltet der Abschnitt letztlich wenig, das zu grundlegender Kritik berechtigen würde. d) Möglichkeiten einer methodengerechten Ermittlung weiterer Fälle unverbotener Tötungen in der lex lata Mit den obigen drei Fällen glaubt Binding, alle Möglichkeiten unverbotener Tötungen aufgelistet zu haben, die dem Recht auf methodengerechte Weise zu entnehmen sind. Jede „weitere Freigabe“, schreibt er nun ausdrücklich, würde 338
Vgl. Binding/Hoche, Freigabe, S. 17. Binding/Hoche, Freigabe, S. 18 f. 340 Binding/Hoche, Freigabe, S. 19. Zur „Unverbotenheit“ als dritte Kategorie neben „Rechtswidrigkeit“ und „Rechtmäßigkeit“ siehe o. S. 220 ff. 341 Siehe bspw. Bindings Kommentar in der Freigabe, S. 16, Fn. 29. 342 Siehe Engisch, Euthanasie, S. 10 ff., 36 ff. Engisch trennt in seiner Bearbeitung des Themas aus dem Jahre 1948 daher zurecht scharf zwischen der „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ und der eben dargestellten „Euthanasie“. Während Erstere unter dem Eindruck der Erfahrungen mit dem nationalsozialistischen Regime die gebührende Kritik erfährt, wird Letztere eher wohlwollend besprochen. Der Darstellung Nowaks, „Euthanasie“ und Sterilisierung, S. 50, nach der Bindings Ausführungen zur Euthanasie eindeutig gegen (auch damals) geltendes Recht verstießen, kann demgegenüber nicht beigepflichtet werden. 339
C. Inhalt der „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
351
„bewirken, was die Freigabe des Selbstmordes343 nicht bewirkt: eine echte Einschränkung des rechtlichen Tötungsverbotes.“ 344 Wollte man dies, bedürfte es daher einer neuen Regelung, die eine weitere Rechtmäßigkeit oder Unverbotenheit der Tötung begründet. Einer solchen Einschränkung des Tötungsverbots in Form des verschiedentlich vorgebrachten Rechts auf den Tod widmet sich Binding ausführlich, würde es doch die Umsetzung einiger seiner Forderungen bereits nach geltendem Recht erlauben. Seine ablehnende Haltung wird jedoch schnell deutlich: Die historischen Anknüpfungspunkte zur Begründung eines solchen Rechts sieht er „in dem Gebiet der apriorischen wie der gesetzesauslegenden Theorie“.345 Eine „apriorische“ – soll heißen: naturrechtliche oder vernunftrechtliche – Argumentation ist bei Binding aber methodisch wenigstens zur Auslegung der lex lata untauglich. Nur kurz geht er daher auf sie ein. Sie bestehe in der Behauptung einer ganz „ungeheuren Macht der Einwilligung des Verletzten in die Verletzung“.346 Der Bruch eines fremden Willens werde schlicht zu seinem notwendigen Deliktsmerkmal erklärt. Binding versteht diese Argumentationsweise als naturrechtliches Relikt,347 das bereits durch die für ihn unzweifelhafte positivrechtliche Existenz unveräußerlicher Rechte widerlegt werden kann. Im Übrigen sind in seiner Normentheorie die Normen als Schutzobjekte der Strafgesetze stets subjektive staatliche Gehorsamsrechte. Da also neben etwaigen weiteren Verletzungen der Rechte oder Rechtsgüter Einzelner stets zumindest auch der Staat betroffen ist, kann es auf die alleinige Einwilligung des Einzelnen für Binding schon rechtslogisch nicht ankommen. Einer rechtfertigenden Einwilligung geht immer eine (ausdrückliche oder konkludente) Entscheidung der Rechtsquelle voraus, in der diese Einwilligung erst für erheblich erklärt wird. Damit bleibt Binding sowohl in normentheoretischer als auch in methodischer Hinsicht konsequent. Das Tötungsverbot ist ihm ausschließlich ein Fremdtötungsverbot. Da er zusätzlich von einer nicht akzessorischen Strafbarkeitsbegründung der Teilnehmer ausgeht, kann er die Teilnahmevoraussetzungen (außer bei eigenhändigen Delikten) auf die Tat als äußeres Geschehnis beschränken, während die Zielrichtung der Norm als Grundlage für den Schuldvorwurf individualisiert wird: Die Teilnahme an der Selbsttötung eines Menschen ist bei Binding für die Teilnehmer daher ein Normverstoß. Im Falle der „Euthanasie in rich343 Kurioserweise benutzt Binding/Hoche, Freigabe, S. 6 f., 14 selbst einige Male den Begriff „Selbstmord“, den er ebd., S. 8 kritisiert. 344 Binding/Hoche, Freigabe, S. 20 f. 345 Binding/Hoche, Freigabe, S. 21. 346 Binding/Hoche, Freigabe, S. 21 f. m. Verw. auf D. 47.10.1.5. Die Stelle liegt bekanntlich der Rechtsregel „volenti non fit injuria“ zugrunde, behandelt aber, wie Binding zurecht anmerkt, die römische Injurienklage, für die dieser Rechtsgrundsatz geradezu selbstverständlich ist. 347 Vgl. Binding/Hoche, Freigabe, S. 21.
352
3. Teil: „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
tiger Begrenzung“ allerdings ist die Frage der Zielrichtung der Tötungsnorm irrelevant; hier fehle es schon an einer „Tötung im Rechtssinne“, weshalb die Unverbotenheit sich zwingend auch auf die Teilnehmer erstrecken muss. Eine solche Beschränkung des Normumfangs durch teleologische Auslegung ohne jeden Anhaltspunkt im Wortlaut des zugrundeliegenden Strafgesetzes muss naturgemäß enge Grenzen haben. Dass diese auch von Binding beachtet werden, zeigt er in seinem Lehrbuch zum Besonderen Teil, das keinesfalls durch allzu freigiebig gezeichnete Grenzen der Strafbarkeit auffällt, sondern verlässlich zu damals und zumeist bis heute vertretbaren Ergebnissen gelangt. Schließlich wird auch sein im Folgenden darzustellender Umgang mit der „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ unter Beweis stellen, dass er methodisch gebotene Grenzen zu beachten wusste: Jene Freigabe glaubte er gerade nicht methodengerecht auf dem Wege der Auslegung erreichen zu können und sah sich deshalb auf eine rechtspolitische Forderung beschränkt. 2. Bereits verbotene Tötungen: Bindings Stellungnahme zum § 216 RStGB Eine andere Quelle, aus der sich Forderungen nach Anerkennung eines „Rechts auf den Tod“ speisen, bezeichnet Binding als die gegenüber dem Naturrecht „ängstlichere und zurückhaltendere“. 348 Gemeint sind verschiedene historische Gesetzgebungsunternehmen der deutschen Länder, welche die Einwilligung in der gesteigerten Form des „Verlangens“ als strafgesetzliche Privilegierung einführten, um einen angemessenen Grad an Rechtssicherheit in diesem sensiblen Bereich zu gewährleisten.349 In den Vorbereitungen zum Norddeutschen Strafgesetzbuch findet sich eine derartige Regelung erst im dritten Entwurf, der schließlich übernommen wurde und so auch ins darauffolgende RStGB überging.350 Die Strafmilderung stützt den Grundgedanken der rechtlichen Beachtlichkeit einer Einwilligung – gegebenenfalls in Form eines Verlangens. Wahrscheinlich deshalb sieht Binding ihre historische Entwicklung auch als geistige „Vorbereitung“ des später behaupteten „Rechts auf den Tod“.351 Das Resultat dieser rechtlichen Beachtlichkeit der Einwilligung bewirkt indes letztlich das Gegenteil, wie Binding zurecht feststellt; es entzieht einem geltend gemachten „Recht auf den Tod“ den positivrechtlichen Boden: 348
Binding/Hoche, Freigabe, S. 21. Vgl. bspw. § 834 II 20 PrALR (1794); Art. 125 StGB Sachsen (1834); Art. 239 StGB Württemberg (1839). 350 In der bis zum 16.6.1943 gültigen, am 1.1.1872 in Kraft getretenen Fassung lautete § 216 RStGB: „Ist Jemand durch das ausdrückliche und ernstliche Verlangen des Getödteten zur Tödtung bestimmt worden, so ist auf Gefängniß nicht unter drei Jahren zu erkennen.“ 351 Vgl. Binding/Hoche, Freigabe, S. 20. 349
C. Inhalt der „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
353
„[D]ie Tötung auf Verlangen bleibt also echtes Verbrechen – Verbrechen natürlich nicht im Sinn des RStGB. § 1 genommen.“ 352
Der Ausgestaltung der Einwilligung als Strafmilderungsgrund stimmt Binding wenig überraschend zu.353 Zum einen hätte die völlige Straflosigkeit für ihn den Grund und Boden eines „Rechts am Menschenleben“ bereitet, gegen das er sich wohl aus verschiedenen Gründen wendet.354 Weiterhin betont er wiederholt, der Staat habe zwar mit Recht die Souveränität des Einzelnen über sich selbst anerkannt, indem er den Suizid nicht verboten habe;355 diesen Umstand könne der Dritte bei der Tötung eines Anderen hingegen gerade nicht geltend machen. Für eine Unverbotenheit der Fremdtötung im Falle der Einwilligung fehle es danach an einer vergleichbaren Lage, so dass letztlich der potentielle Schaden für die Rechtsgemeinschaft zum Tragen komme. An der Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen möchte Binding daher im Grundsatz festhalten. Indes dürfe die Einwilligung auch keinesfalls völlig unbeachtlich bleiben. Die Abwesenheit einer Privilegierung führe ansonsten zwingend „zu dem furchtbar harten Schluß, die Tötung des Einwilligenden der Strafe des Mordes oder des Totschlages zu unterstellen.“ 356 Dies aber missachte den zentralen Unterschied zwischen diesen Deliktskonstellationen: „Die Tötung des Einwilligenden hat nicht nötig den Lebenswillen des Opfers zu brechen, durch welche Vergewaltigung die regelmäßige Tötung erst ihre furchtbare Schwere erlangt.“ 357
Besonders betont Binding, dass es sich um eine Senkung des objektiven Unwertgehalts der Tat handle. Dass auch ein mögliches Mitleidsmotiv hinzukomme, sei gut möglich, aber im Hinblick auf den Grund der Strafmilderung letztlich bedeutungslos.358 Diese Einordnung des § 216 RStGB war bereits durch seine strikte Ablehnung eines „Rechts auf den Tod“ – verstanden als ein Selbstbestimmungsrecht bei Fragen zu Leben und Tod – in allen Erscheinungsformen vorgezeichnet. Binding stellt den „Lebenswillen“ in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen und schlussfolgert, der Wert des Rechtsguts hänge offenbar aus Sicht des Rechts vom Vorhandensein eines solchen Lebenswillens ab. Anders gewendet: Ein Leben ohne Lebenswille ist nach Bindings Sichtweise des (in diesen Grundzügen) bis heute geltenden Rechts weniger schutzwürdig. 352 Binding/Hoche, Freigabe, S. 22 f. Das „Verbrechen“, von dem Binding spricht, ist ein solches im Sinne seiner Dogmatik, d.h. eine mit Strafe belegte Zuwiderhandlung gegen eine Norm (vgl. etwa Binding, Handbuch, S. 503). 353 Siehe Binding/Hoche, Freigabe, S. 23. 354 Siehe dazu o. S. 208 ff. 355 Vgl. Binding/Hoche, Freigabe, S. 14 sowie Binding, Handbuch, S. 697 ff. 356 Binding/Hoche, Freigabe, S. 23. 357 Binding/Hoche, Freigabe, S. 24. 358 Binding/Hoche, Freigabe, S. 24.
354
3. Teil: „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
Binding stößt damit auf ein fundamentales Problem der Interpretation von § 216 RStGB: Wie lässt sich angesichts der offenkundig fehlenden Verfügungsmacht des Einzelnen über sein Leben der Schluss vermeiden, das Recht bewerte das Leben des seine Tötung Verlangenden geringer als andere Menschenleben, wenn es doch auf die Motivlage des Täters für die Einschlägigkeit des § 216 StGB nicht ankommt? Vor dieses Dilemma gestellt, sehen zahlreiche moderne Interpretationen in § 216 StGB vor allem einen Übereilungsschutz.359 Sie sprechen dem Einzelnen damit implizit ein vollständiges Selbstbestimmungsrecht über sein eigenes Leben zu, das es ihm grundsätzlich auch erlauben würde, in seine eigene Tötung rechtswirksam einzuwilligen. § 216 StGB erscheint aus diesem Blickwinkel paternalistisch, nämlich als unwiderlegliche Vermutung einer übereilten Lebensbeendigung, wenn diese aus den eigenen Händen gegeben wird. Dieser Paternalismus findet seine Rechtfertigung in dem besonderen Lebensschutz, den unsere Rechtsordnung festzuzurren bemüht ist. Der Vorteil einer solchen Betrachtungsweise hängt eng mit Bindings Verständnis der Grundlagen der Tötung auf Verlangen zusammen: Da er ein „Recht auf den Tod“ in jeder Erscheinungsform ablehnt, kann er den Zweck der Privilegierung gar nicht in der prinzipiellen Rechtsmacht des Rechtsgutsträgers sehen. Steht ihm der Verweis auf die Macht des Subjekts aber nicht offen, so bleibt einzig eine objektive Bewertung des Lebens durch die Rechtsordnung. Das Leben ohne Lebenswillen wird nach seinem Verständnis daher durch den Rechtswillen für weniger schützenswert erachtet. Dieses Ergebnis betrachtet Binding gleich mehrfach als eine Bestätigung seiner Grundansichten: Die Privilegierung dient dann zunächst als positivrechtlicher Beweis für eine qualitative Bewertung verschiedener Menschenleben durch die Rechtsordnung. Weiterhin wird so die Bereitschaft des Rechts belegt, den Lebenswillen des Einzelnen als Faktor in einer solchen qualitativen Bewertung des Lebens miteinzubeziehen. Schon aufgrund dieser Befunde darf nicht überraschen, dass Binding dem so verstandenen Grundgedanken des § 216 RStGB beipflichtet.360 Nicht an diesem Grundgedanken, wohl aber an seiner konkreten Ausgestaltung im Gesetz äußert Binding jedoch in vier Punkten Kritik. Zunächst hält er angedrohte Gefängnisstrafe von nicht unter drei Jahren für deutlich zu hoch. Weiterhin widerstrebt es ihm, die Tötung im Falle einer Einwilligung in ihrer nicht zum „Verlangen“ gesteigerten Form „wieder als Mord oder gewöhnlichen Totschlag zu behandeln“.361 Geht ihm die Privilegierung an dieser Stelle nicht weit genug, 359 Vgl. etwa Hoerster, NJW 1986, S. 1786 (1789); Roxin, NStZ 1987, S. 345 (348); Schroth, GA 2006, 549 (563); Dreier, JZ 2007, 317 (320); Schneider, in: MünchKomm StGB, § 216 StGB, Rn. 8. 360 Vgl. Binding/Hoche, Freigabe, S. 24 f. 361 Binding/Hoche, Freigabe, S. 24.
C. Inhalt der „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
355
stört es ihn andererseits, dass sie „ihre Wohltat auch dem sehr grausam Tötenden“ erweise.362 Nur der vierte und letzte Kritikpunkt spielt im Fortgang der Freigabeschrift eine größere Rolle. Binding moniert, dass „das Gesetz [. . .] nicht zwischen Vernichtung des lebenswerten und des lebensunwerten Lebens“ unterscheide.363 Hier gesteht Binding einerseits den Mangel an positivrechtlichen Belegen für eine qualitative Abstufung des menschlichen Lebens in objektiver Hinsicht überraschend deutlich ein. Vor allem aber tritt hervor, dass Binding nach der lex lata keinesfalls von einer Rechtmäßigkeit, Unverbotenheit oder auch nur Straflosigkeit der Tötung von Menschen ausgeht, deren Leben er als „lebensunwert“ bezeichnet. Im Folgenden geht es ihm vielmehr gerade darum, für eine solche Änderung des Strafgesetzes zu streiten. Es handelt sich bei diesem Perspektivwechsel um die merklichste und für das Verständnis der Freigabeschrift bedeutsamste Bruchstelle in Bindings Ausführungen. 3. Zwischenergebnis: „Leben“ und „Lebenswille“ bei Binding Der Suizid gilt nach dem Dafürhalten Bindings für das Recht als „unverboten“. Mit dem Begriff der „Unverbotenheit“ warf Binding ein Problemfeld auf, das bis heute unter dem Stichwort des sogenannten „rechtsfreien Raumes“ diskutiert wird.364 Da das Recht die Selbsttötung zweifellos nicht als rechtswidrig einstuft, hat Binding sich zum Beleg seiner Einordnung nur mit einer möglichen Rechtmäßigkeit in seinem Sinne, also der Billigung durch die Rechtsordnung auseinanderzusetzen. Ein für eine solche Einordnung nötiges „Recht auf Leben“ lehnt er aber ab. Die heutige Vorstellung eines subjektiven Abwehrrechts gegenüber dem Staat ist ihm völlig fremd. Sein Verständnis eines solchen Rechts entspricht eher dem eines Rechts am Menschenleben, einem Selbstbestimmungsrecht bei Fragen zu Leben und Tod. Dafür aber sieht Binding keine Anhaltspunkte im Recht; er warnt davor, die mangelnde Normwidrigkeit des Suizids als bloße Reflexwirkung der Fremdtötungsnorm mit einem Recht am eigenen Leben zu verwechseln.365 Die Rechtsordnung tue gut daran, ein Recht nicht zu gewähren, das letztlich zu 362
Binding/Hoche, Freigabe, S. 24. Binding/Hoche, Freigabe, S. 24; Hervorhebung hinzugefügt. 364 Von der Anerkennung einer dritten Kategorie neben „rechtmäßig“ und „rechtswidrig“ hängen diese Ausführungen Bindings jedoch nicht ab. Konsequenz einer Ablehnung dieser dritten Kategorie neben der Rechtswidrigkeit und Rechtmäßigkeit wäre schließlich nicht etwa die Unterstellung einer positiven Bewertung des Suizids als „rechtmäßig“, sondern die Erweiterung der „Rechtmäßigkeit“ auf einen nicht sanktionierten Bereich ohne positive Bewertung durch das Recht. Siehe dazu bspw. Roxin, Strafrecht AT, Bd. 1, § 14, Rn. 1. 365 Binding/Hoche, Freigabe, S. 11. 363
356
3. Teil: „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
einer Versachlichung des Menschen führe. Der Einzelne würde einem „Dualismus untertan“ 366 gemacht, indem ihm sein eigenes Leben gegenübergestellt werde; erst auf diese Weise erlangte er ein Recht an sich selbst, das prinzipiell auch als übertragbares Recht denkbar sei. Eine solche Vorstellung verstößt offenkundig gegen das Menschenbild Bindings. Bei aller gebotenen Vorsicht in der Nutzung des Begriffs geht es nicht zu weit, ihm insoweit einen bestimmten Würdebegriff zu unterstellen, mit dem er ein solches Recht nicht in Einklang sieht. Dass Binding diese Einstellung nicht hindert, an späterer Stelle frei über die rechtliche Möglichkeit einer „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ zu referieren, erlaubt allerdings Rückschlüsse auf den (durchaus ernst zu nehmenden) Kern seiner Auffassung von „Menschenwürde“. Während die Gewährung eines „Rechts auf den Tod“ für ihn einer unwürdigen Versachlichung des Menschen gleichkäme, sieht er in der Bewertung eines Menschenlebens als „lebensunwert“ und in der nachfolgenden Tötung dieses Menschen keine solche Problematik. Dies deutet bereits auf eine Verknüpfung der Würde des Menschen mit konkreten oder wenigstens potentiellen Eigenschaften hin, auf die an späterer Stelle noch genauer einzugehen sein wird. Die Schuld bei der Zuwiderhandlung gegen die Fremdtötungsnorm hängt für Binding auch vom Wert des betroffenen Menschenlebens ab; das Rechtsgut „Leben“ hält er für qualitativ in objektiver und in subjektiver Hinsicht abstufbar. Die Möglichkeit unterschiedlicher objektiver Lebenswerte liegt für Binding bereits in der Natur der Rechtsgüter begründet, so dass eine Rechtsordnung – wollte sie diese Unterschiede unberücksichtigt lassen – aus seiner Sicht entsprechende rechtliche Vorkehrungen zu schaffen hätte, die Binding in der 1919 geltenden Rechtsordnung nicht vorfindet. Insbesondere erkennt er keine besondere Eigenschaft des Rechtsguts „Leben“ an, die einer qualitativen Abstufung entgegenstände. Bindings Ausführungen zu § 216 RStGB liefern weitere Erkenntnisse über seine grundsätzlichen Rechtsansichten. Da er ein „Recht auf Leben“ in keiner Form anzuerkennen bereit ist, muss sich sein Verständnis dieser Vorschrift auch von modernen Interpretationsweisen abgrenzen, welche den Paragraphen mit einem Übereilungsschutz begründen. Wollte das Strafgesetz nur vor einer solchen Übereilung schützen, so erkennte es im Umkehrschluss gleichzeitig eine prinzipielle Verfügungsmacht des Einzelnen über sein Leben an; erst durch die (unwiderlegliche) Vermutung einer Übereilung würde dieser Grundsatz durchbrochen. Lehnt man eine solche Begründung ab, so liegt die Begründungsalternative Bindings für die Privilegierung nahe: Für ihn handelt es sich schlicht um weniger schutzwürdiges Leben, da bei einem entsprechendem Verlangen kein Lebenswille gebrochen werde. Jener Bruch eines Lebenswillens sei Grundlage für die besondere Schwere der übrigen Tötungsdelikte. Der Lebenswille steht für Binding 366
Binding, Handbuch, S. 699.
C. Inhalt der „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
357
damit im Zentrum der verschiedenen Strafgesetze wider die Tötung anderer Menschen und dient gleichzeitig zur weiteren qualitativen Abstufung des Rechtsguts „Leben“, diesmal freilich mit dem „Lebenswillen“ durch einen subjektiven Faktor. Trotz der aus heutiger Sicht befremdlichen Ausführungen zur qualitativen Abstufung des Rechtsguts „Leben“ ist aber festzuhalten, dass der Umfang der Fremdtötungsnorm bei Binding kaum geringer als nach heutiger Rechtsauffassung ist. Beschränkt wird dieser Umfang vor allem durch den Notstand und durch die Figur der „Euthanasie in richtiger Begrenzung“. Letztere betrifft vor allem die heute ebenfalls mehrheitlich für straflos gehaltene „indirekte aktive Sterbehilfe“. Daneben erkennt Binding ausdrücklich keine weiteren Fälle „unverbotener“ Fremdtötungen an. Die Ablehnung eines „Rechts auf Leben“, die qualitative Abstufung des Rechtsguts „Leben“ und die rechtliche Relevanz eines „Lebenswillens“ werden in ihrer Gesamtheit allerdings zu wichtigen Bausteinen für den Fortgang der „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“. 4. „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ als rechtspolitische Forderung Das für den weiteren Verlauf der Freigabeschrift bereits vermutete Bild einer Argumentation de lege ferenda bestätigt sich alsbald: Binding geht auf verschiedene Rechtsordnungen ein, in denen die Unterscheidung zwischen der Tötung „lebenswerten“ und „lebensunwerten“ Lebens bereits Eingang gefunden habe. Zunächst verweist er hierzu auf verschiedene Gesetzbücher deutscher Partikularstaaten. So enthält das Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 einen von Binding begrüßten Strafmilderungsgrund. § 833 PrALR lautete: „Wer tödtlich Verwundeten, oder sonst Todkranken, in vermeintlich guter Absicht das Leben abkürzt, ist gleich einem fahrläßigen Todschläger nach §. 778.779. zu bestrafen.“ Mit Art. 239 des Württembergischen Strafgesetzbuchs von 1839, § 147 des Braunschweiger Strafgesetzbuchs von 1840, § 207 des Badener Strafgesetzbuchs von 1845, Art. 120 des Thüringer Strafgesetzbuchs von 1850 und Art. 120 des Hamburger Strafgesetzbuchs von 1869 kann Binding auf eine Fülle weiterer Regelungen ähnlichen Inhalts verweisen. Auch im (bis heute) geltenden Recht wird Binding mit dem § 235 des Norwegischen Strafgesetzbuchs von 1902 fündig. Alle diese Rechtssätze setzen die Lebensqualität als weiteren Faktor neben das durch die Tötung auf Verlangen privilegierend herangezogene Fehlen eines Lebenswillens. Bezogen auf § 833 PrALR bedauert Binding ausdrücklich, dass eine „solch köstliche Satzung [. . .] für das deutsche Volk keine Frucht getragen“ habe.367 Was Binding bedauert, ist freilich nur die ausdrückliche Bestimmung einer objektiven qualitativen Unterscheidung von Menschenleben. Als dem Recht vorgelagerte Möglichkeit zur Bemessung des konkreten Schuldvorwurfs 367
Binding/Hoche, Freigabe, S. 26.
358
3. Teil: „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
nimmt Binding wie beschrieben auch für das seinerzeit geltende deutsche Recht in der Sache eine sehr ähnliche Wertung an. Die zitierten Gesetze stellen allerdings „nur“ Privilegierungsgründe auf. Die Frage, der sich Binding nun widmet, wird in ihrer klaren Formulierung sämtliche verbliebenen Zweifel an der Natur der Ausführungen beseitigen. Es geht ihm um zukünftiges deutsches Recht, um eine rechtspolitische Forderung. Die Frage stellt die einzige große Bruchstelle im Beitrag Bindings dar, den perspektivischen Wechsel von der lex lata zur lex ferenda: „[E]s stünde zurzeit de lege ferenda doch zur Frage, ob nicht der eine oder der andere dieser beiden Strafmilderungsgründe zu einem Strafausschließungsgrund erhoben oder ob nicht mindestens beim Zusammentreffen der beiden Privilegierungsgründe [. . .] die Tötung als gerechtfertigt, will sagen als unverboten betrachtet werden solle?“ 368
Bindings Beantwortung dieser Frage wird im Folgenden dargestellt und kritisch beleuchtet. Dabei orientiert sich die Untersuchung an Bindings eigenem Aufbau. Binding führt zunächst den Grundgedanken und Voraussetzungen der geforderten Gesetzgebung ein [a)]. Im Hauptteil seiner Argumentation behandelt er die verschiedenen Gruppen von Menschen, für die er die Möglichkeit von Tötungsfreigaben fordert [b)]. Schließlich widmet er sich prozessualen Fragen der Entscheidung über die Freigabe im Einzelfall [c)] sowie der Möglichkeit und Bedeutung von Irrtümern über die Voraussetzungen einer in seinem Sinne rechtlich zuzulassenden Tötung [d)]. a) Grundlagen der Freigabeentscheidung Die Kernfrage, die sich der Gesetzgeber nach der Vorstellung Bindings stellen sollte, deutet auf ein utilitätsbezogenes Modell hin und bestätigt daneben ein weiteres Mal die Bereitschaft Bindings, qualitativ zwischen verschiedenen „Lebens“Rechtsgütern zu unterscheiden: „Gibt es Menschenleben, die so stark die Eigenschaft des Rechtsgutes eingebüßt haben, daß ihre Fortdauer für die Lebensträger wie für die Gesellschaft dauernd allen Wert verloren hat?“ 369
Die Passage erinnert an Jost,370 den Binding in einer Fußnote auch zitiert.371 In der grundsätzlichen Möglichkeit eines „negativen“ Werts menschlichen Lebens pflichtet Binding ihm bei. Binding beschreibt sein „beklommenes Gefühl“ beim Gedanken daran, „wie verschwenderisch wir mit dem wertvollsten, vom stärksten Lebenswillen und der größten Lebenskraft erfüllten und von ihm getragenen Leben umgehen, und 368 369 370 371
Binding/Hoche, Freigabe, S. 25; Hervorhebung hinzugefügt. Binding/Hoche, Freigabe, S. 27. Vgl. Jost, Recht auf den Tod, S. 26. Binding/Hoche, Freigabe, S. 27, Fn. 47.
C. Inhalt der „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
359
welch Maß von oft ganz nutzlos vergeudeter Arbeitskraft, Geduld, Vermögensaufwendung wir nur darauf verwenden, um lebensunwerte Leben so lange zu erhalten bis die Natur – oft so mitleidlos spät – sie der letzten Möglichkeit der Fortdauer beraubt.“ 372
Mit dem angesprochenen „Mitleid“ gesellt sich noch ein zweiter Faktor neben die Interessenkalkulation. Binding beteuert, es gehe ihm um Menschen, „deren Tod für sie eine Erlösung und zugleich für die Gesellschaft und den Staat insbesondere eine Befreiung von einer Last ist“.373 Für die zu treffende gesetzgeberische Entscheidung sei also abzuwägen, „ob die energische Forterhaltung solcher Leben als Beleg für die Unangreifbarkeit des Lebens überhaupt den Vorzug verdiene, oder die Zulassung seiner alle Beteiligten erlösenden Beendigung als das kleinere Übel erscheine?“ 374 Die Antwort auf die Frage nach der „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ solle „durch rechnende Vernunft allein nicht definitiv gegeben werden [. . .]: ihr Inhalt muß durch das tiefe Gefühl moralischer Richtigkeit die Billigung erhalten. Jede unverbotene Tötung eines Dritten muß als Erlösung mindestens für ihn empfunden werden.“ 375
Wiederum wird das Jostsche Vorbild deutlich. Die danach aufgelisteten Fälle, in denen Binding eine Tötungsfreigabe als geboten sieht, unterliegen also einer zweifachen Prüfung: Zunächst müsse ein entsprechendes Ergebnis der reinen Interessenkalkulation vorliegen; der objektive „Wert“ eines Menschenlebens müsse danach „null“ oder „negativ“ sein. Dieser objektive Wert wird sowohl aus Sicht des Einzelnen im Sinne einer verbliebenen objektiven Genussmöglichkeit des Lebens ermittelt, als auch aus Sicht der Gesellschaft, deren Interesse am Weiterleben eines Menschen in die Berechnung einbezogen wird. Weiterhin nimmt Binding Bezug auf den bereits in der Auseinandersetzung mit § 216 RStGB behandelten „Lebenswillen“ und erklärt dessen Fehlen zur konstitutiven subjektiven Voraussetzung für die Freigabe. Im Hinblick auf den darauffolgenden Inhalt eher überraschend betont Binding sogar: „Daraus ergibt sich aber eine Folgerung als unbedingt notwendig: die volle Achtung des Lebenswillens aller, auch der kränksten und gequältesten und nutzlosesten Menschen. [. . .] Selbstverständlich kann auch gegenüber dem Geistesschwachen, der sich bei seinem Leben glücklich fühlt, von Freigabe seiner Tötung nie die Rede sein.“ 376
Als – wie noch zu sehen sein wird – etwas diffuser und missverständlicher dritter Punkt solle darüber hinaus ein „tiefes Gefühl moralischer Richtigkeit“ Voraussetzung für die Freigabe sein.
372 373 374 375 376
Binding/Hoche, Freigabe, S. Binding/Hoche, Freigabe, S. Binding/Hoche, Freigabe, S. Binding/Hoche, Freigabe, S. Binding/Hoche, Freigabe, S.
27. 28. 28. 28. 28 f.
360
3. Teil: „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
Die Bedeutung dieser Voraussetzungen im Einzelnen und die sich daraus ergebenden Rückschlüsse sind späterer Analyse vorbehalten. Einstweilen kann festgehalten werden, dass Binding drei entscheidende Prüfungspunkte hervorhebt, die allesamt stark an Jost erinnern: An erster Stelle steht eine reine objektive Interessenkalkulation, innerhalb derer sowohl gesellschaftlicher Nutzen durch die Erhaltung eines Menschenlebens als auch ein objektives Interesse des Einzelnen am Weiterleben bemessen wird. Weiterhin spielt der Lebenswille des Einzelnen eine Rolle, den Binding schon als Beweggrund für § 216 RStGB heranzog. Auf diese Weise will Binding die für die Freigabeentscheidung konstitutive subjektive Wertlosigkeit eines Menschenlebens ermitteln. Zuletzt führt Binding noch ein nicht näher definiertes „Mitleid“ an, das stets ausschlaggebend für die Entscheidung über die Tötungsfreigabe sein soll. Die Herausstellung des Interesses des Einzelnen am Weiterleben, des niemals zu brechenden Lebenswillens verleitet zu der Vermutung, Binding messe der autonomen Entscheidung des Betroffenen – modern gesprochen: der Patientenautonomie – in seiner rechtspolitischen Forderung ein besonderes Gewicht bei. Die Berechtigung dieser Annahme, die in starkem Kontrast zu den andernorts ausfallenden Bemerkungen Bindings gegenüber geistig behinderten Menschen steht, wird einen der Schwerpunkte der nachfolgenden Analyse der Freigabeschrift bilden. b) Die einzelnen Fallgruppen in der Darstellung Bindings Binding sieht die dargestellten Voraussetzungen in drei Fallgruppen als erfüllt an. Zunächst möchte er die Tötung unheilbar physisch Kranker „freigeben“, die in ihre Tötung eingewilligt haben [aa)]. Von besonderer Bedeutung für die spätere Analyse wird danach die Gruppe der psychisch Kranken sein, deren Tötung nach der Forderung Bindings ebenfalls „unverboten“ sein sollte [bb)]. Zuletzt behandelt er die Gruppe unheilbar physisch Kranker, die zwar ihre Einwilligung nicht geben können, aber noch nicht so bald sterben würden, dass eine „Euthanasie in richtiger Begrenzung“ 377 möglich wäre [cc)]. aa) Physisch unheilbar Kranke, die in ihre Tötung einwilligen Binding spricht sich zunächst für die Freigabe der Tötung unheilbar physisch Kranker aus, die „im vollen Verständnis ihrer Lage den dringenden Wunsch nach Erlösung besitzen und ihn in irgendeiner Weise zu erkennen gegeben haben.“ 378 Die behandelten Privilegierungsgründe träfen hier zusammen. Zum einen läge
377 378
Binding/Hoche, Freigabe, S. 16 ff.; siehe dazu o. S. 345 ff. Binding/Hoche, Freigabe, S. 29.
C. Inhalt der „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
361
durch die Einwilligung379 des Betroffenen kein zu brechender „Lebenswille“ vor. Zum anderen sei auch kein objektiver „Lebenswert“ feststellbar, der sich aus einer Kalkulation von Nutzen und Belastung für die Gesellschaft sowie von Lust und Leid für den Kranken oder Verletzten ergibt. Auch die zusätzliche Voraussetzung einer mitleidsmotivierten Tötung, nach welcher der Tod „mindestens“ für den Betroffenen selbst als Erlösung empfunden werden müsse,380 sieht Binding offenbar erfüllt. Bei der Diagnose des fatalen Verlaufs der Krankheit oder Verletzung sei nur entscheidend, dass der Betroffene nach den konkreten Umständen „unrettbar“ ist; belanglos müsse sein, ob ihm unter anderen Umständen geholfen werden könnte.381 Ohne Folgen sollten auch Einsprüche der Angehörigen bleiben: „[D]as Mitleid mit dem Unrettbaren“ müsse „hier unbedingt überwiegen“, zumal er es sei, der eine für ihn untragbare Lebenslast zu tragen habe, die ihm niemand abnehmen könne.382 An diesem Punkt unterscheidet sich Binding merklich von Jost, der nicht auf die zwingende Unbeachtlichkeit der Einwände Angehöriger abstellt, sondern diesen schlicht eine falsche Einschätzung unterstellt.383 Vielsagend hält Binding es schließlich auch für unerheblich, ob der physisch Kranke Schmerzen empfindet. „Die schmerzlose Hoffnungslosigkeit“ verdiene „das gleiche Mitleid.“ 384 Durch diese Feststellung scheint es, als beträfe das Mitleid genauso wie der nicht zu brechende „Lebenswille“ stets die Perspektive des Betroffenen selbst. Der weitere Verlauf der Untersuchung wird indes zeigen, dass es sich beim beschriebenen „Mitleid“ Bindings konzeptionell gar nicht um solches handelt, sondern um ein reines Bedauern der konkreten Existenz eines anderen Menschen, das ganz unabhängig von tatsächlichem Leid des Kranken vorliegen kann. Da alle drei Voraussetzungen für eine Freigabe aus Sicht Bindings in dieser Fallgruppe erfüllt sind, resümiert er in einer später noch mehrfach verwandten Formulierung: „Ich kann nun vom rechtlichen, dem sozialen, dem sittlichen, dem religiösen Gesichtspunkt aus schlechterdings keinen Grund finden, die Tötung solcher den Tod dringend verlangender Unrettbarer nicht an die, von denen er verlangt wird, freizugeben: ja ich halte diese Freigabe für eine Pflicht des gesetzlichen Mitleids“.385
379 An die Einwilligungsfähigkeit scheint Binding/Hoche, Freigabe, S. 30 allem Anschein nach keine besonderen Voraussetzungen knüpfen zu wollen; es handelt sich also um die Fähigkeit, die Tragweite des eigenen Rechtsgutsverzichts zu verstehen. 380 Binding/Hoche, Freigabe, S. 28; siehe weiterführend dazu u. S. 365 f. 381 Binding/Hoche, Freigabe, S. 29 f. 382 Binding/Hoche, Freigabe, S. 31. 383 Vgl. Jost, Recht auf den Tod, S. 27 ff. 384 Binding/Hoche, Freigabe, S. 29. 385 Binding/Hoche, Freigabe, S. 30 f.
362
3. Teil: „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
bb) Psychisch kranke und geistig behinderte Menschen Die zweite Gruppe, deren Tötung Binding gesetzlich „freigeben“ lassen will, beschreibt er diffamierend, wenngleich im Sprachgebrauch der Zeit nicht unüblich als „unheilbar Blödsinnige“ 386 und will damit sowohl psychisch unheilbar Kranke als auch geistig schwer behinderte Menschen verstanden wissen. Die in juristischer Hinsicht hervorstechende Besonderheit bei der Behandlung dieser Gruppe liegt in dem notwendigen Mangel einer Einwilligung in die eigene Tötung. Binding stellt diese Besonderheit in den Mittelpunkt seiner Betrachtung. Wie wir bereits sahen, versteht er diese Einwilligung aber nicht im Sinne der Ausübung einer grundsätzlich vorhandenen Rechtsmacht, die eine Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen nur noch aus paternalistischen Motiven denkbar erscheinen ließe. Die Privilegierung des § 216 RStGB führt er stattdessen auf den Mangel eines zu brechenden Lebenswillens zurück, der das konkret betroffene Rechtsgut „Leben“ weniger schützenswert erscheinen lasse. Die Einwilligung dient ihm insofern in dogmatischer Hinsicht lediglich als Indiz subjektiver Wertlosigkeit eines Menschenlebens. Nicht die Einwilligung als solche, sondern die in ihr zum Ausdruck gekommene Aufgabe des Lebenswillens stellt für ihn den Grund der Privilegierung des § 216 RStGB dar. Die Unterscheidung wirkt sich an dieser Stelle dramatisch aus. Durch sie ist der Weg zur Feststellung der subjektiven Wertlosigkeit des Lebens dieser Gruppe von Menschen vorgezeichnet. Binding kann ohne weiteres zugeben: Das Leben dieser Menschen sei „zwar absolut zwecklos, aber sie empfinden es nicht als unerträglich.“ 387 Zu einem subjektiven „Lebenswert“, einem „Lebenswillen“ führt ihn dieser Befund nämlich nicht. Vielmehr spricht er den betroffenen Menschen einen insofern beachtlichen Willen insgesamt ab. Ihrer eigenen Tötung ständen sie indifferent gegenüber: „Sie haben weder den Willen zu leben, noch zu sterben. So gibt es ihrerseits keine beachtliche Einwilligung in die Tötung, andererseits stößt diese auf keinen Lebenswillen, der gebrochen werden müßte.“ 388
Benzenhöfer bemerkt hierzu, „ein Blick in eine Anstalt hätte ihn eines Besseren belehren können.“ Doch Binding sei „auf sein Vorurteil festgelegt“ gewesen, „wonach bei diesen Menschen kein ,zu brechender Lebenswille‘ vorliege.“ 389 Zweifel an dieser Sichtweise Benzenhöfers ergeben sich schon aufgrund der späteren Zustimmung des besser mit den Realitäten psychisch kranker und geistig behinderter Menschen vertrauten Hoche. Der Erkenntnis eines durchaus vorhan386 387 388
Binding/Hoche, Freigabe, S. 31. Binding/Hoche, Freigabe, S. 31. Binding/Hoche, Freigabe, S. 31; Hervorhebung aus dem Original nicht übernom-
men. 389
Benzenhöfer, Der gute Tod?, S. 91.
C. Inhalt der „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
363
denen Lebenswillens in diesem Sinne bei psychisch sehr kranken oder geistig behinderten Menschen hätte sich Binding auch ohne Besuch in entsprechenden Anstalten kaum verschließen können – und tat es wohl auch nicht. Wahrscheinlicher ist, dass er dem Lebenswillen von bestimmten Menschen schlicht die rechtliche Beachtlichkeit abspricht, ihn als bloß „natürlichen“ Lebenswillen in einen Gegensatz zu einem „vernünftigen“ Lebenswillen zu setzen versucht. Nicht etwa das plumpe Inabredestellen jeglicher Lebensfreude psychisch schwer kranker oder geistig schwer behinderter Menschen ist sein Anliegen; vielmehr erklärt Binding eine nicht näher bestimmte konkrete Vernunftbegabung eines Menschen zum wesentlichen Merkmal eines rechtlich beachtlichen Lebenswillens. Entscheidend ist hierfür, dass es sich beim Begriff des Lebenswillens um ein juristisches Konstrukt handelt, welches Binding im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit § 216 RStGB selbst einführt und insoweit zur Begründung der lex lata nutzte. Diesen Begriff bestimmt Binding in einer dem Anliegen der Freigabeschrift entsprechenden Weise nun inhaltlich auch für die lex ferenda und kettet ihn an ein bestimmtes Maß konkreter Vernunftfähigkeit. In dieser Ausgestaltung kann Binding den konkreten Lebenswillen dann in ähnlicher Weise wie einen Geschäftswillen ausschließen. Der rechtliche Schutz eines menschlichen Lebens ist die juristische Übersetzung des Respekts, den eine Gesellschaft auch nach Bindings Dafürhalten vor dem Leben eines Menschen haben sollte.390 Diese Achtung vor dem menschlichen Leben wird für Binding aber in dem Moment obsolet, in dem dieser die Fähigkeit zur Bildung eines vernünftigen Willens permanent verliert. Die Zielrichtung einer Ausgrenzung nicht oder nicht mehr in einem bestimmten Sinne vernunftfähiger Menschen aus dem rechtlichen Lebensschutz tritt in Bindings Ausführungen hervor. Deutlich wird dies bereits in der angepassten (und seltsam fehlerhaften) Wiederholung seines Résumés aus dem ersten Teil: „Wieder finde ich weder vom rechtlichen, noch vom sozialen, noch vom sittlichen, noch vom religiösen Standpunkt aus schlechterdings keinen [sic] Grund, die Tötung dieser Menschen, die das furchtbare Gegenbild des Menschen bilden und fast in Jedem Entsetzen erwecken, der ihnen begegnet, freizugeben“. 391
Gemeint ist natürlich, er finde keinen Grund, sie nicht freizugeben. Eine so ausfallende Sprache Bindings macht sich nur in Bezug auf psychisch kranke oder geistig behinderte Menschen bemerkbar. Ganz unmissverständlich bringt er zum Ausdruck, diese Menschen geradezu als das Gegenteil „echter“ Menschen zu sehen. Aufgrund der postulierten Unfähigkeit dieser Menschen, einen „vernünftigen“ Willen und damit auch einen „vernünftigen“ Lebenswillen zu bilden, sieht er sie nicht als legitime Schutzobjekte der Norm wider die Tötung anderer Menschen. 390 391
Vgl. Binding/Hoche, Freigabe, S. 28. Binding/Hoche, Freigabe, S. 32.
364
3. Teil: „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
Auch steht seine Forderung im Einklang mit seinen Ausführungen zu einer angeblich drohenden „Verdinglichung“ des Menschen für den Fall, dass diesem ein Recht auf Leben zugestanden wird. Zahlreiche Passagen in seinen Werken belegen, dass er etwas, das bei aller gebotenen historischen Vorsicht Menschenwürde genannt werden darf, durchaus als Faktor in der Bewertung moralischer Fragen und damit auch als Maßstab für die lex ferenda anerkennt.392 Um an dieser Stelle nicht von einer Verdinglichung des Menschen sprechen zu müssen, bedarf es der aufgezeigten „Entmenschlichung“ dieser Gruppe.393 Die Fähigkeit zu rationalem Denken, ein bestimmtes Maß an Verständigkeit einer Person, das Bewusstsein seiner selbst – mögliche Anknüpfungspunkte für die in der propagierten lex ferenda so folgenreiche Unterscheidung zwischen einem beachtlichen und einem unbeachtlichen Lebenswillen hätte es zahlreiche gegeben. Abseits aller moralischen Anstößigkeit seiner Forderung tut sich in diesem Punkt aber eine atemberaubende inhaltliche Lücke in Bindings Beitrag auf. Er unterscheidet offenkundig zwischen zwei verschiedenen Gruppen psychisch kranker oder geistig behinderter Menschen. Während er für den rechtlichen Lebensschutz der einen Gruppe mit aller Vehemenz eintritt,394 definiert er andere psychisch kranke oder geistig behinderte Menschen geradezu aus dem Menschengeschlecht hinaus. Sowohl im Inhalt als auch im Ton sind seine Ausführungen zu letzterer Gruppe aus heutiger Sicht kaum erträglich und stehen anderen Textstellen, in denen mit edlen Worten die Beachtung einer menschlichen Würde angemahnt wird, unvermittelt gegenüber. Die Grenze zwischen beiden Welten, zwischen der liberalen Geisteshaltung Bindings und seiner menschenverachtenden Einstellung gegenüber bestimmten psychisch kranken oder geistig behinderten Menschen, wird jedoch an keiner Stelle genauer gezogen. Ein objektives Interesse des Einzelnen, ein solches Leben weiterzuführen, ist für Binding indiskutabel. Nach dem von Binding postulierten, aber nicht weiter erklärten Wegfall eines beachtlichen Lebenswillens verkürzt sich seine nach dem beschriebenen Muster vorgenommene Interessenkalkulation auf eine Nutzenkalkulation aus Perspektive der Gesellschaft, womit er sich ganz auf der Linie Josts bewegt. Für diese Nutzenkalkulation benötigt Binding nur wenige Zeilen: 392 Rechtlich hat dies für den Rechtspositivisten Binding natürlich nur Auswirkungen, insoweit die Rechtsordnung der „Menschenwürde“ solche beimisst. In seiner Auslegung des geltenden Rechts geht er allerdings davon aus, dass sie darauf bedacht ist, den Menschen nicht zum bloßen Objekt, zur „Sache“ herabzuwürdigen. Deutlich in diese Richtung gehen beispielsweise seine Ausführungen zu einem möglichen „Recht auf Leben“. Siehe dazu schon o. S. 209 f. 393 Auch Hoches „Ärztliche Bemerkungen“ werden mit der Einführung des Begriffs „geistig tot“ in diese Richtung weisen. Jene wurden zwar erst nach Bindings juristischem Teil angefertigt, wohl aber unter dessen Vorlage, womit wenigstens davon ausgegangen werden darf, dass Hoche sich mit seinen Ausführungen auf Bindings Linie wähnte und diese medizinisch zu untermauern glaubte. 394 Vgl. nochmals Binding/Hoche, Freigabe, S. 28 f.
C. Inhalt der „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
365
„Für ihre Angehörigen wie für die Gesellschaft bilden sie eine furchtbar schwere Belastung. Ihr Tod reißt nicht die geringste Lücke – außer vielleicht im Gefühl der Mutter oder der treuen Pflegerin. Da sie großer Pflege bedürfen, geben sie Anlaß, daß ein Menschenberuf entsteht, der darin aufgeht, absolut lebensunwertes Leben für Jahre und Jahrzehnte zu fristen. Daß darin eine furchtbare Widersinnigkeit, ein Mißbrauch der Lebenskraft zu ihrer unwürdigen Zwecken, enthalten ist, läßt sich nicht leugnen.“ 395
Damit bleibt einzig Bindings Mitleids-Formel, die sich in diesem Punkt jedoch als bloße Floskel herausstellt. Wurde an früherer Stelle noch hervorgehoben, dass „jede unverbotene Tötung eines Dritten“ stets „als Erlösung mindestens für ihn empfunden werden“ müsse,396 so soll dies bei psychisch schwer kranken oder geistig schwer behinderten Menschen nun offenkundig keine Rolle spielen, zumal diesen Menschen ein rechtserheblicher Wille für oder gegen die Beendigung des eigenen Lebens soeben abgesprochen wurde. Bei einem genaueren Blick auf die Bindingsche Formel zeigt sich, dass deren sehr überschaubarer Inhalt bereits in ihrer Formulierung angelegt ist: Danach soll die Tötung lediglich als Erlösung für, nicht zwingend auch vom betroffenen Menschen empfunden werden. Relevant ist für Binding allein, ob die Tötung unter falscher Zugrundelegung der eigenen Fähigkeiten als Erlösung empfunden würde. Obwohl den Betroffenen nur Zeilen zuvor jeder beachtliche Lebens- oder Sterbewille abgesprochen wurde, wird freimütig ein vermeintlicher Wille, so nicht leben zu wollen, unterstellt. Dieser Wille aber kann sich nach Bindings eigenen Ausführungen nur noch auf denjenigen beziehen, der die Freigabeentscheidung fällt. Mit echter Empathie hat das von Binding beschworene Mitleid danach nichts zu schaffen; die Bezeichnung als „Erlösung“ ist für diese Fälle ein klarer Fehlgebrauch des Wortes. Dennoch scheint Binding deutlich von diesem Verständnis auszugehen, wenn er die Tötung in solchen Fällen an späterer Stelle auch als „Liebesdienst“ beschreibt. Konkret stellt er die Frage, „ob es nicht Mißgeburten“ gebe, „denen man in ganz früher Lebenszeit den gleichen Liebesdienst erweisen sollte“.397 Ihre Tötung begreift er kurioserweise als eine Art Schutz: „Seit Jahren beobachte ich mit Entsetzen den empörenden Mangel an Feinfühligkeit gegenüber diesen armen Menschen, die zur Sehenswürdigkeit werden, und nicht selten in der unverschämtesten Art und Weise begafft, ja vielfach unter spöttischen Redensarten verfolgt werden. Das Leben solcher Armen ist ein ewiges Spießrutenlaufen!“ 398
Die Tötung dieser Kinder soll demnach freigegeben werden, um ihnen ein moralisch fehlerhaftes und von Binding selbst auch als solches bemängeltes Ver395
Binding/Hoche, Freigabe, S. 31 f. Binding/Hoche, Freigabe, S. 28. 397 Binding/Hoche, Freigabe, S. 32, Fn. 52; Hervorhebungen aus dem Original verändert. 398 Binding/Hoche, Freigabe, S. 32, Fn. 52. 396
366
3. Teil: „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
halten der Gesellschaft zu ersparen. Die argumentative Schwäche der Passage ist für Binding geradezu beispiellos. Er schlägt nicht weniger vor, als die Tötung von Menschen zu ihrem Schutz vor fehlerhaftem Verhalten Dritter. Beide skizzierte Fälle sieht Binding aber als „Liebesdienst“, misst ihnen also ein erlösendes Moment bei. Hier wie dort kann es sich nur um den oben bereits erwähnten Fehlgebrauch des Wortes handeln, nämlich die Zugrundelegung der Gedankenwelt eines Anderen, der aus dem Blickfeld seiner eigenen Lebenssituation und seiner eigenen Fähigkeiten entscheidet, selbst so nicht leben zu wollen. Bindings eigene Hypothese unterstellt, nach der die hier besprochenen Menschen nicht litten, handelt es sich um ein Mitleiden ohne Leiden. Obwohl im letztgenannten Beispiel unklar bleibt, von welcher Art und welchem Grad der Behinderung Binding ausgeht, handelt es sich ganz offenbar um lebensfähige Kinder. Da sie nicht ohne weiteres in die hier besprochene Gruppe fallen sollen, kann ihre Behinderung zudem jedenfalls nicht so schwerwiegend sein, dass Binding es für sich rechtfertigen könnte, ihnen einen rechtserheblichen Willen abzusprechen. Entgegen dem Anschein steht dies im Einklang mit der oben beschriebenen Trennung in beachtliche und unbeachtliche Lebenswillen bei Binding: Zwar können die beschriebenen Kinder womöglich einen auch für Binding beachtlichen Lebenswillen entwickeln. Ein aktueller Mangel eines solchen Willens ergibt sich in diesem Fall aber nicht aus ihrer Krankheit, sondern aus ihrer Jugend („in ganz früher Lebenszeit“). Die spärlichen Ausführungen Bindings scheinen damit ganz im Sinne Haeckels zu sein, der den Lebensschutz von Kleinkindern einzig auf deren potentiellen Wert für die Gemeinschaft zurückführt. Analog zu Haeckel, der Kindern im Säuglingsalter einen „,Sitz der Seele‘“ als Fähigkeit „des Denkens und Erkennens, des Begreifens und Bewußtseins“ abspricht,399 sieht Binding bei Kindern in diesem Alter offenbar keinen beachtlichen Lebenswillen. Mit dem zwar fehlgebrauchten, aber nicht völlig inhaltsleeren Begriff des „Mitleids“ geht Binding allerdings restriktiver vor und will die Frage ausdrücklich „nur angeregt“ haben.400 Im Gegensatz zu Haeckel reichert Binding sein ebenso biologistisches Würdeverständnis also mit Überlegungen zur Sozialadäquanz solcher Tötungen an. cc) Physisch Kranke ohne Möglichkeit der Einwilligung Binding plädiert zuletzt für die rechtliche Freigabe der Tötung einer dritten Gruppe von Menschen, die er im Hinblick auf die zwei vorangegangenen als „Mittelgruppe“ bezeichnet.401 Diese bestehe aus „geistig gesunden Persönlichkeiten, die durch irgendein Ereignis, etwa sehr schwere, zweifellos tödliche Ver399 400 401
Haeckel, Lebenswunder, S. 23. Binding/Hoche, Freigabe, S. 32, Fn. 52. Binding/Hoche, Freigabe, S. 33.
C. Inhalt der „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
367
wundung, bewußtlos geworden sind, und die, wenn sie aus ihrer Bewußtlosigkeit noch einmal erwachen sollten, zu einem namenlosen Elend erwachen würden.“ 402 In aller Regel seien in diesen Fällen schon die zuvor entwickelten Grundsätze zur „Euthanasie“ anwendbar, die der heute sogenannten indirekten aktiven Sterbehilfe großteilig entspricht. In manchen Fällen könnten „diese Zustände der Bewußtlosigkeit aber so lange andauern“, dass von einer nur unwesentlichen Beeinflussung des Todeszeitpunkts nicht mehr gesprochen werden könne.403 Dann stelle sich das Problem, dass wiederum keine Einwilligung vorliege, also ein Brechen bestehenden Lebenswillens inkaufgenommen wird. In diesen Fällen stellt Binding auf Kriterien einer mutmaßlichen Einwilligung ab und meint daher nicht, dass sich „für diese Gruppe der Tötungen eine Regelbehandlung aufstellen“ lasse.404 Handle ein „Täter übereilt [. . .] in der Annahme, das Richtige zu tun“, nimmt er also zu Unrecht die Voraussetzungen einer mutmaßlichen Einwilligung an, sei er zwar „nie vorsätzlich rechtswidriger, wohl aber eventuell fahrlässiger Tötung schuldig.“ 405 Wiederum darf die Einwilligung aber nicht als ausgeübte Rechtsmacht verstanden werden, sondern lediglich als Zeichen nicht mehr bestehenden Lebenswillens. So stellt Binding abschließend klar, dass auch in diesem Fall eine „Tötung mit Brechung des Lebenswillens des zu Tötenden oder des Getöteten ausgeschlossen“ sein soll.406 Die Tötung geschehe zudem auch hier „aus Mitleid mit dem Bewußtlosen, nicht um ihm das Leben zu rauben, sondern um ihm ein furchtbares Ende zu ersparen.“ 407 Damit werden lediglich die schon entwickelten Grundsätze auf die vorliegende Fallkonstellation angewandt; es ergeben sich in der Sache keinerlei Unterschiede. c) Verfahrenstechnisches zur konkreten Entscheidung über die „Freigabe“ der Tötung eines Menschen Da es Binding um eine konkrete Änderung des Strafgesetzbuchs geht, nimmt er auch Stellung zur Frage des Verfahrens einer Freigabe zur Tötung im Einzelfall. Grundsätzlich fordert er ein geordnetes Verfahren zur Prüfung der Voraussetzungen in den beschriebenen drei Gruppen.408 Dieses habe jeweils mit einem Antrag auf Tötung zu beginnen, da „der Staat von heute nie die Initiative zu solchen Tötungen ergreifen“ könne.409 In dieser 402 403 404 405 406 407 408 409
Binding/Hoche, Freigabe, S. 33. Binding/Hoche, Freigabe, S. 33. Binding/Hoche, Freigabe, S. 33. Binding/Hoche, Freigabe, S. 33 f. Binding/Hoche, Freigabe, S. 34. Binding/Hoche, Freigabe, S. 33. Vgl. Binding/Hoche, Freigabe, S. 35. Binding/Hoche, Freigabe, S. 36.
368
3. Teil: „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
Formulierung klingt deutlich an, dass Binding sich nicht kategorisch gegen ein rein staatliches Betreiben stellt. Wie viele vor ihm in der historischen Debatte um die „Euthanasie“ zollt auch er den sozialen Realitäten seiner Zeit Tribut, in der die Mehrheit bereits den vorgeschlagenen Änderungen des Rechts extrem kritisch gegenübersteht und die beschriebenen Tötungen auf staatliche Initiative hin kaum denkbar erscheinen. Ähnlich wie Haeckel hofft aber auch Binding auf einen moralischen Wandel in seinem Sinne, der ein staatliches Betreiben der beschriebenen Tötungen in den Bereich des Möglichen rückt. In einem offenbar durch die Nachkriegszeit geprägten, verbitterten Tonfall stellt er an anderer Stelle in Bezug auf die Tötung geistig Behinderter und psychisch Kranker fest: „In Zeiten höherer Sittlichkeit – der unseren ist aller Heroismus verloren gegangen – würde man diese armen Menschen wohl amtlich von sich selbst erlösen.“ 410
Die bis dahin für Binding alleinig entscheidenden Antragsberechtigungen seien für die drei beschriebenen Fallgruppen notwendig unterschiedlich auszugestalten. Handelt es sich um einen einwilligungsfähigen physisch kranken Menschen, so müsse dieser selbst sowie jeder, „den er mit der Antragstellung betraut hat“, antragsberechtigt sein.411 Geht es um einen psychisch kranken oder geistig behinderten Menschen, so sollen nach Bindings Vorstellung die „Angehörigen, die ihn zu pflegen haben, und deren Leben durch das Dasein des Armen dauernd so schwer belastet wird, auch wenn der Pflegling in eine Idiotenanstalt Aufnahme gefunden hat“ antragsberechtigt sein.412 Für die dritte Gruppe hält Binding feste Regeln zur Antragsberechtigung für „untunlich“. Antragsbefugt oder im Falle einer aus Zeitgründen unmöglichen Durchführung eines Verfahrens unmittelbar zur Tötung befugt sollen diejenigen sein, welche den bewusstlosen Kranken „nach Lage der Dinge zu retten berufen wären, deren Mitleidstat deshalb das Verständnis aller richtig empfindenden Menschen finden wird.“ 413 Diese Ausführungen werden nicht weiter konkretisiert. Binding hält die Angehörigen für in diesem Sinne „vielfach“, aber nicht immer antrags- oder ausführungsberechtigt, da „der Haß auch die Maske des Mitleids annehmen“ könne.414 Er scheint die Antragsbefugnis letztlich allen für die Pflege des Kranken oder Behinderten aufkommenden Privatpersonen zusprechen zu wollen, die glaubhaft mitleidsmotiviert aus Sorge um den kranken oder behinderten Menschen handeln.
410
Binding/Hoche, Freigabe, S. 32. Binding/Hoche, Freigabe, S. 36. Offen bleibt, ob Binding dabei an eine eigene Entscheidungsmacht des Dritten denkt oder der Dritte nur mit der Antragstellung beauftragt werden können soll. In jedem Falle behielte der physisch Kranke, der bei Bewusstsein ist, nach Bindings Vorstellung bis zum Schluss die Entscheidungsgewalt über die Tötung. 412 Binding/Hoche, Freigabe, S. 32. 413 Binding/Hoche, Freigabe, S. 34. 414 Binding/Hoche, Freigabe, S. 34. 411
C. Inhalt der „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
369
Der Antrag des jeweils Berechtigten soll an eine nicht näher benannte „Staatsbehörde“ gerichtet werden. Das Vorliegen der jeweiligen Voraussetzungen einer Freigabe soll daraufhin ein Gremium aus Sachverständigen prüfen: „[E]in Arzt für körperliche Krankheiten, ein Psychiater oder ein zweiter Arzt, der mit den Geisteskrankheiten vertraut ist, und ein Jurist, der zum Rechten schaut“ bilden zusammen den „Freigebungsausschuß“.415 Da die Missbrauchsgefahr jeder Form der Tötungsfreigabe geradezu offensichtlich ist, überrascht nicht, dass sich in anderen Werken zu diesem Thema sehr ähnliche Überlegungen finden. Bindings Ausführungen in diesem Punkt enthalten insofern wenig Neues. Nach Bindings Vorstellung soll ein Ausschuss-Vorsitzender das Verfahren leiten, selbst aber kein Stimmrecht besitzen, um zu verhindern, dass eine der drei bereits genannten Parteien durch ihren Vorsitz mächtiger erscheine.416 Weiterhin „dürfte“ [!] ein einstimmiger Beschluss über die Freigabe zu erfordern sein, um der Missbrauchsgefahr effektiv zu begegnen.417 Wird der Beschluss gefällt, so sei darin gleichzeitig „das geeignetste Mittel der Euthanasie“ 418 festzustellen. Letzteres sei so auszuwählen, dass die Tötung „unbedingt schmerzlos“ verlaufe. Der Antragsteller soll kein „Recht zur Tötung“ erhalten und keiner einer „Pflicht zur Tötung“ unterliegen.419 Die Tötung sei danach allein für einen „Sachverständige[n]“ unverboten. Mit geschäftsmäßiger Nüchternheit fordert Binding, es sei „[ü]ber den Vollzusakt [. . .] ein sorgfältiges Protokoll“ anzufertigen und dem Freigabeausschuss zuzustellen.420 Anzumerken ist hierzu, dass Binding mit der genannten Wortwahl gegen seine eigenen terminologischen Grundsätze verstößt. Hatte er zu Anfang seines Beitrags noch ausschließlich die „Euthanasie in richtiger Begrenzung“ als solche bezeichnet und stellte er zwischenzeitlich in Bezug auf die Gruppe kranker oder verletzter Bewusstloser gar fest, bei länger andauernder Bewusstlosigkeit könne „von den Voraussetzungen zufälliger Bewirkung der Euthanasie nicht mehr die Rede sein“,421 so bezeichnet er nun das Mittel der Tötung in allen Fallgruppen schlicht als Mittel „der Euthanasie“. Die Zeit für das von Binding vorgesehene Verfahren sei nur bei psychisch kranken oder geistig behinderten Menschen immer vorhanden. In der ersten und dritten Gruppe hingegen sei eine Vielzahl von Fällen denkbar, in denen eine Verhinderung von Leiden zu besonderer Eile dränge. Daher solle ein Verfahren nur 415
Binding/Hoche, Freigabe, S. 36. Binding/Hoche, Freigabe, S. 36. 417 Binding/Hoche, Freigabe, S. 36 f. 418 Binding/Hoche, Freigabe, S. 37. 419 Binding/Hoche, Freigabe, S. 37. 420 Binding/Hoche, Freigabe, S. 37. 421 Binding/Hoche, Freigabe, S. 33; gemeint ist hier eindeutig die bereits angesprochene „Euthanasie in richtiger Begrenzung“. 416
370
3. Teil: „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
stattfinden, „wenn es irgend angängig“ sei.422 Hier stände der Gesetzgeber vor der Entscheidung, entweder „dem Unrettbaren mitleidlos die Fortdauer seiner Qualen bis zum Ende“ aus verfahrenstechnischen Gründen zuzumuten, oder in diesen Fällen auch die unmittelbare Tötung freizugeben, also zu einer unverbotenen Tötung zu machen. Binding positioniert sich unmissverständlich: „Ich zögere nicht einen Augenblick, mich für die zweite Alternative auszusprechen.“ 423 Aus Gründen der Rechtssicherheit sei allerdings eine „Verklarungspflicht“ zu fordern, die dem Täter gebietet, die Tat sofort im Anschluss an ihre Begehung dem Freigabeausschuss anzuzeigen.424 d) Irrtümliche Annahmen der Freigabevoraussetzungen Auch Bindings Kommentar zur Möglichkeit einer irrtümlichen Feststellung der Freigabevoraussetzungen erweist sich als wenig originell. Zwar sei ein Irrtum auch bei Entscheidung des „Freigebungsausschusses“ nie ganz auszuschließen. Die „amtliche Freigabe“ könne „auch erfolgen zugunsten eines Menschen, den ein ,Wunder‘ oder die Kunst der Ärzte doch vielleicht schließlich noch hätte retten können.“ 425 Allerdings sei ein „Irrtum bei allen menschlichen Handlungen möglich“, so dass Binding den Sinn der vorgeschlagenen Gesetzesänderung durch die Möglichkeit auch eines solch folgenschweren Irrtums nicht berührt sieht.426 In frappierender Ähnlichkeit zu Josts „Recht auf den Tod“ versucht Binding nun, in einer kühlen Interessenkalkulation die denkbaren Folgen eines Irrtums als überschaubar darzustellen. Wiederum wird der Wert des betroffenen Menschenlebens für die Gesellschaft und den Betroffenen selbst gegenübergestellt: „Das Leben hätte vielleicht nach glücklicher Überwindung der Katastrophe noch sehr kostbar werden können: meist aber wird es kaum über den mittleren Wert besessen haben. [. . .] [D]ie Menschheit verliert infolge des Irrtums so viele Angehörige, daß einer mehr oder weniger wirklich kaum in die Wagschale fällt.“ 427
Andererseits sei gut denkbar, dass der Betroffene an den Folgen seiner Erkrankung noch schwer zu leiden gehabt hätte.428 Jedenfalls in diesen Fällen schätzt Binding offenbar auch den subjektiven Wert des Lebens des Betroffenen nicht hoch ein.
422
Binding/Hoche, Freigabe, S. 35. Binding/Hoche, Freigabe, S. 38. 424 Binding/Hoche, Freigabe, S. 38. 425 Binding/Hoche, Freigabe, S. 39. 426 Binding/Hoche, Freigabe, S. 40 („Das Gute und das Vernünftige müssen geschehen trotz allen Irrtumsrisikos.“). 427 Binding/Hoche, Freigabe, S. 40. 428 Binding/Hoche, Freigabe, S. 40. 423
C. Inhalt der „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
371
Weitaus häufiger als bei einer Gremiumsentscheidung wäre allerdings ein Irrtum über die Voraussetzungen der Freigabe zu erwarten, wenn nach der speziellen Situation ausschließlich eine Tötung in Frage käme, über die nur der Täter selbst entscheiden könnte. Auch dies hält Binding aber für nicht sehr problematisch. Nur sehr kurz führt er aus, dass von einem Tötungsvorsatz nicht gesprochen werden könne, wenn die Tötung aus Mitleid und in der irrtümlichen Annahme der jeweiligen Voraussetzungen einer „Freigabe“ entweder nach der ersten oder der dritten Gruppe geschehe.429 Könne dem Täter aufgrund seiner Annahme ein Fahrlässigkeitsvorwurf gemacht werden, so sei er allerdings einer fahrlässigen Tötung schuldig.430 Die Erklärungen Bindings zu möglichen Irrtümern bei der konkreten Entscheidung über die Freigabe decken sich somit nahezu vollständig mit denen, die Jost bereits ein Vierteljahrhundert früher niederschrieb. Die Entscheidung über die gezielte Tötung eines Menschen wird gleichgesetzt mit medizinischen Eingriffen, bei denen doch auch stets das Risiko einer Lebensverkürzung bestehe.431 Die Umsetzung der für Binding einzig vernünftigen Lösung dürfe durch die grundsätzliche Möglichkeit einer irrtümlichen Feststellung der Freigabevoraussetzungen nicht behindert werden.
III. Hoches „Ärztliche Bemerkungen“ Im Folgenden wird der Inhalt des Hocheschen Beitrags zur „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ in Augenschein genommen und kritisch beleuchtet (1.). Im Anschluss werden die Ausführungen Hoches mit denen Bindings verglichen (2.). 1. Inhalt Hoche selbst versah seinen Text nicht mit Überschriften. Die folgende Unterteilung basiert daher auf erkennbaren Sinnabschnitten. Hoche hält in einem ersten Schritt fest, dass der Arzt nicht in jedem Fall zur Lebenserhaltung verpflichtet sei [a)]. Danach versucht er, die bei Binding vorausgesetzte Möglichkeit der völligen Wertlosigkeit eines menschlichen Lebens von medizinischer Seite zu untermauern [b)]. Hoche als Psychiater interessiert sich dabei natürlich vor allem für die Fallgruppe der psychisch kranken oder geistig behinderten Menschen, die er wie Binding ausschließlich als psychisch Kranke bezeichnet. Für einen bestimmten Grad der psychischen Erkrankung oder geistigen Behinderung stellt er den Begriff des „geistigen Todes“ auf und kettet diesen recht deutlich an ein feh429
Binding/Hoche, Freigabe, S. 38 f. Binding/Hoche, Freigabe, S. 38 f. 431 Vgl. Binding/Hoche, Freigabe, S. 39 f.; ähnlich zuvor schon Jost, Recht auf den Tod, S. 22 f. 430
372
3. Teil: „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
lendes Selbstbewusstsein des jeweiligen Menschen [c)]. Ein solches Selbstbewusstsein stellt aus Sicht Hoches die notwendige Voraussetzung eines jeden subjektiven Rechts dar [d)]. a) Das „relative Verhältnis“ des Arztes zur Lebenserhaltung Hoche beginnt seine Ausführungen mit der bis heute gültigen Bemerkung, kein festgeschriebener Sittenkodex lege die ärztlichen Pflichten allgemeinverbindlich und vollumfänglich dar.432 Sowohl bei strafgesetzlichen Regelungen als auch beim ärztlichen Disziplinarrecht handle es sich „meist um eine negative Bindung in bezug auf das, was er [sc. der Arzt] nicht darf, nicht aber um positive Anweisungen.“ 433 Die damit nur ungeschriebenen positiven Verhaltensanweisungen könnten auch nicht einfach in einer Lebenserhaltungspflicht bestehen; häufig sei der Arzt „praktisch genötigt, Leben zu vernichten (Tötung des lebenden Kindes bei der Geburt im Interesse der Erhaltung der Mutter, Unterbrechung der Schwangerschaft aus gleichen Gründen).“ 434 Die konkrete ärztliche Pflicht verbiete also nicht strikt jeden Eingriff in menschliches Leben, sondern könne „im Interesse der Sicherung eines höheren Rechtsgutes“ auch Gegenteiliges befehlen.435 Zudem werde beim „Akte der Körperverletzung, wie sie der Chirurg berufsmäßig und spezialistisch“ vornehme,436 „stillschweigend auf einen gewissen Prozentsatz von tödlichen Ausgängen gerechnet“, ohne dass dies als Verletzung ärztlicher Pflichten gesehen werde, solange die Eingriffe lege artis geschähen.437 Auch hier überwiege „[d]as höhere Rechtsgut der Wiederherstellung einer Mehrzahl [. . .] das Opfer einer Minderzahl“.438 Die Bewertung eines Rechtsguts aber sei natürlich historisch zum Teil sehr unterschiedlich erfolgt. Insgesamt sei daher zu konstatieren, dass der Arzt „kein absolutes, sondern nur ein relatives, unter neuen Umständen veränderliches, neu zu prüfendes Verhältnis zu der grundsätzlich anzuerkennenden Aufgabe der Erhaltung fremden Lebens unter allen Umständen“ habe.439 Die historische Veränderlichkeit der ärztlichen Verhaltensordnung sieht Hoche gerade durch moralische Grenzbereiche nahegelegt. So werde „von Angehörigen [. . .] in Fällen unheilbarer Krankheit oder unheilbarer geistiger Defektzustände nicht so selten der Wunsch geäußert, ,daß es bald zu Ende sein möchte‘.“ 440 432 433 434 435 436 437 438 439 440
Vgl. Binding/Hoche, Freigabe, S. 45 f. Binding/Hoche, Freigabe, S. 46. Binding/Hoche, Freigabe, S. 46. Binding/Hoche, Freigabe, S. 46. Zur Vereinbarkeit dieser Passage mit den Ausführungen Bindings siehe u. S. 379. Binding/Hoche, Freigabe, S. 47. Binding/Hoche, Freigabe, S. 47. Binding/Hoche, Freigabe, S. 49 Binding/Hoche, Freigabe, S. 47.
C. Inhalt der „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
373
Auch „aus wissenschaftlichem Interesse“ könne der Arzt versucht sein, Menschen zu töten.441 Hoche beschreibt einen Fall, in dem er selbst überlegt haben will, das Leben eines an einer seltenen Krankheit leidenden und schon im Sterben liegenden Kindes abzukürzen, damit der Vater seinen Wunsch, das Kind zuhause sterben zu lassen, nicht in die Tat umsetzen und so die wissenschaftlich interessante Autopsie des Kindes verhindern könne.442 Zwar betont Hoche, der Versuchung nicht erlegen zu sein, weil ihm sein „persönlicher Wunsch nach wissenschaftlicher Erkenntnis [. . .] kein genügend schwerwiegendes Rechtsgut sein durfte gegenüber der ärztlichen Pflicht, keine Lebensverkürzung vorzunehmen.“ 443 Dem ersten Anschein entgegen überwiegt das Rechtsgut Leben für Hoche jedoch keineswegs prinzipiell. Vielmehr ist die Ausführung auf den beschriebenen Fall beschränkt, dass eine Tötung nur die persönliche wissenschaftliche Neugier zu befriedigen im Stande ist: „Wie man sich in einem solchen Falle zu entscheiden hätte, wenn etwa bei den geschilderten Umständen der Gewinn einer einschneidenden Einsicht mit der Wirkung späterer Rettung zahlreicher Menschenleben zu erwarten gewesen wäre, das wäre eine neue Frage, die von einem höheren Standpunkte aus mit Ja zu beantworten wäre.“ 444
Insgesamt hält Hoche den ärztlichen Verhaltenskodex daneben noch in vielerlei weiteren Punkten für veränderungswürdig. So sei entgegen den bisherigen ärztlichen Pflichten auch in der Frage lebensverlängernder Maßnahmen bei unheilbar geistig kranken oder behinderten Menschen „der Tod das in jedem Falle Vorzuziehende“. Gleiches gelte in anderen Fällen, in denen die weitere Erhaltung des Lebens für den Patienten nur noch eine Qual bedeute. De lege ferenda würde es Hoche daher begrüßen, wenn „Ärzte [. . .] an Sterbebetten nicht mehr von dem kategorischen Gebote der unbedingten Lebensverlängerungen eingeengt und bedrückt“ würden.445 Nicht selten werde durch die strikten Regeln „Wohltat [. . .] zur Plage“, hält Hoche in etwas pathetischer Anlehnung an Mephistopheles fest.446 b) Zur medizinischen Möglichkeit objektiver Wertlosigkeit menschlichen Lebens Den Hauptanwendungsfall der von Hoche erhofften Änderung der ärztlichen Verhaltensregeln bilden geistig schwer behinderte oder unheilbar psychisch kranke Menschen; wenig überraschend beschäftigt sich Hoche also vor allem mit der zweiten von drei Gruppen, deren Freigabe zur Tötung Binding im vorange441 442 443 444 445 446
Binding/Hoche, Freigabe, S. Binding/Hoche, Freigabe, S. Binding/Hoche, Freigabe, S. Binding/Hoche, Freigabe, S. Binding/Hoche, Freigabe, S. Binding/Hoche, Freigabe, S.
48. 48. 48. 48 f. 50. 50; zum Zitat siehe Goethe, Faust I, S. 65.
374
3. Teil: „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
henden Teil fordert. Für sie will er die von Binding formulierte Frage nach der Möglichkeit eines objektiv absolut wertlosen menschlichen Lebens medizinisch beantworten und gibt gleich zu Anfang vor, die Frage sei „im allgemeinen zunächst mit Bestimmtheit zu bejahen“.447 In einer nach seinem eigenen Empfinden „freundliche[n] Formulierung“ beschreibt Hoche das Dasein dieser Menschen als „Zustände geistigen Todes“.448 In solchen Fällen besitze „die Fortdauer des Lebens weder für die Gesellschaft noch für die Lebensträger selbst irgendwelchen Wert“.449 Er hält ihr Leben für objektiv wertlos. Hoche unterteilt die Gruppe geistig schwer behinderter oder unheilbar geistig kranker Menschen wiederum in zwei verschiedene Untergruppen: Menschen, „bei denen der geistige Tod im späteren Verlaufe des Lebens [. . .] erworben wird“, seien zu trennen von solchen, die bereits bei ihrer Geburt „oder in frühester Kindheit“ entsprechend stark beeinträchtigt sind.450 Freilich erkennt Hoche hier keinen qualitativen Unterscheid an; einzig der im Laufe des geistig gesunden Teils eines Menschenlebens erworbene „,Affektionswert‘“ [!] könne eine unterschiedliche Behandlung rechtfertigen.451 „Die Umgebung, die Angehörigen und Freunde haben deswegen zu diesen [. . .] ein ganz anderes Verhältnis“.452 Weiterhin könne „die wirtschaftliche und moralische Belastung der Umgebung, der Anstalten, des Staates usw.“ eine durchaus unterschiedliche sein, sei doch „bei den Fällen von Vollidiotie aufgrund allerfrühester Veränderungen“ häufig „eine Lebensdauer und damit die Notwendigkeit fremder Fürsorge von zwei Menschenaltern und darüber“ möglich.453 Gerade die Fälle mit dem geringsten „Affektionswert“ seien also die finanziell belastendsten; in einer Rechnung, die nicht im Einzelnen wiedergegeben werden muss und aus heutiger Perspektive beklemmend an bekannte Übungen in nationalsozialistischen Grundschullehrbüchern erinnert,454 überschlägt Hoche die Kosten der Pflege der „geistig Toten“ und gelangt wenig überraschend zu dem Ergebnis, es werde „ungeheure[s] Kapital“ für diese Menschen eingesetzt.455 Daneben beklagt er den Verlust an Räumlichkeiten und Arbeitskraft, die für diese Pflege verwandt werden.456 Angesichts der gewählten Formulierung eines „geistigen Todes“ wird bereits deutlich, dass eine subjektive Wertempfindung, bei Binding beschrieben als 447 448 449 450 451 452 453 454 455 456
Binding/Hoche, Freigabe, S. 51. Binding/Hoche, Freigabe, S. 51. Binding/Hoche, Freigabe, S. 51. Binding/Hoche, Freigabe, S. 51. Binding/Hoche, Freigabe, S. 53. Binding/Hoche, Freigabe, S. 53. Binding/Hoche, Freigabe, S. 53. Vgl. etwa die Beispiele bei Focke/Reimer, Alltag unterm Hakenkreuz, S. 89. Binding/Hoche, Freigabe, S. 54. Binding/Hoche, Freigabe, S. 55.
C. Inhalt der „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
375
„Lebenswillen“, in diesen Fällen auch für Hoche von vornherein nicht in Frage kommt. Neben der beschriebenen objektiven Nützlichkeitskalkulation spricht Hoche ein mögliches subjektives Interesse jener Menschen am Weiterleben daher kaum mehr an. In konsequenter Umsetzung dieser vollständigen Entwertung des Individuums hält Hoche auch den Mangel einer Einwilligung in die Tötung für bedeutungslos. Wie schon bei Binding und zuvor Jost entscheidet also einzig eine objektive Nutzenberechnung über Leben und Tod, deren Ergebnis durch die Feststellung eines „geistigen Todes“ bereits vorweggenommen ist. Diese Menschen werden danach ausschließlich als beklagenswerter Kostenfaktor der Gesellschaft beschrieben, als „Ballastexistenzen“ oder „leere Menschenhülsen“ diffamiert.457 Anders als Binding spricht Hoche die besondere Situation des Deutschen Reiches nach dem Ersten Weltkrieg ausdrücklich an und verwertet sie argumentativ. Die Schwierigkeiten, mit denen das Land zu kämpfen habe, verlangten eine Bündelung aller verfügbaren Kräfte. Sei die Tötung psychisch unheilbar kranker oder geistig behinderter Menschen „in den verflossenen Zeiten des Wohlstands“ noch nicht notwendig gewesen, gleiche die Lage Deutschlands nun der von „Teilnehmer[n] an einer schwierigen Expedition, bei welcher die größtmögliche Leistungsfähigkeit Aller die unerläßliche Voraussetzung für das Gelingen der Unternehmung bedeutet.“ Bei dieser Expedition sei daher „kein Platz für halbe, Viertels und Achtels-Kräfte.“ 458 Mit diesem Zitat lässt Hoche erkennen, dass es ihm um noch mehr geht als um die Freigabe der Tötung von Menschen, deren Leben er als „lebensunwert“ sieht. Ohne einen solchen Nutzen stehen diese für Hoche wertmäßig schließlich noch unterhalb der von ihm zuvor schon abschätzig als „Achtels-Kräfte“ beschriebenen Menschen. Die weiteren Konsequenzen der geforderten Bündelung aller Kräfte betreffen auch Menschen, die an einer leichteren psychischen Erkrankung oder geistigen Behinderung leiden: Der „deutsche[n] Aufgabe“ stehe die Erhaltung von „Schwächlinge[n] aller Sorten“ entgegen.459 Wie genau nach Hoches Dafürhalten mit diesen Menschen zu verfahren sei, gibt er nicht an, weist aber vielsagend darauf hin, dass die für „Pflege und Schutz“ dieser Menschen aufgewandten Mittel vor allem deshalb von „besondere[r] Tragweite“ seien, weil „es bisher nicht möglich gewesen, auch nicht im Ernste versucht worden ist, diese Defektmenschen von der Fortpflanzung auszuschließen.“ 460 Auch wenn er uns Details seiner Überlegung erspart, ist eine eugenische Dimension seines Denkens damit nicht zu leugnen. Eine Tötung dieser Menschen schließt er allerdings aus:
457 458 459 460
Binding/Hoche, Freigabe, S. Binding/Hoche, Freigabe, S. Binding/Hoche, Freigabe, S. Binding/Hoche, Freigabe, S.
55. 55. 55. 55.
376
3. Teil: „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
„Ein Überblick über die aufgestellte Reihe der Ballastexistenzen und ein kurzes Nachdenken zeigt, daß die Mehrzahl davon für die Frage einer bewußten Abstoßung, d.h. Beseitigung nicht in Betracht kommt. Wir werden auch in Zeiten der Not [. . .] nie aufhören wollen, körperlich Defekte und Sieche zu pflegen, solange sie nicht geistig tot sind“.461
Letztere aber sind für Hoche in Zukunft möglichst zu „beseitigen“. Im Sinne einer „höheren staatlichen Sittlichkeit“ solle der Staat mit ihnen verfahren, „wie [. . .] ein in sich geschlossener menschlicher Organismus [. . .], der [. . .] im Interesse der Wohlfahrt des Ganzen einzelne wertlos gewordene Teile oder Teilchen preisgibt oder abstößt.“ 462 Die „höhere staatliche Sittlichkeit“ liege also vor allem „im Bewußtsein der Bedeutungslosigkeit der Einzelexistenz“, wie Hoche selbst es gewollt wortgewaltig formuliert.463 Hoches radikaler Kollektivismus tritt an dieser Stelle am deutlichsten hervor. Darüber hinaus zeigt er sich hier als geradezu typischer Vertreter einer biologistischen Weltauffassung, wie sie sich zu seiner Zeit großer Popularität erfreute. Er vergleicht ein Volk mit einem Organismus, der kranke Teile abstoßen müsse, um zu überleben.464 Seine an den Utilitarismus angelehnte Moral, die implizite Forderung eugenischer Maßnahmen als Umsetzung naturwissenschaftlichen Erkenntnisgewinns – überhaupt die Umsetzung solcher Erkenntnisse im Sinne einer kühl berechnenden Vernunft, die sich gegen tradierte, häufig religiöse Vorstellungen zum Wohle der Menschheit auflehnen zu müssen glaubt: All diese Elemente seines Beitrags zur „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ lassen Hoche als radikalen Vertreter einiger der genannten zeitgeistigen Strömungen erscheinen. c) Fehlendes Selbstbewusstsein als maßgebliche Eigenschaft des „geistigen Todes“ In einer Fußnote räumt Hoche zum Ende einer Tirade gegen angebliche „Ballastexistenzen“ hin ein, dass die Abgrenzung der „Idioten“ zu den „mittleren Zustände[n] von Geistesschwäche [. . .] keine ganz scharfe“ sei und „der persönlichen Anschauung einen gewissen Spielraum“ lasse.465 Eine genaue Abgrenzung der Menschen, deren Tötung in der Freigabeschrift befürwortet wird, kann auch der Psychiater Hoche nicht liefern. Dennoch versucht er, die Eigenschaft des von ihm sogenannten – und keinesfalls mit dem Hirntod zu verwechselnden – „geistigen Todes“ etwas näher zu umschreiben. Äußerlich falle der „Fremdkörpercharakter“ des „geistig Toten“ 461 462 463 464 465
Binding/Hoche, Freigabe, S. Binding/Hoche, Freigabe, S. Binding/Hoche, Freigabe, S. Binding/Hoche, Freigabe, S. Binding/Hoche, Freigabe, S.
56 f. 56. 59. 56. 54, Fn. 1.
C. Inhalt der „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
377
innerhalb der Gesellschaft auf. Er sei nicht zu „irgendwelche[n] produktive[n] Leistungen“ im Stande und befinde sich in einem „Zustand völliger Hilflosigkeit“, der zur Lebenserhaltung eine entsprechend intensive Pflege erforderlich mache.466 Innerlich fehlten „nach Art der Hirnbeschaffenheit klare Vorstellungen, Gefühle oder Willensregungen“.467 Vor allem aber könne das „Fehlen des Selbstbewußtseins“ festgestellt werden, womit das „intellektuelle Niveau“ dieser psychisch kranken Menschen „erst tief unten in der Tierreihe“ Entsprechungen finde.468 Hoche trifft mit dem letzten Punkt die schon bei Binding vermutete Linie – und drückt sich dazu um einiges deutlicher aus als dieser. Er erhebt das fehlende Selbstbewusstsein – die Fähigkeit, sich selbst als Subjekt in Beziehung zu seiner Umwelt zu sehen – zum definitorischen Merkmal des „geistig toten“ Menschen. Menschen, denen es an einem solchen Bewusstsein fehlt, vergleicht er mit Tieren. Und ganz wie bei niederen Tieren zeige die menschliche Gesellschaft zu Unrecht große Anteilnahme am Schicksal dieser Menschen. Der „unausrottbare Denkfehler“ liege darin, dass „die Mehrzahl der Menschen in fremde lebende Gebilde hinein ihr eigenes Denken und Fühlen projiziert, ein Irrtum, der auch eine der Quellen der Auswüchse des Tierkultus beim europäischen Menschen darstellt. [. . .] [W]o kein Leiden ist, ist auch kein mit-Leiden.“ 469 d) Die Verknüpfung von Selbstbewusstsein und subjektivem Recht Das „Selbstbewusstsein“ hat für Hoche eine über die Abgrenzung der „geistig Toten“ hinausgehende Bedeutung. In etwas konfusen und widersprüchlichen Ausführungen setzt er es in Beziehung zu subjektiven Rechten eines Menschen. Etwas unklar bleibt zunächst seine Feststellung, ein „geistig Toter“ sei „nicht imstande, innerlich einen subjektiven Anspruch auf Leben erheben zu können“.470 Setzt man ein fehlendes Selbstbewusstsein voraus, ist diese Ausführung zwar zwingend richtig, da ein solcher Mensch per definitionem unfähig ist, sich in irgendeine Beziehung zur Umwelt zu setzen. Allerdings beschränkt sich diese Feststellung selbstverständlich nur auf das innere „Erheben“, die gedankliche Geltendmachung – und sagt nichts über die Rechtsfähigkeit des Menschen aus. Hoche bleibt in dieser Hinsicht zunächst konsequent und zieht nur den Schluss, dass ohne Selbstbewusstsein auch kein Wille formbar sei, weiter zu existieren. Der Mangel eines solchen Willens führe bei § 216 RStGB zu einer geringeren Haftstrafe, werde also auch von der lex lata beachtet. Hoches Argumentation ist 466 467 468 469 470
Binding/Hoche, Freigabe, S. Binding/Hoche, Freigabe, S. Binding/Hoche, Freigabe, S. Binding/Hoche, Freigabe, S. Binding/Hoche, Freigabe, S.
57. 57. 57. 59. 58.
378
3. Teil: „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
insoweit identisch mit derjenigen Bindings.471 Bereits Hoches nächste Folgerung verlässt jedoch den Pfad logischer Stringenz: Da der als geistig tot Bezeichnete „nicht im Stande“ sei, „subjektiven Anspruch auf irgend etwas [. . .] zu erheben, wird somit auch kein subjektiver Anspruch verletzt.“ 472 Die „Erhebung“ meint damit mehr als nur die gedankliche Geltendmachung; der betroffenen Gruppe von Menschen spricht Hoche hier die Rechtsfähigkeit insgesamt ab, was freilich durch vorangehende Ausführungen in keiner Weise begründet wurde. Hoche zeigt durch seine misslungene Anlehnung an Binding auf, welch zentrale argumentative Bedeutung dessen Ablehnung eines subjektiven Rechts auf Leben hat. Da Hoche die Rechtsfähigkeit an das konkrete Selbstbewusstsein eines Menschen kettet, wäre eine Übertragung auf jeden anderen Fall fehlenden Selbstbewusstseins nur folgerichtig. Er ahnt scheinbar, dass sich seine Behauptung bis ins Absurde fortführen ließe, und hält deshalb fest: „An dieser Betrachtung ändert sich dadurch nichts, daß es auch heilbare Geisteskranke gibt, die keinen subjektiven Anspruch auf Leben [. . .] machen, die aber, weil es sich um krankhafte Motive episodischer Art handelt, in ihrem Wollen überhaupt keine Berücksichtigung verdienen“.473 Argumentativ lassen diese Ausführungen freilich zu Wünschen übrig und tragen nichts zur logischen Rettung des Standpunktes Hoches bei: Die Unbeachtlichkeit des Willens eines solchen Menschen kann schließlich in keiner Weise die angeblich vom Selbstbewusstsein abhängige Rechtsfähigkeit betreffen. Zudem wird an dieser Stelle impliziert, dass es eines entsprechenden Willens des Menschen zu seiner Tötung bedürfe. Als Rechtfertigung der Tötung dient Hoche aber nicht ein solcher Wille, sondern gerade der behauptete, in der Konstitution des betroffenen Menschen begründete Mangel eines gegenteiligen Willens. In einer konsequenten Fortführung Hoches dürfte daher auch bei nur momentan mangelndem Selbstbewusstsein durch die Tötung „kein subjektiver Anspruch verletzt“ sein.474 Insgesamt sind die juristischen Ausführungen Hoches daher logisch nicht durchzuhalten. Durch die Verwechslung oder Gleichsetzung von gedanklicher Geltendmachung und Inhaberschaft subjektiver Rechte sind sie zudem grundverschieden zu den Bemerkungen Bindings, was Hoche jedoch zu übersehen scheint. 2. Vergleich mit Bindings „Rechtlicher Ausführung“ Selbstverständlich sind die Beiträge Hoches und Bindings in ihrem Ziel und im groben Argumentationsweg sehr ähnlich: Verschiedenen Gruppen von Menschen wird ein objektiver Lebenswert abgesprochen. In Fällen der geistigen Behinderung oder unheilbaren psychischen Erkrankung wird überdies auf eine Her471 472 473 474
Siehe dazu o. S. 352 ff. Binding/Hoche, Freigabe, S. 59. Binding/Hoche, Freigabe, S. 58. Vgl. Binding/Hoche, Freigabe, S. 59.
C. Inhalt der „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
379
anziehung des Willens der Betroffenen verzichtet, indem ihnen ein beachtlicher Wille überhaupt abgesprochen wird. In allen anderen Fällen wird eine Einwilligung in die eigene Tötung verlangt. Im Gegensatz zu Binding befasst sich der Psychiater Hoche fast ausschließlich mit psychisch kranken beziehungsweise geistig behinderten Menschen als der problematischsten aller Konstellationen. In der Eingrenzung dieser Gruppe, für die Hoche den geschmacklosen und überdies missverständlichen Begriff der „geistig Toten“ verwendet, scheinen beide aber im Wesentlichen übereinzustimmen. Schon die Ausführungen Bindings knüpfen an eine besondere Eigenschaft an, die den Menschen vom Tiere unterscheidet und die im Falle der psychisch unheilbar kranken oder geistig behinderten Menschen, deren Tötung Binding freigegeben sehen möchte, permanent verlustig gegangen sein müsse.475 Eine genauere Beschreibung dieser Eigenschaft findet sich bei ihm jedoch nicht. Hoche wird etwas deutlicher: Für ihn soll die menschliche Fähigkeit, sich selbst in eine Beziehung zur Umwelt zu setzen – das Selbstbewusstsein – die Grenze zwischen Geistesschwäche und „geistigem Tod“ markieren. Dass Binding nach Abschluss des Beitrags Hoches seinen eigenen Teil noch einmal unter Hinzuziehung jener „Ärztliche[n] Bemerkungen“ überarbeitet oder in einem Gespräch auf die Ausführungen Hoches Einfluss genommen hat, wird durch das Ergebnis der inhaltlichen Analyse in keiner Weise nahegelegt. Die Beiträge erwecken eher den Eindruck, als habe Hoche nach seinem besten Können versucht, die juristischen Ausführungen Bindings von ärztlicher Seite zu stützen, ohne sie im Detail verstanden zu haben. So sind einige juristische Kommentare Hoches schlechterdings nicht mit Bindings Sichtweise in Einklang zu bringen: Diese betreffen zum Teil Nebensächlichkeiten. So geht Hoche beispielsweise von der schon damals herrschenden Ansicht476 aus, jeder chirurgische Eingriff bedeute eine tatbestandliche Körperverletzung.477 Binding hingegen weist dies nicht nur in seiner „Rechtliche[n] Ausführung“ zurück478 und schließt ärztliche Heileingriffe schon vom Tatbestand der §§ 223 ff. RStGB aus. Weit gravierender fällt die unterschiedliche Stellungnahme der Autoren zum subjektiven „Recht auf Leben“ aus. Hoche geht völlig unumwunden davon aus, dass allen Menschen mit Selbstbewusstsein ein solches Recht zukommt.479 Er muss daher in seinen Ausführungen darlegen, warum die bloße Abwesenheit eines entgegenstehenden Willens in bestimmten Fällen zur Freigabe genügen soll, was ihm nur über eine 475
Siehe o. S. 362 ff. Vgl. Ebermayer/Lobe/Rosenberg, in: LK, Bd. 1, 2. Aufl. 1922, § 223 RStGB, unter 10. m.w. N. 477 Binding/Hoche, Freigabe, S. 47. 478 Siehe Binding/Hoche, Freigabe, S. 17 sowie Binding, Lehrbuch BT, Bd. 1, S. 54 ff. 479 Vgl. Binding/Hoche, Freigabe, S. 57 f. 476
380
3. Teil: „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
Verwechslung der Rechtsfähigkeit mit der Fähigkeit zur Ausübung subjektiver Rechte gelingt. Binding jedoch lehnt ein subjektives „Recht auf Leben“ insgesamt wiederholt und auch in seinem Beitrag zur „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ ab. Für maßgeblich hält er nach seiner Interpretation des § 216 RStGB einzig, dass nie ein entgegenstehender „Lebenswille“ gebrochen werde. Binding bleibt damit in diesem Punkt stringenter als Hoche, wenngleich sich beide Beiträge in ihrem Ziel kaum unterscheiden. Allerdings geht Hoche über Binding hinaus, wenn er sich auch den nicht „geistig toten“, aber dennoch psychisch kranken beziehungsweise geistig behinderten Menschen widmet. Seine Ausführungen lassen vermuten, dass er für diese Menschen Maßnahmen negativer Eugenik befürwortet.480 Zur Eugenik findet sich weder in Bindings Beitrag zur „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“, noch in seinem übrigen Werk ein Wort. Bindings Beitrag will letztlich verstanden werden als Dienst an den betroffenen Menschen, als Plädoyer für ihre „Erlösung“.481 Freilich ist der Begriff einer „Erlösung“ im Falle der Tötung psychisch kranker Menschen völlig verfehlt: Er basiert nicht auf der Empfindung der betroffenen Menschen, sondern bedient sich ausschließlich der Vorstellungswelt der über die Tötungsfreigabe entscheidenden Menschen. Mit dem Kriterium des „Mitleids“ schafft Binding in der Sache nur einen Filter der Sozialadäquanz; mit wahrhaftiger Empathie haben seine Ausführungen nichts zu schaffen. Unter Zugrundelegung der geistigen Fähigkeiten desjenigen, der über die Freigabe entscheidet, wird festgestellt, er wolle so wie der betroffene psychisch kranke oder geistig behinderte Mensch nicht leben. Hoche demgegenüber verurteilt genau diese Projektion der eigenen Geisteswelt in die eines Anderen.482 Mitleid – der Wunsch, den Anderen aus einer für ihn unerträglichen Lage zu befreien – kommt danach schon begrifflich nicht in Frage: „[W]o kein Leiden ist, ist auch kein mit-Leiden.“ 483 Natürlich bewirkt dieser Unterschied keineswegs eine grundsätzlich andere Haltung Hoches zur Kernfrage, der Freigabe einer Tötung dieser Menschen. Nur die Begründung ändert sich. Findet sich bei Binding zumindest phasenweise ein milderer Ton, in dem er sich sogar dazu versteigt, die Tötung psychisch Kranker oder geistig Behinderter als „Liebesdienst“ zu bezeichnen,484 verschwindet der Betroffene als eigenständiges Subjekt bei Hoche gänzlich aus der Wertung. Der einzig verbleibende Anknüpfungspunkt für eine möglicherweise unterschiedliche Behandlung verschiedener „geistig Toter“ besteht für ihn in deren Verbindung zu anderen
480 481 482 483 484
Siehe Binding/Hoche, Freigabe, S. 55. Vgl. nochmals Binding/Hoche, Freigabe, S. 28. Vgl. Binding/Hoche, Freigabe, S. 59. Binding/Hoche, Freigabe, S. 55. Vgl. Binding/Hoche, Freigabe, S. 32, Fn. 52.
D. Das Verständnis Binding/Hoches in der nachfolgenden Debatte
381
Menschen. Nur ein höherer „,Affektionswert‘“ 485 des psychisch Kranken oder geistig Behinderten für seine Umwelt rechtfertigt für Hoche noch eine Differenzierung. Er legt sich unumwunden fest: Dem Mitleid mit diesen Menschen liege derselbe „Denkfehler“ zugrunde wie den „Auswüche[n] des Tierkultus beim europäischen Menschen“.486 Im Gegensatz zur rechtlichen Argumentation zeigt sich hier Hoche konsequenter als Binding, dessen „Mitleids“-Bekundungen auf einem Fehlgebrauch des Wortes beruhen und der für psychisch kranke Menschen am Schluss doch kaum etwas anderes anbietet als Hoche: eine reine, objektive Nutzenkalkulation aus Sicht der Gesellschaft, die ab einem Behinderungs- oder Krankheitsgrad, den weder Hoche noch Binding genau zu bestimmen vermögen, zur Freigabe der Tötung dieser Menschen führen soll. Man mag es als Ausdruck des liberalen Denkens Bindings ansehen, dass er auf eine logisch mit seinen übrigen Ausführungen unvereinbare Art und Weise die Tötung als einen Dienst am Individuum, als eine Mitleidstat darstellt und dieses Mitleid im Gegensatz zu Hoche zur zwingenden Voraussetzung für die Freigabe erheben will. Insgesamt ist im Beitrag des Mediziners Hoche eine kühle, biologistische, kollektivistische Tonart deutlicher zu vernehmen als bei Binding. Im Hauptteil ihrer Argumentation, der Begründung eines besonderen Wertes menschlichen Lebens als solchem, unterscheiden sich beide aber nicht voneinander. Für beide stellt sich der rechtliche Schutz von Menschen mit einer schweren, unheilbaren psychischen Krankheit oder geistigen Behinderung als gefühlige Rechtspraxis ohne rationalen Kern dar. Trotz des auch für diese Zeit besonders brisanten Inhalts der „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ ist ihre komplette Ablehnung der vermeintlich nur emotional begründeten geltenden Rechtslage typisch für die rationale, antimetaphysische, positivistische Weltsicht, die viele im 19. Jahrhundert geformte Geister auszeichnet. Einmal als irrationales Relikt im ansonsten streng rational begründeten System gebrandmarkt, wird die Regelung im Namen des Fortschritts und einer zukünftigen, nüchtern-wissenschaftlich denkenden Gesellschaft mit allen Mitteln bekämpft.
D. Das Verständnis Binding/Hoches in der nachfolgenden Debatte Eine ausführlichere Beschreibung der Rezeptionsgeschichte Binding/Hoches, als sie für die Zwecke dieser Arbeit nötig ist, findet sich bereits in der Dissertation Hammons zur „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“.487 Das Unterfangen ist schon deshalb schwierig, weil sich verschiedene Arten von „Rezeptionen“ unterscheiden lassen: Zum einen die unmittelbare Auseinanderset485 486 487
Binding/Hoche, Freigabe, S. 53. Vgl. Binding/Hoche, Freigabe, S. 59. Hammon, Freigabe, S. 113 ff.
382
3. Teil: „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
zung mit der Schrift, in der die darin enthaltenen Thesen entweder befürwortet oder abgelehnt werden. Zum anderen ist die Präsenz Binding/Hoches in diversen „Euthanasie“-Schriften auch ohne eine solche Auseinandersetzung deutlich spürbar. Den Termini des „lebensunwerten Lebens“ und des „Lebenswillens“ verhilft die Freigabeschrift in der auf sie folgenden Diskussion zum Durchbruch. Sie werden zum Teil auch von Autoren verwandt, die Binding/Hoche inhaltlich ablehnen.488 In den erhaltenen Dokumenten zu den geheimen nationalsozialistischen „Euthanasie“-Programmen findet sich immer wieder der Begriff des „lebensunwerten Lebens“, ohne dass dadurch eine direkte Bezugnahme auf die Freigabeschrift impliziert wird.489 Die Begriffe verselbständigten sich und können nicht immer als Beleg einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit Binding/Hoche verstanden werden. Der vorliegenden Arbeit geht es vor allem um den eigentlichen Inhalt der Freigabeschrift. Diesbezüglich sind als Indizien naturgemäß vor allem Wortmeldungen interessant, die mit einer eigenen Interpretation der Freigabeschrift aufwarten und nicht nur ungenannte gedankliche Versatzstücke der Schrift rezipieren. Solche Interpretationen der Freigabeschrift lassen sich drei Themenfeldern zuordnen, die den wesentlichen Inhalt des Bindingschen Beitrags zur Freigabeschrift abdecken: die „reine Euthanasie in richtiger Begrenzung“ (I.), Tötungsfreigaben nach geltendem Recht (II.) und Bindings Ablehnung eines „Rechts auf Leben“ (III.).
I. Die Frage der Zulässigkeit der „Euthanasie in richtiger Begrenzung“ Die Rezeption der Passage zur „reine[n] Bewirkung der Euthanasie in richtiger Begrenzung“ 490 in Bindings Beitrag zur Freigabeschrift entspricht vollständig dem nach der obigen Analyse Erwarteten. So lehnen einige Autoren jede Einschränkung des Fremdtötungsverbots (abseits der allgemeinen Rechtfertigungsgründe) ab. Ebermayer beispielsweise hält es zwar für „der Erwägung wert, ob diese Fälle [sc. der „Euthanasie in richtiger Begrenzung“] in einem künftigen Strafgesetze nicht straflos gelassen werden sollen.“ Für das geltende Recht aber „dürfte die Ansicht Bindings nicht zutreffen, dass die Fälle der Euthanasie, wie er sie abgrenzt, [. . .] straflos seien.“ 491 Andere wollen die Euthanasie auf Sach488 Vgl. etwa Ebermayer, Deutsche medizinische Wochenschrift 48 (1922), S. 1655; Ulbrich, Geisteskampf der Gegenwart 58 (1922), S. 277 (278); F. Walter, ARWPh 16 (1922/23), S. 89 (90). 489 Der Begriff findet auf beiden Seiten, bei den Befürworten und den Widersachern Verwendung. Vgl. nur E. Klee (Hrsg.), Dokumente, S. 89 u. 173. 490 Vgl. Binding/Hoche, Freigabe, S. 16 ff. 491 Beide Ebermayer, LZDtR 14 (1920), S. 599 (603). Zumindest hinsichtlich der Bindingschen Begründung ablehnend auch K. Klee, Ärztliche Sachverständigen-Zeitung 27 (1921), S. 1 (1), der allerdings ebd., S. 1 (3) von einer gewohnheitsrechtlichen Recht-
D. Das Verständnis Binding/Hoches in der nachfolgenden Debatte
383
verhalte beschränken, wie sie der heutigen Konzeption der indirekten aktiven Sterbehilfe zugrundeliegen.492 Wieder Andere pflichten Binding darin bei, es liege hier keine „,Tötungshandlung im Rechtssinne‘“, sondern eine „reine Heilbehandlung“ vor.493 Die wesentliche Bruchstelle in der Freigabeschrift, der perspektivische Wechsel von der lex lata zur lex ferenda, wurde in allen frühen Besprechungen der Freigabeschrift verstanden und beachtet. Kein Autor jener Zeit bezieht die Äußerungen Bindings, nach der die „Euthanasie in richtiger Begrenzung“ nicht unter die Tötungsnorm falle, auf die nachfolgenden drei Fallgruppen der „Vernichtung lebensunwerten Lebens“. Es überrascht daher nicht, dass die Diskussion um Bindings Sichtweise zur „Euthanasie“ eine sehr juristische bleibt, die um die methodischen Grenzen einer Einschränkung der Tötungsnorm kreist. Bindings Vision für ein künftiges Recht hingegen wird bereits unmittelbar nach Erscheinen der Freigabeschrift sehr kontrovers und interdisziplinär diskutiert. Besonders von Seiten christlich-religiös argumentierender Autoren folgen alsbald scharfe Ablehnungen. Die „Euthanasie in richtiger Begrenzung“ spielt in diesen Erwiderungen allerdings kaum eine Rolle.
II. Tötungsfreigaben nach geltendem Recht Nach einer neueren Lesart habe Binding in der Freigabeschrift Tötungsfreigaben schon im geltenden Recht begründen wollen.494 In den frühen Reaktionen auf die Freigabeschrift in den 1920er Jahren findet sich ein solches Verständnis jedoch nicht. Sämtliche Autoren, die sich mit dem Werk inhaltlich auseinandersetzen, verstehen die Argumentation Binding/Hoches als eine zur lex ferenda, eine rechtspolitische Forderung. So zitieren etwa Gaupp495 und Ebermayer496 in ihren Besprechungen der Freigabeschrift Bindings eigene Beschreibung seines Hauptanliegens als „gesetzliche fertigung in diesen Fällen ausgeht. Kritisch auch Heyn, Zeitschrift für Medizinalbeamte 34 (1921), S. 253 (256 f.), der aber S. 273 (274) im Ergebnis unentschieden ist. 492 So beispielsweise Pelckmann, MSchKrim 14 (1923), S. 178 (196 f.), der allerdings auch in der bei Binding als „Euthanasie in richtiger Begrenzung“ bezeichneten Fallkonstellation und den von Binding für ein künftiges Recht geforderten Freigaben „lebensunwerten Lebens“ schon de lege lata von Straflosigkeit ausgeht. Anders als bei der indirekten Sterbehilfe bejaht er in diesen Fällen aber eine Tötung im Rechtssinne. Zur Begründung der behaupteten Straflosigkeit siehe u. S. 385 ff. 493 Binding/Hoche, Freigabe, S. 18. So wohl auch Strassmann, Ärztliche Sachverständigen-Zeitung 27 (1921), S. 7 (7), der einen wesentlichen Unterschied zu einer Konzeption, der es auf die Zwecksetzung der Schmerzmittelgabe ankommt, nicht erkennen kann. 494 Siehe dazu o. S. 325 f. 495 Vgl. Gaupp, DStrZ 7 (1920), S. 332 (333). 496 Ebermayer, LZDtR 14 (1920), S. 599 (600).
384
3. Teil: „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
Erweiterung“. Ebermayer schreibt überdies auch später von einer Freigabe „de lege ferenda“ und sieht den Kernpunkt der Schrift als Kampf „dafür, dass über die nach Bindings Meinung schon jetzt unverbotenen Fälle der Tötung [. . .] noch andere Fälle [. . .] freigegeben werden.“ 497 Ähnliches lässt sich den ganz oder teilweise einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit der Freigabeschrift gewidmeten Beiträgen Reichhelms,498 Franz Walters,499 und Boenigks500 entnehmen. Auch der schon 1915 in der „Euthanasie“-Diskussion aktive Elster, der sich der Linie Binding/Hoches anschließt, äußert sich entsprechend.501 Borchardt schließlich liefert als teilweise Umsetzung der Freigabeschrift einen Gesetzesentwurf für die „Tötung unheilbarer Geistesschwacher“,502 den er damit offenbar auch nach Lektüre Binding/Hoches für notwendig hält. Das allgemeine Verständnis der Freigabeschrift als rechtspolitische Forderung ist auch völlig unabhängig von der Befürwortung oder Gegnerschaft zu ihr. Mehrfach503 äußert sich beispielsweise Ulbrich strikt ablehnend zu Bindings Ansichten. Im Hinblick auf den Inhalt der von ihm kritisierten Freigabeschrift schreibt er indes völlig unmissverständlich, man dürfe „kein Gesetz fordern, das so tief in das Lebensrecht [. . .] einschneidet.“ 504 Ebenso versteht Engisch in seiner der Euthanasie als strafrechtliches Problem gewidmeten Arbeit von 1948 den wesentlichen Teil der Freigabeschrift als Vorschlag einer Strafrechtsreform.505 Auch bei Medizinern ergibt sich kein anderes Bild. So moniert Strassmann, Binding habe „sich überhaupt nicht darüber ausgesprochen, in welcher Weise er sich die notwendige Abänderung des Strafgesetzbuches denkt“ 506 – und impliziert somit ganz selbstverständlich, dass Binding eine solche Änderung beabsichtigte. Ebenso erwähnt Heyn in seiner Auseinandersetzung mit Binding/Hoche an
497
Ebermayer, LZDtR 14 (1920), S. 599 (601). Reichhelm, DStrZ 9 (1922), S. 292 (292). 499 F. Walter, ARWPh 16 (1922/23), S. 89 (92). 500 Boenigk, Deutsche Revue 46 (1921), S. 78 (80: „Soll uns nur das Recht auf unseren eigenen Tod im Falle unmenschlichen Daseins [. . .] gegeben werden, oder soll man darüber hinaus ein Recht schaffen und umgrenzen, welches die Tötung der vielen ,Ballastexistenzen‘ [. . .] ermöglicht? Soll man dabei die Zustimmung des zu Tötenden verlangen, wie das Binding tut [. . .]?“; Hervorhebung hinzugefügt). 501 Elster, ZStW 44 (1924), 130 (131: „So wird deutlich, dass Binding – und darin folge ich ihm durchaus – für die sogenannte Euthanasie unter den erforderlichen Kautelen Straflosigkeit fordert.“; Hervorhebung hinzugefügt.) 502 Vgl. Borchardt, DStrZ 9 (1922), S. 206 (209 f.). 503 Vgl. Ulbrich, Geisteskampf der Gegenwart 58 (1922), S. 277 (278) und ders., Dürfen wir minderwertiges Leben vernichten?, S. 6. 504 Ulbrich, Geisteskampf der Gegenwart 58 (1922), S. 277 (278); Hervorhebung hinzugefügt. 505 Engisch, Euthanasie, S. 28 ff. 506 Strassmann, Ärztliche Sachverständigen-Zeitung 27 (1921), S. 7 (8). 498
D. Das Verständnis Binding/Hoches in der nachfolgenden Debatte
385
keiner Stelle eine Sichtweise, nach der die auch von ihm befürwortete507 Freigabe bestimmter Tötungen eventuell schon nach geltendem Recht zulässig sein könnte, sondern schreibt, dass sich mit einer solchen Freigabe „in juristischer Hinsicht [. . .] der Gesetzgeber [. . .] zu befassen“ habe.508 Auch die Beiträge K. Klees509 und Wauschkuhns510 zeigen eine derartige Auffassung vom Inhalt der Freigabeschrift. Die Literatur ist in ihrem Verständnis der Freigabeschrift damit zunächst einhellig: Es handelt sich danach bei den Tötungsfreigaben um Ausführungen de lege ferenda. Die Sichtweise, nach der wesentliches Ziel Binding/Hoches die Darstellung der Straflosigkeit der „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ bereits nach geltendem Recht sei, ist damit eine moderne Behauptung. Unter den Befürwortern dieser Lesart setzte sich bislang nur Hammon mit den frühen Besprechungen der Freigabeschrift auseinander. Als einziger Beleg eines solchen Verständnisses in der frühen Rezeption der Freigabeschrift wird Pelckmann angeboten,511 der in der Tat die Ansicht vertritt, in den von Binding vorgetragenen Fallgruppen seien Tötungen bereits nach geltendem Recht straflos.512 Sein Gesetzesvorschlag am Ende des Beitrags habe ausdrücklich nur die Aufgabe, „gewisse Kautelen“ zur Vermeidung von Missbrauch und zur Beseitigung von Rechtsunsicherheiten in diesem Bereich zu liefern.513 Indes beruft sich Pelckmann ausschließlich hinsichtlich der für eine Tötung in Frage kommenden Menschengruppen auf Binding/Hoche. Den Kernpunkt seines Beitrags, die Straffreiheit solcher Tötungen bereits nach geltendem Recht, musste Pelckmann zwangsläufig ohne Hinweis auf die Freigabeschrift vortragen, die eine solche Behauptung gerade nicht enthält. Er verfolgt in diesem Punkt einen eigenen und von Binding fundamental verschiedenen Ansatz. Ein Blick auf Pelckmanns Begründung der angeblichen Straflosigkeit jener Tötungen514 verdeutlicht dies. Ohne positivrechtliche Herleitung behauptet Pelckmann, eine Einwilligung müsse zwangsläufig jedes persönliche Unrecht ausschließen.515 Der Weg zur Straflosigkeit in den beschriebenen Fällen ist danach vorgezeichnet: Da das Unrecht in personam wegfalle, bleibe nur noch ein staatliches, beziehungsweise ge-
507 Heyn, ZfMB 34 (1921), S. 273 (280) zieht hier allerdings einen engeren Rahmen als Binding und Hoche. 508 Heyn, ZfMB 34 (1921), S. 253 (261 f.). 509 Vgl. K. Klee, Ärztliche Sachverständigen-Zeitung 27 (1921), S. 1 (4). 510 Vgl. Wauschkuhn, Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 24 (1922/23), 215 (216). 511 Vgl. Hammon, Freigabe, S. 123 m. Fn. 743 u. 745 ff. 512 Pelckmann, MSchKrim 14 (1923), S. 178 (191). 513 Pelckmann, MSchKrim 14 (1923), S. 178 (197). 514 Vgl. Pelckmann, MSchKrim 14 (1923), S. 178 (184). 515 Pelckmann, MSchKrim 14 (1923), S. 178 (184 f., 195).
386
3. Teil: „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
sellschaftliches Interesse als mögliche Grundlage einer Strafbarkeit.516 So kommt er zu dem Schluss, dass § 216 RStGB nur für den Fall eines solchen Interesses am Fortleben des betroffenen Menschen Strafe androhe.517 Am Fortleben „eines stets wieder rückfälligen, sozial also unheilbaren Verbrechers, eines Blödsinnigen, eines Krebskranken, der nur auf den Erlöser Tod wartet“, sei der Staat aber nicht interessiert.518 Nur an „Leben, Gesundheit und Leistungsfähigkeit seiner brauchbaren Mitbürger“ habe „der Staat ein materielles Interesse.“ 519 Damit entfalle der einzige Strafzweck des § 216 RStGB, die Tat ist für Pelckmann „nicht rechtswidrig, nicht strafbar.“520 Dem Satz „volenti non fit iniuria“ wird somit bei Pelckmann gerade jene Macht beigemessen, die Binding in der Freigabeschrift zu dem spöttischen Urteil veranlasst, es handle sich bei dieser Ansicht um eine naturrechtliche Lehre.521 Die unterschiedliche Bewertung der Einwilligung bei Binding und Pelckmann hat ihren Grund in einem unterschiedlichen Rechtsgutsverständnis, welches wiederum verschiedene Rechtsverständnisse voraussetzt. So nimmt Pelckmann unausgesprochen einen überpositiven Rechtsgutsbegriff an, der zum Kern des Strafgesetzes stilisiert wird: „Die Straflosigkeit der Euthanasie in beiden Fällen ergibt sich aus deren innerstem Wesen, weil es an der Verletzung irgendeines Rechtsgutes ermangelt.“ 522 Einen derartigen Satz wird man bei Binding vergebens suchen; er ist unter Zugrundelegung seines Rechtsverständnisses sinnlos. Die Wirksamkeit eines Strafgesetzes kann für ihn nicht aus dem Mangel einer Rechtsgutsverletzung folgen; da das Schutzobjekt der zugrundeliegenden Norm einer Strafvorschrift spätestens mit der Strafvorschrift entsteht, können Strafgesetze nicht durch den Mangel eines Schutzobjektes hinfällig werden. Eine begriffliche Koppelung von Strafgesetzen an Verletzungen vorpositiver Rechtsgüter ist dem Rechtspositivisten Binding völlig fremd. Nach alldem nimmt es keine Wunder, dass sich Pelckmann an der entscheidenden Stelle seines Beitrags – der Behauptung einer Straflosigkeit einer Tötung körperlich unheilbar Kranker auf deren Verlangen – hierfür auf keinen weiteren Befürworter der „Euthanasie“ berufen kann. Es handelt sich um eine neue Auslegung des Rechts, die nur unter mehrfachen Brüchen mit anerkannten Grundsätzen rechtspositivistischer Methodik möglich wird. Mit Bindings Rechtsverständnis ist diese Auslegung nicht vereinbar.
516 517
Vgl. Pelckmann, MSchKrim 14 (1923), S. 178 (185). Pelckmann, MSchKrim 14 (1923), S. 178 (185 u. 191); Hervorhebung hinzuge-
fügt. 518 519 520 521 522
Pelckmann, MSchKrim 14 (1923), S. 178 (190). Pelckmann, MSchKrim 14 (1923), S. 178 (190). Pelckmann, MSchKrim 14 (1923), S. 178 (191). Binding/Hoche, Freigabe, S. 21 f.; siehe dazu schon o. S. 351. Pelckmann, MSchKrim 14 (1923), S. 178 (195).
E. Historische Einordnung der Freigabeschrift
387
III. „Recht auf Leben“ In Bezug auf Bindings Ausführungen zu einem von ihm abgelehnten „Recht auf Leben“ finden sich in den Besprechungen der Freigabeschrift kaum Kommentare. Insbesondere wurde die herausragende Bedeutung dieser Ansicht für Bindings Auslegung des § 216 RStGB und der Zusammenhang mit der Forderung nach einer „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ nicht erkannt. Nur Elster und Bresler widmen sich kurz dem Problem. Ersterer pflichtet den Ausführungen Bindings bei,523 während Letzterer feststellt, der „Wille zu leben oder zu sterben“ komme „für das Problem gar nicht in Betracht“,524 dem Punkt aber anschließend keine weitergehende Bedeutung beimisst. Andere Beiträge zum Thema beschränken sich darauf, die mangelnde Beachtung eines als selbstverständlich vorausgesetzten Rechts am eigenen Leben bei Binding zu kritisieren. Dessen offene Ablehnung eines solchen Rechts wird scheinbar gar nicht wahrgenommen.525 Das für Bindings Argumentation maßgebliche Fehlen eines Selbstbestimmungsrechts des Menschen in Fragen über Leben und Tod wird implizit abgelehnt, als eigenständiges Problem jedoch nicht adressiert.
E. Historische Einordnung der Freigabeschrift Mit den kurz zusammenzufassenden wesentlichen Ergebnissen der Analyse der Freigabeschrift (I.) können nun bisherige Einordnungsversuche in der Literatur bewertet werden (II.). Schließlich wird eine eigene Einordnung der Schrift angeboten (III.).
I. Die Freigabeschrift als rechtspolitische Forderung Was für Binding schon nach der Analyse einiger Grundlinien seines Rechtsdenkens zu vermuten stand, bestätigte sich in der Analyse der „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“: Binding behauptet darin mitnichten eine schon nach geltendem Recht freigegebene Tötung kranker oder behinderter Menschen. Die Zielrichtung seiner Schrift ist die lex ferenda. Es ist im Wesentlichen eine rechtspolitische Forderung. Dass es sich nach Bindings eigenem Bekunden bei seinem Beitrag um einen „streng juristische[n]“ handeln soll, ändert an dieser Bewertung nichts. Es ist ein streng juristischer Beitrag – wenngleich mit einigen für Binding ungewöhnlichen Schwächen.526 Binding analysiert die geltende 523
Vgl. Elster, ZStW 44 (1924), S. 130 (130). Bresler, Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 22 (1920/21), S. 289 (289). 525 Siehe bspw. Ebermayer, LZDtR 14 (1920), S. 599 (603 f.) und Brennecke, Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 23 (1921/22), S. 4 (6). 526 Siehe etwa o. S. 341 ff. 524
388
3. Teil: „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
Rechtslage und hält sich dabei an die Vorgaben seiner juristischen Methodik. Erst die vorangehende Analyse der Rechtslage erlaubt es ihm, vermeintliche Ungereimtheiten in der bisherigen Ausgestaltung der Tötungsnorm aufzudecken. Nach seinem Blick auf das Recht gilt das Fremdtötungsverbot mit Ausnahme allgemeiner Rechtfertigungsgründe uneingeschränkt. Da er ein subjektives Recht auf oder am Leben ablehnt, sieht er in § 216 RStGB zudem eine gesetzliche Anerkennung des „Lebenswillens“ als Instrument einer qualitativen Rechtsgutsbewertung menschlichen Lebens. Diese Bewertung verläuft nach seiner Sichtweise bislang nur halbseitig. Er beanstandet ausdrücklich die gesetzgeberische Entscheidung, die „Schwäche“ des betroffenen menschlichen Lebens nicht als Privilegierungsgrund einer Tötung anzuerkennen. Der Mangel einer solchen Privilegierung hindert ihn indes nicht daran, die vermeintlich geringfügigere Rechtsgutsbeeinträchtigung bei der Tötung eines entsprechend kranken oder verletzten Menschen als ein den Tatunwert milderndes Moment heranzuziehen.527 Diese Konstitution des konkreten Rechtsguts lässt sich auf zweierlei Weisen objektiv messen: aus Sicht des Einzelnen oder aus Sicht der Gesellschaft als Ganzes. Ein rationales Strafrecht kann für Binding neben dem subjektiven Lebenswillen daher lediglich diesen Maßstäben Beachtung schenken. Bindings gesamte Kritik am geltenden Recht speist sich aus dieser Überlegung. Sein Vorwurf ist die ungenügende rechtliche Beachtung dieser Maßstäbe. § 216 RStGB begrüßt er als Regelung für den Fall, dass nur der Lebenswille des Rechtsgutsträgers fehlt. Eine gesetzliche Privilegierung nach diesem Vorbild fordert er für die häufig zusammen auftretenden Fälle, in denen es an der subjektiven Utilität des Lebens des Einzelnen für die Gesellschaft oder für den Rechtsgutsträger selbst mangelt. Liegt weder ein Lebenswille noch eine Nützlichkeit des Lebens in diesem Sinne vor, ist das Rechtsgut für Binding vollständig entwertet und sollte dementsprechend nicht unter strafrechtlichen Schutz gestellt werden. Die prozeduralen Voraussetzungen, die Binding an die Tötungsfreigabe stellt, dienen der Verhinderung des Missbrauchs dieser Freigabe. In einem verbleibenden Wert des Menschenlebens sind sie für Binding nicht begründet. Die Ablehnung eines metaphysischen Eigenwerts menschlichen Lebens bildet damit das Rückrat der Bindingschen Argumentation. In diesem Sinne lässt sich sein Beitrag auch in den metaphysikkritischen Zeitgeist des frühen 20. Jahrhunderts einordnen.
II. Bisherige Einordnungsversuche Die Ansicht, nach der Binding eine Normeinschränkung nach geltendem Recht propagiere, beruht häufig auf einem fehlgehenden Verständnis der Normentheo527 Zur Fragwürdigkeit dieser Argumentation Bindings auch innerhalb der Voraussetzungen seiner Methodik siehe o. S. 343 ff.
E. Historische Einordnung der Freigabeschrift
389
rie und zwingt zu unhaltbaren Interpretationen eindeutig formulierter Stellen in Bindings Beitrag zur Freigabeschrift. Regelmäßig werden als Beleg Ausführungen Bindings zur „Euthanasie in richtiger Begrenzung“ angeführt, die tatsächlich eine teleologisch begründete Normauslegung darstellen. Diese Euthanasie – das Ersetzen eines schmerzhaften durch einen schmerzlosen Tod ohne nennenswerten Zeitunterschied – gleicht allerdings wesentlich der heute sogenannten „indirekten aktiven Sterbehilfe“. Zu deren Begründung wird neben einer Rechtfertigungslösung bis heute auch eine Tatbestandslösung vertreten,528 die nichts anderes sein kann als eine teleologisch begründete Normeinschränkung. Es ist nicht auszuschließen, dass Binding mit seiner Vorstellung von „Euthanasie in richtiger Begrenzung“ über heute anerkannte Grenzen der indirekten aktiven Strebehilfe hinausging; einige Stellen legen dies nahe. Entgegen anderslautender Verweise bei Naucke,529 Vörös,530 und auch Frommel531 beziehen sich seine Ausführungen jedoch gerade nicht auf die Fallgruppen, in denen er sich für eine Freigabe zur Tötung ausspricht. Von den genannten Einordnungsversuchen hebt sich derjenige Frommels ab. Ihre Sichtweise der Freigabeschrift beruht auf einem besonderen Verständnis nicht der Normentheorie, sondern der juristischen Methodik Bindings insgesamt. Sie überschätzt die Bedeutung richterlicher Rechtsfortbildung bei Binding, wenn sie die Möglichkeit einer konkludenten Anerkennung solcher Rechtsfortbildung durch den Gesetzgeber allein durch Nichtintervention zum Einfallstor von Sozialnormen erklärt, die Bindings Rechtsverständnis beherrschten.532 Tatsächlich sind dem Einfluss von Sozialnormen nach Bindings Rechtsverständnis schon durch das Gesetzlichkeitsprinzip, welches er widerwillig beachtet, Grenzen gesetzt. Vor allem aber kettet Bindings Methodik die juristische Auslegung an eine Reihe objektiver Momente, die gerade einer willkürlichen Interpretation des Rechts nach extrajuristischen Maßstäben des jeweiligen Richters vorbeugen sollen. In seinem Kampf um eine positivistische „Reinheit“ des Rechtsbegriffs ist Binding spürbar bemüht, einem unmittelbaren Einfluss bloßer Sozialnormen auf das Recht so weit vorzubeugen, wie ein objektiver Ausgangspunkt in der juristischen Interpretation dies erlaubt. Spiegelbildlich ist die Erweiterung des richterlichen Entscheidungsspielraums durch eine Heranziehung von Normen, die selbst nicht dem Recht entnommen werden können, sein hauptsächlicher Kritikpunkt beispielsweise an der Lehre M. E. Mayers.533 Auch die Moderne Straftheorie
528 Etwa von Tröndle, ZStW 99 (1987), S. 25 (30, 47 f.); Jähnke, in: LK, 11. Aufl. 2005, Vor § 211, Rn. 16; Krey, BT, Bd. 1, Rn. 14; Herzberg, NJW 1996, 3043 (3048 f.). 529 Naucke, in: Vormbaum (Hrsg.), Freigabe, S. XXI f. 530 Vörös, Kinder- und Jugendeuthanasie, S. 23. 531 Frommel, Präventionsmodelle, S. 76. 532 Vgl. Frommel, Präventionsmodelle, S. 72 ff. m. Fn. 75. 533 Vgl. Binding, Normen, Bd. 2,1, S. 366 ff.
390
3. Teil: „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
lehnt er vor allem mit Blick auf ihr vermeintlich mangelhaftes positivrechtliches Fundament ab.534 Frommels Sichtweise, nach der Binding durch eine ausufernde Auslegung von Rechtfertigungstatbeständen Tötungsfreigaben de lege lata darzulegen versuche, lässt sich in einem Abgleich mit Bindings „Rechtliche[n] Ausführungen“ ebensowenig bestätigen wie die im Ergebnis ähnliche Ansicht Nauckes. Die „Unverbotenheit“ des Suizids ist für Binding Folge der Ausgestaltung der Tötungsnorm als Fremdtötungsnorm, die „Euthanasie in richtiger Begrenzung“ ist teleologisch begründete Normeinschränkung und die befürworteten Tötungsfreigaben sind rechtspolitische Forderung Bindings. Eine Auslegung von Rechtfertigungstatbeständen kommt in keinem dieser Sinnabschnitte seines Beitrags vor. Das abschließende Urteil Frommels, die Selbstbeschreibung der Schrift als juristisch sei inzwischen „rein [fiktiv]“, basiert wohl vor allem auf dem genannten Verständnis des Textes und verdient insofern keinen Beifall. Erwähnenswert ist allerdings, dass sich in dem juristischen Beitrag Bindings Unstimmigkeiten finden lassen, die nicht abschließend zu erklären sind.535 Sie könnten auf dem Charakter der Schrift beruhen, die kein rein rechtswissenschaftlicher Beitrag sein möchte, sondern für ein breiteres Publikum gedacht ist. Es mag sein, dass Binding deshalb nicht denselben Wert auf seine übliche Genauigkeit legte. Im Hinblick auf die an Pedanterie grenzende Genauigkeit, die er andernorts zeigt, sowie den durchaus ernst zu nehmenden juristischen Fokus nach der Selbstbeschreibung der Arbeit scheint eine solche Erklärung aber wenig befriedigend. Auch das fortgeschrittene Alter – bei Fertigstellung des Manuskripts war Binding 78 Jahre alt – mag eine Ursache für die Unstimmigkeiten sein. Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass ähnliche Ungenauigkeiten in Bindings nur kurz zuvor erschienenem Werk zur Schuldlehre536 nicht auftauchen. Mit einem grammatikalischen Fehler in einer doppelten Verneinung und einer terminologisch unschlüssigen Bemerkung zur Strafbarkeit der Teilnahme am Suizid handelt es sich aber um eher kleinere Unstimmigkeiten. Ein Vorwurf beginnender Altersdemenz ließe sich darauf nicht begründen und hätte zudem fatale, entlastende Wirkung, die das Bemühen um ein Verständnis der durchaus ernstzunehmenden Forderung und ihre korrekte historische Einordnung nur behindern kann. Eine zweite Gruppe von Einordnungsversuchen betrifft einen angeblich eugenischen Charakter der Freigabeschrift. Fichtner,537 Bernd Walter538 und Gämmerler539 äußerten sich in diesem Sinne. Dabei beruft sich Letzterer zu Unrecht 534
Vgl. Binding, Normen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 412 ff. m. Fn. 1. Siehe nochmals o. S. 341 ff. 536 Binding, Schuld, 1919. 537 Fichtner, in: Eser (Hrsg.), Suizid und Euthanasie, S. 24 (27). 538 B. Walter, in: Kuropka (Hrsg.), Clemens August Graf von Galen, S. 163 (171 f.). 539 Gämmerler, in: Arthur Kaufmann (Hrsg.), Moderne Medizin und Strafrecht, S. 161 (163). 535
E. Historische Einordnung der Freigabeschrift
391
auf einen Aufsatz Brenskes,540 der Binding/Hoche gerade im Gegensatz zu eugenisch motivierten „Euthanasie“-Schriften aufführt.541 Der Einordnung als eugenisch motivierte Schrift kann nur teilweise zugestimmt werden. Zwar zeichnen sich sowohl Hoche als auch Binding durch ein streng biologistisches Verständnis menschlicher Würde aus. Ausführungen zur Eugenik finden sich allerdings nur bei Hoche. Sie beziehen sich auf psychisch kranke und geistig behinderte Menschen, deren Krankheit oder Behinderung für Hoche noch nicht den Grad eines „geistigen Todes“ erreicht hat. Hier lässt er in wenigen Sätzen erkennen, dass er Maßnahmen negativer Eugenik durchaus befürwortet.542 Allerdings lehnt er eine eugenisch motivierte Tötung dieser Menschen ausdrücklich ab.543 Mit der Anwendung milderer Mittel negativer Eugenik bezieht Hoche eine Position, die von Forel und anderen prominenten Medizinern und Naturwissenschaftlern öffentlichkeitswirksam vertreten wurde und sich gerade in ärztlichen Kreisen um 1920 großer Beliebtheit erfreute. Für das Verdikt einer primär eugenisch motivierten Schrift reichen diese Befunde nicht aus. Im Vordergrund steht vielmehr die Freigabe von Tötungen aus Gründen der Utilität als angebliche Forderung der Vernunft, wie sie bereits ein Vierteljahrhundert früher von Jost propagiert wurde. Binding geht an keiner Stelle auf eugenische Aspekte der befürworteten Tötungsfreigaben ein, differenziert nicht einmal zwischen erblichen und anderen Beeinträchtigungen. Die diskutierten Fälle sind dafür auch wenig geeignet; sie sind in eugenischer Hinsicht bedeutungslos. Angesichts des Grades der körperlichen Beeinträchtigung, den Binding im ersten der diskutierten Fälle beschreibt, scheidet eine Weitergabe des Erbguts regelmäßig aus. Für die dritte Gruppe physisch kranker oder verletzter Bewusstloser ist dies selbstverständlich. Im Hinblick auf die Gruppe psychisch Kranker oder geistig Behinderter ist wiederum klarzustellen, dass es Hoche wie Binding dabei um Menschen geht, deren besondere Würde – verstanden als die über das bloß Animalische hinausreichenden Eigenschaften des Menschen – abhanden gekommen sein soll. Hoche äußert sich hier deutlicher als Binding und sieht diese Fähigkeit als das Selbstbewusstsein des Menschen. Beiden muss es hinsichtlich der Tötungsfreigabe ohne Einwilligung aber um schwerste Beeinträchtigungen gehen, die den Menschen in ihren Augen auf das geistige Niveau eines Tieres herabstufen. Der Grad einer psychischen Erkrankung oder geistigen Behinderung, der Binding und Hoche zu so fürchterlichen Beschreibungen wie „leere Menschenhülsen“ oder „geistig tot“ verleitet, ist mit der Weitergabe von Erbgut praktisch ebenso unvereinbar. Dass Hoche seine Passage zur Eugenik aus540 Vgl. Gämmerler, in: Arthur Kaufmann (Hrsg.), Moderne Medizin und Strafrecht, S. 161 (163 m. Fn. 8). 541 Brenske, JR 1952, S. 275 (276). 542 Binding/Hoche, Freigabe, S. 55. 543 Binding/Hoche, Freigabe, S. 57.
392
3. Teil: „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
schließlich auf psychisch kranke oder geistig behinderte Menschen beschränkt, denen das Selbstbewusstsein gerade nicht abhanden gekommen ist und deren Tötung daher weder von ihm noch von Binding auch nur zur Diskussion gestellt wird, ist daher kein Zufall.
III. Die Freigabeschrift als Impulsgeber ohne inhaltliche Neuheiten Es zeigte sich, dass geistesgeschichtliche Neuheiten bei Binding/Hoche kaum zu finden sind. In seinem Kern – der rechtspolitischen Forderung von Tötungsfreigaben – stellt sich das Werk als komprimierte Zusammenstellung von spätestens seit Josts Schrift zum „Recht auf den Tod“ von 1895 bekannten Ansichten dar. Hier wie dort wird eine reine Nützlichkeitsrationalität auf die verschiedenen Fallkonstellationen angewandt. Die geforderten Regelungen für psychisch kranke oder geistig behinderte Menschen gleichen sich darin, dass nur noch eine Einschätzung des gesellschaftlichen Interesses am Fortleben des Betroffenen entscheidend sein soll. Moralische Bedenken im Hinblick auf die zwingend einwilligungslose Tötung solcher Menschen werden hier wie dort unter Bezugnahme auf eine als würdelos empfundene Existenz beiseite gelegt. Dies geschieht bei Binding, indem er eine Rechtsmacht des Einzelnen über sein Leben ablehnt. In diesem Fall läge der Grund für den milderen Strafrahmen in § 216 RStGB folgerichtig nicht in einem Handeln im Einklang mit jener Rechtsmacht, sondern in einer Tötung ohne Bruch eines entgegenstehenden Willens. Von diesem Punkt aus fällt es ihm leicht, die von ihm geforderte Freigabe der Tötung psychisch kranker oder geistig behinderter Menschen zu begründen: Er spricht ihnen schlicht ab, einen beachtlichen Lebenswillen formen zu können. Der Vorwurf an das Recht lautet dann auf eine Wertungsinkonsequenz, die es zu bereinigen gelte. Anders geht Jost vor, der die Tötung dieser Menschen zynisch als eine Durchsetzung ihres eigenen „Rechts auf den Tod“ beschreibt. Ein entsprechender Wille wird ihnen unter falscher Zugrundelegung der Perspektive des Betrachters einfach unterstellt; in dieser Form – so die Unterstellung – könne niemand leben wollen. Nichts anderes sind die am Rande angebrachten Mitleidsbekundungen Bindings, die systematisch nur als Filter der Sozialadäquanz aller geforderten Tötungsfreigaben verstanden werden können. Hoche verzichtet völlig auf eine Argumentation unter dem Deckmantel des Mitleids und bleibt damit auf schreckliche Weise konsequent: Die psychisch kranken oder geistig behinderten Menschen spielen für ihn in der Entscheidung über ihre eigene Tötung keinerlei Rolle, sie sind vollständig zum Gegenstand einer objektiven Nützlichkeitskalkulation degradiert. Allenfalls die Affektion Anderer ist für ihn noch beachtenswertes Motiv eines rechtlichen Schutzes. Die geistigen Voraussetzungen der Beiträge Josts, Bindings und Hoches sind aber dieselben: Der einzige tiefere Grund für einen besonderen Schutz mensch-
E. Historische Einordnung der Freigabeschrift
393
lichen Lebens wird in einer Würde gesehen, die biologistisch als eine gegenüber Tieren besondere Fähigkeit verstanden wird – und damit auch verloren werden kann. In der umfangreichen Literatur zu „Euthanasie“ und Eugenik in dieser Zeit gilt diese Ansicht vielen als Vernunfterkenntnis, deren praktische Umsetzung lediglich mit besonders hohen kulturellen Hürden zu kämpfen hat. Beispielhaft ist in dieser Hinsicht der vielgelesene Haeckel, der einen „Lebenswillen“ konsequenterweise in seinen Überlegungen auch bei Säuglingen abstreitet, bei denen eine die besondere menschliche Würde begründende Fähigkeit noch nicht vorhanden ist.544 Einen Lebensschutz sieht er daher nur dann begründet, wenn ein objektives gesellschaftliches Interesse am Fortleben des Kindes zu bejahen wäre. Der Umkehrschluss – die Möglichkeit einer Tötung der Kinder, an deren Fortleben kein solches Interesse besteht – ist auch für Binding kein völlig fremder Gedanke, wenngleich er vor allzu deutlich formulierten Forderungen zurückschreckt. In jedem Fall aber ist es für beide bei Säuglingen nicht das Menschsein als solches, das einen moralischen Schutzanspruch begründet. Das einzig Neue in Bindings Beitrag ist die Verknüpfung der beschriebenen rechtspolitischen Forderung mit einer angeblich bereits vorhandenen Wertungstendenz des Rechts. Das Recht hat mit der Beachtung des „Lebenswillens“ und der allgemeinen Rechtsgutslehre aus seiner Sicht die Erfordernisse der Vernunft gewissermaßen bereits unterschwellig erkannt und halbseitig in seinen Willen aufgenommen. Mit dem Anerkenntnis, dass ein Leben ohne objektiven Wert im Sinne der gesellschaftlichen Utilität und ohne subjektiven Lebenswillen gar keinen strafrechtlichen Schutz verdient, wäre diese Entwicklung für ihn vollendet. Wenig überraschend ist damit insgesamt, dass sich auch die Diskussion zur „Euthanasie“ nach dem Erscheinen der Freigabeschrift argumentativ nicht von der vorangegangenen unterscheidet. Sieht man von eher seltsamen vereinzelten Wortmeldungen wie der Darstellung erbrechtlicher Konsequenzen einer Tötung psychisch kranker Menschen bei Ulbrich545 ab, so bewegen sich die Argumente vollständig in den Bahnen, welche die Diskussion schon vor 1920 auszeichneten. Die Befürworter der Forderung Bindings berufen sich zum Teil auf eine vermeintliche Widersprüchlichkeit des Mitleids mit schwer psychisch kranken oder geistig behinderten Menschen546 sowie auf sozialdarwinistische Argumente.547 In der Masse aber führen sie nüchterne Kosten-Nutzen Kalkulationen an.548 Die Gegner begründen ihre ablehnende Haltung zum Teil mit christlichen Glaubens544
Vgl. Haeckel, Lebenswunder, S. 22 f. Ulbrich, Geisteskampf der Gegenwart 58 (1922), S. 277 (279). 546 Gaupp, DStrZ 7 (1920), S. 332 (337). 547 Vgl. Mann, Erlösung der Menschheit, S. 60 ff. 548 K. Klee, Ärztliche Sachverständigen-Zeitung 27 (1921), S. 1 (4 f.); Heyn, ZfMB 34 (1921), S. 253 (258 f.); Borchardt, DStrZ 9 (1922), S. 206 (207 f.); Mann, Erlösung der Menschheit, S. 54 f., 58 f.; tendenziell auch Sperling, Soziale Praxis und Archiv für Volkswohlfahrt 30 (1921), S. 635 (636). 545
394
3. Teil: „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
grundsätzen,549 vor allem aber mit dem Hinweis auf das entgegenstehende Rechtsempfinden der Mehrheit,550 konsequentialistischer Kritik in Form von Dammbruch-Argumenten,551 dem Hinweis auf eine mangelhafte Praktikabilität der Vorschläge552 oder einer in Aussicht gestellten Missbrauchsgefahr.553 All diese schwerwiegenden Gegenargumente bleiben von der juristischen Einbettung des Bindingschen Beitrags völlig unberührt. Im Hinblick auf die vielfach hervorgehobene Bedeutung der Freigabeschrift für die Geschichte der „Euthanasie“ lässt sich daher zunächst resümieren: Während es an Bindings überragenden Fähigkeiten als Jurist keinen sinnvollen Zweifel geben kann, hat er sich als Moralphilosoph zeit seines Lebens nicht besonders hervorgetan. Nichtsdestotrotz wird der „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ eine besondere historische Bedeutung nicht zu Unrecht beigemessen. Diese kann aber nach dem Gesagten nicht in einer besonderen Originalität begründet sein, sondern ist in der wissenschaftlichen Autorität ihrer Verfasser zu sehen. Namen wirklich bedeutender Juristen suchte man unter den „Euthanasie“-Befürwortern bis zur Herausgabe der Freigabeschrift vergeblich. Der besondere Bekanntheitsgrad Bindings, von medizinischer Seite unterstützt durch den ebenfalls renommierten Hoche, zwang regelrecht zu einer breiteren Diskussion des Themas und verband die Namen auf Dauer mit einer historischen Entwicklung, die im „Euthanasie“-Programm des Dritten Reichs nur wenige Jahre später einen traurigen Höhepunkt erreichte. Neben der Etablierung einer gängigen Terminologie bewirkte die Freigabeschrift eher einen gesellschaftlichen Impuls, ohne ideengeschichtliche Neuheiten zu bieten. Dieser ist anhand der nachfolgenden Literatur zum Thema gut nachzuzeichnen: Vor allem der vor Veröffentlichung der Freigabeschrift im Jahre 1920 nicht in diesem Maße auszumachende Fokus auf die Frage einer Tötung psychisch kranker oder geistig behinderter Menschen darf Binding/Hoche zugeschrieben werden. Damit verbunden ist auch die Behauptung einer immensen finanziellen Belastung der Volkswirtschaft durch die stän-
549 Brennecke, Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 23 (1921/22), S. 4 (9), der sich aber vorrangig auf Schopenhauer beruft. Binding und Hoche wirft er ebd., S. 4 (5) eine materialistische Auffassung vor. Deutlicher in diese Richtung F. Walter, ARWPh 16 (1922/23), S. 88 (88 f., 93 ff., 111 ff.). 550 Bresler, Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 22 (1920/21), S. 289 (289); Ebermayer, Deutsche medizinische Wochenschrift 48 (1922), S. 1655. 551 Ulbrich, Geisteskampf der Gegenwart 58 (1922), S. 277 (280); F. Walter, ARWPh 16 (1922/23), S. 88 (119 f.); Wauschkuhn, Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 24 (1922/23), S. 215 (217). 552 Neben seiner religiös begründeten Kritik weist insbesondere F. Walter, ARWPh 16 (1922/23), S. 88 (105 ff.) auch auf massive Abgrenzungsschwierigkeiten bei der Entscheidung über die geforderte Freigabe zur Tötung hin. 553 Ebermayer, LZDtR 14 (1920), S. 599 (604); Wauschkuhn, Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 24 (1922/23), S. 215 (217).
E. Historische Einordnung der Freigabeschrift
395
dige Versorgung dieser Menschen, die zwar nicht unbestritten,554 aber der nachfolgenden Diskussion dennoch erhalten blieb und gerade im Nationalsozialismus großen Anklang fand.555 Auch das von Binding und Hoche in der Freigabeschrift vorausgesetzte kollektivistisch-utilitätsbezogene Moralverständnis setzt sich in der „Euthanasie“-Diskussion bis in den NS-Staat fort. Diesen Einschlag der „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ zuzuschreiben hieße allerdings, Ursache und Wirkung zu verkehren; Binding/Hoche ist ebenso Ausdruck dieses weit früher einsetzenden Zeitgeistes wie spätere Schriften zum Thema. Das Werk markiert insofern einen Wandel in der Diskussionskultur, als die konkrete Verknüpfung solcher moralischer Vorstellungen mit der Frage einer Tötung psychisch kranker oder geistig behinderter Menschen stilprägend wird. Den Autoren kann dabei aber weder die Schöpfung einer solchen Moral noch die des Gedankens einer Freigabe der Tötung von Menschen oder die Verknüpfung beider Posten zugeschrieben werden. Es war die breite Rezeption ihrer Schrift, die Vertretern ähnlichen Gedankenguts mehr Aufmerksamkeit verschaffte. Gerade weil Binding/Hoche der „Euthanasie“-Diskussion keine eigentlich neuen Argumentationswege hinzufügte, ist auch die Rolle des Gemeinschaftswerks auf die fatale spätere Entwicklung in der Zeit des Nationalsozialismus nur schwer zu bestimmen. Wie ist der Einfluss einer pointierten Herauskehrung präexistenter Argumentationsweisen in seiner geistesgeschichtlichen Wirkung zu bemessen? Vor allem im Hinblick auf das bei Hoche556 bereits in schauerlicher Ähnlichkeit zu späteren Beispielen im Dritten Reich vorgetragene Kostenargument scheint eine Kontinuität von Binding/Hoche zum euphemistisch als „Euthanasie“ bezeichneten Mordprogramm der Nationalsozialisten nahe zu legen; historisch belegen lässt sie sich kaum. So sind die Mordaktionen der Nationalsozialisten an kranken und behinderten Menschen in keiner Weise mit dem Inhalt der Freigabeschrift in Einklang zu bringen. Schon der Unterschied zwischen den im Geheimen ablaufenden Tötungen und dem um einen weitestgehenden Ausschluss von Missbrauch bemühten Bindingschen Verfahren ist augenscheinlich. Binding, der zeit seines Lebens die Idee des Rechts verherrlichte und sich mit all seiner wissenschaftlichen Autorität für sie einsetzte, konnte nur für eine offene Änderung des geltenden Rechts plädieren; jede andere Form der Umsetzung seiner Ideen hätte eine Verkehrung seiner wesentlichen Vorstellungen von der Rolle des Rechts in ihr Gegenteil bedeutet. Dem nationalsozialistischen 554 Vgl. etwa Bresler, Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 22 (1920/21), S. 289 (289); Wauschkuhn, Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 24 (1922/23), S. 215 (217). Strassmann, Ärztliche Sachverständigen-Zeitung 27 (1921), S. 7 (9) bezweifelt volkswirtschaftlich relevante Vorteile einer Umsetzung der Ideen Bindings und Hoches ebenso, fordert aber die eingeschränkte Möglichkeit einer Tötungsfreigabe aus anderen Gründen. 555 Vgl. nur E. Klee (Hrsg.), Dokumente, S. 50 f. 556 Binding/Hoche, Freigabe, S. 54.
396
3. Teil: „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘‘
Programm lag demgegenüber ein nicht veröffentlichtes Führerschreiben557 zugrunde. Nichts hätte die Verachtung der Nationalsozialisten für das überkommene Rechtsstaatsverständnis deutlicher zum Ausdruck bringen können als diese Vorgehensweise, vorbei an der Öffentlichkeit des Rechts. Vor allem aber zeigten sich die Nationalsozialisten bereit, auch nach jeder denkbaren Definition unbestreitbare Lebenswillen zu brechen558 – eine staatlich organisierte Vorgehensweise, die für Binding stets undenkbar blieb.559 Während Binding und Hoche also jedenfalls den Willen derer, die sich im Bewusstsein ihrer eigenen Existenz für das Weiterleben entscheiden können, für stets vorrangig gegenüber dem Allgemeininteresse halten, wird jenes Allgemeininteresse im nationalsozialistischen Verständnis zum alleinigen Wert der Überlegung. Die unabhängig von grundsätzlichen moralischen Bedenken hervorstechende Schwäche der Freigabeschrift – die Unbestimmbarkeit der Grenze zum angeblichen „geistigen Tod“ eines Menschen – wurde so mitnichten zum Einfallstor nationalsozialistischer Willkürentscheidungen. Das Programm der Nationalsozialisten wurde nicht getragen von einer vielleicht abweichenden Bestimmung dieser Grenze. Die gewissenlose Tötung teils um ihr Leben bettelnder Menschen zeigt überdeutlich, dass die Auswahl von Menschen ohne Lebenswillen nie Ziel des nationalsozialistischen Programms war. Grundlegend ist vielmehr der Gedanke, dass der Einzelne auch diesseits der Grenze zum Verlust des Bewusstseins seiner selbst gegenüber dem Kollektiv – seinem Volk – ohne Wert sei und daher zum Nutzen des Kollektivs mit seiner Existenz zu bezahlen bereit sein müsse: „Du bist nichts, dein Volk ist alles!“ Hier steht die Frage nach der Grenze des Individuums, dort die Negation des Individuums und alleinige Herrschaft des Kollektivs. Die rein externe Betrachtungsweise wird nicht durch den Wegfall des Individualinteresses, sondern durch seine Irrelevanz begründet. Bei allem Gewicht, das Binding/Hoche in der „Euthanasie“-Diskussion ab 1920 zuzumessen ist, darf dieser Unterschied nicht in Vergessenheit geraten. Eine ununterbrochene Linie von der Freigabeschrift zu den nationalsozialistischen Mordaktionen lässt sich daher schlechterdings nicht zeichnen.560
557 Abgedruckt bei E. Klee (Hrsg.), Dokumente, S. 85; siehe a. Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte, Rn. 2169 ff. 558 Die bei E. Klee (Hrsg.), Dokumente, S. 111 f. abgedruckten Berichte vermitteln ein Bild dieser furchtbaren Praxis. 559 Vgl. nochmals Binding/Hoche, Freigabe, S. 28. 560 Ähnlich Grübler, in: ders. (Hrsg.), Euthanasie-Diskussion 1895–1941, S. 11 (15 f.).
Zusammenfassung und Fazit Bindings Rechtsverständnis ist vor allem Ausdruck einer Übergangszeit von einem eher rationalistischen juristischen Methodenideal zu einem eher zweckbezogenen. Ihm ist nicht vorzuwerfen, das Zweckmoment des Rechts in seiner eher rationalistischen Sichtweise unberücksichtigt zu lassen, wodurch er sich von manch anderen maßgeblichen Juristen des 19. Jahrhunderts unterscheidet. Zudem stemmt er sich gegen jede unmittelbare Beeinflussung des Rechts durch andere Wissenschaften, vor allem gegen Vereinnahmungsversuche von Seiten der Soziologie und der Philosophie. So lässt er sich in den Kontext eines rechtspositivistischen Selbstvergewisserungsprozesses einordnen, der in Kelsens Reiner Rechtslehre gipfelt. Aus diesem Blickwinkel wirkt Binding sehr modern. Seine verhältnismäßig „reine“ Jurisprudenz nimmt er interessanterweise als eine Selbstverständlichkeit wahr, die es – leider – zu verteidigen gelte. Er sieht sich in erster Linie als Bewahrer, nicht als Entwickler eines Rechtsbilds. Das klassische juristische Methodenideal im 19. Jahrhundert erscheint ihm als bereits weitgehend rechtspositivistisch-konsequent. Freilich kann diesem Credo Bindings aus heutiger Sicht schon aufgrund einer deutlich idealistischen Ausrichtung von Teilen der damaligen Jurisprudenz nicht beigepflichtet werden. In Bindings Schriften fehlen jedoch Anzeichen für einen besonderen idealistischen Einfluss. Seine Verankerung im Methodenideal der klassischen Jurisprudenz des 19. Jahrhunderts zeigt sich andernorts. So teilt Binding vor allem den Fokus auf eine logische Betrachtung und Erfassung des Rechts. Hierzu bemüht er ganz im Sinne der häufig als „begriffsjuristisch“ diffamierten Arbeitsweise insbesondere das Mittel der Induktion von Rechtsbegriffen und -prinzipien. Da die Voraussetzung dieser Arbeitsweise ein Verständnis des Rechts als ein logisch kohärentes Gesamtsystem ist, wird man Binding nicht als überholt sehen können, insoweit dieses Rechtsbild auch heute noch geteilt wird. Dieser Aspekt Bindingscher Methodik lässt ihn jedoch weit weniger modern erscheinen. Auch die objektive Auslegungslehre sieht Binding eher als inhaltliche Komplettierung eines bestehenden Rechtsverständnisses denn als Entwicklung eines neuen. Er selbst führt einige Vorläufer an, die bereits einen objektiven Rechtswillen als Auslegungsziel sahen. Seine maßgebliche Leistung versteht er als konsequente Umsetzung dieses Denkens im Sinne einer eigenständigen Auslegungstheorie. Die objektive Auslegungslehre eignet sich nicht zum Beleg eines idealistischen Einflusses auf Binding. Die Bildung eines objektiven Rechtswillens rechtfertigt sich nicht durch einen Rekurs auf eine bestimmte Rechtsidee, sondern
398
Zusammenfassung und Fazit
wird eher modern mit Blick auf den Ordnungszweck des Rechts hypothetisiert. Ferner führt die objektive Auslegungslehre Bindings für sich auch nicht zu einer Willkür der juristischen Interpretation. Zwar sind interpretatorische Spielräume im Vergleich zu subjektiven Lehren erweitert, wenn und insoweit entsprechende Materialien zur Verfügung stehen, die Schlüsse auf den Gesetzgeberwillen erlauben. Bindings Auslegungslehre zwingt aber durchaus zur Suche nach Anknüpfungspunkten im positiven Recht, die schließlich in einem Stufensystem verwertet werden und der Interpretation Grenzen setzen; der Rechtsinhalt wird für den Gesetzgeber nicht unbeherrschbar. Die Einführung rechtsfremder Maßstäbe durch den Interpreten ist ebenfalls keine inhärente Gefahr dieser Auslegungslehre. Insbesondere geht von ihr keine besondere wertrelativierende Wirkung aus. Sie hebt sich nämlich nicht von anderen Auslegungslehren ab: Unter rechtspositivistischen Prämissen ist der Begriff des Rechts schlicht ungeeignet zur Bewahrung einzelner Werte, womit auch sämtliche Auslegungslehren Wertveränderungen erlauben müssen. Durch die positivrechtliche Fundierung der Auslegung nach dem Modell Bindings kann auch angesichts des etwas größeren interpretatorischen Spielraums kaum von einer hervorhebenswert größeren Gefahr der Wertrelativierung gesprochen werden. Eine spezifische Gefahr geht von Bindings Auslegungsmethodik allenfalls im Zusammenhang mit seinem rationalistischen Rechtsbild aus. Weitreichende Induktionen auch unter Rückgriff auf kleinste positivrechtliche Anzeichen erlauben ihm einerseits die Schöpfung eines überzeugenden, logisch kohärenten strafrechtsdogmatischen Gesamtsystems, dessen positivrechtliche Natur er nicht im Geringsten anzweifelt. Die erweiterten interpretatorischen Möglichkeiten der objektiven Auslegungstheorie und der positivrechtliche Anknüpfungspunkt, den ein solch elegantes dogmatisches System bietet, verleiten andererseits schnell dazu, es auch dort umgesetzt zu sehen, wo methodisch zwingende Gründe dagegenstehen. Zugunsten eines Interpretationsergebnisses im Sinne seiner eigenen strafrechtlichen Dogmatik übertritt Binding teilweise die durch seine eigene Auslegungsmethodik gesetzten Grenzen. Kernthese der Bindingschen Normentheorie ist die Existenz rechtlich eigenständiger Ge- und Verbote als logische Voraussetzung aller Strafgesetze. So sei selbstverständlich nur unter Strafe gestellt, was auch verboten sei; da die Strafgesetze selbst diesen Punkt jedoch nicht ansprächen, entstehe spätestens mit einem Strafgesetz auch eine Norm, die in ihrem Mindestumfang das unter Strafe gestellte Verhalten erfasse. Ganz im Sinne seines Verständnisses juristischer Methodik schließt Binding jedoch nicht selten auf sehr umfangreiche Normen, die weit über den sanktionierten Bereich hinausweisen. Nie jedoch mangelt es seinen Normen an einem positivrechtlichen Fundament; es sind Normen des positiven Rechts, keine Sozialnormen. Wie bei allen anderen Auslegungsfragen sind dem Interpreten auch beim Schluss auf die Norm methodische Grenzen gesetzt.
Zusammenfassung und Fazit
399
Insoweit sich Verbindlichkeit, das heißt die bloße Existenz eines Ge- oder Verbots, begrifflich von der Sanktionierung unterscheiden lässt, ist Bindings Schluss auf rechtlich abstrakte Normen als logische Voraussetzung der Strafgesetze überdies bis heute nachzuvollziehen. Wird Verbindlichkeit jedoch lediglich als Bezeichnung der tatsächlichen Wirkung verstanden, die eine angedrohte Sanktionierung ausübt, so lassen sich die Ebenen nicht mehr voneinander unterscheiden und die Normentheorie bricht in sich zusammen. Beide Sichtweisen werden bis heute vertreten. Ihnen liegen unterschiedliche Rechtsbegriffe zugrunde. Versteht man das Recht als Idealentität, als eigenständigen Willen, den es zu erforschen gilt, so neigt man der erstgenannten Sichtweise zu. Dabei kommt es nicht darauf an, ob der rechtserzeugende Wille mit Binding objektiv oder subjektiv als Gesetzgeberwille verstanden wird; entscheidend ist lediglich die inhaltliche Gestaltungsfreiheit eines solchen rechtserzeugenden Willens. Die Frage der rechtlichen Existenz einer eigenständigen Ebene der Verbindlichkeit ist danach identisch mit der Frage, ob jener Wille zwischen Verbindlichkeit und Sanktionierung unterscheidet. Sowohl in objektiver als auch in subjektiver Auslegung wird man behaupten dürfen, dass das Recht diese Unterscheidung trifft. Wird demgegenüber von den tatsächlichen Wirkweisen des Rechts auf seinen möglichen Inhalt rückgeschlossen, so stellt sich die Frage völlig neu. Entscheidend ist dann, ob einem sanktionslosen Ge- oder Verbot eine tatsächliche Wirkung zukommt, die man noch der spezifisch rechtlichen Sphäre zuzuordnen bereit ist. Ist dem nicht so, dann beschränkt sich die Ausdrucksmöglichkeit des Rechts für ein verbotenes oder gebotenes Verhalten auf die Sanktion. Eine Unterscheidung beider Ebenen wäre dann unmöglich, sie fielen begrifflich zusammen. Für Binding käme eine solche Einschränkung des möglichen rechtserzeugenden Willens einer Degradierung des Rechts gleich. Diese unterschiedlichen Sichtweisen des Rechts sind der – zumeist in der Literatur nicht angesprochene – Hauptgrund der Streitigkeiten um die Normenlehre seit ihren frühesten Tagen. Der Streit war und ist damit auf der strafrechtsdogmatischen Ebene falsch angesiedelt. Er ist ein Streit der Rechtstheorien. Bindings Beitrag zur „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ steht mit den Ergebnissen zu seiner Methodik und der Normenlehre in keinerlei Widerspruch. Insbesondere bietet die Schrift keine Grundlage für die Darstellung Bindingscher Normen als Sozialnormen. Im ersten Teil seines Beitrags beschreibt Binding das geltende Recht zur Tötung von Menschen. Seine Ergebnisse hierzu sind wenig kontrovers. Der wesentliche Unterschied zum heute herrschenden Verständnis des Tötungsstrafrechts liegt darin, dass Binding den Austausch einer schmerzhaften durch eine schmerzlose Todesursache – mit anderen Worten die Gabe einer tödlichen Dosis eines Narkotikums – für straflos hält, wenn der Tod damit in zeitlicher Hinsicht nicht in nennenswerter Weise vorverlagert wird. Dabei scheint er keine Rücksicht dar-
400
Zusammenfassung und Fazit
auf zu nehmen, ob der Tod des Menschen unbeabsichtigte, maximal inkaufgenommene Folge der Gabe des Narkotikums ist, oder die Schmerzbefreiung gerade durch den Tod erreicht werden soll. Inwieweit sich durch diese abweichende Grenzführung praktische Unterschiede zur heutigen indirekten aktiven Sterbehilfe ergäben, ist allerdings sehr fraglich. Im entscheidenden Punkt – der Frage einer Tötung unheilbar körperlich oder geistig kranker oder behinderter Menschen, deren Tod nicht unmittelbar bevorsteht – wechselt Bindings Perspektive zur lex ferenda. Er hält diese Tötungen für zweifellos strafsanktioniert und somit verboten. In diesem Sinne wurde er auch lange von der gesamten Literatur verstanden. Die neuere Annahme, die Freigabeschrift ziele auf eine trickreiche Aushöhlung des Strafrechts durch eine besondere juristische Methodik, hält einem Abgleich mit der Freigabeschrift nicht stand. Das Gemeinschaftswerk Bindings und Hoches ist also hauptsächlich nicht eine Auslegung des geltenden Rechts, sondern eine rechtspolitische Forderung. Das geltende Recht solle so geändert werden, dass es die Tötung geistig oder körperlich unheilbar kranker oder behinderter Menschen unter bestimmten Bedingungen erlaubt. Diese Forderung war keineswegs neu. Auch waren die aufgeführten Argumente für eine solche Reform bereits bekannt. Die Besonderheit bestand darin, dass zwei derart anerkannte Wissenschaftler ihre Namen mit einer solchen Forderung zu verbinden bereit waren. Die Freigabeschrift wirkte als starker Diskussionsimpuls und sorgte gleichzeitig für eine gewisse Salonfähigkeit des dargestellten Meinungsbildes. Die Verbindung zu den nationalsozialistischen Mordprogrammen, vor allem im Rahmen der Aktion „T4“, geht aber über diese allgemeine Bedeutung für die historische „Euthanasie“-Diskussion nicht hinaus. Sowohl Binding als auch Hoche sehen die Grundlage ihrer Forderung in einem Verlust des spezifisch Menschlichen, einem Verlust dessen, was uns als Menschen auszeichnet und aus ihrer Sicht einziger Anknüpfungspunkt eines besonderen Lebensschutzes sein kann. Beide wollen dabei auf das Selbstbewusstsein des Menschen hinaus. Diese Sichtweise lässt sich natürlich auf vielfache Weise kritisieren. Insbesondere werden Dammbruchargumente aus heutiger Sicht durch die Erfahrungen im NSStaat gestützt; auch religiöse Motive bilden eine überzeugende Grundlage für Kritik. Darüber hinaus ist gerade die Freigabeschrift ein Beispiel dafür, dass die als Maßstab für den menschlichen Lebensschutz vorgesehene Grenze überhaupt nicht sicher zu bestimmen ist. Diesen Mangel in ihrer Überlegung übergehen Binding und Hoche weitestgehend. Dennoch wird deutlich, dass beide die Tötung eines (sich seiner selbst bewussten) Menschen ohne dessen wenigstens mutmaßlichen Willen unbedingt ausschließen möchten. Bei aller berechtigten Kritik am grundlegenden Standpunkt ist kaum sinnvoll daran zu zweifeln, dass beide die Tötung von psychisch kranken und geistig behinderten Menschen auf Fälle beschränken wollen, in denen sie keinen sinnvollen Anknüpfungspunkt für
Zusammenfassung und Fazit
401
ein gegenüber anderen Lebewesen erhöhtes Schutzniveau des Menschen mehr erkennen können. Das Leitbild, nach dem kein im genannten Sinne beachtlicher Lebenswille gebrochen werden darf, ist durchaus ernst zu nehmen. Dieses Leitbild verdeutlicht den fundamentalen Unterschied zu den Nationalsozialisten, die auf die Frage eines bestehenden Lebenswillens ersichtlich keine Rücksicht nahmen und für die Umsetzung ihrer Vorstellungen auf eine rechtliche Reform bewusst verzichteten. Die Ergebnisse lassen die Schlussfolgerung zu, dass sich Bindings Schrifttum auch unter Einbeziehung der „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ kaum zu einer Kritik des Rechtspositivismus eignet. Die Ergebnisse deuten vielmehr in die genau entgegengesetzte Richtung. Durch eine Sichtweise, nach der das Recht als weitestgehend eigenständiger und gestaltungsfreier Wille aufgefasst wird, lassen sich rechtliche Wertungen besonders effektiv schützen. Das Beispiel der Menschenwürde als grundlegende Wertung der heutigen verfassungsmäßigen Ordnung veranschaulicht dies. Vom Rechtsverständnis Bindings ausgehend lässt sich auch ein inhaltlich etwas diffuser Schutzauftrag nicht mit dem Argument eines mangelnden realen Bezugsobjekts aushöhlen. Mit anderen Worten: Die empirisch-wissenschaftliche Bestimmung des Begriffs der Menschenwürde hätte als solche nach dem Rechtsverständnis Bindings keine Bedeutung für den Rechtsbegriff der Menschenwürde. Aus dem Blickwinkel des Rechts selbst – insbesondere unter Einbeziehung seines objektiven historischen Kontexts – soll sich das in Art. 1 Abs. 1 GG festgehaltene Gebot jedenfalls gegen bestimmte staatliche Vorgehensweisen richten, die nach den Erfahrungen mit dem nationalsozialistischen Regime als sicher menschenunwürdig gelten. Lässt sich aus einem solchen Mindestumfang des Gebots der Achtung und des Schutzes der Menschenwürde kein Begriff mehr gewinnen, der einen empirischen Anknüpfungspunkt aufwiese, so ergäbe sich nach dem Bindingschen Rechtsverständnis hierdurch noch nicht die Möglichkeit einer interpretatorischen Wertrelativierung. Stattdessen dürfte dann als gesichert gelten, dass der Rechtsbegriff der Menschenwürde eben nicht an die empirische Forschung anknüpft, sondern ein rechtliches Postulat eines besonderen Würdegehalts allen menschlichen Lebens ohne reales Substrat enthält. Die in diesem Sinne verstandene Menschenwürde geriete zu einem Konglomerat von Einzelwertungen, nach denen bestimmte Arten und Weisen der Behandlung von Menschen – insbesondere solche, die dem Einzelnen ein Gefühl des Ausgeliefertseins gegenüber der staatlichen Macht vermitteln – als menschenunwürdig zu gelten haben, ohne dass sich je ein zuverlässiger Maßstab hierfür entwickeln ließe.1 1 Dass auch die auf Kant (Metaphysik der Sitten, AA 6, S. 462) gestützte sog. Objekt-Formel keinen zuverlässigen Wertungsmaßstab bietet, zeigt Hoerster, JuS 1983, S. 93 (94 f.) recht eindrücklich auf. Die Rechtsprechung räumte diesen Mangel bereits früh (BVerfGE 9, 89 (95)) ein. Siehe zur Objekt-Formel überblicksartig Herdegen, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 GG, Rn. 36 ff. m.w. N.
402
Zusammenfassung und Fazit
Es ist keine Kritik und wird auch nicht zu weit gegriffen sein, wenn man einen solchen Begriff der Menschenwürde als den in der Rechtsprechungspraxis gebräuchlichen bezeichnet. Der nur als rechtliches Postulat verständliche Menschenwürdebegriff hat sich trotz aller damit einhergehenden Unsicherheiten praktisch durchaus bewährt. Eine Aushöhlung des Wertgehalts des Begriffs droht umgekehrt gerade durch die Versuche der Darstellung eines realen Bezugsobjekts, die sich in der Literatur zuhauf finden. Dies wird besonders deutlich, wenn man auf den Würdegehalt eines einzelnen Menschenlebens abzustellen versucht: Ein solcher, über die Würde tierischen Lebens hinausgehender Gehalt wird regelmäßig in der ein oder anderen Form auf die Fähigkeit des Menschen verweisen, sich seiner eigenen Existenz bewusst zu werden und somit moralisch bewertbare, ihm persönlich zurechenbare Entscheidungen zu treffen.2 Diese Fähigkeit ist empirischer Erforschung zugänglich und kann einen wesentlichen Unterschied zwischen Mensch und Tier begründen.3 Sie kann allerdings verloren werden, womit sich der konkrete Mensch in seinem Würdegehalt nicht mehr von einem Tier unterschiede. Die „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ ist ein anschauliches Beispiel für die Gefahren eines solchen Menschenwürdebegriffs, der nicht derjenige unserer Rechtsordnung sein kann.4 Stattdessen ließe sich natürlich auch auf den besonderen Würdegehalt der gesamten Art abstellen. Schutzwürdig wäre dann eine bestimmte genetische Gemeinsamkeit der Menschen, welche jedenfalls grundsätzlich den Vertretern unserer Art die oben beschriebene Fähigkeit verleiht. Warum die Artzugehörigkeit als solche jedoch allen Vertretern der Art eine schützenswerte Würde vermitteln sollte, bliebe gänzlich ungeklärt. Ohne eine Verbindung zum einzelnen Menschen begründete eine solche Auffassung die besondere menschliche Würde letztlich zirkulär damit, dass alle Inhaber dieser Würde Menschen seien. Es zeigt sich also, dass ein weitgehend eigenständiger und gestaltungsfreier Rechtsbegriff nach dem Vorbild Bindings mitunter in besonderer Weise geeignet sein kann, einen intendierten Wertgehalt dauerhaft wiederzugeben. Ein so verstandenes Recht weiß mit einem reinen rechtlichen Postulat ohne reales Bezugsobjekt problemlos umzugehen. Binding ist daher ein schlechtes Beispiel für besondere Gefahren des Rechtspositivismus. Dies gilt gerade auch unter Einbeziehung der „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“. In juristischer 2 Derartig begründen die Menschenwürde etwa Podlech, in: Stein/Denninger (Hrsg.), AK GG, Bd. 1, Art. 1 Abs. 1, Rn. 23, 29; Häberle, in: HbStR, Bd. 1, § 20 Rn. 72 ff.; Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1, Rn. 59 ff.; Luhmann, Grundrechte als Institution, S. 53 ff. Zu den verschiedenen Begründungsmustern siehe überblicksartig Herdegen, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1, Rn. 34 f. m.w. N. 3 Auf die weiterhin offene Frage, ob auch die Vertreter bestimmter Tierarten über ein Bewusstsein ihrer selbst verfügen, sei hier lediglich hingewiesen. Zu den methodologischen Problemen in diesem Zusammenhang siehe etwa Wüstholz, Studia philosophica 72 (2013), S. 87 ff. 4 Vgl. zur Reichweite des Menschenwürdebegriffs etwa BVerfGE 87, 209 (228).
Zusammenfassung und Fazit
403
Hinsicht verdeutlicht das Werk eher die Wirkung einer handwerklich guten Verankerung bestimmter Wertentscheidungen für die Auslegung: Obwohl Binding den rechtlichen Schutz von Menschenleben, die nach seinem Verständnis jeden Wert für ihre Träger und für die Gesellschaft verloren haben, für sinnlos hält und revidiert wissen möchte, sieht er sich nicht in der Lage, den Rechtswillen anderweitig auszulegen. Aus heutiger Sicht lässt sich die Freigabeschrift somit als Auftrag verstehen, die uns besonders wichtigen Werte mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln festzuzurren. Hierzu bedarf es keines Bruchs mit einem positivistischen Rechtsverständnis; vielmehr lässt sich alles, was heutzutage bereits unter dem Schlagwort der Wehrhaftigkeit der grundgesetzlichen Ordnung zusammengefasst zu werden pflegt, als Umsetzung genau dieses Auftrags verstehen. Beispielhaft als stärkste Form positivistischer Werteverankerung steht hier Art. 79 Abs. 3; im Kelsenschen Sinne wird darin unter anderem das Gebot einer Achtung und eines Schutzes der Menschenwürde mit der Grundnorm selbst verknüpft. Rechtsevolutionär ist das Gebot damit unantastbar. Mehr Werteschutz kann ein positivistisch verstandenes Recht begrifflich nicht leisten. Eine andere Frage ist freilich die nach dem positivistischen Rechtsbegriff selbst, wie sie beispielsweise von Naucke im Zusammenhang mit der „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ wieder aufgeworfen wird.5 Sie ist allgemein selbstverständlich berechtigt, wenngleich die Freigabeschrift höchstens insofern sinnbildlich für die Gefahren einer rechtspositivistischen Sichtweise ist, als eine Veränderung des Rechts im Sinne Bindings und Hoches damit überhaupt erst gedacht werden kann. Diese Sichtweise führt jedoch nicht weiter: Allein aus dem Argument, dass die Grundnorm innerhalb des positivistischen Rechtsdenkens die logische Grenze eines jeden juristischen Werteschutzes bildet, lässt sich noch kein überzeugender überpositiver Rechtsbegriff konstruieren. Wird ein überpositives Rechtsverständnis aber nicht unabhängig von theoretischen Vorzügen beim Werteschutz anhand ehrlicher Beschäftigung mit dem Begriff des Rechts selbst entwickelt, so reicht sein praktischer Werteschutz keinesfalls weiter als im positivistischen Rechtsdenken. Jeder, dessen Meinung nicht den wie auch immer im Rechtsbegriff selbst verankerten Wertekanon trifft, hätte lediglich einen theoretisch nicht untermauerten und daher wenig überzeugenden Rechtsbegriff zu hinterfragen. Ist das divergierende Meinungsbild so verbreitet, dass seine Vertreter im Kelsenschen Sinne eine neue Grundnorm zu setzen im Stande sind, so könnten sie auch die vorherrschende Rechtstheorie durch eine andere ersetzen. Die Sicherheit eines wertmäßig festgelegten überpositiven Rechts ist also eine nur scheinbare. Eine überpositive Rechtslehre, die theoretisch so überzeugend ist, dass sie sich auf breiter Linie durchsetzen könnte, ist bislang nicht in Sicht. Ohne eine solche überpositive Rechtslehre aber hat der juristische Werteschutz engere Grenzen. Obwohl der Jurist den Blick auch auf die Grundlagen des von 5
Naucke, in: Vormbaum (Hrsg.), Freigabe, S. LVII ff.
404
Zusammenfassung und Fazit
ihm angewandten Rechts richten und sich an Diskussionen über deren Tragfähigkeit beteiligen sollte, ist die Jurisprudenz daher nicht der eigentliche Austragungsort eines Streits um die von Binding und Hoche de lege ferenda vorgebrachten Argumente. Abseits der schieren Technik einer Umsetzung ihrer Ideen und der in der Sache wertlosen Behauptung, dass sich die vorgeschlagene Umgestaltung gut in die bestehende Rechtssystematik einfügte, ist die Diskussion eine moralphilosophische, vor der das Recht begrifflich nach derzeitigem Stand der Dinge völlig schutzlos steht und stehen muss. Es hilft nicht weiter, diesen Umstand zu bedauern und an der Durchsetzung gescheiterte überpositive Rechtslehren in Varianten wiederzubeleben. Sinnvoller scheint es, sich die logischen Grenzen einer Wertbewahrung durch das Recht einzugestehen, die verfügbaren juristischen Mittel auszunutzen und im Übrigen wachsam zu sein, um eine drohende Aushöhlung der Werteordnung frühzeitig zu erkennen und dort zu bekämpfen, wo es möglich ist. In letzter Instanz, müssen wir anerkennen, wird dieser Ort nicht das juristische Arbeitszimmer sein.
Literaturverzeichnis Allfeld, Philipp: Die Bedeutung des Rechtsirrtums im Strafrecht, Leipzig 1904 Alwart, Heiner: Recht und Handlung, Tübingen 1987 Amelung, Knut: Der Begriff des Rechtsguts in der Lehre vom strafrechtlichen Rechtsgüterschutz, in: Roland Hefendahl/Andrew von Hirsch/Wolfgang Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, Baden-Baden 2003, S. 155–182 Ammon, Otto: Die natürliche Auslese beim Menschen, Jena 1893 Anschütz, Gerhard: Aus meinem Leben, Frankfurt a. M. 1993 Aquin, Thomas von: Summa Theologica II-II, 57–79, Heidelberg u. a. 1953 Aristoteles: Die Nikomachische Ethik, Düsseldorf und Zürich 2005 Ast, Stephan: Normentheorie und Strafrechtsdogmatik, Berlin 2010 Auer, Marietta: Methodenkritik und Interessenjurisprudenz. Philipp Heck zum 150. Geburtstag, Zeitschrift für Europäisches Privatrecht 16 (2008), S. 517–533 Austin, John: Lectures on Jurisprudence, Band 1, 5. Auflage, London 1911 Bacon, Francis: Über die Würde und Förderung der Wissenschaften, Freiburg u. a. 2006 Bade, Ulf: Der Arzt an den Grenzen von Leben und Recht, Lübeck 1988 Bar, Carl L. von: Die Normen und ihre Übertretung. Eine Untersuchung über die Rechtmäßigkeit der Handlung und die Arten des Deliktes von Dr. Karl Binding, Professor der Rechte in Straßburg (künftig in Leipzig). Erster Band, erste Abtheilung: Normen und Strafgesetze. Leipzig, Verlag von Wilhelm Engelmann, 1872. XII und 233 S. (Rezension), Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 15 (1873), S. 560–578 – Zur Lehre vom Rechtsirrthum im Strafrecht, Der Gerichtssaal 38 (1886), S. 252– 288 Barsch, H.: Das Strafgesetzbuch für das Königreich Bayern, Würzburg 1870 Barth, Fritz: Euthanasie, Heidelberg 1924 Bauer, Anton: Die Warnungstheorie nebst einer Darstellung und Beurtheilung aller Strafrechtstheorien, Göttingen 1830 Bauer, Hartmut: Geschichtliche Grundlagen der Lehre vom subjektiven öffentlichen Recht, Berlin 1986 Baumann, Jürgen/Weber, Ulrich/Mitsch, Wolfgang: Strafrecht Allgemeiner Teil, 11. Auflage, Bielefeld 2003
406
Literaturverzeichnis
Bayertz, Kurt/Gerhard, Myriam/Jaeschke, Walter: Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert, Band 1, Hamburg 2007, S. 7–21 Becker, Peter E.: Zur Geschichte der Rassenhygiene. Wege ins Dritte Reich, Stuttgart und New York 1988 Behrends, Okko: Das Bündnis zwischen Gesetz und Dogmatik und die Frage der dogmatischen Rangstufen, in: ders./Wolfram Henckel (Hrsg.), Gesetzgebung und Dogmatik, Göttingen 1989, S. 9–36 – Artikel „Jhering, Rudolf von (1818–1892)“, in: Albrecht Cordes/Heiner Lück/Dieter Werkmüller/Ruth Schmidt-Wiegand (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Band 2, 2. Auflage, Berlin 2012, Sp. 1366 ff. – Von der Freirechtsbewegung zum konkreten Ordnungs- und Gestaltungsdenken, in: Ralf Dreier/Wolfgang Sellert (Hrsg.), Recht und Justiz im „Dritten Reich“, Frankfurt a. M. 1989, S. 34–79 Beling, Ernst von: Die Lehre vom Verbrechen, Tübingen 1906 Bentham, Jeremy: A Fragment on Government. Being an Examination of what is delivered, on the Subject of Government in General, London 1776 – Anarchical Fallacies; Being an Examination of the Declaration of Rights Issued During the French Revolution, in: John Bowring (Hrsg.), The Works of Jeremy Bentham, Band 2, Edinburgh 1843, S. 489–529 – An Introduction to the Principles of Morals and Legislation, London 1789 – Of Laws in General, London und Beccles 1970 Benthin, Sabine: Subventionspolitik und Subventionskriminalität, Frankfurt a. M. 2010 Benzenhöfer, Udo: Der gute Tod?, Göttingen 2009 Bergbohm, Karl: Jurisprudenz und Rechtsphilosophie, Band 1, Leipzig 1892 Berolzheimer, Fritz: Die Gefahren einer Gefühlsjurisprudenz in der Gegenwart, Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie 4 (1910/11), S. 596–610 Bierling, Ernst R.: Ueber die Benutzung von Landtags- und Synodalverhandlungen, Zeitschrift für Kirchenrecht 10 (1871), S. 141–212 – Zur Kritik der juristischen Grundbegriffe, Band 2, Gotha 1883 Biewald, Gunther: Regelgemäßes Verhalten und Verantwortlichkeit, Berlin 2003 Binding, Karl L. L.: Das Problem der Strafe in der heutigen Wissenschaft, Grünhuts Zeitschrift für das Privat- und öffentliche Recht der Gegenwart 4 (1877), S. 417– 436 – Die drei Grundfragen der Organisation des Strafgerichts, Leipzig 1876 – Die Normen und ihre Übertretung, Band 1, Leipzig 1872; 2. Auflage, Leipzig 1890; 3. Auflage, Leipzig 1916; 4. Auflage, Leipzig 1922; Band 2, Hälfte 1, 2. Auflage, Leipzig 1914; Band 2, Hälfte 2, 2. Auflage, Leipzig 1916; Band 3, Leipzig 1918; Band 4, Leipzig 1919 – Die Schuld im deutschen Strafrecht, Leipzig 1919
Literaturverzeichnis
407
– Grundriss des Deutschen Strafrechts. Allgemeiner Teil, 7. Auflage, Leipzig 1907; 8. Auflage, Leipzig 1913 – Handbuch des Strafrechts, Leipzig 1885 – Lehrbuch des Gemeinen Deutschen Strafrechts, Besonderer Teil, 2. Auflage, Band 1, Leipzig 1902; Band 2, Abteilung 1, Leipzig 1904; Abteilung 2, Leipzig 1905 – Strafrechtliche und strafprozessuale Abhandlungen, Band 1, München und Leipzig 1915 – Thon, Rechtsnorm und subjektives Recht (Rezension), Kritische Vierteljahresschrift 21 (1879), S. 542–582 Binding, Karl L. L./Hoche, Alfred E.: Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form, Leipzig 1920 Birnbaum, Johann M. F.: Ueber das Erforderniß einer Rechtsverletzung zum Begriffe des Verbrechens, mit besonderer Rücksicht auf den Begriff der Ehrenkränkung, Archiv des Criminalrechts, Neue Folge 1834, S. 149–194 Boeckh, August: Enzyclopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften, Leipzig 1877 Borchardt: Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens, Deutsche StrafrechtsZeitung 9 (1922), S. 206–210 Bornhak, Conrad: Preussisches Staatsrecht, Band 1, Freiburg i. B. 1889 Bozi, Alfred: Euthanasie und Recht, Das monistische Jahrhundert 2,1 (1913), S. 576– 580 Breidbach, Olaf: Der Monismus als wissenschaftsgeschichtliches Problem, in: Paul Ziche (Hrsg.), Monismus um 1900. Wissenschaftskultur und Weltanschauung, Berlin 2000, S. 9–22 Brennecke, Hans: Kritische Bemerkungen zu der Forderung Bindings und Hoches „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“, Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 23 (1921/22), S. 4–9 Brenske: Tötungen aus eugenischen Gründen und aus Euthanasiegründen, Juristische Rundschau 1952, S. 275–278 Bresler, Johannes: Karl Bindings „letzte Tat für die leidende Menschheit“, Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 22 (1920/21), S. 289–290 Brütt, Lorenz: Die Kunst der Rechtsanwendung. Zugleich ein Beitrag zur Methodenlehre der Geisteswissenschaften, Berlin 1907 Buchholz, René: „. . . zersetzt er Kultur und Sittlichkeit“. Über einige Schwierigkeiten theologischer Materialismusrezeption, in: Kurt Bayertz/Myriam Gerhard/Walter Jaeschke (Hrsg.), Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert, Band 1, Hamburg 2007, S. 309–331 Büchner, Ludwig: Kraft und Stoff, Frankfurt a. M. 1855 – Natur und Geist. Gespräche zweier Freunde über die real-philosophischen Fragen der Gegenwart, 3. Auflage, Halle 1874
408
Literaturverzeichnis
Bülow, Christoph von/Petersen, Sven: Stimmrechtszurechnung zum Treuhänder?, Neue Zeitschrift für Gesellschaftsrecht 2009, S. 1373–1378 Burckhardt, Walther: Lücken des Gesetzes und die Gesetzesauslegung, Bern 1925 – Methode und System des Rechts, Zürich 1936 Bydlinski, Franz/Bydlinski, Peter: Grundzüge der juristischen Methodenlehre, 2. Auflage, Wien 2012 Canaris, Claus-Wilhelm: Die Feststellung von Lücken im Gesetz, Berlin 1964 Chamberlain, Houston S.: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts, Band 1, München 1899 Coing, Helmut: Der juristische Systembegriff bei Rudolf von Ihering, in: Jürgen Blühdorn/Joachim Ritter (Hrsg.), Philosophie und Rechtswissenschaft, Frankfurt a. M. 1969, S. 149–171 – Europäisches Privatrecht, Band 2, München 1989 Conrad-Martius, Hedwig: Utopien der Menschenzüchtung, München 1955 Croce, Benedetto: Lebendiges und Totes in Hegels Philosophie, Heidelberg 1909 Dalbora, José L. G.: Inhalt und aktuelle Bedeutung der Rechtsgutstheorie im Werk Johann Michael Franz Birnbaums, in: ders./Thomas Vormbaum (Hrsg.), Zwei Aufsätze, Berlin 2011, S. 67–92 Dalke, A.: Ist nach der neuesten Preußischen Strafgesetzgebung noch der Einwand der Unkenntniß des Strafgesetzes zu berücksichtigen?, Goltdammer’s Archiv für Strafrecht 6 (1858), S. 63–71 Darwin, Charles: The Origin of Species by Means of Natural Selection, 6. Auflage, London 1873 Daube, David: Das Selbstverständliche in der Rechtsgeschichte, Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Romanistische Abteilung 90 (1973), S. 1–13 Daum, Andreas W.: Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert, München 1998 Dimakis, Alexandros: Der Zweifel an der Rechtswidrigkeit der Tat, Berlin 1992 Dosenheimer, Emil: Die Frage der Euthanasie in rechtlicher Beleuchtung, Das monistische Jahrhundert 4 (1915), S. 66–69 Dreier, Horst: Die Radbruchsche Formel – Erkenntnis oder Bekenntnis?, in: Martin Borowski/Stanley L. Paulson (Hrsg.), Natur des Rechts bei Gustav Radbruch, Tübingen 2015, S. 1–22 – Grenzen des Tötungsverbotes – Teil 2, Juristenzeitung 2007, S. 317–326 – (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, Band 1, 3. Auflage, Tübingen 2013 Dulckeit, Gerhard: Naturrecht und positives Recht bei Kant, Leipzig 1932 Duttge, Gunnar: Zum „rechtsfreien Raum“ nach Lothar Philipps, in: Bernd Schünemann/Marie-Theres Tinnefeld/Roland Wittmann (Hrsg.), Gerechtigkeitswissenschaft – Kolloquium aus Anlass des 70. Geburtstages von Lothar Philipps, Berlin 2005, S. 369–384
Literaturverzeichnis
409
Dworkin, Ronald: A Matter of Principle, Cambridge und London 1985 Ebermayer, Ludwig: Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens, Leipziger Zeitschrift für Deutsches Recht 14 (1920), S. 599–604 – Erwiderung gegen Borchardt, Deutsche medizinische Wochenschrift 48 (1922), S. 1655 Edel, Geert: Zum Problem der Rechtsgeltung. Kelsens Lehre von der Grundnorm und das Hypothesis-Theorem Cohens, in: Simone Zurbuchen/Peter A. Schmid (Hrsg.), Grenzen der kritischen Vernunft. Festschrift für Helmut Holzhey, Basel 1997, S. 178–194 Ehret, Susanne: Franz von Liszt und das Gesetzlichkeitsprinzip, Frankfurt a. M. 1996 Ehrlich, Eugen: Die juristische Logik, Tübingen 1925 – Grundlegung der Soziologie des Rechts, München und Leipzig 1913 Eisenhart, Johann A. Ritter von: Artikel „Wächter: Carl Joseph Georg Sigismund v.“, in: Allgemeine Deutsche Biographie 40 (1896), Leipzig 1896, S. 435–440 Elster, Alexander: Euthanasie (Sterbehilfe), Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 36 (1915), S. 595–597 – Freigabe lebensunwerten Lebens, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 44 (1924), S. 130–135 Eltzbacher, Paul: Über Rechtsbegriffe, Berlin 1900 Engelhard, Herbert: Einführung in das Strafrecht, Heidelberg 1946 Engisch, Karl: Der rechtsfreie Raum, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 108 (1952), S. 385–430 – Die Kausalität als Merkmal der strafrechtlichen Tatbestände, Tübingen 1931 – Einführung in das juristische Denken, Stuttgart 1956; 11. Auflage, Stuttgart 2010 – Euthanasie und Vernichtung lebensunwerten Lebens in strafrechtlicher Beleuchtung, Stuttgart 1948 Engländer, Armin: Norm und Sanktion – Kritische Anmerkungen zum Sanktionsmodell der Norm, Rechtswissenschaft 2013, S. 193–207 Esser, Josef: Einführung in die Grundbegriffe des Rechtes und Staates. Eine Einführung in die Rechtswissenschaft und in die Rechtsphilosophie, Wien 1949 – Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, Frankfurt a. M. 1972 Evangelische Kirche in Deutschland (Hrsg.), Die Bibel. Nach der Übersetzung Martin Luthers, Stuttgart 1999 Everling, Julius R.: Der rechtsfreie Raum als Begründung für den Schwangerschaftsabbruch?, Vortrag vom 16.07.2010, gehalten an der Università degli Studi di Lecce, abrufbar unter http://simon.rewi.hu-berlin.de/doc/Der_rechtsfreie_Raum.pdf (zuletzt abgerufen am 16.09.2017) Exner, Thomas: Strafbares „Schwarzfahren“ als ein Lehrstück juristischer Methodik, Juristische Schulung 2009, S. 990–994
410
Literaturverzeichnis
Falk, Ulrich: Ein Gelehrter wie Windscheid, Frankfurt a. M. 1989 Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums, Leipzig 1841 – Kleine philosophische Schriften (1842–1845), Leipzig 1950 – Ludwig Feuerbach in seinem Briefwechsel und Nachlass sowie in seiner Philosophischen Charakterentwicklung, dargestellt von Karl Grün, Band 2, Leipzig und Heidelberg 1874 Feuerbach, Paul J. A.: Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts, 3. Auflage, Gießen 1805 – Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen Rechts, Band 1, Erfurt 1799 Fichte, Johann G.: Fichtes Werke, Band 3, Berlin 1971 Fichtner, Gerhard: Die Euthanasiediskussion in der Zeit der Weimarer Republik, in: Albin Eser (Hrsg.), Suizid und Euthanasie als human- und sozialwissenschaftliches Problem, Stuttgart 1976, S. 24–40 Fikentscher, Wolfgang: Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Band 2, Tübingen 1975; Band 3, Tübingen 1976; Band 4, Tübingen 1977 Fleischer, Holger/Bedkowski, Dorothea: Stimmrechtszurechnung zum Treuhänder gemäß § 22 I 1 Nr. 2 WpHG: Ein zivilrechtlicher Eingriff und seine kapitalmarktrechtlichen Folgen, Deutsches Steuerrecht 2010, S. 933–938 Focke, Harald/Reimer, Uwe: Alltag unterm Hakenkreuz. Wie die Nazis das Leben der Deutschen veränderten, Hamburg 1979 Forel, August: Hygiene der Nerven und des Geistes, 4. Auflage, Stuttgart 1913 – Kulturbestrebungen der Gegenwart, München 1910 Frank, Jerome: Law and the Modern Mind, 6. Auflage, London 1949 Freud, Sigmund: Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse, Imago 5 (1917), S. 1–7 Frommel, Monika: Präventionsmodelle in der deutschen Strafzweck-Diskussion. Beziehungen zwischen Rechtsphilosophie, Dogmatik, Rechtspolitik und Erfahrungswissenschaften, Berlin 1987 Gabriel, Gottfried: Einheit in der Vielheit. Der Monismus als philosophisches Programm, in: Paul Ziche (Hrsg.), Monismus um 1900. Wissenschaftskultur und Weltanschauung, Berlin 2000, S. 23–39 Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 4. Auflage, Tübingen 1975 Galton, Francis: Genie und Vererbung, Leipzig 1910 Gämmerler, Michael: Recht des schwergeschädigten Neugeborenen auf Leben? – Die sogenannte Früheuthanasie, in: Arthur Kaufmann (Hrsg.), Moderne Medizin und Strafrecht, Heidelberg 1989, S. 161–168 Gaupp, Robert: Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens, Deutsche Strafrechts-Zeitung 7 (1920), S. 332–337 Gellius, Aulus: A. Gelii Noctes Atticae, Band 2, Oxford 1968
Literaturverzeichnis
411
Geyer, August: Grundriß zu Vorlesungen über gemeines deutsches Strafrecht, Band 1, München 1884 Giese, Friedrich: Die Grundrechte, Freiburg i.B. 1905 Glaser, Julius: Gesammelte kleinere juristische Schriften, Band 1, 2. Auflage, Wien 1883 Goethe, Johann W.: Faust. Der Tragödie Erster Teil, 2. Auflage 2001, Hollfeld 2001 Goldschmidt, Levin: Vermischte Schriften, Band 1, Berlin 1901 Goltdammer, Theodor: Die Materialien zum Straf-Gesetzbuche für die Preußischen Staaten, Band 1, Berlin 1851 Greco, Luís: Lebendiges und Totes in Feuerbachs Straftheorie, Berlin 2009 Greismann, Georg: Recht und Moral in der Philosophie Kants, Jahrbuch für Recht und Ethik 14 (2006), S. 3–124 Große-Vehne, Vera: Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB), „Euthanasie“ und Sterbehilfe, Berlin 2005 Grübler, Gerd: Kontinuitäten und Brüche in der deutschen Euthanasie-Debatte, in: ders. (Hrsg.), Quellen zur deutschen Euthanasie-Diskussion, Berlin 2007, S. 11–20 Grünhut, Max: Anselm von Feuerbach und das Problem der strafrechtlichen Zurechnung. Hamburg 1922 Haeckel, Ernst: Die Welträtsel, 13. Auflage, Leipzig 1922 – Die Lebenswunder, Stuttgart 1904 Haelschner, Hugo: Das gemeine deutsche Strafrecht, Band 1, Bonn 1881 Haferkamp, Hans-Peter: Die sogenannte Begriffs-Jurisprudenz im 19. Jahrhundert: „reines“ Recht?, in: Otto Depenheuer (Hrsg.), Reinheit des Rechts: Kategorisches Prinzip oder regulative Idee?, Wiesbaden 2010, S. 79–99 – Einflüsse der Erweckungsbewegung auf die ,historisch-christliche‘ Rechtsschule zwischen 1815 und 1848, in: Pascale Cancik/Thomas Henne/Thomas Simon/Stefan Ruppert/Milo Vec (Hrsg.), Konfession im Recht. Auf der Suche nach konfessionell geprägten Denkmustern und Argumentationsstrategien in Recht und Rechtswissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 2009, S. 71–93 – Georg Friedrich Puchta und die „Begriffsjurisprudenz“, Frankfurt a. M. 2004 Hammerer, Otto: Der Einfluß des Rechtsirrtums auf die Bestrafung nach deutschem Reichsstrafrecht, München 1890 Hammon, Kathrin: Karl Binding/Alfred E. Hoche, „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form“, Göttingen 2011 Hanauer, Wilhelm: Euthanasie, Therapeutische Monatshefte 31 (1917), S. 107–112 Hartmann, Nicolai: Das Problem des geistigen Seins, 3. Auflage, Berlin 1962 Hassemer, Winfried: Theorie und Soziologie des Verbrechens, Frankfurt a. M. 1973 Hattenhauer, Hans: Europäische Rechtsgeschichte, 4. Auflage, Heidelberg 2004 Heck, Philipp: Das Problem der Rechtsgewinnung, 2. Auflage, Tübingen 1932
412
Literaturverzeichnis
– Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, AcP 112 (1914), S. 1–318 – Was ist diejenige Begriffsjurisprudenz, die wir bekämpfen?, Deutsche Juristen-Zeitung 14 (1909), Sp. 1457–1461 Heffter, August W.: Lehrbuch des gemeinen deutschen Strafrechtes, 6. Auflage, Braunschweig 1857 Hegel, Georg W. F.: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, 2. Auflage, Berlin 1840 Heghmanns, Michael: Grundzüge einer Dogmatik der Straftatbestände zum Schutz von Verwaltungsrecht oder Verwaltungshandeln, Berlin 2000 Heinemann, Hugo: Die Binding’sche Schuldlehre, Freiburg i. B. 1889 Heinze, K. F. Rudolf: Ueber den Einfluß des Rechtsirrthums im Strafrecht, Der Gerichtssaal 13 (1861), S. 397–449 Heitz, Eugen: Das Wesen des Vorsatzes im heutigen gemeinen deutschen Strafrechte, Straßburg 1885 Henkel, Thomas: Begriffsjurisprudenz und Billigkeit, Köln u. a. 2004 Herbe, Daniel: Hermann Weinkauff. Der erste Präsident des Bundesgerichtshofs, Tübingen 2008 Herzberg, Rolf D.: Sterbehilfe als gerechtfertigte Tötung im Notstand?, Neue Juristische Wochenschrift 1996, S. 3043–3049 Heyn, [?]: Über Sterbehilfe (Euthanasie), Zeitschrift für Medizinalbeamte 34 (1921), S. 253–363 und 273–281 Hippel, Robert von: Deutsches Strafrecht, Band 2, Berlin 1930 – Vorsatz, Fahrlässigkeit, Irrtum, in: ders. u. a. (Hrsg.), Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts, Allgemeiner Teil, Band 3, Berlin 1908, S. 373–596 Hobbes, Thomas: Elementa philosophica de cive, Malmesburiensi 1657 – Malmesburiensis Opera quae latine scripsit omnia, in unum corpus nunc primum collecta studio et labore Gulielmi Molesworth, Band 2, London 1839 Hoerster, Norbert: Das Adressatenproblem im Strafrecht und die Sozialmoral, Juristenzeitung 1989, S. 10–12 – Rechtsethische Überlegungen zur Freigabe der Sterbehilfe, Neue Juristische Wochenschrift 1986, S. 1786–1792 – Was ist Recht?, München 2006 – Wer macht sich Illusionen?, Juristenzeitung 1989, S. 425–427 – Zur Bedeutung des Prinzips der Menschenwürde, Juristische Schulung 1983, S. 93– 96 Hofstätter, Heiko: Der embryopathisch motivierte Schwangerschaftsabbruch, Frankfurt a. M. 2000
Literaturverzeichnis
413
Holmes, Oliver W.: The Path of the Law, Harvard Law Review 10 (1896/97), S. 457– 478 Hoyer, Andreas: Strafrechtsdogmatik nach Armin Kaufmann. Lebendiges und Totes in Armin Kaufmanns Normentheorie, Berlin 1997 Hruschka, Joachim: Verhaltensregeln und Zurechnungsregeln, Rechtstheorie 22 (1991), S. 449–460 Huber, Ulrich: Savignys Lehre von der Auslegung der Gesetze in heutiger Sicht, Juristenzeitung 2003, S. 1–17 Hufeland, Christoph W.: Die Verhältnisse des Arztes, Journal der practischen Heilkunde 23 (1806), 3. Stück, S. 1–36 Hume, David: A Treatise of Human Nature, Oxford 1896 Huonker, Thomas: Diagnose: „moralisch defekt“, Zürich 2003 Jahn, Ilse/Löther, Rolf/Senglaub, Konrad (Hrsg.): Geschichte der Biologie, 2. Auflage, Jena 1985 Jakobs, Günther: Bindings Normen und die Gesellschaft, in: Manuel da Costa Andrade/ Maria Joao Antunes/Susana Aires de Sousa (Hrsg.), Estudos em homenagem ao Prof. Doutor Jorge de Figueiredo Dias, Band 1, Coimbra 2009, S. 387–400 Jakobs, Horst H.: Die Begründung der geschichtlichen Rechtswissenschaft, Paderborn u. a. 1992 Jellinek, Georg: Die sozialethische Bedeutung von Recht, Unrecht und Strafe, 2. Auflage, Berlin 1908 – System der subjektiven öffentlichen Rechte, Freiburg i. B. 1892 Jestaedt, Matthias: Eine Einführung, in: ders. (Hrsg.), Hans Kelsen. Reine Rechtslehre, Tübingen 2008 – Grundrechtsentfaltung im Gesetz, Tübingen 1999 Jhering, Rudolph von: Der Zweck im Recht, Band 1, Leipzig 1877; 2. Auflage, Leipzig 1884; 4. Auflage, Leipzig 1904 – Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, Band 1, Leipzig 1852; Band 2, Abteilung 1, Leipzig 1854; Band 2, Abteilung 2, Leipzig 1858; Band 3, Abteilung 1, 3. Auflage, Leipzig 1877 – Scherz und Ernst in der Jurisprudenz, 13. Auflage, Leipzig 1884 Jost, Adolf: Das Recht auf den Tod, Göttingen 1895 Jung, Erich: Von der „logischen Geschlossenheit“ des Rechts, in: Festgabe der Gießener Juristenfakultät für Dr. Herinrich Dernburg zum 4. April 1900, Berlin 1900, S. 131– 157 Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft (2. Auflage 1787), in: Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften (Hrsg.), Gesammelte Schriften, Band 3, Berlin 1911 – Metaphysik der Sitten, in: Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften (Hrsg.), Gesammelte Schriften, Band 6, Berlin 1907, S. 203–495
414
Literaturverzeichnis
– Vorarbeiten zu den Metaphysischen Anfangsgründen der Tugendlehre, in: Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften (Hrsg.), Gesammelte Schriften, Band 23, Berlin 1955, S. 371–420 Karpen, Hans-Ulrich: Die Verweisung als Mittel der Gesetzgebungstechnik, Berlin 1970 Kaßler: Das Recht auf Sterbehilfe, Deutsche Juristen-Zeitung 20 (1915), Sp. 203 f. Käubler, Konrad J.: Bericht, Mittheilungen über die Verhandlungen des ordentlichen Landtags im Königreiche Sachsen (1901/02), Erste Kammer, S. 55 f. Kaufmann, Armin: Lebendiges und Totes in Bindings Normentheorie. Normlogik und moderne Strafrechtsdogmatik, Göttingen 1954 Kaufmann, Arthur: Problemgeschichte der Rechtsphilosophie, in: ders./Winfried Hassemer/Ulfrid Neumann (Hrsg.), Einführung in die Rechtsphilosophie, 8. Auflage, Heidelberg u. a. 2010, S. 26–146 – Rechtsfreier Raum und eigenverantwortliche Entscheidung, in: Festschrift für Reinhard Maurach zum 70. Geburtstag, Karlsruhe 1972, S. 327–345 – Rechtsphilosophie, 2. Auflage, München 1997 Kaufmann, Arthur/Hassemer, Winfried: Grundprobleme der zeitgenössischen Rechtsphilosophie und Rechtstheorie. Ein Leitfaden, Frankfurt a. M. 1971 Kelsen, Hans: Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, 2. Auflage, Tübingen 1923 – Reine Rechtslehre, Leipzig und Wien 1934; 2. Auflage, Wien 1960 Kersting, Franz-Werner: Ärzteschaft und NS-„Euthanasie“ im Kontext des Galen-Protestes, in: Joachim Kuropka (Hrsg.), Clemens August Graf von Galen. Menschenrechte – Widerstand – Euthanasie – Neubeginn, Münster 1998, S. 205–220 Kersting, Wolfgang: Recht, Gerechtigkeit und demokratische Tugend, Frankfurt a. M. 1997 Kindhäuser, Urs: Strafrecht. Besonderer Teil I, 7. Auflage, Baden-Baden 2015 Klee, Ernst (Hrsg.): Dokumente zur „Euthanasie“, Frankfurt a. M. 1985 – „Euthanasie“ im Dritten Reich. Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“, Frankfurt a. M. 2010 Klee, Karl: Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens, Ärztliche Sachverständigen-Zeitung 27 (1921), S. 1–7 Knauer, Christoph/Brose, Johannes: § 216 StGB, in: Andreas Spickhoff (Hrsg.), Medizinrecht, 2. Auflage, München 2014 Koch, Arnd: Binding vs. Liszt – Klassische und moderne Strafrechtsschule, in: Eric Hilgendorf/Jürgen Weitzel (Hrsg.), Der Strafgedanke in seiner historischen Entwicklung, Berlin 2007, S. 127–146 Koch, Hansjoachim: Der Sozialdarwinismus, München 1973 Köhler, August: Deutsches Strafrecht: allgemeiner Teil, Leipzig 1917 – Die Strafbarkeit bei Rechtsirrtum, München 1904
Literaturverzeichnis
415
Köhler, Helmut: BGB Allgemeiner Teil, 38. Auflage 2014, München 2014 Kohler, Josef: Über die Interpretation von Gesetzen, Grünhuts Zeitschrift für das Privatund öffentliche Recht der Gegenwart 13 (1886), S. 1–61 Kohlrausch, Eduard: Irrtum und Schuldbegriff im Strafrecht, Berlin 1903 Koriath, Heinz: Grundlagen strafrechtlicher Zurechnung, Berlin 1994 Kornfeld, Ignatz: Soziale Machtverhältnisse, Wien 1911 Köstlin, Christian R.: System des deutschen Strafrechts, Abteilung 1, Tübingen 1855 Kraft, Ingo: Die Konzeption des subjektiven öffentlichen Rechts nach deutschem Recht, in: Winfried Kluth/Klaus Rennert (Hrsg.), Entwicklungen im Verwaltungsprozessrecht, Halle 2008, S. 13–34 Kramer, Ernst A.: Juristische Methodenlehre, 2. Auflage, Bern u. a. 2005 Krawietz, Werner: Recht als Regelsystem, Wiesbaden 1984 – Sind Zwang und Anerkennung Strukturelemente der Rechtsnorm?, in: Günther Winkler/Walter Antoniolli/Bernhard Raschauer (Hrsg.), Reine Rechtslehre im Spiegel ihrer Fortsetzer und Kritiker, Wien und New York 1988, S. 315–369 Kretschmar, Paul: Über die Methode der Privatrechtswissenschaft, Leipzig 1914 Krey, Volker: Keine Strafe ohne Gesetz, Berlin u. a. 1983 Kruse, Heinrich W.: Das Richterrecht als Rechtsquelle des innerstaatlichen Rechts, Tübingen 1971 Kühl, Stefan: Die Internationale der Rassisten, Frankfurt a. M. 1997 Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Band 1, 4. Auflage, Tübingen 1901; Band 2, Tübingen 1878, 5. Auflage, Tübingen 1911 Lammasch, Heinrich: Dr. Hugo Heinemann, die Binding’sche Schuldlehre. Ein Beitrag zu ihrer Widerlegung. Freiburg i. B. 1889, 147 S. (Rezension), Kritische Vierteljahresschrift 32 (1890), S. 544–551 Landau, Peter: Puchta und Aristoteles, SZ RA 109 (1992), S. 1–30 – Rechtsquellenlehre in der deutschen Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts, in: Rättshistoriska Studier, Band 19: Juristische Theorienbildung und Rechtliche Einheit, Lund 1993, S. 69–89 Landsberg, Ernst: Zur ewigen Wiederkehr des Naturrechts, Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie 18 (1924/25), S. 347–376 Lange, Richard: Die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes für die Britische Zone zum Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Süddeutsche Juristen-Zeitung 3 (1948), Sp. 655–658 Larenz, Karl: Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage, Berlin u. a. 1991 Larenz, Karl/Canaris, Claus-Wilhelm: Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Auflage, Heidelberg u. a. 1995 Lask, Emil: Rechtsphilosophie, Heidelberg 1905 Lassalle, Ferdinand: System der erworbenen Rechte, Band 2, Leipzig 1861
416
Literaturverzeichnis
Laun, Rudolf: Recht und Sittlichkeit, in: Hamburgische Universität (Hrsg.), Reden, gehalten bei der Feier des Rektorwechsels am 10. November 1924, Hamburg 1924, S. 17–45 Leibbrand, Werner: Voraussetzungen und Folgen der sogenannten „Euthanasie“, in: ders. (Hrsg.), Um die Menschenrechte der Geisteskranken, Nürnberg 1946, S. 10–17 Leipziger Kommentar, Strafgesetzbuch, Band 1, 3. Auflage, Berlin 1925; 8. Auflage, Berlin 1957; Band 2, 6. und 7. Auflage, Berlin 1951; 9. Auflage, Berlin 1974; Band 5, 11. Auflage, Berlin 2005 Lemmel, Hans-Peter: Unbestimmte Strafbarkeitsvoraussetzungen im Besonderen Teil des Strafrechts und der Grundsatz nullum crimen sine lege, Berlin 1970 Lion, Theodor: Ist Beihülfe zum Selbstmord strafbar?, Archiv für Preußisches Strafrecht (= Goltdammer’s Archiv für Strafrecht) 6 (1858), S. 458–468 Liszt, Franz von: Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 1. Auflage (als Das deutsche Reichsstrafrecht), Berlin 1881; 2. Auflage, Berlin 1884; 9. Auflage, Berlin 1899; 10. Auflage, Berlin 1900; 14. und 15. Auflage, Berlin 1905; 21. und 22. Auflage, Berlin und Leipzig 1919 – Rechtsgut und Handlungsbegriff im Bindingschen Handbuche, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, S. 663–698 – Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge, Bände 1 und 2, Berlin 1905 Llewellyn, Karl N.: Jurisprudence, Chicago und London 1962 – Recht, Rechtsleben und Gesellschaft, Berlin 1977 Löffler, Alexander: Die Schuldformen des Strafrechts, Leipzig 1895 Looschelders, Dirk/Roth, Wolfgang: Juristische Methodik im Prozeß der Rechtsanwendung, Berlin 1996 Lucas, Hermann: Die subjektive Verschuldung im heutigen deutschen Strafrechte, Berlin 1883 – Zur Frage der subjectiven Verschuldung, Der Gerichtssaal 36 (1884), S. 401–430 Luhmann, Niklas: Grundrechte als Institution, Berlin 1965 Luik, Steffen: Die Rezeption Jeremy Benthams in der deutschen Rechtswissenschaft, Köln 2003 MacCormick, Donald N./Weinberger, Ota: Die Grundlagen des Institutionalistischen Positivismus, Berlin 1985 Mährlein, Christoph: Volksgeist und Recht, Würzburg 2000 Manigk, Alfred: Wie stehen wir heute zum Naturrecht?, Berlin 1926 Mann, Ernst: Die Erlösung der Menschheit vom Elend, Weimar 1922 Mastronardi, Philippe: Juristisches Denken, Berlin 2001 Maunz, Theodor/Dürig, Günter (Hrsg.): Grundgesetz Kommentar, Band 1, München 2015
Literaturverzeichnis
417
Maus, Ingeborg: „Gesetzesbindung“ der Justiz und die Struktur der nationalsozialistischen Rechtsnormen, in: Ralf Dreier/Wolfgang Sellert (Hrsg.), Recht und Justiz im „Dritten Reich“, Frankfurt a. M. 1989, S. 80–103 Mayer, Hellmuth: Strafrecht Allgemeiner Teil, Stuttgart u. a. 1953 Mayer, Max E.: Der allgemeine Teil des Deutschen Strafrechts, Heidelberg 1915 – Karl Binding, Prof. in Leipzig, Grundriß des deutschen Strafrechts, Allgemeiner Theil (Bericht), Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 27 (1907), S. 759–760 – Rechtsnormen und Kulturnormen, Breslau 1903 Mayer, Otto: Deutsches Verwaltungsrecht, Band 1, Leipzig 1895 Mayer, Stephan: Juristische Geltung als Verbindlichkeit, Tübingen 2011 Mecke, Christoph-Eric: Begriff und System des Rechts bei Georg Friedrich Puchta, Göttingen 2009 Meder, Stephan: Mißverstehen und Verstehen. Savignys Grundlegung der juristischen Hermeneutik, Tübingen 2004 Mennicken, Axel: Das Ziel der Gesetzesauslegung, Berlin u. a. 1970 Mensching, Günther: Der Materialismus des 19. Jahrhunderts in historischer Perspektive, in: Kurt Bayertz/Myriam Gerhard/Walter Jaeschke (Hrsg.), Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert, Band 1, Hamburg 2007, S. 23–49 Merkel, Adolf: Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, Stuttgart 1889 – Rechtsnorm und subjektives Recht mit Beziehung auf das gleichnamige Werk von A. Thon, Grünhuts Zeitschrift für das Privat- und öffentliche Recht der Gegenwart 6 (1879), S. 367–396 – Über Bindings Handbuch des Strafrechts, I. Band (Rezension), Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 6 (1886), S. 496–521 Merkel, Christian: ,Tod den Idioten‘, 2. Auflage, Berlin 2007 Meyer, Hugo/Allfeld, Philipp: Lehrbuch des deutschen Strafrechts, 8. Auflage, Leipzig und Erlangen 1922 Mittenzwei, Ingo: Teleologisches Rechtsverständnis, Berlin 1988 Moleschott, Jakob: Der Kreislauf des Lebens. Physiologische Antworten auf Liebig’s Chemische Briefe, Mainz 1852 Moll, Dietmar: Europäisches Strafrecht durch nationale Blankettstrafrechtsgesetzgebung?, Göttingen 1998 Morus, Thomas: Utopia, Leipzig 1990 Mühlen, Patrick von zur: Rassenideologien, Berlin und Bonn-Bad Godesberg 1977 Müller, Rudolf: Die Normentheorie von Karl Binding, Tübingen 1954 Münchener Kommentar, Strafgesetzbuch, Band 4, 2. Auflage, München 2012 Murray, Alexander: Suicide in the Middle Ages, Band 2, Oxford 2000
418
Literaturverzeichnis
Nagler, Johannes: Der heutige Stand der Lehre von der Rechtswidrigkeit, in: Festschrift für Karl Binding zum 4. Juni 1911, Band 2, Leipzig 1911, S. 273–385 – Karl Binding zum Gedächtnis. (4. Juni 1841 bis 7. April 1920), Der Gerichtssaal 91 (1925), S. 1–66 Naucke, Wolfgang: Die Aushöhlung der strafrechtlichen Gesetzlichkeit durch den relativen, politisch aufgeladenen strafrechtlichen Positivismus, in: Institut für Kriminalwissenschaften und Rechtsphilosophie Frankfurt a. M. (Hrsg.), Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts, Frankfurt a. M. 1995, S. 483–498 – Ein fortwirkender juristischer Einbruch in das Tötungsverbot: „Binding/Hoche. Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form“, in: Ignacio Czeguhn/Eric Hilgendorf/Jürgen Weitzel (Hrsg.), Eugenik und Euthanasie 1850–1945, Baden-Baden 2009, S. 71–86 – Einführung, in: Thomas Vormbaum (Hrsg.), Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihr Ziel (1920), Berlin 2006, S. V–LXIV – Gesetzlichkeit und Kriminalpolitik, Frankfurt a. M. 1999 Nelson, Leonard: System der philosophischen Rechtslehre und Politik, Frankfurt a. M. 1964 Nörr, Dieter: Savignys Philosophische Lehrjahre. Ein Versuch, Frankfurt a. M. 1994 Nörr, Knut W.: Eher Hegel als Kant, Paderborn u. a. 1991 Nowak, Kurt: „Euthanasie“ und Sterilisierung, 3. Auflage, Weimar 1984 Oetker, Friedrich A. H.: Über den Einfluss des Rechtsirrtums im Strafrechte, Kassel 1876 Ogorek, Regina: Richterkönig oder Subsumtionsautomat?, Frankfurt a. M. 1986 Olshausen, [?] von: Das Recht auf den Tod, Medizinische Klinik 8 (1913), S. 1918 Olshausen, Philipp J. von: Kommentar zum Strafgesetzbuch, 2. Auflage, Band 1, Berlin 1886; 7. Auflage, Berlin 1905 Oppenhoff, Theodor F.: Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, 11. Auflage, Berlin 1888 Oppler: „Dem Hunde einen Gnadenstoß, dem Menschen keinen“, Das Recht 5 (1901), S. 510 Overmann, Manfred: Der Ursprung des französischen Materialismus, Frankfurt a. M. 1993 Paradys, Nikolaus: Rede von Nikolaus Paradys, Professor in Leyden über das, was die Arzneywissenschaft vermag, den Tod leicht und schmerzlos zu machen, bei Gelegenheit seines Abschieds vom akademischen Prorectorat gehalten den 8. Februar 1794, Neues Magazin für Aerzte 18 (1796), S. 560–573 Pawlik, Michael: Das Unrecht des Bürgers. Grundlinien der Allgemeinen Verbrechenslehre, Tübingen 2012 Pawlowski, Hans-Martin: Methodenlehre für Juristen, 3. Auflage, Heidelberg 1999
Literaturverzeichnis
419
Pelckmann, Fritz: Euthanasie. Das Recht des Arztes zur Tötung, Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform 14 (1923), S. 178–199 Ploetz, Alfred: Die Tüchtigkeit unsrer Rasse und der Schutz der Schwachen, Berlin 1895 – Sozialanthropologie, in: Gerhard Schwalbe/Eugen Fischer (Hrsg.), Die Kultur der Gegenwart, Teil 3, Leipzig 1923, S. 606–607 Priester, Jens-Michael: Rechtsfreier Raum und strafloser Schwangerschaftsabbruch, in: Fritjof Haft/Winfried Hassemer/Ulfrid Neumann/Wolfgang Schild/Ulrich Schroth (Hrsg.), Strafgerechtigkeit. Festschrift für Arthur Kaufmann zum 70. Geburtstag, Heidelberg 1993, S. 499–518 Przyrembel, Alexandra: „Rassenschande“, Göttingen 2003 Puchta, Georg F.: Cursus der Institutionen, Band 1, Leipzig 1841 – Das Gewohnheitsrecht, Band 1, Erlangen 1828 – Kleine civilistische Schriften, Leipzig 1851 – Pandekten, 3. Auflage, Leipzig 1845 – Vorlesungen über das heutige römische Recht, Band 1, Leipzig 1847 Quinton, Anthony: Utilitarian Ethics, 2. Auflage, London 1989 Radbruch, Gustav: Der Handlungsbegriff in seiner Bedeutung für das Strafrechtssystem, Berlin 1904 – Einführung in die Rechtswissenschaft, 9. Auflage, Stuttgart 1952 – Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, Süddeutsche Juristen-Zeitung 1 (1946), S. 105–108 – Literaturbericht: Dr. Ernst Beling, Professor in Tübingen. Die Lehre vom Verbrechen. Tübingen, Verlag von J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), 1906. XII u. 548 S., Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform 3 (1905/06), S. 570–571 – Rechtsphilosophie, 3. Auflage, Leipzig 1932; 4. Auflage, Stuttgart 1950 – Rechtswissenschaft als Rechtsschöpfung, Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 22 (1906), S. 355–370 Reichel, Hans: Gesetz und Richterspruch. Zur Orientierung über Rechtsquellen- und Rechtsanwendungslehre der Gegenwart, Zürich 1915 Reichhelm, [?]: Zur Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens, Deutsche Strafrechts-Zeitung 9 (1922), S. 292–293 Reinach, Adolf: Zur Phänomenologie des Rechts, München 1953 Reinke, Johannes: Die Welt als That, Berlin 1899 – Einleitung in die theoretische Biologie, Berlin 1901 Renzikowski, Joachim: Die Unterscheidung von primären Verhaltens- und sekundären Sanktionsnormen in der analytischen Rechtstheorie, in: Festschrift für Karl Heinz Gössel zum 70. Geburtstag, Heidelberg 2002, S. 3–13
420
Literaturverzeichnis
– Normentheorie als Brücke zwischen Strafrechtsdogmatik und Allgemeiner Rechtslehre, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 87 (2001), S. 110–125 Reumschüssel, Peter: Euthanasiepublikationen in Deutschland, Greifswald 1968 Reusch, Tanja: Die Ethik des Sozialdarwinismus, Frankfurt a. M. 2000 Ritzer, Monika: Faktum – System – Substanz. Reflexe der Naturwissenschaft in der Literatur zwischen 1835 und 1855, in: Kurt Bayertz/Myriam Gerhard/Walter Jaeschke (Hrsg.), Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert, Band 1, Hamburg 2007, S. 275–308 Röder, C.: Die Berechtigung zur Tötung, Beilage zur Allgemeinen Zeitung Nr. 130 (1904), S. 433–435 Röhl, Klaus F.: Allgemeine Rechtslehre, 2. Auflage, Köln und München 2001 Röhl, Klaus F./Röhl, Hans C.: Allgemeine Rechtslehre, 3. Auflage, Köln und München 2008 Rosenbaum, Wolf: Naturrecht und positives Recht, Neuwied u. a. 1972 Ross, Alf: Theorie der Rechtsquellen, Leipzig u. a. 1929 – Om ret og retfaerdighed, 3. Auflage, Kopenhagen 1971 Roxin, Claus: Strafrecht. Allgemeiner Teil, Band 1, 4. Auflage, München 2006 Rückert, Joachim: Autonomie des Rechts in rechtshistorischer Perspektive, Hannover 1988 – Die Schlachtenrufe im Methodenkampf – ein historischer Überblick, in: ders./Ralf Seinecke (Hrsg.), Methodik des Zivilrechts – von Savigny bis Teubner, 2. Auflage, Baden-Baden 2012, S. 501–550 – Idealismus, Jurisprudenz und Politik bei Friedrich Carl von Savigny, Ebelsbach a. M. 1984 Rüdorff, Hans: Strafgesetzbuch für das deutsche Reich, Hauptband, 4. Auflage, Berlin 1892 Rümelin, Gustav von: Reden und Aufsätze, neue Folge, Freiburg i. B. und Tübingen 1881 Rümelin, Max von: Zur Lehre von der juristischen Konstruktion, Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie 16 (1922/23), S. 343–355 Rumpf, Max: Gesetz und Richter, Berlin 1906 Rupp, Elisabeth: Das Recht auf den Tod, Berlin u. a. 1913 Rüthers, Bernd: Die unbegrenzte Auslegung, 7. Auflage, Tübingen 2012 Rüthers, Bernd/Fischer, Christian/Birk, Axel: Rechtstheorie, 8. Auflage, München 2015 Sandström, Marie: Die Herrschaft der Rechtswissenschaft, Lund 1989 Satzger, Helmut: Internationales und Europäisches Strafrecht, 7. Auflage, Baden-Baden 2016 Sauer, Wilhelm: Grundlagen des Strafrechts, Berlin und Leipzig 1921
Literaturverzeichnis
421
Savigny, Friedrich C. von: Das Recht des Besitzes, 3. Auflage, Gießen 1818 – System des heutigen Römischen Rechts, Band 1, Berlin 1840 – Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, Heidelberg 1814 – Vorlesungen über juristische Methodologie 1802–1842, Frankfurt a. M. 2004 Schäfer, Julia: Vermessen – gezeichnet – verlacht, Frankfurt a. M. und New York 2005 Schaffrath, Wilhelm M.: Theorie der Auslegung constitutioneller Gesetze nach constitutionellem Staats- und gemeinem deutschen Rechte, Leipzig 1842 Schild, Wolfgang: Die strafrechtsdogmatischen Konsequenzen des rechtsfreien Raumes, Juristische Arbeitsblätter 1978, S. 449–456, 570–573, 631–636 Schipperges, Heinrich: Zur psychischen und sozialen Situation des Sterbenden in historischer Sicht, in: Albin Eser (Hrsg.), Suizid und Euthanasie als human- und sozialwissenschaftliches Problem, Stuttgart 1976, S. 13–23 Schlesinger, Rudolf C. D.: Handbuch des Handelsrechts. Von Dr. L. Goldschmidt, a. o. Professor der Rechte in Heidelberg. Erster Band, erste Abtheilung, enthaltend die geschichtlich-literärische Einleitung und die Grundlehren. Erlangen, Verlag von Ferdinand Enke. 1864. XXVI und 524 Seiten in Octav. (Rezension), Göttinger gelehrte Anzeigen 1864, S. 1961–1992 Schlosser, Hans: Grundzüge der Neueren Privatrechtsgeschichte, 10. Auflage, München 2005 Schmidhäuser, Eberhard: Form und Gehalt der Strafgesetze, Göttingen 1988 – Illusionen in der Normentheorie und das Adressatenproblem im Strafrecht, Juristenzeitung 1989, S. 419–425 Schmidt, Alfred: Emanzipatorische Sinnlichkeit, München 1973 Schmidt, Eberhard: Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 3. Auflage, Göttingen 1965 Schmidt, Jürgen: Nochmals: Zur „formalen Struktur“ der „subjektiven Rechte“, Rechtstheorie 1979, S. 71–79 Schmitt, Carl: Gesetz und Urteil, Berlin 1912 – Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, Hamburg 1934 Schmuhl, Hans-Walter: Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie, Göttingen 1987 Schnabel, Georg N.: Wissenschaft des Rechts, Wien 1842 Schönfeld, Walther: „Der Traum des positiven Rechts“, Archiv für die civilistische Praxis 135 (1932), S. 1–66 Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstellung, Band 1, 3. Auflage, Leipzig 1859 Schreiber, Hans-Ludwig: Gesetz und Richter, Frankfurt a. M. 1976
422
Literaturverzeichnis
Schröder, Jan: Artikel „Begriffsjurisprudenz“, in: Albrecht Cordes/Heiner Lück/Dieter Werkmüller/Ruth Schmidt-Wiegand (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Band 1, 2. Auflage, Berlin 2008, Sp. 500 ff. – Karl Binding (1841–1920), in: ders./Gerd Kleinheyer (Hrsg.), Deutsche und Europäische Juristen aus neun Jahrhunderten, 5. Auflage, Heidelberg 2008, S. 62–66 – Recht als Wissenschaft, 2. Auflage, München 2012 Schubart-Fikentscher, Gertrud: Unbekannter Thomasius, Weimar 1954 Schubert, Werner (Hrsg.): Entwurf eines Strafgesetzbuches für den Norddeutschen Bund vom Juli 1869, Berlin 1869 – (Hrsg.), Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund, Berlin 1870 Schumann, Eva: Karl Bindings Schrift ,Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘. Vorläufer, Reaktionen und Fortwirkung in rechtshistorischer Perspektive, in: Ortrun Riha (Hrsg.), ,Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘, Aachen 2005, S. 35–67 Schünemann, Bernd: Das Rechtsgüterschutzprinzip als Fluchtpunkt der verfassungsrechtlichen Grenzen der Straftatbestände und ihrer Interpretation, in: Roland Hefendahl/Andrew von Hirsch/Wolfgang Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, BadenBaden 2003, S. 133–154 – Nulla poena sine lege? Rechtstheoretische und verfassungsrechtliche Implikationen der Rechtsgewinnung im Strafrecht, Berlin 1978 Schütze, Theodor R.: Die nothwendige Theilnahme am Verbrechen, Leipzig 1869 – Lehrbuch des Deutschen Strafrechts auf Grund des Reichsstrafgesetzbuches, Leipzig 1871 Schützendübel, Charleen: Die Bezugnahme auf EU-Verordnungen in Blankettstrafgesetzen, Baden-Baden 2012 Schwartz, Ernst: Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, Berlin 1914 Schwarze, Friedrich O. von: Commentar zum Strafgesetzbuche für das Deutsche Reich, 5. Auflage, Leipzig 1884 Schwinge, Erich: Teleologische Begriffsbildung im Strafrecht. Ein Beitrag zur strafrechtlichen Methodenlehre, Bonn 1930 Seidenstücker, Herbert: Strafzweck und Norm bei Binding und im Nationalsozialistischen Recht, Quakenbrück 1938 Seidler, Eduard: Alfred Erich Hoche (1865–1943); Versuch einer Standortbestimmung, Freiburger Universitätsblätter 25 (1986), Heft 94, S. 65–75 Siemens, Werner von: Das naturwissenschaftliche Zeitalter, in: Hansjochem Autrum (Hrsg.), Von der Naturforschung zur Naturwissenschaft, Berlin und Heidelberg 1987, S. 143–155 Sigwart, Christoph: Der Begriff des Wollens und sein Verhältniss zum Begriff der Ursache, Tübingen 1879
Literaturverzeichnis
423
Simon, Georg: In wie weit berücksichtigt das Deutsche Strafgesetzbuch die Unkenntnis des Strafgesetzes?, Der Gerichtssaal 32 (1880), S. 416–432 Spencer, Herbert: Die Principien der Ethik, Band 2, 1. Abteilung, Stuttgart 1892 Sperling, [?]: Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens vom Standpunkt der Wohlfahrtspflege, Soziale Praxis und Archiv für Volkswohlfahrt 30 (1921), S. 635– 637 Spinner, Jakob R.: Ärztliches Recht, Berlin 1914 Stahl, Friedrich J.: Die Philosophie des Rechts nach geschichtlicher Ansicht, Band 2, Abteilung 1, Heidelberg 1833 Stammler, Rudolf: Rechtsphilosophie, 3. Auflage, Berlin und Leipzig 1928 – Theorie der Rechtswissenschaft, Halle 1911 Stemmer, Peter: Normativität, Berlin und New York 2008 Stenglein, Melchior: Commentar über das Strafgesetzbuch für das Königreich Bayern, Band 1, München 1861 – Das Recht zum Sterben, Die Krankenpflege 1 (1901/02), S. 351–356 Sticker, G.: Das Recht der Ärzte zu töten, Hochland 2 (1904), S. 616–621 Strassmann, Ferdinand: Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Koreferat zu Karl Klee, Ärztliche Sachverständigen-Zeitung 27 (1921), S. 7–10 Strömholm, Stig: Kurze Geschichte der abendländischen Rechtsphilosophie, Göttingen 1991 Stühler, Hans-Ulrich: Die Diskussion um die Erneuerung der Rechtswissenschaft 1780– 1815, Berlin 1978 Tegethoff, Wilhelm: Kant und Savigny, Frankfurt a. M. 1952 Temme, Judocus D. H.: Lehrbuch des Preußischen Strafrechts, Berlin 1853 Thöl, Johann H.: Das Handelsrecht, Band 1, Göttingen 1841, Band 2, Göttingen 1847 – Einleitung in das deutsche Privatrecht, Göttingen 1851 – Quellen und Zeugniße des Wechselrechts, Leipzig 1847 Thomasius, Christian: Ausübung der Vernunftlehre, in: Werner Schneiders (Hrsg.), Ausgewählte Werke, Band 9, Hildesheim u. a. 1998 Thon, August: Rechtsnorm und subjektives Recht, Weimar 1878 Tripp, Dietrich: Der Einfluß des naturwissenschaftlichen, philosophischen und historischen Positivismus auf die deutsche Rechtslehre im 19. Jahrhundert, Berlin 1983 Tröndle, Herbert: Warum ist die Sterbehilfe ein rechtliches Problem?, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 1987, S. 25–48 Ulbrich, Martin: Dürfen wir minderwertiges Leben vernichten?, Berlin 1925 – Euthanasie, Geisteskampf der Gegenwart 58 (1922), S. 277–281 Valkhoff, Johan: Recht, Mensch und Gesellschaft, Berlin 1972
424
Literaturverzeichnis
Viehweg, Theodor: Positivismus und Jurisprudenz, in: Jürgen Blühdorn/Joachim Ritter (Hrsg.), Positivismus im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1971, S. 105–111 Vogel, Hans-Heinrich: Der skandinavische Rechtsrealismus, Frankfurt a. M. 1972 Vogt, Carl: Köhlerglaube und Wissenschaft, 4. Auflage, Gießen 1856 Vormbaum, Thomas: Einführung in die moderne Strafrechtsgeschichte, 2. Auflage, Berlin und Heidelberg 2011 Vörös, Lukas: Kinder- und Jugendlicheneuthanasie zur Zeit des Nationalsozialismus am Wiener Spiegelgrund, Wien 2010 Wach, Adolf: Der Vorentwurf zu einem Deutschen Strafgesetzbuch, Deutsche JuristenZeitung 15 (1910), Sp. 108–114 – Die Normen und ihre Übertretung (Rezension), Der Gerichtssaal 25 (1873), S. 432– 463 – Handbuch des Deutschen Civilprozessrechts. Erster Band, Leipzig 1885 Wächter, Carl G. von: Lehrbuch des Römisch-Teutschen Strafrechts, Band 1, Stuttgart 1825 Wahsner, Renate: Der Materialismusbegriff in der Mitte des 19. Jahrhunderts, in: Kurt Bayertz/Myriam Gerhard/Walter Jaeschke (Hrsg.), Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert, Band 1, Hamburg 2007, S. 71–101 Walter, Bernd: Biologistisches Denken und Wandel des Menschenbildes in der Psychiatrie (1900–1945), in: Joachim Kuropka (Hrsg.), Clemens August Graf von Galen. Menschenrechte – Widerstand – Euthanasie – Neubeginn, Münster 1998, S. 163–183 Walter, Franz: Die Vernichtung lebensunwerten Lebens (Euthanasie), Archiv für Rechtsund Wirtschaftsphilosophie 16 (1922/23), S. 88–120 Walter, Tonio: Der Kern des Strafrechts. Die allgemeine Lehre vom Verbrechen und die Lehre vom Irrtum, Tübingen 2006 Wauschkuhn, Eugen: Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens, Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 24 (1922/23), S. 215–217 Weber, Heiko: Der Monismus als Theorie einer einheitlichen Weltanschauung am Beispiel der Positionen von Ernst Haeckel und August Forel, in: Paul Ziche (Hrsg.), Monismus um 1900. Wissenschaftskultur und Weltanschauung, Berlin 2000, S. 81– 127 Weber, Otto: Die Strafbarkeit der Teilnahme am Selbstmord, Heidelberg 1913 Weinberger, Ota: Reine Rechtslehre: pro und contra, in: Memoria del X. Congreso Mundial Ordinario de Filosofía del Derecho y Filosofía Social, Bd. 6, Symposia 2, México 1982, S. 23–37 Weingart, Peter/Kroll, Jürgen/Bayertz, Kurt: Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, Frankfurt a. M. 1988 Welzel, Hans: Abhandlungen zum Strafrecht und zur Rechtsphilosophie, Berlin 1975 – Das neue Bild des Strafrechtssystems, Göttingen 1951
Literaturverzeichnis
425
– Herbert Rauch [Dr. iur], Die klassische Strafrechtslehre in ihrer politischen Bedeutung (Rezension), Deutsche Literaturzeitung 1938, Sp. 679–682 – Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, Göttingen 1962 Wessels, Johannes/Beulke, Werner/Satzger, Helmut: Strafrecht Allgemeiner Teil, 44. Auflage, Heidelberg u. a. 2014 Westphalen, Daniela: Karl Binding (1841–1920). Materialien zur Biographie eines Strafrechtsgelehrten, Frankfurt a. M. u. a. 1989 Wieacker, Franz: Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Auflage, Göttingen 1967 Wilutzky, [?]: Dem Hunde einen Gnadenstoß, dem Menschen keinen, Das Recht 5 (1901), S. 458 Winau, Rolf: Die Freigabe der Vernichtung „lebensunwerten Lebens“, in: Johanna Bleker/Norbert Jachertz (Hrsg.), Medizin im „Dritten Reich“, Köln 1993, S. 164–174 Windscheid, Bernhard: Gesammelte Reden und Abhandlungen, Leipzig 1904 – Lehrbuch des Pandektenrechts, Band 1, Düsseldorf 1862 Wuketits, Franz M.: Eine kurze Kulturgeschichte der Biologie, Darmstadt 1998 Wüstholz, Florian N.: Selbstbewusstsein bei Tieren: begriffliche und methodologische Probleme, Studia philosophica 72 (2013), S. 87–101 Ziche, Paul: Wissenschaft und Weltanschuung – Monismus um 1900. Was heißt „sich an der Naturwissenschaft orientieren“?, in: ders. (Hrsg.), Monismus um 1900. Wissenschaftskultur und Weltanschauung, Berlin 2000, S. 3–8 Zippelius, Reinhold: Juristische Methodenlehre, 11. Auflage, München 2012 – Rechtsphilosophie, 6. Auflage, München 2011 Zitelmann, Ernst: Irrtum und Rechtsgeschäft, Leipzig 1879
Personen- und Sachverzeichnis Absolute Strafzwecktheorie 149–152, 191, 199 Adressatenproblem 160–167, 260–261 Allgemeine Rechtslehre 148, 176, 191, 218 Analogie 38, 57–58, 86, 136 Anstiftung 183–186 – zur Selbsttötung 341–344 Austin, John 76, 157, 227 Bacon, Francis 302–303 Bar, Carl L. v. 239–241, 247–248 Begriffsjurisprudenz 18, 22–23, 29–42, 62, 123, 138, 151–152, 227, 397 Bentham, Jeremy 76, 157, 227, 283, 291–293 Bergbohm, Karl M. 83–85, 153 Bierling, Ernst R. 50, 76, 93 Birnbaum, Johann M. F. 203–204 Blankettstrafgesetz 195, 254–255, 271, 279 Darwin, Charles 290, 294–296, 298–300, 314 Darwinismus 294–295, 314 Delikt 73–74, 121, 125–127, 130, 160– 162, 166, 182, 192–193, 202–204, 213, 216–217, 222, 268–270, 331, 334–335, 351 Determinismus siehe Indeterminismus Ehrlich, Eugen 43 Eigengesetzlichkeit des Rechts 27, 63– 88, 147, 280 Elster, Alexander 316–318, 321, 384, 387 Engisch, Karl 77, 107, 223, 328, 384 error facti siehe Tatbestandsirrtum
error iuris siehe Rechtsirrtum Esoterische Psychologie des Rechts 66– 71, 77, 82, 126 Etatismus 209, 213–216 Eugenik 282–283, 289, 291, 294–301, 310–315, 317–318, 327, 368, 375–376, 380, 390–393 Euthanasie 281–283, 287–289, 291, 293, 301–323, 326–329, 345–351, 357, 360, 367–369, 381–384, 386, 388–396, 400 Fahrlässigkeit 73–75, 123–127, 222, 340–341, 367, 371 Feuerbach, Ludwig 67, 287–289 Feuerbach, Paul J. A. von 19, 139, 173, 293, 334 Forel, August 290, 296–299, 391 Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens 19, 25, 156, 189, 208, 211, 221, 281, 399 Freiheit als Rechtsideal 54–57, 70, 79, 81, 145–146, 231 Früheuthanasie 327 Gerechtigkeit 34, 44–45, 53–61, 132, 140, 144–146, 193, 270 Gesetzesbefehl 99, 165–167 Gesetzespositivismus 23, 64 Gesetzlichkeitsprinzip 142, 254–255, 262, 389 Gewohnheitsrecht 36, 46, 244 Haeckel, Ernst 290, 293, 297–300, 310– 313, 315, 366, 368, 393 Handlung 73–76, 125–126, 222, 272, 275–278 Heck, Philipp 29–30, 32, 40, 62
Personen- und Sachverzeichnis Hegel, Georg W. F. 59–60, 67, 287–288, 292 Heinemann, Hugo 277–278 Historische Rechtsschule 28–29, 33–39, 42–44, 47, 53, 57–64, 84, 90, 100, 104, 118, 123, 136, 138–139, 143, 145, 149 Hobbes, Thomas 157 Hoche, Alfred E. 19, 324–328, 362, 371–381, 391–392, 394, 400–401, 403 Höhere Jurisprudenz 30–38, 138, 141, 144, 147 Hufeland, Christoph W. 303 Idealismus 36, 39, 49, 52–57, 61, 63, 67, 84–85 Imperativentheorie 76–80, 82, 142, 147– 148, 165–166, 227–232 Indeterminismus 66–71, 287, 296 Indirekte Sterbehilfe 345–350, 357, 367, 383, 389, 400 Induktion 31, 33, 38–42, 59, 62, 64, 86, 123, 141, 143, 145, 183–184, 186, 201, 220, 226–227, 264, 279, 397–398 Interessenjurisprudenz 29–30, 52 ita ius esto siehe Gesetzesbefehl Jellinek, Georg 208, 270 Jhering, Rudolf v. 26–33, 36–38, 40–43, 50–52, 62, 76, 90, 149, 151, 270, 272, 284 Jost, Adolf 301, 310, 312, 315–318, 337, 358–361, 364, 370–371, 375, 391–393 Kant, Immanuel 42, 52–55, 70, 80–82, 148, 292 Kategorischer Imperativ 52, 81 Kaufmann, Armin 17, 22, 154–155, 200, 232, 235, 249, 260, 264, 278 Kausalität 42, 71–74, 278, 350 Kelsen, Hans 43, 46, 52, 63–64, 77, 88, 144, 147–149, 151, 201, 238, 247–250, 263, 397, 403 Klassische Strafrechtsschule siehe Absolute Strafzwecktheorie
427
Kohler, Josef 88–92, 97–106, 134, 136 Kornfeld, Ignatz 43–44, 237 Kulturnormentheorie 51, 154, 232–235, 244, 261, 267–269 Laband, Paul 94, 99, 108, 153, 160, 165 Larenz, Karl 228, 231 Laun, Rudolf 235–236 leges imperfectae 58, 79–82, 147–148, 175, 187–188, 194, 235, 247 Liszt, Franz von 19, 124, 151, 212–213, 257, 265, 272–278, 293 Lucas, Hermann 240–241, 247 Lückenlosigkeitsdogma 35, 65, 83–85, 220 Materiales Unwertverständnis 187, 260– 262 Materialismus 67, 283–290, 297, 299 Mayer, Max E. 51–52, 154, 232–235, 244, 261, 267–269, 389 Menschenwürde 355–357, 364, 401–403 Merkel, Adolf 252, 259 Mittelbare Täterschaft 341–343 Moderne Strafrechtsschule siehe Relative Strafzwecktheorie Monismus 289–291, 297 Morus, Thomas 301–303, 313 Naturrecht 23, 28, 49–53, 63–65, 78, 129, 139–142, 145, 150, 211, 215–216, 248, 351–352, 386 Normentheorie 17–19, 21, 78, 151, 154, 325–326, 333–336, 338, 351, 389, 398–399 – Imperativistische Form der Normen 177, 179–180 – Kritik 18–19, 23, 27, 148, 151, 155, 199, 217, 226–278 – Normnachweis „aus dem Bedürfnisse“ 178–187 – Normnachweis aus dem Strafgesetz 167–178
428
Personen- und Sachverzeichnis
– Normnachweis unmittelbar aus dem Gesetz 187–188 – Präventionszweck der Norm 168, 181, 190–191, 193 – Rechtssatzqualität der Norm 169–189, 238–251 – Selbständigkeit der Norm 189–201, 241, 250, 252–264, 279 – Sozialnormen 122, 155, 168, 241–247 – Strafgesetz als Gesetzesbefehl 159– 167 – Trennung von Norm und Sanktion 159 – Umfang der Norm 158, 168, 170, 180–190, 198, 200–202, 218–221, 224, 240–241, 244–247, 255–264, 279, 330, 333, 352, 357, 398, 401 Normlogischer Positivismus 63–65 Notstand 220–221, 328–333, 357 Objektive Auslegungstheorie 21–24, 27– 28, 56, 61–62, 88–138, 141, 146–147, 178–179, 200, 202, 242–243, 245–247, 262, 332, 397–398, 401 Ordnungswidrigkeit 182, 266–267 Pelckmann, Fritz 385–386 Physisch Kranke 309–367, 391 Polizeidelikt siehe Ordnungswidrigkeit 182 Präventionszwecklehre siehe Relative Strafzwecktheorie Prinzipienjurisprudenz siehe Begriffsjurisprudenz Psychisch Kranke 305–312, 362–366, 368–371, 373–381, 391–395, 400 Puchta, Georg F. 32–36, 90, 101, 105 Radbruch, Gustav 41, 44–45 Rassenhygiene 297, 299–301, 314–315 Recht auf Leben 202–211, 305–311, 319, 323, 325, 335–338, 357, 364, 379–380, 387–388 Rechtmäßigkeit 211, 219–220, 256, 330, 334–340, 351, 355 Rechtsfähigkeit 377–378, 380 Rechtsfreie Räume 223–226, 355
Rechtsgutstheorie 158, 181–183, 187– 188, 201–218, 220–221, 225, 245–246, 258–261, 264–265, 267, 269, 272–275, 278, 330, 330–331, 334, 336, 343–345, 353, 356–358, 362, 372–373, 386, 388, 393 Rechtsirrtum 120–134, 232, 234 Rechtspositivismus 21, 47, 57, 62–65, 70, 76–77, 83–85, 87–88, 138, 147, 151, 168, 178, 201, 210, 214–216, 221, 247, 257, 259, 264, 271, 386, 397–398, 401 Rechtsrealismus 169, 227–238 Rechtswidrigkeit 56, 75, 125–128, 133, 158, 179, 187, 192, 203, 222–225, 256, 264, 269–270, 278, 333–335, 343, 355 Relative Strafzwecktheorie 149–152, 293 Rümelin, Gustav v. 66–68 Sanktionstheorie 77, 79–82, 147–148, 158, 176 Savigny, Friedrich C. v. 32–41, 90, 101, 105, 110, 139 Schaffrath, Wilhelm M. 91–94, 98 Schlesinger, Rudolf C. D. 94–97, 100, 105–106, 134 Schmitt, Carl 77 Schuld 66, 69, 75, 120–121, 125–126, 133, 150, 156, 158, 174, 186, 190, 192–193, 219, 222–223, 231–235, 262, 271, 277, 279, 335, 339–341, 343–345, 351, 356, 358, 390 Schulenstreit 149–152 Schwangerschaftsabbruch 223–225, 256, 372 Selbstbewusstsein 310, 372, 376–379, 391–392, 400 Selbsttötung 214, 221, 305–308, 320, 328, 332–345, 348, 350–353, 355, 390 Sozialdarwinismus 291, 295–301, 327– 328, 393 Subjektive Auslegungstheorie 43, 95, 97, 101, 103, 106–107 Szientismus 44, 152, 283–293, 300–301
Personen- und Sachverzeichnis T4 19, 24, 323, 395, 400 Tatbestandsirrtum 122–134 Teleologie 41, 43, 47, 60–61, 76, 108– 109, 113–119, 136–138, 146, 148–149, 168, 177–187, 195, 197–198, 200, 212–213, 218, 237, 242, 244–247, 258, 263, 348–349, 352, 389–390 Thibaut, Anton F. J. 139, 145 Thöl, Johann H. 93–94, 96–98, 105 Thon, August 50, 76–79, 82, 176, 227– 232, 257 Tötung auf Verlangen 115–117, 211, 301, 336–337, 352–357, 359–360, 362– 363, 377, 380, 386–388, 392 Unverbotenheit 179, 211, 218, 220–226, 326, 328–329, 338–345, 349–360, 365, 369–370, 384, 390 Urheberschaft (Verbrechenssubjektsform) 183, 187, 279, 339, 341, 343 Utilitarismus 23, 283, 291–293, 296, 301, 304–306, 309, 376 Verbrechen 48, 51, 72, 126, 162, 164, 171, 181–182, 203–204, 209, 216–218, 265–272, 353
429
Vergeltungszwecklehre siehe Absolute Strafzwecktheorie Verleitung zur Falschaussage 183, 185 Vernunft im Recht 34–35, 45, 53, 57–61, 101, 119, 135, 137, 146 Vernunftrecht 28, 49, 53, 58, 65, 81, 139, 351 Volksgeist 33–37, 43, 53, 100, 104, 118, 135 Voluntarismus 29, 42–63, 64, 118, 135– 137, 145–146 Vorsatz 54, 73–75, 123–134, 156, 174, 185, 270, 339–340, 347, 349, 371 Wach, Adolf 88–92, 97–106, 134, 252, 256, 258–259 Wächter, Carl G. v. 19, 120, 138–141, 145 Werterelativismus 247, 398, 401 Wertungsjurisprudenz 29 Wille im Rechtssinne 72–76, 125–126 Windscheid, Bernhard 26, 90, 101–102, 105