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German Pages 265 Year 1997
E RFAHRUNG U ND D ENKEN S c h r i f t e n z u r Fö rd e r u n g d e r B e z i e h u n g e n z w i s c h e n Ph i l o s o p h i e u n d Ei n ze l w i s s e n s c h a f t e n
Band 80
Die Semantik der Kommunikation Die Schaffung von Sinninhalten in Kunst, Wissenschaft und bei der Ausübung einer unternehmerischen Tätigkeit
Von
Piero Trupia
Duncker & Humblot · Berlin
ERFAHRUNG
UND
DENKEN
Schriften zur Förderung der Beziehungen zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften
Herausgeber Helmar Frank (Paderborn), André Mercier (Bern), Kurt Schelldorfer (Birsfelden).
Beirat Th. Ballauff (Mainz), H. Coing (Frankfurt), H. Heimann (Tübingen), G. Pilleri (Paciano), F. Wagner (Kreuth), M. Waldmeier (Zürich)
Schriftleitung Kurt Schelldorfer
Hinweise 1. Der Zweck der Schriften „Erfahrung und Denken" besteht in der Förderung der Beziehungen zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften unter besonderer Berücksichtigung der „Philosophie der Wissenschaften". 2. Unter „Philosophie der Wissenschaften" wird hier die kritische Untersuchung der Einzelwissenschaften unter dem Gesichtspunkt der Logik, Erkenntnistheorie, Metaphysik (Ontologie, Kosmologie, Anthropologie, Theologie) und Axiologie verstanden. 3. Es gehört zur Hauptaufgabe der Philosophie der Gegenwart, die formalen und materialen Beziehungen zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften zu klären. Daraus sollen sich einerseits das Verhältnis der Philosophie zu den Einzelwissenschaften und andererseits die Grundlage zu einer umfassenden, wissenschaftlich fundierten und philosophisch begründeten Weltanschauung ergeben. Eine solche ist weder aus einzelwissenschaftlicher Erkenntnis allein noch ohne diese möglich.
PIERO
TRUPIA
D i e Semantik d e r K o m m u n i k a t i o n
E R F A H R U N G
U N D
D E N K E N
Schriften zur Förderung der Beziehungen zwischen Philosophie u n d Einzelwissenschaften
Band 80
D i e Semantik der Kommunikation D i e Schaffung v o n Sinninhalten i n Kunst, Wissenschaft u n d bei der Ausübung einer unternehmerischen Tätigkeit
νΩη Prof. D r . Piero Trupia
Duncker & Humblot · Berlin
Übersetzung aus dem Italienischen von Claudia Pfeiffer, Rom. Die Durchsicht besorgte Univ.-Doz. Gioachino Fraenkel, Bozen. Die Originalausgabe ist im Verlag Edizioni Unicopli, Milano, 1992 erschienen.
D i e Deutsche B i b l i o t h e k - C I P - E i n h e i t s a u f n a h m e
Trupia, Piero: D i e S e m a n t i k der K o m m u n i k a t i o n : die S c h a f f u n g v o n S i n n i n h a l t e n i n K u n s t , Wissenschaft u n d b e i der A u s ü b u n g einer u n t e r n e h m e r i s c h e n T ä t i g k e i t / v o n Piero T r u p i a . [Übers, aus d e m I t a l . v o n C l a u d i a Pfeiffer]. - B e r l i n : D u n c k e r u n d H u m b l o t , 1997 ( E r f a h r u n g u n d D e n k e n ; B d . 80) I S B N 3-428-08875-1
A l l e Rechte v o r b e h a l t e n C o p y r i g h t der i t a l i e n i s c h e n Ausgabe: © 1992 E d i z i o n i U n i c o p l i , M i l a n o C o p y r i g h t der deutschen Ausgabe: © 1997 D u n c k e r & H u m b l o t G m b H , B e r l i n Fremddatenübernahme u n d Druck: Berliner Buchdruckerei U n i o n GmbH, Berlin Printed in Germany I S S N 0425-1806 I S B N 3-428-08875-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ©
Geleitwort Das Buch von Piero Trupia, das ich hier vorstelle, setzt sich - in einem sehr flüssigen und eingängigen Stil und einer eher unüblichen Sicht der Dinge - mit einem der Zentralthemen der modernen Wissenschaft, und zwar nicht nur der Sozialwissenschaft, auseinander: nämlich dem der Sondermerkmale der sprachlichen Kommunikation. So ist es kein Zufall, daß eine der ersten Aussagen von Trupia kritisch zum allgemein bekannten Titel eines berühmten Buches von Me Luhan & Fiore „Das Medium ist die Botschaft" Stellung nimmt. Nach Trupia ist die Botschaft eine sinnvolle Mitteilung, die nicht mit dem sie übermittelnden Medium identifiziert werden darf; und zwar auch dann nicht, wenn das Medium an der Verbreitung der Botschaft erheblich beteiligt ist; und wenn deren „Aufwertung" durch das Medium und der Sinninhalt der Mitteilung sich gegenseitig beeinflussen können. So ist es kein Zufall, daß sich für einige groß aufgemachte Fernsehshows, so führt Trupia weiter aus, die Feststellung machen läßt: Je aufwendiger das Medium, desto sinn- und inhaltsärmer die Botschaft. Man kann also sagen, daß die effiziente Kommunikation, das Hauptthema des Buches, nicht auf das „Medium" reduziert werden darf; denn eine Mitteilung, die in der Absicht des Sprechenden auch eine wirkungsvolle Kommunikation zustande bringen soll, muß immer sinnvoll sein. Ihr Inhalt muß vom Empfänger als relevant betrachtet werden und ein zwischenmenschliches Interesse in Form einer „auslegenden Mitarbeit" hervorrufen. Selbst wenn die Botschaft auf das Publikum nicht unmittelbar überzeugend wirkt, bleibt sie trotzdem Kommunikation, und zwar dann, wenn es ihr gelingt, einen Dialog, einen Gedankenaustausch und eine Diskussion hervorzurufen. Hieraus ergibt sich die Bedeutung, die der Verfasser der Untersuchung der Kommunikationssemantik beimißt; weshalb er sie vor die Syntaktik und die Semiotik stellt. Dabei sieht er in der Botschaft nicht nur ihren ursprünglichen kommunikativen Anspruch, sondern auch ihre vom jeweiligen semantischen Beitrag der Gesprächspartner geleistete Bereicherung. In diesem Zusammenhang übernimmt der Autor ein Denkmodell, mit dem er den Spuren der von Husserl beeinflußten Wissenschaftler der Zweiten Kybernetik folgend - eine Verbindung zwischen linguistisch-semantischen und phänomenologischen Ansätzen sucht. In diesem Modell ist es, so Trupia, nicht so sehr die Wahrheit oder die Gültigkeit des syntaktischen Aufbaus einer sprachlichen Mitteilung, auf die es ankommt, sondern vielmehr die Erwartungshaltung der jeweiligen Gesprächsteilnehmer. Jeder von ihnen, so könnte man sagen, versetzt sich in den an-
6
Geleitwort
deren, bevor er das Gesagte auslegt. Auf diese Weise kommt ein Prozeß des Gedankenaustausche zustande, in dem der Kommunikationsinhalt von beiden Gesprächspartnern - sozusagen in einer progressiven gegenseitigen Annäherung - allmählich herausgearbeitet wird; dies gilt vor allem dann, wenn bei ihnen nicht dieselben Vorstellungen herrschen. Von diesen Überlegungen ausgehend entwickelt der Autor eine Reihe von Beispielen und Taxonomien, die bisweilen umgangssprachlich, bisweilen wissenschaftlich-technisch formuliert sind, und die sich auch auf die Unternehmenskommunikation ausdehnen lassen. In seiner Arbeit entwickelt Trupia eine folgerichtige gedankliche Untersuchungslinie, die zu Erkenntnissen führt, die im kürzlich erschienenen Werk eines der weltweit bedeutendsten Forscher auf dem Gebiet der kognitiven Wissenschaften, des Biologen und Erforschers der künstlichen Intelligenz, Henry Atlan, eine Bestätigung finden. Trupia schreibt, daß „die Einfachheit der Botschaft mit ihrer kommunikativen Wirksamkeit und Unmittelbarkeit nicht immer eine Fähigkeit zur Information über den Gesprächsgegenstand gewährleistet", woraus, so schließe ich, die semantische Relevanz selbst Zweideutigkeiten und komplexe Vielschichtigkeiten hervorbringen kann. Gerade in diesen Aussagen wird der Autor bei Atlan Unterstützung finden. „Eine Sprache ohne Zweideutigkeit", so hat Atlan kürzlich geschrieben - „kann selbst ohne Sinninhalt bestehen". Als Beispiel aus der mathematisch-logischen Sprache läßt sich eine eindeutige Übereinstimmung zwischen den einzelnen formalen Zeichen und einer Struktur mit völlig bedeutungslosen Zeichen/Symbolen anführen. Und dennoch, so schreibt Atlan weiter, „sind Begriffe wie ,einfach' und Komplex' den Dingen nicht immanent".1 Achille Ardigò
1
(Siehe H. Atlan, L'intuition du complexe et ses théorisations, in F. Fogelman Soulié, Les théories de la complexité . Autour de l'oeuvre d'Henry Atlan , Ed. Seuil, Paris, 1991, S. 9-42 und 31-32, 35 passim.)
Inhaltsverzeichnis
/. Kapitel: Die Fakten
11
1.1. Ist Medium gleich Botschaft?
14
1.2. Semantisieren, um mitzuteilen
22
1.3. Die auslegende Mitarbeit
24
2. Kapitel: Das Modell
29
2.1. Die Kommunikation als Gegenstand der Wissenschaft
29
2.2. Der Kommunikationsvorgang
32
2.3. Die ersten drei allgemeinen Merkmale der Kommunikation
33
2.4. Das Relevanzprinzip
35
2.5. Zwei weitere allgemeine Merkmale der Kommunikation
43
2.6. Rechtfertigung des Modells der fünf allgemeinen Merkmale
45
2.7. Ein Blick auf die Modelle der exakten Wissenschaften
47
2.8. Das Tarski-Modell und seine Ausdehnbarkeit auf die Sozialwissenschaften
49
3. Kapitel: Das semantische Universum
58
3.1. Wahr, falsch, sinnhaft, vernünftig, möglicherweise inhaltsreich
58
3.2. Die neue Rhetorik
59
3.3. Wahrheit und Kenntnis
61
8
Inhaltsverzeichnis
3.4. Die Schaffung des Sinnhaften
62
3.5. Das Sinnhafte und das Tatsächliche
64
3.6. Der Sinn als „Bedeutung für mich"
69
3.7. Das Subjekt und das Recht auf Sinnhaftigkeit
71
3.8. Die semantische Herausforderung. Von den Zeichen zu den Semen
73
3.9. Der Sinn des Sinnhaften
75
3.10. Ein neues Auslegungsmodell für die Schöpfung des Sinnhaften
77
3.11. Die Pfade und Autobahnen des Sinnhaften
78
3.12. Sieben Arten des Sinnhaften
79
4. Kapitel: Welt und Sprache
86
4.1. Das Erlebte in der Kommunikation
86
4.2. Die analytische Philosophie - die Umgangssprache
88
4.3. Das „Naming"
94
4.4. Klassifizierungen
97
4.5. Die Abwertung der Sprache
98
4.6. Prädikate und Konnektoren
99
4.7. Texte und Erzählungen. Sechs sinnvolle Informationsformen
5. Kapitel: Die semantischen Tiefenstrukturen
101
110
5.1. Text und Feintext
110
5.2. Modelle des Erzählens
114
5.3. Die Rechte der Referenz
121
Inhaltsverzeichnis 5.4. Mit Worten arbeiten, mit Worten aktiv werden
122
5.5. Drei funktionsbezogene Diskursfunktionen
123
5.6. Die symbolische Betriebslandschaft nach Pasquale Gagliardi
130
6. Kapitel: Die Aufbaubedingungen des Diskurses
133
6.1. Aufbauformen
133
6.2. Anwendungsfälle und Beispiele
134
6.3. Ein Beispiel aus dem Werk von Joyce. Vorhaben und Situation
142
6.4. Entlasteter und Herausforderer in der Interaktion beim Diskurs
150
6.5. Noch einmal zu Joyce. Drei Formen konstruktiver Semantik
151
6.6. Die Schmährede
152
6.7. Bedingungen für die „glückliche" Rede
153
6.8. Sprechakte
155
6.9. Die Deixis der „Wremja"
162
7. Kapitel: Die Kommunikation und die Phänomenologie des Dinges
167
7.1. Das phänomenologische Paradigma als kognitive Revolution
167
7.2. Der phänomenologische Gedanke und die Tradition
179
7.3. Das husserlsche Paradigma am Werk
181
8. Kapitel: Die Anwendung der phänomenologischen Methode
186
8.1. Der schizophrene Geist
186
8.2. Die technologische Innovation
189
10
Inhaltsverzeichnis
8.3. Die Entwicklung des Mezzogiorno
190
8.4. Flexibilität des phänomenologischen Paradigmas im Falle anderer Anwendungen
190
8.5. Unendlichkeit: der Begriff und das „Ding"
192
8.6. Das Lebensleid in 49 Worten
195
8.7. Wie die Kreativität verstehen, wie sie handhaben?
196
8.8. Kreativität: Beispiele
198
8.9. Die Kreativität eines Modeschöpfers
199
8.10. Die kognitiven Bestandteile der Kreativität, jenseits vom lateralen Gedanken —
200
8.11. Die Firmenbilanz und die Firma als „Ding"
203
8.12. Kreativität: ein Lexikon für den phänomenologischen Ansatz
206
Zusammenfassung
258
Bibliographie
261
1. Kapitel: Die Fakten
Kommunikationstheorie und -praxis sind heute ein wesentlicher Bestandteil der Gesellschaft und insbesondere der Welt der Arbeit. Ausdrücke wie Fernsehpublikum, Talk-show, Sendung, Einschaltquote, Unterhalter, einst Fachwörter, gehören heute zur Umgangssprache selbst einfacher Leute. Der Grund dafür ist die große Verbreitung, die die Massenkommunikation gefunden hat. Für viele Menschen besteht die Wirklichkeit nur aus dem, was sie auf dem Bildschirm gesehen haben: „Ich habe es im Radio gehört"; „Ich habe es im Fersehen gesehen" - so die Schlagworte unserer Zeit. Selbst in den Klassenzimmern wird das Wort, einst einziges Mittel zur Weitergabe des Wissens, durch Projektionen, Schaubilder, Zeichungen und Folien ersetzt. Alles durchaus bewährte Mittel, die aber - so steht zu befürchten - weit von der Wirksamkeit und gedanklichen Aussagekraft der gesprochenen Sprache, des „Ausdrucks", entfernt sind. Die von Galilei ins Leben gerufene „moderne" Tendenz, die Realität zu erfassen, indem man sie auf einige gedanklich überschaubare Erkenntnisse reduziert, geht heute weiter und wird auf die Spitze getrieben. Die mittelalterliche Zusammenfassung des Wissens in der Kosmogonie wird in der Moderne durch die Abstraktion und in der Postmoderne durch symbolische und ideographische Zeichen ersetzt, deren überzeugende und direkte Ausdrucksformen die Comics, der Werbespot, der Videoclip usw. sind. Im Fernsehen ist es an der Tagesordnung, einen bekannten Wissenschaftler mit folgenden Worten aufzufordern, seine Ausführungen abzuschließen: „Wir haben noch ein paar Sekunden bis zum Ende der Sendung. Können Sie bitte in wenigen Worten Ihre Botschaft an die Jugendlichen von heute zusammenfassen (oder was man tun kann, um den Planeten zu retten, oder in welchen Fällen man die aktive Euthanasie praktizieren darf)". Den Gelehrten erschüttert dies nicht; hat er doch sein Schlagwort bereits vorbereitet. Am besten, wenn es in Form einer Metapher dargeboten wird; er weiß ja, je einfacher es ist, desto eher kann sich eine große Zuhörerzahl daran erinnern und es mit seiner Person oder seinem Image als „Fernsehgelehrten", sozusagen als „Wissenschaftler in Kurzform", in Verbindung bringen. Eines der Anliegen dieses Buches ist es zu zeigen, daß die Unmittelbarkeit der Kommunikation, also die Einfachheit der Mitteilung, nicht immer eine ausreichen-
12
1. Kap.: Die Fakten
de Information über den Mitteilungsgegenstand übermittelt. Kann dieser doch durch die Arroganz der Medien selbst sinnentfremdet und durch die „einfache und zutreffende" Sprache verdunkelt werden. Ich habe fünf Werke über die Relativitätstheorie - darunter eines von Bertrand Rüssel und eines in Comicform - gelesen, bis ich zur Überzeugung gelangt bin, daß die Lektüre des Textes von Einstein für mich die einzige Möglichkeit für das Erfassen seiner Überlegungen und Erkenntnisse ist. Auch in der kritischen Analyse der Kommunikationsprozesse ist man bisher über eine oberflächliche Betrachtung nicht hinausgekommen. Die zahllosen Werke zu diesem Thema - insbesondere wenn sie für Experten bestimmt sind - enden normalerweise damit, daß auf die Kommunikationsmedien eingegangen wird. Es gilt das Schlagwort von McLuhan: „Das Medium ist die Botschaft" 1. Wenig Aufmerksamkeit wird hingegen dem Aufbau der zu übermittelnden Mitteilung, ihrer Struktur, ihrer Fähigkeit zur inhaltlichen Darstellung und den Umfeldbedingungen und -faktoren gewidmet. So fragte Walter Mondale die Wähler in der Präsidentenwahlkampagne von 1980 unter Anspielung auf seinen Gegenspieler Gary Hart, der, wie er, für die Vizepräsidenschaft in den Vereinigten Staaten kandidierte: „Was will er eigentlich?" („Where is the beef?") la ; zweifelte er doch daran, daß der gutaussehende, sportliche, photogene Hart trotz seiner großen Medienwirksamkeit die Aufmerksamkeit der Massen auf sich zu lenken imstande sein würde. Eine Vertiefung der (logischen, epistemologischen) Grundlagen und der semantischen Struktur, wie auch der Praxis und der Theorie der Kommunikation sollte meiner Meinung nach nun nicht mehr aufgeschoben werden. Vor allem, wenn man an die Hörsäle in den Universitäten oder die Stätten für die Managerausbildung denkt, wo zum Glück die seinerzeitige Vorlesung in Vortragsform unter dem Motto des „gestern führten wir aus, daß ..." nicht mehr praktiziert wird, wo man aber dringend der neuen sich gefährlich im derzeitigen Lehrwesen ausbreitenden Tendenz zum Dozenten-Showman entgegenwirken sollte. Die anschließenden Ausführungen wollen Aufschluß über die Bedeutung des Textinhaltes für die Textstruktur geben, ob es sich nun um einen gesprochenen, einen geschrieben Text, einen akademischen Text oder um den Text einer Gebrauchsanweisung usw. handelt. Damit ist das Ziel verbunden, dem Mitteilenden (Redenden) und dem Empfänger der Mitteilung (Zuhörenden), also den Teilnehmern am Kommunikationsprozeß, einige Anregungen zu geben, um diesen Prozeß lebhafter, nützlicher, informa1 M. McLuhan, Q. Fiore, II Medium è il Messaggio , Feltrinelli, Milano, 1968. Dieses im Rahmen des Schrifttums von McLuhan nicht besonders wichtige Werk wurde leider mit seinem Titel zum Schlagwort und Bezugspunkt der heutigen „Intelligentsia" . la „Where is the beef ?" bedeutet wörtlich: wo ist das „Fleisch" (im Hamburger), also wo ist die Substanz oder der Kern der Sache.
1. Kap.: Die Fakten
tiver zu gestalten und vor allem die Zusammenarbeit der Gesprächspartner zu aktivieren. Ich möchte Arnold Gehlen2 in Erinnerung rufen, um ein Kommunikationsverhalten zu empfehlen, dessen Bedeutung - so hoffe ich - durch die Lektüre dieses Buches bestätigt wird. Bei diesem Verhalten handelt es sich - um mit Gehlen zu sprechen - darum, aus der Rolle des „Entlasteten" herauszugehen, um in die des „Herausforderers" zu schlüpfen. Dabei wird auf den Kenntnisbereich Bezug genommen, in den wir alle - bewußt oder unbewußt - unsere Kommunikationserfahrungen einbringen. Als ich während meiner Niederschrift darüber nachdachte, was ich nun schreiben sollte, und in meinen Unterlagen nachlas, habe ich mich wohl selbst in den Bereich des „Herausforderers" begeben. Das Ergebnis mag ein wenig trocken wirken; bei der Suche nach neuen Ideen und Begriffen und bei der Formulierung habe ich es selbst gemerkt. Aber dafür verfüge ich nun über einen genaueren und ausgedehnteren Wissensstand über das Wesen der Kommunikation und habe klarere Vorstellunge darüber, nach welchen Verfahren sie geschaffen und weitergegeben wird. Eines dieser Verfahren ist die „Auslegung durch Mitarbeit". Sartre sagte einmal, der Leser sei der Ko-Autor des gelesenen Textes: während er ihn liest, schafft er ihn neu, oft auch über den Gedankenhorizont des Autors hinaus3. Dieses Buch besteht aus mehreren Teilen. Im ersten, methodologischen Teil schlage ich ein epistemologisches Modell des „Kommunikationsvorganges" vor (letzten Endes ist der Kommunikationsvorgang der wahre Gegenstand meiner Untersuchung). In den anschließenden realitätsbezogenen Teilen werden dessen Merkmale und Ergebnisse untersucht - ζ. B. mit Bezug auf die Verhandlung - und es wird auf die Glücksbedingungen hingewiesen; es ist dies der Fachausdruck für die gute Formulierung des Gesagten und für den Einsatz des ganzen Könnens des Sprechenden im Gesagten. Es ist mir ein Anliegen zu erreichen, daß meine Leser diese Abhandlung als echte Kommunikationserfahrung erleben; daß sie bei ihrer Auslegung „mitarbeiten" und daß sie die Mitteilungsinhalte teilweise zustimmend, teilweise ablehnend für sich selber „neuschreiben". Möglicherweise findet der Leser einige Teile des Buches schwierig und verworren; und zwar die, in denen versucht wird, das rationale und begriffliche Fundament des „Gesagten" zu analysieren, um zu erfassen, nach welcher Logik die Worte jeweils erzeugt, „ins Spiel gebracht" und weitergeleitet werden. Dabei wurde ich schon mehrmals darauf aufmerksam gemacht, daß es sich bei einem Vorgehen mit praktischer Zielsetzung - beispielsweise wenn es darum geht, 2
A. Gehlen, L'Uomo, la sua natura e il suo posto nel mondo, Feltrinelli, Milano, 1983. J. P. Sartre, Che cosa è la letteratura , Il Saggiatore, Milano, 1960. Die Auslegung durch Mitarbeit ist das zentrale Thema dieser Abhandlung. 3
14
1. Kap.: Die Fakten
die Kommunikation und insbesondere die Lehrdidaktik konkret zu verbessern nicht lohnt, viel Zeit auf die Theorie zu verwenden. Trotzdem bin ich der Meinung, daß die Theorie das Wurzelgeflecht ist, das den Stamm mit seiner Laubkrone im Boden verankert, ihn stützt und nährt. Die Laubkrone stellt in dieser Metapher die wenigen Grundsätze und „Leitlinien" dar, in denen sich die Praxis einer wirkungsvollen Kommunikation zusammenfassen läßt. Ich habe zuviel Respekt vor meinem Leser, um ihm ein Paket gebrauchsfertiger Grundsätze und Richtlinien zu übergeben. Ich habe es bereits gesagt: heute geht es darum, in vielen Bereichen, u. a. in der Kommunikation, aus der „Entlastung" herauszugehen, um der „Herausforderung" gegenüberzutreten. Um nur ein Beispiel zu nennen: die Komplexität, von der so viel gesprochen wird, darf nicht als eine „Nacht, in der alle Katzen grau sind" verstanden werden; auch nicht als völlige Indifferenz oder als ein Alibi für den Verzicht auf Forschung, auf Erkenntnis und auf ein echtes Verständnis des Wenigen, das wir begreifen können. So möchte ich nicht, daß an die Stelle der sicherlich trockenen „Theorie der Beweisführung" das immer wieder vorgebrachte Argument des „Das hat mir mein Schwager gesagt, der bei... arbeitet „ oder - im selben Sinn - „Das passiert so bei Suhimoto in Japan" tritt. Der Beweis wird in diesen Fällen mit Berufung auf das Beispiel erbracht. Sollte also die Theorie der Beweisführung nicht den Anforderungen entsprechen, werden auch äußerst nützliche Grundsätze und Richtlinien nur zu provisorischen Ergebnissen führen, die dann anhand von Theorien überarbeitet werden müssen, die sich ständig mehr von der Wirklichkeit entfernen 4.
1.1. Ist Medium gleich Botschaft? Zu den entscheidenden Ereignissen, von denen jeder von uns träumt oder die zu erleben er selbst fürchtet, gehört auch ein Gespräch mit einem Scharlatan, der uns irgendwo für wenig Geld ein Heilmittel verkauft, „das alle Schmerzen lindert"; oder ein Orakel, das uns unumwunden sagt, was uns bevorstehe (das machen die Horoskope täglich). Eine Antwort auf alle Fragen geben die totalitären Ideologien, die damit allerdings eine Art „geistiger Trägheit" schaffen, wie sich Sartre mit Bezug auf den Marxismus leninistischer Prägung ausdrückte, der eine endgültige und allgemeine Lösung des Sozialproblematik und der Probleme des Menschen in Ge4
G. C. Lombardi bemüht sich seit Jahren für den Spitzenverband der italienischen Industrie (Confindustria) um eine enge Zusammenarbeit zwischen Universität und Industrie im Interesse der wissenschaftlichen Forschung. Zu diesem Zweck hat er ein Abkommen mit der Universität von Siena zur Einführung vom Abschlußdiplom des „Doktors in Kommunikations-Wissenschaft" abgeschlossen.
1.1. Ist Medium gleich Botschaft?
15
sellschaft, Geschichte und Welt entwickelt hatte. Dasselbe läßt sich übrigens von allen totalitären Ideologien sagen, die immer wieder untergehen und in neuer Form immer wieder auferstehen. Bei den Vorbereitungsarbeiten für diese Untersuchung habe ich die Allgemeine Semantik von Korzybski entdeckt, einem gebildeten, vornehmen Polen, der in die Vereinigten Staaten auswanderte und der Anfang der dreißiger Jahre ein eingehendes, achthundert Seiten starkes Werk mit dem Titel Science and Sanity veröffentlichte5. Er wollte damit eine einsichtige, keineswegs komplizierte Anwendung der Semantik aufzeigen, um alle Probleme zu lösen, denen ein Mensch im Laufe seines Lebens begegnen kann. Er ging dabei vom Grundsatz aus, daß die Probleme auf zwischenmenschliche Kommunikationsschwierigkeiten zurückführbar sind und daß die daraus erwachsenden Schwierigkeiten also von einem mangelnden gegenseitigen Verständnis verursacht werden. So hätte man es eben mit einer semantischen Problematik zu tun. Von dieser Erkenntnis ausgehend - so Korzybski - „hätte der Mensch geistige Hygienemaßnahmen zu treffen, die dann zu positiven Auswirkungen nicht nur auf die Neurose, sondern auch auf ... die Zahnkaries führen". Wenn also - nach dem Gedankenmodell von Korzybski - in beiden Richtungen eine Kommunikation erfolgt, dann versteht man sich und verständigt sich gegenseitig: dann öffnet sich also in beiden Richtungen der Weg zur Nutzung und Verbreitung von wissenschaftlichen Ergebnissen, die Anfang der dreißiger Jahre noch als „herrlich und fortschrittlich" betrachtet wurden. Ich werde auf die Allgemeine Semantik und auf Korzybski zurückkommen, weil man meiner Meinung nach auch heute noch erfolgreich auf einige der Erkenntnisse in seinen Untersuchungen zurückgreifen kann. Die „Fragen" von Korzybski an die Semantik sind auch die unseren, da sie leider immer noch ohne befriedigende Antwort geblieben sind; allerdings sind sie heute besser durchdacht und zwar nicht zuletzt aufgrund einiger unzutreffender Erkenntnisse die sich dieser „großartige Wirrkopf 4 geleistet hat. Es ist das Verdienst von Noam Chomsky, eine Erneuerung eines Großteils der Semantik bewirkt zu haben. Vor allem aber hat er ihre Rolle in der Linguistik in ein ausgewogenes Verhältnis zur Syntax gestellt, die vom logischen Neopositivismus übermäßig in den Vordergrund gestellt worden war. Die Sätze erzeugen nicht nur einen Sinn, weil sie (syntaktisch) gut aufgebaut sind, sondern auch und insbesondere, weil sie über ein - zu einer (selbst erdachten) Wirklichkeit gehörendes Etwas berichten, das außerhalb der Mitteilung angesiedelt ist. Uns interessieren im Rahmen unserer Studie der Inhalt, der Aufbau und die Wege des „Bezuges" nicht. Es reicht aus zu wissen, daß er möglich und tatsächlich gegeben ist. 5 A. Korzybski, Science and Sanity, An Introduction to non Aristotelian neral Semantics, Science Press Printing, Lancaster (Penn.), 1933.
Systems and Ge-
16
1. Kap.: Die Fakten
Ausgehend von der referentiellen Sprache, die von einem Etwas außerhalb der Gesprächspartner spricht, interessiert uns die Information und Empfindungswirkung der Mitteilung auf den Gesprächspartner. Deshalb wird hier auf die Semantik der Kommunikation eingegangen. Ich beginne bei der Beziehung zwischen Semantik und Kommunikation, die mir beim derzeitigen Stand der Wissenschaft unbefriedigend erscheint. So bin ich insbesondere der Meinung, daß nicht alle neuen - auf die normale, spontane und berufliche Kommunikation anwendbaren - Gedankeninstrumente genutzt wurden, die sich aus den so bemerkenswerten wissenschaftlichen Erkenntnissen ergeben, die in den letzten drei oder vier Jahrzehnten in den beiden heute jeweils eher isoliert untersuchten Bereichen der Semantik und der Kommunikation gesammelt wurden. Der Kommunikation wird heute große Bedeutung beigemessen. Dies ist im Hinblick auf die Rolle der Kommunikation in der gegenwärtigen post-industriellen und post-modernen Informationsgesellschaft nicht weiter verwunderlich. Allerdings ist das geschehen, was immer geschieht, wenn man etwas hervorheben will: vom Kommunikationsprozeß wurde nur ein Aspekt, nämlich der technische Aspekt untersucht. So wurde dem Prozeß der Weitergabe die größte Aufmerksamkeit geschenkt. Hingegen wurde die Information als Produkt vernachlässigt, so daß die diesbezügliche Forschung nicht mehr weiterging 6: sie bewegte sich ständig auf den eingefahrenen Geleisen und beschränkte sich auf einige Themen mit Bezug auf die Massenmedien. Die Produktion von Mitteilungen hatte sich ihrerseits der bescheidenen Qualität der Massennachfrage angepaßt, die einfache Inhaltselemente verlangt. Diese Mitteilungen müssen demnach so gestaltet sein, daß sie beim Zuschauer oder Zuhörer in immer kürzerer Zeit und mit dem psychologischen und geistigen Aufwand von Unterhaltungssendungen aufgenommen werden können. Der Standard ist der eines Werbespots: 5-6 Sekunden für eine ganz einfache Mitteilung („gegen frühen Haarausfall: Shampoo X); 30 Sekunden für eine Erklärung; 2 Minuten für ein Interview; 6 Minuten für ein Radio- oder Fernsehstatement; 20 Zeilen für eine Erklärung in einer Tageszeitung; 40 für ein Interview in einer Zeitschrift. Ungewohnte Worte sind zu vermeiden; toleriert werden technische Ausdrücke nur, sofern üblich, und nur dann, wenn sie einem „Fachjargon" angehören, der gerade „in" ist. In der Fußballsprache werden beispielsweise auch fremdsprachige Ausdrücke geduldet wie der inzwischen ins Italienische übergegangene „corner" („Eckball"), oder wie sonst für den Laien unverständliche Ausdrücke wie „.assist " (beistehen) oder npressing " (an die Wand drücken). Begriffe wie „Charakteristikum" oder „Axiom" werden - da zu gewählt - von den Medien gemieden. Die Massenkommunikation findet hingegen zu einer formbezogenen Raffiniertheit als Folge der Medienvielzahl und -Vielfalt, in der Presse durch Photo, Farbe 6
Es ist dies das Ergebnis eines vorausgegangenen Produktionsprozesses zu verstehen.
1.1. Ist Medium gleich Botschaft?
17
und geschickte Graphik: auf dem Bildschirm durch Töne und Lichter, Musik, Ballet und Sondereffekte. Die Radioprogramme zeichnen sich dabei durch größere Nüchternheit zumindest dann aus7, wenn sie informieren oder kulturell hochwertig sein wollen; sonst (bei Musikprogrammen, Hitparaden) besteht das Hauptanliegen darin, die Ruhe zu durchbrechen und den Äther mit Worten und Klängen zu füllen. Nicht nur die durch Zögern entstandenen Sprechpausen, sondern auch die Pausen zur Verstärkung der Redeeffekte weisen auf mangelnde Beherrschung dieses Mediums hin. Die Stille erzeugt Bedrückung; eines der Hauptanliegen der Medien ist es, sie nicht aufkommen zu lassen. Meine offensichtliche Unzufriedenheit läßt sich nicht auf eine Art „snobistischer Distanz" zur laufenden Handhabung der Massenkommunikation zurückführen. Ich vertrete hingegen die Ansicht, daß es auch eine informatorisch reiche und trotzdem wirksamere und ansprechendere (Massen- oder Nicht-Massen-)Kommunikation geben kann. Sie läßt sich durch eine dem genutzten Medium technisch angepaßte Handhabung erreichen: angepaßt im Sinne der einprägsamen Unterhaltung in der Darstellung, aber auch der beeinflussenden Information und Kritik. Die Breitenwirkung des Mediums steht nicht im Gegensatz zu inhaltlich hochwertigen Programmen: dies ist meine These, die ich auch an Beispielen darzulegen versuchen werde. Zu einer wirkungsvollen, stimulierenden und inhaltsreichen Kommunikation bedarf es auch semantischer Mittel und nicht nur irgendwelcher Instrumente und Kanäle, also ,,Medien". Sie nicht sinnvoll einzusetzen bedeutet, sie nicht angemessen zu nutzen: ist es doch ihre Aufgabe, als Informationsinstrument einen vorgegebenen Inhalt zu übermitteln; und zwar, ihn so ansprechend zu gestalten, daß er „ankommt". Marshall McLuhan und Quentin Fiore haben sich - so scheint es - gegen diese These ausgesprochen. Wie fast allen großen Persönlichkeiten wurde auch McLuhan das Unrecht zugefügt, daß man ihm beim Wort nahm. So wurde der deutlich übertriebene Titel seiner Abhandlung „Das Medium ist die Botschaft" zum Schlagwort und zu ,,Konventionellem Wissen" 8. „Medium e Messaggio" („Medium und Botschaft") ist hingegen der Titel eines Werkes von Sergio Lepri aus dem Jahre 19869. Lepri, langjähriger Direktor der italienischen Presseagentur ANSA, weiß sehr wohl, daß der Agenturbericht (also diese Art von „Medium") eine Nachricht enthält, die ihrerseits eine zu berichtende Tatsache voraussetzt.
7
Ich beziehe mich auf die RAI (Staatliche Italienische Rundfunk- und Fernsehanstalt). M. McLuhan, Q. Fiore, op. cit. 9 S. Lepri, Medium e Messaggio. Il trattamento concettuale e linguistico delVinformazione , Gutenberg 2000, Rom, 1986. 8
2 Trupia
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1. Kap.: Die Fakten
Die Agenturkurznachricht hat bestimmt einen ihr eigenen beschreibenden und berichtenden Stil, der niemals der einer Abhandlung, eines juristischen Berichts oder eines Kurzromans sein kann. Und trotzdem, selbst in ihrer formalen Unabhängigkeit ist sie Glied einer Kette, die beim Ereignis beginnt und mit der Zeitungsnachricht oder vielleicht mit zwei Zeilen in einer knappen Presseübersicht ihr Ende findet. Es handelt sich um die semantische Kette bei der Produktion einer Nachricht, die in die Gestaltungs- und Verbreitungsprozesse eines Mediums eingeht, das den informatorischen Inhalt dieser Nachricht bis zur Massendimension ausweitet. Voraussetzung bleibt allerdings stets das ursprüngliche Geschehen und die diesbezügliche Mitteilung. Im Zentrum der vorliegenden Untersuchung steht also die Erkenntnis, daß Medium und Mitteilung verschiedenartige Phänomeme aufgrund unterschiedlicher Erzeugungs- und Nutzungsregeln sind und daß die Informationskette von der Mitteilung zum Medium oder zu verschiedenen Medien gehen muß, wenn dieselbe Mitteilung über verschiedene Informationskanäle verbreitet wird. Form und Wirkung dieser verschiedenen Umsetzungswege mögen unterschiedlich sein; es ist also jeweils eine dem Medium entsprechende Überarbeitung der Nachricht vorzunehmen 10 . Der ursprüngliche Inhalt muß allerdings stets erhalten bleiben11. In den vergangenen dreißig Jahren hat sich die Aufmerksamkeit der Kommunikationsexperten und des Publikums auf die Medien konzentriert und deren erstaunliche Fähigkeit zur Vervielfältigung der Information und zu deren ausgedehnter Verbreitung selbst bei den kaum daran interessierten Menschen untersucht. Diese Verbreitung ist an sich natürlich, möglicherweise selbst die Folge des Mangels an neuen Informationen und der Abnützung von Ideologien und Wertvorstellungen. Wie bereits erwähnt, kamen die Vorstellungen über das, was in der (mehr oder weniger stark manipulierten) Masseninformation „modern" ist, in den vierzig Jahren zwischen 1890 und 1930 auf. Das „Post-Moderne" ist der Versuch, wieder zu den Ursprüngen von vor 1890 zurückzukehren, um den sich aus den „modernen" Ideen und Wertvorstellungen ergebenden Zweifeln und Unsicherheiten zu begegnen. Den heutigen philosophischen Schulen wird jeweils die Bezeichnung „neo" zuteil. Das bedeutet nicht „neu", sondern „übernommen". Der Weg zur „neuen Information" erscheint mühsam (stehen wir heute an der Schwelle zu einem neuen Kreativitätszyklus?). Diesen neuen Weg einzuschlagen, der zur Ergründung neuer Bewußtseins- und Kenntnisbereiche führt, erfordert ein neues geistiges und begriffliches Instrumentarium und neue Paradigmen. Hieraus erklärt sich das derzeitige Interesse für eine neue epistemologische Betrachtung. 10
Dieses Verfahren wird als „Transkodierung" bezeichnet. Das Wort „Botschaft" wird als Synonym für „Informationsinhalt" benutzt, selbst wenn die Nachricht bekannt ist und demnach einen bereits übermittelten Inhalt hat. Aber hier geht es darum, die Gleichstellung von „Botschaft" und „Medium" von McLuhan in Frage zu stellen. 11
1.1. Ist Medium gleich Botschaft?
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Es ist ein vermessener Wunschtraum der Sprachphilosophen, exakte Regeln ausfindig zu machen, um an die Bedeutung der Worte heranzukommen und um diese Bedeutung als „wahr" bezeichnen zu können. Dies war der Traum der Neopositivisten der Wiener Schule zwischen den Jahren 1910 und 1930. Rudolf Carnap, Otto Neurath, Moritz Schlick, Ernst Nagel, Philipp Frank begriffen die Sprache als einen Algorithmus. Wenn man ihn auf die Alltagssprache überträgt, erhält man „gut formulierte Worte" oder „Sätze", deren Inhalt eindeutig als „wahr" oder „falsch" definiert werden kann. Wahr oder falsch im Lichte der „Fakten", der „ Tatsachen", die naiverweise als erforschbare Untersuchungobjekte betrachtet werden. Die Funktion der gut formulierten Sprache ist also nichts anderes als die Bildung von „Sätzen" oder „Tatsachenberichten", die, sofern „gut formuliert", sicherlich „Tatsachen" wiedergeben. Es sei an den Tatsachenbericht von Carnap erinnert: „Heute 16 Uhr 42 blaue Vase auf quadratförmigem Tisch." Die These, daß sich die Tatsachen durch den wohl formulierten Ausdruck beschreiben lassen, war allerdings metaphysischer Art; wie auch die These von der Existenz der Tatsachen12. Bekanntlich zeichnen sich die Mitglieder der Wiener Schule durch eine sehr bewußt antimetaphysische Einstellung aus. Die metaphysische Betrachtung wurde insofern als leere, rein sprachliche Konstruktion betrachtet, als ihr Gegenstand als empirisch nicht nachweisbar betrachtet wurde. Was auch zutrifft. Denn die logische Begründung der zwei angeführten Thesen - auf der die neopositivistische Diskussion aufbaut - , und zwar einmal die Fähigkeit zur Umschreibung der Tatsachen durch eine gute Syntax und zum anderen das Bestehen von etwas Vorgegebenem, also einem Faktum, das darauf wartet, beschrieben zu werden, ist ausgesprochen schwach. Bei einer genaueren Analyse ist man also versucht, die Macht der Medien als syntaxbedingt zu betrachten; was von McLuhan möglicherweise, von seinen Nachfolgern bestimmt getan wurde. Dabei sei keineswegs geleugnet, daß in der ausdrucksvollen Beschreibung oder in einer syntaktisch guten Sprachformulierung einer für ein Massenmedium erarbeiteten Botschaft nicht auch eine geheimnisvoll wirkende Macht liegt. So besteht tatsächlich eine Beziehung zwischen sprachlichen, syntaktisch vollkommenen Konstruktionen und den dahinter liegenden Tatsachen; sie ist konkreter, als man es vermuten könnte; wobei das ontologische Argument von Anselmo d'Aosta bestimmt nicht von der Hand zu weisen ist 13 . 12 Die Kenntnis der „Tatsache" („Matter of facts") von Hume, als Frage in den Raum gestellt, wurde dann apodiktisch von den Neopositivisten-Logikern übernommen. 13 Das Argument folgert bekanntlich die Existenz Gottes aus dem Umstand, daß der Begriff eines Wesens, das als vollkommen betrachtet wird, ohne dieses Merkmal (die Existenz) nicht auskommt. Auch Kant sah sich gezwungen, im analytischen Teil seiner Überlegungen 2*
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1. Kap.: Die Fakten
Korrekterweise sollte man sich jedoch nicht auf die Vermutung dieser Beziehung beschränken, sondern deren Inhalte, Formen und Voraussetzungen erkunden, um deren „semantische Wirksamkeit" zu erkennen; so daß die Tatsache als Gegenstand der Mitteilung nicht „irgendetwas ist, von dem nur deshalb gesprochen wird, damit man über irgendetwas spricht"; also nur Vorwand und reines Mittel des Mediums; sondern etwas, bei dem unser „über etwas Sprechen" zu einer echten Mitteilung und nicht zu einer zufälligen Talk-show wird. So kann das attraktive und ansprechende Medium zu einer gefährlichen Versuchung werden, einen ungeordneten, ziellosen Diskurs zu führen, während der Diskurs gerade auf ein neues, bisher wenig oder überhaupt nicht erörtertes und deshalb schwieriges Thema ausgerichtet sein sollte. Bekanntlich führt das Sprechen über neue Themen und Probleme über einen kaum oder nur wenig bekannten Wissensbereich häufig zum Stottern. Eine flüssige und gewählte Redeweise kann sich leicht bei der Erörterung von bekannten und abgedroschenen Themen ergeben: aber die Aussagen bestehen dann meistens aus vorgefertigen Sätzen mit oberflächlichen Inhalten, aus Gemeinplätzen. In solchen Fällen kommt es zu einem flüssigen, jedoch oft albernen Diskurs. Wie oft verwandelt das Medium die interessanteste Botschaft in völlige Belanglosigkeiten! Nehmen wir zum Beispiel eine beliebte volkstümliche Sendung mit hohen Einschaltquoten, die die Sonntagsnachmittage jener bedauernswerten Menschen ausfüllen soll, die wegen geistiger oder physischer Schwäche nicht einmal mehr in der Lage sind, ins Kino zu gehen oder einen Spaziergang zu machen. Der Inhalt der Sendung ist alltäglich und banal, bei weitem nicht so aufregend - weder auf der geistigen noch auf der emotionalen Ebene - wie das tägliche Leben. Die „Ereignisse im Sendungsablauf', gekonnt in den Text und das Drehbuch eingebaut, sind völlig vorhersehbar. „Was tun Sie? Kommen Sie näher ans Mikrophon! Haben Sie etwa Angst vor mir? Aber nein, sicher nicht. Wie heißen Sie? Emilio Bonafede. Schöner Name. Wo kommen Sie her? Aus Vigevano? Direkt aus Vigevano? Ein wunderschönes Städtchen. Was machen Sie beruflich? Bankangestellter! Also gehen Sie mit viel Geld um! Sagen Sie mal, haben Sie uns ein wenig mitgebracht? Nein? Ich verstehe. Trotzdem: schade. Gut, also. Beantworten Sie nun meine Fragen. Zuerst sehen wir uns aber noch unser Ballett an. Hier für Sie: die Heavy Steppers !" Auch in der Gesellschaft, die die Politik als Show erfunden hat, kann die Frage nach dem Inhalt der Botschaft nicht einfach umgangen werden. Ein Kandidat muß erst einmal über ein Programm verfügen, bevor er es vorstellen kann. Kehren wir nun zum eigentlichen Gegenstand dieser Untersuchung zurück: zur Erforschung der Regeln, die für den Aufbau des Diskurses maßgeblich sind, aber noch davor der Regeln zur Festlegung und zum Aufbau dieser jeweils auf eine Sizuzugeben, daß ein Zusammenhang zwischen abstrakten sprachlichen Konstruktionen und physischen und konkreten Tatsachen besteht.
1.1. Ist Medium gleich Botschaft?
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tuation und auf ein Publikum bezogenen Botschaft und schließlich zu den Strategien und Taktiken für eine wirkungsvolle Übermittlung dieser Botschaft. Eine der wichtigsten Grundregeln für eine effiziente Kommunikation sagt aus, daß der Inhalt nicht von seiner sprachlichen Verarbeitung getrennt werden darf und daß er - jeweils auf seine Ausarbeitung abgestimmt - unter Berücksichtigung der Kommunikationsempfänger abgefaßt sein muß. Wobei es eine explizite und eine implizite, dem Themenbereich eigene Abgrenzung gibt. Die explizite Abgrenzung ist mit dem Begriff der „Semantik" eng verbunden, die bekanntlich die Wissenschaft des Sinninhaltes ist. Des Sinninhaltes, also nicht der Wahrheit! Die Wahrheit bleibt außerhalb des Rahmens der Untersuchung, die sich mit den Sinninhalten des Diskurses befaßt; und zwar unabhängig davon, ob diese nun wahr oder falsch sind 14 . Ich beginne mit der einfachen Beobachtung, daß A = A ist: zwar wahr, aber (für die meisten) relativ unbedeutend; „Ich werde dich immer lieben" oder „Du bist die schönste Frau der Welt" ist höchstwahrscheinlich nicht wahr, aber unter bestimmten Umständen äusserst bedeutsam. Nach einer unmißverständlichen Erklärung wie „ich liebe dich bis zum Wahnsinn", wäre es ratsam, sich unter einem Vorwand davonzuschleichen. Soweit die explizite Abgrenzung. Die implizite Abgrenzung ist mit dem Ausdruck „Kommunikation" verbunden. Bei der normalen Kommunikation liefert man normalerweise keine Beweise. Manchmal argumentiert man; in der Regel führt man mit einem Gesprächspartner oder mit einem Publikum eine „Verhandlung". So verhandelt man vor allem darüber, wie man die Aufmerksamkeit gewinnen, das intensive Interesse erregen, das intellektuelle und (oder) gefühlsmäßige Mitgehen bis hin zur aktiven, ja selbst fanatischen Teilnahme des Gesprächspartners erzeugen kann. Mussolini war sicherlich weder ein Philosoph noch ein Stratege, aber er war ein guter Redner: er verstand es, auch in belanglosen Situationen ansprechende und stimulierende Worte zu finden. Wie am Nachmittag jenes 6.September 1934, als er sich an die Bevölkerung von Bari mit diesen rhetorisch großartigen Worten (Enthymem) wandte: „Bürger von Bari! Nach diesem glühenden, sonnigen - also faschistischen - Tag ..." Weitaus weniger gut formuliert waren folgende Lobeskommentare in der Wochenschau, die einen Tag betrafen, an dem Mussolini auf dem Feld im Agro Pontino tätig gewesen war: „Nach einem Tag auf dem Feld, unter den Bauern, hat der Duce in zwei Stunden harter Arbeit 5 Tonnen besten Weizen gedroschen." Dieses Wort „besten" ist ein Produkt übertriebener Rhetorik, mit entsprechend wenig Argumentationswert. 14
fällt.
Die diesbezügliche Überprüfung ist eine Aufgabe, die zumeist auf den Zuhörenden
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1. Kap.: Die Fakten
1.2. Semantisieren, um mitzuteilen Wir haben von der „Semantik" gesprochen; wir haben von der „Kommunikation" gesprochen. Nun ein paar Worte zur begrifflichen Zusammensetzung „Semantik der Kommunikation" . Es ist offensichtlich, daß das Neue daran im Wort „Semantik" liegt. Über die Kommunikation und ihr Umfeld, wie auch über ihre verschiedenen Anwendungsmöglichkeiten wurde in den letzten Jahren schon viel gesagt und geschrieben, wenn auch mit der einseitigen und leicht naiven Hervorhebung der Rolle und Wunderwirkung der Medien. Am Ende der sechziger Jahre hat sich in Italien in akademischen Kreisen, aber mit starker Auswirkung auf das tägliche Leben, ein Ansatz zur Kommunikationstheorie durchgesetzt, der das pragmatische und operative Moment in der Sprache als vorrangig betrachtete. Grundlegende Texte waren einmal die „Pragmatik der menschlichen Kommunikation" von Watzlawick und anderen Autoren 1 5 der Schule von Palo Alto (Kalifornien); zum anderen „Zur Theorie der Sprechakte" von John L. Austin 16 . Für beide Ansätze ist die Sprache im wesentlichen ein Tun, bedenkt man die Folgen, die das Sagen im Empfänger des Gesagten durch den Diskurs und durch die mit der Aussage übernommenen Verpflichtung des Aussagenden bewirkt. Die von Searle wieder aufgenommene und weiterentwickelte Theorie von Austin, auch „Sprechakttheorie" genannt, wurde in Italien übermäßig gelobt, obwohl die Autoren zur Vorsicht mahnten und ihre Bedeutung hinunterspielten 17. Nachdem jedoch das akademische und publizistische Räderwerk in Gang gesetzt worden war, verfügte niemand in Italien mehr über genügend Interesse, Lust und gedankliche Selbständigkeit, um es wieder zum Stehen zu bringen. Einen Sonderplatz nimmt dabei die Generative Grammatik von Noam Chomsky ein, der allerdings nie eine verbreitete akademische Anhängerschaft oder schwärmerische Anerkennung fand. Zweifellos ist dies dem wachen kritischen Sinn dieses Autors zuzuschreiben, der mehrere Male seine Karten neu mischte und dadurch seine Anhänger und Bewunderer gelegentlich auch aus der Fassung brachte. Trotz allem hat die Generative Grammatik wohl keine Doktrin, aber doch ein nützliches Modell geliefert, zumal sie immer noch zur Bereitstellung von Instrumenten zur wissenschaftlichen 15 P. Watzlawick, Heimick Beavin, Don D. Jackson, Pragmatics of Human Communication. A Study of Interactional Patterns , Pathologies and Paradoxes, W.W. Norton and Company Inc., New York, 1967. 16 J. L. Austin, How to do Things with Words , O.U.P., 1975 (zweite Ausgabe). 17 In der Zeitschrift „Versus" (Bompiani), Ν. 26-27, 1980, von U. Eco herausgegeben; im besonderen: Il Grimaldello e le Chiavi. Im selben Heft: J. Searle, An Interview, in dem der Enthusiasmus der Anhänger dieser Theorie, die ihr eine erlösende Qualität zuschreiben, „gedämpft" wird.
1.2. Semantisieren, um mitzuteilen
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Sprachanalyse im Rahmen der kognitiven Systeme und der theoretischen Paradigmen beiträgt. Dies sind einige der derzeitigen Ansätze der Kommunikationswissenschaft, auf die schon jetzt verwiesen werden soll und die ich gelegentlich benützen werde, um ein Kommunikationsmodell aus der Sicht der Semantik zu erarbeiten. Dabei möchte ich auch hervorheben, daß das Modell auf diejenigen Aspekte des Kommunikationsprozesses ausgerichtet sein wird, die die Erzeugung des Sinninhalts - also die Regeln (wenn man sie so bezeichnen kann), Grundsätze, Kriterien und die Praxis der Semantik - bestimmen. Dies schließt allerdings nicht aus, daß ich im Rahmen des Modells auch der Strategie und der Taktik der Kommunikationspraxis, also der vom Sprechenden und Sender der Botschaft erzeugten Sinninhalte und der „Sprechakte" einige Aufmerksamkeit widme. Von den „Modellen der Modelle" der zeitgenössischen Epistemologie werde ich das von Alfred Tarski 18 und das von Chen Chung Chang19 als Bezug übernehmen. Mein Modell leitet sich aus dem Archetyp Tarskis ab, ist aber aufgrund der weniger abgegrenzten Inhaltsbestimmung flexibler und offener. Noch ist die Zeit nicht für eine ernsthafte Epistemologie der Sozialwissenschaften reif: die Kommunikation ist noch keine Wissenschaft, sondern nur eine Praxis. Sie würde es verdienen, rational durchleuchtet zu werden, da ihr Forschungsgegenstand bisher nur teilweise und nur sehr vage theoretisch festgelegt wurde. So soll ein Versuch der Bestandsaufnahme und des Einsatzes der verfügbaren gedanklichen Instrumente gewagt werden: unter diesen stehen - im Hinblick auf die Untersuchungsziele - die semantischen Mittel an erster Stelle. Das Modell und seine Gebrauchsrichtlinien („die Gebrauchsanweisung") mögen komplex und hochgestochen scheinen. Bestimmt sind es einige der vorgebrachten Überlegungen. Einige Leser mögen dies als verwirrend empfinden, möglicherweise unter Berufung auf den bei den Massenmedien üblichen Grundsatz der leichten „Lesbarkeit" eines Textes und der eingängige Verständlichkeit seiner Botschaft. Wenn der Inhalt mit einem Wortschatz zum Ausdruck gebracht werden soll, der 7.000 Wörter - also die sprachliche Basis der Pflichtschulabgänger - nicht überschreiten darf; wenn das Satzgefüge nicht mehr als zwei Satzteile enthalten darf; wenn das Subjekt nach dem Punkt wiederholt werden muß; wenn man den Gebrauch des Pronomen und mehr noch der Anapher einschränken muß; dann ist es offensichtlich, daß diese Leser darauf verzichten müssen, sich mit meinem Werk auseinanderzusetzen.
18 A. Tarski, Introduction to Logic and to the Methodology of the Deductive Sciences , O.U.P., Oxford, 1941. 19 In L. Henkin u. a., Proceedings of the Tarksi Symposium , Providence, 1974, S. 411-436.
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1. Kap.: Die Fakten
Das von mir eben formulierte Satzgefüge verletzt diese Lesbarkeitsregeln. Es enthält außerdem Fachausdrücke wie „Anapher", wobei man möglicherweise zuerst an ein elektrisches und nicht an ein sprachliches Phänomen denkt. Ich bereue es aber nicht, dieses Satzgefüge so komplex gestaltet zu haben und zwar aus einigen für mich wichtigen, ja selbst entscheidenden Gründen. Einer einfachen Sprache entspricht häufig ein einfacher oder ein bereits anerkannter der Allgemeinbildung angehörender Gedanke. Ein Gedanke ist dann einfach, wenn sein Inhalt absolut klar ist oder wenn er sich auf elementare Dinge und Verhältnisse bezieht. Wie das zitierte A = A. Der erste Fall kommt sozusagen nie vor; der zweite ist nur scheinbar eindeutig, weil in Wirklichkeit A = A Grundsatzprobleme aufwirft, sofern man nicht an der Oberfläche der Dinge bleiben will. Auf jeden Fall ist zu wünschen, daß eine geschriebene oder gesprochene Mitteilung an die „Auslegung durch Mitarbeit" des Zuhörers appelliert. Dies läßt sich dadurch bewerkstelligen, daß der Zuhörende den Text insofern auf seine Richtigkeit prüft, als er ganz einfach ein Wörterbuch oder eine allgemeine oder spezielle Enzyklopädie einsieht; oder indem er die Quellen vergleicht, andere Quellen hinzuzieht, die Interpretation des Autors anderen Auslegungen gegenüberstellt, um dabei Unterschiede und Widersprüche festzustellen. Die Sprache künstlich zu vereinfachen würde nicht nur dazu führen, dem Gesprächspartner das Vergnügen dieses Auslegungsaktes zu nehmen, sondern ihm auch ein „bereits bekanntes" Produkt zu übergeben; dies könnte für den Schulunterricht, aber nicht für eine neue Erkenntnis des Gesprächspartners gelten. Das soll selbstverständlich nicht heißen, daß die einfache oder vereinfachte Rede- und Schreibweise für eine spezifische Bevölkerungsgruppe wie die der Schüler oder für die einfacheren Bevölkerungsschichten angebracht und selbst notwendig
1.3. Die auslegende Mitarbeit Ein gehörter, gelesener, gelernter, analysierter Text, von wem auch immer er stammen mag und in welcher Situation auch immer er „genossen" wird, sollte wie ein Buch aus der eigenen Bibliothek betrachtet werden, das - einmal oder mehrmals gelesen - bei verschiedenen Gelegenheiten und mehrfachem Gebrauch immer wieder hervorgeholt und durch eigene, auch handschriftliche Notizen „berei20 Dies ist der Fall in „Due Parole", einer leicht lesbaren Monatszeitschrift für geistig einfache Menschen, die von Tullio De Mauro, Edizioni E. D., Roma, veröffentlicht wird. Dasselbe gilt für die vereinfachten literarischen Texte für ausländische Studenten, deren Nützlichkeit im übrigen bestritten werden kann.
1.3. Die auslegende Mitarbeit
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chert" wurde; und zwar so, daß auf dem Rand sozusagen jeder Seite eine Art Gegentext abgefaßt wird, der in Symbiose mit dem Orginaltext lebt, um ihn gutzuheißen oder ihn zu kritisieren; auf jeden Fall, um ihn durch den Beitrag des Lesers zu bereichern. Man ist verständlicherweise nicht unbedingt bereit, dieses Buch an einen Freund (man ist wohl einem Freund gegenüber noch abgeneigter als einem Fremden gegenüber) zu verleihen und zwar aus mehr als einem Grund: weil man ihm kein vom angefragten Autor geschriebenes Buch, sondern ein anderes literarisches Produkt überlassen würde; weil man annimmt, daß derjenige, dem das Buch anvertraut wird, sich vor allem für die Randnoten interessiert; man stellt sich also - abwesenderweise - einer Diskussion, die man weder gewollt noch geplant hat. Der neue Leser wird schließlich gezwungenermaßen ein schlechter Leser sein. Kann er doch nicht das Buch als etwas betrachten, das er sich zu eigen machen und in sein Bücherregal stellen kann; er kann es nicht mit den eigenen Notizen anreichern; er wird sich vielleicht in seinem Voyeurismus mehr für die Glossen (den Gegentext) als für den eigentlichen Text interessieren. Warum sich also ein Buch ausleihen, wenn man dabei nicht seine eigene Auslegung durch Mitarbeit zum Ausdruck bringen kann? Wenn man es nicht mit dem Vorsatz oder der Hoffnung, es ab und zu wieder herauszunehmen, ins Regal stellen kann? Der einzige plausible - wenn auch abstoßende - Grund kann nur der sein, daß man etwas über die Lebenserfahrung des ersten (und echten) Lesers erfahren will, ohne ihn direkt befragen zu müssen. Ich rate also allen, die ihr eigenes bereits gelesenes und mit eigenen Randnoten versehenes Buchexemplar lieben, weitere Exemplare zum Verleihen zu kaufen. Die Auslegung durch Mitarbeit ist struktureller Bestandteil eines semantischen Prozesses. Es gibt verschiedene Formen der Auslegung durch Mitarbeit: sie kann in eine einzige Richtung gehen wie beim Lesen eines Klassikers; oder in zwei Richtungen wie im Fall einer Diskussion, ja eines Wortgefechts; oder im Kreise, wie es bei einem Gespräch am runden Tisch der Fall sein sollte, an dem man nicht mit einem vorbereiteten, vorzulesenden Text teilnimmt; der Moderator sollte die Meinungen gegenüberstellen, sie herausfordern; die Zeit sollte nicht - wie dies normalerweise der Fall ist - beschränkt sein und das Publikum sollte seinen Beitrag leisten, indem es seine Aufmerksamkeit den Referenten in dem Maße zuwendet oder verweigert, in dem es deren Aussagen interessant oder uninteressant findet. Das Bestehen - besser gesagt: die Unvermeidbarkeit - einer auslegenden Mitarbeit wurde im semantischen Prozeß bisher wenig beachtet. „Paßt auf!", „ Ruhe und aufgepaßt!", tönen die Lehrer in den Klassenzimmern. Was soviel bedeutet wie: „Ihr seid Gefäße, in die wir das Gesprochene hineingießen". Die Ruhe wird als die einzige und wahre „technische" Voraussetzung für die psychische Bereitschaft zur Mitarbeit der Schülerschaft betrachtet. Die Aufmerksamkeit auf der einen Seite wird zur Tugend. In einem gehobeneren Umfeld - wie dem der Berufsausbildung
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1. Kap.: Die Fakten
- wird man aufgefordert, „Fragen" zu stellen, aber selten, „Kommentare" abzugeben 21 . Der Sprechende kann sich auf zwei Arten konkret um die auslegende Mitarbeit bemühen: - er kann seine Sprache mit dem Verzicht auf veraltete, intellektuelle, technische, umgangssprachliche, fachliche Ausdrücke vereinfachen, indem er kurze und einfache Sätze sagt. Mit anderen Worten, indem er die Textsyntax vereinfacht. Oder: - er kann in den Text bereits bekannte, selbst komplexe, aber in einfachere Worte umformulierte Gedanken einbringen, die die Semantik des Textes „abwerten". Eine dritte Lösung könnte darin liegen, daß man die komplexen Gedanken entweder mit der Paraphrase „erklärt", was aber unausweichlich auf die beiden bereits erwähnten Aspekte zurückführt; oder man könnte von der Voraussetzung ausgehen, daß nichts als bekannt vorausgesetzt werden darf, und entsprechend jeden neuen Begriff erklären. Dieses Vorgehen kann allerdings zu einer unendlichen Kette (also zum Regressum in infinitum) führen, die auf die gesamte Disziplin, in die sich das Thema einfügt, und hiervon ausgehend auf die gesamte dahinter liegende Kultur eingeht. Das Risiko besteht dann darin, daß man einen Artikel in ein Essay verwandelt; ein Essay in eine Abhandlung; eine Abhandlung in eine Enzyklopädie; eine Enzyklopädie in eine Anthropologie und diese in eine Metaphysik. Der Beweis dafür findet sich in den - bisher unbefriedigenden - Versuchen der populärwissenschaftlichen Schriften, die trotz allem auf hohem Niveau bleiben wollen. Man endet stets bei der Vereinfachung, bei der Paraphrase eines schwierigen mit neuen Begriffen gespickten Textes. Der semantische Weg zum Verständnis und zur Wirksamkeit des Gesagten, zur auslegenden Mitarbeit, stellt sich voller Hindernisse dar, sofern man mit der Botschaft nicht ganz auf die Übermittlung ihres relevanten Inhalts verzichten will. Zu noch größeren Schwierigkeiten führt die - meiner Meinung nach nützliche - Einfügung der „konstruktiven Form" der Botschaft in den Begriff der „Semantik". „Erklären" bedeutet dann nicht mehr die Erläuterung des Inhaltes der benutzten Begriffe, sondern die Aufteilung der Textstruktur in eine logisch-referentielle und stilistische Komponente. Es handelt sich dabei um die durch die analytische Philosophie der britischen Schule beeinflußte „Exhibition Analysis"- Methode, die das Schwergewicht auf die Erklärung der begrifflich-logischen und paradigmatischen Strukturen eines Textes legt, selbst wenn er umgangssprachlich, also in naiver Form abgefaßt sein sollte. 21
In der übrigens interessanten Rubrik „Prima pagina " vom dritten RAI-Programm, in der ein Journalist die Überschriften in der Tagespresse vorliest und kommentiert, fordert der Moderator (der nicht der Journalist ist) das Publikum zur Teilnahme auf, indem er sagt, daß Fragen zu den Tagesthemen gestellt werden können, aber daß man „wegen der begrenzt verfügbaren Zeit nicht alle eingehenden Telephonate durchschalten kann".
1.3. Die auslegende Mitarbeit
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In Wirklichkeit beruht diese Methode - in einem ersten Teil - auf einem konventionellen oder abgesprochenen Wissen und einer stillschweigenden bisweilen selbst wertbezogenen „Voraussetzung". Wir werden später darauf zurückkommen. Die zeitgenössische Hermeneutik der deutschen und französischen Schule schlägt hingegen vor, daß eine enge Wechselwirkung zwischen Leser, Text, Autor und dem kulturellen Kontext im und hinter dem Text geschaffen wird. Die beiden Methoden der „exhibition analysis " und der Hermeneutik fußen jedoch auf rein wissenschaftlichen Ansätzen, die dem Empfänger einer umgangssprachlichen Mitteilung keineswegs nützlich sein können. Genau dies ist jedoch die herausfordernde Absicht einer Semantik der Kommunikation: soll doch dieser Bereich der Semantik die Instrumente sowohl zur Schaffung, als auch zur Auslegung einer möglichst wirksamen Mitteilung an einen Empfänger, also an einen zu einer auslegenden Mitarbeit bereiten Zuhörer-Leser bieten. Diese Mitarbeit läßt sich weder „nebenbei" durchführen, noch über ein bestimmtes Maß hinaus erleichtern; handelt es sich doch um eine anspruchsvolle und kreative Tätigkeit. Um Mißverständnisse zu vermeiden, möchte ich feststellen, daß ich kein neues populärwissenschaftliches Modell vorschlage. Ich will nur sagen, daß das gegenseitige Verständnis allgemeine und spezielle dem Sprechenden wie auch dem Angesprochenen gemeinsame Grundkenntnisse voraussetzt. Man sollte sich allerdings nicht der Illusion hingeben, daß sich alles allen mitteilen läßt. Der Weg des Sinninhaltes - also nicht der der Wahrheit! - kann den Angehörigen derselben Gesellschaftsschicht oder den Menschen mit echten Kulturinteressen selbst bei unterschiedlichen technischen oder speziellen Vorkenntnissen geebnet werden. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn ein Spezialist für Rechnungswesen in einem Hörsaal sich darum bemüht, die Voraussetzungen zu schaffen, damit seine Mitteilung in das Bewußtsein der Marketings-, Produktions- oder sonstigen Spezialisten oder der jüngeren Auditing-Kollegen dringt. In dieser Situation kann ein semantisches Bemühen des Dozenten zur verständlicheren und leichter erfaßbaren Gestaltung seiner Darlegungen darin liegen, die Begriffe und logischen Strukturen „vorzustellen", also eingehend darzulegen. Dies ist die erste Art der Kommunikation. Insbesondere mit der Benutzung der Umgangssprache kann er die auslegende Mitarbeit der Empfänger in ihrer Rolle als Zuhörende anregen. Beim semantischen Weg einer Mitteilung vom Erzeuger zum Empfänger hat die Mitarbeit des letzteren - im Gegensatz zur landläufigen pädagogischen und didaktischen Tradition ebenso lebhaft und effizient zu sein wie beim Erzeuger. Der semantische Weg hat also in zwei Richtungen zu gehen. Der Zusammenhang zwischen dem semantischem Prozeß und dem Kommunikationsvorgang ist allerdings noch nicht ganz geklärt. Die Kommunikation benutzt notwendigerweise den semantischen Prozeß zur Erzeugung von Sinninhalten, die in die Botschaft eingehen. Auf dieser Basis organi-
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1. Kap.: Die Fakten
siert sie das Informationsmaterial: sie richtet es strategisch aus und gestaltet den Text im Hinblick auf die größtmögliche Wirksamkeit bei der Übermittlung und der auslegenden Mitarbeit. Auch dieser Teil des Modells ist vielschichtig. Geht es doch um die epistemologischen Voraussetzungen einer rhetorisch-argumentativen und nicht einer formal-beschreibenden Logik. In der Kommunikationssemantik haben wir es also mit einer Komplexität dieser zweiten Art, also der Voraussetzungen zu tun. Man sprach viel über diese Vielschichtigkeit; ja, man glaubte, ein „Paradigma der Komplexität" ausfindig machen zu können. Dies ist allerdings ein sich selbst widersprechender Ausdruck. Das Paradigma als solches beschreibt nicht: es liefert lediglich begriffliche Erklärungsinstrumente (Leitlinien, logische, heuristische und bewertende Maßstäbe). Man hat es nur dann mit einem Paradigma der Komplexität zu tun, wenn es nicht um die Komplexität des Phänomens, sondern um das Phänomen als solches mit seiner dahinter liegenden Bezugswirklichkeit geht, die in einem mißlungenen Versuch der Sinngebung eine komplexe Situation der verwirrenden Zweideutigkeit schafft. Dieses Paradigma kann struktureller Bestandteil eines Modells sein, das die wesentlichen Daten und die Elemente des zu untersuchenden Phänomens enthält. Das Phänomen mag in einer oberflächlichen Sicht der Dinge komplex erscheinen; richtiger wäre es allerdings, es (im Hinblick auf seine strukturellen, realitätsbezogenen, logischen, heuristischen Bestandteile) als verschlüsselt zu bezeichnen. In der Tat werden seine einzelnen Strukturelemente außer in ihrer Wechselwirkung unbekannt sein. Betrachten wir zum Beispiel die Verdauung, das Gehen oder aber das Rowdytum der Jugendlichen in den Städten. Es handelt sich zweifellos dabei um komplexe Vorgänge; was jedoch dem Wissenschaftler besonders auffällt, ist die Tatsache, daß sie geheimnisvoll erscheinen oder erschienen. Die wissenschaftliche Forschung hat das Geheimnis der ersten beiden Vorgänge gelüftet, beim dritten allerdings nur zum Teil. Aber welches natürliche oder soziale Phänomen ist schon einfach? Keines. Es sei denn, man gäbe sich mit oberflächlichen oder erfundenen, unwissenschaftlichen, physikalisch unzureichenden oder philosophisch fragwürdigen Erklärungen zufrieden. Auch das Phänomen des Kommunikationsprozesses und der kommunikativen Erfahrung ist angesichts der Vielfalt seiner konkreten und geistigen Aspekte und Inhalte vielschichtig. Meistens findet es mit verblüffender Wirksamkeit sozusagen vor unseren Augen statt. Unsere Unfähigkeit, es zu erklären oder auch nur zu beschreiben, bleibt allerdings weiter bestehen. Was für die Verdauung oder das Gehen gilt, gilt auch für die Kommunikation: es gibt sie, ohne daß wir ihre Funktionsweise darlegen können. Und dabei ist die Kommunikation doch wichtiger Teil unseres Lebens.
2. Kapitel: Das Modell
2.1. Die Kommunikation als Gegenstand der Wissenschaft Es wäre überheblich, einem Scharlatan oder einem guten Redner ein wirksames Modell für den Aufbau seiner Rede vorzuschlagen, das ersterem seinen Beruf beibringen soll, und letzterem, wie man seinen Zuhörern schmeichelt. Beide wissen, wie sie es anzustellen haben, selbst wenn sie nur instinktiv vorgehen. Es kann sein, daß sie - wie die römischen Architekten, die die Technologie der Materialien und die wissenschaftliche baustatische Berechnung nicht kannten - mehr Ressourcen als nötig verbrauchen und spontan andere, kühnere Vorhaben nicht aufgreifen, weil sie wissen, daß sie sich bei deren Durchführung nicht auf ihr begrenzte Wissen verlassen können. Nachfolgende Überlegungen gelten also nicht ihnen (sind sie doch sozusagen „charismatische Mitteilende"), sondern den gewohnheitsmäßigen, berufsmäßigen oder nicht berufsmäßigen Mitteilenden in ihrer jeweiligen Stellung als Sprechende oder Angesprochene in der Kommunikationskette1. Meine Überlegungen benützen als Studienmaterial das Vorgehen normaler - erfolgreicher oder nicht erfolgreicher - Mitteilender unter Berücksichtigung der Theoreme der Semantik und der zuverlässigsten Kommunikationsstrategien und taktiken. Als Bezug für meine Beobachtungen und Überlegungen werde ich ein von mir erarbeitetes realitätsbezogenes Modell der Kommunikation benützen. Es wird anfangs noch ungenau und unvollständig sein. Mit fortschreitender Analyse wird es jedoch besser definiert. So hoffe ich, daß dieses Vorgehen vom Leser als ein Konkretisierungs- und Auslegungsprozeß empfunden wird, der vor seinen Augen abläuft und bei dem er auslegend mitarbeiten kann, um anschließend diesem Modell zuzustimmen oder es abzulehnen. Einleitend möchte ich folgende Anmerkungen zum Modell vorbringen: es übernimmt seine Leitgedanken vom bereits erwähnten Werk von Alfred Tarksi aus dem Jahre 1941, Einführung in die Logik, und von dem von Chen Chung Chang la ; gerade die Vorstellungen von Tarski eignen sich gut wegen ihrer gedanklichen Flexibilität für eine Anwendung auch im bisher noch teilweise unerforschten Bereich 1 la
A. Tarski, Op.cit. Chen Chung Chang, Op.cit.
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2. Kap.: Das Modell
der Sozialwissenschaften. Das Modell darf schließlich die im Laufe einer Mitteilung beobachteten Phänomene nicht eingrenzen; Widersprüche und Unzulänglichkeiten des Modells, die ich bei dessen Ausarbeitung nicht berücksichtigt haben sollte, dürfen also nicht einfach auf die Seite geschoben werden. In der empirischen Untersuchung werde ich eine - positive oder negative - Bestätigung für die „Formen" des Modells suchen, ohne dabei jedoch die „Kommunikation" als Gegenstand wissenschaftlicher Forschung im Hinblick auf die Modellstruktur zu verfälschen. Ich werde zunächst - damit der Leser den Überlegungen besser folgen kann - auf die Hauptmerkmale dieser Struktur hinweisen. Anschließend werde ich deren konstituierende Elemente - unter Beachtung verschiedener wichtiger Aspekte der Kommunikation in der Praxis - zusammenfassen. Dabei werde ich mich am Kriterium orientieren, das in der „auslegenden Mitarbeit" liegt. Würde ich dieses Kriterium abändern, würden die Zusammenfassung und das Endmodell - oder, wie man es nennt, die „Auslegung" des Kommunikationsinhaltes entsprechend anders ausfallen. Das Modell ist nur wegen seiner Strukturbestandteile (Axiome, Verarbeitungsregeln, Theoreme) eine Bezugsgröße. Diese Bestandteile müssen mit konkreten Inhalten gefüllt werden, da nur sie im Hinblick auf die dahinterliegende Wirklichkeit die Mitteilung in eine tatsächliche Erfahrung des Sprechenden und des Angesprochenen verwandeln können. Eine letzte Bemerkung. Man könnte annehmen, diese Vorgangsweise sei den „exakten" Wissenschaften (heute ein ziemlich unbestimmter Begriff) vorbehalten. Es ist mir allerdings bewußt, daß ein Epistemologe des letzten Jahrhunderts die Ausdehnung der auf dem Modell, der Hypothese, dem Experiment fußenden Vorgangsweise auf ein Objekt wie die Kommunikation ablehnen würde, weil diese in den Bereich der Humanwissenschaften mit ihren lediglich zufälligen, empirischen, intuitiven Beobachtungen fällt. Diese Sicht der Dinge dürfte wohl unbegründet sein. Deshalb gehe ich das Risiko ein, das die Untersuchungsergebnnise nicht abgesichert werden können; und zwar, weil es kein Auslegungsinstrumentarium gibt, das dem untersuchungsspezifischen Thema angemessen wäre. Diese Ergebnisse werden dennoch aufgrund ihrer Realitätsbezogenheit besser und zuverlässiger als die sein, die man erreichen würde, wenn man außerhalb eines Modells vorgeht. Wie beim Modell von Tarski weist auch das von mir erarbeitete Kommunikationsmodell eine Reihe von Grundaussagen oder -thesen auf. Normalerweise werden sie „Axiome" oder „Grundvoraussetzungen" genannt. Hier werden sie als „allgemeine Merkmale" bezeichnet. Sie müssen untereinander unabhängig, also nicht von einander ableitbar sein. Bekanntlich kann man keine Überlegung oder Betrachtung über die externe Wirklichkeit vornehmen, wenn man nicht selbst über eine erste gedankliche oder spontane, vorgefertigte oder sonstige Vorstellung dieser Wirklichkeit verfügt. Es wird also beim Erstellen des Modells von der Festlegung „allgemeiner Merkmale" (des Objektes „Kommunikation") unter Anwendung von Regeln nach der Axiomatik-Methode ausgegangen. Diese Regeln gelten auch für die Erfassung von
2.1. Die Kommunikation als Gegenstand der Wissenschaft
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„anschließend auftauchenden" - nicht strukturellen, sondern funktionellen Aspekten der Kommunikation. Diese Merkmale werden auch Theoreme genannt, da sie sich logisch von den Axiomen ableiten und von der Realität bestätigen lassen. Das nach diesen Richtlinien erarbeitete Modell entspricht einem abstrakten Schema, mit dem sich ein konkretes Objekt - die Kommunikation mit ihren Formen und den von ihr ausgelösten Prozessen - beobachten und darstellen läßt. Man kann es nach und nach mit den Inhalten füllen und ihm dadurch sozusagen ein „Gesicht" verleihen. Die „allgemeinen Merkmale" und die Theoreme verwandeln sich also in Aussagen, die die konkreten Strukturen des Kommunikationsablaufs (abgesehen von gelegentlichen Differenzen, die in zeitlichen, örtlichen, subjektiven und themenbezogenen Umständen ihren Ursprung finden) zum Gegenstand haben. Die Komplexität, mit der sich das Objekt anfangs darstellt, wird somit auf einige Grundaussagen zurückgeführt. Die Regeln der Ableitung sind nicht offensichtlich. Es handelt sich dabei um das Ergebnis logischer Denkprozesse, die für die Überlegungen eines Forschers und dessen Vorgehen maßgeblich sind. Der Forscher greift auf die Induktion in ihren vielfältigen Formen zurück: wie im Falle sich wiederholender kommunikativer Formen und Funktionen beim Informationsaustausch, selbst wenn er zu verschiedenen Zeitpunkten und unter verschiedenen äußeren Bedingungen stattfindet. Ferner werde ich als forschender Mensch bei der Erarbeitung des Modells von verschiedenen Formen der Deduktion Gebrauch machen, die nicht alle auf der formalen Logik oder nur auf ihr beruhen. Ich werde mich also auch der konstruktiven Logik bedienen. Sie geht von der Vorstellung aus, daß der analytische Prozeß auf einen „Knoten" stößt, aus dem sich unterschiedliche gleich logische oder „logisch berechtigte" Gedankenlinien ableiten lassen. Im durch den Knoten versinnbildlichten Moment ist also eine Wahl oder Entscheidung zu treffen, sofern man in den Gedankengängen fortfahren will. Ich werde somit zu einem „Konstruktionsschema" - oder zu einem „Gedankengerüst" - kommen, das, so hoffe ich, die wesentlichen, charakteristischen, systematischen und regelmäßig auftretenden Aspekte der Kommunikation zusammenfaßt. Das Konstruktionsschema gilt der Auslegung des Phänomens. Es stellt sich als das Ergebnis einer unter Umständen schwierigen Analyse dar. Sollte sie erfolgreich sein, wird das Schema transparent, zum Prognoseinstrument und dadurch überzeugend. Das Modell soll also - als wahre Bezugsgröße für die Untersuchung - der Auslegung des Kommunikationsvorganges dienen. Ich werde es benützen, selbst ohne dies ausdrücklich zu erwähnen. Es fällt dem Leser - im Rahmen seiner auslegenden Mitarbeit - jeweils zu zu entscheiden, ob jede neue Behauptung von mir mit dem Modell vereinbar ist oder nicht. Das Modell muß in der Tat konsistent, also ohne interne Widersprüche und vollständig sein: jedes mit dem untersuchten Problemkreis zusammenhängende Phäno-
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2. Kap.: Das Modell
men muß demnach durch das Modell interpretierbar sein. Der Anspruch auf Widerspruchsfreiheit und auf Vollständigkeit mag unter Umständen den Kriterien der exakten Wissenschaften nicht standhalten; aber selbst im Bereich der exakten Wissenschaften dürfte er inzwischen dem Bereich des Wunschdenkens angehören. Die sich aus obiger Fragestellung ergebende epistemologische Problematik wurde bereits seit Ende des vergangenen Jahrhunderts untersucht, ja früher schon, seit Hume und möglicherweise selbst seit den Sophisten. Auf jeden Fall sollte man nicht verzagen. Man sollte nicht darauf verzichten, die Befriedigung der oben gestellten Ansprüche anzustreben, selbst wenn man weiß, daß nur eine beschränkte Genauigkeit erreicht werden kann; es geht also darum, die jeweils größtmögliche Genauigkeit zu erzielen. Die Untersuchung ist demnach bestmöglichst durchzuführen, wenn auch keine Sicherheit besteht, daß man zu einem vollkommenen und damit konsistenten Wissensergebnis vorstoßen wird, das übrigens heute selbst nicht mehr bei der Mathematik gegeben ist.
2.2. Der Kommunikationsvorgang Nach diesen einschränkenden Überlegungen soll mit der Ausarbeitung des Modells begonnen und ein erster Entwurf ausgearbeitet werden. Bei jenen Aspekten der „Kommunikation", die - wie bereits gesagt - als „allgemeinen Merkmale" bezeichnet werden, handelt es sich um alle „Funktionen der Sprache", die von Roman Jakobson als die notwendigen Elemente jeder sprachlichen Kommunikation betrachtet werden2, die also - auch mit Hilfe eindrucksvoller graphischer Schemata - korrekterweise auf den ersten Seiten eines jeden Buches über die Kommunikation wiedergegeben sind. Um mit Jakobson zu sprechen, hat man es mit den Funktionen des „Entsendenden", des „Empfangenden", des „Kontextes", des „physischen Kanals", des „psychologischen Kanals" usw. zu tun. All dies ist nur das offensichtliche „Lay-out" der Kommunikation, über das man zwar Bescheid wissen muß, das aber nichts Sinnvolles für die Analyse des konkreten und spezifischen Kommunikationsvorganges bieten kann. Die auf der Erfahrung beruhenden Kenntnisse des Mitteilenden sind in der Tat wichtig; sind sie doch das Umfeld, in dem eine Nachricht entworfen, erarbeitet, ständig abgeändert und übermittelt wird, die für den Empfänger bedeutsam sein soll. Das Modell muß daher - unter ständiger Berücksichtigung des Objekts, also des Kommunikations Vorganges - genau umschrieben und festgelegt werden; wobei dieser Kommunikationsvorgang stets als die Verwirklichung zuerst einer Absicht und dann eines (bewußten oder unbewußten) Kommunikationsprojektes gesehen werden muß. 2 R. Jakobson, Selected Writings Hague, 1967.
III: The Poetry and the Grammar of Poetry, Mouton, The
2.3. Die ersten drei allgemeinen Merkmale der Kommunikation
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2.3. Die ersten drei allgemeinen Merkmale der Kommunikation Die allgemeinen Merkmale zur Bestimmung des Modells und zur Erforschung des Objektes sind: Allgemeines Merkmal 1 Cl: In jedem Kommunikationsvorgang bestimmt der Sprechende den Angesprochenen; der Angesprochene erkennt den Sprechenden und die von ihm im Laufe der Kommunikation ausgehende sinnvolle Botschaft an. Allgemeines Merkmal 2 C2: In jedem Kommunikations Vorgang geben der Sprechende und der Angesprochene den Worten in dem Zeitpunkt einen Sinn, in dem sie sie aussprechen bzw. auslegen und zwar auf der Basis des Relevanzprinzips, das sie im Laufe der Kommunikation selbst ausprägen. Allgemeines Merkmal 3 C3: In jedem Kommunikationsvorgang bekommt die abgesandte oder empfangene Botschaft (oder das Zeichen) einen semantischen Wert. Die ersten drei „allgemeinen Merkmale" sind in dieser Formulierung das Ergebnis meiner induktiven Überlegungen über die konkreten Formen des Kommunikationsvorgangs und von Anregungen aus der Fachliteratur. Die Theoreme des Modells, die zusammen mit den sich daraus ergebenden logischen Regeln aus den allgemeinen Merkmalen hervorgehen, werden jeweils bei der Analyse der verschiedenen Aspekte und Komponenten des Kommunikationsvorgangs festgelegt und neu formuliert. Aufgabe des Theorems ist es, einen mehr oder weniger ausgedehnten Teil des Untersuchungsobjektes zu analysieren; also zu erfassen und zu interpretieren. Die Theoreme müssen mit den allgemeinen Merkmalen vereinbar, also „konsistent" und nach den Regeln der Logik formulierbar sein. Sie mögen am Ende der Erarbeitung des Modells unter Umständen als nicht absolut zutreffend erscheinen, sind aber im Modell gültig und annehmbar und auf Grund der empirischen Daten nicht widerlegbar. Dieser Hinweis ist notwendig. Besteht doch ein methodologisches Prinzip der Untersuchungslogik, das besagt, daß nicht im Modell enthaltene Grundsätze, Leitlinien oder Gedankengänge nicht zur Anfechtung der Untersuchungsergebnisse herangezogen werden dürfen 2a. Die Theoreme - als Schlußfolgerungen aus der Untersuchung - sind also dann konsistent, wenn sie diesem Prinzip entsprechen. Die Kritik am Modell oder die Ablehnung seiner Ergebnisse kann sich daher nur gegen seine Struktur, seine Thesen und Überlegungen richten3.
2a Selbstverständlich kann man das Modell ablehnen, wenn man beispielsweise seine allgemeinen Merkmale als nicht überzeugend empfindet. 3 Oder, wie sie oben genannt werden, „Regeln der Veränderung".
3 Trupia
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2. Kap.: Das Modell
Es ist durchaus möglich, daß die Thesen und Theoreme - unabhängig von ihrer Beweisbarkeit und vom tatsächlich erbrachten Beweis - nachträglich bestritten werden, sofern man der Ansicht ist, daß sie keine neuen bedeutsamen Aspekte des konkreten Kommunikations Vorganges in der Praxis erfassen. Im übrigen ist eine der Voraussetzungen dieser Untersuchung, daß eine These - noch bevor sie als „wahr" anerkannt, also bewiesen wird - sinnvoll sein muß, also eine glaubwürdige, inhaltsreiche oder selbst überzeugende Aussage machen kann. Es seien nun die Gründe für die Wahl der allgemeinen Merkmale und für ihre Einfügung in das Modell untersucht. Das Gegenteil der von C l dargestellten Situation wäre nicht ein Dialog unter Gehörlosen, die immerhin den Weg der nicht verbalen Kommunikation beschreiten könnten, sondern der Fall von zwei Personen, die im Selbstgespräch den Gesprächspartner, wer auch immer er ist, ignorieren. Deshalb stellt Cl nicht die Mindest-, sondern die Grundvoraussetzung von jedem Kommunikationsvorgang dar: gegenseitig die Rolle des Sprechenden anzuerkennen, sich als Zuhörender zu akzeptieren; beim Schaffen der konkreten Mitteilungsvoraussetzungen zusammenzuarbeiten,, um Gesprächspartner zu sein. Aber C l setzt noch etwas mehr voraus. Genauer gesagt, das Bedürfnis des Sprechenden nach einem Empfänger für seine Worte; ein Bedürfnis, das ihn zur Kommunikation antreibt und ihn dazu führt, die darin enthaltenen Risiken zu übernehmen. Diese Risiken sind insbesondere folgende: daß der Sprechende in seiner Rolle nicht anerkannt wird; daß das Gesagte voreingenommen oder polemisch abgelehnt wird; schließlich, daß die Rolle des Spechenden in die des Angesprochenen verkehrt wird. Beispielsweise: „Ich muß dich sprechen „. - „Nein, ich bin es, der dich sprechen muß!" Dieses letzte Wort, mit einem Ton unterschwelliger Drohung ausgesprochen, verkehrt endgültig die Rollen. Der ursprüngliche Zuhörende muß andererseits beim Kommunikationsvorgang, wenn dessen Rahmen als solcher einmal festgelegt ist, dem Sprechenden definitiv die Initiative der Kommunikation überlassen und seine Rolle des reinen Zuhörenden annehmen, sofern er sie nicht von Anfang an bewußt abgelehnt hat. Es läßt sich schwer ein Kommunikations Vorgang vorstellen, der C l nicht befriedigt. Es kann natürlich den Fall einer einseitigen oder beidseitigen Ablehnung der Rollen geben. Dabei handelt es sich jedoch um die grundsätzliche Ablehnung einer Kommunikation. Was geschieht nun, wenn man jemandem entschlossen die Rolle des Sprechenden verweigern will? (denken wir an den Fall einer „belästigten" Dame auf der Straße): sie ignoriert den, der sie anspricht, so daß er nicht in die Rolle des Sprechenden schlüpfen kann, selbst wenn er eine intensive sprachliche oder gestuelle Mitteilungstätigkeit entwickelt. Dasselbe geschieht in umgekehrter Richtung, wenn man beispielsweise einen Teil der Zuhörerschaft ignorieren will, indem man sie „in echte Zuhörer" und in „physisch anwesende, aber geistig abwesende Zuhö-
2.4. Das Relevanzprinzip
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rer" aufteilt. Oft macht man dies instinktiv und naiv-unbewußt; die Folgen sind deswegen nicht weniger negativ für die Gesprächspartner. Es gibt im Kommunikationsvorgang auch eine aktive Rolle des Zuhörenden. Er möchte seine Erfahrung als Zuhörender intensiv erleben und erkennt deshalb die Rolle des Sprechenden voll an; er achtet und schätzt dessen Initiative und wartet darauf, daß er sein Mitteilungsvorhaben ausführt. Der Zuhörende wird also aufmerksam zuhören (oder lesen, im Falle eines Lesers); er wird Fragen stellen; möglicherweise wird er die Worte des Sprechenden kritisieren, aber mit seinem ganzen Verhalten wird er weiterhin die Rolle des Sprechenden anerkennen und ihn in ihr bestärken. Selbstverständlich können im Laufe einer Unterhaltung die beiden Rollen häufig ausgetauscht werden (Alternanz der Rollen). Dennoch bleibt die funktionelle, aber nicht unbedingt strukturelle Unterscheidung zwischen Sprechendem und Angesprochenem bestehen, Ist sie doch die grundlegende Voraussetzung für den Kommunikationsvorgang.
2.4. Das Relevanzprinzip Für den Kommentar von C2 beginne ich mit einem Blick auf die Studie über „Logic und Conversation " von H. P. Grice 4, in der das Prinzip der Relevanz als wesentlicher Bestandteil von C2 dargelegt wird. Der Titel der Abhandlung von Grice, von der ich hier ausgehe, ist aufgrund seines widersprüchlichen Inhalts aussagekräftig genug. Er ist für einen kreativen Gedanken beispielhaft, der mit der Methode des „übernommenen Widerspruchs' 4 geschaffen wurde. Der unauffällige, aber deshalb nicht weniger echte Widerspruch besteht zwischen den beiden Begriffen „Conversation" (= Unterhaltung) und „Logik". Bei der Unterhaltung (im landläufigen Sinne) handelt es sich um einen zwanglosen freien Gedankenaustausch. Es besteht übrigens ein Prinzip der Soziolinguistik, oder der Unterhaltungsrealität, wonach man keine Themen mit allzu hohen geistigen Ansprüchen oder zu ausgeprägter Wissenschaftlichkeit in die Unterhaltung einbringen soll 5 . Die Unterhaltung soll sich locker und ungezwungen entwickeln. Und dennoch besitzt sie - wie Grice beweist - selbst dann eine eigene logische Struktur, die teilweise instinktiv, teilweise aus Höflichkeitsgründen beachtet wird; gerade darin liegt die Voraussetzung für ihre Sinnhaftigkeit.
4
H. P. Grice, Logic and Conversation, in P. Cole, J. Morgan, Syntax and Semantics 3: Speech Acts·, Academic Press., New York 1975, S. 41-58. 5 Wie man im folgenden sehen wird: es entspricht nicht den Bedingungen für eine glückliche („felicitous") Aussage. 3*
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2. Kap.: Das Modell
Es gibt in der Tat oberflächliche und dabei sinnvolle Unterhaltungen und möglicherweise auf den ersten Blick weniger oberflächlich scheinende Unterhaltungen, die völlig unsinnig sind. Beispielsweise im Kabarett oder bei einer Fernseh-Show. Grice behauptet, daß selbst im Falle einer lockeren und ungezwungenen Unterhaltung diese sinnhaft werden kann und zwar dann, wenn das Prinzip der Relevanz respektiert wird, das den Sprechenden und Auslegenden „zwingt", in den Kommunikationsaustausch nur Gedanken einzubringen, die, wie man zu sagen pflegt, „mit dem Unterhaltungsgegenstand etwas zu tun haben". Die These von Grice ist fundiert, da sie die breite und komplexe Gedankenstruktur aufdeckt, die eine selbst banale Unterhaltung trägt; ohne diese Struktur wäre die Produktion eines Sinninhalts oder die Formulierung eines sinnvollen Kommentars zu den behandelten Gesprächsthemen nicht möglich; und zwar wegen des normalerweise zweideutigen, mißverständlichen Charakters selbst der einfachsten Sprache. Es ist also für den, der verstehen oder verstanden werden will, notwendig, daß das Gesagte tatsächlich eindeutig wird. Hierfür muß das Prinzip der Relevanz zum Zuge kommen. Bevor dieses Prinzip formal definiert und anhand von Beispielen dargelegt wird, ist auf die „Implikatur " als einer logischen und grundlegenden, im allgemeinen kaum bekannten Struktur des Gesagten einzugehen. Es handelt sich dabei um eine abgeschwächte Form der Implikation. Die Implikation ist die logische Deduktion aus der mathematischen Überlegung: wenn a = b und b = c, ergibt sich, daß a = c ist. Eine Implikatur ist hingegen eine „schwache" Ableitung; und zwar, weil im voraus nicht alle Umstände und Zusammenhänge bestimmbar sind, die zur Festlegung des Endpunktes der Überlegung führen. Es seien einige Beispiele aus dem Werk von Deidre Wilson und Dan Sperber zitiert 6 . Diese Autoren stellen die „Inference" („starke" Schlußfolgerung) der Implikatur („schwache" Schlußfolgerung) gegenüber: „Die Menschen sind zu komplizierten Denkprozessen fähig, die die traditionelle Logik nicht erklären kann: man springt zu Schlußfolgerungen, man formuliert eindrucksvolle Analogien; man stellt sogar Überlegungen an, ohne die Tatsachen genau zu kennen ... Dabei ist nicht so wichtig, daß ein derartiges Vorgehen nicht dem strengen Prinzip der Logik entspricht; Tatsache ist, daß es im täglichen Leben recht gut funktioniert 7. Ausgehend von den Worten von de Beaugrande und Dressler, wie sie von Wilson und Sperber zitiert wurden, sind die Anführungszeichen des Wortes „schwach " in dem Sinne zu verstehen, daß man es bei der Implikatur nicht mit einer minderwertigen Art von Überlegung im Vergleich zur Implikation (oder einer „starken" wie der mathematischen Folgerung), sondern mit einer anderen Art von 6
D. Wilson, D. Sperber, Inference and Implicature, in: Ch. Travis (ed.) Meaning and Interpretation, Basil Blackwell, Oxford, 1986. 7 R. de Beaugrande, W. Dressier, Introduction to Text Linguistics , Longman, London, 1981, S. 45.
2.4. Das Relevanzprinzip
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logischem Denken zu tun hat: die Überlegung ließe sich selbst als „stark" bezeichnen, wenn man den Bereich der klassisch-deduktiven Logik verlassen und zu anderen Logiken wie beispielsweise der konstruktiven Logik übergehen würde. Mit Hilfe dieser neuen Logik läßt sich tatsächlich mit der „nicht bewiesenen Folgerung" argumentieren, auf die wir uns - wie auch auf die Induktion - häufig in der Praxis, in der wissenschaftlichen Forschung und im allgemeinen im kreativen Gedankengang berufen; also in der Phase, in der wir das Untersuchungsmodell ausarbeiten und dabei versuchen, Querverbindungen zwischen entfernten, bisweilen selbst widersprüchlichen Aspekten des untersuchten Phänomens herzustellen. Man hat es mit einer Art von „lateralem Gedanken" zu tun, der sich abseits von den sicheren Wegen der bewiesenen oder starken Folgerung bewegt; der Bezeichnung des „lateralen Gedankens" ziehe ich allerdings die des „konstruktiven Gedankens" vor 8 . Kehren wir zur Implikatur zurück. Grice unterscheidet zwei Formen der Implikatur: die Konventions- und die Diskursimplikatur 9. Wir befassen uns hier nur mit der zweiten. Sie kann nur durch kreative Verarbeitung der Rede vom Zuhörenden bestimmt werden und zwar, wenn er den Sinn des ihm übermittelten Wortes oder Textes, des Umfeldes und der Umstände gedanklich „neu schafft". Vorausgesetzt wird, daß der Zuhörende weiß, „in welchem Sinn" ein bestimmter Ausdruck zu verstehen ist. Dieser Sinn ergibt sich übrigens automatisch, solange der vom Sprechenden gemeinte „Sinninhalt" mit dem vom Zuhörenden verstandenen übereinstimmt. Andernfalls ergibt sich die Notwendigkeit einer Erläuterung. Beispiel: „Ich will hinausgehen"; womit ich sagen will, daß ich ausgehen oder Spazierengehen will. Eine Erklärung ist also erforderlich, wenn man dieser einfachen Aussage ihre Zweideutigkeit nehmen will. „Gehen wir aus diesem Zimmer hinaus!". „Wohin gehen wir? Auf die Terrasse?". Offensichtlich sind wir hier im Bereich des bisweilen selbst ins Komische ausartenden „Mißverständnisses". Betrachten wir einen etwas komplexeren, aber dennoch häufigen Fall unter Berücksichtigung eines Beispiels von Wilson und Sperber 1 0 . - „Möchtest du einen Kaffee?" - „Wenn ich um diese Zeit Kaffee trinke, kann ich nicht mehr schlafen." Im Sinne der starken und linearen Logik der Implikation müßte man daraus folgern, daß das Angebot abgelehnt wird. Im Sinne der „schwachen", konstruktiven oder auslegenden Logik, also der „Implikatur"-Logik kann man zur Schlußfolgerung kommen, die genau genommen eine konventionelle „Implikatur" und nur dies ist, daß das Angebot doch angenommen wird. Wie kommt man zu dieser, sagen wir, abwegigen Schlußfolgerung? Auf Grund der Kenntnis nicht nur des Textes, 8
Ich werde später darüber sprechen. Siehe die Seiten 41-58 des Werkes von Grice, op. cit. 10 Op.cit., S. 48.
9
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2. Kap.: Das Modell
sondern auch des Kontextes (oder „Gesprächsumfeldes 4') in seiner doppelten Form des Situations- und des Diskurskontextes. Beide sind relevante Kontexte. Warum? Weil man unter vielen Auslegungsmöglichkeiten den richtigen Sinninhalt der Mitteilung erfassen kann, der in diesem spezifischen Fall als „Der Kaffee hält mich wach und ich möchte wach bleiben" zu sehen ist. Es ist der Grundsatz der Relevanz, der uns hilft, den Inhalt eines Textes zu klären, der bei der Gegenüberstellung unseres Kenntnisbereichs zu dem eines andern Menschen das Gesprächsthema fest im Kontext und in der „Gesprächssituation" verankert 11. Nehmen wir das angeführte Unterhaltungsbeispiel wieder auf und gehen wir auf die Begriffe „Situationskontext" und „Diskurskontext" ein. Es sei beispielsweise angenommen, daß eine Situation besteht, in der geflirtet wird (Situationszusammenhang und „Diskussionssituation"). Wir wissen außerdem, daß derjenige, dem der Kaffee am Spätnachmittag angeboten wird, dem Flirt nicht abgeneigt ist. Daraus kann die Implikatur folgen: „Der Kaffee wird akzeptiert". So kann der Satz „Der Kaffee um diese Zeit läßt mich nicht schlafen" mit einem zustimmenden Augenzwinkern seine Zweideutigkeit verlieren. So widerlegen die Eskimos täglich die traditionelle Auslegung der Aussage: „der Schnee ist weiß", die in allen Handbüchern der Logik als Beispiel für die Problematik bei der Feststellung der empirischen Wahrheit angeführt wird. Ihr Sehvermögen, das aufgrund ihrer Naturkenntnisse und ihrer Erfahrung besonders ausgebildet ist, erlaubt ihnen, das Aussehen und die Farbnuancen des Objektes „Schnee" je nach dessen Zustand zu erkennen. Für die Eskimos, aber auch für die Skilehrer, sind die Farbnuancen und -Schattierungen des Schnees „relevant"; hingegen sind sie es nicht für den Sonntagsausflügler, der sich damit begnügt, den Schnee aus dem Fenster des Berggasthofs zu betrachten. Die Implikatur besteht also in einer Auswahl der bei der Beurteilung der Situation und ihrer Wertung als relevant betrachteten Kenntniselemente. Das Ergebnis des aufgezeigten Prozesses ist also wegen der Vielzahl der zu berücksichtigenden Elemente in seinem Ablauf grundsätzlich im voraus unbestimmt. Das Prinzip der Relevanz, das die Elemente für eine angemessene Auslegung liefert, besteht demnach in einem Auswahl- und Bewertungsprozeß im Hinblick auf die Angemessenheit, jedoch nicht auf die „Wahrheit" der Schlußfolgerungen. Der in der Komunikation zum Ausdruck kommende kreative Gedanke ist lateral: er verläßt die ausgetretenen Wege der Inferenz oder der starken Schlußfolgerung und wagt sich in die weitläufige und problemreiche Kenntnis- und Erfahrungswelt des Sprechenden und des Zuhörenden, also in die kenntnis- und situationsbedingten Kontexte des Gedankenaustauschs. Daher ist der kreative Gedankengang glo11 „Gesprächssituation" ist ein spezifischer Ausdruck, der noch genauer umgeschrieben wird. Ich gebe jetzt nur ein Beispiel: ein General im Dienst, der seine Offiziere in der Messe unterhält, wird sich eines Tages in einer anderen „Gesprächssituation" befinden, wenn er als Rentner seine Gäste im Salon seines Hauses unterhält. Aber: ist ihm das bewußt?
2.4. Das Relevanzprinzip
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bal\ und zwar im Gegensatz zum nicht kreativen oder routinemäßigen Gedankengang, der ein bereichsbeschränkter, auf eine einzige Situation bezogener, sozusagen „ lokaler" Gedanke ist 12 . Im globalen kenntnisbezogenen Kontext kann einem wegen der Vielfalt und Vielschichtigkeit des Gesprächsgegenstandes schwindelig werden; ja, der Gesprächsgegenstand kann selbst zu unangenehmen Begegnungen führen. Beispielsweise zur Begegnung mit dem Widerspruch, der normalerweise abgelehnt wird, obwohl er kreative Aspekte aufweisen kann 13 . Der globale Gedanke stellt sich ebenso dem „Andersartigen" gegenüber, das normalerweise ebenfalls abgelehnt wird. Die Begegnung steht im Zeichen der Analogie und der metaphorischen Verbindung: man schöpft Bewertungsmaßstäbe aus den eigenen weltanschaulichen Auffassungen, die jedoch durch die uns umgebende und unsere Anschauungen in Zweifel ziehende Realität immer wieder in Frage gestellt werden. Man sagt also beispielsweise von der ehemaligen italienischen Partei Democrazia Cristiana - einer „andersartigen", nicht in die vorgeformten Kategorien der Politischen Wissenschaft einzuordnenden Partei - daß sie ein „großer weißer Walfisch", oder besser: der „große weiße Walfisch" gewesen ist; dagegen waren es bei der Kommunistischen Partei Italiens, auch sie „andersgeartet", die Kommunisten selber, die pedantisch darauf bestanden, daß sie „andersartig" waren und daher eine „Nicht-Partei" vertreten haben; und zwar deshalb, weil sie nicht - wie die anderen Parteien - nur einen Teil der Gesellschaft, sondern die gesamte Bevölkerung vertreten wollten. Das Prinzip der Relevanz ist also ein bewegliches Leitprinzip: man kommt überein, was relevant ist, bisweilen erst im Laufe der Unterhaltung. Im Laufe der Unterhaltung wird es von den Gesprächspartnern „ausgespielt" und „ausgehandelt". Dasselbe geschieht beim Nachdenken oder beim Selbstgespräch. „Ist dieses Faktum, dieses Verbot relevant oder nicht? Erfolgt der (atomare) Schmelzprozeß nur bei Hitze (Millionen Grad) oder kann er auch bei Normaltemperatur erfolgen?" Wir sind somit in der Lage, eine Definition sowohl des Prinzips der Relevanz als auch des Begriffes „Relevanz" zu geben. Um mit Grice zu sprechen, ist das Prinzip der Relevanz ein „Grundsatz für den Unterhaltungsablauf', der den Sprechenden zwingt, in die Unterhaltung nur themenbezogene Überlegungen einzubringen, deren Inhalt als bedeutsam betrachtet wird, und zwar selbst, wenn sie für den die Mitteilung prägenden Sinninhalt nicht unbedingt erforderlich sind. Relevanz ist eine Beziehung zwischen jedem - objektiv oder in der subjektiven Sicht des Sprechenden - bedeutsamen Satz und einer Gesamtheit von Informationen, die als Wahrheiten betrachtet und als solche vom Gesprächspartner übernommen werden. 12
Siehe hierzu J. Fodor, The Modularity of Mind, MIT Press, Cambridge Mass., 1983. Die „referentielle Fähigkeit" ist zwar noch geheimnisvoll, sie besteht jedoch: sie umschreibt Grenzsituationen, das Oxymoron. Man nehme die „Beschreibung" einer mondlosen Nacht mit wolkenlosem Himmel und geringer Feuchtigkeit im Hochgebirge: „Cette obscure clairté qui tombe des étoiles ", Corneille, Le Cyd, IV Akt, III Szene. 13
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2. Kap.: Das Modell
Dieses Verhältnis zwischen den bedeutsamen Sätzen und dem Kontext ist implikativ oder analogisch, metaphorisch, konstruktiv; evokativ. Im Sinne der Relevanz kann man sagen, daß das implikative Umfeld innerlich geschaffen und nicht einfach beobachtet und von außen übernommen wird. Sofern diese Sätze zustande kommen und vom Zuhörenden übernommen werden, verändern sie das Umfeld, in dem sie gewachsen sind und sich gefestigt haben. Der Sprechende und der Zuhörende werden durch das Wort in nahe und entfernte, gewohnte und fremde Kenntnisbereiche gedrängt, und zwar durch die relevante Information, die im Laufe des Kommunikationsvorganges vom Sprechenden geschaffen oder vom Zuhörenden übernommen wird 1 4 . Man sagt von einem guten Redner: „er eröffnet viele neue Horizonte; er führt uns Welten vor, an die wir nie dachten und die wir doch sofort als die unsrigen erkennen; er läßt uns neue Wege beschreiten und dennoch immer wieder zum Ausgangsthema, aber auf einem höheren Niveau zurückkehren .. Diesem Sprecher könnte man den gegenüberstellen, der aufs Geratewohl redet, oder denjenigen, der zwar korrekt und folgerichtig spricht, aber keinen Weg aufzeigt, der vom Gesagten anhand von Überlegungen, Analogien oder Metaphern zu anderen damit verbundenen Themenkreisen führt. Der Diskurs - oder die Auslegung der relevanten Diskursbestandteile - eröffnet den Zugang zu mehreren unter einander im Bezug stehenden Welten. Falls es nun unter diesen Welten eine oder mehrere gibt, die wir bisher auf Grund mangelnder Ideen oder eines schwachem Gedächtnisses nicht „begehen" konnten - beispielsweise die Welt unserer Kindheit oder deren Emotionen; oder die Welt unserer Geschicke und Hoffnungen; oder die Welt des Schicksals, der „Mission" der Menschheit - und falls jemand mit seinem Wort den Zugang öffnen und uns hineinführen würde, indem er uns die Orte unserer Erinnerung und unserer Träume Wiedersehen ließe, dann wäre dieses Wort „heraufbeschwörend". Das ist typisch für Proust, für Mann in seinem Doktor Faustus, für den Goethe des Wilhelm Meister und alle Werke, die vom Hauch künstlerischer Inspiration beseelt sind. Natürlich wird ein Rationalist-Neopositivist sagen, daß für die Auslegung eines Satzes im Gespräch die Kenntnis des „Situationsumfeldes" nicht erforderlich sei; falls ein Sprechender eine - oder keine - Aussage machen wolle, so solle er dies gleich deutlich sagen. Wenn jemand wach bleiben wolle, könne er einfach mit „Ja, bitte" auf das Angebot einer Tasse Kaffee am Spätnachmittag antworten. Dies entspricht nun allerdings einer referentiellen und aussagebezogenen Vereinfachung, die in der Realität keine Bestätigung findet und die den Sprechenden vor dem Gesprächspartner „bloßstellt" (nimmt sie ihm doch jede Verteidigungs- und Verhand-
14 Man könnte auch im Jargon der täglichen Sprache sagen, daß dies die „Hinweise" für die Abschaffung der Zweideutigkeit sind.
2.4. Das Relevanzprinzip
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lungsmöglichkeit). So möchte man gelegentlich zweideutig sein; in anderen Fällen muß man es sein. Letzten Endes sind die Unterhaltung und die Rede nicht Sprachspiele - wie Rudolf Carnap behauptete - sondern Gesellschaftsspiele und die darin eingeflochtenen zweideutigen Ausdrücke die Spielzüge. Kurzum, wer spricht, wer zu jemandem spricht, tut dies mit erklärenden umfeldbezogenen Aussagen; er tut dies mit Anspielungen, Metaphern, Beschwörungen und Aussagen, selbst wenn sie ungenau und ihre Bezugspunkte weiter gesteckt sind. Besser gesagt: der Sprechende überläßt dem Zuhörenden die häufig anregende Aufgabe, sich die passende oder angemessene Bedeutung seiner Aussagen auszusuchen, und somit unter Umständen auch eine Möglichkeit der Gesprächslenkung. Wir kommen jetzt zur Erläuterung von C3. C3 ist zwar mit C2 verbunden, aber von ihm unabhängig. Muß doch C2 subjektiv gesehen werden und zwar mit Bezug auf die Rolle der Kommunikationsträger, wenn sie die Mitteilung produzieren bzw. auslegend neu ausformen. In C3 haben wie es hingegen mit einer objektiven Situation zu tun und zwar insofern, als das Gesagte (oder die Geste) auch ohne den Willen und das Zutun (durch die Sinnerzeugung oder Auslegung) der beiden Kommunikationspartner einen Sinn bekommt. In wissenschaftlichen Kreisen hat die „Herausforderung" von Jacques Lacan Aufsehen erregt, der in seinem überfüllten Universitätsseminar über den „klassischen" Gedanken Freuds eine Vorlesungsstunde lang „seiner Stille und Regungslosigkeit" einen Sinn gab 15 . Manchmal - so erzählt man sich - habe er diese Art von Vorlesung fünf Minuten vor Schluß unterbrochen und sich an die Anwesenden mit einem „Des questions ?" („Haben Sie Fragen?") gewandt. Auf der anderen Seite war der sprechende Lacan vielleicht ebenso aussageschwach und schwer verständlich wie der stumme Lacan und trotz allem irgendwie faszinierend und „anregend". Er war, wie auch immer er sich gab, stets „sinnvoll", so wie es seine Bücher sind, die - um es mit Mann in seinem Doktor Faustus zu sagen - mit „einer Nacht... die vor lauter Blitzen niemals dunkel ist" vergleichbar sind 16 . Auch der stumme und unbewegliche Lacan auf seinem Lehrstuhl war „sinnvoll". Zeigte er doch seinen Zuhörern seine unglaubliche Unbeweglichkeit und sein zerfurchtes zum Nachdenken anregendes Gesicht; ja, sie kamen nicht um den Versuch herum, seine Gedankengänge nachzuvollziehen. 15 J. B. Pontalis (bearbeitet von), Seminari di Jaques Lacan (1956-1959), Pratiche Editrice, Parma, 1979. 16 T. Mann, Doctor Faustus , Fischer, Frankfurt a/M., 1984, S. 457. Der gesamte Auszug: (Trio für Geige, Viola, Violoncello) „es war ein exuberantes Durcheinander von Eingebungen, Forderungen, Enthüllungen und Abberufungen zur Bewältigung neuer Aufträge, ein Tumult von Problemen, die zusammen mit ihren Lösungen hereinbrachen - eine Nacht, sagte Adrian, in der es vor Blitzen nicht dunkel wird."
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2. Kap.: Das Modell
Es wurden Wetten abgeschlossen, ob er sein - von Minute zu Minute eindrucksvolleres - Schweigen durchhalten würde. Ob und wie er sein Schweigen unterbrechen würde; schließlich lastete auf jedem von ihnen, der dort mit anderen Vierhundert saß, das Geheimnis eines durch sein Schweigen und seine Unbeweglichkeit geschaffenen Bandes als unmittelbare und offensichtliche Bestätigung einer geheimnisvollen Fähigkeit, das Interesse zu wecken, einer „Macht der Beschwörung", also der Fähigkeit des „Einberufenden", aus dem Nichts eine Beziehung zu schaffen 17. Im allgemeinen sagt uns C3, daß die Kommunikation - als Ausdruck der Beziehung zwischen Sprechendem und Zuhörendem - auf verschiedenen Ebenen jeweils Sinnhaftigkeit produziert. Dasselbe kann umgekehrt vom Zuhörenden behauptet werden, allerdings nur, wenn - und in dem Maße, in dem - er am Kommunikationsvorgang teilzunehmen bereit ist. Damit soll gesagt werden, daß es bedeutungsvoll ist, was man sagt und worüber man sich ausschweigt, oder was der Zuhörende anzuhören für angebracht hält oder möglicherweise den Sprechenden zu sagen auffordert. Genauso wie es bedeutungsvoll ist, wenn zuviel gesprochen wird, wenn man jemandem gefallen oder - um der Distanz willen - den Zuhörenden in eine Situation der Unterlegenheit oder Passivität versetzen will. Aber man kann den Sprechenden auch mit dem einfachen Wort „Was erzählst Du mir Schönes?" oder „Sag mir etwas!" herausfordern. Das „Reden" kann Informationen über die Welt liefern und Auskünfte über den Sprechenden: über seine Erwartungen, über seine Erfahrungen, beides mit einer nicht abstrakten, sondern sehr konkreten Kommunikation verbunden. Wer lügt, ohne daß wir es merken, hat uns ein Märchen aufgetischt; wenn wir es hingegen merken, hat er uns einen Aspekt seiner Persönlichkeit offenbart; oder er hat uns ein Sympton seiner Neurose aufgezeigt. Wenn er gelogen hat, um uns zu hintergehen, hat er mit unserer Einfalt gerechnet; er hat sich dabei risikofreudig entschlossen, uns den Status des einfältigen Zuhörers zuzuweisen. Das Risiko wird noch um einiges größer, wenn wir uns als Zuhörer so verhalten, als ob wir nichts merkten; wir können unsererseits unsere Gedanken verschleiern und sie vorsorglich für uns behalten, um sie dann später als Trumpf auszuspielen. Man könnte sich für die verschiedenen Situationen und Umstände weitere Beispiele ausdenken und sie entsprechend artikulieren. Hier geht es allerdings darum, den wahren und angepaßten Sinn des C3 wiederzugeben. Er besteht in der Feststellung, daß es einen Kommunikationsvorgang gibt - unabhängig davon, was gesagt oder nicht gesagt oder wie auch immer gesagt wird. Man kann nur die halbe Wahrheit sagen oder sie ganz verschweigen; man kann die jeweiligen Rollen manipulie17 Einer seiner italienischen Nacheiferer und angeblichen Schüler, Armando Verdiglione, hat versucht, den Meister mit anfänglichem kurzem Schweigen nachzuahmen; aber die Angst vor dem Verlust des Kontaktes zu den Zuhörern zwang ihn nach einigen Minuten zu einem nicht mehr abbrechenden Wortschwall.
2.5. Zwei weitere allgemeine Merkmale der Kommunikation
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ren. Jedoch kann man nicht - ganz gleich, was man macht oder sagt - den Kommunikationsvorgang als solchen auslöschen, solange die Beziehung (also die phatische Situation) besteht. C3 könnte also neu formuliert werden und zwar als die Übereinstimmung zwischen Kommunikationsvorgang und der phatischen Situation.
2.5. Zwei weitere allgemeine Merkmale der Kommunikation Die axiomatische Konstruktion, die uns mit Cl, C2 und C3 gegeben ist, bleibt in einem doppelten Sinne offen: sie ist unvollständig und sie verfügt noch nicht über eine endgültige Form. War es doch nicht meine Absicht, dem Leser sofort ein fertiges Produkt zu liefern, sondern ihm die Möglichkeit zu geben, an der Ausarbeitung mit ihren unvermeidlichen Korrekturen, Ergänzungen und Umformulierungen mitzuwirken.
Der Kommentar und die Überlegungen zu den ersten drei Allgemeinen Merkmalen veranlassen mich, noch ein weiteres Merkmal - C4 - zu formulieren oder, besser gesagt, „anzuerkennen4': danach führt das Sagen aus dem Gesagten hinaus und zwar in die Welt der Tatsachen, auf die sich das Sagen bezieht; in die Welt, die dem Redenden bekannt ist; in die Welt der Situationen, die hinter der Kommunikation stehen; in das Universum der „ möglichen Welten " des Sprechenden und des Zuhörenden. Mit C4 wird das neopositivistische Postulat in Frage gestellt, wonach das Gesagte nur dann bedeutungsvoll ist, wenn es in wahre oder falsche Sätze artikuliert werden kann, die also nur im Falle einer „guten Formulierung 44 von Tatsachen „berichten" und sie umschreiben. C4 lehnt daher das Prinzip der „referentiellen Fehlerhaftigkeit" ab, wonach ein in Worte gefaßter Begriff nur andere Begriffe - aber niemals Tatsachen - in einer unendlichen Kette aneinander reihen kann 18 . Gegen diesen „Mangel" des Bezugsmodells läßt sich einwenden, daß die Auslegung sich zunächst in einer Paraphase niederschlagen kann, bei der der Inhalt aus gängigeren Worten besteht, bei dem er also aus komplexen in einfache Ausdrücke übertragen wird. Aber dies ist nur der erste Teil des Auslegungsvorganges. Der andere interessantere Teil besteht im Versuch, die darin erwähnten Bezugswelten ausfindig zu machen und mit Hilfe der Mitteilung und der darin enthaltenen semantischen Hinweise sowie mit Hilfe der darin vorgeschlagenen Begriffe in sie einzudrängen. C4 weist auf die Sinnschaffung im Diskurs, die sich dann ergibt, wenn das Gesagte aus der Rede hinaus und zu den Fakten führt. Genau darin besteht die Kreativität der Sprache. Die Kraft, die in der Sinnhaftigkeit der Rede liegt, wenn sie „nach außen führt", entsteht allerdings nicht im Gespräch, sondern aus der Le18
U. Eco, Trattato di semiotica generale , Bompiani, Milano, 1975, S. 88.
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2. Kap.: Das Modell
benserfahrung der Gesprächspartner, die reden und interpretieren; es handelt sich also um ein deiktisches (auf die Tatsachen verweisendes) 19, syntaktisch-logisches Vorgehen der Begriffsbildung 20. Der Zugang zur Kenntniswelt des Sprechenden öffnet manchmal den Zugang zu anderen, noch stärker referentiellen Gesprächs weiten. Dies ist jeweils bei einer revolutionären wissenschaftlichen Entdeckung der Fall, die sich vor allem auf den Kenntnisbereich des Entdeckers und desjenigen, der davon zum ersten Mal hört, auswirkt. Die Theologen, die Galilei zuhörten, konnten sich kein Weltbild („tatsächlicher Stand der Dinge") vorstellen, in dem die Erde als Schöpfung Gottes - nicht im Zentrum steht, wie es die Heilige Schrift „zweifelsfrei" festgestellt hatte. Dasselbe wiederholt sich mit allem Neuen, ob es nun wichtig oder unwichtig ist. So wird man sich schwer tun, einem Vertreter der Haute Couture beizupflichten, der eine starke, ja autoritär wirkende weibliche Kleidung vorschlägt und nicht mehr das Bild einer traditionell schwachen, demütigen und hilfsbedürftigen Frau vermitteln will. Die Diskussion um den Stil Armanis Anfang der siebziger Jahre mit quadratischen Kleiderformen und „beeindruckenden" Schultern erschien daher seltsam, ja anstößig. Wenn aber - wie es dann tatsächlich vorkommt - die „Macht" der Couturiers die Mode beeinflußt, weckt das Design die Neugier, dann „belustigt es" und schließlich gefällt es und setzt sich, jegliche weitere Alternative ausschließend, durch, wird schließlich gang und gäbe, ja zu einer gesellschaftlichen Verpflichtung. Die Übernahme des neuen Kleidermodells hat den Zugang zu einer „möglichen" - aber gleichzeitig auch wirklichen - Welt mit einem anderen Status der Frau in der gesellschaftlichen Wirklichkeit und in der allgemeinen Vorstellungswelt geöffnet. Zehn Jahre später zeigen uns die Werbeplakate Paare, bei denen die Frau im Vergleich zum Mann eine „dominante Rolle" spielt (die sichere, unbekümmerte Eroberin, stets über dem Mann stehend). Es ergibt sich also eine neue Auslegung des Unterschiedes zwischen „einfacher" und „schwieriger" Rede. Eine Rede kann schwierig sein, wenn sie sprachlich kompliziert (auf Grund der Satzstruktur, des Satzgefüges oder ihrer ungewohnten Ausdrücke), wenn sie also strukturmäßig verworren oder in den Redewendungen ungewohnt ist. Aber schwierig kann auch ein strukturell und syntaktisch durchsichtiger Text wie der von Kant sein, wenn er den Leser und besonders den zeitgenössischen Le19 Bezeichnend für das Sprechenden oder für Objekte außerhalb des Sprechenden. Ein gutes Beispiel der Deixis ist jenes, das nach einer namhaften Etymologie den Ausdruck dieci (zehn) mit der arabischen Wurzel „dik" (zeigen) verbindet: gezeigt werden die zehn Finger der beiden Hände. 20 Also Schaffung von logisch sinnvollen Verbindungen zwischen Wörtern, die nach der Analogiemethode die Verbindungen der Mathesis Universalis mit der realen Welt reproduzieren würden.
2.6. Rechtfertigung des Modells der fünf allgemeinen Merkmale
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ser aus dem Text hinaus in ihm unbekannte Welten führt; wenn es sich also um einen Diskurs handelt, der auf die Überzeugungen des Lesers aufprallt, weil er nicht in den Rahmen von seiner Kenntniswelt paßt; der den Leser aus einem „dogmatischen Schlaf erweckt. Ein Diskurs ist dann einfach, wenn er alle diese Merkmale nicht aufweist. Es gibt allerdings auch eine Art von Einfachheit, die aus der Banalität stammt: es handelt sich um die überflüssige Rede21, die uns nicht zu einer Meinungsäußerung herausfordert, die unseren Kenntnisrahmen nicht durchbricht; die uns keinen Zugang zum Neuen eröffnet, ja uns nicht einmal einen flüchtigen Blick auf andere mögliche Welten werfen läßt; die unsere Kenntnisse nicht bereichert und unseren Horizont nicht erweitert. Abschließend kommen wir zu dem Axiom, das mir das letzte des Modells erscheint: C5: In jedem Kommunikationsvorgang gleichberechtigte Partner.
sind der Sprechende und der Zuhörende
C5 scheint auf C l zurückführbar. In Wirklichkeit steht C5 sozusagen vor C l ; und zwar in dem Sinn, daß C5 auch dann gültig ist, wenn Sprechender und Zuhörender, oder einer von beiden, auf seine Rolle verzichtet. C5 beruft sich auf eine Situation, (die nicht unbedingt offensichtlich ist), in der die Kommunikation nur in Dialogform erfolgen kann. Selbst wenn der Gesprächspartner nicht anwesend ist, wird der Sprechende ihn sich in seinem Geiste vorstellen: er wird ihm Reaktionen und Antworten zuschreiben, die real sein könnten. Jeder strukturierte Gedanke entsteht somit im Dialog und für den Dialog und setzt in seiner Sinnhaftigkeit den Beitrag eines realen oder eines erfundenen Zuhörers voraus.
2.6. Rechtfertigung des Modells der fünf allgemeinen Merkmale Der einleitende Abschnitt mit der Festlegung von Axiomen für die Untersuchung des „Kommunikationsvorganges" ist nunmehr mit dem Versuch der Ausarbeitung eines Modells abgeschlossen. Man kann den gesamten Prozess der Axiomatisierung wie folgt zusammenfassen: die allgemeinen Merkmale haben das Wesen des Untersuchungsgegenstandes festgelegt. Nun sollen die Merkmale des täglichen Umfeldes als Anwendungsbedingungen in logisch-prädikativen Begriffen 22 bestimmt werden 23. 21 In dem Sinne, daß es auf unsere wissensmäßige „Trägheit" vertraut; auf unsere nicht notwendige „Auslegung der Kommunikation". 22 Im Sinne von „was über... gesagt wird".
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2. Kap.: Das Modell
Verständlicherweise wurde unsere bisherige Bemühung um Wissenschaftlichkeit dadurch behindert, daß sich die wissenschaftliche Vorgangsweise nicht auf Objekte, Prädikate und Umstände anwenden läßt, die sich in abgegrenzte, klar bestimmbare und eindeutige Definitionsrahmen einfügen lassen. Diese Definitionen könnten sich nur aus einem abstrahierenden Prozeß von Situationen und empirisch feststellbaren Tatsachen ergeben. Da ich mir allerdings bewußt bin, daß die Abstraktion zur Reduzierung der Untersuchungsobjekts auf einige wenige Grundelemente führt, schließe ich diesen Weg aus und gebe mich mit einer geringeren Genauigkeit zufrieden. Dieselbe Betrachtungsweise werde ich bei der - induktiven, deduktiven, konstruktiven, modalisierenden - logischen Inferenz anwenden; und zwar wähle ich den Weg der (gemessen an der „vollen" in den Lehrbüchern dargelegten) beschränkten Logik. Ich habe bereits von einerflexiblen Epistemologie gesprochen. Damit will ich allerdings nicht sagen, daß nicht größtmögliche Wissenschaftlichkeit bei der Sammlung der Daten und in den Inferenzprozessen erforderlich wäre. So sind aprioristische Stellungnahmen oder verheimlichte oder nicht begründete Bewertungen zu vermeiden. Trotzdem werden die Umschreibungen wohl zumeist nicht vollständig und abgeschlossen, sondern immer mehr oder weniger verschwommen sein; und zwar nicht nur wegen einer gewissen Unbestimmbarkeit der zur Anwendung kommenden Ausdrücke, sondern auch im Hinblick auf die vorgegebene sprachliche Doppeldeutigkeit in den Sozialwissenschaften, die niemals so eindeutige Feststellungen wie in den exakten Wissenschaften zuläßt. In jeden Diskurs werden verschiedene Ausdrücke für denselben Sinninhalt eingebracht und mit Argumenten und sprachlicher Geschicklichkeit ausgespielt oder - hingegen - im Hinblick auf eine bessere Stellung beim späteren Ausspielen der Sinnhaftigkeit „offen" gelassen. Dabei sei auch erwähnt, daß man sich anstatt der erwähnten „offenen" und unbestimmten Umschreibungen auch auf neugeschaffene Ausdrücke für den Kommunikationsgegenstand bedienen kann, die dann noch unbestimmter sind. So im Falle einer sinnbildlichen, symbolischen, analogen und bildlichen Sprache. Sie wird gerne und wirkungsvoll eingesetzt, wenn man von etwas grundsätzlich Unbestimmtem spricht, das man nicht in der einschränkenden Abstraktion schematisieren will 2 4 . 23 Was in diesen Situationen das grammatikalische Subjekt der Prädikate der vorhergehenden Fußnote wird. 24 Ducrot spricht in diesem Zusammenhang von rhetorischer oder darlegender oder sich auf die Verantwortung des Sprechenden beziehender Rede, die sich frei auf die Figuren der Rhetorik beruft, um die Rede des Sprechenden ohne die Einschränkungen der wissenschaftlichen Umschreibung zu gestalten. Siehe O. Ducrot, Dire et ne pas dire. Principes de sémantique, Herman, Paris, 1972. Im besonderen das Kapitel „ La pré supposition dans la description sémantique ", S. 103.
2.7. Ein Blick auf die Modelle der exakten Wissenschaften
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Dabei handelt es sich nicht um Argumentationsunfähigkeit, sondern eher um die Freiheit der argumentierenden Person, die sich sehr wohl der Tatsache bewußt ist, daß sie - wegen ihres Unvermögens einer korrekten Darstellung der Wahrheit aufgrund des ihr zur Verfügung stehenden Begriffsinstrumentariums und der Unzulänglichkeit des Sprachmittels - nicht in der Lage ist, die Wahrheit in einem logisch-referentiellen Diskurs voll zu erfassen; sie wählt also einige sprachliche Aspekte aus und führt sie auf andere Aspekte zurück oder denkt sich eine Rekonstruktion entweder in einer Metapher oder in einem heuristischen Modell oder in einem epistemologischen Konzept aus und betrachtet sie als referentiell und wirklich. Mit diesen Einschränkungen und Voraussetzungen läßt sich mit Hilfe einer flexiblen Epistemologie versuchen, konkretere Aussagen über den so schwer auf genaue Gedankenschemata rückführbaren Kommunikationsprozeß zu äußern. Es handelt sich nun darum, bei der Analyse dieses Kommunikationsprozesses den Weg der - logischen, beschreibenden, konstruierenden und rekonstruierenden - Wissenschaftlichkeit zu beschreiten. Wissenschaftlichkeit ist umso notwendiger, als die Mitteilung ein Vorgang ist, der heute einerseits lebenswichtig, andererseits in seiner Analyse strukturell und inhaltsmäßig ungenau, enttäuschend und geradezu ärmlich im Vergleich zur Prachtentfaltung der Kommunikationsmedien ist.
2.7. Ein Blick auf die Modelle der exakten Wissenschaften Echte Mißverständnisse behindern eine allgemein gültige Anwendung der axiombezogenen Methode und der Erarbeitung eines nicht mathematisch konstruierbaren Modells. Man ist aber auch über die Beschränktheit der Gedankenmodelle und der Axiomatisierung unbefriedigt und zwar selbst im Falle ihrer traditionellen Handhabung. Auf dem Symposium zu Ehren von Alfred Tarski im Jahre 1971 stellte der bekannteste zeitgenössische Anhänger der Modelltheorie Chen Chung Chang folgende Frage 25: „Sind unsere Modelle dem Studium der deduktiven Wissenschaften angemessen? ... Der Ausdruck „Modell" ... wird von einer großen Zahl von Forschern in verschiedenen Gebieten (wie) ... Wirtschaft, Biologie, Psychologie verstanden und angewandt... (Sie) sind auf der verzweifelten Suche nach Modellen (für diese Disziplinen) . . . , ohne daß jemand von ihnen zu wissen scheint, was sie bedeuten ... Wir Spezialisten der Modelltheorie wissen, was ein Modell ist, und können es diesen Forschern sagen. Aber unsere Modelle befriedigen sie nicht ... entweder, weil ihre Wissenschaftlichkeit noch keine deduktive Anwendung zuläßt25 oder weil ihre Sprache noch nicht formal genug ist 2 6 oder - und das ist wohl der wich25
Siehe L. Henkin u. a., Proceedings of the Tarski Symposium, Providence, 1974, S. 411-
436 ff. 26
Die Hervorhebung ist von mir (P. T).
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2. Kap.: Das Modell
tigste Grund - weil es grundsätzlich schwierigere Dinge gibt als jene, die wir Modelle nennen ... Ihre Vorstellung des Modells entspricht also nicht dem Modell, das wir so intensiv untersuchen." In dieser wichtigen und ehrlichen Aussage von Chang lassen sich zwei grundsätzliche Mißverständnisse gepaart mit einer interessanten Aufgeschlossenheit erkennen. Beginnen wir bei den Mißverständnissen. Sie sind - in der Form der indirekten Vorschrift - in den Worten „noch" und „formal" enthalten. Chang schreibt die Schuld für die Nicht-Anwendung der Modelltheorie und der Modellform in Bereichen, die nicht den deduktiven Wissenschaften - wie die Sozialwissenschaften - angehören, dem Umstand zu, daß letztere noch nicht deduktiv sind und daß ihre theoretischen Aussagen noch nicht den hohen Ansprüchen einer Formalisierung Genüge leisten. Dieses doppelte „noch" geht von einer alles andere als bewiesenen Voraussetzung oder, besser gesagt, selbst einem Vorurteil aus, wonach jede Aussage mit wissenschaftlichem Anspruch - die also als Axiom ausdrückbar und in ein Modell rückführbar ist - in einer analytisch-mathematisch-deduktiven Sprache formuliert sein muß. Dies ist eine ganz eindeutig Forderung. Allerdings - auch dies ein Grund zur Hochachtung für Changs Klugheit - macht er selbst einen Einwand, wenn er sagt: „es gibt grundsäzlich schwierigere Dinge als jene, die wir als Modell bezeichnen". Der Einwand ist allerdings nur beschränkt, weil er die Möglichkeit einer anderen Sicht des auf die Sozialwissenschaften anwendbaren Modells, aber keine andere Sicht seiner Wissenschaftlichkeit berücksichtigt. Hier liegt genau das Kernproblem: und zwar im Umstand, der überzeugend scheint, daß die Form oder, besser gesagt, die bekannte und anerkannte Struktur des auf Axiomen beruhenden Modells beibehalten werden kann und zwar selbst, wenn man auf die Rede, auf die Sprache und auf die den deduktiven Wissenschaften (Mathematik, Logik) und den empirischen Wissenschaften (Physik, Chemie) ferneren Forschungsbereiche den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit überträgt. Hierzu gibt es bekannte Präzedenzfälle: Max Weber für die Geschichtswissenschaft und Sigmund Freud für die Psychologie. Besonders Freud war einer der ersten, wenn nicht der erste, der - beinahe gleichzeitig mit Arnold Schönberg in der Musik - die konstruktive Logik anwandte, um seinen Aussagen eine konkrete Form zu geben27. Diese Auffassung wird nicht von Patrik Suppes geteilt 273 . Er ist der Ansicht, daß jede Aussage mit wissenschaftlichen Ansprüchen auf die Modelltheorie der deduktiven Wissenschaften und der Mathematik zurückgeführt werden muß.
27 Siehe: S. Freud, Analisi terminabile e interminabile. Costruzioni nell'analisi , Boringhieri, Torino, 1977; A. Schönberg, Analisi e pratica musicale , Boringhieri, Torino, 1974.
2.8. Das Tarski-Modell und seine Ausdehnbarkeit
Kehren wir also auf das Prokrustesbett
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des logischen Neopositivismus zurück.
Ein anderer maßgebender Epistemologe wie Joseph Sneed ist der Meinung, daß die uns bekannte Modellstruktur letztlich nur imstande ist, die Physik-Mathematik, also eine Abstraktion der natürlichen Beziehungen zwischen physischen Größen formal festzulegen, und daß nicht einmal die Physik als im wesentlichen empirisch-beobachtende Wissenschaft ein Modell erarbeiten kann 28 . Maria Luisa Dalla Chiara Scabia und Giuliano Toraldo di Francia haben völlig recht, wenn sie eine von Rudolf Carnap stammende Unterscheidung zwischen „theoretischen Ausdrücken" und „beobachtenden Ausdrücken" 29 wieder aufnehmen; und zwar, um die „theoretische Analyse mit der realen Physik zu verbinden". Letztere ergibt sich aus einem gewissen Zusammenspiel von physikalischen Situationen, die sich manchmal (oder fast immer) nur mühsam in die Formen der theoretischen Analyse pressen lassen. Es genügt, an die systematischen (und daher unvermeidbaren) Fehler bei der Messung der physikalischen Größen zu denken. Die beiden Autoren schlagen deshalb vor, daß bei jeder bestimmten Größe von einem Genauigkeitsfeld (im Hinblick auf die unvermeidbaren Meßfehler) und von einem Anwendungsbereich hinsichtlich der untersuchten physikalischen, realen, nicht formalen Situationen gesprochen wird. Zusammenfassend - nicht ohne eine kritische Reaktion jener Autoren, die weiterhin von der Exaktheit ausschließlich der „exakten" Wissenschaften überzeugt sind - bestätigen sie, daß eine bestimmte Kategorie der physikalischen Situationen wie die Phänomene der Mechanik nicht nur zu einer Theorie führt, sondern zu einer Gruppe von Theorien, die alle in sich logisch nach jeweils festgelegten Grundregeln aufgebaut werden können, jedoch stets voneinander unabhängig bleiben müssen. Das in diesem Zusammenhang bekannteste von Dalla Chiara Scabia und Toraldo di Francia angeführte Beispiel geht auf die drei Mechaniken ein: die klassische, die relativistische und die Quantenmechanik: von ihnen ist auch heute noch jede nicht auf die andere rückführbar, so daß sie nicht in einem Modell zusammengefaßt werden können.
2.8. Das Tarski-Modell und seine Ausdehnbarkeit auf die Sozialwissenschaften Dalla Chiara Scabia und Toraldo di Francia haben sich vorgenommen, selbst den physikalischen, beobachtenden, realen Teil der exakten Wissenschaften, der 27a P. Suppes u. a., Empirical Comparison of Models for a Continuum of Responses with Non-Contingent Bimodal Reinforcement , in: R. C. Atkinson (ed.), Studies in Mathematical Psychology, Stanford University Press, Standford, 1964, p. 358-379. 28 In: L. Geymonat, Storia del Pensiero Filosofico e Scientifico, Vol. VII, Garzanti, Milano, 1976, S. 355. 29 M. L. Dalla Chiara Scabia, G. Toraldo di Francia, „A Logical Analysis of Physical Theories ". In: Rivista del Nuovo Cimento, Serie 2-3, S. 1-20.
4 Trupia
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2. Kap.: Das Modell
bisher in die Modelle und „wohlgeformten Formeln" des logischen Neopositivismus (kurz, elegant, exakt und abstrakt) der deduktiven Modelle „hineingezwängt" worden war, als Axiom zu formulieren. Aber die Herausforderung kann noch weiter gehen: selbst soziale Verhaltensregeln können zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung unter Beachtung der größtmöglichen Wissenschaftlichkeit gemacht und daher mit Hilfe von Grundregeln und von Modellen erfaßt werden. Ohne dabei natürlich die Natur des Objektes (das soziale Umfeld, die darin enthaltenen menschlichen Erfahrungen) zu beeinträchtigen und ohne die beobachteten Merkmale in das enge Bett von ebenso „wohlgeformten", wie unrealistischen Formeln zu pressen. Um einen bereits begangegenen Weg zu beschreiten, sei auf die Überlegungen Alfred Tarskis Bezug genommen. Tarski ist sicherlich ein ernsthafter Wissenschaftler, denn er übertreibt nicht; er macht aus seiner Wissenschaftlichkeit kein Mittel zum Zweck. Er geht nicht so weit, auf die Beachtung der „physischen Situation" und des Untersuchungsobjektes in seiner „natürlichen" Komplexität völlig zu verzichten, zumal wenn vielschichtige Strukturen wegen einer grundsätzlichen Unvereinbarkeit nicht auf einfache Abstraktionen rückführbar sind. Tarski stellt die „deduktive Methode" in den Kapiteln V I bis IX seiner Einführung in die Logik" vor 30 . Seine Überlegungen entsprechen sicherlich deduktiven und formalen Ansprüchen; sie können in der Mathematik und der theoretischen Physik zur Anwendung kommen, wo „die Formeln reine Beziehungen zwischen Begriffen herstellen, deren Substanz und deren Wahrheitsinhalt unbeachtet bleiben". Es handelt sich also um Begriffe, denen lediglich einige abstrakte Eigenschaften zugeschrieben werden. Als Beispiel seien die Kardinalzahlen angeführt: sie sagen aus, daß einige Zahlen größer oder kleiner als andere sind; daß die Fläche einer geometrischen Figur größer oder kleiner als die einer anderen ist usw. Die Transparenz der Tarskischen Darlegung läßt jedoch stets die zu vereinbarenden Voraussetzungen erkennen, auf denen die Überlegungen aufbauen. Es ist daher unter Umständen möglich, auf die Form und die strukturellen Merkmale seiner Überlegungen zurückzugreifen, um sie auf andere Objekte und andere „natürliche " Situationen - unter Wahrung ihrer Merkmale und tatsächlichen Komplexität - zu übertragen. Es geht letzten Endes hier um die Festlegung einer Epistemologie - oder wenigstens eines Kenntnisstandes - für die Sozialwissenschaften; einer Epistemologie, die die höchstmögliche Wissenschaftlichkeit mit der Berücksichtigung der Merkmale des Untersuchungsobjektes (in unserem Fall: des „Kommunikationsvorganges) verbindet. Ich habe hierfür den (aus der Sicht der Tradition) widersprüchlichen Ausdruck „flexible Epistemologie " gewählt. Ich habe in der Tat vor, wie ich 30 A. Tarski, Introduzione alla Logica, Bompiani, Milano, 1969; die erste, polnische Ausgabe stammt aus dem Jahre 1936.
2.8. Das Tarski-Modell und seine Ausdehnbarkeit
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bereits sagte, ein Modell des Untersuchungsgegenstandes „Kommunikationsvorgang" zu konstruieren und zwar, ohne dessen empirisch erkennbares Wesen oder seine Komplexität zu beeinträchtigen. Dabei passe ich bewußt das epistemologische Modell der „Sache" und nicht - wie dies mit einer der Abstraktion verpflichteten Gepflogenheit gerne getan wird - die „Sache" dem Modell an. Welche Aussage machen die auf Axiomen aufgebauten Modelle? Sie geben Auskunft über grundsätzliche (unbestimmte) Leitlinien und über aus diesen abgeleitete und daher von ihnen bestimmte Grundsätze und über die Beziehungen zwischen den ursprünglichen und den abgeleiteten Leitlinien. Und was sind die ursprünglichen Leitlinien? Sind sie das Wesen31 des Gesprächsgegenstandes: wie die Zahlen oder die Größen oder die „Sammlung" von Objekten (Mengen) für die Mathematik, wie die Kraft, die Masse etc. für die Physik oder wie der „materielle Punkt" (ein in sich widersprüchlicher theoretischer Ausdruck) für den als „rationale Mechanik" bezeichneten Teil der Physik? Die axiomatisierten Disziplinen stellen Beziehungen her; sie schaffen keine Objekte (wie es beispielsweise die ontologische Überlegung tut). Seltsamerweise beginnt die Wissenschaftlichkeit der paradigmatischen Grundregeln erst auf einem „höheren" Niveau. Auf dem „niedrigeren", grundsätzlichen Niveau sind die Vorstellungen eher vage und die .... Zurückhaltung desjenigen, der die axiomatischen Thesen aufstellt, maximal. Man weiß wenig über die Grundregeln und über dieses Wenige schweigt man lieber. Mit überraschender Inkongruenz behauptet man, es sei müßig zu fragen, worin diese Grundregeln bestünden, es sei unsinnig und nicht rational. Nach ihrer „logischen Substanz" zu fragen erübrige sich, da man von ihnen keine rationale Aussage (in logischer und wissenschaftlicher oder begrifflich konstruierbarer Form) erwarten dürfe. Folglich solle man nicht darüber sprechen, könne man nicht darüber sprechen. „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen" behauptete Wittgenstein zuerst 32. Aber später begann er, sich zu fragen, ob nicht gerade dieses Objekt des Schweigens das eigentliche Gebiet war, über das man hätte nachdenken, überlegen und diskutieren sollen. Die Anwendbarkeit der axiomatischen Methode auf die Sozialwissenschaften und insbesondere auf die Kommunikationstheorie öffnet die Tür zur theoretischen Überlegung. So entsprechen im Falle unseres Modells die „allgemeinen Merkmale" den Axiomen dieses Modells, da sie von den verschiedenen Formen und den verschiedenen Begleitumständen unseres Untersuchungsgegenstands unabhängig sind. Tarski behauptet richtigerweise folgendermaßen: „die Prinzipien (im Bereich der deduktiven Wissenschaften) sollen dem Wissen im Bereich der Logik und der 31
Ich benutze das Wort „Wesen" in seiner üblichen Bedeutung. L. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, Logisch-philosophische Abhandlung, Suhrkamp, Frankfurt a/M., 1977 1968. Proposition 7, S. 115. 32
4*
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2. Kap.: Das Modell
Mathematik den größtmöglichen Grad an Klarheit und Stärke verleihen" 33 . Er ist ein ehrlicher Wissenschaftler, der sich im Bereich des Möglichen bewegt. Er erinnert jedoch an seinen berühmten Vorgänger Pascal und an dessen Traktat „De Γ esprit géométrique et de l'art de persuader" als Ausdruck des Traums von einer absoluten und gleichzeitig überzeugenden Rationalität. Bekanntlich erkannte Pascal dem Menschen einen „esprit de finesse" zu, der den von Individuum zu Individuum unterschiedlichen Geist der Geometrie begleitet. Der „esprit de finesse" drückt sich in einer vagen, nicht wissenschaftlichen, nicht größenbezogenen, intuitiven, symbolischen oder analogischen Sprache aus. Aber es ist möglich, Bereiche, bei denen man normalerweise und spontan den „esprit de finesse" anwendet, auch wissenschaftlich, also mit dem „esprit de géometrie" zu untersuchen. Genau dies tat Pascal, wenn er als Philosoph Themen wie das Gewissen, die Seele, Gott usw. untersuchte. Kehren wir zu den Ausführungen von Tarski zurück: „Wenn wir daran gehen, ein bestimmtes Gebiet wissenschaftlich zu untersuchen, isolieren wir zuerst einige Erkenntnisse, die uns sofort eingängig scheinen; diese Erkenntnisse bezeichnen wir als ursprüngliche oder unbestimmbare Erkenntnisse. Wir benützen sie, ohne ihre Bedeutung zu erklären" 34. Man kommt dann, fährt Tarski fort, zur Definition der abgeleiteten Erkenntnisse. Es entstehen also Beziehungen zwischen ursprünglichen Erkenntnissen, deren Aussage nicht in Frage gestellt werden kann und daher nicht bewiesen werden muß, und den abgeleiteten Erkenntnissen. Ein Beweis der ursprünglichen Erkenntnisse ist insofern nicht denkbar, als eine Regression zu noch ursprünglicheren Begriffen unmöglich ist. Es folgen die bewiesenen Aussagen und die von den Axiomen abgeleiteten Theoreme. Die Gesamtheit der Axiome bildet die Grundtheorie des Untersuchungsbereichs: die Zahlen, ihre Beschaffenheit und ihre gegenseitige Beziehung für die Arithmetik; die Punkte, die Segmente, die Geraden, die Figuren, ihre Beschaffenheit und ihre Beziehung für die Geometrie usw.; dasselbe gilt für andere Untersuchungsbereiche. Einige Normen oder Richtlinien für das auch gedankliche Verhalten gelten für die Konstruktion (nicht die Entdeckung) der Theorien. Die Axiome müssen, wie man sagt, „selbstverständlich" sein (der Begriff der Selbstverständlichkeit ist allerdings heute in Frage gestellt); bei der Beweisführung sind Widersprüche zu vermeiden usw. 33 A. Tarski, Op. cit., S. 151. 34 A. Tarski, Op. cit., S. 151. Ich erinnere daran, daß „Sinn" hier gleichbedeutend ist mit der Entsprechung zur Realität oder mit einem realen Bezug auf die Umwelt außerhalb der Rede, also auf die Tatsachen.
2.8. Das Tarski-Modell und seine Ausdehnbarkeit
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Aber wie auch auf anderen Gebieten hat sich auch hier ein geistiger Wandel eingestellt. So wurde versuchsweise die These aufgestellt, daß mehrere parallele Geraden durch einen Punkt außerhalb der Geraden laufen können, und es wurde festgestellt, daß diese Überlegung in einem bestimmten Bereich zutreffen kann. So ist 2000 Jahre nach Euklid die nichteuklidische Geometrie entstanden. Bedenkt man in einem ähnlich unkonventionellen Vorgehen, daß das Weltall das „Produkt" materieller Ereignisse ist, kommt man zur Relativität. Wenn man annimmt, daß die Energieemission unregelmäßig stattfindet, gelangt man zur Quantenphysik usw. Selbst am anekdotenhaftes Beispiel erkennt man, wie sich der Horizont im Vergleich zur Epistemologie des frühen 18. Jahrhunderts beträchtlich erweitert hat. All dies war möglich und ist geschehen, weil ein paar Freigeister die Regeln und die Bräuche der früheren „guten Schule" der Wissenschaft nicht beachtet haben. Dennoch gibt es einen Verhaltensgrundsatz, der von dieser Liberalisierung nicht berührt wurde: er betrifft die ursprünglichen Erkenntnisse, die in jeder axiomatischen Konstruktion enthalten sind. Hier kommt die alte Starrheit einer geistigen Ausrichtung (besser gesagt: eines Paradigmas) zum Tragen, die auf die Anschauungen Humes zur Unzuverlässigkeit der induktiven Überlegung zurückgeht 35. Das Wesen der Induktion ist bekannt. Sie ist eine aus einer Reihe von systematischen Beobachtungen „abgeleitete", nicht wissenschaftlich bewiesene Schlußfolgerung. Aber die Induktion hilft (u. a.), die ursprünglichen Erkenntnisse zu erfassen. Man würde also über ein nicht wissenschaftliches Vorgehen verfügen, das aber als Grundlage eines wissenschaftlichen dienen kann und zwar insofern, als man induktiv die ursprünglichen Erkenntnisse festlegt, die dann die theoretische Grundlage für ein deduktives Modell bilden. Um aus dem damit zusammenhängenden Engpaß herauszukommen, hat man sich allerdings zur Anwendung einer formalen Lösung, ja selbst zu einer Art Schlupfweg „entschlossen": die ursprünglichen Erkenntnisse werden nicht definiert; man begnügt sich damit, sie mit einer gewissen Grazie auszudrücken, und vermeidet auf diese Weise komplizierte, unklare Formulierungen. Man versucht selbst, in einer abstrahierenden Zusammenfassung der empirisch erkennbaren Vorgänge einfache Ausdrücke anzuwenden, selbst wenn diese bisweilen in sich widersprüchlich sein sollten, wie der „dimensionslose Punkt" in der Geometrie oder der Punkt der „Materie ohne Masse" in der rationalen Mechanik.
35 Hume, der die induktive Überlegung ablehnte, stand auch der nicht quantitativen und nicht experimentbezogenen Überlegung besonders kritisch gegenüber. Hier seine Worte: „Wenn uns zufällig ein Buch - beispielsweise der Theologie oder der Metaphysik - in die Hände fällt, fragen wir uns: Enthält es abstrakte, quantitative oder numerische Überlegungen? Nein. Enthält es eine aus dem Experiment hervorgegangene Überlegung über die Existenz der Objekte oder der Tatsachen? Nein. Dann laßt es uns ins Feuer werfen, weil es nichts anderes als Augenwischerei und Illusion sein kann". In D. Hume, On Human Nature and the Understanding, Collier Books, London, 1962, S. 163.
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2. Kap.: Das Modell
Es sei nicht weiter auf diese Problematik eingegangen. Diese zusammenfassende Darlegung erlaubt jedoch, die Grundlagen für die Untersuchung des Kommunikationsvorganges zu legen, wie sie sich aus der Erfahrung auf der Grundlage längerer Beobachtungen und deshalb zugegebenermaßen der Induktion darbieten. Wenn ich also in meiner Erarbeitung der Axiome für die Kommunikation die Begriffe „Sprechender", „Zuhörender", „Semantisierungsbeziehung" anwende oder aus der Praxis übernehme, beziehe ich mich auf typische Gesprächsstrukturen und Beziehungen eines jeden KomunikationsVorganges. Der theoretische Charakter meiner Annahmen baut also auf der Tatsache auf, daß ich von Ausdrücken, Beziehungen und Strukturen ausgehe, die in jeder Kommunikation in der Praxis anzutreffen sind und daher die Eckgröße (die Summe der unveränderlichen Elemente) des Untersuchungsthemas „Kommunikation" bilden. Noch eine kurze Bemerkung zur genaueren Umschreibung der Beziehung zwischen „axiomatischem System" und „Modell". Das Modell eines axiomatischen Systems besteht aus seiner Auslegung, indem man seine Begriffe und allgemeinen Beziehungen durch Ausdrücke und Wörter ersetzt, die konkrete Gegenstände aus der Praxis bezeichnen. Diese Überlegung mag verworren klingen; es sei deshalb sofort ein Beispiel aus dem Kommunikationsbereich gegeben. Wenn bei der axiomatischen Einordnung eines Kommunikationsvorganges die Begriffe „Sprechender" mit „Dozent", „Zuhörender" mit „Student" oder „Hörsaal", „Semantisierungsbeziehung" mit „Erklärung" oder „Vorlesung" oder „Unterrichtsstunde" ersetzt werden, erhalte ich ein „Modell"; also eine „Auslegung" meiner axiomatischen Einordnung oder Vorstellung des als „Unterricht bezeichneten Kommunikationsvorganges". Wenn diese Auslegung eine allgemeine und abstrakte Situation darstellt, die für alle Unterrichtsarten - abgesehen von den Personen, von spezifischen Beziehungen und von konkreten oder tatsächlichen Umständen - gelten kann, haben wir es mit einer Theorie des Unterrichts zu tun. Sagen wir also, daß ganz allgemein die Ersetzung der Gegenstände, Personen und konkreten Beziehungen durch Personen- und Thementypen und durch allgemeingültige und abstrakte oder strukturelle Beziehungen ein Modell und eine Darstellung der Theorie abgibt. Selbstverständlich darf die Auslegung nicht in Gegensatz zur Theorie stehen. Falls dies geschehen sollte, wäre die Theorie widerlegt und als solche abzulehnen: sie war eben nicht so allgemeingültig, wie angenommen worden war. Wenn hingegen das Gegenteil der Fall ist, verwandelt sich die Theorie - als „formales System" - in eine „Anwendung"; oder, besser gesagt, sie demonstriert sie. Normalerweise kann eine gute Theorie als formales System verschiedene Anwendungsmöglichkeiten anbieten und zulassen. Man sagt dann, daß die Theorie „fruchtbar" sei. Wenn sie viele Anwendungsmöglichkeiten bietet, wird sie als „umfassend" bezeichnet.
2.8. Das Tarski-Modell und seine Ausdehnbarkeit
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Es wurde das Beispiel des Unterrichts als Anwendung des formalen Systems oder der Kommunikationstheorie angeführt. Aber man kann sich eine Vielfalt von Anwendungsmöglichkeiten der generellen und abstrakten Kommunikationstheorie vorstellen: die Unterhaltung im Zug, der Streit an der Verkehrsampel zwischen Autofahrern, die wissenschaftliche Tagung, das Gespräch Gottes im brennenden Dornbusch mit Moses usw. In all diesen Fällen ist es möglich, in der „Auslegung" oder der konkreten „Anwendung" das Bestehen folgender Funktionen festzustellen: des „Sprechenden", des „Zuhörenden", eines Semantisierungsprozesses, eines auf verschiedene Weise dargestellen Umfeldes usw. 36 Tarski stellt mit seiner gewohnten wissenschaftlichen Ehrlichkeit und intellektuellen Transparenz fest: „Die deduktive Methode wird zu Recht als die beste betrachtet. . .Es ist... das Verdienst dieser Methode, wenn jeder Zweifel über den Inhalt der Begriffe oder die Rechtmäßigkeit der Aussagen einer bestimmten Theorie auf wenige Axiome und ursprüngliche Erkenntnisse beschränkt wird" 3 7 . Er sagt auch, daß bei der Konstruktion eines axiomatischen Systems große Freiheit hinsichtlich der Wahl der Axiome und der ursprünglichen - in der Tat wissenschaftlich nicht erklärbaren - Erkenntnisse herrsche. Wichtig ist, daß sie eindeutig und unabhängig sind. Bei ihrer (willkürlichen) Auswahl ist nur der Grundsatz der Nicht-Überschwenglichkeit 38, der Eleganz (einfache und syntaktisch gut aufgebaute Ausdruckdweise), der Vollständigkeit und der Konsistenz zu beachten. Vollständigkeit und Konsistenz sind, wenn man genauer hinsieht, die eigentlichen Merkmale eines axiomatischen Systems. Ein axiomatisches System ist dann vollständig, wenn alle seine Theoreme - die ihrerseits die Theorie des Untersuchungsgegenstandes bilden - aus dem System heraus beweisbar oder ableitbar sind. Es ist rational, wenn unter seinen Bestandteilen (Axiomen, Begriffen, Theoremen) keine Widersprüche auftreten 39. Tarski macht darauf aufmerksam, daß es wenige deduktive Theorien gibt, für die man den Beweis ihrer Konsistenz und Vollständigkeit erbracht hat. Es sind die einfachsten Theorien. Man könnte boshafterweise hinzufügen: „soviel Wissenschaftlichkeit für nichts". Es sei trotzdem dem Leser empfohlen, diese Bauregeln der axiomatischen Systeme im Gedächtnis zu behalten. Wir werden feststellen, daß man bei der Übertragung der Axiomsmethode auf die nicht exakten (sozialen, moralischen) Wissenschaften selbst dann zu Abänderungen schreiten muß, wenn man die allgemeine Modellstruktur beibehält. 36 Im Falle von Gott der aus dem brennenden Dornbusch spricht, das Brennen, das den Dornbusch nicht verbrennt. 37 A. Tarski, op.cit., S. 168. 38
Man kann an das „Rasiermesser von Occam" denken, wonach Entia non sunt multiplicanda praeter necessitatem. 39 Dies sind die methodologischen Postulate der Formalisierung, der Definition und der Beweisführung.
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2. Kap.: Das Modell
Zum Schluß wird - trotz der Abänderungen und Anpassungen wegen der Begriffsungenauigkeit in den nicht deduktiven Disziplinen - das Ergebnis bei den einen und den anderen nicht völlig unterschiedlich sein. Dabei empfiehlt es sich - dies sei hier vorweggenommen - , den undeutlichen und unhandlichen Begriff der „Wahrheit" durch den Begriff der „Sinnhaftigkeit" zu ersetzen. Stellt er doch eine Art bedeutungsvoller Lösung für die aufgeworfenen Probleme (sofern sie eine Lösung finden können) dar. Die Sinnhaftigkeit und nicht die Wahrheit ist übrigens der Bezugsbegriff der täglichen Hermeneutik in unserer Begegnung mit der Umwelt. Aus den Studien von David Hilbert und Paul Bernays in Göttingen und ihrer Zeitgenossen Lesniewski und Lukasiewicz im Warschau der zwanziger Jahre geht hervor, daß die Methode der deduktiven Wissenschaften ihrerseits als autonome Wissenschaft erklärt werden kann 40 . Ziel dieser Methodologie der Methodologie - besser wäre es, von einer Theorie der Methodologie zu sprechen - ist es, eine Logik und eine Sinngebung der deduktiven Wissenschaften wie der Mathematik und der induktiven Wissenschaften wie der Biologie festzulegen; also logische Verbindungsregeln zwischen dem axiomatischen System und dem außenstehenden Sprecher oder mit dem Gesprächsgegenstand herzustellen. So spricht grundsätzlich nichts dagegen, daß eine Methodologie oder eine Syntax und Semantik der Sozialwissenschaften und daher auch der Kommunikation geschaffen wird. Es handelt sich um eine flexiblere Methode, sicherlich weniger determinierend und auf jeden Fall weniger formal, aber deswegen nicht weniger wissenschaftlich als die der exakten deduktiven Wissenschaften. Übrigens weisen auch diese im Hinblick auf Vollständigkeit und Bestand einige Lücken auf. Der Aufbau dieser Methodologie - hier auf unseren Untersuchungsgegenstand „Kommunikation" begrenzt - entfernt sich von der „großen Schwester" der deduktiven Wissenschaft insbesondere im Gebrauch der Induktion wie auch der innerhalb eines genau bestimmten, semantischen Gebiets sozusagen vorprogrammierten Unbestimmheit der ursprünglichen und abgeleiteten Erkenntnisse; also des theoretischen Begriffslexikons und der Sprachausdrücke. Gerade wegen dieser Ausgangssituation des Modells habe ich den hochtrabenden Ausdruck „Axiom" nicht benutzt und den bescheideneren der „allgemeinen Merkmale" oder „Strukturkonstanten" des Kommunikationsvorganges übernommen. Ferner wird man sich damit abfinden müssen, daß die ursprünglichen und noch mehr die abgeleiteten Erkenntnisse keine eindeutige Definition aufweisen können. 40 In dieser Form erhält sie folgende Bezeichnungen: Theorie der Beweisführung; Metalogik, Metamathematik, Syntax und Semantik der deduktiven Wissenschaften.
2.8. Das Tarski-Modell und seine Ausdehnbarkeit
57
Es handelt sich dabei nicht um einfache oder mit nur einem Sinninhalt (monosemische), sondern um mit mehreren Sinninhalten versehene (polysemische) Erkenntnisse. Ferner wird ihr Sinn - jeweils aktiviert oder in der Mitteilung aktivierbar vom Kommunikationsspiel abhängen, sozusagen von den semantischen „Schachzügen" des Sprechenden und des Zuhörenden. Er ist nicht im voraus und unabhängig vom kommunikativen Spiel und dem Kontext des Kommunikationsvorganges festlegbar. Der Kontext und der Text (also die Gesprächsthematik) ersetzen den engeren und festgelegten Begriff der „semantischen Klasse", in den die Erkenntnisse einer deduktiven Theorie eingebaut und in dem sie festgeschmiedet werden. Zwischen Text und Kontext - wobei der Kontext den Text zu mehreren konkreten und möglichen Bezugssituationen führt - kommt ein Spiel der Gedankenassoziation, der Erinnerung und der Einschließung-Ausschließung von Sinninhalten auf, das dem semantischen Spiel im Kommunikationsvorgang einen Großteil seiner Faszination und seines „Risikos" verleiht (der Sprechende wird nicht verstanden, der Zuhörende wird manipuliert) 41. Die Situation kann hoffnunglos erscheinen: wegen der vielen Elemente und wegen der Komplexität der gegenseitigen Verbindungen, wegen des „verhandelnden" und nicht endgültig „vereinbarten" Charakters der Sinninhalte und deren ständigem Wandel im Laufe des „Spiels" 42 . Und dennoch ... findet die Kommunikation statt. Und jeder reale Vorgang - wie der der Kommunikation - verdient es, in eine theoretische systematische Ordnung eingefügt zu werden. So fühle ich mich wie ein Abenteurer, wenn ich mich anschicke, eine umfassendere Ausarbeitung von Axiomen (unter Beachtung der angegebenen Grenzen und Anpassungen des Untersuchungsgegenstandes (des Kommunikationsvorganges und seiner zahllosen und vielschichtigen Implikationen) vorzunehmen. Es geht darum, in axiomatischer Form, also im voraus, die ursprünglichen Erkenntnisse, die seine allgemeinen Merkmale darstellen sowie seine Beziehungen, die Sinninhalte produzieren können und folglich semantisch sind, festzulegen. Abschließend werde ich zur Analyse, Beschreibung und logischen Struktur des „Kommunikationsspiels" übergehen.
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Es genügt, an das Hinweisspiel der sinnübertragenen Sprache zu denken: analog, metaphorisch, symbolisch. 42 Um nur ein Beispiel zu geben: die Rollen des Sprechenden und des Zuhörenden stehen nicht fest, sondern sind im gesamten Verlauf des Kommunikationsprozesses austauschbar.
3. Kapitel: Das semantische Universum
3.1. Wahr, falsch, sinnhaft, vernünftig, möglicherweise inhaltsreich Ein guter englischer Rasen wächst und gedeiht nur in jenem Teil des Vereinigten Königreiches, der England genannt wird und der klimatische Sonderbedingungen und insbesondere einen häufigen „Drizzle", also einem Nieselregen bei Windstille, aufweist. In England überdauert ein guter Rasen - beispielsweise am Trinity College von Cambridge - die Jahrhunderte. Außerdem ist der Rasen nicht gut und schon gar nicht „englisch", wenn er nicht mindestens 400 Jahre alt ist. Denn dann hat sich ein Wurzelgeflecht herangebildet, das die bestmögliche Drainageschicht abgibt. Die neuen Samen pflanzen sich in diese Schicht ein, sprießen und ermöglichen somit den Austausch alter Wurzeln, die sich in Humus verwandeln. Eine neue Idee ist dann fruchtbar, erzeugt also andere Ideen, Begriffe und Gedankenkonstruktionen, wenn sie sich auf den fruchtbaren und kompakten Nährboden bestehender Ideen einpflanzen läßt; wobei dieser Nährboden ein großangelegtes Umfeld für die neu aufkommenden Ideen darstellt. Aus diesem Vergleich zwischen englischem Rasen und Erkenntnis des Neuen ergeben sich nützliche Hinweise für ein Ausbildungsmodell. Hierzu möchte ich ein Paradox von Domenico de Masi erwähnen, das folgendermaßen lautet: man lernt mehr, wenn man weniger lernt, und die Ausbildung ist umso wirksamer, je müheloser sie ist. Lernen kann keine ständige Wissensspeicherung sein. Dies wäre nicht nur mühsam, sondern unmöglich. Unser Gehirn ist kein Telephonbuch, das eine Vielzahl von Wörtern aufnimmt, die zueinander in keinem Bezug stehen. Man erfaßt einen Text und behält ihn im Gedächtnis, wenn seine einzelnen Sinninhalte in Beziehung zueinander stehen und wenn sie sich zu einer Synthese oder zu einem Gesamtsinn zusammenfügen lassen. Die Sätze treten in Beziehung zueinander; sie bilden einen Absatz; die Absätze treten in Beziehung zueinander und produzieren einen Text, der sich wiederum in den Kontext des Gedächtnisses und der Kultur des Lernenden einfügt. Es ist stets der Lernende, der vergleicht, aufnimmt, ordnet und zusammenfaßt. Diese Erarbeitung eines Gesamtinhaltes ist umso erfolgreicher, je mehr die neuen Kenntnisse auf einem geistigen Humus wach-
3.2. Die neue Rhetorik
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sen, der bereits reich an themenübergreifenden, organisierten Kenntnissen ist, der also dem Lernenden neue Anregungen vermittelt. Kehren wir zur Metapher des englischen Rasens zurück, bei dem neues Gras auf den Wurzeln des alten keimt. Es besteht der Vorschlag für einen für den Schüler „mühelosen" Unterricht, der zwar nur wenige Anregungen vermitteln, aber dafür dem Schüler Zeit lassen soll, diese Anregungen zu ordnen und zu verarbeiten. In diesem Sinne empfiehlt De Masi, es solle eine Vorlesung oder ein Referat - jeweils von 20 bis 50 Minuten - morgens und eines nachmittags stattfinden oder ein anregendes Thema besprochen werden, gefolgt von einer zeitlich unbeschränkten Diskussion und einem Spaziergang, um das Neuerlernte in das bereits eingespeicherte Wissen zu integrieren und neue Gedankentriebe sprießen zu lassen. Ich füge hinzu, daß die Anregungen, Vorschläge und Informationen nicht so sehr gegenstandsbezogen als sinnvoll und von starker semantischer Dichte sein müssen. Es könnte sich beispielsweise um neue logische Schemata, unveröffentlichte Begriffsordnungen oder originelle epistemologische Überlegungen handeln; also um Instrumente zur Untersuchung von neuen - noch unerforschten - Gedankengängen und Anschauungen. Als ob man dem Besitzer einer nicht geordneten Bibliothek nicht - wie man es spontan gerne tun würde - andere Bücher, sondern Ordner, Schnellhefter, Karteien und andere nützliche Dinge bis hin zu einem guten Staubsauger schenken würde, um Ordnung in die Bibliothek zu bringen und sie übersichtlich zu gestalten. Um das Problem der Produktion von Sinninhalten in der Kommunikation (und in der Ausbildung) als gezielter Kommunikation analysieren zu können, brauchen wir keine Kenntnisse, sondern Instrumente und - mehr noch als das - neue Instrumente. Das Problem der Sinnhaftigkeit als solches ist nicht neu, wohl aber die Bedeutung, die man ihm heute beimißt. So werde ich von jener traditionellen Anschauung nicht nur der Philosophie, sondern auch der Ethik, der Pädagogik und des landläufigen Denkens absehen müssen, wonach der Inhalt der Kommunikation letzten Endes „der Wahrheit" zu ensprechen hat. Gerade in der Pädagogik und der Didaktik führt diese Sicht der Dinge zur Folgerung, wonach am Ende eines logischen Prozesses notwendigerweise die Wahrheit ans Licht kommen muß.
3.2. Die neue Rhetorik In der kulturellen Tradition der westlichen Welt hat es Zeiten des geistigen Aufstandes gegeben, wie beispielsweise jene der Sophisten, die überzeugen, jedoch nicht beweisen wollten, ohne es dabei mit der logischen Folgerichtigkeit der Argumente so genau zu nehmen. Ein solches Vorgehen wurde von den damaligen Zeitgenossen abgelehnt, weil das Sich-Überzeugen-Lassen letzten Endes zur Folgewir-
3. Kap.: Das semantische Universum
60
kung von Manipulation oder Suggestion wurde. Gelobt wurde es allerdings auch, weil dabei die Waffen der Dialektik - im Sinne des auf den Beweis ausgerichteten gedanklichen Vorgehens und im Hinblick auf die Erkenntnis der Wahrheit - nicht der Sinnhaftigkeit! - geschärft wurden. Neuerdings wurde diese Argumentation im Rahmen der sogenannten Neuen Rhetorik wieder aufgenommen, die neben den klassischen Wegen der griechischen und lateinischen Rhetorik und des Diskursaufbaus neue Wege eingeschlagen hat1: also einer Rhetorik, die auf schwächeren, nur allgemein akzeptierten Überlegungen, aber nicht auf abgesicherten Erkenntnissen aufbaut. Damit wurde das Thema als abgeschlossen betrachtet. Es ist es jedoch nicht, weil die griechische Sophistik in ihrer gelehrten und in ihrer durch das Opportunitätsdenken geprägten Form nur eine von verschiedenen Argumentationslinien ist, obwohl sie auch anschließend am häufigsten benutzt wurde, da sie die größte Attraktivität aufwies. Ein anderer, vielversprechenderer Weg geht auf Sokrates und auf seine wesentliche Rolle im griechischen und westlichen Denken im Laufe der Jahrhunderte zurück: hat er doch eine Neuauslegung der vor ihm bestehenden Gedankenmodelle vorgeschlagen und zwar insbesondere derjenigen der Monisten-Naturalisten von Thaies bis Empedokles, und dadurch den Boden für das Weltbild von Piaton und Aristoteles vorbereitet. Nicht das gesamte sokratische Gedankengebäude wurde nach seinem Tode übernommen. Ein wichtiger, auch heute noch aktueller Teil, nämlich jener, der dem Verstand und der Rede die Schaffung einer Sinnhaftigkeit der Begriffe zuschreibt, blieb weitgehend unberücksichtigt. E. Severino sieht die Dinge folgendermaßen 2: die Kritik des Sokrates am „antiken" Wissen entspricht seiner Ablehnung der kategorialen Erkenntnis 3. Man weiß Bescheid darüber, was korrektes Handeln ist, da man zahlreiche Beispiele dafür anführen kann; man kennt die Merkmale des Handelns, die es zu einem korrekten Handeln machen; aber man kann nicht erklären, warum dasselbe Handeln und dieselben Merkmale unter anderen Umständen nicht mehr als korrekt betrachtet werden können. Die Wahrheit wird damit zu einem quantitativen und nicht zu einem qualitativen Begriff. Sonst geht man am Wesen der Dinge vorbei: was ist das „Korrekte", die „Korrektheit"? Heute würde man sagen, daß man bis zum umfassenden, umschreibenden, aber nicht bis zum intensionalen und auf die extensionalen spezifischen Merkmale bezogenen Sinn der Dinge vorgedrungen war. 1
Zum Begriff „Neue Rhetorik" siehe C. Perelman, L. Olbrecht-Tyteca, Trattato dell'Argomentazione. La nuova Retorica , Einaudi, Milano, 1966 (Orig. von 1958). 2 E. Severino, La Filosofia Antica. / Grandi Temi del Pensiero Greco dai Presocratici Plotino , BUR, Milano, 1990, S. 75 ff. 3 Natürlich benutzt er diesen Ausdruck nicht.
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3.3. Wahrheit und Kenntnis
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Für uns ist es heute ganz normal, einer Bewertung die bedingenden Worte „es hängt davon ab, ob..." voranzustellen. Es ist nicht die einzelne Sache, die als solche wahr ist, sondern die Sache im Rahmen der Umstände. Mit Sokrates kommt so die Idee des Universalen auf, das anschließend zu einem äußerst fruchtbaren Gedankeninstrument werden sollte. Es handelt sich dabei um ein transzendentales Instrument, da es uns erlaubt, das empirische Faktum in einen theoretischen Begriff umzuwandeln. Mit Sokrates sieht die Bewertung bewußt vom Einzelfaktum ab, das lediglich insofern der begrifflichen Bewertung unterliegt, als es in metaphysische Kategorien eingereiht wird. Anschließend faßt Piaton den Gedanken des Universalen in der „Idee" zusammen und Aristoteles ordnet das Universum in einem kategorialen Konzept. Husserl geht noch einen Schritt weiter, wenn er auf die Vergangenheit zurückgreift: und zwar baut er auf der Wahrnehmung auf, die die Sache erfaßt und deren Wesen als Idee konstruiert. Diese Thematik wird anschließend im Kapitel über „Die Kommunikation und die Phänomenologie der Dinge" aufgegriffen. Im Hinblick auf die nachfolgenden Ausführungen möchte ich lediglich feststellen, daß die Wahrheit stets das Ergebnis eines intensiven, konstruktiven Gedankenund Bewußtseinsvorganges ist und daß die Kommunikation, wenn sie zu einer gemeinsamen Erfahrung, zum Gedankenaustausch werden soll, sinnhaft sein muß, also Inhalte aufzuweisen hat, die für mich und für meinen Gesprächspartner relevant und nicht nur einfache Bezeichnungen, Umschreibungen oder Schlußfolgerungen sind.
3.3. Wahrheit und Kenntnis Meiner Ansicht hat jeder Überlegung oder Schlußfolgerung eine Sinnhaftigkeit innezuwohnen, wenn ihre Mitteilung wirkungsvoll sein soll. Eine vollkommene Wahrheit, die aber keine meiner Fragen beantwortet, wirkt abstrakt; sie weckt mein Interessen nicht, sie gibt eine Nicht-Antwort auf meine Nicht-Frage. Im Gegensatz dazu kann eine nicht ganz logische Formulierung oder ein Satz, der keiner Überprüfung standhalten könnte, kommunikationswirksam sein, weil er selbst eine - nur teilweise und selbst teilweise unlogische - Antwort auf meine Frage gibt. In welchen Fällen schließlich kann eine logische Behauptung unser Bedürfnis nach Information und Sicherheit befriedigen? Wenn ein Jugendlicher mir sagt, die bevorstehende Prüfung bereite ihm Sorgen, kann ich ihn beruhigen, wenn ich ihm sage, daß ich seine Fähigkeiten kenne und daß sicher alles gut gehen wird; aber ich kann ihm bestimmt keinen Beweis für meine Aussage geben. Die beste Argumen-
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3. Kap.: Das semantische Universum
tation liegt in einem „Sprechakt", in dem ich ihm mein Vertrauen zum Ausdruck bringe. Dies sind übrigens die realen und geläufigen Formen der Behauptung: die Aussage, die fachkundige Bewertung, die Zusicherung, das Versprechen usw. Sehr selten und schon gar nicht in der Alltagssprache kommen die logischen und bewiesenen Aussagen vor. Hier soll nicht auf die richtige Beweismethode und auf die Grenzen ihrer Anwendungsmöglichkeiten eingegangen werden. Ich will mich darauf beschränken festzustellen, daß sich die Form des Beweises für das landläufige Gespräch, für die Alltagskommunikation als wenig geeignet erweist; selbst wenn sie bei Sonderumständen wie einer offiziellen Rede, der Mitteilung auf der Arbeit, im Unterricht usw. durchaus angebracht sein kann. Es ist nicht anzunehmen, daß eine eindeutige Formel wie A = A bedeutsam für mich sein kann, wenn ich kein Mathmatiker bin und mir keine Fragen über den Inhalt des Identitätsprinzips stelle; hingegen kann ich einen Satz wie folgenden: „Ihr Referat enthielt die vollständigste und lebhafteste Schilderung des Themas, die ich jemals gehört habe" (sicherlich nicht nachweisbar) als bedeutsam empfinden. Wenn die sinnhaften, mehr noch als die wahren (übrigens schwer zu produzierenden) Sätze in der Kommunikation so wichtig sind, lohnt es sich, darauf einzugehen, sie nicht der Improvisation zu überlassen, hingegen die Art und Weise ihrer Schaffung zu studieren. Daraus ergibt sich die Zweckmäßigkeit, die Wege der sinnhaften Kommunikation zu untersuchen und zu beschreiten.
3.4. Die Schaffung des Sinnhaften Welche Gesetze (falls sie existieren) regeln die Schaffung des Sinnhaften? Und gibt es nicht auch den Fall, in dem ein wahrer Satz auch sinnhaft ist, weshalb er die größte Kommunikationseffizienz erreicht? Bei Abschluß eines Abendessens unter Freunden kann der Gastgeber oder die Gastgeberin den üblichen - und korrekten - Satz aussprechen: „Wer möchte einen Kaffee?". Man wird zweideutige und verlegene Antworten bekommen; nur die kühnsten Gäste werden es wagen, ihren Wunsch nach einem Kaffee direkt zu äußern. Man kann diese Unsicherheit, diesen Kommunikationsengpaß mit dem wahren und sinnvollen Satz des Gastgebers oder der Gastgeberin überwinden: „Wer trinkt einen Kaffee mit mir?" Beim Zusammentreffen von Sinnhaftigkeit und Wahrheit ergibt sich ein Maximum an Wirksamkeit in der Kommunikation. Das soll jedoch nicht heißen, daß sich nicht auch eine lediglich sinnhafte Kommunikation als nützlich und teilweise
3.4. Die Schaffung des Sinnhaften
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wertvoll erweisen kann. Es lohnt sich also, das Problem anzugehen und zwar auch deshalb, weil wir häufig nur sehr schwer mit der reinen Wahrheit konfrontiert werden; in den meisten Fällen müssen wir uns mit der sinnhaften Aussage zufrieden geben. Abgesehen davon, daß das Wahre äußerst problematisch ist, ist es oft auch relativ. Um die Wege und Formen der Schaffung des Sinnhaften in der Kommunikation zu studieren - dies ist der Gegenstand dieses Kapitels - will ich mit verschiedenen Begriffsinstrumenten arbeiten und mit ihnen herumbasteln. Eigentlich handelt es sich dabei um echte Philosophien; und zwar um die analytische Philosophie oder Analyse der gewöhnlichen Sprache, auch englische Philosophie genannt; um die Hermeneutik, insbesondere in der Fassung von Ricoeur und Merleau-Ponty; um die transzendentale Phänomenologie von Husserl mit ihren Fortentwicklungen von Heidegger und anderen Philosophen, soweit sie mit der ursprünglichen Ausrichtung vereinbar sind. Es ist bestimmt wagemutig, für einen gewöhnlichen Kommunikationsvorgang Gedankensysteme der höchsten Abstraktion und größten Komplexität in Anspruch zu nehmen, die grundsätzlich zur Auslegung der Gesamtheit des Seins und nicht eines spezifischen Bereichs - wie dem der Kommunikation, so wichtig er auch sein mag - konzipiert sind. Ich bin allerdings davon überzeugt, daß ein selbst hochgradig abstraktes Begriffssystems wie die Philosophie, sofern es über Gültigkeit verfügt, stets auch auf Teilbereiche anwendbar ist. In unserem Falle ist umso mehr darauf zurückzugreifen, als für eine Untersuchung des Schöpfungsprozesses des Sinnhaften in der Kommunikation sonst keine geeigneten Begriffssysteme zur Verfügung stehen. Gehen wir also auf die Thematik der Sinnhaftigkeit ein. Sie stand in der Entwicklung des westlichen Denkens zeitenweise im Zentrum der Aufmerksamkeit. So läßt sie sich in der Tradition der antiken Rhetorik als Kunst des Überzeugens vor allem in zwei Formen wiederfinden: als Antwort auf eine - vielleicht vom Zuhörer selbst unausgesprochene - Frage; und als die Eleganz der Formulierung nach den Prinzipien der Ausgewogenheit des Denkens4 und der syntaktischen und dialektischen Korrektheit, die das Wahre mit der treffenden Sprache kombiniert. Eine dritte Form der rhetorischen (klassischen und zeitgenössischen) Argumentation ist jene der gefühlsweckenden Rede: man sucht die Anteilnahme des Zuhörers, dessen Gefühle durch ausgefeilte Sätze, insbesondere wenn sie von einem einflußreichen Gesprächspartner kommen, geweckt werden. Man kann hierzu zahllose Beispiele in Politik und Werbung finden. So gehört der Erfolgsspot eines italienischen Magenbitters in die gefühlsbezogene Werbesprache: stellt er doch das Produkt als Preis für den langen, mühevollen aber erfolgreichen und heldenhaft überstandenen Arbeitstag eines tüchtigen Landtierarztes vor. In den politischen Be4 Das bereits erwähnte „Rasiermesser von Occam" lautet: „Entia non sunt multiplicanda praeter necessitatemi .
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3. Kap.: Das semantische Universum
reich gehört folgende Erklärung eines Vertreters der Partei „Democrazia Proletaria" während des Kongresses der (der KPI nahestehenden) italienischen Gewerkschaft CGIL in Neapel über die „Aufgaben der Öffentlichen Verwaltung" am 14. 3. 1989: „Man muß neue Massenbewegungen ins Leben rufen, die endlich eine gründliche Veränderung der Dinge bewirken können". Ein Trompetenstoß für die Parteigenossen, ein inhaltsleerer Satz für alle anderen. Der erwähnte Ansatz der Neuen Rhetorik 5 nimmt das Thema der Überzeugungskraft wieder auf, schränkt letztere aber ein: selbst eine auf einer unbestimmten Überzeugung und auf vagen Prinzipien aufbauende Rede wirkt für eine (möglicherweise schlecht informierte) Zuhörerschaft überzeugend. Es besteht die Versuchung, sich der Überzeugungskraft des Sinnhaften zu bedienen und sich in der Rede auf das zu beschränken, was der Zuhörerschaft als gültig erscheinen mag; also darauf zu verzichten, die Rede auf das Produktionsverfahren und ihre allgemein gültige Konsistenz zu untersuchen. Man riskiert allerdings dabei, damit das Wesen des Sinnhaften zu übersehen, also die Übereinstimmung des Begriffes oder des sprachlichen Ausdrucks mit dem Faktum, also des wahren extensionalen oder synthetischen Sinns mit dem wahren intensionalen oder analytischen Sinn. So sollte in der gewöhnlichen Unterhaltung das „Wahre" extensional - also in seiner Übereinstimmung mit den Tatsachen - als Kriterium des Sinnhaften für den sprachlichen Ausdruck gelten; allerdings nur unter der Bedingung, daß die Tragweite und phänomenologische Vielfalt des Gesprächsgegenstandes nicht nur auf die Fakten, sondern auch auf die Metaphern, auf die möglichen Welten usw. ausgeweitet wird. Es geht darum, die naive Sicht auf die Tatsachen aufzugeben und zu einer stärker artikulierten Sicht dessen überzugehen, was wir nun tatsächlich als reale und somit als objektive Übereinstimmung zwischen den Fakten und unseren eigenen Worten und den Worten anderer betrachten. So handelt es sich ferner darum, die Bedeutung des Wahren in der Poesie auf die philosophische und kenntnismäßige Ebene anzuheben und dem Wahren in der Wissenschaft anzugleichen.
3.5. Das Sinnhafte und das Tatsächliche Das Kriterium des Sinnhaften, das zur Untersuchung der Kommunikation vorgeschlagen wird, nimmt auf die dahinter liegenden Tatsachen Bezug und ist daher extensional. Es baut auf der Übereinstimmung zwischen dem Sagen und einem gewissen Hintergrund, einer gewissen (im Sinne von abgesicherten) Wahrheit auf. Diese Sinnhaftigkeit sondert sich normalerweise von der Wahrheit ab (wenn sie 5
C. Perelman, L. Olbrecht-Tyteca, op. cit.
3.5. Das Sinnhafte und das Tatsächliche
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bisweilen auch übereinstimmen können). Die (extensionale oder referentielle) Übereinstimmung bezieht sich nicht auf einen objektiven und allgemeingültigen, von der individuellen Wahrnehmung oder Sichtweise unabhängigen Tatsachenkontext, sondern steht in Übereinstimmung mit einer Realität, die vom Sprecher bestimmt wird. „Ich werde dich immer lieben" ist objektiv falsch und zwar auch im Hinblick darauf, daß die Gefühle des Sprechers Schwankungen unterworfen sein können; aber es ist „wahr" und daher sinnvoll, wenn man an die Absichten des Sprechers denkt, da das Gesagte dem Gefühlszustand (auch dieser eine „Tatsache") des Sprechers entspricht. Ist dieser Gedankengang logisch? Bestimmt; allerdings nur unter der Voraussetzung, daß man jene Art von Logik anwendet, die unter den bestehenden Arten hierfür am geeignetsten ist, genauer gesagt: die „Logik der möglichen Welten". Andererseits sind gerade diese „Welten" (oder „möglichen Tatsachen") in der wissenschaftlichen Mitteilung alles andere als wahr, real, objektiv. Popper, Lakatos, Kuhn haben uns gesagt, daß sie von einer objektiven Sicht der Realität abgeleitet werden; diese Sicht ist formal und strukturell von bestimmten der Wissenschaft vorgelagerten Paradigmen oder von Bewertungs- und Glaubensleitlinien geprägt, deren einziger und großer Vorteil in ihrer „Zielrichtung" liegt; und zwar in dem Sinne, daß diese Leitlinien in einer bestimmten Geschichtsepoche die Ausrichtung der Wissenschaft bestimmen. Husserl sagt uns: das Paradigma der Paradigmen, das für die moderne Wissenschaft (vom 17. Jahrhundert ab an) gilt, ist das von Galileo, das erhebliche gedankliche Einschränkungen der Realität voraussetzt. So können wir ruhig verschiedene Wege des Sinnhaften mit Bezug auf die Tatsachen beschreiten, solange die dabei herauskommende Rede sich als eine - selbst momentane und zufällige - Antwort auf unsere Fragen erweist. Ein möglicherweise aufkommender Einwand soll in diesem Zusammenhang nicht verschwiegen werden. Es ließe sich in der Tat sagen: wir sind mit dem Begriff der „möglichen Welten" einverstanden, schließen jedoch zumindest geflügelte Pferde und Chimären aus der Mythologie sowie die modernen Symbole aus. Dieser Einspruch ist vernünftig, vielleicht selbst berechtigt. Dennoch wird er als nicht... sinnvoll abgelehnt. Wollte man nämlich aus der Phantasie, also aus dem „Universum des Diskurses" die gesamte historische und derzeitige Mythologie, alle früheren oder heutigen Fabelwesen, alle Träume und alle Bilder der Phantasie streichen, dann würden die Werbung, die Literatur, die politischen und Sozialprogramme und selbst der größte Teil der Tagesgespräche und des Gedankenaustauschs gegenstandslos. Man denke insbesondere an die Werbung. Ist sie nicht von Helden und Chimären bevölkert? Handelt es sich nicht um eine Welt der Mythen, um eine magische völlig idealisierte Fabelwelt? Trotzdem wird die Sprache der Werbung allgemein akzeptiert und erscheint (auf ihre Art) sinnvoll, oft selbst informativ, also absolut 5 Trupia
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3. Kap.: Das semantische Universum
sinnhaft. Das kann man auch feststellen, wenn die vorgebrachten Daten real sind; doch der Bezug dazu ist idealisiert, erdacht, rein erfunden. Ein 240 PS starkes Auto mit Düsenantrieb kann eher im Traum als in der Wirklichkeit bis an seine Leistungsgrenze ausgefahren werden. Es ist außerdem bekannt, daß dieses Autos normalerweise von älteren, ruhigen und wohlsituierten Menschen gekauft wird. Und dann: was ist das eigentliche Wesen der Musik oder einer Skulptur von Moore? Wir werden hierauf später zurückkommen, aber wir können schon jetzt feststellen, daß es nicht real im Sinne von realistisch ist. Bevor wir uns abschließend auf den komplexen Untersuchungsweg des Sinnhaften begeben, können wir feststellen, daß die „Tatsachen" stets in eine Vielfalt von Welten aufgegliedert sind oder uns zumindest so erscheinen, wobei der Zugang zu vielen von ihnen nicht beschreibend oder beweisend ist und bisweilen zu verschlungenen, aber auch zu überraschend gängigen Pfaden führt. Unsere abendländische Kultur steht im Zeichen des Wahrheitsprinzips. Man denkt nach, um zum „Wahren" zu gelangen; man diskutiert, um den Gesprächspartner „zu zwingen", das „Wahre" anzuerkennen, wobei er gar nichts anderes tun kann als es anzuerkennen; man teilt das „Wahre" mit; oder das „Falsche" - also das „Unwahre"; im letztgenannten Fall wird die Kommunikation zum Betrug. Der Gott der Christenheit ist aber der Weg, die Wahrheit und das Leben; wer das Leben und den Weg zum Leben wählt (wie die Mystiker), interessiert sich nicht für die Wahrheit; für ihn ist sie trocken und unfruchtbar. In der Denkweise des Ostens fallen hingegen Wahrheit, Leben und Kosmos zusammen. In letzter Zeit sind abgeschwächte - möglicherweise selbst abweichende - Untersuchungsformen des Sinnhaften aufgetaucht. Im Umfeld der Psychologie und zwar insbesondere im Bereich der sogenannten „kognitiven Psychologie" identifiziert ihr bedeutendster Vertreter Jerome Brüner 6 die Planung des individuellen Lebens, des gelebten Lebens, des erzählten Lebens mit der Erfahrung aus dem gelebten Leben. Die objektive Wahrheit der Dinge interessiere letzten Endes die Menschen nicht, so Brüner, sondern der Sinn, den diese Dinge für sie haben können, haben, oder für die anderen annehmen können. Aber wie entsteht dieser Sinn? Nach Brüner kommt er aus einer Erzählung. Die Geschehnisse eines gelebten Lebens sind wie rohes und ungeordnetes Material. Sie bekommen eine sinnhafte Folgerichtigkeit, wenn der Redende eine Erzählung daraus macht und sie dabei in einen Text umwandelt. Offensichtlich kann jede Erzählung nur eine textliche Form annehmen; jeder Text ist das Ergebnis einer Auslegung, welche den Erfahrungen einen einheitlichen Sinn verleiht. Das gilt sowohl für die eigenen Erfahrungen als auch für die Erfahrungen anderer. Wie oft kommt es vor, daß wir die Persönlichkeit eines Menschen, 6
Brüner wurde in Italien durch den Verlag Armando eingeführt. Sein letztes übersetztes Werk wurde von Laterza unter dem Titel ,JM mente a più dimensioni " veröffentlich, Laterza (Sagittari), Bari, 1988.
3.5. Das Sinnhafte und das Tatsächliche
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den wir gerade erst kennengelernt haben, anhand des Sinnes seiner Gesten und seiner Taten zu ergründen trachten; wir versuchen, die Eigenheiten, die wir nicht kennen, zu ergänzen und schaffen uns so ein Bild von ihm. Man denke an Leopold Bloom, Hauptperson im Ulysses, dessen Geschichte im Laufe eines Tages von James Joyce neugeschaffen (oder einfach geschaffen) wird. Brüner fährt fort: „Die Zukunft der Psychologie ... ist im schöpferischen Sinnhaftigkeitsprozeß enthalten ... wie das Individuum die Sinnhaftigkeit schafft, die Art und Weise, wie sich die Leute über die Bedeutung einig werden und wie sie diesen Sinninhalt zum Diskussionsgegenstand werden lassen" 1 . Die Behauptung Brüners ist wichtig, aber gefährlich; wichtig, weil sie eine Lanze zugunsten der Sinnhaftigkeit gegen die Wahrheit bricht und weil sie die so wichtige ordnende Umschichtung unserer Erfahrungen für die Erstellung von Texten - also der Transponierung unserer Erfahrungen in „Texte" - aufwertet. Die Erstellung von Texten ist insofern wichtig, als sie uns zwingt, Ordnung in das Chaos der Wahrnehmungen, Erinnerungen und Launen zu bringen sowie eine Auswahl des Fehlenden bzw. einen Verzicht auf das Fehlende vorzunehmen. Aber hierin liegt auch eine Gefahr. Die Erstellung von Texten ist grundsätzlich frei. Frei und kreativ. Sehr häufig ist sie eine subjektive Neuschöpfung, oft das Ergebnis eines Gemütszustandes, eines Bedürfnisses, bisweilen eines Unbehagens. Es fehlt hingegen eine Art von „Gesetzmäßigkeit", eine universelle Gültigkeit. Diese Brünersche Darstellung der Sinnhaftigkeit läßt sich also mit der Feststellung abschließen, daß sie höchstens den Wert einer „Vermutung" (eines Gemütszustandes) hat. Es gibt allerdings auch andere Formen der Sinnhaftigkeit, die denselben epistemologischen Wert aufweisen und auf der gleichen Ebene mit dem Wahren stehen: sie können sich auf das referentielle Umfeld für die realen oder möglichen, aber stets konkreten Welten berufen. Es läßt sich also die Schlußfolgerung ziehen, daß die Sinnhaftigkeit und nicht die Wahrheit Gegenstand dieser Untersuchung ist. Dies ist allerdings nicht die Folge eines Mangels an Interesse an der Wahrheit oder einem grundsätzlichen Zweifel mit Bezug auf ihre Erreichbarkeit angesichts des chaotischen, völlig zufälligen Wesens des Kosmos. Es sei auch darauf hingewiesenm, daß trotzdem in dem auf das Sinnhafte ausgerichteten Kommunikationsaustausch das Interesse für und die Suche nach dem Wahren nicht fortfällt. Ist doch die Ausrichtung auf das Sinnhafte Ausdruck eines Wahrheitsprinzipes, das für unsere täglichen Gespräche gilt. Unter Gesprächspartnern läßt sich festlegen, daß dies die Sicht der Tatsachen ist, die am ehesten annehmbar scheint, dies die „sinnvollste Antwort auf eine bestimmte „Frage". Es ergibt sich daraus eine „vereinbarte Wahrheit". Einer der Gesprächsteilnehmer kann also das Gespräch
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Interview in der Zeitschrift „L'Espresso " vom 25 Februar 1990.
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3. Kap.: Das semantische Universum
mit den Worten abschließen: „Für mich stehen die Dinge so, ich sehe keine andere Erklärung". Es handelt sich demnach um eine subjektive Wahrheit, um eine jemandem bedeutsam, interessant oder wichtig erscheinende Auslegung, Rekonstruktion oder Beschreibung dieser Wahrheit. All dies ist völlig normal, alltäglich und wohl selbst automatisch. Ich wiederhole: das Kriterium des Sinnhaften bezieht sich immer auf einen Hintergrund; es ist ein „sprechen von", ein „sich beziehen auf Tatsachen", von denen man glaubt, sie erkannt und erfaßt zu haben. Nur daß sie nicht objektiv und ewig sind, nicht unter allen Umständen gültig, sondern nur eine Darstellung der Welt, von Tatsachen - eine völlig normale, möglicherweise selbst unvermeidbare Vorgangsweise. Der Brünersche Grundsatz des relativ Wahren, der uns bei der Auslegung der Tatsachen und Situationen leitet, führt zu bedeutsamen, einleuchtenden, befriedigenden, aber willkürlichen Schlußfolgerungen, wohingegen genaue Regeln für eine Rede- und Begriffskorrektheit bestehen, selbst wenn man die eigene subjektive Sicht zum Ausdruck bringen und die der anderen anerkennen will. Von besonderer Wichtigkeit im Kommunikationsprozeß ist der Sinninhalt, den ein Sprechender an einen Zuhörenden weitergibt und zwar nicht insofern, als er ihn zur Anerkennung einer objektiven Wahrheit zwingen will, sondern eine subjektive dem Sprechenden eigene Wahrheit heraufbeschwört und das Gesagte mit seiner Welt, also der Welt des Sprechenden, in Beziehung setzt. Meiner Ansicht nach ist dies das Geheimnis der Überzeugungskraft, die einer Rede innewohnt. Im Gegensatz zu allgemein vertretenen Meinungen ist eine überzeugungswirksame Rede nicht unbedingt für den Zuhörer angenehm oder befriedigend. Überzeugend kann selbst eine Rede werden, die mit einer umstrittenen, verschwiegenen, verborgenen Wahrheit konfrontiert, die sich auf etwas bezieht, an das der Zuhörende lieber nicht erinnert werden will. Äußerst überzeugend und beunruhigend ist die Diagnose des Psychiaters, der mich „zwingt", mich mit meinem Unterbewußtsein auseinanderzusetzen. Beunruhigend zwar, doch nicht immer üerzeugend ist, wer einem herrschsüchtigen Menschen die andere Wange hinhält: mit seiner Unterwürfigkeit zwingt er ihn, sich eher als einen Sadisten als einen glorreichen Gladiator zu empfinden. Manchmal kommt es bei einigen Kampfsportarten vor, daß ein derartiger Angreifer durch sein eigenes Gewicht zu Boden gerissen wird.
3.6. Der Sinn als „Bedeutung für mich"
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3.6. Der Sinn als „ B e d e u t u n g für mich" Kommen wir nun zum eigentlichen Problem der Wahrheit als einem Wert für mich oder für uns, die wir ein Gespräch führen, die wir also einen Kommunikationsvorgang ins Leben rufen, der die Realität, die Tatsachen zum Gegenstand hat. Wir bewegen uns im Bereich der Intensionalität, des Schöpfens der Welt und der Schaffung der Dinge als Objekte unserer eigenen Wahrnehmung, Interessen, Bemühungen; wir führen all dies und noch mehr in unseren Dialog mit den anderen ein, um es zum Gegenstand unserer Bewertung zu machen. Der Dialog hat als grundsätzliche Aufgabe den Vergleich von Bewertungen der Realität und der als Gesprächsthemen angenommenen Dinge: um sich über die Übereinstimmungen zu freuen, um die strittigen Punkte zu erkennen, und zwar in der Absicht, den Konflikt heraufzubeschwören und zu erhalten oder in einer Synthese der beiden Stellungen zu einem neuen Einvernehmen zu gelangen. Die Überlegungen von Husserl, Sartre, Merleau-Ponty und Lévinas erlauben uns, beim Thema, das die Sinnhaftigkeit zum Gegenstand hat, von der „Bedeutung für mich" zu sprechen. Diese Autoren haben das Wesen und die Wahrheit der Dinge nicht in deren Umschreibung gesucht, sondern in unserer Fähigkeit, sie als unsere Darstellung oder unser Erleben wahrzunehmen, wiederzuerkenneft, neu zu schaffen. Welch besserer Ausgangspunkt für eine Untersuchung über die Kommunikation als dieser? Welch besseres Konzept als dieses, das uns das Wesen der Dinge im Dialog finden und verarbeiten läßt? Lévinas verlegt seine Untersuchung über die Sinnhaftigkeit - oder die Wahrheit als „Sinn für mich" - auf den Begriff, der am meisten herausfordert und unserem Denken die schwierigsten Fragen stellt: nämlich auf Gott 8 . Um ihm einen Platz in unserem Bewußtsein einzuräumen, schlägt er vor, auf jeden Versuch eines Beweises zu verzichten. Gott, sagt er, „ist unsichtbar, nicht thematisierbar, ... keine Beziehung könnte ihn erreichen, da er (oder es?) kein Endpunkt für irgendeine Beziehung ist, selbst nicht der Absicht 9, eben weil er keine Grenzen hat, sondern unendlich ist" 1 0 . So sagt Lévinas in der Einleitung zu seinem Buch: ich will „die Möglichkeit oder die Tatsache, das Wort Gott als ein sinnvolles Wort zu verstehen" untersuchen. Ein Sieg über den positivistischen und analytischen Rationalismus, der derartige „metaphysische" Begriffe unwiderruflich als bedeutungslos betrachtete 11.
8 Eine seiner interessanten Sammlungen hat den Titel ,J)e Dieu qui vient a l'idée ", Vrin, Paris, 1986. 9
Als Bewußtseinsobjekt betrachtet. E. Lévinas, De Dieu qui vient a l'idée , op. cit., S. 250. 11 Im Sinne der englischen „analytischen Philosophie".
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Lévinas kommt hingegen zur Folgerung, daß die Suche nach dem Sinninhalt des Wortes und der Idee „Gottes" und die Untersuchung dieses Sinninhaltes rational, ja selbst notwendig ist. Was uns interessiert, so sagt er, ist „die phänomenologische Konkretheit, mit der dieser Begriff sinnhaft wird oder es werden kann" 12 . Entscheidend ist also gerade der Umstand, daß Gott „zur Idee wird", daß er sich also unaufhörlich selbst gegen den Atheisten oder den Gotteslästerer durchsetzt. Welche Welt - oder Unterwelt - ist jene, in der diese Welt, oder andere Welten, wie die der Ethik, der Kunst, der Ganzheit, zur „Idee" werden? Können wir annehmen, daß sie eine unbedachte Schöpfung unseres Bewußtseins in einer Art Rausch sind? Selbstverständlich - so meinte Feuerbach - entspringen diese Phantasien der Angst vor dem Unbekannten, dem Unendlichen, der Zeit (was ist nach uns, war vor uns?), der Verantwortung. Und warum, frage ich, diese Angst? Dieses Festhalten an mir selbst, an meinem so schattenhaften Dasein? Warum weiß ich, daß ich sterben muß? Ich weiß, daß ich enden muß, weil ich von der Ewigkeit weiß; weil ich das Nicht-Endende kenne. Erneut „Gott in der Idee". Diese Fragen sind nicht mit einem Nein oder Ja zu beantworten. Ich habe sie einzig und allein gestellt, um mit einem Beispiel das Gebiet des Sinninhaltes oder des Sinnhaften - von dem des Wahren abzugrenzen, also von einem Umfeld der Tatsachen, der objektiven, materiellen Dinge. Es handelt sich also darum, über die reine Beschreibung hinauszugehen, um im Geiste mit einer gewissen „.Besorgnis" den gesamten Bewußtseinshorizont abzutasten und auszuloten, was darin tatsächlich verankert ist und verbleibt. Es gibt auch, was man beschreiben kann und womit sich die positiven Wissenschaften und vielleicht selbst die Psychologie oder Psychiatrie befassen. Aber nicht nur dies. In das Bewußtsein ist das Wesen der Dinge in seiner Gesamtheit eingeprägt, das, so Lévinas, „erklärenderweise und nicht eingeschmuggelt" in die Gedanken eingeht13. Und je befremdender, andersartiger und skandalöser (für den Positivisten) das Wesen der Dinge ist, desto mehr erklärt und manifestiert es sich, dringt also zum Bewußtsein vor. „Diese meine Last, diese mir bevorstehende Belastung durch das Andersartige, ist dies nicht vielleicht die Art, mit der ein das Andersartige liebender, die Idee entfachender Gott auftritt, der mich mit seinen Fragen verunsichert und der mein „Hier-bin-ich" bezeugt?"14. Tatsache ist, daß sich niemand - weder annehmend noch protestierend, bestätigend oder ablehnend - der Frage nach dem Andersartigen entziehen kann; eines Anderartigen, das nicht nur Gott, sondern auch das Unendliche, das Totale, das globale Sein selbst ist.
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E. Lévinas, op. cit., S. 7. E. Lévinas, op. cit., S. 235. 14 E. Lévinas, op. cit., S. 251. 13
3.7. Das Subjekt und das Recht auf Sinnhaftigkeit
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Dies ist ein weiterer Grund, um in unseren Überlegungen nicht auf den Widerspruch zu verzichten. Hingegen geht es um den bekannten hier wieder auftauchenden Gegensatz zwischen der Erklärung der positiven Wissenschaften und dem Verständnis der Hermeneutik.
3.7. Das Subjekt und das Recht auf Sinnhaftigkeit Aldo Masullo verteidigt in einem kürzlich erschienenen Werk die „Rechte des Sinnhaften' 4 oder, besser gesagt, das Recht des Individuums auf Schaffung des Sinnhaften. Er erinnert mit Kant daran, daß „das Verstehen ... immer relativ ist; es reicht lediglich für einen bestimmten Zweck aus ... zeichnet sich durch das Auftreten von Sinn und als lebenswichtige Bewertungsfunktion aus. Selbst die Zielsetzung der positiven Wissenschaft 15 kann, wie jeder Aspekt des menschlichen Seins, erfaßt oder internalisiert werden; die Zielsetzung läßt sich damit auch im Lichte individueller Ziele bewerten" 1 6 . Das Verstehen bewegt sich innerhalb eines Horizontes, der „das Interessengebiet des Individuums, also die Beziehungen der Dinge mit den Zielen des Individuums. .. umschließt. So (ist) der Verständnishorizont der Bereich, in dem sich der Sinn für die Dinge äußert, ... dort wo die transzendentale Dialektik in die Kritik der praktischen Vernunft mündet" 17 . So ergibt sich, daß die Gleichung A = A für mich als Mathematiker eine bedeutende und spannende Wahrheit enthält und mich so packt, daß ich mich immer wieder frage, ob sie tatsächlich und völlig zutrifft (was einige Mathematiker tatsächlich getan haben). Wenn ich kein Mathematiker oder Logiker bin, läßt mich diese hohe Wahrheit unberührt, sie gibt mir keinen Sinn (wofür ich mir keinen Vorwurf zu machen brauche). Moderne Denker sind versucht, uns davon zu überzeugen, daß die Vernunft vom persönlichen, empirischen Gedankenhorizont des Individuums abzusehen hat; daß jenseits dieses Horizontes keine Sinnhaftigkeit oder universelle oder für mehrere Individuen gültige „bedeutende Wahrheit" bestehen kann. Mit Husserl und später mit Heidegger, Sartre, Merleau-Ponty und anderen hat die Vernunft angesichts der Unmöglichkeit, universelle Wahrheiten zu erfassen, paradoxerweise ausgerechnet mit dem Begriff des „schwachen Gedankens" ihren Zuständigkeitsbereich ausge15
Als „Erklärung" verstanden. A. Masullo, Filosofìe del Soggetto e Diritto del Senso, Marietti (Agorà), Genova, 1990, S. 178-179. 17 A. Masullo, op. cit., S. 179. 16
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weitet. Die Vernunft umfaßt seitdem auch die individuellen, die „für mich bedeutungsvollen" Dinge; was dann für eine Vielzahl von Individuen gültig ist, gilt als universelle Zustimmung. Es geschieht dies mit der Kunst, der Ethik, der Pädagogik, mit den Sitten und Gebräuchen und dringt immer mehr in den Bereich der Human Wissenschaften und in das zwischenmenschliche Verhalten und in die Kommunikation ein, so daß sich diese Verhaltensforscher nicht weiter als „Stiefkinder" betrachten müssen. Masullo weist in diesem Zusammenhang auf die Aussagen Merleau-Pontys über die Authentizität der Empirie hin, ihren Zusammenhang mit dem aprioristischen Denken, und ihre Dichte der Wahrnehmung als Fähigkeit des Individuums, in das Wesen des Seins einzudringen. Bei der Wahrnehmung „erfaßt man die eigentliche Erscheinung der Welt... gleichzeitig mit dem Entstehen einer Norm, die sich nicht verwirklicht, nämlich der Identität zwischen Äußerem und Innerem Masullo argumentiert weiter wie folgt: „es handelt sich um ein emotionales, tiefgehendes Begreifen, das die gesamte Welt des Menschen einbezieht; bei der Begegnung mit dem Ding - in der Form der Wahrnehmung - interessiert das eigentliche Wesen des Dings absolut nicht, denn sie, die Begegnung, stellt ja nur eine Episode in meinem Leben dar" 18 . Genau dies erlebt ein sensibles (wahrnehmendes und begreifendes) Individuum beim Anblick der Flaschen und Krüge auf den Bildern des modernen italienischen Malers Morandi. Es ist ganz eindeutig, daß es auch eine Welt der pathosgeladenen Wissenschaft gibt, weil der Forscher in die Welt seines Forschungsgegenstandes eintritt, wo „der Sinn" 19 die Entsprechung zum Wahren darstellt; wobei die Kenntnis zur Darstellung im Sinne einer objektiven Beschreibung wird. Das Ergebnis der Wissenschaft ist reine Betrachtung, wohingegen das Sinnhafte (im Gegensatz zum Wahren der beschreibenden Wissenschaften) die andere Seite der Kenntnis, nämlich das interessierte Verstehen, die Leidenschaft und die Praxis darstellt" 20 . Masullo zitiert Sartre, um darauf hinzuweisen, daß „die Kenntnis und die Tat nur die zwei abstrakten Seiten einer ursprünglichen und konkreten Beziehung sind" (das „verum factum" des italienischen Philosophen G. B. Vico 21 ). Mit Merleau-Ponty schließt er wie folgt ab: das Individuum ist ständig in der „Ekstase": es steht vor dem Sein und läßt sich davon emotional mitreißen. Die Herausforderung der Kommunikation, der Bildung und aller zwischenmenschlichen Beziehungen ist jedes Mal, vor jedem Publikum, zu jedem Thema, ein Moment der „Ek-stase".
18 A. Masullo, op. cit., S. 186-187. Die unterstrichenen Stellen sind von Merleau-Ponty, Phénoménologie de la Perception , Gallimard, Paris, 1945, in Masullo übernommen. 19 Im Sinn des „Erklärten", „Beschriebenen" der positiven Wissenschaften. 20 A. Masullo, op. cit., S. 201.
21 J. Sartre, L'Etre et le Néant, Gallimard, Paris, 1946, S. 370.
3.8. Die semantische Herausforderung
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3.8. Die semantische Herausforderung. Von den Zeichen zu den Semen22 Die Semantik, die das Sinnhafte nach den Regeln der Logik und nach den sozialen Gepflogenheiten bei dessen Produktion untersucht, steht im Zentrum des Kommunikationsprozesses oder sollte dort stehen. Ich sage „sollte", da man bisweilen den Eindruck hat, daß der Inhalt der Mitteilung nur einer Prachtentfaltung des Mediums dient. Dies gilt für die regelmäßig jeden Sonntag, stunden- und monatelang in Italien stattfindende Fernsehshow „Domenica in". Die Bühne ist üppig hergerichtet, es herrscht Überfluß an technischen Mitteln, die Ton- und Lichtanlagen werden raffiniert eingesetzt, die Kleidung der Darsteller ist apart, die Aufmachung ist spektakulär, aber der Inhalt der Sendung ist - in einem Riesenkreuzworträtsel das bescheidene telephonische Ratespiel mit den Zuschauern. Ihnen wird geschmeichelt und auf alle mögliche Art Mut gemacht, sie werden beklatscht, sie werden getröstet; man hört ihnen zu, wenn sie Millionen Lire gewinnen oder verlieren. Damit die Show nicht langweilig wird, wechseln sich Interviews und Tatsachenberichte in schneller Folge ab. Der Moderator fordert auf: „können sie in wenigen Worten zusammenfassen - unsere Zeit ist leider abgelaufen: woraus besteht ihr philosophisches System?". Der große Philosoph antwortet strahlend: „Das ist in wenigen Sekunden schwierig; grundsätzlich möchte ich sagen, daß ich einen neuen Ansatz zur Erforschung der absoluten Wahrheit gesucht habe; jener Wahrheit, die für uns alle unabhängig von Rasse oder Glauben und für die tägliche Erfahrung eines jeden von uns maßgeblich ist." „Ein Beispiel?" „Ja, ich sage nur: wir alle können, ja müssen uns bewußt werden, daß das Unendliche das Endliche umfaßt und daß wir keine Vorstellung vom Unendlichen haben können, wenn wir nicht eine vom Endlichen haben; die wir in der Tat haben". „Wunderbar; einen lauten Applaus für unseren Philosophen!". Wenn man die Zuschauer von „Domenica in" einem Test unterziehen würde, käme man wohl dahinter, daß die wenigen Dinge, die sie in der Erinnerung behalten, das Aussehen und die Witze des Ehrengastes und die aufregende Kleidung einer „Soubrette" sind. In dieser Bemerkung steckt - so scheint mir - kein Snobismus; nur das Anliegen, die ohnehin offensichtliche Tatsache zu bestätigen, daß diese Art von Kommunikation durch die extreme Bedeutung des Mediums - und folglich der Äußerlichkeiten und der Effekte (Ton, Beleuchtung, Bewegung) - also nicht durch den Mitteilungsinhalt, wie auch immer er lauten mag, gekennzeichnet ist. 22 Vom griechischen „sémàino": die sinnhaften Grundeinheiten im Innern der einzelnen Wörter.
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3. Kap.: Das semantische Universum
In einem anderen Bereich, dem der Unternehmenskommunikation stellen wir fest, daß auch er einen „multimedialen Ansatz" aufweist. Dabei geht man von der Überzeugung aus, daß eine jeweils durch verschiedene Mittel und Medien aufbereitete und verbreitete Nachricht die Aufmerksamkeit der Empfänger besser auf sich ziehen kann und sich tiefer in sein Bewußtsein einprägt. Was wohl wahr sein dürfte. Aber welche Botschaft? Wer denkt an die zu übermittelnde „Sache"? Der Aufbau einer Botschaft erfordert, selbst bei einem offenkundigen, sich möglicherweisse wiederholenden Inhalt einen intensiven, subtilen und herausfordernden Einsatz. Nur auf diese Weise - also mit einer produktiven, semantischen Arbeit - kommt man zu Mitteilungen, die irgendwie sinnvoll sind.. Der Semantik keine Bedeutung beizumessen oder sie selbst abzulehnen, ist eine durchaus verständliche Einstellung. Handelt es sich doch dabei um eine relativ junge Disziplin, wenn sie heute auch eigenständige Merkmale aufweist und wissenschaftlich ernst zu nehmen ist. Die Geburtsstunde der modernen Semantik kann man in die zwanziger Jahren zurückdatieren. Davor wurde das, was man heute als ihre Strukturelemente bezeichnet, - also das Naming , die Namensgebung der (materiellen und nicht materiellen, objektiven und subjektiven, realen und eingebildeten) Dinge sowie das Denken und Verstehen - getrennt von einander untersucht. Das Naming war das Untersuchungsobjekt der phonetischen und grammatikalischen Studien. Im Grunde dachte man, daß die Namensgebung eine Fortsetzung der Arbeit war, die vom ersten Menschen bei der Weltschöpfung begonnen worden war, als er Pflanzen und Tieren einen Namen gab. Das Denken und Verstehen hingegen war das Studiengebiet der Philosophen, die das Wesen und den Geist der Dinge sowie die menschliche Eigenart untersuchen, und hatte das Verstehen als solches - unabhängig von der Benennung - zum Ziel. Den Dingen Namen zu geben war hinderlich und wurde als banale, ja als sozusagen bequemlichkeitshalber ausgeübte Tätigkeit bezeichnet: etwa wie das aufkleben von Etiketten auf die Dinge. Die grundsätzliche Überlegung finden wir in den wichtigen Abhandlungen von John Locke von 1690 (An Essay Concerning the Human Understanding ) und jener von David Hume (Inquiry Concerning Human Understanding) von 1748, offensichtliche Fortführung des Lockeschen Gedankenganges. In der Tat ging das „Konzept" von Hume über die Absichten Lockes hinaus. So ist es interessant festzustellen, daß Hume der offensichtlichen Unterscheidung zwischen Understanding und Naming eine Begründung gibt, ohne sie jedoch zum Gegenstand seiner Untersuchungen zu machen. Hier seien seine Worte angeführt: „Um einem Kind eine Vorstellung von der Farbe scharlachrot oder orange oder des Süßen und des Bitteren zu geben, zeige ich ihm entsprechende Gegenstände, oder ich setze es diesen Eindrücken aus, aber ich werde nicht auf so absur-
3 . . De Sn des Sinnhaften
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de Art vorgehen, daß ich versuche, diese Eindrücke zu erzeugen, indem ich in ihm die entsprechenden Ideen auslöse"23.
3.9. Der Sinn des Sinnhaften Im Werk von Hume wird häufig eine Unterscheidung zwischen Gefühlen, Ideen und Namen gemacht. Dabei handelt es sich um Begriffe, die die heutige Semantik hingegen als durch einen irgendwie einheitlichen Prozeß verbunden sieht. Im Ausdruck „irgendwie" ist die Herausforderung der zeitgenössischen Semantik enthalten. Diese zeitgenössische Semantik entsteht mit dem Werk von Cecyl K. Ogden und Ivor Α. Richards aus dem Jahre 1923 mit dem beunruhigenden Titel „.Der Sinn des Sinnhaften" 24. Das Werk, das 22 Definitionen von „Sinnhaft" enthält, gibt genau den damaligen mehr erfühlten als durchdachten Erkenntnisstand wider und weist dabei auf 22 mögliche Forschungsprogramme hin. Die 22 möglichen Definitionen von Ogden und Richards des „Sinnhaften" wurden aus den grammatikalischen, philosophischen, soziologischen, psychologischen, historischen und anderen Disziplinen übernommen. Diese Autoren gehen von der Vorstellung aus, daß Sinn und Semantik ein interdisiplinäres Wesen aufweisen und daß daher die Natur des Sinnhaften vom Gegenstand oder vom Inhalt abhängt, dem der Name gegeben wurde. Anders ausgedrückt: man streitet der Semantik das Recht ab, als unabhängige Disziplin aufzutreten. Im Jahre 1933 erscheint Language des Amerikaners Leonard Bloomfield 24a , der das Sinnhafte nach den damals modernen Anschauungen der „Theorie der vereinten Wissenschaft" erklären will. Er versteigt sich selbst zur Behauptung, daß das Wort „Salz" über eine Bedeutung verfügt und zwar die von „Natriumchlorid", wohingegen Worte wie „Haß" und „Liebe" bedeutungslos sind, da die Wissenschaft sie noch nicht auf ihre Bestandteile untersuchen konnte. Sicherlich wird es ihr noch gelingen, war seine abschließende Bemerkung; man solle nur abwarten 25. Bloomfield sieht die in keiner Analyse vermeidbare Schwierigkeit bei der regressio η infinitum nicht, wonach nach der Erklärung von „Salz" die von „Natriumchlorid" zu folgen hätte und dann die von „Chlorid" von „Natrium", von „Chlor" usw.
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D. Hume, On Human Nature and the Understanding , Crowell-Collier Publishing Company, London, 1962, S. 10. 24 L. Bloomfield, Language, Holt, Rinhart and Winston, New York, 1933. 24a C. K. Ogden und I. A. Richards, The Meaning of Meaning, 8. Ausgabe des Originals, Routledge, London, 1946, S. 156-187 . 2 5 L. Bloomfield, op. cit., S. 139.
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3. Kap.: Das semantische Universum
Kommen wir mit einem Sprung von fünfzig Jahren zur heutigen Forschung: hier finden wir die Abhandlung des Engländers Geoffrey Leech 26 , der eine Neufassung der Geschichte der Semantik mit einer Kritik an Ogden, Richards und Bloomfield und mit dem Vorschlag eines doppelten Auslegungskriteriums verbindet. Insbesondere ist seiner Ansicht nach die regressio ad infinitum in Wirklichkeit ein kreisförmiger und nicht linearer Prozeß, da jeder Ausdruck auf einen anderen ihn erklärenden verweist, allerdings im Rahmen der Sprache. Man bewegt sich also innerhalb eines Sprachlexikons. Ausgeschlossen bleiben deshalb alle Bezüge auf Fakten oder „Tatsachen". Manchmal, so fährt er fort, schaffen wir uns ein Problem, das an sich keines ist. In der Semantik befinden wir uns in der Situation eines in seiner Muttersprache sprechenden Menschen, der mit geringer Mühe, ja selbst ohne sichtliche Mühe anstandslos sprechen und mitteilen kann. Dies schlägt sich in der Bildung von Sätzen nieder, die eine sinnhafte Kommunikation zulassen. Mehr instinktiv als aufgrund der persönlichen Ausbildung werden sinnlose Sätze wie die tautologischen und die widersprüchlichen vermieden. Hier wäre einzuwenden, daß der von Leech aufgezeigte Prozeß nicht den Tatsachen entspricht. Auch grammatikalisch sinnlose Sätze haben manchmal einen starken Sinninhalt wie „Paris ist immer Paris!" oder „Ich liebe und hasse ihn". Es hängt vom Zusammenhang und von der Situation ab, wobei sich die „Bedingungen der Sinnschöpfung" grenzenlos bis hin zum Theater des Absurden, zur Sprache des Schweigens usw. ausweiten. Leech gibt allerdings zu, daß auch die sinnlosen Sätze in der praktischen Kommunikation sinnhaft sein können, beispielsweise durch rhetorische Sinnübertragungen, Hyperbeln, sich in „möglichen Welten" abspielende Wunder usw. „Wir stellen fest - schließt Leech ab - , daß sich der Sprechende und der Auslegende immer bemühen, auch absurden oder grammatikalisch falschen Sätzen einen Sinn zu geben, und zwar aufgrund einer ständigen Suche des Menschen nach der bewußtseins- und intelligenzbedingten Sinnhaftigkeit" 26a . Das Problem der Schöpfung des Sinnhaften durch den Kommunikationsprozeß grenzt somit an das philosophische Problem des Menschen in der Welt; einer Welt, die ihn beherrscht, aber auch gefügiges Objekt seiner Fragen ist. Gerade hierin liegt die Herausforderung der Semantik, bei der die Suche nach dem Wahren nur ein kleiner „Teilbereich" ist.
26 26a
G. Leech, Semantics. The Study of Meaning, Penguin Books, London, 1981. G. Leech, op. cit., S. 7.
3.10. Ein neues Auslegungsmodell für die Schöpfung des Sinnhaften
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3.10. Ein neues Auslegungsmodell für die Schöpfung des Sinnhaften Eine vollständige und philosophische Schilderung der Wege und der Entwicklung jener wissenschaftlichen Disziplin, die man Semantik nennt, von den zwanziger Jahren bis heute würde den Rahmen dieser Untersuchung sprengen. Einige schematische Hinweise auf einige inzwischen mehr oder weniger allgemein akzeptierte Erkenntnisse, auf die offenen Probleme und auf die neuen Tendenzen mögen genügen, die sich bei der Analyse des Untersuchungsgegenstandes „Produktion von Sinn" - eine „Fähigkeit aller in ihrer Muttersprache redenden Menschen", um mit Geoffrey Leech zu sprechen - abzeichnen. So soll im Modell die Semantik mit Hilfe anderer Forschungsbereiche wie der Hermeneutik, der transzendentalen Phänomenologie, der analytischen Philosophie „fragend untersucht werden". Denn es wäre nicht vertretbar, die Semantik für sich alleine zu analysieren. Aufgrund interdisziplinärer Erkenntnisse werde ich ein Modell der Schaffung von Sinninhalten erarbeiten und dann einige Beispiele für die Produktion von Sinnhaftem geben, die dem Leser für seine persönlichen semantischen „Abenteuer" als Anhaltspunkt und Ausgangsbasis dienen können. Die Semantik ist eine echt ... demokratische Disziplin und Übung. Denn alle, wirklich alle Menschen können Sinninhalte produzieren und zwar schon als Kinder, wenn sie mit dem Sprechen beginnen. Ich bin mir bewußt, daß der allgemeine Hinweis auf die Interdisziplinarität nur auf bescheidene, bisweilen selbst leicht verzerrte Anleihen bei anderen Disziplinen hinauslaufen kann; diese Anleihen fallen allerdings im Vergleich zu dem Wissen, das ein Spezialist in seinem Untersuchungsgebiet tatsächlich beherrscht, wenig ins Gewicht. Die Sprachen der verschiedenen Forschungsbereiche sind fachbezogen und geben in ihrer semantischen Dichte eine komplexe begriffliche Darstellung der Wirklichkeit, die sich ein Außenstehender niemals weder durch die Lektüre noch durch das Gespräch völlig aneignen kann. Wer von außen in ein Fachgespräch eindringt, ist für den Spezialisten ein „Fremder", der unbeholfen eine ihm nicht geläufige Sprache spricht und - was noch erschwerend hinzukommt - sich dessen nicht einmal bewußt ist. Das Leben in einer „Stätte der Wissenschaft" hat sich als nützlich erwiesen, um - wie man sagt - anregende Kontakte zwischen Physikern, Chemikern, Biologen, Philosophen und Dichtern zu schaffen, erbrachte jedoch ganz wenige produktive Ansätze für eine neue integrierende Denkweise. Soweit mir bekannt ist, gibt es hierfür als einziges Beispiel nur den Biologen Henry Laborit, der während seiner intellektuellen Reife erfolgreich und - wie er
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selbst zugibt - „en s'amusant" („sich dabei unterhaltend") den Weg der Integration der Biologie mit der Soziologie und der Psychologie zu begehen versuchte. Er war so liebenswürdig, den Schlüssel zu seinem Erfolg preiszugeben27: „Je suis un spécialiste pluriconceptualisé" („Ich bin ein Viele-Konzepte-Spezialist"). Das ist das Geheimnis: Spezialist bleiben und dabei versuchen, sich - nicht die Sprache der anderen Disziplinen (das wäre sicherlich ein zum Scheitern verurteiltes Unterfangen!), sondern - die Grundbegriffe dieser Disziplinen anzueignen, die deren semantische Besonderheiten bestimmen. Auf diese Art verfügt man nicht über ein Weniger, sondern über ein Mehr an Wissen von den anderen Disziplinen; sind doch die Worte „nur" Zeichen, um Sinnhaftes - also Ideen und Begriffe - auszudrücken, ohne selbst Ideen oder Begriffe zu sein. Damit sei nicht gesagt, daß die Kenntnis der Worte nicht wichtig ist, und zwar schon allein im Hinblick auf die enge Verknüpfung zwischen Worten und Begriffen unserer Kommunikation, zwischen Zeichen und Sinn. Doch ist es sicher zweckmäßig, ein Mindestwissen in den anderen Wissenschaften durch mehr Begriffe und weniger Wörter zu erwerben. Wenn man nach Großbritannien zieht, ist es wichtig zu wissen, daß die Fahrzeuge links fahren und daß man deshalb beim Überqueren der Straße zuerst nach links schauen muß, und weniger wichtig, daß man weiß, was der Ausdruck „look left" heißt, der unterhalb des Bürgersteigs an allen Fußgängerübergängen auf den Asphalt gezeichnet ist. Noch unwichtiger ist es, ob ich diesen Ausdruck gut aussprechen kann, wenn ich mit Engländern rede. In diesem Geiste und innerhalb dieser Grenzen sei jetzt das integrierte, semantische Paradigma mit interdisziplinärem Hintergrund formuliert. Dabei wird die Bitte um Nachsicht an den auf nicht ganz befriedigende gedankliche Überleitungen stoßenden Leser ausgesprochen. Ja, es wird ihm empfohlen, selbst zu versuchen, bessere zu finden; er soll also eine erst angelaufene Forschungstätigkeit fortsetzen, die dann von den Teilnehmern am Kommunikationsprozeß weiter ausgeweitet werden kann.
3.11. Die Pfade und Autobahnen des Sinnhaften Das Devoto-Oli-Lexikon ist vielleicht das beste Lexikon der italienischen Sprache im Buchhandel. Es ist mit vielen Abbildungen angereichert, die sich als wertvolles Hilfsmittel erweisen, um den Sinn selbst geläufiger Wörter zu erklären. Nehmen wir das Wort „Pferd". Dazu gibt Devoto-Oli folgende Definition: „zur Säugetiergattung gehörender Peroxidattilos (mit kräftig entwickelter Mittelzehe) - equides - equinus - Einhufer". Die einzige Angabe von praktischem Wert liegt darin, daß das Pferd zur Familie der Einhufer gehört. Aber das verwirrt, denn das tun 27 In einem Beitrag am Dies academicus der Universität La Jolla- European Campus von Lugano, am 10 Dezember 1988.
3..
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des Sinnhaften
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auch das Zebra, der Esel, das Onager und andere „Huf-Säugetiere". Was ein Säugetier ist, ist weithin bekannt, auch wenn nicht alle gleich an einen Dugong denken, den dasselbe Wörterbuch als „zur Sireni-dugongidi-dugongini-Säugetier-Gattung gehörend" definiert. Es bleibt ferner der Zweifel beim Begriff „Peroxidattilos" und wie man den „Einhufer" Pferd wissenschaftlich vom Esel unterscheiden soll, was zum Glück in der Praxis nicht interessiert. In meiner Bibliothek fällt mein Blick auf das im englischen Sprachraum bekannte Chambers-Dictionary. Es handelt sich um eine Ausgabe aus dem Jahre 1904. Ich versuche den Begriff horse zu finden. Schnell aber wirkungsvoll definiert es das Chambers: „The well-known quadruped". Dies sind zwei verschiedene Ansätze zum selben Gegenstand. Wie die zweite Definition durch die Beifügung des Wortes „well-known " beweist, befindet sich diese eher im Kopf des Lesers als in der Wirklichkeit. Die angegebenen beiden Erklärungsarten sind insofern spezifisch, als sie entweder mit einem Hinweis oder „deiktisch" („dieser", „jener", „der wohlbekannte"... ) den Gesprächsgegenstand (Wort-Zeichen) global angeben oder mit einem WortZeichen auf andere Wort-Zeichen verweisen. Ein extremer Fall in dieser Richtung ist das Dictionnaire Raisonné de la Théorie du Langage 27a in dem bei jeder Erklärung ca. 10% der benutzten Wörter auf andere verweisen. Trotzdem ist die Erklärung leider zumeist unvollständig, selbst wenn man das ganze Lexikon wie ein normales Buch lesen würde, da man auch aus anderen Quellen schöpfen sollte, also eine vollständige Kenntnis der Materie haben müßte. Hätte man diese, wäre es allerdings nicht mehr nötig, ein Lexikon aufzuschlagen.
3.12. Sieben Arten des Sinnhaften Geoffrey Leech reduziert die 22 Sinnarten von „Bedeutung" von Ogden und Richards auf sieben28. Es handelt sich dabei allerdings um keine zahlenmäßige Verringerung, weil man von den 22 Einzelbedeutungen zu sieben Bedeutungskategorien übergeht. Es seien dann von mir weitere zwei hinzugefügt und zwar jene der konstruktiven Bedeutung aus dem Tatsachenmodell und jene der sachlichen Bedeutung aus der ausdrucksbetonten Sprache (Dichtung, Werbung) des phänomenologischen Ansatzes; eines Ansatzes also, der sich dem für die moderne Wissenschaft typischen Ansatz der kategorialen und prädikativen Analyse gegenüberstellt und von dort in die Umgangssprache übergegangen ist oder sich ihr aufgezwungen hat. Schauen wir uns zuerst die sieben Bedeutungskategorien von Leech an. 27a A. J. Greimas und Joseph Courtés, Dictionnaire Raisonné de la Théorie du Langage, Hachette, Paris, 1979. 28 G. Leech, op. cit., S. 9 ff.
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1. Begriffliche Bedeutung: auch denotative oder kognitive Bedeutung genannt. Sie bildet sich auf zwei grundlegenden Sprachachsen: der paradigmatischen und der syntagmatischen. Für die erste stellt sich jedes Wort, so könnte man sagen, anderen Wörtern einer Sprache gegenüber. Es handelt sich um die sogenannte auf dem Kontrast beruhende Bedeutung, weshalb beispielsweise dem Wort „Frau" der „nicht männliche, erwachsene Mensch" entspricht, wohingegen „Junge" gleichbedeutend ist mit „männlicher, nicht erwachsener Mensch". Bei der zweiten, auf der syntagmatischen Achse befindlichen globalen Bedeutung ergibt sich der Gesamtsinn eines Satzes durch die logische Zusammenfügung der Sinninhalte einzelner Bestandteile (unter ihnen die sog. Synkategoren, ohne Eigenbedeutung wie das Adverb, das Pronomen). Dieser zweite Bedeutungsweg ist nicht banal. So gibt es syntaktisch und logisch vollkommene Sätze, die sinnlos sind; wie der wohlbekannte Satz von Noam Chomsky: „Die grünen, farblosen Ideen schlafen wütend." Das Beispiel zeigt, daß die beiden Wege, der paradigmatische oder auf dem Kontrast beruhende und der syntagmatische oder logische, nicht voneinander getrennt werden können und daß das Sinnhafte beim ersten - kognitiven, begrifflichen oder kennzeichnenden - Typ nur aus einer Verschmelzung der beiden entsteht. 2. Konnotative Bedeutung: Sie wird normalerweise der denotativen oder beschreibenden gegenübergestellt. Sie enthält ein oft vielschichtiges Werturteil, das aus den moralischen, sozialen oder anderen Merkmalen hervorgeht, die wir bestimmten Begriffen zuschreiben, da sie Figuren mit sozial-symbolischem oder kodiertem semantischem Inhalt entsprechen. Beispielsweise: „der Bandit" wurde im 19. Jahrhundert im positiven Sinne als Rebell gegen das meist ungerechte Gesetz gesehen. Der Bandit erzwang einen Einkommenstransfer vom Reichen zum Armen. Heute existiert ein derartiger Bandit nicht mehr in der Wirklichkeit, sondern nur noch im übertragenen oder metaphorischen Sinn in unseren Wörterbüchern, jedoch mit einem negativen Vorzeichen wie im Ausdruck „die Banditen an der Börse, die Banditen des Staatsdefizits". Die Frauenrechtler haben vorgeschlagen, alle männlich ausgerichteten Ausdrükke abzuändern, um die Vormachtstellung des Mannes einzuschränken29. Meiner Ansicht nach ist dies nur schwer zu verwirklichen, ist aber vor allem unnötig: schwer zu verwirklichen, weil das Vorhaben mit einem Wandel in der Auffassung der Rollen von Mann und Frau in der Gesellschaft Hand in Hand gehen muß, da die sprachliche Ebene diesen Wandel nur widerspiegeln, aber nicht hervorrufen kann; unnötig deshalb, weil eine Frau, die heute eine tradionell männliche Rolle übernimmt (beispielsweise die eines Geschäftsführers oder Präsidenten) gerne den 29 A. Sabatini, Il sessismo nella lingua Italiana , Presidenza del Consiglio dei Ministri, Roma, 1987.
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männlichen Titel wie eine Siegestrophäe beibehält30. Wenn der Rollenwandel in der Gesellschaft weiter fortschreitet, wird wahrscheinlich ein gemeinsames grammatikalisches Geschlecht aufkommen, wie es bereits in der italienischen Sprache bei den Bezeichnungen „Arzt" oder „Chirurg" üblich ist 3 0 a . 3. Gefühlsmäßige, soziale, pragmatische Bedeutung: Zu dieser Kategorie gehört die illokutive Kraft eines Ausdrucks, der sich von dem rein umschreibenden und feststellenden unterscheidet. Wenn ich zum Kellner im Restaurant sage: „Ich habe keine Serviette", ist dies keine einfache Mitteilung oder Feststellung, sondern eine Bitte oder selbst ein Vorwurf. Die illokutive Funktion wird noch deutlicher, wenn ich als Stammgast des Restaurants zum gleichen, unaufmerksamen Kellner sage: „Auch heute habe ich keine Serviette". Anders wäre es, wenn ich diesen Satz zu einem Passanten sagen würde, sofern ich an meinem Tisch draußen vor dem Restaurant sitze. Die illokutive oder soziale oder pragmatische Dimension ist in der Sprache fast immer gegenwärtig, wenn auch bisweilen nur spitzfindig. So führt sie zu besonderen Schwierigkeiten bei der Übersetzung aus einer Sprache in die andere oder aus einer Fachsprache31. 4. Reflexive Bedeutung: Sie ist idiosynkratisch, also an individuelle oder Gruppensprachgewohnheiten bzw. an soziale Tabus oder an gesellschaftliche Kritiken und an bestimmten Ausdrücken gebunden. So ist es schwierig, über „Erektion" oder „Orgasmus" zu sprechen, ohne auf die sexuelle Bedeutung dieser beiden Wörter anzuspielen (oder diese Anspielung zu fürchten). Es muß nicht unbedingt eine betroffene Reaktion folgen, sie kann auch nur komisch sein; dennoch weicht sie von der eigentlichen Kommunikationsabsicht ab. Heute redet man bereits öfters, allerdings nur erst metaphorisch, von Orgasmus, jedoch (noch) nicht von Erektion. 5. Assoziative Bedeutung: Sie wird nur zitiert, weil sie zu einem reaktiven Test führt. In Wirklichkeit hatten die Autoren 3 l a , die 1957 zuerst davon sprachen, anfangs größere Ambitionen: sie wollten jedes Wort mit einer Wertvorstellung verbinden und diese auf einer Werteskala von 1 bis 7 messen. Es hat sich inzwischen herausgestellt, daß ein derartiges Vorhaben zum Scheitern verurteilt sein muß. Heute wendet man das Kriterium auf den Einzelmenschen an, um seine moralische Reaktion auf den kognitiven durch ein Wort dargestellten Anreiz zu testen. Da es auf die individuelle Sphäre begrenzt ist, interessiert es weder die Linguistik noch die Kommunikation. 6. Thematische Bedeutung: Es handelt sich um die eigentliche Bedeutung des Satzes oder, besser gesagt, des (aus mehreren Sätzen bestehenden) Textes. Von 30
Nilde Jotti (damals Präsidentin des italienischen Senats) bevorzugte für sich den Titel „Presidente" gegenüber dem schwer aussprechbaren „Presidentessa" oder „Presidenta". 30a Die Worte „Ärztin" oder „Chirurgin" existieren in der italienischen Sprache nicht. 31 Wie gesagt, ist dies ein nur scheinbar banales Ziel der Interdisziplinarität. 31a C. E. Osgood, G. J. Suci, P.H. Tannenbaum, The Measurement of Meaning, University of Illinois, Urbana, 1957. 6 Trupia
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mehr als einem Sprachwissenschaftler wurde erwähnt, daß man beispielsweise einen feinen Unterschied zwischen der passiven und aktiven Sprechform desselben Satzes feststellen kann, obwohl, logisch gesehen, beide denselben „Wahrheitsinhalt" aufweisen (beide sind in jeder Form entweder wahr oder falsch). Aber wie bereits gesagt, ergibt sich der wahre Sinn aus dem Text: er geht aus der textlichen Ordnung der darin enthalten Informationen hervor. Nehmen wir den einfachen und traditionellen Fall des Schulaufsatzes „Meine Mutter". Bekanntlich ist es für den Schüler immer äußerst schwer, einen Einstieg in das Thema zu finden. Bisweilen kann eine hilfsbereite Lehrerin eine Anregung geben. In den meisten Fällen besteht die Anregung aus einem Kommentar zum Thema „meine Mutter" und nicht aus einer Fokalisierung des Themas. Damit habe ich auf die drei möglichen Komponenten jeder Rede angedeutet: auf „ Thema Rhema oder Kommentar und Fokus (oder Brennpunkt). Das Thema, der Gesprächsgegenstand, wird - im Beispiel - von der Lehrerin vorgegeben, wohingegen Erläuterung und Fokus Aufgabe des Schülers sind. Der thematische Inhalt, also die Thematisierung geht aus der Art und Weise hervor, wie der Mitteilungsinhalt im Text geordnet wird. Beim Thema „Meine Mutter" kann die Einführung in das Thema beispielsweise so lauten: „Ich freue mich über die mir gebotene Gelegenheit, von meiner Mutter zu schreiben; tief in unserem Innern tragen wir den Gedanken an unsere Mutter stets mit uns, aber sehr selten, vielleicht nie, denken wir über sie nach. Wenn ich daher von meiner Mutter spreche, will ich auf die Merkmale eingehen, die in meinen Augen nur sie besitzt". Die Beschreibung der mütterlichen Eigenschaften stellt dann einen Kommentar zum Thema dar, der auch als das Neue (also das Neue und Spezifische in der Aussage) oder Rhema bezeichnet wird 3 2 . Der Aufsatz könnte effektvoll mit dem Bericht über das Ereignis abgeschlossen werden, das den Schüler-Sohn am meisten im Leben oder in der Beziehung zur Mutter berührt hat und die Eigenschaften und die Einzigartigkeit der Mutter am besten darstellt: dies wäre dann der Fokus. Natürlich kann man mit dem Fokus beginnen - wie dies normalerweise bei der Zeitungsnachricht der Fall ist - um dann das Thema, den Gesprächsgegenstand anzugeben, der dann in allen Einzelheiten und mit den hierfür erforderlichen Berichten, den Bewertungen und den Zusatzinformationen (.Kommentar) veranschaulicht wird. Wenn es sich beim Thema beispielsweise um den außergewöhnlich dichten Autoverkehr im Sommer handelt, könnte ein fokalisierender Anfang sein: „Wieder Blut auf den Straßen", oder „Die üblichen Warteschlangen an den Autobahn-Zahlstellen" oder „Die Familie Brambilla mit Opa in ihrem mit Kanarienvogelkäfig und Schlauchboot der Kinder auf dem Dachträger völlig überladenen Wagen nähert sich allmählich dem heißersehnten Strandfleck." Oder man kann, um beim 32 Kommt vom griechischen rhema = Verb. Das Verb hat bekannterweise die prädikative Funktion eines Subjekts-Themas.
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Thema Urlaub zu bleiben, beispielsweise mit folgendem Kommentar anfangen: „Offenbar geht es dieses Jahr auf Straßen und Autobahnen besser - das Verdienst des energischen Verkehrsministers, der die Geschwindigkeitsbegrenzung abgeschafft hat...". Dasselbe Thema kann im selben Diskurs zum Fokus werden: „ohne angemessenes Auto - von mindestens 100 PS - besser Autobahnen meiden, vor allem wenn die Urlaubsreisewelle mit voller Wucht anrollt". Man weiß noch nicht genau, wovon die Rede ist, was das genaue Thema sein soll. So kommt Spannung auf. Oft ist das Thema sozusagen „vorgegeben", wie in der Schule. Noch ist es in Italien nicht üblich, daß das Schulaufsatzthema folgendermaßsen formuliert wird, wie dies im Ausland vorkommt: „Geht in 800 Wörtern auf ein Thema ein, das Ihr Euch selbst aussucht". Es gibt eine andere Bedeutung des Themeninhalts, die von größter Wichtigkeit in der Massenkommunikation und in der Informationspolitik ist. Es handelt sich dabei um eine bisweilen bewußt, bisweilen „leichtfertig" oder mit Nachdruck von den Politikern und den Medien durchgeführte Aktion. Auch sie läuft unter dem Begriff der „Thematisierung". Sie antwortet auf die Frage eines hypothetischen Menschen aus den Medien: „wovon sprechen wir?" oder, unangemessener, „worüber wollen wir die Leute sprechen lassen?"33. Die Fähigkeit der Medien als Machtzentren bei der Manipulation der Angesprochenen und insbesondere der Schaffung einer Wirkungskraft der Information soll nicht überbewertet werden; es besteht jedoch kein Zweifel, daß das Interesse der Medien und der Leute jeweils auf ein bestimmtes Thema gelenkt wird. Das Interesse wächst, hält eine Weile an und flaut dann grundlos wieder ab. Sergio Lepri, 17 Jahre lang Direktor der italienischen Presseagentur ANSA, stellt fest, daß von den mehr als 500 Meldungen, die von der Agentur täglich verbreitet werden, nicht mehr als 300-350 von den angeschlossenen Zeitungen übernommen werden; die anderen 100-150 werden systematisch ignoriert. Das ist mit den Nachrichten über die desaparecidos passiert, die einige Jahre lang von der ANSA gebracht wurden, und erst nach einiger Zeit in den Zeitungen abgedruckt wurden. Dasselbe gilt für das Problem „Hunger in der Welt", für das nicht die Initiative des italienischen Politikers Marco Pannella, sondern die Reaktion der Medien und der Öffentlichkeit entscheidend wurde, die erst nach einiger Zeit dazu Stellung nahmen. Es gibt aufsehenerregende Nachrichten, die dann plötzlich aus den Medien und aus dem Gedächtnis der Öffentlichkeit verschwinden. Sagt der Name „Scricciolo" jemandem noch etwas? Und dennoch handelte es sich um einen leitenden für die internationalen Beziehungen zuständigen Angestellten der italienischen Gewerk33 Beispiel einer Thematisierung ist sicherlich die Einstellung weiblicher Polizisten in die italienische Staatspolizei. Zunächst ungern eingestellt, wurden sie dann dem Mann völlig gleichgestellt. Bei allen gefährlichen Polizeiaktionen steht im Fernsehen die Polizistin immer vorn und wird mit denselben Aufgaben betraut wie ihre männlichen Kollegen. Die gefährlichen Mafia-Angehörigen werden immer von einem männlichen und einem weiblichen Polizisten festgenommen.
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schaft UIL, der in das Attentat der Bulgarian Connection an Papst Woityla verwikkelt wurde. Er wurde zusammen mit seiner Frau verhaftet, die kurz danach freigelassen wurde; aber von ihm wurde nicht mehr berichtet: ob er verurteilt wurde, ob er noch im Gefängnis sitzt, ob die Anklage irgendeine Grundlage hatte - wer weiß? Es handelte sich um einen typischen Fall der Entthematisierung. Von einer thematischen Sinnhaftigkeit wird gesprochen, wenn ein Thema eine besondere Bedeutung bekommt; also eine Bedeutung, die es ohne dieses Phänomen der Hervorhebung eines spezifischen Themas nicht hätte. Ein Thema, das bei uns in Italien überall, bei jeder Gelegenheit und auf allen Ebenen ständig besprochen wird, ist die Politik. Man spricht darüber mit dem typisch italienischen Klageton im Wohnzimmer und im Bus, mit Freunden und mit Leuten, die man eben erst kennengelernt hat. Im Wortgefecht wird die öffentliche Verwaltung miteinbezogen, deren Unfähigkeit der politischen Klasse angekreidet wird. In einem sozusagen ständigen öffentlichen Prozeß werden die Untaten von Politikern und Parteien kommentiert, wobei man sich nicht scheut, die Untäter beim Namen zu nennen, um sie dann schließlich alle unerbittlich zu verdammen. Dies alles stets nur mündlich. In anderen, reiferen Demokratien und auch in demokratielosen Staaten besteht ein solch verkrampftes Interesse an der Politik nicht. Man findet hingegen ein klareres Verhalten der Bürger: sie jammern nicht und haben normalerweise kein Interesse am Geschehen im „Palazzo" (von Pasolini erfundener, rein italienischer Ausdruck für „die Obrigkeit", der sich blitzartig durchgesetzt und fest in der politischen und Umgangssprache eingebürgert hat). Möglicherweise hat gerade die Verständnislosigkeit der Bürger, die in ihrem Gejammere ihren Ausdruck findet, dafür gesorgt, daß die Politik ständig so intensiv in unserem Land im Zentrum der Aufmerksamkeit steht; ja selbst die Berufspolitiker beteiligen sich fleißig an diesem Gejammer. Selbstverständlich gegen den „Palazzo". 7. Beabsichtigter Sinninhalt und erfaßter Sinninhalt. Was der Sprechende sagt, kann vom Zuhörenden völlig anders verstanden werden: häufig sind die Bemühungen des Sprechenden um Klarstellung umsonst. Es handelt sich hier um ein wichtiges Phänomen, das über das Gebiet der Linguistik und der Kommunikation hinausgeht und eher in die Psychologie oder die Philosophie gehört. Gegenstand unserer Überlegungen ist hier der rein semantische Inhalt der Kommunikation. Es sei nur eine Bemerkung angefügt, die auch für einen Thematisierungsvorgang relevant sein kann. Die Kommunikation und ihr Thema kann „zuhörerorientiert" und „rednerorientiert" sein. Denkt man an die Weitergabe einer Information oder an eine befriedigende Kommunikationsweitergabe, muß die thematische Ausrichtrung „zuhörerorientiert" sein 34 . Aber viele Sprechende können nicht aus ihrer „Rednerorientiertheit" heraus. 34
Dies ist der Fall beim Werbeslogan des belgischen Kaffees SAMOKA: er wurde von einem geheimnisvollen „Kreis der Kenner bester Kaffeesorten" ausgesucht, in den der Verbraucher sofort aufgenommen wird.
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Es ist dies der Fall beim Neurotiker und bei den ... politischen Parteien, vor allem jenen mit einem messianischen Anspruch, die meinen, der eigene Wissenshorizont entspreche dem - normalerweise nicht gleichgerichteten - der Öffentlichkeit. Wenn man also eine Tatsache, ein Thema, ein Problem zum Gegenstand einer Mitteilung machen will (d. h. auf die semantische Ebene anheben), muß man also „zuhörerorientiert" sein, selbstverständlich ohne sich dabei etwas zu vergeben und ohne auf den Mitteilungsinhalt zu verzichten (sofern man einen übermitteln will). Es ist also ein Kompromiß zwischen dem Eigeninteresse an der Weitergabe der Botschaft und dem Informationsbedürfnis des Empfängers einzugehen. Für die Strategien der Kommunikation im Unternehmen ist eine derartige Fragestellung von größtem Interesse: ihm (die Unternehr^ensführung wird hier mit dem Unternehmen identifiziert) fällt es bisweilen schwer, sich nicht als ein gut funktionierender, eigenständiger Mikrokosmos zu betrachten und sich entsprechend zu verhalten 35. Wie bereits angedeutet, erscheinen die stark ideologisch gebundenen Politiker wenig „zuhörerorientiert". Wahrscheinlich wegen des sogenannten Prinzips des „Primats der Politik", zu dem sich die Berufspolitiker bekennen. Sie tendieren instinktiv zur Ansicht, daß der Erfolg der Partei mit dem Fortschritt der Gemeinschaft gleichzusetzen ist. Beispiele hierzu gibt es viele; eines ist ein Plakat der Italienischen Sozialistischen Partei (Partito Socialista Italiano PSI), das im Hinblick auf die Wahlen in der Region Latium im März 1990 angeschlagen wurde. Das graphisch nicht sonderlich geglückte Plakat zeigt die Landkarte der Region, einen ostentativ nach oben zeigenden Pfeil, eine Zeitskala 1975-1990 mit der Aufschrift: „Seit 15 Jahren ist die PSI an der Macht in der Region. Die PSI und Latium wachsen gemeinsam". Nichts wird angeführt, was den Zweifel am Wachstum vom Latium zusammen mit dem der PSI zerstreuen könnte.
35 Über dieses Thema werde ich eingehender sprechen, wenn ich mich mit einem „Unternehmens-Virus" beschäftigen werde, den ich glaube entdeckt zu haben und der insbesondere in den gesunden Unternehmen eine Krankheit auslöst, der ich den Namen „erworbene Leistungsimmunität" gegeben habe.
4. Kapitel: Welt und Sprache
4.1. Das Erlebte in der Kommunikation In ihren „Mémoires d'une fille bien rangée" denkt Simone de Beauvoir an ihre Kindheit wie an einen Albtraum zurück, weil sie sie wie eine zweidimensionale, fest abgeschottete Welt erlebte, in der es nur Weiß und Schwarz gab. „Neutrale Farben waren nicht zugelassen". Die Familiemmitglieder wurden den fremden Menschen, die Guten den Bösen gegenübergestellt; was man nicht essen konnte, war giftig. Die Vorstellungen waren starr, „knöchern", um mit Simone zu sprechen. Wenn ihre persönlichen Erfahrungen im Gegensatz zu ihren Erziehungsgrundsätzen standen, wurde dies von ihr als Schuld empfundem: so beispielsweise ihre Abneigung gegen eine alte Tante, die sie gut kannte und trotzdem nicht mochte, wohingegen sie die Eingentümerin des Kurzwarengeschäfts in der Nachbarschaft bewunderte. Die Fixierung der Welt auf Bilder und festgelegte Begriffe - die in der Sprache und der Kultur einer Gemeinschaft zu Stereotypen werden - ist wohl eine Notwendigkeit. Ihr stellt sich allerdings der Drang entgegen, die Dinge anders zu sehen, das Schablonenhafte abzulehnen, um neue Gedanken und Vorstellungen zu entwikkeln, selbst wenn diese dann doch ihrerseits schablonenhafte Züge annehmen sollten. Wahrheit und Sinnhaftigkeit sind also keine absoluten Werte, sondern hängen von der Grundeinstellung ab. Oft scheinen Behauptungen zwar bedeutsam, aber nicht wahr, eben weil sie sich auf Anschauungen berufen, die nicht in die offizielle Weltanschauung passen und deshalb nicht anerkannt werden, ja selbst nicht begriffen werden können, weil die offizielle Weltanschauung nun einmal beherrschend und nicht anfechtbar ist. Vor 40 Jahren durfte ein italienischer „Gentleman" nicht im Trainingsanzug durch die Straßen seiner Stadt, nicht einmal innerhalb seines Wohnviertels „joggen". Heute ist dies durchaus normal, ein Standardverhalten. In einigen Jahren sofern der Traum von Rong-Mei (Weltmeisterin des Wu-ssu, einer eleganten Kampfsportart, die auch „Schattenboxen" genannt wird) wahr werden sollte - werden wir italienische Bürger aller Altersklassen diese Meditationsgymnastik auf den Bürgersteigen praktizieren sehen. Wer sie hingegen heute üben will, muß dies in der Abgeschiedenheit der Turnhalle oder des eigenen Heims machen. Das Bedeutsame - aber auch das „Zulässige", das Rationale und das Annehmbare - hängen
4.1. Das Erlebte in der Kommunikation
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folglich von den Vorstellungen ab. Die Welt hat sich als solche (wahrscheinlich) nicht geändert, wohl aber die Art und Weise, in der wir die konkreten Tatbestände sehen und beurteilen. Man ist sich wohl kaum der Tatsache bewußt, daß jede unserer noch so bescheidenen Einzelhandlungen auf einer metaphysischen Sicht der Dinge beruht. Ob wir es beispielsweise für möglich, richtig und nicht skandalös halten, im Trainingsanzug im Kaffeehaus an der Ecke oder mitten im Zentrum Kaffee trinken zu gehen, hängt davon ab, wie wir die Menschheit in Unterklassen - Erwachsene, Jugendliche, „Gentlemen", Sportler und Witzbolde - einordnen wollen; also auch davon, was wir für schicklich oder unschicklich halten. Womit wir von der Ebene der Kenntnis unbewußt auf die der Ethik und der Grundwerte gleiten. Damit kommen wir zu den Grundlagen für eine Ordnung des eigenen Wissens, indem wir nämlich von der reinen Kenntnis- zur Lebensordnung übergehen. Stephen Körner stellt das Prinzip der Identifizierung der Objekte der Welt durch ihre tägliche Bezeichnung folgendermaßen dar l . Die Welt kann, so sagt er, erfaßt und beobachtet werden, sofern man über ein vorgeformtes Raster empirischer Differenzierungskriterien verfügt; also über ein realistisches Bewertungsschema der sich (im Universum von Demokrit) bewegenden Objekte oder der einzigen (das Universum von Spinoza bildenden) Substanz mit ihren verschiedenen Attributen und existenziellen Spezifikationen. „Die Welt ist... eine Torte ... und das Schema der empirischen Differenzierung entspricht der Aufteilungsart dieser Torte ... Das realistische Schema (könnte darin bestehen), sie in Scheiben zu schneiden und das substanzbezogene Schema sie in kleine Vierecke aufzuteilen. Es besteht nur eine Welt. Ihre Existenz hängt sicherlich nicht davon ab, ob sie auf realistische oder substanzbezogene Weise unterschieden wird; aber es können auch keine zwei Torten existieren, nur weil zwei Arten des Tortenschneidens zur Anwendung kommen ... ; Torten zu schneiden ist nicht dasselbe, wie sie zu backen"1. „Die Kenntnisse von der Welt in Begriffe zu verwandeln" ist eine kategoriale Handlung oder Ausdruck der Kategorien. Sie ist das Ergebmis einer Sicht, aber auch einer Entscheidung. Für die arme Simone de Beauvoir stellten die seinerzeit starren Anschauungen ihrer Familie ein Problem dar. Aus der Biographie, die sie als Erwachsene schrieb, entnehmen wir, daß sie ihre inneren Konflikte dadurch löste, daß sie anschließend ihre Vorstellungen, in denen sie „wohl erzogen" worden war, völlig umkrempelte. Körner weist nach, daß enge Beziehungen zwischen den Bewertungskriterien bestehen, die wir bewußt oder unbewußt zur Anwendung bingen, um die Welt in Erfahrungsobjekte aufzuteilen. Es geht also um die Annahme oder Nichtannahme des Kausalitätsprinzips als dem für alle Geschehnisse entscheidenden und unaus1 S. Körner, Experience and Theory , Routledge and Kegan Paul, London - New York, 1966, S. 14.
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4. Kap.: Welt und Sprache
weichlichem Grundsatz; oder um den Glauben oder Nichtglauben an das Prinzip der Vorbestimmung und an die anderen Grundsätze des „spontanen" Denkens und Glaubens. Sie alle - in unserem Geist eng verflochten - bilden ein System zum Ordnen unserer Erfahrungen und Erkenntnisse und zur Bewertung der Welt aus der persönlichen Erfahrung bis hin zur schwierigsten und komplexesten Überlegung. Damit sind wir auf ein System des kategorialen Bezugs gekommen2. Die semantische Produktion wird durch das übernommene kategorialen Bezugssystem (bewußt oder unbewußt) stark beeinflußt. Das Bewußtsein, daß der Sinn der eigenen Rede (und der Rede der anderen) von einem kategorialen Bezugssystem, also von Grundvorstellungen abhängt, die entweder direkt formuliert oder von der Umwelt aus der Tradition übernommen wurden, kann zu zwei wichtigen Auswirkungen führen: - alles Gesagte wird relativiert: es kann dann nicht absolut sein, sondern entspricht „freien", weder bewiesenen, noch wissenschaftlich beweisbaren Grundvorstellungen; - es besteht eine gewisse „kreative Freiheit" in der Wahl des eigenen Bezugssystems oder - wie Husserl vorschlägt - im Verzicht auf das System3, damit man direkt zum Kern der Dinge vorstoßen kann. Wir werden mit Bezug auf drei Bezugssysteme und den damit verbundenen Paradigmen - dem analytischen, dem hermeneutischen und dem phänomenologischen - feststellen, wie - und welche Art von - Sinnhaftigkeit produziert werden kann.
4.2. Die analytische Philosophie - die Umgangssprache Leech 3a weist darauf hin, daß eine semantische Struktur - ein Satz mit einem Sinninhalt - auch eine logische Struktur aufweist. Diese Behauptung sollte scheinbar keines Beweises bedürfen. Und dennoch sind die Wege der Sinnhaftigkeit manchmal logisch, manchmal auch nicht oder betreffen logikfremde Bereiche. Die Beziehung zwischen dem Diskurs - also jeder sprachlichen sinnhaften Struktur oder, besser gesagt, der etwas gedanklich Organisiertes mitteilenden Struktur und der Logik ist eher seltsam. Man könnte sie beinahe als „Beziehung der Bequemlichkeit" bezeichnen, und zwar in dem Sinne, daß sich der Diskurs nur solange der Logik bedient, als dies für angebracht gehalten wird: die Beziehung wird abgebrochen, wenn der Diskurs dann andere Ziele verfolgt.
2
S. Körner, Sistemi di Riferimento Categoriale , Feltrinelli, Milano, 1983 (Orig. 1970). Mittels Aufhebung (s. nachstehend). 3a G. Leech, Semantics, The Study of Meaning, Penguin Books, London, 1991, S. 13.
3
4.2. Die analytische Philosophie
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Welche Ziele? Die der sprachlichen Pragmatik. Wenn ich daher mit einem „Sprechakt" sage, „in diesem Zimmer ist es kalt", schließt jemand, der sich (aus Gründen, die mit dieser Feststellung garnichts zu tun haben) dazu verpflichtet fühlt, das Fenster zuzumachen und das Feuer zu entzünden; er interpretiert also meine Behauptung nicht als deskriptiv oder feststellend, sondern als anordnend. Dann gibt es die Ziele der bildlichen oder rhetorischen Rede, mit der man unter Umständen das Gegenteil vom Gesagten zu verstehen geben kann; wie in der Antiphase „Welch schöner Tag", wenn man auf einen scheußlichen Tag anspielt. Es existieren außerdem die Ziele der ungrammatikalischen Sprache wie im absurden Theater und die Ausdrucksformen der gesprochenen Umgangssprache, die - wenn schriftlich niedergeschrieben - unverständlich wird. Es gibt dann noch die Anspielungen; beispielsweise wenn man sagt: „ich habe Kopfschmerzen", um eine Einladung nicht anzunehmen; oder die subtileren und flüchtigen Anspielungen, die aus der Aussagekraft des Schweigens hervorgehen. Eine Beziehung der Bequemlichkeit, also, die aber notwendig ist und deren Abschaffung niemand bisher in Erwägung gezogen hat. Zu dieser sicherlich komplexen Thematik läßt sich kurz feststellen, daß der Sprachbenutzer (als Sprechender, aber auch als Angesprochener) in seinem Kommunikationsvorhaben „entscheidet", wieviel Logik er benutzen und wie er sie einsetzen, ob er sich dann aber auch von ihr wieder - selbst augenfällig - trennen will, wenn sein kommunikatives Ziel dies erfordern sollte. Es läßt sich ferner zu Recht behaupten, daß die Sprachanalyse in den Kompetenzbereich des Sprachwissenschaftlers und nicht des Logikers gehört, da nur ersterer die Fülle der teils streng logischen, teils die Logik nicht berücksichtigenden oder vermischenden Wege der semantischen Produktion kennt. Andere Ziele wie das der Schaffung künstlicher Sprachen sollten bei dieser Betrachtungen nicht aufkommen, da sie nicht in den Bereich des Sprachwissenschaftlers, sondern schon eher in den des Logikers gehören. Damit wir uns richtig verstehen: künstliche Sprachen sind möglich, nützlich und notwendig. Beispielsweise jene der Zeichen und der damit verbundenen Bedeutungen, die man auf dem Armaturenbrett eines Autos, oder die komplexeren, die man auf dem Armaturenbrett eines Jets sehen kann. Das sind jedoch besondere Sprachen, die auf eine spezifische Anwendung beschränkt sind. Das Ziel einiger Logiker - beispielsweise zu der Zeit, als das neopositivistische Modell vorherrschte oder heute im Rahmen der künstlichen Intelligenz - ist es hingegen, eine vollständige künstliche Sprache in dem Sinne zu schaffen, daß sie alle menschlichen Mitteilungsbedürfnisse befriedigen kann; allerdings unter der Voraussetzung, daß alles in dieser künstlichen Sprache nicht Mitteilbare entweder unnötig oder irrational ist. Abgesehen von den dabei auftretenden Problemen würde man jedoch den Erfolg dieses Vorhabens mit dem Preis der Abschaffung der sprachlichen Zweideutigkeit, Unbestimmheit und Unsicherheit erkaufen, die immerhin ein wichtiger Aspekt der Umgangssprache sind. Eben weil die Umgangssprache zweideutig, unbestimmt und unsicher ist, läßt sie Verhandlungs- und Auslegungsmöglichkeiten zu.
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4. Kap.: Welt und Sprache
Nach diesen einführenden Überlegungen - die wie eine Lobeshymne auf die Ungenauigkeit und wie eine Übertragung der Zuständigkeit für diesen Themenkreises an den Sprachwissenschaftler und nicht an den Logiker klingen - seien nun die Vorteile der sprachlichen Logik dargelegt. Mit diesem Problembereich hat sich mit bemerkenswerten Ergebnissen der Klarheit und der Sinnbestimmung die analytische Philosophie oder „Philosophie der Umgangssprache" beschäftigt. Der Einsatz der formalen Logik, wie sie sich aus der analytischen Philosophie ergibt, läuft darauf hinaus, über einige umgangssprachliche Zweideutigkeiten Klarheit zu schaffen und zwar insbesondere über jene, die nicht pragmatisch, rhetorisch, verhandelnd, usw. sind, sondern aus einem Fehler in der logischen Anordnung der Wörter und Sätze herrühren. In diesen Fällen zeigt das Paradigma der analytischen Philosophie oder der „Philosophie der Umgangssprache" seine Fähigkeit zur Klärung und Ordnung und verhindert das Auftauchen falscher Probleme4. Zweckmäßigerweise sei hier auf ein Beispiel von George Lakoff, das von Leech übernommen wurde, hingewiesen5. „Daphne ist schön. Du wirst Daphne heiraten. Du wirst also jemanden heiraten, der schön ist". Ein korrekter Syllogismus, wohingegen folgender trotz scheinbarer Gleichheit der Form ein Trugschluß ist: „Ein Mädchen ist schön. Du wirst ein Mädchen heiraten. Du wirst also ein Mädchen heiraten, das schön ist". Es erübrigt sich festzustellen, daß die wichtigsten Anwendungsgebiete dieser Art von Trugschluß in der Politik und der Werbung liegen; also generell in der Propaganda. Manchmal ist die Anwendung wohlwollend, weil sie die Stellung und Dialektik der Gesprächspartner berücksichtigt; wie beispielsweise in den Worten „Ich sage dies, aber nimm es nicht so ernst" 6. In der Werbung für einige Lebensmittel oder Kosmetika werden die Worte „Natur" und „natürlich" wie Hinweise auf Makroklassen eingesetzt, deren Einzelbestandteile diesselben Vorzüge aufweisen wie sie von etwas „natürlich Produziertem" oder etwas, „das direkt aus der Natur kommt" erwartet werden (von den „Begegnungen", die sie unterwegs, also auf der Straße machten, wird jedoch nicht gesprochen). In der Politik liegen die Dinge noch schlimmer, da man sozusagen aus dem Nichts Makroklassen wie beispielsweise „Sozialismus", „Marktwirtschaft" usw. schafft; so wird als wesentlich hingestellt, was auch nur entfernt dem Sozialismus oder der Marktwirtschaft ähnlich ist.
4 Eines dieser Probleme ist der „falsche Syllogismus": „Es gibt 12 Apostel. Andreas und Johannes sind Apostel. Andreas und Johannes sind 12 Apostel. 5 Op. cit., S. 152. 6 Im alten italienischen Handelsrecht sprach man von der sog. „Iattanza commerciale", einer anerkannten Werbeform, die zum übertriebenen Anpreisen der eigenen Ware ermächtigte, ohne daß von Betrug die Rede sein konnte.
4.2. Die analytische Philosophie
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Die analytische Philosophie stellt hierzu fest, daß der als zweiter erwähnte Syllogismus das Theorem der Prädikatenlogik nicht berücksichtigt. Nach diesem Theorem darf die „semantische Sphäre" (also das „Anwendungsgebiet") des Prädikats nicht ausgedehnter sein als das des Subjekts, auf das sich das Prädikat bezieht. „Ein Mädchen" als Subjekt deckt offensichtlich, d. h. aus logischer Sicht, einen weitergesteckten Bereich als den der schönen Frauen ab; weshalb nicht alle Frauen, auf die sich das Pränomen „ein Mädchen" bezieht, in die Unterklasse derjenigen (besser: der „wenigen") fallen, die schön sind. Der logische Trugschluß besteht also darin, daß das Prädikat der weniger ausgedehnten Klasse - der schönen Mädchen - auf alle Individuen der ausgedehnteren Klasse ausgeweitet wird. Dieselbe Überlegung gilt für den Trugschluß (in der Fußnote 12 von Kapitel 1), wo offensichtlich die Klasse der Apostel größer als die Unterklasse der zwei Apostel Andreas und Johannes ist, die zwar Apostel sind, aber nicht alle Apostel! Obiges scheint banal. Aber wieviele Betrugsfälle werden mit Klassen und Unterklassen begangen, indem Prädikate einer Unterklasse den der größeren Klasse zugehörenden Individuen (Personen oder Dingen) zugeordnet werden - und umgekehrt. Beispiele - wie die obigen - der ungerechtfertigten Zuerkennung von Prädikaten an Subjekte, deren semantische Sphäre in derselben Rede, manchmal im selben Satz erst - und sozusagen auf flexible Weise - geschaffen wird, also mit einem mehr oder weniger klar festgelegten Ausdehnungsbereich, sind in der umgangssprachlichem Sophistik häufig anzutreffen. Sophistik wird hier als die althergebrachte Kunst der Sprachgestaltung mit dem Ziel verstanden, den Angesprochenen zu überzeugen, also zu manipulieren. Der italienische Theologe und Journalist Gianni Baget Bozzo ist in seiner Argumentation sehr geschickt. Es überrascht daher nicht, wenn er ab und zu auf eine subtil-maßvolle Sophistik zurückgreift. In einem Leitartikel in der italienischen Tageszeitung „La Repubblica" vom Sommer 1989 nahm er zu einem Artikel der Monatszeitschrift „Trenta Giorni " (der katholischen Gemeinschaft „Comunione e Liberazione " = „Gemeinschaft/Abendmahl und Befreiung") Stellung, in dem er zu einer Diskussion innerhalb der katholischen Kirche feststellt, die Einheit der Gläubigen sei niemals als „pax mortuorum" aufzufassen. Baget Bozzo stellt fest: „Es ist zu bedauern, daß in einer Zeitschrift der Gläubigen die Toten wie Leichen behandelt werden". Das polemische Spiel ist eindeutig: eine Leiche ist sicherlich ein Toter. Aber ein Toter ist für einen Gläubigen etwas mehr als nur eine Leiche! Der zweifellos sehr polemisch gehaltene Satz hat also einen zweideutigen Inhalt, weil der Autor des Artikels in „Trenta Giorni " nicht von den Toten-Lebenden im Jenseits, sondern letzten Endes von den Leichen auf Erden sprechen wollte. Das Beispiel zeigt noch einmal, daß in der Semantik ein ernst zu nehmendes Problem des „Naming " besteht. Es ist übrigens durchaus verständlich, daß aus semantischer Sicht die erste Handlung darin besteht, der Sache, über die man sprechen will, einen Namen zu
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4. Kap.: Welt und Sprache
geben. Und gerade das Raming" wie auch die Analyse der prädikativen Funktion, die Adjektivierung und der angemessene Gebrauch der syntaktischen Konnektive oder logischen Vorgangsweisen ist das eigentliche Anwendungsgebiet der „analytischen Philosophie" oder der „Philosophie der Umgangssprache" oder, wie sie auch genannt wird, der „formalen Semantik". Es seien nun die Erkenntnisse und die spezifischen Auslegungsmöglichkeiten dieser formalen Semantik im Hinblick auf eine kommunikationseffiziente und genaue Sprache und ihre Grenzen (nach Problemkategorien aufgegliedert) aufgezeigt: Grenzen - um dies schon jetzt vorwegzunehmen - der unvollständiger Sinninhalte, weshalb auf andere Ansätze zurückgegriffen werden muß; sowie Grenzenn durch eine be wußte Beschränkung, da es nach der Mehrheit der Anhänger des analytischen Ansatzes nicht notwendig ist, das Gebiet der , formalen Semantik" auszuweiten. Meiner Ansicht nach ist diese Art von Beschränkung - wie sie bei jeder Konstruktion eines Systems erfolgt - zwar verständlich, aber auch ungerechtfertigt. So ist die „Offenheit" oder „Nicht-Vollständigkeit" eines Systems kein Grund zur Kritik; regt sie doch zu weiteren Analysen an, die dazu führen, daß man eines Tages das System für ein anderes, mit neuer Kraft versehenes verläßt: so wie die Leiter, um mit Wittgenstein zu sprechen, die uns in den oberen Stock steigen läßt, dann aber vergessen oder weggestellt werden kann; und zwar nicht irgendwohin, sondern dörthin, wo das Handwerkszeug gelagert wird, damit sie erneut benutzt werden kann. Die Offenheit oder der „Nicht-Abschluß" oder die „Unvollständigkeit" der formalen Semantik kann also als ein zusätzliches Mittel zur Untersuchung der Wege der Sinngebung betrachtet werden. Unter vielen habe ich einige Wege ausgewählt, um den Sinn des Universums, der Welt, des Lebens zu erforschen. Da gibt es den hermeneutischen Weg, der die Verbindung der heutigen Wortbedeutungen mit den tief in der Sprache und der Kultur verwurzelten Sinninhalten herstellt. Dann gibt es den phänomenologischen Weg: er verleiht dem Bedeutsamkeitsprozeß am Anfang der einzelnen individuellen Bewußtseinswelten, deren Ursprung in der Begegnung von Bewußtsein und Realität zu suchen ist, einen semantischen Sinn. Der phänomenologische Weg führt uns, durch die Mühen der „Epoche " und der eidetischen Reduktion - also durch den Verzicht auf die empirisch sichtbaren, unsere spezifische Realität prägenden Fakten - direkt zum Aufprall auf die „Dinge selbst"; also auf das Wesen der Dinge, das als reine sprachlich nicht unmittelbar übertragbare Bedeutung zu verstehen ist. Das wissenschaftliche Forschungsprogramm der analytischen Philosophie der Umgangssprache oder der formalen Semantik beruht auf dem - der phänomenologisch ausgerichteten Philosophie entgegengesetzten bisweilen mit Inbrunst verteidigten - Postulat einer Begegnung des Bereichs der Semantik mit dem der formalen Logik. Nur was in den logischen Schemen des „Naming ", der Prädikation, der zuschreibenden Qualifikation und der logischen Verbindung innerhalb des Satzes
4.2. Die analytische Philosophie
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zwischen Subjekt, Objekt und Prädikat verschiedenster Art und Form formalisierbar ist, kann den Anspruch auf Sinninhalt erheben. Das „kann" ist insofern zulässig, als man zugeben muß, daß auch gut gegliederte Sätze wie „Die grünen Ideen ohne Farbe schlafen lebhaft" oder wie „gestern habe ich zum Frühstück 350 Alligatoren gegessen", asemantisch sein können, weil sie sich auf keine Fakten beziehen und die „Tatsachen" nicht wiedergeben. Trotz dieser Ungereimtheiten läßt sich davon ausgehen, daß das logisch-formale Konzept das gesamte semantische Gebiet abdeckt und möglicherweise selbst darüber hinaus geht. Was hingegen nicht unter die formale Logik fällt, ist bestimmt nicht semantisch: es ist ungenau, höchstens beeindruckend, heraufbeschwörend, aber nicht referentiell auf Dinge und Tatsachen verweisend. Das so beschriebene formal-logische Postulat stellt ein starkes Postulat dar; es setzt eine umfassende und deshalb spezifisch philosophische Sicht der Dinge voraus, die aber offensichtlich nicht rational berechtigt, nicht unbedingt in das System einfügbar ist. Das System der formalen Semantik ist insofern geschlossen und autoreferentiell, als es für seine Konstruktion keine Grundätze aus anderen Systeme benötigt. Außerdem wertet es alles Systemfremde als nicht bedeutsam ab. Dies ist überraschend, weil ein völlig rationaler Gedankenbau jeweils auf einer Entscheidung über Ziel- und Wertvorstellungen beruht. Alles mögliche Schlechte läßt sich von der formalen Semantik sagen. Aber es ist eben alles mögliche Schlechte. Was bedeutet, daß auch viel Gutes bleibt: und zwar die wirkungsvollere und überzeugendere logische Durchleuchtung jeder möglichen Aussage über die Realität. Was einen Großteil des semantischen Projektes jedes seine Gedanken mit anderen austauschenden Menschen ausmacht, selbst wenn er es nicht ausschöpfen sollte; es handelt sich dabei trotzdem um eine gute Ausgangsposition für weitere Semantisierungen auf der Grundlage anderer Systeme und Logiken. Ich empfehle also die be wußte Annahme des Paradigmas des Systempluralismus mit seiner Bezugsvielfalt, das den verschiedenen sich gegenseitig nicht ausschließenden Wegen der Semantik bestangepaßt ist. Auf die vielfältigen semantischen Wege wird übrigens im Leben immer und immer wieder zurückgegriffen. Es handelt sich beispielsweise um jene der bildlichen, expressiven, poetischen, manchmal unsyntaktischen Sprache, die das System der Sprache und das Metasystem der Sprachanalyse dazu zwingen, sich neuen Sinnformen und -bereichen zuzuwenden. Nicht immer gilt dieser Zwang. Es lassen sich historische Fälle anführen, in denen er sich als nicht haltbar erwiesen hat. Es gilt also wiederum, das System gegen mögliche Einwände zu verteidigen und es zu stärken. Dem System sollen auch aufmerksame und kluge Wächter vor die Tore gestellt werden, die imstande sind, den fremden Revolutionär vom ausländischen Botschafter zu unterscheiden.
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4. Kap.: Welt und Sprache
Deshalb sind die von der formalen Semantik festgelegten Anwendungsregeln für die korrekte und vernünftige Sprache so wertvoll. Schauen wir uns einige dieser Regeln an.
4.3. Das „Naming " Einer Sache, über die man spricht, die richtige Bezeichnung, also den richtigen Namen, zu geben, entspricht einer grammatikalischen und gewissermaßen selbst moralischen Norm. Wir haben bereits den Fall der „Toten" und der „Leichen" erwähnt, die nicht als Synonyme gelten dürfen; und das Substantiv „die Apostel" - für die Klasse oder Gruppe der Apostel - und das Attribut „Apostel": jeder der zwölf ist ein „Apostel". Ein oftmals aus Gründen der Ausdruckskraft oder der rhetorischen Wirksamkeit bewußt geschaffenes Durcheinander ergibt sich, wenn man in einem Satz dasselbe Wort mit verschiedenen Bedeutungen einsetzt; was die formale Semantik sofort erspürt. Folgende Antanaklase ist dafür bezeichnend7: „das Herz hat seine Gründe (ses raisons ), die der Verstand (la raison) nicht kennt" (Pascal)7a. Ein anderes typisches Beispiel aus dem Evangelium: „Laß die Toten ihre Toten begraben; komm und folge mir nach", bei dem eine Unterscheidung zwischen den geistig Toten und den körperlich Toten vorgenommen wird. Ein anderes, diesmal nicht sprachliches, sondern sophistisches Durcheinander entsteht, wenn derselbe Ausdruck im selben Text einmal in seiner intensionalen, begrifflich abstrakten Bedeutung und zum anderen in seinem extensionalen, referentiell korrekten Sinn benutzt wird. Dies geschieht sehr häufig in der politischen Rede, in der reale oder extensionale Begriffe idealen oder intensionalen Ausdrükken gegenüber- oder nebengestellt werden: „der Realsozialimus ist zu verwerfen, der ideale Sozialismus ist der, den wir meinen und verwirklichen wollen", der also intensional und daher voll guter Eigenschaften zu sehen ist. Dasselbe läßt sich auch über Ausdrücke wie „Markt", „Konkurrenz" usw. sagen. In der Politik spricht man häufig von „Alternative" und meint damit eine andere Regierung, also eine von der amtierenden aus verschiedenen Gründen (Parteiaufbau, Programme, Kultur) verschiedene Regierung. Diskursiv und intensional ist es nicht schwierig, die Alternativregierung in rosigen Farben darzustellen, zumal die amtierende Regierung in gewissem Sinne ... zur Extension verurteilt ist: und zwar insofern, als sie mit ihren Worten und Taten identifiziert wird, die zumeist unbe7
Figur der klassischen Rhetorik. Das französische Wort Raison" sowie das italienische Wort „ragione " kann je nach dem Zusammenhang, in den es gestellt ist, „Grund" oder „Verstand" bedeuten. 7a
4.3. Das „Naming"
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friedigend sind. Andererseits ist ein Vergleich zwischen homogenen extensionalen oder intensionalen Ausdrücken entweder nicht möglich (wenn beispielsweise eine Alternative zur amtierenden Regierung in der Praxis nicht bestehen kann) oder problematisch; sofern nämlich jemand an die Lobeshymnen auf die amtierende Regierung vor ihrer Machtübernahme hinweist, läßt sich leicht einwenden, daß damit der Beweis erbracht wird, daß die derzeitige Regierung neben ihrer Unfähigkeit auch ihrer nicht eingehaltenen Versprechen und des Verrats an ihrem Programm angeklagt werden könnte. Wenn man über Alternativen spricht, denkt man unwillkürlich an das Problem der Umbenennung der Kommunistischen Partei Italiens (KPI), das Anfang 1991 nur mit größter Mühe gelöst werden konnte. Es trifft zu (viele, die an der Umbenennung Kritik übten, haben dies bestätigt), daß der Kern des Problems nicht im Namen, sondern in der „Sache" liegt, also in der Neuausrichtung der KPI gegenüber ihrer Vergangenheit. Man ging selbst so weit, bei den Regionalwahlen im Mai 1990 die auch den Nichtkommunisten offenen Kandidatenlisten der KPI als Listen der „Sache" zu bezeichnen. Unter diesen Voraussetzungen war die Neubezeichnung der KPI offensichtlich zweitrangig. Daneben war der Name allerdings auch wieder wichtig. Und zwar, weil in der Neubezeichnung die Worte „Kommunist" oder „Kommunismus" wegen ihres historisch und kulturell nunmehr ausgesprochen negativen Beigeschmacks nicht erscheinen durften. Außerdem durfte kein anderer einer bestimmten Geschichtsepoche zuzuordnender Name wie „Labour", „Arbeit" oder der einer anderen Gruppierung zuzuschreibende Name wie „Sozialist" oder „Sozialdemokrat" verwendet werden. Mit dem Namen wurde also eine keineswegs glorreiche und inzwischen in Frage gestellte Vergangenheit aus dem 19. Jahrhundert mit ihrem überholten, abwegigen kommunistischen Glauben abgeschrieben. So wäre jeder Name recht gewesen, selbst wenn er nicht unmittelbar aussagekräftig war; denn der Inhalt des neuen Namens, seine Extension, sein wahrer Sinn wäre durch die Programme, das Vorgehen und vor allem durch das Verhalten der Partei anschließend allmählich geprägt worden. Ein Name wie Partei Nr. 2., mit Anspielung auf die alte KPI wäre durchaus annehmbar gewesen. Er hätte eine gewisse Bescheidenheit zum Ausdruck gebracht; er hätte aber auch den natürlichen (nicht unrealistischen) Ausgangspunkt für eine spätere Partei Nr. 1 darstellen können. Dieser Vorschlag war übrigens von mir eingebracht, aber dann aus unerklärlichen Gründen weder akzeptiert noch in Betracht gezogen worden. Die wenigen Beispiele, die ich zum „Naming " gebracht habe, können dazu dienen, eine der Voraussetzungen der analytischen Philosophie hervorzuheben, die im übrigen mit den neuesten Erkenntnisse der Sprachwissenschaft übereinstimmen. Und zwar, daß der Name als solcher keinen eigenen, sondern stets einen angenommenen Begriffsinhalt hat; ja, ihn - so könnte man sagen - übernimmt: aus der
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4. Kap.: Welt und Sprache
Sprachgeschichte und der ihn umgebenden Realität, also aus der Art seines Einsatzes bei der Kommunikation. Bekanntlich lassen sich mit der Sprache die verschiedensten „Sprachspiele'4 anstellen: bis hin zu jenen des futuristischen, des absurden, des verrückten Theaters usw. Es gibt sinnlose Ausdrücke, die die Vorstellungskraft wegen ihrer formalen Strenge und sprachlichen Eleganz ansprechen. Der die analytische Linie vertretende Philosoph Dummet spricht sich hierzu ganz klar aus: „eine sprachliche Beschreibung ist nicht von sich aus das Abbild eines entsprechenden Gedankens, sondern es ist die Sprache selbst, die tatsächlich, auf geheimnisvolle Weise, den Gedanken produziert. Man muß sich an dieses Faktum halten, um den Gedanken zu begreifen, zu konstruieren, zu formalisieren, selbst wenn alles darauf hindeutet, daß der Gedanke bereits vor dem Wort existiert" 8. Wenn dem nicht so wäre, wenn also die Kluft zwischen Sprache und Gedanken, zwischen sprachlicher Erfassung des Gedankens (oder des intensionalen Bewußtseins) und der Realität nicht weiterhin bestünde, gäbe es keinen Platz mehr für den hermeneutischen Ansatz, der die Wurzeln des Sinninhaltes in den tiefer liegenden Erinnerungsschichten der Gesprächspartners sucht, noch für den phänomenologisch-transzendentalen Ansatz, der den Aufbau von Sinninhalt und Gedanken im „Phänomen", also im direkten Kontakt zwischen dem wahrnehmenden Bewußsein und den Dingen sieht. Die analytische Philosophie geht hingegen von den „mit Namen versehenen Dingen" aus; sie stellt - was allerdings nicht wenig ist - sicher, daß jedem Ding ein ihm entsprechender Name intensional oder extensional, also nicht unbedingt im selben Satz oder im selben Text irgendwie (also auch unausgesprochen) gegeben wurde. Auch die Namensgebung (,JSfaming") ist ein analytischer Vorgang: sie verlangt eine Klassifizierung der Objekte und noch davor deren Identifizierung als deutlich gekennzeichnete Objekte. Zu Zeiten von Leukipp und Demokrit war das Atom besser gesagt: das unsichtbare Atom - das letzte analytisch identifizierbare Objekt; es war nicht möglich, es weiter zu unterteilen. Heute ist man einen wesentlichen Schritt in der wissenschaftlichen Erkenntnis weiter gegangen; so ist es nicht ausgeschlossen, daß sich auch das letzte, elementarste bisher identifizierte Partikel in Energieteilchen aufteilen läßt, die sich in einem Energiefeld verlieren; womit man zum nicht definierbaren Anfang des Seins einiger vorsokratischer Philosophen zurückkehren würde. Um meine Überlegungen zum „Naming " abzuschließen, werde ich aufzeigen, daß die Namen als grammatikalische Subjekte keinen genauen philosophischen Status im modernen Denken haben.
8 Μ. Α. E. Dummet, The Interpretation S. 39.
of Frege 's Philosophy, Duckworth, London, 1981,
4.4. Klassifizierungen
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Dieses befaßt sich ausschließlich - man könnte sagen: auf pedantische Weise mit der Prädikation, die die grammatikalischen Subjekte mit spezifischen Merkmalen ausrüstet. Die grammatikalischen Subjekte werden hingegen einfacherweise „als Fakten angenommen"; ihre Herkunft wird nicht hinterfragt, wie es in der antiken und mittelalterlichen philosophischen Gedankenwelt mit der „Frage nach dem Universum" der Fall war. Der modernen Logik langt es zu wissen, daß die Namen im Diskurs klar abgetrennt oder nach bestimmten Regeln - beispielsweise den Kriterien der existentiellen Logik oder denen der Quantoren - zusammengefaßt sind9. Daher das große Interesse für die Etymologie, die den naiven, aber nicht banalen Versuch unternimmt, den ursprünglichen Sinn der Namen im althergebrachten Wissen zu finden; wobei der „Erfinder" des Namens diesen in einem direkten Kontakt mit dem „Ding" und wohl im unmittelbarem Zusammenhang mit der Realität tat. Der phänomenologische Weg stellt einen modernen Ansatz zur Wiederaufnahme des Kontaktes zum „Ding" und damit zur Vertiefung der Raming"-Problematik dar.
4.4. Klassifizierungen Die Klassifizierung der Objekte in Maximalklassen (beispielsweise die „Materie", der „Geist") oder submaximale Klassen (beispielsweise die natürlichen „Bereiche") bedarf ihrerseits einer Taxonomie, also wissenschaftlicher Kriterien zur Erstellung der Klassifizierungen. Als ein chinesischer Kaiser der Ming-Dynastie seinen ersten Würdenträger beauftragte, die Hunde des Kaiserreichs zu klassifizieren, war dieser gut beraten, auf eine „politische" Taxonomie mit zwei großen Klassen auszuweichen: die Hunde des Kaisers und .. .die anderen. Wenn heute Immigranten in Italien als „Nicht-EG-Ausländer" bezeichnet werden, denkt man allerdings nicht an Schweizer oder Österreicher, weil es unwahrscheinlich ist, daß diese Staatsbürger aus wirtschaftlichen Gründen nach Italien übersiedeln. Die analytische Philosophie befaßt sich nicht mit den Klassifizierungen: sie betrachtet sie als gegeben, sofern sie in der Umgangssprache zur Anwendung kommen. Die analytische Philosophie ist in der Tat umschreibend und nicht normativ. Sie befaßt sich weder mit dem Ursprung der Sprache, noch insbesondere mit der semantischen Produktion, sondern mit deren Funktionsweise: sie versucht festzustellen, ob in der Umgangssprache die Regeln des Raming", der Aussage, der Adjektivierung und der logischen Verbindung beachtet werden. 9
Von dieser „Vergeßlichkeit" darf auch der analytische Philosoph Peter Strawson mit seinen exzellenten Analysen nicht ausgenommen werden, von denen die mit dem Titel Jndividuals" zu Recht besonders bekannt ist. 7 Trupia
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4. Kap.: Welt und Sprache
Verbleiben wir noch im Modell der formalen Semantik und betrachten wir den Fall der... Astrologie. Sehr viele Menschen glauben mehr oder weniger blind an den Einfluß der Sternbilder. Folglich veröffentlichen selbst Tageszeitungen Horoskope: wie beispielsweise die italienische Tageszeitung „La Repubblica " in ihrer Freitagsbeilage „Venerdì". Daß die Astrologie weder als Wissenschaft noch als Halbwissenschaft existiert, läßt sich sowohl theoretisch als auch empirisch leicht beweisen und wurde auch schon wiederholt, wenn auch umsonst, dargelegt. Uns interessiert hier das grammatikalische Motiv für die wissenschaftliche Inkonsistenz der astrologischen Überlegungen über die Sternbilder. Diese bestehen nämlich nicht als astrophysikalisches oder insbesondere als dynamisches System (handelt es sich doch um Körper, die durch die Anziehungskraft ähnlich wie die Planeten im Sonnensystem zusammengehalten werden; oder um Sterne der Galaxis). Die Sternbilder bilden einfache geometrische Formen, die aus der Sicht der Erde als Bilderformen erscheinen, aber nichts anderes als eben geometrische Formen sind. Demnach können sie als Sternbilder auf niemanden in irgendeiner Weise einen Einfluß ausüben; so wie ein an die Wand gemalter Stier niemanden in irgendeiner Weise beeinflussen kann. So wie also eine analytische Untersuchung des „wohlgeformten" Satzes „im Sternbild des Stieres geboren ..." zur Feststellung gelangt, daß dieses Sternbild als physikalisches Objekt nicht besteht und damit das Thema abschließt, ist auf der referentiell-sachlichen Ebene eine Aussage wie „ich habe gestern 10.000 Alligatoren zum Frühstück gegessen" abwegig; und zwar selbst unter der (unwahrscheinlichen) Voraussetzung, daß „Alligator" eine Marke von Frühstücksbrötchen wäre.
4.5. Die Abwertung der Sprache Das formale Semantik dient also der Festlegung einiger syntaktischer Bedingungen, damit der Diskurs durch seine Sinninhalte wirksam werden kann. In diesem Sinne seien Strenge und Eleganz immer wieder empfohlen, auch damit - um mit George Orwell zu sprechen - „die Abwertung der Sprache" verhindert wird 1 0 . Diese Gefahr besteht in der Werbesprache, in der jeder Ausdruck, jeder Titel übertrieben ist. Jedes Produkt, für das geworben wird, ist „einzigartig". In der Werbesprache wie in der Erziehung von Simone de Beauvoir existieren keine Farbnuancen: das Universum ist weiß und schwarz oder hat eine lebhaft rote oder lebhaft grüne Farbe. Glücklicherweise dämpft ab und zu jemand die Sprache und bringt sie wieder auf das sachliche realitätsbezogene Niveau unserer „naiven" und „angeborenen" täglichen Wahrnehmung zurück 11 . 10 Sie könnte hingegen erheblichen Einfluß als künstlerisches oder symbolisches Objekt haben; dies steht allerdings auf einem anderen Blatt. 11 „The Debasement ofLiguistic Currencyin G. Leach, op. cit., S. 35.
4.6. Prädikate und Konnektoren
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Gerade diese Überlegung dürfte als Leitgedanke dem Werbespot des italienischen Magenbitters Montenegro gedient haben: ein Tierarzt trinkt ein Gläschen davon als Belohnung für einen langen anstrengenden Tag, in dem er sich voll eingesetzt und sich sozusagen wie ein Held seinem Beruf gewidmet hat. Leider besteht die Käuferschicht dieses Magenbitters ... nicht nur aus Tierärzten und selbst die Tierärzte üben den Beruf nicht mehr unter so heldenhaft-poetischen Umständen aus, daß sie das Schlagwort des Magenbitters „einfacher Geschmack - echte Gefühle" damit rechtfertigen können. Auch hier haben wir es also mit einer echten Übertreibung zu tun: und zwar der „Objekte" „Tierarzt" und „Tierarztberuf 412 . Eine angemessene - also bestimmte und genaue - Anwendung der Objekte als grammatikalische Subjekte finden wir in der großen Literatur. In ihr besticht die Nüchternheit der Adjektive gegenüber der reichen Vielfalt in der Darstellung der „Objekte" und der „Dinge", von denen gesprochen wird. Diese Adjektivierung ist oft bestimmend und nicht nur qualifizierend: sie dient dazu festzulegen, welches der Objekte einer Klasse Gesprächsgegenstand ist (die erahnte Unendlichkeit gegenüber der Endlichkeit der konkreten Dinge im Gedicht „Unendlichkeit" von G. Leopardi 12a . Es geht also nicht darum, nur generell eine Eigenschaft anzugeben, die in ihrer Umbestimmheit zahlreichen anderen Objekten zugesprochen werden kann; wie beispielsweise im Falle des Ausdrucks „die harmonisch gegliederte Fassade des Parthenons", der durch die Angabe von Maßen und Proportionen ersetzt werden kann.
4.6. Prädikate und Konnektoren Am Ende unserer kurzen und unvollständigen, sich nur mit einigen wesentlichen Punkten befassenden Überlegungen über die formale Semantik empfiehlt es sich, zur Erläuterung der prädikativen Funktion und der logischen Konnektoren, auf eines der schwierigsten und komplexesten Probleme jeder Semantik einzugehen, nämlich auf das der Wahrheit. Zu Beginn dieses Kapitels, wie überhaupt in der ganzen Untersuchung, habe ich das Verhältnis der Unabhängigkeit des Sinnhaften vom Wahren hervorgehoben. Wobei ich der semantischen Produktion nicht das hochgestochene Ziel der Befriedigung des Zuhörenden vorgebe, die darin besteht, daß er (abgesehen von der logischen und referentiellen Fundiertheit des Gesagten) in ihn überzeugende, tröstende, seinen psychologischen Bedürfnissen entgegenkommende Mitteilung erhält. Die Überlegung, die mich dazu bewogen hat, das Sinnhafte in den Vordergrund zu stellen, liegt auf einer anderen Ebene. Es geht mir insbesondere darum, mit ei12 12a
7*
Das soll nicht heißen, daß dieser Werbespot besonders erfolgreich war. Auf dieses Gedicht wird in Kap. 8 eingegangen.
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4. Kap.: Welt und Sprache
ner verbreiteten und tief verwurzelten Einstellung aufzuräumen, wonach nur die bewiesene Wahrheit rechtmäßiger Gegenstand der Kommunikation sein darf. Wird doch dieses Prinzip gern in der Praxis mißachtet und zwar sowohl im Falle, daß landläufige Ansichten anstandslos wiedergegeben werden, als auch im Falle der Aussage und der unermüdlichen und überzeugten Verteidigung selbst von persönlichen, völlig unbewiesenen Anschauungen. Es würde sich also eine nicht zu überbrückende Kluft zwischen dem So-SeinMüssen der Kommunikation und der zweideutigen Aussage der Kommunikation bilden. Der Kommunikations Vorgang ist denn auch etwas Anderes: die Vorstellung, wonach die Wahrheit den Tatsachen entspricht oder das Ergebnis einer formal korrekten, insbesondere widerspruchsfreien Überlegung ist, dürfte alles Andere als eindeutig sein. Die „Tatsachen" sind lediglich Diskursobjekte und nichts anderes. Hinsichtlich der Widerspruchsfreiheit enthält das „ Odi et amo" von Catull wesentlich mehr Wahrheit als eine Tautologie wie „das Dreieck ist ein Mehreck mit drei Ecken". Das „Sinnhafte" ist also als Antwort eines Sprechenden auf die Bitte des Angesprochenen um Aufklärung zu verstehen; es ist insofern gültig, als es einem Stand der Dinge in einer bestimmten - beispielsweise inneren, erfundenen, phantastischen und sonstigen - Welt entspricht. Im Bereich der „formalen Semantik", in dem die Wahrheit nur als das gesehen wird, was den Tatsachen, dem Sachverhalt der „realen Welt" entspricht (wobei die „reale Welt" selbst von den analytischen Philosophen nur schwer definiert werden kann), ist es übrigens interessant festzustellen, wie diese Fakten mit den „well-formed" und daher „wahren" Aussagen erfaßt werden. Die Funktionen der Prädikation und die logischen Konnektoren, vor allem die der Implikation und der Inklusion-Exklusion, sind die eigentlichen Träger der Wahrheitsaussage in der formalen Semantik. Auf diesem Wege wird man allerdings zu keiner absoluten, beständigen und unanfechtbaren Wahrheit gelangen. Nicht einmal die einfache und bescheidene Aussage „der Schnee ist weiß" entspricht diesen Anforderungen. Man gelangt aber zu einer annehmbaren Erkenntnis der Wahrheit, die sich für den praktischen Gebrauch als nützlich - folglich sinnvoll - erweist und in dieser praktischen auch die wissenschaftliche Anwendung einschließt. Auch hier steht also das „Sinnvolle" über dem „Wahren". Was nicht wenig ist. Es ist daher richtig, etwas über die Funktion der Prädikation und anderer logischer Faktoren auszusagen. Wer sich über die Lehre der formalen Semantik hinauswagen oder andere Ansätze zur Anwendung bringen will, kommt nicht darum herum, sich zuerst in dieser schwierigen Disziplin zu bewähren.
4.7. Texte und Erzählungen
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Das eigentliche Anwendungsgebiet der formalen Semantik ist die Theorie des Bewertens oder, was dasselbe ist, der Proposition. Stellt doch eine Proposition die formale - also logische und grammatikalische - Einheit zwischen einem Subjekt (einschließlich seiner eventuellen Attribute und Appositionen) mit seinen Handlungen und Verhaltensweisen dar. Genau genommen nimmt eine Proposition letzten Endes die Wertung eines realen Objektes vor, normalerweise eines Individuums (oder Elements) einer Klasse; das Objekt, sei es Element oder Individuum, wird zum (grammatikalischen) Subjekt einer Proposition, weil man etwas darüber aussagt; und dies selbst dann, wenn sich darüber nur etwas unter Berufung auf andere Namen sagen läßt.
4.7. Texte und Erzählungen. Sechs sinnvolle Informationsformen Der Diskurs ist die konkrete Ausführung eines Kommunikationsvorhabens, das sich gewöhnlich in einem Text niederschlägt. Nach den Ausführungen über die Proposition sei kurz auf den Text als die organisierte Vielzahl von Propositionen eingegangen. Es werden dabei auch Hinweise auf jene Textart gegeben, die eine besondere stilistische Form annimmt, und zwar auf die Erzählung. Ihr ist nämlich eine Erzählweise eigen, die einer auf den Zuhörer abgestimmten kommunikativen Strategie und diskursiven Darlegung dient, um seine Aufmerksamkeit zu wecken. Wenn ich über die Proposition eines Textes, eines Diskurses und einer Erzählung spreche, ist nicht an eine grammatikalische, syntaktische oder sprachtheoretische Analyse - für die auf die einschlägige Literatur verwiesen wird - sondern nur an jene strukturellen Aspekte des Textes, des Diskurses und der Erzählung gedacht, die eine Rolle in der Kommunikation spielen. So werde ich insbesondere auf jene Strukturen der Proposition, des Textes, des Diskurses und der Erzählung eingehen, die semantische Bedeutung haben, die also für einen Zuhörenden bestimmte Sinninhalte produzieren. Kehren wir nun zur Proposition zurück. Wichtig ist in einer Kommunikation und in der Produktion von Sinninhalt oder sinnhafter Informationen eines Sprechenden an einen Angesprochenen die genaue Bestimmung und Identifikation des Subjekts („der Hund des Nachbarn", oder durch das , flaming": „der Rocksänger XY"), und zwar immer dann, wenn über dieses Subjekt etwas für den Zuhörenden Sinnvolles gesagt wird. Wie kann die Kommunikation sinnvoll sein? Grundsätzlich auf sechs Arten, die sechs Wertungsformen entsprechen (es handelt sich nicht um strenge Formen wie die von Kant - sondern eher um Gebrauchsformen). Es handelt sich dabei also um folgende:
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4. Kap.: Welt und Sprache
1 ) die bestätigend-hagiographische 2) die explizit-analytische
Form
Form
3) die zusätzlich-überraschende
Form
4) die entlarvend-widersprüchliche
Form
. 5) die bestätigende Form einer semantischen Erwartung sich auch als tröstend oder versichernd bezeichnen läßt; 6) die konstruktiv-planende
des Zuhörenden, die
Form.
Sicher handelt es sich hier nicht um alle Formen der Qualifikation und Prädikation eines Objektes oder Individuums, das Gegenstand einer Proposition ist, aber bestimmt sind es die gebräuchlichsten. Der Leser kann sich übrigens auf die Suche nach anderen Formen der semantischen Wertung begeben, indem er die Kommunikationsvorhaben untersucht, in die er als Sprechender oder Zuhörender direkt oder indirekt einbezogen wird. In der bestätigenden oder hagiographischen Form (als erklärendes Beispiel mag die Lebensbeschreibung eines Heiligen oder politischen Führers gelten) werden Dinge - seine Eigenschaften und Handlungen - über das Subjekt einer Proposition in einer qualifizierend-zuweisenden und prädikativen Form zum Ausdruck gebracht: das Subjekt ist dies und das, macht dies und jenes 1 3 . Wir stellen sofort in dieser Diskursform einen erstaunlichen - man könnte beinahe sagen „irrealen' 4 - Parallelismus in den Eigenschaften und Taten fest. Man bemerkt keinerlei Ungereimtheit in der Beschreibung oder geschichtlichen Rekonstruktion des Subjektes, das zum festen Bestandteil einer transparenten und absolut platten Welt ohne Kanten und Ecken wird. Wenn Zusatzinformationen über das Subjekt geliefert werden, können sie diese Glätte und Durchsichtigkeit nur stärken; sie lassen es noch heiliger werden, wenn es sich um einen Heiligen handelt; noch heldenhafter, wenn es sich um einen Helden handelt, noch bedeutender, wenn es sich um einen politischen Führer handelt, noch verbrecherischer, bösartiger und schmutziger, wenn es um einen als schlecht zu bewertenden Menschen geht. Wir befinden uns hier also im semantischen Modell des hagiographischen Diskurses, der gewöhnlich positiv eingesetzt wird, der aber dieselbe semantische Rolle auch im negativen Sinne spielen kann. Die „Hagiographie" stellt als Biographie der Heiligen einen Diskurs mit positivem Vorzeichen dar. Das Etymologische Lexikon des Italienischen Instituts für Sprachwissenschaft sagt aus, daß ein Text dann „hagiographisch" ist, wenn er „von der Inspiration diktiert" wurde. Es verwundert daher nicht, daß das Merkmal eines derartigen Textes das Loben und Preisen von 13
Im letzten Jahrzehnt sind ein Dutzend Bücher über den Parteisekretär der Sozialistischen Partei Italiens Bettino Craxi erschienen, wovon ein wissenschaftliches über seine Sprache (von Paola Desideri), allerdings alle mit hagiographischem Charakter.
4.7. Texte und Erzählungen
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Heiligen ist, die bereits vom Volk ihrer hohen Eigenschaften wegen gefeiert wurden. „Hagio" aus dem Spätlateinischen war vom griechischen „Hagios" „heilig" abgeleitet. Der hagiographische-bestätigende Diskurs - im positiven wie im negativen Sinne - bewirkt nichts anderes als die Ausweitung des Diskurs, in den weitere den bereits bekannten Merkmalen entsprechende Merkmale hereingenommen werden. Bei der traditionellen Hagiographie der Heiligen lächeln wir großmütig. Aber es existiert auch eine politische Hagiographie und eine Hagiographie der Berühmtheiten sowie eine volkstümliche von schlechten Menschen aus dem Volke 14 . Die Hagiographie und der Öldruck - als Darstellung in immer leuchtenderen Farben von bekannten Personen und Situationen - sind der semantische Schlüssel zur volkstümlichen Erzählkunst. Dies steht im Gegensatz zu dem, was in der echten Literatur geschieht, in der nach Wolfgang Iser die Erzählung stets „Leerstellen" aufweist, um die auslegende interpretative Mitarbeit des Lesers auszulösen; sie „stillt" sozusagen den Hunger des Lesers nach Einzelheiten, die stets mit dem bereits festgelegten Charakter der Hauptfigur übereinstimmen 15. Die politische Hagiographie beschreibt starke Führerpersönlichkeiten, „conducator", kleine Väter, zentral- oder südamerikanische Jider", große Staatsmänner, die diese Rolle sowohl im öffentlichen als auch im privaten Leben spielen, soweit sich aus dem wenigen, das man über sie und ihr Privatleben in Erfahrung bringen kann, sagen läßt 16 . In der Hagiographie der Berühmtheiten ist selbst eine Diva beeindruckend, wenn sie frühstückt oder schläft. Sie wird im Bett „überrascht" ... perfekt geschminkt in einem perfekt gebügelten Schlafanzug. In der explizit-analytischen Form werden neue „nicht ganz in das Bild passende" Aspekte und Merkmale des Subjektes aufgezeigt; ihr Mangel an Folgerichtigkeit ist jedoch nicht derart, daß er das Wesen des Subjektes verunstaltet oder verändern kann. Im Falle der Diva mit der perfekten Figur wird auf deren Vorliebe für Sahnetörtchen angespielt, die sie dann zu heroischen Diäten zwingt. Oder wenn es sich um einen „Superman" handelt, wird man feststellen, daß er Angst vor Katzen hat. Viele Artikel über die Tagesereignisse enthalten Anspielungen auf persönliche und private Besonderheiten der beteiligten Personen. Diese Besonderheiten sind in den meisten Fällen voraussehbar, da die Personen bereits in Objekte einer Erzählung verwandelt wurden, die Klichévorstellungen entsprechen müssen. 14 Der letzte dieser Menschen, an den ich mich erinnern kann, war „er carnaro", ein kleiner Hundezüchter und sadistischer Mörder der römischen Verbrecherszene (Zweite Hälfte der 80er Jahre). 15 W. Iser, IM Struttura di Appello del Testo, in: R. Ruschi, Estetica , Bologna 1987. 16 Einige Jahrzehnte nach dem Tod einer Persönlichkeit können die „Erinnerungen des Privatbutlers von . . d i e Hagiographie umstürzen; dann wird sie negativ.
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4. Kap.: Welt und Sprache
Dies ist die sozusagen malerische Anwendung der explizit-analytischen Semantik. Es gibt allerdings auch eine aussagekräftigere und im eigentlichen Sinne analytische Anwendung, bei der man die bei einer ersten Betrachtung oder Lektüre nicht offensichtlichen Aspekte (beispielsweise) eines literarischen Textes ans Licht bringt. Man erkennt bereits bei der ersten und zweiten Lektüre die Bedeutung des Textes. Nehmen wir als Beispiel das Gedicht des großen italienischen Dichters Leopardi „Das Unendliche" („Z/infinito"). Nur eine literarische, aber nicht eine logisch formale Analyse kann die darin enthaltenen stilistischen Strukturen untersuchen 163 . Dasselbe gilt für den wissenschaftlichen Diskurs und selbst für eine populärwissenschaftliche Schrift, wenn in einem explizit-analytischen Kommentar die dynamischen Elemente des Wellengangs oder die anatomischen Bestandteile des Rasterauges der Fliege untersucht und beschrieben werden. Wir können also abschließend feststellen, daß man es auch bei der diskursiv explizit-analytischen Form mit einer informativen und öldruckhaft-erzählenden Aussage zu tun hat. Im ersten Fall unterteilt man ein komplexes Phänomen in seine Bestandteile; im zweiten Fall nimmt man dasselbe nicht am Phänomen oder am konkreten Objekt vor, sondern an dessen symbolischer Darstellung, wie sie als Kliché in der Kultur und im volkstümlichen Denken besteht. In diesem Zusammenhang sei auch auf die gern ge- und mißbrauchte Formel über die Komplexität der untersuchten Phänomene hingewiesen, die oft und gerne wie ein „Stoppschild" ausgespielt wird: „die Problematik ist vielschichtig; wir können sie unmöglich in dieser Versammlung, dieser Schrift erschöpfend behandeln". Sie erschöpfend zu behandeln, wäre wohl nicht möglich; aber ein ernsthafter Erläuterungsansatz könnte zur Verringerung der Komplexität beitragen und möglicherweise selbst aufzeigen, daß diese Komplexität nur scheinbar, mehr verbal als real war. In der semantisch-diskursiven Form, die ich als ergänzend-überraschend zeichnet habe, werden zwar nicht bekannte - aber mit den bekannten vereinbare Besonderheiten des im Zentrum des Interesses stehenden Subjekts mitgeteilt. Man entdeckt beispielsweise, daß der Oberrabbiner ein sehr guter Koch ist, was zwar für die Ausübung des Rabbineramtes nicht notwendig ist, aber dafür einer sonst streng-ehrwürdigen Persönlichkeit einen menschlichen Zug verleiht. Die Politiker schätzen die „Entdeckung" der menschlichen Seite ihrer Persönlichkeit sehr: der italienische liberale Spitzenpolitiker Flavio Biondi liebt es mitzuteilen, daß er gerne Klavier spielt; und der frühere italienische Gewerkschaftler Luciano Lama schämt sich nicht, im Freundeskreis als Tenor aufzutreten und selbst Verdi-Arien zu singen. 16a
Auf dieses Gedicht wird in Kap. 8 eingegangen.
be-
4.7. Texte und Erzählungen
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Den großen Unternehmern und Managern gefällt es hingegen nicht, wenn ihre Privatsphäre sozusagen als Vervollständigung ihrer öffentlichen Rolle ins Rampenlicht gezogen wird. Die gestatteten - und angeforderten - Berichte über das Privatleben entsprechen genau ihrer offiziellen Rolle überein; was sie langweilig, aber nicht banal werden läßt: so das übliche mit Teleobjektiv geschossene Photo des Industriekapitäns am Steuer eines Segelschiffes, das bei Wimdstärke 7 gegen die Meereswellen kämpft. In der entlarvend-widersprüchlichen Form wird die Figur des Objekts 17 , das Gegenstand des Diskurses ist, oder das Subjekt der Proposition mit einem starken Widerspruch konfrontiert. Beispielsweise: parallele Geraden schneiden sich in einem Punkt; ein Dreieck weist auf einer kugelförmigen Oberfläche drei Rechtecke auf; Raum und Zeit stimmen in einem bestimmten Bezugssystem überein und der Raum ist nicht mehr der Behälter der Materie, sondern eine ihrer Manifestationen, so daß selbst der Behälter beim Verschwinden der Materie mitverschwindet. Auch in der Umgangssprache - und nicht nur in der wissenschaftlichen Sprache - wirkt die Anwendung der rhetorischen Figur des Oxymoron stark semantisch: „Die dunkle Helle der Sterne" (Corneille); „Die Schreie der Stille" (Titel eines Films über den Bürgerkrieg in Kambodscha); „Die Planwirtschaft nicht durch den Kapitalismus, sondern durch eine sozialistische Marktwirtschaft ersetzen" (Gorbatschow); „Die Besonderheiten und die Autonomie des Berufstandes der Ärzte im Rahmen des Vertrags mit der Körperschaft des Staatlichen Gesundheitswesens garantieren" (Remo Gaspari, seinerzeit italienischer Minister für die Beziehungen zwischen Parlament und Verwaltung) und zum Schluß „Deutschland war in diesem Jahrhundert der Ursprung und die Lösung der Probleme in Europa und in der Welt" (Erklärung von Havel bei seiner Wahl zum Präsidenten der Tschechischen Republik, in seiner Begrüßungsansprache an die deutsche Öffentlichkeit anläßlich seines ersten Staatsbesuches am 2. Januar 1990). Besonderheit des Oxymoron ist die semantische Kühnheit, mit der man die Komplexität der jeweiligen Realität oder deren Merkmale zusammenfassend kodiert, ohne dabei mißliche oder unverständlichen Aspekte (Havel und Deutschland) zu kritisieren oder auszulassen; oder mit der man jene in der Sprache sonst nicht beschreibbaren Tatsachen sichtbar macht. Das Oxymoron sagt aus, daß man sich wegen sprachlicher Widersprüche keine Gedanken machen muß. Diese Widersprüche zu bestreiten, sie nicht zu akzeptieren, würde bedeuten, daß man der Ansicht ist, daß die Sprache alles über die Realität aussagt; es würde bedeuten, daß die Realität den Regeln der Logik des „tertium non datur" oder der Nicht-Widersprüchlichkeit unterliegt 18. 17 Wie in den Traditionen einer Gemeinschaft verankerte und in der Umgangssprache fixierte Figur. is M. Dalla Chiara Scabia, Logica , Mondadori, Milano, 1979, S. 42.
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4. Kap.: Welt und Sprache
Sicherlich gibt es begriffliche Widersprüche („quadratisches Dreieck") und reale Widersprüche („ich liebe und ich hasse ihn"). Erstere sind auf keinen Fall zulässig und zwar aus dem einfachen Grund, daß jeder eindeutige Begriff wie das Dreieick von uns geschaffen wird und daß wir von ihm folglich alles wissen: von den Gefühlen wissen wir hingegen sehr wenig. Der Widerspruch liegt nur in der Beobachtung und dem direkten Erfassen von nicht mit unserem Kode übereinstimmenden Tatbeständen. In der bestätigenden Form einer semantischen Erwartung hen wir vor einer Zweideutigkeit.
des Zuhörenden ste-
Auf der einen Seite sagt der Sprechende dem Zuhörenden auf liebenswürdige Weise, was seiner Ansicht nach letzterer zu hören erwartet und was er gerne hört. Dieser Vorgang zeichnet die Trivialliteratur aus, in der das schöne arme Mädchen - den Wünschen der Leserinnen entsprechend, die ihre Träume bestätigt sehen möchten - den reichen und liebenswürdigen jungen Mann heiratet. Ähnlich verhalten sich die Diktatoren, wenn sie ihrem - möglicherweise hungrigem - Volk versichern, daß die eigene Rasse den anderen Rassen überlegen ist, daß das Volk auserwählt und daher zur Eroberung der Welt vorbestimmt ist. Es handelt sich dabei um Formen diskursiver Kuppelei, die einen sofortigen Zugang zum Zuhörer öffnen, die aber einen Preis haben. Wenn der Sprechende ein Literat ist, muß er auf eine Zuhörerschaft verzichten, die auch nur ein Minimum an kritischem Geist hat; ist er eine Führerpersönlichkeit, muß er irgendwie seine Versprechen einhalten oder wie Fidel Castro die Kubaner davon überzeugen, daß eine revolutionäre Armut einem konsumistischen Yankeeüberfluß vorzuziehen ist. Eine besondere Form des versichernd-bestätigenden Diskurses ist jene, die von mir an anderer Stelle als mit „innerhalb der Mauern" - im Gegensatz zu der „außerhalb der Mauern" - bezeichnet wurde 19 . Es handelt sich dabei um einen Diskurs entweder für die Anhänger zur Stärkung ihres Glaubens oder für Dritte, um sie auf den Weg des rechten Glaubens zu führen. Im ersten Kommunikationstypus wird das Ich des Sprechenden hervorgehoben. Ein Ich, das nicht mitspielt, das nicht bereit ist, Einwände während des Kommunikationsvorganges oder hinterher hinzunehmen. Dies geschieht in der Regel bei einem Menschen mit starker Persönlichkeit und selbst einem Anflug von Selbstgefälligkeit, der nicht imstande ist, die eigenen Anschauungen von denen der anderen zu unterscheiden und abzugrenzen. Er betrachtet daher seine Überlegungen als allgemeingültig; er wundert sich, wenn der andere ihre objektive Richtigkeit nicht anerkennt und sie sich nicht zu eigen macht; er neigt dazu, den dialektischen Widerstand des Gesprächspartners als eine auf einem Vorurteil begründete Weigerung zur Übernahme einer offen19
P. Trupia, Logica e Linguaggio della Politica , op. cit., S. 216.
4.7. Texte und Erzählungen
107
sichtlichen Wahrheit oder als Unfähigkeit zu einer „Korrektur" aufgrund geistiger Verwirrung oder ideologischer oder kultureller Fehleinschätzung zu betrachten 20. Der „Diskurs innerhalb der Mauern" dient auch einer Bestätigung, der Erwartung des Sprechenden, der in seiner überheblichen Selbstgefälligkeit darauf aus ist, durch eine unkritische Zustimmung des Zuhörenden die eigene Persönlichkeit bestärkt zu sehen. Im „Diskurs außerhalb der Mauern" nimmt man hingegen den Gesichtspunkt des Zuhörenden ein: man übernimmt seine Fragen und man bemüht sich, darauf eine Antwort aus der eigenen Sicht zu geben. Was beispielsweise ein Lehrer tut, wenn er Verständnis für die Schüler zeigt, die nicht lernen wollen und versucht, sie anzuspornen und zu überzeugen, indem er ihnen die Vorteile einer geistigen und schulischen Disziplin und die Notwendigkeit des trotz der damit verbundenen Mühe unvermeidlichen Lernens vor Augen führt: weshalb es sich nicht lohnt, das Risiko des Nicht-Lernens oder des Sich-Durchmogelns einzugehen. Alle stark selbstbezogenen Personen, die ihre Rede gerne mit Ausdrücken wie „unsere Familie", „unsere Kirche", „unsere Schule", „unsere Gruppe" beginnen, sind geneigt, jede Überprüfung ihrer selbst, ihres eigenen „Image" und ihrer Welt im voraus abzulehnen. Bei diesen Menschen läßt sich eine Sublimierung der Sprache beobachten, die sich fortschreitend von der aussagenden Person löst. Die Sprache ist in solchen Fällen mit Bezug auf den Sprechenden insofern übermäßig determiniert, als dieser sich den syntaktischen, semantischen und umgangsprachlich-lexikalen Auflagen nicht entziehen kann. Eine derart - mit Bezug auf den Sprechenden hypostatisch festgelegte - Sprache einer Gemeinschaft verliert immer mehr den Charakter der Sinnhaftigkeit; sie wird zum reinen Wiedererkennungsmittel unter den Gesprächspartnern 21, zum phatischen gruppeninternen Instrument und zum Emblem gegenüber Dritten. Man registriert in dieser gruppeneigenen Sprache mit der Zeit leichte Veränderungen, ohne daß sie ihre Merkmale verliert. In der Geschichte der italienischen Managersprache begegnet man als semantischen Markierungen den Ausdrücken: „ in dem Maße wie" in den 60er Jahren, „ Verfahrens- und Produktinnovation" in den 70er Jahren, „Ergebnisse von Effizienz und Wirksamkeit" Anfang der 80er Jahre, „Suche eher nach neuen Entwicklungsstrategien als nach neuen Globalisierungsmodellen" Anfang der 90er Jahre, wobei „eher ... als nach" nicht mehr das traditionelle „,an Stelle von", sondern „zusammen mit" bedeuten soll.
20
Die „Andersartigkeit" war der Grund für die nachteilige Isolierung der KPI zur Zeit des Parteisekretärs E. Berlinguer. 21 Im Sinne der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft (wie Partei, Kirche oder akademischer Körperschaft usw.).
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4. Kap.: Welt und Sprache
Man sollte sich dieser vorgefertigten Sprache nicht bedienen, in der man es sich bequem machen und darauf verzichten kann, aus der Lage des „Entlasteten" herauszukommen, um dem „Herausforderer" entgegenzutreten. Die Sprache tendiert unausweichlich dazu, ein System zu bilden; das Sprachsystem kann in der Tat als Symbol der Kultur und des Wissensstandes eines Volkes betrachtet werden. Als System deckt die standardisierte Sprache die Identität dieses Volkes und seiner einzelnen Teilgruppen ab und erfordert die gemeinsame Verteidigung von Identität und Sprache im Hinblick auf deren Symbolcharakter. Hieraus folgern die Puristen, daß die Sprache gegen jede ihr vom Leben aufgezwungene grammatikalische Änderung, gegen die Übernahme von fremdsprachlichen Ausdrücken, gegen die unvermeidlichen umgangssprachlichen aus einer sich wandelnden Realität erwachsenden neuen Wortschöpfungen zu verteidigen ist. Wenn diese Verteidigung erfolgreich ist, stirbt die Sprache ab und wird mit unfreiwilliger Ironie zu einer „gelehrten Sprache"; was als „Sprache für die Forscher einer verschwundenen Zivilisation" und nicht als eine sich auf eine lebende Zivilisation beziehende und sie ausdrückende Sprache aufzufassen ist. Natürlich ist nicht jede Neuschöpfung, Verfremdung oder Übernahme fremdsprachlicher Wörter annehmbar. Aber jede Änderung, die sich in der Umgangs- oder der gehobenen Sprache durchsetzt, verfügt über Lebenskraft, ist Ausdruck von Vitalität und deshalb berechtigt, sich (bis zur nächsten Änderung) integrierend in das Sprachsystem einzufügen. Die konstruktiv-planende Form ist ausgesprochen nicht-referentiell. Ein Beispiel aus dem italienischen Fernsehen: „Tagesschau für ein Europa ohne Grenzen". Diese Bezeichnung drückt einen Wunschtraum aus, der möglicherweise morgen, aber bestimmt nicht heute seine Verwirklichung in einem Europa vom Atlantik bis zum Ural und damit seine „Referenz" erfahren kann. Aber war diese Bezeichnung bei ihrer Festlegung und bei den Sendungen wirklich ganz unreferentiell? Aus der Sicht der Logik verfügt sie über einen Bezug, allerdings nicht auf eine bereits bestehende Situation oder einen „Zustand der Dinge", sondern lediglich auf eine Möglichkeit: eine hier und heute nicht existierende, aber trotzdem tatsächliche Möglichkeit. Tatsächlich insofern, als sie als realisierbar betrachtet wurde und demnach in einer Welt nicht unrealistischer Möglichkeiten angesiedelt ist. Dieser „Titel" der Tagesschau wäre vor dem Abbruch der Berliner Mauer weder vorstellbar noch angebracht, noch wäre er es vor der konkreten Planung eines nach Osten geöffneten Vereinten Europas gewesen. Damit sind wir in das Universum der möglichen Welten vorgestoßen, das parallel zu den existierenden Welten (aber nicht zu den „tatsächlichen" Welten, weil auch die möglichen Welten denkbar und daher „tatsächlich" sind) besteht. Es läßt sich also feststellen, daß der konstruktiv-planende Diskurs mit Bezug auf eine mögliche Welt genau wie im Falle eines möglichen „zukünftigen Europas ohne Grenzen" referentiell ist; zu einer möglichen Welt also, die ein reales Projekt darstellt.
4.7. Texte und Erzählungen
109
Der Diskurs ist „konstruktiv", weil er nach der konstruktiven und nicht der induktiv-deduktiven Logik (einer der 21 heute gebräuchlichen Logiken) aufgebaut ist. Im konstruktiven Vorgang ergeben sich die verschiedenen sequentiellen Gedankenschritte nicht aus einer logischer Deduktion, sondern aus der „Entscheidung und Auswahl" in jeder Phase (oder jedem „Knoten") des diskursiven Vorgehens. Unwillkürlich fügen wir alle möglichen Welten in unser reales Universum ein und planen und „konstruieren" in ihnen realitätsbezogene Situationen, die mit Hilfe geeigneter Anpassungen an das Umfeld zu Tatsachen werden können. Eine Realität ohne das gleichzeitige Bestehen eines Universums möglicher Welten wäre zur Langeweile und vielleicht selbst zur Verzweiflung verurteilt. Darum ist unter den semantischen Diskursformen die konstruktiv-planende eine der wichtigsten und bedeutsamsten. Sie stellt uns und unsere Zuhörer vor neue Horizonte 22. Der konstruktiv-planende Diskurs eignet sich am besten, um die Aufmerksamkeit der Zuhörerschaft zu wecken, ihre Aufmerksamkeit sozusagen „einzuberufen", um sie auf ein nicht tatsächliches, sondern geplantes Ziel hin auszurichten. Entsprechend kann der konstruktiv-planende Diskurs ideologisch, vorschlagend, phatisch und einberufend sein.
22
Unter den möglichen Welten sind die wichtigsten jene der reinen Wissenschaft, die von Idealobjekten bevölkert sind, zu denen die Realobjekte der empirischen Beobachtung hintendieren, ohne jemals mit ihnen voll übereinzustimmen. Die erste „mögliche Welt" der idealen Objekte ist anerkanntermaßen jene der reinen Formen der Geometrie, die nach Galilei durch die Welt der empirischen und konkreten Formen der Materie und der Natur zugänglich wird. Zugänglich insofern, als ein Zusammenhang zwischen empirischen und idealen Objekten denkbar ist. Aus dieser Möglichkeit der Übereinstimmung - oder Zugänglichkeit der Welten - ist die moderne Wissenschaft geboren. Siehe dazu (deutscher Titel): E. Husserl, Die Krise der europäischen Wissenschaft und die transzendentale Phänomenologie, Il Saggiatore, Milano, 1961 (Original 1935), S. 54 ff.
5. Kapitel: Die semantischen Tiefenstrukturen
5.1. Text und Feintext Bei der Einführung des Themas der sprachlichen Form in die formale Semantik habe ich auf die logischen diskursiven und textlichen Bindewörter verwiesen, die Wörter zu Sätzen und Sätze zu Textgefügen verbinden. Von den sechs im vorhergehenden Kapitel angefühlten Diskursformen gehorchen einige in ihrer syntaktischen Textstruktur strengen Regeln; andere sind weniger streng zu regeln; andere gehorchen überhaupt keinen Regeln. Eine erste grobe Unterscheidung ließe sich also zwischen strengeren und weniger strengen Regeln vornehmen. Die erklärend-analytischen und die konstruktiv-planenden Formen gehorchen sicherlich den strengsten; die bestätigend-hagiographischen und die eine Erwartung des Zuhörers bestätigenden den am wenigsten strengen Regeln. Die anderen beiden Formen gehören in ihrer Strenge zu dazwischen liegenden Regeln. Das Verhältnis zwischen Syntax und Inhalt läßt sich jedoch nicht genau festlegen, selbst wenn man nicht umhin kann, sein Bestehen festzustellen. Das Studium der erwähnten Formen des Diskurses bereitet übrigens hier wegen ihrer Spezifizität einige Schwierigkeiten. Die Logiker befassen sich mit dem logischen Aspekt der Inferenz: zahlenmäßig („einige", „alle", „niemand" etc.); schlußfolgernd („falls ... dann ..."); feststellend („ich bestätige, daß ..."); apodiktisch („es ist notwendig, daß ...") usw. Dabei handelt es sich also um das Studium des (logischen) sprachlichen Diskurses. Die Semiotiker befassen sich mit der Theorie des Textes, die Philologen mit seiner rhetorischen, ausdruckshaften und stilistischen Form; die Hermeneutiker mit den Ursprüngen des Sinns in der Tradition und seiner Schaffung im „hermeneutischen Kreis." Aber der Diskurs weist immer eine textliche Einheit auf und muß daher in seinen vielfältigen strukturellen Aspekten unter Berücksichtigung seiner funktionalen Einheit untersucht werden. Wir können also feststellen, daß die zu berücksichtigenden sprachlichen Strukturelemente jene sind, die den Satz bestimmen; wie die Bindeworte und die text-
5.1. Text und Feintext
111
bestimmenden rhetorischen Figuren, die transphrastischen Strukturen 1, wie auch die erzählenden Strukturen tun, die den Text in eine, wenn auch bisweilen nur angedeutete Erzählung - wie beispielsweise im Falle einer Kurzmeldung in der Verbrechens- und Unfallspalte einer Zeitung - verwandeln. Ich sehe hier von den logischen Bindegliedern, die als Satzmodalitäten zum Bereich der Grammatik gehören, wie auch vom weiten Gebiet der Rhetorik ab und gehe kurz auf die weniger bekannten transphrastischen und erzählenden Strukturen ein. Es sollen also vier transphrastische - oder textliche - Strukturen und eine erzählende Struktur kurz untersucht werden, ohne daß der Anspruch auf eine erschöpfende Behandlung erhoben wird. Es soll lediglich kurz dargelegt werden, wie ein Text strukturiert wird, wenn er eine gesamtsemantische Funktion als Text und nicht als Folge von Sätzen oder als Begriffsreihung ausüben soll. Die ersten beiden transphrastischen Strukturen, die den Text unter dem Aspekt der Semantik oder der Schaffung von Sinn kennzeichnen, sind die Isotopie und als ihr Gegenteil - die Allotopie. Die Isotopie ist die Reproduktion oder die Wiederholung - im selben Text - desselben in verschiedenen lexikalen Zeichen enthaltenen Sinninhaltes oder derselben Sinnhaftigkeit. Das verleiht dem Text Sinneinheit, wobei es von der Fähigkeit des Lesenden, Zuhörenden, Zuschauenden abhängt, ob er diese Einheit aus den verschiedenen Darlegungen desselben Sinninhaltes erfaßt. In der Novelle des Decamerone von Lisabetta, deren Brüder ihren Geliebten ermorden, stellen die Tränen, mit denen sie den Basilikumstopf, in dem sie den Kopf des Ermordeten versteckt hat, benetzt, die Isotopie der Nässe dar, die dann in der Feuchtigkeit der Erde wieder auftaucht, in der sie den Körper des Geliebten wiederfindet. In einer Theateraufführung oder in einem Film ergibt sich die Isotopie vorwiegend in den Anleitungen zu den Szenenbildern, den Hintergründen oder in der Ausstattung, die der Autor wie ein bildliches Leitmotiv vorgibt. Ein besonders eindringliches Beispiel der Isotopie, ja, der Mehrfachisotopie stellt das einleitende Sonnett des „Canzoniere" von Franceso Petrarca dar. In ihm begegnet man einer doppelten Sinnhaftigkeit aus einer doppelten Isotopie. Die erste ist durch die Serie der thematischen Lexeme wie „Seufzer", „Weinen", „Schmerz", die zweite durch die zweite Serie der thematischen Lexeme wie „ Fehler", „Vernunft, „vergeblich", „verschiedene", „gern gesehen", „ich schäme mich", „bereuen", „kurzer Traum" gekennzeichnet.
1 Bei der Transphrastik handelt es sich um jedes Mittel und syntaktische Vorgehen zur Verbindung von Sätzen zu einem grammatikalischem Satzgefüge oder einem Text, um einen über den Sinn des einzelnen Satzes hinausgehenden unfassenderen Sinninhalt (Makrosinn) zu schaffen. Nach dem Sprachlexikon von Giorgio Raimondo Cardona (Armando, Roma, 1988) ... handelt es sich um „jenes Vorgehen, das die Grenze zwischen einem Satz und dem nächsten zu überschreiten gestattet und ... die textliche Gesamtheit bewirkt".
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5. Kap.: Die semantischen Tiefenstrukturen
Die erste stellt die Isotopie oder semantische Tiefenstruktur der Leidenschaft, die zweite die Isotopie oder semantische (durch den Glauben erleuchtete) Tiefenstruktur der Vernunft dar. Beide stellen eine Mehrfachisotopie (in diesem Fall doppelte Isotopie) dar und bilden im Text ein semantisches Strukturmodell 2. In der Allotopie wird ebenfalls auf Inhalte, Symbole oder Sinninhalte zurückgegriffen, allerdings im Hinblick auf ihre Kontrastwirkung. Auch hierdurch wird im Text eine Sinneseinheit geschaffen und eine auslegende Zusammenarbeit des Zuhörenden oder Lesenden angestrebt. Im Gedicht „Unendlichkeit" („ L'Infinito") des italienischen Dichters Leopardi ergibt sich die Allotopie aus der räumlichen und zeitlichen, sowohl physischen als auch geistigen Beschränkheit und auch wieder Grenzenlosigkeit im Erzählungsablauf, der den Sinn des Lesers vom beschränkten Erdenraum zum unbeschränkten Weltall, von der flüchtigen Kurzlebigkeit zur Ewigkeit bis hin zum abschließenden Übergang („Schiffbruch") in eine nebelhafte Unendlichkeit und in die Selbstauflösung lenkt. Das zweite Paar transphrastischer Strukturen, die den Text stukturieren und semantische Akzente setzen, besteht aus den beiden Stilformen Parataxe und Hypotaxe. Die Parataxe ist die Verbindung der Sätze eines Abschnitts zwischen zwei Punkten durch die Benutzung von koordinierenden Sätzen und von verbindenden (und, also, sowie, sogar ... ) wie auch den Gegensatz hervorhebenden Wörtern (aber, sondern ... ). Wir haben es hier mit einer Textstruktur zu tun, die als einfach betrachtet wird und der Umgangs- und Alltagssprache entspricht, in der häufig die Verbindungsformel „und dann" benutzt wird. In der modernen italienischen Poesie kommt die Parataxe häufig bei italienischen Schriftstellern und Dichtern des letzten Jahrhunderts wie Gozzano, Pascoli und De Amicis (in seinem Roman „ Cuore "), und heute in der Prosa des bekannten Journalisten Enzo Biagi (siehe nachfolgendes Beispiel im Artikel von Biagi „Als der Alfa mehr kostete") vor. Manchmal schafft die Parataxe den Eindruck, als sehe der Autor den Ereignissen unbeteiligt zu, als distanziere er sich vom von ihm dargelegten Inhalt der Erzählung. Folgender erfundener Text gibt dafür ein anschauliches Beispiel: „Es schneite und auf den unsicheren Pfaden kehrten die Bauern in ihre armseligen Hütten zurück. Aber unter dem Schnee keimte der Weizen und die von den Strapazen erschöpften Bauern wußten dies". Die Parataxe und die Hypotaxe geben, wenn gezielt eingesetzt, dem Text seinen „Stil". Verleihen sie ihm doch seine Stimmung. Gerade Übersetzungen, die dies nicht berücksichtigen, zeigen die Unfähigkeit des Übersetzers auf, diesen Grundstein der Kommunikation zu erfassen. So kommt 2 Siehe zu diesem letzten Beispiel A. Marchese, Metodi e Prove Strutturali , Principato, Milano, 1979, S. 126-127.
5.1. Text und Feintext
113
es vor, daß bei Übersetzungen einem Text statt der ursprünglichen Parataxe eine Hypotaxe aufgezwungen wird. Die Hypotaxe ist eine Textstruktur, die vor allem für Nebensätze in Frage kommt. Es handelt sich dabei um einen komplexen Satzbau, der normalerweise eine gründliche Beherrschung der Syntax voraussetzt. Gerade dies ist der Grund dafür, daß die Hypotaxe speziell im Schulaufsatz häufig anzutreffen ist: kein Schüler würde sich dem aussetzen, was in der Parataxe als eine Flucht vor den syntaktischen Schwierigkeiten der Nebensätze erscheinen mag3. Heute benutzen die Journalisten gerne die Parataxe, wenn sie sich leutselig an das Massenpublikum als „Low-brows" wenden; sie benutzen hingegen die Hypotaxe, wenn sie wie Experten, wie „ Opinion makers " oder „High-brows" auftreten wollen. Der bekannte italienische Journalist Enzo Biagi gehört zur erstgenannten Kategorie. Er schreibt Texte, die man auch als „einen Schwatz beim Apotheker" bezeichnen könnte. Um auf die sechs Diskursformen zurückzukommen: wir können feststellen, daß sich die Parataxe eher in die „bestätigend-hagiographischen", „beiordnend-überraschenden" und „tröstend-beruhigenden" Formen einordnen läßt, oder zumindest dafür geeigneter scheint; die Hypotaxe scheint hingegen für die anderen drei Formen geeigneter. Das letzte Paar der Textstrukturen, denen eine Sinnhaftigkeit innewohnt, kommt durch den Gegensatz oder die Nebeneinanderstellung, die „Fabula/plot ", oder die „Fabula/Handlung", zum Ausdruck. Der Begriff „ Fabula/plot" ist eine der wichtigsten Errungenschaften des modernen Sprachstrukturalismus, oder - wie andere sagen - des Sprachformalismus zunächst der russischen, dann der Prager Schule. Seine Erkenntnisse verdanken wir dem russischen Ethnologen Vladimir Propp. In den zwanziger Jahren hat er die russischen Volksmärchen untersucht4. Unter Berücksichtigung der Thesen einiger zeitgenössischer Formalisten (Tomasevskij, Sklovskij) hat er festgestellt, daß „sich durch das vielschichtige Geschehen in den russischen Märchen eine streng - nach Funktionen - strukturierte Handlungskette zieht, die in jeder Erzählung in gleichem Maße anzutreffen ist... Es stellt sich also die Frage, unter welchen Umständen sich diese Strukturelemente in anderen Erzählungsgattungen oder überhaupt in jeder Art von Erzählung antreffen lassen"5. Als Kommentar zu den Erkenntnissen von Propp seien einige neuere Aussagen von Bremond zitiert, in denen seine Überzeugung, die sich übrigens mit meiner 3
Eine häufig im Altitalienisch vom Boccaccio angewandte Variante ist die Parahypostase, eine Mischung der beiden Verfahren, bei der ein Nebensatz dem Hauptsatz vorausgeht, an den er durch ein koordinierendes Wort gebunden ist. 4 V. Propp, Morfologia della Fiaba , Einaudi, Torino, 1966 (Original von 1928). 5 C. Bremond, Logique du Récit , Seuil, Paris, 1973, S. 7. 8 Trupia
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5. Kap.: Die semantischen Tiefenstrukturen
deckt, zum Ausdruck kommt, daß das Strukturmodell von Propp nicht nur „für jede Art von Erzählung", sondern selbst für jede Textart mit semantischen Ansprüchen gilt, selbst wenn sie nicht erzählend sind. Zusammenfassend beruht das proppsche Modell auf der Erkenntnis, daß in den magiegeladenen russischen Märchen - und nach Bremond, in anderen Texten mit erzählender Funktion - zwischen einer „Fabula " bestehend aus „Funktionen" oder „Wesensaspekten" von Personen oder Handlungen (der Fehler, die Abreise, der Gegner, die Probe, das Amulet usw.) und der Handlung (als dem spezifisch dramatischen tragenden Element der Erzählung) zu unterscheiden ist 6 . Ob es sich um ein Produkt der Trivialliteratur oder um einen großen Roman aus dem 19. Jahrhundert handelt, läßt sich immer wieder feststellen, daß der Ansatz von Propp - mit den jeweils erforderlichen Anpassungen - die Struktur der Erzählung prägt. Der Proppsche Auslegungsansatz hat sich als so fruchtbar erwiesen, daß er zu anderen Modellen der Textinterpretation (ausgehend von der Form oder der formalen Struktur) geführt hat7. Eine der letzten Fortentwicklungen des Ansatzes ist durch den amerikanischen „New Criticism " gegeben, der den literarischen Text wie eine in ihren Funktionen gegliederte Struktur betrachtet, die in die jeweilige Kultur eingebettete Handlungen „auf die Bühne stellt".
5.2. Modelle des Erzählens Das Ansatz von Propp erlaubt es in seinen letzten Entwicklungen auch, Form, Inhalt, formale Struktur und informative Funktion auf einen Nenner zu bringen. Bezeichnenderweise hat eine Abhandlung von Sklovskij, einem der Begründer der Schule des russischen Formalismus, aus dem Jahre 1917 den Titel „Die Kunst als Verfahren". Die Form ist nicht mehr der Behälter eines Sinninhaltes, ja, sie kann solange nicht als solcher betrachtet werden, als dieser Behälter seinen Empfänger nur dann erreicht, wenn er in eine Struktur eingefügt ist. Aber gerade dieser Vorgang ist das Ergebnis eines sprachlichen und literarischen, die verschiedenen diskursiven Stilformen in einem Text zusammenfassenden Kombinationsprozesses.
6 Im russischen wird Handlung als „sjuzét " bezeichnet, während der Ausdruck „ Fabula " gleich bleibt. 7
C. Segre, Le Strutture ed il Tempo , Einaudi, Torino, 1974, S. 14, unterscheidet beispielsweise unter vier Strukturniveaus in jedem erzählendem Text: Rede, Handlung, Fabula, Modell.
5.2. Modelle des Erzählens
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Einige dieser „Formen" entsprechen wahren Erzählungstechniken. Wir können sie in den verschiedensten Texten von der Poesie bis hin zur journalistischen Meldung wiederfinden. Ich weise auf folgende Stilformen hin: die „Verspätung" (bei der Vorstellung eines Themas), die „Treppenkonstruktion", den „Parallelismus", die „Einrahmung", die „Aneinanderreihung", die alle von der russischen Formalistenschule untersucht wurden. Der anschließend angeführte Text bietet hierfür einige Beispiele. Da man für eine gute schriftliche oder andersgeartete Kommunikation zwangsläufig ein formales Verfahren zur Anwendung bringen muß, empfehle ich allen Mitteilenden, die ihre Kommunikationsfähigkeit ausweiten wollen, sich diese Vorgangsweise anzueignen; nicht damit sie ihre Allgemeinbildung verbessern, sondern damit sie sie erkennen, wenn sie in einem Text auf sie stoßen sollten, um sie dann bewußt und geschickt - und nicht instinktiv - in den eigenen Text einzubauen8. Der formale Ansatz wurde in den letzten Jahren erheblich weiterentwickelt. Lotman behauptet, daß jeder Textbestandteil semantisiert oder semantisierbar ist. Er bezieht sich offensichtlich auf die formalen Strukturelemente 9. Im Jahre 1974 hat Apresjan, ein anderer Russe, „von der Möglichkeit gesprochen, die Syntax strukturell mit der Semantik zu verbinden", wobei nach seinem Dafürhalten neben den semantischen Sinninhalten (was eine Tautologie ist) auch syntaktische Sinninhalte bestehen (was meiner Ansicht nach ein informatives Oxymoron darstellt) 10. Mit anderen Worten: mit bestimmten Stilformen kann man bestimmte Dinge, aber nichts Anderes zum Ausdruck bringen, wobei die Stilform als solche bereits informativ ist. Wenn jemand zu einem spricht (und nicht heuchelt), ist er ein freundlicher Mensch. Übertragen wir nun unsere Überlegungen zu den Stilformen auf die vorgestellten transphastischen, erzählenden und textlichen Strukturen anhand eines konkreten Beispiels. Wir haben es mit dem kurzen Text einer Tagesmitteilung zu tun, genauer gesagt: mit einem Zeitungsartikel aus der Feder des italienischen Starjournalisten Enzo Biagi mit dem Titel „Als der Alfa mehr kostete" (Zeitschrift „Panorama", Woche vom 21. September 1986). In Anbetracht der Kürze des Textes gebe ich ihn in seinem vollen Wortlaut wieder. Zuvor jedoch noch ein kurzer Hinweis. Der Artikel ist genau durchkonstruiert, obwohl es auf den ersten Blick scheint, als wäre er auf Anhieb niedergeschrieben. 8
Wesentliche Bücher der einschlägigen Literatur sind: V. Propp, Morfologia della Fiaba , Op.cit.; V. Sklovskij, Una teoria della Prosa , Laterza, Bari, 1966 (Orig. 1925); A. Marchese, Metodi e Prove Strutturali , op. cit. 9 J. M. Lotman, La Struttura del Testo Poetico , Mursia, Milano, 1972. 10 Zitiert in: A. Plebe, P. Emanuele, Contro Γ Ermeneutica, Laterza, Bari, 1990, S. 83. 8=
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5. Kap.: Die semantischen Tiefenstrukturen
Das ist beste journalistische Prosa; i m Gegensatz zu dem, was Sklovskij in seiner „Kunst als Verfahren" über die Poesie schreibt, bei der die Konstruktion wahrnehmbar ist und zum Ausdruck kommt, muß der Prosatext flüssig und eingängig geschrieben sein. Dies gilt selbstverständlich für die Prosa von Biagi; aber, wie wir gleich sehen werden, kommt eine natürliche Einfachheit der Sprache zustande, weil er die Sprache meisterhaft beherrscht; sein Stil ist dabei subtil, j a gerissen; denn Biagi schafft es, das Ziel seiner Kommunikation - die Manipulation des Lesers - zu verwirklichen, ohne daß der Leser es merkt. Ob nun Biagi dies alles durch einen bewußten Einsatz seines Könnens oder eher aufgrund einer instinktiven Schreibtechnik erreicht, dürfte seinen Leser dabei wenig interessieren. Interessant ist hingegen festzustellen, daß es eine kommunikative und manipulative Wirkung gibt, und die Strukturmittel zu analysieren, mit denen diese Wirkung erzielt wird. Hier der Text:
Als der Alfa mehr kostete Ich habe an der Veranstaltung zur Vorstellung des neuen Alfamodells „164" teilgenommen und habe mich dabei auch recht gut unterhalten. Der italienische Komiker Montesano ist großartig: er ist locker, hat Humor, erinnert an den jungen Walter Chiari 103 , der mit außerordentlich viel Phantasie Texte und erheiternde Situationen erfinden konnte. Ich bin ein Bewunderer von Arturo Brachetti, der ein in seinen Nachahmungen außergewöhnlicher Künstler ist: er setzt mich immer wieder in Erstaunen, nicht nur wegen seiner Phantasie, sondern auch, weil er geistreich ist; den Filmschauspieler Alberto Sordi fand ich hingegen zu sehr bemüht, dem Hausherrn zu gefallen: das war nicht nötig. Vor dem Festzelt demonstrieren einige Grüppchen von „D.P." („Demokrazia Proletaria") im Namen von Arbeitern, die von der Lohnausgleichskasse bezahlt wurden, oder von Arbeitslosen; offensichtlich stimmen sie der rein gewinnorientierten Ideologie des Fiat-Spitzenmanagers Dr. Romiti nicht zu und schätzen auch die stets schmerzhafte Wegrationalisierung der Arbeitplätze zur Sanierung der Industrie nicht. Und das scheint mir auch verständlich; und ich denke auch, daß die Monopole nichts gutes sind; und daß die Exzesse des Kapitalismus wie die demagogischen Aufrufe einem gesellschaftspolitischen Fortschritt nicht förderlich sind. Aber gerade im Hinblick auf Alfa Romeo kamen mir einige Geschehnisse der Vergangenheit in den Sinn: die unfähigen Führungskräfte mit ihren unrealistischen Anschauungen, die ihre Stellung in der Firma den Politikern verdankten, die unwahre Erklärungen abgaben und phantastische Bilanzergebnisse ankündigten, denen dann katastrophale Rechenschaftsberichte folgten; die falschen Strategien, die firmeninternen Fehden, die nachteiligen Absprachen mit ausländischen Firmen, die falsch konzipierten Automodelle und so weiter. Und dann: das Krankfeiern in den Fabriken von Neapel; das Fernbleiben vom Arbeitsplatz während der Tomatenernte oder anläßlich wichtiger Fußballspiele; die Beschimpfungen, mit denen die amerikanischen Käufer im Firmensitz in Arese empfangen wurden, denen vorge-
10a
Ebenfalls ein bekannter italienischer Komiker.
5.2. Modelle des Erzählens
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worfen wurde, sie würden mit den verhaßten Dollars zahlen. Welche Schande auf beiden Seiten. Jetzt scheint es, daß die Dinge besser gehen, daß man dem Bilanzgleichgewicht näher rückt, daß nun Alfa Romeo bessere Entwicklungschancen aufweist. Was nun? Die Firma Fiat ist bestimmt kein Wohltätigkeitsinstitut; sie sucht sicher ihren Vorteil. Das Unternehmen hat im Laufe seiner Geschichte Privilegien genossen; aber es ist auch wahr, daß diese Herren aus Turin Autos und Bilanzen besser als viele andere erstellen können. Ich bin noch mehr davon überzeugt, daß das Alfawerk die Italiener und selbst die Arbeiter früher viel mehr gekostet hat. Enzo Biagi
Der Artikel ist in eine Einleitung und fünf anschließende „Szenen" unterteilt, die aufgrund ihrer semantischen Abgrenzung (durch die Änderung ihres Inhalts) vollständig „eingerahmt" sind. Eine derartige textliche Basisstruktur ist von entscheidender semantischer Bedeutung: sie gibt dem Autor eine übergeordnete Stellung und macht ihn zum distanzierten und deshalb neutralen Beobachter, indem er „Fakten" - und nicht eine Auslegung dieser Fakten anführt. Irgendwie lassen sich hier die Vorstellungen des „Nouveau Roman" und der „Ecole du regard" (im Frankreich der fünfziger Jahre: man denke an Alain RobbeGrillet) erkennen, wonach die Erzählung als kalte und objektive Beschreibung der Fakten ohne jegliche gefühlsmäßige Beteiligung des Erzählers-Zuschauers zu sehen ist. Er muß sich von der Erzählung lösen: vor allem darf er nicht der „ Allwissende" des klassischen Romans sein, der bis in die Herzen der dargestellten Personen schaut. Die Erzählung soll hingegen zur Dokumentation werden. Offensichtlich ist diese Distanz eine reine Stilform. Schon allein aufgrund der Auswahl der Fakten, ihrer Reihenfolge, ihrer Einstufung und der „objektiven" Beschreibung von Dingen und Personen; was eine unterschwellige Bewertung der Gesamtsituation voraussetzt. Die Distanz ist nur scheinbar. In seinem Artikel wirkt Biagi ganz eindeutig von Anfang an als Zuschauer: „Ich habe an der Veranstaltung ... teilgenommen ...". Man hat hingegen Grund anzunehmen, daß er nicht wie irgendein zahlender Zuschauer dort war, sondern als Ehrengast aus P.R.-Gründen geladen war, damit er einen wohlwollenden Kommentar über das Automodell „164" sowie das gerade neu vom FIAT-Konzern übernommene Alfa-Romeo-Unternehmen schreibt. Das P.R.-Ziel wird erreicht, wenn der Kommentar selbst vage, aber zu beiden Themen einigermaßen positiv ausfällt. Aber Biagi geht selbst weiter. Nach der Einleitung, die erste Szene, in der drei Menschen vorgestellt werden, zwei positiv (Montesano und Brachetti) und einer negativ: Alberto Sordi. Letzterer wird, obwohl er in Italien als Starkomiker betrachtet wird, mitleidslos verdammt, weil er dem „Hausherrn", also FIAT-Chef Agnelli zu sehr geschmeichelt hat. „Das war nicht notwendig", kommentiert Biagi; womit er zwei Ziele gleichzeitig erreicht: er lobt den FIAT-Chef und stempelt ihn gleichzeitig zum wahren Gentleman (Beginn der Isotopie mit den „Herren von Turin" am Anfang des Artikels), der Schmeicheleien nicht mag und sich dadurch von Sordi differenziert.
118
5. Kap.: Die semantischen Tiefenstrukturen
Biagi als Starjournalist schmeichelt niemandem, wenn es nicht notwendig ist; es langt ein wenig Weltgewandheit, um zu merken, wann es dies nicht ist. Er schmeichelt indirekt, ohne sich der Kritik auszusetzen, selbst ein Schmeichler zu sein! Es öffnet sich die zweite Szene, wie die erste und die nachfolgenden „eingerahmt" und strukturiert. Wenn die erste Szene, „das Festzelt" der „ locus amoenus" der klassischen Rhetorik war, ist die zweite Szene „außerhalb des Festzelts" der „ locus alienus". Drinnen das Bewußtsein einer geglückten Initiative (Alfa Romeo gehört einem effizient arbeitenden Industrieunternehmen), draußen der „Un-Sinn" des ideologischen Protests und die Forderung nach einer trügerischen Welt des sozialistischen Wunschdenkens. Es handelt sich um einige Grüppchen der D.P (Democrazia Proletaria), die im Namen von anderen, nicht zum Fest geladenen Menschengruppen (Kurzarbeitern, Arbeitslosen) „demonstrieren" und „protestieren". Das Wort „offensichtlich" fügt Biagi ein, um seine Distanz nach allen Seiten hin hervorzuheben. Sie stimmen der „Ideologie von dr. Romiti" nicht zu, der zweckmäßigerweise vom FIAT-Chef unterschieden wird, der ein Gentleman ist; so wie Sparafucile dem Herzog von Mantua in der Oper „Rigoletto" gegenübergestellt wird, selbst wenn ein gemeinsames Vorhaben sie vereint. Man beachte den sprachlich „anhaltenden" oder „üblichen" indikativen Präsens des Verbs „demonstrieren", der auf den unvermindert stumpfsinnigen Glauben der Demoproletarier hindeuten soll 11 . Der Abstand und die Distanzierung Biagis stellen den roten Faden der doppelten Isotopie im Text dar. Die erste Äußerung der Distanzierung steht bereits am Anfang („und ich habe mich dabei auch recht gut unterhalten"), die zweite ergibt sich aus der Ironie des Wortes „offensichtlich". Die Distanzierung wird - immer noch in der zweiten Szene - von einer Reihe von Wertungen und Aussagen (in der Ich-Form) bestätigt: „das scheint mir verständlich", „ich denke auch ..." Er ist darauf bedacht, Lob und Tadel zwischen den zwei gegensätzlichen Lagern und Sichtweisen - durch die Worte „die Exzesse des Kapitalismus" und „die demagogischen Aufrufe" zum Ausdruck gebracht - gerecht gegeneinander aufzuwiegen. Aber es wird gezeigt, daß nur der „rein gewinnorientierte" Kapitalismus des dr. Romiti als (ein wenig) übertrieben betrachtet wird, hingegen nicht der „der Herren von Turin", während D.P. und Genossen enttäuschte dem Wunschdenken verhaftete Demagogen sind und bleiben. Einziges 11
Die Wortfigur des Aspekts gibt die Dauer oder aber den Abschluß - wie im Imperfekt oder im Plusquamperfekt - der durch das Verb ausgedrückten Tat an. Der verbale Aspekt weist auf die Äußerung einer Tat im zeitlichen Ablauf gegenüber dem Beobachter - in unserem Falle Enzo Biagi - hin, der seinen Standpunkt zur Tat zum Ausdruck bringt (im Beispiel: zu jenen Demoproletariern, die weiter demonstrieren). Siehe Ducrot, Todorov, Dictionnaire Encyclopédique des Sciences du Langage, Seuil, Paris, 1972, S. 389 ff.; J. Greimas, Courtès, Dictionnaire Raisonné de la Théorie du Langage, Hachette, Paris, 1979 S. 21 ff.; A. Galton, The Logic of Aspect. An Axiomatic Approach , Clarendon Press, Oxford, 1984.
5.2. Modelle des Erzählens
119
Zugeständnis: die „immer schmerzhafte Wegrationalisierung" (der Arbeitsplätze). Aber schmerzhaft für wen? Wohl für die „Herren aus Turin", die aber die Pflicht haben, „einen Sanierungsversuch zu wagen". In der zweiten Szene kommt die vorwiegend parataktische Struktur des Artikels zum Vorschein. Die Sätze werden mit dem zweiten Satz des Anfangs durch das kopulative „und" eingefühlt; in der dritten und vierten Szene, die durch ein volkstümliches „und dann" verbunden sind, geht die Parataxe durch eine einfache und wirkungsvolle Satzfolge ohne Konjunktionen weiter; also im Sinne der parataktischen Konstruktion rhetorisch aneinandergereiht oder „angehäuft". Die dritte Szene beginnt mit dem parataktischen Adversativ „aber" (als Verbindung mit der zweiten), gefolgt von einem „mir kam in den Sinn", was den Vorgang des „Aneinanderreihung" „wie auf einem Bratspieß" festlegt 12. Die Texte von Biagi sind in der Tat erzählend und das erzählende Subjekt ist stets und ausschließlich ... Enzo Biagi - selbst mit seinen Gedanken, Beobachtungen und Beurteilungen, die aus jenem Dorf im toskanisch-emilianischen Appennin stammen, wo er geboren wurde, an das er oft zurückdenkt und in dem er in der Erinnerung und den Erlebnissen immer geblieben ist: außerhalb des „Palazzo" und seinen Machenschaften. Was unserem Autor-Zuschauer in den Sinn kommt - der formal außerhalb der Erzählung bleibt, aber in Wirklichkeit sehr wohl in ihr steht und miteinbezogen wird - sind „einige Begebenheiten aus der Vergangenheit". Es handelt sich dabei um Ereignisse, die ganz kategorisch die frühere Verwaltung der Firma Alfa Romeo, die sie unterstützenden Politiker und ihre Ideologie verdammen. Die dritte Szene wird mit einem nachdrücklichen und wenig eleganten „und so weiter", einziger formaler Mißton in einem sonst perfekt durchkonstruierten Text, abgeschlossen. Die vierte Szene fängt mit dem bereits aufgeführten, volkstümlichen „Und dann" an. Es handelt sich um eine doppelte Szene: in einem ersten Teil, der das Thema weiterspinnt und das vorangegangene „und so weiter" widerruft, und auf weitere negative Geschehnisse der früheren Verwaltung hinweist wie beispielsweise auf die der Firmenbelegschaft und -führung gemeinsame gleichnishaften „Fehlzeiten" anläßlich der Fußballspiele. Dieser erste Teil der vierten Szene schließt mit dem spontanen Urteil aus der Sicht des Zuschauers: „Welche Schande auf beiden Seiten". Die Unvoreingenommenheit des Urteilenden ist allerdings nur scheinbar. In Wirklichkeit gibt es nämlich drei Seiten: Arbeiter und Gewerkschaftler, die dem alten, unfähigen, politisch verseuchten Alfa-Management gegenüberstehen, und 12
Ein von Sklovskij erfundener, erzählender Vorgang, mit dem die verschiedenen Themen einer Erzählung mit Hilfe der Abenteuer oder Gedanken einer Person wiedergegeben werden. In unserem Fall ist es der Autor-Zuschauer Biagi.
120
5. Kap.: Die semantischen Tiefenstrukturen
das neue FIAT-Management („die Herren aus Turin"), von dem keine Wertung vorgenommen wird. Das neue Management wird hingegen trotz der formalen Abschwächung durch das „scheint" mit dem Satz: „Jetzt scheint es, daß die Dinge besser gehen, daß man dem Bilanzgleichgewicht näher rückt, daß die Aussichten für Alfa rosiger sind" ins Rampenlicht gestellt. Womit die Schmeichelei trotz der bei Alberto Sordi so gegeißlten Lobrede dann doch wieder voll zum Vorschein kommt; entsprechend werden die aufgeregten, Hirngespinsten nachjagenden Menschen „vor dem Festzelt" und die sie manipulierenden Politiker verurteilt. Die fünfte Szene enthält die scheinbar neutral vorgestellte „Moral" der Geschichte und deren politische Botschaft. Auch hier wieder eine Pseudodistanzierung: „Die Firma FIAT ist bestimmt kein Wohltätigkeitsinstitut (bescheidene Metapher) ... hat Priviliegien genossen (Pseudoanklage) aber ... die Herren aus Turin (Abschluß der Isotopie der Herren) können Autos und Bilanzen besser als viele andere erstellen". Deshalb sind die „Herren aus Turin" Wohltäter des Landes. Der Autor Biagi schließt die Erzählung mit einer moralischen Betrachtung ab: „ich bin davon überzeugt, daß das Alfawerk früher die Italiener, und selbst die Arbeiter mehr gekostet hat". Es läßt sich einwenden, daß Biagi ganz offensichtlich auf der Seite der „Herren aus Turin" steht; und weiter, daß es auch sein gutes Recht ist, diese Einstellung zu vertreten. Ich bin mit der zweiten, aber nicht mit der ersten Bemerkung einverstanden und zwar in Anbetracht der Tatsache, daß die Form und Struktur des Artikels dem Leser den Eindruck einer reinen Berichterstattung vermitteln will. Es handelt sich jedoch um eine Täuschung; in Wirklichkeit haben wir es - wie in der literarischen Gattung der Predigt und der erbaulichen Anekdote - mit der vollen Einbeziehung des Autors zu tun, wenn auch mit der scheinbar kühlen Distanziertheit eines außenstehenden Autors oder Zuschauers. Daß Biagi diesen im Gegensatz zur semantischen Substanz stehenden Eindruck erwecken will, bringt mich dazu, von Manipulation der Ereignisse und des Lesers zu sprechen. Der Artikel ist auch deshalb interessant, weil er viele sprachliche und rhetorische Formen und Kunstgriffe enthält, so daß er als Beispiel einer zielorientierten semantischen Sprache gelten kann. Eine letzte Bemerkung betrifft die literarische Quelle dieser Art von Prosa mit ihrem keineswegs neuen und ursprünglichen Stil. Das Bestehen auf parataktische Strukturen, das Vorgehen in kurzen Parallelszenarien, die umgangssprachlichen Einflechtungen, die einfache und trotzdem „durchkonstruierte" Sprache, das Einbringen von einigen „Topoi" der volkstümlichen Literatur wie „Herren" und „Verzweifelte" weisen auf einen genau bestimmbaren, bedeutenden Ursprung hin: und zwar auf die Prosa des italienischen Schriftstellers des letzten Jahrhunderts Ed-
5.3. Die Rechte der Referenz
121
mondo De Amicis in seinem „Cuore", einem Erziehungsroman für Jugendliche mit einer stark gefühlsbetonten Note.
5.3. Die Rechte der Referenz Bei der Übersicht über die sechs Arten der Kommunikation oder sprachlichen Anwendungsform im Kommunikationsvorgang habe ich die referentielle Form nicht erwähnt. Das mag jene Leser verwundern, die nicht zu Unrecht glauben, daß man die Sprache zur Beschreibung der Realität braucht, also um über die Fakten zu berichten. Nicht alle Sprachwissenschaftler sind mit dieser Auffassung einverstanden. Beispielsweise der Semiotiker Umberto Eco spricht von der referentiellen Falschheit, der sich alle jene hingeben, die glauben, daß die Sprache Tatsachen außerhalb des Sprachsystems darstellen kann 13 . Er ist hingegen der Meinung, daß die Sprache aus Wörtern besteht, die andere Wörter in einer unendlichen Kette heraufbeschwören, ohne daß man jemals zu den Dingen selbst gelangen kann. In meiner Sicht des Problems der sprachlichen Anwendungsformen im Bereich der formalen Semantik habe ich diese Frage vermeiden wollen, weil ich die Sprache als ein System von Zeichen, also als abgeschlossenes System betrachte. Das schließt jedoch nicht aus, daß sich die Zeichen, oder zumindest einige Zeichen nicht auch auf Dinge und Tatsachen beziehen können und daß es deshalb auch keine referentielle Funktion der Sprache gibt. Ob dies nun geschieht oder nicht, hat keinen Einfluß auf die Darstellung der sprachlichen Anwendungsformen, bei denen der Bezug (oder Nicht-Bezug) keinen Einfluß auf die Kommunikation ausübt. Deshalb soll in diesem Kapitel nicht auf die „Problematik der Dinge" eingegangen werden (dies wird im Kapitel über den phäomenologische-transzendentale Ansatz der Fall sein), weshalb die sprachlichen Anwendungsformen nur unter dem sprachlichen Aspekt betrachtet werden. Zumal weder die Auslegung der Dinge selbst noch ihre sprachliche Darstellung, sondern die Auslegung des Kommunikationsvorganges nach axiomatischen Regeln - ich darf es wiederholen - Gegenstand der Überlegung ist. Weshalb die Kommunikation und ihre sprachlichen Formen in ihrer funktionellen Unabhängigkeit gegenüber den Dingen und Fakten untersucht werden, die sicher mögliche, vielleicht selbst tatsächliche Bezugspunkte bleiben. Allerdings kann sich die formale Semantik damit nicht beschäftigen, wenn sie die abstrakten Sprachmodelle in der Kommunikation untersucht.
ι 3 U. Eco, Trattato di Semiotica Generale , Bompiani, Milano, 1975, S. 88.
122
5. Kap.: Die semantischen Tiefenstrukturen
5.4. An Worten arbeiten, mit Worten aktiv werden Die gesprochene Sprache, normalerweise die der Zeichen, wird auch als Kluft zwischen dem Bewußtsein und den Dingen betrachtet; zwischen dem Ich, das die Welt (und sich selbst in der Welt) gedanklich schöpft, und der sprachlichen Schöpfung der Welt. Die Kultur - aus Worten und Zeichen bestehend - wird oft als ein Archiv von Dokumenten und als die kollektive Erinnerung einer Gemeinschaft gesehen. Als reine, spontan akzeptierte Philosophie wurde mehrheitlich immer jene realistische Philosophie betrachtet, die einer existierenden und zu erlebenden Welt das größte Vertrauen schenkt. Die protokollarischen Sätze bestätigen diese Welt, bleiben jedoch in ihren Aussagen von ihr getrennt und unabhängig. Die Worte, die Sprache, die Zeichen der nicht mündlichen Sprache werden als notwendiges Instrument betrachtet, um ein Bewußtsein und eine Sicht der Welt zum Ausdruck zu bringen, die möglicherweise eines Tages direkter sein werden, weil sie nicht mehr an die Kodierung und die Vermittlung durch Zeichen gebunden sind. Niemand kann sagen, ob diese Prognose begründet ist: sicher läßt sich hingegen das Verhalten derjenigen nicht gerade als umsichtig bezeichnen, die das gegenwärtige und irgendwie funktionierende Instrument (mündlich, durch Zeichen, sprachlich) im Vergleich zu einer direkten Kenntnis ohne Vermittlung durch Zeichen als unzureichend abwerten. Ohne also die Suche nach dem direkten Kontakt mit der Realität zu vernachlässigen, kann man bei den sonst üblichen Regeln einen Versuch wagen, sofern man den größtmöglichen Vorteil für die Kommunikation aus der sprachlichen Kommunikation ziehen will. Wer eine neue Straße in einem - ihm bekannten oder unbekannten - Gebiet markieren muß, wäre schlecht beraten, wenn er direkt auf der Erde durch Pfähle und Kreidestriche den Verlauf der Straße einzeichnen würde. Er täte besser daran, die vorhandenen, (eventuell auf ihre Richtigkeit überprüften) Landkarten zu benutzen oder selbst eine neue zu zeichnen, in der er das Gebiet ausmißt und dann auf dieser Grundlage vorgeht. Nur auf der Karte kann die Straße genau markiert und dann wie im Projekt vorgesehen gebaut werden. Der Vergleich ist aber nur bis zu einem bestimmen Punkt annehmbar. Es existiert in der Tat keine Welt und keine Realität, die als ein Gebiet betrachtet werden könnte, in dem wir uns ungezwungen bewegen können. Die Welt, die Wirklichkeit ist für uns stets nur ein Abbild. Die mündlich-sprachliche Darstellung ist das, was uns hier interessiert. Meiner Ansicht nach bietet das Kommunikationsinstrument der mündlichsprachlichen Darstellung noch unerforschte Möglichkeiten. Wenn wir es richtig nutzen, können wir unsere Kommunikation sowohl für die Weitergabe von Informationen und die Bewertung der Fakten (Tatsachen, Bewußtseinsstand) als auch
5.5. Drei funktionsbezogene Diskursfunktionen
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für eine intensivere auslegende Zusammenarbeit zwischen Sprechendem und Zuhörer verbessern. So gibt es spracheigene Kommunikationsmöglichkeiten, die sich durch eine sprachliche Aufarbeitung auf den neuesten Stand bringen lassen. Sicher besteht die so oft kritisierte Undurchsichtigkeit und Ungenauigkeit der Sprache, aber ebenso oft besteht eine ihr immanente verhaltene Kraft der Darstellung und der Kommunikation.
5.5. Drei funktionsbezogene Diskursfunktionen Vorgeschlagen wird eine Aufteilung der sprachlichen Kommunikation auf drei Bereiche: auf - die sprachlichen Konstruktionen, die die Dinge entweder darstellen oder sie umschreiben; - die sprachlichen Konstruktionen, die einen - semantischen oder umschreibenden - Sinninhalt aufweisen; - die sprachlichen Konstruktionen, die bestimmte - pragmatische oder handelnde - Funktionen im Diskurs im Namen von jemandem oder zu jemand anderem ausüben. Der kritische, aber im Grunde für die Kommunkationspraxis eher fruchtbare Hebel ist dort anzusetzen, wo sich die Beziehung zwischen den drei Ebenen der sprachlichen Konstruktion abspielt. Dafür sei ein Modell dargelegt. Wenn es beschrieben und kommentiert ist, soll ein Anwendungsbeispiel gegeben werden. Der Ausgangspunkt ist, wie immer, der Kommunikationsvorgang und die sich dabei ergebende auslegende Mitarbeit. Zweckmäßigerweise sei unsere Betrachtung zur Kommunikation auf das sprachliche Instrument begrenzt. Kommen wir auf obige funktionsbezogene Dreiteilung des Kommunikationsvorganges zurück, um einen anderen, nämlich den strukturellen Aspekt zu erläutern. Dieser weist drei Formen auf: - die syntaktisch-textliche
Form;
- die auslegend-semantische Form 14 ; - die strategisch-diskursive 14
Form.
Die „Auslegung" wird hier im Lichte der Theorie der Modelle (siehe A.Tarski, op.cit., S. 158) gesehen und zwar als Anwendung eines Modells oder einer allgemein logischen und abstrakten Form (in unserem Fall einer syntaktisch-textlichen Form) auf eine konkrete Kommunikation, wobei man die abstrakten Symbole (für Ausdrücke und Beziehungen) durch Zeichen für die ralitätsbezogenen Gegenstände ersetzt.
124
5. Kap.: Die semantischen Tiefenstrukturen
Die drei Formen sind in Funktionen unterteilbar. Das Modell setzt die wohlbekannte Strukturierung der Sprache in die drei - in verschiedenem Ausmaß in jeder sprachlichen Äußerung gegenwärtigen - Dimensionen voraus und zwar in die syntaktische, die semantische und die pragmatische. Es sei darauf verwiesen, daß die letztgenannte Dimension sich auf die Anwendung der Sprache bezieht, die ein Sprechender in jedem einzelnen konkreten Kommunikationsvorgang vornimmt, um seine Aussage in einen Kontext zu stellen, um sie seinem Zuhörer „anzupassen", um auf dessen Reaktion und auslegende Mitarbeit zählen zu können. Die diskursive Funktion stellt insbesondere eine Erweiterung der pragmatischen Dimension der Sprache dar. Sie befaßt sich mit einigen der typischen Anwendungsstrategien der Sprache als Mitteilungsträger. Diese typischen Anwendungsstrategien lassen sich als konstruktiv, schwörend oder faktisch bezeichnen15.
heraufbe-
Der Ausdruck „typisch" will auf die ständige Wiederholung der konstruktiven, heraufbeschwörenden und faktischen Funktion in der diskursiven Strategie hinweisen. „Typisch" bedeutet also „wiederholend".
Form-Funktionen Syntaktisch-textlich
16
des Redevorganges Interpretativ
Klassifizierungen beweisend
Beschreibungen
induktive und veridiktiv deduktive Strukturen
Benutzung des Beispiels
existentielle und universelle 17 Strukturen, die die semantischen Merkmale festlegen propositionale Ausdrücke
referentiell
thetische Begriffsbildungen
Diskursiv
behauptend
das Interesse weckend
15 Nach der Theorie der Sprechakte wird in einigen Fällen beim Aussprechen von bestimmten Worten, Texten, Reden, eine Tat vollbracht oder es werden konkrete Auswirkungen beim Empfänger hervorgerufen. Siehe J. Austin, op.cit. 16 „Syntaktisch" bezieht sich auf die logische Satzstruktur (beispielsweise: Subjekt - Prädikat - Objekt); textlich auf die Organisation der Beziehungen zwischen den Sätzen, zwischen den Satzgefügen (mehrere, zwischen zwei Punkten miteinander verbundene Sätze), um einen transphrastischen Diskurs oder Text zu bilden, in dem ein umfassender Sinn oder ein einheitlicher semantischer Verlauf erkennbar ist. In dieser Sicht ist sowohl das Wort „Veni. Vidi. Vici", wie auch der Titel „Göttliche Komödie" je ein Text. 17 Sind in der Form ausgedrückt: „Es existiert mindestens ein X, welches (bestimmte Merkmale besitzt) oder die x, die ... sind ...
5.5. Drei funktionsbezogene Diskursfunktionen
125
anaphorische und isotopische, deiktische, zur Schau stellende Textstrukturen
epistemische
handelnde (Sprachakte) aussagende
kategoriale Strukturen und modellbezogene Gerüste
proeretische (Bezug auf mögliche, gewollte faktitive und geplante Welten)
bewertende oder faktenbezogene
Modelle und Auslegungen
kontrafaktitive
(Anwendung der Modelle) heuristische
axiologische
hermeneutische konstruktive metaphorische und figurative symbolische projizierende heraufbeschwörende
Die in den drei Spalten wiedergegebenen Formen geben nicht die Gesamtheit der Formen wieder, die im semantischen und mitteilenden Diskurs vorkommen, noch stellen sie eine (fortschreitende, vom Allgemeinen zum Speziellen oder umgekehrt gehende usw.) Ordnung dar. Die drei Spalten wollen ganz einfach Beispiele für die drei strukturell-funktionellen Hauptaspekte der semantisch- kommunikativen Sprache geben. Gemeinsam stellen sie ein heuristisches Modell des Kommunikationsvorganges dar. Hier ist weder eine gründliche Untersuchung aller Bezeichnungen, noch deren vollständige Analyse möglich. Dafür sei auf die Abhandlungen und Handbücher der Logik und der Sprachwissenschaft oder selbst auf Abhandlungen mit Sondertheorien (wie im Fall der Theorie der Sprechakte) verwiesen. Für einige der in den drei Spalten genannten Bezeichnungen wird allerdings nachfolgend eine kurze Erklärung gegeben. Die syntaktisch-textlichen Funktionen sind dazu bestimmt, dem Diskurs eine rationale Struktur zu geben. Rational und nicht regelkonform oder normierend, weil - aus Gründen der Semantik - Abweichungen von der Regel oder Norm immer möglich sind, die neuschöpfend seltsame oder sogar bizzare, aber deshalb nicht weniger rationale Formen schaffen. „Wer ,vespert4, ißt gern einen Apfel", Werbeslogan, der für den Roller „Vespa" geschaffen wurde und der sicherlich eine bizarre Sprachform aufweist und dennoch über semantische Rationalität und Ausdruckskraft verfügt. Ja, der Slogan wurde deshalb in dieser erstaunlichen Form geschaffen.
126
5. Kap.: Die semantischen Tiefenstrukturen
Gerade darin liegt bekanntlich eines der semantischen Ausdrucksmittel der Werbesprache und nach Jakobson auch der poetischen Sprache. Bei den Bezeichnungen der ersten Spalte geht es um folgendes: Klassifizierung ist der geistige Vorgang, der der Konstruktion des Diskurses vorausgeht. Die Worte können in einem Diskurs Anwendung finden, wenn sie grammatikalisch und semantisch definiert sind. Wenn sie nicht definiert sind, müssen sie definierbar, d. h. einer semantischen Kategorie oder mehreren semantischen Kategorien zuweisbar sein. In die Rede führt man - normalerweise unauffällig - logische (induktive und deduktive) Überlegungen ein. Erstere werden oft durch scheinbar harmlose, gewöhnliche Schlüsselsätze eingeleitet, die in Wirklichkeit aber eine starke logisch-induktive Struktur aufweisen; beispielsweise: „Wieder einmal wurde festgestellt ..."; „Es gibt viele Fälle, in denen ..."; „Dies ist ein anderes Beispiel, das bestätigt, was schon so oft festgestellt wurde . . u s w . Ich sage „harmlos" und „gewöhnlich", weil die Induktion aus der Sicht der Logik einen unsicheren Stand hat; dies gilt allerdings nicht für eine kognitiv-natürliche Zielsetzung. In der Sprache kommt sie häufig zur Anwendung. Wenn wir nicht darauf zurückgreifen könnten, ließe sich kein sprachliches Bild der Realität geben. Praktisch wären wir zu keinem strukturierten Diskurs fähig. Ist er doch vor allem deshalb strukturiert, weil in ihm auf empirisch feststellbare Regelmäßigkeiten wie: „Der Schnee ist weiß", „Alle Raben sind schwarz" verwiesen werden kann. Die Deduktion weist hingegen eine stark in der Tradition verhaftete Struktur auf, selbst wenn die zeitgenössische Epistemologie sie in Frage stellt. Ihr Vorhandensein im Diskurs äußert sich beispielsweise in der kausalen Subordination und wird durch sie glaubhaft gemacht. Mit der Konditionierung unterwirft man eine Behauptung innnerhalb der Diskussion umweltbedingten, existentiellen oder anderen „Bedingungen". Die Protokollarischen Ausdrücke sind - wie uns Nagel lehrt - jene, die auf die einfachste und trockenste Art das Vorhandensein eines Faktums, einer Realität bescheinigen und zwar normalerweise mit „hier und jetzt". Beispiel: „7. März, 07.45 Uhr, blaue Vase auf gelbem Tisch". Oder „schwarzer Ofen" (Charles S. Peirce 17a ; was in einem Protokoll zu einem „Es gibt etwas Schwarzes, und das Schwarze ist ein Ofen" wird. Der Akzent fällt auf die Fähigkeit des Sprechenden, eine Tatsache oder die Realität als Behauptung außerhalb des Diskurses zu formulieren, also zu protokollieren; oder als Situation, deren Bestehen der Diskurs allerdings mehr oder weniger glaubwürdig darzustellen vermag. Die deiktischen und ostentativen Redeformen sind jene, die sich in der „einfachen" Angabe von einem Etwas außerhalb des Diskurses niederschlagen („Dei17a
2.624.
C. Sanders Peirce, Collected Papers , Harvard Un. Press., Cambridge Mass., 1935,
5.5. Drei funktionsbezogene Diskursfunktionen
127
xis"). Die der Deixis und der Ostentation eigene „Einfachheit" verleiht dem Gesagten eine besondere Stärke 18. Die Anapher ist das Partikel oder sinnvolle Wort, das die Sätze im Satzgefüge und die Satzgefüge im Text miteinander verbindet. Beispiel: „Er sah Judith, bemerkte ihre Blässe, jene Blässe, die ihn stets betroffen gemacht hatte, aber diesmal als perlfarbene Leuchtkraft ihres Gesichts ...". Es gibt die syntaktische oder die semantische Anapher. Wenn die Anapher semantisch gebildet ist, wenn sie also denselben Sinninhalt mit verschiedenen Worten zum Ausdruck bringt, ist sie auch eine Isotopie , was wörtlich „derselbe" („Iso") und Sinninhalt oder Gegenstand („Topos") heißt. Sie ist umso wirkungsvoller, je „verborgener" sie ist; denn dann wirkt sie wie ein verhaltener Aufruf. Berühmt ist die Isotopie des Wassers in der Novelle der Brüder von Lisabetta im „Decameron" von Boccaccio und die der Stille im Gedicht „La sera fiesolana" des italienischen Dichters G. D'Annunzio. Bei den kategorialen Gebilden haben wir es mit Formen der rationalen Diskurses zu tun, die weniger bekannt und anerkannt sind als die traditionelleren der Induktion und Deduktion. Der konstruktive Gedanke ist für die logische Struktur der politischen Rede grundlegend 19. Er ist für eine Überlegung maßgeblich, die durch „Wahl und Entscheidung" und nicht durch lineare Folgerung von einem Entscheidungspunkt zum anschließenden weiterschreitet. Wenn man in seinen Gedanken auf einen Problem"Knoten" stößt, muß man sich für eine der vielen möglichen Lösungen entscheiden. Die logische Deduktion ist nicht ausreichend, ja nicht zweckdienlich. Ich bin am Flughafen und merke, daß ich meine Flugkarte im Büro vergessen habe. Was mache ich? Verzichte ich auf die Reise? Rufe ich an, damit sie mir gebracht wird (aber ich weiß nicht, ob dies zeitlich möglich ist)? Oder kaufe ich eine andere Flugkarte (aber ich weiß wieder nicht, ob mir die Zeit dazu reicht) ...? Ich muß also die Entscheidung für ein Verhalten treffen, für die mir einige Grunddaten fehlen. Ich bin nicht einmal sicher, ob die Flugkarte im Büro ist. „Konstruktiv" und nicht „deduktiv" erarbeite ich mir demnach eine Lösung, wähle eine der vielen möglichen Handlungsweisen aus. Sowohl das tägliche Verhalten als auch die wissenschaftliche Überlegung, besonders wenn sie an die Grenze des bereits Bekannten stößt, ist durch das konstruktive Vorgehen geprägt. In einer derartigen Situation mangelt es an Daten; oder sie sind unsicher; oder es gibt eine Reihe von nicht genau von einander abgegrenzten variablen Größen. Unter diesen Umständen läßt sich nicht mit der deduktiven Überlegung vorgehen. Es gilt auszuwählen und zu entscheiden, welche Informationen man sich im Hinblick auf die ihnen voraussichtlich innewohnende Wichtigkeit 18 19
gabe).
Siehe das Kapitel „Die Deixis der Vremia". Siehe P. Trupia, Logica e Linguaggio della Politica , F. Angeli, Milano 1986, (2. Aus-
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5. Kap.: Die semantischen Tiefenstrukturen
beschaffen will und wieviel man „auszugeben" bereit ist, um sie zu erhalten. Dabei handelt es sich um eine „Entscheidung". Die Festlegung einer Rangordnung in der Bedeutung der Daten und die Erfassung der unbekannten Daten, die versuchsweise Erstellung eines Modells, seine faktenmäßige, rationale und experimentelle Erprobung, dies alles stellt den Bereich des konstruktiven Gedankens dar. Für das Ziel dieser Untersuchung ist die Erkenntnis relevant, daß in der normalen Kommunikation ständig Sinninhalte „aufgebaut werden": also auslegende Modelle des Gesagten - oder des Textes - oder des Nichtgesagten - oder des „Vorausgesetzten" - das aber im bekannten die Kommunikation umfassenden Kontext gegenwärtig ist, (was wir bereits über ein Thema wissen), oder was sich aus der Sitte und den Gewohnheiten herauslesen läßt usw. Die Funktionen des Diskurses sind gegenseitig im aufsteigenden Sinne, in jeder Spalte des Modells, und von links nach rechts und von rechts nach links von einer Spalte zur anderen verflochten. Eine syntaktisch-textliche Form ist die Voraussetzung für die Erzeugung einer auslegenden Form im Diskurs; und diese ist wiederum für die Schaffung einer bestimmten Form des Gesagten maßgeblich. Die Form (oder syntaktisch-textliche Funktion) ist letzten Endes eher neutral, weil der Sprecher bei der Wahl seiner Diskursstrategie von ihr am wenigsten in Anspruch genommen wird. Er wird es hingegen bestimmt erheblich, sofern ein bestimmter kategorialer Bezug 20 oder eine Logik 2 1 übernommen wird; nicht weniger ist er es, wenn er den Worten, den Sätzen, der (textlichen) Gesamtheit seines Diskurses unter den vielen möglichen Sinninhalten einen bestimmten semantischen Wert zuweist. Im höchsten Maße wird er ins Spiel der Rede-Funktionen eingebunden, wenn er bei Benutzung der strukturierten und mit Sinninhalt versehenen Sprache (Funktion 1 und 2) die Aufmerksamkeit wecken will, wenn er sie heraufbeschwört, vorschlägt, Fakten in Werte verwandelt und umgekehrt Werte in Fakten usw., wenn er seine aussagende Rolle voll erfüllt, sich also im Diskurs selbst ins Spiel bringt. Zu den Begriffen in der zweiten Spalte des Modells läßt sich folgendes sagen. Die Beschreibung ist der Traum der neopositivistischen und realistischen Philosophen und aller Wissenschaftler. Für sie ist es selbstverständlich, daß es das „Faktum", den „Zustand der Dinge" (die „Tatsache") gibt und daß die Sprache dies wiederzugeben imstande ist.
20 Die Kenntnis des Systems des kategorialen Bezugs als notwendige, wenn auch unbewußte Voraussetzung der diskursiven Produktion ist in S. Körners, Sistemi di Riferimento Categoriale , Feltrinelli, Milano, 1983, dargelegt. Das System des kategorialen Bezugs baut auf dem Glauben an Grundrelationen auf, die nicht beweisbar sind. Es führt zu den ordnenden und auslegbaren Modellen. 21 Für die Kenntnis des logischen Pluralismus, siehe M. L. Dalla Chiara Scabia, Logica, Mondadori, Mailand 1979. Im Text von Dalla Chiara wird die heutige Situation des „logischen Pluralismus" mit anderen Logiken außerhalb der klassischen und formalen präsentiert.
5.5. Drei funktionsbezogene Diskursfunktionen
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Im Diskurs - und nicht einfach in der Sprache - soll die Anwendung der Umschreibung dazu dienen, dem Zuhörer das Gefühl der größtmöglichen Objektivität zu geben. Die Beschreibung deutet also auf Redeformen wie beispielsweise die Beteuerung hin und geht aus den syntaktisch-textlichen Formen (Spalte 1 ) wie der deduktiven, der deiktisch-ostensiven oder protokollarischen hervor. Die Benutzung des Beispiels ergibt sich in der sprachlichen Zusammenfassung von Gegebenheiten durch den Redenden, in denen das Gesagte zutraf. Das wiedergegebene Geschehnis wird zum „Beispiel": es wird zum Merkmal einer Klasse. Es ist übrigens klar, daß die sprachliche Übernahme des der Realität entnommenen und aus tausend Dingen ausgewählten - Objektes zur „Aufwertung" eines spezifischen Faktums führt; was der Funktion der Spalte 3 entspricht. Die Benutzung des Beispiels im Diskurs ist eine schwache Vorgangsweise, aber gerade deshalb bekommt sie Glaubwürdigkeit und kann starke Auswirkungen haben. Folgendes Beispiel zeigt dies deutlich 22 : „ . . . die staatlichen Körperschaften haben (gegenüber dem Staat) Eigenständigkeit erlangt ... Man schaue sich die Dinge in Frankreich an: hier geht die Verwaltung selbständig vor, trifft die politischen Entscheidungen, ich unterstreiche „politischen" ... In Deutschland ist dies vielleicht selbst noch ausgeprägter ... Dasselbe gilt für Österreich und Großbritannien". Diese Beispiele werden von M. S. Giannini vorgebracht, um folgende These zu beweisen: „Worum es mir ging, ..., war vor allem der Idee entgegenzutreten daß die Verwaltung eine reine Angelegenheit des Staates ist... Das ist nicht wahr und ist aus verschiedenen Gründen nicht mehr wahr." Die Benutzung des Beispiels ist sehr häufig und zwar nicht nur in der Alltagssprache, sondern auch in der Berufssprache anzutreffen. Es reicht, zwei oder drei Beispiele zur Erläuterung der eigenen These anzuführen, um auf jede Art von Beweisführung oder Vorlegung einer ausführlichen Dokumentation zu verzichten: „In den beiden letzten von mir in Japan besuchten Betrieben existiert die manuelle Arbeit nicht mehr", „Es ist nicht wahr, daß nur die italienischen Städte schmutzig sind; der Platz vor meinem Hotel in London war voller Abfälle". Man hat den Eindruck, es handle sich um eine umfassende Darstellung der Realität; stattdessen hat man es nur mit der Verallgemeinerung der eigenen (beschränkten) Erfahrung zu tun. Ein Fall eines als stark betrachteten Beispiels wird durch folgende Formel eingeleitet: „Man muß nur an ... denken"; oder „verweisen wir auf ...". Also: „es langt, an den Fall von Schweden zu denken, wo der allgemeine Wohlstand das erschreckende Problem der Wochenendtrunkenheit hervorgerufen hat". Der Fall wird nicht als solcher erwähnt, sondern als Niederschlag eines soziologischen Gesetzes, wonach „die Einkommenserhöhung über ein bestimmtes Maß hinaus nur zu schwerwiegenden sozialen Problemen wie der allgemeinen Trunkenheit führen kann". 22
M. S. Giannini, Prolusione al Corso di studi legislativi dell'lSLE, Roma, 1992.
9 Trupia
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5. Kap.: Die semantischen Tiefenstrukturen
In den Stegreif-Statements bei Kongressen wird sehr häufig die Wortfolge „es langt der Hinweis a u f . . b e n u t z t . Es würde zu weit führen, der Reihe nach alle Funktionen der drei Spalten zu untersuchen, und eine ganze diesem Thema gewidmete Abhandlung erfordern. Man kann sich darauf beschränken zu wiederholen, daß das Verhältnis zwischen den drei Spalten nicht linear, sondern vernetzt ist; daß also eine Funktion der dritten Spalte, die sozusagen aus Funktionen der vorhergehenden Spalte erzeugt wurde, ihrerseits den Sprecher dazu verleiten kann, auf Funktionen der ersten Spalte zurückzugreifen, um eine andere Kette von Redeformen aufzubauen.
5.6. Die symbolische Betriebslandschaft nach Pasquale Gagliardi Ein besonderer semantischer Bereich, der scheinbar außerhalb der Logik bei der Schaffung von Sinninhalten steht, ist der Bereich der Symbole. Aber dies ist nur ein oberflächlicher Eindruck: auch das Symbol unterliegt einer logischen Syntax. Sie kommt dann zum Ausdruck, wenn die Symbole nicht wie natürliche, sondern wie künstliche Objekte klassifiziert werden. Als einer der ersten - und als erster in Italien - hat dies Pasquale Gagliardi festgestellt, der immer schon die betrieblichen „intangible assets" untersucht hatte. Aber das Schema wäre auch auf die dem Konsum zugeführten „ intangible goods " - nicht als Leistungen, sondern als Symbole der postindustriellen Gesellschaft - auszudehnen. Mitte der achtziger Jahre nahm Gagliardi an der Gründung eines internationalen „Networks" über die Unternehmenskultur und an der Schaffung einer „Standing Conference on Organizational Symbolism (SCOS)" teil. Diese wiederum verfügte über ein eigenes Symbol, nämlich den vom Heiligen Georg der Vernunft nicht besiegten Drachen. Der Drache ist also als Ort der Impulse und Spannungen zu sehen, der nicht auf den „ esprit de geometrie " rückführbar ist. 1990 veröffentlichte Gagliardi eine Sammlung von Abhandlungen über die Unternehmenskultur und den Unternehmenssymbolismus23. Das Werk vereint Beiträge mehrerer Wissenschaftler aus verschiedenen Ländern zu symbolischen Aspekten und zu Sprachstrukturen im Betriebsleben, also Gebäude, Gegenstände, Bilder, Formen, Verhaltensweisen; jene „wahrnehmende Welt, die gleichzeitig das Produkt und das Szenario des industriellen Wirkens ist" (Absatz V). Auf einige der originellsten im Buch erörterten und analysierten Themen möchte ich deshalb eingehen, weil sie einen Eindruck vom Inhalt des Buches zu geben vermögen. Es handelt sich um jene Prozesse, mit deren Hilfe das Betriebs23 P. Gagliardi (Hrsg). Symbols and Artifacts. de Gruyter, Berlin - New York, 1990.
Views of the Corporate Landscape, Walter
5.6. Die symbolische Betriebslandschaft nach Pasquale Gagliardi
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Szenario gesehen, aufgebaut und mit Sinninhalten versehen wird, so daß „die physischen Strukturen in symbolische Ressourcen verwandelt werden" 23a . „Das dialektische Verhältnis zwischen der Arbeitsorganisation und der Raumstrukturierung" 2 3 b , „Einstellungs- und Verhaltensunterschiede als Reaktion von Angestellten mit eigenem Büro und Angestellten im Großraumbüro 4'. „Die Analyse und die Interpretation der Sprache der Führungskräfte unter einem symbolischen Gesichtspunkt 44230 . Besonders interessant sind die analytischen Anregungen von Gagliardi in den einleitenden Ausführungen. Gagliardi weist darauf hin, daß das Interesse an den materiellen sprachlichen und stets symbolischen - Unternehmens-Kunstgriffen darauf ausgerichtet ist, die (früher vernachlässigten, obwohl untrennbar mit den epistemischen verbunden, auf die sich bisher die Aufmerksamkeit konzentriert hatte) ethischen und emotionalen Seiten der Unternehmenskultur zu erfassen. Er weist in diesem Zusammenhang auf jenen Abschnitt in Humes Werk hin, in dem die Kämpfe eher vom Trompeter und vom Trommler als vom Piken- und Schwerterschwinger gewonnen werden. Der Golfkrieg hat es bestätigt. In der Arbeitsorganisation „rufen (Symbole) Gefühle hervor und treiben zur Handlung an44 (S. 18). Er erwähnt die Fälle von Arbeitsplätzen, die in Festungen verwandelt, in nach außen völlig abgeschottete Bereiche strukturiert, als selbstständige Einheiten völlig vom Umfeld isoliert wurden (S. 22-24); es handelt sich dabei um ein Verhalten, das zu Lasten der Effizienz geht, aber andererseits auf die Verteidigung einer offensichtlich unverzichtbaren symbolisch-kulturellen Identität abzielt, die keiner Verletzung ausgesetzt werden soll. Ich selbst habe in vielen Unternehmen die Gleichgültigkeit bemerkt, mit der ein hoher Preis in Form von Effizienzeinbußen gezahlt wird, wenn sich das Unternehmen vom Umfeld abkapselt. Ich glaube, selbst einen echten organisatorischen Virus „gefunden 44 zu haben, der diese Unternehmen befällt und den ich „E.E.I.44 getauft habe: Erworbene Effizienz-Immunität. Es handelt sich um die „organisatorische Krankheit 44, die aus der Sicht der Unternehmung als „hortus conclusus 44 und „locus amoenus44 hervorgeht. Die Post funktioniert nicht? Wir verfügen über unsere eigenen Kurierdienste! Die staatlichen Universitäten befriedigen nicht? Wir gründen unsere private Universität! Die Staatspolizei garantiert unsere Sicherheit nicht? Wir schaffen uns Privatwächter an!
23a Per Olof Berg, Kristian Kreiner, zitiert von P. Gagliardi (Hrsg). Symbols and Artifacts. Views of the Corporate Landscape, op. cit. 23b Michael Rosen, Wanda Orlikoski, Kim Schmahmann, zitiert von P. Gagliardi (Hrsg). Symbols and Artifacts. Views of the Corporate Landscape, op. cit. 23c Claudia Piccardo, Giuseppe Varchetta, Gianni Zanarini, zitiert von P. Gagliardi (Hrsg). Symbols and Artifacts. Views of the Corporate Landscape, op. cit. 9-
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5. Kap.: Die semantischen Tiefenstrukturen
Der intern abgesicherte Schutz und Ersatz für den Mangel an externer Leistungsfähigkeit wird somit zum kostspieligen Symbol des Stolzes und der Selbständigkeit des Unternehmens. Abschließend seien die Ergebnisse einiger Untersuchungen erwähnt, die das Unternehmen in der Praxis zum Gegenstand haben. Beeindruckend ist die Beschreibung der „bürokratischen Klöster": leere Korridore, fahle Wände, Korrektheit der Dekorationen, eine vom Arbeitsethos geprägte Atmosphäre 230. Die Zimmer der Chefs unterscheiden sich von denen der Untergebenen: je einfacher die letztgenannten, umso prunkvoller die erstgenannten, ja selbst mit einigen Zugeständnissen an das Besondere. Der Symbolismus überträgt sich selbst auf die Verhaltensweisen. J. Larsen und M. Schultz zeigen die Symbole der Effizienz im Verhalten des Managers auf 2 3 e : das stets griffbereite Notizbuch; die ständige Eile; die Regeln für die Sitzordnung bei Versammlungen; die Art der Übermittlung eines Dokuments an den Vorgesetzten; die Art, mit der dieser dem Gesprächspartner seine Aufmerksamkeit schenkt; die Art der Protokollierung von informalen Besprechungen und Begegnungen.
23d Janne Larsen, Majken Schultz, zitiert von P. Gagliardi (Hrsg). Symbols and Artifacts. Views of the Corporate Landscape, op. cit. 23e Siehe Fußnote 23d.
6. Kapitel: Die Aufbaubedingungen des Diskurses
6.1. Aufbauformen Versuchen wir jetzt, die Aufbauformen des das Selbst aktivierenden Diskurses in Kategorien einzuteilen. Zur Verwirklichung einer bewußten und gezielten Redestrategie - sei sie nun darauf ausgerichtet, das Selbst des Sprechenden oder des Zuhörenden oder beider zu offenbaren oder es (aus strategischen oder taktischen Gründen) zu verbergen, um es der zwischenmenschlichen Interaktion zu entziehen, ist zunächst die Diskurssituation zu klären. Sie ist dahingehend aufzufassen, daß sie nicht nur das nähere Umfeld der sprachlichen Interaktion, sondern auch das sich in die Vergangenheit ersteckende weitere Umfeld umfaßt. Die umfangreichste Kategorie der mannigfachen Konstruktionsformen der sprachlichen Interaktion wird als Bedingung für den Diskursaußau bezeichnet. Sie teilt ihn in verschiedene Bestandteile ein, von denen in diesem Kapitel folgende erwähnt werden sollen: - die Präsupposition\ - die Topikalisierung; - die Kompetenz oder technische Beherrschung der Inhalte durch den Sprechenden oder Angesprochenen; - die auslegende Mitarbeit; - di e Aussage; - die Bedingungen für die geglückte (felicitous) kurses);
Aussage (der Ausdrücke des Dis-
- die Fähigkeit, das Interesse zu wecken - die Sprechakte, die manipulierenden Akte, die Gesellschaftsmasken. Diese Auflistung ist nicht vollständig. Sie kann jedoch eine genaue Vorstellung der Stellung des Subjekts im Diskurs - als Sprechender und als Angesprochener in ihrer kooperativen oder polemischen Beziehung - vermitteln. Diese Stellung schafft die „Bedingungen für den Diskursaufbau". Es ist zu bedenken, daß einige der betrachteten Elemente einen positiven oder negativen Sinn und im Diskurs „in praesentia" oder „in absentia " eine Wirkung
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6. Kap.: Die Aufbaubedingungen des Diskurses
haben können. Im ersten Fall handelt es sich um die sprachliche Kompetenz oder um die Inhaltskompetenz; im zweiten Fall unter anderem um die Aussage.
6.2. Anwendungsfälle und Beispiele Die Aussage eines „Textes" als selbstverständlich, als völlig klar zu empfinden, ist die Folge einer der stärksten Manipulationen, die dieser „Text" bewirken kann. Es handelt sich dabei um die Manipulation der Voraussetzung. Ich erhalte beispielsweise eine freundliche Einladung zu einer Veranstaltung. Es handelt sich um die Einladung, die ich zu erhalten hoffte. Am unteren Rande der Karte finde ich die geheimnisvolle Abkürzung „R.S.V.R"; links steht eine noch rätselhaftere Aufschrift: „weiße Krawatte". Die Veranstalter „setzen voraus", „nehmen als selbstverständlich an", „sind der Meinung" (sicher gutgläubig), daß ich „ihrem richtig auslegendem Kreis angehöre", daß ich beim Lesen des Textes der Einladung über alle - möglicherweise bereits seit Generationen in ihrem Besitz befindlichen - Interpretationssmittel verfüge. Wenn ich auf den Dialog auf Distanz nicht reagiere und meinen von meinen Gesprächspartnern „einprogrammierten" Status somit leugne, stolpere ich in ihre semantische in der Einladung aufgestellte Falle. Ich kann reagieren, indem ich mich von Freunden und Bekannten beraten lasse, vor denen ich meine Unkenntnis von bestimmten Gesellschaftsregeln nicht zu verstecken brauche; oder ich kann mich bei den Gastgebern erkundigen, denen ich dadurch klar die Verschiedenheit meines Status von dem ihrer Gesellschaftsschicht zum Ausdruck bringe. Möchte man jedoch die Einladung annehmen, ist es vielleicht ratsam, diese Verschiedenheit zu verbergen, bevor sie als solche erkannt wird. Man kann sich natürlich auch fragen, warum man eingeladen wurde: aus Liebenswürdigkeit? oder weil einem eine Rolle in der geplanten Veranstaltung zugeteilt wird? Sollte dieser zweite Fall zutreffen, kann man die Auseinandersetzung „erzwingen" und die eigene Unsicherheit darlegen. Der Wert, der dem Geladenen für seine Rolle von den Veranstaltern zugesprochen wurde, wird die Auskunft wert sein und enthält vor allem die Bereitschaft, die Verschiedenheit des verunsicherten Gastes in Kauf zu nehmen; eines Gastes, der verunsichert ist, weil er aus einer „anderen" Welt kommt. Aus dem Beispiel geht auch hervor, daß die „Art" meiner Fragestellung nicht ins Gewicht fällt, wenn ich erst einmal beschlossen habe, sie vorzubringen. Wenn ich die Frage stelle, werde ich aber gegen die gesellschaftlichen, Regeln der Etikette verstoßen, die man bekanntlich nicht erlernt, sondern sich - innerhalb einer bestimmten Gesellschaftsschicht - durch Nachahmung aneignet. Abgesehen von diesem Beispiel ist hinzuzufügen, daß die Voraussetzung in jeder Rede enthalten ist, da die Sprache im Kommunikationsvorgang nicht alle zur Schaffung eines Sinninhaltes notwendigen Informationen oder Hinweise kodieren
6.2. Anwendungsfälle und Beispiele
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kann. Es ist also auch Aufgabe des Diskurses, früher erworbene Kenntnisse zu aktivieren; sie stellen sozusagen - als „Enzyklopädie" der Konventionen, Bräuche und guten Manieren - das Kultursubstrat unserer Gruppe, unserer sprachlichen Gemeinschaft oder Zivilisation dar. Der italienische Sprachwissenschaftler Umberto Eco gibt folgendes Beispiel: „Wenn man mir sagt: „Gestern hat Berlusconi (italienischer Medienmagnat) den „Corriere della Sera" gekauft, muß ich wissen, ob Berlusconi gestern etwas am Zeitungsstand erworben oder in einer Aufsichtsratssitzung beschlossen hat" 1 . Eine theoretische Antwort läßt sich nicht geben. Eine schnelle Überprüfung der Situation ist erforderlich. Manchmal reicht der eigentliche Kontext - oder besser gesagt: das sprachliche „Umfeld" - des Ausdrucks aus. Wie man aus folgenden Satz ersehen kann: „Weißt Du, gestern habe ich Berlusconi getroffen". „Ja, wo denn?". „Er war auf der Piazza Cadorna. Er hat den „Corriere della Sera" gekauft". Theoretisch besteht die Zweideutigkeit noch, aber konkret ist die Mitteilung durch die deiktischen Worte: „auf der Piazza Cadorna" und „gestern" geklärt. Uns interessiert hier die Voraussetzung als Mittel der manipulierenden sprachlichen Interaktion, die auf den Angesprochenen psychologisch, sozial und organisierend Einfluß nehmen will. Schauen wir uns also zwei weitere Beispiele an. Das erste Beispiel betrifft den Artikel der „Lettera finanziaria („Finanzbrief 4) 1989", Ν. 41, mit dem Titel „Mondadori : der dritte Weg". Mit diesem Beispiel eröffne ich das Thema, das die zweite Aufbauform der interaktiven Rede betrifft: die Kompetenz oder die sprachtechnische Beherrschung der Inhalte durch den Sprechenden und/oder den Angesprochenen. Der Artikel der „Lettera" geht auf die Notwendigkeit des Konzentrationsprozesses im Verlagswesen und in anderen Bereichen ein, um dem Wettbewerb in der Industrie nach der Schaffung des europäischen Binnenmarktes im Jahre 1992 entgegenzutreten. „Im italienischen Verlagswesen ist ein Konzentrationsprozeß im gange", stellt der Autor des Artikels fest und fährt fort: „diese Tendenz scheint sich weiter zu entwickeln. Niemandem ist es entgangen, daß sowohl der italienische Großindustrielle De Benedetti als auch Berlusconi als Chef seines Medienimperiums den Verleger Rusconi hofieren ...". Ich habe „niemandem " insofern hervorgehoben, als es sich dabei um eine manipulierende Aussage handelt, da als nicht denkbar vorausgesetzt wird, daß jemand das Geschehen im Verlagswesen nicht kennt. „Niemand", so ließe sich einwenden, im beschränkten Universum der Leser des „Briefes". Aber auch diese Annahme ist alles andere als sicher. Wenn aber ein solcher „jemand" beispielsweise mitten in einer Gruppe von Finanzfachleuten und Managern steht, die den Beginn irgendeiner Aufsichtsratssitzung abwarten, wird er bestimmt nicht mit einem „Ach wirklich, De Benedetti und Berlusconi ... ?" daher1 U. Eco, La Bustina di Minerva, Sparte in der Zeitschrift „L'Espresso", 24. Dezember 1989.
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6. Kap.: Die Aufbaubedingungen des Diskurses
kommen. Er würde dann nämlich als der Nichtinformierte dastehen, womit er seinen Status als Finanzfachmann oder Manager in den Augen der Anwesenden möglicherweise in Frage stellt. In einer strategisch ausgerichteten sprachlichen Interaktion könnte er „sich selbst herabsetzen, um sich ins Licht zu setzen", wenn er beispielsweise sagt: „Ist das wahr? Sagt mir, was ihr wißt. Ich weiß überhaupt nicht Bescheid". Er könnte mit dieser Aussage einem kenntnisreichen Informanten schmeicheln oder selbst feststellen, daß er nicht der einzige ist, der nicht Bescheid weiß. Der „Brief" enthält eine andere Manipulation, die in unserer Aufzählung der konstruktiven Formen des interaktiven Diskurses als „Topikalisierung" bezeichnet wird. Bevor wir uns jedoch damit befassen, betrachten wir kurz den Inhalt des Begriffes „Topikalisierung". „ Topikalisierung " kommt von „ topic also dem Asudruck, der für Thema, Gesprächsgegenstand steht. Er wird in der Regel dem Begriff des „ Kommentars " gegenübergestellt, also den Aussagen über den im Zentrum des Gesprächs stehenden Gegenstand. Wir haben es beim „Topic" nicht mit einer syntaktischen Kategorie zu tun: es muß nicht unbedingt das Subjekt des Satzes sein oder im Hauptsatz eines Satzgefüges stehen. Man „topikalisiert" einen Text, indem man den Zuhörenden (den Angesprochenen) veranlaßt, ein bestimmtes Thema als das „Subjekt" zu wählen, über das man spricht, sprechen muß, über das es gut ist zu sprechen, zu dem Informationen gegeben oder klare Wertungen formuliert werden. In dem einfachen Satz „Luigi hat heute die Fensterscheibe mit einem Stein zerbrochen" 2, kann das „Topic" sowohl „Luigi" als auch das „Fenster" oder der „Stein" sein und zwar je nachdem, ob der Satz als Information über die Tat von Luigi gedacht ist oder über den zugefügten Schaden angesichts der Tatsache, daß Luigi täglich einen Schaden anrichtet, oder über das Instrument, mit dem das Glas zerbrochen wurde, da Luigi dasselbe Fensterglas am Vortage mit dem Kopf zerbrochen hatte. Man könnte selbst zu einer vierten Topikaliserung kommen, wenn man den Satz als Antwort auf folgende Frage interpretieren würde: „Nun, was wurde heute zerbrochen?" 3. So wie „topikalisiert" wird, wird auch „enttopikalisiert u und zwar stets mit dem Ziel, manipulativ auf den Zuhörenden einzuwirken; wie wenn auf die Bitte um ein 2 3
P. Violi, G. Manetti, L'analisi del discorso , Espresso Strumenti, Milano, 1979, S. 36.
Die „Topikalisierung'' wird häufig in der Politik benutzt. Beispielsweise „topikalisierte" am 4. Januar 1989 A. Forlani. der damalige Sekretär der italienischen Partei Democrazia Cristiana, auf deren Parteitag das Thema der Bekämpfung des Verbrechens der Entführung, wobei er für die Einführung der Todesstrafe für Entführer vorschlug, wenn die Entführten von den Entführern ermordet wurden oder in der Gefangenschaft starben. Die - mehr oder weniger zufällige - „Topikalisierung" wird zur „Semantisierung", wenn sie ohne „Absprache" mit einer auf das Thema ansprechbaren Öffentlichkeit erfolgt. Paola Gaiotti, „linksorientierte" Katholikin „topikalisierte" dasselbe Thema einen Tag später mit folgenden Worten: „Der Vorschlag Forlanis ist eher eine Kapitulation vor dem Zerfall der Gesellschaft und des Staates als die Möglichkeit einer annehmbaren Lösung". Der italienische Politiker Pannella griff hingegen auf die rhetorische Figur der Parodie zurück und nannte Forlani Forlanescu.
6.2. Anwendungsfälle und Beispiele
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Finanzdarlehen nicht mit einem „ja" oder „nein" geantwortet wird, sondern mit der Gegenfrage: „was machst Du mit diesem Geld?" In der journalistischen Überschrift ist die Nachricht im Titel „topikalisiert", während die Kopfzeile den Kommentar und die Zusammenfassung oft eine „Fokalisierung" darstellt. Die „Topikalisierung" wird vom Sprechenden im Laufe seines Diskurses „geschaffen" und normalerweise vom Angesprochenen - möglicherweise unbewußt akzeptiert. Er könnte sie aber auch ablehnen, wenn man - wie im erwähnten Falle des Darlehens - auf die Frage: „was machst Du mit dem Geld?" mehr oder weniger gereizt mit den Worten antworten würde: „Es geht Dich nichts an, was ich damit machen will. Leihst Du mir nun das Geld oder nicht?" Nach diesen Ausführungen zum Topikalierungsprozeß kehren wir zum bereits erwähnten Text der „ Lettera finanziaria also zum allgemeinen, noch nicht topikalisierten Thema „Mondadori: der dritte Weg" zurück. Es gibt eine Auseinandersetzung zwischen den beiden Unternehmern De Benedetti und Berlusconi, sagt der Brief; diese Auseinandersetzung ist eine Neuheit; und er fährt fort mit: „Und sofort haben sich die Spitzen des Kartellamtes mit dem lobenswerten Ziel in Bewegung gesetzt zu verhindern, daß es in Italien zu einer übermäßigen Pressekonzentration kommt ...". Hier haben wir es mit einer massiven „Enttopikalisierung" zu tun. Man wertet das aktuelle „Topic" mit viel Ironie ab; „die Konzentration im Verlagswesen ist ein Übel und muß mit einem Kartellgesetz bekämpft werden". Die ironische Anspielung - also echter Sarkasmus - liegt in den beiden von mir hervorgehobenen Worten: „Spitzen" und „lobenswert". Die Manipulation wird dort noch stärker, wo der Artikel der „Lettera" zum Abschluß von einem Text von nicht einmal 300 Wörtern feststellt, „nun wäre es nützlich, mit Verstand zu arbeiten". So kommen die „Köpfe" der „Lettera" zum Zuge und schlagen eine Lösung des Problems der „Konzentration" vor, womit sie mit den Worten „unentbehrliche Dimension für die Wettbewerbsfähigkeit im Bereich des Verlagswesens und in anderen Bereichen im „Europa nach 1992" erneut zur „Topikalisierung" schreiten. Betrachten wir jetzt einen anderen - in gewisser Weise dramatischen - Fall der ausdrücklichen Manipulation des Angesprochenen durch die „Topikalisierung", die den Einsatz einer subtilen Ironie nicht scheut. Dabei wird dem Angesprochenen seine Rolle in der auslegenden Mitarbeit genommen und ihm keine andere Wahl als die totale Passivität gegenüber dem Sprechenden gelassen. Das Ereignis, von dem die Medien der ganzen Welt am 5. April 1989 berichteten, betrifft den Besuch Gorbatschiovs auf Kuba beim „Genossen" Fidel Castro. Gorbatschiov kommt nach Kuba, um sowohl die „Perestroika " zu „verkaufen", als auch um die Einschränkung der brüderliche von der UdSSR Kuba zugesicherten Hilfe anzukündigen und schließlich, um im Rahmen besserer Beziehungen zu den USA Castro einige Illusionen zu nehmen.
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6. Kap.: Die Aufbaubedingungen des Diskurses
Castro akzeptiert die „ Topikalisierung " der offiziellen Ansprache Gorbatschiovs nicht und gibt eine Darstellung von seiner Sicht der internationalen Beziehungen, wobei er die UdSSR in seine Tirade über die Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten miteinbezieht. Er bringt zum Aussdruck, daß die „Perestroika" in der UdSSR und ein „Korrekturprozeß" in Kuba zwei verschiedene Dinge sind, da auch die Situation der beiden Länder unterschiedlich ist. „Kuba - fügt er mit bemerkenswerter Selbstsicherheit hinzu - hat keinen Stalin gehabt, es sei denn, jemand wolle mich als solchen betrachten ... Dieselbe Formel in zwei so verschiedenen Ländern anzuwenden, wäre absurd, schlichtweg dumm ... Jedes Land muß so frei sein, daß es sein eigenes Modell zum Aufbau des Sozialismus erstellen kann; die Verteidigung dieser Freiheit ist ein großes Verdienst von Gorbatschiov. Wenn dann ein sozialistisches Land zum Kapitalismus überwechseln will, können und wollen wir es ihm nicht verbieten ...". Gorbaciov war nicht in der Lage, sich vom vorbereiteten Text seiner Rede zu lösen. Er hat daher von Castro als „einem der großen Revolutionäre unserer Zeit gesprochen, von einem legendären Helden". Er hat ihn nicht daran erinnert - und somit darauf verzichtet, seine anfängliche „Topikalisierung" erneut zu bestätigen, wie es wohl erforderlich gewesen wäre - daß die Notwendigkeit der „ Perestroika " auf die Finanzmisere sowohl der UdSSR, als auch Kubas zurückzuführen ist; allerdings mit dem Unterschied, daß eines der beiden in Schwierigkeiten geratenen Länder, nämlich die UdSSR, Kuba zur Erhaltung von dessen Sozialismus „brüderlich" mit jährlich 5 Milliarden Dollar unter die Arme greift. Ein letztes Beispiel zum Versuch einer „Enttopikalisierung" entnehme ich der Diskussion in der Italienischen Kommunistischen Partei (KPI) Ende 1989. Dieses Beispiel ist auf all jene ziemlich ungehobelten und in einigen „Gesprächssituationen" selbst ärgerlichen Versuche zurückzuführen, mit denen das Thema mitten in der Rede durch den Einwurf idiomatischer, manchmal idiosynkratischer Begriffe gewechselt werden soll. Auf diese Weise versucht man, dem Sprechenden sozusagen den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Solche Formeln sind beispielsweise folgende: „Es handelt sich nicht so sehr um ... als vielmehr um ..." Oder: „Hier geht es um etwas ganz Anderes ... hier geht es um den Einsatz ... hier ist die Herausforderung ... hier liegt das Problem". In der erwähnten Diskussion in der KPI brachten die Gegner der Namensänderung, die über keine stichhaltigen Argumente mehr verfügten, immer neue polemische Ablenkungsmanöver nach dem Motto vor: „Das Problem liegt ganz woanders" (anstatt den Namen zu ändern, geht es darum, die Ideologie zu ändern, die Politik zu ändern ... ). Der italienische Spitzenjournalist Montanelli bezeichnete sie als „benaltristi" („Das-Problem-Liegt-Ganz-Woanders-Leute"). Kommen wir nun zum Prinzip der auslegenden Mitarbeit. Bei der Vorbereitung dieser Arbeit habe ich einigen Freunden, die Nichtakaäemiker sind, einige Deutungsmodelle und Auslegungen vorgelegt, um ihre Gültig-
6.2. Anwendungsfälle und Beispiele
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keit im normalen Gespräch festzustellen (in einigen Fällen, bei einigen Themen und mit einigen Gesprächspartnern ging übrigens das Gespräch nicht weiter). So legte ich die Ansicht dar, daß die Richtlinien für die Personalorganisation im Unternehmen des postindustriellen Zeitalters neu durchdacht werden müssen, da die Organisation nicht ausschliesslich auf Stellenplan-Rollen aufgebaut werden könne, sondern auch den „status " zu berücksichtigen habe. Dann wurde mir des öfteren geantwortet, daß sich dies nicht mit der Erfahrung decke, daß dadurch die mit der Rolle verbundene Selbstsicherheit des einzelnen gemindert würde, daß so etwas noch nie geschehen sei oder noch nie von ihnen erlebt worden war; und insbesondere, daß dies kein speziell auf ihre Firma anwendbares Modell sein könne. Ein anderes Beispiel bezieht sich auf die - sicherlich etwas extreme - Anwendung des „Glaubens an die Unredlichkeit" von Sartre auf den Fall Ceausescu. Dieser Staatschef war möglicherweise - so sagte ich - davon überzeugt, daß er eine neue und vollkommene, nicht nur antikapitalistische, sondern auch mit echter Menschlichkeit ausgestattete Gesellschaft gegründet hatte. Mir wurde stets auf dieselbe Weise geantwortet und zwar, daß „ein kleiner Satrap, der im Luxus und in der Ausschweifung lebte, sicherlich nicht gutgläubig gewesen sein konnte .... nicht einen Augenblick lang ...". Ich habe diese beiden Beispiele anführen wollen, um im negativen Sinne das Thema über die - als „auslegende Mitarbeit " bezeichnete - Aufbauform einzuführen, die notwendigerweise den Dialog (gesprächsweise, des Zuhörens, des Lesens) beherrschen muß, wenn dieser sich im Gespräch entwickeln soll. Mitarbeiten im dargelegten Sinne ist nicht als „Zustimmung", sondern als „zugehörig", als „gegenstandsbezogen", als „nicht ausweichend" und „die Logik des Textes nicht aus den Augen verlierend" zu verstehen. Eine andere allgemeine Situation des Mangels an auslegender Mitarbeit wurde von Piaton im Euthymion untersucht und von ihm als „Eristik" bezeichnet. Piaton wirft sie den „degenerierten Sophisten, Söldnern der Wörter, vor, die bereit sind, für Geld, aber auch wegen ihrer Vernügungssucht eine These oder ihr Gegenteil zu beweisen". Die Eristik kommt häufig auch heute sowohl in der politischen Diskussion, als auch im täglichen Leben vor. Als jemand vorschlug, Truppen nach dem Berggebiet des Aspromonte in Calabrien, dem Gebiet der „ 'ndrangheta der calabrischen Mafia, zu entsenden, erwiderte irgendein kleiner Lokalpolitiker, daß „man eine Region militärisch besetzen wolle, deren Probleme auf die Besetzung durch die Piemonteser nach der Einigung Italiens im letzten Jahrhundert zurückgingen". Es ging hingegen darum, ein wirksames Mittel gegen das Banditenunwesen und die Entführungen zu finden. Die Eristik und die anderen Formen der Verweigerung einer auslegenden Mitarbeit stellen nicht nur den Ausgang des Diskurses in Frage (das wäre die Dialektik), sondern den Dialog als solchen.
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6. Kap.: Die Aufbaubedingungen des Diskurses
Um zum Hauptthema dieses Kapitels, der „Beherrschung des Dialogs", zurückzukehren, läßt sich feststellen, daß das Prinzip der auslegenden Kooperation stets empfehlenswert ist. Man ist Herr der Rede, wenn man den Dialog aufrecht hält und nicht versucht, ihn so auszurichten, wie die beiden Dialogteilnehmer es sich wünschen würden, noch ihn grundsätzlich verweigert; unter Mitarbeit auf beiden Seiten, damit der Dialog sich - möglicherweise selbst polemisch - entwickeln kann. Selbstverständlich muß es sich um einen richtigen Dialog, also einen verbalen Gedankenaustausch handeln, in dem jeder Sprechende seine Worte auf die des Geprächspartners abstimmt. Anders liegen die Dinge beim „falschen" Dialog, in dem man dem anderen nur zuhört, um wieder mit dem Sprechen an die Reihe zu kommen (wenn es nicht dazu kommt, daß beide gleichzeitig reden); oder in jenem anderen Fall, in dem der Zuhörende nichts anderes als seine Zustimmung anbietet; und zwar entweder, weil er einem dringenden diesbezüglichen Wunsch des Sprechenden entgegenkommen will oder weil der wahre Zweck des Dialogs ausschließlich phatischer Natur ist: und zwar die Beziehung offen zu halten und die Worte durchgehen zu lassen, aber sich für die Information nicht zu interessieren. So ist es einfach, einen Dialog zum Versiegen zu bringen. Hingegen ist es schwierig, ihn - selbst unter Benutzung aller Mittel für die unentbehrliche nicht als Unterstützung, sondern als Herausforderung gedachte auslegende Mitarbeit - zu erhalten. Schauen wir uns nun einige Beispiele dieser Mittel an. Das erste Mittel der auslegenden Mitarbeit ist jenes, bei dem die Voraussetzung aktiviert wird. Wenn ich eine Dame, die vor der Türe im Bus steht, frage „Steigen sie an der nächsten Haltestelle aus?", bin ich sicher, daß sie mir nicht antworten wird: „Kümmern sie sich um ihren eigenen Kram". Wurde doch jene Höflichkeitsvoraussetzung aktiviert, die in eine höfliche Frage folgende direkte Aussage umwandelt, sozusagen „kodiert": „Gehen sie aus dem Weg, weil ich aussteigen will, es sei denn, sie wollten selbst aussteigen; in diesem Fall würde ich nach ihnen aussteigen". (Diese Ausführungen gelten selbstverständlich zuerst einmal nur für Italien). In Deutschland mag es diese Voraussetzung nicht geben, weil kein Fahrgast daran denkt, sich vor die Tür zu stellen, sofern er nicht fest entschlossen ist, an der nächsten Haltestelle auszusteigen4. Wenn man bei der Aktivierung der Voraussetzung mit Bezug auf den Sprechenden mitarbeitet, wird man seine Worte leichter verstehen, wofür er nur dankbar sein kann.
4
Es existiert auch der Sitzzwang, wenn es einen freien Platz gibt, über den allein der Schaffner, Fahrer und Fahrkartenkontrollör der Gesellschaft des öffentlichen Verkehrsmittels wacht.
6.2. Anwendungsfälle und Beispiele
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Aus der Sicht des Sprechenden läßt sich nur als Voraussetzung betrachten, was tatsächlich allgemein - und nicht nur aus der Sicht einer bestimmten Doktrin, Ideologie, politischen Vision oder Lebensphilosophie - als solche anerkannt wird. Es ist nicht ratsam, den Gästen rohes Fleisch zu servieren, weil man voraussetzt, daß dies gesünder ist; es sei denn, man ist sicher, daß sie diese Diät übernehmen wollen und ihnen dieses Gericht schmeckt; so wie man nicht als selbstverständlich voraussetzen darf, daß Kapitalismus mit Ausbeutung und Sozialismus mit Diktatur gleichgesetzt werden kann. Kommen wir nochmals auf die Einteilung von Arnold Gehlen in „Entlastete" und „Herausforderer" zurück; bei der ersten Kategorie handelt es sich um im Wissensbereich des bereits Bekannten, des Kodierten, des Akzeptierten, der konventionellen Weisheit verankerte Menschen; bei der zweiten um den Bereich des Neuen, des Provozierenden, des Unveröffentlichten, des den geistigen Anschauungen und den Gepflogenheiten Entgegengesetzten, auf das man sich jedoch im Hinblick auf eine Wissenserneuerung hinauswagen will. Sagen wir also, daß der Dialog angeregt wird, wenn man eine Dosis „Herausforderung" hineinbringt, weil „auf diese Weise der Angesprochene zu einer intensiveren auslegenden Mitarbeit aufgerufen wird; allerdings nicht, um bereits Bekanntes heraufzubeschwören oder in die Rede einzubringen, sondern um das Interesse und die Neugierde für das Unbekannte und das „Andersartige" zu wecken" Wir alle machen Erfahrungen, die nicht denen des „Herausforderers" entsprechen: bei der Gelegenheitsunterhaltung, bei der Unterhaltung auf einem Empfang, der Unterhaltung mit fremden Menschen. In diesen Fällen begegnet man einem Übermaß an auslegender Mitarbeit und an schneller Akzeptanz des Gesagten. In Italien kommt dies insbesondere beim üblichen Geplauder oder Geschwätz über die Politik vor: mit dem Taxifahrer, mit dem Zahnarzt, mit den Gästen nach Tisch, im Zug, oder wenn man vor dem Postschalter Schlange steht, aber auch in vielen Fernsehdebatten und in nicht wenigen Kongressen, wo selbst Politiker, nur um beim Publikum Zustimmung zu finden, schlecht von der Politik, der Regierung, den Parteien und den Politikern sprechen. Damit ist der äußerste Punkt einer phatischen Situation erreicht: nur um die Unterhaltung aufrecht zu halten, gibt man sich gegenseitig unter Verzicht auf jede den Gesprächspartner möglicherweise irritierende Bemerkung oder Überlegung recht. Die Empfindsamkeit des „Herausforderers" führt zur entgegengesetzten Situation. Es handelt sich um eine Empfindsamkeit, die an erster Stelle dem Sprechenden eigen sein muß und vom Angesprochenen neue und unübliche Gedankengänge fordert. Sind wir sicher, daß die Privatisierung immer und überall die beste Lösung für die Wirtschaft ist? Daß die Politik eine schmarotzerhafte Überstruktur darstellt? Daß nur die fortschrittliche Technik die Probleme der Zahlungsbilanz löst? Daß die aus dem Gleichgewicht geratene Zahlungbilanz ein Problem und nicht eine
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6. Kap.: Die Aufbaubedingungen des Diskurses
Voraussetzung für die Wirtschaftsentwicklung ist? Daß sich eine Wirtschaftsstagnation bei einem bestimmten Einkommensniveau besser als eine Wirtschaft in der Wachstumsphase auswirkt? Wollen wir versuchen, dieses Niveau festzulegen? Und sind wir überhaupt sicher, daß das wirtschaftliche Lenkungsprinzip in der effizienten Verteilung der knappen Rohstoffe liegt - ein Prinzip, das einige Probleme schafft, die sich nicht ohne weiteres lösen lassen; oder geht es nicht vielmehr um den „richtigen" Wert der Güter? Wollen wir einen Maßstab für diesen „richtigen" Wert suchen, der weder ethisch noch philosopisch, sondern möglicherweise eher humanistisch ist? Kann man bis in die Unendlichkeit das Kriterium der Produktivität als einziger Richtschnur für die Wirtschaftsentwicklung übernehmen? Jemand kam auf den Gedanken, die These aufzustellen, daß zwei Parallelen sich schneiden und daß aus einem Punkt außerhalb einer Geraden auf einer Ebene mehrere Senkrechte zur Geraden führen, und erfand - ohne auslegende Mitarbeit - die nichteuklidische Geometrie. Wieviele andere Arten von Geometrie würden sich erfinden lassen, wenn es mehr auslegende Mitarbeit beim Herausforderer gäbe?
6.3. Ein Beispiel aus dem Werk von Joyce. Vorhaben und Situation Es ist schwierig, die im Kommunikationsvorgang eng miteinander verknüpften Aufbauformen der Rede voneinander zu trennen. Dies ist bei der „Fähigkeit, die Aufmerksamkeit zu wecken, der „Aussage", den „Sprechakten" und den „manipulativen Akten", den „sozialen Masken" der Fall, die zusammen mit den „Bedingungen für die glückliche Rede" jene Formen sind, die wir im Hinblick auf eine wirksame sprachliche Interaktion noch untersuchen müssen und die man - als Sprechender und als Angesprochener - zu beherrschen sich bemüht. Um das Zusammenwirken dieser Strukturformen in einem Kommunikationsvorgang zu analysieren, untersuchen wir einen einer Novelle von James Joyce aus der Novellensammlung „Dubliners" entnommenen Text. Die Novelle heißt „The Dead" 5. Dabei handelt es sich um das jährliche Festessen mit Tanz in der Weihnachtszeit, zu dem die beiden Schwestern Morkan einladen. Der meistbegehrte Gast ist ihr Neffe Gabriel, unglücklich verheiratet mit einer von ihm geliebten, aber unnahbaren Frau, die noch immer einer früh verstorbenen ersten Liebe nachtrauert, eben „dem Toten". Gabriel hat literarische Ambitionen, schreibt Rezensionen für den „Daily Express" und ist hauptberuflich Gymnasial5
H. Levin (Hrsg), The Essential of James Joyce, A Triad Grafton Book, London (ohne Datum), S. 138. Für die italienische Ausgabe: J. Joyce, Gente di Dublino , Garzanti, Milano, 1976, S. 167.
6.3. Ein Beispiel aus dem Werk von Joyce
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lehrer. Um der geistigen Beschränktheit und der kulturellen Enge Irlands zu entfliehen, richtet er sich am „Kontinent" aus, lernt die französische Sprache und liest die französische Literatur. Wir können ihn als die Hauptperson der Erzählung betrachten. Miss Ivors, ein anderer Gast, wird uns folgendermaßen in der Erzählung vorgestellt: „ . . . gewandt und gesprächig ... trug sie am Kragen eine große Brosche mit einer Inschrift und einem irischen Symbol". Sie fordert normalerweise Gabriel wegen seiner Bewunderung für das Ausland und vor allem für seine Liebe zu England heraus. Sie nennt ihn einen „ Westbriten". Sie hingegen ist eine überzeugte Nationalistin, die ihre Ferien auf den Aran-Inseln verbringt: „einen ganzen herrlichen Monat mitten im atlantischen Ozean". Am meisten fürchtet Gabriel ihr Urteil über Literatur und Politik, das Miss Ivors übrigens erst nach genauer Lektüre seiner Rezensionen fällt. Gabriel „hat die Nase voll von Irland". Kurzum, Miss Ivors ist in der Erzählung seine Gegenspielerin6. Im „Diskursumfeld" - nämlich „Festessen mit Tanz bei den Schwestern Morkan" - nimmt Gabriel eine vorherrschende Stellung ein. Fällt ihn doch die Aufgabe zu, die Gans zu zerlegen und insbesondere die Festrede zu halten. Aber Gabriel ist sich - auf Grund seines bisherigen Lebens und seiner Frustrationen - seines Status nicht sicher. Deshalb nimmt er die Herausforderungen von Miss Ivors stets übel; aus einem ständigen Angstgefühl gibt er seiner Rolle als offizieller Redner des Abends mehr Bedeutung als nötig wäre. Wir sehen ihn einen Blick auf die Stichworte seiner Rede werfen, bevor er das Wohnzimmer betritt: „Er war unentschlossen, ob er die Verse von Robert Browning zitieren sollte; denn er fürchtete, sie wären für seine Zuhörer zu hochgegriffen. Ein leichter verständliches Zitat wäre möglicherweise angebrachter ... Das unfeine Geräusch der Männerabsätze und das Schlurfen der Sohlen erinnerte ihn an ihren tieferen Bildungsstand. Er würde sich nur lächerlich machen, wenn er ihnen Verse vortragen würde, die sie nicht verstehen konnten; sie würden daraus nur den Schluß ziehen, er wolle seine Bildung zur Schau stellen ... Überhaupt war seine ganze Rede von Anfang bis Ende nichts wert, ein völliger Fehlschlag". Zum „Diskursumfeld" gehören auch die Einrichtungsgegenstände, die Gabriels Aufmerksamkeit erregen: bescheidene Öldrucke mit Szenen aus Romeo und Julia, Stickereiarbeiten seiner Tanten an den Wänden und - wie ein Zeichen seines Schicksals - das Bild seiner Mutter, Schwester der beiden Morkan, der „hellste Kopf der Familie.. .Die Fotographie.. .zeigte sie mit einem aufgeschlagenen Buch auf den Knien ... dank ihr hatte Gabriel seine Studien an der Royal University zu Ende geführt". Sie war ein vielsprechendes Talent gewesen, das sich in dieser Umgebung der Halbgebildeten nicht hatte entfalten können. Inzwischen fühlte er sich
6 „Protagonist", „Antagonist" im Sinne der erzählenden Funktionen bei der strukturellen Analyse der Erzählung.
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6. Kap.: Die Aufbaubedingungen des Diskurses
von den Tanten in die Rolle des feinen Redners, des Gelehrten, des Mannes von Welt „einprogrammiert". Es war eine Rolle, der er sich nicht gewachsen fühlte, was er gerade bestätigt gesehen hatte, als er die fanatischen Herausforderungen von Miss Ivors nicht hatte widerlegen können. Er hatte sich also geistig isoliert, war zum Gefangenen der angstvollen Spannung zwischen der ihm zugeschriebenen Rolle und dem Status geworden, den er sich selbst zugeteilt hatte, der aber - wegen der verteufelten Umstände - keine angemessene gesellschaftliche Anerkennung gefunden hatte. „Da nun das Essen näher rückte, dachte er wieder über seine Rede und das Zitat nach ... er zog sich in die Fensternische zurück ... Die lauwarmen und unruhigen Finger Gabriels klopften gegen die kalte Fensterscheibe ... wie gerne wäre er alleine spazieren gegangen, erst den Fluß entlang und dann durch den Park ... Wie viel lieber wäre er dort (im Schnee) als an der Abendtafel gewesen! Er überflog nochmals die Stichworte seiner Rede: die irische Gastfreundschaft, die traurigen Erinnerungen, die drei Grazien, Paris, das Zitat von Browning. Er wiederholte geistig einen Satz, den er in seiner Rezension geschrieben hatte.. .Miss Ivors hatte die Rezension gelobt; aber war sie aufrichtig gewesen?" „Der Gedanke an die junge Frau, die während seiner Rede mit ihrem kritischen, ja skeptischen und ironischen Blick am selben Tisch sitzen würde, machte ihn nervös. Möglicherweise würde sie es nicht bedauern, wenn seine Rede zum Fehlschlag würde. Es kam ihm ein Gedanke und gab ihm Mut!" Gabriel entschließt sich nun, seine Ansprache umzuarbeiten, um sie polemisch gegen Miss Ivors, die Gegenspielerin, zu richten. War es doch die richtige Gelegenheit, um mit ihr abzurechnen und die Kluft zu zeigen, die sie voneinander trennte und die nicht kulturell oder beruflich, sondern nur ethisch war. Mit seinem Kommunikationsvorhaben kommt Gabriel zu einer neuen Sicht seines eigenen Status, die sich wohl folgendermaßen zusammenfassen läßt: „ich bin zwar kein großer Intellektueller, aber ein ethischer Mensch. Darin bin ich Miss Ivors weit überlegen!" Damit hätte er sich allerdings der beschränkten, warmen Welt seiner Tanten mehr als der literarischen Welt des Kontinents angepaßt. Die Tanten waren so liebenswürdig zu ihm. Sie waren bei weitem keine Persönlichkeiten, aber sie verstanden ihn und äußerten Worte der Wertschätzung selbst in Gegenwart Dritter, wenn es auch nur das kleine Publikum des Weihnachtsfestessens von Dublin war. Deshalb: „Er würde auf Tante Kate und Tante Julia anspielend sagen: Meine Damen und Herren, die jetzt hinscheidende Generation mag ihre Fehler gehabt haben, aber ich bin der Meinung, daß sie über Qualitäten wie Humor, Menschlichkeit, Gastfreundschaft verfügt, die meiner Ansicht nach der heranwachsenden so ernsthaften und übermäßig gebildeten Generation abgehen." Gabriel „tritt" also aus seiner Generation heraus (die auch die von Miss Ivors ist), um in die der Tanten einzusteigen. Er denkt weiter: „Ein schöner Seitenhieb
6.3. Ein Beispiel aus dem Werk von Joyce
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auf Miss Ivors. Was machte es ihm schon aus, daß seine beiden Tanten im Grunde nichts anderes als zwei ungebildete alte Frauen waren?" Das Fest läuft nach dem bekannten Muster ab. Alles wie geplant, allerdings mit einem unvorhergesehenen Ereignis: Miss Ivors bleibt nicht zum Festessen. Sie entzieht sich ihrer Rolle als Gegenspielerin, die Gabriel für sie eingeplant hatte. Er müßte sie nun „ in absentia " angreifen. Seine Pläne geraten derart durcheinander, daß er sich anbietet, sie nach Hause zu begleiten, „nur ein paar Schritte am Fluss entlang"; damit zeigt er, daß er sich dieser Frau, ihrer Persönlichkeit verbunden fühlt. Aber sie geht alleine auf gaelisch grüßend weg, nachdem sie sich nicht einmal durch die Bitten von Gabriels Frau hat erweichen lassen. Er verbleibt in einem Zustand leichter Betörung und frägt sich, ob die Ivors möglicherweise gegangen ist, weil sie sich einer Auseinandersetzung mit ihm nicht gewachsen fühlt. Die Erzählung geht weiter: „In diesem Moment kam Tante Kate aus dem Saal mit den Getränken hereingetrippelt und rang vor Verzweiflung die Hände. Wo ist Gabriel? rief sie, Wo ist bloß Gabriel geblieben? Alle warten sie drinnen und keiner ist da, der die Gans schneidet!" Diese ehrenvolle Aufgabe stand ihm zu. Geschmeichelt versichert er: „Ich bin hier, Tante Kate ... plötzlich ganz munter und bereit, eine ganze Schar Gänse zu zerschneiden ... Gabriel nahm kühn am Kopfende des Tisches Platz, prüfte die Messerklinge und steckte die Gabel mit sicherer Hand fest in die Gans. Er war jetzt ganz entspannt; denn er verstand sich aufs Schneiden und genoß nichts mehr, als am Kopfende eines reich gedeckten Tisches zu sitzen ...". Kaum war die erste Runde beendet, schickte sich Gabriel an, sofort eine zweite zu servieren. Als alle reichlich bedacht waren, sagte Gabriel lächelnd: „Wenn sich jemand noch etwas mehr „vollstopfen" will, wie das gemeine Volk das nennt, soll er oder sie es sagen". Ein Chor von Stimmen forderte ihn auf, selbst mit dem Essen zu beginnen... „Also gut, sagte Gabriel, ... und jetzt vergessen Sie bitte ein paar Minuten lang meine Anwesenheit, meine Damen und Herren". Hier haben wir einen Gabriel, der sich völlig seinem neuen Status des Salonlöwen anpaßt und in ihm aufgeht und der mittlerweile Herr der Lage ist, da Miss Ivors ja weggegangen ist. Das Essen kommt zum „Pudding " und zur zentralen Szene mit der Festansprache Gabriels; also zum Augenblick, in dem er auch literarisch und kulturell mit seiner Rede eine dominierende Rolle spielt. „Als die letzten Gläser vollgeschenkt wurden, verstummte die Unterhaltung allmählich". Dies ist ein sicherer Hinweis auf die Fähigkeit von Gabriel, das Interesse dieser Zuhörerschaft zu wecken. „Alle schwiegen ... Als es völlig ruhig war, schob Gabriel seinen Stuhl zurück und stand auf ... stützte seine zehn zitternden Finger auf den Tisch und lächelte nervös. 10 Trupia
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6. Kap.: Die Aufbaubedingungen des Diskurses
Er sah eine Reihe ihm zugewandter Gesichter und hob den Blick zum Kronleuchter ... Vielleicht standen die Leute jetzt draußen im Schnee ... wo die Luft rein war. In der Ferne war der Park mit seinen Bäumen, auf denen der Schnee lastete". Er verspürt noch einmal einen kurzen Augenblick lang den Ruf der Welt draußen, von der er sich gerade abgewandt hatte, um sich in die Welt seiner Tanten zu flüchten. Das Diskursumfeld zeigt eine eigentümliche Spannung zwischen drinnen und draußen auf der physischen und menschlichen Ebene, in den Hinweisen auf die Umgebung und in der Rede selbst. Gabriel beginnt zu sprechen. „Meine Damen und Herren, ich habe auch heute Abend wie in den vergangenen Jahren eine sehr angenehme Pflicht zu erfüllen; eine Pflicht indes, der meine beschränkte Rednergabe wohl leider, so fürchte ich, allzuwenig gewachsen ist". „Nein, nein", warf Herr Browne ein. „Wie dem auch sei, kann ich Sie heute abend nur bitten, lediglich auf meine guten Absichten zu schauen und mir einige Augenblicke lang Ihre Aufmerksamkeit zu schenken, während ich mich bemühe, meine Empfindungen bei diesem Festmahl in Worte zu fassen". In der Rede wechseln sich - wie in jeder oratorisch gut aufgebauten Rede - die beiden aussagenden Formen des „Discours" und des „Récit" ab. Es handelt sich um die wichtigsten Aufbauformen der Rede, die die Beziehung des Sprechenden mit dem von ihm Gesagten und dem Umfeld hinter den Worten - der Zeit, dem Ort, dem Geschehen - regeln. Diese Worte, die die Sphäre des Sprechenden schaffen - ist es doch er, der bestätigt oder verneint, der dies oder jenes als möglich oder unmöglich, als gebührend oder unpassend erklärt - bilden genau genommen den „Discours" 1. Hingegen gehören zum „Récit" die Worte außerhalb der Zeit und des Raumes (eines den Umständen entsprechenden, nicht historischen dem Sprechenden benachbarten Raumes), deren Bedeutung, Wert und Modalisierung (nach dem Können, Wollen, Müssen, Wissen usw.) nicht der sprachlichen und semantischen Sphäre des Sprechenden8 angehören. Kehren wir zum Beginn der Tischrede Gabriels zurück. Wir stellen fest, daß sie ein vermeintliches oder tatsächliches inneres Unbehagen zum Ausdruck bringt. Der Sprechende, Gabriel, fühlt sich stark in das Gesagte einbezogen: gerade er drückt seine Meinung aus. Wir befinden uns folglich in der Form des „Discours", die verständlicherweise durch Empfindungen und Emotionen gekennzeichnet ist. 7 Eine Rede ist „illokutiv", wenn sie sich nicht mit einer Umschreibung oder Feststellung begnügt (wie beispielsweise in der Aussage: „Es war allen klar, daß er ihn haßte"), sondern wenn sie Eigenkraft entwickelt, die eine auf Verwirklichung drängende Absicht des Sprechenden wie in dem Satz zum Ausdruck bringt: „Ich hasse dich" oder ebenso: „Ich liebe dich". 8 Ein Beispiel, eine Empfehlung, ein Aufruf, eine Warnung, eine Verdeutlichung können nur in der Form des „Discours " ausgedrückt (oder sprachlich aufgebaut) werden; eine Maxime, eine Theorie, ein Naturgesetz hingegen nur in der Form des „Récit".
6.3. Ein Beispiel aus dem Werk von Joyce
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Wir stellen weiterhin fest, daß Gabriel in seiner ganzen Rede aus seinen literarischen Kenntnissen schöpft. Seine Absicht ist es, die Zuhörerschaft zu „manipulieren", und hierfür benutzt er das passende Handwerkszeug. Am Anfang greift er zu jener Form der antiken Rhetorik, die „excusatio propter infirmitatem" heißt: seid nachsichtig in Anbetracht meines bescheidenen Könnens, bedenkt nur den guten Willen! Damit versucht der Sprechende, die möglicherweise bestehende Angriffslust der Zuhörer zu entschärfen und zwar, indem er mit ihnen einen „pragmatischen Vertrag" mit folgendem Inhalt abschließt: ich werde mein Bestes tun, um der Aufgabe gerecht zu werden, die ihr mir gestellt habt. Ich tue es gerne, aber ihr dürft euch nichts erwarten, was meine Kräfte übersteigt. Das „Nein, nein" des Herrn Browne ist der Beweis dafür, daß dieser Vertrag abgeschlossen wurde. Kehren wir jetzt zur Form des „Discours " zurück. Ihr Vorhandensein ist auch durch den (.deiktischen) Hinweis des „heute Abend" hervorgehoben. Die Form des „Discours" verknüpft nämlich das Gesagte jeweils mit dem Umfeld 9. Die Manipulation Gabriels, der sich mittlerweile wieder gefangen hat, geht sogar so weit, sich selbst - und mit ihm alle anwesenden Gäste - als manipuliert zu bezeichnen, in deren Namen er sich zu sprechen berechtigt fühlt. Er fährt in der Tat fort mit: „Meine Damen und Herren. Es ist nicht das erste Mal, daß wir uns unter diesem gastlichen Dach, um diese gastliche Tafel zusammenfinden (Rhetorische Figur der Metonymie: „gastlich" wird auf die den gastlichen Tanten nahen Objekte bezogen). Die Tanten, die normalerweise den Neffen manipulieren, sind durch die Metonymie ins Geschehen einbezogen, um nun selbst manipuliert zu werden. Gabriel fährt fort: „Es ist nicht das erste Mal, daß wir die Nutznießer - oder vielleicht sollte ich besser sagen: die Opfer gewisser vortrefflicher Damen sind (liebevolles Pseudopej orati vum). Der Schachzug ist wirkungsvoll. Der Erzähler informiert uns in der Tat, daß Tante Kate und Tante Julia zusammen mit ihrer Nichte Mary Jane in der Rolle der Manipulierenden vereint beim Ausdruck „gewisse vortreffliche Damen" „vor Freude merklich erröteten". Sie sind sich nicht bewußt, daß sie vom Sprecher - in Gegenwart aller Gäste - in die Rolle der großzügigen und liebenswürdigen Hausherrinnen „eingeplant" worden waren. Nie hätten sie es überhaupt gewagt, daran zu denken, die Tradition dieser großzügigen Gastfreundschaft zu unterbrechen oder abzuändern! Gabriel fährt fort.
9 Eines der Geheimnisse des Beschwörungsvermögens (also der Fähigkeit, die Aufmerksamkeit der Zuhörer zu gewinnen) der Reden des italienischen Politikers Giulio Andreotti war beispielsweise die Häufigkeit der „Deixis" - also von einer grammatikalischen Form, die das Gesagte mit dem Umfeld oder den Zuhörern „verbindet" - mit Hilfe der Anekdote. 10*
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6. Kap.: Die Aufbaubedingungen des Diskurses
„Mit jedem Jahr, das vergeht, werde ich mir immer mehr bewußt, daß unser Land keine so ausgeprägte Tradition wie die seiner Gastfreundschaft hat, die ihm so zur Ehre gereicht und die es so eifersüchtig hüten sollte". Man kann hier einen ersten Hieb (er kann eine erhebende Wirkung auf den Sprechenden ausüben) „ in absentia " auf Miss Ivors herauslesen, die sich um andere irische Traditionen wie den Gebrauch des Gaelischen oder die moralische Verpflichtungen zu Ferien auf den Aran-Inseln kümmert. Es folgt jetzt ein erster Rückgriff auf das „Récit", um die vorausgehenden Aussagen in der Form des „Discours" durch soziologische oder ethnologische Erkenntnisse zu festigen: „Es handelt sich dabei um eine Tradition, die heute in der Fülle der Völker einmalig ist...". Nun wird der „Discours" wieder aufgenommen. „Zumindest einer Sache bin ich mir sicher. Solange dieses Dach das Haus der vorher erwähnten vortrefflichen Damen deckt (das Dach, als Metonymie personifiziert, deckt das Haus, in dem die Hausherrinnen und ihre Gäste sind).. .wird auch die Tradition der echten herzlichen und warmherzigen irischen Gastfreundschaft ... bei uns lebendig bleiben". Der Erzähler sagt uns nun: „Es schoß Gabriel durch den Kopf, daß Miss Ivors nicht da war, ja daß sie unhöflicherweise weggegangen war; und er fuhr mit mehr Selbstvertrauen fort". Das Vertrauen kommt aus der Sicherheit, daß Miss Ivors nicht nur abwesend ist, sondern auch von diesem Ort ausgeschlossen bleibt, den Gabriel - der rhetorischen Tradition folgend - sich anschickt, als „locus amoenus" zu beschreiben. Vorher aber rechnet er, wie übrigens mit seinem Redeplan beabsichtigt war, wenn auch „in absentia" mit Miss Ivors, der Gegenspielerin, ab. Er nimmt schließlich den „Récit" wieder auf, da er eine kurze Moralpredigt halten will. „Eine neue Generation wächst um uns herum (er steckt die Grenzen des „locus amoenus" ab) heran; eine Generation, die von neuen Gedanken und neuen Prinzipien geleitet wird. Eine ernste und begeisterte Generation (rhetorische Wiederholung von „Generation") ... und ihre Begeisterung ist, selbst wenn sie irregeleitet ist (sein Dialog „ in absentia" mit Miss Ivors), wie ich glaube, im großen und ganzen (rhetorisches Zugeständnis) aufrichtig ... Zuweilen habe ich (allerdings) die Befürchtung, daß dieser neuen Generation, ob sie nun gebildet oder übergebildet ist, diese für die Vergangenheit typischen, einer älteren Epoche angehörenden Qualitäten der Gastfreundschaft, des liebenswürdigen Wesens abgehen". Er fährt mit einem anderen klassischen „ Topos " fort, nämlich mit der Schmährede gegen die junge Generation oder mit dem Katalog der Laster dieser neuen Generation, die er berufungslos verurteilt; und zwar trotz ihres Hangs zu einer in-
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tellektuellen Sicht der Dinge, mit der er sich sonst wohl hätte identifizieren können. Um sich von Miss Ivors, hier mit den Eigenschaften ihrer Generation beschrieben, zu distanzieren, kritisiert Gabriel seine eigene Generation - dieselbe seiner Gegenspielerin - , um in die vorhergehende Generation seiner Tanten einzutreten und sich somit einen Platz im „locus amoenus" zu sichern. Auf diese Weise rechnet er endgültig mit Miss Ivors und ihrer Welt ab und baut auf diese Weise sein Selbstbewußtsein und seinen Status in der irischen Gesellschaft wieder auf. Nach einigen kurzen Gedankenflügen in die Vergangenheit „schafft" er konkret in der Rede den „ locus amoenus „Wir sind hier als Freunde im Geiste der Geselligkeit als geistige Träger ... einer echten „ Camaraderie " (zur Bestätigung seines Status stellt er seine Frankophilie zur Schau) und als Gäste der ... wie soll ich sie nennen? (rhetorisches Zögern) ... der Drei Grazien der musikalischen Welt Dublins" zusammengekommen. Es folgen andere Lobeshymnen auf die „Drei Grazien" nach der rhetorischen Figur der Hyperbel. Er greift auf die Metapher von Paris zurück: aber Gabriel weiß hier nun selber nicht, wem er den Apfel überreichen soll. Unter allgemeiner Zustimmung bringt Gabriel seine Rede mit einen Trinkspruch auf die Hausherrinnen zu Ende; auf diese Weise fällt die Wahl auf alle drei und alle drei werden preisgekrönt. Das manipulierende Vorgehen ist, soweit dies möglich war, völlig gelungen. Allerdings hat sich der Sprecher unterdessen selbst tiefgreifend und endgültig manipuliert. Er hat seinen Status grundlegend verändert, um ihn mit dem seiner Zuhörerschaft in Einklang zu bringen: die idealisierte Welt Dublins mit dem Blick auf zwei Generationen vor der seinen, die ihre Personifizierung in den „dummen alten Frauen", den Tanten hat 10 . Gabriel hat sein unbestrittenes literarisches Talent vollständig eingesetzt; allerdings nicht, um mit seiner Gegenspielerin Miss Ivors in Wettbewerb zu treten, sondern um sich den Tanten Morkan - sozusagen den „Adjutanten" im Sinne der Kommunikationstheorie - anzunähern und sich ihnen zu ergeben.
10 Die Erzählung „Festessen im Hause Morkan" - ist nicht die Erzählung eine Metapher unseres Lebens? - könnte nach den „Funktionen" oder „strukturellen Formen" der Erzählung aufgebaut werden: Disjunktion, Konjunktion, Vertrag, Probe usw. Gabriel, die Hauptperson, löst sich von seiner konfliktbeladenen Welt (symbolhaft von Miss Ivors dargestellt), um durch die Probe der Rede in die Welt seiner Tanten einzutreten, nachdem er mit dieser Welt einen Vertrag abgeschlossen hat. Siehe Algirdas J. Greimas, Sémantique structurale , Larousse, Paris, 1966.
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6. Kap.: Die Aufbaubedingungen des Diskurses
6.4. Entlasteter und Herausforderer in der Interaktion beim Diskurs Die rein erfundene Geschichte Gabriels hat paradigmatischen Wert. Sie weist die Modelle vieler „Gesprächssituationen4' auf. Zur Analyse dieser Situationen bedarf es einer Interaktion im Diskurs im Wege über eine Statusänderung. Wenn uns eine Änderung unserer Einstufung im Stellenplan oder in unserem Beruf, aber auch an unserem Arbeitsplatz oder in der Gesellschaft angeboten wird, kommen wir öfter, als wir glauben, und sehr bewußt in die Lage, zwischen der Stellung des „Entlasteten" oder der des „Herausforderers" (um mit Arnold Gehlen zu sprechen) wählen zu müssen; also zwischen einer ruhigen Stellung ohne große geistige Anforderungen und einer möglicherweise anspruchsvolleren und dafür chancenreichen und herausfordernden gesellschaftlichen oder beruflichen Stellung. Manchmal nimmt diese Statusänderung Massendimensionen an, wie beispielsweise in Italien, wo in den letzten zwanzig Jahren eine Million neuer Unternehmer aufkam, während in Frankreich der IV Republik oder in Großbritannien vor der Thatcher-Ära Stellen, die zu einer persönlichen Verantwortung führten, unbesetzt blieben. Wenn auch in unterschiedlichem Maße ist ein Appell an den „Herausforderer" und eine Schmeichelei an den „Entlasteten" in fast allen Interaktionen des Gesprächs und in den verschiedensten „Diskurssituationen" enthalten. Wenn wir von unseren Kindern mit Freunden unserer Generation sprechen, argumentieren wir oft wie folgt: „wir hatten mehr Verantwortungssinn; wir hatten wesentlich weniger Mittel zur Verfügung und trotzdem wurde von uns viel mehr verlangt4'. Wir sollten stattdessen versuchen, uns mit einem der jungen Generation angehörenden „Herausforderer" zu messen, der in einer Massengesellschaft aufwächst, die bestimmt nicht mit der unserer Jugend vergleichbar ist. Man spricht von der Politik in einer ähnlichen „Diskurssituation", beispielsweise in einem Gespräch nach dem Abendessen. Man wird dem „jus murmurandi" freien Lauf lassen; oder man folgt der Anregung eines der Gäste zu einer gründlicheren Untersuchung der Lage. So könnte beispielsweise gesagt werden, daß die italienische Politik eigentlich nicht nur dem Nationalcharakter, sondern auch dem vom italienischen Volk sich selber - in verschiedenen politischen Formen und Formeln - gegebenen Entwicklungmodell entspricht. In diesem Fall kann die Ablehnung des „Herausforderers", diese These zu untersuchen, den Argumenten selbst zuvorkommen. Nicht nur wird von ihm eine Diskussion zu diesem Punkt abgelehnt; er lehnt selbst eine Thematisierung des Problems ab. Hier formuliere ich die Hypothese, daß mit der persönlichen Einstellung zum „Entlasteten" oder zum „Herausforderer" ein Verständnis des eigenen Status und unter Umständen ein ausgeprägtes Selbstbewußtsein verbunden ist.
6.5. Noch einmal zu Joyce. Drei Formen konstruktiver Semantik
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So stellt sich die Frage, um ein anderes Beispiel zu geben, ob ich mit dieser Untersuchung über die Kommunikation in die Welt der universitären Forscher eintreten wollte, deren philologisches Urteil ich allerdings fürchte, oder ob ich mich in die Schar der Kommunikationsfachleute einreihen wollte, wobei mir das Ergebnis ihrer Überprüfung meiner Aussagen in der Praxis hinwiederum Angst macht. Und welche Auswirkungen wird meine Entscheidung und der sich daraus ergebende „Kommunikationsvorgang" auf mein eigenes Selbstbewußtsein haben ? Das sind Entscheidungen, die Entschlußfreude erfordern und psychologische Reaktionen in den Trägern jeder diskursiven Interaktion auslösen. Die unvermeidliche Interaktion kommt selbst dann zustande, wenn man sich ihr entziehen will oder wenn man sich vom Instinkt, von der Gewohnheit und von der Tradition leiten läßt. Zweckmäßigerweise sollte man also voraussehen, was im Laufe der Interaktion geschehen kann, um sich im Kommunikationsvorgang darauf vorzubereiten.
6.5. Noch einmal zu Joyce. Drei Formen konstruktiver Semantik Die „Festrede" Gabriels wirft ein Licht auf andere Aspekte der konstruktiven mantik:, die wir noch nicht untersucht haben.
Se-
Die bereits erwähnte „Schmährede" gegen die Schlechtigkeit und geistige Armut seiner Zeit - und insbesondere der Jugend - stellt die „Aktion im Diskurs" dar, die er gegen Miss Ivors plant und zu deren Ausführung in absentia er dann gezwungen ist, da die Gegenspielerin am Essen nicht teilnimmt. Diese Bestandteile der Rede von Gabriel entsprechen drei „Aufbauformen" der von ihm verwirklichten Interaktion. Die erste, soeben erwähnte, ist die rhetorische Figur, oder der „ topos der - durch den Katalog der in der Gemeinschaft vorhandenen Laster verstärkten - Schmährede. Sie bezieht sich auf die Welt draußen, die von Gabriel rhetorisch der anwesenden Gemeinschaft - als „ locus amoenus " dargestellt - gegenübergestellt wird. Die anderen beiden Formen betreffen den Aufbau und die Aktivierung Gabriels der „Bedingungen für die glückliche Rede" durch den Sprecher und deren Verwirklichung als „Sprechakt". Die geschickte „Einfügung" dieser Sprachinstrumente - wie auch jener Sprachinstrumente, die wir in unserer ersten Analyse vom Text von Joyce angetroffen haben - stellen den beiden Gesprächspartnern, dem Sprechenden und dem Angesprochenen, eine große Zahl von Interaktionsmitteln zur Verfügung. Ihr sprachlicher Einsatz ergibt sich leicht in der spontanten Anwendung der „Competence" , hingegen schwer im bewußten Rückgriff auf die „Performance" als „sprachlicher Wirksamkeit" 11 .
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6. Kap.: Die Aufbaubedingungen des Diskurses
Nur aufgrund ihrer Begabung, ihrer Erziehung oder ihrer gesellschaftlichen Stellung sind Menschen imstande, eine gute „performance " zu erzielen. Es handelt sich um jene Menschen, die uns insofern beeindrucken, als sie in ihrer Rede überzeugend oder beruhigend auf uns wirken. Die anderen haben hingegen die Aufbauformen der „semantischen" Sprache zu studieren, um sich die „ competence " anzueignen und sich täglich in der Verbesserung ihrer sprachlichen „performance " zu üben.
6.6. Die Schmährede Die „Schmährede" mit dem „Katalog der Laster" (seiner Zeit) von Gabriel geht etwas über das erforderliche, das richtige Maß hinaus. Ich habe in meinem Zitat diesen im Rahmen des Gesamttextes etwas schwerfälligen Abschnitt ausgelassen (etwa 250 von 1000 Wörtern), da er stilistisch für den Ablauf der Rede zweitrangig ist. Eben dieser ausgelassene Textabschnitt kommt mir nochmals in den Sinn. Handelt es sich doch dabei um einen Zusatztext, dessen Problematik der Redner Gabriel selbst zu lösen sich anschickt. Wie wir gleich sehen werden. In der Vorbereitungsphase seiner Rede überlegt Gabriel, wie er seine Gegenspielerin Miss Ivors verletzen kann. „Ein Gedanke kam ihm und gab ihm Mut. Er würde - sich an Tante Kate und Tante Julie wendend - sagen: Meine Damen und Herren, die jetzt dahinscheidende Generation mag ihre Fehler gehabt haben, aber ich bin der Meinung, daß sie auch Qualitäten wie Gastfreundschaft, Geist, Menschlichkeit aufzuweisen hat, die meiner Meinung nach der neuen Generation fehlen, die so ernst und hochgebildet um uns herum aufwächst". Er fährt in seinen Gedanken fort. „Wunderbar, ein schöner Seitenhieb auf Miss Ivors. Was kümmerte es ihn, daß seine beiden Tanten im Grunde nichts anderes als zwei ungebildete alte Frauen waren?" Hier setzt Gabriel die „Glücksbedingungen" des (geplanten) Gesagten aufs Spiel, indem er seine private Rache einbringt, ohne die möglicherweise bestehende Interessen seiner Zuhörer für andere Themen zu berücksichtigen. Außerdem könnte dieser Seitenhieb den Gastgeberinnen, den beiden dummen alten Frauen, etwas unhöflich vorkommen, die eine Polemik auf dem Höhepunkt des Abends nicht schätzen würden. Aber Gabriel denkt nur an sein Vorhaben. Er ist in einer hedonistischen Stimmung: er denkt an sein Privatvergnügen, an die Rache und nicht an die Voraussetzungen für den Erfolg oder für den angemessenen Stil einer 11 Ich beziehe mich hier auf die kategorialen Gegensätze von Noam Chomsky zwischen „ competence " als Kenntnis der Regeln und der abstrakten Formen einer Sprache, und „performance " als Fähigkeit, diese Regeln usw. konkret und wirkungsvoll im Diskurs anzuwenden. Der Gegensatz entspricht dem von Saussure zwischen Sprache und Worten.
6.7. Bedingungen für die „glückliche" Rede
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„glücklichen" Rede. Jeder gute Redner sollte sich um diese „Voraussetzungen für eine glückliche Rede" bemühen und - falls erforderlich - seine Vorurteile oder seine Wünsche beiseite legen.
6.7. Bedingungen für die „glückliche" Rede Das „Glück", von dem hier gesprochen wird, entspricht nicht den Begriffen der Freude oder Zufriedenheit. Es handelt sich um die deutsche Übersetzung des englischen felicity also um die Bedingung für ein „gut angewandtes und ausgedrücktes" („well applied and expressed") Reden. Das Adjektiv entspricht dem englischen „,felicitous " (und nicht „happy"). Die deutsche Übersetzung des Wortes wäre „Angebrachtheit" 12. So wäre es beispielsweise nicht „angebracht", von einer prachtvollen Reise nach Rio zu erzählen, wenn man bei Bekannten einen Trauerbesuch abstattet. Ebensowenig gehört es sich, anläßlich der Klage von Eltern über die schlechten Studienergebnisse ihrer Kinder mit den glänzenden Ergebnisse der eigenen Kinder zu prahlen. Es scheint leicht, die „Bedingungen der glücklichen Rede" zu beachten, da man nicht nur mit Bezug auf die Form „glücklich" sein kann (worauf sich das Wort „eine geglückte Aussage" bezieht), sondern auch auf den Inhalt, die Zeit, die Umgangsformen, die Anpassung an die Umstände und an die Zuhörer. Deswegen scheint bisweilen die Rede einfacher Menschen „glücklicher" als die großer Gelehrter, die unfähig sind, auf die Darstellung ihrer Gelehrsamkeit zu verzichten. Die „Unfähigkeit zum Verzicht" weist auf die „hedonistischen Impulse" hin, die uns manchmal dazu verleiten, unsere Aussagen uns selbst als Zuhörer und nicht dem tatsächlichen Zuhörer anzupassen. Die hedonistische Falltür ist jeweils offen, wie auch immer das Verhältnis zwischen dem Status des Sprechenden und dem des Zuhörenden sein mag. Auch in einer niedrigeren oder subalternen Stellung „kann man sich die Genugtuung geben, kein Blatt vor den Mund zu nehmen" (gegenüber dem Chef, dem Polizisten), setzt damit allerdings die Gesprächsbeziehung und das Ergebnis der Interaktion aufs Spiel. Normalerweise wird dieses Verhalten als „unabhängig und mutig" bezeichnet und nicht als „unangebracht" und manchmal selbst als „dumm"; wie man auch die große Gelehrsamkeit des Kulturanthropologen bewundert, der vom Pfarrer zu einer Konferenz vor den Damen der St. Vinzenz-Kongregation eingeladen wurde. Alle Damen würdigten die Sprachgewandheit und den reichen Wortschatz des Redners, 12 G. R. Cardona betrachtet in seinem Sprachlexikon (Armando, Roma, 1988) „Glück" als eine Art „Abdruck" von „Felicity". Er schlägt stattdessen „Geglücktsein „ vor.
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6. Kap.: Die Aufbaubedingungen des Diskurses
ohne auch nur das geringste vom Vortrag verstanden zu haben. Kehren wir zu Gabriel zurück. In der „performance " seines Vortrags geht Gabriel über sein ursprüngliches Kommunikationskonzept hinaus. Der Kritik der Degeneration seiner Zeit läßt er einen Vergleich mit der vergangenen Generation folgen: „Es herrschten damals Zeiten, die wir ohne Übertreibung als großzügig (wertvolle Metapher) bezeichnen können und die inzwischen vergangen sind und nicht wiederkehren. So wollen wir uns zumindest wünschen, daß bei einem Beisammensein wie diesem von ihnen auch weiterhin mit Stolz und Liebe gesprochen wird " Hier beginnt Gabriel mit der Gestaltung des „ locus amoenus der schließlich mit der Metapher der Drei Grazien und mit dem beharrlichen Lob auf das „gastfreundliche Dach" abgeschlossen wird. Aber mit fortschreitender Rede läßt er sich von seinen hedonistischen Anwandlungen verführen und verfällt in „unangebrachte Worte", mit denen er die Bedingung des Glücks seiner Rede auslöscht. „Dennoch, fuhr Gabriel mit bewegtem Tonfall fort, kommen uns bei einem Beisammensein wie diesem traurige Gedanken: Gedanken an die Vergangenheit, an die Jugend, an Veränderungen, an die Gesichter abwesender Menschen, die wir heute abend hier vermissen". Er könnte hier haltmachen, nachdem er - wie es sich gehört -einen Schatten auf die rosige Athmosphäre des Abends geworfen hat. Aber nachdem nun einmal sein Entschluß gefaßt ist, seiner Generation, die ihn nicht aufgenommen und in der er keinen Platz gefunden hat, den Rücken zu kehren, um in der seiner alten Tanten Zuflucht zu suchen, geht er über das Erlaubte hinaus und begibt sich somit in das Unangebrachte. „Unser Lebensweg ist voll von diesen traurigen Erinnerungen: wollten wir ständig darüber nachgrübeln, fänden wir nicht den Mut, unerschrocken unter den Lebenden weiter zu weilen. Alle haben wir lebensnotwendige Pflichten und lebensnotwendige Zuneigungen, die unsere ganze Kraft in Anspruch nehmen und dies zu recht". Das Heim im „ locus amoenus " wird damit von einem Ort der Freude in einen der Verpflichtung verwandelt! Gabriel wird sich, etwas spät, bewußt, daß seine Worte nicht „geglückt" sind und greift zu einer Präterition 13, um sein Versehen wieder gut zu machen: „Ich werde mich nicht bei der Vergangenheit aufhalten 14. Ich werde nicht zulassen, daß 13 Rhetorische Figur, mit der man vorgibt, über etwas schweigen zu wollen, was man dann doch sagt. Beispielsweise folgender Satz: „Ich kann dir gar nicht sagen, was mir passiert ist! Stell dir vor, ich habe meinen Chef in der Pizzeria getroffen, nachdem ich ihm telefonisch mitgeteilt hatte, ich sei krank". 14 In Wirklichkeit ist dies hingegen das Thema seiner Rede.
6.8. Sprechakte
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finstere Gedanken aufkommen 15. Wir sind hier eine kurze Zeit beisammen, um uns von den Sorgen und der Hetze des Alltags zu erholen".
6.8. Sprechakte Die letzte Form der konstruktiven sprachlichen Interaktion, die ich nun dem Text von Joyce entnehme - ohne damit sagen zu wollen, daß es keine anderen mehr gibt - ist die der „Sprechakte". Wir schauen uns erst einige Beispiele an, die im Bezugstext angeführt sind, um dann deren umfassende Vielschichtigkeit zu untersuchen. Mit dem „Sprechakt" verfügen wir über ein wirksames Instrument der sprachlichen Interaktion. Es muß daher sehr bewußt eingesetzt werden. Mit den „Sprechakten" kommt die Wirksamkeit der Sprache voll zur Geltung, also ihre Wirkungsfähigkeit auf den Zuhörer, ob der Sprechende sich dessen bewußt ist oder nicht. Wenn Gabriel seine Rede mit den Worten „Meine Damen und Herren" beginnt, stellt er nicht einfach die Anwesenheit dieser beiden Menschenkategorien im Saal fest, als ob man ihm die Frage „Was siehst Du im Saal?" gestellt hätte, auf die er korrekterweise mit „Damen und Herren" antworten würde (im Sinne von „Ich sehe Damen und Herren"). Die beiden „Auslegungen" haben völlig unterschiedliche semantische und praktische Gültigkeit. Im zweiten Fall („ich sehe Damen und Herren") findet eine Feststellung und eine Umschreibung statt, im ersten erfolgt eine Hinwendung an die Zuhörer mit einem Appell. „Meine Damen und Herren" ist im Text von Joyce ein Sprechakt, mit dem man die Aufmerksamkeit anfordert, man eröffnet praktisch die Sitzung oder die Ansprache, wenn die Sitzung von Rechts wegen von einem Vorsitzenden eröffnet worden ist, der vielleicht folgendes gesagt hätte: „Ich erteile Gabriel Conroy für seine Festtagsrede das Wort" 16 . „Ich erteile das Wort" bedeutet im Diskurszusammenhang nicht, daß ich aus einem Stummen wie durch ein Wunder einen Sprechenden mache, sondern daß ich „ihm das Recht zu sprechen gebe". Dies ist der Sprechakt eines Versammlungsvorsitzenden, der in dem Maße gültig ist, in dem die „Bedingungen des Glücks" in der Rede des Vorsitzenden beachtet 15 Auch dies ist eine Präterition, da er bereits eine Reihe moralischer Überlegungen vorgebracht hat. 16 In der Typologie der Sprechakte von Roman Jakobson wäre „Meine Damen und Herren" ein Versuchsakt, der seine Verwirklichung beim Zuhörer findet; so wie andere (die poetische, emotionale, phatische usw.) Funktionen der Sprache diese Verwirklichung in anderen Bestandteilen einer integrierten Kommunikation finden. Siehe R. Jakobson, Saggi di linguistica Generale, Feltrinelli, Milano, 1966 (Original 1963), S. 191.
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6. Kap.: Die Aufbaubedingungen des Diskurses
werden, sofern er nämlich tatsächlich das Recht auf den „Versammlungs vorsitz" hat. Derselbe Vorsitzende könnte berechtigterweise, also „glückhaft", zum Redner sagen: „Ich möchte Sie bitten, zum Schluß zu kommen, da wir sonst unseren Zeitplan nicht einhalten", aber er könnte ihm nicht - im Sinne des „Glücks" - sagen: „Ich bitte Sie, mit dieser Argumentation nicht fortzufahren, mit der ich überhaupt nicht einverstanden bin und die Sie auch ungenügend vertieft haben". Dies würde über die Aufgaben eines Sitzungsvorsitzenden hinausgehen. Ebenso kann ein Angeklagter nicht am Ende eines Prozesses auf die Aufforderung des Vorsitzenden: „Hat der Angeklagte noch etwas vorzubringen?" mit den Worten antworten: „Ich betrachte den Prozeß als nichtig, weil ich verurteilt wurde, noch bevor ich alle meine geplanten Überfälle durchführen konnte (mit denen ich meine Familie für immer versorgt hätte)". Er kann es selbstverständlich sagen, aber lediglich als Scherz. Er könnte hingegen angebrachterweise sagen: „Ich lehne dieses Gericht ab, das nicht berechtigt ist, über einen enteignenden Proletarier zu befinden". Der Sprechakt kann subtil sein, wenn beispielsweise Gabriel sagt: „Es ist nicht das erste Mal, daß wir hier versammelt sind". Er macht damit nicht nur eine Feststellung, sondern unterstreicht die ständige und willkommene Gastfreundschaft der Damen Morkan. Die Wirkung wäre anders gewesen, wenn er gesagt hätte: „Es ist das letzte Mal, daß wir hier vereint sind" und vielleicht noch hinzugefügt hätte „ich schwöre es bei meiner Ehre, so wahr ich Gabriel Conroy heiße." Auf die Lobrede von Gabriel reagieren die Anwesenden mit Gemurmel, Zustimmung, Applaus und mit konzentrierter Aufmerksamkeit. Die Interaktion stärkt die Wirksamkeit der Sprechakte durch die ergebnisbezogene - und nicht nur beschreibende und feststellende - Art des Gesagten. Betrachten wir genauer, was wir unter Sprechakten verstehen, um sie dann in das sprachliche Handwerkszeug des wirksamen und sich seines Erfolgs bewußten Sprechenden zu übertragen. Die Entdeckung der Sprechakte erfolgte erst kürzlich und wird allgemein dem Oxforder Philosophen John Longshaw Austin zugeschrieben, der einige Erkenntnisse Wittgensteins weiterentwickelte und als erster feststellte, daß es Formen der Sprache gibt, die eigenständige Aktionen sind 17 . Das Thema wurde dann vom Amerikaner John Searle systematisch untersucht und anschließend von allen Sprachphilosophen behandelt, allerdings von einigen mit Übertreibungen, denen sich dann die genannten ersten Autoren selbst widersetzen mußten18. 17 J. L. Austin, How to Do Things with Words , Un. Press, Oxford, 1962. 18 J. R. Searle, A Taxonomy of Illocutionary Acts , Un. of Minnesota Press, Minneapolis, 1975 (Teil eines Sammelwerkes von Κ. Gunderson).
6.8. Sprechakte
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Beim Sprechakt handelt es sich in einer vereinfachten Originaldefinition von Austin um „eine diskrete Diskurseinheit, die nicht durch oberflächliche sprachliche Fakten, sondern durch eine ausdrückliche Willenseinheit begrenzt ist" 1 9 . Die Definition ist nicht ganz eindeutig. Betrachten wir ihre Erläuterungen, wie sie sich aus den Worten von Austin und von Marina Sbisà ergeben, die ihn in Italien bekannt machte. Sbisà führt aus, daß das Wesen der Sprache in ihrem aktiven Charakter liegt, also in „der Tatsache, daß sie an außersprachliche Ziele gebunden ist 2 0 ... der Sinninhalt entwickelt sich auf pragmatische Weise (im Hinblick auf die „Redesituation" und die Beziehungen zwischen Sprechendem, Angesprochenem und Umfeld) mit Bezug auf Absichten und Aktionen eines Sprechenden und einer Zuhörerschaft". So werden „sowohl Sinn und Bezug (die Dinge, über die gesprochen wird) wie die Kraft (des Gesagten) zu Aspekten des Sinninhaltes der gesamten Rede" 21 . Auch diese Erläuterung ist nicht gerade klar. Erklärungshalber sei gesagt, daß es in einer einfachen Feststellung-Beschreibung wie „der Schnee ist weiß" zu keiner Aussage oder Stellungnahme des Sprechenden kommt (es versteht sich von selbst, daß der Schnee weiß ist). In einem Versprechen wie „ich werde morgen kommen" ist eine klare Einbeziehung des Sprechenden enthalten. In den Worten „Ich bewundere dich sehr", ist nicht nur der Sprechende, sondern auch der Angesprochen stark einbezogen (und zwar unabhängig davon, ob er die Bewunderung jetzt annimmt oder zurückweist). Austin hat sich um eine Aufstellung der „illokutiven Akte", also der gesprochenen, nicht einfach umschreibende Ausdruckstypen bemüht. Er hat sie dabei in fünf, nicht unbedingt von einander unterscheidbare Kategorien eingeteilt: in „beurteilende mit denen man „Urteile" fällt oder das Wahre bestätigt („dieser Apfel ist faul", „dieser Mann ist unehrlich"); in „ausübendemit denen man Entscheidungen annimmt oder auferlegt („ich spreche dich frei", „ich verurteile dich"); in „auftragende" zur Annahme oder Zuweisung von Pflichten („ich werde kommen, sei ganz beruhigt", aber auch: „ich bin sicher, daß du kommen wirst") in „verhaltensmäßige mit denen sich Verhaltensweisen ausdrücken lassen („ich fühle mich sehr einbezogen"); in „darlegendedie die eigene Rede vorplanen oder strukturieren („Ich werde versuchen, ausführlich zu sein, selbst wenn ..."). Diese Aufteilung wird selbst von ihrem Autor als unbefriedigend empfunden und wurde mehrfach von anderen Autoren abgeändert. Diese anderen haben - mit Ausnahme von John Searle - manchmal, wie bereits ausgeführt, übertrieben und der Theorie der Sprechakte eine erklärende und praktische Wirkung zuerkannt, an die ihre Autoren und Systematiker (Austin und Searle) niemals gedacht hatten. Searle hat in einem 19
So im Sprachlexikon von Giorgio Raimondo Cardona, Armando, Roma, 1988. M. Sbisà, Gli atti linguistici , Aspetti e Problemi di Filosofia del Linguaggio , FeltrinelliReadings, Milano 1978, S. 53. 21 M. Sbisà, Op. cit., S. 21. 20
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6. Kap.: Die Aufbaubedingungen des Diskurses
Interview mit der Zeitschrift „Versus" gesagt22, daß in oberflächlicher Weise versucht würde, die Theorie auf Gebiete und Probleme anzuwenden, auf die sie sich nicht anwenden läßt, und daß er am meisten darüber betrübt sei, wie das Thema zerredet worden war. Ich glaube, daß der interessanteste Aspekt der Sprechakttheorie die Verbindung ist, die sie zwischen Sprache und „Diskurssituation" herstellt; wobei hervorzuheben ist, daß ohne diese Verbindung die Sprache ihre Ausdruckskraft und ihre Wirksamkeit verliert. Ein geistig Gestörter kann auf dem Dorfplatz eine perfekte Rede über internationale Politik ohne jede Auswirkung auf die Zuhörer halten; umgekehrt kann ein Mann, der freiwillig den Hampelmann vor dem italienischen Parlament spielt - denken wir an das, was der italienische Abgeordnete Pannella vor einigen Jahren tat - durchaus wirksam sein und Beachtung finden. Austin hat das Problem folgendermaßen zusammengefaßt: „Unser Wirkungsakt (sprachlicher Akt mit Auswirkungen auf den Angesprochenen) .. kann nichtig und effektlos sein ... Wenn beispielsweise der Sprechende nicht im Stande ist, den Akt auszuführen, oder wenn das Thema, auf das sich der Akt bezieht, keine Ausführung zuläßt ...: Ich kann das Schiff nicht taufen, wenn ich nicht dazu ermächtigt bin ... Ferner kann die Wirkungsaussage, selbst wenn nicht nichtig, „unglücklich" oder nicht aufrichtig sein, wenn sie unaufrichtig formuliert i s t . . . man hat dann die Theorie falsch angewandt... So ist unsere wirksame Aussage (wenn derjenige, der sie ausspricht, dazu berechtigt ist und die Bedingungen des „Glücks" beachtet) gleichzeitig Tat und Äußerung" 23. Es existiert aber, fügt Austin hinzu, kein grammatikalisches oder lexikales Kriterium, welches uns helfen könnte zu erkennen, ob ein derartiger Akt mit den Regeln über die Berechtigung des Sprechenden und den „Bedingungen des Glücks" übereinstimmt. Es bedarf einer empirischen Untersuchung durch den Angesprochenen oder einen anderen am Gespräch irgendwie interessierten Menschen. Damit betritt die Linguistik allerdings den Bereich der Soziolinguistik und der Psycholinguistik. Im komplexen Bereich der „Sprechakte" interessiert uns im Zusammenhang mit dem Thema dieses Kapitels insbesondere die Beherrschung der sprachlichen Tat. Bei der Interaktion wird die Rede zur Aktions spräche, die sich - ob es der Sprechende nun will oder nicht - in „Sprechakten" ausdrückt. Die Beherrschung dieses Instruments kann einen positiven Einfluß auf die Beherrschung des Redevorganges haben; und zwar dank der Kraft der Sprechakte, deren Wirksamkeit wohl auch größer als die der anderen Instrumente der interaktiven Sprache ist, die sich auf das „neurolinguistische Programmieren", die „transaktionale Analyse" oder die „Asserti vität" beziehen. 22
J. R. Searle, „An InterviewVersus,
Quaderni di Studi Semiotici, nn. 26-27, 1980,
S. 17. 23
In M. Sbisà, Gli Atti Linguistici , op. cit., S. 50 ff.
6.8. Sprechakte
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Anderererseits kommt es manchmal auch unbewußt zu „Sprechakten", und zwar selbst in absolut „unglücklichen" Situationen: beispielsweise, wenn man ins „Fettnäpfchen tritt". Man sollte also den Einsatz dieses Instruments beherrschen. Aber es gibt noch einen anderen Grund, der die Beherrschung dieses Instruments nahelegt und der meines Wissens noch nicht genügend erforscht wurde. Bei der Erstellung von Sprechakten spielen wir auf mehr oder weniger „glückliche Weise" unsere Rolle, setzen aber ebenso unseren Status, also unser Selbstbewußtsein und unsere Persönlichkeit aufs Spiel, so daß wir uns - bewußt oder unbewußt (was schlimmer ist!) - gezwungen sehen, unser Selbst als Sprechende bei der Schaffung unserer „Sprechakte" jeweils neu zu strukturieren. Manchmal sind es letztere, die auf unser Inneres und unsere „soziale Maske" Einfluß nehmen; manchmal ergibt sich das Gegenteil. Aber eines ist sicher: die Worte, die wir sozusagen als geistige Meteore aus unserer Rede hinausschleudern, glätten oder bewegen das Wesen des Sprechenden und das des Angesprochenen und berühren seine höchstpersönlichen Seiten. Es empfiehlt sich daher, gut auf das aufzupassen, was man sagt, auf das, was man hört, und wie man die eigene Rede und das Gesagte plant und - mit den Formen der interaktiven Sprache - aufbaut. Ich werde jetzt einige ganz einfache Beispiele der „illokutiven sprachlichen Interaktion" geben, die mit Hilfe von Sprechakten durchgeführt sind und die sich gerade deshalb verallgemeinern lassen. Nehmen wir als sog. „Diskursumfeld" eine normale Familie (in jeder Familie, selbst in einer sich auflösenden Familie kommen sehr viele sprachliche Interaktionen vor) mit einem beruflich sehr erfolgreichen, sehr mit der Familie verbundenen, aber stark auf seine Umwelt schauenden Vater, einem über zwanzigjährigen Sohn, der ein ehrgeiziger Student ist, einige Bewunderung für den Vater hegt und keinen übermäßigen Lerneifer an den Tag legt. Der Vater ist gebildet. Er möchte zwar den Sohn in seinem Studium unterstützen, ist aber sehr beschäftigt. Eine Schwierigkeit besteht in der nicht leichten Interaktion mit dem Sohn, wenn man über Probleme wie den Lerneifer im Studium und den erreichten Kenntnisstand bei der Vorbereitung der Prüfungen, das Pflichtbewußtsein, die Fähigkeit zur Planung der Lerntätigkeit usw. spricht. Andererseits steht der Sohn in einem versteckten Gegensatz zum Vater: er hätte ihn gerne öfter in der Nähe, interessierter, anwesend, ohne sich aufzudrängen, entspannter und weniger um die Studienerfolge des Sohnes besorgt; wobei der Sohn trotz einiger Schwierigkeiten zuversichtlich ist und ihm garantieren möchte, daß er es alleine schafft und dabei erfolgreich sein wird. Er möchte außerdem, daß der Vater seinen Lebensstil nicht kritisiert, der darin besteht, spät zu Bett zu gehen, unregelmäßig zu essen, das Telephon „übermäßig" (nach Ansicht des Vaters) zu benutzen, eine Tendenz zur Improvisation an den Tag zu legen. Vor allem, wenn der Vater den verhaßten und banalen Satz sagt: „man soll nicht die Felle verkaufen,
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6. Kap.: Die Aufbaubedingungen des Diskurses
bevor man den Bären erlegt hat", den er ihm jedes Mal ins Gesicht wirft, wenn er, der Sohn, ihm von seinen Berufsplänen spricht. Außerdem sollte der Vater nicht nur mit Ratschlägen, sondern auch einmal mit einem Kompliment „herausrücken" und möglicherweise nicht immer heimlich in die Zeitung schauen, wenn er ihm zuhört. Eines Abends kommt der Vater nach Hause und möchte sich beim Sohn über den Stand seiner Studien erkundigen. Er ist sich der leicht gespannten Situation bewußt und wagt nur ein „Wie geht's?". Antwort „Gut, Und Dir? Wie war es heute im Büro?" Dem Vater ist damit klar, daß er keinen Schritt vorwärts kommt. Nachdem er also ziemlich gestört (warum eigentlich?) einen kurzen und eher allgemein gehaltenen Bericht erstattet hat, geht er wieder zum Angriff über (bevor sein Sohn wieder die Stellung des Sprechenden einnimmt und ihn fragt, ob er nach dem Essen das Fußballspiel sehen will). So wagt der Vater daher ein: „Na, wie geht es mit dem Studium voran?" Antwort: „Es geht". Seitdem denkt der Vater, der wieder der Sprechende geworden ist, daß man als Angesprochener besser dran ist. Da er aber ein Ehrenmann ist, fährt er fort: „Hast Du irgendwelche Schwierigkeiten?" Der Sohn antwortet großzügigerweise halbernst: „Nein, warum?" „Ach, ich weiß nicht, vielleicht ist der Stoff so trocken." „Alles ist trocken, wenn eine Prüfung ansteht." Diese Erwiderung ist kein Sprechakt. Es handelt sich dabei um eine reine Feststellung (ein feststellende Aussage) in der Formulierung des „Récit", die allerdings auch bedeutet: „Was ist denn das für eine Frage?" Der Vater stößt weiter vor. „Wie weit bist Du mit dem Pensum gekommen?" Antwort: „Einigermaßen". Der Dialog geht also unbefriedigend weiter. „Nein, ich will sagen, ob Du zeitlich richtig liegst oder ob Du in Verzug bist." Von nun an blockt der Sohn jede illokative Aussage ab. „Mach Dir keine Sorgen 24, dies betrifft nur mich." Wenn der Dialog noch weiter geht, wird er wahrscheinlich im Streit enden. Das Problem ist die Einbeziehung - in jener „Gesprächssituation" - des Selbstbewußtseins und des Status der Gesprächspartner. Die Worte dienen nur dazu, das Wesen eines jeden Gesprächspartners aufzuzeigen und es einzubeziehen. Kommen wir zu einer anderen Situation, diesmal in einer Firma. 24
In der Sprache der analytischen Philosophie ist das „mach Dir keine Sorgen" - bezogen auf eine „Gesprächssituation" - „eine sprachliche Sperre". Siehe D. Weldon, I Principi Politici, in: G. Gava, R. Piosan, La filosofia analitica, Liviana, Padova, 1972, S. 323.
6.8. Sprechakte
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„Diskurssituation": ein Abteilungsleiter und ein (eher) junger ehrgeiziger Mitarbeiter, der vor allem Anerkennung sucht, aber in der Durchführung seiner Arbeit unbefriedigend ist. Der Arbeitsanfall im Büro ist unregelmäßig, vor allem der manchmal knappen, manchmal nicht vorbestimmbaren Fristen wegen. Der Abteilungsleiter hätte es am liebsten, wenn die Arbeit innerhalb der jeweils erforderlichen Zeit fertiggestellt und dann bis zum Abgabetermin auf die Seite gelegt würde, so daß man sich nicht abhetzen muß, wenn dann plötzlich die Zeit drängt. Der „Mitarbeiter" ist eher geneigt aufzuschieben; wenn dann die Frist abläuft, bringt er es irgendwie hin, daß er es mit einer Minute Verspätung schafft. Wenn der Abteilungsleiter sicher sein will, daß die Termine eingehalten werden, macht er die Arbeit selber. Aber so lädt er sich viel Arbeit auf und fordert den (platonischen) Protest des Mitarbeiters heraus, der sich durch den Chef übergangen fühlt. Wenn der Abteilungsleiter über den Stand einer bestimmten Arbeit unterrichtet werden will, die vierzehn Tage zuvor vergeben wurde, kann er eine ganze Reihe von Fragen stellen, die gleichzeitig Sprechakte sind: „Jener Bericht..." er bringt den Satz nicht zu Ende und geht auf dem Gang in die entgegensetzte Richtung des Mitarbeiters, der ihm gerade über den Weg gelaufen ist. Oder - unter Steigerung der illokutiven Kraft: „Dieser Bericht... ich möchte darum bitten." „Dieser Bericht, ich bitte Sie." „Dieser Bericht, ich rechne damit!" „Dieser Bericht, ich rechne damit für Freitag." „Übrigens: wie weit sind Sie denn mit diesem Bericht?" „Dieser Bericht ist hoffentlich fertig." „Ich hoffe, daß Sie sich noch an diesen Bericht erinnern." „Heute nachmittag, um 15.00 Uhr, bringen Sie mir bitte diesen Bericht." „Ich will doch sehr hoffen, daß dieser Bericht fertig ist." Man kann fast bis ins Unendliche so weiter machen. Die Sprechwirkung (mit ihrem Einfluß auf den Angesprochenen) der oben angeführten illokutiven Akte kann aus der Antwort oder der Nicht-Antwort oder aus der Art der Antwort oder Nicht-Antwort des Mitarbeiters herausgelesen werden. Jeweils in verschiedenen Intensitätsabstufungen schafft dieser Mitarbeiter einen Sprechakt, beispielsweise in folgenden Antworten: „Ja, Herr Doktor." „Sicher, Herr Doktor." 11 Trupia
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„Machen Sie sich keine Sorgen, Herr Doktor." „Sie hatten mir nicht gesagt, daß es dringend ist." „Jetzt, da Sie es mir sagen, werde ich mich gleich darum kümmern." „Selbstverständlich, Herr Doktor!" Und so weiter. Bei jedem Gespräch ändert sich die Beziehung zwischen den beiden Partnern und wahrscheinlich auch die Stimmung. Man kann die auslegende Zusammenarbeit selbstverständlich auch verweigern, indem man so tut, als würde man nichts verstehen; oder wenn man sich bemüht, nichts zu verstehen, wie im Falle folgender Antwort: „Ein Bericht? Welcher Bericht, Herr Doktor?" Die sprachliche Interaktion ist jeweils ein Schauspiel zu einem bestimmten Thema. Man hat kein Drehbuch; angebracht wäre allerdings eine gründliche (technisch-sprachlich-redemäßige) Vorbereitung sowie eine Entscheidung im voraus darüber, welche Beziehung man mit den verschiedenen Gesprächspartnern unterhalten will, wie man auf sie mit den „sprachlichen Provokationen", den Sprechakten oder wirksamen Illokutionen einwirken will.
6.9. Die Deixis der„Wremja" In der „ Deixis " - in ihrer hier interessierenden Bedeutung - handelt es sich um den Hinweis in der Rede auf etwas, was außerhalb der Rede steht. In Satz „Schau dieses Pferd an", ist das Pronomen „dieses" ein deiktischer Ausdruck; genau so wie die Aussage des Sprechenden im Falle der direkten Rede, bei der die Worte in Anführungszeichen angegeben sind, eine „Deixis " ist. Die „ D e i x i s d i e in ein Modell der Aussage eingeordnet werden kann, ist ein Zeichen dafür, daß der Sprechende für seine Worte verantwortlich gemacht werden kann. Wenn er beispielsweise von einem Pferd mit einem bestimmten Fell spricht, welches auf einer Wiese weidet, übernimmt er die Verantwortung für die sprachliche und redemäßige Schaffung des Objektes „Pferd" und die Tatsache seines Weidens auf der Wiese, wenn er sagt: „Schau diesen Rotfuchs an". Wenn er dies aus irgendeinem Grund vermeiden will, wird sich der Sprecher damit begnügen, auf das Objekt als Faktum außerhalb der Rede und nicht als konkreten Gegenstand hinzuweisen. Er kann dann sagen: „Man stelle sich einen Rotfuchs auf der Weide vor ...". In diesem Fall ist die Verantwortung des Sprechenden für die Aussage nicht völlig aufgehoben, ist aber sicher geringer. Sie betrifft nicht die Art des Pferdes, seine wahre Identität, sondern nur dessen Typ. Es handelt sich daher um eine allgemein gehaltene Verantwortung im Sinne von: „ich rede von einem Pferd und nicht von einem Zebra".
6.9. Die Deixis der „Wremja"
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Mit der Deixis legt der Sprechende „seine Stellung" gegenüber dem Redegegenstand fest. Er aktiviert gleichzeitig den Angesprochenen, der beispielsweise antworten könnte: „Ach nein, kein Pferd. Siehst Du nicht, daß es nur ein Schatten auf der Einzäunung ist!", oder „Nein, das Pferd hat mit unserer Unterhaltung jetzt nichts zu tun". So gesehen gehört die Deixis zu der als sprachliche Illokution bezeichneten Strategie, wie aus folgendem Ausdruck hervorgeht: „Der Sinn deines Verhaltens scheint mir ganz klar". Da die Deixis dem Sprechenden eine Verantwortung aufhalst, führt sie auch zu einer erheblichen Verstärkung des Gesagten, die unter Umständen dem Betrug nahekommt. Die Deixis ist nämlich auch ein Versuch, das Gesagte zu objektivieren: „das, wovon Du sprichst, liegt dort; es geht nur darum, davon Kenntnis zu nehmen; ich habe dich nur davon unterrichten wollen". Sofern es keinen Widerspruch gibt, kann der Hinweis als Bekanntmachung gewertet werden. Dies ist das strategische Ziel nicht weniger deiktischer Handlungen. Es gibt noch einen anderen interessanten Aspekt der Deixis. Nach einigen Autoren der transzendentalen Phänomenologie, deren Vorstellungen sich auf Heideggers sogenannte „Manifestierung des Seins" zurückführen lassen, ist die Aktivierung einer Deixis in der Rede der einzige Weg zur Bestimmung des Gegenstandes der Rede (normalerweise das grammatikalische Subjekt in den Propositionen). Wenn wir sprechen, machen wir nichts anderes als daß wir ein Etwas im Dunst der Welt auftauchen lassen. In diesem Fall hilft das deiktische Wort, den Schleier von den Dingen der Welt und in der Welt wegzuziehen, um sie aus einem Umfeld voller Signale isoliert hervortreten zu lassen. Der strategische Wert der Deixis ergibt sich aus einem Beispiel, das der Zeitung entnommen ist und sich in ein Umfeld von extremer Kommunikationsnotwendigkeit und enormer emotionaler Spannung stellt. Dabei hoffe ich, daß das Beispiel über die Konsistenz und Intensität der deiktischen Handlung angemessen Auskunft gibt. Das Beispiel ist der sowjetischen Tagesschau „ Wremja" („Zeiten") entnommen: es wurde am 15. Februar 1989 abends in der Zeit der größten Zuschauerdichte und am darauffolgenden Morgen mit Untertiteln von der italienischen Tagesschau („TG2") ausgestrahlt. Es ging um den Bericht über den endgültigen und bedingungslosen Rückzug der Roten Armee („bis zum letzten Soldaten") aus Afganistan; und zwar nach fast 10 Jahren gescheiterter Versuche, das Land militärisch unter Kontrolle zu halten und der „Guerrilla" der „Mudschahadin" die Stirn zu bieten. Das „Diskursumfeld" läßt sich leicht zusammenfassen: die „internationale Hilfe" der Roten Armee in Afghanistan hatte wider Erwarten in die Ausweglosigkeit geführt, die sich bereits für die USA in Vietnam ergeben hatte: dasselbe militäri11
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6. Kap.: Die Aufbaubedingungen des Diskurses
sehe Engagement, dasselbe Unvermögen der regulären Truppen, trotz ihrer starken Bewaffnung und wegen der Unkenntnis der Örtlichkeiten den Gegner mit seinem Nationalstolz und Heimatsinn zu überwältigen. Der einzige Unterschied bestand im psychologische Kontext der öffentlichen nationalen und internationalen Meinung, die den Amerikanern wesentlich feindlicher als den Sowjets gegenüberstand (wir haben allerdings wenig von den Reaktionen in der UdSSR gehört). Man kann sich die Verlegenheit der Redaktion von „Wremja" vorstellen: wie soll sie die Nachricht über eine Niederlage, der ersten Niederlage der bis dahin unbesiegten, „unbesiegbaren" Roten Armee verbreiten? Wie der sovietischen öffentlichen Meinung klarmachen, daß 15.000 Soldaten umsonst gestorben waren, daß der Krieg dem afghanischen Volk 1.000.000 Tote, 5 Millionen Flüchtlinge und eine unübersehbare Zahl durch Minen Verkrüppelten gekostet hatte, ohne wenigstens über ein „historisches" oder politisches Alibi zu verfügen; wie erklären, daß das afghanische kommunistische Regime, bis dahin zum „Freund" erklärt, nun plötzlich allein gelassen wird? Wahrlich eine schwierige Aufgabe. Welcher Titel, welche Ausrichtung, welcher Kommentar, welche Bilder, welche Rhetorik oder Nicht-Rhetorik, oder Rhetorik der Nicht-Rhetorik soll zur Anwendung kommen? Welche Thematisierung, welcher „Fokus", welche Darstellung der Nachricht und des Berichts? Welche Dokumente und welche historischen Fakten sollen erwähnt werden? Welche Einstellung zur befreundeten Regierung von Najibullah usw.? Die „ Wremja "-Redaktion hat diese Vielfalt von Problemen auf kommunikativ ausgezeichnete Weise durch Ausschöpfen der Kräfe in der Deixis gelöst: indem sie die Bilder und auch einige, sorgfältig ausgewählte Persönlichkeiten sprechen ließ. Erster Eindruck auf die Zuschauer: der Titel, der auch der „Fokus" der Nachricht ist: „Jeder Krieg geht einmal zu Ende. Dieser endete so". Ein kluger Titel, der eine eindeutige Wahl in der Kommunikations-Politik zum Ausdruck bringt und der dem Prinzip der Relevanz (C1 ) und jenem des Bezugs auf das Umfeld der Vorfälle (C4) entspricht. Er ist klar in zwei Abschnitte unterteilt: im ersten geht es um eine „Information über die Welt", im zweiten um eine Deixis. Die „Information über die Welt" ist üblicherweise der weise Ausspruch, der uns daran erinnert, „wie die Dinge laufen"; er ist stets feierlich und belehrend für alle (Sprechende und Angesprochene). Normalerweise in die Aussageform des „Récit " gekleidet weist er auf das Gesetz hin, das besagt, daß „alle sterben müssen". In unserem Fall bekommt der Ausdruck „zu Ende gehen" einen Unterton von: „zu Ende gehen, ohne eine Spur zu hinterlassen, selbst wenn man den Krieg für ewig hielt (9 Jahre und 50 Tage), für ewig und unnötig; er geht zu Ende und löst sich selbst in der Erinnerung auf, ohne übermäßige Bitterkeit zu hinterlassen". Die Deixis des zweiten Teils entspricht dem „Fokus" des Titels, dem Höhepunkt des gesamten Berichtes. Mit den Worten „Dieser endete so" geht man unmittelbar auf die Bilder über, denen mit Rücksicht auf ihre informative, also beschreibende
6.9. Die Deixis der „Wremja"
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und bewertende Wirkung die Botschaft anvertraut wird; wobei eine subtile Manipulation des Zuschauers stattfindet, der zu einer persönlichen, gefühlsmäßigen Teilnahme „gezwungen" wird. Er wird die „Brücke der Freundschaft" über dem Fluß Mir, der Grenze zur UdSSR sehen, die von den sowjetischen Truppen und den Panzern schweigsam überquert wird. Neben dem Geländer, noch auf der afghanischen Seite, läßt der Vizeoberleutnant Boris V. Gromov, Generalkommandant der Roten Armee, die Truppen passieren und wartet den letzten Soldaten ab, um nun selbst die Brücke und Grenze mit dem Gefühl der Befriedigung zu überschreiten, daß er alle seine Leute wieder in die Heimat zurückbringt. Wenige Fahnen, keine Fanfaren oder Gesänge, einige wenige einheimische Frauen, die den russischen Soldaten Blumen überreichen (das einzige Zugeständnis an die offizielle Rhetorik der „brüderlichen Hilfe"). Kurze einfache Worte, die Gromov dem Journalisten von „Wremja " sagt: „Kein Soldat oder Offizier ist nach mir zurückgeblieben. Unser Aufenthalt von neun Jahren endet mit dieser Überquerung". Am Ende gibt er seltsamerweise zu: „Trotz unserer Opfer und unserer Verluste haben wir bis zum Schluß unsere internationale Pflicht erfüllt". Er gibt sich als Sowjetbürger - also „international" - aber vor allem als Vater („keiner bleibt hinter mir zurück") und als Historiker („unser Aufenthalt endet mit dieser Überquerung"). Interessant sind auch die beiden Isotopien, oder charakteristischen Themen, die im Text auftauchen: der väterliche General und der kommandierende General, der dem Thema Akzente aufsetzt: „er ist zu Ende". Der Bericht ist aber noch nicht beendet. Die Isotopie des väterlichen Generals wird weitergeführt. Von der anderen Seite des Flusses kommt ihm sein zwanzigjähriger Sohn entgegen und umarmt ihn. Diese rhetorische Metapher der Wiedervereinigung drückt der Nachricht ein Siegel auf. Die Sowjetunion kehrt in ihre Grenzen und zu ihrer Gefühlswelt zurück. Die „brüderliche Hilfe" wurde gegeben, hat sich aber als unnütz erwiesen. Jetzt schaut das Land nach innen auf seine Bedürfnisse und Probleme als „Heimat des Sozialismus" und als Vielvölkerstaat. Diese Umarmung ist eine öffentliche und pathetische Ankündigung des endgültigen Abschlusses einer Ära imperialistischer Expansion. Um abzuschließen: die Deixis ist ein wirksames Instrument zur Darstellung der Wirklichkeit, sofern es einem gelingt, sie angemessen und geschickt und vor allem ohne Beschönigungen und erläuternde Zusätze einzusetzen. Sie kommt häufig als Appell zur Berücksichtigung der Wirklichkeit in der Ausbildung zur Anwendung. Beispielsweise bei der Fallmethode: wenn das didaktische System befriedigt und die Dozenten selbstsicher sind, läßt sich der zu untersuchende Fall mit Hilfe weniger wesentlicher Daten darlegen, so daß die Schüler ihn dann besprechen können. Aber normalerweise wird der Fall leider in eine Geschichte mit Einleitung, Haupt-
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6. Kap.: Die Aufbaubedingungen des Diskurses
teil und (gutem) Ende mit häufiger und ungeschickter literarischer Affektierheit und mit dem Anspruch auf theatralische Wirksamkeit verwandelt 2 5 . Selbst in der wissenschaftlichen Rede gewinnt nicht selten die Phantasie und die „Lust am Fabulieren" die Oberhand über die objektive Realität.
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Hier seien einige Beispiele aus der landläufigen Fall-Literatur angeführt: a) Einleitung von „Texana Petroleum Corp". (ICH13H56/HP649): „im Sommer 1969 verbrachte G. P., dem die neue Stelle als ... zugeteilt worden war, den größten Teil seiner Zeit mit Nachdenken". Folgerung: „Mich beunruhigt die Frage, wo man mit diesen abteilungsübergreifenden Problemen noch enden wird". b) Einleitung von „Hot Line Inc."(HBS 9-675 140 Rev. 12/76): „in den frühen Morgenstunden des 25/8 diskutierte T.C.. ..mit HJ. ein neues System.. .T.C. stand hinter dem Schreibtisch auf, um dem Gespräch ein Ende zu setzen und bemerkte: „Unter uns, Hai, weiß ich nicht, was ich sagen soll...". Folgerung: „Du glaubst wirklich, daß Du ein Kontrollsystem erfinden kannst, das in einem Arbeitsumfeld voller Lügner in der Lage ist zu ...?" c) Einleitung aus „II grande fiasco nucleare alla Babcock & Wilcox", aus „Fortune C. R.", Studio Ambrosetti, 1972. „Es klappt überhaupt nichts mehr, seit die berühmten Konstrukteure Folgerung: „Ich glaube, daß G. Z. sich mittlerweile durchgesetzt hat. Falls dem so ist, hat er es bestimmt nicht leicht, dem ehrwürdigen Namen von Β & W seinen alten Glanz wiederzugeben."
7. Kapitel: Die Kommunikation und die Phänomenologie des Dinges
7.1. Das phänomenologische Paradigma als kognitive Revolution Das komplexe und kunstvolle Kommunikationsinstrumentarium (das erst komplex geworden ist, seitdem man davon spricht) läßt sich auf jene ganz einfachen „Gesprächswerkzeuge" der Umgangssprache reduzieren, die instinktiv benutzt werden, wenn man sich an einen Mitmenschen wendet: „Schau mal!", „Siehst Du?", „Schön, nicht wahr?", „Was hältst Du davon?". Hinweise auf Tatsachen, Situationen, Dinge. Scheinbar gibt es in der Kommunikation nicht viel mehr als diese einfachen linguistisch-referentiellen Akte. Der Rest ist nichts anderes als ein Kommentar, eine Bewertung, eine Vorstellung, um zu zeigen, um zur Schau zu stellen, oder hingegen ein Verheimlichen aus Gründen diskursiver Taktik und Strategie. Es gibt natürlich denjenigen, der den Kommentar zu einer Sache der Sache selbst vorzieht; oder die Art, darüber zu sprechen, sofern man darüber auf verschiedene Weise sprechen kann; wie in diesem Dialog: „Was hältst du davon?"; „wovon?"; „davon - im allgemeinen". So daß das pronominale „davon" zur reinen Fiktion wird; und zwar ein Pronomen, das für keinen Inhalt steht, da es sich auf nichts bezieht. Besteht doch die Sache, von der gesprochen wird, nicht im „Darüber-Sprechen", sondern im wesentlichen von den verschiedenen Arten, mit denen andere das Thema behandelt haben. Zu erwarten, eine Sache würde existieren, wie einige meinen, weil man darüber spricht, ist das Ergebnis eines referentiellen Trugschlusses 1 und des Wunsches nach diskursiver Allmacht und zwar in dem Sinne, daß man meint, die Dinge rein durch ihre Erwähnung ins Leben rufen zu können. Sollte man auf diese Sicht bestehen, könnte man selbst anderer philosophischer Sünden angeklagt werden: beispielsweise eines allzu seichten Realismus und zwar selbst, wenn der Ankläger es niemals akzeptieren würde, seinerseits als Idealist bezeichnet zu werden. Sieht er sich doch lediglich als Forscher der Sprachwissenschaft und deshalb der Kommunikation. So kann er sich gar nicht vorstellen, daß diese Kommunikation über ihre Instrumente - also ihre Zeichen, Indizes, Bezeichnungen, Symbole, Bilder - hinausgehen kann. 1
U. Eco, Trattato di Semiotica Generale , Bompiani, Milano, 1975, S. 88.
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7. Kap.: Die Kommunikation und die Phänomenologie des Dinges
Diese Meinung der strengen Antireferenzialisten stellt sich die der Referentialisten gegenüber, die der Ansicht sind, daß das „Ding" selbst im sprachlichen Instrument und vom Kommunikationsprozeß geschaffen wird. Schauen wir uns beispielsweise einen begrifflich tiefgründigen amerikanischen Comics - Streifen wie „Dennis The Menace" an (dessen Autor leider anonym bleibt, da die Unterschrift unleserlich ist), der täglich im International Herald Tribune abgedruckt wird. Man sieht Dennis, der die wunderschöne Kunststoffpflanze begießt, die den kleinen dorischen Säulengang des Hauses schmückt. Der Mutter, die ihn frägt, was er denn da tut, antwortet er: „Seit einem Jahr gieße ich diese künstliche Blume und immer noch sieht man keine einzige künstliche Frucht!" (die Künstliche Frucht als Pseudo-Referenz). Man geht noch weiter. Politiker und Politologen züchten künstliche politische Pflanzen wie die Umweltschützer oder die Anarchisten und erwarten von ihnen, daß sie eine konkrete politische und soziale Ordnung sozusagen als natürliche Frucht schaffen. Im Gegensatz zu den Antireferenzialisten muß jedoch festgestellt werden, daß wir in der Sprache die Gegenwart einer Umwelt und der Mitmenschen erkennen. Wie könnten wir uns sonst in einer realistischen Sicht dieser Welt und der Menschheit die wichtigen neuen Erkenntnisse unserer Vorfahren bei ihrem doch sehr beschränkten Wissen erklären? Also beispielsweise die Vorstellung des Atoms von Anaximander, anschließend von Leukipp und Demokrit verfeinert und erst 1937 durch Lord Rutherford neu untersucht; oder das heliozentrische System des Aristarch von Samos; die Medizin des Hyppokrates; die Erfindung des Landanbaus, der Schiffahrt, des Sextanten, der Geometrie, des Feueranzündens, des Rads und so weiter? Es läßt sich nicht annehmen, wie manch einer behauptet, daß sich alle bisherigen Erkenntnisse im griechischen Denken ansatzweise wiederfinden lassen. Sicher ist allerdings, daß die Griechen sehr gründlich nachgedacht haben. Und vor ihnen, und nicht nur auf philosophischem oder religiösem, sondern auch auf wissenschaftlichem und technischem Gebiet die Assyrer, die Babylonier, die Hettiter, die Inder... So ist es nicht falsch anzunehmen, daß der Mensch nachdenkt und die Welt aufgrund seiner geistigen Gedankenmodelle und wissenschaftlichen und - um es mit der Sprache der modernen Wissenschaft auszudrücken - „epistemologischen" Anschauungen interpretiert. Es wäre jedoch unzutreffend zu glauben, daß diese Paradigmen eine sozusagen spontane Eigenproduktion sind. Der menschliche Geist rüstet sich von selbst nur allmählich mit Denkschemen und -modellen aus, wenn er von den Dingen der Welt (den Fakten) dazu angeregt wird, und nur unter der Voraussetzung, daß diese Dinge tatsächlich existieren. Das Ziel scheint daher die Rückgewinnung der Einfachheit und der Kraft der unmittelbaren Wahrnehmung der Welt. Genau dieses Ziel will der italienische Re-
7.1. Das phänomenologische Paradigma als kognitive Revolution
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naissancemaler Pinturicchio mit der Abbildung des zwölfjährigen Jesus im Streit mit den Doktoren im (1501 gemalten) Bild in der Kirche von St. Maria Maggiore im umbrischen Städtchen Spello zum Ausdruck bringen. Einige der Doktoren halten dicke Bände in der Hand oder schlagen in ihnen nervös nach. Jesus hat hingegen einen meditierend starren Blick, der aussagen soll, daß er über seine Auffassung der Welt nachdenkt. Im Vordergrund liegen einige Bücher auf dem Boden, die offenbar ein paar Gelehrten aus der Hand gefallen sind, weil ihr Inhalt nun angesichts der neuen Sicht der Dinge des Zwölfjährigen überholt ist. Ich höre hier auf, um nicht ein ganzes Buch über heruntergefallene und überflüssige Bücher zu verfassen. Außerdem wurde ein solches Buch bereits geschrieben und zwar mit dem Titel „ Die Krise der europäischen Wissenschaft und die Transzendentale Phänomenologie - Einführung in die Phänomenologische Philosophie". Sein Autor ist Edmund Husserl2. Die „Krise" - wie sie allgemein genannt wird - ist die Geschichte des rituellen Verzichts auf die Wahrnehmung oder, wie Husserl sagt, das Erlebte, und zwar auf dem Altar der wissenschaftlich-modernen Denkens, das die einen als philosophisches Paradigma auf Descartes und auf sein „ Cogito die anderen, darunter Husserl, auf Galileo zurückführen. Diese Wahrnehmung der Welt und der Dinge wird beispielsweise in uns durch das wenigst referentielle, nämlich das musikalische Kommunikationsmittel stimuliert. Man spricht in diesem Fall von „Empfindung" als einem Phänomen, das ganz tief im Menschen, also in privaten Bereich seinen Ursprung hat. Aber wenn wir das Solo der Hörner im ersten Satz der „Unvollendeten" von Schubert hören, überkommt uns nicht nur eine tiefempfundene Freude, sondern es steigt in uns eine Vision der Welt, des Menschen in ihr, des Kosmos auf; wir „hören" tief in uns instinktiv eine Stimme, die von jenseits des Kosmos herstammt, die über ihn hinausgeht und ihn durchtränkt 3. Wenn ich mich des phänomenologisch-transzendentalen Ansatzes bediene, um von der Kommunikation als von einer zwischenmenschlichen referentiellen Tätigkeit zu sprechen, kann - und will - ich nicht den Ansatz von Husserl oder die Überarbeitungen oder Überlegung einer philosophischen Ausrichtung veranschaulichen, die seit ihrem Anfang vor sechzig Jahren ihre Gültigkeit bewahrt hat. Ich werde mich eher an ein „Vorstellungsuniversum" halten, aus dem ich meine Sicht der Dinge mit besonderem Bezug auf die Kommunikation folgere; also einer Sicht, die diese Husserlschen Erkenntnisse zu einem Modell (und teilweise zu Modellen 2
II Saggiatore, Milano 1961, übers, von Enrico Filippini (Original posthum von 1954). Es lohnt sich, einen Aphorismus von Ilya Prigogine zu zitieren: „Die Musik ist das wahre Paradigma der modernen Wissenschaft: sie gehorcht strengen Regeln und dennoch enthält oder produziert sie Unvorhergesehenes, schafft Erwartung, Spannung und gibt stets neue Antworten". Interview mit Franco Prattico in Mercurio , 29. Juli 1989. 3
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7. Kap.: Die Kommunikation und die Phänomenologie des Dinges
von Phänomenologen und Existenzialisten wie Heidegger, Sartre usw.) verarbeitet, das zur sachbezogenen Kommunikation führt. Damit ist der Gegenstand dieses Kapitels umschrieben. Wenn das Modell befriedigt, ist dies vor allem Husserls Verdienst. Wenn es dies nicht tut, war ich entweder zur Veranschaulichung seiner Erkenntnisse unfähig; oder seine Erkenntnisse eignen sich (heute noch) nicht zu einer auslegenden Anwendung auf eine Praxis wie die der Kommunikation . Die transzendentale Phänomenologie ist sehr „irdisch", verinnerlicht und persönlich. Sie hat die Bewußtseinswelt des in der Realität lebenden Menschen zum Gegenstand. Was er dabei wahrnimmt, verwandelt er in Begriffe, Vorstellungen, komplexe geistig-kulturelle Vorgänge (wie Modelle, Theorien, Systeme usw.). Husserl (im Fahrwassser anderer Philosophen und Psychologen, in erster Linie seines Lehrers Brentano) geht von der Erkenntnis aus, daß es einen fundamentalen Vorgang gibt, der Ausgangspunkt aller anderen ist und sie ermöglicht: und zwar die zielbezogene Aktivität der menschlichen Psyche oder des menschlichen Geistes. Sie bewirkt, daß zwei Objekte der Welt, das denkende und wahrnehmende Ich und dieser vor mir stehende Tisch (als externes Objekt) - am Anfang eines gezielten Aktes von mir und somit am Ursprung meiner Wahrnehmung (oder Intention) - in gegenseitige Beziehung treten. Diese komplexe von meiner intentionalen und wahrnehmenden Tätigkeit provozierte Korrelation von Subjekt und Objekt ist eine Phänomenologie; denn die Objekte, die ins Bewußtsein dringen, werden in der Sprache der Philosophie als Phänomene bezeichnet. Diese Art von Phänomenologie (im Gedankenmodell von Husserl) ist auch transzendental, weil für sie die erfaßbare Welt nicht nur das bewußte oder geistige Spiegelbild der Dinge und des Geschehens in der Welt ist; sie ist schließlich transzendental, weil diese Fakten dank einer ordnenden und aussiebenden Fähigkeit des Ich dann auch geordnet und ausgewählt wahrgenommen werden; eines Ich, das sonst vom ununterbrochenen Fluß der Eindrücke mitgerissen würde (was übrigens im Zustand psychischer Verwirrung der Fall ist). Die Korrelation zwischen Objekt und Subjekt, zwischen Tatsache und intentionalem Bewußtsein, zwischen Faktum und Repräsentation ist die universale Voraussetzung eben der menschlichen (möglicherweise selbst tierischen) intentionalen Wahrnehmung. Von ihr ist auszugehen, um zum Verständnis des Bewußtseinsprozesses und der Bewußtseinsstruktur sowie des Bewußt-in-der-Welt-Lebens vorzudringen. Es gibt einen Unterschied zwischen meiner Beziehung zum Tisch vor mir und der Beziehung zwischen dem Stuhl, auf dem ich sitze, und dem Tisch, auf dem ich - mich darauf stützend - schreibe. Die erste Beziehung entspricht einer phänomenologischen, wohingegen die zweite eine Relation zwischen Raum und Schwerkraft ist. Relevant ist im phänomenologischen Ansatz die Möglichkeit zum forschen, zum suchen, um in der phänomenologischen Korrelation Bewußtseinszustände, Wahrnehmungen, Urteile, Vorurteile und andere Bewußtseinsvorgänge zu entdek-
7.1. Das phänomenologische Paradigma als kognitive Revolution
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ken, die das die phänomenologischen Korrelation ins Leben rufende Ding einhüllen, verheimlichen, um mit Husserl zu sprechen: „verfinstern". Dieser Vorgang der Untersuchung und der Läuterung der phänomenologischen Korrelation, der ein philosophischer Vorgang ist, bekommt die Züge einer beinahe experimentellen Tätigkeit; und zwar in dem Sinne, daß er davon ausgeht, daß die Tatsachen und die direkt wahrnehmbaren Situationen, die Erlebnisse, „real" sind. Nehmen wir den Fall der Phänomenologie der Arithmetik. Husserl war nicht nur Philosoph, sondern auch Mathematiker und Psychologe. Eine seiner ersten Arbeiten von 1891 hat den Titel „Philosophie der Arithmetik. Logische und psychologische Untersuchungen " (Erster Band der Philosophie der Arithmetik). Er fragt sich, woher die Begriffe von Einheit, Mehrheit, der (Kardinalzahlen, die wir ohne unser Zutun direkt und spontan erkennen, kommen und worin sie bestehen. Er antwortet, daß es sich dabei um begriffliche Spezifikationen einer ursprünglichen und direkten Intuition von Aggregaten oder Mengen handelt. Unser Bewußtsein, das eine dingliche Anhäufung wahrnimmt, schafft einen mengenmäßigen Begriff, der unter einem bestimmten Aspekt - dem der Quantität das Aggregat oder die Menge darstellt. Es ist eine Tatsache, daß wir spontan den Unterschied zwischen einer Birne und vielen Birnen wahrnehmen und ihn uns auch vorstellen können. Diese Vorstellung (des Unterschiedes zwischen Einheit und Mehrheit) haben wir, wenn wir einen isolierten Baum oder eine Baumgruppe sehen. Dasselbe gilt für andere Objekte und verschiedene Quantitäten. Diese Vorstellung ist die ursprüngliche Wahrnehmung. Die Wahrnehmung der Einheit und der Mehrheit, also einer Zahl (eins, drei, fünf usw.). Ihre Verbindung mit den verschiedenen Wahrnehmungen und entsprechenden Vorstellungen wird zu einem zweiten geistigen Vorgang, der sowohl über die Qualität der Objekte (Bäume, Birnen u. a.) wie auch über deren Anzahl insofern hinausgeht, als es für jede Mehrheit (oder Menge) stets eine entsprechende Zahl gibt. Aus diesem Grund halten wir die von Russell - nach vielen seit langem vorgebrachten vergeblichen Versuchen - vorgeschlagene Definition der Zahl annehmbar, wenn auch nicht in jeder Hinsicht überzeugend. Russell definiert die Zahl als eine Klasse der Klassen. „Drei" entspricht jeder Menge von drei Objekten; sie ist deren „Potenz"; also die gemeinsame Klasse aller Gruppierung von drei Objekten, um welche Objekte auch immer es sich handeln mag (Birnen oder Bäume oder Häuser). In dieser phänomenologischen „Untersuchung" von Einzahl und Mehrzahl wird demnach die Gruppierung als solche gesucht und gefunden. Würden wir nicht über die ursprüngliche Vorstellung der Gruppierung verfügen, könnten wir in anschließenden Verfahren keine weitere Zahlen und Berechnungen aufstellen.
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7. Kap.: Die Kommunikation und die Phänomenologie des Dinges
Es kommt vor, daß diese anschließenden Vorgänge die in unserem Geist und Bewußtsein und in unserer Kultur ursprüngliche Vorstellungen ersetzen. So werden wir dazu geführt, in gutem Glauben zu behaupten, daß die Arithmetik die Wissenschaft der Zahlen und des Rechnens ist, so wie die Algebra die der numerischen Symbole usw. Nach und nach vergessen wir den Ausgangspunkt (die Zusammenfassung der Dinge und der Mengen). Entsprechend behandeln wir in der Kommunikation - auch in der istitutionellen Kommunikation, die als Kultur bezeichnet wird - nur die Symbole, die Zeichen und ihre Beziehungen und wechseln sie aus. Dabei vergessen wir allerdings, daß - und dies ist bedenklich - unsere Welt anders gesehen und dargestellt werden könnte: mit anderen Strukturen, Symbolen, Zeichensystemen, Kodierungen usw. Wenn wir die Dinge ursprünglich wahrnehmen wollen, müßte die Sicht der von uns übernommenen Vorstellungen und Überzeugungen umgekrempelt werden, so daß - sozusagen auf eine ursprüngliche Weise - neuartige Verfahrens-, Vorstellungs- und Untersuchungswege eingeschlagen werden; wofür wir dann unsere Vorstellungen mit ihren Symbolen und ihrer Logik auf die Seite legen müssem. Bedarf es dafür eines Beweises? Die italienischen Kommunisten haben lange wegen des Namens und des Symbols der neuen Partei gestritten. Sie glaubten, über einen Gegenstand zu diskutieren, von dem keiner der Diskussionspartner ohne Symbole, Zeichen oder Worte etwas sagen konnte. Dabei stellten sie fest, daß es um nichts anderes als um die sozialistische Doktrin einer Labour Party ging. Dasselbe gilt für die religiösen Bewegungen im Mittelalter, zwischen den Minoriteli des Franzikanerordens und den anderen Orden jener Zeit. Es handelt sich um sprachliche und definitorische Feinheiten, die uns nach so langer Zeit nur ein Lächeln abfordern, die aber auch im heutigen Tagesgeschehen mit anderen Vorzeichen ständig auftreten. Wenn wir nun die „Suche" nach der ursprünglichen phänomenologischen Korrelation für eine beliebige begriffliche Vorstellung vertiefen, finden wir in der Sprache auch eine Schicht kultureller Vorstellungen, die die Sicht der Dinge verdeckt und gerade das verbirgt, was uns von ihnen noch unbekannt ist. Das Problem liegt also nicht darin, eine „einfache" Freilegung der Dinge herbeizuführen und zwar dadurch, daß man die kulturelle Deckschicht entfernt; denn diese Schicht verfügt auch über Kenntniswerte. Man ginge so vor wie jener Architekt, der bei der Restaurierung einer romanischen Kathedrale, die allerdings auch Bauteile aus der Gothik, der Renaissance und des Barocks aufweist, auf brutale Weise die ursprünglichen Formen herausholen wollte, indem er die späteren Bauteile, die „Überbauten" rücksichtslos zerstört. Hingegen sollte er sich damit begnügen, den Originalkörper des Baus wieder herzustellen, aber die nachfolgenden Bauteile trotzdem zu erhalten. Er könnte also seine Restaurierung so vornehmen, daß er die das Originalbauwerk verändernden Bauteile, die ja von künstlerischem oder historischem Wert sind, als solche kennzeichnet, so daß sie zu Merkmalen eines in seinem historischen Wachstum zu sehenden Baukörpers werden; auf diese
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Weise läßt sich dann die gesamte geschichtliche Entwicklung des Bauwerks konkret vor Augen führen. Die Geschichte der Wissenschaft bestätigt diese Vorgangsweise bei jeder neuen Grunderkenntnis: die Geometrie von Gauss bekommt ihren Platz neben der von Euklid; die Quantenphysik stellt sich neben die klassische Physik; die Relativitätstheorie neben die Quantentheorie. Allerdings kann man zu keiner neuen theoretischen Erkenntis (in der Geometrie, in der Physik) vorstoßen, wenn es dem Wissenschaftler nicht gelingt, wenigstens zeitweise das geläufige und konsolidierte Fachwissen seines Sachbereichs (beispielsweise in der Geometrie, in der Physik) auf die Seite zu legen; es geht darum, daß er seinen Sachbereich mit einem neuen Auge betrachtet; daß seine Sicht der Dinge vom Schleier des traditionellen Wissens, der offiziellen Kultur befreit wird. Es ist diese Art von Kultur, die Arnold Gehlen als „entlastet" bezeichnet. Er stellt sie der des „Herausforderers," gegenüber, der den Versuch einer neuen, revolutionären Denkweise im Falle eines bereits hinlänglich durchdachten Themenbereichs wagt. Kehren wir zu Husserl zurück. Die Absicht Husserls und seiner transzendentalen Phänomenologie - oder, wie man heute sagen würde, seines „Untersuchungsvorhabens'4 - ist es, bis zum Grund der Dinge vorzudringenwie er sich aus der direkten - also unmittelbaren, ohne psychologische und kulturelle Wahrnehmungsfilter und selbst ohne kategoriale und paradigmatische Überstrukturen - ergibt. Außerdem sagt Husserl im ersten Band von „Ideen" (einem Werk von 1913) folgendes: wissenschaftlich oder philosophisch oder theoretisch tätig zu sein (für Husserl sind das keine unterschiedlichen Tätigkeiten) bedeutet nicht, die Realität zu beschreiben, sondern zu sagen, wie sich die Realität im Phänomen darstellt (etymologisch bedeutet „ theoréin " „umschreiben"). Es geht also nicht darum, die Wirklichkeit zu beschreiben, sondern sozusagen die im Inneren des wahrnehmenden Bewußtseins erlebte Realität zu erfassen. Alle Philosophen - nicht die Wissenschaftler, die meist Realisten sind - träumen davon, den Zugang zum Wesen der Dinge zu finden. Wie aber soll man dieses Ziel erreichen, wenn schon allein die Wahrnehmung eine geistige Konstruktion ist? Es gibt eine Videokassette der pharmazeutischen Firma Fidia (1990), die uns zeigt, daß wir uns beim betrachten eines Bildes - beispielsweise des „trunkenen Bacchus" des italienischen Barockmalers Caravaggio - durch zusammensetzen von einigen unserem Gedächtnisarchiv entnommenen Wissensfetzen eine spezifische Betrachtungsweise schaffen. Der Wein im Kelch läßt uns aus diesem „Archiv" Erfahrungen zum Objekt „Wein" abrufen, die wir 4 Das Problem der Erfassung der Realität als Bezug war stets in der Forschung Husserls gegenwärtig. Zum ersten Mal hat er sich in eindeutiger Weise in einem Universitätszyklus im Jahre 1907 damit auseinandergesetzt, dessen Text heute als „Sektion zum Ding" bezeichnet wird.
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aber jetzt zu einem Wein im Kristallkelch, zu einem Wein in der Hand eines regelmäßigen Trinkers, ja eines ständig und existentiell trunkenen Trinkers wie Bacchus umwandeln müssen, der aus seiner Trunkenheit eine Lebensphilosophie gemacht hat. Es ist ein Denkvorgang, der auch stattfindet, wenn verschiedene Wissensbereiche mit Hilfe der vergangenen und der sich abzeichnenden künftigen - in der Erinnerung und der sich in der Phantasie, in den Träumen, Plänen, Wünschen usw. äußernden - Kultur wieder zusammengesetzt werden. Ein Beweis dafür läßt sich im Verhalten eines geistig gestörten Menschen finden, der sich auf ein Detail versteift, das für den normalen Menschen unbedeutend ist, für ihn aber zu Verstörung führt. Er kann beispielsweise die Traube aus der Girlande, die den Bacchus krönt, geistig „herausnehmen" und sie in einen Weinberg verwandeln; was in seinem Gemüt zu einer furchterregenden Vision und daher „unerklärlicherweise" beim Anblick des Bildes zu Angstzuständen führt. Unsere Wahrnehmung ist also nicht angeboren, sondern wird durch unsere früheren und zukunftsbezogenen, bewußten und unbewußten Visionen, Kenntnisse und geistigen Vorstellungen der Dinge gelenkt und geprägt. Bekanntlich finden einige Personen leichter als andere, was sie - in einer Buchhandlung oder in einer Werkzeugkiste - suchen. Vielleicht, weil sie sich nicht von dem ersten „interessanten" Gegenstand, den sie sehen, ablenken lassen; oder weil sie eine größere Fähigkeit zur Unterscheidung der ihnen gleichzeitig vor die Augen kommenden Gegenstände haben; eine Fähigkeit, die sich sicherlich beispielsweise beim Uhrmacher dann äußert, wenn er eine Schachtel voller Uhrbestandteile sieht. Dasselbe ergibt sich in der Realität; allerdings kommt als erschwerendes Element hinzu, daß jede Vorkenntnis (der Welt oder der Uhrwerkteile) zwar das Erkennen der Dinge erleichtert, aber gleichzeitig auch eine Falle darstellt. Der Uhrmacher erkennt zwar sofort genau alle Einzelteile in der Schachtel, aber er sieht sie nicht als die Bestandteile einer künstlerischen Komposition oder - wie ein Kind - als Spielzeug. Die Vorkenntnis führt also immer auch zum Ausschluß von Alternativ Visionen; je genauer und bestimmter sie ist, desto weniger läßt sie die Möglichkeit einer anderen Sicht zu. Ideal ist nach Husserl (dem Husserl der „Idee "), wenn die Vorkenntnis nicht gelöscht wird - dies wäre unmöglich und auch unangebracht - , und trotzdem das Erfassen der Essenz der Dinge gewährleistet ist; jener Essenz, die durch unsere Wahrnehmung in unser Bewußtsein „eingespeichert" wird. Diese Essenz läßt sich dank der „eidetischen5 Intuition" erfassen 6. Auf welche Weise? Durch die Variationsmethode, also durch das freie Variieren - im Bewußtsein - der erlebten Wahrnehmung. Auch hier können wir uns auf unsere alltägliche Erfahrung berufen: die 5 E. Husserl, Idee per una Fenomenologia Pura e per una Filosofia Einaudi, Torino, 1976 (Originai 1913). 6 Aus dem Griechischen Eidos = Essenz.
Fenomenologica ,
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Empfindungen, die ein bestimmter Landgasthof jeweils in uns weckt; die Erinnerung an das Schulzimmer, in dem wir so viele Stunden verbrachten, die regennasse Straße. Diese Empfindungen stehen dem Wesen der Dinge nahe (der Landschaft, dem Gasthof usw.); allerdings nur solange wir nicht versuchen, diese Empfindungen in Worte zu fassen. Denn dann stellen wir fest, daß jede sprachliche Rekonstruktion dieser Empfindungen, dieser „Erlebnisse", die wahrgenommenen Dinge nicht wiedergibt und sie uns nicht ersetzen kann. Dies gilt allerdings nur, sofern wir keine Künstler sind. Wären wir es, könnten wir diese eidetische Intuition auf der Leinwand oder auf einer geschriebenen Seite festhalten oder sie in irgendeiner Form mitteilen, die die Landschaft als etwas Anderes erscheinen läßt als einen Ort, an dem man das Wochenende verbringt, die Gaststätte als etwas mehr und etwas weniger als einen netten Platz zum Einkehren ... Das Kunstwerk stellt aus dieser Sicht den Inhalt eines reinen Gewissens dar (frei von verschleierndem Wissen, von geistigen Kompromissen und Vorurteilen); es weist eine unbekannte andere Seite der Dinge auf, die vom Künstler in eine von Menschen erfaßbare Form gebracht wurde. Wenn das Bewußtsein frei von Vorurteilen, „rein" ist, wird es auch transzendental und intentional . Es wendet sich an die Welt, an die Dinge, überträgt sie in das Bewußtsein, so daß sie in der Transzendenz zur universellen und notwendigen Essenz finden. Dieses Stück Land weckt in mir auch die Vorstellung der Landschaft; diese Gaststätte auch die der netten Einkehr. Diese reinen Visionen7 können das Ergebnis der analytischen Überlegung, aber auch der intuitiven, inspirierten und selbst instinktiven Empfindung sein. Dieser letzte Fall liegt vor, wenn man auf die Untersuchung der Ursache einer bestimmten Empfindung verzichtet, und zwar aus dem Gefühl heraus, daß sie mit jedem Erklärungs- oder Beschreibungsversuch nur zerstört oder abgeschwächt werden könnte. So warnt uns der italienische Dichter Montale: „Frage uns nicht nach dem Wort, das Dir Welten eröffnen kann". Und Petrus konnte nicht umhin, zu dem auf dem Berg Tabor verklärten Jesus zu sagen: „Hier ist gut zu sein; willst Du, so wollen wir hier drei Hütten bauen ..." (Matth. 17,4). Ein philosophisches Problem, das sich aber auch in der Praxis stellt - und vor dem die transzendentale Phänomenologie warnt - besteht darin, daß wir das anerkannte Wissen nicht ablehnen, sondern es jeweils ausschalten sollen, wenn wir die Dinge mit neuen Augen betrachten und das Wesen der Phänomene erfassen wollen, in die sich die Dinge einfügen.
7 Als Ideen werden sie noemi genannt und sind konkrete Dinge oder Dinge, die sich im phänomenologischen Zusammenhang als solche präsentieren, während der sie beabsichtigende Bewußtseinsakt noesi genannt wird. Aber an dieser Stelle sei nicht auf diese Spezialsprache eingegangen.
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7. Kap.: Die Kommunikation und die Phänomenologie des Dinges
Dieses Ziel läßt sich mit der von Husserl vorgeschlagenen und dargelegten Methode erreichen: und zwar durch die Integration von Epoche und eidetischer Reduktion. Die Methode verlangt für ihre praktische Ausprägung eine Bereitschaft zur bewußten vorübergehenden Einklammerung jenes zwar nur methodologischen, aber durch die Gewohnheit auch zum System erhobenen Wissens; also des kategorialen Wissens mit seinem kategorialen Ansatz; und des prädikativen Wissens mit seinem prädikativen Ansatz. Das kategoriale Wissen besteht aus ordnenden Erfahrungskategorien (Ursache, Beziehung, Klasse) und daher aus Schemata, Paradigmen, Untersuchungsprogrammen, Modellen, Theorien. Dies zwängt die Suche nach dem Neuen unweigerlich in die Schranken des Alten mit seiner altgewohnten Sicht der Dinge ein. Das prädikative Wissen setzt auf die von der wissenschaftlichen Sprache bevorzugte Vorgangsweise. Es schlägt sich in der Beschreibung nieder. Die prädikative Sprache ist wissenschaftlich, aber auch einschränkend, weil sie notwendigerweise dazu tendiert, den Fragen des Untersuchungsgegenstandes Antworten zu geben und ihn in seinen Prädikaten - als epistemische Aussage8 - erschöpfend zu umschreiben. In Gegensatz zum prädikativen Wissen steht die „andere Seite" des Untersuchungsgegenstandes, der sich stets in einem neuen Licht darstellen kann; der Untersuchungsgegenstand verfügt über eine Reserve neuer Attribute, oder kann darüber verfügen, oder kann sie auch wieder verlieren; was also die jeweils vorliegende prädikative Umschreibung in Frage stellt. Sehen wir uns einige Beispiele an. Um den Untersuchungsgegenstand aus einer neuen Sicht anzugehen, muß man sich auch in den Erkenntnisbereich des Präkategorialen und des Vorprädikativen begeben. Nehmen wir noch einmal das in der Umgangssprache verbreitete Modell der tautologischen - alles andere als selbstverständlichen - Aussage, mit der ein Ding durch Wiederholung seines Namens beschrieben wird: „Japan ist bekanntlich Japan"; oder „Fiatchef Agnelli ist Agnelli". Indem man „bekanntlich" sagt, ob das Wort nun ausgesprochen oder nicht ausgesprochen wird, gibt man die Rechtfertigung für die Tautologie, also den Verzicht auf die Beschreibung und daher auf den prädikativen Inhalt. Das „Ding" - Japan, Agnelli - ist in der Tat bereits Gegenstand einer uns in ihrer gesamten semantischen Fülle eingegebenen eidetischen Intuition. Wollten wir diese beschreiben, würden wir sie nur eingrenzen, da wir nur einige ihrer Aspekte (Prädikate) - und diese möglicherweise nicht einmal genau angeben könnten. Der Gegenstand der Tautologie ist mir und meinem Gesprächspartner bekannt. Man muß ihn nur erwähnen, um in meinem Bewußtsein und in dem der anderen bekannte Vorstellungen wachzurufen. Selbstverständlich müssen diese Vorstellungen im Bereich der Allgemeinbildung und der üblichen Semantik
8 Was wahr oder falsch sein kann. Nicht-epistemische Propositionen sind beispielsweise: der Befehl, das Gebet, das Verbot usw.
7.1. Das phänomenologische Paradigma als kognitive Revolution
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liegen; wenn wir dann den hinter unserer Vorstellung stehenden Gegenstand näher kennenlernen oder ihn genauer untersuchen würden, könnte sich ohne weiteres ergeben, daß wir ihn nun ganz anders sehen, ja, daß wir ihn sozusagen neu entdekken. Noch endgültiger, leidenschaftlicher und wirkungsvoller ist die mehrfache oder insistente Tautologie der Gertrud Stein, der wohlbekannte Vers: „Die Rose ist die Rose, die Rose, die Rose". In diesem Fall handelt es sich um die Rose als Gegenstand der allgemeinen Vorstellung, der Enzyklopädie des Allgemeinwissens, in der die Rose „die Blume" an sich ist; so sehr Blume, daß sie für jede Beschreibung eine Herausforderung darstellt, weil sie ja über jeder prädikativen Darstellung steht. Es sei hier auf ein Paradox im wissenschaftlichen Denken hingewiesen. Wenn es wahr ist, daß dieses Denken stets auf kategoriale und prädikative Weise vorgeht, wenn es also das übernommene und neue Wissen akkumuliert, kann dieses Wissen - selbst bei aller Wissenschaftlichkeit - nicht ohne den oft unbewußten und bisweilen uneingestandenen Rückgriff auf das Präkategoriale und Vorprädikative bestehen. Das wissenschaftliche hypothetisch-deduktive Vorgehen beruht ja grundsätzlich auf einem Wissen, das präkategorial und vorprädikativ und daher „unwissenschaftlich" ist; und zwar auf den „ursprünglichen Begriffen". Nur ein Nihilist wie Nietzsche konnte bewußt das Risiko eingehen, den Untergang der Wissenschaft in der Irrationalität - also im Un-Rationalen der Ausgangsbedingungen als Grundlage für jede philosophische und wissenschaftliche Überlegung - zu postulieren. Der größte Teil der Anderen, vor allem der Wissenschaftler, zieht heute - nach Lüftung des Schleiers über dem Un-Rationalen - vor, zu den nicht bewiesenen Voraussetzungen der eigenen Erkenntnisse zu schweigen. Dies gibt uns allerdings nicht das Recht anzunehmen, das wissenschaftliche und das zeitgenössische philosophische Denken sei grundsätzlich „schwach", wie es die postmodernen oder postrationalen Philosophen behaupten. Die Vorstellungen Husserls geben uns hier eine sichere Auskunft: kein Begreifen der Realität ist stärker als das des „intentionalen Bewußtseins", so wie keine Verankerung selbst im wildesten Meer fester ist als die des lebenden Mollusks, das aus innerer Kraft heraus und wegen seiner äußeren Beschaffenheit mit dem Felsen eine Einheit bildet. Wie diese „Verankerung" ist auch die der phänomenologischen Korrelation, die das Ding in jeden einzelnen Bewußtseinsakt einbringt. Wenn dem so ist, welch bessere Voraussetzung könnte es für das wissenschaftlichen Vorgehen geben als die einer auf phänomenologische Weise erfaßten Realität? Die Ausgangsbedingungen, die Axiome, die Basishypothesen können nur auf dem direkten Erfassen des Realen beruhen. Dieses Erfassen ist zum Teil eine Hermeneutik des Erlebten, zum Teil die Hermeneutik eines historischen, aus dem Erlebten hervorgegangenen Umfeldes. 12 Trupia
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7. Kap.: Die Kommunikation und die Phänomenologie des Dinges
Ricoeur hat gezeigt, daß die hermeneutische Philosophie keine Anti-Epistemologie ist, sondern eine Art Überlegung über die nicht epistemologischen Aspekte der Epistemologie9. Es handelt sich also darum, der Sicht der Dinge am Anfang des wissenschaftlichen Vorgehens einen würdevollen vor-wissenschaftlichen, aber gleichzeitig rationalen Status zu verleihen. Dies schwächt das wissenschaftlich-rationale Vorgehen keineswegs ab, sondern erklärt seinen analytischen und vor-analytischen Charakter. In diesem Zusammenhang einige Worte von Nietzsche: „Es existiert... keine Wissenschaft ohne Voraussetzungen; eine derartige Wissenschaft (ohne Voraussetzungen) läßt sich nicht vorstellen, sie wäre paralogisch: eine Philosophie, ein Glaube muß immer im voraus bestehen .. . " 1 0 - um die eigenen Relevanzsysteme zu bestimmen, so füge ich hinzu, und um zu erkennen, was in der eigenen Untersuchung als Thema eingefügt - oder nicht eingefügt - werden soll 11 . Das Problem des Präanalytischen ergibt sich aus der Tatsache, daß bisher die Philosophen - mit Ausnahme der Phänomenologen im Fahrwasser Husserls und der Epistemologen mit Ausnahme von Propper, Kuhn, Lakatos und Feyerabend es nicht spezifisch untersucht haben. Der Husslersche Ansatz wird am wenigsten benutzt, dürfte aber der vielversprechendste sein. Anschließend sollen einige Beispiele für die Anwendung des Husserlschen phänomenologischen Ansatzes zur Untersuchung verschiedener Probleme und Situationen gegeben werden. Dabei ist hervorzuheben, daß über das Beispiel hinaus der Ansatz als solcher zu erfassen und zu bewerten ist; also nicht so sehr das Erfassen der - in ihrer unendlichen Vielschichtigkeit niemals ganz erfaßbaren - Wahrheit, sondern der Sinnhaftigkeit ihrer Darlegung als der heuristischen, auslegenden, konstruktiven Aussagekraft (der Systeme, Modelle, Techniken, Gepflogenheiten) jeder zusätzlichen Erscheinungsform. Wesentlich für die Durchführung dieser Untersuchung ist also eine Rückbesinnung der Sprache und der dahinter liegenden Denkprozesse auf das Kategoriale bis hin zum Intuitiv-Synthetischen und (analogisch, metaphorisch, konstruktiv) Expressiven.
9 Zitiert von M. Vozza, Ermeneutica del Pre-analitico. Su Heidegger e l'Epistemologia , in Aut-Aut, N.237-238 (neue Serie), S. 144. 10 F. Nietzsche, Genealogia della Morale , in: Opere. Band II, Vol. V, Adelphi, Milano, 1976, (3. Ausgabe), S. 356. 11 Dieses Problem stellt sich täglich mit der höchsten Dringlichkeit in der kognitiven Wissenschaft, um die Relevanzbeziehungen zwischen Bewußtsein, Geist, Ich, Person zu bestimmen.
7.2. Der phänomenologische Gedanke und die Tradition
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7.2. Der phänomenologische Gedanke und die Tradition Wie bereits ausgeführt, ist das analytische, kategoriale, prädikative Denken und die entsprechende Sprache - nicht zum alten Eisen zu werfen. Ganz im Gegenteil. Es gilt, mehrere Auslegungsansätze und -instrumente zur Auslotung des durch die Komplexität des Realen „abgeschirmten" Untersuchungsgegenstandes zur Anwendung zu bringen, und nicht, einen Denkprozeß durch einen anderen zu ersetzen. Die philosophische Untersuchung hat nur dann einen Sinn, wenn sie sich auch für das tägliche Leben als nützlich erweist. Sie hat ein Recht, spekulativ zu sein, wenn sie gleichzeitig auch anwendbar ist. Die nachfolgenden Beispiele betreffen - das erste - die Gültigkeit des kategorialen und prädikativen Denkens und - die anderen - die Nützlichkeit des präkategorialen und vorprädikativen Denkens. Sie handeln von konkreten Ereignissen und können auf sie, sowie auf Subjekte und Umstände des täglichen Lebens angewandt werden. Wenn diese Beispiele überzeugend sind, kann die Anwendbarkeit des Husserlschen phänomenologischen Paradigmas auf weitere Geschehnisse und Gebiete ausgedehnt werden. Es soll mit dem traditionellen Ansatz begonnen werden. Hierfür wird ein besonders prägnantes Beispiel der Anwendung des kategorialen und prädikativen Gedankens - und des entsprechenden Diskurses und Kommunikationsvorganges - gegeben. Es geht um die Schließung der De Masi-Agricola, einer kleinen Firma von landwirtschaftlichen Maschinen in Calabrien, in Rizziconi, in der Provinz von Reggio. Der Unternehmer und Alleineigentümer Giuseppe De Masi kann die Drohungen, Gewalttaten, Erpressungen und Schäden durch die „ 'ndrangheta das calabrische organisierte Verbrechertum, nicht mehr ertragen. Es ist der 27. Dezember 1990, also kurz nach Weihnachten 1990. Die 100 Angestellten erhalten das Schreiben mit der Kündigung „aus berechtigten Gründen". Für die Gemeinde von Rizziconi mit ihren 8.000 Einwohnern ist dies ein schwerer Schlag. De Masi-Agricola ist für Rizziconi, was FIAT für Turin ist, erklärt der Bürgermeister. Ein Journalist der Tagesschau „TG1" interviewt einen Arbeiter und „provoziert" ihn mit der Frage: „Der Fabrikeigentümer De Masi gibt auf, er hat alle entlassen und schließt. Gebt Ihr Arbeiter ihm dabei Unrecht?" Die Antwort ist bei den vorliegenden Umständen beeindruckend klar und deutlich. Sofort nimmt der Arbeiter kategorisch und prädikativ Stellung mit einem: „Natürlich nicht: der Unternehmer kann nicht gegen das organisierte Verbrechertum ankämpfen; De Masi hat durchgehalten, solange er konnte. Wir Arbeiter klagen den Staat an, der verspricht und nicht hält; der sagt, daß er kämpft, wenn er 12*
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7. Kap.: Die Kommunikation und die Phänomenologie des Dinges
dann doch nichts unternimmt; der weiß, wer und wo der Feind ist, und ihn nicht angreift". Aus dieser Erklärung ergibt sich eine klare Sicht der Dinge mit einem genauen Verständnis der den einzelnen Personen zugewiesenen Rollen. Diese Sicht wird weder von der Dramatik der Umstände, noch von der Gegenwart des Interviewers und der Fernsehkamera beeinträchtigt. Die Stellungnahme stellt sich der verschwommenen, analogischen, ausweichenden und andeutenden gegenüber, die unter denselben Umständen von mehr als einem Lokal- oder Nationalpolitiker abgegeben wurde. Nehmen wir jetzt eine anderes Beispiel, in dem ein fadenscheinig-traditionelles (galileisches) wissenschaftlich-technische Denken zum Ausdruck kommt. Nehmen wir den scheinbar einfachen Fall des schiefen Turms von Pisa. Seine Neigung nimmt ständig zu: ein Jahr mehr, ein Jahr weniger. Es langt nicht, einfach zu hoffen, daß er nicht umfällt, und sich der Vorsehung anzuvertrauen. Früher oder später wird er zu Boden stürzen, wenn nichts unternommen wird. Aber was? Und wann? Um die Ergebnisse von Konsolidierungsarbeiten genau zu kennen und um festzulegen, welcher Eingriff vorzunehmen wäre, müßte man alle Daten des Turmes, des Untergrundes, der Grundwasserströmungen und möglicherweise der atmosphärischen Faktoren, des Stadtverkehrs wie auch des Drucks der anderen mehr oder weniger neuen Bauten auf den Untergrund kennen. Es ist also eine technisch-wissenschaftliche Untersuchung erforderlich: man muß ein Modell bauen, das alles berücksichtigt, was auf die Statik des Turmes einwirken kann oder könnte. Das Modell wird allerdings die physikalisch-mathematische Sprache sprechen, die bekanntlich anhand von Schemata, also letzten Endes von Abstraktionen und damit von drastischen Vereinfachungen ausgeht; dabei gibt es keinerlei Möglichkeit, im voraus zu wissen, welche die richtigen Relevanzsysteme sind, damit sich das Wesentliche in das Modell einbringen und das Überflüssige ausscheiden läßt. Es handelt sich dabei um Relevanzsysteme, die der ursprüngliche Architekt und Konstrukteur sehr wohl vor Augen hatte, als er die Fortführung der Bauarbeiten beschloß, obwohl eine Neigung bereits bei der Beendigung der zweiten Arkade aufgetreten war. Der Turm hätte seine mit der Statik vereinbare Neigung - wie alle anderen schiefen Türme - beibehalten, wenn nicht nachträglich unvorhergesehene Eingriffe mehr oder weniger unbedacht ohne Berücksichtigung des statischen Gleichgewichts vorgenommen worden wären. Möglicherweise sollte man einen Experten von Fundamenten oder Brunnen zu Rate ziehen, falls es so jemanden gibt, der den Untergrund des Platzes, auf dem der Turm steht (er heißt „ Campo de ' Miracoli ") und den der Stadt und die für die Statik des Turms relevanten Faktoren untersucht. Ist es doch heute wesentlich, eine umfassende Kenntnis der Kräfte zu bekommen, die im Bauwerk und in dessen
7.3. Das Husserlsche Paradigma am Werk
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Umgebung wirken. Man sollte dabei auch die Dynamik kennen, die sich allerdings nicht aus den verfügbaren analytischen Modellen ergibt. Die Presse informierte, daß Piero Pierotto, Dozent für Urbanistik, eine gewichtige Untersuchung mit dem Titel „Ein Turm, den man nicht mehr retten kann", veröffentlichte. Darin wird die Geschichte von 16 Kommissionen, 147 Kommissionsmitgliedern und 150 Jahren Planung vorgeführt. Es kommt die Befürchtung zum Ausdruck, daß ein drastischer Eingriff das Bauwerk endgültig gefährden könnte. Es wurden inzwischen Vorschläge für einen „sanften" Eingriff (Carlo Cestelli Guidi und Giovanni Calabresi) oder für eine „ökologische Restaurierung" eingebracht. Es handelt sich hauptsächlich darum, das längere Zeit ignorierte Faktum anzuerkennen, daß die derzeitige Neigungstendenz des Turms auf die abnehmende Wassermenge im Grundwasser zurückzuführen ist, das ständig durch neue Brunnen angezapft wird. Es würde genügen, das hydrologische Gleichgewicht des Grundwassers wieder herzustellen, um dem Turm seine so heikle und magische Stabilität zurückzugeben. Ähnlich liegen die Dinge bei der Lagune von Venedig, dem von den überaus klugen Wasseringenieuren der „Serenissima " errichteten und Jahrhunderte lang vom Wassermagistrat überwachten großartigen Meisterwerk der Wasserbaukunst. Heute fehlen die diesbezüglichen Relevanzsysteme; die erarbeiteten mathematischen Modelle sind nicht imstande, alle in Frage kommenden Daten zu erfassen. Zum Teil berechnen sie sie als Hypothesen, zum Teil beziehen sie sie in das Modell ein, aber nur, wenn ein Außenstehender sie darauf hinweist. Die Mathematik ist eine Sprache, die einen die Realität widerspiegelnden Gedanken ausdrückt, sie aber nicht ersetzt. Gedanke und Realität befinden sich außerhalb der Sprache und daher außerhalb des mathematischen Denkens, so erlesen dieses auch sein mag. Dasselbe ließe sich auch für die Wirtschaft und die Ökologie sagen, beide noch an das wissenschaftlichen Paradigma gekettet und daher nicht imstande, sich positiv mit der Vielschichtigkeit ihrer Bezugswelten - also auch der Wirtschaft und ihren Problemen - auseinanderzusetzen.
7.3. Das Husserlsche Paradigma am Werk Im Vorwort zur italienischen Ausgabe der „ Krise der europäischen Wissenschaften und die Transzendentale Phänomenologie dem letzten Werk Husserls, richtet Enzo Paci an seine Leser den Appell zur Entwicklung einer wissenschaftlichen Tätigkeit und technischer Methoden sowie der Suche nach einer konkreten Grundlage für effizientere Aktionen in der Vergangenheit, da jeder Mensch, jedes Ereignis, jeder Planet, jeder Stern stets in ein Werden eingebettet ist .. ," 1 2 . Enzo Paci will
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7. Kap.: Die Kommunikation und die Phänomenologie des Dinges
damit sagen, daß man den Sinn der Dinge nur im Zusammenhang mit Verbindungen, Beziehungen und Hinweisen von und nach außen erfassen kann. Es wurde das scheinbar einfache Beispiel des Turms von Pisa und seiner problemreichen Konsolidierung oder der noch komplexere Fall der Lagune von Venedig mit ihrem städtebaulich-ökologischen Gleichgewicht erwähnt. Was soll man nun sagen, wenn man ganze wissenschaftliche Disziplinen wie die Mathematik, die Biologie, die kognitive Wissenschaft oder die Wirtschaft betrachtet? Wir stoßen in unserer Zeit des Umbruchs in diesen Wissenschaften auf die - von Husserl in der „Krise" aufgeworfene - Problematik des galileischen Erbes. Die große Erkenntnis Galileis besteht in der Reduktion der Realität auf abstrakte, im Laboratorium nachvollziehbare, also außerhalb derselben Realität stehende Modelle. Sie hat die moderne Wissenschaft in ihren Anfängen geprägt. Aber die heutige reifere Wissenschaft riskiert, im veralteten, aus ihrer Jugend stammenden Gewand, das Husserl in der „Krise" das „ideale Gewand" nennt, zu vergreisen. Bereits mit Galileo fängt die Überlagerung des idealisierten Ansatzes auf den intuitiv prä-wissenschaftlichen Ansatz an. Auf dieser Welt finden wir allerdings keine geometrisch-idealen Formen 13 , finden wir weder den geometrischen Raum, noch die mathematische Zeit. Das ideale oder symbolische Gewand der symbolisch-mathematischen Theorien, das sich Mathematik und mathematische Naturwissenschaft nennt, bekleidet all das, was für die Wissenschaftler und die gebildeten Menschen ... die Welt des Lebens darstellt. Das ideale Gewand bewirkt, daß wir das als das wahre Sein betrachten, was hingegen nur eine Methode ist.. .das Idealgewand hatte zur Folge, daß der eigentliche Sinn der Methode, der Formeln, der Theorien unverständlich blieb und auch während der naiven Ausarbeitung der Methode niemals verstanden wurde 14 . Aus diesem Grund, fährt Husserl in der „Krise" fort „ist Galileo als Entdecker der Physik ... ein entdeckendes und gleichzeitig versteckendes Genie" 15 . Es wäre einfach, Husserl anzuklagen, er wolle die Anfänge der modernen Zivilisation abwerten und sie in Gegensatz zur Wissenschaftlichkeit, zum modernen Gedanken und zur methodologischen Genauigkeit zu setzen. Nichts wäre ungerechtfertigter, vor allem wenn man das Leben Husserls betrachtet, der Wissenschaftler war, noch bevor er Philosoph wurde, und der ein ganzes Leben lang zu Wissenschaftlern Beziehungen pflegte. Die Problematik ist an sich einfach: sie liegt im Kontrast der jungen zur reifen Wissenschaft. Heute ist die „moderne" Wissenschaft - im Sinn von Galileo - ein 12 E. Husserl, La crisi ..., op. cit., S. 10 des Vorworts von Enzo Paci in der dritten ital. Ausgabe. 13 In der realen, konkreten Welt, die unserer direkten Erfahrung entspricht. 14 E. Husserl, La Crisi ..., op. cit., S. 78-81.
is E. Husserl, La Crisi ..., op. cit., S. 81.
7.3. Das Husserlsche Paradigma am Werk
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inzwischen herangewachsener Mensch mit Schnurrbart und Bart, die aber noch in kurzen Hosen und mit dem Spielzeug in der Hand herumläuft. Warum schafft es andererseits der wissenschaftliche Ansatz nicht, den Sozialwissenschaften ein abgesichertes Fundament zu verschaffen? Ist die Ursache für deren Krise nicht der Wunsch auf Nachahmung der Naturwissenschaften? Was können uns heute die Soziologie und die Psychologie zur Existenzkrise eines Drogensüchtigen sagen? Und was schlägt die Wirtschaftswissenschaft zur Lösung des Problems des Kapitalismus in einem Teil der Welt angesichts der Tatsache vor, daß es - und nicht der weltumspannende Sozialismus von Trotzki - das wahre Problem unserer Zeit ist? Beinahe garnichts. Sie tut sogar etwas Schlimmeres: sie leiht der Dritten Welt - offiziell über die Weltbank und vertraulich über geheimgehaltene Privatbanken mit repräsentativen Büros - erhebliche Finanzmittel und wundert sich dann, wenn diese verschwendet und nicht in einen sich selbst tragenden Entwicklungsprozeß umgesetzt werden. Kommen wir zum Problem der Wirtschaftspolitik und zur Problematik Süditaliens. Nach 40 Jahren des außerordentlichen staatlichen Einsatzes ist das NordSüd-Gefälle nicht geringer als zuvor und die Fähigkeit zur Selbstversorgung des Mezzogiorno sogar noch geringer. Ganz zu schweigen von der ökologischen Krise, die - in einer rein wirtschaftlichen Sicht - nichts anders als eine reine Abwälzung von Privatkosten auf die Gemeinschaft, von der gegenwärtigen Generation auf die nächste ist; etwa wie die Klimaanlagen in New York, die die Räume kühlen und die Straßen erwärmen (was man leicht ertragen könnte, wenn es nicht auch im August geschehen würde). Ähnliches gilt für die Medizin, die Biologie, die Geologie und alle anderen Wissenschaften. Nehmen wir die Medizin. Ihr Augenmerk hat sich völlig auf die Beziehung Symptom - Krankheit verlagert, so daß sie dabei völlig - sofern der Arzt im Einzelfall nicht anders vorgeht - das Leben des Kranken und die Individualität des Patienten vernachlässigt. Heute stellt man allmählich die Unzulänglichkeit dieser Vorgangsweise fest. Der Kardiologe Attilio Maseri, der als der Vater der modernen Methode zur Heilung der Kranzgefäßkrankheiten gilt, beschwert sich über die medizinische Praxis, nur symptombezogene Medikamente, möglicherweise nach einer Computerdiagnose, zu verschreiben. So meint er: „Bis heute gibt es nichts besseres als das Medikament, aber von ihm erwartet man sich etwas zu viel... Um eine Herzkranzaderverkrampfung zu vermeiden, reduzieren wir heutzutage mit den Medikamenten den Tonus aller Blutgefäße des Organismus ... ; um eine Trombose zu verhindern, die in einem winzigen Teil einer Herzkranzader im Laufe eines Jahres, oder mehrerer Jahre oder... niemals auftreten könnte, verabreichen wir über Jahre hinweg Medikamente, die den Gerinnungssatz des Blutes im gesamten Organismus jahrelang
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7. Kap.: Die Kommunikation und die Phänomenologie des Dinges
verändern ... Als der Kranke mir sagte: „Ich leide unter Angina, wenn ich ruhe, aber ich steige soviele Treppen, wie ich will, und ich bekomme sie nicht" wurde ihm früher nicht geglaubt. Ich sagte wie andere Kardiologen auch: „Sie verstehen das nicht, das kann nicht sein ...". Heute hingegen höre ich ihm zu; sind es doch die Kranken, die mich auf neue Ideen bringen" 15 . Maseri kämpft diese Schlacht, die die Medizin aus der wissenschaftlichen Krise herausbringen soll, alleine oder vielleicht zusammen mit ganz wenigen Gleichgesinnten. Er läßt sich von seiner Empfindsamkeit, Intelligenz und Eingebung leiten. Er verfügt allerdings, wie die anderen auch, über keinen geeigneten postgalileischen Ansatz. Die derzeitige wissenschaftliche Forschung im Zeichen Galileis kann neben der Erfahrung nicht alle relevanten Daten und Variablen systematisch berücksichtigen. Die abstrakten Prozesse, auf denen sie beruht, reduzieren die Realität auf vereinfachte Modelle. Oft wird man in der Wahl oder bei der Speicherung der aus der Praxis übernommenen Daten vom Kriterium der größten Häufigkeit im gewohnten Umfeld oder in den gewohnten Situationen geleitet: das Modell kann dann nur in einem beschränkten Bereich gültig sein. Dies ist der Grund für die häufige Redewendungen „Das hängt davon ab" und „Man muß jeden Fall für sich betrachten", mit denen man versucht, eine Verallgemeinerung des Problems zu vermeiden. Auf dramatische Weise zeigte sowohl der Vietnamkrieg als auch die Auseinandersetzung in Afganistan, daß die einheimischen Verteidiger auch dank ihrer Kenntnis der geographischen Gegebenheiten raffinierte strategische Waffen und Radartechnologien in Schach zu halten vermochten. Man hat später feststellen müssen, daß die fortschrittlichsten elektronischen Waffensysteme in der arabischen Wüste schlecht funktionierten und daß die von HERO (Hazard of Electromagnetic Radiation to Ordinance ) ausgesandten elektronischen Signale andere amerikanische Radarsysteme in verhängnisvoller Weise stören konnten16. Dieselben Folgen hatte man bereits in einem beschränkteren Umfeld wie dem der Kettenexplosion auf dem Flugzeugträger US Forrestal im Jahre 1967 mit 134 Toten beklagen können 17 ; wie auch bei der nicht erklärbaren Fehlleitung „intelligenter Bomben", die im Überraschungsangriff gegen Gheddafi 1986 ihr Ziel hätten treffen sollen und stattdessen völlig andere Bahnen einschlugen. Das Phänomen zeigt, daß bei zunehmendem Fortschritt der Apparate das Phänomen im Modell - wie in einem Forschungslabor - immer mehr auf den Einzelfall bezogen ist und immer unrealistischer wird.
16
In Corriere
della Sera, Beilage des „Lunedì Corriere
Salute", 19. November 1990,
S. 21. 17 Siehe den Bericht der Londoner Zeitschrift The Indipendent vom 19. November 1990: „ Gulf HERO Threatens Western Forces".
7.3. Das Husserlsche Paradigma am Werk
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Die Notwendigkeit, die Wissenschaft auf eine neue Grundlage zu stellen, ist also offensichtlich. Von dieser Erkenntnis geht Husserl aus, wenn er für eine „wissenschaftlichere Wissenschaft" plädiert, die sich nicht mehr mit einer Reduzierung der Vielschichtigkeit der Dinge begnügt, sondern die Realität zu verstehen trachtet, um zum Wesen der Phänomene und zu den Interaktionen zwischen Welt und Erlebnis, zwischen Erlebnis und Realität vorzudringen. So werde ich anhand von Anwendungsbeispielen einige Möglichkeiten der zur galileischen Sicht alternativen Erkenntnis der Realität aufzeigen. Diese Möglichkeiten werden uns vom phänomenologischen Paradigma und seiner Methode der epoche und der eidetischen Reduktion gegeben.
8. Kapitel: Die Anwendung der phänomenologischen Methode
8.1. Der schizophrene Geist Jeder Semantisierungsprozeß setzt die Bestimmung eines Kommunikationsgegenstandes voraus. Der husserlsche phänomenologische Ansatz kann hierzu eine nützliche Handhabe bieten und gleichzeitig interessante Auslegungswege in Disziplinen wie der Psychologie und der Psychiatrie aufzeigen. Dies erkannt zu haben, ist das Verdienst des Forschers und Psychiaters Ludwig Binswanger in seinen Studien über die Schizophrenie. Diese Bezeichnung deckt übrigens eine wissenschaftlich in ihren Symptomen genau beschriebene Geisteskrankheit ab, deren Ursachen allerdings noch weitgehend ungeklärt sind, obwohl sie als die ernsthafteste und geheimnisvollste der Geisteskrankheiten betrachtet wird. Die Psychiatrie und selbst die Psychologie tun sich bei der Analyse insofern schwer, als der aus ihren Ursprüngen übernommene weitgehend positivistisch ausgerichtete wissenschaftliche Ansatz keine geeigneten Untersuchungsleitlinien bietet. Binswanger liefert ein Auslegungsmodell und eine Beschreibung des Deliriums, also jener geistigen als Schizophrenie bezeichneten Verstörung, die, wie gesagt, vom Ansatz der transzendentalen Phänomenologie ausgeht. Bei der Darlegung seines Auslegungsmodells greift Binswanger daher auf Begriffe und Elemente des husserlschen phänomenologisch-transzendentalen Ansatzes zurück, wie beispielsweise auf die „Konstitution ", die „eidetische Reduktion ", der „Horizont", die „Intentionsowie auf solche aus dem Ansatz von Heidegger und zwar auf das ,J)asein" und die „GewogenheitDiese Begriffe werden im Laufe unserer Darlegung zumindest teilweise zur Sprache gebracht. Binswanger geht von der Feststellung aus, daß die Wahrnehmung der Realität und des eigenen Selbst, sozusagen als Wiederspiegelung der Welt in der phänomenologischen Korrelation zwischen dem Bewußtsein und den Dingen, die erste, aber nicht die einzige Funktion des Ich ist. Wenn nur sie die Funktion des Ich wäre, könnten wir uns die Welt als solche nicht erschaffen und das Ich - umgangssprachlich: der ,Mensch" - als jenes Subjekt betrachten, das weiß, wahrnimmt, ständig die Welt und sich selbst intentioniert. Ferner würde ein Ich, das lediglich die Welt
8.1. Der schizophrene Geist
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seiner Wahrnehmung widerspiegelt, das sich auf die Wahrnehmung oder in den einzelnen Bewußtseinsvorgängen auf eine Widerspiegelung des Ich beschränkt und das die wahrgenommene Realität in viele aufeinander folgende Momente aufteilt, niemals die Welt als solche als zusammenhängende Ereigniskette und sein Selbst in der Welt als Einheit erleben. Hingegen kann nur eine Kette zusammenhängender, also nicht die lose Folge getrennter, unabhängiger Wahrnehmungen ein Bewußtsein und ein Gewissen vermitteln. Die psychische Störung, die zum schizophrenen Delirium führt, liegt also für Binswanger in einer Fehlleitung im Verhalten des transzendentalen Ich; also bei jenen Bewußtseinsvorgängen, die die Synthese der Phänomene - nach den jeweiligen Wahrnehmungen - im Einzelbewußtsein bewirken und diese Synthese zu einer dauerhaften und konsistenten, notwendigen, ja rechtmäßigen Sicht der Realität und des eigenen Ich umwandeln; zu einer Sicht, die für alle wahrnehmenden Subjekte Gültigkeit hat, die also das Individuum übersteigt. Ich kann sagen: „Siehst Du das? Was hältst Du davon?" und ich kann sicher sein, daß der andere, wenn auch mit anderen Motivationen, mein Gesprächsobjekt „intentional" angeht. Die Analyse des sich so verhaltenden Ich geht auf die Schrift „Ideen" von Husserl zurück, die im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts ausgearbeitet und von ihm - als „,Intentionale konstitutive Analyse" bezeichnet1 - argumentativ untermauert wurde. Ihr ist ein inneres Zeitbewußtsein immanent. Nur unter Berücksichtigung der inneren Zeit als einer in das Bewußtsein eingedrungenen Dimension des Ereignisses, das ja im Gedächtnis verschwindet und wieder auftaucht, das in der Phantasie und im Projekt erahnt wird, kann das Ich zu einer „Vision" kommen; also zu einem insofern sinnvollen Ereignis, als es als - mit anderen Ereignissen in einer zeitlichen Dimension verbundenes - Faktum und als „Bestandteil einer Geschichte" vom Bewußtsein gespeichert wird. Dieser Vorgang der „Konstitution des Dinges" ist also ein Produkt des Bewußtseins oder des Ich oder, besser gesagt, des im Bewußtsein wirkenden Ich. Es handelt sich dabei um einen komplexen Vorgang, der stets Störungen von außen und von innen ausgesetzt ist. Ludwig Binswanger hält sich dabei nicht bei den Ursachen auf. Er beschränkt sich - und dies ist bemerkenswert - auf die Beschreibung der WahrnehmungsVerzerrungen beim schizophrenen Menschen und jener anormalen „Vision" (auch durch Stimmen, durch schmerzliche Empfindungen gekennzeichnet), die als Delirium bezeichnet wird. „Delirium " ist auch der Titel jenes Werkes, in dem er das Ergebnis seiner Forschung erläutert. 2 Die schizophrene Störung entsteht - so Binswanger - im intentionalen Vorgang, also im Vorgang der bewußten Wahrnehmung eines realen Objektes (oder des eige1 E. Husserl, Idee per una Fenomenologia Pura e per una Filosofia Fenomenologica , Edizioni di filosofia, 1970 (2. ed.). 2 L. Binswanger, Delirio, Antropoanalisi e Fenomenologia, Marsilio, Venezia, 1990.
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8. Kap.: Die Anwendung der phänomenologischen Methode
nen Selbst als Objekt). Gestört ist die zeitliche Abfolge im Bewußtseinsvorgang, der - als eine Folge von Einzelakten - in der Vergangenheit als ,,Ritention" verankert ist und sich der Zukunft als „.Projektion" öffnet. Auf die korrekte Β e wußtseins Wahrnehmung der Realität durch das Ich geht Husserl an verschiedenen Stellen seiner Schriften ein und stellt sich dabei häufig in Gegensatz zu den wissenschaftlichen Erkenntnissen der Psychologie (seiner und unserer Zeit), die die einzelnen Bewußtseinsakte isoliert und sozusagen unter Glas setzt. Während Husserl von der Normalität ausgeht, interpretiert Binswanger die Schizophrenie als eine Störung im von Husserl beschriebenen Vorgang der Bewußtseinswahrnehmung. Es ließe sich auch auf Kant verweisen, der die „Bezeichnungsfähigkeit 4' der Dinge in der Sprache und in der Kommunikation - wie sie sich nach deren Bewußtseinswahrnehmung ergibt - auf die Verbindung von Erinnnerungsvermögen und Prädikation zurückführt. Es handelt sich also um eine Fähigkeit, „Ordnung zu schaffen" (sonst ergibt sich die Unordnung in der Wahrnehmung, in der Erfassung und im Bewußtsein) im Zeitablauf der früheren und gegenwärtigen Eindrücke, die den Geist erfüllen und ihn bisweilen selbst mitreißen 3. Die schizophrene Störung führt - so Binswanger - zu einer „Zerstörung" der Erfahrung 4, die im Laufe des Lebens im wesentlichen auf folgende zwei Vorgangsweisen zurückzuführen ist: auf eine verwirrte Einordnung der Wahrnehmungen und Empfindungen in die eidetischen Felder und auf die mangelhafte Einfügung der Einzelwahrnehmung in eine zeitliche Ordnung. Dabei ist das „eidetische Feld" als ein Teilbereich der Realität zu verstehen, der im Hinblick auf das Wesen der in ihm vorherrschenden Dinge definiert wird; also von dem hochabstrakten Dingen (beispielsweise äußerlich, innerlich) bis zu den gebräuchlichsten (beispielsweise tierisch, menschlich). In den von Binswanger untersuchten Fällen - „dem Fall Aline", „dem Fall Urban", „dem Fall Strindberg" - weist er auch nach, daß das Delirium im wesentlichen die Folge einer rein receptiven Bewußtseinswahrnehmung ist, in der das Ich seine „transzendentale" Fähigkeit der Auswahl und Ordnung der (von außen und innen auf es einbrechenden) Wahrnehmungen nicht auszuüben imstande ist. In allen Formen des Deliriums - solche, die die Gegenwart, und solche, die die Vergangenheit auslöschen - fehlt die Fähigkeit des Kranken zur Transzendenz der von ihm wahrgenommenen Dinge; zu jener Traszendenz, die zum Abstand von den Dingen führt, damit dann eine persönliche Bewertung dieser Dinge zustande kommen kann, um sie dann in das „richtige Bewußtseinsfeld" einzuordnen. Aus dem Unvermögen, „richtig einzuordnen", ergibt sich nach Binswanger ein Aspekt der schizophrenischen Pathologie, den Karl Lorenz als anastrophé oder 3 I. Kant, Anthropologie in pragmatischer S. 106. 4 L. Binswanger, op. cit., S. 505.
Hinsicht, Reclam, Stuttgart, 1983, Abs. 34,
8.2. Die technologische Innovation
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Selbstbezug bezeichnet hat: und zwar „die Illusion der Zentralität (des Ich), die den Kranken dazu führt,... jeden Vorfall auf sich selbst zu beziehen5. An Stelle des transzendentalen Ansatzes als Grundlage einer geordneten - oder, man könnte sagen, ordnenden - geistigen Erfassung der Realität (als Zeitfolge, als Verhältnis zwischen sich und den anderen) ergibt sich - so Binswanger - im Delirium das Gemisch: eine konfuse Vielzahl vom Empfindungen und Eindrücken. Ein Gemisch, bei dem der Kranke - stets im Mittelpunkt - unfähig wird wahrzunehmen und - über die Kommunikation - eine zwischenmenschliche Beziehung herzustellen. Diese einführenden Überlegungen möchte ich mit einem Hinweis auf dem husserlschen Begriff der Konstitution abschließen; denn nach Binswanger ist gerade die Konstitution in der Schizophrenie völlig unzulänglich oder gestört. Sie ist nach Husserl die Fähigkeit des Menschen, alles außerhalb des Bewußtseins Stehende zu verinnerlichen, es sich durch das wahrnehmende und erfassende Bewußtsein einzuverleiben. Sie entspricht gleichzeitig der Fähigkeit, den Bewußtseinsgegenstand wieder zum Gegenstand einer Äußerung zu machen, ihm also Objektivität, Dauer und Intersubjektivität zu verleihen. Darin liegt die transzendentale Sonderfunktion des Ich. In der Schizophrenie ist dieser Prozeß gestört, fehlerhaft, ungenau, verwirrt und dies umso mehr, je schwerer die Krankheit und das Delirium sind. In Aline , einem der von Binswanger untersuchten klinischen Fälle, wird die Wahrnehmung der Realität als eine Art Selbsterfassung vorgenommen, wobei die subjektive Wahrnehmung vom Umfeld und den Mitmenschen, die diese Realität in der zwischenmenschlichen Beziehung und in der Kommunikation nachempfinden könnten, getrennt wird. Der Geist des schizophrenen Menschen - dies die Schlußfolgerung Binswangers bei Aline - entspricht einem Computer mit einem einzigen Programm, das keine Impulse mehr von außen bekommt.. . 6 ". An Stelle der Worte „von außen" könnte ich die Worte „des Ich" oder „einer anderen Person" setzen; es sei denn, man wollte das von Locke und Hume gebrauchte zusammenfassende Wort „human understanding " einsetzen.
8.2. Die technologische Innovation Ich hatte in den 60er Jahren Gelegenheit, Einblick in die intensive Diskussion in Italien über die Notwendigkeit neuer Impulse für die wissenschaftliche Forschung und die technologische Entwicklung zu bekommen. Die große Schar der Befürwor5 6
L. Binswanger, op. cit., S. 23. L. Binswanger, op. cit., S. 59.
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8. Kap.: Die Anwendung der phänomenologischen Methode
ter einer Aktion in diesem Sinne wurde vom Leiter des staatlichen „Italienischen Forschungsgemeinschaft" (CNR) angeführt, der - voll im Feld des „Entlasteten" angesiedelt - behauptete (und die anderen aufforderte, sich seiner Meinung anzuschließen), daß man auf die Grundlaggenforschung setzen mußte, daß sie nicht nur auf den öffentlichen Bereich, also auf die Universität und den Nationalrate für Forschung beschränkt werden durfte (was ja auch sinnvoll war), sondern auch auf die Privatunternehmen ausgedehnt werden sollte (was allerdings zu einigen Bedenken Anlaß geben konnte). Das Interesse der Unternehmen, dies war meine Meinung, gilt nicht der Grundlagenforschung als solcher, die in den meisten Fällen für sie zu aufwendig ist, sondern dem technologischen Fortschritt. Dieser kann zwar über die Forschung erfolgen, aber nicht nur über sie. Es reichen unter Umständen höhere Englisch-Kurse aus, um den zuständigen Fachleuten im Unternehmen die Lektüre der wissenschaftlichen Veröffentlichungen, der neu registrierten Patente usw. zu ermöglichen. Diese Überlegung ist das Ergebnis einer eidetischen Reduktion im Italien der 60er Jahre (teilweise heute noch gültig) und einer Epoche des Allgemeinwissens.
8.3. Die Entwicklung des Mezzogiorno Seit längerem bin ich im Hinblick auf die (bereits im Zusammenhang mit der Krise der Wirtschaftswissenschaft und insbesondere der allgemein übernommenen Doktrin der Wirtschaftsentwicklung erwähnten) .Mezzogiorno- Problematik" der Ansicht, daß ein Gebiet wie das wirtschaftlich rückständige Süditalien auf allen Gebieten rückständig ist: also nicht nur in seiner Wirtschaftsstruktur, sondern auch in seiner Verwaltung, in der Rolle der öffentlichen Hand (auf den verschiedenen Ebenen bis zur Rechtsprechung) usw. Unter Anwendung der Epoché auf das Allgemeinwissen und Reduzierung des Problems auf sein eidos (Wesen) ergibt sich, daß der italienische Staat und insbesondere die italienische Staatsverwaltung der Aufgabe der Wirtschaftsentwicklung nicht gewachsen sind. Doch es gibt eine Alternativlösung, die bereits in England und Irland erfolgreich erprobt wurde, nämlich die Einschaltung einer Authority bzw. Agency als verantwortlicher öffentlicher Sonderverwaltung.
8.4. Flexibilität des phänomenologischen Paradigmas im Falle anderer Anwendungen Die auf einer weitreichenderen Erfahrung beruhende Anwendungsmethode ist folgende: ein auf Staudämme spezialisierter Bauingenieur kann aufgrund eines (scheinbar) einzigen Blickes feststellen, wie sich der Boden verhält, auf dem er
8.4. Flexibilität des phänomenologischen Paradigmas
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den Staudamm bauen und dem er eine bestimmte Wassermenge auflasten will; ein Kleinbusfahrer für die Paketzustellung weiß, wie sich die Autofahrer im Verkehr in den verschiedenen Tagesstunden, in den verschiedenen Tagen des Monates und in den verschiedenen Monaten im Jahr verhalten. Es sind alles Spezialisten, die jedoch den Sinn der Plena , also der „empirischen realen oder möglichen Formen, . . . , der spezifischen Qualitäten des Sinnes, der Farbe, des Geräusches, des Geruches, des Gewichtes usw." keineswegs verloren haben7. Es bedarf also nicht nur der Fähigkeit zur Analyse, aber auch der (oft intuitiven und qualitativen) Zusammenfassung in der Synthese, der Umschreibung und der Bewertung, des Verständnisses für symbolische Zeichen, des literarischen Ausdrucks, der Objektivierung und der Schaffung von Sinninhalten. Normalerweise erfolgt dies automatisch. Das Projekt eines Ingenieurs ist von einem Bericht begleitet; dasselbe gilt für die Firmenbilanz. Es bleibt jedoch allgemein die Vorstellung bestehen, wonach die Sprache umso ernsthafter ist, je wissenschaftlich-genauer sie ist, und umso wissenschaftlicher, je mehr sie in Formeln eingefangen werden kann. Dabei vergißt man allerdings, daß die Welt der Formeln und der Symbole „parallel" zur realen Welt ist; sie kann höchstens dazu dienen, mit Hilfe der Abstraktion und häufig einer drastischen Entstellung der Realität ein Modell der Wirklichkeit zu schaffen . Man sagt: aber die Realität ist komplex und kann deshalb nicht eingefangen werden, es sei denn, man faßt sie in Formeln und in Symbolen zusammen. Dies trifft zu. Man sollte allerdings nicht vergessen, daß dieses Vorgehen einen Preis hat. Er besteht eben in einer „beschnittenen" Realität. Ganz zu schweigen von den Fällen, in denen die Formeln und Symbole vieler Wirtschafts- und soziologischer Studien nur dazu dienen sollen, den rein dekorativen Schein der Wissenschaftlichkeit zu wahren. Das Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es, Kommunikationswege aufzuzeigen und zwar insbesondere solche, die wenig begangen, ungewöhnlich, veraltet sind; dabei sollte die husserlsche Empfehlung nicht übersehen werden, wonach man sich der umgangssprachlichen Alternativformen gegenüber der heute vorherrschenden wissenschaftlichen Sprache bedienen soll. Auch die leicht prädikative Sprache, wie auch die Bildersprache (die sich der Bilder der klassischen und neuzeitlichen Rhetorik bedient) und die literarische Sprache können dem Hörenden, Lesenden usw. die Wirklichkeit wirksam darstellen, sie in Erinnerung rufen und weitergeben. Das zu bearbeitende Feld ist weit, insbesondere in der Ausbildung, in der die pädagogische und didaktische Effizienz von der Fassung der Gedanken in Worte, Bilder und Symbole und noch vor ihnen - als Ergebnis des Abstraktionsprozesses - in Plena abhängt.
7 E. Husserl, La Crisi , Op. cit., S. 80.
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8. Kap.: Die Anwendung der phänomenologischen Methode
Wenn der Mathematik-Unterricht in der Schule zum Haß der Mathematik geführt hat, kann eine sachbezogene und psychologisch geschickte Lehrmethode auf der Grundlage der persönlichen Erfahrung der Lehrkräfte den Schülern die mathematische Überlegung leicht und verständlich gestalten und selbst das Interesse dafür wecken. Ist es doch sonderbar, daß Menschen, für die die Mathematik in der Schule ein Albtraum war, sich gerne und mit höchstem persönlichem Einsatz der Lösung von Rätseln, dem Bridge- und dem Schachspiel widmen, die nicht anderes als angewahndte Mathematik sind. Es seien weitere Beispiele für die Anwendung der ausdrucksvollen Sprache gegeben. Es handelt sich dabei um zwei Gedichte der großen italienischen Dichter Giacomo Leopardi und Eugenio Montale.
8.5. Unendlichkeit: der Begriff und das „Ding" Verschiedentlich wurde bereits der italienische Dichter Giacomo Leopardi und sein Gedicht „Unendlichkeit" erwähnt. Hier das Gedicht7a: Unendlichkeit Stets war lieb mir dieser einsame Hügel und diese Hecke, die zum größeren Teile dem Blick den fernsten Horizont entzieht. Doch wenn ich sitze und schaue: grenzenlose Räume jenseits von ihr und Menschenmaß übersteigendes Schweigen und tiefste Ruhe stell ich im stillen mir vor, bei der nur kurz das Herz verweilt ohne Angst. Und wie ich den Wind rauschen höre in diesen Büschen, vergleich ich jene unendliche Stille mit dieser Stimme, und in den Sinn kommen mir die Ewigkeit und die vergangenen Zeiten und die lebendige Gegenwart und ihr Klang. Und so, in dieser Unermeßlichkeit, ertrinkt mein Denken, und süß ist mir, Schiffbruch zu leiden in diesem Meere.
Als erstes läßt sich feststellen, daß der Dichter keinen Begriff der Unendlichkeit „vorgibt", noch daß er ihn zum Gegenstand eines Kommentars gemacht hat. Er hat 7a G. Leopardi, Gesänge und Fragmente, Italienisch/Deutsch, Reclam, Stuttgart, 1990, Übersetzung von H. Endrulat.
8.5. Unendlichkeit: der Begriff und das „Ding"
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sich darauf beschränkt - dieses Verb ist zu Unrecht begrenzend - seine Empfindungen, sein Gefühl für die Unendlichkeit sich, aber auch anderen mitzuteilen: angesichts jenes Hügels, der heute noch besteht, leider entstellt und wenig inspirierend aufgrund von Föhren und Bänken, einem kleinen Denkmal für die Kriegsgefallenen und einem kleinen Gemeindehaus mit seinem Drum und Dran. Da Leopardi den Begriff der Unendlichkeit nicht umschreibt8, fügt er sich nicht in die Reihe der Philosophen wie Aristoteles, Augustin, Gelileo, Kant, Burali-Forti, Russell usw. ein, die den Begriff der Unendlichkeit zum Gegenstand ihrer Überlegungen gemacht haben. Leopardi läßt sich hingegen in die Nähe von Giordano Bruno einordnen, der die Unendlichkeit erfühlte, bevor er sie darlegte, und der so direkt wie möglich das zum Ausdruck brachte, was er fühlte. Betrand Russell, der ein feinfühlig-pragmatischer Politiker war, war hingegen in seiner Philosophie ein strenger keineswegs kompromißbereiter Logiker (im Sinne der „analytischen Philosophie" der englischen Schule). In einem Brief schrieb Russell an Frege am 16. Juni 1916: „Lieber Kollege, ich stimme Ihnen in allem Wesentlichen zu und zwar insbesondere dort, wo Sie das psychologische Moment in der Logik ablehnen und das Schwergewicht auf eine Verankerung der Mathematik in der formalen Logik legen, die - nebenbei bemerkt - schwer zu unterscheiden ist von .. ." 9 . Russell geht in einem späteren Gedankenaustausch auf seine Mühe ein, den Aussagen von Frege zuzustimmen (es ist stets einleitenden Worten wie „Ich stimme Ihnen völlig zu" zu mißtrauen). Diese Mühe betraf nicht nur die Stellung Freges zu einigen Problemen der modernen Mathematik, sondern sie war grundsätzlicher Art. Denn sie führte dazu, daß aus philosophischer Sicht das gesamte Gerüst der modernen Mathematik in Frage gestellt wurde. Es kam dabei die große Zerstörungskraft hoch, die in der „Krise der Grundlagen der Mathematik" enthalten ist. Sie ist in einer einfachen Bemerkung Russells enthalten und zwar folgender: „Enthält die Klasse aller Klassen sich selbst? Es läßt sich indiffferent mit „Ja" oder „Nein" antworten!". Die Widersprüche, die seitdem in den Grundlagen des mathematischen Gedankengebäudes aufgefunden wurden - und damit auch in der formalen Logik, wie sie 8 Der Begriff grenzt die Idee ab: er definiert und schränkt deshalb ein. Dies hat Vor- und Nachteile. Es schließt die Unbestimmtheit der Idee ab und umfaßt das Ding, auf das sich die Idee bezieht. Das deutsche Wort „Begriff entspricht der Ethymologie dès italienische Wortes „concetto ", das von „capere " = „nehmen" kommt. 9 Erwähnt in: L. Lombardo Radice, L'infinito, Editori Riuniti, Roma, 1981. Über die Unendlichkeit gibt es eine historische Abhandlung von P. Zellini, Breve Storia dell'Infinito, Adelphi, Milano, 1988. In phänomenologischer Sicht wird das Thema hingegen abgehandelt von Enzo Melandro, Paradossi dell'Infinito nell'Orizzonte Fenomenologico, zitiert in A. Ales Bello, La Fenomenologia in Italia, in: Filosofìa e Società, aprile-sett. 1979, S. 1033-126. Es handelt sich dabei um eine nützliche und tiefgründige Zusammenfassung eines gedanklichen Ansatzes, der in Italien Mühe hatte, sich durchzusetzen.
13 Trupia
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8. Kap.: Die Anwendung der phänomenologischen Methode
von Russell vertreten wurde - lassen sich gezielt auf eine einzige Ursache zurückführen; und zwar auf die strenge Trennung beim logischen und mathematischen Objekt zwischen dem psychologischen und dem logisch-formalen Aspekt und auf die „obligatorische" Umsetzbarkeit jeder logischen, philosophischen oder mathematischen Überlegung in Formeln; also das Bekleiden der Ideen mit einem abstrakt formalen, symbolischen Gewand, wie es von Husserl angeprangert wurde. Der Realität wird damit bei ihrer Erforschung und Beherrschung eine begriffliche Definition aufgezwängt, die sie einengt. Wird sie doch dadurch jener Bewußtseinserfahrung beraubt, die darin liegt, daß „die Klasse der Klassen" eine Art Sonderklasse ist, auf die sich die Regeln der normalen Klassen nicht immer und unbedingt anwenden lassen. Analog dazu kann die Schneiderin bei der Anfertigung des neuen Kleides zwar ihre Kundin durch die Schneiderpuppe ersetzen: aber zweimal wird die Kundin es doch persönlich anprobieren müssen. Dieser Gegensatz zwischen Form und Formel einerseits und Materie (die Welt in ihrer Ganzheit), Sensibilität, Phantasie, expressiver (also bildhafter) oder Symbolsprache andererseits ist schon lange ein Gesprächsgegenstand. Geht er doch auf Piaton zurück, dem sich dann Aristoteles darin gegenüberstellte. Zu Beginn der Moderne flammte die Diskussion darüber wieder auf und zwar mit Giordano Bruno einerseits und Galileo Gelilei anderersetis, beide zeitlich nur durch eine Generation getrennt. Die Kirche verdammte dann sowohl den einen als auch den anderen. Heute findet dieser Gegensatz in den Erkenntnissen des NeoPositivismus und der Phänomenologie neue Ansatzpunkte. An dieser Stelle seien noch kurz die Aussagen in den Meditationen von Giordano Bruno mit ihrer plastischen Ausdrucksweise erwähnt, die die Empfindung der Unendlichkeit heraufbeschwören 10. Dabei möchte ich auf jenen Passus eingehen, in dem Bruno sich gegen eine rein wahrnehmende und durch Formeln gedankeneindämmende Sicht der Natur ausspricht (er sollte dann allerdings ausgerechnet wegen der materialistischen Ausrichtung seiner Ideen verurteilt werden!). Wie Bruno ausdrücklich in seiner Schrift „Articuli adversus mathematicos" erklärt,"irrt die Vernunft, wenn sie die Unendlichkeit durch jeweils weitere Untersuchungen zu erreichen strebt. Kann sie doch nicht mit der Natur Schritt halten; noch kann sie hoffen, daß sie sie auf diese Weise erfaßt, ihr ähnlich wird, sie durch ständige Unterteilungen einholt; wenn sie keine Fehler machen will, muß sie sich bewußt werden, daß sie sich dank ihrer Phantasie aus der Natur hinaus begeben muß" 11 . Kommen wir auf Leopardis nicht analytisch-logischen, sondern intuitiven Gedankenansatz zur Unendlichkeit zurück. Dank seiner Phantasie legt er uns ein Bild
10
Vor allem in seinem Werk De l'Heroici Furori aus dem Jahre 1558. Erwähnt in E. Cassirer, Storia della Filosofìa Moderna , Il Saggiatore, Milano, Band 1, S. 351. 11
8.6. Das Lebensleid in 49 Worten
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der Unendlichkeit aus seiner Erfahrung vor, das jedoch auch der Erfahrung des Lesers entspricht und ihn mit einbezieht. Mit Bezug auf die formale Semantik werde ich kurz anmerken, daß die Idylle von Leopardi nicht mehr - wie in der griechischen poetischen Tradition - „eine Lebensidylle von Schäfern und Hirten" ist, sondern die phänomenologische Beschreibung einer transzendentalen Realität: und zwar des (räumlich und zeitlich) „unendlichen" Objektes. Die Beschreibung wird durch den Gebrauch von sehr wenigen Adjektiven wiedergegeben - elf in einer Komposition von 104 Wörtern deren größter Teil (7 von 11) spezifisch und nicht allgemein beschreibend ist: „einsam" um den Hügel zu definieren, „fernsten" für den Horizont, „grenzenlos" für die Räume, „übersteigend" für das Schweigen, „abgrundtief 4 für die Ruhe usw. Für uns ist wesentlich festzustellen, daß das Unendliche referentiell seine Darstellung in einer völlig normalen und gewöhnlichen Realität findet, die allerdings dem Leser eine andere Wirklichkeit in den Sinn ruft, die nicht gegenwärtig, deswegen aber nicht weniger wirklich ist. Sie ergibt sich aus einem Szenario, das aus einigen „Objekten" besteht: aus einem einsamen Hügel (wie ein japanischer Meditationsgarten); einer Hecke; dem Wind in den Büschen und ihrem Rauschen. Durch das Endliche und Vergängliche, das in diesen einfachen Objekten liegt, wird die Wahrnehmung aktiviert und befreit ihre geheimnisvolle Fähigkeit zu einer transzendentalen Vision des Unendlichen und Ewigen. Dies ist der „Formvollendung" des Textes vor allem dank dem klugen Gebrauch der Substantive zu verdanken. Die Vernunft ist stets beschränkt und der sie zum Ausdruck bringende Diskurs nie frei von Widersprüchen. Aber wenn der Diskurs nicht jedes psychologische Moment ablehnt und sich nicht nur, wie Russell forderte, einer Formalsprache bedient, sind auch Widersprüche Ausdruck der Wahrheit. Sie ist es, die angesichts der stets unvollständigen Darstellung der Wirklichkeit das Bestreben auslöst, alles zu erfassen, und den menschlichen Geist dazu führt, irgendwie das zu erahnen, was über ihn hinaus geht.
8.6. Das Lebensleid in 49 Worten Eine ähnliche Aussage finden wir in einem kurzen Gedicht - zwei Vierzeiler, 49 Wörter insgesamt - des italienischen Dichters Eugenio Monatale, das ich bereits in einem anderen Zusammenhang erwähnte und das ich nun mit einem anderen Auslegungsschlüssel darlege. Das Gedicht, ohne Titel, ist in der Sammlung der „ Tintenfischbeine" enthalten 12 . Das Thema ist das Lebensleid. Die existentialistischen Philosophen haben 12
13*
E. Montale, Ossidi seppia, Arnoldo Mondadori, Milano, 1948, S. 54.
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8. Kap.: Die Anwendung der phänomenologischen Methode
darüber Bände geschrieben: von Schopenhauer bis Kierkegaard, bis Heidegger, Sartre usw. Insbesondere Heidegger und Sartre haben oft auf metaphorische Ausdrücke zurückgegriffen, weil sie offenbar das Gefühl hatten, sie wären in eine umschreibende, wissenschaftlich ausgerichtete Kategorialsprache eingeklemmt. Die Autoren erzählen uns viel von sich und ihren Vorstellungen; weniger allerdings vom eigenen Lebensleid. Montale legt hingegen seine direkte und konkrete existentielle und phänomenologische Lebenserfahrung dar. Er gibt uns Einblick in seine historisch-konkreten diskursiv artikulierten Wahrnehmungen, in sechs Gleichnisse oder „objektive Verbindungen", die das menschliche und universelle „Lebensleid" umschreiben sollen, ohne es dabei in Begriffe zu pressen. Das Leid wird in der italienischen Fassung auch von der herben Alliteration der Mitlaute widergegeben. Im zweiten Vierzeiler wird durch eine Verneinung das perfekte und indifferente dem Menschen nicht zugängliche Sein dargestellt: das nachmittägliche Standbild, die Wolke und der Falke, die den Menschen dazu führen, den Blick in die Höhe zu lenken, ihn aber dann doch nichts von jener höheren Wirklichkeit, jener kosmischen und geistigen Ordnung sehen lassen, auf die sie andeutend hinweisen. Der Wortlaut des Gedichtes ist folgender 123: Dem Schauer des Lebens bin ich oft begegnet: Er war im Gurgeln des erwürgten Baches, er war im Krümmen des verbrannten Laubes, im Sturz des Pferdes unter seiner Bürde. Ich wußte nicht, war außerhalb des Wunders, das Gottes Teilnahmslosigkeit erschließt: Das Standbild, das im heißen Mittag dämmert, die Wolke oder hoch im Blau der Falke.
8.7. Wie die Kreativität verstehen, wie sie handhaben Die Diskussion über die Kreativität ist durch die Impulse, die sie durch den sog. Lateralen Gedanken von Edward De Bono erhalten hat, ein wenig aus dem Lot geraten 120 . Haben wir es doch mit einer Denkweise außerhalb der üblichen Gedankenwege zu tun, die uns auf das Neue, Erstaunliche, Verwundernde stoßen läßt. Da der normale gedankliche Vorgang - nach De Bono - insofern „senkrecht" ist, als er die Begriffe hierarchisch ordnet, wird der laterale Gedanke von vielen als eine freie und leider manchmal auch ungeordnete Denkweise ohne streng wissenschaft12a 12b
Siehe Fußnote 21a. Aus E. Montale, Glorie des Mittags, übersetzt von H. Frenzel, Piper, München, 1986.
8.7. Wie die Kreativität verstehen, wie sie handhaben
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liehe Konsistenz beim Hinaufsteigen (Induktion) oder Hinabsteigen (Deduktion) betrachtet. So riskieren selbst wesentliche Aspekte des kreativen Gedankens, unbeachtet zu bleiben: der der Wahrnehmung der Realität und des Einblicks in sie; der Aspekt der Erfahrung als der Art und Weise, mit der sich die wahrgenommene Realität in unser Bewußtsein eingeprägt hat; schließlich das jeweils fallweise anzugehende Problem des Verhältnisses zwischen der traditionellen und einer neuen Denkweise; zwischen dem erworbenen Wissen und dem neuen erwerbbaren Wissen; zwischen dem Entlasteten und dem Herausforderer, um mit Arnold Gehlen zu sprechen. Dies sind also die Aspekte und „Denkwege" des phänomenologischen Gedankens, die einen wichtigen Beitrag zur Untersuchung und Lösung des Kreativitätsproblems leisten können. Hierzu ist allerdings erforderlich, sofern man nicht von Natur aus kreativ ist, daß man die modernen Ansätze der Gnoseologie und der Epistemologie und insbesondere die von Husserl, Heidegger, Lévinas, Merleau-Ponty und die der anderen zeitgenössischen Phänomenologen kennt; sowie die der Konstruktiv!sten wie den Ansatz von Guilford, der den divergierenden dem konvergierenden Gedanken gegenüberstellt; den von Polany über die versteckte Dimension des wissenschaftlichen Vorgehens; den Ansatz von Sartre, der das phänomenologische Modell als auch das der Gestalttheorie in der Psychologie vor allem in seinen Schriften Das Bild (1936) und Das Bildhafte (1940) übernimmt und weiterentwickelt, wobei er die interessante These entwickelt, wonach die kreative Darstellung zwar vom empirischen Objekt ausgeht, es jedoch auslöscht, nachdem sie es zum Gegenstand ihrer Intention gemacht hat („als Objekt konstituiert hat"), um es dann im eigenen Bewußtsein als eigenes Artefakt neu zu erschaffen. Ich wiederhole: für denjenigen, der eine natürliche Prädisposition für die Kreativität hat und mit Phantasie begabt ist, ist ein einfaches Erlernen der Kreativitätstechniken ausreichend. Für die anderen Menschen braucht es eine sozusagen am Zeichentisch des Hirns zu tätigende Erstellung von Kreativitätslandkarten; sie sollen die Kenntnis der Schaffensprozesse der Phantasie ausweiten. Diese Kenntnis brauchen auf jeden Fall jene Dozenten, die die Phantasie der Schüler vor allem in zwei neuen Denkbereichen wecken sollen: 1. dem der Kühnheit: neue Gedankenverbindungen, neue Maßstäbe, neue, elegantere Ausdrucksweisen, brillantere Formulierungen, neue, noch nicht veröffentlichte Gedanken usw. 2. den des Nicht-Gedachten; was nicht das Bizarre bedeutet, sondern eine neue Auslegung oder Darlegung eines Aspektes der Realität; ein Erfassen der „Dinge" jenseits der üblicherweise zur Anwendung kommenden Sicht. Meiner Ansicht nach ist sowohl die Kühnheit als auch das Nicht-Gedachte nichts anderes als eine Annäherung an das echte, ursprüngliche Wesen des „Dinges", zu dem wir als der wahren Realität in unserer Erfahrung immer wieder hin-
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8. Kap.: Die Anwendung der phänomenologischen Methode
streben, das uns immer wieder entgleitet und das wir nie umschreibend oder prädikativ, sondern nur durch Bilder, Analogien, Metaphern usw. definieren und uns ins Bewußtsein rufen können. Kreativ sein bedeutet also, dieses Ding möglichst genau zu bestimmen und sein Wesen möglichst wirksam, umfassend und verständlich auszudrücken. Rutherford war kreativ, als er das Planetenmodell für das Atom vorschlug, mit dem er intuitiv den alten Begriff des Primärelementes der Materie umwarf; hingegen war Rudolf Steiner es keineswegs mit seiner Entdeckung des „Astralleibes" als Neufassung des Begriffes der menschlichen Seele. Mit Bezug auf die Unternehmensbilanz ist man kreativ, wenn man das Wesen des Unternehmens erfaßt; also nicht nur eine der Zahlen - Umsatz, Gewinn, Rendite usw. - als wesentlich darstellt, sondern ganz allgemein seinen „Gesundheitszustand" betrachtet. Dies ist die den „Unternehmens-Jägern" wohlbekannte Bewertung: ist es doch ihr Ziel, hinter scheinbar schlechten Bilanzzahlen wohldotierte Unternehmen auszumachen, um sie dann zu erwerben 13. Die Herausforderung der phänomenologischen Methode besteht darin, die Vorstellung des Nicht-Mitteilbaren durch eine analytisch-prädikative Sprache ins Bewußtsein einzuprägen: „nicht-mitteilbar" also lediglich im Sinne der üblichen rational-hypothetisch-deduktiven oder protokollarisch-beschreibenden Sprache im „wohlformulierten Satz". Die literarische, journalistische, künstlerische Sprache ist hingegen nur gelegentlich repräsentativ, da sie für ihre Auslegung ein besonderes gegenseitiges Feingefühl zwischen Redendem und Angesprochenem voraussetzt. Dieses Feingefühl in Bewußtseinsrealität umzuwandeln ist die Herausforderung, der sich der Lehrund Lernprozeß zur Förderung der Kreativität gegenübergestellt sieht.
8.8. Kreativität: Beispiele Die phänomenologisch-transzendentalen Methode kann auch im Bereich der Kreativität mit Erfolg zur Anwendung gebracht werden. In die Gruppe der kreativen Menschen läßt sich bestimmt der Modeschöpfer Thierry Mugler einreihen, der aus dem Bewußtsein heraus, kreativ sein zu müssen, bestimmt originelle Damenkleider erdenkt; wie beispielsweise das auf dem Deckblatt der italienische Frauenzeitschrift Amica Nr. 1 (1991) abgebildete Modell eines eng anliegenden Pailletten-Hosenanzugs mit einer Reihe von Ringen auf Busen, Schultern und Hintern. Hier sind wir allerdings eher im Reiche des Bizarren als des Kreativen. 13 Siehe E. Davis and J. Kay, Assessing Corporate Performance, view, Summer 1990, S. 1-16.
in Business Strategy Re-
8.9. Die Kreativität eines Modeschöpfers
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8.9. Die Kreativität eines Modeschöpfers Für einen anderen Modeschöpfer wie den Japaner Yoghji Yamamoto bedeutet Kreativität etwas völlig Anderes. Dies ergibt sich aus den Erklärungen, die er in einem Dokumentarfilm von Wenders abgegeben hat 14 . Sie sind gleichzeit eine Bescheidenheitserklärung und ein logisch gegliedertes Arbeitsprogramm: „Mein Name ist Yamamoto, was „zu Füßen des Berges" heißt", sagt er; „mein Schicksal und meine Aufgabe sind deshalb die des - mühsamen - Hinaufsteigens". Der Kreativitäts-Katechismus von Yamamoto enthält abzulehnende und zu übernehmende Verhaltensregeln. Die ersten, die er insgesamt als „Fallen" bezeichnet, sind: - der Stil: Hätte ich meinen eigenen mir mühsam erarbeiteten Stil, wäre er anerkannt, wäre er ein Markenzeichen, säße ich automatisch in einer Art Gefängnis; denn ich müßte alle Ideen, die in meinen Stil nicht hineinpassen, verwerfen. Diese Falle habe ich vermieden. Es gibt keinen Yamamoto-Stil. - die Symmetrie: Sie ist ein weiteres Gefängnis der Phantasie, wie auch die Pseudo-Nicht-Symmetrie mit ihren Schnörkeln, Spiralen und ähnlichen Zeichen. Es gibt verschiedene Wege zur Symmetrie. Bestimmt sind sie alle gleich gefährlich für die Phantasie. Die Symmetrie entkräftet das Design. - die Neuheit: Wenn ich bei jeder Kollektion etwas Neues vorlegen muß, werde ich nur schwer das Absonderliche vermeiden können. Noch schlimmer ist es, wenn aus verschiedenen Gründen, die nichts mit der Liebe zur Kreativität und zum Schönen zu tun haben, einige von ihnen als gültig übernommen werden. Sie verwandeln sich in Stil mit dem zweifachen Nachteil, daß das Absonderliche in einen Stil verwandelt wird und daß das Neue zu einer Art Zwangsjacke wird. - Der Schein: Abgesehen von irgendwelchen „Gags" ist der Schein stets glanzlos; also eine Verzerrung der Essenz des Kleides, das jedoch seine wahre Zweckbestimmmung nie verlieren darf. Hingegen führt Yamamoto im Film als positiv folgende Faktoren an: - die Sprache: Ein Kleid besteht aus Teilen, die untereinander logisch verbunden sein müssen; logisch nicht im Sinne der landläufigen Logik, sondern im Sinne einer „diskursiven" Logik. In diesem Falle werden die Teile zu einem Diskurs oder „Text" (dieses Wort ist ethymologisch mit dem italienischen Wort „tessuto " = „Gewebe" verwandt): es kommt also zu einem einheitlichen eine Botschaft vermittelnden Ganzen. - die Zweckdienlichkeit: es darf nie vergessen werden, daß das Kleid vor allem eine Funktion auszuüben hat und nicht nur die Aufmerksamkeit auf sich ziehen 14
Ein Interview von Yamamoto (vor allem bei der Arbeit) wurde als Film vom Regisseur Wim Wenders aufgenommen. Der Titel: Reisenotizen über Mode und Stadt, Road Movies, Film Production Academy, 1989.
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8. Kap.: Die Anwendung der phänomenologischen Methode
soll (hierfür würden Federn und Paillettes - wie seinerzeit bei den Vorstellungen der „Folies Bergères " - ausreichen). In Zeiten des Niederganges und der Krise opfert die Mode ihre Zweckdienlichkeit dem Schein: dann wird sie häßlich. - die Tragbarkeit', ein Kleid muß bequem sein, angenehm beim tragen. Eine Schärpe, die den Boden fegt, die den daneben stehenden Menschen bei jeder Wendung „schlägt" und die regelmäßig im Salat endet, ist zu vermeiden: sie wird zur unnötigen, ja störenden, also nicht eleganten Verzierung. - der Stoff: Er ist wie die Mauer in den Bauten; also Element von Sprache und Diskurs, sofern er die Ansprüche auf Funktionalität und Tragbarkeit befriedigt. Yamamoto steht bestimmt außerhalb des normalen Trends: empfiehlt er doch die Benutzung gebrauchter oder selbst getragener Stoffe. Sie verfügen seiner Ansicht nach über eine besondere Schmiegsamkeit und Leuchtkraft; andererseits sei das appretierte und gefaltete Kleid nicht unbedingt schön anzuschauen und bequem. - der Schnitt: Er ist für die „Architektur" des Kleides, für dessen „Struktur" maßgeblich. Von ihm hängt also die Tragbarkeit des Stückes, sozusagen seine Sprache ab. Er zeugt von handwerklicher Fähigkeit und von manueller Kunstfertigkeit. - die Feinbearbeitung: die genaue Ausführung und die bewußt raffinierte Feinbearbeitung machen die „Handschrift „ des Modeschöpfers aus. Sie sind - so versichert Yamamoto - nicht imitierbar, wohingegen der „neue Stil" es immer ist: die Taschen von Louis Vuitton bestätigen dies.
8.10. Die kognitiven Bestandteile der Kreativität, jenseits vom lateralen Gedanken Die Kreativität ist also für Yamamoto das Ergebnis von harter Arbeit, ständigem Fleiß und gezielter Konzentration gerade bei den Einzelheiten. Hingegen kommt es leider immer häufiger vor, daß in Arbeitsbesprechungen einige Teilnehmer sich dazu befugt sehen, darauf loszureden, sozusagen als „laterale Denker". Schon jetzt möchte ich darauf hinweisen, daß meine negative Einstellung zum Lateralen Gedanken nicht Edward De Bono angelastet werden darf, der sein Werk mit viel Wissen, Fleiß und Akribie verfaßte: wenn ich mich also von den üblichen waagerechten und senkrechten Pfaden entferne, so möchte ich damit nur einige einfache Zusatzüberlegung anstellen, die in den Schriften von De Bono nur am Rande erwähnt werden. Dabei will ich zum gängigen Instrumentarium der Logik einige Elemente hinzufügen, die aus der Gnoseologie und aus dem modernen Kognitivismus stammen, allerdings stets im Rahmen des vor allem husserlschen phänomenologisch-transzendentalen Ansatzes bleiben (der hierfür noch wenig in Anspruch genommen wurde).
8.10. Die kognitiven Bestandteile der Kreativität
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Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, daß auch die Kreativität nicht lehrbar ist. Die Kreativitätslehre ist hingegen als Anleitung zum Kreativsein zu verstehen. Lehrbar ist ihre Ausübung, insbesondere in der Schule. Dies ist die ständige Empfehlung in den Schriften von De Bono; der damit auch die Ausbildung meint und zwar in dem Sinne, daß man wagemutig an das bisher nicht Gedachte denken und es angehen soll. Dies gilt für die Lernenden. Für die Lehrenden liegen die Dinge anders. Sie müssen die Tiefenprozesse des kreativen Denkens kennen, damit sie sie in didaktische Instrumente umfunktionieren können. Schon jetzt möchte ich darauf hinweisen, daß man auf zweifache Weise kreativ sein kann: im Ausdruck und in der Erfindung oder der Entdeckung. In jedem der beiden Fälle liegt die Referenz - phänomenologisch gesehen - beim Ding, das unter neuen Aspekten vorgestellt, mit einer neuen Erfahrung für das intentionierende Bewußtsein des Wissenschaftlers oder des Künstlers und überhaupt des kreativen Menschen begabt wird. Einige Beispiele mögen dies klären. Mit seinen Aussagen zu den Gesetzen der Planetenbahnen ordnete Kepler die überaus vielfältigen und geduldig eingeholten Beobachtungen von Tycho Brahe, vervollständigte sie und goß sie in mathematische Formeln um. Als Heisenberg hingegen die Gesetze der Quantenlehre entdeckte, hatte er durchaus den Eindruck, eine neue Welt, ein neues Ding entdeckt zu haben. „Meine erste Reaktion war die der Erschütterung. Ich hatte den Eindruck, nicht nur auf die Oberfläche des Atoms, sondern in das Atom und in eine wundersame Schönheit hineinzusehen"15. Denselben Prozeß vollzog Shakespeare: er erneuerte den Ausdruck von bekannten Dingen und entdeckte neue. Thomas S. Eliot bestätigt dies mit folgenden Worten: „Unsere Bewunderung für Antonius und Cleopatra könnte in den Worten zusammengefaßt serden: „Nie hätte ich vermutet, daß sich so etwas in poetischer Form sagen läßt". Er fährt dann fort: „Unsere Bewunderung für die späteren Dramen von Shakespeare ließe sich hingegen in den Worten zusammenfassen: „Wir stehen hier vor etwas Neuem". Eliot schließt seine Ausführungen folgendermaßen ab: „In den letzten Dramen wie Cymbeline, dem Weihnachtsmärchen, Perikles und dem Sturm hat Shakespeare ... den Realismus, der aus der allgemeinen Erfahrung wächst, verlassen, um uns eine neue Welt zu offenbaren" .. , 1 6 . Selbstverständlich gibt es Menschen, die einen natürlichen Hang zur Kreativität haben, weil sie über eine ausgeprägte Vorstellungskraft verfügen. Dann ist für sie ein einfaches Anlernen ausreichend. Die anderen müssen erst die Kenntnis der Pro15
W. Heisenberg, Fisica e Oltre. Incontri con i Protagonisti 1920-1965, Boringhieri, Torino, 1984, S. 71-72. 16 Erwähnt von Chandrasekkar, Verità e Bellezza. Le Ragioni dell'Estetica nella Scienza , Garzanti, Milano, 1990, S. 68.
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8. Kap.: Die Anwendung der phänomenologischen Methode
zesse zur Ausweitung ihrer Vorstellungskraft erwerben. Diese Forderung stellt sich insbesondere den Lehrkräften, die die Vorstellungskraft ihrer Schüler wecken, oder wiedererwecken wollen. Der Text von Hubert Jaoui stellt in diesem Sinne eine äußerst konkrete und zusammenfassende Anleitung für eine Ausbildung zur Kreativität 1 ^ dar. Ich übernehme ohne weiteres einige der Thesen von Pier Luigi Amietta: „Ausbilden ... bedeutet vor allem, den Menschen in die Lage zu versetzen, seine Probleme zu lösen. Die Methode der klassischen Logik behält ihre volle Gültigkeit. In einer eher pradoxen Aussage kommen wir zum Schluß, daß diese klassische Logik ständig notwendiger und ständig weniger ausreichend ist. Denn es gibt den kreativen Gedanken. Dieses tautologisches Wort (jeder Gedanke, um als solcher Gültigkeit zu haben und nicht dem Computer entnommen zu sein, „muß" kreativ sein) wurde von Edward De Bono in den metaphorischen Begriff des „Lateralgedankens" umgeprägt. Der größte Fehler wäre es allerdings anzunehmen, daß er im Gegensatz zum logischen Gedanken steht und sich ihm gegenüberstellt. Sollte eine derartige Meinung vorgebracht werden, so wäre sie bestimmt nicht kreativ, sondern lediglich verwirrend 17 ". Von der Aussage Amiettas möchte ich lediglich die Wörter „eher paradoxe Aussage" streichen. Benützt doch der moderne Denker bewußt - früher tat er dies unbewußt - die klassische Logik und gleichzeitig andere Logiken. Alle diese Logiken stellen die modernen Denkinstrumente dar, jedoch nicht das Denken als solches, das etwas ganz Anderes ist. So muß ein Ausbildungsprozeß, der die Kreativität fördern soll, global sein und auch einen anderen Bestandteil des Gedankenprozesses aktivieren, nämlich den der Psychologie und Programmierung des eigenen Ich. Ohne das Einwirken dieses Bestandteils fängt der Hirn-Computer nicht mit seiner Arbeit an oder mündet im Leerlauf. Das Hirn ist stets, je nach den persönlichen Lebensumständen (geistige Gesundheit, geistiges, aber auch körperliches Training), arbeitsbereit. Gegenstand der Motivierung, Zielbestimmung und Lenkung der Denkprozesse ist das Ich, das auf geheimnisvolle Weise die Nutzung der verfügbaren geistigen Ressourcen vornimmt. Eine letzte Gefahr taucht für diejenigen auf, die sich auf das Feld der Kreativität oder des „leistungsfähigen Denkens" (so nennt es Amietta) begeben: eine Gefahr, die gerade in der heutigen Zeit mit ihrem übermäßigen und unbegründeten Vertrauen in die Informatik besteht. Wenn ich einem Freund sage, daß ich ein Buch schreibe, stellt er mir prompt die Frage, deren Antwort schon im voraus für ihn feststeht: „Natürlich benützt du den Computer". Die Antwort ist hingegen: „Ich benütze die Feder und schreibe auf Papier". 16a
H. Jaoui, Crea-Prat, Tecniche di Creatività , Tirrena Stampatori, 1989. Unter dem Stichwort „Ausbildung zur Kreativität" (in der Betriebsorganisation) des Dizionario Creativo von Ν. Piepoli, Mondadori per Marketing Espansione, Band 1, S. 64. Siehe auch vom P. L. Amietta, Necessità. Il Nuovo Manager tra Creazione Complessità e Carisma. Etas Libri, Milano, 1991. 17
8.11. Die Firmenbilanz und die Firma als „Ding"
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Der Computer übt sehr gut zwei Funktionen aus: jene des Gedächtnisses über die Datenspeicherung und jene der Buchhaltung. Es handelt sich dabei um Anwendungen für die Speicherung einer Datenbasis, also eines bereits im voraus von einem intelligenten Menschen produzierten Datenschatzes. Nur aufgeweckte Jugendliche oder raffinierte Kriminelle schaffen es, unangenehme Scherze mit dem Computer zu spielen oder ihn für unlautere, aber lukrative Zwecke einzusetzen. Die anderen benützen ihn ehrlich und holen heraus, was er geben kann. Dies soll nicht ausschließen, daß der Computer auch zur Kreativität einen Beitrag leisten kann. Allerdings nur um Ideen wiederzufinden, nicht um sie zu finden; um sie sachlich zusammenzufügen, nicht um sie kreativ zusammenzufügen. Meiner Ansicht nach ist man kreativ, wenn man sich in ein neues Gebiet hineinwagt. Worauf es mir ankommt, ist zu beweisen, daß dieses Neue einen Schritt der Annäherung an das Ding darstellt, an die ursprüngliche Realität des von uns wahrgenommenen Dinges, das wir immer im Blickfeld haben, das uns immer wieder entgleitet, das wir nie - prädikativ oder umschreibend - zu definieren imstande sind und das wir nur durch Analogie, im Gleichnis, mit der Synekdoche ins Bewußtsein rufen können. Natürlich kommt es dabei auch auf die Methode an. Der italienische Maler Morandi 17a benutzt beipielsweise unbewußt das husserlsche Instrumentarium der „wahrnehmenden Variation" und der „eidetischen Reduktion"; der italienische Dichter Leopardi beruft sich in seinem Gedicht „Unendlichkeit" auf den wahrnehmbaren Gegensatz zwischen Endlich und Unendlich; der italienische Dichter Montale benutzt in seinem Gedicht über das „Lebensleid" die Analogie oder die „objektive Verbindung".
8.11. Die Firmenbilanz und die Firma als „Ding" Eine bisher nicht erkannte Anwendungsmöglichkeit des phänomenologischen Ansatzes betrifft die Firmenbilanz. Wenn es eine gedankliche Tätigkeit gibt, die in einer objektiven Bewertung mündet, so ist dies - so möchte man meinen - die der Bilanzerstellung. Hingegen bedarf sie, wie auch die Buchhaltung, der Phantasie und des Einfühlungsvermögens. So sollte die „Ars poetica " von Horaz zweckmäßigerweise zum Ausbildungsprogramm eines Buchhalters gehören. Neben der Ars poetica sollte - dies mein Vorschlag - auch die transzendentale Phänomenologie Teil seiner Ausbildung werden; allerdings nicht so sehr als wissenschaftliche Disziplin, was wohl gar nicht möglich wäre, sondern als Ansatz zur 17a P. Trupia, La pittura di Morandi come rappresentazione fenomenologica, Segni e comprensione, N. 17, Sett.-dic. 1992, S. 21-36.
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8. Kap.: Die Anwendung der phänomenologischen Methode
Problemlösung und als Methode zur Sicht der Kontenwirklichkeit. Zwei ernsthafte Buchhaltungsfachleute wie Luciano Hinna und Pierluigi Piccali, denen ich meine Überlegung vortrug und um Auskünfte bat, haben mich voller Interesse in meinen Anschauungen bestärkt. Die Ergebnisse eines Geschäftsjahres in Zahlen zusammenzufassen ist an sich leicht: es handelt sich um eine zahlenmäßige Darstellung einer bestimmten Wirtschaftstätigkeit in ihrer Entwicklung während der Berichtsperiode. Dies ist die Bilanz, die aus einer Reihe von „Posten" besteht. Sie soll Firmenmanagern und Drittpersonen über den „Unternehmenszustand" Auskunft geben. Angesichts des großen Wettbewerbs, in dem das Unternehmen steht, will man seinen Stand in der Gunst des Kunden, der Bank, seiner Lieferanten (ob es also ein „umworbener Kunde" oder ein „nicht umworbener Kunde" ist) kennen; insbesondere, ob es hoch oder niedrig im Kurs steht, da es ja ganz oder teilweise (beispielsweise über sein Aktienpaket) auf dem großen Markt von Angebot und Nachfrage als Gut verkauft und erworben werden kann. Hier stellen wir bereits einen logisch-syntaktischen Gegensatz fest: die absoluten Zahlen drücken in der Digitalsprache das Ergebnis des buchhalterischen Geschäftsjahrs aus; gleichzeitig sind sie jedoch auch Indexzahlen, die zu einer analogisch zum Ausdruck gebrachten Sprache führen. Seit Watzlawick 17b weiß man, daß die analogische Sprache weniger genau, aber sinnreicher als die Digitalsprache ist. Von einem Unternehmen mit einem Umsatz von X, einem Gewinnsatz von Y und einer Rendite von Ζ läßt sich bei keiner dieser drei Zahlen - wie auch bei anderen, die wir hinzufügen könnten - sagen, ob das Unternehmen gut geht, welche Performance es aufweist, ob seine Gesundheit gut oder schlecht ist, ob es erfolgreich wirtschaftet oder nicht und folglich, ob es sich lohnen würde, es ganz oder teilweise käuflich zu erwerben 18. Die kursiv geschriebenen Wörter sind bildhafte Ausdrücke und damit der analogische Sprache zugehörig; sie sind also eine sinnvolle durch ein Werturteil ergänzte Umsetzung der von den Bilanzzahlen ausgedrückten Digitalinformationen über das Unternehmen. Aber auch diese bildhafte Darstellung in der analogischen Sprache kann uns nichts Entscheidendes über das „Wesen" der Firma sagen, also über jenes Ding, von dem die Bilanzziffern eine analytische und die Metapher und die Analogie eine bildhafte (Gesundheitszustand, Performance, Erfolg usw.) Darstellung geben. So können einem Experten, der mit der Bewertung der Firma zu Erwerbszwecken beauftragt wurde, nach einer eingehenden Bilanzanalyse und deren positiver Ein17b R Watzlawick, H. Beavin, D. D. Jackson, Pragmatics of Human Communication, A Study of Interactional Patterns, Pathologies and Paradoxes , W. W. Norton and Company Inc., New York, 1967. 18 Ein Computer, in dem alle möglichen Daten gespeichert sind, kann niemals ein Gesamturteil abgeben; es sei denn, es sind auch die Bewertungskriterien eingegeben.
8.11. Die Firmenbilanz und die Firma als „Ding"
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Schätzung unter dem Gesichtspunkt der erfolgreichen Performance trotzdem Zweifel kommen; möglicherweise ist ihm noch ein Quentchen Mißtrauen gegenüber dem ihm bekannten Sachverhalt geblieben, so daß er trotzdem nicht recht weiß, ob er den Firmenkauf tatsächlich empfehlen soll oder nicht. So beruht die Firmenbilanz insofern auf subjektiven Einschätzungen, als sie zumindest teilweise - bestimmten Zielsetzungen entspricht und demnach nur einseitige und damit unzureichende Aussagen zum Unternehmen machen kann; sie ist also nicht imstande, das Problem der „Wesensbestimmung des Dinges" zu lösen. Hier handelt es sich also um ein phänomenologisches Problem. Deshalb kann von der als typisch für die transzendentale Phänomenologie zu betrachtenden Annäherungsmethode an das Ding eine Hilfe für den Buchhalter kommen, zumindest für den, dessen Tätigkeit auf eine Gesamtbewertung der Firma hinausläuft. Über die - miteinander verwobenen - Momente der Epoché , der Variation und der eidetischen Reduktion kann sich der bewertende Buchhalter dem konkret arbeitenden Unternehmen - dem Ding - insofern annähern, als er dadurch zu einer realitätsbezogeneren Sicht geführt wird. Insbesondere die Epoché wird ihn vor einer Bilanzbewertung und Finanzanalyse nach den traditionell üblichen Maßstäben bewahren. Die Variation wird ihm zusätzliche Gesichtspunkte oder Kriterien vermitteln, so daß sein abschließendes Urteil eher durch Erfahrungswerte als durch Zahlen geprägt wird 19 . Die eidetische Reduktion wird ihn zur Suche nach dem Wesen - dem Eidos - der Firma führen, das jeweils für deren Marktausrichtung und -beherrschung, deren Innovationsfreude, deren Organisationsfähigkeit usw. bestimmend ist. Zusammenfassend: die phänomenologische Ausbildung und die geistige Ausrichtung können jene künstlerisch-kreativen Fähigkeiten anregen, die in jedem Firmenbuchhalter-Bewerter-Rechnungsführer schlummern. In Buchhalterkreisen heißt es, es gäbe keine echte Bilanz und daß die der Realität am nächsten kommende nur im Zeitpunkt der Firmenauflösung erstellt werden kann; daß jedes Bilanzprojekt das Ergebnis von buchhalterischen Entscheidung und häufig der persönlichen Sicht der Dinge (bzw. einer Kommunikationsstrategie) durch den Rechnungsführers, der Tradition, einer bestimmten buchhalterischen Ausrichtung, der Fähigkeit zur Erfassung von Sonderaspekten ist (was auch der Unfähigkeit zur Erfassung anderer Aspekte entsprechen kann). Zu diesen ein mir nicht besonders vertrautes Gebiet betreffende Feststellungen wurde ich von der Studie von Davis und Kay, zweier Forscher der London School 19 Pellegrino Capaldo spricht von einer „offenen Bilanz" als „externem Informationssystem"; also einer Zusammenfassung von wirtschaftlichen, finanziellen und Vermögensdaten, die auf allen möglichen Bewertungshypothesen aufgebaut ist. Nur der Bewerter kann (aufgrund einer persönlichen Entscheidung) diese Zusammenfassung in ein System umwandeln. Siehe P. Capaldo, Qualche Riflessione sull'Informazione Esterna d'Impresa , Rivista dei Dottori Commercialisti, 1975, Nr. 5.
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of Economics angeregt, in der sie aufgrund von Zahlenunterlagen zum Schluß kommen, daß jede Bilanzanalyse zu andersgearteten Ergebnissen führen kann 20 . Weshalb die angelsächsische Gewohnheit der Veröffentlichung von Rangordnungen unter den „100 größten Unternehmen", „The Smart 200" usw. vom buchhalterischen Standpunkt aus fragwürdig wird. Davis und Kay untersuchten zuerst eine Gruppe von sieben Großunternehmen; Glaxo, RTZ, LUMH, BT, Guinness, Kymmene, Philip Morris. Es ergab sich, daß sich die Stellung eines jeden Unternehmens in der Rangordnung als Best Performer je nach dem Maßstab (Gewinnspanne, Rentabilität, Mehrwert/Arbeitskosten) ändert. Sie untersuchten dann sechs spartenmäßig vergleichbare Supermärkte verschiedener Größenordnungen: Sainsbury, Teseo, Gateway, Argyll, Asda, Kwiksake, bei sie mit Hilfe von fünf Indikatoren (Umsatz, Gewinn, Gewinnzunahme, Preisgewinn-Verhältnis, Lagerauslastung usw.) eine Rangordnung errechneten. Allerdings änderte sich diese je nach der jeweiligen Wahl der Indikatoren. Die Autoren kamen zum Schluß, daß die Wertschöpfung als solche am meisten aussagekräftig ist. Denn „sie stellt den Verlust dar, den die Wirtschaft erleiden würde, wenn das Unternehmen verschwinden sollte". Damit wäre dieser Maßstab für das Dmg-Unternehmen besonders repräsentativ. Was allerdings nicht ausschließt, daß er auch das Ergebnis von buchhalterischen Entscheidungen ist. Das Problem, wie man demnach das Wesen des Dmges-Unternehmens erfassen soll, bleibt also trotzdem bestehen. Es kann wohl kaum gelöst, aber nach den Richtlinien der transzendentalen Phänomenologie zumindest klarer umrissen werden.
8.12. Kreativität: ein Lexikon für den phänomenologischen Ansatz Zur Definition des Begriffes der Kreativität und ihrer Entwicklungsprozesse möchte ich abschließend einen Beitrag leisten; allerdings nicht mit einer umfassenden Abhandlung, was im Hinblick auf die Fülle der Themenbereiche unmöglich wäre, sondern indem ich mich den Thesen der existierenden Handbücher anschließe und auf einige definitori sehe Aspekte einer Gruppe von Schlüsselwörtern eingehe. Die Darlegung dieser Schlüsselwörter und der darin enthaltenen Hinweise und Gedankenausrichtungen, die der Leser sich auch aussuchen kann, führt zu einer Art „Landkarte" für den Zugang zum Begriff der Kreativität. Bei dem sich daraus ergebenden Mindestwissen soll vorwiegend der phänomenologisch-transzendentale Ansatz zur Anwendung kommen.
20 Siehe E. Davis and J. Kay, op. cit.
wo-
8.12. Kreativität
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Merkmal einer Definition - zumindest im Bereich der Geistes Wissenschaften ist normalerweise, daß sie in ihren Grundaussagen nicht befriedigt. Sie kann jedoch als ein „auslösendes Moment" betrachtet werden, weil der unbefriedigt gebliebene Leser sich seine eigene Definition schafft. Womit ich mein Ziel erreicht hätte. Die einzelnen Schlüsselwörter sind alphabetisch geordnet. In Klammern werde ich jene anführen, die sich - mit einem „s." (= siehe) versehen - unter einem anderen Stichwort meines Lexikons nachschlagen lassen. So werde ich skizzenhaft einige Überlegungen zu den verschiedenen Aspekten der Kreativität vorbringen.
Abduktion Die Abduzierfähigkeit ist der „Anlasser" des kreativen Gedankens. Es geht nicht darum, Hypothesen gemütlich zu formulieren, sondern sie aus unsicheren, zweideutigen, anormalen Zeichen abzuleiten. Diese Zeichen können bedeutsam werden, wenn sie nicht im voraus - weil dem Bereich des Entlasteten (s.) zugehörig verworfen werden. Charles Sanders Peirce - zusammen mit Charles Morris, einer der Erfinder der Semiotik - zitiert folgenden Abduktionsfall. „Einmal ging ich im Hafen einer türkischen Provinzstadt an Land und ... traf einen Mann auf einem Pferd zwischen vier Reitern, die einen Baldachin über seinem Haupt hielten.. .daraus Schloß ich, daß es sich um den Gouverneur handelte. Es war lediglich eine Hypothese"21. Ich füge hinzu, daß man beim abduzierenden Vorgehen das Ausgangsfaktum in seinem Kontext sehen muß, um seine Sondermerkmale zu erkennen. Sollte ich heute etwas Ähnliches in Mailand erleben, würde ich sofort an eine Werbeaktion für den Zirkus denken, in Neapel an die Werbung für die „Sultano"-Sardinen. Natürlich gibt es auch Abduktionsfehler: einige sind gesellschaftsbezogen wie der Applaus eines unerfahrenen Publikums am Ende des ersten Satzes einer Synphonie oder das Verwechseln des Beginns eines Zwölftonmusikstückes mit dem Stimmen der Instrumente. Der Chef kann - im Rahmen seiner Macht - das Lachen seiner Mitarbeiter bei seinen Witzen abduzieren und zwar so, als ob sie sie wirklich lustig fänden. Möglicherweise löst die hunderste Wiedergabe derselben Geschichte nur ein inzwischen übliches Zeichen der Zustimmung und Ehrerbietung aus. Man abduziert im Verkehr bei fehlender Verkehrsbeschilderung das Verhalten des vor einem fahrenden Autofahrers und in der Schulklasse die Aufmerksamkeit der Schüler. Um kreativ zu sein, muß man abduzieren und bisweilen selbst das bereits Abduzierte abduzieren.
21 C. Sanders Peirce, Collected Papers , Harvard Univ. Press., Cambridge Mass., 1935, Par. 2.624.
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Akzeptierter Widerspruch Zwischen dem Wahren und dem Unwahren gibt es nach dem Prinzip des „tertium non datur" nichts; für diejenigen, die sich allerdings dazu keine Gedanken machen, kann es dazwischen alles Mögliche geben. Der Entdecker des Feuers hat nicht über das Feuer nachgedacht, als er feststellte, daß das Feuer die Dinge nicht nur zerstören, sondern auch formen kann: ein Widerspruch im gedanklichen Erfassen des bis dahin nur als Blitz oder Brand und folglich als „Zerstörer" betrachteten Feuers. Dasselbe gilt für den Erfinder des Rades, der erkannte, daß zwischen einem rollenden und einem auf der Erde ruhenden Stein, zwischen einem einen Abhang hinabrollenden und einem stehenden Baum (oder einem Pfosten, sofern damals Pfosten schon bestanden) ein Zusammenhang bestehen konnte. So wurde das Rad geboren; ein Begriff, der in Wirklichkeit irreführend ist, da er auf der Erfindung der Achse aufbaut; das Rad ist in der Tat die widersprüchliche Kombination eines festen Stabs mit einem rollenden Stein! Ein anderes Gebiet, in dem der akzeptierte (oder nicht vermiedene) Widerspruch fruchtbar sein kann, ist die Rhetorik, wenn sie als argumentationsfreudige oder „überzeugende" und nicht als rein darlegende sprachliche Überlegung verstanden wird. In der rhetorischen Argumentation begegnen wir dem (in der Politik wie in der Poesie) häufigen Oxymoron und der noch sympathischeren, geheimnisvollen Figur des Litotes. Ihre Bedeutung liegt zwischen dem Begriff und dessen Verneinung und zwar an einem nur ihm eigenen und noch nicht festgestellten Ort. „Wie ist dein neuer Chef?" „Er ist nicht schlecht", oder besser noch „Er ist nicht übel". „Wie ist der Freund von Alessandra?" „Er ist nicht häßlich". Man könnte eine Fülle von Beispielen anführen. Verneinend und bejahend wird die glückliche Familie der... litotischen Objekte geschaffen. Es ist schwierig, kreativ zu sein, wenn man Widersprüche nicht in die eigenen Gedanken einbringt. Ist doch die Folgerichtigkeit um jeden Preis Ausdruck des Bestehenden, des Funktionellen und nicht des ungewissen und risikoreichen Neuen. Anormale Zeichen (s.) wahrnehmen und Widersprüche annehmen ist eine kreative und fruchtbare Erfahrung. Die widersprüchliche Situation ist möglicherweise dazu vorbestimmt, sich selbst durch eine Erweiterung des Horizonts aufzulösen. Aber um diese neuen Horizonte zu haben, muß man den Widerspruch zuerst einmal akzeptieren. Einstein begann zwischen 1905 und 1910 nach der Aufstellung der Relativitästtheorie den Zusammenhang zwischen der Schwerkrafttheorie von Newton, die die unmittelbare Ausbreitung der Schwerkraft in den Raum postuliert, und sein Relativitätsprinzip zu untersuchen, das keine größere Geschwindigkeit als die des Lichtes zuläßt. Anstatt die eine oder andere Aussage wegen des gegenseitigen Widerspruchs zu verneinen, begann er nachzudenken, und kam auf die Idee des Schwerkraftfeldes.
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Das gesamte System von Einstein ist voller Sonderheiten und Widersprüche: die Vereinheitlichung von Raum und Zeit, von Materie, Bewegung und Energie, die Auffassung des Raums als „Derivat" der gegenwärtigen Materie. Wo? Im Weltraum? Nein. Gegenwärtig. Es war Pauli, der 1919, die geheimnisvolle und unwiderlegbare Formel prägte: „die Geometrie von Raum-Zeit ist nicht gegeben; sie wird durch die Materie und ihre Bewegung bestimmt" 22 . Müssen wir also Einstein nachahmen? Ja, vor allem in seiner Eigenschaft, vor dem Widerspruch nicht aufzugeben, sondern ihn anzunehmen. Alogisch In der Definition des „Lateralgedankens" von De Bono 23 ist die Aussage enthalten, daß „der Lateralgedanke die andere Seite des vertikalen oder „logischen" oder „cartesianischen" Denkens ist. Ich finde diese Formulierung überspitzt, nachdem selbst die Träume von Freud und der Wahn der Schizophrenie von Binswanger „formalisiert" - also logisch interpretiert - wurden. Geht doch die Logik nie aprioristisch, sondern nur nachträglich vor, wenn sie eine diskursiv ausgedrückte Erscheinung, Rede oder Gewohnheit interpretieren will. So ergibt sich die Logik des kindlichen Diskurses und die des Lateralgedankens. Der logische Pluralismus (s.) sagt uns, daß hinter jeder Aussage eine Logik besteht. Eine bedeutsame Unterscheidung liegt hingegen einerseits zwischen der prädikativen oder kategorialen Ausdrucksweise und andererseits dem vorprädikativen und präkategorialen Denken und Sprechen (vorprädikative präkategoriale Analyse) (s.). Zu dieser letztgenannten Klasse gehört die Sprache und der poetische oder bildhafte Gedanke (wie die rhetorischen Figuren: Metapher, Analogie, Metonymie, Litotes, Oxymoron usw.) und die mythische Sprache mit ihrer schwachen Prädiktativität. Apophatisch Dieser Begriff ist nicht mit dem Begriff des „Apophantischen" zu verwechseln, der die Beziehung zwischen Subjekt und Prädikat in der Proposition betrifft. Er ist hingegen dem Begriff des „Kataphatischen" gegenüberzustellen. Beide Begriffe mit entgegengesetzter Bedeutung - gehen auf die aristotelische Logik zurück. Das Apophatische befaßt sich mit dem, was nicht ist, wohingegen das Kataphatische sich mit dem befaßt, was ist; ersteres mit dem, was man nicht sagen kann und darf, letzteres mit dem, was man sagen kann und darf. Im kreativ-innovativen Prozeß interessiert mehr das Apophatische als das Kataphatische. Das Objekt, der Vorgang, die neue Idee wird hauptsächlich durch die 22 Angeführt in Subrahmayan Chandrasekkar, Verità e Bellezza. Le Ragioni dell'Estetica nella Scienza , Garzanti, Milano, 1990, S. 111. 23 E. De Bono, op. cit.
14 Trupia
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Verneinung des Bestehenden, des unbesorgt im Entlasteten (s.) ruhenden geschaffen. Vor lauter Verneinung stößt man auf das Andere, das Verschiedene, das völlig Neue (möglicherweise mit einen alten Kern), mit dem man sich nur mühsam auseinandersetzen kann. Wenn man es jedoch geschafft hat, streng apophatisch zu sein, ist es unmöglich umzukehren. Um ein Beispiel zu nennen: das neue Stadtgefährt für das Jahr 2000 darf nicht zuviel Platz einnehmen, darf die Umwelt nicht verschmutzen, darf nicht stören. Es könnte ein Motorrad sein, ein echter „Scooter", d. h. eine Art elektrischer Roller mit einem Dynamo, der beim abwärtsfahren und daheim mit der Steckdose die Batterie wieder auflädt 24. Es sollte zusammenklappbar sein, damit man es ins Büro mitnehmen kann. Ganz anders als das elektrische Auto, an das der italienische Star-Ingenieur Ghidella dachte25. „Es gibt einen unendlichen Raum jenseits des Seins, sagt Lévinas, wo man neuen Realitäten, neuen Sinninhalten begegnen kann" 2 6 . Das apophatische Vorgehen ist eine Art „geistiger Hygiene", die notwendig ist, wenn man sich über das Faktum, das Bekannte, das Konsolidierte hinauswagen will. Es führt zur Begegnung mit dem „Anderen", das vor mir und über mir ist und - obwohl man nicht weiß, woher es kommt - in mein tägliches Leben mit der Autorität eines ethischen Gebotes einbricht und mir befiehlt, aus mir selbst, aus meiner gewohnten Welt, aus der Entlastung hinauszutreten" 27. Es handelt sich um das Hinausgehen aus dem Begriff, aus dem Gefängnis der Ideen, in eine neue Sicht der Realität einzutreten; beispielsweise beim Begriff „Buchhandlung": ihretwegen läßt man es in Japan zu, daß die Bücher aus den Buchhandlungen gestohlen werden, um die Lust am Lesen zu wecken; und in Großbritannien stellt man weiche Sofas in den Ecken der Buchhandlungen auf, damit die Bücher bequem an Ort und Stelle eingesehen werden können28. Die Apophatik - als Wissenschaft des Apophatischen - versteht das „ trascende te ipsum " als ein „Aus-Sich-Selbst-Hinausgehen", als eine Explosion des Ich 2 9 .
24
Im Flughafen von Kopenhagen stehen den wartenden Passagieren Rollschuhe zur Verfügung. 25 Es handelt sich um ein Projekt für den Prototypen eines Autos oder Minibusses der Lamborghini Engineering-Chrysler. 26 E. Lévinas, Trascendenza e Intelligibilità , Marietti, Genova, 1990, (Orig. von 1984), S. 75. 27 E. Lévinas, Trascendenza e Intelligibilità , op. cit., S. 75. 28 Im Dezember 1990 habe ich bei der Redaktion der (von der London Business School herausgegebenen) Business Strategy Review nach einer Ausgabe gefragt, in der eine mich interessierende Abhandlung abgedruckt war. Mir wurde nicht nur die Ausgabe kostenlos zugeschickt, sondern mir wurde auch angeboten, mit einem der Autoren über das Thema zu sprechen. So habe ich die Zeitschrift abonniert. 29 E. Lévinas, op. cit., S. 82.
8.12. Kreativität
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Auslegung Es handelt sich um einen Begriff mit vielfacher Bedeutung. Hier interessiert nur eine: die Auslegung als Überprüfung eines Modells, ihre Übereinstimmung mit den dargestellten Dingen; und zwar in dem Sinne, daß diese im Modell nicht in Widerspruch zu einander geraten dürfen. Selbstverständlich bedarf man eines leicht axiomatisch-deduktiven oder - um mit der „ soft-epistemology " zu sprechen - „hypothetisch-argumentativen" Modells für den Untersuchungsbereich. Heute verlangt niemand mehr die Vollständigkeit 30, nicht einmal für Arithmetik und Geometrie. Selbst Modelle, die eine gewisse Indeterminiertheit in ihren Grundthesen aufweisen und die neben die Deduktion auch bisweilen die Induktion und andere logisch „schwache" Überlegungen wie die konstruktive Überlegung stellen, werden noch als wissenschaftlich betrachtet. Dies ist der Fall bei der Biologie, den kognitiven Wissenschaften, der Psychologie, der Soziologie usw. Wenn wir uns also mit irgendeinem Problem auseinanderzusetzen haben - beispielsweise mit der Suche nach einem neuen Verfahren - müssen wir an erster Stelle, eine (provisorische) Theorie für dieses Verfahren erfinden, dann ein Modell der Theorie, also ein Beziehungssystem zwischen den Grundelementen des Verfahrens, und abschließend dessen Definition. An dieser Stelle beginnt die Analyse der Daten in der Wirklichkeit und der Versuch zur Modellauslegung: und zwar in der Form, daß man reale Situationen bei der Anwendung des Verfahrens als Hypothesen annimmt und dann überprüft, ob sie in das Modell passen. Wenn dies nicht der Fall ist, sind diese Situationen irreal, oder das Modell oder die Theorie ist falsch und unbegründet. Es läßt sich also die Schlußfolgerung ziehen, daß sich die Methoden der exakten oder Naturwissenschaften auch auf die nicht ganz exakten, die sozialen oder Geisteswissenschaften anwenden lassen. Nicht weil letztere genauer geworden sind, sondern weil sich diese Methoden sowohl in ihren „Grundaussagen", als auch in ihren Verfahrensweisen als fragwürdig erwiesen haben. Ausnahme, die die Regel bricht Es handelt sich um eine Methode, die trügerischerweise eine Regel retten soll, und gleichzeitig um ein Mittel, um die Schaffung neuer Regeln zu verhindern. Normalerweise sagt man: „Das ist die Ausnahme, die die Regel bestätigt". Das Sprichwort kann auch als die wortgetreue Anwendung des „Rasiermessers" von Occam betrachtet werden, der davon abrät, die Objekte in der Realität zu mehren, 30
Eine Disziplin ist vollständig, wenn sie mit ihren logisch-darlegenden Überlegungen auf alle in ihr Sinngebiet fallenden Fragen eine - positive oder negative - Antwort zu geben vermag. 1*
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8. Kap.: Die Anwendung der phänomenologischen Methode
wenn es nicht notwendig ist. Eine dieser Notwendigkeiten ist die Ausnahme, selbst wenn sie sich nur auf einen Fall oder nur auf wenige Fälle bezieht: die Einzigartigkeit, die Seltenheit oder die geringe statistische Wiederholung können extrem bedeutsam sein. Die Ausnahme bricht die Regel immer dann, wenn der „anormale" Fall nicht auf andere Weise unterschieden oder eingeordnet werden kann; und zwar auf korrekte Weise und nicht durch ein einfaches „Naming " wie beispielweise, wenn man weiße Raben (s) „Albinos" nennt. Übrigens wäre eine Anti-Welt interessant, die aus allen nicht regelentsprechenden Dingen bestehen würde: also aus Hunden, die beißen, obwohl sie bellen, oder aus Gewitterregen im Anschluß an ein Abendrot. Diese Anti-Welt existiert tatsächlich: es ist die der Ausnahmen zu den Regeln. Es geht lediglich darum, den Ausnahmen die offizielle Anerkennung zuzusichern. Axiologie Es handelt sich dabei um die Wissenschaft der Werte. Diese sind streng von den Tatsachen zu trennen, wie uns die Philosophie der englischen und später der Wiener Schule (Wiener Kreis) gelehrt hat. Die warnende Aussage ist im sogenannten „Fallbeil von Hume" (.Hume's Guillotine 31) festgelegt, wonach es „nicht statthaft ist, Tatsachen von Werten und Werte von Tatsachen abzuleiten"32. Genau genommen stellt Hume eine generelle Überlegung an und schlägt nicht ein Gesetz vor, das er übrigens in seinem Werk dann doch verletzt. Hume stellt seine Überlegung wie eine einfache Beobachtung dar, „which may perhaps be found of some importance". Die Nachfolger haben daraus einen Glaubenssatz gemacht. Das „Fallbeil" selbst ist damit zu einer Wertvorstellung geworden. Ihre unkritische Übernahme führt unweigerlich zu einer schmarotzerhaften Argumentation (s.). Der Leitgedanke des „Fallbeils" liegt in der Feststellung, daß die Kenntnis objektiv sein muß. Diese Festeilung wird als Wertvorstellung betrachtet, so daß die anderen nicht objektiven Kenntnnisformen (wie die Metaphysik) verachtet werden. Womit sich ein echtes Durcheinander ergibt. Denn - wie die Realität zeigt - unternimmt man normalerweise nichts, engagiert sich nicht, wenn man nicht von Wertvorstellungen dazu angetrieben wird, oder von der Liebe, die der Wert der Werte ist. So empfiehlt es sich, nicht so viel (auf englisch oder wienerisch) nachzudenken und lateinischerweise fröhlich Fakten und Werte zu kombinieren. Dies ist übrigens unumgänglich notwendig, will man kreativ und motiviert sein, will man Lust zur
31
Ausdruck von Max Black in: The Gap between „Is" and „Should", Philosophical Review, LXXIII, 1964. 32 Der Absatz, der die Überlegung des „Fallbeils" enthält, befindet sich in: A Treatise on Human Nature , Oxford 1988 (Ausgabe Selby-Bigge) III, I, I, S. 469-470.
8.12. Kreativität
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Meditation und Freude an der Entdeckung haben und nicht in den Fakten versinken 33 . Persönlich bin ich für eine Rückkehr zu den Ideologien und für eine enge Verbindung zwischen Axiologie - als der Kunst der Erstellung, Ordnung und Anwendung der Werte - und der Heuristik als der Kunst des Erklärens und Erarbeitens von wirklichkeitsnahen Modellen, in denen sowohl die Fakten als auch die Werte ihren Platz haben. Dies könnte sich für die Untersuchung der Probleme der Wirtschaftsethik als besonders fruchtbar erweisen. Axiomatisierung Meiner Ansicht nach sollte die Axiomatisierung möglichst oft zur Anwendung kommen. Aus verschiedenen Gründen: der erste liegt darin, daß auch diese Untersuchung auf Axiomen aufgebaut ist; der zweite: die Axiomatisierung nutzt unter anderem dazu, das Thema festzustellen, von dem die Rede ist; der dritte: die Problematik der Axiomatisierung hat ihre Virulenz verloren, seitdem man - im Zusammenhang mit der Grundlagenkrise der Mathematik - festgestellt hat, daß auch die genaueste Axiomatisierung dem Widerspruch mehr als eine Tür offen läßt. Die Axiomatisierung unterliegt allerdings einer Pflicht zur Transparenz. Ist es doch eine Tatsache, daß die Axiome nur deshalb stark sind, weil sie auf nichts anderes als auf sich selbst rückführbar sind. Es ist daher einigermaßen wahrscheinlich, daß sie eine bei ihrer Realitätsentsprechung ziemlich genaue oder zumindest sinnhafte „Momentaufnahme" der Wirklichkeit sind. Die Axiomatisierung - also die Festsetzung von Definitionsgruppen begrifflicher Objekte oder die Umschreibung des angeschnittenen Gesprächsthemas (die „ursprünglichen Ausdrücke") - ist eine für die Kreativität nützliche Übung, selbst wenn sie im Gegensatz zum Begriff des lateralen Gedankens zu stehen scheint. Dieser Gegensatz läßt sich vor allem dann lösen, wenn man mit dem Rückgriff auf den lateralen Gedanken nicht übertreibt; wenn man also die Axiomatisierung auf flexible Weise handhabt; wenn man es ohne weiteres akzeptiert, daß sie in Zweifel gezogen wird, wenn sie der Überlegung nicht standhält und in Widerspruch zum induktiven, deduktiven und - auf Grund des Paradigmas der pluralistischen Logik - freien und „konstruktiven" Denken tritt. Ist doch die Axiomatisierung eine Disziplin des Denkens, die gelegentlich zu Beginn und am Schluß der Überlegung (als Überprüfung) zum Zuge kommt. Heute gilt die Vorliebe übrigens Axiomen, die nicht so sehr „wohl konzipierte Formeln" - wie es die neopositivistische Logik vorschrieb - und „sinnhafte Propositionen" sind, sondern vor allem als Ausgangspunkt für abzuleitende Propositionen oder Theoreme geeignet sind. Die Benutzung der Theoreme und ihr Aufbau ist 33
Hierzu lassen sich folgende Werke lesen: G. E. Moore, Principia Ethica , Bompiani, Milano, 1972 (Orig, von 1960); oder G. Carcaterra, Il problema della fallacia naturalistica. La derivazione del dover essere dall'essere , Giuffré, Milano, 1969.
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8. Kap.: Die Anwendung der phänomenologischen Methode
nicht mehr den mathematischen Wissenschaften vorbehalten, sondern ist heute auch in den humanistischen Disziplinen gestattet, ja sogar wärmstens empfohlen, da sie - möglicherweise mehr als andere Wissenschaftsbereiche - der wissenschaftlichen Strenge bedürfen. Aus Gründen des gedanklichen Aufbaus und der formalen gedanklichen Eleganz muß die Zahl der Axiome beschränkt bleiben (weniger als 10), wobei ganz offensichtlich weder ein Axiom vom anderen, noch von sich selbst (keine Tautologien) ableitbar sein darf (es muß also unabhängig bleiben). Es gibt zwei Typen von Axiomen: entweder selbstverständliche oder... frei aufgestellte; jeweils einer einzigen Einschränkung unterworfen und zwar der, daß sie nicht im Widerspruch zueinander stehen dürfen. Wie das sich gegenseitige Überschneiden der Parallelen in der Nichteuclidischen Geometrie. Begriff Es handelt sich dabei um ein einflußreiches Instrument, aber auch um eine Denkfalle. Das entsprechende italienische Wort „concetto " stammt vom lateinischen Etymon „concapiodas auf folgendes hindeutet: einfangen und ins Gefängnis werfen. Es empfiehlt sich daher, die Begriffe wie provisorische Fallen zu benutzen, um Ideen - als wären es Hasen - zu fangen, um sie dann im eigenen Wissensgarten freizulassen, damit sie sich vermehren und sich am Präkategorialen (s.) und dem Vorprädikativen (s) mit Hilfe des logischen Pluralismus laben können. Aristoteles, Vater der Logik, schreibt Sokrates die Erfindung des „Begriffs" zu und stellt ihn uns als die korrekte Definition oder die korrekte Umschreibung einer Sache vor. Sinn und Nutzen des Begriffes lag für den griechischen Rationalismus darin, der (von den Sophisten gefeierten) Vielfalt der Anschauungen (Doxa) eine Grenze zu setzen. Niemand kann die Nützlichkeit der Begriffe abstreiten, allerdings nur unter der Voraussetzung, daß man sich nicht davon einengen läßt. Liegt doch der Ehrgeiz des kreativen Menschen darin, neue sowohl in Worte als auch in Dinge gefaßte Begriffe, Anwendungen, Vorgangsweisen zu schaffen. Es ist aber notwendig, daß er sich im geistigen Vorgehen nicht von der begrifflichen Einordnung seiner Ideen beeinflussen läßt, weil er dann auf das Begehen jener Wege verzichten würde, die zum Neuen, aber auch zur Entfremdung, zur Dissonanz (s.) und zum akzeptierten Widerspruch (s.) führen. Bogenschütze Für einen Jetpiloten auf der transozeanischen oder transpazifischen Route besteht die größte Gefahr im Sondergeschehen: im Windstoß aus der nicht vorhersehbaren Windrichtung, dem bei der Wartung übersehenen Schaden, dem Versagen
8.12. Kreativität
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der Instrumente 34. Da es sich um ein Sondergeschehen handelt, hat es nichts mit der üblichen Wachsamkeit zu tun: der Pilot kann mit der Hostess oder dem Copiloten plaudern, an die nächste Golfpartie denken: das Flugzeug fliegt dank seinen wachsamen Lenkungs- und Kontrollgeräten von allein; wenn eben nicht gerade ein Notfall eintritt, der dann zur Katastrophe führt... Für den phönizischen Seemann, der das Mittelmeer im ersten Jahrtausend vor Christus bereiste, existierte das Sondergeschehen als solches nicht, weil jede Reise regelmäßig unzuverlässig und daher ein Sondergeschehen war. Das einzige, worauf sich dieser Seemann verlassen konnte, war er selber. Daher dachte er beim steuern des Schiffes an nichts anderes als an das steuern und erreichte dabei eine völlige Konzentration, aber auch eine Vollkommenheit in der Steuerung, die im umgekehrten Verhältnis zu den verfügbaren technischen Mitteln stand. Aus diesem Grund dauert das Erlernen des Bogenschießens in Japan fünf Jahre, die nicht unterbrochen werden dürfen: der Bogen und der Pfeil, beide aus Bambus, und die Sehne aus Seide bilden ein von der Struktur her unvollkommenes Instrument. Die Mängel müssen durch die Kunstfertigkeit des Bogenschützen - im Gegensatz zur unkonzentrierten Sicherheit des Jetpiloten - ausgeglichen werden. Die kreative Aktivität - auf jedem Gebiet und selbst, wenn sie sich auf hochtechnische Geräte stützt - bleibt stets eine Art Bogenschießen. Die Überlegung und die Suche - notwendige Bestandteile der kreativen Tätigkeit - erfordern eine Analyse des Präkate gor ialen und des Vorprädikativen (s.), für die es nur wenige und unbestimmte Hinweise gibt. Man hat es also mit einer Art Seereise der Phönizier in einer fast unbekannten See zu tun; einer Seereise, die mit wenigen und unzuverlässigen auf das Un vorhersehbare diesseits und jenseits des Horizonts stets vorbereiteten Instrumenten unternommen wird 35 . Definitionen und Definitionsnetze Es soll hier eine Methode zur Lektüre - sozusagen ein „Sieb" - vorgeschlagen werden, um aus einem Text eines der wichtigsten darin enthaltenen Elemente auszuwählen: nämlich die Definition der Begriffe oder, besser gesagt, der angesprochenen und behandelten Objekte. Das Verfahren geht von der Vorstellung aus, daß es keine „alten und akzeptierten" Standarddefinitionen gibt, weil diese einem ständigen „Wandel" unterworfen sind, und daß jeder Text letzten Endes sein Universum durch offensichtliche oder verdeckte, direkte oder indirekte Definitionen darstellen will.
34
Im Sinne des Entlasteten (s.) von Arnold Gehlen. Dieser Punkt inspiriert sich auf freie Weise an: E. Herrigel, Zen in der Kunst des Bogenschießens, Otto Wilhelm Barth Verlag, Bern - München - Wien, 24. Aufl., 1985. 35
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8. Kap.: Die Anwendung der phänomenologischen Methode
Bei der Lektüre eines Textes ist es daher ratsam, alle Ausdrücke mit einem direkt oder indirekt, offensichtlich oder verschleiert festlegenden Inhalt zu isolieren. So lassen sich Definitionsnetze für denselben Ausdruck oder Begriff bilden, selbst wenn er jeweils mit anderen Worten umschrieben wurde. Am Schluß überträgt man diese Netze auf ein Blatt Papier und untersucht, ob sie folgerichtig sind. Dasselbe macht man mit verschiedenen Netzen, um die Konsequenz, Konsistenz oder Aufbaufähigkeit (logische Konstruktion (s.)) des Textes zu überprüfen. Ein Text, der diese Probe nicht besteht - ob es sich nun um eine Abhandlung, einen Roman oder eine Ballade handelt - ist zusammenhangslos oder verworren und nicht - wie er sich auf den ersten Blick geben könnte - tiefgründig oder kreativ. Ding Es handelt sich dabei - meiner Meinung nach - um den heiligen Graal des Kreativen. Die italienischen Kommunisten sind zu einer verzweifelten Suche nach dem Ding aufgebrochen, sie haben sich verlaufen und haben angefangen, über Namen und Symbol des Dings zu streiten, noch bevor sie es gefunden hatten (und auch nachher). Eine seltsame, aber nicht ungewöhnliche Situation. Dies geschieht auch mit altbekannten Dingen: man merkt irgendwann, daß sie etwas ganz Anderes sind, als was man angenommen hatte. Pier Lugigi Amietta gibt folgenden Ratschlag: „Übe Dich stets darin, die bekannten Sachen zu betrachten, um zu entdecken, wie unbekannt sie Dir waren 4 ' 36 . Gewöhnlich widerfährt dies den Eltern mit ihren Kindern: sie beobachten sie nicht genug und meinen, sie kennen sie völlig. („Es ist mein Kind!' 4 ) Es ist auch den Physikern widerfahren, die 2400 Jahre lang - seit Demokrit die Atome als unteilbar betrachteten (wie schon das Wort selber sagt), bis Rutherford im Jahre 1911 dachte, daß sie teilbar und zusammengesetzt sind. Seitdem kennt die Teilbarkeit keine Grenzen mehr. Eine andere befremdendende Folge der Stellung des Atoms im Planetensystem ergab sich indirekt für Tarski und sein Wahrheitskriterium („zwei Gegenstände sind gleich, wenn sie dieselben Merkmale aufweisen"). Die Atome, die ursprünglich als gleich betrachtet wurden, wurden zumindest von Element zu Element - aufgrund der Isotopen immer unterschiedlicher und die Wissenschaft geht in ihren Erkenntnissen immer noch weiter. Aufregend und abenteuerlich ist die Suche nach dem Ding, das von den ihm angehängten Prädikaten des modernen Wissens versteckt wird. Die Übung gleicht einem „Quiz": findet 10 Gebrauchsmöglichkeiten für den Gegenstand X. Als ich ein Kind war, wuchsen die Pampelmusen wild in Sizilien und blieben an den Bäumen hängen, weil sie bitter waren und daher als nicht eßbar galten. Dann 36 N. Piepoli, op. cit., S. 65.
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wurden sie von den Israeli - auf deren Erde sie nicht wild wuchsen - „entdeckt"; die Israeli „beschlossen", daß sie einen angenehm bitteren Geschmack hatten, daß sie eßbar waren und daß sie außerdem schlank machten (möglicherweise weil eine Pampelmusen-Diät von sich aus schon dazu führt, mit dem Essen nicht zu übertreiben). Hat sich der Geschmack oder das Ding geändert? Wie dem auch sei, kreativ sein bedeutet fast nie, ein neues Ding zu entdecken, sondern eine alte Sache mit neuen Augen zu betrachten; sie also endlich mit der Epoche (s.) zu sehen und dabei den Dunst der Prädikate „wegzublasen", von denen das neue Wissen verdeckt wurde. Dissonanz Die Musik ist voller Dissonanzen; dies gilt selbst für jene Musik, die keine Zwölftonmusik ist. Mozart war teilweise dissonant und den - nicht vorbereiteten und dem Neuen nicht aufgeschlossenen - Ohren einiger seiner Zeitgenossen lästig, die deshalb Salieri, den akademisch ausgebildeten, übrigens sehr guten Musiker bevorzugten. Die Dissonanz ist notwendig, aber - wie das Salz und der Pfeffer in der Suppe schwer zu dosieren. Ein kreatives Werk weist sicherlich seinen Teil an wohl dosierter, nicht auf die „prästabilierte Harmonie" reduzierter Dissonanz auf. Die Dissonanz zeigt die Suche nach einer neuen Harmonie an. Wenn sie sich durchsetzt, wenn sie (von einigen) akzeptiert wird, wenn sie bedeutsam ist, schafft sie ein neues harmonisches Kraftfeld und ist ihrerseits dazu verurteilt, eines Tages überholt zu sein. Die „Haute Couture" ist eine Mischung aus Konsonanzen und Dissonanzen: beide - nicht Selbstzweck, sondern den Diskurs fördernd - drücken die Persönlichkeit oder einen Charakterzug ihres Trägers aus. Der Rocksänger Michael Jackson ist ein eleganter Mann, der Dissonanzen in seiner Kleidung zum Ausdruck bringt. Diese Dissonanzen drücken die Kreativität seiner Persönlichkeit aus. Es sind daher „Diskurse". Michael Jackson ist ein „Text". Eidetische Reduktion Wenn kreativ sein bedeutet, die Essenz der Dinge herauszuschälen, also den Ursinn einer Vorgangsweise, einer Philosophie, eines Brauchs aufzuzeigen, dann ist die eidetische Reduktion eine hodos, ein Weg, der in diese Richtung führt. Er zielt auf das Wesen der Dinge ab, das uns weder die Wahrnehmung noch die Apperzeption (oder bewußte Wahrnehmung) noch die geistige Darstellung geben kann. Die Tätigkeit der eidetischen Reduktion ist spontan, wenn man die Fakten als transzendental sieht; sie kann durch die Betrachtung und die Meditation verfeinert und verstärkt werden. Am Ende ergibt sich dann plötzlich die kreative Lösung.
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Im Anschluß an die eidetische Reduktion verlieren die Objekte der geistigen oder Bewußtseinswahrnehmung ihre „reale Offensichtlichkeit" - also ihre direkt wahrnehmbare naturgegebene Erscheinung - und werden zu Phänomenen, zur echten Manifestationen des Dinges; und zwar als ursprüngliche Gegebenheiten, die von den Krusten und Verdunkelungen eines von übernommenen Vorstellungen (Werturteilen, Vorurteilen, Kategorien usw.) geprägten Bewußtseins befreit sind. So kommt es, daß nur ein Kind den Kaiser ohne Kleider sieht, wohingegen ihn die (gutgläubigen) Höflinge in kaiserlichen Kleidern erblicken, die sie in Wirklichkeit nur in ihrem Bewußtsein sehen und mit denen sie ihn „bekleiden", wenn sie seiner ansichtig werden. Die Epoché (s.) - im Dienste der eidetischen Reduktion - stellt Urteile, Vorurteile, Wertungen, Kategorien und die in unserer Kultur und Psyche auch als Philosophien und wissenschaftlichen Theorien aufgekommenen Auschauungen auf die Seite; sie sieht und übernimmt nur das, was „phänomenologisch" im transzendentalen Bereich des reinen, befreiten Bewußtseins bleibt. Als „transzendental" wird hier die Fähigkeit des Ich - nicht des transzendentalen Ich von Kant und der Idealisten, sondern des Ich des Einzelmenschen - verstanden, Ordnung zu schaffen, Unterscheidungen vorzunehmen, die Wahrnehmung zu reinigen und auf diese Weise zum ursprünglichen Phänomen vorzudringen - zur Essenz der Dinge, dem Eidos - und sie von der Belastung des natürlichen, historischen oder - wie man in der Phänomenologie sagt - des „weltlichen" Bewußtseinszustands zu befreien. Die Stärke der transzendentalen Kapazität des Ich hängt von ihrem Grundmerkmal ab, das in der Intentionalität liegt, also in der Fähigkeit, die Dinge der Welt zu Bewußtseinsobjekten zu machen. Diese Objekte der Welt, die in der Reduktion zurückgewonnen werden, sind die Noeme; in dieser Absicht werden die noetischen Akte vorgenommen. Die „Schöpfung" des Objekts in der Noesis, also der „noetische Akt", entspricht der Konstitution. Dank ihr ordnen sich die Erfahrungen - es handelt sich dabei um ein Sammelsurium einzelner Bewusstseinspartikel als Folge ständig chaotisch eintreffender Wahrnehmungen - in Darstellungen, die in Raum, Zeit und in ihrem Bezug zu anderen noetischen Objekten eingereiht werden; also in ihrer Intersubjektivität (und zwar im Hinblick auf die Tatsache, daß sie von mehreren Menschen gleich gesehen werden) fest eingeordnet werden. Die phänomenologische Analyse ist daher eine transzendentale-konstitutionale Analyse. Sie wird, bewußt oder unbewußt, vom kreativen Menschen praktiziert. Sonst ließe sich nicht verstehen, warum ihre künstlichen Produkte - ob nun objektbezogener oder verbaler Art - die Aufmerksamkeit und das Interesse aller anziehen; warum sie demnach intersubjektive Gültigkeit haben. Das Ergebnis einer eidetischen Reduktion, die systematisch auf ein bestimmtes Wissensgebiet angewandt wird, führt zu einer reinen und konkret eidetischen Wis-
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senschaft für dieses Wissensgebiet. Das geschieht bei großen Ereignissen, wenn sich die Substanz der Dinge mit Gewalt äußert. Für die Wirtschaft mit Adam Smith und mit Ricardo, aber nicht mit Sraffa (seine Eidetik war erfolglos); in der Soziologie nicht mit Comte, wohl aber mit Weber und mit Marx, der hingegen in der Wirtschaftswissenschaft wenig „eidetisch" war; in letzter Zeit in der Wirtschaft der Massengesellschaft mit Aurelio Peccei, dem Exponenten des sich mit der Ökologieproblematik befassenden „Club of Rome", nicht aber anschließend mit den metaphysischen Ökologen, die den Umweltschutz auf „naive" (und nicht auf eidetische) Weise zu ihrem Ziel erhoben; in der Psychologie mit Freud, der eidetisch das Unterbewußtsein und das Ich „erkannte"; wohingegen der Kognitivismus nur flüchtig und mit kaum verhaltener Verlegenheit vom Ich spricht 37. Mit Hilfe der Phänomenlogie überwindet man den klassischen Gegensatz von Idealimus und Realismus. Die Wirklichkeit entspricht für das konstitutiv transzendentale Ich hauptsächlich dem „Sinninhalt". Es ist das Ich, das die Welt als eine Welt der Sinninhalte aufbaut. Es sind sie - und nichts Anderes - , die wir erkennen und auf die wir in der Kommunikation „anspielen" können, indem wir sie zu Symbolen (s.) festigen oder sie im Entlasteten (s.) einbringen. Entlasteter/Herausforderer Der kreative Mensch müßte den Entlasteten stets hinter sich lassen, um unerschrocken auf den Herausforderer zuzuschreiten. Ein kreativer Mensch, der sich hingegen nicht vom Entlasteten entfernt, ist wie der Entdecker einer neuen Welt, der am Strand stehen bleibt, die Schiffe nicht aus den Augen verliert und den Gang hinter die Dünen auf später verschiebt. Andererseits ist es nicht leicht, die schönen Schiffe zu verbrennen, auf die Vorräte zu verzichten, die noch im geräumigen Laderaum gespeichert sind (selbst wenn sie schon etwas alt geworden sind), während der Herausforderer stets leicht nach Säure riecht. Der Entlastete verlegt seine Aufmerksamkeit vorwiegend auf die Ausarbeitung akademischer Studien oder Abhandlungen: der Autor ergeht sich in der Darlegung der Geschichte des Themas und des derzeitigen Wissensstandes und verursacht dabei dem Leser ohne ausgesprochenes philologisches Interesse, der aber dem Thema seine Aufmerksamkeit widmen und gegebenenfalls etwas Neues erfahren möchte, einen erheblichen Zeitverlust.
37
Eine schöne Darstellung des Ich gibt uns Angela Ales Bello in der Darlegung des Themas der Liebe nach E. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität mit folgenden Worten: „Das Ich ist der Pol für Zuneigungen und Aktionen; als solches ist es ein Pol der Einheit des Strebens, der sich auf das gesamte fließende Bewußtsein ausbreitet. Das Streben in all seinen vielfältigen Modalitäten stellt das Leben des Ich dar . . i n A. Ales Bello, Husserl - Sul Problema di Dio, Ed. Studium, 1985, S. 87.
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Arnold Gehlen hat die Beziehung zwischen Entlastetem und Herausforderer untersucht 38. Es kann für ältere Leute tröstlich sein, von ihm zu erfahren, daß geistiges Altern nicht im Gehirn sondern im Bewußtsein stattfindet, wenn man sich auf die eigene Erfahrungen festlegt, ja sich darauf versteift. „Damit - sagt er - bekommt der Herausforderer weniger Genugtuung und Entdeckerfreude", sondern „er fühlt sich selbst unglücklich, weil das Glück die Erfüllung dessen ist, was die Grenzen unserer experimentellen Erwartungen durchbricht ... ; (die Erfahrung) weist immer einen Hof auf, der definiert wird durch das, was allgemein als möglich betrachtet wird (wobei der Hof der Kreativität offensichtlich außerhalb bleibt)... die Grenzen der Erfahrung sind ... eindeutig .. ," 3 8 . Natürlich ist nicht die ganze Erfahrung umsonst und versperrt die Straße in Richtung auf den Herausforderer. Es ist übrigens nicht die Erfahrung als solche, die gefährlich ist, sondern unsere geistige Sklerose, die uns dazu führt, von jeder weiteren kritischen Durchsicht eines Teils unseres Wissens oder unseres Gesamtwissens Abstand zu nehmen. Die geistige Sklerose tritt dann ein, wenn wir unsere Erfahrung als ausreichend und festgelegt betrachten. Im Bereich der wissenschaftlichen Spezialisierung wird der Entlastete den Fachjargon zur Umgangssprache ummünzen, damit er Dritte vom Eindringen in diesen Fachbereich abhält. So wird jener Bereich des Herausforderers plinarität erwächst.
neutralisiert, der aus der Interdiszi-
Die Sprache wird zur Rüstung des Entlasteten, selbst wenn sie von Symbolen (s.) beherrscht ist; und zwar in einer Welt schon voller Symbole - die gefährlich dazu tendieren, heilige Ikonen zu werden - und in einer Welt ohne Überraschungen, in einer sicheren, aber unglücklichen Welt. In ihr herrscht eine anhaltende „Passivität" und Unaufmerksamkeit ... eine Welt der unbeschränkten Unterwerfung, die unendlich viele ursprüngliche gedankliche Leistungen und unvermutet lebendige und lebenswerte Momente unterdrückt" 39. Epoche Es handelt sich um einen Ausdruck aus der Philosophie des Altertums, der von Husserl wieder aufgegriffen und als Instrument zum Erfassen des Wesens der Phänomene - und daher letzlich der Dinge (s.) - im Rahmen des (größeren) Prozesses der eidetischen Reduktion (s.) neu ausgelegt wird.
38 A. Gehlen, Antropologia Filosofica ab S. 38. 39 A. Gehlen, op. cit., S. 46.
e Teoria dell'Azione, Guida, Napoli, 1990, passim
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Epoché und eidetische Reduktion werden zu notwendigen und äußerst nützlichen Zwischenphasen im kreativen Prozeß, sofern dieser im Sinne eines neuen Erfassens des „Dinges" verstanden wird, das immer neue Merkmale bekommen kann, und nicht als die Schaffung von phantastischen, seltsam „gräßlichen", wunderbaren oder außergewöhnlichen Werken. Epoché ist das griechische Wort für die „Aufhebung des Urteils". Der Begriff ergibt sich aus der von der Skepsis inspirierten Erkenntnis, wonach sich für jede These eine Gegenthese finden läßt. Die skeptisch ausgerichtete antike Epoché zerstörte jede Möglichkeit des Denkens, selbst wenn einige Philosophen (so Pirro) ihre Auswirkungen positiv beurteilten, weil sie zur Ataraxie, der Gelassenheit des Weisen, und nicht nur zur Aphasie als der unvermeidbaren Unmöglichkeit jeder Aussage (Archesilaos und Pitane) führte. Diese Unmöglichkeit der Aussage enthält allerdings auch die sich daraus ergebende Aussage, daß man garnichts aussagen kann: eine stoisch radikale Aussage, die sich einer ebenso radikalen Skepsis gegenüberstellt. Husserl kommt der Verdienst zu, die skeptische oder systematische Epoché in epistemologische oder methodische Epoché umgewandelt zu haben. Für Husserl ist die Epoché die Aufhebung einer Bewertung auf der Grundlage des landläufigen Wissens. Dabei handelt es sich um den zeitweiligen Verzicht darauf, die Welt und den psychologischen Inhalt des Bewußtseins und damit die Ergebnisse der empirischen Wissenschaft als verbindlich anzuerkennen. Das Bestehen dieser Welt wird zwar nicht bestritten, jedoch sozusagen in Klammern gesetzt, damit das gereinigte Bewußtsein zum Ort für die Erkenntnis des Dinges (s.) im Phänomen werden kann. Das Phänomen ist übrigens die einzige Realität, die ohne äußeres Zutun wahrnehmbar ist. Im Phänomen „gibt sich" die Realität oder, besser gesagt, das Sein; und zwar außerhalb jeder Kategorialität und jeder Prädikativität des analytischen Denkens oder der bewertenden Erkenntnis. Sie findet ihren Niederschlag in Propositionen, die durch eine Beziehung von Subjekten und Prädikaten gebildet werden und die eine bestimmte Sicht der Welt, der Realität, des Bewußseins, des Ich und seiner Fähigkeiten als selbstverständlich voraussetzen. Es handelt sich um eine Sicht, die nur historisch, psychologisch, epistemologisch sein kann; eine Sicht, die nichts anderes als die paradigmatische Voraussetzung für die Schaffung einer Realität und für ihre Verwandlung in eine (wissenschaftliche, psychologische, philosophische) Doktrin ist; um sie in „realitätsbezogene Wertungen" zu verwandeln. Aber das ist nicht mehr die Realität und noch viel weniger das Wesen der Dinge. Beim ständigen Vorgehen nach Kategorien und Erstellen von Werturteilen (prädikative Propositionen) vergessen wir, daß wir in das Sein der direkten Wahrnehmung eingetaucht sind, von dem wir uns jedoch mit unseren „Ich-Bewußtsein" unterscheiden. Das ist die Transzendenz, die das konkrete Ich auszeichnet, die zur Ich-Person, und nicht zu einem transzendentalen oder universellen idealistischen Ich gehört, das wiederum ein „Werturteil" darstellt.
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8. Kap.: Die Anwendung der phänomenologischen Methode
In unserem direkten Kontakt mit dem Sein „zeigt sich" das Sein sozusagen auf sanfte Weise, ohne daß es in Kategorien eingesperrt und in Werturteilen neu formuliert werden muß. Die Erfahrung, die Intuition, die bewußte Wahrnehmung (Apperzeption) sind unsere Fenster auf das Sein. Wenn wir nur kurz aus diesen Fenstern blicken und dabei die Scheuklappen des Kategorialen ablegen und die Käfige des Werturteils, in die wir normalerweise unsere Erfahrungen hineinzwängen, sie öffnen, gibt sich uns das Sein, das Ding und ... wir sind kreativ. Die Epoché als Moment der eidetischen Reduktion (s.) - wobei diese beiden Vorgänge nicht trennbar sind - und die Variation (s.) stellen den phänomenologischen Prozeß der Annäherung an das Ding dar. Die Epoché als „Hygiene" der Wahrnehmung ist ein eher schwer vollziehbarer Vorgang; wenn er jedoch verwirklicht wird, ist er fruchtbar. Auf jeden Fall ergeben sich Nachteile auf der Wahrnehmungs- und Erkenntnisebene, wenn sie nicht zur Anwendung kommt. Wenn man aus den eigenen Gewohnheiten, Traditionen, Bräuchen, nationalen Gepflogenheiten keine Epoché macht, wird es schwierig, ein fremdes Land in seinen verschiedenen Aspekten - von der Kunst bis zu seiner Küche - zu verstehen. Man kehrt heim und sieht seine Überzeugung bestätigt, daß es „nirgends so schön wie daheim ist...", oder daß die „englische Küche schlecht i s t . . . daß die Engländer die Spaghetti wirklich nicht kochen können"; dabei vergißt man, daß die Italiener das „Roastbeef 4 nicht zuzubereiten imstande sind und daß sie den Hammeleintopf schon vor dem Probieren ablehnen. Warum? Weil er wirklich scheußlich schmeckt! Sicherlich hat derjenige, der für eine Verkehrsberuhigung im Stadtzentrum das Auto mit nur zwei Stehplätzen vorschlug, keine Epoché gemacht. Jesus hingegen wohl, als er dem jungen Reichen auf dessen Drängen hin sagte, wie man es anstellen soll, um die Vollkommenheit unabhängig von der Befolgung des Gesetzes zu erreichen. Die Japaner schlürfen die Suppe und wir halten sie deshalb für schlecht erzogen; aber sie schneutzen sich nie die Nase in der Öffentlichkeit, wohingegen wir dies selbst bei Tisch tun. Laut Lévinas besteht geistige Größe in der Akzeptanz des Andersartigen. Die Epoché hilft uns, durch einen zeitweiligen Abstand von uns selbst und folglich durch unsere Bereitschaft zur Anerkennung des „Anderen" geistig zu wachsen. Die Epoché schafft möglicherweise jene „innere Stille", die Musil wie folgt beschreibt: „Man muß ganz still sein ... Keinen Raum für irgendeinen Wunsch lassen, nicht einmal für den Wunsch, Fragen zu stellen ... Den eigenen Geist von allen seinen Instrumenten befreien und ihm verbieten, als Instrument zu dienen. Man muß das Wissen und das Wollen ablegen, sich von der Realität und vom Wunsch befreien, sich an sie zu wenden ... bis Sinn, Herz und Glieder eine einzige Stille sind. Wenn man so zum höchsten Verzicht vorstößt, dann, endlich, berühren sich das Drinnen und das Draußen, als wäre ein Keil weggesprungen, der die Welt
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teilte .. , " 4 0 ' 4 1 . So wie sich das Drinnen und das Draußen in den Stilleben des italienischen Malers Morandi berühren, in denen die Objekte von allen ihren gewöhnlichen, technischen und funktionellen Prädikaten befreit reine Objekte, einfache Dinge, stille Ausdrucksformen des Seins werden. Extension/Intension Mit diesen Begriffen ist die erschöpfende Umschreibung eines Wortes gemeint. Allerdings: über die Sprache allein ist es praktisch unmöglich, einen Sinninhalt zu bestimmen: jedes Wort würde bei der Erklärung auf ein anderes in einer unendlichen Reihe zurückgeführt. So ist die Theorie erforderlich. Wir kommen so zu verschiedenen Theorien vom Sinninhalt. Die bekannteste ist die, die unter dem Namen „Konvention T" geht, wobei das „T" für Tarski, dem polnischen Logiker und Mathematiker, steht. Die „Konvention T" sagt aus, daß jede Sprache ihre Wörter und Propositionen nur als Objektsprache im Rahmen einer Metasprache definieren könne 42 . Hierbei stößt man auf eine aus der Interdisziplinarität erwachsende Schwierigkeit: es gibt keine Spezialisten, die die Fachwörter und -ausdrücke einer Sprache in die entsprechenden von Spezialisten in einem anderen Bereich benutzten Fachwörter und -ausdrücke umsetzen können; wobei jeder Spezialist fordert, daß seine Sprache als Metasprache betrachtet wird und daß die Sprache des anderen eine Objektsprache seiner eigenen Metasprache ist. Betrachten wir die Anwendung der „Konvention T". Nehmen wir einen ganz einfachen Fall: die Definition des Begriffes „Pferd". Wir schlagen eine Enzyklopädie auf und finden 43 : „Säugetier, Huftier, Einhufer, Equide, zur Familie der Pferde gehörende Tiergattung." Mir fehlte die Erklärung eines Wortes und nun fehlen mir sechs Erklärungen. Ich habe mich dann besonders für das Wort „Equide" interessiert (Davon habe ich auch außerhalb der „Konvention T" eine Vorstellung). Ich nehme also wieder die Enzyklopädie zur Hand und suche unter dem Stichwort „Equide" und finde: „Equiden" im Plural. Intressant! Mit folgender Definition: Säugetiergattung, Einhufer, zu der die Pferde, Esel, Zebras, das Equus Hemionus und der Onager gehören": Die Zebras habe ich im Zoo und die Esel in Sardinien gesehen. Aber was was sind wohl die Hemione? und die Onager? Ich erinnere mich schwach an die Bibel, wo irgendwo von einem Onager die Rede ist, aber das 40
P. Trupia u. a., La scuola italiana della comunicazione , Bulzoni, Roma, 1993. 1 R. Musil, L'uomo senza qualità , Einaudi, Torino, 1962, S. 1085 (Orig. 1931). Zitiert von A. Ales Bello, in L'Oggettività come Pregiudizio . Analisi di inediti husserliani sulla Scienza, La Goliardica Ed., Pavia, 1982, S. 116. 42 A. Tarski, Introduzione alla Logica , Bompiani, Milano, 1978 (Orig. von 1965): Für eine Kritik der Probleme und der Öffnung der Konvention T, s. D. Davison, Inquiries into Truth and Interpretation, Clarendon Press, Oxford, 1984, S. 72 ff. 43 Es handelt sich um das Lexikon von Rizzoli-Larousse. 4
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8. Kap.: Die Anwendung der phänomenologischen Methode
„Equus hemionus" ist mir völlig unbekannt. Das gemeine „Pferd" bleibt also weiterhin ein geheimnisvolles Wesen. Die Definition geht aber wie folgt weiter: „Die Gattung der Pferde wird als Ungulaten bezeichnet, weil sie sich beim Gehen auf dem Nagel des stark entwickelten dritten Zehens aufstützen (das könnte nicht einmal ein chinesischer Akrobat, sage ich mir), wohingegen die anderen Zehen verkümmert sind; Ungulaten also, weil sich der Nagel in einen Huf verwandelt hat". Warum also nicht „Huftiere", frage ich mich? Wie dem auch sei, die Zahl der zu klärenden Ausdrücke ist inzwischen weiter angestiegen. Besonders „Equus hemionus" hat mich neugierig gemacht. Ich nehme die Enzyklopädie also wieder zur Hand und finde „gemeiner Name eines zur Gattung der Pferde gehörenden wilden Tieres mit einer Gestalt zwischen der des Esels und der des Pferdes; von ersterem unterscheidet er sich durch einen schlanken und eleganten Körper, vom zweiten durch seine zierlichen Glieder; rund 1,30 m hoch am Widerrist, mit einem isabellenfarbenen Fell und einem schwarzen Streifen auf dem Rücken; es lebt in der Mongolei, in Sibirien, im nordöstlichen China und im Iran". Die zu erklärenden Begriffe sind mit „Widerrist" und „Isabella", wobei offenbar nicht der Frauenname gemeint ist, nur noch zahlreicher geworden. Inzwischen hat die Definition des „Equus hemionus" zu etwas geführt: es wurde mir mitgeteilt - und das ist mir wertvoll - , daß es 1,30 m hoch ist (wenn auch nur am „Widerrist"); ferner wird mir gesagt, daß es sich in der Mongolei, in Sibirien, im nordöstlichen China und im Iran aufhält. Wenn ich in den Iran ginge - der am nächsten liegt - und die Ortsansässigen danach fragen würde, könnten sie es mir möglicherweise zeigen. Damit verfügen wir über drei Wege, um zur Bedeutung vorzustoßen. Der erste wird durch die Merkmale aufgebaut: 1,30 Meter hoch, läuft durch Aufstützen auf den Nagel des dritten Zehs, hat ein isabellenfarbenes Fell. Dies ist die intensionale Bedeutung. Der zweite Weg sagt mir, wo sich das Ding befindet: im Nordosten Chinas und an anderen Orten. Damit führt dieser Weg zur deiktischen Bedeutung. Der dritte Weg führt zur extensionalen oder extensiven Bedeutung und kennzeichnet alle Tiere derselben Gattung - Esel, Equus Hemionus, Onager, Zebra und Pferd, das allerdings ein „Equus Equide" ist - und zwar neben den bestehenden auch die von der Erde verschwundenen und die auf der Erde (und eventuell anderswo) noch erscheinenden einschließlich der neuen Kreuzungen und der neuen Produkte der genetischen Technik usw. Folglich ist die Intension die Gesamtheit der wesentlichen Merkmale der von einem bestimmten Wort bezeichneten Sache. Die Extension ist das Ding oder die Kategorie der tatsächlich existierenden Dinge. Die Intension oder die intensive Bedeutung von „Hund" entspricht den Wesensmerkmalen der Hunderasse, die Extension von „Hund" der Gesamtheit aller Hunde sowohl als einer Rasse zugehörige Lebewesen als auch als existierende Einzeltiere einschließlich der toten, der den ausgestorbenen Rassen zugehörigen, der Tiere, die noch geboren werden und derer,
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die zu neuen Rassen oder Typen gehören. Dabei sind die Hunde, die den Affen, Katzen, Bären ähneln nicht auszuschließen, sofern sie eine Hundeähnlichkeit aufweisen (nach der Intension ); wie schließlich auch die Symbol-Hunde, wie die sechsbeinigen Hunde in der Werbung der italienischen Treibstoffirma AGIP, und die metaphorischen wie beim Wetter („Hundewetter"). Um zum „Pferd" zurückzukehren: wenn ich an Stelle der Enzyklopädie von Rizzoli-Larousse das englische Volkslexikon aufgeschlagen hätte, wäre ich auf folgende Erklärung gestoßen: „ well known quadruped die möglicherweise mein Problem sofort gelöst hätte (die ganze Story kommt allerdings von Dickens „Hard Times"). Noch eine letzte Anmerkung zur „Konvention T": will ich wissen, was das Wort „Pferd" in der deutschen Sprache (oder „ cavallo " in der italienischen Sprache) bedeutet, muß ich die Bedeutung der Wörter in der Definition kennen (Einhufer usw.), die der Metasprache der Zoologie angehören, der die deutsche (oder italienische) Umgangssprache als Objektsprache gegenübersteht. Für eine Kreativität ist die intensionale oder intensive Bedeutung wichtig. Wenn ich mit Bezug auf den Hund kreativ sein will, muß ich nach allen Wesensmerkmalen des Wortes „Hund", beziehungsweise des „Hundehaften" suchen. So könnte ich dann den Hund mit sechs Beinen erfinden. Genau dies geschah in den 50er Jahren im Kopf eines Graphikers, der auch den heute ungewohnten Slogan „Agip Benzin. Ein Hund mit sechs Beinen, der treue Freund des Menschen auf vier Reifen" für die italienische Treibstoffirma Agip-Petroli prägte. Damals waren es allerdings andere Zeiten, als der „Mensch auf vier Reifen" nur positiv gesehen wurde! Heuristik Die Heuristik ist ein Instrument zum nachdenken. Sie ist uns als Vermächtnis der klassischen Philosophie zusammen mit der Alethik, der Hermeneutik, der Axiologie gegeben. Sie ist ein wirksames Instrument und so gefährlich wie ein scharfes Messer, wie ein Schlagbohrer. Man benützt sie, um zu erklären, zu entwirren, um Ideen und Erfahrungen zu ordnen, um alle entdeckungsnotwendigen Materialien auf den Tisch zu legen, bis man zu einer Auslegung - oder, wie man auch sagt, bis zu einem Modell des Phänomens - gelangt. Aber das Ergebnis des analytischen Vorgangs ist immer provisorisch: es ist nur ein heuristisches Modell, nicht ein Modell im Sinne einer Darstellung 44. 44 Die Vorstellung des Atoms als „Planetensystem" entspricht eher einer Metapher als einem Modell und zwar wegen der enormen Unterschiede zwischen wirklichem und atomarem Planetensystem (der Abstand Elektronen - Kern ist proportional viel größer, die Elektronen sind fast ohne Masse usw.)
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8. Kap.: Die Anwendung der phänomenologischen Methode
Der Heuristiker ist wie der Assistent im Operationssaal: er hält die Messer in Ordnung und hält sie auf ein Zeichen hin bereit, er räumt sie am Schluß auf (und zählt sie). Er kann und darf in die Operation nicht eingreifen. Der Begriff hat nach dem Tode Kants einen schlechten Ruf bekommen, weil heuristische Versuche auch auf das Nichterkennbare Anwendung finden. Die Heuristik hinterläßt folglich den Eindruck einer raffinierten Kunst, die jedoch Selbstzweck ist; sie verhält sich so, als ob ein pensionierter Operationsassistent Operationsmesser sammeln würde. Die Gefahr von Seminaren über die Kreativität liegt genau hier: man spricht nur über die Instrumente, als ob man den Chirurgen nur mit dem Studium der Geräte ausbilden könnte. Es gibt in der Tat auch in der Philosophie Personen, die die Heuristik als die einzige ehrenhafte geistige Tätigkeit und ihre Ausübung als unbedingt vorteilhaft betrachten, weil sie von der Wahrheitsabhängigkeit (Aletheia) oder, wie man sagt, „Sucht der Wahrheitssuche" befreit. Die positive Seite der Philosophie läge also nur in dieser Suche45. Man kommt zu richtigen Fehlschlüssen wie dem von A. N.Whitehead, für den eine geistig gut gebildete Proposition mehr Gewicht als eine wahre hat. Heute hat die Heuristik wieder an Bedeutung gewonnen, da die „Skalpelle" der Entdeckungs- (oder der Such-) Logik um den Impuls reicher wurden, den Popper der Epistemologie gab. Bekanntlich muß man für eine wissenschaftliche Diskussion zumindest einen Seitenblick auf die geistigen und philosophischen „Paradigmen" der Gesprächspartner werfen. Nachdem ich alles Schlechte von der Heuristik gesagt habe, kann ich ihren - allerdings vorsichtigen - Gebrauch nur empfehlen. Die Diskussion sollte nicht beginnen, wenn nicht alle „Eingriffsinstrumente" schön geordnet bereit liegen: Daten, Informationen, Dokumente, Statistiken, Grundideen usw. Hodonpoietiké Dieser Ausdruck wurde von Zenon von Kitium (340 v.C. - 265 v. C.) - nicht zu verwechseln mit Zenon von Elea (490 v. C. - 430 v. C., durch die Schildkröte bekannt) und mit Zenon von Sidon (II. -1. Jh. v. C., Ciceros Lehrer) geprägt. Hodonpoietiké bedeutet die Fähigkeit, neue Wege zu finden. Einer dieser Wege ist sicherlich die eidetische Reduktion (s.) in ihrer Verbindung mit der Epoché (s.) und mit der Variation (s.). Andere Wege sollen zum Wesen der Dinge oder zumindest zu einem Fragment dieses Wesens führen. Dies ist das Ziel des kreativen Vorgehens. In seiner Kampagne gegen die - so Armando Plebe - „Manie" der Wahrheitssuche, die er als „Wahrheitsabhängigkeit" bezeichnet46, spricht er sich positiv über 45 Das ist die kürzlich von A. Plebe verteidigte These: A. Plebe und P. Emanuele, Contro V ermeneutica, Laterza, Bari, 1990, S. 66 ff. 46 A. Plebe, Ρ. Emanuele, op. cit., S. 63.
8.12. Kreativität
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die Erfindung von Zenon von Kitium aus, der die einzig ernsthafte Art des Philosophierens gelehrt habe: und zwar Gedankenwege zu planen, ohne sich dabei zu fragen, ob und wem sie nützlich sind und wohin sie führen. Nun war Zenon von Kitium allerdings Stoiker, der - wie alle Stoiker - an die Vorsehung als unveränderliche, nicht veränderbare natürliche Ordnung glaubte. Vor diesem Hintergrund war es logisch, sich auf die Anlage von Wissenspfaden zu beschränken. Es langte loszugehen: der Ablauf der Ereignisse - einschließlich dem eventuellen Auftauchen der Wahrheit - war sowieso vorgezeichnet (dennoch beging Zenon von Kitium Selbstmord). Außerdem durfte man sich beim Beschreiten dieser Pfade, nach Ansicht dieses Philosophen, keineswegs von den Leidenschaften und sozialen Konventionen leiten lassen, da sie dann - seltsamerweise - von der natürlichen, vorsehbaren und rationalen Ordnung der Dinge abwichen. Zenon war in der Tat nicht nur der Begründer des Stoizismus, sondern (wie Diogenes) auch ein Zyniker. Es bleibt die Tatsache, daß der kreative Mensch auch ein guter Hodonpoietiker, ein Pfadfinder, sein müßte; und zwar von Pfaden, die auf das Wesen der Dinge und nicht auf die Mode und die Gepflogenheit, auf das Entlastete, das Kapriziöse, das Bizzarre ausgerichtet sein sollen. Hier sei also das Urteil gegen die „Leidenschaften und sozialen Konventionen" dieses Philosophen und Zynikers aufgewertet; dabei sei auch empfohlen, die „Vorsehung" durch den Begriff der „Kultur und Empfindsamkeit" zu ersetzen. Eine Diskussion ist nicht kreativ, wenn die Teilnehmer an einem „Gespräch am runden Tisch" ihr Statement mit den Worten beginnen: „Ich hätte nichts zuzufügen, nachdem hier bereits alles gesagt wurde, jedoch..."; oder wenn jemand anfängt zu sprechen, um sich über seine eigenen Gedanken Klarheit zu verschaffen und nicht, um sie den anderen durch seinen erhebenden oder bescheidenen Beitrag zu klären. Hier hat man es mit „Pfaden" zu tun, die ein umsichtiger Diskussionsleiter sofort unterbrechen sollte. Es ist nicht zuletzt festzustellen, daß auch eine Beziehung der Hodonpoietiké zur phänomenologischen Methode der Variation (s.) besteht. Hypertext Es handelt sich dabei um einen zu Studienzwecken oder um einen zu einem anderen Zweck oder für den eigenen Gebrauch erstellten Text, der mit allen Informationen, Kommentaren und Hinweisen auf andere die semantische Dichte des Originaltextes verstärkende Texte angereichert ist. Dem Ausmaß eines Hypertextes sind keine Grenzen gesetzt. Bei fortschreitendem Studium sind jeweils einige Richtlinien des semantischen Vorgehens zu beachten. So geht es darum, die Grundthesen des Autors zu erkennen, die er zur Abstützung oder Ablehnung seiner Ansichten vorbringt; sowie die isolierten und vernetzten Definitionen (Definitionsnetze (s.)) zu erkennen. Wenn es 1*
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8. Kap.: Die Anwendung der phänomenologischen Methode
sich um eine Übersetzung handelt, sollte man versuchen zu verstehen, ob der Übersetzer den Text falsch interpretiert hat und folglich auf das Original zurückgreifen 47 . Ferner sollte man die Verbindung zu anderen, vom Autor in den Fußnoten nicht zitierten Texten erkennen usw. Ein Hypertext erleichtert das Verständnis und die Suche nach Texten und Bezügen. Hypothesen Sie sind das Produkt der kreativen Phantasie, selbst wenn sie durch umsichtig erhobene, verglichene, beobachtete und klassifizierte Tatsachen bekräftigt, bestätigt oder suggeriert wurden. Wenn sie dies dann doch nicht sind, aber man nicht darauf verzichten will, weil sie gute Forschungserkenntnisse versprechen, werden sie Axiome genannt. Wer hat je kontrolliert, was mit dem Schnittpunkt zweier Parallelen in der Unendlichkeit geschieht? Die Wissenschaftler haben einige Mühe zuzugeben, daß es eine kreative Phantasie gibt, die nicht auf logischen Verbindungen - das geben sie ohne weiteres zu sondern nur auf einer sich selbst genügenden Wahrheit beruht. Einer Wahrheit also, auf die der Phänomenologe im direkten, bewußten Kontakt mit dem sichtbaren Ding stößt. Der Wissenschaftler scheint manchmal nur darum besorgt, diese Möglichkeit aus dem Wege zu räumen. Er gibt das Nicht-Bewiesene nur deshalb zu, weil es im deduktiven Ablauf der Überlegung bestätigend wirkt. Aber den Dingen in der phänomenologischen Korrelation „direkt ins Gesicht zu sehen" oder sie im künstlerischen Schaffensvorgang zu betrachten, ist „Überlegung" im Sinne von geistiger Tätigkeit. Newton nahm vorbeugend Stellung: „Hypothesis nonfingo". Nur die Tatsachen können zu Hypothesen führen. Aber ohne Hypothesen sprechen die Fakten nicht. Ja, Newton „erfindet" die Schwerkraft. Er spricht von ihr, als ob ein Ochsenpaar an den Dingen ziehen würde. Diese „Kraft" ist in den wissenschaftlichen Alltag eingegangen und wird als Metapher einer geheimnisvollen Aktion auf die Entfernung gesehen. Hier hat man es also mit etwas zu tun, das alles Andere als eine sichtbare Tatsache ist! Es bleibt die teuflische Versuchung, die Realität des Seins abzustreiten, das sich dem intentionalen Bewußtsein darstellt. Ernest Tugendhat betrachtet jede Art von Proposition als Monade, wenn sie nur in der Formulierung oder syntaktisch gut ist: in ihr würde sich die universelle Ver47 Die British Library in London unterhält einen internationalen Verleih-Dienst über das Netz der British Council.
8.12. Kreativität
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nunft widerspiegeln, sagt er. Leibnitz, ein anderer Wissenschaftler, war mit seiner „prästabilierten Harmonie" - einer anderen „Tatsache, die keine ist" - erfolgreich. Als analytischer Philosoph schwört Tugendhat auf das „Naming " (s.): alles, was wir als Proposition und mit einem Einzelausdruck in den Diskurs einführen, ist ein „Ding" oder ein „grammatikalisches Subjekt". Semantik und Ontologie würden sich also decken. Wir stehen mit unserem Bewußtsein, nicht mit den Dingen in Wechselbeziehung, wir üben keine beabsichtigende Wirkung auf sie aus. Wir haben lediglich ein „propositionales Verhalten" (um mit Russell zu sprechen, der auch der Ontologie gegenüber verlegen war), das uns zur Formulierung von Propositionen führt, in deren Innerem wir die Dinge aufgrund ihrer Namen ausfindig machen. Mir scheint dies eine Spitzfindigkeit. Es scheint besser, sich mit der Realität zu konfrontieren und zuzulassen, daß sie uns mit den Dingen entgegen kommt. Wir nehmen sie, breiten sie vor uns aus und werden kreativ ! Kodesprache Es handelt sich um eine formalisierte Sprache, manchmal eine Fachsprache, die von einer Gruppe - beispielsweise der der Manager - gesprochen wird. Man darf sich nicht beeindrucken lassen, wenn die Mitglieder dieser Gruppe unsere Sprache nicht verstehen, eben weil es nicht die ihre ist. Es gilt also die Telephonregel: Wer anruft, muß sich mit seinem Namen ausweisen und sagen, warum er anruft. Diese Regel haben die italienischen Bankangestellten noch nicht übernommen: sie wollen bei der Kundschaft (bei allen Nicht-Bankiers, den Nicht-Bankangestellten und den Nicht-Experten der Banktechnik) werben und benützen dabei ihre Fachsprache sowohl in den Briefen an den Kunden, als auch bei der Schalterberatung, die auf Grund der unverständlichen Brieftexte notwendig wird. Das Prinzip für den korrekten Kodegebrauch ist das Garner-Theorem 48: wer kaufen will, kann seine eigene Sprache sprechen; wer verkaufen will, muß unbedingt die des Käufers übernehmen. Im Bereich der Kreativität sind zwei Anwendungen der Kode-Wissenschaft von Bedeutung: Die Transkodierung und die Interdisziplinärst. Schauen wir sie uns kurz an. Transkodierung: sie ist die Übertragung einer Botschaft von einer literarischen Art zur anderen und von einem Träger zum anderen, wobei etwas vom Originalinhalt erhalten bleiben muß: beispielsweise im Falle eines Romans, der zu einem Film, einer Komödie, einem Musical usw. umgearbeitet wird (aber nicht zu einem Detektivroman oder zu einer Abhandlung). 48
Ich habe es einer Aussage des amerikanischen Botschafters in Rom Anfang der 80er Jahre entnommen, die mit der Erklärung begann: „Amerikaner und Italiener haben eines gemeinsam: sie kennen keine Fremdsprachen".
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8. Kap.: Die Anwendung der phänomenologischen Methode
Interdisziplinarität: alle berufen sich darauf, ganz wenige bringen sie zur Anwendung. Einer der wenigen Wissenschaftler, der sich ihrer bedient, ist Henry Laborit, der Entdecker der Psychopharmaka in den 50er Jahren. Obwohl er Biologe war, verfügte er über ein profundes Wissen in der Soziologie, Geschichte und Psychologie. Es gibt ein Geheimnis für die Interdisziplinarität, das von Laborit selbst entdeckt und von ihm in einer Vorlesung an der Universität La Jolla gelüftet wurde, an der ich teilnahm: man soll nie versuchen, die Sprachbarriere zu überwinden: wenn ein Wirtschaftswissenschaftler, der sich für Jura interessiert, dazu überginge, die juristischen Fachsprache anzuwenden, würde er sofort von den Juristen wegen seiner fehlerhaften Fachsprache unterbrochen und ausgelacht. Wichtig sind allerdings, wie Laborit feststellt, die Begriffe und nicht die Wörter; also muß man diese beherrschen. Deshalb, so Laborit „bin ich mehrfachbegrifflicher Monolinguistiker (Biologe)". Der Kreative benötigt - selbst bei Beibehaltung seiner Sprache - eine vielseitige Begrifflichkeit. Konstitution (Schöpfungsprozeß) Die geistigen Darstellungen - von den einfachsten wie dem Bild einer Blume bis zu den komplexesten - werden von unserem Hirn in einer Art Schöpfungsprozeß „konstituiert". Die Vorstellung, daß eine geistige Darstellung lediglich ein Abbild oder eine Widerspiegelung der Dinge ist, wird inzwischen auch von der kognitiven Wissenschaft, in der man heute von einer „Alternative zur Darstellung" spricht, auf die Seite gestellt; „Alternative" insofern, als der Prozeß der geistigen Verarbeitung der wahrgenommenen Fakten (als „Plena" in der Phänomenologie bezeichnet) extrem komplex ist: er fügt beim Einzelmenschen Wahrnehmungsgegenstände nach den verschiedensten logischen Ausrichtungen und Plänen zusammen, die aus den unterschiedlichsten Quellen und den entferntesten Geistesspeichern und äußeren Bezügen stammen. Das externe Faktum löst den Funken aus, der diesen Prozeß in Gang bringt. In einigen Fällen kommt man auch ohne das externe, objektive Faktum aus und zwar dann, wenn man mit offenen Augen träumt, Pläne schmiedet, phantasiert, meditiert. Richtig ist allerdings immer, die Realität zu betrachten, also die Dinge anzusehen, die von außen kommenden objektiven Anregungen zu nutzen, selbst wenn man nur einen eigenen, weitgehend von außen unabhängigen und folglich nur potentiell kreativen Prozeß aktivieren will. Auch das externe, objektive Faktum wird übrigens vom Beobachter geschaffen, dessen Bewußtsein sich wie ein geistiger Photoapparat verhält, der nicht nur die „Blende anpaßt" und zum richtigen Zeitpunkt den Film belichtet, sondern der auch - wie der Photograph in seinem Atelier - versucht, das zu photographierende Objekt zu verbessern, indem er es in eine vorteilhafte Pose stellt, ihm sozusagen den Hut zurechtrückt und es „ins richtige Licht setzt". Dabei handelt es sich übrigens
8.12. Kreativität
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um einen umgangssprachlichen Ausdruck, der auf eine äußere Einwirkung auf die Welt der Objekte hinweist, die systematisch vom - bewußten oder „intensionierten" - Ich durchgeführt wird. Dieser Begriff aus der Phänomenologie bezeichnet die bewußte, wenn auch oft automatische Aufnahme seitens des Ich von Tatsachen, die dann zu Gegenständen im eigenen Wissen werden. Wie wenn man an einer Vase, die man schon jahrelang gesehen hat, plötzlich Eigenarten oder Vorzüge wahrnimmt, die man vorher nie bemerkt hatte. Die Störungen bei der Konstituierung der Wahrnehmungsgegenstände sind Bewußtseinsstörungen im „Ich", die die Wahrnehmung der Fakten und der Darstellungen der Dinge durcheinanderbringen. Die schlimmste Form ist die Schyzophrenie, bei der sich das Ich teilt, weil es nicht mehr imstande ist, die Wahrnehmungen zusammenzusetzen, sie in einer sinnvollen Darstellung zusammenzufügen, sie korrekt in Raum und Zeit einzuordnen und sie vernünftig mit den anderen externen und internen Wahrnehmungen in Beziehung zu setzen. Varela benutzt die Metapher des Eies: „das kognitive System schafft seine eigene Welt; deren sichtbare Festigkeit (das „Ei") ist nichts anderes als die Widerspiegelung der internen Gesetze des Organismus" 49. Es ist daher nicht objektiv. Aber wir wissen, daß das Ei von einer Henne gelegt wird, die Futter brauchte, vielleicht von einer Hühnerfarm stammt usw. Die Schöpfung verwirklicht sich auch durch die „ Variation" von Husserl (s.). Dieser Begriff bringt zum Ausdruck, daß wir das Objekt unter verschiedenen Gesichtswinkeln „sehen", wodurch wir seine Essenz erfassen, die in den Variationen unverändert bleibt und gerade durch sie erkennbar wird. Mit der Konstitution verändert sich auch die Definition der Intelligenz: sie ist nicht mehr Anpassung an ein Umfeld, sondern Bildung einer Welt von Sinninhal-
Kreativität Es ist letzten Endes der Inhalt aller Stichwörter im vorliegenden Wörterbuch. Es sei deshalb noch einmal wiederholt, daß die Kreativität nicht darin besteht, Fabelwesen oder Adler mit drei Köpfen zu erfinden. Dabei handelt es sich ja um „Symbole", die nicht unbedingt kreativ sind („sie schaffen keine neuen Dinge"). Kreativ sein bedeutet, sich den Dingen zu nähern: sowohl denjenigen, die man noch nie gesehen hat (selten), als auch denjenigen, die man unklar und verzerrt gesehen hat.
49 F. Varela, op. cit., S. 66. 50 Zu diesem Thema: neben den vor der „Krise" geschriebenen Werken von Husserl s. L. Binswanger, Delirio, Antropoanalisi e Fenomenologia , Marsilio, Venezia, 1990; J. P. Sartre, L'Immaginazione , op. cit.; M. Merleau-Ponty, Fenomenologia della Percezione , Il Saggiatore, Milano, 1980, (Originai von 1945).
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8. Kap.: Die Anwendung der phänomenologischen Methode
Kreativ sein bedeutet, die Dinge zu nehmen - ihnen möglicherweise die auf ihnen lagernde Staubschicht alter Prädikate wegzuwischen - und sie von allen Hüllen befreit auf den Tisch zu stellen. Es gelten die Worte des Prinzen von Dänemark mit Bezug auf das kreative Theater (um den Text zu schreiben und ihn aufzuführen), die aber auf alles Andere ausgedehnt werden können: „Alles ... Übertriebene ist dem Ziel der dramatischen Kunst entgegengesetzt, deren Sinn ... es sozusagen war und ist, den Spiegel der Natur zu halten; der Tugend ihre eigenen Gesichtszüge zu zeigen, der Schmach ihr Ebenbild und der Härte und der Physionomie der Epoche selbst ihre Form und ihren Abdruck" 51 . Logik Man sollte das revolutionäre Ende der Diktatur der formalen oder symbolischen Logik, des Prinzips des „tertium non datur'\ der aristotelischen Identität (alles Synonyme) oder ersten Logik pompöser feiern. Dabei handelt es sich um eine Diktatur, die schon Aristoteles untergraben hatte, als er seine ihn bewundernden und ihm ergebenen Schüler auf die Unzulänglichkeiten seiner Logik bei der Bewertung aller möglichen Aussagen mit einem „richtig!" oder mit einem „falsch!" hinwies. Die Schüler, die ernsthaft - und nicht nur aus Respekt - zweifelten, wurden von Aristoteles mit folgender Aussage mit der Bitte um die übliche Stellungnahme mit „richtig" oder „falsch" konfrontiert: „Morgen wird in dieser Bucht eine Seeschlacht stattfinden." Die Schüler waren verlegen und dies noch mehr, als ihr Lehrer sagte: „Doch, wir können etwas Logisches zu dieser Aussage feststellen und zwar: es ist möglich - oder es ist unmöglich - , daß morgen in dieser Bucht eine Seeschlacht stattfindet; also geht es um die Umstände, die außerhalb der Aussage zu überprüfen sind." Damit entstand die zweite Logik oder Modallogik, die dann bis zum Mittelalter und dann wieder bis in die jüngere Vergangenheit in Vergessenheit geriet, bis sie von C.I. Lewis 1912 und später von von Wright in den 60er Jahren wieder hervorgeholt wurde 52 . Lewis nahm die Idee von Leibnitz der breiten Referenz über die Übereinstimmung nicht nur der Propositionen mit der Realität, sondern selbst mit möglichen Welten wieder auf (darin die breitere Sicht). Diese Idee wurde von S. Kripke weiterentwickelt. Eine mögliche Welt ist beispielsweise jene der Mythologie. Mögliche Welten sind die geplanten Vorhaben. Um einen Diskurs - also eine strukturierte sprachliche an jemanden gerichtete Überlegung - aufzubauen, ist es wichtig, daß der Zugang zu den möglichen Welten gesichert ist; also ihre Denkbarkeit bei dem, der seine Gedanken in den Diskurs 51 W. Shakespeare, Hamlet, 3. Akt, 2. Szene. 52 M. L. Dalla Chiara Scabia, op. cit., S. 64.
8.12. Kreativität
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einbringen will (Mythen, Programme oder, besser gesagt, geplanten und zu verwirklichenden Vorhaben). Nachdem diese Türen geöffnet waren, ergab sich eine Reihe von neuen logischen Wegen: also die „Deontik" 53 , deren Formalisierung in den Worten „obligatorisch", „Erlaubnis", „verboten", „indifferent" zum Ausdruck kommt; werden doch mit ihr Bitten, Befehle, Ermächtigungen usw. im Rechts- und Moralbereich zum Ausdruck gebracht. (Die deontische Logik wird zum Teilgebiet der Modallogik 54 .) Es folgten dann die zeitlichen Logiken (die klassische sieht vom Zeitbegriff ab), die existentielle, die Logik der Quantifikatoren, die „unexakten", die paraformalen oder parakonsistenten Logiken, „der Argumentation" usw. Kurzum, heute werden 21 Logiken anerkannt. Die stimulierendste ist die konstruktive Logik. Wenn man sie anwendet, kommt man nicht durch Deduktion, sondern durch logische Konstruktionen (s.) zu einem Ergebnis. Das Atommodell von Bohr ist eine Konstruktion oder ein Gerüst. Die kulturellen Aktionsmodelle, die Pasquale Gagliardi theoretisch und in seiner Praxis als Dozent und Ausbildungsorganisator darlegt, sind ebenfalls Gerüste 55. Es erübrigt sich, darauf hinzuweisen, daß der Pluralismus der Logiken den kreativen Menschen entgegenkommt. Denn sie fühlen sich nicht mehr auf die Beachtung einer einzigen Logik oder eines einzigen „Logos" verpflichtet und entsprechend nicht nur zum Rückgriff auf das Instrumentariums der Organon- Logik befugt. Wenn sich in der Schublade kein passendes Instrument finden läßt, kann man es immer noch erfinden. Wir leben in der Tat heute in einem Zeitalter der StehgreifLogik. Logische Konstruktionen Die konstruktive Logik lehrt, daß das Ergebnis der Analyse eines in einem „Text" oder einem „Diskurs" zum Ausdruck gebrachten Phänomens oder einer Tatsache nicht eine Deduktion oder eine Schlußfolgerung - wie die Lösung eines Mordfalles in einem „Krimi" - sein kann, sondern daß sie eine Konstruktion (oder ein Gerüst) ist. Diese Art von Konstruktion wird nicht unbedingt durch logische, nicht widersprüchlicheinduktive oder deduktive Gedankengänge geschaffen. Handelt es sich dabei doch auch um einen inferenziellen Vorgang der „Auswahl und Entscheidung", der im „Baum der Auswahl und Entscheidungen" seine graphische Darstellung findet. 53
Vom griechischen déomai = ich muß. Nach dem Finnen George Henrik von Wright, geb. 1916 (Achtung: sprechen Sie ihn mit „Wrigt" und nicht mit „Wrait" an, falls Sie ihm einmal begegnen sollten!). 55 P. Gagliardi, Symbols and Artifacts: View of the Corporate Landscape, Walter de Gruyter, Berlin & New York, 1990. 54
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Das Neuartige an dem von der konstruktiven Logik postulierten Vorgang besteht darin, daß er nicht ausläuft, wenn er auf ein anormales, nicht folgerichtiges oder widersprüchliches Faktum stößt; wie beispielsweise bei der prädikativen Wahrnehmung eines Menschen. Wenn er ihn also bisher als großzügig betrachtete und plötzlich sein geiziges Verhalten feststellen muß (und umgekehrt), dann sollte man nicht sagen „das ist nicht möglich", „das ist absurd", sondern muß sich geistig damit befassen. Es gibt einen aussageträchtigen Fall im Film „Asphaltdschungel" der 30er Jahre, dessen wichtigste Szene das Aufknacken eines Geldschranks zum Gegenstand hat. Ein Vorbestrafter, „der Professor", der Polizei als Planer und Organisator von Einbrüchen wohlbekannt, kommt nach einer längeren Haftstrafe aus dem Gefängnis. Anstatt sich den Freuden des Lebens hinzugeben, bleibt er den ganzen Tag zu Hause, wo ihm nur einige vertraute Freunde einen Besuch abstatten. Ein Polizist bemerkt dieses sonderbare Verhalten. Er denkt nicht „der Professor bereut", sondern registriert die Tatsache in seinem Gedächtnis und schiebt sie zuerst einmal auf die Seite. Später stellt er sie in Zusammenhang mit einem Einbruch. Der „Professor", inzwischen aufgespürt, kommentiert den Vorgang mit konstruktiver Logik: „dieser intelligente Polizist hat beschlossen, daß ich es war" 5 6 . Der kreative Akt beschreitet einen Weg voller Widersprüche, von der Erfindung des Rades oder - besser gesagt - der Achse, bis zur Erfindung der Relativitätstheorie. Der kreative Mensch sollte sich demnach eine positive Einstellung zum Widerspruch zulegen: er sollte ihm nicht ausweichen; ja, er sollte sich an ihn gewöhnen: so sollte er lernen, die „untilgbaren" Widersprüche, die als Folge einer Definition auftreten (beispielsweise „die vier Ecken des Dreiecks"), von den „kreativen" zu unterscheiden, wie die Ellipsenform der Planetenbahn in der Kepplerschen Berechnung, die das Prinzip der Kreisbewegung der „perfekten" Himmelskörper widerlegte; ein Widerspruch, für den sich Keppler zu seinem Glück nicht verhaften ließ. Masken Die Kreativität weist drei interdependente Dimensionen auf: die Beziehung zu den Dingen, die Beziehung zu den Mitmenschen und folglich die Beziehung zum eigenen Ich. Die - reale oder metaphorische - Maske ist das geeignetste Instrument zur Gestaltung der Beziehung zu den Mitmenschen. Sie ist notwendiges und nützliches Requisit. Diese Behauptung beruht auf der Überzeugung, daß die Beziehungen in der Darstellung leben und daher zu einem Schauspielerverhalten führen. Das Theaterhafte ist Bedingung und Merkmal der zwischenmenschlichen Beziehung.
56 Zur konstruktiven Logik und zu anderen Logiken s. M. L. Dalla Chiara Scabia, Logica , Mondadori, Milano, 1979.
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Um zu spielen, muß man handeln, sich einsetzen, die eigene Identität manipulieren, das eigene Selbst ins Spiel bringen. Das eigene Selbst geht allerdings nicht direkt auf die Bühne; es wird jedoch in den verschiedenen Inszenierungen „ausgespielt", in die es verwickelt ist. In der Beziehung stehen das Ich und seine „Maske" auf der Bühne. Dies kann bedeuten, daß man die eigene Persönlichkeit verstecken oder hingegen hervorheben will. Wenn ich zum Arzt gehe und ihm sage, daß die mir verschriebene und von mir peinlichst genau eingehaltene Kur meinen Zustand verschlimmert habe, kann er sich entweder für diese Entwicklung meiner Gesundheit verantwortlich fühlen; oder er kann meine Mitteilung mit folgendem Ausspruch zurückweisen: „Das ist nicht möglich". In diesem zweiten Falle hat er die Maske des „Angebers" in der Komödie aufgesetzt und hat mit einem possenhaften Ausdruck geantwortet - eine difensiv-aggressive Gesprächsreaktion, die für die „Komödie" typisch ist. Noch interessanter ist die Verkleidungsmaske, mit der ich versuche, das Wesen einer Person darzustellen. In diesem Fall liegt die Maske in der Kleidung: im grauen Flanellanzug des Managers, im Kostüm der Karrierefrau. Mit der „neutralen Maske" verstecke ich mich, um meine Rolle besser spielen zu können. Sie hilft mir, meine Verlegenheit abzubauen, also den Mut zu gewinnen, mein Ich frei auszuspielen und die Rolle eines anonymen, nicht gleich definierten Menschen zu übernehmen. Zweifellos spielt sich das Leben der zwischenmenschlichen Beziehungen in bühnenmäßigen Inszenierungen ab, bei denen jedoch neben der persönlichen Auslegung der eigenen Rolle stets auch der individuellen Regie ein Platz eingeräumt wird. Die spontane Reaktion ist gefährlich. Die Person - oder Maske - muß sich also darauf einrichten, kreativ - und damit kommunikativ - den unausweichlichen Konflikt zwischen Darstellung und Persönlichkeit, zwischen sozialer, zugewiesener oder angeborener Identität zu lösen. In diesem Spiel wechseln sich die aufgesetzten Masken ab, werden jedoch nur selten - wie im Falle eines eher unwahrscheinlichen, gefährlichen Moments der „Ehrlichkeit" - abgenommen. Es ist wichtig, daß man nicht endgültig mit der vom Plan des Organisators, vom Ersteller eines Stellenplans zugewiesenen Maske identifiziert wird. Am ehesten ist dieser Organisator in der Kaserne angesiedelt, wo er dann dem Rekruten nicht dessen Beruf, sondern einen vom Stellenplan vorgesehenen Beruf zuweist. Aber der in einen Koch verwandelte Friseur wird dann - für private Leistungen außerhalb des Stellenplans - wieder in einen Friseur umgewandelt; wenn... der Kompaniefeldwebel dies will. Jede Organisation - auch die streng nach Stellenplan vorgehende - hat ein Leben „hinter den Kulissen", in dem eine maskenfreie Interaktion möglich, ja selbst geplant und erwünscht ist. Gedacht sei dabei an die Weihnachtsansprache des Prä-
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sidenten, der möglicherweise selbst ein Trinkspruch folgt; oder an die Personalbesprechungen auf den verschiedenstem Ebenen, die der neue Generaldirektor möglichst schnell hinter sich bringen will und die mit fortschreitender Festigung seiner Stellung an Häufigkeit abnehmen. Auf diesen Veranstaltungen, auf denen der Generaldirektor in der Rolle des „Angestellten" vorübergehend mitspielt und die von der institutionellen Inszenierung vorgegebene Maske ablegt, kommt es vor, daß er als „Kollege", als Mitglied der „großen Familie" zu den anderen spricht. In den meisten Fällen setzt er allerdings schlauerweise eine zweite Maske auf, die zwar seinem wahren Gesicht entspricht, aber nur im Hinblick auf dieses Spiel aufgesetzt wird, also „die Maske des nackten Gesichts". Montage Jede intellektuelle Erkenntnis - sei sie nun beschreibend, darlegend, kommunikativ - läuft auf einen Text hinaus. Sie kann folglich dargestellt und mitgeteilt werden sowie in einer textlichen Fassung ihren Inhalt oder eine Bewertung zum Ausdruck bringen. Die Schaffung von Texten ist eine das Denken ergänzende Tätigkeit, möglicherweise das Denken selbst. Ein Text ist ein „Gewebe", ein Geflecht verschiedener Elemente: Wörter, Sätze, Absätze, Kapitel, Abschnitte. Am Anfang der Erarbeitung eines - vereinfachend als geschrieben anzunehmenden - Textes steht das Problem seiner Struktur. Diesem Problem versucht man mit der Ausarbeitung einer Gliederung, dem sog. „Exposé", beizukommen. Die allgemeine Erfahrung sagt uns jedoch, daß das Exposé eher einen psychologischen Wert hat und weniger eine Anleitung für das abzufassende Schriftstück ist, das - damit es seinen Autor in seiner Kreativität befriedigen kann - normalerweise nach anderen Richtlinien abgefaßt wird. Wenn das Exposé nicht geglückt, also mühsam zu lesen oder unklar formuliert ist, wird es zu einem Käfig, aus dem auszubrechen äußerst mühevoll sein kann. Daher die Anregung, das Exposé durch eine Aufstellung der zu behandelnden Themen in einer nicht unbedingt zu beachtenden Reihenfolge zu ersetzen. Wir haben es dann also nicht mehr mit einem Exposé , sondern mit einer Themenauflistung zu tun. Es lohnt sich, nicht in dem erwähnten Käfig zu stecken. So läßt sich die Abhandlung mit einem beliebigen der angeführten Themen - je nach Laune, nach der Verfügbarkeit der Unterlagen, den gestellten Zielen usw. - beginnen, also auch mit dem Thema, das in der Liste an letzter Stelle steht. Wenn dann alle, oder fast alle, Themen behandelt wurden - wobei selbst neue im Verlauf der Ausarbeitung des Schriftstücks aufgetaucht sein mögen, wohingegen andere fallengelassen wurden -
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läßt sich zur Montage schreiten und zwar auf der Grundlage der aufgezeichneten, inzwischen umgestellten Themen und der Ausführungen in den einzelnen Abschnitten, Kapiteln und Paragraphen. Vom Film wissen wir, daß der Schnitt (die Montage) eine kreative Aktivität ist, die unter Umständen von einem anderen Menschen als dem Regisseur ausgeführt werden kann (entsprechendes geschieht auch bei den Büchern, wenn der Verleger einen Verlagsexperten zur Verfügung stellt), so daß eine geschickte Montage einen schlechten Film retten kann. Außerdem kann man im Fall eines geschriebenen Textes Ergänzungen, Vervollständigungen, Abstriche vornehmen, die sich während der Montage auch im Hinblick auf die innere Logik des Textes als notwendig erweisen sollten. Es sei vor einer zu häufigen Anwendung der Formel „wie wir im vorhergehenden Paragrafen - oder Kapitel oder Absatz - sagten" gewarnt, die der Verbindung von Paragrafen, Kapiteln und Absätze dienen soll. Ferner ist der heutige Stil nervöser und in seinem Rythmus rascher als der des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts, „als man vom Rosenkavalier erzählte, der nach langem Umherziehen Naming Den Dingen - wie den Kindern - einen Namen zu geben ist stets problematisch, weil der Name - als Nomen-Omen - immer auch ein Schicksal in sich birgt. Der wahre - während des Mafia-Prozesse gegen ihren Ehemann erwähnte - Name von der Frau von Vito Ciancimino (früherer Bürgermeister von Palermo, der Mafia nahestehend) ist Epifània und nicht Silvia, unter dem sie in der guten Gesellschaft von Palermo bekannt war. Epifània ist ein magischer, ja verhexter Name; typisch für Sizilien, wo die Ciancimino wohnen. Den Dingen ihren Namen zu geben ist ein derart schwieriges semantisches Problem, daß es zu verwirrenden Situationen führt und zwar dann, wenn der Name ganz offensichtlich dem Ding nicht entspricht oder es selbst verbirgt. Er stellt für die Werbefachleute ein großes Problem dar. Sie lösen es manchmal gekonnt wie im Falle des „Maman-Louise"-Käse oder des Thunfischs „Tonno paimera", bisweilen weniger geschickt wie beim Waschmittel Ace (auf italienisch klingt der Name nicht besonders gut) oder banal wie beim C' est-la-vie-Parfum. Das Naming stellt Probleme und gibt zu einem nie zugegebenen Malaise im Bereich der kognitiven Wissenschaften, der Psychologie, der Psychiatrie und der Gnoseologie Anlaß. Will man von der Erkenntnis und der Erfahrung, der geistigen Darstellung, der Wahrnehmung sprechen, benützt man beispielsweise in der Psychologie die Ausdrücke „Bewußtsein" oder „Geist", „sensitives System" als wenn es Subjekte wären, obwohl sie auf ein Objekt bezogene psychologische Funktionen sind. Als
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Funktionen verweisen sie auf ein Subjekt, das man nicht nennen möchte. Der Satz „das Bewußtsein erfaßt die Realität durch die Wahrnehmung" müßte korrekterweise folgendermaßen lauten: „das Ich erfaßt durch sein Bewußsein ..." . Aber das „Ich" verweist auf den Menschen, der Mensch beschwört das mißliche Gespenst der Seele: so schlittert man in philosophische Verwirrung. Tröstlich war es, an der Tagung im Vatikan „L'esprit humain - The Human Mind " teilzunehmen, auf der man auf das Ich, auf den Menschen, auf die Seele häufig verhalten anspielte, aber zumindest die Dinge beim Namen nannte57. Die englischen analytischen Philosophen kennen sich in den Problemen des Naming aus, allerdings häufig ohne konkrete Vorstellungen. Ich ziehe die nüchterne Empfehlung von Pier Luigi Amietta vor: „Erinnere dich daran, daß es keine Synonyme gibt: ein anderes Wort weist auf ein anderes Ding" 5 8 (s. Ding) In dem an der analytischen Philosophie ausgerichteten Dictionary of Philosophy von A.R. Lacey 59 findet man unter dem Stich wort „Naming " folgende erlesene und verwirrende Unterscheidung betreffend den Satz „Arkle ist ein Pferd": Arkle als Name führt ein Objekt ein, wohingegen es „ein Pferd ist" (Prädikat von Arkle) und deshalb ein Begriff. Die Begriffe sind irgendwie unvollständig. Arkle kann hingegen allein stehen, weil es ein Name ist: als „ein Pferd" könnte es dies nicht. Ich erlaube mir allerdings hinzuzufügen, daß Arkle nur allein stehen kann, „sofern man weiß, daß Arkle ein Pferd ist". Frege hat sich hierzu in dem Sinne geäußert, daß er sagte, die Objekte seien gesättigt (semantisch vollständig), die Begriffe allerdings nicht ( . . . ) 6 0 . Demnach wäre der Name - wenn Eigenname - wichtiger als das sich auf ihn beziehende Prädikat, allerdings nur unter der Bedingung, daß er angemessen und - so füge ich hinzu - auf andere (nicht prädikative) Weise bekannt ist. Aber darüber schweigen sich die analytischen Philosophen aus. In der Kommunikation stellt man zuweilen - in der Praxis - einen seltsamen „Verrat des Naming" fest: beispielsweise beim Begriff „Volksdemokratie", in der das Volk nicht zählt, oder bei jener Eintrittskarte, auf der „Geschenkkarte des Museums im Königspalast von Mailand" steht; allerdimgs müßte der Besucher, der bei einer Kontrolle die Karte nicht vorweisen könnte, den vollen Eintrittspreis entrichten. Stellt euch auf jeden Fall, warnt Wittgenstein, nicht vor ein Objekt und wiederholt ständig seinen Namen, während ihr es betrachtet. Nach einer Weile verliert der Name seine Bedeutung und klingt seltsam, verwirrend. In diesen Fällen, schließt Wittgenstein, „geht die Sprache in Ferien" 61 . 57 Vatikanstadt, 15-17 November 1990. 58 N. Piepoli, Dizionario creativo (A-L), S. 65. 59 A. R. Lacey, A Dictionary of Philosophy, Routledge & Kegan Paul, London, 1976. 60
G. Frege, Philosophy of Language, Duckworth, London, 1981, (zweite Aufl.), p. 353. C. Travis, Meaning and interpretation, Basil Blackwell, Oxford, 1986, S. 253, {Facts about Truth Bearing and Content ). 61
8.12. Kreativität
239
Nicht ausdrückbar Nicht alles kann gesagt werden. Häufig würde es jedoch gerade das Nicht-Ausdrückbare verdienen, gesagt zu werden. Es auf irgendeine Weise zu sagen, gehört zu den Aufgaben des kreativen Menschen; also: das Nicht-Ausdrückbare auszudrücken. Das Nicht-Ausdrückbare ist bisweilen im Gebiet der diskursiven Kreativität des Politikers angesiedelt. So begegnen wir in der Politik Ausdrücken wie „parallele Konvergenzen" 62, „Parteien des Kampfes und der Regierung" und „internationale Polizeiaktionen". Es bleibt dennoch - in mehr oder weniger direkter Form - etwas Nicht-Sagbares, daß über all das hinausgeht, was gesagt wurde. Wir sind sicher, daß nicht alles gesagt wurde, und wir wissen, daß das Gesagte nur „dünne Luft" war, wie in der Schlußszene vom „Sturm" von Shakespeare: „Wie dieses Scheines lockerer Bau, so werden die wolkenhohen Türme, die Paläste, die hehren Tempel selbst der grosse Ball, ja was daran nur teilhat, untergehn und wie dies leere Schaugepräge erblaßt spurlos verschwinden 63.
Und dennoch sagt uns dieses Nichts etwas; und zwar wegen der Art, wie es gesagt wird. Virginia Wolf ist sicher, daß Shakespeare „weit über die Literatur hinausgeht". Aber sie fügt hinzu: „Wenn ich nur wüßte, was es bedeutet"64. Es bleibt nichts anderes übrig, als in die Fußstapfen der Dichter zu treten und sich mit ihrer Sprache vertraut zu machen. Denn die - wie die anderen Künstler die einzigen kreativen Menschen sind, die tatsächlich „darüber hinaus gehen". Paradigmen Sie sind sehr wichtig und nach dem Sturz der Ideologien selbst volkstümlich geworden; was - streng genommen - den Sturz des marxistischen Paradigmas und der anderen Paradigmen bedeutete, die sich ihm entweder entgegensetzten oder sich in es - wie beispielsweise eine gewisse Richtung der Psychoanalyse und der gesamte Strukturalismus - einfügten. Heute herrscht einerseits die Freiheit des Paradigmas; auf der anderen Seite gibt man ohne Bedenken zu, daß die Grundlagen jeder Doktrin notwendigerweise para62
Vom italienischen Politiker A. Moro geprägter Ausdruck. 63 W. Shakespeare, Der Sturm, IV Akt, Szene I. 64
Zitiert in S. Chandrasekkar, op.cit., S. 69.
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8. Kap.: Die Anwendung der phänomenologischen Methode
digmatisch sind, also von den Welt- und Wertvorstellungen jenes Menschen abhängen, der diese Doktrin vertritt. In der Kommunikation sollte die gute Erziehung in dem Sinne zum Durchbruch kommen, als man das Paradigma des anderen respektiert und einen gegenseitigen Gedankenaustausch dadurch anstrebt, daß man die Gemeinsamkeiten und nicht die Gegensätze herauszufinden versucht. Kuhn, der dadurch berühmt wurde, daß er die Rolle des Paradigmas in der Wissenschaft hervorhob, nennt es auch Disziplinärmatrix oder Sinnmatrix, da die Sinnhaftigkeit der Wissenschaft in der Matrix beginnt und dann im Experiment und im Beweis ihre Bestätigung findet. Die Problematik kam auf, als man über den Sinn und die Rechtmäßigkeit des Paradigmas nachzudenken begann. Lakatos und Musgrave kommentieren in einem von ihnen herausgegebenen Sammelwerk mit Beiträgen der größten zeitgenössischen Epistemologen 21 geläufige Bedeutungen - in drei Gruppen eingeteilt - des Begriffes Paradigma (.Definitionsnetz (s.)) 65 . Margaret Masterman ist in ihrem Beitrag „Die Natur des Paradigmas " der Meinung, daß das Paradigma einen soziologischen Ursprung aufweist; daß es also eher ein Produkt als eine Sicht der Welt und noch weniger deren wissenschaftliche Darstellung ist und daß auf jeden Fall in seiner Formulierung und logischen Struktur der Analogie erheblicher Raum eingeräumt wird. Wir befinden uns folglich im Bereich des Vorprädikativen und Präkategorialen. Eine neue Form der Kreativität kann sich ergeben, wenn - als heuristische Kunstgriffe im Sinne von Margaret Masterman - lokale Paradigmen produziert werden, die alte Probleme mit neuen Augen sehen lassen: den Verkehr in den Städten, den italienischen Süden, die Drogenproblematik. Für den indischen Dichter Rabindrahmat Tagore - der zu diesem Thema eine aufsehenerregende Diskussion mit Einstein führte - wird die Welt stets von einem beteiligten und teilhabenden Beobachter betrachtet und nicht von einem distanzierten, wie Einstein meinte. Außerdem verfügt der Beobachter-Mensch über Augen, Urteilvermögen und oft über eine optische und noch öfter eine ideologische Brille. Das Paradigma ist also für Tagore unvermeidlich, so wie es seine Willkür ist. Tagore sagte in diesem Gedankenaustausch: „Kann eine Musikpartitur oder ein literarischer Text (mit Bezug auf seinen Sinninhalt) ohne den Menschen existieren? Für einen Holzwurm zählt (hingegen) das Papier, auf dem der Text geschrieben ist, weil er es essen kann" 66 . 65
I. Lakatos und A.Musgrave (Hrsg.), Criticism and the Growth of Knowledge, C.U.P., 1970. Ital. Übersetzung: Critica della Coscienza , Feltrinelli, Milano, 1976. 66 In einem Interview von Franco Prattico und Ilya Prigogine in der Tageszeitung „La Repubblica", Mercurio , 29. Juli 1989 wiedergegeben.
8.12. Kreativität
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Wieviele Partituren aus Pergament hat derselbe Mensch in Lampenschirme verwandelt? Schmarotzerhafte Argumentation Wenn Aristoteles eine zweifelhafte These aufstellte, sah er ihre Grenzen und zeigte sie den andern. Dabei kam jener Grundpfeiler seines logischen und metaphysischen Systems zum tragen, der das „Prinzip der Nicht-Widersprüchlichkeit' 4 darstellt. Er ist das Fundament der korrekten Überlegung, also des beweisorientierten Denkens. Aber der Grundsetz selbst kann nicht bewiesen werden, weil jeder Versuch des Beweises notwendigerweise in einen klassischen „Teufelskreis" gerät (selbst der Beweis seiner Falschheit führt in ihn hinein). Dasselbe widerfährt dem absoluten Skeptiker: er muß an die Wahrheit der These glauben, wonach nichts mit Sicherheit gewußt werden kann. In diesem Sinne stehen der Beweis und der Gegenbeweis sozusagen in einem gegenseitigen Schmarotzerverhältnis. Die (beispielsweise kantsche) transzendentale Argumentation, wonach die Daten der Realität „geordnet" und die Argumente aus dem nicht beweisbaren Bereich übernommen werden, schleicht sich in jede paradigmatische Überlegung ein. Das Modell umfaßt jeweils gleichzeitig die grundsätzlichen Kenntnisse eines bestimmten Wissensgebiets oder eines spezifischen Untersuchungsprogramms und die „unsichtbaren Fakten" (die selbstverständlichen Fakten). Es greift daher „schmarotzerhaft" auf alle Argumentationen zurück, die in seinem semantischen Bereich aufkommen. Beispielsweise folgende Aussagen: ist das japanisch? Dann ist es unschlagbar. Ist das deutsch? Dann ist es genau (die Ausländer sagten früher von den Italienern: wenn das ein Italiener ist, dann singt und spielt er die Mandoline. Heute sagen sie: dann ist er ein Mafiaangehöriger). Alle Formen des parasitären Denkens sind tödlich für den kreativen Gedanken. Wollte ich eine Lösung für den Stadtverkehr finden, dann würde ich ein Kleinauto und nicht ein „Antiauto" erfinden. Wenn ich die Japaner kommerziell schlagen wollte, würde ich mich auf die Nachahmung ihrer Methoden, auf den Besuch von Zen-Kursen und auf die Teilnahme an Qualitätszirkeln verlegen. Wenn man ein fremdes Land besucht, lehnt man oft das ab, was dem nicht ähnelt, was man von zu Hause kennt, angefangen bei der Ernährung. Man verschließt sich so der Möglichkeit, das beherbergende Land zu verstehen, zu schätzen und zu genießen, eben weil es anders ist. Sinnhaftigkeit/Wahrheit Nehmen wir einmal an, daß jemand zu einem anderen sagt: „Weißt Du, daß a = a ist" oder „Weißt Du, daß die Summe zweier Winkel eines sphärischen Dreiecks größer als zwei rechte Winkel ist". Diese Wahrheiten werden mit unterschiedlichen 16 Trupia
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Gefühlen aber selten mit Begeisterung aufgenommen. Hingegen kann die Aussage „Ich werde Dich für immer lieben", die offensichtlich falsch ist, eine unbegrenzte Begeisterung auslösen. Was soll man also in die Kommunikation einbringen: Wahrheit oder Sinnhaftigkeit? Letztere macht den größten Teil der Kommunikation und insbesondere der kreativen Kommunikation aus. Auf jeden Fall hat die - intellektuelle und sentimentale - Erziehung die wir erhalten, die Wahrheit zum einzigen Inhalt und Ziel. In diesem Sinne sind wir wahrheitsabhängig (.Hodonpoietiké s.), aber nicht in dem von Armando Plebe und Pietro Emanuele beklagten Sinn 67 . Mit dem Sinnhaften hat man erhebliche Kommunikationsmöglichkeiten, denn es aktiviert eine Referenz - also eine Entsprechung - mit Objekten und Fakten in möglichen Welten {Logik s.) Die Politiker sprechen nur von Sinninhalten (und sie benutzen die Verben fast nur in der Zukunftsform). Dasselbe tun die Werbefachleute und im allgemeinen diejenigen, die die Aufmerksamkeit wecken wollen („Einberufer"). Sinnpostulate Sie liefern eine philosophische Erklärung für - selbst spezifische - Aktionsprogramme und selbst spezifische Aufgaben. Die Kreativität kann sich - auch beim Management - in diesem Bereich, also in der Schöpfung angemessener Sinnpostulate, die zur Führung dieser Programme und Aktionen sehr nützlich sind, stark entfalten. Es gibt aber auch bekannte Gegenbeispiele wie die projektierte - und mehrmals ab 1940 von Le Corbusier verwirklichte - „unité d'habitation" . Die Idee des Baus von 400 Wohnungen und Büroeinheiten - sozusagen als eigenständige ausbaufähige Grundzellen der Stadt - stand einem Sinnpostulat entgegen: und zwar dem Wunsch, „gezwungen" zu sein, zur Befriedigung der eigenen Bedürfnisse die Wohnung, das Gebäude, das Stadtviertel zu verlassen. Das Segelschiff und die zweimotorige Millionärsjacht sind hingegen Beispiele von Sinnpostulaten mit Bezug auf ein langlebiges Konsumgut, wenn sich auch bisweilen das Bedürfnis zu ihrer Benutzung mit deren Wartung erschöpft. Die wahre Konsumverführung wird dann ausgeübt, wenn konsumbezogene Sinnpostulate für bestimmte Erzeugnisse oder Erzeugnislinien geschaffen oder wenn bereits verfügbare Sinnpostulate in irgendein „ arché " eingefügt werden. Ein typisches Beispiel ist das Motorrad der Harley-Davidson, das die fortgeschrittenste Honda überrundet, wie auch die analogisch funktionierende supermechanische oder neomechanische Uhr, die die Digitaluhr mit ihrer Zehntelsekundengenauigkeit und dem eingebauten Adressbuch und Rechner aus dem Markt verdrängt. 67
A. Plebe, P. Emanuele, op. cit.
8.12. Kreativität
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Nach Emmanuel Lévinas liegt eine unerschöpfliche Sinnreserve in der „Unterschiedlichkeit": im Vergleich zum Entlasteten 68, zu den Gewohnheiten und zur landläufigen Moral, zu den sozialen Konventionen, selbst zum „ Cogito " von Descartes, das drei Jahrhunderte lang das beste Sinnpostulat der westlichen Welt war, und sich heute - seit der Krise der europäischen Wissenschaft (E. Husserl) - eher einschränkend erweist. Die Andersartigkeit ergibt sich insofern, als sie auf einem in den anderen Subjekten verwurzelten Sinn und in den von ihnen gemachten Erfahrungen beruht, also unabhängig vom universellen wissenschaftlichen Wissen. Symbole Die Etymologie des Wortes ist interessant: syn-ballein, syn-ballò = setzen, zusammensetzen. Interessant ist auch die Geschichte des Wortes, das auf alt-griechisch zwei Teile einer Tonscheibe darstellte, die sich zwei sich liebende Personen bei ihrer Trennung gaben; damit wollten sie aussagen, daß die Einheit wieder hergestellt werden muß, so wie die Tonscheibe wieder zusammengesetzt werden muss. Die beiden Teile konnten gegebenenfalls im Falle der Entwendung eines der Teile auch als Erkennungszeichen gelten. Das Symbol ist in der Tat zweideutig, weil es bei aller Konkretheit - gemessen am materiellen Zeichen - semantisch überladen ist. Das Symbol unterscheidet sich vom Zeichen, selbst wenn beide semiotisch etwas Anderes meinen. Aber das „an der Stelle von ... stehen" ist für das Zeichen eine Folge der Konvention in einem Sprachkode. Hingegen ist das „zusammen mit" im Symbol für dessen Interpreten und Benutzer die Auswirkung einer semantischen Schöpfung innerhalb eines Wertuniversums. So ist beispielsweise der vergoldete Hintergrund der Ikonen für den nicht eingeweihten Betrachter eine malerische Lösung, wohingegen er für den russischen Christen orthodoxer Religion die „göttliche Herrlichkeit der Sophia" darstellt. Das Symbol hatte also (bei den Griechen) und hat heute noch einen konkreten Bedeutungsinhalt, dessen ursprüngliche Bedeutung von einem materiellen auf einen neuen, genau festgelegten Bezug übertragen wurde. Es ist Erkennungszeichen geblieben für alle, die denselben Symbolinhalt anerkennen, ersetzt aber bisweilen ganz die ursprüngliche Beziehung, beispielsweise wenn die lebhafte Erinnerung an sie oder die direkte Möglichkeit ihrer Identifikation verloren gegangen ist. In diesem Fall stirbt das Symbol, wie übrigens auch die Metapher. Im Vergleich zum Zeichen verfügt das Symbol über mehr Bedeutung und zwar aufgrund einer Art von Weihe, die sich daraus ergibt, daß nur es die Essenz eines besonderen Objektes zum Ausdruck zu bringen vermag. Die Freundschaft und die Liebe leben - wenn ihr Drama der Trennung, der Entfernung sich in einer Darstellung der Realität wiedergeben läßt - im Symbol. Dies nicht nur, wenn das urspüngliche Objekt (beispielsweise eine Person) endgültig verschwindet, sondern auch, 68 Im Sinn Gehlens, im Gegensatz zum Herausforderer, s. A. Gehlen, Antropologia Filosofica e Teoria dell'Azione , op. cit. 16*
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wenn es sich verwandelt. Der Wandel im Objekt hat dann nicht unbedingt die Entkräftung des Symbols zur Folge, das - einmal gebildet - ein eigenständiges Leben bestehend aus Erinnerung, Sehnsucht, Heilsbegehren führt; mit anderen Worten: die Wirkung der ursprünglichen „semantischen Investition" bleibt bestehen. Das Zeichen ist hingegen flexibel, verfügt über Entwicklungsmöglichkeiten, kann seine Bedeutung ändern oder verlieren, weist ein rein konventionelles und zeitbezogenes Wesen auf. Es ist kein Heilsinstrument. Das Symbol behauptet sich (wegen seiner ihm innewohnenden semantischen Kraft, die es vor Zufallseinwirkungen schützt) nicht nur gegen das Zeichen, sondern auch gegen die Allegorie. Auch sie ist stets in ihrem Inhalt durch die Vernunft, den Verstand und folglich durch die Prädikativität und die Konzeptualisierung als den - mit dem Bezugsobjekt, dem Ding und seiner objektiven „Präsenz" verbundene - Festlegungen und Begrenzungen der Sinneswahrnehmung geprägt. Wenn dem Symbol eine beabsichtigte, bisweilen selbst heilsbezogene Bedeutung beigemessen wird, ist sein Empfänger - die Person, die es interpretieren und übernehmen soll - auf eine Art Orthodoxie festgelegt. Man kann mit den Symbolen nicht umgehen, wie man will. Für sie gilt entweder der Kult oder ihre Vernichtung 69 . Hierin ergibt sich eine andere Herausforderung der Phänomenologie. Der Phänomenologe - derjenige, der die phänomenologische Realität erfaßt oder sie in der phänomenologischen Korrelation erkennt - ist immer eifersüchtig und stolz auf seine „Selbstheitweshalb der geläufige, allgemein anerkannte Sinninhalt (in Kultur, Geschichte, Mythos, Orthodoxie) ein Hindernis und nicht eine Öffnung darstellt, da die Festlegung des Sinninhaltes das Verständnis des - jeweils „für mich" besonderen - Wesensinhaltes verhindert. Ich befreie mich von dieser Festlegung mit Hilfe des „ E p o c h é I c h erreiche den für mich und für andere wahren Sinninhalt dank der eidetischen Reduktion und der intersubjektiven Bedeutungsfixierung. Wird also das Symbol verworfen? Wenn wir daran denken, wie der Phänomenologe den Erkenntnisvorgang der Realität sieht, wird das Symbol für ihn zu einer starken Herausforderung. Die Epoché bedarf allerdings einer Stimulierung-Provokation für ihre Entfaltung. Das Symbol hat daher eine wichtige Funktion im phänomenologischen Prozeß, der doch immer und notwendigerweise zur Befreiung des Entfremdenden, des kodierten Sakralen, zur Rückkehr zum Ich, das sich selbständig der Realität zu bemächtigen sucht. Das falsche Bewußtsein des Sinninhaltes ist falsches Selbstbewußtsein, ein seltsames quid pro quo, bei dem wir uns mit uns selbst austauschen"70 und uns, die wir das Phänomen erleben, wegen unseres wahr69 Aus diesem Grund haben die italienischen orthodoxen Kommunisten recht, wenn sie das Symbol von „Sichel, Hammer und rote Fahne" nicht aufgeben wollen. Entweder wird es abgeschafft oder es wird in seiner vollen Darstellungskraft beibehalten, während Parteisekretär Occhetto und die „Reformer" es (provisorisch ?) an den Stamm der Eiche, dem Symbol der neuen Partei, angelehnt haben. 70 V. Descombes, Objects of All Sorts , Basil Blackwell, Oxford, 1986, S. 23 (Orig. 1983).
8.12. Kreativität
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nehmenden Selbst von uns selbst entfremden. Das Symbol zwingt uns also jeweils zu einer phänomenologischen Überprüfung der Konsistenz der „semantischen Investition". Wohl gemerkt, die Symbolisierung der Welt - vom aufgewerteten Zeichen bis zur heiligen Ikone - stellt einen wichtigen Schritt im onto- und philogenetischen Entwicklungsprozeß dar. Es handelt sich dabei insofern um eine Eroberung im Bewußtseinseinsatz, als es sich um zusammenfassende - also um entlastete (um mit Gehlen zu sprechen) - Wahrnehmungen und um den Wiederaufbau der Realität handelt. Sie sind von den „langen Ketten der mühsam gewonnenen Erfahrung (die wir nicht jedes Mal wieder aufs neue erleben müssen) entlastet ... und zum Schluß sehen wir symbolisch; dann erst wird unser Sehen im zweifachen Sinn - des Erfassens mit den Augen ... und des Ignorierens ... dessen, was in jenem Moment als uninteressant erachtet ist - zu einem Ober-Sehen. Dies ist die entlastende Funktion der kodierten und insbesondere der Fachsprache, der Berufssprache, des Jargons, für die die Interdisziplinarität zu einer Herausforderung wird ... Mit einer nur von Symbolen lebenden Sprache erringt man die grundsätzliche Befreiung von der Einzelsituation, da die Worte ... unbeschränkt zur Verfügung stehen ... (die Wahrnehmung) wird nur flüchtig beansprucht... Diese Erfahrungssymbole 71 sind von entscheidender Bedeutung für den Menschen, der mit dem Leben fertig werden muß, weil sie ihn von der Mühe befreien, ständig dieselben Grunderfahrungen neu zu machen; sie (die Symbole) werden zur Bedingung für alle höherstehenden Leistungen und damit ausgesprochen menschlich .. ," 7 2 . Was zutrifft. Dabei sollte allerdings nicht vergessen werden, daß es stets notwendig ist, die Grunderfahrung zu erneuern, um die eigene Stellung der Realität gegenüber zu bestätigen; was wiederum gerade das Wesen des phänomenologischen Ansatzes ausmacht. Lévinas fordert uns auf, nicht vor dem Anderen, dem Andersartigen zu flüchten und erinnert uns daran, daß „sich mit der Phänomenologie abzugeben unter anderem bedeutet, ... die Sinnhaftigkeit der Sprache zu sichern, die in ihrer Abstraktion und ihrer Isolierung bedroht ist, ... und auf die menschliche Verwirrung ... als dem letzten Modell für eine Verständnismöglichkeit hinzuweisen73. Varela sagt uns aus der Sicht der kognitiven Wissenschaft, daß „die Vorstellung der Geistestätigkeit als einer Fülle von Regeln und der Darstellungen als einer Fülle von Symbolen dem Ausschluß jenes Angelpunktes gleichkommt, auf dem sich die Vitalität des Wissens entwickelt" 74 .
71 72 73 74
Im dem Sinne, daß sie Erfahrungsergebnisse sind. A. Gehlen, Antropologia Filosofica e teoria dell'Azione , op. cit., S. 44-45. E. Lévinas, Trascendenza ..., op. cit., S. 26-27. F. Varela, Scienza ..., op. cit.
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8. Kap.: Die Anwendung der phänomenologischen Methode
Das Symbol begründet - um mit dem italienischen Philosophen Vico abzuschließen - die Jugendlichkeit und nicht die Reife des Gedankens, kann allerdings auch als „die Ursache seines - manchmal verfrühten - Alterns" betrachtet werden. Systeme des kategorialen Bezugs Es ist leicht zu sagen: „die Dinge", „die Fakten", „die Tatsachen"; als ob diese als Stücke der Realität angenommenen Gedankenobjekte wie von den Bäumen herabhängende Früchte von der Natur geschenkt würden. Tatsächlich sind „die Dinge" und „die Fakten" komplexe Geschöpfe der intentionalen Wahrnehmung, die bewußt oder unbewußt die Sinneswahrnehmungen zu Erfahrungen und diese zu Begriffen und am Ende eines langen Prozesses zu Objekten der Welt verarbeitet: zum „Mineral", zur „Substanz", zum „Kosmos", zur „Person", zur „Geraden" usw. Es fällt uns leichter zu verstehen, wie die geometrischen Figuren das Ergebmis einer gedanklichen Arbeit oder einer „Idealisierung" (um mit Husserl zu sprechen) sind; weniger leicht ist dieser Prozeß beim „Mineral" oder der „Psyche" oder selbst beim „Stuhl". Aber der Prozeß ist immer derselbe. Die Natur gibt uns allenfalls Gefühle und Wahrnehmungen, den Rest schaffen wir selbst. Die Welt, in der wir leben, ist eine Welt unserer Darstellungen, die Frucht unserer gedanklichen Vorstellungen. Einige dieser Vorstellungen sind seltsamerweise stillschweigend zugelassen und in der Umgangssprache gebräuchlich, „ins Feld geführt", wie man in der Diskursanalyse sagt; werden dann aber ausdrücklich bei analytischer oder wissenschaftlicher Betrachtung in der Phase der Besinnung verneint. Dies ist der Fall bei den Vorstellungen von „Ich", „Person", besonders von „Seele". Wie sich die „Schöpfung der Objekte der Welt" vollzieht, sagen uns einige Philosophen, darunter Stephen Körner" 75 . Nicht nur die Konstitution der Dinge der Welt und des Geistes, sagt er, sondern unser gesamtes Denken hängt davon ab, wie wir die Welt in ihren sie konstituierenden Grundbestandteilen sehen, also von dem von uns geschaffenen oder übernommenem System des kategorialen Bezugs. Man muß nur an die Vorstellung von „Zeit" denken: ist die Zeit linear? spiralförmig? kann sie rückwärts gehen? ist sie unendlich? ist sie vom Weltall, von der Materie unabhängig ? ist sie eine „disten sio animi "? Ist sie ein Geistesprodukt? Man könnte sagen, daß die Antwort eine Frage der Wahl oder bestimmter formaler, von einigen Ausgangspostulaten allerdings nicht unabhägigen Folgerichtigkeiten (wie die Gleichungen von Einstein) ist. Erneut ein System des kategorialen Bezugs. 75 Stephen Körner, a) Experience and Theory , Routledge and Kegan Paul, London-New York, 1966, S. 14 ff. b) Categorial Frameworks. Basii Blackwell, Oxford, 1970 (es existiert eine schlechte und selbst irreführende Übersetzung ins Italienische: Sistemi di Riferimento Categoriale , Feltrinelli, Milano, 1983).
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Aber was ist dieses System? Es handelt sich dabei um die Klassifizierung der die Realität konstituierenden Objekte - oder Individuen (da wir sie nur insofern wahrnehmen, als wir sie individuell feststellen und unterscheiden) - in Kategorien oder Maximal- und Submaximalklassen geordnet haben. Beispielsweise das „Ich" wird mit dem Bewußtsein und dieses zusammen mit dem Geist und dem Hirn klassifiziert. Es handelt sich dabei um Individalbegriffe derselben submaximalen Klasse der Maximalklasse der logischen Substanz, laut dem materialistischen Paradigma. Nach dem geistigen Paradigma liegen die Dinge anders 76. Husserl hat weder das eine, noch das andere übernommen; daher will er weder vom „Ich" noch vom Bewußtein wissen, was es ist, sondern nur, wie es ist und wie es funktioniert; er stellt daher im Menschen eine intentionale Fähigkeit fest, durch welche die Objekte der Realität in Erkenntnisobjekte verwandelt werden - oder sich sonst verändern. Hinsichtlich des Prinzips der Wahrnehmbarkeit der Objekte gibt Körner folgende Metapher, die es verdient, gründlicher untersucht zu werden. Die Welt, so schreibt er, kann erkannt oder beobachtet werden, wenn man im voraus über ein Schema der empirischen Differenzierung verfügt; beispielsweise ein „realistisches" Schema wie etwa das Universum von Demokrit mit seinen sich ständig bewegenden Bestandteilen; oder ein „substanzbezogenes" Schema, das eine einzige Substanz postuliert, die über verschiedene Attribute und existenzielle Spezifizierungen verfügt (wie das Universum von Spinoza). Nützlich mag eine.. .Analogie sein, in der das Wort „Welt" durch „Torte", „wird wahrgenommen" durch „wird gegessen"; „Schema der empirischen Differenzierung" durch „Methoden, die Torte zu schneiden"; „realistisches System" durch „in Dreiecke schneiden" und „substanzbezogenes Schema" durch „in Rechtecke schneiden" ersetzt werden. Es besteht nur eine Welt. Ihre Existenz hängt sicherlich nicht davon ab, ob sie auf realistische oder substanzbezogene Weise differenziert wird.. .so wie es nur deshalb nicht zwei Torten gibt, weil sie auf verschiedene Weise geschnitten werden können". Folglich: „Torten aufschneiden ist nicht wie Torten backen". Der kreative Mensch wird am besten daran tun, sich auf kein kategoriales Bezugssystemen festzulegen; und zwar im Bewußtsein, daß es viele Bezugssysteme gibt und daß sie es alle verdienen, geprüft und berücksichtigt zu werden. Textliche Vervollkommnung Eine Darstellung in einen Text - ein Schriftstück, eine Zeichnung, eine Graphik, eine Karte - zu verwandeln, ermöglicht ein besseres Erkennen seiner Ausgewogenheit oder Nicht-Ausgewogenheit, seiner semantischen Fülle oder Leere, seiner 76
Die Klassen sind maximal, wenn ihre Individuen (oder Mitglieder) zu keiner anderen Klasse gehören. Submaximal sind jene Klassen, deren Individuen auch anderen Klassen angehören. Dies ist im Diskursuniversum der Fall, weshalb beispielsweise der Begriff „biologisch" in Hinblick auf den semantischen Bereich (Naturwissenschaft oder Metaphysik) submaximal oder maximal sein kann.
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Folgerichtigkeit oder Nicht-Folgerichtigkeit; insbesondere jene bedeutsamen Inkohärenzen wie das Paradox oder das Oxymoron und die nicht bedeutsamen wie der Widerspruch oder die Zuschreibung eines Prädikats zu einem Subjekt, das es nicht als Attribut enthält. Daher ist das „Zu-Papier-Bringen" die Voraussetzung für eine Überprüfung. Je schwieriger es ist, die eigenen Gedanken oder einen Gedankenaustausch, dem man beigewohnt hat, in Worte zu fassen, umso begründeter ist der Verdacht, daß in dem geistigen, argumentativen oder konstruktiven Prozeß etwas nicht so gelaufen ist, wie es sollte. Es ist in der Tat einfacher, eine Überlegung mündlich als schriftlich zu formulieren; noch einfacher ist es, sie im Traum zu schaffen - wenn man zu sich selbst spricht - oder im Halbschlaf oder beim einschlafen. Weise ist es, diese Formen des „ leichten Denkens " nicht einfach auf die Seite zu legen; allerdings nur unter der Bedingung, daß man schleunigst zur Überprüfung des (schriftlichen) Textes greift. Beim Durchdenken des Problems und bei vielen aufschlußreichen Unterlagen führt die Niederschrift zu neuen Ideen, nicht zuletzt aufgrund einer dem Text innewohnenden Dynamik, die sich in den Papieren rankenhaft aus eigener Kraft ausbreitet. Transkodierung Es handelt sich um die Kodeänderung aus Gründen des Ausdrucks oder auch der kommerziellen Anpassung eines Textes, der - ursprünglich in einer bestimmten Sprache oder als bestimmte literarische Gattung geschrieben - nun umgeschrieben wird. Eine andere Bedeutung ist die der Sinnänderung als Folge der Kodeänderung wie bei den „blasphemischen" Werbeworten „Du sollst keine anderen Jeans neben mir haben" oder „wer mich liebt, folge mir nach" für die Jeans der Marke „Jesus". Eine andere, wiederum blasphemische Transkodierung hat sich in einer Werbekampagne der Serie „United Colors of Benetton" mit den Photos eines Kriegsfriedhofes (während des Golfkriegs!) ergeben; wegen dieser Werbung wurde übrigens vor dem Werbegericht Anzeige erstattet. Juri Lotman hat sich mit der ästhetischen Funktion der Transkodierung befaßt, indem er die verschiedenen Sinnkodierungen analysiert hat 77 , die im selben Text - untereinander verflochten - bestehen: in der Göttlichen Komödie beispielsweise die ideologische, politische, theologische, bürgerkundliche usw. Kodierung. Im Gedicht ruft der phonetische Reichtum - wie der Reim, die Alliteration eine poetische Empfindung hervor. 77
Juri Lotmann, op. cit.
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Die gebräuchlichste Form der Transkodierung ist die der „Umwandlung" eines Textes: in einen Roman, einen Film, eine Komödie, ein Musical usw. Der kreative Mensch, der sich mit einer Transkodierung befaßt, muß vor allem an diejenigen denken, die das Neue im transkodierten Text suchen, und weniger an jene, die das Original wiederfinden möchten und dann möglicherweise enttäuscht sind. Nur wenn man die Transkodierung forciert, kommt etwas so Gelungenes wie das Musical „Cats" heraus, in dem die Gedichtsammlung von Eliot über die „praktischen Katzen" vertont ist 78 . Ein bekanntes Beispiel für die Transkodierung ist die Prosaversion der Gedichte der italienischen Dichter Carducci oder Foscolo, die heute immer noch im italienischen Schulunterricht verlangt wird. Das Gegenteil - das umformen eines Prosastückes in ein Gedicht - was auf jeden Fall einer schwierigen sprachlichen Übung entspricht - wird allerdings nicht gefordert. Und/Oder, Versus, Triangulation Unsere Gedankenwelt bewegt sich vorzugsweise nach dem Dualsystem, aber auch nach anderen Modellen. Es lohnt sich demnach, aus einem Text alle darin enthaltenen Gegensätze und Sinnalternativen herauszuholen und zu notieren. Man gelangt auf diese Weise zu einem Raster von Begriffen und entgegengesetzten oder alternativen Sinninhalten, das einige der behandelten Themen aus einer mehrfachen Sicht darlegt. Ein anderer Ansatz ist der des Dreiecks 79. Aus der Trigonometrie wissen wir, daß der Abstand von einem nicht erreichbaren Punkt über zwei erreichbare Punkte gemessen wird; auf diesselbe Weise kann aus zwei bekannten, möglicherweise alternativen Begriffen ein neuer hervorgehen, der sie zusammensetzt und selbst mit neuer Bedeutung erfüllt. So geht die dialektische Methode vor, die zwar heute nicht mehr modern ist, die jedoch mehr als einen Vorteil bringt. Folgender Fall eines Dreieck-Schemas scheint mir besonders bemerkenswert: aus der „effizienten Kommunikation" und der „Verhandlung" ergibt sich die „Beschwörung" (im Sinne von „die Aufmerksamkeit wecken") und die „Macht der Beschwörung" als vorher nicht thematisierte Kategorie des wirksamen Diskurses 80.
78
T. Stearns Eliot, Old Possum 's Book of Practical
Cats , Faber and Faber Ltd, London,
1940. 79 Federico Spantigati hat einen auf dem Dreiecksschema aufgebauten Ausbildungskurs geplant. 80 P. Trupia, Potere di Convocazione, Liguori, Napoli, 1992.
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8. Kap.: Die Anwendung der phänomenologischen Methode
Variation Sie ist - wie auch die Epoché - eine der Methoden zur eidetischen Reduktion der Bewußtseinserlebnisse und zum herantasten an die Essenz der Dinge (Eidos). Wenn ich diesen Tisch und die Art, wie er sich in meinem Bewußtsein jetzt und hier darstellt, betrachte und mir denke, daß diese Darstellung die einzig mögliche ist, kann ich ihn nicht als transzendentales Objekt sehen; ihn also nicht über die unmittelbar wahrnehmende Erfahrung hinaus in den Raum, in die Zeit, in die ihn umgebenden zufälligen Umstände, die Zugehörigkeits-, Substanz- und Gattungsbeziehungen usw. stellen. Wenn ich ihn beipielsweise zu den Indios im Amazonasgebiet bringen würde, die in Laubhütten leben, würden sie ihn möglicherweise wie eine kleine Hütte oder ein Floß sehen. Im Jahre 2152 wird er vielleicht als eine Art Antiquariatsgegenstand oder als ein antiker Fund wahrgenommen; im Jahre 2030 wie ein Modernariatsobjekt, von meinen Enkeln wie „Opas Tisch" bezeichnet und könnte (so hoffe ich) zu einem Familien-Kultobjekt werden; ein Möbelhändler sähe darin allerdings nur einen Einrichtungsgegenstand und würde sofort seinen Wert ausrechnen; ein Kunsttischler würde seine Aufmerksamkeit der Struktur und den Materialien widmen, ein Designer der Form mit ihren funktionellen Vorteilen. In diesen Beispielen kommt eine freie Variation (eine der möglichen Formen der freien Variation) bei der Wahrnehmung eines Objektes zum Ausdruck: man nimmt etwas wahr und läßt die Phantasie umherschweifen. „Die auf diese Weise gewonnenene Wahrnehmung schwingt sich sozusagen in die Lüfte der absolut reinen Vorstellung. Und somit wird dieser Vorgang, von jeglicher Gegenstandsbezogenheit befreit, zur Eidos- Wahrnehmung.. .die Wahrnehmungsanalysen sind folglich Analysen der Essenz der Dinge ..." 8 1 . Die Sprache Husserls ist normalerweise nicht sofort zugänglich und setzt außerdem voraus, daß einige Ergebnisse seiner Überlegung dem Leser bereits bekannt sind, der davon allerdings noch nichts weiß. Eines ist allerdings sicher: der Tisch als Objekt reduziert sich nicht auf seine spezifischen Prädikate (seine Merkmale, die sich mit der Sichtweise, der geschichtlichen Zuordnung etc. ändern) und seine speziellen Darstellungen; es gibt immer eine Seite, die weiter hinausgeht und darauf wartet, entdeckt zu werden. Wie es der italienische Unternehmer Bialetti tat, als er seine Kaffeemaschine „Mokaexpress" erfand, und wie es der Unternehmer Alessi tat, als er ihr 20 Jahre später ein schönes Design gab. Die eidetische Variation kann eine Alternative zum lateralen Gedanken sein.
81 A. Marini, Edmund Husserl. La Fenomenologia Trascendentale , La Nuova Italia, Firenze, 1974, S. 211. Der zitierte Ausschnitt handelt von Descartes' vierter Meditation: Sviluppo dei Problemi Costitutivi dell'Io Trascendentale , in E. Husserl, Meditazioni Cartesiane , Bompiani, Milano, 1960.
8.12. Kreativität
251
Ein wenn auch unfreiwilliges Beispiel aus der jüngsten Vergangenheit dieser auf die Dinge im allgemeinen und daher auch auf die gewöhnlichsten Dinge angewandten Variations- Methode finden wir, meiner Meinung nach, in der Pop-Art. Man könnte diese künstlerische Richtung sonst nicht verstehen. Wenn der Künstler „aus sich herausgeht", sozusagen die andere Seite des Objekts sucht, scheint dies umso überzeugender und interessanter, je gewöhnlicher die Sache/das Objekt ist. Bei Warhol finden wir selbst eine bewußte Verherrlichung des Gewöhnlichen: „Amerika ist so schön, weil eine Sache umso amerikanischer ist, je standardisierter sie i s t . . . es gibt zwar viele Lokale, in denen berühmte Leute besonders gut behandelt werden, aber dies ist kein echt amerikanisches Verhalten". Echt amerikanisch ist für Warhol hingegen der „ hot dog den der Präsident Eisenhower für die Königin Elizabeth am Rand eines Baseballfeldes für 20 cents während ihres Besuchs in Amerika erstand; und Warhol fügt hinzu, „Elizabeth hätte keinen besseren im Bukkingham Palace bekommen können" 82 . Die gewöhnlichen, wenn nicht sogar trostlosen Objekte der Pop-Art sind eine Herausforderung (des Geschmacks, des Schönen), die sich nicht aus der ausdruckshaften, umschreibenden und symbolischen Bedeutung der Pop-Art heraus interpretieren lassen. Die von den Kritikern geschriebenen Rezensionen haben einen eindeutigen, aber nicht spezifischen Ton. So erklären sie, der Künstler würde sich der modernen Realität durch ihre Umwandlung in das Alltägliche stellen; und zwar, indem er sich ihrer bemächtigt und es akzeptiert, sich „in ihr zu beschmutzen und zu verlieren ... Nur so könne dieser Impuls zur Vermischung von Kunst und Leben zur Ausdruck kommen". „Aus dem Willen, das Leben und die Gegenwart in den Vordergrund zu stellen, stammt das reiche Oeuvre von Rauschenberg, in dem sich ein umfassender epischer Realismus mit märchenhaften Visionen verknüpft" 83,84 . Man könnte dies ebenso von Rubens und Tizian sagen! Etwas Genaueres dürfte in folgender Bewertung zu finden sein: „Den Malern und Bildhauern ... ist ihr Privileg der Schaffung von Bildnissen ... genommen worden: bis gestern stellte in allen Zivilisationen die bildhafte Darstellung der Welt das ausschließliche Monopol der Künstler dar ... Wenn heute die Künstler aufhören würden, Bildnisse herzustellen, würde deshalb der im Umlauf befindliche Reichtum nicht angegriffen ... der Künstler ... bewegt sich im Inneren eines Konsumfeldes ...; er bemächtigt sich der Objekte, der gewöhnlichen Darstellungen, behandelt sie, manipuliert sie, zitiert sie, stellt sie dar, entstellt sie ... ; die letzten Maler ... erfinden ... einen ästhetischen Konsum ... Der Halt im schnellen Pro82 A. Warhol, Il Gergo Inquieto , Bonini, 1981. Ich habe den Ausschnitt A. Boatto, Art-Dossier, Nr. 36, entnommen. 83 A. Boatto, Art Dossier, Nr. 36, S. 44. 84 A. Boatto, Art Dossier, Nr. 36, S. 44.
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8. Kap.: Die Anwendung der phänomenologischen Methode
duktumlauf erlaubt den künstlerischen Akt ... die Kunst ... wird gezwungen zu akzeptieren, daß sie mit der Qualität, der Vervielfältigung, der Serienherstellung zusammenstößt und mit ihnen in Konflikt kommt" 85 . Ich wiederhole: es war stets so. Nicht anders, wenn auch mit größerer sprachlicher Fertigkeit, gibt uns Maurizio Calvesi in derselben Ausgabe des Art Dossier 86 den spezifischen Auslegungsschlüssel einer so andersartigen und provokativen Kunst. Er sagt über die europäischen und italienischen Pop-Art-Künstlern und insbesondere über den italienischen Maler Schifano der Pop-Periode, daß er seiner Kunst eine vorher unbekannte und aufsteigende, edle und gleichzeitig brüske Wahrnehmungsdichte verliehen habe 87 , die sich in den originellen Landschaftsansichten von der Autobahn aus, in seinen neu entwickelten futuristischen Formen und in den anderen Bildern, die mit malerischer Frische nach einer Art ReportageModell von Konsum-Bildnissen neu geschaffen wurden". Boatto frägt 88 : „Was hat es für einen Sinn, ein sekundäres, sozusagen parasitenhaftes und möglicherweise pleonastisches System aufzubauen?" Dies ist in der Tat die Kernfrage. Boatto antwortet allerdings mit leeren Formeln: „ . . . die Semiologie, die Wissenschaft der Zeichen, führt zu einer kritisch-kalten, analytischen und unvoreingenommenen Methode der Kritik ..., die uns bei der Beantwortung unserer Frage helfen kann". Das vom Pop-Künstler dargestellte Objekt wäre demnach „ein paradigmatisches Muster im beispielhaft-darstellenden Sinne der gesamten Serie der ihm ähnlichen Objekte; am Ende eines Wiederholungsprozesses .... wird das paradigmatische Muster zum Bildnis oder zum neugeschaffenen Objekt; zu einem interpretierten und transparent gewordenen Objekt, das zum Ausdruck bringen soll, was nur latent im Ausgangsmodell vorhanden war; wobei das Muster die Summe des Sinnhaften, der Intelligenz, der Erfahrung.. .darstellt. Am Ende des Neuschaffungsprozesses ... ist das Paradigma auf die Ebene eines beispielhaften Modells angehoben ... Warhol ... hebt die Leere und die Inhaltsentwertung hervor; den Verbrauch des dargestellten Objektes; seinen endgültigen Tod" 89 . Es erübrigt sich, die Zitate anderer Kritiker anzuführen. Sie sind alle auf derselben Linie: entweder sind sie sehr allgemein gehalten oder ideologisch angehaucht (wie in der Streitfrage über den Konsumismus) oder sie sind absonderlich. Die letzte Frage von Boatto ist allerdings zutreffend: Warum das normalerweise Sichtbare wiederholen? Die Antwort ist hingegen befremdend: weil die Ware zusammen mit der Kunst und dem Konsum gestorben und der Künstler zur Nebensache geworden ist. Was bereits von Duchamp und früher von den Impressionisten, von Courbet, und viel früher von Rembrandt und Masaccio gesagt worden war.
85 86 87 88 89
A. A. A. A. A.
Boatto, Art Boatto, Art Boatto, Art Boatto, Art Boatto, Art
Dossier, Dossier, Dossier, Dossier, Dossier,
Nr. 36, S. 37-38. Nr. 36, S. 44. Nr. 36, S. 37-38. Nr. 36, S. 39. Nr. 36, S. 39-40.
8.12. Kreativität
253
Kein Kritiker gibt eine überzeugende oder zumindest für die Sonderaspekte der Pop-Art angemessene Erklärung. Wozu die Großformatigen Bilder wie das der Pepsi-Flasche mit dem Kronkorken, warum die serienmäßigen Wiederholungen von Warhol, zwei beinahe gleiche brennende Autos („White Burning Car Twice, 1963), und vier Elvis Presley (Elvis I und II, 1964), fünf Coca Cola Flaschen (Five Coke Bottles, 1962), sechs Selbstbildnisse (Six Self-Portraits, 1986), neun Marilyns (Marilyn, 1967), sechzehn Jacqueline Kennedy (Sixteen Jackies, 1964), zwei John Kennedy bei Rauschenberg (Robert Rauschenberg, Achse, 1964), drei sich überlappende amerikanische Flaggen bei Roy Lichtenstein (Takka-Takka, 1962)? Ich habe die bekanntesten Beispiele angeführt. Die gesuchte Antwort zur Bedeutung der Pop-Art liegt in der Variations- Methode, die dazu dienen soll, die Konstitution jenes Objektes herauszuholen, die unbewußt in unserer Besitznahme der Realität erfolgt und die konsistenter und planmäßiger in den Werken der PopKünstler das Ding darstellt und immer wieder darstellt, um damit zum Ausdruck zu bringen, daß die „andere Seite" jenseits des Gewöhnlichen und Alltäglichen liegt. Es handelt sich also um einen weiteren phänomenologischen Prozeß, der in die derzeitige Kultur eingefügt ist und den die empfindsamen Künstler unbewußt mit hartnäckiger Wiederholung beschreiten. Vergnügliches Studium Es würde ausreichen, genau das Gegenteil von dem zu tun, was die Mathematiklehrer in der Mittelstufe (zum Glück nicht an der Grundschule) tun, wenn sie auf die Geheimnis- und Terrormethode zurückgreifen, die ihren sadistischen Höhepunkt in der Schulaufgabe hat. In der Tat existiert eine hartnäckige Tradition, wonach die Ausbildung schwierig und langweilig sein muß. Hingegen sollte sie zur Muße des Horaz führen und eine Art Freizeitbeschäftigung sein. (Es sieht so aus, als hätten die Amerikaner übertrieben und übertreiben nun weiter, wenn sie die französische Didaktik nachahmen, die noch schreckeinflößender als die italienische ist). Domenico De Masi experimentiert in seinen Sommerseminaren in Ravello und den Winterseminaren in L'Aquila an einem Modell des vergnüglichen, entspannenden und kreativen Studiums. In Rom existiert - auf Initiative von Angela Ales-Bello - das „ Convivio ein Kreis von Menschen, der sich zu den Sitzungen des „ Centro Italiano di Ricerche Fenomenologiche " (Italienisches Zentrum für phänomenologischen Untersuchungen) trifft: Begegnungen mit den Autoren von Untersuchungen über die Phänomenologie, die man dort besprechen und auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen kann, indem man entspannt zuhört und diskutiert. Das Vergnügen ergibt sich aus dem Inhalt, aus der Qualifikation und der Liebenswürdigkeit der Teilnehmer und aus der Unterhaltungs-„Athmosphäre", die an die „Schule von Athen" erinnert.
254
8. Kap.: Die Anwendung der phänomenologischen Methode
Die Erneuerung von Pädagogik und Didaktik sowie das intellektuelle dialektische Spiel zur Steigerung der kulturellen Attraktivität in unserer post-industriellen Ära - dies dürfte heute die dringlichste kreative Aufgabe sein. Kreieren heißt andererseits, die Dinge unter einem neuen Aspekt, also über das derzeitige, sie verschleiernde Wissen hinaus zu erkennen. Genaue Regeln gibt es nicht; man kann nur während der Pausen am Arbeitstisch in einer Art „Peripatos" umherwandeln. Die geistige Anstrengung, die Konzentration und der Einsatz dürfen niemals zum Zwang werden. Wenn man vom Schlaf überwältigt wird, sollte man besser einnicken. Dies läßt sich auch ganz gut bewerksstelligen, ohne daß man sich dabei aufs Bett legen muß. Der 8-16 Stunden andauernde Schlaf-Zyklus ist eine soziale Institution, die gewaltsam und systematisch bei den Kindern durchgesetzt wird. Nützlich ist auch eine arbeitsunterbrechende Gymnastik wie das Hata-Yoga: Strecken, Entspannung, tiefe Zwerchfellatmung usw. Hieraus ergibt sich immer noch ein Problem beim Leben im Büro: zwar darf sich heute die Sekretärin ganz selbstverständlich am Bürotisch schminken und man darf mit lauter Stimme lange persönliche Telephongspräche führen. (Das Modell der „schwachen" oder „postmodernen Organisation" breitet sich aus). Aber noch ist es im Büro nicht gestattet, gymnastische Übungen vorzunehmen. Zur positiven Voraussetzung des Lernens gehört auch das physische Wohlbefinden, vor allem aufgrund einer gesunden Ernährung. Man sollte daher sowohl das Brötchen im Stehen, als auch das „Arbeitsessen" vermeiden, insbesondere wenn diesem eine Alibifunktion gegenüber dem zu den Wertvorstellungen der Firma gehörenden Brötchen zugesprochen werden soll. Das Mittagessen zu Hause ist hingegen „veraltet" und das Mensaessen für den leitenden Angestellten bereits problematisch. Vorprädiktative-präkategoriale Analyse Nicht einmal die strengste Axiomatisierung (wenige unabhängige Axiome in kurzen und lapidaren Sätzen ausgedrückt) entbindet eine wissenschaftliche Disziplin von dem, was die deskriptive Wissenschaft als eine Art Sündenfall betrachtet: nämlich vom sowohl induktiv als auch deduktiv rationalen Hintergrund (Axiome, Prinzipien, Paradigmen, Kategorien), der als Rechtfertigung für die Wissenschaftlichkeit zu gelten hat. Aber gerade in diesen vorprädikativen und präkategorialen Bereich gehören die Sinnespostulate (s.) und die Relevanzsysteme (s.), die diese Wissenschaft zu einem eigenständigen Erkenntnissystem werden lassen. Wenn ich also auf andere Weise als auf der Grundlage der allgemein akzeptierten Tradition ein Universum an Kenntnissen und Problemen verarbeiten will, muß ich auf das Vorprädikative und Präkategoriale und der ihnen innewohnenden Reali-
8.12. Kreativität
255
tät zurückgreifen. Es sei beispielsweise auf die Innovation im Bereich der Mode verwiesen. Die „eindrucksvollen" Schultern von Armani sind die Folge einer Sicht der Frau als starkes Geschöpf, das nun mit dem Mann auf derselben Ebene stehen soll und kann; wahrlich seinerzeit, als sie ersonnen wurde, eine „unlogische" Idee. Die „Kraft" war damals kein zulässiges Prädikat für die Frau. Im Vorkategorialen und Vorprädikativen ist das Erkenntnisprojekt angesiedelt und wird dort ausgeprägt. Es bietet die Möglichkeit zur Schaffung neuer Objekte und Sinninhalte. In dieser vor-wissenschaftlichen Welt, tut sich die Hermeneutik leichter und wenn auch mit einer gewissen Verlegenheit - die Epistemologie (wenn sie unbedingt wissenschaftlich sein will, also nicht wie bei Kuhn oder Feyerabend). Die Hermeneutik steht zwischen dem fernen Horizont des Unverstandenen (als dem noch unbefriedigten Bedürfnis nach Erklärung und Verständnis) und dem thematischen Kern (als den Dingen und Problemen, mit denen wir uns beschäftigen wollen) 9 0 ' 9 1 . Selbst die einfache prädikative Behauptung „der Schnee ist weiß" ruht beispielsweise auf einer nicht prädikativen Voraussetzung, wonach die Dinge über Attribute verfügen und diese Attribute nur unter bestimmten (meist stillschweigend angenommenen) Voraussetzungen gültig sind. Der Schnee ist nur für den Sonntagsausflügler weiß, der ihn vom Gasthof aus betrachtet. Der Skilehrer unterscheidet hingegen - ohne sich dessen bewußt zu werden - die verschiedenen Farbnuancen des Schnees, weil sie ein gutes oder schlechtes Skifahren anzeigen. Die Moral beruht auf der metaphysischen Voraussetzung der Freiheit des Subjektes; die Physik ist auf der Existenz der Materie und auf der - alles andere als bewiesenen - Tatsache begründet, daß es sich um ... eine Materie mit grundsätzlich konstanten Merkmalen usw. handelt. Die Grundlage der wissenschaftlichen Erkenntnis ist also in der unprädikativen Beobachtung und in der Tautologie zu suchen; oder wir finden einfache Benennungen oder selbst widersprüchliche Behauptungen wie den Punkt ohne Ausdehnung in der Geometrie, auf den sich die gesamte Wissenschaft der Figuren und Flächen stützt. Das Genie Einsteins zeigt sich auch darin, daß er den Begriff des Raumes als Gesamtheit von kontinuierlichen Punkten bis zum „als wahr, weil als natürlich zu betrachtenden Zeitpunkt" abgelehnt hat. Wir haben dann die „selbst-verständlichen" Erscheinungen, die Essenz der Dinge: Raum, Zeit, Sein, aber auch Freiheit, Aktion, Projekt...
90
E. De Bono, Lateral Thinking for Management, Penguin Books, Harmonds worth, 1984. M. Vozzo, Ermeneutica del Pre-analitico. Su Heidegger e l'Epistemologia , in Aut Aut, nn. 237-238 (neue Serie), 1990, S. 135 ff. 91
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8. Kap.: Die Anwendung der phänomenologischen Methode
Die unvollständige Beweisbarkeit der Dinge ist kein Grund zur Sorge. Sind wir doch durch unsere Wahrnehmung und unser Dasein tief in der Realität verwurzelt. Man kann sich also heiter und unbekümmert vor dem nicht beweisbaren und deswegen trotzdem bekannten Hintergrund bewegen, wie dies schon Feyerabend empfiehlt. Wenn wir Glück und Ausdauer haben, wenn wir also kreativ sind, können wir jene „Enthüllung" erreichen, von der Varela in der Diskussion über die künstliche und natürliche Intelligenz spricht 92. Die Kreativität in diesem wichtigen Bereich, sagt Varela, ist jene, die die „relevanten Zusammenhänge herstellt", „welche nie vorgegeben sind, sondern eher einen Hintergrund enthüllen oder vor ihn gestellt werden; wobei dasjenige relevant ist, was der gesunde Menschenverstand als relevant betrachtet". Wer frei und unbelastet vorgegangen ist, hat beispielsweise die post-euklidische Geometrie geschaffen und dabei den anderen die undankbare Aufgabe überlassen, mögliche Widersprüche aufzudecken. Aber unter welchen Vorzeichen stehen diese Widersprüche? in welchem Relevanzsystem ? Abschließend sei Angela Ales Bello zu diesen ebenso schwer erfaßbaren als auch entscheidenden Problemen zitiert: „Nicht mehr nur die Logik und die Mathematik verfügen über das Privileg der Kenntnis; alleine die Phänomenologie verfügt über einen apodiktisches Wesenskern". Ich erlaube mir hinzuzufügen, daß nur die Phänomenologie im Stande ist, uns in der eidetischen oder wesensbezogenen Intuition (beispielsweise der Geraden, der Ebene, des Dreiecks usw.) „die theoretische Basisstruktur der Natur klärend wiederzugeben" 93. Weiße Raben Bekanntlich existieren sie nicht und zwar in dem Sinne, daß die Logik ihre Existenz verbietet. „Alle Raben sind schwarz" wird als klassische empirische Eindeutigkeit betrachtet. Dabei wird allerdings vergessen, daß dies auf einer sog. vollständigen Induktion basiert, auf die man seit Hume nicht mehr schwören kann. Es bliebe die unvollständige, auf der „Logik der Quantifikatoren" basierende Induktion, die rechtmäßigerweise zur These führen kann: „Die meisten Raben sind schwarz, ein paar können auch weiß sein". Den Logikern gefällt sie allerdings nicht. Noch weniger gefällt es ihnen, sich vorzustellen, daß sich die Situation aufgrund einer genetischen Mutation umkehren könnte. In der Biologie wäre dies nichts außergewöhnliches. In der Logik hingegen wohl. Die Logiker sind konservativer als die Biologen. Bisher hat man sich mühsam auf Ausnahmen berufen: Pinguine sind Vögel, die mit dem fliegen aufgehört haben, weshalb sich ihre Flügel verkürzt haben. 92
F. Varela, Scienza e Tecnologia della Cognizione , Hopefulmonster, Milano, 1987 (Orig. 1986), S. 61-63. 93 A. Ales Bello, Husserl e le Scienze, La Goliardica Editrice Universitaria, Roma, 1986, S. 136.
8.12. Kreativität
257
Eine trügerische Lösung kam im Zusammenhang mit dem „Naming " (s.) auf, also der philosophischen Kunst, den Dingen ihren Namen zu geben, (nachdem man festgestellt hat, worum es sich handelt). In diese Richtung ginge folgende Aussage: „Alle Raben sind schwarz außer einigen, die weiß sind und Albinos genannt werden". Dies könnte eine Notlösung sein. Besser ist es, Kategorien und Unterkategorien zu schaffen. Also zu sagen, daß die Raben, denen man bisher begegnet ist, schwarz waren; sollte man jedoch zufällig einen weißen antreffen, könnte man ihn als einen ungewöhnlichen Raben betrachten, also einer Unterklasse der Raben zugehörig, die möglicherweise nur aus einem Exemplar besteht. In der häufig kreativen Bildsprache haben schwarze Küken und Schwäne wie weiße Raben ihren festen Platz. Die Welt wird von den Rhetorikern gerettet! Bis vor kurzem sagte man von einem Sizilianer, der nicht eifersüchtig war, er wäre in Wirklichkeit ein Normanne, selbst wenn er dunkelhäutig und schwarzhaarig ist.
17 Trupia
Zusammenfassung Die Untersuchung geht von einer scheinbar einfachen Frage aus: kann das Medium die Botschaft erschöpfend weitertragen? Von einigen Begründern einer wissenschaftlichen Ausrichtung wie McLuhan wird hierzu eine positive Anwort gegeben, die von ihren Schülern als absolute Wahrheit betrachtet wird. In den vorangegangenen Seiten habe ich behauptet, daß die Mitteilungstätigkeit dem Semantisierungsprozeß gleichkommt, also der Erzeugung von Sinninhalten entspricht. Sinninhalte, die manchmal das Wahre auf die Seite drängen, aber ihm bisweilen auch untergeordnet sind. Die sinnvollen Propositionen sind manchmal wahr, die wahren sind manchmal sinnvoll. Daß das Wahre und das Sinnvolle übereinstimmen, kann - muß aber nicht - vorkommen. Es ergibt sich im kreativen Akt, in der Kunst, in einer ganz besonders wesentlichen wissenschaftlichen Erkenntnis. Wir haben es dann mit einem Höhepunkt, möglicherweise dem Höhepunkt der Kommunikation dank der sich dabei ergebenden Ballung von Sinninhalten zu tun. Beim semantischen Vorgehen muß man zu zweit sein; geht es doch im Diskurs um eine Zusammenarbeit. Eine Art Stilfeinheit und diskursive Strategie ist es dann, dem Zuhörer oder Leser oder Zuschauer - mit einem Wort: dem Gesprächspartner - die Möglichkeit zu geben, durch die Auslegung zur Schaffung des Sinninhaltes beizutragen. Das ist das Phänomen der auslegenden Mitarbeit. Bei einer gründlichen Untersuchung der normalen, strategischen und taktischen Vielfalt der Kommunikation stellt man fest, daß sich diese Vielfalt auf eine einheitliche Struktur zurückführen läßt. Man kann also die Kommunikation in einem Modell zusammenfassen. In einem Modell darstellbar ist allerdings nicht nur das wissenschaftliche Objekt, sondern jede formale Struktur mit syntaktisch-semantischen Regelmäßigkeiten. Also auch die als mitteilende Handlung verstandene Kommunikation. Sie ist nicht ganz objektivierbar, weil sie nicht - wie das Kristall - nur Gesetzmäßigkeiten gehorcht. Ist doch die Kommunikation in der Tat kein Gegenstand, sondern ein Vorgang. Ich habe einige allgemeine Merkmale des Kommunikationsvorganges untersucht. Dieser wird im Modell vom Prinzip der Relevanz geprägt und im TarskiWahrheitsmodell verankert (Wahrheit als Bezug in einer Metasprache). Das semantische Universum - das einen umfassenden Hintergrund für den Kommunikationsvorgang abgibt - ist eine Bühne, auf der die Personen im Hinblick auf die Schaffung von Sinninhalten interagieren, die vom Wahren zum Sinnvollen gehen. Es handelt sich dabei um Sinninhalte, die sich nur mit Bezug auf die Vorstel-
Zusammenfassung
259
lungen und die „Ziele" der am Kommunikationsvorgang teilnehmenden Subjekte ergeben. Der Semantik wird also immer auch die Rolle der Herausforderung zugewiesen. die darin liegt, jeder Kommunikation einen Sinn zu geben. Das Sinnhafte läßt sich in sieben Typen einordnen. Es ist gut, dies zu wissen, um Konflikte über den Sinn der Dinge zu vermeiden; und zwar insofern, als sich normalerweise die Sinnhaftigkeit im Hinblick auf die Vorstellungen, Zu- und Abneigungen des Gesprächspartners herausbildet. So ist das Sinnhafte jeweils „gesprächspartnerbezogen": wenn es von einem anderen geschaffen wurde, muß man es sich erst einmal aneignen, um es übernehmen zu können. Die Kommunikation weist normalerweise Fallen auf und ist von Natur aus mehr Erzählung als Bericht. Hieraus ergibt sich die Wichtigkeit ihres - mittlerweile anerkannten - „dramatisch-theatralischen" Charakters. Hieraus ergibt sich auch die Bedeutung der „Erfahrungswerte" in der Kommunikation. Diese Bedeutung verdrängt die kognitiven und regulierenden Erkenntnisse der analytischen Philosophie (als englischer Reinkarnation des Neopositivismus) und legt hingegen den größten Wert auf die rhetorischen, expressiven und verhandelnden Aspekte. Sie führen die Voraussetzung und den Untertext in den Diskurs ein: und zwar das, was nicht gesagt, nicht dargestellt wird, von dem man nur einige Spuren antrifft, die der Angesprochene trotzdem erkennt, auslegt, übernimmt und in Sinninhalte umsetzt. Hieraus ergibt sich auch die Bedeutung der Symbole als semantischen Schöpfungen, die eine Herausforderung an das rational begründete Postulat der Rückführung des Gesagten auf eine Syntax, also auf eine rein logische Form darstellen. Es läßt sich dabei feststellen, daß der Diskurs sich niemals ganz von der aussagenden Person loslöst. Die Analyse der zum Diskurs führenden Voraussetzungen bringt uns dazu, hinter den Worten das kommunikative Vorhaben des Sprechenden, seinen intentionalen Akt, seine Scheu oder Aggressivität gegenüber dem Zuhörenden herauszufiltern. Die Voraussetzungen für einen „angebracht-gelungenen" („felicious") Diskurs, die sich neben die Bedingungen für den Diskurs als solchen stellen, werden dann verwirklicht, wenn der Sprechende den Kommunikationsinhalt mit seinem intentionalen Akt und mit seiner Stellung in Einklang bringt. „Die Sitzung ist aufgehoben" ist eine „gelungene" Aussage, wenn der Vorsitzer sie ausspricht, jedoch nicht, wenn sie vom Angeklagten kommt. Wir betreten somit das breite Feld der „Sprechakte". Die Sprache ist „Aktion", sofern das Gesagte nicht aus „leeren Phrasen" besteht; wenn man sich dessen bewußt ist, was man sagt, und wenn das Gesagte auf den Sprechenden, den Zuhörenden und die Situation abgestimmt ist. Die Wahrheit ist hingegen „unnötig", wenn sie im rein logischen Sinn und nicht als Handlung einer Person verstanden wird, die für ihr Kommunikationsvorhaben die Aufmerksamkeit von einem Zuhörer oder mehreren Zuhörern wecken will. 17*
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Zusammenfassung
Die Verbindungen zwischen diesen Aspekten läßt das Gesagte naturgemäß komplex und die kommunikative Handlung noch viel komplexer werden. In dieser so verworrenen Situation kommt die Hermeneutik zu Hilfe, die das Gesagte als einen Hinweis auf die Existenz einer dahinterliegenden lebendigen Welt betrachtet. Sprechen, interpretieren, interagieren im Zusammenhang mit der Produktion des Sinnhaften - dies sind alles menschliche Verhaltensmomente oder -versuche, um das „Ding" als Diskursinhalt und als Bezug in das Bewußtsein zu rufen. Damit wird auch die Husserlsche Problematik der Phänomenologie als „Analyse der Erfahrung" und als Untersuchung des geheimnisvollen Auftauchens des „Dings" auf dem Bildschirm der Wahrnehmung aufgeworfen. Das Ding entzieht sich allerdings stets der vollen Wahrnehmung. Es entspricht niemals ganz seiner Beschreibung. Immer wenn man ein Ding sich und den anderen sachgerecht zum Bewußtsein bringt, wird man kreativ. Die Kreativität ist also nicht die Produktion von seltsamen Gegenständen, sondern das Abrufen von Dingen, das Zerreißen von Schleiern, der Blick „darüber hinaus". Die Kreativität hat kognitive und phänomenologischtranszendentale Züge. Es darf allerdings nicht vergessen werden, daß „die wahre Erfahrung anderswo zu sein scheint: nicht in einer [theoretischen] Synthese, sondern in der Gegenüberstellung der Menschen, im gesellschaftlichen Zusammenleben, in der moralischen Bedeutung ... die Philosophie ist zunächst Ethik" 1 . Zum Abschluß eine Frage: nützt die Kunst der Kommunikation dem Manager, dem Verwalter, dem Unternehmer? Die Antwort ist positiv, wenn man sich bewußt ist, daß die vielschichtige Wirklichkeit nicht in einem stets und notwendigerweise unzureichenden und verspäteten Speziai wissen eingefangen werden kann. Wenn dann die Wahrnehmung an die Erfahrung, das Verhalten, die Denkfähigkeit, die Motivation an das Handeln anderer anknüpft - also im eigentlichen Sinne zu einem Lernprozeß wird, dann bekommt die Analyse der Kommunikation, die Kenntnis ihrer Geheimnisse und Beherrschung ihres Aufbaus den Charakter einer Spezialwissenschaft, die ein Eigenleben gegenüber allen anderen wissenschaftlichen Bereichen führt.
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