Mittlerfunktion der Präjudizien: Eine rechtsvergleichende Studie [Reprint 2010 ed.] 9783110874976, 9783110105858


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German Pages 164 Year 1986

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Table of contents :
Abkürzungsverzeichnis
Einleitung: Tendenzen des Ausgleichs
Hauptteil: Bedeutung der Präjudizien in Deutschland und im anglo-amerikanischen Rechtskreis
A Präjudizien im Bereich abstrakter Normen
I Normen als Ausgangspunkt der Rechtsanwendung
II Blickwechsel zu den Präjudizien
III Präjudizien in der Diskussion
B Präjudizien im anglo-amerikanischen Rechtskreis
I Case Law als Ausgangspunkt
II Hinwendung zum Statute Law
III Präjudizien in der Diskussion
C Begegnung der Rechtskreise in den Präjudizien
I Deduktion und Induktion als unterschiedliche Ausgangspunkte
II Schnittfläche beider Rechtskreise
III Gewinn für die Rechtsanwendung
Schrifttumsverzeichnis
Sachregister
Recommend Papers

Mittlerfunktion der Präjudizien: Eine rechtsvergleichende Studie [Reprint 2010 ed.]
 9783110874976, 9783110105858

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Ellen Schlüchter Mittlerfunktion der Präjudizien

Mittlerfunktion der Präjudizien Eine rechtsvergleichende Studie

von Dr. Ellen Schlüchter Professorin an der Universität Köln

W DE

G 1986

Walter de Gruyter · Berlin · New York

CIP-Kurztitelaufnahme der Detitschen Bibliothek Schlächter, Ellen: Mittlerfunktion der Präjudizien, Eine rechtsvergleichende Studie / von Ellen Schlüchter. - Berlin ; New York : de Gruyter, 1986 ISBN 3 110105853

Copyright 1986 by Walter de Gruyter & Co., Berlin 30. AJle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Printed in Germany. Satz: TypoData Fotosatz GmbH, 7850 Lörrach 3 Druck: Hildebrand, Berlin 65 Bindearbeiten: Verlagsbuchbinderei Dieter Mikolai, Berlin 10

Vorwort Je weniger sich Rechtsanwendung auf einen logischen Subsumtionsprozeß beschränkt, desto mehr wird der Richter als Rechtsschöpfer gefordert. In gleichem Maße droht sich freilich die Rechtssicherheit zu verringern. Gleichwohl muß darunter die Vorhersehbarkeit des Rechts nicht unerträglich leiden. Den Weg weist Arthur Kaufmann in seiner vielbeachteten und im Jahre 1982 schon in 2. Auflage erschienenen Monographie zur »Analogie und Natur der Sache«. Verdienstlich ruft er dazu auf, die Deduktion mit der Induktion zu verbinden. Wie recht er damit hat, zeigt die sich andeutende Annäherung des anglo-amerikanischen Case Law an das kodifizierte Recht Kontinentaleuropas. So wünscht man vor allem in England, von der deduktiven Methode Kontinentaleuropas zu lernen. Umgekehrt führt in Deutschland die Deduktion allein nicht zu dem erstrebten Erfolg. Es gilt vielmehr, die Nachteile der isolierten Induktion bzw. Deduktion zu vermeiden und die Vorzüge beider Methoden in ihrem Zusammenspiel zu stärken. Zu begrüßen ist deshalb das Forschungsprojekt mit dem Anliegen, Übereinstimmungen in der historischen Entwicklung beider Rechtskreise herauszuarbeiten. Erfreulichen Auftakt bildet der soeben von Coing/Nörr herausgegebene Band l der Vergleichenden Untersuchungen zur kontinentaleuropäischen und anglo-amerikanischen Rechtsgeschichte. Unabhängig von jenem Forschungsvorhaben steht diese Schrift. Sie wendet sich zwar auch der historischen Entwicklung des Case Law zu. Vornehmlich geht es jedoch um die Annäherung der beiden Rechtskreise in der Gegenwart. Vor Augen treten soll das Präjudiz als Mittler nicht nur zwischen zwei Methoden, sondern auch zwischen zwei Rechtskreisen. Diese Mittlerfunktion wird sich allerdings nur bei entsprechender Bereitschaft der Praxis verwirklichen lassen. Ohnehin verbindet sie Deduktion mit der Arbeit am Fall. Daher ist zu hoffen, daß die induktiven Vorzüge des anglo-amerikanischen Case Law für die deutsche Rechtswirklichkeit gewonnen werden können. Gerade die Beschäftigung mit Vorentscheidungen läßt nämlich deutlich werden, wie angewiesen die Wissenschaft auf die Praxis ist. Ohne die Praxis bleibt sie ein Gehirn ohne ausführende Organe. Da-

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gegen mag man die Praxis als gleichsam autark sehen. Sie verfügt über beides, nämlich über Geist und Hände. Trotzdem wäre es für sie verhängnisvoll, nur sich selbst genügen zu wollen. Sind es doch nicht selten Impulse aus der Wissenschaft gewesen, die eine inzwischen gefestigte und anerkannte Rechtsprechung ausgelöst haben. Herzlich danken möchte ich Fräulein cand. jur. Andrea Nicolai, Herrn cand. jur. Georg Hartmann, Herrn Assessor Dr. Thomas Muschallik und Herrn Referendar Dietmar Reiprich. Sie haben teils geradezu aufopfernd mitgeholfen, bis zum Stand von Juli 1985 — ausnahmsweise auch darüber hinaus — Rechtsprechung und Schrifttum auszuwerten. Mein Dank gilt schließlich Herrn cand. jur. Harald Schnell, der die Zeichnungen auf den Seiten 104 -106 gefertigt hat, Köln, im Oktober 1985

Inhaltsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis Einleitung: Tendenzen des Ausgleichs Hauptteil: Bedeutung der Präjudizien in Deutschland und im anglo-amerikanischen Rechtskreis

5

A Präjudizien im Bereich abstrakter Normen

5

I

Normen als Ausgangspunkt der Rechtsanwendung /. Grundlagen 2. Wege zur Rationalisierung a) Klassische Auslegungsmethoden aa) Allgemeines bb) Zirkularität und Rechtsgut im Strafrecht cc) Wortbedeutung als Grenze b) Bisherige Lösungen aa) Formale und systematische Ansätze aal) Allgemeines aa2) Systematische Ansätze aa3) Argumentationstheorien bb) Materielle Aspekte bbl) »Natur der Sache« und Typus bb2) Wertungen bb3) Ethik und Vernunft cc) Gewinn aus der Diskussion c) Grenzen der Rationalisierung 3. Konsequenzen Zusammenfassung

l

5 5 6 6 6 7 8 10 10 10 10 11 12 12 15 16 17 18 21 22

II Blickwechsel zu den Präjudizien Zusammenfassung

22 24

III Präjudizien in der Diskussion /. Positiv-rechtliche Sonderregeln a) Auswahlgesichtspunkte b) Zur Bindung an Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts aa) Rechtsnatur bb) Adressaten cc) Gegenstand c) Angestrebte Vereinheitlichung der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und der Oberlandesgerichte aa) Rechtsnatur bb) Adressaten cc) Gegenstand ccl) Rechtsfrage cc2) Identität cc3) Entscheidungserheblichkeit

24 24 24 25 25 28 29 37 37 40 41 41 41 42

VIII 2. Dogmatische Aspekte a) Rechtsnatur b) Adressatenkreis c) Gegenstand 3. Präjudizien in der Rechtswirklichkeit a) Charakter der Präjudizienwirkung b) Adressaten c) Gegenstand aa) Allgemeines bb) Zur Praxis in den Vorlageverfahren cc) Über Präjudizien als Grundlage späterer Entscheidungen Zusammenfassung Zwischenergebnis B Präjudizien im anglo-amerikanischen Rechtskreis I

Case Law als Ausgangspunkt 7. Standort a) Reichweite b) Case Law und Civil Law c) Verhältnis zur Equity und zum Statute Law 2. Entstehung a) Königsgerichte als Entscheidungsträger b) Writs als Klageberechtigung c) Case Law als Recht der Königsgerichte 3. Tendenz zur Equity a) Mangelnde Flexibilität des Case Law b) Unterschied zwischen Case Law und Equity c) Eingeebnete Divergenzen Zusammenfassung

43 43 45 45 47 47 50 51 51 51 53 56 56 58 58 58 58 58 59 60 60 61 62 63 63 63 64 65

II Hinwendung zum Statute Law 1. Gründe 2. Auslegung a) »Mischief-rule« b) »Literal-rule« und »Golden-rule« c) Auslegung und »Rule of Law« 3. Verhältnis zum Case Law a) Precedents als Extension des Statute Law b) Precedents und Gesetzestechnik c) Wortbedeutung und Konkretisierung Zusammenfassung

65 65 66 66 66 69 70 70 70 71 71

III Präjudizien in der Diskussion /. Rechtsnatur und Adressatenkreis: Grundsatz des stare decisis a) Grundlagen b) Fremdbindung aa) Präjudizienpyramide in England

71 71 71 72 72

IX bb) Hierarchie der Präjudizien in den Vereinigten Staaten cc) Overruling ccl) Gesetzesähnliche Bindung als Ausgangspunkt cc2) Ausnahmen cc3) Besonderheiten im Criminal Law c) Selbstbindung aa) Blick auf die Entwicklung in England bb) Zur Sichtweise in den Vereinigten Staaten cc) Overruling und Prospective Overruling 2. Gegenstand der Bindung: Ratio decidendi a) Stellung im Precedent aa) Blick auf den Sachverhalt bb) Vergleich mit dem Streitgegenstand cc) Gewicht der Rechtsausführungen ccl) Ratio decidendi als Bezugspunkt der Bindung cc2) Frage des Austauschs der ratio decidendi b) Ratio decidendi und obiter dictum aa) Möglicher Maßstab und Standpunkt bb) Wambaugh's Test cc) Resignation in der Abgrenzung c) Verhältnis zu »rule« und »principle« aa) Frage der Gleichsetzung in England bb) Unterscheidung von »rule« und »principle« in den Vereinigten Staaten cc) Praktische Relevanz 3. Bindungskraft: Distinguishing a) Grundlagen b) Vorgehen aa) Allgemeines bb) Abgrenzung zum Overruling cc) Frage der Erfolgsqualifikation als Beispiel c) Besonderheiten im Statute Law Zusammenfassung Zwischenergebnis C Begegnung der Rechtskreise in den Präjudizien I

Deduktion und Induktion als unterschiedliche Ausgangspunkte Zusammenfassung II Schnittfläche beider Rechtskreise L Norm und ratio decidendi im Bezugsfeld von Intension und Extension 2. Verbliebene Unterschiede a) Übergewicht der ratio decidendi im anglo-amerikanischen Rechtskreis b) Herrschaft der Norm in Deutschland c) Erstrebter Ausgleich 3. Präjudizienwirkung

73 75 75 76 76 77 77 81 82 83 83 83 84 85 85 86 87 87 88 89 89 89 91 93 94 94 95 95 96 97 99 100 102 103 103 104 104 104 108 108 109 110 111

a) Gegenstand aa) Präjudizien als Richterrecht aal) Begriff des Richterrechts aa2) Berechtigung aa3) Rechtsnatur bb) Präjudiz, und ratio decidendi cc) Verhältnis zum Streitgegenstand b) Subjektive Reichweite c) Weg zur Prognose Zusammenfassung

Ill 111 111 112 113 116 117 118 120 122

III Gewinn für die Rechtsanwendung /. Ratio decidendi und Typus 2. Grenze zwischen Auslegung und Analogie 3. Umsetzung in die Recbtswirklichkeit

122 122 126 129

Übersicht I

131

Übersicht II Zusammenfassung

133 134

Zwischenergebnis

134

Schluß: Chance zur wechselseitigen Harmonie und zur Gerechtigkeit

135

Schrifttumsverzeichnis

136

Sachregister

147

Abkürzungsverzeichnis a.A. Abs. A.C. AcP All E.R. Anm. AP A R SP Art. Aufl. b. BAG BayObLG

anderer Auffassung Absatz Law Reports, Appeal Cases, House of Lords or Privy Council Archiv für civilistische Praxis All England Law Reports Anmerkung Arbeitsrechtliche Praxis - Nachschlagewerk des Bundesarbeitsgericht Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Artikel Auflage bei Bundesarbeitsgericht Bayerisches Oberstes Landesgericht

Bd.

Band

BGB BGH BGHSt BGHZ BK BVerfGE BVerfGG bzw. Cod. Just. D d.h. DRiG DVB1

Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen Entscheidungen des Bundesgerichtshof in Zivilsachen Bonner Kommentar, Kommentar zum Bonner Grundgesetz, Hamburg ab 1950, Stand: Oktober 1984 Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bundesverfassungsgerichtsgesetz beziehungsweise Codex Justinianus Digesten das heißt Deutsches Richtergesetz Deutsches Verwaltungsblatt

E EGGVG ff. Fn FS GA GG GVG h.L. h.M. Hrsg. JR JuS JZ

Entscheidung Einführungsgesetz zum Gerichtsverfassungsgesetz fortfolgende Fußnote Festschrift für Goltdammers Archiv Bonner Grundgesetz Gerichtsverfassungsgesetz herrschende Lehre herrschende Meinung Herausgeber Juristische Rundschau Juristische Schulung Juristenzeitung

XII K.B. KK

KMR

L.Ed. LK LR lt. m. MDR MSchrKrim m.N. m.w.N. n.F. o. N.F. NJW Nr. N.S. o. oder O. OGH OLG OWiG Q.B. Rn SJ2 SK

SS

StGB StPO u. u.a. U.S.L.Ed. v. Verf. vgl. vol. ZPO ZStW

King's Bench Division, Law Reports Karlsruher Kommentar, Kommentar zur Strafprozeßordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz, herausgegeben von Gerd Pfeiffer, München 1982 Kleinknecht/Müller/Reitberger, Strafprozeßordnung. Loseblattkommentar herausgegeben von Hermann Müller, Walter Sax, Rainer Paulus, 7. Aufl., Darmstadt, Stand: 1981 Lawyer's Edition Leipziger Kommentar, Strafgesetzbuch, Kommentar, 10. Aufl., Berlin — New York seit 1978 Löwe — Rosenberg, Die Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, Sachkommentar, 23. Aufl., Band 5, Berlin — New York 1979 laut mit Monatsschrift für Deutsches Recht Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform mit Nachweisen mit weiteren Nachweisen neue Folge Neue Juristische Wochenschrift Nummer new series oben Oberster Gerichtshof Oberlandesgericht Ordnungswidrigkeitengesetz Queen's Bench Randnote Süddeutsche Juristenzeitung Systematischer Kommentar, Strafgesetzbuch. Loseblattkommentar, bearbeitet von Hans-Joachim Rudolphi; Eckband Hörn, Erich Samson, 3. Aufl., Frankfurt am Main, Allgemeiner Teil, Stand: September 1984; Besonderer Teil, Stand: April 1984 Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, bearbeitet von Theodor Lenckner, Peter Cramer, Albin Eser, Walter Stree, 21. Aufl., München 1982 Strafgesetzbuch Strafprozeßordnung unten unter anderem United States Supreme Court, Lawyer's Edition versus oder von Verfasserin vergleiche volume Zivilprozeßordnung Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft

Einleitung: Tendenzen des Ausgleichs Als »zwei grundverschiedene Rechtsgebiete« haben sich noch für Radbruch1 einerseits das angelsächsische und andererseits das kontinental-europäische und damit auch das deutsche Recht dargestellt. Das kodifizierte deutsche Recht soll nämlich deduktiv angewendet, das englische Case Law dagegen induktiv gefunden werden.2 Mit den Kriterien von Deduktion und Induktion läßt sich aber heute das englische oder auch das amerikanische vom deutschen Recht nicht mehr zufriedenstellend unterscheiden. In Amerika schon seit langem und jetzt auch in England wächst das Statute Law. Dies gilt nicht mehr nur für Bereiche stürmischer wirtschaftlicher oder internationaler Entwicklungen, sondern ebenfalls für das Strafrecht. Es insgesamt zu kodifizieren, strebt man in England schon seit Jahrzehnten an.3 Und auf immer weiteren Gebieten des Strafrechts wird das Gesetzesvorhaben verwirklicht.4 Diesem Trend im anglo-amerikanischen Rechtskreis vom Gase Law hin zum Statute Law scheint in Deutschland eine umgekehrte Bewegung gegenüberzustehen. Damit soll freilich dem Gesetzgeber nicht mangelnder quantitativer Fleiß vorgeworfen werden.5 Vielmehr geht es um die immer größere Aufmerksamkeit, die das Richterrecht findet.' Diese Strömung nimmt zu, je weniger man den

Der Geist des englischen Rechts, 4. Aufl., 1958, 7 Vgl. etwa Radbruch (o. Fn 1), 8 Vgl. insgesamt zu den beabsichtigten Reformen Gardiner/Martin (Hrsg.), Law Reform Now, 1963, dort (227 ff.) Rolph zum Criminal Law; dazu auch Bottoms, Neuere Reformen im englischen Strafrecht, JZ 1970, 477 ff. Außer den schon von Bottoms (o. Fn 3) angesprochenen Kodifikationen (seinerzeit auch schon der Eigentumsdelikte) sind neuerdings durch statutes etwa geregelt worden: die Strafbarkeit des Versuchs und Unternehmens (durch Criminal Attemps Act 1981), das Fehlverhalten gegenüber dem Gericht (durch Contempt of Court Act 1981) wie auch die Behandlung junger Straftäter (durch Criminal Justice Act 1982) Eine solche Aussage würde schon durch einen Blick in die Bundesgesetzblätter der letzten Jahre widerlegt Aufschlußreich neuerdings etwa Bydlinski, Hauptpositionen zum Richterrecht, JZ 1985, 149 ff. mit umfangreichen Nachweisen. Informativ untersucht Rolinski, inwiefern »Ersetzt Common Law partiell kodifiziertes Recht?«, so der Titel seines Beitrags in FS Klug, 1983, 143 ff.

Richter als den Mund des Gesetzes betrachtet.7 Eher zeigt sich die Bindung des Richters an das Gesetz »zur Herrschaft der Gesetzeshandhabung«* gewandelt. Eine solche Sichtweise mag im Blick auf das strafrechtliche Bestimmtheitsgebot und Analogieverbot (Art. 103 Abs. 2 GG, §1 StGB) erschrecken. Doch ist wenig gewonnen, indem man Richterbindung heuchelt. Die Tatsache rechtsschöpferischer richterlicher Tätigkeit wird nicht beseitigt,9 sondern bleibt nur in ihren Bestimmungsfaktoren undurchsichtig.1C Hiergegen ist vorzugehen, nicht etwa gegen die rechtsfortbildende Funktion der (höchstrichterlichen) Rechtsprechung. Diese findet sich gesetzlich festgeschrieben (vgl. §137 GVG). Nur scheint man sich über die Grenzen der richterlichen Befugnis nicht klar zu sein. Erinnert sei nur an die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Sozialplanabfindung im Konkurs" oder an die vom Großen Strafsenat des Bundesgerichtshofs ausgesprochene vielkritisierte »Rechtsfolgenlösung«, durch die in Grenzfällen die lebenslange Freiheitsstrafe des § 211 StGB mit Hilfe des § 49 Abs. l Nr. l StGB »abgelöst« worden ist.12 Die Kollision mit dem Gewaltenteilungsprinzip (vgl. Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG) liegt auf der Hand. Hiermit hat man sich allerdings im Straf recht nur selten auseinanderzusetzen. Daher sei weniger der Frage nachgegangen, ob auch Rechtsfortbildung noch Rechtsanwendung sein muß. Im Mittelpunkt stehen soll vielmehr die Rechtsanwendung selbst. Die Auslegung von Normen soll interessieren. Selbst hier läßt sich aber die rechtsschöpferische Komponente nicht 7

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Zum Richter als »La Bouche qui prononce les paroles de la loi«: Montesquieu, De l'esprit des lois, XI.Buch, 6. Kapitel Weimar, Von der Gesetzesanwendung zur Rechtsfortschreibung — Hermeneutik und Strukturtheorie des Rechts, ARSP 1984, Beiheft Nr. 20 (N. F.), 155, 163 Zutreffend Hassemer, Rechtssystem und Kodifikation: Die Bindung des Richters an das Gesetz, in: Arth. Kaufmann/Hassemer (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 4. Aufl., 1985, 193, 204 Instruktiv hierzu das Material bei Ruthen, Die unbegrenzte Auslegung. Zum Wandel der Privatrechtsordnung im Nationalsozialismus, 1968, 457 ff., passim NJW 1984, 475. Dazu etwa Bauer/Moench, Sozialplanabfindungen im Konkurs, NJW 1984, 468 Vgl. BGHSt 30, 121 und dazu die bei Dreher/ Tröndle, StGB, 42. Aufl., 1985, § 211 Rn 17 genannten umfangreichen Nachweise

leugnen. So ist vor allem im Strafrecht, dort im Blick auf Art. 103 Abs. 2 GG, § l StGB, die Grenze zur Analogie erheblich.13 Um sie zu finden, seien die Ergebnisse richterlicher Tätigkeit betrachtet. Einmal geht es darum, inwiefern sie sich noch im Rahmen der Auslegung bewegen. Sie bilden damit zum einen gleichsam den Gegenstand der Betrachtung. Zum anderen interessieren sie als Hilfsmittel bei der Rechtsanwendung. Hierzu gibt freilich die Diskussion um das Richterrecht' nur teilweise Aufschluß. Steht doch der Streit um die Rechtsnatur im Vordergrund. Wie Präjudizien dagegen für die Entscheidungsfindung genutzt werden können, wird weniger diskutiert. Dabei haben schon Esser** und Kriele}> verdienstlich die reichen Erfahrungen mit precedents im anglo-amerikanischen Case Law angesprochen. Hieraus gilt es zu lernen, wie man auch vor allem in England gegenwärtig bestrebt ist, die kontinental-europäische Kodifikationstechnik aufzunehmen."1 So könnten die Präjudizien eine sich ständig vergrößernde Schnittfläche bilden, auf der sich zwei Rechtskreise begegnen.lsb Dazu soll zunächst — gleichsam stellvertretend — der Rechtszustand in Deutschland betrachtet werden. Es zeigt sich (im Hauptteil unter A I) die Bedeutung der Normen als Ausgangspunkt der Rechtsanwendung. Von hier aus wendet sich das Interesse (unter A II) dem Bezug der Normen zu. Er findet sich in allen konkreten Einzelfällen, die sich der Norm (ihrer Bedeutung nach) zuordnen lassen. Hierzu gehören auch die einschlägigen Präjudizien. Schaut man auf ihre Wirksamkeit in Deutschland (dazu AIII), deuten sich gewisse Linien an. Diese in ihrem Verlauf überprüfen und gegebenenfalls nachzeichnen oder korrigieren zu können, ist der Grund, warum (unter B) die 13

Begrüßenswert die neuerdings zu Art. 103 Abs. 2 GG erschienenen Studien Kreys (Keine Strafe ohne Gesetz. Einführung in die Dogmengeschichte des Satzes »nullum crimen nulla poena sine lege«, 1983) und Schünemanns (Nulla poena sine lege?, 1978); verdienstlich auch Rolinski (o.Fn 6) zu den Grenzen für das Richterrecht 14 In seinem umfassenden Werk: Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 3. Aufl., Tübingen 1974 ts In seiner grundlegenden »Theorie der Rechtsgewinnung, entwickelt am Problem der Verfassungsinterpretation«, 2. Aufl., 1976 I5a Dazu Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung auf dem Gebiete des Privatrechts, Bd. I: Grundlagen, 2. Aufl., 1984, 314 »» Vgl. auch Zweigert/Kötz (o. Fn 15a), 314

precedents des anglo-amerikanischen Rechtskreises interessieren. Nach den Anfängen im Case Law (dazu B I) ist eine Hinwendung zum Statute Law (vgl. B II) festzustellen. Sie läßt Anklänge an das kodifizierte Recht in Kontinental-Europa vermuten. Deshalb erscheint die anglo-amerikanische Diskussion über die Präjudizien als aufschlußreich (dazu B III). Schon die bisherige eher isolierte Sicht auf beide Rechtskreise zeigt (unter C) deren Begegnung in den Präjudizien. Mögen auch die Ausgangspunkte unterschiedlich sein (dazu C I), läßt sich doch aus der (unter C II erörterten) Schnittfläche beider Rechtskreise (unter C III) ein Gewinn für die Rechtsanwendung in Deutschland erzielen. Zu erhoffen ist eine Chance für die Gerechtigkeit (dazu im Schluß).

Hauptteil: Bedeutung der Präjudizien in Deutschland und im anglo-amerikanischen Rechtskreis A Präjudizien im Bereich abstrakter Normen I Normen als Ausgangspunkt der Rechtsanwendung 1. Grundlagen An die Präjudizien als Entscheidungshilfe ist deshalb zu denken, weil das Vertrauen in klare Vorgaben durch das Gesetz deutlich nachgelassen hat. Überwiegt doch gegenwärtig die Skepsis gegen die Kraft der Normen151 das Interesse am Syllogismus.1* Soll dessen Leistungsfähigkeit erprobt werden, so hat die Auslegung noch immer am Text der Normen einzusetzen. Diesen zerlegt man in einzelne Tatbestandsmerkmale. Obwohl sie als Hilfsmittel dienen sollen, können ihnen Ausschnitte aus dem Sachverhalt des konkreten Falles nicht ohne weiteres zugeordnet werden. Soll dies gelingen, hat man zuvor die rechtlich relevanten Teile des komplexen Geschehens herauszustellen. Es geht darum, den Sachverhalt mit seinen Ausschnitten so zu beschreiben, daß er sich dem Tatbestand mit seinen Merkmalen zuordnen läßt.17 Welche Beschreibung aber in diesem Sinne »subsumtionsgerecht« ist, vermag man allein im Blick auf den Sachverhalt nicht zu entscheiden. Vielmehr muß schon zur tauglichen Sachverhaltsbeschreibung, mithin für den Untersatz, die Norm als Obersatz herangezogen werden. Nur so läßt sich nämlich sagen, ob die Sachverhaltsbeschreibung (als Untersatz) einen Bezug der Norm '* Vgl. Hassemer (o. Fn 9), 193 ff. " Allerdings haben Koch/Rüßmann (Juristische Begründungslehre, 1982) ein »deduktives Begründungsmodell« vorgestellt, mit dem sie (1) vor allem beantworten wollen, »was gute Gründe für juristische Entscheidungen sein könnten«. Auch Pawlowski (Methodenlehre für Juristen, 1981) befürwortet (Rn 650) für das Strafrecht »eine strikte Bindung an die formale >Tatbestandsbeschreibung< des Gesetzes« und sieht (Rn 672) durch das hier herrschende positivistische Gebot »den Rekurs auf die heute mögliche Rechtserkenntnis« als verstellt; allerdings bildet für ihn (Rn 344) die Normativität des Rechts nur die erste, nicht aber die einzige Voraussetzung für (materielle) Gerechtigkeit, während er für die zweite Stufe auf eine Gerechtigkeit in der Sache abstellt, vgl. dazu auch Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Bd. IV, Dogmatischer Teil, 1977, 190 17 Aufschlußreich zur Sachverhaltsbeschreibung Poälech, Die juristische Fachsprache und die Umgangssprache, in: Koch (Hrsg.) Juristische Methodenlehre und analytische Philosophie, 1976, 31, 38

(als Obersatz) bildet. Wechselnd hat man Ober- und Untersatz zu betrachten." Dennoch verbindet sich hiermit nicht notwendig Zirkularität." Zirkularität droht eher bei der Arbeit am Obersatz. Dieser wird regelmäßig weder im ganzen noch in seinen (Tatbestands-) Merkmalen eindeutig sein. Er ist also auszulegen.220 2, Wege zur Rationalisierung a) Klassische Auslegungsmethoden aa) Allgemeines Bei der grammatischen Auslegung geht es um die Bedeutung des Satzganzen und der einzelnen Sprachzeichen ( = Tatbestandsmerkmale). Stellt sich aber die Bedeutung der Sprachzeichen als ihr Begriff dar,21 so wird man den Begriff zu ermitteln suchen. Nur steht er nicht allein, sondern bezogen auf den Zusammenhang, in dem er sich findet.22 Deshalb sollte man allenfalls mit Vorsicht einen gleichsam allgemeingültigen »Begriffskern« festhalten und die Zweifel nur im »Begriffshof« ansiedeln.23 Vielmehr wird regelmäßig der Wortsinn ( = Bedeutung des im Gesetz verwendeten Tatbestandsmerkmals als Sprachzeichen) nicht punktuell ermittelt werden können, sondern nur einen (Begriffs-)Raum abstecken. 18

Treffend spricht Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, 3. Aufl., 1963, 15, von einem »Hin- und Herwandern des Blickes zwischen Obersatz und Lebenssachverhalt«; vgl. auch Arth. Kaufmann, Analogie und »Natur der Sache«. Zugleich ein Beitrag zur Lehre vom Typus, 2. Aufl., 1982, 70; Kriele (o. Fn 15), 205 Fn 41 " Vgl. insbesondere Engisch (o. Fn 18) 20 Zutreffend ablehnend gegen die Lehre eines Auslegungsverbotes bei Eindeutigkeit des Wortes Engisch, Einführung in das juristische Denken, 8. Aufl., 1983, 78 mit Fn 74 a 21 Zum Begriff als Bedeutung eines Sprachzeichens vgl. Weingartner, Wissenschaftstheorie , l, 1976, 113, 115 22 Treffend schon Müller-Erzbach, Jherings-Jahrbuch 61 (1912), 343 ff.; vgl. außerdem Bachof, Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, JZ 1962, 351, aber auch 356; Engisch, Die Einheit der Rechtsordnung, 1935, 44/45; Gadamer, Wahrheit und Methode, 2. Aufl., 1965, 250 ff.; 275 ff.; Heidegger, Sein und Zeit, 1953, 152; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl., 1983, 310 ff. passim 23 Grundlegend zu dieser Unterscheidung Heck, Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, AcP 112 (1914), l, 46, 173; dazu neuerdings Schünemann, Methodologische Prolegomena zur Rechtsfindung im Besonderen Teil des Strafrechts, FS Bockelmann, 1979, 117, 125

Um innerhalb dieses Raumes den für die Auslegung zutreffenden Punkt zu finden, kann — neben dem soeben angesprochenen grammatischen Vorgehen — auf eine oder mehrere weitere Methoden zurückgegriffen werden, etwa auf die logisch-systematische,24 historische und/oder auf die ideologische Methode.241 Gibt es aber mehrere Möglichkeiten vorzugehen, hat man nach einer »Meta-Regel« zu suchen. Selbst wenn man sie in der ideologischen Methode sehen wollte,25 hätte man damit die Unsicherheit noch nicht getilgt. Bildet doch der Normzweck keine absolute Größe, sondern hängt ab von dem jeweils typisierten Unrecht. Schon wieder sieht man sich verstrickt in eine wechselseitige Abhängigkeit. Sie ergibt sich aus den Bezügen zwischen dem Normzweck und dem sozialinadäquaten Verhalten, wie es sich in der jeweiligen Bestimmung abstrahiert findet. Einerseits sollte man diese Abstraktion anhand des Normzwecks interpretieren, andererseits kann man zu dem Normzweck nicht ohne Rücksicht auf eben diese Abstraktion gelangen. bb) Zirkularität und Rechtsgut im Strafrecht Diese Zirkularität mag man im Strafrecht deshalb als eine theoretische Spitzfindigkeit abtun, weil häufig Einigkeit über das jeweils verletzte Rechtsgut zu herrschen scheint. Die Einigkeit besteht aber nicht selten lediglich in der Terminologie. Sie verdeckt den zum Teil erheblichen Streit über das Verständnis der zu schützenden Rechtsgüter. Hier sei nur erinnert an die Schutzobjekte des Hausfriedens, der Ehre bzw. des Vermögens, wie sie in §§123, 185 ff. bzw. 263 StGB angesprochen werden. Was nämlich Hausfriede,24 Ehre27 bzw. Vermögen28 bedeuten, wird durchaus unterschiedlich beurteilt.29 Die24

Zur logisch-systematischen Methode vgl. etwa Engisch (o. Fn 20), 79 mit Fn 78; Kriele (o. Fn 15), 82 ff. «» Dazu etwa Larenz (o. Fn 22), 313 ff. 25 So etwa Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 3. Aufl., 1976, 329; German, Methodische Grundfragen, 1946, 109 24 Dazu etwa Dreher/Tröndle, StGB, 42. Aufl., 1985, § 123 Rn 1; SS/Lenckner, StGB, 21. Aufl., 1982, § 123 Rn 1/2 27 Zu den verschiedenen Ehrbegriffen vgl. SS/Lenckner (o. Fn 26) v. $§ 185 ff. Rn l 28 Zu den Vermögenslehren etwa SS/Cramer, StGB, 21. Aufl., 1982, § 263 Rn 79 ff. 29 Vgl. dazu auch schon Verf., Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale im Strafrecht, 1983, 11/12

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se Divergenzen lassen sich nicht überwinden, indem man die Teleologie (Finalität) letztlich als Kausalität begreift.30 Wollte man nämlich auf diese Weise die teleologische auf die historische Methode zurückführen, so würde man den sich wandelnden Sinn eines Gesetzes vernachlässigen.31 Was den Gesetzgeher unter den jetzigen veränderten Umständen zum Erlaß der interessierenden Norm bewegt hätte, erscheint aber müßig festzustellen. Hierdurch würde man weder eine größere Rechtssicherheit gewinnen, noch entspräche ein solches Vorgehen dem Anliegen der teleologischen Methode. So bleibt man für das Strafrecht befangen in einem Rechtsgutdenken, das zwar — teils recht erheblich — weiterzuhelfen und den Bedeutungsrahmen einzuengen vermag. Doch weist es nicht zwingend auf den innerhalb dieses eingegrenzten Raumes einzig richtigen Bedeutungspunkt. cc) Wortbedeutung als Grenze Ohnehin liegt dieses Ziel fern. Allenfalls kann man sich ihm nähern, indem man der juristischen Fachsprache32 die Umgangssprache als Metasprache gegenüberstellt.33 Binding** hat sich sogar auf den Standpunkt gestellt, das Recht gebrauche »seine eigene Sprache«, und es sei »nichts ... falscher als der oft ausgesprochene Satz: wenn die Bedeutung eines gesetzlichen Ausdrucks dunkel sei, müsse mit ihm der Sinn der Umgangssprache verbunden werden«. Auch neuerdings wird die Umgangssprache als wenig geeignet dazu angesehen,

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So Stegmüller, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und analytischen Philosophie, Bd. I, 1969, 531, 532/533

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Dies gilt auch dann, wenn man sich nicht gegen die »subjektive« für die »objektive« Auslegung entscheidet, sondern mit Larenz (o. Fn 22), 302 ff., 303 einer »Vereinigungstheorie« beipflichtet; vgl. dazu Koch/Rüßmann, (o. Fn 16), 178 ff. Die Frage, ob es sich um eine Fach- oder eine bloße Standessprache handelt, kann hier nicht behandelt werden, vgl. etwa Brinckmann, Juristische Fachsprache und Umgangssprache. Vorüberlegungen zu einer Formalisierung der Rechtsspracbe, Öffentliche Verwaltung und Datenverarbeitung 1972, 60 ff.; außerdem Ladnar/v. Plottnitz (Hrsg.), Fachsprache der Justiz, 1976 Vgl. dazu Schünemann (o. Fn 11), 19/20, sowie in: Die Gesetzesinterpretation im Schnittfeld von Sprachphilosophie, Staatsverfassung und juristischer Methodenlehre, FS Klug, 1984, 169, 178 ff. Handbuch des Strafrechts, 1885,463/464

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eine genügend scharfe Grenze zu ziehen.35 Hieran ist richtig, daß der juristische Begriff gegenüber dem natürlichen Wortsinn häufig schärfere Konturen aufweisen wird. Auch mag man bei juristischen wie auch bei Begriffen aus anderen Disziplinen (etwa der Naturwissenschaften) häufig vergeblich nach einem natürlichen Wortsinn suchen. Diese Erwägungen stören aber wenig, wenn man nicht mehr erwartet, als der Ansatz zu erbringen vermag. Es geht nämlich nicht darum, das richtige Ergebnis zu finden. Nur die äußersten Linien des Interpretationsraumes sollen sichtbar werden. Zwar leuchten diese nicht automatisch auf, sondern müssen gesucht werden. Und schon lassen sich unterschiedliche Auffassungen denken. Doch wird man eine absolute Sicherheit ohnehin regelmäßig vergeblich suchen. Bereits viel gewonnen ist mit der Möglichkeit, sich an feste Grenzen heranzutasten. Nicht selten wird dabei schon die Umgangssprache weiterhelfen. Dazu sollte der Rechtsanwender sich so genau wie möglich über die Wortbedeutung orientieren. Insofern ist eine Anleihe bei den Juristen des anglo-amerikanischen Rechtskreises durchaus angezeigt. Sie dürften Wörterbücher der Umgangssprache kaum weniger befragen als juristische Fachbücher/' Teilweise wird auch in Fachgebiete einzusteigen sein. So liegt es etwa, wenn Fachbegriffe aus einer anderen Disziplin (etwa der Naturwissenschaften) in Frage stehen. Dann ist nämlich der Sprachsinn in dem jeweils einschlägigen Gebiet zu erforschen. Läßt man in diesem Sinne die äußersten Linien der Wortbedeutung zugleich den Interpretationsrahmen bestimmen, so liegt hierin ein bedeutsamer Schritt. Dem Rechtsanwender treten nämlich die »Grenzen seiner Auslegungstätigkeit«37 vor Augen. Immerhin ist damit ein Einstieg in die Auslegungstätigkeit erreicht. Die Auslegung selbst kann sich hierin freilich nicht erschöpfen. Gilt es doch, in dem

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Beachtliche Argumente etwa bei Jakobs, Strafrecht. Allgemeiner Teil, 1983, 70/71; Schroth, Philosophische und Juristische Hermeneutik, in: Arth. Kaufmann/Hassemer (Hrsg.) Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 4. Aufl., 1985, 276, 294/295 Anschaulich hierzu Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Bd. II., Anglo-amerikanischer Rechtskreis, 1975, 125 Meier-Hayoz, Der Richter als Gesetzgeber, 1951, 42; vgl. hierzu auch schon Baumann, Die natürliche Wortbedeutung als Auslegungsgrenze im Strafrecht, MDR 1958, 394

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abgesteckten Bedeutungsraum den zutreffenden Punkt der Auslegung zu finden. Dazu hat man über die klassischen Auslegungsmethoden hinauszuschauen und wenigstens kurz die heute diskutierten Kriterien zu betrachten. b) Bisherige Lösungen aa) Formale und systematische Ansätze aal) Allgemeines Sieht man materielle dogmatische Begründungsversuche in Tautologie oder in einem unbegrenzten Rückgriff scheitern,371 so mag dies resignieren lassen. Allenfalls wird es dann noch gelingen, die Unrichtigkeit von Aussagen, nicht aber deren Richtigkeit zu ermitteln.J7b Teilweise bleibt aber dennoch ein begrüßenswertes Streben nach einem positiven Ergebnis spürbar. Es führt zu verschiedenen systematischen und argumentativen Ansätzen. aa2) Systematische Ansätze Systemdenken ist in der Jurisprudenz schon lange bekannt38 und doch aktuell wegen seiner zahlreichen bereichernden Aspekte39. Andererseits verhindert gerade die Vielfalt — auch der Streit um die

J7a

Zum »kritischen Rationalismus« vgl. Popper, Logik der Forschung, 7. Aufl., 1982, 221 ff., passim. Dazu auch Arth. Kaufmann, Beiträge zur juristischen Hermeneutik, 1984, 119 ff. 37b Ygj d-^ auch schon Radbruchs Stellungnahme zum »unrichtigen Recht«, in: Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, SJZ 1946, 105 ff. 38 Vgl. etwa v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. I, 1840 39 Es sei erlaubt, aus dem reichen Schrifttum nur eine Auswahl vorzustellen: Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Aufl., 1983; insbesondere zum Aspekt der Kriminalpolitik Roxin, Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, 2. Aufl., 1973; vgl. hierzu — unter Betonung der Reichhaltigkeit der Gesichtspunkte — Gössel, Strafrechtsgewinnung als dialektischer Prozeß, FS Peters, 1974, 41 ff., 47 ff., 53; im Blick auch auf die Geschichte Würtenberger, Die geistige Situation der deutschen Strafrechtswissenschaft, 2. Aufl., 1959, 13, 31; aufschlußreich auch Tiedemann, Stand und Tendenzen von Strafrechtswissenschaft und Kriminologie in der Bundesrepublik Deutschland, JZ 1980, 489 ff. sowie neuerdings Krat2sch, Verhaltenssteuerung und Organisation im Strafrecht (im Druck, 1. Teil, 4. Kapitel, 7)

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Aspekte40 — eine eindeutige Position. Interessant hierzu ist das Anliegen Jakobs*0* bei der Auslegung negative »Wertungswillkür« auszuschließen. Daneben stellt er mit der »Kontinuität der Begriffsentwicklung« sowie der »gleichrangigen Regelungsbedürftigkeit und ... Geeignetheit« systemorientierte positive Anforderungen. Er sieht allerdings selbst, daß sich hiermit nur »Extremfälle aussondern lassen«, dem Zweifel aber noch ein weites Feld eingeräumt bleibt. Nicht minder gilt dies für den anregend und scharfsinnig von Luhmann41 entwickelten Systemansatz. Wird doch die Auslegung nicht allein deshalb bestimmt genug, weil man auf das störungsfreie Funktionieren des Systems abhebt und die durch eben dieses System produzierte Anerkennung genügen läßt. aa3) Argumentationstheorien Zu den Argumentationsansätzen zu rechnen ist bereits Viehwegs42 Topik. Es geht ihm um Argumente, die der Lösung von Rechtsproblemen dienen und auf allgemeine Zustimmung rechnen können, also um juristische topoi. Selbst wenn man sie in einen Katalog fügt,43 ist mit der (in der Praxis geübten) topischen Vorgehensweise44 ein logischer Gedankengang noch nicht garantiert.4* Vor allem läßt sich nicht sagen, warum gerade dieser und nicht etwa (auch) jener Gesichtspunkt das richtige Ergebnis garantiert. So ist ein »idealer Diskurs« 46 gefordert worden: Ebenso objektive wie sachkundige und vernünftige Sprechpartner dürfen alle ihre Argumente vortragen, um auf diese Weise zu einem intersubjektiven 40

40a 41

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Vgl. einerseits Roxin (o. Fn 39); andererseits Amelung, Zur Kritik des kriminalpolitischen Strafrechtssystems von Roxin, JZ 1982, 617 ff. (o.Fn35),72 Legitimation durch Verfahren, 1969, 223 ff., sowie Rechtssoziologie, 2. Aufl., 1983, 141 ff., 262 ff. Topik und Jurisprudenz, 5. Aufl., 1974 Dazu Struck, Topischejurisprudenz, 1971, insbesondere 20 ff. Vgl. etwa Larenz (o. Fn 22), 142 Vgl. zur breiten Kritik an Viehwegs Methode der Topik, etwa Dreier, Recht, Moral, Ideologie, 1981, 116/117: Pawlowski (o. Fn 16), Rn 93 Habermas, in: Habermas/Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, 1971, 101 ff., 136 ff., sowie in: Theorie des kommunikativen Handelns, 1. Bd., 1981,25 ff., 44

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Konsens zu gelangen.47 Hierbei wird zunehmend über die bloße Konsensfähigkeit des Ergebnisses hinaus dessen »Richtigkeit« 48 oder doch dessen Vernünftigkeit49 angestrebt. Dieses Anliegen allein durch den formalen Weg der Argumentation erreichen zu wollen läßt sich mit der Rechtswirklichkeit nicht vereinbaren. Kriele50 erinnert nicht nur an das in der Rechtsordnung verankerte Prinzip der Unparteilichkeit des Beamten wie des Richters und des Abgeordneten, sondern spricht auch die hierin liegende Überforderung an.51 Gerade die Hemmnisse gegen die Verwirklichung des Anspruchs lassen ihn aber auf der dahinter stehenden Ethik beharren. Hiermit wird zugleich deutlich, daß allein mit dem formalen Weg der Argumentation ein zutreffendes Ergebnis nicht garantiert werden kann, sondern materielle Überlegungen geboten sind. bb) Materielle Aspekte bbl) »Natur der Sache« und Typus Eine reiche Diskussion wird zur »Natur der Sache« geführt.52 Ihr allein entgegentreten zu wollen mit dem Hinweis, das Sollen lasse sich nicht aus dem Sein ableiten, erscheint unzureichend. Selbst wenn man nämlich das Sollen als vom Sein unableitbar erachtet, sind doch Bezüge vom Sollen auf das Sein zulässig. Sie erscheinen sogar als geboten, um das Sollen im Sein wirken zu lassen.53 47

48 49

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In diesem Sinne schon Anh. Kaufmann, Gedanken zur Überwindung des Rechtsphilosophischen Relativismus, ARSP 46 (I960), 553 ff.; vgl. außerdem Perelman, Über die Gerechtigkeit, 1967, 149 ff.; Das Reich der Rhetorik, 1980; Tammelo, Theorie der Gerechtigkeit, 1977, 99 ff. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation 1978, 134 ff. Eindringlich neuerdings Kriele, Recht und praktische Vernunft, 1979, 17, 66 ff.; zur Verbindung mit der »Natur der Sache« neuestens Anh. Kaufmann, Problemgeschichte der Rechtsphilosophie in: Arth. Kaufmann/Hasserner (Hrsg.) (o. Fn 9), 23, 121 (O. Fn 49), 59/60 Dazu auch schon Radbruch (o. Fn 1), 20 Neuerdings Anh. Kaufmann (o. Fn 18) 44 ff., 74 ff. mit umfangreichen Nachweisen insbesondere in Fn 51 Vgl. zu diesen Fragen im Anschluß an Kant etwa Radbruch (vgl. etwa: Über die Methode der Rechtsvergleichung, MSchrKrim 2 (1905/1906), 422, 424) und Kelsen, Hauptprobleme der Strafrechtslehre, 1911, 7, 68 ff.; neuerdings Weinberger, Bemerkungen zur Grundlegung der Theorie des juristischen Denkens, Jahrbuch der Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd. 2, 144, 154, 159

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So verweist Artb. Kaufmann" für die von ihm mit der »Natur der Sache« gemeinte »Strukturverschlingung von Sein und Sollen« auf den »Typus« und gelangt damit zu dem Erfordernis eines Analogieschlusses.55 Von einer materialen Überlegung ausgehend, findet man sich hinübergeglitten in eine formale Vorgehensweise. Sich hiergegen zu wehren und auf dem materialen Gehalt zu beharren heißt, sich auf eine Vielzahl von Definitionen zur »Natur der Sache«54 einzulassen. Gemeinsam ist ihnen der schon angesprochene Bezug zwischen Sein und Sollen. In diesem Sinne spricht etwa Maihofer*7 von der »Natur der Sache« als der »sachgesetzlichen Struktur der sozialen Lebensrollen und Lebenslagen«. Diese Struktur versteht er nicht empirisch, sondern ontologisch. Wenn er hierfür formal den kategorischen Imperativ Kants"* und material Kriterien der Vernunft heranzieht, gelangt er damit zu einem strukturgemäßen Sollen. Verwirklicht es sich im Sein, so hat man ein Sein gemäß der »Natur der Sache« vor sich. Wann dies aber der Fall ist, sagt der kategorische Imperativ ebensowenig wie die »Goldene Regel der Ethik«59. Sie erschöpft sich in dem formalen Prinzip der Pflichterfüllung60, solange nicht materiale Gehalte bemüht werden. Letztlich erheblich ist damit die Weltanschauung des Interpreten. Eine objektive Aussage läßt sich damit aus der »Natur der Sache« schwerlich ableiten.60' Ähnli-

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60a

(O.Fnl8),47 (O. Fn 18), 47 ff. Vgl. o. Fn 52. Insofern Sprenger, Naturrecht und Natur der Sache, 1976, 140 ff., auf den Gesichtspunkt des »Selbstverständlichen« abhebt, weist auch dieser Terminus letztlich auf das Sollen hin Die Natur der Sache, in: Arth. Kaufmann (Hrsg.), Die ontologische Begründung des Rechts, 1965, 69 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 1785, II. Abschnitt Vgl. Matthäus 7, 12; Lucas, 6, 31; außerdem Dihle, Die goldene Regel. Eine Einführung in die Geschichte der antiken und frühchristlichen Vulgärethik, 1962 Zur Zirkularität vgl. Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 4. Aufl., 1962 (Nachdruck 1980), 169; aber auch Artb. Kaufmann (o. Fn 49), 23, 59/60 in: Arth. Kaufmann/Hassemer (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 4. Aufl., 1985, 23, 59/60 Vgl. vor allem Dreier, Zum Begriff der Natur der Sache, Diss. Berlin 1965; Rütbers, Rezension zu Arth. Kaufmann (o. Fn 18), JZ 1982, 877/878; Scheuerle, Das Wesen des Wesens, AcP 163 (1963), 429 ff.

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ches gilt dann, wenn man die Ethik oder Vernunft erheblich sein lassen will. Einheitliche Beurteilungsmaßstäbe fehlen. Deshalb mag man sich doch mit der von Arth. Kaufmann5* ausgearbeiteten Verknüpfung von Sein und Sollen im »Typus« bescheiden und sie lediglich formal sehen. Dabei wird der Typus weder als Häufigkeits- noch als »Idealtypus«, sondern als normativer Typus verstanden." Er stellt sich dar als »dasjenige, was aller Gesetzgebung und Rechtsgestaltung vorgegeben ist«". In diesem Sinne sieht man den jeweiligen »Unrechtstypus« abstrahiert in den strafrechtlichen Tatbeständen." Wenn gleichwohl der Typus gegenüber der im Gesetz enthaltenen Norm als konkreter bezeichnet wird,64 so liegt hierin nur ein scheinbarer Widerspruch. Konkreter gegenüber der Norm kann der Typus nämlich sein, weil er gleichsam als »Idee« hinter der Norm steht und deshalb nicht — wie die Norm — in Sprachzeichen gepreßt zu werden braucht. So erscheint er gegenüber dem abstrakten Tatbestand des Gesetzes als ursprünglicher.45 Bei der Frage, ob der konkrete Fall dem Typus entspricht, wird ein Ähnlichkeitsurteil, mithin ein Analogieschluß, erforderlich." Zugleich ist zu achten auf das im Strafrecht geltende Analogieverbot in malam partem. Hassemer" will einem Verstoß gegen das in Art. 103 Abs. 2 GG, § l StGB festgelegte Gebot des nullum crimen sine lege (scripta und stricta) begegnen, indem er sich gegen eine »unzu61

Näher dazu mit weiteren Nachweisen Larenz (o. Fn 22), 443 ff. Anh. Kaufmann (o. Fn 18), 49 63 Dazu statt vieler neuerdings SS/Lenckner (o. Fn 26), v. §§ 13 ff. Rn 48 m. w. N.; kritisch aber Sax, »Tatbestand« und Rechtsgutsverletzung, JZ 1976, 10; Schmidhäuser, Strafrecht. Allgemeiner Teil, Lehrbuch, 2. Aufl. 1975, 9/9 64 Vgl. schon Engisch, Die Idee der Konkretisierung in Recht und Rechtswissenschaft unserer Zeit, 1953, 2. Aufl., 1968, 238, 251, 260 65 Dabei kann hier der Streit um die Frage ausgeklammert werden, ob der Typus im Gesetz so weit zum Begriff abstrahiert sein muß, um eine deduktive Entscheidungsbegründung zu erlauben, wie dies neuerdings Koch/Rüßmann (o. Fn 16), 73 ff., 77 fordern; vgl. auch Kuhlen, Typuskonzeptionen der Rechtstheorie, 1977, anders Engisch (o. Fn 64), 237 ff., 308/309; Hassemer, Tatbestand und Typus, 1968, 109 ff.; Arth. Kaufmann (o. Fn 18), 47 ff.; Larenz (o. Fn 22), 207 ff., 443 ff.; Leenen, Typus und Rechtsfindung, 1971, 96 ff.; Pawlowski (o. Fn 16), Rn 145 ff. 66 Mit dieser Meinung steht Arth. Kaufmann (o. Fn 18), 32,33, 38 ff., 61 ff., durchaus nicht allein, wie die von ihm (63 ff.) zitierten umfangreichen Nachweise zeigen " (O. Fn 65), 165 62

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lässig übertrieben extensive« Auslegung wendet.68 Dabei stellen sich ihm allerdings die strafrechtlichen Tatbestände selbst als Typen dar." Demgegenüber läßt sich aber auch der Typus eher hintergründig sehen als Idee, die sich von ihrem Abbild in der Außenwelt, dem Tatbestand, abhebt. Dann gilt es, den Tatbestand auszulegen. Das Ähnlichkeitsurteil zu dem hinter dem Tatbestand stehenden Typus wird nur erlaubt, insofern sich dies mit der Auslegung des Tatbestandes verträgt,70 solange also noch die äußerste Bedeutungsgrenze eingehalten wird. Damit übt der Tatbestand seine begrenzende Funktion aus. Mehr leistet er allerdings nicht; im übrigen mag der Typus weiterhelfen. Er vermag das Rechtsanwendungsergebnis freilich nicht zuverlässig genug zu bestimmen, solange er nicht mit materialem Gehalt gefüllt ist. bb2) Wertungen Als materiale Gehalte lassen sich Wertungsgesichtspunkte denken. Ihre Verbindung mit dem Typus hat insbesondere Leenenn herausgearbeitet. Kann man doch die Ursprünglichkeit des Typus nicht nur in seiner größeren Komplexität gegenüber dem Tatbestand sehen. Darüber hinaus steht er näher zu dem (Un)Wert, den man als Wurzel des Typus bezeichnen kann. In diesem Sinne erscheint Leenen72 der »leitende Wertgesichtspunkt als einheitsstiftende Mitte«, auf die hin sämtliche typologischen Züge »Bedeutung haben«. In diesem Sinne fordert auch Larenz" ein »wertorientiertes Denken«. Hierun68

In diesem Sinne etwa auch Straßburg, Analogieverbot — Formalgrenze oder Wertungsgrenze? Tübinger Dissertation 1974, 108/109 passim. Schmidhäuser (o. Fn 63), Rn 5/43 beschränkt sich sogar für das Analogieverbot auf einen Aufruf an den Richter, nach bestem Wissen und Gewissen zu urteilen; vgl. auch Sax, Das Strafrechtliche »Analogieverbot«, 1953, 148, sowie in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte, Bd.: /2, 1959, 992 ff. 6 » (O. Fn 65), 109 ff. 70 In diesem Sinne jetzt Anh. Kaufmann im Nachwort zur zweiten Auflage seiner Analogie und »Natur der Sache« (o. Fn 18), 68/69; vgl. auch Stratenwerth, Strafrecht. Allgemeiner Teil I, 3. Aufl., 1981, Rn 100, der auf die »Umschreibung des gesetzlichen Grundgedankens« schaut 71 (O. Fn 65), 42 ff., 62 ff. passim 72 (O.Fn65),64 73 (O. Fn 22), 205 ff.

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ter versteht er »nicht eine lediglich intuitive, sondern eine durch bestimmte Überlegungen vermittelte, insoweit rational begründete Wertung«74. Den hierdurch entstehenden Unwägbarkeiten mag man im Strafrecht zu entgehen versuchen, indem man das Wertdenken75 durch eine rechtsgutsbezogene Betrachtung ersetzt. Sie ist nicht etwa von vornherein deshalb zu verwerfen, weil sich das Rechtsgut zuweilen nicht ohne weiteres bestimmen läßt.76 Bilden doch Schwierigkeiten keinen Grund dafür, eine Überlegung abzubrechen. Vielmehr machen sie häufig erst den Reiz eines Denkansatzes aus. Das hilft aber insofern nicht weiter, als sich der mögliche Interpretationsraum noch immer nicht hinreichend verengen läßt, nämlich bis hin zu dem richtigen Ergebnis. Tritt doch zu dem bereits angesprochenen Streit über den Gegenstand eine Unsicherheit über das Ausmaß, in dem man dem Rechtsgut Schutz zu gewähren hat. Deutlich wird dies etwa bei den Regelungen über strafprozessuale Zwangsmaßnahmen,77 durch die man Grundrechtseingriffe zu kanalisieren sucht.78 Bei der hier immer wieder gebotenen Abwägung 79 ist Intersubjektivität zwar anzustreben; der Konsens kann aber nicht als Datum der Rechtswirklichkeit angenommen werden. Damit läßt das Wertdenken, obwohl als wertvoller Beitrag zu würdigen, die Suche nach sicheren Kriterien nicht überflüssig werden. bb3) Ethik und Vernunft Schon in dem Argumentationsansatz80 ist die Verbindung zu Ethik und praktischer Vernunft81 angeklungen. In deutlicher Abkehr von 74

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(O. Fn 22), 206 Fn 76 Dazu schon Verf. (o. Fn 29), 15/16 O.a)bb) Vgl.SS81ff.StPO Grundlegend Amelung, Rechtsschutz gegen strafprozessuale Grundrechtseingriffe. Strafrechtliche Abhandlungen n. F., Bd. 28, 1976 Aufschlußreich die Diskussion zu den Beweisverwertungsverboten; instruktiv hierzu etwa Rogall, Gegenwärtiger Stand und Entwicklungstendenzen der Lehre von den strafprozessualen Beweisverboten, ZStW 91, (1979), l ff. O.aa3) Vgl. dazu auch Haverkate, Gewißheitsverluste im juristischen Denken, 1977, 163/164, 220; Krisle (o. Fn 49), 86 ff. passim; vgl. demgegenüber v. Savigny (o. Fn 38) SS 32 bis 35

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der historischen Schule, die Natur- und Vernunftrechtstheorien aus der Rechtswissenschaft hat ausgeklammert sehen wollen, geht es insbesondere Kriele*2 um das Recht als angewandte Ethik. Ein wichtiger Schritt hierhin ist es, auf dem Ethos der das Recht setzenden und anwendenden Träger der öffentlichen Gewalt zu beharren und diesen Ethos in dem auf die Rechtsfindung ausgerichteten Diskurs zu wahren. Ein solcher Appell kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Nur wenn er ernstgenommen wird, garantiert dies nämlich Loyalität und ein Vertrauen, wie es für die fruchtbare Existenz einer Gemeinschaft als unerläßlich erscheint. Doch darf die — auch insofern zu besorgende — Schwäche des Menschen nicht übersehen werden,83 soll der Ansatz nicht letztlich unrealisierbar bleiben. Deshalb gilt es, dem Entscheidungsträger einen Maßstab zu geben, an dem er die Vernünftigkeit seiner Entscheidung und damit zugleich die Bewährung seines Ethos überpüfen kann. Kriele*4 greift hierfür auf den Gesichtspunkt des Allgemeininteresses und — als ultima ratio — auf das Interesse zurück, das »eindeutig fundamentaler« ist »als alle anderen auf dem Spiele stehenden Interessen«. Diese Kriterien werden es zwar erleichtern, die Entscheidung zu finden. Dennoch bleiben Zweifel bestehen. Die Frage nämlich, unter welchen Voraussetzungen das Allgemeininteresse gewahrt bzw. dem »fundamentaleren Interesse« gedient wird, läßt sich ohne Abwägen nicht beantworten. So mag letztlich doch wieder auf die Wertung abzustellen sein, die das Gesetz mit der jeweiligen Norm hat verwirklichen wollen. Sie zu erkennen bildet gerade das Anliegen der Auslegung. cc) Gewinn aus der Diskussion Mögen die klassischen Auslegungsmethoden auch nicht zu dem zutreffenden Auslegungsergebnis führen, sind sie doch nicht wertlos.*5 Sie lassen den Raum zulässiger Auslegung erkennen. Präzisierend mag dabei die an der praktischen Vernunft ausgerichtete Argumentation wirken, wie sie von den an der Entscheidung Beteiligten (O.Fn49),60 84

85

(O. Fn 15), 179, 217 Demgegenüber sehr kritisch Kriele (o. Fn 15), 77 ff.

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mit dem Ethos der Gemeinnützigkeit und Unvoreingenommenheit geführt wird. Damit der Ethos sich in der Rechtswirklichkeit bewähren kann, sollten materiale Gehalte als Maßstab dienen können. Genannt werden hierfür die Wertungen des Gesetzes oder das »fundamentalere Interesse«8'. Hierdurch gelangt man zur Abwägung, nicht aber zu einem Fixpunkt der Auslegung. So hat sich bisher über einen Raum richtiger Rechtsanwendung hinaus die zutreffende Entscheidung nicht bestimmen lassen. Es fragt sich, ob die Grenzen der Rationalisierung schlechthin erreicht sind. c) Grenzen der Rationalisierung Die Schwierigkeit, dem Entscheidenden einen Maßstab an die Hand zu geben, tritt klar in den unterschiedlichen Gerechtigkeitstheorien hervor. Diese suchen allerdings teilweise »Kriterien der Gerechtigkeit«87 zu entwerfen. Tammelo** etwa will sie nicht nur den herrschenden Ansichten entnehmen, sondern auch auf bewährte Grundsätze des Naturrechts stützen und in einem argumentativen Verfahren begründet sehen. Als »oberstes Rechtsgebot« erachtet er den »Schutz ... gegen jeden Machtübergriff.«*9 Hierin findet man Anklänge an die »justitia protectiva«, die Corng90 der justitia commutativa und distributiva an die Seite gestellt hat und die er im Aufbau des Rechtsstaates für ausgeprägt hält. Aber auch weitergehend zeigen sich ihm Grundzüge der Gerechtigkeit in einem hieraus entstandenen »Naturrecht«, das zeitlose Werte'1 ausdrückt. Dieses »Naturrecht« bildet aber kein subsumtionsfähiges Rechtsgebiet. Coing sieht hierin Leitgedanken, die Gesetzgeber und Gerichte zu verdichten haben. Ähnlich, nämlich als »offenes Prinzip mit normativem Richtliniengehalt« erscheint Henkel die Gerechtigkeit. Er mißt ihr zwei Hauptbedeutungen zu, nämlich die Forderung nach einem »suum cuique« und den Grundsatz der Gleichbehandlung. Diese beiden Be86

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89 90 91

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(O. Fn 15), 179, 217 Tammelo (o. Fn 47), 82 (O. Fn 47), 80 ff. (O.Fn47),90 (O. Fn 25), 207 ff. (O. Fn 25), 205 ff. Einführung in die Rechtsphilosophie, 2. Aufl., 1977, 391 ff.

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deutungen erlauben, »bestimmte Lösungen als der Gerechtigkeit widerstreitend ausschließen«" zu können. Außerdem sucht er sie für die Lösung von Rechtsfragen zu nutzen, wird sich aber dabei selbst der Grenzen eines solchen Vorhabens bewußt. Kann man damit doch zwar zu einem »sachlichen Richtliniengehalt«, nicht aber zu einer Norm vordringen, aus der sich die im einzelnen Rechtsfall zu treffende Entscheidung entnehmen ließe.9ia Verdienstlich an diesen Ansätzen ist das Streben nach einer überpositiven Richtigkeit. Es zeigt sich auch an Krieles »Kriterien der Gerechtigkeit«'4. Sie erbringen wesentliche Gesichtspunkte für die Abwägung, können und wollen aber wegen des Erfordernisses der Balance das richtige Ergebnis nicht garantieren. Das gilt ebenfalls für die von Ryffel" herausgearbeiteten »Kriterien des Richtigen«. Sie versteht er als Komponente eines Selbstverständnisses des Menschen aus den letzten zwei Jahrhunderten. Nicht aber künden sie eine (absolut) richtige Ordnung. Was richtig ist, überträgt er vielmehr der Verantwortung eines jeden einzelnen. So führt der Wertabsolutismus nicht zu sicheren Entscheidungsvorgaben. Vermehrt gilt dies für den Wertrelativismus. Engisch* als dessen Vertreter zu bezeichnen läßt sich freilich im wesentlichen nur aus seiner eigenen Resignation rechtfertigen. Ist er es doch, der das »suum cuique» zu einem Äquivalenzprinzip aufgearbeitet hat,97 ein zwar noch nicht konkretisierter, der Konkretisierung aber duchaus aufgeschlossener Grundsatz.98 Ähnliches läßt sich zu Zippelius" vertreten, der zwar eine Aussage über die Gerechtigkeit »an sich« für nicht möglich hält, sondern lediglich »herrschende Gerechtigkeitsvorstellungen« herausarbeitet, gleichwohl aber von einem »herrschenden Rechtsethos«100 spricht. Wiederum bleibt eine nähere Bestimmung offen. » (O. Fn 92), 401 "ä (O. Fn 92), 416/417 94 Monographie aus dem Jahre 1963 95 Grundprobleme der Rechts- und Staatsphilosophie, 1969, 299/300 * Auf der Suche nach Gerechtigkeit, 1971,281, 293 97 (O. Fn 96), 178 98 In diesem Sinne auch Larenz (o. Fn 22), 170 99 Rechtsphilosophie, 1982, 82, 148 100 (O. Fn 99), 145; Das Wesen des Rechts, 4. Aufl., 1978, 128/129

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Hierzu finden sich beachtliche Ausführungen bei Perelman™. Er formuliert als Äquivalenzprinzip: »Die formale oder abstrakte Gerechtigkeit läßt sich demnach definieren als ein Handlungsprinzip, nach welchem die Wesen derselben Wesenskategorie auf dieselbe Art und Weise behandelt werden müssen«102. Als »formal« versteht er diese Aussage, weil sie keine »wesentlichen Kategorien« angibt. Solche Kategorien hält er aber ohne Werteskala nicht für aufstellbar, und Werte erachtet er als willkürlich geschöpft.102" Sie können auch in gesetzten Normen liegen. So findet man die Gerechtigkeit auf ein fehlerloses Verfahren beschränkt. Perelmans Ansatz führt damit zu einem Positivismus. Doch sucht er darüber hinaus zu greifen, indem er die schon angesprochene103 Argumentationstheorie vertritt und durch »rationale Argumentation«104 zu allgemein gültigen Thesen gelangen will.105 Wie Perelman will Fikentschei*™ die Gerechtigkeit jedenfalls in einem Teilbereich, nämlich als »Gleichgerechtigkeit«, durch Anwendung der Norm verwirklicht wissen. Bei der Gesetzesanwendung folgt er einem Subsumtionsmodell. Als Obersatz dient ihm aber nicht unmittelbar der im Gesetz festgeschriebene Tatbestand. Vielmehr bildet der Rechtsanwender eine »Fallnorm«. Mit ihr will Fikentscher die »Sachgerechtigkeit«, die andere Komponente der Gerechtigkeit neben der »Gleichgerechtigkeit«, gewahrt sehen. Sie muß sich — soll es sich um Auslegung handeln — noch innerhalb der

101

(O.Fn47) (O.Fn47),28 1021 (O. Fn 47), 41 «« O.baa)aa3) 1M (O. Fn 47), 159 105 Den Rahmen dieser Skizze würde es überschreiten, wollte man Krieles »fundamentaleres Interesse« (o. Fn 15), 179, 217 gegen die Vertreter des Utilitarismus verteidigen, mögen diese abstellen auf das kollektive Wohlergehen der Mehrheit (wie schon Bentham, Introduction to the Principles of Moral and Legislation, 1948, 126) oder mag es um den einzelnen und die Fairneß ihm gegenüber gehen, dazu Rawls, A Theory of Justice, 1972, und die Würdigung durch Ellscheid, Das Naturrechtssproblem. Eine systematische Orientierung, in: Arth. Kaufmann/Hassemer (Hrsg.), (o. Fn 9), 125, 160 ff. 10 ' (O. Fn 16), 190 ff. 102

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»Wortsinngrenze« des gesetzlichen Tatbestandes halten; bewegt sie sich zwar außerhalb der »Wortsinngrenze«, jedoch noch innerhalb der »Normsinngrenze«, so steht Analogie in Frage.107 3. Konsequenzen Gerade der Reichtum der diskutierten Ideen maßgeblicher Rechtstheoretiker zeigt das Fehlen eines allgemein anerkannten Maßstabes, um den zulässigen Entscheidungsraum auf den treffenden Punkt verdichten zu können. Dies erklärt das wachsende Gewicht des Argumentationsansatzes, wie ihn unlängst wieder Arth. Kaufmann™ engagiert vertreten und zu einer »Theorie der Sprache«109 geöffnet hat. Ein weiter Raum wird fruchtbar. Einerseits ist dies zu begrüßen. Andererseits besteht aber die Gefahr, sich in der Weite des Bedeutungsrahmens zu verlieren. Um in dieser Weite Halt zu finden, ist über die Bedeutung der Norm hinaus und auf deren Bezug zu schauen. In diese Richtung weist schon Fikentschers soeben110 angesprochene »Fallnorm«. Nicht fern steht Friedrich Müllers1" »Entscheidungsnorm«. Damit wird neben der Bedeutung des gesetzlichen Tatbestandes sein Bezug auf Einzelfälle deutlich. Dies methodisch aufzuarbeiten wird um so dringlicher, als sich Rechtswissenschaft und Rechtspraxis schon lange nicht mehr112 nur an der Wortbedeutung orientieren. Ein Blick in die Lehrbuch- und insbesondere in die Kommentarliteratur zeigt, welche Rolle Sachgestaltungen spielen, auf die sich die Norm bezieht. Angeführt werden Einzelfallentscheidungen. Zu Recht bezeichnet Krielem eine lediglich anhand der Methodenlehre ohne Rücksicht auf die höchstrichterliche Rechtsprechung geschriebene juristische Arbeit als unzureichend. Die höchstrichterliche Rechtsprechung bildet aber 107 108

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(O. Fn 16), 298 ff. (O. Fn 19), 10 ff., 12 (O. Fn 39), 101 ff.; vgl. außerdem Haft, Recht und Sprache, in: Arth. Kaufmann/Hassemer (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 4. Aufl., 1985,214 O. b. Fn 107 Juristische Methodik und politisches System. Elemente einer Verfassungstheorie II, 1976, 50 Aufschlußreich Weller, Die Bedeutung der Präjudizien im Verständnis der deutschen Rechtswissenschaft, 1979, 46 ff., 78 ff. passim (O. Fn49), 95

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nur einen geringen Teil aller Einzelfallentscheidungen.1133 So fragt sich, ob alle Vor-Entscheidungen entsprechend dem Wortverständnis als Prä-Judizien anzusehen sind oder dieses Prädikat nach engeren Maßstäben zu vergeben ist. Hierüber läßt sich nicht befinden, ehe die Konkretisierungsfunktion von Vorentscheidungen schlechthin vor Augen getreten ist. So bleibt eine Einschränkung vorbehalten, wenn zunächst der Ausdruck »Präjudiz« unterschiedslos auf alle Vorentscheidungen angewandt wird. Mithin hat sich die natürliche Wortbedeutung als dazu geeignet gezeigt, den intensionalen Rahmen der Norm abzustecken. Welcher Punkt in diesem Rahmen die zutreffende Auslegung darstellt, läßt sich jedoch trotz einer Fülle wertvoller Ansätze allein im Blick auf die Bedeutung der Norm schwerlich finden. Deshalb wird nach einer extensionalen Konkretisierung in den Präjudizien gesucht. II Blickwechsel zu den Präjudizien Ist bisher das Gewicht in der Rechtstheorie auch weitgehend auf die Bedeutung der Normen gelegt worden, so nimmt doch die Zahl teils bedeutender Untersuchungen zu, die sich mit dem Bezug der Tatbestände befassen.114 Arth. Kaufmann will die deduktive von der 113a

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Neuerdings Olzen, Die Rechtswirkungen geänderter höchstrichterlicher Rechtsprechung in Zivilsachen, JZ 1985, 155, 157 Fn 24 Vgl. schon Riezler, Ratio decidendi und obiter dictum im Urteil, AcP 139 (1934), 161 ff.; neuerdings Bertelmann, Die ratio decidendi zwischen Gesetzesanwendung und Rechtssatzbildung an Hand höchstrichterlicher Rechtsprechung, Bonner Dissertation 1975; German, Durch die Judicatur erzeugte Rechtsnormen, 1976; Präjudizien als Rechtsquelle. Eine Studie zu den Methoden der Rechtsfindung, 1960; aus der Spezialliteratur zur Bindung des Bundesverfassungsgerichts an seine Entscheidungen vgl. die gleichnamige Kölner Dissertation Sachs' aus dem Jahre 1977 mit umfangreichen Nachweisen. Auch in bedeutenden Werken findet sich eine Auseinandersetzung mit der anglo-amerikanischen Präjudizienlehre, vgl. Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 3. Aufl., 1974, 183 ff.; Kriele (o. Fn 15), 243 ff.; (o. Fn 49), 91 ff., sowie in: Benda u. a. (Hrsg.) Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Studienausgabe, Nachdruck der Originalausgabe aus dem Jahre 1983, 1984, Stichwort »Freiheit und Gleichheit«, 149, der zu einer auch für Vorentscheidungen deutscher Gerichte geltenden Präjudizienvermutung gelangt; lehrreich ferner Engisch (o. Fn 20), 182 ff.; instruktiv Fikentscher (o. Fn 36) 1975, der jedoch (deutlich 74/75, dort Fn 164) das anglo-amerikanische Rechtsverständnis auf deutsche Verhältnisse nicht für übertragbar hält

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am Sachverhalt orientierten induktiven Methode ergänzt wissen."5 In diesem Sinne verdienstlich unterscheiden Koch/Rüßmann™ zwischen der Intension und der Extension. Während mit der Intension die Bedeutung des Wortes angesprochen wird, ist mit der Extension der Bezug auf alle möglichen Sachverhalte gemeint, die — gemessen an der Intension — dem Wort zugeordnet werden können.117 Von hier aus lassen sich Sachverhaltsmengen bestimmen, auf die sich das Wort kraft seiner Intension bezieht, während andere Sachverhaltsmengen auszuscheiden sind. Hierdurch wird dem Grundsatz »nullum crimen sine lege« genügt. Doch steckt man wiederum nur einen Interpretationsraum ab. Mehr läßt sich mit dieser Methode nicht leisten. Die Intension, im Blick auf die man die Sachverhaltsmengen feststellt, liefert nämlich kein den äußersten Bedeutungsgrenzen überlegenes Richtmaß.118 Gleichwohl sollte die Einsicht, daß ein Sprachzeichen eine Bedeutung — eine Intension — und einen Bezug — eine Extension — aufweist, nicht gering geschätzt werden. Erst hierdurch wird deutlich, wie wenig bisher rechtstheoretisch die Extension der Normen abgeklärt ist. Sie erschöpft sich weder in dem Normalfall,119 noch wird sich in der Rechtswirklichkeit regelmäßig ihr gesamter Bereich bis hin zu sämtlichen denkbaren Grenzfällen offenbaren. Gerade die Rechtswirklichkeit liefert aber Anhaltspunkte für die Extension, und zwar durch gerichtlich entschiedene Einzelfälle. Alle diese Vor115

(O. Fn 18), 40, 42, 59, 74; (o. Fn 49), 79 ff., 85; vgl. auch schon Anh. Kaufmann, Gesetz und Recht (1962), in: Rechtsphilosophie im Wandel. Stationen eines Weges, 2. Aufl., 1984, 157. Außerdem finden sich vielfältige Ausführungen zu der Rechtsnatur des Richterrechts, vgl. dazu Bydlinski (o. Fn 6) m. w. N. »· (O. Fn 16), 129 ff., 195 ff. 117 Koch/Rüßmann (o. Fn 116) sprechen von der Extension, die sich dem ßegnj^zuordnen läßt. Hieraus entstehen geringfügige terminologische Differenzen. Der Begriff ist nämlich nichts anderes als die Bedeutung eines Wortes, näher Verf. (o. Fn 29), 6/7. Deshalb werden hier Intension und Extension auf das Sprachzeichen (= das Wort) und nicht auf den Begriff bezogen. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Engisch (o. Fn 18), 70, Unterscheidung zwischen Inhalt und Umfang der Norm, dort auch die Nachweise in Fn59 111 Dazu o. I, insbesondere 2. c) und 3.; vgl in diesem Zusammenhang auch Schroth, Philosophische und Juristische Hermeneutik, in: Arth. Kaufmann/Hassemer (Hrsg.) (o. Fn 9), 276, 294 119 Zum Normalfall eingehend Haft, Juristische Rhetorik, 1978, 70 ff.

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entscheidungen enthalten zumindest mittelbare Aussagen über die Auslegung von Normen und dienen damit deren Konkretisierung. Diese pauschale Beurteilung ist nunmehr mit Rechtsordnung und -Wirklichkeit zu konfrontieren, um von hier aus gegebenenfalls differenzieren zu können. Dies ist in zwei Richtungen erforderlich. Zum einen hat man zu überlegen, ob weiterhin als Präjudizien die Vorentscheidungen aller Gerichte zu begreifen sind oder es sich um qualifizierte Erkenntnisse handeln muß. Zum anderen geht es um die Vorentscheidungen selbst; sie können insgesamt gemeint, es kann aber auch nur ein Ausschnitt in Betracht kommen. Festzuhalten ist die Aufgabe, den Bezug der Norm in vorentschiedenen Fällen zu suchen und dadurch die Norm zu konkretisieren. Dabei hat man noch zu klären, ob alle Vorentscheidungen ein Präjudiz darstellen und welchem Teil der jeweiligen Vorentscheidung dieses Prädikat zukommt. III Präjudizien in der Diskussion /. Positiv-rechtliche Sonderregeln a) Auswahlgesichtspunkte Bedeutung und Wirkung der Präjudizien sind nicht in einer ausdrücklichen allgemeinen Norm erfaßt. Vielmehr trifft man nur auf vereinzelte Regelungen. Man mag hier sogleich an die Rechtskraft oder an die im Revisionsverfahren durch Aufhebung und Zurückverweisung entstehende Bindung denken (vgl. etwa §§358 Abs. l StPO, 565 Abs. 2 ZPO). Die hierzu erlassenen Bestimmungen sollen aber allenfalls am Rande beachtet werden. Behandeln sie doch die Wirkung des von dem Obergericht gesprochenen Erkenntnisses nur in dem Verfahren, in dem sie gefällt worden sind. Hier dagegen interessieren (Vor-)Entscheidungen unter einem anderen Aspekt: Gefragt ist danach, wie sie auf die Gesetzesanwendung in anderen Fällen Einfluß nehmen können. Es geht damit um die Wirkung auf Verfahren, in denen die Entscheidung nicht ergangen ist. Deshalb bleibt auch die Interventionswirkung nach § 68 ZPO außer Betracht. Als exemplarisch seien vielmehr außer § 31 Abs. l BVerfGG (dazu sogleich b) die Bestimmungen über die Vorlage nach §§121 Abs. 2, 136 GVG und das Vorlagerecht nach § 137 GVG (dazu unten c) herausgegrif-

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fen. Dabei werden Spezialfragen möglichst ausgeschieden, um von der hier zu betrachtenden konkretisierenden Funktion nicht unnötig abzulenken. b) Zur Bindung an Entscheidungen .des Bundesverfassungsgerichts aa) Rechtsnatur Während § 31 Abs. l BVerfGG die Adressaten der Bindungswirkung benennt (dazu u. bb), erhält man aus der Norm selbst über Gegenstand (vgl. u. cc) und Rechtsnatur wenig Aufschluß. Will man gleichwohl die Rechtsnatur erfahren, so wendet man die Aufmerksamkeit dem Zweck der Norm zu. Dieser geht dahin, vom Bundesverfassungsgericht gefundene Interpretationen des Grundgesetzes allgemeinverbindlich auszugestalten. Wie dies geschehen soll, darüber schweigt § 31 Abs. l BVerfGG. Um sich in den hierdurch gebildeten verschlungenen Pfaden des Streits120 zurechtzufinden, sei von der Figur der Rechtskraft ausgegangen. Formelle Rechtskraft — im Sinne einer Unanfechtbarkeit mit den ordentlichen Rechtsmitteln — erkennt man den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts überwiegend zu.m Wenn auch eher angezweifelt, m so wird doch zumeist m die materielle Rechtskraft ebenfalls als gegeben angenommen. Sie umgreift die über den Gegenstand des Verfahrens getroffene Entscheidung,124 wie sie sich aus dem Tenor ergibt. Der Tenor ist

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Aufschlußreich hierzu neuerdings K. Lange Rechtskraft, Bindungswirkung und Gesetzeskraft der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, JuS 1978, l ff.; Sachs (o. Fn 114), 66 ff. Vgl. etwa Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Ulsamer, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Loseblattsammlung, Stand: September 1979, § 31 Anm. III 7, Rn 7 m. w. N. Beachtenswert Kriele (o. Fn 15), 296 Vgl. BVerfGE 4, 31, 38/39; 20, 56, 86/87; 33, 199, 203; K. Lange, (o. Fn 120), 2/3; Sachs, (o. Fn 114), 15 ff.; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland Bd. II, 1980, 1036/1037; Wischermann, Rechtskraft und Bindungswirkung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen, 1979, 36 Dieser auch von Stern gewählte Ausdruck soll die an dieser Stelle unergiebige Diskussion über den Streitgegenstand ersparen

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im Blick auf die Entscheidungsgründe auszulegen, mögen diese auch selbst von der materiellen Rechtskraft nicht erfaßt sein.125 In diesem Gegenstand ist die Rechtskraft mit der Gesetzeskraft nach § 31 Abs. 2 BVerfGG zu vergleichen. M Der maßgebliche Unterschied besteht in den subjektiven Grenzen. Jedenfalls nach allgemeinem Verfahrensrecht wirkt die materielle Rechtskraft nur im Kreis der Verfahrensbeteiligten.127 Hieran ist — um Sonderfragen auszuscheiden — im Ausgangspunkt auch für Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts festzuhalten.128 Deswegen bedarf es des aufgrund des Art. 94 Abs. 2 GG normierten § 31 Abs. 2 BVerfGG. Erst die darin vorgesehene Gesetzeskraft von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts im Normenkontrollverfahren führt zu einer Wirkung gegenüber jedermann.12' Damit erweitert die Gesetzeskraft nach §31 Abs. 2 BVerfGG gegenüber der materiellen Rechtskraft nicht die gegenständliche Bindung, sondern nur die subjektiven Grenzen. Das läßt einen Schluß auf die Bindungswirkung nach § 31Abs. l BVerfGG erwägen. Hieraus erklärt sich die Ansicht, nach der §31 Abs. l BVerfGG lediglich die subjektiven Grenzen der Rechtskraft erweitert. Dieser häufig und mit vielfältigen Varianten vertretenen Ansicht130 steht die vornehmlich von Geiget herausgearbeitete und vom Bun-

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So jedenfalls die h. M., vgl. BVerfGE 4, 31, 38/39; 5, 34,37; 20, 56, 86/87; 33, 199, 203; außerdem etwa K. Lange (o. Fn 120), 3; Sachs (o. Fn 114), 39; Wischermann (o. Fn 123), 25 ff.; Vogel, Rechtskraft und Gesetzeskraft der Entscheidungen des Verfassungsgerichts, Festgabe für das Bundesverfassungsgericht, Bd. I, 1976, 568, 602, 627 Zu Sonderfragen etwa Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, 2. Aufl., 1982, 172; Stern (o. Fn 123), 1039 ff. m. w. N. Anerkannt, vgl. etwa Grunsky, Grundlagen des Verfahrensrechts, 2. Aufl., 1974, 538, 548 In diesem Sinne etwa Klein, Probleme der Bindung des »einfachen Richters« an Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, NJW 1977, 697; K. Lange (o. Fn 120), 2/3; Stern (o. Fn 123), 1037; a. A. Friesenhahn , in: Scritti in onore di Gaspare Ambrosini Bd. I, 1970, 697/698; Vogel (o. Fn 125), 598 Unstreitig, vgl. etwa Stern, Bonner Kommentar zum GG, Art. 94 Rn 128 m. N. Dazu Stern, (o. Fn 129), Art. 94 Rn 129, der diese Ansicht dort — m. w. N. — als h. M. bezeichnet Kommentar zum Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 1952, §31 Anm. 6 und in: Die Grenzen der Bindung verfassungsrechtlicher Entscheidungen, NJW 1954, 1057, 1058

27 desverfassungsgericht schon bald ständig vertretene Auffassung1'2 gegenüber.1" Danach verändert § 31 Abs. l BVerfGG nicht nur die von der Rechtskraft gezogenen subjektiven, sondern auch die objektiven Grenzen. Angenommen wird eine Bindung an den Tenor und die tragenden Gründe. Mit diesem erweiterten Gegenstand der Bindung variiert zwangsläufig die Rechtsnatur: Es handelt sich nicht mehr um eine Frage der (materiellen) Rechtskraft, sondern um eine Bindungswirkung eigener Art. Dies erscheint deshalb als so bedeutsam, weil der Gedanke einer Bindung an die tragenden Entscheidungsgründe selbst von besonders profilierten Vertretern einer durch § 31 Abs. l BVerfGG normierten Rechtskrafterstreckung des Tenors aufgenommen worden ist. Der Unterschied zu der vor allem vom Bundesverfassungsgericht vertretenen entgegenstehenden Auffassung ergibt sich vornehmlich aus der Bindungs&ra/i. So verficht das Bundesverfassungsgericht"2 eine Striktbindung auch an die Gründe. Derart weit wollen dagegen die Anhänger einer für den Tenor befürworteten subjektiven Rechtskrafterstreckung nicht gehen. So spricht sich etwa Sternw gegen eine feste Bindung der tragenden Entscheidungsgründe aus. Dennoch nähert er sich der von Kriele™ erörterten Präjudizienwirkung an, indem er für die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts »eine Vermutung der Richtigkeit ... anerkennen«136 will."6' Allerdings erscheint ihm der Präjudiziencharakter »keinesfalls klarer als der Begriff der tragenden Gründe.«"6 Er erfaßt damit letztlich die schon"41 angesprochene Zweifelsfrage, welcher Teil der Vorentscheidung als Präjudiz zu begreifen ist. Im Ergebnis stellt er sich dieser offenen Problematik. Er bezieht die Vermutung der Richtigkeit auf die tragenden Gründe der Entscheidung.137

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Vgl. etwa BVerfGE 4, 31, 38; 19, 377, 391/392; 20, 56, 87; 24, 289,297; 40, 88, 93 Umfangreiche Nachweise zu beiden »Meinungsblöcken« bei Sachs (o. Fn 114), 66 ff. passim 134 (O. Fn 123), 1038 135 (O. Fn 15), 299 ff. 136 (O. Fn 123), 1038 13 " O. II. 137 Eingehend hierzu Sachs (o. Fn 114), 128 ff. 133

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So sei zur Rechtsnatur der Bindungswirkung festgehalten:138 Die zunehmend nicht nur für den Tenor, sondern auch für die tragenden Gründe der Entscheidung akzeptierte Bindungswirkung ist in ihrer Rechtsnatur umstritten. Sie wird häufig nur als Richtigkeitsz;m??#tung im Blick auf die tragenden Gründe der Entscheidung gesehen, verbunden mit einer subjektiven Rechtskrafterstreckung, die den Tenor erfaßt139. Das Bundesverfassungsgericht selbst und ein Teil der Lehre nehmen dagegen für den Tenor und die tragenden Gründe eine strikte Präjudizien&zWzmg an.1140 bb) Adressaten §31 Abs. l BVerfGG erklärt »die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden« an die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts für gebunden. Auf die Bindung der Gerichte kann sich hier die Aufmerksamkeit beschränken. Eine Fremdb'mdung sämtlicher Gerichte steht außer Streit. Dagegen lehnt die h. M.141 eine Se/fofbindung des Bundesverfassungsgerichts an seine eigenen Entscheidungen ab. Diese Konsequenz wird erforderlich, insofern man aus § 31 Abs. l BVerfGG eine Striktbindung ableitet. Soll doch die Verfassungsinterpretation nicht erstarren. So unerwünscht unbeweglich festgelegt würde die Auslegung jedoch nicht durch eine bloße Richtigkeitsvermutung. Auch wenn man ihr das Bundesverfassungsgericht selbst unterordnen wollte, würde damit noch eine hinreichende Flexibilität gewährleistet.142 Grundsätzlich wäre das Bundesverfassungsgericht dann zwar — würde es noch-

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Dazu u. III. 1. a), cc) Stark vereinfacht dargestellt, um die wesentlichen Linien herauszuheben, im einzelnen dazu Sachs (o. Fn 114), 66 ff., 117 ff. Beachtenswert auch Krieles (o. Fn 15), 299 ff., interessanter Vorschlag in Anklang an die anglo-amerikanische Präjudizienlehre Vgl. etwa BVerfGE 4, 31, 38; 20, 56, 87; Geiger, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 1952, § 31 Anm. 7; K. Lange (o. Fn 120), 4; Rupp, FS Kern, 1968, 413/414; a. A. aber etwa Brox, Zur Zulässigkeit der erneuten Überprüfung einer Norm durch das Bundesverfassungsgericht, FS Geiger, 1974, 815, 819 In diesem Sinne Sachs (o. Fn 114), 131; dagegen allerdings K. Lange (o. Fn 120), 4, Fn 44, der eine solche Bindung allenfalls aus anderen Kriterien — etwa dem Rechtsstaatsprinzip — , nicht aber dem § 31 Abs. l BVerfGG entnehmen will

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mals mit dem gleichen verfassungsrechtlichen Problem befaßt 143 — an seine frühere Entscheidung gebunden. Doch könnte es bei besserer Einsicht zu einem anderen Ergebnis gelangen. Hierdurch ließe sich das Interesse an einer einheitlichen Verfassungsinterpretation mit dem Streben nach richtigen Entscheidungen verbinden. Was für die Se/£sibindung des Bundesverfassungsgerichts optimal erscheint, muß aber nicht auch für die Fremdb'mdung gelten, wie § 31 Abs. l BVerfGG sie normiert. Deshalb tritt eine weitere Sperre hinzu. Nach einer Ansicht liegt sie in den schon angedeuteten erweiterten subjektiven Rechtskraftgrenzen jedenfalls für alle staatlichen Stellen, für deren eigene Rechte die Einzelfallentscheidung erheblich werden kann.144 Nach anderer Meinung, vor allem nach der Ansicht des Bundesverfassungsgerichts, beschränkt sich die Fremdbindung nicht auf die Richtigkeitsvermutung, sondern ist zu einer strengen Bindung (freilich auch an die tragenden Gründe) erhärtet.145 Zwischen diesen extremen Positionen liegt KnelesH Vorschlag. Die Befugnis zur »Preisgabe der präjudiziellen Entscheidung« will er »beim Bundesverfassungsgericht«147 konzentriert sehen. Dazu befürwortet er eine Fremdbindung an die Präjudizien. Diese Präjudizienbindung trifft aber nur den Tenor, während es im übrigen bei der Präjudizienvermutung bleibt. Wenn also eines der an den Tenor der bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidung gebundenen Gerichte mit besseren Argumenten von den Ausführungen des Bundesverfassungsgericht abweichen will, so steht ihm dies frei, solange es hiermit nicht auch »die präjudizielle Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Ergebnis umstoßen würde«148. cc) Gegenstand Die immer wieder betonte149 Geltung des Tenors (in der Interpretation durch die Gründe) soll nicht angezweifelt werden. Auch sei 143

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Zu der Möglichkeit, das Bundesverfassungsgericht zu einer schon entschiedenen Frage noch einmal anzurufen, vgl. K. Lange (o. Fn 120), 4, dort auch die Nachweise in Fn 49, 50 Deutlich etwa Sachs (o. Fn 114), 79 ff., Stern (o. Fn 123), 1037 Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Ulsamer(o. Fn 121), Rn 16 m. N. (O. Fn 15), 299 ff. (O. Fn 15), 299 (O. Fn 15), 300 (nicht dort, sondern nur hier zur Verdeutlichung hervorgehoben) Vgl. dazu etwaK Lange (o. Fn 120), 3

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die Sonderfrage ausgeklammert, ob die Bindung nur die Auslegung der Verfassung betreffe.150 Vielmehr interessiert eine übergangene Frage. Bisher ist nämlich nur die unterschiedliche Bindungs&ra/£ diskutiert worden, wie sie einerseits die h. L.,151 andererseits das Bundesverfassungsgericht152 und der Rest der Lehre153 den Entscheidungsgründen zumißt. Was man aber unter den Entscheidungsgründen zu verstehen hat, ist offengeblieben. Zu klären bleibt die gegenständliche Reichweite der umstrittenen Bindungskraft. Teilweise ist die Rede von den »unmittelbar tragenden Gründen«154. Dies verstärkt die schon durch den Hinweis auf die »tragenden Gründe«"2'1J3 gebotene Überlegung, ob innerhalb der Gründe zu differenzieren ist. Offensichtlich sollen erhebliche aus unerheblichen Teilen herausgefiltert werden. Es ist nur die Frage, wie weit man dabei zu gehen hat. Sind die »unmittelbar tragenden Gründe« pointiert zu verstehen, so richtet sich die Aufmerksamkeit auf die für den Ausspruch der Rechtsfolge unabdingbare Begründung. Wie nämlich die im gesetzlichen Tatbestand genannte Rechtsfolge unter der Bedingung der tatbestandlichen Voraussetzungen gedacht ist, so steht die in der Vorentscheidung ausgesprochene (konkrete) Rechtsfolge unter den Voraussetzungen des gesetzlichen Tatbestandes. Um diese als erfüllt darzutun, sind alle tatbestandsrelevanten Elemente der Sachgestaltung so darzutun, daß den Anforderungen der Norm genügt ist. Dies mag ausdrücklich oder schlüssig geschehen. In jedem Falle muß dieser letzte Untersatz vor Ausspruch der Rechtsfolge die Schlüssigkeit des beschriebenen Lebenssachverhalts für die jeweilige Norm dartun. Zugleich wird damit der Tatbestand nicht nur in sei-

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Näher Maunz, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Ulsamer (o. Fn 121), Rn 17 m. N. Hierhin ist außer den Vertretern einer Erstreckung der subjektiven Rechtskraft (o. Fn 130) auch Kriele (o. Fn 18) zu rechnen. Wenn er nämlich seinen Vorschlag in die Nähe zu der dem anderen Meinungsblock angehörigen conditio-sine-qua-non-Lehre rückt, so faßt er diese auch nach seinen eigenen Worten entschieden »radikaler« auf Vgl. die Nachweise o. Fn 132 Vgl. außer den Nachweisen o. Fn 133 Bullinger, Das Ausmaß der Bindung an das Konkordatsurteil des Bundesverfassungsgerichts, DVB1 1958, 10 ff.; Forstboff, Das Bundesverfassungsgericht und das Berufsbeamtentum, DVBl 1954, 69, 72 Etwa bei Scheuner, Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und das Verfassungsrecht der Bundesrepublik, DVBl 1950, 613, 617

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ner Folge, sondern vor allem in seinen Voraussetzungen konkreter gestaltet. Treffend spricht Sauer*5* von diesem letzten Untersatz vor dem Ausspruch der Rechtsfolge als von der »konkreten Gestaltungsnorm«. Sie sei zugleich als das »Ergebnis« der Vorentscheidung verstanden. In ihr wird nämlich die zwischen Norm und Sachverhalt bestehende Spannung ausgeglichen. Man hat das Konzentrat der Vorentscheidung vor sich. Damit ist zugleich die Frage beantwortet, welchen Teil der Vorentscheidung man als Präjudiz aufzufassen hat: Es ist die »konkrete Gestaltungsnorm«1". Das ist nicht etwa unbestritten. Im Gegenteil werden überwiegend die in der Vorentscheidung »entwickelten Rechtsregeln«1"1 als Präjudiz aufgefaßt. Hieran ist richtig: Die »konkrete Gestaltungsnorm« ruht auf einer Rechtsregel. Das Gericht hat sie zumindest schlüssig entwickelt und drückt hierin aus, warum es zu der »konkreten Gestaltungsnorm« gelangt ist. Letztlich handelt es sich um eine Rechtsansicht. Sie sei hier aber als Rechtsregel bezeichnet, um sie aus den übrigen Rechtsansichten hervorzuheben. Häufig wird nämlich das Gericht nicht nur die Rechtsregel zu entwickeln haben. Ihr werden vielmehr eine Kette von Rechtsausführungen vorangehen müssen. Damit liegen zugleich die Zweifel offen. Als Gegenstand der Bindungswirkung kann nämlich zum einen nur die »konkrete Gestaltungsnorm«155 in Betracht kommen, die hier als maßgeblicher Teil der Vorentscheidung — als Präjudiz — bezeichnet worden ist. Doch ist damit noch nicht die hierauf isolierte Bindungswirkung dargetan. Insbesondere zu denken hat man an die Rechtsregel. In ihr wird die Norm konkretisiert. Dies gilt intensional, d. h. die Bedeutung wird paßgerecht zu dem zu entscheidenden Einzelfall verengt. Dieser Einzelfall findet sich in der »konkreten Gestaltungsnorm«155 prägnant im Blick auf den Tatbestand formuliert. Der Sachverhalt in der Fassung der »konkreten Gestaltungsnorm« stellt sich als Extension (Bezug) der Rechtsregel (und zugleich der Norm) dar. So läßt sich Rechtsregel und/oder »konkrekte Gestaltungsnorm« als Gegenstand der Bindungswirkung denken, wenn von den »unmittelbar tragenden Gründen«1" die Rede ist.

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Juristische Methodenlehre, 1940,376 ff. *Bydlinski(o. Fn 6), 150

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Man kann aber auch weiter gehen. So hat das Bundesverfassungsgericht156 zunächst sämtlichen Rechtsausführungen in der Entscheidung bindende Wirkung beigemessen. Dies kommt einem Gedankengang nahe, wie ihn Hanack™ für das Vorlageverfahren (insbesondere gem. §§ 121 Abs. 2,136 GVG) entwickelt hat. Er geht davon aus, daß die höchstrichterliche Rechtsprechung tatsächlich beachtet wird. Folgerichtig schaut er in seiner weiterführenden Analyse auf den Zweck des Ausgleichsverfahrens, die Rechtseinheit zu wahren. Diese Intention läßt sich aber nach seiner Meinung nur verwirklichen, wenn man alle Rechtsausführungen der Vorentscheidung einbegreift. Ihm ist zuzugeben: In der Praxis orientieren sich die Richter für ihre Entscheidungsfindung mehr an Präjudizien als an der Meinung selbst hochqualifizierter Wissenschaftler. Damit erhält das Präjudiz einen erhöhten Rang im judiziellen Erkenntnisprozeß. Das wird teils wegen der Gefahr beanstandet, Unrichtigkeiten zu zementieren.157" Dieser Einwand läßt sich nicht ohne weiteres von der Hand weisen. Wo Menschen wirken, sind Irrtum und Fehlsamkeit nicht weit entfernt. Und es ist gut, das nicht zu vergessen. Dies hindert aber nicht daran, in einer richterlichen (Vor-)Entscheidung gegenüber einer sonstigen Rechtsmeinung einen wesentlichen Vorzug zu finden. Sie geht nämlich aus einer konkreten Entscheidungssituation hervor und ist am Einzelfall erprobt.158 Ein solcher Vorzug kommt aber nicht etwa allen Ausführungen im Urteil zu. Ist doch gerade ein Obergericht leicht versucht, allgemeine Rechtsgrundsätze aufzustellen, ohne hierzu durch den Einzelfall genötigt zu sein. Derartige für die Entscheidung des konkreten Einzelfalles entbehrliche Ausführungen wird man zwar nicht als verfassungswidrig bezeichnen können. Doch sollten sie (jedenfalls) keine

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Vgl. etwa BVerfGE 4, 31, 38 Der Ausgleich divergierender Entscheidungen in der oberen Gerichtsbarkeit. Eine prozeßrechtliche Studie insbesondere zur Vorlegungspflicht und der Rechtsmittelzulässigkeit wegen Abweichung, 1962, 247 ff. 157a Vgl. etwa Straßburg (o. Fn 68), 105 158 Kriele (o. Fn 49), 96 ff. hat erst unlängst eine Reihe weiterer Gesichtspunkte zur Bedeutung der Präjudizien vorgestellt 157

33 höhere Autorität genießen als sonst (etwa von Wissenschaftlern) geäußerte Meinungen. Deshalb trachtet man danach, Darlegungen auszuscheiden, mit denen die richterliche Kompetenz überschritten wird.15' Nicht weit ist damit der Schritt hin zu einer Kausalbetrachtung. 160 So gelangt man zu der conditio-sine-qua-non-Formel. Sie wird vorgeschlagen, um die tragenden Gründe von den übrigen Ausführungen im Urteil abzugrenzen."1 Das damit verbundene hypothetische Vorgehen läßt nach dem für die Entscheidung objektiv Erforderlichen forschen. Diese Aufgabe wird man keinem anderen als dem später erkennenden Gericht anvertrauen können. Ist aber der (durchaus nicht regelmäßig kontrollierte) Standort des später entscheidenden Gerichts maßgeblich, so wird die Bindungswirkung manipulierbar. Deshalb muß aber nicht etwa das Kriterium insgesamt aufgegeben werden. Eher geboten ist eine Anleihe bei neueren Entwicklungen der Lehre von der Kausalität. Wird doch dort zunehmend die conditio-sine-qua-non-Überlegung von der Frage nach dem Wirkzusammenhang verdrängt.1" Nicht mehr hypothetisch von dem Erfolg (also von der Entscheidung aus) auf die Ausgangslage (d. h. auf die jeweilige Rechtsauffassung) blendet man zurück. Vielmehr schaut man zunächst auf die Ausgangslage und forscht nach dem Wirkzusammenhang, wie er sich tatsächlich entfaltet hat. Es interessiert also der Motivationsprozeß des vorentscheidenden Gerichts. Ihn hat zwar wiederum das später erkennende Gericht zu beurteilen. Doch ist nicht dessen Standpunkt ausschlaggebend. Es muß sich vielmehr in das Präjudiziengericht hineindenken. Nach dessen Sichtweise hat es zu beurteilen, ob die jeweils geäußerte Rechtsansicht einen Schritt auf dem Weg zur Entscheidungsfindung gebildet hat. Dabei ist die

159

Dies ist das Anliegen Schlitten, Das Obiter dictum, 1973, etwa 122/123; zustimmend etwa E. Schneider, Sind höchstrichterliche obiter dicta verfassungswidrig?, MDR 1973, 821; ablehnend, aber mit beachtlichen Argumenten und umfangreichen Nachweisen Kött, Obiter dicta — Ansätze einer Rechtfertigung, JZ 1976, 752 ff. 1M Aufschlußreich hierzu schon Baumgärtel, Anm. zu BAG AP Nr. 51 zu § 72 Arbeitsgerichtsgesetz 141 Vgl. Geiger (o. Fn 131), 1057,1060; Bullmger(o. Fn 153), 11 '" Instruktiv SS/Lenckner (o. Fn 26), v. §§ 13 ff. Rn 73 ff.

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Entscheidungsbegründung heranzuziehen. Alle hiernach in den Motivationsprozeß eingeflossenen Rechtsansichten sind erheblich. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Ansichten kumulativ oder alternativ vorgetragen werden, ob sie als gleichwertig anzusehen sind oder lediglich eine Hilfserwägung darstellen. Auch ein Argument zur Unhaltbarkeit von abweichenden Ergebnissen kann einen maßgeblichen Schritt in dem Motivationsprozeß darstellen.163 In diesem Sinne den gesamten Weg zur Entscheidung einzubeziehen ist unbedenklich, weil sich der Richter insofern innerhalb seiner Kompetenz hält und am Einzelfall ausrichtet. Auszuscheiden hat man dagegen solche Überlegungen, mit denen er über seine Befugnis hinausgeht, die mithin keinen Einfluß auf den Motivationsprozeß genommen haben und weder für den Ober- noch für den Untersatz des Syllogismus eingesetzt worden sind. Bei ihnen handelt es sich um bloße obiter dicta.1'4 Solche Ausführungen können sich selbst in sonst entscheidungserheblichen Begründungsteilen finden oder gar als Leitsatz ausgestaltet sein. Hierzu sollen auch »Wendungen« gehören, »die verallgemeinernd über den zu entscheidenden Fall hinausgehen«165. Dies erscheint nicht zweifelsfrei. Allerdings mindern sich die Bedenken im Blick auf die Entscheidungen des Bundesgerichtshofs16*, aus denen diese Aussage gewonnen zu sein scheint. Offensichtlich soll den Obergerichten nicht das Recht genommen werden, übergeordnete Maximen aufzustellen.167 Nur muß die übergeordnete Maxime für die Entscheidung erheblich gewesen sein. Hier allerdings sollte man nicht allzu kleinlich verfahren. Andernfalls könnte leicht eine im Rahmen der Gesetze liegende Rechtsfortbildung zumindest gehemmt, wenn nicht gar verhindert werden. Beachtet wird damit der für die Vorentscheidung maßgebliche Motivationsprozeß. Hierdurch legt man zwar das später entschei163

Vgl. Jescb, Zur Bindung an Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts über Verfassungsbeschwerden, JZ 1954, 528, 530; Sachs (o. Fn 114), 135; Schlüter (o. Fn 159), 78/79 164 Eingehend Schlüter (o. Fn 159), der allerdings wohl eher objektiv differenzieren will 165 KK/SiZ/ger, Kommentar zur Strafprozeßordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz, 1982, § 121 GVG, Rn 38; vgl. auch Kissel, Gerichtsverfassungsgesetz. Kommentar, 1981, § 121 GVG "* BGHSt. 18, 324, 325/326; 28, 165, 166 167 Vgl. zur Aufgabe der Gerichte, Maximen zu entwickeln, die für alle gleichliegenden Fälle anwendbar sind, etwa Rüthers (o. Fn 10) 461

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dende Gericht weitgehend fest."* Jedoch dürfte sich diese Herrschaft des Präjudiziengerichts weniger nachteilig auswirken, als wenn man den Standpunkt des später entscheidenden Gerichts maßgeblich sein läßt. Dann wird die Bindung manipulierbar. Sogar die Kontrolle durch das Rechtsmittelgericht bleibt nur eingeschränkt erhalten. Ist nämlich das nunmehr erkennende Gericht folgerichtig vorgegangen, so kann man lediglich seinen Standpunkt beanstanden. Und bei geschickter Wahl wird selbst eine Manipulation schwer aufzudecken sein. Es sei an das materiell ungerechte und doch »revisionssichere« Urteil erinnert! Gleichwohl ist die Herrschaft des Präjudiziengerichts nicht unstreitig.169 Will man sie gelockert sehen, so kann man im Ausgangspunkt auf dessen Entscheidungsmotivation abstellen. Hinzunehmen läßt sich Krieles170 Vorschlag: Danach darf das später entscheidende Gericht bei besserer Einsicht schrittweise vom Präjudiz abrücken. Nur muß die Vorentscheidung im Ergebnis gewahrt bleiben. Dem Ergebnis kommt eine »Präjudizien^m^ng« zu, die nicht abwendbar ist. Dagegen wird den übrigen Rechtsausführungen nur eine »Präjudizieni;m?7#£#«g« zugebilligt, die bei überzeugenden besseren Argumenten überwunden werden kann. Dem steht die hier bevorzugte Sichtweise von der »konkreten Gestaltungsnorm«155 nahe. Die »konkrete Gestaltungsnorm« ist mit stärkerer Bindungswirkung ausgestattet, und zwar sogar gegenüber der Rechtsregel. Die Rechtsregel ist bei gewichtigen besseren Argumenten austauschbar. Dies sei an einem Beispiel — freilich aus dem Strafrecht — erläutert: Ein Täter zündet ein größeres Gebäude an, das Menschen zur Wohnung dient. Er hat sich aber vor der Tat darüber vergewissert, daß sich gegenwärtig niemand im Gebäude aufhält. Diese Sachlage nimmt das Gericht1701 zum Anlaß, eine Freiheitsstrafe wegen eines Verbrechens nach §306 Nr. 2 StGB auszusprechen. Die Rechtsregel für diese »konkrete Gestaltungsnorm« kann einmal in der Begründung liegen, es genüge die abstrakte Gefährlich-

'" So die zutreffende Kritik Krieles (o. Fn 15), 286 Stern (o. Fn 123), 1039, hält es allerdings für gewichtig, welche Gründe das Bundesverfassungsgericht selbst als tragend bezeichnet hat 170 (O. Fn 15), 299 ff., auch schon 275 ff zu den Schritten beim Abrücken von Präjudizien 17 °» Vgl. BGHSt 26, 121 ff. 169

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keit des abgeurteilten Verhaltens. Man kann aber auch die Zweifel an der Vereinbarkeit abstrakter Gefährdungsdelikte mit dem Schuldprinzip zum Anlaß nehmen, um die Vorwegnahme des Gefahrenurteils zu korrigieren. Dann wird man einen Ausschluß des Gefahrenurteils zulassen. Gleichwohl mag man sich aber auf den Standpunkt stellen, jedenfalls bei einem größeren Gebäude könne sich der Täter gar nicht hinreichend vergewissern. Deshalb sei auch bei einer Kontrolle durch ihn das Gefahrenurteil nicht zurückzunehmen. Dieselbe »konkrete Gestaltungsnorm« läßt sich also auf eine andere Rechtsregel stützen. Um so mehr gilt dies für Rechtsausführungen innerhalb des vorgelagerten Motivationsprozesses. Damit läßt sich für Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts eine von der Rechtskraft abzuschichtende Bindungswirkung festhalten. Normiert ist sie in § 31 Abs. l BVerfGG und wird überwiegend gegenständlich auch auf die tragenden Gründe der Entscheidung bezogen. Mit welcher Kraft dies geschieht, ist allerdings bestritten. Während die wohl h. L. eine bloße Richtigkeitsvermutung befürwortet, geht das Bundesverfassungsgericht selbst von einer Striktbindung aus. Von dieser betrachtet es sich allerdings — unter weitgehender Billigung der Lehre — selbst nicht als ergriffen. Sonst erfaßt die Bindung subjektiv alle Gerichte. Hiermit soll eine einheitliche Verfassungsinterpretation erreicht werden. Dies ist freilich auch möglich, wenn man als Präjudiz nicht die gesamte Vorentscheidung ansieht, sondern nur den letzten Untersatz. Darin werden alle Elemente des Sachverhalts erfaßt, mit denen die Voraussetzungen der jeweiligen Norm als erfüllt dargelegt werden können. Es handelt sich um die »konkrete Gestaltungsnorm«155. Die Begründung, warum das Gericht zu ihr gelangt ist, hebt sich aus den übrigen Rechtsausführungen heraus und ist als Rechtsregel zu bezeichnen. Durch sie wird intensional und extensional (in Bedeutung und Bezug) die Norm konkretisiert. Den Bezug der Rechtsregel bildet der Einzelfall, wie er prägnant in der »konkreten Gestaltungsnorm« formuliert ist. Gleichwohl ist die Rechtsregel austauschbar; und es läßt sich auch eine andere Rechtsregel zur Begründung der »konkreten Gestaltungsnorm« denken. So ist eine unterschiedliche Bindungskraft für das Präjudiz einerseits, für die Rechtsregel andererseits sowie vermehrt für die übrigen Rechtsausführungen zu überlegen.

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c) Angestrebte Vereinheitlichung der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und der Oberlandesgerichte aa) Rechtsnatur Auch sonst wird das Bestreben nach einer einheitlichen Rechtsprechung der Obergerichte spürbar. Dies sei am Beispiel der §§ 121 Abs. 2, 136 ff. GVG jedenfalls in den Grundlinien skizziert. Vor allem auf der Ebene des Bundesgerichtshofs sollen abweichende Rechtsansichten vermieden werden. Zur Vorlage an den Großen Senat verpflichtet ist grundsätzlich jeder Straf- bzw. Zivilsenat, insofern er sich in einer Rechtsfrage von der Vorentscheidung eines anderen Straf- oder Zivilsenats des Bundesgerichtshofs distanzieren will (vgl. §136 Abs. l GVG). Kommt es zu einer Innendivergenz zwischen dem großem Straf- und dem großen Zivilsenat, so ist die Rechtsfrage dem Vereinigten Großen Senat vorzulegen (vgl. § 136 Abs. 2 GVG). Es kommt also nicht erst zum Vorlageverfahren, wenn das gefundene Ergebnis von dem Ergebnis einer früheren Entscheidung abweicht. Nicht erst Unterschiede in der »konkreten Gestaltungsnorm« des späteren Erkenntnisses gegenüber einer früheren einschlägigen Entscheidung sind erheblich. Vielmehr genügen Diskrepanzen schon auf einer unteren Stufe. Häufig sind nämlich auf dem Weg zur »konkreten Gestaltungsnorm« nicht wenige Rechtsfragen zu beantworten. Schon derartige rechtliche Divergenzen sollen aber in der Ebene des Bundesgerichtshofs möglichst vermieden werden. Will also in einer solchen (der »konkreten Gestaltungsnorm« vorgelagerten) Rechtsfrage ein Senat des Bundesgerichtshofs von der Beurteilung durch einen anderen Senat abweichen, geht die Kompetenz zur Entscheidung der Rechtsfrage in dem jeweils anstehenden Verfahren auf einen der Großen Senate (vgl. § 136 Abs. l GVG) bzw. auf den Vereinigten Großen Senat (vgl. § 136 Abs. 2 GVG) über, nicht etwa die Entscheidungskompetenz auch in der Sache (vgl. § 138 Abs. l GVG). Die Entscheidung über die Rechtsfrage bindet aber den erkennenden Senat (vgl. § 138 Abs. 3 GVG). Gleichwohl kann hieraus nicht ohne weiteres eine Präjudizien&m&mg abgeleitet werden. Die in §138 Abs. 3 GVG normierte Bindungswirkung beschränkt sich nämlich auf das Verfahren, in dem die Entscheidung eines der Großen bzw. des Vereinigten Großen Senats eingeholt worden ist. In jedem anderen Verfahren muß die Frage erneut geklärt werden, wobei

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allerdings bei einer Divergenz wiederum die Vorlagepflicht zu beachten ist. Zu der nur auf die konkrete Einzelfallentscheidung beschränkten Bindung führt auch das Vorlageverfahren nach § 121 Abs. 2 GVG. Übereinstimmung besteht ferner dahin, daß schon die Divergenz in einer Rechtsfrage die Vorlagepflicht auslöst.171 Dennoch ergeben sich bemerkenswerte Unterschiede. So bleibt das Vorlageverfahren nach § 121 Abs. 2 GVG nicht zwingend auf die anstehende Rechtsfrage beschränkt. Der Bundesgerichtshof kann — anders als seine Großen Senate und sein Vereinigter Großer Senat im Verfahren nach § 136 GVG — in der Sache insgesamt entscheiden.172 Mehr noch ins Gewicht fällt aber die weniger flächendeckend ausgestaltete Vorlagepflicht. Ist doch in der oberlandesgerichtlichen Ebene de lege lata nur die Außendivergenz, nicht die Innendivergenz erfaßt.173 Verschiedene Senate eines Oberlandesgerichts mögen in einer Rechtsfrage unterschiedliche Positionen einnehmen, ohne die Sache dem Bundesgerichtshof vorzulegen. Außerdem lösen nicht Divergenzen auf einem jeden Gebiet, sondern nur im Revisions- und Rechtsbeschwerdeverfahren die oberlandesgerichtliche Vorlegungspflicht aus (vgl. §§ 121 Abs. 2 GVG, 79 Abs. 3 OWiG). Abgesehen von der weniger umfassenden Ausgestaltung des Vorlageverfahrens auf der Ebene der Oberlandesgerichte, soll aber auch § 121 Abs. 2 GVG die Rechtseinheit fördern. Zu einer Zeit sollen die Obergerichte eine Rechtsfrage möglichst nicht unterschiedlich beurteilen. Nicht dagegen steht Kontinuität im Vordergrund. Dies folgt aus verschiedenen mehr oder weniger anerkannten Gesichtspunkten. Genannt sei nur die einhellig vertretene Auffassung, ein Senat dürfe seine Rechtsprechung so lange ändern, wie er damit nicht mit der Meinung eines anderen Senats kollidiere.174 In diesem Sinne wird auch der Nachfolgesenat eines allein mit einer Spezialmaterie betrau171

Trotz insofern nicht eindeutigen Wortlauts des § 121 Abs. 2 GVG anerkannt, vgl. etwa KK/ Salger (o. Fn 165), § 121 GVG, Rn 31 ff. m. N. 172 Allerdings nur bei größerer Sachdienlichkeit, dazu Kleinknecht/Meyer, StPO, Nebengesetze und ergänzende Bestimmungen, 37. Aufl., 1985, § 121 GVG, Rn 14 m. w. N. 173 De lege ferenda vgl. aber LR/Schäfer, Die Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, Großkommentar, 23. Aufl., Bd 5, 1979, § 121 GVG, Rn 30 174 Vgl. dazu etwa Kleinknecht/Meyer (o. Fn 172), § 136 GVG, Rn 2

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ten Senats als befugt angesehen, von seiner bisherigen Rechtsprechung ohne Vorlage an den Großen Senat abzugehen.175 Auf der gleichen Linie liegt das — allerdings teilweise in der Lehre als bedenklich bezeichnete176 — Anfrageverfahren. Hierdurch kann eine Vorlage nach § 121 Abs. 2 GVG oder nach § 136 GVG vermieden werden, wenn der andere Senat erklärt, er gebe seine frühere Ansicht auf. Nicht selten wird es aber nicht um die soeben angesprochene Kontinuität in der Rechtsprechung gehen. Sowie die zu einer Zeit bestehende Rechtseinheit beeinträchtigt ist, führen die in §§ 121 Abs. 2, 136 GVG normierten Vorlagepflichten gleichsam zu einer Hierarchie der Rechtsansichten. Kann doch der Große Straf- oder Zivilsenat wie auch der Vereinigte Große Senat in dem Vorlageverfahren jeweils wieder eine Ansicht maßgeblich werden lassen und damit den Standpunkt der vorlagepflichtigen Spruchkörper aus der Rechtswirklichkeit abdrängen. Das ist ebenfalls den einzelnen Straf- und Zivilsenaten des Bundesgerichtshofs nach § 121 Abs. 2 GVG im Verhältnis zu den Oberlandesgerichten möglich. Dennoch liegt hierin ebensowenig wie in einer etwa nach § 358 Abs. l StPO ausgelösten BindungsWirkung ein Verstoß gegen die richterliche Unabhängigkeit.177 Können doch die hierarchisch untergeordneten Gerichte ihre abweichende Meinung jeweils — auch mit weiteren Argumenten — durch das Vorlageverfahren wieder ins Spiel bringen. Andererseits ist die in §§ 121 Abs. l, 136 GVG gebotene Vorlage einzuhalten. Hierbei trifft die Senate der Oberlandesgerichte und des Bundesgerichtshofs allerdings nicht die Pflicht, nach abweichenden (Vor-)Entscheidungen zu forschen. Damit werden grundsätzlich nur veröffentlichte oder in der Fachliteratur angeführte Präjudizien überhaupt beachtet werden müssen.178 Einen Verstoß wird man als Rechtsfehler zu beurteilen haben. Vor Eintritt der Rechtskraft kann er mit den ordentlichen Rechtsmitteln gerügt werden; hernach ist er als »geheilt«17' anzusehen. Sobald ein Senat freilich willkürlich gegen die 175

174

177 178 179

Vgl. BGHSt 11, 199, 205 - JZ 1958, 443 m. Anm. Härtung; BGHSt 19, 177, 184; BGH2 28, 16, 28 Dazu etwa Kissel (o. Fn 165), § 121 GVG, Rn 16; Eb. Schmidt, Lehrkommentar zur Strafprozeßordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz, Teil III, 1960, § 121 GVG, Rn 25 Jetzt im wesentlichen anerkannt, vgl. dazu LR/ Schäfer (o. Fn 173), § 121 GVG, Rn 34 Vgl. aber auch LR/Schäfer (o. Fn 173), § 121 GVG, Rn 66 LR>'Schäfer (o. Fn 173), § 121 GVG, Rn 73

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Vorlegungspflicht verstößt, verletzt er den in Art. 101 Abs. l GG festgelegten Grundsatz des gesetzlichen Richters. Dagegen kann Verfassungsbeschwerde nach § 90 BVerfGG erhoben werden.180 Sonach kann das Vorlageverfahren nach §§ 121 Abs. 2, 136 GVG zwar zu einer Bindung des vorlegenden Gerichts führen. Diese Bindung beschränkt sich jedoch auf das jeweilige Verfahren, in dem es zur Vorlage gekommen ist. Um eine Präjudizienbmdurig handelt es sich also nicht. Gleichwohl bilden §§ 121 Abs. 2, 136 GVG ein Mittel, um den Standpunkt des in dem Vorlageverfahren hierarchisch höchsten Spruchkörpers durchzusetzen. Divergiert nämlich hiermit die Auffassung des vorlegenden Gerichts, so bleibt diesem zwar in einem anderen Verfahren eine erneute Vorlage unbenommen. Doch ist kaum zu erwarten, daß in dem dann laufenden weiteren Vorlageverfahren der schon früher abgelehnte Standpunkt wird durchgesetzt werden können. Dies ist allenfalls dann denkbar, wenn das vorlegende Gericht nunmehr deutlich überzeugendere Argumente als bisher einzubringen vermag. bb) Adressaten Die eben angesprochene Vorlagehierarchie beginnt mit dem Vereinigten Großen Senat des Bundesgerichtshofs gleichsam als Spitze der Pyramide (vgl. § 136 Abs. 2 GVG). Als Ebene hierauf folgen der Große Straf- und der Große Zivilsenat des Bundesgerichtshofs (vgl. § 136 Abs. l GVG). Die zweite Ebene bilden die Straf- und Zivilsenate des Bundesgerichtshofs, während als dritte und und zugleich unterste Ebene die Senate der Oberlandesgerichte erscheinen (vgl. § 121 Abs. 2 GVG). Nicht einbegriffen sind die Spruchkörper der Landund Amtsgerichte. Sie können von der Judikatur des Bundesgerichtshofs und der Oberlandesgerichte abweichen, ohne hierbei durch ein Vorlageverfahren eingeschränkt zu sein. Hier sind Vereinheitlichungstendenzen allein auf dem Wege über Rechtsmittel realisierbar. 180

Vgl. etwa BVerfGE 42, 237; Rinck, Gesetzlicher Richter, Ausnahmegericht und Wilkürverbot, NJW 1964, 1649, 1651; Schröder, Rechtseinheit und richterliche Entscheidungsfreiheit, NJW 1959, 1517, 1521; Stree, Verfassungsbeschwerde bei Verstoß gegen Vorlegungspflicht?, NJW 1959, 2051

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Das Vorlageverfahren erfaßt also im Gegensatz zur Bindungswirkung des § 31 Abs. l BVerfGG nicht alle Gerichte. Der Adressatenkreis beschränkt sich auf die Obergerichte. Und doch ist eine Gemeinsamkeit festzuhalten: Das hierarchisch am höchsten stehende Gericht soll sich mit seinem Standpunkt durchsetzen können. Seine und nicht die Vorentscheidungen eines untergeordneten Gerichts sind maßgeblich. Bereits dies spricht dagegen, Vorentscheidungen pauschal als Präjudizien anzusehen. Damit kann der schon substantiell auf die »konkrete Gestaltungsnorm« eingegrenzte Begriff des Präjudizes jetzt auch in anderer Richtung näher bestimmt werden. Das Prädikat scheint nur obergerichtlichen Erkenntnissen zuzukommen. Hierin liegt aber nur ein vorläufiger Eindruck schon deshalb, weil sich im Vorlageverfahren keine Bindungswirkung entfaltet. Das in der Vorlagehierarchie tiefer stehende Gericht ist nicht daran gehindert, seine Rechtsansicht zu vertreten. Nur deren Durchsetzung wird gehemmt. cc) Gegenstand ccl) Rechtsfrage Deutlicher als im Rahmen des § 31 Abs. l BVerfGG konzentriert sich das Vorlageverfahren nach §§ 121 Abs. 2,136 GVG auf Rechtsirzgen. Die Versuche, Rechts- von Tatfragen abzugrenzen, muten dabei recht kasuistisch an.181 Die Probleme, die sich stellen, sind aus dem Revisionsrecht bestens bekannt.182 Sie können hier noch nicht einmal skizzenhaft diskutiert werden. Anstelle dessen sei eine stark vereinfachende Faustregel erlaubt: Insofern es allein auf den Untersatz des Syllogismus ohne Auswirkung auf den Obersatz ankommt, isolieren sich die Überlegungen auf eine reine Tatfrage. Sobald aber der Obersatz betroffen ist, hat man eine Rechtsfrage vor sich. cc2) Identität Nicht nur eine Rechtsfrage schlechthin muß zu beantworten sein. Vielmehr muß sie, wie sie sich dem vorlegenden Gericht stellt, mit 181

182

Aufschlußreich KK/Salger (o. Fn 165), § 121 GVG, Rn 35/36 mit sorgfältiger Verarbeitung der Rechtsprechung Vgl. etwa Roxin, Strafverfahrensrecht, 18. Aufl., 1983, § 53 D II 3

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der Rechtsfrage identisch sein, zu der sich Ausführungen in der Vorentscheidung finden. Eine solche Identität hat man nicht nur dann vor sich, wenn jeweils dieselbe Gesetzesbestimmung heranzuziehen ist. Vielmehr kann es sich auch um einen Rechtsgrundsatz handeln, der in mehreren verschiedenen Normen vorkommt.183 Oder es mag um einen allgemeinen Erfahrungssatz gehen.1184 cc3) Entscheidungserheblichkeit Die Divergenz muß entscheidungserheblich sein. Jedenfalls nach h. M.185 hat man zwei Positionen einander gegenüberzustellen, zum einen den Standpunkt der Vorentscheidung, zum anderen das beabsichtigte Erkenntnis des vorlegenden Gerichts. Grenzt man diese beiden Ebenen voneinander ab, so ergeben sich unterschiedliche Aspekte für die Vorentscheidung einerseits und für das Erkenntnis des vorlegenden Gerichts andererseits. Inwiefern die Rechtsfrage für die Vorentscheidung erheblich gewesen ist, wird im Anklang an § 358 Abs. l StPO bzw. § 565 Abs. 2 ZPO beantwortet. Letztlich gilt nichts anderes, als zu § 31 BVerfGG schon dargelegt.1** Dort ist der gesamte Motivationsverlauf bis hin zum Finden der Entscheidung einbegriffen worden.1*7 Diese schrittweise Betrachtung muß nicht etwa zwingend auch für das Erkenntnis des vorlegenden Gerichts eingesetzt werden. Hier läßt sich durchaus »ergebnisorientiert« denken. Ganz in diesem Sinne bezeichnet die h. M.188 die Vorlegung als unzulässig, wenn das vorlegende Gericht zwar eine andere Begründungskette findet, letztlich aber doch zu der Rechtsauffassung gelangt, wie sie der Vorentscheidung zugrunde liegt. Insofern konzentriert sich der Blick also auf die »konkrete Gestaltungsnorm«155. In dem Weg dorthin ist das später er183

Anerkannt, so schon BGHSt 6, 41, 42 Anerkannt, vgl. bereits BGHSt 21,157 us vgl. etwa Kleinknecht/Meyer, (o. Fn 172) § 121 GVG, Rn 10; LR/Scbäfer (o. Fn 173), § 121 GVG, Rn 66/67 befürwortet jedoch für das Vorlageverfahren nach § 121 Abs. 2 GVG eine minder strenge Prüfung dahin, ob die Rechtsfrage für die Vorentscheidung entscheidungserheblich gewesen ist 186 Dazu o. b) 187 O. bei Fn 157 ff. 188 Vgl. BGH NJW 1977, 1014; KK/Salger (o. Fn 165), § 121 GVG, Rn 32; Kleinknecht/ Meyer (o. Fn 172), § 121 GVG, Rn 10; LR/Schäfer (o. Fn 173), § 121 GVG, Rn 59 184

43 kennende Gericht frei, wenn nur die »konkrete Gestaltungsnorm« nicht von der Rechtsauffassung in einem früheren einschlägigen Erkenntnis abweicht. Verglichen werden also nicht die »konkreten Gestaltungsnormen« miteinander. Der Vergleich beharrt nicht in der oberen Stufe, dringt aber auch nicht ungehindert bis zu der unteren Stufe der die »konkrete Gestaltungsnorm« stützenden Rechtsauffassungen vor. Vielmehr ist danach zu fragen, ob die von dem später erkennenden Gericht betretene obere Stufe der »konkreten Gestaltungsnorm« mit der unteren Stufe einer einschlägigen Vorentscheidung kollidiert, d. h. mit einer oder mehreren der sie stützenden Rechtsauffassungen. Damit finden sich Anklänge an den Vorschlag, wie Krielem ihn zu der Präjudizienbindung im Rahmen des § 31 BVerfGG unterbreitet hat. Die Harmonie besteht aber nur teilweise. Kriele denkt ergebnisorientiert nicht nur für das spätere Erkenntnis, sondern schon für das Präjudiz. Um Kongruenz mit dessen Ergebnis geht es ihm. Für das Vorlageverfahren nach §§ 121 Abs. 2, 136 GVG kommt es dagegen zwar auf das Ergebnis an, welches das später erkennende Gericht gefunden hat. Nur ist dieses Ergebnis nicht mit dem der Vorentscheidung, sondern mit deren einzelnen Schütten im Motivationsprozeß zu vergleichen. So läßt sich für das Vorlageverfahren nach §§ 121 Abs. 2,136 GVG zusammenfassend notieren: Auf der Ebene des Bundesgerichtshofs Innendivergenz bzw. Außendivergenz bei den Oberlandesgerichten verpflichtet unter den Voraussetzungen des § 136 bzw. des § 121 Abs. 2 GVG zur Vorlage. Die Divergenz muß eine Rechtsfrage betreffen, die das Präjudiziengericht für das Finden der Vorentscheidung beantwortet hat und die auch für das nunmehr zu fällende Erkenntnis erheblich wird. Bei einer in diesem Sinne identischen Rechtsfrage weicht das nunmehr erkennende Gericht von der Vorentscheidung aber nur ab, insofern es im Ergebnis nicht zu der Rechtsauffassung gelangt, wie sie sich in der Vorentscheidung findet. 2. Dogmatische Aspekte a) Rechtsnatur Trotz der für §§ 31 Abs. l BVerfGG einerseits, §§ 121 Abs. 2, 136 GVG andererseits gefundenen Parallelen im Gegenstand der Bindung

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läßt sich für deren Rechtsnatur nicht sogleich ein gemeinsamer Nenner finden. Wird doch in § 31 Abs. l BVerfGG eine strikte Bindung an das Ergebnis der vom Bundesverfassungsgericht getroffenen Entscheidungen befürwortet, erreiche man dies über ausgeweitete Grenzen der subjektiven Rechtskraft oder über eine Präjudizienbindung. Nur im Blick auf die Gründe sieht man teils zugunsten einer Richtigkeitsvermutung von der Striktbindung ab.189 Dagegen normieren die Vorlagebestimmungen der §§ 121 Abs. 2, 136 GVG insgesamt lediglich ein Hindernis. Es wird überwunden, wenn der in dem Vorlegungsverfahren hierarchisch übergeordnete Spruchkörper die Auffassung des vorlegenden Gerichts gegenüber der Vorentscheidung als überzeugender akzeptiert. Sonst setzt sich die in der Vorentscheidung zu findende Rechtsansicht durch. Dies gilt freilich nur für das Verfahren, in dem es zur Vorlage gekommen ist. Weiter erstreckt sich die Bindung nicht; vielmehr bleibt es dem vorlegenden Gericht unbenommen, wiederum zu einem abweichenden Standpunkt zu gelangen und diesen in einem weiteren Vorlageverfahren überprüfen zu lassen. Als Gemeinsamkeit zwischen § 31 Abs. l BVerfGG einerseits und §§ 121 Abs. 2, 136 GVG andererseits läßt sich damit eine Art von Blockade feststellen, wie sie von einer obergerichtlichen Vorentscheidung ausgehen kann. Die Blockade ist allerdings für das Vorlegungsverfahren nach §§ 121 Abs. 2, 136 GVG schwächer ausgestaltet als im Rahmen des § 31 BVerfGG. Allenfalls diese mindere Bindungskraft wird man verallgemeinern können. Damit verbietet es sich zugleich, die Wirkung von Präjudizien der Rechtskraft gleich oder auch nur ähnlich ausgestaltet zu sehen. Zwar mögen sich bei einer Zweckbetrachtung Parallelen zeigen. Die Voraussehbarkeit des Rechts und damit letztlich die Rechtssicherheit fördert man auch dann, wenn man Vorentscheidungen achtet. Gleichwohl besteht ein bedeutsamer Unterschied. Der mit der Rechtskraft bezweckte Befriedungseffekt (inter partes) bildet ein Anliegen, das der präjudiziellen Wirkung nicht innewohnt.190 Zutreffend wird deshalb im Blick auf die Präjudizien das Spannungsfeld zwischen der Rechtssicherheit

189

Dazu näher o. 1. b) »° SchonRiezler(o.Fn 114), 167

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und dem Interesse an einer richtigen Entscheidung eher zugunsten der Richtigkeit entschieden.1" Dies genügt freilich nicht dazu, der Figur des Richterrechts ablehnend gegenüberzustehen. Damit würde man der umfangreichen Diskussion hierzu192 schwerlich gerecht. Ein solches — oder auch gegenläufiges — Urteil erfordert eine weitere Blickrichtung. Sie ist nicht nur auf die Rechtswirklichkeit zu lenken (dazu u. 3.). Darüber hinaus verspricht der Vergleich mit dem insofern erheblich erfahrungsreicheren anglo-amerikanischen Rechtskreis wesentlichen Gewinn (dazu u. B). Bisher läßt sich für Präjudizien nur festhalten: Die Sonderregel des § 31 Abs. l BVerfGG mit seiner Bindungswirkung läßt sich nicht verallgemeinern. Kann doch aus dem Vorlageverfahren nur eine Hemmungswirkung hergeleitet werden, eine Hemmung der Obergerichte, von der Rechtsansicht eines gleich- oder in der Präjudizienpyramide höher stehenden Gerichts abzuweichen. b) Adressatenkreis Eine Hemmungswirkung geht nur aus von Entscheidungen des Bundesgerichtshofs und der Oberlandesgerichte. Der Adressatenkreis endet mit der untersten Ebene der Vorlagepyramide, nämlich mit dem OLG.1" Dieser stark eingeschränkte Adressatenkreis läßt sich im Blick auf die Sonderregel des § 31 Abs. l BVerfGG dogmatisch nicht auf die Ebene aller Gerichte erweitern. Um so mehr ist man versucht anzunehmen, Präjudizien könnten nur in Vorentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, des Bundesgerichtshofs oder der Oberlandesgerichte gesehen werden. Diese Aussage gilt es aber noch anhand der Rechtswirklichkeit zu überprüfen (dazu u. 3.b). c) Gegenstand Aus § 31 Abs. l BVerfGG und §§ 121 Abs. 2, 136 ff. GVG kann als Gemeinsamkeit eine Hemmschwelle gegen abweichende Erkenntnisse abgeleitet werden. Sie wird errichtet durch das Präjudiz, also durch die »konkrete Gestaltungsnorm«'55, durch die zu deren Be191 192 193

Dahin sind auch die Überlegungen Krieles (o. Fn 15), 269 ff., zu verstehen Neuestens Bydlinski (o. Fn 6) Dazu o. 1. c) bb)

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gründung herangezogene Rechtsregel wie auch durch sonstige Rechtsausführungen. Im Blick auf diese Elemente der Vorentscheidung bleibt eine unterschiedliche Höhe der Hemmschwelle zu überlegen. Hiergegen scheinen §§ 121 Abs. 2, 136 GVG zu sprechen. Jeweils abgehoben wird auf die Diskrepanz zu den Rechtsansichten, die für das Präjudiz erheblich geworden sind. Es geht also um die Motivationsschritte, die das Präjudiziengericht zu seiner Entscheidung geführt haben.194 Verglichen wird also letztlich das Ergebnis einer späteren Entscheidung — dessen »konkrete Gestaltungsnorm« — mit den einzelnen Schritten der einschlägigen Vorentscheidung. Die Sicht auf das spätere Erkenntnis wird also eher synthetisch geführt, die Vorentscheidung dagegen analysiert. Schon deren einzelne Motivationsschritte lösen eine Hemmungswirkung aus. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, daß sich die Hemmungswirkung innerhalb der Vorlagepyramide erschöpft. Bei dieser Innenw'irkung mag die Harmonisierung von Rechtsansichten eher im Vordergrund stehen als bei einer Wirkung jedenfalls auch auf außerhalb stehende Gerichte. Deshalb liegt es nahe, hier die im Rahmen des § 31 Abs. l BVerfGG abgeschichtete Bindungskraft zu betrachten. Es sei erinnert an Krieles™ Unterscheidung zwischen »Präjudizien£zW#rcg« und »Präjudizienvermutung«. Angeregt wird damit eine gleichsam zweistufige Wirkung mit einer unteren austauschbaren Stufe von Rechtsansichten. Diese Überlegung ist bestechend genug, um ihre Wirksamkeit auch außerhalb der Sonderregel des §31 Abs. l BVerfGG zu erwägen. Da der Gedanke aber bisher dogmatisch nicht als allgemeingültig installiert werden kann, steigt das Interesse an den Erkenntnissen, die zu den precedents im anglo-amerikanischen Rechtskreis haben gewonnen werden können (dazu u. B), ohne freilich die praktische Bedeutung der Präjudizien in Deutschland außer acht zu lassen (sogleich u. 3.). Dogmatisch kann — abgesehen von § 31 Abs. l BVerfGG — die Präjudizienwirkung in Kraft und Reichweite nur als schwach ausgeprägt festgehalten werden. Aus ihr ergibt sich nämlich lediglich ein Hemmnis für das später erkennende Gericht. Ungehindert darf es seinen Standpunkt nur durchsetzen, insofern dieser nicht von der in "4 Zu dieser »Motivationskausalität« näher o. b) cc) 195 Vgl.o. Fn 170

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einer Vorentscheidung geäußerten entscheidungserheblichen Rechtsauffassung abweicht. Diese Hemmungswirkung ist freilich auf die in §§121 Abs. 2, 136 GVG normierte Vorlagepyramide beschränkt. Außerhalb dieser Pyramide bleibt eine zweistufige Präjudizien wirkung zu überlegen mit den Rechtsansichten als einer unteren austauschbaren Stufe und der darüberliegenden oberen Stufe der »konkreten Gestaltungsnorm«1155 3, Präjudizien in der Rechtswirklichkeit a) Charakter der Präjudizienwirkung Abweichend von der eben angesprochenen dogmatischen Enge in der Präjudizien Wirkung haben Vorentscheidungen in der Praxis erhebliches Gewicht. Gerade die aus der Vorlagepyramide ausgeschlossenen Land- und Amtsgerichte wenden das Gesetz so an, wie es durch das Präjudiz konkretisiert worden ist. Die Entscheidungen des Bundesgerichtshofs wie auch der Oberlandesgerichte — diese innerhalb des jeweiligen Gerichtsbezirks — findet man tatsächlich befolgt.19* Deshalb bilden aber noch nicht etwa Präjudizien schlechthin Gewohnheitsrecht. Zwar wird dieses Prädikat teils1"" dem »Richterrecht« zuerkannt. Und das Richterrecht entsteht aus obergerichtlichen Vorentscheidungen, die nach dem bisherigen Stand der Untersuchung als Präjudizien verstanden werden. Doch erfordert die Anerkennung von Gewohnheitsrecht eine längere Übung. Fehlt sie, so kann schon deshalb Richterrecht nicht als Gewohnheitsrecht beurteilt werden. Darüber hinaus wird auf die

'** Instruktiv schon Ruthen (o. Fn 10), 461 ff.; ferner neuerdings Straßburg, Rückwirkungsverbot und Änderung der Rechtsprechung, ZStW 82 (1970), 948, 954 ff.. Zudem zeigt Weller (o. Fn 112), 17 ff., 31 ff., 78 ff. passim, wie Präjudizien schon seit langem die Rechtsfindung bestimmen. Dabei sei hier die Frage ausgeklammert, ob man von faktischer Verbindlichkeit sprechen kann, dazu Sachs (o. Fn 114), 117 und dort Fn 154 "*» So Gschnitzer, Schafft Gerichtsgebrauch Recht?, FS Österreichischer OGH, 1950, 40; einschränkend in vergleichender Sicht auch Fikentscher (o. Fn 16), 319/320; Spiro, Über den Gerichtsgebrauch zum Allgemeinen Teil des revisierten Obligationsrechts, 1948, 320, 322 (zitiert nach Bydlinski - o. Fn 6 - , 150)

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fehlende Legitimation zum Erlaß abgehoben.197 Zutreffend zieht man daher den Gesichtspunkt des Gewohnheitsrechts nicht dazu heran, die tatsächliche Geltung von Präjudizien rechtlich zu legitimieren. So erstaunt es nicht, daß hierfür andere Argumente angeführt werden. Insbesondere wird immer wieder auf die Behandlung von Präjudizien in der Rechtsprechung zu § 839 BGB hingewiesen.198 Diskutiert man doch die Unkenntnis der höchstrichterlichen Rechtsprechung als Amtspflichtverletzung.199 Für Beamte mag dies eine erhebliche Rolle spielen. Für den Richter dagegen greift die Sperre der §§ 839 Abs. 2 S. l BGB, 336 StGB ein. Selbst nur vermeintlich überzeugendere Argumente lassen damit eine Entfernung vom Präjudiz zu. Auch ein weiterer häufig anzutreffender Hinweis führt nicht entschieden weiter. Es wird nämlich — an sich zu Recht 20° — geltend gemacht, die Staatsanwaltschaft müsse sogar ein von ihr als straflos beurteiltes Verhalten anklagen, wenn es sich nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung als strafbar darstellt. Doch darf dieses Argument nicht allein gesehen werden. Geboten ist ein Blick auf die umgekehrte Situation. Der Staatsanwaltschaft bleibt es nämlich unbenommen, eine Tat anzuklagen, der nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung die strafrechtliche Relevanz fehlt. So geht es also gar nicht darum, gerichtliche gegenüber staatsanwaltschaftlichen Erkenntnissen minder einzustufen. Vielmehr soll nur der Widerstreit zwischen dem Legalitäts- und dem Anklageprinzip zugunsten des Legalitätsprinzips entschieden sein.201 Hieraus folgt ein allgemeiner Grundsatz: Prüfungsmöglichkeiten im procedere sollen möglichst nicht vorzeitig abgeschnitten werden können. In diesem Sinne lassen sich auch die schon202 angesprochenen Vorlagepflichten gem. §§ 121 Abs. 2, 136 GVG auffassen. Sie setzen dort ein, wo die 197

198

199 200 201 202

Zutreffend etwa Kriele (o. Fn 15), 253; Bydlinski (o. Fn 6), 150, der zudem mit Recht auf die unerwünschte (selbst bei besseren Argumenten schwerlich lösbare) Bindung der Rechtsprechung an ihre Judikate hinweist Vgl. dazu schon Schick, Struktur und Wirkungsprobleme der Normenkontrollentscheidung, 1965, (zitiert nach Sachs (o. Fn 114), 123) Vgl. etwa BGHZ 30,19,22; OVG Münster NJW 1979,2061, 2063 Näher Verf., Das Strafverfahren, 2. Aufl., 1983, Rn 41.4 passim, 62, 64 m. w. N. So Verf. (o. Fn 200), Rn 61.4 O. l.c)

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Korrekturen im Rechtsmittelverfahren versagt sind. Die Kontrolle wird also gleichsam fortgesetzt. Hierdurch kann aber die tatsächliche Beachtung der obergerichtlichen Rechtsprechung nicht rechtlich gestützt werden. Eher zum Beleg hierfür geeignet sein könnte der Gleichheitsgrundsatz. In einer unterschiedlichen gerichtlichen Beurteilung zweier nicht erheblich voneinander abweichender Sachverhalte liegt nämlich eine formale Ungleichbehandlung. Zwar verstößt diese nicht etwa stets gegen Art. 3 GG. So wird überwiegend sogar die höchstrichterliche Rechtsprechung aufgrund besserer Einsicht als abänderbar angesehen. Würde sie doch sonst leicht erstarren und wäre nicht mehr aufgeschlossen für eine notwendige Entwicklung, wie fruchtbare Anregungen — vor allem aus der Wissenschaft — sie auszulösen vermögen.203 Gewichtige bessere Argumente müssen durchgreifen können. Dies dient der sachentsprechenden Behandlung bzw. im Sinne Fikentschers204 der »Sachgerechtigkeit«. Er stellt sie der »Gleichgerechtigkeit« gegenüber. Eine Beziehung zwischen den beiden Ausprägungen der Gerechtigkeit herzustellen liegt nicht fern. So kann man die »Sachgerechtigkeit« mit einem Übergewicht gegenüber der «Gleichgerechtigkeit« sehen, sowie gewichtige bessere Argumente gegen ein Präjudiz sprechen. Dieses Übergewicht verliert sich jedoch schon dann, wenn der nunmehr erkennende Spruchkörper von dem Präjudiz ohne gewichtige bessere Argumente abweicht. Bei minderer, ja sogar noch bei gleichgewichtiger »Sachgerechtigkeit« muß die »Gleichgerechtigkeit« den Ausschlag geben: Es ist beim Präjudiz zu verharren. Allerdings wird man Rechtsansichten als austauschbar betrachten, wenn nur das Präjudiz selbst — die »konkrete Gestaltungsnorm«155 — erhalten bleibt. So wird hier ein auf Art. 3 GG zu stützendes Zusammenspiel von Sach- und Gleichgerechtigkeit als Rechtsgrund für die Achtung von Präjudizien in der Rechtswirklichkeit angesehen, mag auch überwiegend von einer Erscheinung ohne dogmatische Absicherung die Rede sein.205

203 204

205

Dazu neuerdings Olzen (o. Fn 113a) Vgl. o. bei Fn 106 Vgl. etwa Larenz (o. Fn 22), 412

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Entgegen der ganz überwiegenden Ansicht wird deshalb hier die tatsächliche Geltung von Präjudizien in der Rechtswirklichkeit auf Art. 3 GG gestützt, insofern die »Sachgerechtigkeit« die »Gleichgerechtigkeit« nicht überwiegt. b) Adressaten Vom Gleichheitsgrundsatz werden alle Gerichte angesprochen. So endet die Präjudizienpyramide nicht in der dritten Ebene der Vorlagehierarchie, sondern umfaßt auch die Land- und Amtsgerichte. Hinzu kommt die eben schon angesprochene Kontrollfunktion. Weicht nämlich ein Untergericht von der obergerichtlichen Rechtsprechung ab, so ist — auch und gerade zum Nachteil des Rechtssuchenden — eine Aufhebung des Urteils zu befürchten.20' Damit bietet sich eine Präzisierung des bisherigen — teils vorläufigen — Präjudizienbegriffs an. Zwar ist dem Gegenstand nach schon differenziert worden zwischen der »konkreten Gestaltungsnorm«155 und dem Rest der Vorentscheidung, zu der auch die Rechtsregel und die übrigen Rechtsansichten gehören. Noch immer vorläufig ist der Begriff aber seiner Qualität nach gehalten worden, als darunter obergerichtliche Vorentscheidungen schlechthin begriffen worden sind. Diese Bestimmung braucht nicht aufgegeben, sondern nur erweitert und präzisiert zu werden. Bei der absoluten Festlegung auf Obergerichte als Absender der Präjudizien wird nämlich außer acht gelassen, daß zwar die Senate der Oberlandesgerichte die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu wahren haben, umgekehrt aber allenfalls von einer überzeugenden Autorität die Rede sein kann. Zudem ist an landgerichtliche Erkenntnisse zu denken. Auf sie hat das Amtsgericht zu achten, um nicht ohne Grundlage in der »Sachgerechtigkeit« die »Gleichgerechtigkeit«204 zu verletzen. Daher ist der Präjudizienbegriff relativ zu formulieren: Unter einem Präjudiz hat man die Vorentscheidung (genauer: die darin enthaltene »konkrete Gestaltungsnorm«155) eines in der Hierarchie dem 204

Auf den ökonomischen Gesichtspunkt bei Wahrung der Präjudizien weist verdienstlich Krisle (o. Fn 15), 258 ff., 260 hin; vgl. auch schon Esser (o. Fn 114), 275 ff.; Wieacker, Gesetz und Richterkunst. Zum Problem der außergesetzlichen Rechtsordnung, 1958, 15

51 jetzt erkennenden Entscheidungsträger übergeordneten oder ihm gleichgeordneten Gerichts zu verstehen. Bei Gleichordnung entfällt der präjudizielle Charakter der Vorentscheidung allerdings dann, wenn das übergeordnete Gericht die anstehende Frage schon entschieden hat. c) Gegenstand aa) Allgemeines Der mehr oder weniger sklavische Umgang der Land- und Amtsgerichte mit den obergerichtlichen Entscheidungen tritt in der Fachpresse kaum hervor. Urteile und Beschlüsse unterer Gerichte werden nämlich jedenfalls kaum einmal publiziert, insofern sie mit den Erkenntnissen oberer Gerichte harmonieren. So wendet sich die Aufmerksamkeit den veröffentlichten höchstrichterlichen (Vor-) Entscheidungen selbst zu. Hierbei ist zu unterscheiden. Einmal fällt nämlich die Praxis im Vorlageverfahren auf (dazu sogleich bb). Zum anderen interessiert aber auch, wie Obergerichte mit Präjudizien verfahren, wenn sie die Abweichung von einer Vorentscheidung verneinen (dazu u. cc). bb) Zur Praxis in den Vorlageverfahren In den Vorlageverfahren nach §§ 121 Abs. 2, 136 GVG werden zu Recht immer wieder als »obiter dicta« solche Rechtsausführungen unberücksichtigt gelassen, die nicht einen Schritt in dem Motivationsprozeß bis hin zum Präjudiz bilden.207 Einfühlsam findet sich auch der Motivationsprozeß selbst berücksichtigt; selbst lediglich schlüssig vertretene Auffassungen werden einbegriffen.208 Durch Gesetzesänderung überholte Ansichten verlieren ihre Kraft.209 Gleichwohl setzen Zweifel ein. Zuweilen wird nämlich zwar eine Divergenz zur einschlägigen Vorentscheidung festgestellt, diese jedoch als irrelevant beurteilt mit der Begründung, sie betreffe keine Rechts-, sondern eine Tatsachenirage.210 Die sich für die Abgrenzung 207 208 209 210

Vgl. etwa BGHSt 3, 234; 7, 314; 18, 156,159 Deutlich BGHSt 11, 31, 34 OLG Stuttgart NJW 1976, 1904 Vgl. BGHSt 27,212, 213/214

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zwischen Rechts- und Tatsachenfragen ergebenden Schwierigkeiten sind schon angedeutet worden.2" Darüber hinaus fällt auf, wie wenig die frühere Rechtsbehauptung, also der damit entwickelte Rechtssatz, auf die zugrunde liegende Fallgestaltung bezogen wird. Das starke Gewicht auf der Deduktion und das geringe Interesse an der Induktion treten hervor. Demgegenüber würde es sich anbieten zu überlegen, ob die gegenüber der präjudiziellen Tatsachenlage nunmehr zu entscheidende veränderte Fallgestaltung noch im extensionalen Bereich der von dem Präjudiziengericht aufgestellten Rechtsbehauptung liegt. Solange dies der Fall ist, gleichwohl aber die Rechtsregel nicht angewendet wird, erschöpft sich die Abweichung nicht im Untersatz. Hierbei handelt es sich nur um ein Beispiel, wie wenig zuweilen die seinerzeit entschiedene Sachgestaltung noch als Extension (Bezug) der im Präjudiz aufgestellten Rechtsregel gesehen und von hier aus eine induktive Arbeit versucht wird. Dabei hat Kriele112 für mögliche Abweichungen fünf Stufen herausgearbeitet. Diese anregende Untersuchung scheint freilich die Rechtsprechung allenfalls teilweise erreicht zu haben. Immerhin wird zuweilen ausgeführt, der von dem Präjudiziengericht aufgestellte Grundsatz sei für den zu entscheidenden Fall zu allgemein gefaßt worden.213 Dies ist eine Form, sich von der Vorentscheidung abzuheben. Man schränkt nämlich die von dem Präjudiziengericht vertretene Rechtsansicht so weit ein, daß sie gerade noch auf die seinerzeit zu beurteilende Sachlage paßt. Der vom später befindenden Gericht abzuurteilende Sachverhalt dagegen kann der so verengten Rechtsansicht nicht zugeordnet werden. Auf diese Weise wird eine Divergenz und damit auch eine Vorlagepflicht nach §§ 121 Abs. 2, 136 GVG verneint. Der Gedanke an eine Umgehung liegt nicht fern und ist auch schon angesprochen worden.2"" Immerhin wird aber eine mögliche Abweichung und damit eine Vorlagepflicht diskutiert. 211

O. l c) ccl) (O. Fn 15), 269 ff., 213 Vgl. BGHSt 18, 324; BayObLG NJW 1972,302, 303; OLG Köln NJW 1974, 377,378 2131 Vgl. etwa Kohlhaas, Anm. zu OLG Stuttgart vom 11.7.1958, NJW 1959, 397/398; Schalscha, Die Aushöhlung der Vorlegungspflicht nach §§ 121, 136 GVG, MDR 1959, 90/91; LR/Scbäfer (o. Fn 173), § 121 GVG, Rn 66; § 136 Rn 6 212

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cc) Über Präjudizien als Grundlage späterer Entscheidungen Leider nicht selten steht aber eine vorlagepflichtige Divergenz in Frage, ohne erörtert zu werden. Hierzu ließen sich aus den unterschiedlichsten Rechtsgebieten Beispiele finden. Herausgegriffen seien in immer schnellerer Folge ergangene Entscheidungen verschiedener Senate des Bundesgerichtshofs zum unmittelbaren Zusammenhang im Sinne des §226 StGB.214 Schon früh215 wird der Grundsatz gesetzt, der bloße Kausalzusammenhang zwischen Körperverletzung und Todesfolge genüge nicht; vielmehr müsse sich die Körperverletzung »als solche« in dem Tod des Opfers niedergeschlagen haben. Den damit geforderten spezifischen Zusammenhang zwischen Körperverletzung und schwerer Folge verneint der 3. Strafsenat, wenn — wie in dem »Roetzel-Fall« nicht anders nachweisbar — erst das Opfer durch sein eigenes Verhalten tödlich verunglückt.214 Nachdem der 1. Strafsenat in dem »Wirtshausstreit-Fall« die Unmittelbarkeit nicht an einem den Tod mitauslösenden Leberleiden des Verletzten und auch nicht an einem hinzutretenden ärztlichen Kunstfehler hat scheitern lassen,217 scheint sich hiermit der vom 2. Strafsenat entschiedene »Hochsitz-Fall«218 ohne weiteres vereinbaren zu lassen. Auch hier nämlich ist es erst die längere (Fehl-)Behandlung des Opfers, durch die das Opfer stirbt. Dennoch besteht ein erheblicher Unterschied. In dem »Hochsitz-Fall« kann der Körperverletzungserfolg (der Knöchelbruch) an sich nicht als letal219 bezeichnet werden. Dagegen läßt sich dies nicht ohne weiteres verneinen für einen Riß an der Hirnschlagader. Schon diese erhebliche Verletzung 214

215 214

217 218

219

Genannt seien — chronologisch — die Entscheidungen des BGH: bei Dallinger, MDR 1954, 150/151 (1. und 4. Strafsenat); E 14, 110 (1. Strafsenat); NJW 1971, 152 (3. Strafsenat); bei Dallinger, MDR 1975,196 und 1976, 16 (jeweils 1. Strafsenat); bei Holtz, MDR 1982, 102 (3. Strafsenat); E 31, 96 ff und 32, 25 ff. (jeweils 2. Strafsenat) Vgl. BGH bei Dallinger, MDR 1954, 150/ 151 (dort vor allem 4 StR 378/53) Vgl. BGH NJW 1971, 152 Vgl. BGH bei Dallinger, MDR 1976, 16 E 31, 96 ff. Zum Kriterium der Letalität neuerdings Hirsch, JR 1983, 78 ff. sowie in: LK, StGB, 10. Aufl., 1981, §226 Rn 4; G. Küpper , Der »unmittelbare« Zusammenhang zwischen Grunddelikt und schwerer Folge beim erfolgsqualifizierten Delikt, 1982, 85 ff.; dagegen Woher in seinem Aufsatz gleichen Titels, GA 1984, 443 ff; a. A. aber wiederum Hirsch in seinem gleichnamigen Beitrag, FS Dietrich Oehler, 1985, 111 ff.

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hat nämlich der Angeklagte seinem Opfer in dem von dem 1. Strafsenat des BGH220 entschiedenen »Wirtshausstreit-Fall« zugefügt. Auf diesen Unterschied ist der 2. Strafsenat in dem »Hochsitz-Fall« nicht eingegangen. Er hat dies aus seiner Sicht auch nicht nötig gehabt; denn es ist ihm wesentlich auf die spezifische Gefahr der Körperverletzungshandlung und nicht des Körperverletzungser/b/ges angekommen. Ob dem zuzustimmen ist,221 kann in diesem Zusammenhang nicht untersucht werden. Hier ist vielmehr das Augenmerk auf den von dem 2. Strafsenat durch Urteil vom 30.06.1982 im »HochsitzFall«222 gebildeten Rechtssatz zu lenken: Es genüge »für den Tatbestand des § 226 StGB ... daß der Körperver\etzungshandlung das Risiko eines tödlichen Ausgangs anhaftet und sich dann dieses dem Handeln des Täters eigentümliche Risiko im Eintritt des Todes verwirklicht.« Dafür reiche schon aus, daß »der tatsächliche Geschehensablauf, der Körperverletzung und Todesfolge miteinander verknüpft, nicht außerhalb jeder Lebenswahrscheinlichkeit« angesiedelt sei. Diesen Rechtssatz mag man noch in Harmonie sehen mit dem Urteil des 3. Strafsenats in dem »Stichwunden-Fall« aus dem Jahre 198l.223 Trotz riskanten Körperverletzungs^w«c/e/«s des Angeklagten und einer dazu noch auf diesem Handeln beruhenden schweren Kopfverletzung hat der 3. Strafsenat § 226 StGB nicht angewendet. Dies ist aber deshalb zu billigen, weil nicht die Kopfverletzung den Tod ausgelöst hat. Eingetreten ist er vielmehr aufgrund einer Stichwunde. Sie hat dem Angeklagten nicht mit der erforderlichen Sicherheit angelastet werden können und auch nicht im Zusammenhang mit der durch den Angeklagten verursachten Körperverletzung gestanden. Deshalb läßt sich sagen, der tatsächliche Geschehensablauf — nämlich der Tod durch eine von einem Dritten beigebrachte Stichverletzung — liege außerhalb der Lebenserfahrung. Nicht so leicht kann man dagegen mit der Entscheidung im »Hochsitz-Fall« das von dem 2. Strafsenat in dem »Gastwirt-Fall« am 220 221

222 223

Vgl. BGH bei Dallinger, MDR 1976,16 Beachtenswert hierzu auch der Vorschlag Horns, in: SK, StGB, 3. Aufl., Loseblattsammlung: Stand September 1984, §226 Rn 11 BGHSt31,96,99/100 Vgl. BGH bei Holtz, MDR 1982, 102/103

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20.06.1983 gesprochene Urteil224 vereinbaren. Schläge gegen den Kopf, die einer der Angeklagten dem Opfer versetzt hat, bergen das Risiko des Todeseintritts in sich. Wenn das am Kopf getroffene Opfer dann zu Boden sinkt und von anderen in die Tätlichkeiten gegen das Opfer verstrickten Tatbeteiligten weiter (durch Fußtritte gegen den Kopf) schwer verletzt wird und erst hierdurch der Tod eintritt, so liegt dieser Ablauf durchaus nicht außerhalb der Lebenserfahrung. Nach dem von ihm selbst im »Hochsitz-Fall« aufgestellten Rechtssatz hätte der 2. Strafsenat also die Unmittelbarkeit im Sinne von § 226 StGB zu bejahen gehabt. Nicht hierauf greift der Senat jedoch zurück, sondern spricht eine allgemeinere Formel dahin an, es müsse sich in der schweren Folge die »eigentümliche Gefahr verwirklicht haben«. Diese eigentümliche Gefahr entfällt nach Meinung des Senats deshalb, weil »der Tod des Verletzten ... erst vermöge des Eingreifens eines Dritten herbeigeführt worden ist«. An einer Stellungnahme dazu, ob sich das Eingreifen des Dritten innerhalb der allgemeinen Lebenserfahrung gehalten hat, fehlt es. Sicher ist hier nicht eine Vorlage unbefugt unterblieben. Gebietet § 136 Abs. l GVG doch nur bei Innendivergenz im Verhältnis zu einem anderen Senat die Vorlage an den Großen Senat.225 Hier aber geht es nicht um das enge Gebiet der Vorlagepflicht. Vielmehr interessiert, inwiefern Obergerichte Präjudizien in die Rechtsanwendung einbringen: Die im Präjudiz ausgesprochene Rechtsregel wird zumeist herangezogen. Den deduktiven Anforderungen wird also genügt. Doch finden sich induktive Defizite. Die verschiedenen Fallgestaltungen werden nämlich zuweilen nicht miteinander verglichen, der Bezug zu den entschiedenen Einzelfällen" bleibt vernachlässigt. Gegenbeispiele für eine auch induktiv hervorragende Arbeit lassen sich zwar ebenfalls nennen. Zu denken ist etwa an den unlängst vom 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs entschiedenen »Fessel-Fall«.225" Der Senat zieht von den einschlägigen Vorentscheidungen zum »Hinterhalt-Fall«225b sowie zum »Schlaf-Fall«225c nicht nur die Rechts224

BGHSt 32,25 ff. Vgl. o. 1. c) aa) 2251 Vgl. BGH NJW 1985, 334/335 m. Anm. Jakobs, JZ 1984, 996 ff. 225b Vgl. BGHSt 22, 77 ff. 22S£ Vgl. BGHSt 23, 119 ff.

225

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regeln heran, sondern wertet auch die unterschiedlichen Sachgestaltungen aus. Auf diese Weise gelangt er zu einer neuen Rechtsregel. Auch wenn man ihr »in der Sache« ablehnend gegenüberstehen mag, ist doch die in der Methode so anerkennenswert fortschreitende Normkonkretisierung zu begrüßen. Um hier Fortschritte zu erzielen und auf diese Weise die Auslegung sicherer in den Griff zu bekommen, soll sich nunmehr die Aufmerksamkeit dem anglo-amerikanischen Rechtskreis zuwenden. Zuvor sei zusammengefaßt: Vorentscheidungen dienen der Normkonkretisierung. Diese erfolgt extensional durch die in der Vorentscheidung enthaltene »konkrete Gestaltungsnorm«155. Hierbei handelt es sich um den letzten Untersatz. In diesem wird der Einzelfall prägnant so erfaßt, daß sich damit der Sachverhalt als schlüssig für die Norm zeigt. Damit löst sich in der »konkreten Gestaltungsnorm« die zwischen Norm und Sachverhalt bestehende Spannung. Es handelt sich um das Ergebnis der Vorentscheidung, das Präjudiz. Es bildet die obere Stufe der Präjudizienwirkung, die untere Stufe findet sich in der Rechtsregel und den sonstigen Rechtsausführungen, die das Gericht für die Entscheidung motiviert haben. Die herausgehobene Wirkung der »konkreten Gestaltungsnorm«, mithin des Präjudizes, kann sich auf die »Gleichgerechtigkeit« stützen, die nicht von der »Sachgerechtigkeit«204 übertroffen werden darf. All* dies gilt freilich nicht schlechthin für Vorentscheidungen. Das Präjudiz ist vielmehr auch noch seiner Qualität nach einzugrenzen: Es handelt sich um die Vorentscheidung (genauer: die »konkrete Gestaltungsnorm«) eines in der Hierarchie dem jetzt erkennenden Entscheidungsträger übergeordneten oder ihm gleichgeordneten Gerichts, wobei allerdings der Präjudiziencharakter bei Gleichordnung durch den Spruch eines übergeordneten Gerichts in der anstehenden Frage entfallen kann. Als Zwischenergebnis ist zu notieren: Wegen der oft weiten Bedeutung der Norm ist versucht worden, ihren Bezug durch gerichtlich entschiedene Einzelfälle zu konkretisieren. Dies hat zur »konkreten Gestaltungsnorm«"5 geführt. In ihr wird der Sachverhalt im Blick auf die Rechtsfolge so präzisiert, daß er schlüssig für die Norm dargetan ist. Dies wird begründet durch eine Rechtsregel. Sie bildet einen Ausschnitt aus der Gesamtbedeutung der Norm und findet ihren Bezug in dem Einzelfall, präzisiert in der »konkreten Gestal-

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tungsnorm«, zugleich ein Bezug der Norm. So ist zu hoffen, daß diese sich durch das Vorgehen von Fall zu Fall zunehmend konkretisieren läßt. Hierzu bedarf es der induktiven Arbeit am Fall. Leider trifft man aber öfter auf ein deduktives Vorgehen von Rechtsregel zu Rechtsregel als auf einen Vergleich der verschiedenen Fallgestaltungen. Im wesentlichen noch nicht Wirklichkeit, sondern Ziel ist es deshalb, induktiven und deduktiven Prozeß miteinander zu harmonisieren. Möglicherweise läßt sich das hierfür erforderliche Vorgehen systematisieren. Dies kann aber (u. C) erst beurteilt werden, nachdem (sogleich u. B) der anglo-amerikanische Rechtskreis die ihm gebührende Aufmerksamkeit gefunden hat.

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B Präjudizien im anglo-amerikanischen Rechtskreis l Case Law als Ausgangspunkt 1. Standort a) Reichweite Die Rede vom anglo-amerikanischen Rechtskreis mag an einen einheitlich ausgestalteten Raum denken lassen. Eine solche Vorstellung muß aber zumindest in ihren Konturen abgeschwächt werden. Abgesehen von den Unterschieden zwischen dem englischen und dem amerikanischen Recht (= dem Recht der Vereinigten Staaten)226 hat sich das von England übernommene Case Law keineswegs überall in Großbritannien zu behaupten vermocht. Vielmehr sollen England und Wales als seine Stammgebiete bezeichnet werden. Schon die Kanalinseln und verstärkt Schottland weisen nämlich ein abweichendes — teils erheblich durch die Rezeption des römischen Rechts beeinflußtes — Rechtssystem auf.227 Daher sei das englische Recht hier in einem engen Sinne verstanden, nämlich begrenzt auf England und Wales als Geltungsgebiete. b) Case Law und Civil Law Für England und Wales finden sich schon im Mittelalter die Anfänge des Case Law. Bedeutungsgleich ist die Rede vom Common Law. Stellt man es dem Civil Law gegenüber, so will man es zum kontinental-europäischen Recht abgrenzen. Angesprochen wird damit ein methodischer Gegensatz, wie überhaupt im anglo-amerikanischen Recht methodische Unterschiede die Einteilung in Sachgebiete überspielen. Im Vordergrund steht also nicht die aus dem deutschen Recht bekannte Differenzierung zwischen den gleichsam klassischen drei Rechtsgebieten. So ist zwar mit Criminal Law — in Anklang an die deutsche Terminologie — das Strafrecht gemeint, durchaus aber 226

227

Dazu etwa Bodenheimer, Präjudizienverwertung und Gesetzesauslegung im amerikanischen Recht, AcP 160 (1961) l ff.; David/Grasmann, Einführung in die großen Rechtssysteme der Gegenwart, 1966, 423; Radbruch (o. Fn 1), 29 Aufschlußreich Zweigert/Kötz (o. Fn 15a), 234 ff.

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nicht mit dem Civil Law das Zivilrecht. Zivil- und Öffentliches Recht werden nämlich einander nicht gegenübergestellt. Wie sich noch zeigen wird,238 läßt sich das gesamte englische Recht als Öffentliches Recht betrachten. Nicht die Rechtsgebiete bilden also die Kriterien für eine Differenzierung. Eher kann auf das methodische Vorgehen abgehoben werden. Es sei im Verhältnis des Case Law zur Equity und zum Statute Law wenigstens kurz betrachtet. c) Verhältnis zur Equity und zum Statute Law Neben dem Case Law steht die Equity. Hieraus mag man einen Gegensatz zwischen strengem Recht und Billigkeitsrecht entnehmen. Für die Anfänge der Equity kann hieran festgehalten werden. Heute dagegen wird man die Equity kaum noch als Billigkeitsrecht bezeichnen können; mit zu viel Fallrecht ist sie eingesponnen.2M Noch jetzt unterscheidet sich aber das Fallrecht methodisch von dem Statute Law. Wird das Case Law ausgebildet durch den Richter, so handelt es sich beim Statute Law um das vom Parlament normierte Gesetzesrecht. Zunächst gleichsam als Notbehelf gegen Mißstände des Case Law ausgestaltet,"9' erfaßt es heute immer weitere Bereiche des Rechts. Hiermit wird aber das Case Law durchaus nicht in jeder Hinsicht zurückgedrängt. Der Richter kann es nur nicht mehr ohne die vom Gesetzgeber gezogenen Grenzen bilden. Gleichwohl hat sich gerade in den Vereinigten Staaten, wo schon länger Kodifikationsbestrebungen verwirklicht worden sind, ein bemerkenswertes Phänomen gezeigt: Das Statute Law wird von Präjudizien umgeben und auf diese Weise erst so gestaltet, wie die Gerichte es anwenden.230 Dies erstaunt. Wird doch andererseits betont, auf Gebieten, deren der Gesetzgeber sich angenommen hat, dürfe der Richter Recht nicht schaffen, sondern nur anwenden."1 Wenn hier offensichtlich der Weg in eine andere Richtung führt,232 so mag sich dies aus der nur 228

Dazu u. 2. c) Näher u. 3. b) 2J9a Interessant hierzu die mischief-rule, vgl. u. II. 2. a) 230 Vgl. etwa Blumenwitz, Einführung in das Anglo-Amerikanische Recht, 2. Aufl., 1976, 46 231 So etwa Bodenheimer (o. Fn 226), 11 ff., 16 232 Informativ Fikentscher (o. Fn 36), 111 ff., 262 ff. 229

60 begrenzten Macht intensionaler Gesetzesinterpretation erklären.233 Um so reizvoller erscheint es, die Funktion der Präjudizien im Bereich des Statute Law zu behandeln. Hat man hier doch gleichsam Fallrecht innerhalb des Gesetzesrechts vor sich. Daraus lassen sich Erkenntnisse für die deutsche Rechtsanwendung erhoffen. Soll sich hierauf das Interesse aber mit Gewinn richten können, muß das Case Law selbst jedenfalls in seinen Grundlinien hervorgetreten sein. Dazu hat man wenigstens in einem groben Aufriß seine Entstehung zu betrachten. Nicht umsonst wird immer wieder der nur geschichtlich zu verstehende Charakter des Case Law betont.234 2. Entstehung a) Königsgerichte als Entscheidungsträger Freilich kann es hier allenfalls unternommen werden, einen ersten Eindruck von Anliegen und Wirkkraft des Case Law zu geben. Gerade um dieses Vorhaben zu verwirklichen, sollen einzelne Verästelungen vernachlässigt und nur die hauptsächlichen Entwicklungslinien gezogen werden.235 Dann zeigt sich der Ursprung des Case Law oder Common Law in den Machtverhältnissen nach der normannischen Eroberung. Die seit dem Jahre 1066 bestehende gut organisierte Feudalherrschaft ließ ein allgemeingültiges Recht wachsen. Es hob Gesetze der zuvor liegenden angelsächsischen Periode nicht formell auf. Doch überspielte es sie im wesentlichen faktisch. Das Recht, dem dies gelang, wurde von den königlichen Gerichtshöfen angewandt, die seit dem 13. Jahrhundert in Westminster tagten. Deren zunächst nur teilweise Zuständigkeit war es, die bemerkenswerterweise erst das Case Law so machtvoll wachsen ließ. Gewöhnlich lag nämlich die Zuständigkeit bei den Gerichten der Feudalherren und bei den Kirchengerichten. Die königlichen Westminstergerichte judizierten dagegen nur in Angelegenheiten, die das Königreich tangierten, unter anderem auch in schweren Strafsachen. Wenn sie in

233

Näher o. AI.

234

Vgl. etwa David/Grasmann (o. Fn 226), 319, 325 ff. Hierzu und zum folgenden vgl. Maitland, History of English Law, in: Selected Historical Essays, 1957, 97 ff.; Davtd/Grasman (o. Fn 226), 323 ff.

235

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diesem Sinne gleichsam einen abgeschlossenen Kreis öffentlicher Interessen wahrzunehmen hatten, so ergab sich hieraus eine dreifache Konsequenz. b) Writs als Klageberechtigung Einmal konnte nämlich nicht jedermann vor den königlichen Gerichten als ohne weiteres klageberechtigt angesehen werden. Die Klageberechtigung ergab sich vielmehr grundsätzlich nur aus einem sogenannten writ. Er wurde zu Beginn der Entwicklung vom Kanzler des Königs selbst ausgestellt. Dieser wiederum konnte wegen der nur beschränkten Zuständigkeit der Westminstergerichte nicht in einer jeden Angelegenheit einen writ gewähren. So war die Zahl der writs beschränkt. Sie blieb es auch, als nicht mehr der Kanzler selbst die Klageberechtigung zuteilte, sondern die writs in einer Liste festgehalten wurden. Diese Liste trachtete der König und suchten auch die Königsgerichte selbst zu erweitern, um ihre Macht auszudehnen. Hierbei trafen sie sich mit dem Anliegen der Staatsbürger. Das Verfahren vor den Königsgerichten war nämlich rationeller ausgestaltet als die von den übrigen Gerichten geübte noch mittelalterliche Beweisführung mit Hilfe von Gottesurteil, Zweikampf oder Reinigungseid. Daher strebten die Bürger zunehmend an, vor den Königsgerichten zu klagen. So war der Verfall der übrigen Gerichte nicht aufzuhalten, und zwar weder durch die Magna Charta von 1215 noch durch das zweite Statut von Westminster aus dem Jahre 1285. Zwar wurde es den Königsgerichten hierdurch verwehrt, ihre Zuständigkeit weiter auszudehnen. Neue writs durften also nur noch in Fällen erteilt werden, die mit den bisher schon erfaßten Sachgestaltungen große Ähnlichkeit aufwiesen. Außer diesen writs in consimiü casu entwickelte sich eine weitere Technik, eine Klage super casum. Hierdurch konnten die königlichen Gerichte ihre Zuständigkeit erweitern im Blick auf den Vortrag der besonderen Umstände des Einzelfalles und in Anklang an eine früher getroffene Entscheidung. Das Tasten von Einzelfall zu Einzelfall als Charakteristikum des Gase Law wird erklärlich. Sicher ging es darum, mit den writs die Zuständigkeit zu belegen, also um eine verfahrensrechtliche Frage. Verfahrensrecht stand für das procedere des Königsgerichts im Vordergrund. Es hatte nicht selbst sachlich zu entscheiden, sondern nur die Tatfrage zu formulie-

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ren, um sie dem Entscheidungsorgan — der Jury23' — vorzulegen. Dieses Schwergewicht auf dem Prozeßrecht237 führte zugleich zur zweiten Konsequenz aus der ursprünglich nur begrenzten Zuständigkeit der Westminstergerichte. Das englische Recht erhielt insgesamt den Charakter als Öffentliches Recht.238 Die writs stellten sich nämlich zwar auch, aber nicht ausschließlich als Klageermächtigung dar. Sie bildeten vielmehr die durch eine Verwaltungsbehörde vermittelte Aufforderung des Königs an den Beklagten, sich rechtmäßig zu verhalten und dem petitum des Klägers nachzukommen. Folgte der Beklagte dieser Aufforderung nicht, so erschien der Kläger zu einem gerichtlichen Vorgehen gegen den Beklagten deshalb als berechtigt, weil dieser sich den Anordnungen einer Verwaltungsbehörde widersetzt hatte. c) Case Law als Recht der Königsgerichte Die damit verbundene Verkümmerung des Privatrechts und Betonung des Öffentlichen Rechts löste zugleich die dritte der drei angesprochenen Konsequenzen aus. Fehlte es doch für das von den Westminstergerichten zu schaffende Öffentliche Recht an einem bodenständigen Phänomen. Wohl gab es örtliche Rechtsbräuche. Sie konnten die Westminstergerichte aber nicht einfach übernehmen. Dazu waren die Probleme, verbunden mit der neugeschaffenen Zentralgewalt, zu andersartig gegenüber den bisherigen Streitigkeiten, die an kleinere räumliche Einheiten gebunden waren. So galt es, neues Recht zu schaffen. Dieses neue Recht konnte nicht das römische sein. Dieses ließ sich — als Privatrecht — nicht ohne weiteres rezipieren, mag auch ein gewisser Einfluß bisheriger Rechtsbräuche und auch des römischen Rechts23' nicht auszuschließen sein. Mehr, als einen solchen Einfluß zu betonen, überzeugt es, wenn man das englische 236

237

238 239

Aufschlußreich zur Jury neuerdings Oehler, Internationales Strafrecht, 2. Aufl., 1983, Rn 56; ferner zu Entstehung und Einfluß der Jury Hamson/Plucknett, The English Trial and Comparative Law, 1960 Bezeichnend Sir Henry Maine, Early Law and Custom, 1961, 389, der das englische Recht als Nebenwirkung des Prozeßrechts bezeichnet Vgl. etwa David/Grasmann (o. Fn 226), 229/230 Instruktiv zum Einfluß des römischen Rechts Maitland (o. Fn 235), 99/100; Winfield, The Chief Sources of English Legal History, 1925, 60

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und das römische Recht als zwei Rechtssysteme dargestellt sieht, die sich unabhängig voneinander und dennoch in den wesentlichen Zügen gleichartig entwickelt haben.240 Das besondere Gepräge des Common Law ist angelegt. 3. Tendenz zur Equity a) Mangelnde Flexibilität des Case Law Mit dem Charakter des Case Law vertrugen sich fundamentale Veränderungen nicht. Deshalb kam es in England — anders als in Kontinentaleuropa — nicht zu einer Rezeption des römischen Rechts. Andererseits war aber das Common Law in einer zunehmenden Zahl von Fällen nicht flexibel genug, um eine gerechte Lösung zu erreichen. In solchen Fällen wurde um die Wende zum 14. Jahrhundert die Möglichkeit eines über den Kanzler (chancelor) beim König einzulegenden Gesuchs eröffnet. b) Unterschied zwischen Case Law und Equity Die vor ihm eingeleiteten Verfahren unterschieden sich wesentlich von denen des Common Law. Waren jene mündlich und öffentlich, so prozedierte der Kanzler schriftlich und wandte ein dem römischen und kanonischen Recht entlehntes materielles Recht an. Fast hätte dieses Verfahren der Equity das Common Law verdrängt. Entschied sich doch König Jakob I. im Jahre 1616 für die Equity, als die Westminstergerichte zum Schutz des Common Law das Parlament anriefen. Der Kanzler war aber klug genug, die Gerichte des Common Law nicht über Gebühr herauszufordern. Seine Entscheidungen waren nämlich nicht unmittelbar vollstreckbar. Sie ließen sich nur mit einer Festnahmedrohung gegen denjenigen durchsetzen, der ihnen nicht nachkam. Diese Möglichkeit wollten die Gerichte des Common Law ad absurdum führen. Daher kündigten sie an, den Widerstand gegen die aufgrund einer solchen Drohung erfolgte Festnahme als gerechtfertigte Notwehr zu behandeln. So gelang ein stillschweigendes Arrangement. Der Kanzler verzichtete darauf, seinen Zuständigkeitsbereich zu erweitern und be240

In diesem Sinne H. Peter, Römisches Recht und Englisches Recht, 1969, 16 ff.

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fand lediglich in gleichartigen Präzedenzfällen. Damit wandelt sich die Natur der Equity. Mag es zunächst, allein ausgerichtet an Gewissen und Moral, um Billigkeit gegangen sein, findet man nunmehr auch hier die Bindung an Präjudizien. Der Billigkeitscharakter geht verloren. Zutreffend lehnt man es daher heute ab, Equity mit Billigkeit gleichzusetzen.241 Konsequent werden schon im Laufe des 17. Jahrhunderts die Entscheidungen der Chancery (des Gerichtshofs des Kanzlers) durch das House of Lords überwacht und in das Amt des Kanzlers nur Juristen berufen. c) Eingeebnete Divergenzen Heute findet sich der Unterschied zwischen Common Law und Equity noch weiter abgemildert. Seit den Judicature Acts aus den Jahren 1973/1975 wenden dieselben Gerichte Common Law und Normen der Equity an, mögen auch verschiedene Juristen in verschiedenen Abteilungen einerseits aufgrund mündlicher Verhandlung in dem streitigen Verfahren des Common Law prozessieren und andere nach den Regeln der Equity im schriftlichen Verfahren nach einer Entscheidung suchen. Common Law und Equity befassen sich mit verschiedenen Rechtsmaterien, so die Equity etwa mit den Handelsgesellschaften, dem Konkurs oder der Nachlaßverwaltung. Das Strafrecht und weite Teile des Zivilrechts werden dagegen nach Common Law behandelt. Man könnte versucht sein, Anklänge an die Unterscheidung zwischen streitigen und freiwilligen Gerichtsverfahren zu suchen. Das aber erscheint nicht als gerechtfertigt, zumal eingeklagte Ansprüche sich teils nach Common Law, teils nach Equity richten können, wobei das Verfahren nach Equity freilich nur für denjenigen als sinnvoll erscheint, der sich selbst ganz rechtmäßig verhalten hat.242 Richtet sich aber Equity an derart strengen Maßstäben aus und hat man sie zudem noch an Vorentscheidungen (precedents) zu messen, so ist wiederum eine Erstarrung zu befürchten, wie sie seinerzeit — im 14. Jahrhundert — die Equity neben dem Common Law hat entstehen lassen.

241 242

Deutlich David/Grasmann (o. Fn 226), 344, insbesondere in Fn l Aufschlußreich etwa Blumenwitz (o. Fn 230), 9

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Es sei festgehalten: Sonach scheint das Case Law in besonderer Weise dazu geeignet, rechtsfreie Räume zu wahren und damit der Rechtssicherheit zu dienen. Nicht sprunghaft, sondern nur allmählich vermag es in Rechtsgebiete vorzudringen. Dieser Vorzug kann aber in einen Mißstand umschlagen, insofern Flexibilität erwünscht ist. Daher ist die Equity neben dem Case Law gewachsen. Und man mag vermuten, warum das Statute Law sich hat entwickeln können. II Hinwendung zum Statute Law 1. Gründe Eindringlich hat Radbruch1" die »Unterordnung auch der Staatsgewalt unter das Recht« geschildert. Für diese »Rule of Law« bezeichnend ist die Antwort, die der damalige Kanzler Coke bei einem Streitgespräch am Sonntagmorgen des 13.11.1608 seinem König James I. gegeben hat, als dieser sich darauf beruft, der König stehe über dem Recht. »Non sub homine sed sub deo et lege«, meint Coke unter Berufung auf Bracton.244 Zwar hat man dieser Haltung seinerzeit noch nicht die Bedeutung der »Rule of Law« zugewiesen.245 Doch dürfte mit der Sentenz Bractons der Begriff in seinem Kern schon angesprochen worden sein. Dies gilt freilich nur dann, wenn man die »Rule of Law« nicht als Methodenbegriff der Fallnorm auffaßt,24* sondern als Inbegriff rechtsstaatlicher Garantien versteht.247 Nicht unwichtig ist hierbei der Freiheitsraum, der dem Individuum vom Staat garantiert wird. So berichtet Radbruch™ von dem Bestreben, sogar das Parlament an das Gesetz, nämlich an das Common Law, zu binden. Mag dieser Gedanke auch aufgegeben und dem Par2

« (O. Fn 1), 23 ff. Näher zu diesem Streitgespräch Catherine Drinker Bowen, The Lion and the Throne, The Life and Times of Sir Edward Coke (1552-1634), London, 1957, 303 ff. 245 Scheint erstmals verwendet worden zu sein von Dicey, Law of the Constitution, 1885, im Sinne der Souveränität des Parlaments; dazu Thorsen, The New Concept of the Rule of Law, 38 Canadian Bar Review (1960), 238 ff. 244 Zu den verschiedenen Bedeutungen der »Rule of Law« vgl. Beinart, The Rule of Law, Actajuridica, 1962,99 247 In diesem Sinne etwa Cordier, The Rule of Law in the World Community, 111 University of Pennsylvania Law Review (1963), 892 248 (O. Fn 1), 27 244

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lament eine unbeschränkte Zuständigkeit verliehen worden sein, so hat sich jedenfalls bis vor einigen Jahrzehnten das Parlament selbst beschränkt. Die Freiheit (des englischen Bürgers) von rechtlichen Regelungen soll möglichst weit gehen. Der rechtsfreie Raum wird nur teilweise eingeschränkt. Hat sich also das Case Law in ein Gebiet noch nicht vorgetastet, so hat das Parlament in England allein hierin noch keine Aufforderung gesehen, Normen in die Welt zu setzen. Dies mag sich allmählich ändern. Diese Prognose wird man im Blick auf das bei weitem weniger offene Rechtssystem der Vereinigten Staaten249 stellen können. Zunächst jedoch sind es allein konkrete Mißstände bei der Anwendung des Case Law gewesen, die das Statute Law haben entstehen lassen. Die schon erwähnte mangelnde Flexibilität des Case Law hat zuweilen eine Anpassung an veränderte Verhältnisse verwehrt. Dem hat das Statute Law abhelfen sollen, das durch Act of Parliament statuierte Recht. Es umfaßt auch die aufgrund dieses Gesetzes von den Verwaltungsbehörden erlassenen Ausführungsverordnungen. 2. Auslegung a) »Mischief-rule« In diesem Statute Law hat man zunächst eine nur zweitrangige Rechtsquelle gesehen mit der Aufgabe, Common Law und Equity zu ergänzen und zu berichtigen.250 Dies hat die klassische Lehre251 zu der sogenannten »mischief-rule« geführt. Hiernach hat der Richter den Übelstand aufzudecken, der im Common Law vor Erlaß des Gesetzes bestanden hat. Die Auslegung hat also den Sinn, die durch das Gesetz bezweckte Abhilfe herauszuarbeiten und zu verwirklichen. b) »Literal-rule« und »Golden-rule« Die damit gebotene Zweckerforschung, für die in England anders als in Amerika die Gesetzesmaterialien nicht bemüht werden dürfen,252 wird durch die »literal-rule« eingegrenzt: Hierunter versteht 249 250 251 252

Instruktiv Fikentscher (o. Fn 36), 262 ff. Näher David/Grasmann (o. Fn 226), 397/398 Dazu etwa Allen, Law in the Making, 7. Aufl., 1964, 426 ff. m. w. N. Vgl. etwa Bodenheimer (o. Fn 226), 13

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man im deutschen Schrifttum überwiegend eine enge 'Wortinterpretation.253 Auch Allen254 spricht in seinem führenden einschlägigen englischen Studienbuch davon, daß der englische Anwalt mit einer restriktiven Gesetzesinterpretation rechnen müsse.255 Andererseits zeigen gerade einige der vieldiskutierten Fälle eher eine die Wortbedeutung voll ausschöpfende Rechtsanwendung.25* Hierin liegt aber nur ein scheinbarer Widerspruch. Er läßt sich erklären durch die »plain-meaning-rule«. In Anklang an Pauluf*7 formuliert Blackstone2**: »Where there is no ambiguity in the words, they should be construed according to their obvious meaning«. Hieraus wird zum Teil geschlossen, bei »eindeutigem« Wortsinn259 sei eine Auslegung unzulässig.240 Bei einer solchen Sichtweise wird aber zu wenig beachtet, daß schon Blackstone25* einen klar liegenden Willen nicht der eindeutigen Wortbedeutung hat opfern wollen. Zutreffend wendet sich deshalb Lüderitz2''1 dagegen, in der »plain-meaning-rule« ein Auslegungsverbot zu sehen. Man wird aus ihr nichts weiter ableiten können als das schon erörterte Gebot,262 bei der Auslegung die äußersten Grenzen der Wortbedeutung nicht zu überschreiten.2" Damit wird zugleich ein unterstützenswertes Anliegen einer sonst abzulehnenden Lehre gewahrt: Auch in Deutschland244 253

Vgl. etwa Esser (o. Fn 114), 129 ff., 229; Fikentscher (o. Fn 36), 115 (O. Fn 251), 482 ff., 511 ff. 255 Bezeichnend die Entscheidungen Attorney-General v. Prince Ernest Augustus of Hanover (1957) 1 All E. R. 49; Corocraft Ltd. and Another v. Pan American Airways, Inc., (1969) l All E. R. 82 254 Vgl. die Nachweise o. Fn 255 ™ D 32.25 § l 258 Commentaries on the Laws of England, 1765 bis 1769, hrsg. von Jones, San Francisco 1915, 379 (zitiert nach Lüderitz, Auslegung von Rechtsgeschäften. Vergleichende Untersuchung anglo-amerikanischen und deutschen Rechts, 1966, 66) 2M Engisch (o. Fn 20), Fn 74a am Ende, bemängelt zutreffend, daß an dieser Stelle häufig vom Wort/ii«i anstelle von Wortsinn die Rede ist, also das Sprachzeichen mit seiner Bedeutung verwechselt wird 2M Dazu die umfangreichen Nachweise bei Engisch (o. Fn 259), sowie bei Esser (o. Fn 114), 179,253/254 2(1 (O. Fn 258), 65 ff., 69 262 Dazu o. A. I. 2. a) 263 Dazu schon o. A. I. 2. a) 264 Vgl. BGH NJW 1951, 922; Kriele (o. Fn 15), 91; Stratenwerth, Zum Streit der Auslegungstheorien, FS German, 1969, 257, 267 254

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soll nämlich nach einer Ansicht die Auslegung erst bei nicht eindeutigem Wortsinn einsetzen dürfen. Dies führt zu treffenden Ergebnissen für Sachverhalte, die nach der Normintension (Bedeutung) eindeutig nicht als Extension (Bezug) der Norm in Betracht kommen. Sie dürfen nicht der Norm (entgegen deren Intension) auf dem Umweg über andere Auslegungsmethoden zugeordnet werden. Andererseits kann sich die Norm nach ihrer Bedeutung (Intension) auf einen Fall beziehen. Diese extensionale Zuordnung soll teils unzweifelhaft möglich sein, wie dies vergleichbar in Deutschland für den sogenannten »Begriffskern«" vertreten wird. Dann geht es um das andere Anliegen derjenigen, die der Auslegung erst im Bereich des Zweifels Raum geben wollen. Folgt man ihnen, ist die Norm anzuwenden, falls der eindeutige Wortsinn dies gebietet. Mit Blackstone258 wird man hiervon allerdings dann absehen, wenn der klare Wille des Gesetzes entgegensteht. Ist das nicht der Fall, gibt der Wortsinn den Ausschlag. Er wird insbesondere bei begünstigenden Bestimmungen jedenfalls so lange als maßgeblich akzeptiert, wie der klare Zweck der Norm dem nicht widerstreitet. Von diesem Verständnis scheinen die genannten2*5 vieldiskutierten Entscheidungen getragen zu sein, in denen die Wortbedeutung ohne Rücksicht auf den mutmaßlichen Sinn der Norm voll ausgeschöpft worden ist. So kann die »plain-meaning-rule« die sonst beobachtete restriktive Gesetzesinterpretation zurückdrängen. Einschränkend auszulegen ist das Gesetz danach erst im Bereich des intensionalen Zweifels. Von Zweifeln wird man sich freilich selten einmal freimachen können, wenn man durch die Intension nur den Auslegungsnz^wew als bestimmt ansieht. Von hier aus wird die grundsätzlich restriktive Gesetzesauslegung verständlich. In diesem Sinne hat sich die Wortinterpretation zu einer in England vorrangigen Auslegungsmethode entwickelt.26* Beschränkt wird sie von der erwähnten »mischief-rule« sowie der »golden-rule«. Mit der »golden-rule« sollen — allerdings nicht im Bereich klaren Wortlauts — Widersprüche bei der Auslegung eines Gesetzes wie auch ein absurdes Ergebnis vermieden werden.2267 *5 O. bei Fn 255 244 Vgl. insbesondere Cross, Precedents in English Law, 3. Aufl., 1977,166 ff.; ferner Allen (o. Fn 251), 503 ff. 267 Instruktiv Allen (o. Fn 251), 491

69 c) Auslegung und »Rule of Law« Dieses Gewicht auf der Wortbedeutung, verbunden mit dem Gebot, Statute Law grundsätzlich restriktiv auszulegen, erscheint letztlich als Ausdruck der »Rule of Law« in einem doppelten Sinne. Zum einen soll der Richter sich nicht an die Stelle des Gesetzgebers stellen dürfen, wo das Parlament schon gesprochen hat, eine Regel, die auch für die Vereinigten Staaten gilt. Zum ändern geht es in England aber auch darum, in dem gegenüber Amerika noch offeneren Rechtssystem den verbliebenen Freiraum vom Recht stehen zu lassen. So kann sich »der Ärmelkanal ... manchmal ... breiter als der Atlantik«268 zeigen. Zwar stößt man auch in Amerika sowohl in der Lehre2*9 als auch in der Rechtsprechung270 auf Bekenntnisse zur »plainmeaning-rule«. Vor allem von der formalistischen Methode der Gerichte in den Einzelstaaten wird berichtet.271 Selbst das Oberste Bundesgericht hat teils die Wortauslegung gegenüber der Zweckinterpretation bevorzugt.272 Andererseits wird aber zuweilen nicht ängstlich allein auf den Wortsinn geschaut, sondern der Normzweck berücksichtigt. Die Tendenz zu einer Zweckauslegung drückt sich nicht nur im Schrifttum271 aus. Darüber hinaus läßt eine schon recht frühe Entscheidung des Obersten Bundesgerichts dessen Neigung erkennen, zumindest aus Billigkeitserwägungen den Zweck des Gesetzes vor dessen Wortlaut zu setzen.274 So sieht Bodenbeimer*7* »eine neue Ära der Auslegungswissenschaft ... in Amerika im Anbrechen.« Pound,27* einer der bekanntesten amerikanischen Rechtsphilosophen, hat sogar die Richtung hin zu einer analogen Gesetzesanwendung vorhergesagt.

2

« Fikentscher (o. Fn 36), 115 " Deutlich Jones, The Plain Meaning Rule, 25 Washington University Law Quarterly (1939), 2 270 Temple v. City of Petersburg, 182 Va 418 (1944) 271 Instruktiv Bodenheimer, AcP 160 (1961), 1, 13, der als Grund hierfür das Fehlen von Gesetzesmaterialien nennt 272 342 U. S. 197, 96 L. Ed. 146 (1952) 273 Vgl. etwa B. Sbartel, Our Legal Sytem and how it operates, Ann Arbour, 1951, 318 ff. 274 113 U. S. 457, 36 L. Ed. 226(1892) 275 (O. Fn 226), 15 274 Common Law and Legislation, 21 Harvard Law Review (1908), 383 ff. 2

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3. Verhältnis zum Case Law a) Precedents als Extension des Statute Law So sehr das Case Law von einer vergleichenden Betrachtung lebt, so wenig wird in Amerika und in noch geringerem Umfange in England der eben angesprochene Gedanke einer analogen Anwendung vom Statute Law Anklang finden. Freilich gilt dies nur so lange, wie man das Statute Law an sich im Auge hat. Doch kommt es auch im Rahmen des Statute Law zu richterlichen (Vor-)Entscheidungen, zu precedents. In ihnen finden sich Rechtsansichten darüber, ob und gegebenenfalls inwiefern die zu entscheidenden Einzelfälle als Extension der fraglichen Norm des Statute Law anzusehen sind. Da die Normen auf eine Vielzahl von Fällen zugeschnitten werden, befaßt sich die jeweilige Einzelentscheidung nur mit einem Teilbereich der gesamten Extension. Gerade deshalb hat aber das Präjudiziengericht in einer (Vor-)Entscheidung die Rechtslage konkreter erfaßt, als dies in der abstrakten Norm geschehen ist. Die Norm wird also durch das precedent konkretisiert. Läßt sich doch die Norm intensional allein häufig nicht bis hin zu einem zutreffenden Ergebnis auslegen. Dies gilt auch für den anglo-amerikanischen Rechtskreis. b) Precedents und Gesetzestechnik Dort trachtet der Gesetzgeber zwar in einem gegenüber Deutschland erhöhten Maße danach, die Richter festzulegen, um den Zweck des Gesetzes zu wahren. Hierzu dienen Legaldefinitionen wie auch kasuistische Gesetzestechnik.277 Auf diese Weise scheinen sich aber richterliche Freiräume nicht vermeiden zu lassen. Dies muß noch nicht einmal an einem richterlichen Aufbegehren liegen. In je engeren Bahnen man nämlich das Leben in seiner Vielgestaltigkeit zu normieren sucht, um so geringere Bereiche der Lebenswirklichkeit werden unmittelbar auf diesen Bahnen liegen. Je kürzer eine Leine bemessen wird, desto leichter kann sie reißen! So hat schon Radbruch17* für die Vereinigten Staaten festgestellt, die precedents verführen mit dem Statute Law »sehr selbstherrlich«. 277 278

So schon Radhruch (o. Fn 1), 28 (O. Fn 1), 29

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c) Wortbedeutung und Konkretisierung Die Möglichkeit hierzu leuchtet bei zweideutigem Gesetzeswortlaut ein. Aber auch die »plain-meaning-rule« schafft hier keine Revision. Die (vermeintliche) Klarheit des Wortsinnes stellt nämlich das Gericht fest. Wieviel Mühe die Gerichte im anglo-amerikanischen Rechtskreis darauf verwenden, die Wortbedeutung zu ermitteln, ist bezeichnend. Wörterbücher der Umgangssprache dürften als Hilfsmittel für die Gesetzesinterpretation häufiger als juristische Standardwerke verwendet werden.279 Wird auf den Gebrauch der Sprachzeichen in der Umgangssprache mehr Gewicht gelegt als auf das Verständnis in der juristischen Fachsprache, so ist damit schon eine Weiche für die Auslegung des Gesetzes gestellt. Dies gilt um so mehr, als der Bedeutungsraum eines Ausdrucks in der Umgangssprache häufig weiter sein wird als in der juristischen Fachsprache. Findet in dieser Weite das Gericht — bezogen auf den Normzusammenhang — den ihm treffend erscheinenden Auslegungspunkt, so stellt dies eine Konkretisierungsleistung dar. Die Konkretisierungsfunktion der Präjudizien schwindet also nicht mit fortschreitender Kodifikation, sondern wandelt sich allenfalls. Ob und gegebenenfalls inwiefern dies der Fall ist, läßt sich erst nach einem Blick auf den gegenwärtigen Diskussionsstand beurteilen. Zusammenfassend sei notiert: Geboren aus der mangelnden Beweglichkeit des Case Law (und im weiteren Verlauf auch der Equity), wird das Statute Law zunächst ausgelegt im Blick auf den Mißstand im Case Law, dem es hat abhelfen sollen. Immer mehr richtet sich die Interpretation aber an der Wortbedeutung aus, in Amerika außerdem am Normzweck. Gleichwohl erfüllen die Präjudizien auch hier ihre Konkretisierungsfunktion. III Präjudizien in der Diskussion /. Rechtsnatur und Adressatenkreis: Grundsatz des stare decisis a) Grundlagen Steht die Präjudizienwirkung in Frage, so kann diese nicht einfach im Sinne der (materiellen) Rechtskraft verstanden werden.280 Geht es 27

» Vgl.o.Fn36 Dazu schon o. A. III. 1. b) aa)

280

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doch nicht um die Bindung inter partes. Die (Vor-)Entscheidungen interessieren insofern nicht als Mittel, um den Rechtsfrieden zwischen den Parteien wiederherzustellen, sondern als Richtmaß für andere künftig zu beurteilende Fälle. Sollen Präjudizien in diesem Sinne für andere Entscheidungen als Richtmaß dienen, so bildet sich deutlich ein Spannungsfeld heraus. Einerseits bedarf es nämlich einer Bindungskraft, um die Rechtssicherheit zu wahren. Diese darf aber nicht in solchem Umfange zu Lasten der Gerechtigkeit gehen, wie dies bei der Rechtskraft zu bemerken ist. Um den Ausgleich zwischen Rechtssicherheit und Richtigkeit bemüht sich in begrüßenswerter Weise das anglo-amerikanische Schrifttum mehr als darum, die Rechtsnatur zu klären. Hierbei wird man jedenfalls im Bereich des Case Law von einer gesetzesähnlichen Bindung ausgehen können. Um sie verwirklichen zu können, finden sich die Entscheidungen der oberen Gerichte in Law Reports veröffentlicht.280" Selbst im Blick auf die veröffentlichten Vorentscheidungen hat man allerdings gegenüber der Geltung kodifizierter Normen einige Besonderheiten zu beachten. Maßgeblich ist der Grundsatz des stare decisis. Hierdurch wird den Gerichten aufgegeben, im Rahmen der Fremd- (dazu sogleich b) und der Selbstbindung (u. c) auf Vorentscheidungen zu beharren. b) Fremdbindung aa) Präjudizienpyramide in England Findet man Anklänge der Präjudizien Wirkung an die Gesetzesbindung, so interessiert zunächst das die Norm setzende Organ. Versteht man hierunter die Gerichte schlechthin, so ergibt sich die Gefahr einander widerstreitender Rechtssätze zu einer Frage. Um dies zu vermeiden, hat man sich die Präjudizienbindung, die »binding authority«,2801" in einer hierarchisch geordneten Pyramide zu denken.281 Als dessen Spitze zeigt sich das höchste Gericht des Landes. In

280a 2Kb 211

Näher dazu etwa David/Grasmann (o. Fn 226), 346 Coing, Zur Ermittlung von Sätzen des Richterrechts, JuS 1975, 277,279 Hierzu und zum folgenden Cross (o. Fn 266), 6 ff.; Allen (o. Fn 251), 236 ff.; Blumenwitz (o. Fn 230), 25 ff.

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England ist dies das House of Lords. Es entscheidet freilich nur in seltenen Ausnahmefällen als Rechtsmittelgericht. Gerade die geringe Zahl seiner Entscheidungen282 steigert deren Ansehen und Gewicht. Alle nachgeordneten englischen Gerichte sind hieran gebunden. Dies gilt auch für den Supreme Court mit seinen zwei Stufen. Die obere der beiden Stufen bildet der als Rechtsmittelgericht erkennende Court of Appeal. Er ist gleichsam als die auf die Spitze folgende erste Ebene der Präjudizienpyramide zu sehen. So hat er sich nicht nur selbst an den (Vor-)Entscheidungen des House of Lords auszurichten, sondern bindet auch seinerseits sämtliche erstinstanzlichen Gerichte an seine Judikate. Als erstinstanzliches Gericht wird insbesondere die untere Stufe des Supreme Court tätig, nämlich der High Court of Justice. Er stellt sich zugleich als zweite Ebene der Präjudizienpyramide dar. Die dritte und letzte Ebene bilden die restlichen erstinstanzlich entscheidenden Gerichte, die inferiour courts283. bb) Hierarchie der Präjudizien in den Vereinigten Staaten Da die hierarchisch geordnete Präjudizienpyramide ihre Wirkung nur in dem jeweiligen Gerichtsbereich zu entfalten vermag, steht eine jede der verschiedenen Pyramiden für sich. Daher sind die englischen Gerichte von den amerikanischen precedents ebensowenig abhängig wie umgekehrt die amerikanischen Gerichte von den englischen precedents. Zwar mag das teils hohe Ansehen der Judikate den jeweiligen Wirkungsbereich der Präjudizienpyramide weit überragen und zu einer »persuasive authority«28015 führen. Doch kommt es zur »binding authority«28015 grundsätzlich nur innerhalb des in sich ruhenden Aufbaus einer jeden Hierarchie. Dies erscheint vor allem wichtig für die Vereinigten Staaten mit ihrer Föderalstruktur. Damit werden grundsätzlich die Bundesgerichte nur durch die Entschei282

283

David/Grasmann (o. Fn 226), 383, sprechen von nur etwa 30 bis 40 Entscheidungen pro Jahr Als inferior courts sind vor allem die county courts und magistrates' courts zu erwähnen. Den inferior courts stehen die Superior Courts gegenüber, zu denen seit dem Courts Act 1971 außer dem House of Lords, dem Court of Appeal und dem High Court noch der Crown Court, das Judicial Committee of the Privy Council, Restrictive Practice Court und der National Industrial Relations Court gehören, deren Sonderstellung in der Gerichtshierarchie hier aber nicht erörtert werden kann

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düngen höherer Bundesgerichte, nicht durch Erkenntnisse selbst höherer Gerichte der einzelnen Staaten gebunden. Andererseits wirken sogar die vom obersten Bundesgericht gesprochenen Entscheidungen nicht auf die Gerichte eines Landes. Vielmehr haben diese sich nur an den Judikaten höherer Gerichte eben dieses Landes auszurichten, also weder an den Entscheidungen eines Bundesgerichts noch des Obergerichts eines anderen Landes. In diesem Sinne hat man als Spitze des bundesgerichtlichen Instanzenzuges in den Vereinigten Staaten dessen oberstes Gericht zu sehen. Es ist dies der Supreme Court. Seine Präjudizien sind maßgeblich zum einen für die im zweiten Rechtszug als Rechtsmittelgerichte entscheidenden Courts of Appeal als auch für die erstinstanzlichen District Courts. Demgegenüber eher verwirrend ausgestaltet findet sich der Instanzenzug in den vierzig Gliedstaaten. Bei der Mehrzahl der größeren Staaten sind drei Instanzen, in etwa zwanzig der Gliedstaaten aber nur zwei Instanzen eingerichtet.284 Deren oberste Instanz, auch in den Gliedstaaten meist der Supreme Court,285 bindet mit seinen Entscheidungen daher das Rechtsmittelgericht (gewöhnlich als Court of Appeal oder auch als Appellate Division bezeichnet) wie auch die vielfältig gestalteten erstinstanzlichen Gerichte, also etwa die courts of general jurisdiction, die special courts oder die inferiour courts. Nur ausnahmsweise können Präjudizien aus der einen auf die andere Präjudizienpyramide in der amerikanischen Föderalstruktur einwirken. So liegt es dann, wenn ein Gericht das in einem anderen Bereich geltende Recht anzuwenden hat. Dann mag ein Bundesgericht das Common Law eines Gliedstaates in der maßgeblichen Auslegung durch die Gerichte eben dieses Gliedstaates heranzuziehen haben. Dabei kann der Supreme Court der Vereinigten Staaten sogar die Unvereinbarkeit von Gliedstaatenrecht mit der Bundesverfassung verbindlich feststellen.2** Es handelt sich hierbei aber lediglich um Ausnahmen von der Abgeschlossenheit einer jeden Präjudizienpyramide. 284 285

2

Vgl. Institute of Judicial Administration (Hrsg.), A Guide to Court Systems, 1960 In New York der Court of Appeal und in Connecticut der Court of Errors Vgl. Blumenwitz (o. Fn 230), 29, dort — Fn 52 — auch zur Zuständigkeit der Federal Courts, für den konkreten Fall darüber zu befinden, ob sich das jeweilige Gliedstaatenrecht mit dem Bundesrecht verträgt

75 cc) Overruling ccl) Gesetzesähnliche Bindung als Ausgangspunkt Innerhalb einer jeden Pyramide wird die Fremdbindung strikt eingehalten. Ein Overruling der Entscheidung eines in der Entscheidungspyramide höher stehenden Gerichts durch das Gericht einer unteren Ebene ist also ausgeschlossen. Das gilt noch jetzt. Zwar hat der englische Court of Appeal in einem Fall — Broome v. Cassell & Co. Ltd.287 — eine vom House of Lords entwickelte Rechtsansicht als »unworkable« bezeichnet. Doch ist dies nicht ohne einen scharfen Verweis durch das House of Lords abgegangen. Er sei in den Worten Lord Hailsham's wiedergegeben: »The fact is, and I hope it will never be necessary to say so again, that, in the hierarchical system of courts which exists in this country, it is necessary for each lower tier, including the Court of Appeal, to accept loyally the decisions of the higher tiers.«288 Wenn Cro552*9 die Fremdbindung — obwohl durch den von Lord Hailsham gesprochenen Tadel als unbedingt verbindlich dargestellt — gleichwohl nur eine »rule of practice« nennt, so widerlegt dies jedenfalls für den Bereich des Case Law nicht die Annahme einer gesetzesgleichen Bindung. Eher spiegelt sich hierin die schon von Radbruch™ eindrucksvoll geschilderte Loyalität des Engländers gegenüber dem Recht. Auch ohne strikte Anweisungen werden Regeln eingehalten. Wie ernst gerade Cross die Fremdbindung nimmt, zeigt sich an den von ihm aufgezeigten Konsequenzen. Immerhin kann — wenn auch kaum einmal geübt — der widersetzliche Richter aus dem Amt entfernt werden. Zumindest aber stellt die Mißachtung des Präjudizes einen Rechtsfehler dar, der in der übergeordneten Instanz zur Aufhebung des Urteils führen kann, wie dies in Deutschland als Folge einer mißachteten Vorlegungspflicht festgestellt worden ist.2291

2 7

« (1972) A. C. 1027 (O. Fn 287), 1054 M » (O. Fn 266), 104 » ( . Fn 1), 14 ff. 291 Vgl.o.A.m. l.c)aa) 2M

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cc2) Ausnahmen Scheint es damit einem in der Präjudizienpyramide weiter unten stehenden Gericht rigoros verboten zu sein, von dem precedent eines übergeordneten Gerichts abzuweichen, so wird dieses Verbot des Overruling doch durch einige Ausnahmen aufgelockert. Bemerkenswerterweise ist es gerade das Overruling durch ein übergeordnetes Gericht, das von einem precedent abzugehen gestattet. Hat nämlich ein übergeordnetes Gericht eine Vorentscheidung (noch nicht einmal notwendig in derselben Sache) ausdrücklich als unrichtig befunden,292 so ist das aufgehobene precedent nicht mehr maßgeblich. Es kann dann allerdings eine Bindung an die Entscheidung eintreten, durch die das Overruling ausgesprochen worden ist. Dagegen bleiben später erkennende Gerichte frei in der Entscheidung, wenn das obere Gericht nur stillschweigend von einer Vorentscheidung abgegangen ist. Dann beseitigt das Overruling zwar das precedent, ohne jedoch hierzu eine Gegenposition zu schaffen.293 Ahnlich kann es auch bei sich widerstreitenden Entscheidungen eines Gerichts liegen. Allerdings zeigt sich hier das Bestreben, die spätere Entscheidung nicht als einen Widerspruch zur ersten, sondern lediglich als Auslegung — etwa als Einschränkung — der Vorentscheidung hinzustellen.295 Ein solches Streben, Konflikte zu »vermeiden«, wird teils aus der Eigenheit des Common Law erklärt. Es soll nicht geändert, sondern lediglich richtiger ausgelegt und angewandt werden können.294 In diesem Zusammenhang wird man sich an Entscheidungsbegründungen deutscher Obergerichte erinnern, mit denen eine Vorlagepflicht nach §§ 121 Abs. 2,136 GVG verneint worden ist.295 cc3) Besonderheiten im Criminal Law Die nur begrenzten Ausnahmen zeigen, wie man bei der Fremdbindung die Rechtssicherheit betont. Auch wenn ein nachgeordne292

Lord Reid (in: Ross-Smith v. Ross-Smith (1963) A. C. 280, 295) will hiervon allerdings nicht schon dann ausgehen, wenn die in der Vorentscheidung aufgestellte Rechtsregel (die ratio decidendi) falsch ist. Nach seiner Auffassung setzt ein Overruling voraus, daß sich die Entscheidung auch auf keinen anderen Grund stützen läßt 2 » Näher Cross (o. Fn 266), 126 ff. 2M Vgl. Walker/Walker, The English Legal System, 5. Aufl., 1980,137 2 « Dazu o. A. III. 3. c) cc)

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tes Gericht die (Vor-)Entscheidung eines übergeordneten Gerichts als falsch erachtet, bleibt die Bindung bestehen. Sie kann sich allerdings insbesondere in Strafsachen als unvertretbar auswirken. Deshalb hat die Criminal Division des englischen Court of Appeal nicht immer den Grundsatz des stare decisis eingehalten. Kann doch das precedent per incuriam getroffen (also etwa ein relevantes Gesetz oder precedent nicht berücksichtigt) worden oder dabei das Gesetz falsch angewendet oder mißverstanden worden sein. In solchen Gestaltungen verliert der Grundsatz des stare decisis seine Kraft.296 Hiervon ist aber nur die Rede im Blick auf die Selbstb'mdung der Criminal Division des Court of Appeal. Schon diese Befugnis findet sich aber nicht ausdiskutiert und eher bezogen auf das Overruling eines fälschlich auf Freiheitsstrafe erkennenden Urteils.297 Kaum wird man daher auch die Fremdbmdung der Criminal Division des Court of Appeal an Vorentscheidungen des House of Lords aufgelockert sehen können. c) Selbstbindung aa) Blick auf die Entwicklung in England Von der eben behandelten streng hierarchisch gestalteten Fremdbindung hat man die Selbstbindung der Gerichte abzugrenzen. Sie steht ebenfalls im Spannungsfeld von Richtigkeit und Rechtssicherheit. Insofern es um die Vorhersehbarkeit des Rechts geht, ist die Kontinuität der Rechtsentwicklung angesprochen.298 Es sollen — anders als bei der Fremdbindung — nicht widerstreitende Entscheidungen in einem Zeitpunkt, sondern im Zeitablauf verhindert werden. Diesem Interesse wird insofern gedient, als in Zukunft wegen des auch im anglo-amerikanischen Rechtskreis anerkannten Grundsatzes »nulla poena sine lege« von den Gerichten keine neuen Straftatbestände mehr geschaffen werden dürfen.299 Im übrigen scheint sich aber die in Amerika jedenfalls formal nicht anerkannte Selbstbin3%

R. v. Taylor (1950) 2 K. B. 368; vgl. auch R. v. Newson and Browne (1970) 2 Q.B. 711 Vgl. R. v. MC Cready (1978 )3 All E. R. 967 und dazu Cross/Jones, Introduction to Criminal Law, 9. Aufl., 1980, 10/11 ** Zu den deutschen Verhältnissen vgl. etwa LR/'Schäfer (o. Fn 173), § 121 GVG, Rn 25 ff. 299 Deutlich das House of Lords in der Sache Knüller Ltd. v. Director of Public Prosecutions (1973) A. C. 435; (1972) 2 All E. R. 898 297

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dung der Gerichte auch in England aufzulockern. Immer mehr dürfte insofern an die Stelle einer bindenden eine eher überzeugende Autorität treten. Im Case Law erledigen sich Präjudizien nicht durch Zeitablauf. Ihre Kraft verlieren sie vielmehr nur durch entgegenstehende Gesetze oder dann, wenn sie durch spätere Entscheidungen aufgehoben (overruled) werden. Mit dem aufhebenden Erkenntnis ist der Rechtszustand im Sinne des wirksamen Overruling geschaffen.300 In Englancf" wirkt die abweichende Entscheidung also nicht nur pro-, sondern auch retrospektiv.302 Dies läßt verstehen, daß vor allem das House of Lords nur zögernd vom stare decisis abgeht. Allerdings ist eine strikte Selbstbindung mit dem Case Law nicht begriffsnotwendig verknüpft. Auch hat erst unlängst Scbmitthoff*03 deutlich werden lassen, wie sich nur allmählich aus einer Bindung an das Recht eine Bindung an bestimmte Vorentscheidungen herausgebildet hat. Als Höhe- und gleichsam Wendepunkt dieser Entwicklung ist die wichtige Erklärung des Lordkanzlers Earl of Halsbury** aus dem Jahre 1898 zu sehen. Darin hat sich das House of Lords an seine eigenen Vorentscheidungen als so weit gebunden bezeichnet, daß nur das englische Parlament durch seine Gesetzgebung ein precedent des House of Lords annullieren oder abändern könne. Diesen Standpunkt hat der Lordkanzler aber in seiner Ankündigung vom 26.07.1966305 aufgegeben. Noch immer wird freilich der »use of precedents« als »indispensable foundation upon which to decide what is the law and its application to individual cases« angesprochen, andererseits aber anerkannt, »that too right adherence to precedent may lead to injustice in a particular case«. So soll von einer früheren Entscheidung abgewichen werden können, »when it appears right to do so.« Gleichwohl scheint bisher die Neigung des House of Lords ge-

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Mit Bedacht wird die Aussage vermieden, der Rechtszustand sei geändert, vgl. dazu o. Fn293 Anders als in den Vereinigten Staaten, dazu u. bb) Vgl. Walker/Walker (o. Fn294) Non stamus decisis, FS Going, 1982, 469 ff., 474 ff. In der Sache London Street Tramways Co. v. London County Council (1898), A.C. 375 (1966) 3 All E.R. 77

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ring zu sein, sich von einem precedent zu entfernen.306 Zum Beleg hierfür läßt sich eine zivilrechtliche Entscheidung aus dem Jahre 1972307 nennen. Darin hat es das House of Lords in seiner Mehrheit abgelehnt, von einer als falsch erkannten früheren Entscheidung abzugehen. Doch dürfte sich hieraus nicht eine Prognose gegen eine gelockerte Selbstbindung des House of Lords an seine Entscheidungen ableiten zu lassen. Dagegen spricht schon ein Erkenntnis des House of Lords aus dem Jahre 1970308. Vor allem aber sind einige Entscheidungen aus den Jahren 196830' und 1976310 zu nennen. Sie rechtfertigen es, die Selbstbindung des House of Lords auch tatsächlich als nicht mehr so streng anzusehen. Schmitthoffs*" interessante Folgerung hieraus geht recht weit. Sein »non stamus decisis« dürfte gegenwärtig nur zutreffen, insofern man darunter eine Lockerung der immer noch bestehenden Selbstbindung begreift. Ähnliche Überlegungen gelten für die Selbstbindung des Court of Appeal mit seiner Criminal und seiner Civil Division. Grundsätzlich erachtet der Court seine und die Vorentscheidungen seiner Vorgänger als maßgebliche Vorgabe für seine Entscheidungen. Dies gilt auch für die Criminal Division im Blick auf die precedents des Court of Criminal Appeal. Doch gilt die Selbstbindung nur grundsätzlich. Es sind die schon312 angesprochenen Ausnahmen zu beachten. Sie sind zahlreicher, als sie die Civil Division zuläßt. Zu nennen ist etwa eine falsche Rechtsanwendung in einem precedent. Dadurch wird die Selbstbindung beseitigt. Nicht nur insofern, sondern insgesamt ist die Selbstbindung des Court of Appeal an seine Vorentscheidungen angezweifelt worden. Die Diskussion hierüber hat begonnen, als sich das House of Lords laut der Ankündigung seines Lordkanzlers aus dem Jahre 196630S nicht mehr vorbehaltlos an seine Vorentscheidungen für gebunden

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Blumenwitz (o. Fn 230), 27, spricht von einer »äußersten Zurückhaltung«, mit dem sich nur das House of Lords von dem Grundsatz des stare decisis lösen will In Jones v. Secretary of State for Social Services (1972) l All E. R. 145; (1972) A. C. 944 In Home Office v. Dorset Yacht Co. Ltd. (1970) 2 All E. R. 294 Conway v. Rimmer (1968) A.C. 910 Miliangos v. George Frank (Textiles) Ltd. (1976) A.C. 443 (O. Fn 303), 476 ff. O. bei Fn 309, 310 sowie nach Fn 305

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erklärt hat. Bei den Erwägungen hierzu sind aber die Unterschiede hervorgetreten. Eine strikte Selbstbindung des House of Lords würde nämlich die Rechtsentwicklung jedenfalls von der Judikative her blockieren. Nur der Gesetzgeber könnte eingreifen. Dies gilt jedoch nicht für die Urteile des Court of Appeal. Gegen sie ist nämlich der Rechtsweg zum House of Lords eröffnet, so daß die dritte Gewalt selbst — nämlich das House of Lords — eine notwendige Korrektur vorzunehmen vermag.313 Für den High Court of Justice ist die Aufteilung in divisional courts (Kollegialgerichte) und judges (Einzelrichter) zu beachten. Der Queen's Bench Divisional Court, der über Strafsachen entscheidet, fühlt sich ähnlich wie die Criminal Division des Court of Appeal an seine Vorentscheidungen gebunden. Es gelten also auch die schon erörterten Ausnahmen.314 Dagegen verpflichten schon von vornherein die Erkenntnisse einer der High Court judges nicht die anderen einzeln entscheidenden Richter am High Court. Ihnen kommt aber »persuasive authority« zu.315 Daher geht ein High Court judge allenfalls zögernd von der Entscheidung eines anderen High Court judge ab. Praktisch wird dies nur, wenn gewichtige Gründe es gebieten.31' Noch weniger binden Erkenntnisse der übrigen erstinstanzlich befindenden Gerichte, zumal deren Entscheidungen regelmäßig nicht publiziert werden. Gleichwohl können die in ihnen ausgedrückten »rules» durchaus Bedeutung erlangen, insofern es in dem betreffenden Punkt an einer obergerichtlichen Rechtsprechung mangelt. Ein auf sie gegründetes Vertrauen kann zu schützen sein. So liegt es jedenfalls bei längerer Übung. Dann darf selbst ein höheres Gericht unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes von der einschlägigen »rule» nur abweichen, soweit diese als »erroneous« (rechtsirrtümlich) zu beurteilen ist.3317

313

So etwa die Meinung der Richter Rüssel und Salmond in Gallic v. Lee and Another (1969), l All E.R. 1062, 1076, 1082, mit dissenting vote Lord Denning, Master of Rolls, 1072; ferner Barringtor v. Lee (1971) 3 All E.R. 1231 314 Vgl. dazu auch Walker/Walker (o. Fn 294), 149 315 Iker/Walker (o. Fn 294), 149 31 * Vgl. Blumenwitz (o. Fn 230), 28 317 Vgl. Blumenwitz (o. Fn 230), 28

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bb) Zur Sichtweise in den Vereinigten Staaten Während in England die Selbstbindung — abgesehen von den eingegrenzten Ausnahmen — zumindest an der Spitze und in den folgenden beiden Ebenen streng gehandhabt wird, sind selbst die oberen und obersten Gerichte in den Vereinigten Staaten frei von einer rechtlichen Bindung an ihre Vorentscheidungen. Cross*1* nennt hierfür zwei Gründe. Der eine ist praktisch ausgerichtet: Angesprochen wird nämlich die schon im Blick auf die Föderalstruktur gegenüber England überaus zahlreichere Rechtsprechung mit einer Vielzahl von »law reports«. Der andere Grund kann eher als kriminalpolitisch bezeichnet werden. Bezug genommen wird auf die in Amerika — anders als in England — geschriebene Verfassung. Mit Verfassungsfragen hat sich insbesondere der amerikanische Supreme Court zu beschäftigen/" Handelt es sich aber um die Verfassung und ist diese festgeschrieben, so durchdringen sich Fragen des (sogar in Form der Verfassung) gesetzten Rechts mit solchen des Fallrechts. Damit wird ein allgemeines Problem angesprochen. Es geht um die Konkurrenz der Präjudizien mit der gleichsam dahinterstehenden Norm. Zutreffend sieht Frankfurter3™ die Verfassung selbst als maßgeblich an, nicht das »what we do about it«. Betont wird die Eignung der Norm, auf gewandelte Lebensverhältnisse zugeschnitten zu werden.321 Sollen Judikate in dieser Fähigkeit nicht nachstehen, so müssen bessere Argumente einfließen können. Dies gilt auch für Erkenntnisse aus dem sich im Leben — und damit auch im Gerichtsverfahren — stets wiederholenden Prozeß von Versuch und Irrtum. Hierzu muß jedenfalls der oberste Gerichtshof von seinen Vorentscheidungen abweichen dürfen. Ihnen darf keine bindende, sondern nur eine überzeugende Autorität zukommen. Wissenschaftliche Ergebnisse322 sowie veränderte Rechtsanschauungen lassen sich dann in die Entscheidungsfindung einbringen. Dies ist dem amerikanischen Supreme 318

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(O. Fn 266), 17/18 Interessant hierzu Goodhart, Case Law in England and America, in: Essays in Jurisprudence and the Common Law, 1931, 67/68 In: Graves v. New York, (1939) 306 U. S. 466, 491 Aufschlußreich Lord Wright, in: Precedents, 8 Cambridge Law Journal (1944), 118, 135 Treffend in dieser Richtung Justice Brandeis , in: Burnet v. Coronado Oil & Gas Co., 258 U. S. 393, 406 ff. (1932)

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Court nicht verwehrt. Dennoch hat er sich bisher nur selten von seinen Vorentscheidungen entfernt.323 Damit ist es in den Vereinigten Staaten nicht die gesetzesähnliche Bindung, die eine Vorentscheidung zu beachten aufgibt. Vielmehr setzt sich letztlich die überzeugende Autorität durch, verbunden mit dem Gedanken an die Rechtssicherheit. cc) Overruling und Prospective Overruling Die überzeugende Autorität obergerichtlicher Entscheidungen darf nicht gering geschätzt werden. Wird hierdurch doch erklärlich, warum höchstrichterliche Entscheidungen sogar eines anderen räumlichen Bereichs — also etwa die Erkenntnisse des amerikanischen Supreme Court in England — »highest respect« genießen.324 Doch tritt noch ein anderer Gesichtspunkt hinzu. Es ist dies die Vorausschaubarkeit des Rechts für den Bürger, eine Ausprägung der Rechtssicherheit. Mit beachtlichen Argumenten findet sich auch in der deutschen Literatur die Ansicht, der Bürger müsse sich wenigstens darauf verlassen können, daß sein Verhalten nach der bisherigen Rechtsprechung beurteilt werde. Dies führt zu der Forderung, den Obergerichten zu verbieten, ihre Rechtsprechung rückwirkend zu ändern. Vielmehr soll ihnen aufgegeben werden, in der Entscheidung noch nach der bisherigen Rechtsprechung zu erkennen und die beabsichtigte Änderung anzukündigen.325 Ein solches Prospective Overruling hält der Supreme Court der Vereinigten Staaten für zulässig.32' So sehr die Vorausschaubarkeit des Rechts zu begrüßen ist, so wenig kann sie isoliert gesehen werden. Muß doch ein Fall vor allem — soweit nach den menschlichen Fähigkeiten überhaupt möglich — richtig entschieden werden. Wenn ein Gericht eine Rechtsregel also 323

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325

3M

Aufschlußreich Blaustein/Field, 57 Michigan Law Review (1958), 151 ff., wonach der Supreme Court in den Jahren von 1810 bis 1957 insgesamt nur in 90 Fällen frühere Entscheidungen außer Kraft gesetzt hat Dazu Lord Denning, Master of Rolls, in: Corocraft Ltd. v. Pan American Airways Inc., (1969) I Q. B. 616, 655 Vgl. etwa Kohlmann, Der Begriff des Staatsgeheimnisses und das verfassungsrechtliche Gebot der Bestimmtheit von Strafvorschriften, 1969, 290 Linkletter v. Walker (1965), 381 U. S. 618 (zitiert in der Sache Jones v. Secretary of State for Social services (1972) A.C. 944, (1972) l All E. R. 145)

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als falsch erkennt, darf sie diese auf einen Fall nicht mehr anzuwenden gezwungen sein. Darüber hinaus fehlt es der dritten Gewalt an der Befugnis, allein™ verbindlich Rechtssätze für künftige Entscheidungen zu formen und damit die Balance zwischen Legislative, Exekutive und Judikative zu beeinträchtigen. Nicht zuletzt diese Gründe haben das englische House of Lords32* davon abgehalten, ein Prospective Overruling zu akzeptieren. Wenn also eine Ausnahme von der Selbstbindung eingreift, etwa ein precedent als falsch erkannt wird, so kommt es in England zum Overruling.329 Demnach erscheint die Se/feibindung der Gerichte besonders in den Vereinigten Staaten als eine Frage der Loyalität, in England dagegen eher als ein rechtliches Sollen. In der Rechtswirklichkeit wird aber auch in den Vereinigten Staaten die Selbstbindung grundsätzlich streng beachtet, wenn Gründe dem nicht entgegenstehen. Nicht nur tatsächlich, sondern auch rechtlich lassen sich dann für die /rerai/bindung erstaunliche Parallelen feststellen. Entscheidungen der höheren Gerichte binden in England wie in den Vereinigten Staaten kraft einer pyramidenförmig angeordneten Entscheidungshierarchie jeweils die unteren Gerichte. Nachdem in dieser Weise der Adressatenkreis der Bindungswirkung abgesteckt ist, kann sich die Aufmerksamkeit nunmehr ihrem Gegenstand zuwenden. 2. Gegenstand der Bindung: Ratio decidendi a) Stellung im Precedent aa) Blick auf den Sachverhalt Den bis zu Ende gedachten Bezug der einschlägigen Rechtsregel auf den Sachverhalt hat man als precedent aufzufassen. Wurzelt aber der Bezug im Tatsächlichen und im Rechtlichen, so ist noch der Bereich abzugrenzen, an den man die Bindung anzuknüpfen hat. Lord Halshury*30 sieht hierfür die Tatsachen als maßgeblich an, über die 327

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Hiermit ist nicht Krieles (o. Fn 49), 98, Forderung zu verwechseln, eine Entscheidung solle zugleich Maxime für nachfolgende richterliche Entscheidungen bilden. Vgl. hierzu Cross (o. Fn 266), 229 ff., 231; Nicol, Prospective Overruling: A New Device for English Courts, 39 Modern Law Review (1976), 542 ff. Insofern nicht ein Distinguishing weiterhilft, vgl. dazu u. 3. Quinn v. Leathern (1901) A.C. 495, 506

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tatsächlich entschieden worden ist. Die insofern relevanten Tatsachen lassen sich aber nur im Blick auf die angewandte(n) Rechtsregel(n) bestimmen. Dies hat Goodbar?" zutreffend dazu veranlaßt, die ratio decidendi oder — von ihm bedeutungsgleich gebraucht — das »principle of a case« in die Betrachtungen einzubeziehen. Gleichwohl läßt er nicht etwa die Rechtsausführungen des Gerichts in Bindungskraft erwachsen. Sie können falsch, zu eng oder zu weit sein. Dies ist für ihn der Grund, Rechtsansichten des Gerichts zwar als Hilfsmittel einzusetzen, um die »material facts« herausarbeiten zu können. Nicht jedoch will er zugleich diese Ansicht als Gegenstand der Bindung akzeptieren. Diesen findet er vielmehr in den »material facts«, die er den »immaterial facts« gegenüberstellt. Diese Abgrenzung ist zu unterstützen. Wird in ihr doch deutlich, daß es nicht nur wesentliche von unwesentlichen Rechtsfragen zu scheiden gilt. Weiterhin geht es darum, erhebliche Tatsachen aus dem komplexen übrigen Sachverhalt herauszufiltern. bb) Vergleich mit dem Streitgegenstand Gleichwohl bleibt offen, ob der Sachverhalt, mag er auch in dieser Weise aufbereitet sein, den Gegenstand des stare decisis zu bilden vermag. Daran könnte man denken, wenn man — entgegen der hier vertretenen Meinung"1* — die Bindungskraft gleichsam als subjektive Erstreckung der sonst nur inter partes wirkenden materiellen Rechtskraft sehen will."2 Dann nämlich klingt die Diskussion um den (in materielle Rechtskraft erwachsenden) Streitgegenstand an."3 Faßt man doch im Zivilprozeß den nicht einheitlichen StreitgegenstandsbegrifP" mit der wohl vordringenden Ansicht"5 überwiegend — insbesondere für Leistungsklagen — zweigliedrig auf. Antrag und Sachverhalt werden einbegriffen. Im Strafrecht schaut die h. M."6 auf 331

Determining the ratio decidendi of a case, Yale Law Journal 40 (1931), 161 ff. »Vgl. o. l.a) 332 Vgl. Salmond, On Jurisprudence, 8. Aufl., 1930,201;dagegen aber zutreffend die h. M., etwa Blumenwitz (o.Fn 230), 33 333 Aufschlußreich hierzu Fikentscher (o. Fn 36), 88/89 334 Überzeugend Baumgärtel, Zur Lehre vom Streitgegenstand, JuS 1974, 69 ff., 72 ff. 335 Dazu etwa Zeiss, Zivilprozeßrecht, 5. Aufl., 1982,117/118 33* Vgl. Verf. (o. Fn 200), Rn 361/362

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den Sachverhalt. Durch diese eher im Tatsächlichen angesiedelte Theorie337 darf aber der Bezug zwischen Normativem und Ontologischem nicht einseitig zugunsten der Fakten verlagert werden. Von Präjudiz zu Präjudiz vorantastend, ist das Case Law entstanden. Dadurch geschaffene Regelungen sollen — um der Rechtssicherheit willen — möglichst weitgehend festgelegt werden. Dieses Anliegen läßt sich aber mit dem von Gooähart nochmals eindringlich verfochtenen Standpunkt338 schwerlich verwirklichen. Zwar hat er einen wichtigen Beitrag erbracht, indem er mit Hilfe der ratio decidendi oder des »principle of case« die »material« von den »immaterial facts« abgegrenzt hat. Die »material facts« zeigen sogar Anklänge an die »konkrete Gestaltungsnorm«155. So können sie mit Blickrichtung auf die Rechtsfolge als precedent verstanden werden. Nur auf sie die Bindung zu erstrecken geht aber fehl. Finden doch die »material facts« ihre Begründung in der ratio decidendi im engeren Sinne. Als ratio decidendi im engeren Sinne soll hier die Rechtsausführung begriffen werden, auf die das Gericht die »material facts« stützt. Damit ist die Parallele gefunden zur Rechtsregel im deutschen Recht. Sonstige Rechtsausführungen, die das Gericht zu der Rechtsregel motiviert haben, sollen dagegen ratio decidendi im weiteren Sinne genannt werden. Weder der ratio decidendi im weiteren noch im engeren Sinne kann aber die Bindungskraft abgesprochen werden. Allenfalls läßt sich an eine stufenförmige Bindung denken. cc) Gewicht der Rechtsausführungen ccl) Ratio decidendi als Bezugspunkt der Bindung Die Bezeichnung der Rechtsausführungen des Gerichts als ratio decidendi ist anerkannt,339 wobei nicht zwischen der ratio decidendi im engeren und weiteren Sinne unterschieden wird. Wohl aber nennt Cro55340 die ratio decidendi den einzigen bindenden Teil eines 337 338

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Dazu etwa Verf. (o. Fn 200), Rn 362.2/3 The Ratio Decidendi of a Case, 22 Modern Law Review (1959), 117 mit umfangreichen Nachweisen auch zur Gegenansicht Vgl. etwa Montrose, Ratio Decidendi of a Case, 20 Modern Law Review (1957), 587; ferner etwa Simpson, The Ratio Decidendi of a Case, 22 Modern Law Review (1959), 453 (O. Fn 266), 38

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precedent. Damit dürfte er die überwiegende Ansicht im anglo-amerikanischen Rechtskreis wiedergeben.341 Sie spiegelt sich sogar im deutschen Schrifttum.342 cc2) Frage des Austauschs der ratio decidendi Die bindende Kraft von precedent und ratio decidendi in ihrem Verhältnis zueinander kann vernachlässigt werden, wenn man die dem precedent zugrunde liegende ratio decidendi nicht für falsch hält. Beurteilt man sie aber als unrichtig, so wird fraglich, ob ihr gleichwohl zu folgen ist. Das Problem soll nicht umgangen werden, indem man sich auf den Standpunkt stellt, die Fälle seien tatsächlich nicht vergleichbar und deshalb könne die ratio decidendi ohnehin nicht zum Zuge kommen. Vielmehr soll anstelle eines derartigen »Distinguishing«343 von einer vollen Deckungsgleichheit der Fälle ausgegangen werden. Weiterhin sei angenommen, mit dem nunmehr zu entscheidenden Fall sei ein Gericht des einschlägigen Adressatenkreises befaßt.344 Dieses Gericht wird sich fragen, ob in dem Abgehen von der ratio decidendi das precedent insgesamt verlassen werde, hierin also ein »Overruling« des precedent liege. Dies zu bejahen wäre durchaus konsequent, wenn man mit der h. M.341 die ratio decidendi als den einzig bindenden Teil des precedent sehen wollte. Diese Folgerung scheint die Praxis aber nicht zu ziehen. Offensichtlich unter Billigung von Cro55345 will das House of Lords ein Overruling nicht schon zwingend beim Verlassen der ratio decidendi annehmen. Vielmehr zielt etwa Lord Reid**6 darauf ab, »that there is no other possible ground on which the decision can be supported.« Dieser Gedankengang wirkt bestechend. Er kommt zudem einem wichtigen Anliegen Krieles**7 entgegen, für die Auslegung eines Präjudizes Raum zu gewinnen. Dieser Interpretationsraum ließe sich 341

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Aufschlußreich hierzu auch Llewellyn, Präjudizienrecht und Rechtsprechung in Amerika, 1933, 2. Teil II, 22 ff., III, 93 ff.; ferner die Nachweise o. Fn 339 Vgl. Bydlinski (o. Fn 6), 150; Kriele (o. Fn 15), 270 Näher u. 3. Dazu schon o. B. III. 1. b) bb) und c) bb) (O. Fn266), 130 (O. Fn 292), 38 (O. Fn 15), 275 ff.

87 dann so weit erstrecken, wie noch das precedent in seinem Ergebnis, mithin als »konkrete Gestaltungsnorm«,155 gewahrt wird. Damit allerdings verschiebt man die Bindung entgegen der bisher h. M.341. Riskiert man dies, so läßt sich eine Stufenfolge in der Bindungswirkung entwickeln. Geht man nämlich von dem precedent als der »konkreten Gestaltungsnorm«155 aus, so kann man darin die obere — dennoch aber erst zweite — Stufe der Bindungswirkung sehen. Sie baut auf der unteren — ersten — Stufe auf, nämlich auf der ratio decidendi. Erst durch deren Vermittlung ist das Gericht zum precedent gelangt. Das precedent ruht also auf der unteren Stufe der ratio decidendi und bildet zugleich — als letzter Untersatz, mithin als rechtlich prägnant formulierter Einzelfall — den Bezug der ratio decidendi im engeren Sinne. Gleichwohl läßt sich auch diese austauschen. Daher kann das precedent, die »konkrete Gestaltungsnorm«,155 auf eine andere untere Stufe, auf eine andere ratio decidendi (sogar auf eine andere ratio decidendi im engeren Sinne), gestützt werden. Erst wenn dies nicht möglich ist, wird das precedent verlassen. Andererseits beginnt die Bindungswirkung in der unteren Stufe schon dann, wenn im Blick auf die in der »konkreten Gestaltungsnorm« formulierten entscheidungserheblichen Tatsachen (»material facts«) die ratio decidendi im engeren Sinne eingreift oder von anderen Rechtsausführungen — der ratio decidendi im weiteren Sinne — motiviert worden ist. Deshalb wird so großer Wert darauf gelegt, die ratio decidendi (ohne Einschränkung auf den Begriff im engeren Sinne) von den übrigen Entscheidungsteilen abzugrenzen. b) Ratio decidendi und obiter dictum aa) Möglicher Maßstab und Standpunkt Für die Abgrenzung ist ein Standpunkt einzunehmen. Dies gilt bei dem Gewicht auf der rechtlichen Seite nicht weniger, als wenn man dem tatsächlichen Teil einer Entscheidung Bindungswirkung beimißt. Dabei schaut Gooäbart34 auf die Position des Gerichts, läßt also für die »material facts« die von dem Gericht selbst als erheblich herausgearbeiteten Punkte als solche gelten. Dann werden jedoch

(O. Fn 331, 338)

leicht objektiv unwesentliche Aspekte unangemessen betont und wichtige Überlegungen hintangestellt — bindend für ein später erkennendes Gericht.349 Also wird man nach einem objektiven Maßstab suchen. Dies ist etwa das Anliegen Llewellyn V50, der hierbei die ratio decidendi als Gegenstand der Bindungswirkung im Sinn hat. bb) Wambaugh's Test Der Vorwurf bloßer Scheinobjektivität richtet sich allerdings gegen Wambaugh's Test351. Nach diesem Test soll zunächst die Rechtsregel, welche als ratio decidendi in Frage steht, positiv formuliert werden. In diese Formulierung hat man sodann ein Wort einzufügen, durch das die Rechtsregel einen gegenteiligen Sinn erfährt. Hätte die Rechtsregel auch in dieser Fassung zu dem von dem Gericht gefundenen Ergebnis geführt, bildet sie nicht die ratio decidendi. Als solche stellt sie sich dagegen dar, wenn der Fall anhand der negativen Formulierung anders hätte entschieden werden müssen.3" Kriele'^ kennzeichnet dieses Vorgehen zutreffend als Parallele zu dem Verfahren nach der conditio-sine-qua-non-Formel. Ihrer Anwendung ist schon bei der Diskussion des § 31 Abs. l BVerfGG entgegengetreten worden.354 Sie hat zwar den Vorteil großer Flexibilität. Doch entsteht gerade hieraus die Gefahr der Manipulierbarkeit für das später entscheidende Gericht. Treffend hierzu ist der bei Lord AsquithK* zu findende Ausspruch: »The rule is quite simple, if you agree with the other bloke you say it is part of ratio; if you don't you say it is obiter dictum«.

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Außerdem wird die Bindung leicht zu starr, so daß gerade hierdurch »unkorrekten Umgehungen« Vorschub geleistet wird, so Kriele (o. Fn 15), 286 The Bramble Bush, 1930, 52; M. Bertelmann, Die ratio decidendi zwischen Gesetzesanwendung und Rechtssatzbildung an Hand höchstrichterlicher Rechtsprechung, Bonner Diss. 1975, 175 ff. So genannt, weil entwickelt von Wambaugh, in: Study of cases, 2. Aufl., 1894, 17/18 Vgl. in diesem Sinne neuerdings Allen (o. Fn 251), 259/260 (O. Fn 15), 283 O. bei Fn 162 Journal of the Society of Public Teachers of Law (N. S.), vol. i (1950), 359 (zitiert bei Cross — o. Fn 266 — ,5l — Hervorhebungen dort)

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cc) Resignation in der Abgrenzung Eher sieht man daher heute die ratio decidendi von dem Richter des precedent als festgelegt an,3S5a ohne freilich auf eine Motivationskausalität in dem hier355b vertretenen Sinne abzuheben. So erstaunt es nicht, wenn Skepsis dahin herrscht, ob sich die ratio decidendi überhaupt einwandfrei von den dicta abgrenzen lasse.35* KrieU" hat neuerdings mit beachtlichen Argumenten den Unterschied als ohnehin stark eingeebnet bezeichnet. Kommt es ihm doch vornehmlich darauf an, ob die jeweilige Rechtsausführung im Urteil die »Normhypothese« des Rechtsanwenders »bestätigt, verwirft oder variiert«358. Hierfür ist es aber weniger erheblich, ob sich etwa die Formulierung des Leitsatzes als ratio decidendi oder als dictum einordnen läßt. Auch hat früher schon Llewellyn359 den dicta »Präjudizienkraft zweiten Ranges« zugesprochen.360 Teils wird sogar der Vorteil gepriesen, der mit der schwierigen Abgrenzbarkeit einhergeht, nämlich die Möglichkeit, das Recht fortzubilden.3" Dies ist deshalb so bedeutsam, weil sich im Case Law das Recht nur von precedent zu precedent hin entwickeln kann, Rechtssätze also erst durch die jeweiligen rationes decidendi entstehen. Gerade dann ist aber fraglich, ob sich die ratio decidendi in einer rein technischen Rechtsanwendungsregel erschöpft oder sie in einem weitergehenden Sinne dem Recht dient. c) Verhältnis zu »rule« und »principle« aa) Frage der Gleichsetzung in England Besonders in einem Staat wie in England, in dem die »Rule of Law«3" so hoch geachtet wird, bereitet zuweilen der Gedanke Schwierigkeiten, daß Recht von der Judikative geschöpft wird. Deshalb liegt es 355

" Vgl. etwa Allen (o. Fn 251), 260 O. bei Fn 163 356 In diesem Sinne etwa Stone, Legal System and Lawyers' Reasonings, 36/37 357 (O. Fn 15), 274/275 358 (O. Fn 15), 275 359 (O. Fn 350), 66 360 Vgl. dazu auch Allen (o. Fn 251), 262 ff. 361 Vgl. auch Allen (o. Fn 251), 298/299; Salmond (o. Fn 332), 202 ff. 362 Dazu schon o. II. 1. 355b

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nahe anzunehmen, der Richter schöpfe das Recht aus naturrechtlich vorgegebenen Rechtsprinzipien.363 Erörtert wird aber auch eine Grundentscheidung, hervorgegangen aus der Geschichte3" oder aus dem Sollen365. Ein solcher Rückgriff auf teils überpositive Bereiche steht aber (auch für den angelsächsischen Rechtskreis) durchaus nicht unangefochten. Als eher herrschend tritt vielmehr die Ansicht hervor, der Richter definiere mit seinen Entscheidungen das Recht. Hierzu gelangt Hart*", indem er primäre und sekundäre Rechtsregeln unterscheidet. Dabei werden Rechte und Pflichten nur durch die primären Regeln festgeschrieben, während die sekundären Regeln anzeigen, inwiefern die primären geschöpft, modifiziert oder wieder ausgelöscht werden können. Hierdurch werden für ihn veränderte Entscheidungen aus dem (freilich offenen) Rechtssystem selbst erklärlich. Es stellt sich ihm als eine Hierarchie von Rechtsregeln dar, die Hart jeweils auf eine »rule of recognition« zurückführt. Die »rule of recognition« soll jedoch in keiner anderen Erwägung wurzeln als in der Anerkennung durch die zuständigen Amtsträger. Mit dieser Konzeption steht Hart durchaus nicht unangefochten. Gerade umgekehrt schlägt Dworkin3*7 vor, die »principles« als letzten Geltungsgrund zu diskutieren und daraus die »ruk of recognition« zu formen. Inwiefern hierin eine naturrechtliche Konzeption liegt und einem solchen Ansatz zu folgen ist,368 kann in diesem Rahmen nicht erörtert werden. Hier geht es vielmehr nur um das Verhältnis von »rule« und »principle« zueinander. Hierzu hat neuerdings Fikentscher3^ den Standpunkt vertreten, »rule« und »principle« würden in England bedeutungsgleich zumeist mit der ratio decidendi gebraucht. Dies ist auch richtig, wenn man etwa die Ausführun363

In diesem Sinne etwa Blackstone (o. Fn 258), I, §J 82, 83 (zitiert nach Bodenheimer — o. Fn 226 — 2) für England; Story, Essay on Natural Law, Reproduktion in 92 Oregon Law Review (1955), 34 für Amerika 3M In diesem Sinne Salmond, On Jurisprudence, 12. Aufl., 1966, 111 365 Zur »Grundnorm«, basierend auf der Disparität von Sein und Sollen, Reisen, Reine Rechtslehre, 1936, 2. Aufl., 1960, 209 3 " The Concept of Law, 1961, 92 ff.,' 104 347 Taking Rights Seriously, 1977, 43 368 Interessant hierzu neuerdings Weinberger, Die Naturrechtskonzeption von Ronald Dworkin, Gedächtnisschrift für Marcic, 1983, 497 ff. 369 (O. Fn 36), 133/134

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gen Goodhart's3** zur ratio decidendi betrachtet. Er setzt sie nämlich mit dem »principle« gleich. Synonym erscheint hierzu auch der Ausdruck der »rule«, wie dies etwa bei Cross*™ deutlich wird. bb) Unterscheidung von »rule« und »principle« in den Vereinigten Staaten Hiervon hebt sich die in Deutschland bekannte Diktion ab. Der Rechtsregel (also der Norm in einer Kodifikation bzw. der ratio decidendi oder »rule« im case law) wird der Grundsatz (das »principle«) gegenübergestellt. Es ist dies eine Unterscheidung, die Esser mit seinem grundlegenden Werk »Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts«371 in die deutsche Diskussion eingebracht hat. Gewonnen hat er sie aus seinen Untersuchungen über das Recht der Vereinigten Staaten. Dort hat nämlich maßgeblich Cardozo371 das »principle« (den Grundsatz) der »rule« gegenübergestellt. Die »rule« gewinnt Caräozo aus dem jeweils zu entscheidenden Fall. Im Unterschied zu Holmes*" sieht er jedenfalls in seiner früheren Phase374 als Recht nicht nur das an, was von den Gerichten tatsächlich als solches definiert wird. Vielmehr trachtet er danach, für die (Vor-)Entscheidung zwischen Tatsachen- und Rechtsbereich zu differenzieren. So ist es ihm möglich, die (Vor-)Entscheidung weniger im Blick auf die konkrete Fallgestaltung zu sehen, als den der Entscheidung zugrunde gelegten Rechtssatz herauszuarbeiten. Dieser Rechtssatz stellt sich ihm als »rule« dar. Die »rule« beurteilt er als gleichwertig mit einer Vorschrift im Statute Law. Im Fallrecht ergeben sich die »rules« aus den precedents. Dabei wird der Begriff des precedent in einem weiteren Sinne als bisher (nämlich als Vorentscheidung schlechthin) verstanden. Dabei bilden die precedents nur die unterste von drei Schichten. Über der ersten Schicht der »rules« stehen die »basic juridicial con370

171 372 373 374

(O. Fn 266), 38 ff., 4l 3. Aufl., 1974 The Nature of the Judicial Process, 1921, 20, 70, 112 ff. Zu Werk und Rechtstheorie von Holmes vgl. Fikentscher (o. Fn 36), 167 ff. In seinen späteren Werken, schon in »The Growth of the Law«, 1924, nähert Cardozo sich aber der Sichtweise Holmes' dahin, daß Recht sich in der Entscheidungsfindung durch die Gerichte erschöpfe.

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ceptions«. Sie bezeichnet Cardozo auch als »principles«, die zusammen mit den »rules« die Materie des Rechts ergeben/75 Darüber — in einer gleichsam obersten Schicht angesiedelt — finden sich die »institutions of society« (die gesellschaftlichen Institutionen) wie auch die »habits of life« (die Lebensgewohnheiten). Ob man deshalb Cardozo der soziologischen Richtung in der amerikanischen Rechtswissenschaft zuordnen soll/76 erscheint fraglich und kann an dieser Stelle nicht geklärt werden. Hier bedeutsam ist aber die Unterscheidung zwischen »rules« und »principles«. Von dort aus lassen sich nämlich die »rules« (rationes decidendi) unter Rückgriff auf die »principles« beurteilen und gegebenenfalls zwischen ihnen bestehende Lücken ausfüllen. In einer solchen Weise auf »principles« zurückzugehen ist aber dann nicht unbedenklich, wenn man Hart's Positivismus folgen mag.377 Damit soll freilich dem Positivismus nicht eine grundsätzliche Ablehnung von Rechtsprinzipien unterstellt werden.378 Wenn man aber — wie Hart37'' — den Primär- die Sekundärregeln gegenüberstellt, so gerät man in einem so wenig geschlossenen Case-Law-System wie dem englischen380 leicht in den rechtsfreien Raum. Bestimmen doch die »rules of recognition« (die Erkennungsregeln) als wichtigste Sekundärregeln, wie gültiges Recht zustande kommt. So mag sich zwar eine letzte Erkennungsregel zeigen, die das gesamte System der Rechtssetzung normiert. Gleichwohl läßt sich nur auf die in dem jeweiligen Entscheidungszeitpunkt gerade existierenden Primärregeln zurückgreifen, wie sie gegenwärtig Rechte und Pflichten der Mitglieder in der betreffenden Rechtsgemeinschaft normieren. Dann kann es aber leicht an einer solchen Primärregel zur Entscheidung über den konkreten Fall fehlen und damit der rechtsfreie Raum betreten werden.

375

(O. Fn 372), 19/20 In diesem Sinne etwa Reich, Sociological Jurisprudence und Legal Realism im Rechtsdenken Amerikas, 1967, 73 ff. 377 Interessant hierzu neuerdings Kriele (o. Fn 49), 111 ff. 3/8 Weiterführend zu dieser Frage unlängst Weinberger (o. Fn 368), 503 ff. 379 (O. Fn366) 380 Zu der Offenheit des englischen Fallrechtssystems vgl. Fikentscher (o. Fn 36), 64 ff. 376

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cc) Praktische Relevanz Solche Überlegungen können auf die Praxis ausstrahlen. Deutlich wird dies an dem Rechtsstreit »Home Office v. Dorset Yacht Co. Ltd.«381, der im Jahre 1970 das House of Lords und zuvor den Court of Appeal beschäftigt hat. Lord Denning, Master of Rolls des Court of Appeal, ist nämlich in seiner Argumentation von einer nur lükkenhaften Regelung für Ansprüche aus fahrlässig begangenen Delikten ausgegangen und hat zunächst nach einem precedent als »authority« gesucht. Allerdings hat auch er schon — trotz Fehlens einer solchen Autorität — aufgrund allgemeiner Überlegungen zum Deliktsrecht eine Haftung bejaht. Erst Lord Reid lehnt es aber in seinen Bemerkungen zur Entscheidung des House of Lords ab,382 auf das Bestehen oder Fehlen einer »authority« abzustellen. Entscheidend ist für ihn vielmehr, daß der Anspruch auf ein »recognized principle« gegründet werden kann. Gleichwohl beherrscht diese Sichtweise die englische Rechtswirklichkeit nicht. Dies zeigt sich an dem von Dworkin im Jahre 1975iw besprochenen Urteil der Queen's Bench in der Sache »Sparten Steel and Alloys Ltd. v. Martin and Co. (Contractors) Ltd«. Darin wird maßgeblich darauf abgestellt, es gebe kein precedent zu dem interessierenden Punkt. Noch immer nicht ausdiskutiert ist also die Frage, ob die precedents das Recht erschöpfen oder sie gleichsam höheren Prinzipien unterstehen. Im kodifizierten Recht läßt sich die Antwort jedenfalls vordergründig leicht geben. Dort nämlich steht die Norm hinter dem precedent. Dann allerdings ist es die Norm, bei der man fragt, ob sich in ihr das Recht genügt. Selbst wenn man dies verneint, wird man doch eine Konkretisierung des Rechts anstreben und fragen, ob für einen zu entscheidenden Fall ein precedent bereitsteht. Angesprochen ist damit die Bindungskraft der Präjudizien.

381 382

383

(1970) 2 All E.R. 294 (O. Fn 381), 297 In: 88 Harvard Law Review, 1057, 1090 ff.,

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3. Bindungskraft: Distinguishing a) Grundlagen Im Case Law geht es darum, ob sich ein zu entscheidender Fall einem vorhandenen precedent zuordnen läßt. Nur ausnahmsweise wird aber — in der Vielfalt des Lebens — ein Fall dem anderen in allen Punkten vergleichbar sein. Deshalb kann es auch nicht um eine vollständige, sondern nur um eine Vergleichbarkeit in den wesentlichen Gesichtspunkten gehen. Fehlt es an einer solchen Übereinstimmung, so ist das herangezogene precedent nicht einschlägig. Es wird möglich, sich davon zu entfernen. Dies geschieht durch das »Distinguishing«. Hiermit werden die zwischen zwei Fällen (dem precedent und dem nunmehr zu entscheidenden Fall) bestehenden Unterschiede herausgearbeitet. Gelingt es, sie als rechtserheblich darzustellen, so ist die ratio decidendi mit dem Bezug im precedent nicht anwendbar. Im Blick auf die nunmehr zu entscheidende Sachlage entfaltet das precedent keine Bindungskraft. Um dies zu erreichen, werden zum Teil subtile Unterscheidungen herausgefunden. So ist es leicht möglich, für einen neuen Fall ein precedent nicht als einschlägig zu betrachten. Auf diese Weise kann die an sich bestehende Fremd- oder Selbstbindung an die ratio decidendi außer Kraft gesetzt werden. So ist es möglich, das Abgehen von einer Vorentscheidung, das an sich als Overruling bezeichnet werden müßte, als Distinguishing zu deklarieren.184 Cro55385 sieht deshalb das Distinguishing als eine »matter of discretion« (Gegenstand des Ermessens), ja sogar als eine hauptsächlich psychologische Aufgabe,38' bei deren Lösung der Richter die sozialen Konsequenzen beachten soll.387 Die hierdurch entstehenden Unsicherheiten wird man zwar im Dienst der Rechtssicherheit zu mindern suchen. Sie dürfen gleichwohl nicht nur negativ beurteilt werden. Erst die Figur des Distinguishing hat es erlaubt, das Case Law fortzuentwickeln. Darf doch eine neue Rechtsregel nur gebildet werden, wenn sich der Unterschied zu dem

384 385 386 387

Aufschlußreich //« ( . Fn 251), 356ff. (O. Fn 266), 176 (O. Fn 266), 187 (O. Fn 266), 176, 187

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precedent als erheblich darstellt. Erst dann kann das Case Law in den rechtsfreien Raum vordringen. Die Vorgehensweise hierbei gilt es nunmehr zu betrachten. b) Vorgehen aa) Allgemeines Die klassische Methodik des Case Law hat zwischen dem »Distinguishing on the fact« und dem »Distinguishing in law« unterschieden.388 Gegenüber dieser isolierten Sichtweise hebt Cross**9 besser auf das Wechselverhältnis zwischen der tatsächlichen und der rechtlichen Seite eines precedent ab. Auch er geht vom Fall aus. Weist die Sachlage, über die nunmehr zu befinden ist, gegenüber dem Sachverhalt des precedent keine faktischen Unterschiede auf, so ist dem precedent zu folgen (following the precedent)390. Die von Cross empfohlene Methode hat sich also erst zu bewähren, wenn Unterschiede im Tatsächlichen zu beobachten sind. Dann hat man zu klären, ob sich diese faktischen Unterschiede als rechtserheblich darstellen. Hierzu hat der später erkennende Richter die ratio decidendi auszulegen,3'1 mag sie auch bestimmt worden sein von dem Richter, der das precedent gesprochen hat.392 Die Auslegung kann restriktiv, durchaus aber auch extensiv erfolgen.3'3 Dabei können sich faktische Unterschiede als rechtlich unerheblich erweisen. Dann behandelt man beide Fälle gleich. Es ist davon die Rede, das precedent werde angewendet (applying the precedent).3'0 Dies gilt auch dann, wenn eine Entscheidung mehrere rationes decidendi enthält. Diese sind dann grundsätzlich sämtlich bindend. Doch darf das nunmehr erkennende Gericht unter ihnen wählen und nur eine Rechtsregel als bindend zugrunde legen. Nicht dagegen dürfen alle rationes decidendi lediglich als dicta behandelt werden.3'4

3M vgl. Walker/Walker (o. Fn 294), 125 ff. (O. Fn 266), 38 ff. 390 Etwa Blumenwitz (o. Fn 230), 42 391 Dazu etwa Cross (o. Fn 266), 77 392 Vgl. o. bei Fn 355 a 393 Instruktiv Blumenwitz (o. Fn 230), 42 m. N. 394 Ausführlich hierzu Cross (o. Fn 266), 89 389

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Ebensowenig lassen grundsätzlich Meinungsdifferenzen in Kollegialgerichten Rechtsauffassungen zu bloßen (obiter) dictaiw absinken. Regelmäßig kommt es vielmehr auf die Mehrheitsentscheidung an, die bindend ist.396 bb) Abgrenzung zum Overruling Die Auslegung kann ergeben, daß sich die ratio decidendi des precedent auf den nunmehr zu entscheidenden Fall nicht anwenden läßt. Hier beginnt der Bereich des Distinguishing. Theoretisch liegt der Unterschied zum Overruling auf der Hand. Beim Overruling läßt das Gericht das precedent nicht eingreifen, obwohl zwischen dem vorentschiedenen und dem nunmehr abzuurteilenden Fall keine erheblichen Unterschiede bestehen.397 Umgekehrt liegt es beim Distinguishing. Es setzt ja gerade voraus, daß die ratio decidendi des precedent wegen rechtserheblicher Divergenzen nicht zum Zuge kommen kann. Wenn trotz dieser dogmatisch eindeutig erscheinenden Abgrenzung in der Praxis fließende Übergänge festzustellen sind, so mag dies noch nicht einmal so sehr an einer bewußten Fehletikettierung durch die Gerichte liegen, die ungeliebte Rechtsregeln unter dem Vorwand des Distinguishing abändern und damit ein Overruling kaschieren.398 Hier könnte — vielleicht — noch ein Appell an die Loyalität weiterhelfen. Die Schwierigkeiten liegen aber tiefer. Das erkennende Gericht darf nämlich von einer in Frage stehenden ratio decidendi nur abweichen, wenn der zu entscheidende Fall in wesentlichen Gesichtspunkten von der Sachlage des precedent abweicht. Die Abweichung an sich wird man noch leicht feststellen können, und dies recht häufig. Gleicht doch kaum einmal ein Fall dem anderen genau. Gerade deshalb ist es wichtig zu wissen, wann es sich um eine erhebliche Divergenz handelt.

395

394 397 398

Die Ausdrücke dicta und obiter werden zumeist bedeutungsgleich gebraucht, wobei freilich die Beziehung der obiter dicta zum Fall noch mehr als bei den dicta zurückweichen kann So Cross (o. Fn 266), 96 ff. Zum Overruling o. a) cc) Ironisch hierzu Allen (o. Fn 251), 356 ff.

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Einen Unterschied wird man aber schwerlich ohne Vergleichsmaßstab als wesentlich bezeichnen können. Wird als Vergleichsmaßstab die ratio decidendi gewählt, so führt dies zur Zirkularität. Erst der Vergleich der Fälle erlaubt es, darüber nachzudenken, ob die ratio decidendi anwendbar ist. Benötigt man aber auch zum Vergleich der Fälle die ratio decidendi, so wird der Mangel an einem tertium comparationis deutlich. Deshalb haben die amerikanischen »Realisten«3" das Vorgehen als zirkulär bezeichnet. Diesem Einwand mag man im Strafrecht begegnen können, indem man das zu schützende Rechtsgut als den maßgeblichen Bezug wählt. Doch bleiben Unsicherheiten bestehen. Dies gilt insbesondere für den umstrittenen Abstraktionsgrad.4400 cc) Frage der Erfolgsqualifikation als Beispiel Eindringlich zeigen sich die Probleme an dem im Jahre 1971 vom Court of Appeal entschiedenen Fall R. v. Gosney401. Dem Angeklagten ist ein Delikt der Transportgefährdung402 deshalb vorgeworfen worden, weil er eine Straße in der falschen Richtung befahren hat. Er hat sein Verhalten als unverschuldet hinstellen wollen mit der Begründung, er habe aufgrund besonderer Umstände seine fehlerhafte Fahrweise nicht bemerken können. Den Beweis für seine Schuldlosigkeit hat er zu rühren angeboten. Sein Vorbringen hätte den Angeklagten nur dann entlasten können, wenn nicht schon das Herbeiführen einer objektiven Gefahr ausreichend gewesen wäre. Genau hierauf weist aber einer der von dem Court of Appeal herangezogenen Präzedenzfälle hin, nämlich Reg. v. Ball and Looghin403. Hierin war auf einen »purely objective standard« abgehoben worden, so daß den Angeklagten mangelnde Schuld nicht hatte entlasten können. Von diesem precedent hat sich der Court of Appeal entfernen wollen und sogar angezweifelt, ob die darin gefundene Auslegung »represents correctly the law as it has 3W 400

401 402 403

Vgl. etwa/. Frank, Are Judges Human?, 1931 Dazu insbesondere Oliphant, A Return to Stare Decisis, 14 American Bar Association Journal (1928), 139 (1971) 3 Weekly Law Report 343 Aufgrund von Section 2 des Road Traffic Act aus dem Jahre 1960 (1966) 50 Criminal Appeals Report 266

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been previously been stated in the authorities«. Gleichwohl entschließt sich der Court of Appeal nicht zum Overruling, sondern gewinnt von dem Präjudiz Abstand durch Distinguishing: Seinerzeit — in Reg. v. Ball and Loghin — sei über eine ausgefallene Sachgestaltung zu urteilen gewesen. Der Fahrer habe nämlich damals keine volle Sicht auf die Fahrbahn besessen, sondern sei von den Anweisungen des im Turm des Fahrzeugs stehenden Fahrzeugführers abhängig gewesen. Der strenge Maßstab, den das Präjudiziengericht angewandt habe, könne aber jedenfalls dann nicht gelten, wenn die Gefährdung durch einen normalen PKW verursacht worden sei. Dann müsse weniger streng geurteilt werden. In dieser Argumentation zeigt sich die Bedeutung einer mehr oder weniger weitgehenden Abstraktion. Wäre es doch durchaus möglich gewesen, die ratio decidendi auf den Abstraktionsgrad eines Kraftfahrzeuges zurückzuführen. Möglicherweise deshalb beschränkt sich der Court of Appeal auch nicht darauf, nur das eine precedent zu erörtern, von dem er sich distanziert. Ein anderes precedent, nämlich Simpson v. Peat404 wird herangezogen. Dies ist deshalb bemerkenswert, weil das Gesetz, das ihm zugrunde gelegen hat, im Jahre 1971 schon nicht mehr in Kraft gewesen ist. Gleichwohl hat sich der Court of Appeal dazu entschlossen, diesem precedent zu entnehmen, daß der Fahrer eines normalen PKWs nur bestraft werden darf bei »driving without due care and attention«. Bei einem normalen PKW hat der Court of Appeal daher den Entlastungsbeweis zugelassen. Fikentscher™ weist auf drei bemerkenswerte Punkte der Entscheidung des Court of Appeal aus dem Jahre 1971 hin. Hat doch zum einen der Court of Appeal sein Distinguishing durch Berufung auf ein anderes precedent abgesichert. Eine solche Wahl zwischen »two lines of authority« nennt Fikentscher treffend »auswählendes Distinguishing«. Es wird sich gegenüber dem »reinen Distinguishing« zunehmend durchsetzen, je mehr sich der rechtsfreie Raum schließt. Daher ist das »reine Distinguishing« seltener in

«°< (1952) 2 Q. B. 24 405 (O. Fn 36), 100/101

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den Vereinigten Staaten, wo zudem eher als in England auf die den rationes decidendi übergeordneten »principles«406 zurückgegriffen wird. Zweitens sieht Fikentscher*07 in der Entscheidung des Court of Appeal ein Beispiel dafür, wie englische Gerichte ein Gesetz bei zweifelhaftem Wortlaut eng auslegen. Im Blick auf das deutsche Strafrecht könnte man diesen Gedanken freilich spezifizieren: Es ließe sich nämlich überlegen, ob das Schulderfordernis, das zur objektiven Gefährdung nach Meinung des Court of Appeal hinzutreten muß, nicht einen Gedanken aufgreift, wie er sich in § 18 StGB ausprägt. Anstelle jedoch diese Sonderfrage zu klären, sei auf den dritten Gesichtspunkt eingegangen. Er führt zugleich zu einem wichtigen Gebiet. Es sind dies die precedents im Statute Law, mag es in der Entscheidung des Court of Appeal auch um eine Besonderheit gegangen sein: Der Court of Appeal hat das precedent zur Auslegung eines Tatbestandsmerkmals angewandt, obwohl das Gesetz nach Ergehen des precedent — aber schon geraume Zeit vor der nunmehr zu treffenden Entscheidung — außer Kraft gesetzt worden ist. c) Besonderheiten im Statute Law Das precedent hat das Gesetz überlebt, zu dem es ergangen ist. Hierdurch wird das Spannungsfeld zwischen Statute Law und Case Law beleuchtet. Einerseits wird nämlich das Gewaltenteilungsprinzip sehr ernst genommen.40' Die Gerichte dürfen den Gesetzgeber nicht korrigieren.40' Deshalb werden die Gesetze im anglo-amerikanischen Rechtskreis mehr als in Deutschland kasuistisch gefaßt410, und daher steht die Wortlautinterpretation jedenfalls in England im Vordergrund.4" Hierauf beruht es auch, wenn dem Richter im angloamerikanischen Rechtskreis verboten wird, gesetzliche Normen

«o* Dazu . . 2. c) bb) 407 (O. Fn 36), 100 408 Dazu o. BII. 1. 4M So etwa Blumenwitz (o. Fn 230), 52 410 Vgl. o. BII. 3. b) 411 Dazu . . 2.

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variierend oder erweiternd auszulegen. Dieser Gedanke findet sich auf die zum Statute Law ergehenden precedents erstreckt. Deren Anwendungsbereich wird dadurch eng begrenzt, während für precedents im Bereich des Case Law eine erweiternde Auslegung gerade umgekehrt erwünscht und üblich ist. Damit ist auch schon der Auslöser für die besondere Wirkung von precedents im Statute Law erwähnt. Wenn die Richter nämlich precedents unmodifiziert heranzuziehen haben, so unterstützt dies die Konkretisierungsfunktion. Dadurch kann einerseits die Präjudizienhierarchie auf die Rechtsprechung noch einschneidenderen Einfluß nehmen. Dem läßt sich andererseits entgehen, indem man die nunmehr entstandene Sachgestaltung als abweichend von dem Fall des precedent beurteilt. Durch Distinguishing kann von dem precedent also abgerückt werden. Ein Beispiel hierfür bildet die zuvor erörterte Sache R. v. Gosney. Für sie hat der Court of Appeal 4t2 durch Distinguishing von einem precedent Abstand gewonnen. Dann aber gilt es, das jeweils interessierende Merkmal des Tatbestandes neu zu interpretieren. Und ein weiteres precedent ist geboren. So finden sich trotz oder gerade wegen der weitgehenden Kasuistik im angloamerikanischen Bereich die Normen des Statute Law in ein Gespinst von precedents gleichsam eingeschlossen.413 Dies wirkt sich deshalb so einschneidend aus, weil die Gerichte das Gesetz häufig im Licht der precedents auslegen.414 Die precedents erlangen ein Eigenleben. Zwar steht dies im Widerspruch zu Frankfurters™ Forderung, auf die Norm selbst zu schauen. Gleichwohl läßt sich diese Entwicklung erklären. Sie ist noch geprägt von dem Gewicht der Präjudizien im Case Law und wird gefördert durch die nicht nur dort, sondern auch im Rahmen des Statute Law bestehende Präjudizienhierarchie. Zusammenfassend ist als besonders bedeutsam herauszustellen: Die Anfänge des anglo-amerikanischen Rechts im Case Law werden noch heute deutlich. Sie zeigen sich vor allem in der gesetzesähnlichen Bindungskraft des stare decisis. Inzwischen ist zwar die Selbst-

412 413 414 415

(O.Fn401) In diesem Sinne schon Radbruch (o. Fn 1), 28 Dazu Bodenheimer (o. Fn 226), 15 (O.Fn320)

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Bindung auch des House of Lords in England gelockert. Doch noch immer besteht eine strenge hierarchisch geordnete Fremdbindung, die nur durch enge Ausnahmen durchbrochen wird. Dabei kann die Bindung auch im anglo-amerikanischen Rechtskreis als zweistufig bezeichnet werden. Als vorrangig hat sich die Bindung an das precedent dargestellt, nämlich an die gemäß der ratio decidendi erheblichen Tatsachen, die »material facts«331. Es bestehen also Anklänge an die »konkrete Gestaltungsnorm«.153 Sehr viel Mühe wird darauf verwendet, die ratio decidendi aus den sonstigen Ausführungen des Gerichts herauszufiltern. Wird sie doch überwiegend als aas bindende Element bezeichnet. Hierin liegt insofern ein Widerspruch, als für die Frage des Overruling doch wieder nicht auf die ratio decidendi, sondern maßgeblich auf das precedent, nämlich die »material facts«, geschaut wird. Die Vorentscheidung betrachtet man nämlich erst dann als übergangen, wenn das später erkennende Gericht die Konkretisierung durch das precedent nicht beachtet hat. Es darf aber — ohne daß von Overruling die Rede ist — auf eine andere ratio decidendi gestützt werden. In diesem Sinne ist die ratio decidendi so gemeint wie die Rechtsregel in Deutschland. Es ist dann von der »ratio decidendi im engeren Sinne« gesprochen worden, obwohl man hierauf im anglo-amerikanischen Schrifttum nicht trifft. In der Sache kann man diese Begriffsbestimmung aber auf die Anklänge von »rule« und »principle« stützen. Dabei wird man aber die Bindungswirkung in der unteren Stufe nicht nur der ratio decidendi im engeren, sondern auch im weiteren Sinne zuzumessen haben. Die übrigen die Entscheidung motivierenden Rechtsausführungen werden ebenfalls erfaßt. Bei der Arbeit am Fall wird insofern induktiv vorgegangen, als der Blick sich auf die Vergleichbarkeit der Sachgestaltungen richtet. Es geht dann um die Frage der Abweichung. Ist sie erheblich, so distanziert sich das Gericht von der ratio decidendi des precedent: Es kommt zum Distinguishing. Hierdurch besteht die Möglichkeit, sich von einem precedent ohne Overruling zu entfernen, also ohne Verletzung des stare decisis. Unter welchen Voraussetzungen es sich also (noch) um ein Distinguishing handelt, ist ebenso erheblich, wie die Abgrenzung sich als unsicher gezeigt hat. Diese Unsicherheit entsteht aus der Schwierigkeit zu beurteilen, ob der nunmehr zu entscheidende Fall von dem precedent erheblich abweicht. Hierzu be-

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darf es eines Vergleichsmaßstabs. Zieht man die ratio decidendi heran, gerät man in Zirkularität. Für das Statute Law hätte sich allerdings die Norm als tertium comparationis denken lassen. Der Durchbruch ist jedoch nicht gelungen. Zu groß ist das Gewicht der precedents auch im Statute Law, erklärlich aus dem Grundsatz des stare decisis. Auch für das Zwischenergebnis lassen sich daher die precedents des Statute Law ihrer Kraft nach nicht mit deutschen Präjudizien gleichsetzen. Und man ist versucht zu resignieren. Ist es doch darum gegangen, aus der Erfahrung des anglo-amerikanischen Rechtskreises mit Präjudizien Gewinn für eine prägnantere Anwendung von Normen zu ziehen. Hier war ein Gewinn vor allem im Bereich des Statute Law zu erhoffen. Diese Hoffnung mag als zerschlagen bezeichnet werden. Doch kann hiervon nur dann die Rede sein, wenn man sich einen allzu leichten Erfolg versprochen hat. Dabei wäre jedoch außer acht gelassen, wie erheblich sich aus einem fremden Rechtskreis implantierte Anleihen verändern können. Dies fordert eine Auseinandersetzung mit bedeutsamen Gemeinsamkeiten und Unterschieden der beiden Rechtskreise heraus. Antrieb ist die Hoffnung, eine Hilfe für die Rechtsanwendung zu erlangen. Gezielt unter diesem Gesichtspunkt sei die Begegnung der Rechtskreise gesehen. Dabei wird das deutsche Recht als Beispiel gesetzt für den kontinentaleuropäischen Rechtskreis.

103 C Begegnung der Rechtskreise in den Präjudizien l Deduktion und Induktion als unterschiedliche Ausgangspunkte Um in einem Fall Recht zu sprechen, geht der deutsche Jurist von einer Norm aus. Er erstellt, will man mit Kriele416 sprechen, eine »Normhypothese«. Im weiteren Entscheidungsgang wird die Normhypothese ständig einerseits mit der anzuwendenden Norm, andererseits mit dem Sachverhalt bzw. mit dessen Beschreibung417 verglichen. Der Vergleich zwischen Sachlage und Rechtsregel kennzeichnet aber auch das Vorgehen im Bereich des Case Law. Zwar mag sich dort das Augenmerk zunächst darauf richten, ob der nunmehr zu entscheidende Fall im Tatsächlichen vom precedent abweicht. Versteht man als precedent die »material facts«,331 so interessiert zugleich die für eine solche Eingrenzung des Sachverhalts erhebliche Rechtsregel, nämlich die ratio decidendi (im engeren Sinne). Die Subsumtion bleibt also nicht ausgeklammert. Vielmehr führt die Induktion letztlich doch zur Deduktion. Umgekehrt erfordert die Deduktion Arbeit am Einzelfall. Sie läßt sich ohne laufende Rückkehr zur Intension (Bedeutung) der Norm nicht leisten. So wendet sich der Weg vom Allgemeinen zum Besonderen wieder zurück zum Allgemeinen. Nur ist die Rückkehr keine vollständige. Erreicht wird nicht der volle Abstraktionsgrad der Norm. Zu dem Gesamtbereich einer Bestimmung läßt sich nämlich eine Vielzahl unterschiedlicher Sachverhalte als Extension (= Bezug) denken. Um diesen Bezug sicher genug herstellen zu können, darf die Intension der Norm nicht außer acht bleiben. Dazu wird freilich regelmäßig nicht der gesamte intensionale Bereich, sondern nur ein Teil hiervon auszuschöpfen sein. Das geschieht, indem man eine im Verhältnis zum gesamten Bedeutungsbereich der Norm konkretere Rechtsregel bildet. Es ist die ratio decidendi. Jordan™ hat in diesem Sinne schon im Jahre 1825 von der »Entscheidungsnorm« gespro414 417 418

(O. Fn 15), 271 passim Dazu Verf. (o. Fn 29), 10 bei Fn 23 m. N. Bemerkungen über den Gerichtsgebrauch, dabey auch über den Gang der Rechtsbildung und die Befugnisse der Gerichte, AcP 8 (1825), 191, 195

104 chen, eine heute durchaus gängige Diktion. Erinnere man sich doch nur an den Ansatz Friedrich Müllers oder an Fikentschers »Fallnorm«.419 Subsumiert wird letztlich unter eine Rechtsregel, zu der man auch gelangt, wenn man zunächst vom Fall ausgeht, d. h. die Induktion als Ausgangsbasis wählt. Damit kann möglicherweise die ratio decidendi die Ebene bilden, auf der sich die beiden Rechtskreise (des kodifizierten Rechts und des Case Law) treffen. Dabei ist hier und von nun an die ratio decidendi in einem engen Sinne gemeint. Zusammenfassend läßt sich die gegenüber der Norm konkretere ratio decidendi als Gemeinsamkeit zwischen dem anglo-amerikanischen und dem deutschen Recht festhalten. II Schnittfläche beider Rechtskreise L Norm und ratio decidendi im Bezugsfeld von Intension und Extension Als Rechtsregel verfügt die ratio decidendi über Intension und Extension. Nur erfaßt ihre Intension lediglich einen Teilbereich der gesamten Normintension, wie ihre Extension (ihr Bezug) sich in dem zu entscheidenden Einzelfall — prägnant erfaßt in der »konkreten Gestaltungsnorm«us bzw. in den »material facts«331 — sowie in vergleichbaren Sachgestaltungen erschöpft. Hierbei mag man sich die Intension (oder Bedeutung) als eine Art von Wirkstrahlen vorstellen. Auf deren Bereich bleiben die extensional zuzuordnenden Sachgestaltungen beschränkt. Die ratio decidendi sendet in ihrem intensional eingegrenzten Bereich

Wirkungsstrahlen

419

Vgl. o. Fn 106 und 111

105 aus, durch welche die extensional zuzuordnenden Sachgestaltungen —

allerdings nur diese — erfaßt werden. Freilich kann die ratio decidendi im Case Law durch Auslegung verengt, erweitert oder variiert werden. Durch Distinguishing lassen sich neue Rechtsregeln entwickeln, freilich nicht unbegrenzt. Dagegen steht im Strafrecht der Satz »nulla poena sine lege«/20 Auch sonst ist keine rein abstrakte Rechtsschöpfung erlaubt. Vielmehr darf der Richter nur von Fall zu Fall voranschreiten. Gleichwohl bildet die ratio decidendi im Case Law die oberste Stufe des positiven Rechts, soweit man nicht »principles« oder Grundsätze anerkennen will.421 Aber selbst derartige übergreifende Gesichtspunkte erreichen nicht die Kraft der Norm des kodifizierten Rechts. Die Norm steckt nämlich durch ihre intensionalen Wirkungsstrahlen

ihren extensionalen Wirkungskreis

420 421

Dazu schon o.B. III. 1. c) aa) Vgl. . . c) bb)

106 ab. Nur solange rationes decidendi diesen Kreis nicht verlassen, wird die Norm angewendet. Sie umgreift die aus ihr abgeleiteten rationes decidendi. Bildet doch hiervon eine jede ratio decidendi

einen Ausschnitt aus dem Wirkungskreis der Norm.

Die Norm zeigt sich damit als Rahmen. Dies wirkt sich in drei Richtungen aus. Schon berührt worden ist die Konzentrationsfunktion. Wenn nämlich die bei Anwendung der Norm gefundenen Rechtsregeln ( = rationes decidendi) einen Ausschnitt aus dem Wirkungskreis der Norm darstellen, kennzeichnet dies zugleich ihre Zugehörigkeit zur Norm. Hierdurch entsteht ein zuordnender Zusammenhang. Er wird etwa deutlich in Kommentierungen von Gesetzen. Hier findet man zumeist einschlägige Rechtsregeln versammelt, nicht selten sogar verbunden mit einer Wiedergabe der zugehörigen Sachlage in Form der »konkreten Gestaltungsnorm« us. Diese Konzentration einschlägiger rationes decidendi führt zugleich zu dem zweiten Aspekt, der sich aus dem Charakter der Norm als Rahmen ergibt. Es ist dies die Vergleichsfunktion. Aufgrund der Konzentration mehrerer oder gar einer Vielzahl von rationes decidendi in dem Wirkungskreis einer Norm kann nämlich nach Übereinstimmungen oder Abweichungen innerhalb der verschiedenen zu dem Kreis gehörigen Rechtsregeln zu suchen. Ein solcher Vergleich ist durchaus nicht nur theoretisch interessant. Vor allem kann er eine Hilfe bilden für die Unterscheidung des Distinguishing vom Overruling. Hat sie sich doch für das Case Law als nicht exakt

107

erreichbar gezeigt.422 Der Grund hierfür ist nicht zuletzt im Fehlen eines tertium comparationis gefunden worden/23 Als Vergleichsmaßstab mag man an die Norm schlechthin denken. Doch bleibt diese Aussage unnötig generell. Zu spezifizieren ist vielmehr in die extensionale und die mtensionale Ausprägung. Die Extension (der Bezug der Norm auf Fallgestaltungen) verlangt aber nach der deduktiven Rückkopplung bis hin zu den einschlägigen rationes decidendi. Sie als Ergebnis der extensionalen Sichtweise nicht isoliert voneinander, sondern im Vergleich zueinander zu stellen bietet sich an. Dies gilt um so mehr, als sich regelmäßig ein Fall kaum gänzlich mit einer anderen Sachgestaltung decken wird. Häufig wird man deshalb eine Abweichung feststellen und sich überlegen müssen, ob sie erheblich ist. Bei der Entscheidung hierüber nicht nur auf eine, sondern auf weitere im Wirkungskreis der Norm konzentrierte rationes decidendi schauen zu können, das erleichtert zumindest die Entscheidung. Man gelangt zu einem analogischen Vorgehen von ratio decidendi zu ratio decidendi. Je mehr es geübt wird, desto stärker wird die Norm konkretisiert. Doch ist dies nicht unbeschränkt möglich. Hat man doch auch den dritten Aspekt zu berücksichtigen, in dem sich die Natur der Norm als Rahmen niederschlägt: Der Norm kommt eine Begrenzungsfunktion zu. Sie beruht auf der Intension. Durch die Wortbedeutung der in der Norm gebrauchten Sprachzeichen wird die äußerste Grenze des der Norm eigenen Wirkungskreises gezogen.424 Hieraus ergibt sich zugleich ein Kriterium, um das Distinguishing vom Overruling abzugrenzen. Sowie sich nämlich der zu entscheidende Fall nicht mehr mit der Normintension verträgt, weicht er im Tatsächlichen von der dem einschlägigen precedent zugrunde liegenden Sachlage ab. Die Abweichung ist erheblich. Ist doch sogar der Wirkungskreis der Norm verlassen. Aus der Begrenzungsfunktion der Norm ergibt sich eine erhebliche Abweichung im Tatsächlichen. Die vom Gericht gebildete neue Rechtsregel kommt also im Wege des Distinguishing zustande. Mit dem Distinguishing wird allerdings zugleich der Kreis einer anderen Norm betreten.

«2 Näher o. bei Fn 398 423 Dazu schon o. bei Fn 399 «4 Vgl. o. A. I. 2. a) cc)

108 Die Norm dient aber nicht nur mit ihrer Begrenzungsfunktion als Vergleichsmaßstab. Indem sie nämlich andere dem Wirkungskreis der Norm angehörige rationes decidendi konzentriert, erlaubt sie ein vergleichendes Distinguishing zwischen den verschiedenen Extensionen der Norm. Insgesamt liefert sie mit ihrer Begrenzungsfunktion, verbunden mit ihrer Konzentrations- und Vergleichsfunktion, bedeutsame Kriterien dafür, die treffende ratio decidendi zu finden und für die Entscheidung des Falles unerhebliche Rechtsregeln auszuscheiden. Dies gilt im Ansatz sowohl für den anglo-amerikanischen Rechtskreis als auch für Deutschland. Dennoch müssen Diskrepanzen festgestellt werden. 2. Verbliebene Unterschiede a) Übergewicht der ratio decidendi im anglo-amerikanischen Rechtskreis A priori mag man gerade für das Statute Law Intension und Extension von Norm und ratio decidendi optimal gewichtet sehen. Schon bald zeigt sich jedoch die ratio decidendi im Case Law als so stark verwurzelt, daß hiergegen die Kraft der Norm nicht voll ankommt. Dies mag im Blick auf die »Rule of Law«425 erstaunen. Strebt man doch mit der am Wortsinn ausgerichteten Auslegung danach, die gesetzgebende Gewalt zu achten. Gerade diese enge Interpretation ist es aber, die immer neue precedents ins Werk setzt und damit die Norm in Präjudizien gleichsam einspinnt. Hierunter erstickt leicht die Normbedeutung. Der Grundsatz des stare decisis bewirkt nämlich eine weitgehende Bindung an Vorentscheidungen. Zwar ist die Selbstbmdung nicht mehr mit starrer Rechtswirkung ausgestattet. Noch immer findet sich aber die Fremdbindung streng hierarchisch geordnet.426. Daher legen die Gerichte die Norm in der Gestalt aus, die sie durch die precedents angenommen hat. Die Intension der Norm wird leicht durch die Intension der rationes decidendi verdrängt.

«5 Vgl. o. bei Fn 243 ft «« Vgl. o. B. III. 1. b)

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b) Herrschaft der Norm in Deutschland Die Präjudizienhierarchie ist gesehen worden als »fundamental distinction between the English and the Continental legal method«427. Hat man doch zunächst im kontinental-europäischen Raum die Norm für einen ausreichenden Maßstab gehalten, um Einzelfälle zu entscheiden. So ist nicht verwunderlich, daß im Sinne Cod. lust. 7, 45,13 und entgegen D l, 3, 38 nicht die Präjudizien, sondern das kodizifierte Recht an sich als ausschlaggebend bezeichnet worden ist.428 Wie sehr sich allerdings diese Sichtweise auf die Lehre isoliert und wie wenig sie die Rechtswirklichkeit ergriffen hat, ist unlängst überzeugend von Weller*" herausgearbeitet worden. Schon lange richtet sich die Praxis auch in Deutschland an — vor allem obergerichtlichen — Vorentscheidungen aus. Daher ist von Rahel™ »der praktische Unterschied« als allenfalls »mit der Lupe« auffindbar bezeichnet worden. In diesem Sinne sehen auch 2weigert/KötzM »die stare decisis-Doktrin des Common Law und die entsprechende Praxis der kontinentalen Gerichte weithin zu gleichen Ergebnissen« gelangen. Dies scheint sich auf den ersten Blick zu bestätigen. Auch wenn man eine rechtliche Verbindlichkeit von Präjudizien verneinen will,431* wird doch auch von den deutschen unteren Gerichten die obergerichtliche Rechtsprechung weitgehend beachtet. Sonst nämlich haben sie eine Korrektur im Rechtsmittelzug zu befürchten. Eine Rolle mag auch die Furcht vor einem ungünstigen Dienstzeugnis spielen, ganz zu schweigen von dem erheblich schätzenswerteren Streben nach einer Gleichbehandlung vergleichbarer Fälle. Gleichwohl sind die organisatorischen, geschichtlichen und soziologischen Unterschiede zwischen der anglo-amerikanischen und der deutschen Gerichtsbarkeit nicht zu leugnen, wie sie unlängst Cappel-

417

Goodhart, Precedent in English and Continental Law, 50 Law Quarterly Review (1934), 41 «» Aufschlußreich hierzu Weller (o. Fn 112), 55 ff. «» (O. Fn 112), 31 ff., 43 ff., 78 ff., passim 4)0 Deutsches und Amerikanisches Recht, Rabeis Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht 16 (1951), 340, 345 «' (O. Fn 15 a), 304 präjudizielle< Wirkung richterlicher Entscheidungen« auf »deren Argumentationsgehalt und damit« auf den »wissenschaftlichen Bereich«. Hiermit wird aber die schon43'1 angesprochene herausgehobene Funktion richterlicher Tätigkeit nicht hinreichend gewürdigt. Diese liegt nämlich — wie bei dem häufig erheblichen Arbeitsanfall kaum anders zu erwarten — nicht darin, nach wissenschaftlichen Leistungen zu streben. Dies schmälert nicht etwa die Verdienste der Wissenschaft. Vielmehr möge sich die Erkenntnis von den unterschiedlichen Aufgabenbereichen verstärken. Während die Wissenschaft mit ihren Methoden Rechtsprobleme erkennt und aufarbeitet, ist es Sache der Praxis, diese Erkenntnisse am Einzelfall zu erproben. Erst in gegenseitiger Achtung werden die verschiedenen Funktionen im Dienste immer treffenderer Ergebnisse miteinander harmonisiert werden können. Die Zeit mag überwunden sein, in der Obergerichte es zuweilen noch nicht einmal für nötig befunden haben, sich mit fundierten Stellungnahmen teils hoch angesehener Gelehrter auseinanderzusetzen. Wird sich doch häufig die gerechte Lösung eines Einzelfalles erst in der Diskussion mit Denkansätzen oder abweichenden Ansichten finden lassen. Zu entscheiden hat aber letztlich der Richter. Er steht nicht einem fingierten Fall, sondern einem Geschehnis des Lebens gegenüber. Nicht selten ist er zur Entscheidung über das Schicksal eines Menschen aufgerufen. Dies gilt vor allem auf dem Gebiet des Strafrechts. Mit der Entscheidung einher geht also eine Herausforderung und Verantwortung, mit der man den Entscheidungsträger belastet findet. Es ist eine Belastung mit dem Auftrag nicht nur zur »Sachgerechtigkeit«, sondern auch zur »Gleichgerechtigkeit«438b. Sie hebt die auf dem Wege zur Entscheidung gefundenen Rechtsregeln von sonstigen Ansichten ab. Hieraus rechtfertigt es sich, wenn Präjudizien in der Gerichtspraxis mehr Gewicht beigemessen wird als den Äußerungen selbst anerkannter Rechtsgelehrter. 438

Hundert Jahre schweizerisches Obligationsrecht: Wo stehen wir heute im Vertragsrecht?, in: Schweizer Juristenverein (Hrsg.), Referate und Mitteilungen, 1983,257,301 ff. 438a O. A. III. 1. b) cc) 438b Im Sinne Fikentschers (o. Fn 106) 439 Vgl. o. A. III. 1. c)

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aa3) Rechtsnatur Dennoch ist daran festzuhalten, daß Richterrecht nicht schon aus sich heraus als Gewohnheitsrecht gilt. Noch weniger verträgt es sich mit dem Rechtsstaatsgedanken, richterliche Entscheidungen als die eigentlichen Rechtsnormen anzusehen.440 Dies gilt jedenfalls im Bereich des kodifizierten Rechts. Auch für das Statute Law wird Wert darauf gelegt, daß die Gerichte nicht die Stelle des Gesetzgebers einnehmen.441 Nur in den vom Gesetz gezogenen Grenzen gilt deshalb der Grundsatz des stare decisis. Und in Deutschland fehlt ein solches Befolgungsgebot, soweit man nicht an Sonderregeln denkt oder Art. 3 GG bemühen will. Es ist deshalb verständlich, wenn für die bisher h. M. Präjudizien lediglich eine »Indizfunktion«442 erfüllen oder eine »subjektive Entscheidungshilfe«443 ausüben. Andererseits wirkt eine Gerichtsentscheidung nicht nur retrospektiv auf den behandelten Einzelfall. Zugleich wird eine »Maxime« für die Entscheidung künftiger Fälle gesetzt.444 Dies erscheint sogar als wünschenswert im Blick auf den Gleichheitsgrundsatz sowie für den Vertrauensschutz und die Rechtssicherheit. Deshalb wird teilweise den Präjudizien die Kraft einer subsidiären Rechtsquelle zuerkannt.44*. Sie sollen nur dann nicht beachtet werden müssen, wenn das später befindende Gericht sie als falsch beurteilt.44* Damit wird jedoch nicht hinreichend der Forderung genügt, das jetzt richtige Ergebnis zu finden. Hierin mag man den Richter auf den ersten Blick durch Präjudizien nicht eingeschränkt sehen. Diese sind zwar weniger ergebnisbezogen zu betrachten, sondern mehr als Maßstab heranzuziehen. Aber auch einen Maßstab sollte der Richter nicht anwenden müssen, obwohl er einen anderen für überzeugend besser geeignet hält. Bietet sich doch dem später befindenden Richter 440

441 442 443

444 445 444

So aber etwa Less, Vom Wesen und Wert des Richterrechts, 1954, 9 passim; Rottleuthner, Richterliches Handeln, 1973, 152; Carl Schmitt, Gesetz und Urteil, 1912, 2. Aufl., 1969, 29 ff. Näher . . . 3. a) Vgl. etwa Larenz, FS Scliwna, 1969,262/ 263 So neuerdings H. Köhler, Gesetzesauslegung und »gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung«, JR 1984, 45, 48 Treffend zu dieser Doppelfunktion der Entscheidung Kriele (o. Fn 49), 97/98 So etwa durch Bydlinski (o. Fn 6), 153/ 154 Dazu o. A. I. 2. b) aa3)

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gegenüber dem Präjudizienrichter zumindest eine weitere Erfahrung. Es ist der nunmehr zu entscheidende Fall. Die hieraus fließende Erfahrung sollte dem Erkenntnisprozeß nicht vorenthalten werden. Ein Verlust an Erfahrung ist aber zu befürchten, wenn der Richter von einem Präjudiz nur abgehen darf, insofern er es als »falsch« beurteilt. Intensional läßt sich nämlich nur ein Anwendungsrahmen abstecken.447 Welcher Punkt in diesem Rahmen der zutreffende ist, kann sicher von einer übermenschlichen Warte aus eindeutig beantwortet werden. Mit der menschlichen Fehlsamkeit sollte sich dagegen Toleranz verbinden. Sogar eine Normkonkretisierung, zu der man selbst nicht neigt, ist zu achten. Das gilt in mehrfacher Hinsicht. Zum einen bedarf es der Auseinandersetzung mit dem abweichenden Standpunkt. Dies ist schon ein Gebot des Argumentationsansatzes.448 Zwar hat neuerdings Gröschner^ die Theorie des rationalen juristischen Diskurses als »Definition eines Ideals«450 abgelehnt, nicht aber um gegen die Kommunikation schlechthin Stellung zu nehmen. Vielmehr geht es ihm um eine »fall- und streitbezogene Argumentation«451. Sie ist vor allem geboten, wenn eine Entscheidung von Einzelfällen ansteht. Heranzuziehen sind dabei zunächst alle Argumente, die zu einer für die Entscheidung des konkreten Einzelfalles einschlägigen Normkonkretisierung führen können. In der Wissenschaft geäußerte Ansichten finden sich also nicht ausgeklammert. Vielmehr wird ihnen nicht selten eine überzeugende Autorität einzuräumen sein. Stärkeres Gewicht kommt nicht etwa schon einer jeden durch das Gericht aufgestellten Rechtsregel zu. Eine herausgehobene Position nimmt vielmehr erst ein Glied der Motivationskette ein, die bei der Entscheidung eines konkreten Einzelfalles maßgeblich gewesen ist. Vor allem die hierbei von dem Gericht gewonnene 1 »konkrete Gestaltungsnorm«„155 '

447

448 449 450 451

Vgl. A12. a) cc) Dazu o. A. 1.2. b) aa) aa3) Theorie und Praxis der juristischen Argumentation, JZ1985,170; Dialogik und Jurisprudenz: Die Philosophie des Dialogs als Philosophie der Rechtspraxis, 1982, 184 passim Wie Alexy, (o. Fn 48), 358, im Anschluß an Habermas die juristische Argumentation versteht JZ 1985, 174

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Zum ändern kann das später erkennende Gericht Toleranz verlangen. Hierbei müssen aber Grenzen gezogen werden. Der Gleichbehandlungsgrundsatz ist schon genannt worden.4" Zu denken ist ferner an den Rechtsstaatsgedanken des Art. 20 Abs. 3 GG. Rechtssicherheit und der Schutz seines Vertrauens in die Beständigkeit der Rechtsprechung sollen für den Bürger gewährleistet sein. Deshalb sind zumindest gewichtige bessere Argumente zu verlangen, um von einem Präjudiz abzugehen. Der Große Zivilsenat des BGH453 will eine gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung aus Gründen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes sogar allenfalls aufgegeben sehen, wenn dies durch überwiegende oder sogar zwingende Gründe geboten ist. Damit klingt schon die unterschiedliche Kraft an, die von Präjudizien ausgehen kann. Ehe diese Frage interessiert, sei zunächst undifferenziert festgehalten: Auch wenn man Präjudizien nicht die Stärke einer selbst subsidiären Rechtsquelle zubilligen mag, dürfen sie doch nur bei entgegenstehenden gewichtigen besseren Argumenten überwunden werden. Kriele™ spricht in diesem Sinne von einer »Präjudizienvermutung«. Nicht beeinträchtigt wird dadurch die richterliche Unabhängigkeit. Hat sie doch in ihrer hier angesprochenen sachlichen Ausprägung (vgl. Art. 97 Abs. l GG) nur die Aufgabe, die Gerichte gegen Eingriffe durch eine der beiden anderen Gewalten zu schützen.455 Eine Bindung an andere Gerichtsentscheidungen wird also nicht gehindert.45* Eher ist der positive Effekt zu betonen. Kriele™ weist zutreffend hin auf den Schutz des Entscheidungsträgers vor unqualifizierten Vorwürfen wie auch vor Pressionsversuchen. Es ist deshalb zu billigen, wenn im Zweifel das Präjudiz als richtig angenommen wird. Unter welchen Voraussetzungen diese Vermutung entkräftet werden kann, läßt sich freilich weniger prägnant fest4M

453

O. A. III. 3. b)

In seinem Urteil vom 04.10.1982 - GSZ 1/82 -, BGHZ 85, 64 454 (O. Fn 15), 251 ff.; (o. Fn 49), 91 ff. (nicht dort, sondern nur hier zur Verdeutlichung hervorgehoben) 455 H. M., vgl. etwa BVerfGE 12, 67, 71; 31, 137, 140; Maunz/Dürig/Herzog/Scbolz, Grundgesetz. Kommentar, Stand: Oktober 1984, Art. 97 Rn 9, 11 4S * BVerfGE 12, 67, 71; 31, 137, 140; Bettermann, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner (o. Fn 68), 536; kritisch Maunz/Düng/Herzog/Scholz (o. Fn 455), Rn 34 ff. 457 (O. Fn 15), 261

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halten, als wenn man mit Bydlinski45* dem Richterrecht die Kraft einer subsidiären Rechtsquelle beimessen will und sie nur zu verlassen gestattet, wenn sie als »falsch« beurteilt werden kann. Zu Recht bemängelt Bydlinski™ das Fehlen von Maßstäben dafür, wann die »Präjudizienvermutung« entkräftet ist. Dies bleibt objektiv (dazu bb und cc) wie auch subjektiv (näher u. b) zu klären, um hieraus (u. c) den Weg zur Prognose zu finden. bb) Präjudiz und ratio decidendi Im anglo-amerikanischen Rechtskreis wie in Deutschland hat sich die ratio decidendi als Gegenstand der Präjudizienwirkung gezeigt. Andererseits wird der Bürger in seinem schützenswerten Vertrauen nicht schon bei fehlender Kongruenz der angewendeten Rechtsregeln beeinträchtigt. Hierzu führt nur das Abweichen im Ergebnis. Auch kann erst dann der Gleichbehandlungsgrundsatz korrigierend eingreifen. Dabei wird der Gleichbehandlungsgrundsatz nicht etwa als ergebnisbezogen mißverstanden, sondern als maßstabsbezogen gesehen. Es werden Maßstäbe miteinander verglichen. Das »Ergebnis« soll nämlich nicht auf die jeweiligen konkreten Rechtsfolgen isoliert werden. Gemeint ist vielmehr die »konkrete Gestaltungsnorm«1". Mit dieser Betrachtung kommt man dem Gedanken einer Entfernung vom Präjudiz in fünf Schritten entgegen, wie Kriele4*0 ihn entwickelt hat. Ausgehend von der ratio decidendi sieht er nicht nur vor, (in einem ersten Schritt) die Abstraktion zu erweitern und dabei in einem Sonderfall (und zugleich zweiten Schritt) ein Tatbestandsmerkmal wegzulassen. Erlaubt soll auch sein, die Abstraktion (in einem dritten Schritt) zu verengen und in diesem Rahmen als Sonderfall (und zugleich vierten Schritt) ein Tatbestandsmerkmal hinzuzufügen. Sogar wird (in einem fünften Schritt) der Normaustausch gestattet. Dieser letzte Schritt verwirklicht aber nichts anderes als die hier angesprochene Möglichkeit, die untere Stufe des precedent durch eine andere ratio decidendi zu ersetzen. «· (O. Fn 6), 153 ff. «» (O. Fn 6), 154 in Fn 49 4M (O. Fn 15), 271 ff.

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Diese Sichtweise wird verstärkt durch einen Blick auf das Revisionsrecht. Dazu mag in der nunmehr — im Gegensatz zum Präjudiz — herausgebildeten Rechtsregel ein Rechtsfehler gesehen werden. Dies führt zur Revisibilität nach § 337 StPO aber erst, wenn das »Urteil« auf dem Rechtsfehler »beruht«. Die überwiegende Ansicht wird dies ohne weiteres annehmen wollen. Liegt nämlich eine Verletzung sachlichen Rechts vor, so soll das Urteil regelmäßig hierauf beruhen.4" Dem ist aber nicht undifferenziert zu folgen. Wenn in diesem Rahmen auch nicht die von §337 StPO verlangte Beziehung zwischen Rechtsfehler und Urteil diskutiert werden kann, so sei doch der Begriff des Urteils im Sinne dieser Bestimmung wenigstens kurz angesprochen. Verdienstlich hat Peters"2 damit den »entscheidenden Teil« bezeichnet gesehen. Er versteht hierunter »den Tenor und etwaige ihn ergänzende Teile der Urteilsgründe«. Darin finden sich zumindest Anklänge an das hier bemühte Ergebnis der Motivationskette bzw. an die schon öfter erwähnte »konkrete Gestaltungsnorm«155. Dieses Ergebnis der Motivationskette eines späteren Erkenntnisses wird aber so lange nicht durch ein Abgehen von durch das Präjudiziengericht gesprochenen rationes decidendi beeinträchtigt, wie das Ergebnis selbst mit dem Präjudiz übereinstimmt. Auch von hier aus erscheint es als richtig, eine auf den Vertrauensschutz und den Gleichbehandlungsgrundsatz gestützte rechtliche Bindungswirkung an Präjudizien erst mit der oberen Stufe einsetzen zu lassen. Es ist dies das Ergebnis des Motivationsprozesses, die »konkrete Gestaltungsnorm«. cc) Verhältnis zum Streitgegenstand Obwohl sich damit die obere Stufe der Bindungswirkung dem Streitgegenstand annähert, braucht eine früher4*3 aufgestellte These nicht zurückgenommen zu werden. Danach lassen sich Rechtskraft und Bindungswirkung nicht gleichsetzen. Hieran ist festzuhalten. Zwar hat sich durch das Gewicht der rechtlichen Bindungswirkung4" «*> Kleinknecht/Meyer (o. Fn 172), $337 Rn 40; KMR/Müller, StPO, 7. Aufl., 1981, §337 Rn36 40 Strafprozeß, 3. Aufl., 1981, 617 **J Vgl. . . . 3. a) 444 Vgl. o. bb)

118 auf ihrer oberen Stufe die Divergenz zur Rechtskraft deutlich vermindert, soweit es um die objektive Reichweite — um ihren Gegenstand — geht. Doch bleibt die unterschiedliche Stärke von Rechtskraft einerseits und Bindungswirkung andererseits bestehen. Bei der Rechtskraft wird das Spannungsfeld zwischen dem Streben nach Rechtssicherheit und nach Gerechtigkeit grundsätzlich zugunsten der Rechtssicherheit entschieden. Die Möglichkeiten der Wiederaufnahme des Verfahrens wie auch der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand stellen sich nur als Ausnahmen von diesem wichtigen Grundsatz dar. Außerhalb der Rechtskraft dagegen muß der Gerechtigkeit Vorrang eingeräumt werden. Es gibt keine Gleichheit im Unrecht.465 Vor allem darf eine positive Entwicklung der Rechtsprechung nicht abgeschnitten werden. Deshalb mag man wünschen, daß sich gewichtige bessere Argumente nicht nur gegen frühere rationes decidendi, mithin in der unteren Stufe der Bindungswirkung, behaupten können. Auch die obere Stufe sei hiervon ergriffen. Dieser Wunsch läßt sich jedoch in die Wirklichkeit nur umsetzen, wenn sich die von dem später erkennenden Gericht im Verhältnis zum Präjudiz abweichende Normkonkretisierung letztlich durchzusetzen vermag. Zu notieren hat man damit eine zweistufige Präjudizienbindung. Starke Argumente bilden bereits die einzelnen Glieder der Motivationskette einer Vorentscheidung. Erst das Präjudiz selbst, also seine »konkrete Gestaltungsnorm«,155 löst aber im Blick auf den Gleichheitsgrundsatz den Zwang aus, von ihm nur abzuweichen, insofern zu erwarten ist, daß sich im weiteren Verfahren die Abweichung durchsetzen wird. Wenn damit schon auf die Existenz mehrerer Rechtszüge hingewiesen worden ist, so drängt sich zugleich die Frage nach der subjektiven Reichweite der Präjudizienbindung auf. b) Subjektive Reichweite Zu unterscheiden ist zwischen der Selbst- und der Fremdbindung. Die Selbstbindung wird in strikter Form allerdings sogar in England nicht mehr vertreten.466 Gleichwohl sollte ein Gericht die von ihm entwickelte Rechtsregel oder gar die »konkrete Gestaltungsnorm«155 465

Maunz/Dürig/Herzog/Scholz " Näher o. BIII1. c)

4

(o. Fn 455), Rn 179 ff., aber auch Rn 189

119

nur bei gewichtigen besseren Argumenten verlassen. Stehen diese aber gegen eine früher entwickelte Rechtsregel oder »konkrekte Gestaltungsnorm«, so sind sie zu berücksichtigen und die Rechtsregel bzw. auch »konkrete Gestaltungsnorm« zu ändern. Wegen des außerhalb der Rechtskraft bestehenden Vorrangs der Gerechtigkeit vor dem Vertrauensschutz kann der Gleichbehandlungsgrundsatz es nicht rechtfertigen, einen als nicht überzeugend erkannten Maßstab anzuwenden. Vielmehr ist zugleich die nunmehr als richtig befundene Entscheidungsgrundlage heranzuziehen. Ein bloßes »Prospective Overruling« hat außer Betracht zu bleiben. Zutreffend hat es erst unlängst Picker4" abgelehnt im Blick auf das vom 2. Senat des Bundesarbeitsgerichts im Juli 1981 erlassene Urteil zur Wirksamkeit auflösender Bedingungen bei Arbeitsverträgen.468 Mit dem Prospective Overruling stellt das Gericht nämlich eine Rechtsregel auf, die es für den zu entscheidenden Einzelfall gerade nicht zum Zuge kommen läßt. Das Bilden von Rechtsregeln ohne Anwendung auf den Einzelfall liegt aber außerhalb der Kompetenz der dritten Gewalt.46' Wiederum allein auf gewichtige bessere Argumente abzustellen, wenn es um die Fremdbindung geht, erscheint als problematisch. Dies gilt zwar nicht, wenn ein im Instanzenzug übergeordnetes Gericht von dem Erkenntnis eines unteren Gerichts abweichen will. Mißt doch das Gesetz der Auffassung des insofern höherrangigen Gerichts das größere Gewicht bei. Dies ergibt sich aus dem gesetzlich geregelten Instanzenzug selbst sowie aus der Präjudizienhierarchie gem. §§ 121 Abs. 2,136 GVG, mag dahinter auch nicht die Kraft eines stare decisis wie im anglo-amerikanischen Rechtskreis stehen. Offen bleibt jedoch, ob auch untere Gerichte von einem Präjudiz schon aus gewichtigen besseren Argumenten abgehen dürfen. Einerseits ist man versucht, dies schon unter Hinweis auf den Richtereid (vgl. § 38 Abs. l DRiG) zu bejahen. Doch hat man zu bedenken, daß hierdurch die Rechtssuchenden benachteiligt werden können. Hierzu kommt es, wenn das Präjudiziengericht als Rechtsmittelinstanz seinen früheren Standpunkt wieder einnimmt und sich von

467 468

449

Richterrecht und Richterrechtssetzung, 1984, 153 ff. NJW 1982, 788 So die h.M., vgl. etwa SS/Eser (o. Fn 26), § 2 Rn 9 m.w.N.

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den Argumenten des im Instanzenzug unteren Spruchkörpers nicht beeindrucken läßt. Die Hierarchie wird deutlich spürbar. So ist zu überlegen, ob nicht neben die gewichtigen besseren Argumente eine positive Prognose treten muß. c) Weg zur Prognose Es geht um die Prognose darüber, ob das Präjudiziengericht an seinem im Präjudiz eingenommenen Standpunkt festhalten werde. Läßt sich dies aufgrund der objektiv schlagenden Argumente des nunmehr erkennenden Spruchkörpers verneinen, so ist die Situation klar: Ein »Overruling» des Präjudizes erscheint nicht nur als gestattet, sondern als geboten. Eine in dieser Richtung sichere Voraussage wird sich allerdings selten treffen lassen. Dies gilt auch dann, wenn man Besserwisserei und Selbstgerechtigkeit ausklammert und die Prognose auf diese Weise normativ überhöht. Selbst bei einer toleranten Grundhaltung des Obergerichts ist zu bedenken, daß verschiedene Auffassungen vertretbar sind. So kann sich ein Argument von einem Standpunkt aus als gewichtig und besser darstellen, gleichwohl aus einem anderen Gesichtspunkt heraus aber als wenig vorzugswürdig beurteilt werden. Dies gilt nicht nur dann, wenn das Präjudiziengericht und der später erkennende Spruchkörper von einem jeweils unterschiedlichen Ausgangspunkt herkommen, etwa von einer abweichenden »Normhypothese«470. Auch beim Start von einer gemeinsamen Grundlage aus können die Motivationsketten auseinanderlaufen. Und jedem der Entscheidungsträger mögen seine Überlegungen als gewichtig und besser, zumindest aber dem Gedankengang des anderen nicht unterlegen erscheinen. Muß nun der später erkennende Spruchkörper eine solche Lage einräumen, so fragt sich, ob er gleichwohl an seinen ihm gewichtig und besser erscheinenden Argumenten festhalten darf. Diese Frage läßt sich — auch gestützt auf die richterliche Unabhängigkeit — nicht ohne weiteres bejahen. Mit der Abweichung vom Präjudiz werden nämlich die davon betroffenen Parteien bzw. Beschuldigten anders behandelt als die Mehrzahl anderer Parteien bzw. Beschuldigter. Dies gilt in um so größerem Maß, je mehr sich die obergerichtliche Rechtsprechung gefestigt hat. Dabei 470

Kriele (o. Fn 170)

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liegt der Schaden häufig bei der Partei bzw. bei dem Beschuldigten. Ein weiterer Rechtszug ist erforderlich, um das Stadium des Präjudizes (wieder) zu erreichen. Solche Umwege sind zu verhindern. Der später erkennende Richter vergibt sich nichts, wenn er am Präjudiz festhält, solange er dies nur als wenigstens auch vertretbar einstuft. Damit scheint auf den ersten Blick genau das Ergebnis erreicht zu sein, wie es die Lehre vom Richterrecht als einer subsidiären Rechtsquelle471 anstrebt. Und doch besteht ein gewichtiger Unterschied. Auch wenn der andere, nämlich der Standpunkt des Präjudiziengerichts, nicht als falsch, sondern (noch) als vertretbar erscheint, lassen sich doch so schlagende neue Gesichtspunkte denken, daß diese als vorzugswürdig herausleuchten. Gerade der vorsichtige Richter wird freilich dem Erfolg seines Gedankengangs nicht gerne die oben angesprochene sichere Prognose stellen wollen. Deshalb muß die Chance genügen, eine überzeugendere Argumentation durchsetzen zu können. Diese Prognose ist um so vorsichtiger zu stellen, je weiter oben das Präjudiziengericht in der Hierarchie steht und je mehr seine Rechtsprechung gefestigt ist. Hiermit ist es durchaus vereinbar, wenn neuerdings der Große Zivilsenat des BGH472 die Kontinuität einer gefestigten höchstrichterlichen Rechtsprechung aus Gründen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes nur zu verlassen erlaubt, insofern dies durch überwiegende oder sogar zwingende Gründe geboten ist. Die Chance, einen abweichenden Standpunkt durchzusetzen, ist dagegen größer, wenn das Präjudiz von einem nebengeordneten Gericht stammt. Zwar ist es so lange zu beachten, wie das in der Präjudizienhierarchie übergeordnete Gericht die Frage noch nicht entschieden hat. Doch darf der nunmehr erkennende Spruchkörper die Prognose dahin stellen, daß sich seine gewichtigen besseren Argumente behaupten werden. Sonach haben sich für die hierarchisch gestaltete Präjudizienbindung zwei Stufen ergeben. Während das später erkennende Gericht die untere Stufe der entscheidungserheblichen Rechtsansichten (rationes decidendi) schon aufgrund gewichtiger besserer Argumente gegen andere Rechtsregeln austauschen darf, ist für die nächste — obere — Stufe eine Prognose erforderlich. Von dem Präjudiz selbst, 471

472

(O. Fn 6), 154 Entscheidung vom 4.10.1982, BGHZ 85, 64

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nämlich von dessen »konkreter Gestaltungsnorm«, darf nur abgegangen werden, wenn das abweichende Entscheidungsergebnis die Chance hat, sich durchzusetzen. Zusammenfassend kann die ratio decidendi als Gemeinsamkeit gesehen werden mit dennoch interessanten differenzierenden Aspekten für die beiden Rechtskreise. Letztlich durch den Grundsatz des stare decisis wirkt sich nämlich auch im Statute Law die Vergleichsund Konzentrationsfunktion wie auch insbesondere die Begrenzungsfunktion der Norm weniger deutlich aus als in Deutschland. Insofern zeigt sich der Vorteil des deduktiven Ansatzpunktes. Er wird jedoch erkauft mit induktiven Defiziten, die es auszugleichen gilt. Deshalb hat sich der Blick zu richten auf den Einzelfall, wie er prägnant — zugleich als Bezug der ratio decidendi — in der »konkreten Gestaltungsnorm«155 erfaßt wird. Die »konkrete Gestaltungsnorm« ist es zugleich, die auch in Deutschland eine Bindungswirkung auslöst. Über die Selbstbindung eines Gerichts helfen freilich schon überzeugende bessere Argumente hinweg. Soll dagegen die Fremdbindung an ein Präjudiz überwunden werden, so bedarf es hierzu einer günstigen Prognose. Es muß — insbesondere im Blick auf den Gleichheitsgrundsatz — zu erwarten sein, daß sich das nunmehr erkennende Gericht mit seiner von dem Präjudiz abweichenden »konkreten Gestaltungsnorm«155 wird durchsetzen können. Wenn die »konkrete Gestaltungsnorm« als die obere Stufe der Bindungswirkung bezeichnet worden ist, so darf deshalb die ratio decidendi nicht gering geschätzt werden. Sie hat eine wichtige Funktion. Diese sei nunmehr (unter III. 1. und 2.) — vor allem auch in ihrem Verhältnis zur »konkreten Gestaltungsnorm« — beleuchtet, um sodann (unter III. 3.) die Ergebnisse für die praktische Anwendung umzusetzen. III Gewinn für die Rechtsanwendung 1. Ratio decidendi und Typus Noch im Jahre 1973 hat Scblüter4" es als »sehr vordergründig« bezeichnet, will man die angelsächsische Lehre zur Abgrenzung der ratio decidendi auf das deutsche Recht übertragen. Die hierzu entwik473

(O. Fn 159), 81

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kelten Theorien sollen nämlich »eine grundlegend andere Funktion zu erfüllen haben« und »sich weniger darum bemühen, Regeln für die Begründung richterlicher Entscheidungen aufzustellen«. Hieran ist sicher richtig, daß es bei der Unterscheidung zwischen der ratio decidendi und den (obiter) dicta darum geht, Kriterien für die Reichweite des Grundsatzes »stare decisis« festzulegen. Dieser Grundsatz hat sich allerdings für das deutsche Recht nicht in dieser Stringenz feststellen lassen. Und dennoch interessiert die Grenzziehung zwischen der ratio decidendi und dem (obiter) dictum aber auch hier. Zutreffend spielt sie eine erhebliche Rolle im deutschen Schrifttum, wie Schlüter selbst mit seiner wichtigen Monographie zum »Obiter dictum«474 gezeigt hat. Gleichwohl wird niemand auf die Idee kommen, die Motivationskette, auf die sich ein Präjudiz stützt, lediglich unter dem Gesichtspunkt einer später einsetzenden Präjudizienwirkung zu sehen. Damit soll nicht etwa die Wirkung des Präjudizes als Maxime für spätere Entscheidungen475 geleugnet werden. Nur sind beide Aspekte anzuerkennen. Neben dem Charakter als Vorbild nicht vergessen werden darf die in dem Präjudiz zu findende Regelung eines Einzelfalles und die hiermit einhergehende Normkonkretisierung. Sie erfolgt intensional und extensional, und zwar maßgeblich durch die ratio decidendi. Diese weist eine Bedeutung auf und hat ihren Bezug im Einzelfall, präzisiert in der »konkreten Gestaltungsnorm«1". Damit handelt es sich bei der ratio decidendi um eine Rechtsregel mittlerer Abstraktion. Sie liegt zwischen einer kodifizierten Norm und den in der »konkreten Gestaltungsnorm« prägnant erfaßten relevanten Fakten des zu entscheidenden Einzelfalles. Teils hat Schlüter47* dies schon grundlegend und treffend erkannt. Nach seiner Meinung erreicht nämlich »die anhand bestimmter Präzedenzfälle gewonnene >legal rule< keineswegs die Abstraktionshöhe einer Rechtsnorm im kontinental-europäischen Sinne«. Genau um einen solchen Satz geringerer Abstraktionshöhe geht es aber, und zwar nicht nur bei der ratio decidendi, sondern auch bei der Norm474

475 476

(O. Fn 159), 77 ff. Vgl./foe/e(o.Fn49),98 (O. Fn 159), 87; vgl. auch Zajtay, Begriff, System und Präjudiz in den kontinentalen Rechten und im Common Law, AcP 165 (1965), 97, 107 ff.

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konkretisierung, wie sie durch ein Präjudiz im deutschen Recht erreicht wird. Damit treffen sich beide Systeme gleichsam auf »mittlerer Abstraktionshöhe«477, nämlich bei der ratio decidendi. Schlitter™ ist dem allerdings entgegengetreten. Einerseits stellt sich für ihn der Abstraktionsgrad der ratio decidendi »geringer« dar »als der von Zwischensätzen, die zur Konkretisierung deutscher Gesetzesnormen aufgestellt werden.« Andererseits will er diesen Zwischensätzen noch nicht einmal den Charakter der ratio decidendi beimessen, sondern meint, sie würden im anglo-amerikanischen Präjudizienrecht als bloße obiter dicta beurteilt. Hierbei beruft er sich auf eine Abhandlung Szladits' aus dem Jahre 1959, der sich hierzu478 auf die »fairly broad formulation« in der schriftlichen Urteilsbegründung stützt. Wollte man dem folgen und gleichwohl der ratio decidendi einen geringeren Abstraktionsgrad als den Rechtsregeln innerhalb eines deutschen Urteils in ihrer »fairly broad formulation« einräumen, würde die angelsächsische ratio decidendi noch nicht einmal die Stufe von obiter dicta erreichen. Das aber ist sicher nicht gemeint und wird zudem durch Folke Schmidt's*" rechtsvergleichende Untersuchung aus dem Jahre 1965 widerlegt. Darin hat sich nämlich die deutsche Entscheidungsbegründung als herausgehoben prägnant So ergibt sich die Mittlerfunktion der Präjudizien. Der kontinental-europäische Bereich wie auch der anglo-amerikanische Rechtskreis treffen sich auf »mittlerer Abstraktionshöhe«477 — in der ratio decidendi. Der Einklang der beiden Rechtssysteme ist deshalb so erstaunlich, weil die Ausgangspunkte weit auseinander zu liegen scheinen. Die Deduktion einerseits soll die Entscheidungsfindung im kontinental-europäischen Raum bestimmen, die Induktion andererseits im Bereich des Case Law maßgeblich sein.481 Und dennoch gelangen beide Rechtskreise zu einer Rechtsregel, unter die subsumiert

477

478 479

480 481

Von »Entscheidungsregeln auf einer mittleren Abstraktionshöhe zwischen Gesetz und Fallentscheidung« spricht Haft, Juristische Rhetorik, 1978, 86 Guide to foreign legal materials, French, German, Swiss, 1959, 514/515 The Ratio Decidendi. A Comparative Study of a French, a German and an American Supreme Court Decision, 1966 (O. Fn485), l l f f . Dazu schon in der Einleitung

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wird, und zwar auch im anglo-amerikanischen Rechtskreis. Wie man dort ohne Subsumtion nicht auskommt, so sollte man im kontinental-europäischen Raum die Induktion nicht vergessen! Hier trifft man auf das Anliegen Arth. Kaufmanns4". Aus dem Bestreben, Deduktion und Induktion in die Entscheidungsfindung einzubringen,4" gelangt er zum Typus. Dabei sieht er 4M Typus und Analogie in einem »reflexiven Verhältnis zueinander stehend.« Diese These hat sich für die anglo-amerikanische ratio decidendi bestätigt. Das Voranschreiten von Fall zu Fall und damit von ratio decidendi zu ratio decidendi bildet ein analogisches Vorgehen. Dabei hat man die Ähnlichkeit auf zwei Ebenen zu erproben. Es ist zu schauen von Rechtsregel zu Rechtsregel und von Fall zu Fall. Dies bestreitet auch Peschka4K nicht. Ihm geht es um die Beziehung zwischen dem Typus und der Norm in der Rechtsanwendung. Insofern spricht er von Identität anstelle von Ähnlichkeit. Hierzu betont er die Doppelgestalt des Typus. Einerseits sieht er darin »ein außerordentlich bewegliches, plastisches Feld zwischen dem Einzelnen und dem Allgemeinen«. Abgesehen von diesem Typus »in seiner Unmittelbarkeit« soll der Typus sich aber auch »in der rechtlichen Norm nicht in seiner sinnlichen Unmittelbarkeit« zeigen, »sondern in der Form von Definitionen« seinen Ausdruck finden. Das aber stellt sich für Arth. Kaufmann436 als »>dialektischer< Trick« dar. Die Dialektik entfaltet sich für ihn nicht im Typus, sondern im Verhältnis »zwischen Allgemeinbegriff und Typus«. Diese Divergenz zwischen Arth. Kaufmann und Peschka mag weniger erheblich sein, als es zunächst scheinen mag. Hierzu kann man gelangen, indem man die Summe aller möglichen rationes decidendi mit ihren in der jeweiligen »konkreten Gestaltungsnorm«155 formulierten Extensionen als Typus begreift. Die Gesamtheit dieser möglichen Normkonkretisierungen, der Typus, zeichnet sich aber durch die darin enthaltenen Rechtsregeln aus, durch die sie die Norm in-

482 483 484

485 484

(O. Fn 18), 37 ff. (O. Fn 18), 74 (O. Fn 18), 75 Typus und Analogie im Recht, ARSP 1980, 85 ff. (O. Fn 18), 76

126 tensional und extensional erfüllen. Gleichwohl bleibt es dabei, daß innerhalb des Typus — also von Normkonkretisierung zu Normkonkretisierung, von ratio decidendi zu ratio decidendi — analogisch vorzugehen ist. Der wiederkehrende Hinweis auf die Analogie mag Bedenken aufkommen lassen, ob damit das für die Begründung und Schärfung der Strafbarkeit geltende Analogieverbot (vgl. Art. 103 Abs. 2 GG, § l StGB) noch in ausreichendem Maße gewahrt wird. 2. Grenze zwischen Auslegung und Analogie Die bisher h. M. faßt auch heute noch Auslegung und Analogie als Gegensatz auf.487 Doch setzt sich immer mehr die Erkenntnis durch, daß die Auslegung des Gesetzes analogisches Vorgehen nicht ausschließe, sondern vielmehr einbegreife™ Diese Sichtweise erweist sich als richtig, sobald Rechtsanwendung nicht nur als Deduktion, sondern auch als Induktion verstanden wird. Neben dem Blick von der Norm zu ihrer jeweils fraglichen extensionalen Ausprägung gilt es, auch den Fall selbst zu betrachten. Sieht man ihn als eine von den möglichen Gestalten, in der sich die Extension (der Bezug) der Norm zu zeigen vermag, so liegt der Vergleich verschiedener Fälle im Bezugsfeld der Norm nicht fern. Hierbei bleibt es allerdings nicht. Wird doch für einen jeden Fall eine Rechtsregel herausgebildet. Es ist die ratio decidendi. Zusammen mit ihrem Bezug in der »konkreten Gestaltungsnorm«1" (als der rechtsrelevanten Kurzfassung des Falles) dient sie der Normkonkretisierung. In der damit anklingenden »mittleren Abstraktionshöhe«477 — zwischen Norm und Sachverhalt — ist also Analogie möglich. Sie kann sogar geboten sein, um den extensionalen Bereich der Norm auszuschöpfen. Dies wird klar, wenn man sich an den Wirkungskreis der Norm erinnert mit einer (unbestimmten) Vielzahl von Einzelfällen als Bezug. Eben diese Einzelfälle stellen sich zugleich als Extension der Rechtsregeln dar. Auch diese rationes decidendi enthalten wie487

488

Vgl. etwa Dreher/Tröndle (o. Fn 26), § l Rn 10; LK/Tröndle, StGB, 10. Aufl., 1978, § l Rn 30 ff., 41; SS/Eser (o. Fn 26), § l Rn 26 ff.; Otto, Grundkurs Strafrecht. Allgemeine Strafrechtslehre, 2. Aufl., 1982, 28 ff.; SK/Rudolphi, StGB. AT, 3. Aufl., Loseblattsammlung, Stand: September 1984, § l Rn 22 Arth. Kaufmann (o. Fn 18), 63 ff., hat die dahin gehendenden Stimmen eindrucksvoll zusammengestellt

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derum eine Intension und eine Extension. Hierin findet sich jeweils ein Ausschnitt aus der Intension und der Extension der Norm.48' Solange der Wirkungskreis der Norm nicht durchbrochen wird, insbesondere die Rechtsregel die Intension der Norm nicht verläßt, handelt es sich um Auslegung. Damit bestätigt sich, wie recht Welzel™ hat, wenn er Analogie im Bereich der Gesetzesauslegung für erlaubt erklärt. Ähnlich rechnet auch Fikentscher™ »Fallnormen« innerhalb der Wonsinngrenze4'2 zum Bereich der Auslegung, so daß erst außerhalb der Wortsinngrenze Analogie und Umkehrschluß — bis hin zur »Norrnzwec&grenze«4M — in Frage stehen. Analogie innerhalb der Normintension bedeutet Auslegung der Norm. Zur Norm wird kein Analogieschluß gezogen, solange die Ähnlichkeitserwägungen sich innerhalb ihrer Intension abspielen. Dies gilt insbesondere für Vergleiche zwischen verschiedenen Konkretisierungen einer Norm, also etwa von ratio decidendi zu ratio decidendi. In diesem Rahmen gelangt man nicht zur Analogie, wie sie Art. 103 Abs. 2 GG (in Einklang mit § l StGB) zur Strafbegründung und -schärfung verbietet. Hierum geht es vielmehr erst, wenn man die Norm selbst als Bezug des Ähnlichkeitsurteils wählt. Dazu führt erst ein analogisches Vorgehen außerhalb der Normintension. Dies belegt den letztlich schon von Larenz™ herausgearbeiteten Unterschied zwischen dem Begriff der Analogie einerseits im Sinne Arth. Kaufmanns™ und andererseits im Gebrauch durch die h. M.4". Die bisher h. M. hat nämlich unter Analogie nur eine solche mit dem Bezugspunkt der Norm verstanden. Dieser terminologische Aspekt allein grenzt jedoch analogisches Vorgehen innerhalb der Norm, d. h. Auslegung, noch nicht hinreichend von der Analogie zur Norm ab, die in Art. 103 Abs. 2 GG, 4M

Dazu o. II. 1. «*> Das Deutsche Strafrecht, 11. Aufl., 1969, 22; vgl. auch Mezger, Strafrecht. Ein Lehrbuch, 3. Aufl., 1949, 83/84 «' (O. Fn 16), 236 ff.