Mittelalter und Demokratische Geschichtsschreibung [Reprint 2021 ed.] 9783112535905, 9783112535899


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German Pages 472 [473] Year 1971

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Mittelalter und Demokratische Geschichtsschreibung [Reprint 2021 ed.]
 9783112535905, 9783112535899

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HEINRICH

SPROEMBERGt

MITTELALTER UND DEMOKRATISCHE GESCHICHTSSCHREIBUNG

FORSCHUNGEN

ZUR MITTELALTERLICHEN

GESCHICHTE

Begründet von Heinrich Sproemberg f

herausgegeben von G. Heitz, E. Müller-Mertens, B. Töpfer und E. Werner

B A N D 18

A K A D E M I E - V E R L A G

i 97 i



B E R L I N

HEINRICH SPROEMBERGf

MITTELALTER UND DEMOKRATISCHE GESCHICHTSSCHREIBUNG AUSGEWÄHLTE ABHANDLUNGEN

Unter Mitarbeit von Lily Sproemberg und Wolfgang Eggert

herausgegeben von Manfred Unger

A K A D E M I E - V E R L A G i 9 7 i



B E R L I N

Erschienen im Akademie-Verlag GmbH, 108 Berlin, Leipziger Straße 3—4 Copyright 1970 by Akademie-Verlag GmbH Lizenznummer: 202 • 100/293/70 Gesamtherstellung: V E B Druckhaus „Maxim Gorki", 74 Altenburg Bestellnummer: 2090/18 • E S 14 A • 14 D E D V 751 635 4 48,-

INHALT Vorwort

VII

Sigelverzeichnis

XI

I. Stamm, Staat, Imperium

1

D i e A n f ä n g e eines „Deutsches Staates" im Mittelalter

3

Betrachtungen zur Geschichte der Reichsidee im Mittelalter

27

D i e Alleinherrschaft im mittelalterlichen Imperium 9 1 9 - 1 0 2 4

45

Zu dem Buch von Reinhard W e n s k u s : Stammesbildung und Verfassung

.

.

II. Ketzertum und Kirche D i e Entstehung

des Manichäismus im A b e n d l a n d

67 83

-

Ein

religiös-soziales

Problem

85

G e r h a r d I., Bischof von Cambrai ( 1 0 1 2 - 1 0 6 1 )

103

D i e G r ü n d u n g des Bistums Arras im Jahre 1094

119

III. Staatsbildung in Flandern

155

D i e Entstehung der Grafschaft Flandern

157

d e m e n t i a , Gräfin von Flandern IV. G a l b e r t von Brügge - D i e Geschichtsschreibung des

192 flandrischen

Bürgertums

221

D i e Bürger und der Staat in den N i e d e r l a n d e n zu Beginn des 12. Jahrhunderts

.

.

G a l b e r t von Brügge - Persönlichkeit und W e r k

223 239

G a l b e r t von Brügge - Stellung und Bedeutung - D i e A n f ä n g e demokratischer Geschichtsschreibung im Mittelalter V. Pirenne und die deutsche Geschichtswissenschaft

278 375

Pirenne und die deutsche Geschichtswissenschaft

377

H e n r i Pirenne an Heinrich Sproemberg

440

VI. Wissenschaftlicher N a c h l a ß und Bibliographie

447

Bibliographie Heinrich Sproemberg

449

Wissenschaftlicher N a c h l a ß Heinrich Sproemberg

459

VORWORT Als Heinrich Sproemberg im Sommer 1966 im Alter von 77 Jahren völlig unerwartet starb, verdichtete sich die in den Nachrufen 1 seiner Freunde und Schüler zum Ausdruck gebrachte Verehrung bald zu dem Wunsche, seinen wissenschaftlichen Nachlaß zu sichten und eine Auswahl daraus zum Druck zu befördern. So entstand in gemeinsamem Bemühen der vorliegende Band von Abhandlungen Heinrich Sproembergs, die in der von ihm begründeten und vor fünfzehn Jahren mit einer Festschrift zu seinem 65. Geburtstag eröffneten Reihe erscheinen. Der Band vereinigt Beiträge zu mehreren von Sproemberg im Laufe seiner Forschungstätigkeit behandelten Problemkreisen der Mediävistik. Die Beiträge zeigen die Tiefe seiner quellen- und literaturkritischen Methode wie die Breite seiner thematischen Interessen.2 Darunter sind Arbeiten, die nach längerer Zeit einen Neudruck erfahren oder die bisher nur in ausländischen Zeitschriften veröffentlicht wurden und nun erstmals in deutscher Sprache vorgelegt werden, sowie Studien, die Heinrich Sproemberg als Arbeitsstufen betrachtet bzw. für Vortragszwecke verwendet, aber noch nicht für die Veröffentlichung vorbereitet hatte. Diese Druckvorbereitung erfolgte vielmehr in intensiver und einfühlsamer Weise durch Manfred Unger, der dabei von Wolfgang Eggert und Lily Sproemberg tatkräftig unterstützt worden ist. Herausgeber und Verlag sind den drei Genannten für ihre Mühe bei der Auswahl, Bearbeitung und Drucklegung der in den vorliegenden Abhandlungen zusammengefaßten Beiträge, einschließlich der Nachlaß-Hinweise und der Bibliographie, zu Dank verpflichtet. Heinrich Sproembergs Wirken als Historiker füllt den langen Zeitraum von mehr als fünfzig Jahren und ist in den letzten zwei Jahrzehnten seines Lebens, während der Wirkungszeit in Rostock (1946-1950), Leipzig (1950-1959) und Berlin (1959 bis 1966), ein Bestandteil der Geschichtswissenschaft der Deutschen Demokratischen Republik geworden. Hier fand er, nach Jahrzehnten isolierter und im Gegensatz zur offiziellen Geschichtswissenschaft des imperialistischen Deutschland in aller Stille geführten Studien, vielfältige Möglichkeiten, als Lehrer der akademischen Jugend zu wirken und seine Auffassungen zu entwickeln. Diese seine Auffassungen von mittelalterlicher Geschichte waren in unermüdlicher Arbeit und Auseinandersetzung herangereift. 1

Ein Verzeichnis der Nekrologe s. Seite 459 des vorliegenden Bandes.

2

Siehe dazu die Ausführungen in den Nachrufen.

VIII

Vorwort

Sproembergs Vorstellungen über die Entwicklung der deutschen Geschichtswissenschaft waren in der Auseinandersetzung mit der chauvinistischen Ideologie gewonnen und geprägt. Die Zusammenhänge von Großmachtpolitik und Geschichtswissenschaft waren ihm klar, die Gefahren alldeutscher und großdeutscher Geschichtsauffassung, als Teil der ideologischen Kriegsvorbereitung bewußt geworden. Von der offiziellen Geschichtsschreibung in Deutschland isoliert, suchte und fand er den Kontakt zu Historikern Belgiens, Frankreichs und der Niederlande. Im freundschaftlichen Austausch mit diesen hatte er, die Gunst des speziell erscheinenden Forschungsgegenstandes nutzend, den Mut, im Jahre 1939 die Herausbildung staatlicher Selbständigkeit und das Aufkommen („Erwachen") eines von ihm als Staatsgefühl 3 bezeichneten Zusammengehörigkeitsbewußtseins in den kleineren Territorien Nordwesteuropas, Belgiens und der Niederlande, als Fakt der hochmittelalterlichen Geschichte zu konstatieren und dies in einem Moment, in dem die staatliche Selbständigkeit dieser Länder und die Sicherheit ganz Europas zum wiederholten Male durch den deutschen Imperialismus aufs höchste gefährdet waren. Das wissenschaftliche Ergebnis dieser Bemühungen war ein Beitrag, der - aus einem Vortrag erwachsen - einen wesentlichen Aspekt der Geschichte des 12. Jahrhunderts eröffnete und damit in der internationalen ständegeschichtlichen Forschung wie in der belgischen Geschichtsschreibung weithin Beachtung fand. Im Leben und Wirken Galberts, des Notars von Brügge, fand Sproemberg das für ihn entscheidende Glied einer Kette, die ihn über mehr als fünf Jahrzehnte mit der Geschichtsschreibung Belgiens und der Niederlande verband und ihn zu einem der besten Kenner der Geschichte beider Länder außerhalb ihrer Grenzen werden ließ. Herausbildung und Existenz, Kampf und historische Rolle des mittelalterlichen Bürgertums zu erforschen, wurde Leitlinie seiner wissenschaftlichen Bemühungen. Das Auffallende und Bleibende an der hier erstmals vorgelegten Studie über Galbert von Brügge sind die Dialektik der Quellenkritik und die gereifte Methode der Auseinandersetzung mit anderen Auffassungen. Dabei kam es Sproemberg vor allem darauf an, den Notar von Brügge als bedeutenden, die Geschichte der Stadt Brügge und der Grafschaft Flandern aktiv mitgestaltenden Juristen zu verdeutlichen, der keineswegs nur aufzeichnete oder vordergründig veränderte, sondern sich als Teil einer neuen gesellschaftlichen Kraft, des Bürgertums der mittelalterlichen Kommunen, begreift und die Rechtsauffassungen dieser neuen Kraft in einer für den politischen Klassenkampf entscheidenden Weise prägt. Denn daß es sich um Klassenkampf handelte, ist von Sproemberg klar erkannt worden, obwohl er den Terminus nicht verwendet, und obwohl der Klassenkampf für ihn nur eine, und nicht die entscheidende Triebkraft der historischen Entwicklung bildete. Indem er Galbert von Brügge an die Seite der kommunalen Bewegung stellt, arbeitet Sproemberg das Neue in der Entwicklung des frühen 12. Jahrhunderts deutlich heraus; indem er auf jeden Versuch verzichtet, diesem kommunalen Bürgertum, das sich noch in der Formierung befindet, oder gar Galbert als Einzelpersönlichkeit den alleinigen oder entscheidenden Anteil 3

V g l . dazu sein V o r w o r t zu „Beiträge zur belgisch-niederländischen Geschichte", Berlin S. IX.

1959,

Vorwort

IX

am Gang der geschichtlichen Entwicklung zuzuschreiben, indem er vielmehr auf das Zusammenwirken der feudalen mit den bürgerlichen Kräften verweist, begegnet er der Gefahr der Vereinfachung und der Verzerrung des historischen Geschehens. An der im Jahre 1938 formulierten Grundauffassung vom Staatsgefühl, die für die ständegeschichtliche Forschung von Belang geworden ist, hielt Sproemberg bis zuletzt fest, indem er zu Recht den viel mißbrauchten Ausdruck „Nationalgefühl" für das 12. Jahrhundert meinte ablehnen zu müssen. Ein zweiter umfangreicher, bisher ebenfalls ungedruckter Beitrag der Abhandlungen „Pirenne und die deutsche Geschichtswissenschaft", muß unter drei Gesichtspunkten gesehen werden. Einmal ist es die Persönlichkeit Henri Pirennes, die Rolle, die dieser bedeutende belgische Historiker in Sproembergs Leben gespielt hat und zum anderen der Wunsch, das Verhältnis Pirennes zur deutschen Geschichtswissenschaft zu beleuchten; hier knüpft Sproemberg, bezüglich Pirennes Verhältnis zu Karl Lamprecht, an neuere Forschungsergebnisse marxistischer Historiker der D D R an. Ein anderer, daraus sich ergebender Gesichtspunkt ist die jahrzehntelange Beschäftigung mit der Geschichte Belgiens und der Niederlande. Die Kenntnis dieser Geschichte war für Sproemberg stets die Basis seiner Auffassungen von der allgemeinen Geschichte des Mittelalters und insofern notwendige Voraussetzung für die Uberwindung des germanozentrischen Geschichtsbildes. Sie war ihm aber auch tragfähige Grundlage vielfältiger Spezialarbeiten zur Geschichte des hohen Mittelalters und wurde für ihn in zunehmendem Maße die Basis des selbständigen Standorts, von dem aus er mittelalterliche deutsche Geschichte studierte und betrachtete; und dies in stets deutlicher werdendem Widerspruch zur bürgerlichen Geschichtsschreibung. Und schließlich ergab sich daraus auch der dritte, der historiographische Aspekt. Getragen von genauer Kenntnis der Entwicklung der Geschichtsschreibung, vertraut mit den handwerklichen Fortschritten der bürgerlichen deutschen Geschichtswissenschaft, führte ihn dieser Aspekt mit Notwendigkeit in den autobiographischen Bereich, teils direkt, teils durch die Art der Einordnung und Einschätzung indirekt. Es ist dies über die Bedeutung der Abhandlungen für die Mediävistik im engeren Sinne hinaus ein Beitrag zur Kritik der Historiographie in Deutschland, wie er von bürgerlicher Seite nirgends formuliert worden war, wie er aber auch Sproemberg, um seinen eigenen Worten zu folgen, erst „in einer völlig veränderten Welt'"' in dieser umfassenden Weise gelingen konnte. Ein kurzes Vorwort kann nicht die ganze Fülle der Probleme des Bandes erfassen, dessen Abhandlungen eine so breite Thematik aufweisen und von den Anfängen des deutschen Staates über religiös-soziale Probleme bis zu biographischen Studien reichen. Es sei zum Abschluß gestattet, die im Titel des Bandes zum Ausdruck kommende Dialektik zu unterstreichen: Heinrich Sproemberg war ein Demokrat und Antifaschist. Er hat, frühzeitig vom Treiben der führenden deutschen Historiker vor und nach dem ersten Weltkrieg sich distanzierend, eine selbständige Haltung gewonnen und sie mit Konsequenz verteidigt. Vom Gang der Geschichte bestätigt, wurden die 4

Ebenda.

X

Vorwort

„ihn menschlich in allerhöchstem Grade ehrende Überzeugung" und Festigkeit schließlich von bürgerlichen Fachkollegen erkannt und mit Respekt anerkannt. Es ist sein Verdienst, unmittelbar nach der Befreiung des deutschen Volkes vom Faschismus Grundlagen für eine antifaschistische, von den Idealen des Humanismus und der Völkerfreundschaft durchdrungene Mediävistik in der D D R gelegt und ausgebaut zu haben einschließlich vielfältiger internationaler Kontakte. Die demokratischen Traditionen, denen er sich dabei verpflichtet fühlte, lagen ganz überwiegend im Mittelalter. Es waren die kommunale Bewegung und die geschichtliche Wirksamkeit der neuen Klasse, die sich in der Gestalt Galberts von Brügge personifizierten; es waren die Rolle des Bürgertums als Verbündeter der Zentralgewalt und seine Formierung zu der den Feudalismus stürzenden Bourgeoisie, die Sproemberg anzogen und es ihm ermöglichten, vom Modell der Geschichte Frankreichs her die Geschichte des deutschen Volkes im Mittelalter zu erforschen und damit Grundzüge eines neuen Geschichtsbildes zu vermitteln. Gerhard Heitz

Eckhard Müller-Mertens

Bernhard Töpfer

Ernst Werner

SI G E L V E R Z E I C H N I S AKG. ALMA. AnnHVNiederrh. BullCRH. DA. DLZ. FDG. HGbll. HZ. Jbb. JL.

MG. AA. Cap. Const. D D . Karol. Epp. SS.

Archiv für Kulturgeschichte Archivum latinitatis rriedii aevi Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein Bulletin de la Commission Royale d'Histoire de Belgique Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters Deutsche Literaturzeitung Forschungen zur deutschen Geschichte Hansische Geschichtsblätter Historische Zeitschrift Jahrbücher der deutschen Geschichte Regesta pontificum Romanorum ab condita ecclesia ad annum post Christum natum MCXCVIII, ed. Ph. ]affé, curavv. S. Loewenfeld. / F. Kaltenbrunner / P. Ewald, Leipzig 1885. Monumenta Germaniae histórica Auetores antiquissimi. 15 Bde., Berlin 1877 fi. Capitularía regum Francorum. 2 Bde., Hannover 1883ff. Constitutiones et acta publica imperatorum et regum. Bd. 1 - 6 und 8, Hannover 1893 ff. Diplomata Karolinorum. Bd. 1 und 3, Hannover (später Berlin/Zürich) 1906 ff. Epistolae. 8 Bde., Berlin 1887 ff.

Scriptores rerum Germànicarum. 32 Bde., Hannover 1826 ff. SS. rer. Germ. in us. Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum seschol. paratimi editi. Einzelausgaben, SS. rer. Germ. nova series Scriptores rerum Germanicarum nova series. Einzelausgaben. SS. rer. Merov. Scriptores rerum Merovingicarum. 7 Bde., Hannover 1883 ff. Migne Patrologiae cursus completus sive Bibliotheca universalis . . . omnium ss. patrum. Series latina, accurante ]. P. Migne, 221 Bde., Paris 1844 ff.

XII ThLZ NA. R. H . F. RhVjbll. S B . A k . Berlin S B . A k . München MIÖG WaG. ZbayrLG. ZfG. ZKG. ZRG. GA. KA.

Sigelverzeichnis

Theologische Literaturzeitung N e u e s Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche G e schichtskunde Recueil des historiens des G a u l e s et de la France, 24 B d e . , Paris 1840 ff. Rheinische Vierteljahresblätter Sitzungsberichte der (Königlich) Preußischen A k a d e m i e der Wissenschaften zu Berlin Sitzungsberichte der Bayerischen A k a d e m i e der Wissenschaften zu München Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung Welt als Geschichte Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte Zeitschrift für Geschichtswissenschaft Zeitschrift für Kirchengeschichte Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte Germanistische Abteilung Kanonistische Abteilung

I. Stamm, Staat, Imperium

DIE ANFÄNGE EINES „DEUTSCHEN S T A A T E S " IM M I T T E L A L T E R * Es bewegt uns alle, heute mehr denn je, die Frage der Gestaltung des deutschen Staates. Im Jahre 1945 ist nicht nur der bestehende deutsche Staat zerbrochen, sondern dieser überhaupt. Wir hatten zunächst durch die schwere Schuld, die wir auf uns geladen, das Recht auf politische Selbstbestimmung und auf die Gestaltung eines eigenen Staates verwirkt. Aber diese Zeit ist vorbei. Wir gehen nunmehr ernstlich daran, den deutschen Staat der Zukunft aufzubauen, und hierbei ist es von Interesse, einen Blick auf die Anfänge eines Staates überhaupt in unserem Bereich zu werfen. Wir werden sehen, daß ein solches Unterfangen keineswegs ohne Bezug auf die Gegenwart ist und daß es unbedingt not tut, uns mit derartigen historischen Größen auseinanderzusetzen. Tragen wir doch nicht nur schwer an dem unheilvollen nationalsozialistischen Erbe auch im 19. Jh. hat sich das deutsche Reich als eine aggressive Potenz erwiesen und es nicht verstanden, seinen richtigen Platz unter den Völkern Europas zu finden.

Die Entwicklung der Auffassungen vom Beginn der deutschen Geschichte Nach dem Zusammenbruch unseres mittelalterlichen Reiches im Jahre 1806, mit dem gleichsam nur noch ein anachronistisches Gespenst von der politischen Bühne abtrat, ergab sich die Notwendigkeit einer politischen Neuordnung in jenen Gebieten, die zu diesem Reiche gehört hatten. Die Dynastien und darunter besonders diejenigen, die in der napoleonischen Zeit von dem massenhaften Verschwinden der zahllosen Zwerggebilde auf deutschem Boden Nutzen gezogen hatten, waren wenig geneigt, eine gesamtdeutsche Neuordnung in Angriff zu nehmen; man glaubte hier, einfach zu den alten Zuständen, welche vor der Revolution existierten, zurückkehren zu können. In dem Augenblick aber, da vor allem das Bürgertum politische Rechte forderte, verwandelte sich die Idee von einer deutschen Nation, welch letztere bisher vorwiegend den Charakter einer kulturellen Gemeinschaft gehabt hatte, in einen politischen Anspruch zur Schaffung eines neuen deutschen Reiches.1 * Vortrag in Halle, gehalten am 1 0 . 4. 1 9 5 6 . Der Vortrag wurde später in Belgien wiederholt und die dort vorgetragene Fassung unter dem Titel „La naissance d'un État allemand au moyen âge", in: Le Moyen Âge, 4 e série 1 3 / 1 9 5 8 , S. 2 1 3 - 2 4 8 , abgedruckt. 1

Vielleicht am deutlichsten kommt dieses Übergangsstadium vom kulturellen zum politischen Bewußtsein in einem Fragment Schillers zum Ausdruck: „Darf der Deutsche in diesem Augen-

4

Stamm, Staat, Imperium

Für die neue Auffassung von der mittelalterlichen deutschen Geschichte ist vor allem die Romantik richtunggebend geworden, denn sie insbesondere hat die Macht der Tradition als historische Potenz in Rechnung gestellt. 2 Gerade in Deutschland selbst hat die romantische Geschichtsschreibung sich durchgesetzt. Deutlich spüren wir ihre Einwirkung etwa auf den Freiherrn vom Stein, der die Vorbilder für die Neuordnung aus der mittelalterlichen Geschichte zu nehmen suchte und eben hierdurch dazu geführt wurde, die Erforschung dieser Geschichte in bedeutsamer Weise zu fördern. 3 Auch hat sie zur Wiederbelebung des Kaisergedankens geführt, welcher dann in der Revolution von 1848 für weite Kreise der in der Paulskirche Versammelten zum Symbol eines neuen deutschen Staates wurde. Aber die historische Belastung durch die Kaiseridee hat sich hier bereits gezeigt, da die Männer der Paulskirche ihretwegen in größte Schwierigkeiten gegenüber der habsburgischen Monarchie kamen. Man hat bekanntlich sogar den Niederlanden einen Platz in dem deutschen Parlament einräumen wollen/1 Auch nach dem Scheitern der revolutionären Bewegung von 1848 stand die historische Tradition des deutschen Mittelalters weiterhin im Brennpunkt nicht nur der wissenschaftlichen Auseinandersetzung; um sie geht es - mit bewußter Gegenwartsbeziehung auf das Verhältnis Österreichs bzw. Preußens zur deutschen Frage - in dem berühmten Streit zwischen Julius Ficker und Heinrich von Sybel. 5 D i e großdeutsche Auffassung Fickers verlor mit der Niederlage Österreichs 1866 ihre Grundlage; jedoch übernahm das Reich von 1871 mit der Kaiserwürde auch die Tradition der romantischen Geschichtsschreiber. Man behauptete nun, bereits in der fränkischen Zeit hätten ein deutscher Staat und ein deutsches Volk existiert, und man sah in dem neugegründeten Reich den Endpunkt einer historischen Entwicklung, welche in der germanischen Frühzeit ihren Anfang nahm. Das Imperium galt als die Repräsentanz des deutschen Volkes und der deutschen Größe - eine Vorstellung, welche mit dem Aufstieg des Reiches von 1871 zur Weltmacht reale Bedeutung bekam. W i r finden sie bei Dietrich Schäfer, der in seiner blicke, wo er ruhmlos aus seinem tränenvollen Kriege geht, wo zwei übermütige Völker ihren Fuß auf seinen Nacken setzen und der Sieger sein Geschick bestimmt - darf er sich fühlen . . .? Ja, er darf's! E r geht unglücklich aus dem Kampfe, aber das, was seinen Wert ausmacht, hat er nicht verloren. Deutsches Reich und deutsche Nation sind zweierlei Dinge. Die Majestät des Deutschen ruht nie auf dem Haupte seiner Fürsten. Abgesondert von dem Politischen, hat der Deutsche sich seinen eigenen Wert gegründet, und wenn auch das Imperium unterginge, so bliebe die deutsche Würde unangefochten." Schiller, F., Deutsche Größe, hrsg. v. Stephan,

B.,

Weimar 1902 (Schriften der Goethegesellschaft). 2

Fueter,

E., Geschichte der Neueren Historiographie, 2. Aufl., München und Berlin 1925,

S. 415 ff. 3

Vgl. Ritter, G., Stein. Eine politische Biographie, Bd. 2 : Der Vorkämpfer nationaler Freiheit

4

Algemene geschiedenis der Nederlanden, Bd. 1 0 : Liberaal getij ( 1 8 4 0 - 1 8 8 5 ) , Utrecht 1955,

und Einheit, Stuttgart/Berlin 1931, S. 327. S. 29. Eine sehr eingehende Untersuchung zu diesem Problem bietet Boogman, ]. C., Nederland en de Duitse Bond ( 1 8 1 5 - 1 8 5 1 ) , 2 Bde., Groningen 1 9 5 5 ; vgl. Bd. 2, S. 263 ff. 5

Vgl. hierzu die Neuausgabe von Schneider,

Fr., Universalstaat oder Nationalstaat. Macht und

Ende des Ersten deutschen Reiches. Die Streitschriften von Sybel, H. v., und Ficker, ]., zur deutschen Kaiserpolitik des Mittelalters, Innsbruck 1 9 4 1 ; dazu das Urteil Fueters über Giesebrecht: Fueter, E„ a. a. O., S. 489 f.

5

Die Anfänge eines „deutschen Staates"

„ D e u t s c h e n G e s c h i c h t e " d i e P e r i o d e von der U r z e i t bis 9 1 1 b e z e i c h n e n d e r w e i s e „ D i e E n t s t e h u n g eines deutschen S t a a t s w e s e n s " ü b e r s c h r i e b ; ein solches w a r für ihn also bereits 9 1 1 v o r h a n d e n . D i e E p o c h e v o n 9 1 1 bis 9 5 4 bezeichnete er als „ W i e d e r a u f richtung des deutschen R e i c h e s " . 6 H i e r tritt der Anspruch des deutschen K a i s e r r e i c h e s , als f ü h r e n d e M a c h t in E u r o p a eine R o l l e zu spielen, deutlich h e r v o r . W i r möchten es uns versagen, die furchtbaren F o l g e n dieser L e h r e v o n dem deutschen

Weltherrschafts-

anspruch, gegründet auf die K a i s e r i d e e des M i t t e l a l t e r s , im w e i t e r e n a u s z u m a l e n ; w i r h a b e n sie a l l e e r l e b t und erlitten. G e w i ß :

in d e r letzten A u f l a g e v o n

Gebhardts

H a n d b u c h der deutschen G e s c h i c h t e h e i ß t d e r A b s c h n i t t , w e l c h e r die Z e i t bis 9 1 1 b e h a n d e l t , „ D e u t s c h l a n d im fränkischen R e i c h " . W a s folgt, steht unter d e m T i t e l „ B e gründung und A u f s t i e g des deutschen R e i c h e s " ; j e d o c h w i r d in den einzelnen K a p i t e l überschriften dann nur m e h r der B e g r i f f „ R e i c h " gebraucht. 7 U m so m e h r überrascht es, d a ß d i e g e n a n n t e F r a g e im A n s c h l u ß an G i e s e b r e c h t und S c h ä f e r jüngst erneut b e h a n d e l t w u r d e , und z w a r durch den G ö t t i n g e r R e c h t s h i s t o r i k e r K a r l G e o r g H u g e l m a n n . 8 Z w a r gibt dieser zu, d a ß G i e s e b r e c h t ein w e n i g zu u n b e f a n gen von einem „deutschen M i t t e l a l t e r " und v o n „ m i t t e l a l t e r l i c h e n deutschen K a i s e r n " sprach, denn dies w ä r e zumindest verfassungsrechtlich ungenau. A b e r nach einer Ü b e r sicht über die verschiedenen M e i n u n g e n betreffs d e r E n t s t e h u n g eines deutschen S t a a t e s k o m m t er zu der A u f f a s s u n g , d a ß das deutsche R e i c h 9 1 9 uns als ein b e w u ß t e r N a t i o n a l s t a a t entgegentritt, dessen konstituierende K r ä f t e nicht nur das p e r s o n a l e K ö n i g t u m , sondern ebenso die deutsche V o l k s g e m e i n s c h a f t b i l d e n . 9 H i e r z u b e d u r f t e es freilich einer völligen U m p r ä g u n g der B e g r i f f e „ N a t i o n a l s t a a t " und

„Nationalbewußtsein",

w e l c h e der A u t o r in langen juristischen A u s f ü h r u n g e n v o r z u n e h m e n versucht' 0 und d i e ihn zu solchen K o n s t r u k t i o n e n w i e der eines „ ü b e r g r e i f e n d e n N a t i o n a l s t a a t e s " v e r f ü h r t . E r leugnet z w a r nicht, d a ß die bisherige D e f i n i t i o n des N a t i o n a l s t a a t e s auf das M i t t e l a l t e r nicht a n z u w e n d e n i s t ; eben d a r u m a b e r h a t er seine wesentlich a b g e ä n d e r t . F ü r ihn erscheint als t r a g e n d e G r u n d l a g e des mittelalterlicheil R e i c h e s die ethnische G e meinschaft, das sogenannte „ B l u t e r b e " . G e r a d e d e s w e g e n erscheint es dringend geboten, die G r u n d l a g e n seiner Ansichten zu ü b e r p r ü f e n , denn es ist k e i n e F r a g e , d a ß der hinter ihnen h e r v o r l e u c h t e n d e Anspruch, das heutige deutsche V o l k sei der p o l i tische E r b e des mittelalterlichen Reiches, wenig geeignet ist, zum A u f b a u eines deutschen S t a a t e s i n n e r h a l b d e r G e m e i n s c h a f t der europäischen V ö l k e r zu führen. ö

Schäfer, D., Deutsche Geschichte, Bd. 1: Mittelalter, Jena 1910, Inhaltsübersicht.

' Gebhardt, B., Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. 1: Frühzeit und Mittelalter, hrsg. v. Grundmann, H„ 8. Aufl., Stuttgart 1954, S. 78 und 160 ff. 8 Hugelmann, K. G., Nationalstaat und Nationalitätenrecht im deutschen Mittelalter, Bd. 1: Stämme, Nation und Nationalstaat im deutschen Mittelalter, Stuttgart 1955. (Gedruckt mit Unterstützung der deutschen Forschungsgemeinschaft). 9 Ebenda, S. 412. 10

2

Ebenda, S. 248 ff.

Sproemberg

6

Stamm, Staat, Imperium

Der Begriff „deutsch" Zunächst sei auf den jetzigen Stand der Forschung über den Begriff „deutsch" hingewiesen. Die Germanistik ist in jüngster Zeit zu völlig umwälzenden Vorstellungen über seine Entstehung und Entwicklung gekommen. An dieser Stelle soll auf die Ausführungen des Bonner Keltologen Leo Weisgerber eingegangen werden, welcher, in enger Verbindung mit der Bonner historischen Schule von Steinbach stehend, die neuen Thesen scharf formuliert hat.11 Wenn selbige auch nicht unbestritten geblieben sind und man sie unserer Ansicht nach auch noch breiter fundieren könnte, dürften sie doch den neuen Weg zu einer besseren Erkenntnis aufzeigen. Grundsätzlich bemerkt Weisgerber, daß, sprachlich gesehen, unter allen Völkernamen Europas das Wort „deutsch" eine Sonderstellung einnehme; in gewissem Sinne könne man es als den jüngsten unter ihnen bezeichnen. Vor dem 9. Jh. könne von „deutsch" im Sinne eines Volksnamens überhaupt nicht gesprochen werden, und als Beweis für die Existenz einer deutschen „Nation" oder eines entsprechenden „Nationalbewußtseins" sei es nicht verwendbar. 12 Für die Zeit von 700 bis 900 unterscheidet Weisgerber drei Stufen der Entwicklung des Wortes „deutsch", wobei er betont, daß die Kreise, welche Träger dieser Entwicklung waren, von Stufe zu Stufe gewechselt haben. Nach seiner Ansicht erscheint das Wort „theudisk" während des 8. Jh. in Westfranken als Ausdruck der Grenzspannungen. Zu Beginn des 9. Jh. begegnet, wie er weiter ausführt, „theodiscus" als Bezeichnung für die erkannte sprachliche Gemeinschaft; erst um 900 aber wird „diutisk" auf einen größeren, volklichen Verband bezogen. Beachtenswert ist nun, wie Weisgerber diese Wortentwicklung in Zusammenhang mit den historischen Vorgängen gebracht hat. In der Epoche des Aufstiegs der Karolinger, zu einer Zeit also, da die nichtromanisierten Franken zwar nicht, wie oft behauptet wird, das fränkische Reich zurückgermanisierten, wohl aber es zu beherrschen suchten, taucht unser Begriff auf. Unter Karl dem Großen tritt uns seine zweite Stufe entgegen: der Gelehrtenkreis am Hofe schafft jetzt zur Bezeichnung der fränkisch-germanischen Gemeinschaft einen literarischen Ausdruck, eben das Wort „theodiscus". Von Anfängen eines deutschen Volksbewußtseins könne jedoch erst nach 900 gesprochen werden, wobei zu betonen sei, daß dieses Volksbewußtsein erst sehr viel später von weiteren Volksschichten rezipiert worden ist. Man wird auf Grund der Ausführungen Weisgerbers darauf zu achten haben, in welchen sozialen Schichten der Begriff „deutsch" entstand und angewendet worden ist, denn erst nach Prüfung dessen kann man feststellen, wie weit er in die Tiefe gewirkt hat. Jedenfalls wird offenbar, mit welchen Vorbehalten allein schon sein sprachlicher Aspekt für die Zeit bis zum 13. Jh. betrachtet werden muß. Weisgerber hat zu diesem Problem eine Art Stammtafel aufgestellt, welche zeigt, daß es erst etwa um 1200 zur Bildung eines einheitlichen Begriffes „deutsch" gekommen ist.13

Weisgerber, L.,

Deutsch als Volksname. Ursprung und Bedeutung, Stuttgart 1 9 5 3 . Es ist dies

eine Sammlung von Aufsätzen zu dieser Frage. 12

Ebenda, S. 98 f.

13

Ebenda, S. 2 9 1 .

7

D i e A n f ä n g e eines „deutschen Staates"

D i e deutschen Stämme Wir kommen zu dem zweiten Problem; zur Bedeutung der Stämme für die Entstehung eines deutschen Reiches. Hierüber entstand in letzter Zeit eine sehr umfassende Literatur, und die wichtigsten Aufsätze, in denen sich teilweise entgegengesetzte Ansichten gegenüberstehen, wurden jüngst in einer Sammelpublikation erneut herausgegeben.1'1 Wir möchten uns zunächst wieder mit der sprachlichen Seite der Frage beschäftigen. Hugelmann hat, wie erwähnt, für das Reich wie für die Stämme die ethnische Grundlage als entscheidend bezeichnet, was ganz der Auffassung, welche bis zum Ende des nationalsozialistischen Regimes 1945 maßgebend war, entsprach. Nun aber ergibt die Untersuchung der Mundarten der einzelnen Stämme und die Entstehung der Dialektgrenzen ein völlig anderes Bild. Wir möchten hier nur auf die grundlegenden Untersuchungen von Franz Steinbach hinweisen. 10 Im Gegensatz zu der früheren statischen Auffassung, welche Hugelmann wieder einführen möchte, zeigt sich eine starke Dynamik der Entwicklung. Die Mundarten haben sich keineswegs innerhalb einzelner Volksgruppen seit der Urzeit her geradlinig entwickelt - im Gegenteil: die Dialektgrenzen sind hin- und hergeschoben worden, so daß keinesfalls aus den heutigen Verhältnissen zwingende Rückschlüsse auf die Vergangenheit möglich sind. Wir sehen im frühen und hohen Mittelalter hier eine stete Bewegung, ein Vor- und Zurückfluten; Uberlagerung, Siedlung und Eroberung haben bestimmende Einflüsse in sprachlicher Beziehung geübt. So verschwindet bei eindringender Forschung das Bild einer Kontinuität und Konstanz in bezug auf die sprachlichen Besonderheiten der Stämme. Unter diesem Gesichtspunkt wird man zu einer Umdeutung der Vorgänge bei dem ersten Auftreten größerer Verbände während der Völkerwanderung und erst recht bei dem Erscheinen von Stämmen im 9. Jh. kommen müssen. Die Linguistik hat gezeigt, daß man es hierbei in sprachlicher Beziehung mit Vermischungen und Wanderbewegungen zu tun hat, die die verschiedenen Elemente widerspiegeln, welche an ihrer Bildung teilhatten. In erster Linie gilt dies für die Stellung des Fränkischen als der Sprache des herrschenden Volkes bis in die Karolingerzeit; bei ihm zeigen sich Umbildungs- und Ausbreitungstendenzen, die bereits weit von der sogenannten ethnischen Basis wegführen. In den letzten Arbeiten von Aubin und Petri wird denn auch herausgearbeitet, In einer „ W e g e der Forschung" bezeichneten Reihe sind ausgewählte A u f s ä t z e aus den Jahren 1 9 2 8 bis 1 9 5 4 wieder abgedruckt worden. Bd. I : D i e Entstehung des Deutschen (Deutschland um 9 0 0 ) , m. einem V o r w o r t v. Kämpf, Mittelalter, hrsg. v. Kämpf,

H.,

H.;

Reiches

Bd. II: Herrschaft und Staat im

beide Darmstadt 1 9 5 6 . Vgl. a u ß e r d e m : V o r t r ä g e und For-

schungen, hrsg. v. Institut f ü r geschichtliche Landesforschung des Bodenseegebietes in stanz, geleitet v o n Mayer,

Tb.,

Bd. II: Das Problem der Freiheit

Kon-

in der deutschen

und

schweizerischen Geschichte, Mainauvorträge 1 9 5 3 , Lindau und Konstanz 1 9 5 5 , Bd. III:

Das

Königtum. Seine geistigen und rechtlichen Grundlagen, M a i n a u v o r t r ä g e

und

1954,

Lindau

Konstanz 1 9 5 6 . 15

Vgl. Steinbach,

F., Deutsche Sprache und deutsche Geschichte, i n : R h V j b l l . 1 7 / 1 9 5 2 , S. 3 3 2 ff.,

als letzte Zusammenfassung. D i e neuesten germanistischen A r b e i t e n gefaßt bei Frings, hrsg. v. Frings, 2 *

Th,,

Tb.,

finden

sich zusammen-

Sprache und Geschichte, 3 Bde., Halle 1 9 5 6 (Mitteldeutsche Studien,

und Bischof},

K.).

8

Stamm, Staat, Imperium

d a ß die Franken keineswegs allein als ethnische Gruppe, sondern vornehmlich als ein politischer Zusammenschluß zu betrachten sind."® Interessanterweise ist ähnliches auch bei den Sachsen der Fall ; dazu kommt, d a ß zwischen diesen und den Franken bereits Ubergangszonen festzustellen sind und Einbruchsstellen des fränkischen in den sächsischen Raum nachgewiesen werden können. Steinbach führt die Entstehung der Mundartengrenze zwischen Mittel- und Niederdeutsch auf das Vordringen einer frühfränkischen Kulturbewegung zurück. Von Bedeutung ist, d a ß er dabei „reichsfränkisch" in bewußten Gegensatz zu „stammesfränkisch" stellt; bei erstgenanntem Begriff sei „nicht an uralte sprachliche Stammesgegensätze der Franken gegenüber ihren südlichen und nördlichen Nachbarn (zu) denken . . ., sondern an Eigenschaften, die von den Franken in ihrer weltgeschichtlichen Begegnung mit Gallo-Romanen, Antike und Christentum erworben worden sind." 1 ' An diesem Beispiel zeigt sich die zwingende Bedeutung der politischen Formung und deren verschiedene Wirkung unter wechselnden Verhältnissen. Steinbach analysiert in seiner Darstellung die Situation, die in der Karolingerzeit bei den westgermanischen Stämmen entstand. E r zieht dabei die berühmte These Henri Pirennes aus „Mahomet et Charlemagne" an und setzt sie in Beziehung zu dem tiefgreifenden Kulturwandel im Frankenreich. D i e Eroberungen Karls des Großen konnten, im Gegensatz zu denen der Merowingerzeit, nicht mehr in den fränkischen Sprachbereich eingegliedert werden ; vielmehr erfolgt jetzt im Westen wie im Osten eine Festlegung der Sprachgrenzen. Steinbach zieht hieraus den Schluß: „Die Epoche der großen kulturräumlichen Umlagerungen war abgeschlossen, das Zeitalter der abendländischen Konsolidierung, der Herausbildung von Völkern und Stämmen hatte begonnen." 18 In diesem Zusammenhang kommt der Bonner Historiker zu einer grundlegend neuen Definition des Stammesbegriffs : „Wir sagten Stämme und wollen nicht versäumen, darauf hinzuweisen, d a ß diese Stämme nach unserer Auffassung Neubildungen im westdeutschen Räume sind, bei denen vielerlei Altes und Neues verschmolzen worden ist. Ihre Bezeichnung als historische Landschaften wäre weniger mißverständlich." 19 Hier sind mit großer Kühnheit die Konsequenzen aus den Ergebnissen der Sprach- und Siedlungsforschung gezogen; Steinbachs Formel bedeutet einen völligen Bruch mit dem bisherigen Stammesbegriff. Wir können ihr entnehmen, d a ß die Stämme keine konstanten Größen gewesen sind - ein Faktor, der besonders hinsichtlich der Frage ihrer politischen Bedeutung bei der Entstehung des ostfränkischen Reiches zu beachten sein wird. Hugelmann hat die G e f a h r einer derartigen Theorie für seine Thesen vollständig erkannt; er verweist ll

' Aubin,

H.,

Ursprung und ältester Begriff v o n W e s t f a l e n , in: D e r R a u m W e s t f a l e n , B d .

Untersuchungen zu seiner Geschichte und Kultur, 1. T e i l , M ü n s t e r / W e s t f a l e n 1 9 5 5 , S. Petri,

2:

lff.;

F., Stamm und Land im frühmittelalterlichen N o r d w e s t e n nach neuerer historischer For-

schung, in: W e s t f ä l i s c h e Forschungen 8 / 1 9 5 5 ; ders., R e z e n s i o n z u : Verlinden,

Ch., Les origines

d e la frontière linguistique en B e l g i q u e et la colonisation franque (Brüssel 1 9 5 5 ) , in: 1 8 2 / 1 9 5 6 , S. 9 6 ff. V g l . ferner den grundlegenden A u f s a t z v o n Mayer,

Tb.,

u n d der Staat d e s frühen Mittelalters, in: D a s Problem der F r e i h e i t . . ., a. a. O . , S. 7 ff. 17

Steinbach,

18

E b e n d a , S. 3 3 8 .

19

Ebenda.

F., a. a. O . , S. 3 3 5 .

HZ.

D i e Königsfreien

9

Die Anfänge eines „deutschen Staates"

gegen sie auf f r ü h e r e eigene Ausführungen, sowie auf d i e Schützenhilfe, w e l c h e er auf dem 1 9 3 6 , also zur Z e i t des N a t i o n a l s o z i a l i s m u s , a b g e h a l t e n e n

llechtshistorikerkon-

greß b e k a m . H i e r h a t t e sich W . M e r k gegen Steinbach g e w a n d t und gesagt, m a n d ü r f e „das G e w i c h t der beharrlichen, w e n i g e r an d e r O b e r f l ä c h e des V o l k s l e b e n s l i e g e n d e n K r ä f t e nicht unterschätzen, die nicht z ä h l b a r und m e ß b a r sind und doch, um W o r t e des K o l l e g e n H u g e l m a n n zu w i e d e r h o l e n , letzte G e h e i m n i s s e völkischen L e b e n s

darstel-

l e n . " 2 0 S o ä u ß e r t e m a n sich 1 9 3 6 . A b e r auch jetzt e r k l ä r t H u g e l m a n n : „In der V o l k - und in der S t a m m w e r d u n g w a l t e n g e h e i m n i s v o l l e K r ä f t e , die nicht restlos r a t i o n a l e r Z e r gliederung zugänglich s i n d . " 2 1 I n einer interessanten Untersuchung hat sich E . Z ö l l n e r jüngst m i t der S t e l l u n g der V ö l k e r im F r a n k e n r e i c h beschäftigt. E r steht den E r g e b n i s s e n Steinbachs etwas skeptisch gegenüber. Sich hauptsächlich auf d i e Z e u g n i s s e der schriftlichen Q u e l l e n stützend, vertritt er die Ansicht, d a ß n a t i o n a l e G e g e n s ä t z e im M i t t e l a l t e r in w e i t

stärkerem

M a ß e v o r h a n d e n gewesen seien, als m a n bisher a n n a h m . A l s er freilich in diesem Z u s a m m e n h a n g auf H u g e l m a n n zu sprechen k o m m t , macht er die A n m e r k u n g , d a ß d i e s e r d i e D i n g e im S i n n e der nationalsozialistischen A u f f a s s u n g darstellt. 2 2 N a c h Z ö l l n e r s Ansicht w i r d der V o l k s b e g r i i i b e s t i m m t durch römische, christliche u n d g e r m a n i s c h e E l e m e n t e . E r hat d e m n a c h einen sehr k o m p l e x e n C h a r a k t e r und ist nicht allein durch die W i r k u n g des ethnischen F a k t o r s d e t e r m i n i e r t .

D i e S t ä m m e im ostfränkischen Reich M . L i n t z e l hat die E n t s t e h u n g des ostfränkischen Reiches m i t der R e i c h s g r ü n d u n g v o n 1 8 7 1 v e r g l i c h e n ; jedoch diese A u f f a s s u n g

ist w e i t g e h e n d a b g e l e h n t worden. 2 ' 1

Steinbach hingegen b e m e r k t zu unserem P r o b l e m : „ D i e , S t a m m e s s t a a t e n ' sind T e r r i t o r i a l h e r z o g t ü m e r , die sich im L a u f e der w e i t e r e n

E n t w i c k l u n g in d i e eigentlichen

T e r r i t o r i e n auflösten." 2 ' 1 E r greift d a m i t , in O p p o s i t i o n zu L i n t z e l stehend, noch w e i t über die A u f f a s s u n g e n G . T e l l e n b a c h s hinaus, der die M e i n u n g v e r t r e t e n h a t t e : „ D e r H e r z o g e r w i r b t kein Herzogtum,'sondern er schafft es erst durch s e i n e M a c h t und A u t o r i tät. D a s S t a m m e s h e r z o g t u m ist nicht durch den zersplitterten W i l l e n des führerlosen S t a m m e s , sondern den H e r r s c h e r w i l l e n des H e r z o g s e n t s t a n d e n . D e r H e r z o g selbst ist die politische O r g a n i s a t i o n des solange unorganisierten, führerlosen S t a m m e s . " 2 3 Hugelmann, K. G„ a. a. O., S. 220. Ebenda, S. 221. 22 Zöllner, £ . , Die politische Stellung der Völker im Frankenreich, Wien 1950, S. 55 und S. 31, Anm. 65 (Veröffentlichungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung, hrsg. v. Santif aller, L., Bd. 13). 2,1 Vgl. Tellenbach, G., Wann ist das deutsche Reich entstanden? in: [DA. 6/1943; Wiederabdruck in:] Die Entstehung des deutschen Reiches, a. a. O., S. 173. 2'> Steinbach, F., Studien zur westdeutschen Stammes- und Volksgeschichte, Jena 1926, S. 125 (Schriften des Instituts für Grenz- und Auslanddeutschtum an der Universität Marburg, Heft 5). 2,1 Tellenbach, G., Königtum und Stämme in der Werdezeit des Deutschen Reiches, Weimar 1939, S. 92 (Quellen und Studien zur Verfassungsgeschichte des Deutschen Reiches in Mittelalter und Neuzeit, hrsg. v. Härtung, F., u. a., Bd. VII, Heft 4). 20

21

10

Stamm, Staat, Imperium

Mit anderen Worten: hier liegt eine politische Formung von oben vor, und damit wird die bisher oft angenommene Möglichkeit einer politischen Initiative der Stämme bei der Bildung des ostfränkischen Reiches wesentlich eingeschränkt. Auch jene Gebilde selbst sind überdies nicht einheitlicher Natur. Die Grenzen ihrer Gebiete sind keineswegs bestimmt, und es ist bedenklich, wenn man aus dem einheitlichen Handeln eines Stammes zu weitgehend auf das Vorhandensein eines Stammesbewußtseins, dem eine ethnische Einheitlichkeit zugrundeliegt, schließen will. In diesem Punkt hat sich etwa Frings ohne Frage zu sehr von Lintzel und der älteren Auffassung beeinflussen lassen.2(> Das Problem besteht eben darin, inwieweit die Zusammenfassung der Stammesgebiete unter einer herrschenden Familie eine Rückwirkung auf die Ausbildung eines gewissen Stammesgefühls gehabt hat und ob sie nicht die politische Aktivierung der Stämme erst hervorrief. Es ist auch zu fragen, bis zu welchem Grade ein derartiges Gefühl überhaupt in die Bevölkerung gedrungen ist. Gewiß war ein Gemeinschaftsbewußtsein bei den Sachsen, Schwaben und Bayern vorhanden, aber hat es sich auf den ganzen Stamm erstreckt? Bei den Sachsen bereits erhebt sich das Problem der Thüringer, und die Friesen standen überhaupt außerhalb der stammesherzoglichen Organisation. Dies ist ein Zeichen dafür, daß die politische Formung nicht von unten gekommen ist - eine Auffassung, welche durch die sich Ende des 9. Jh. vollziehenden Vorgänge nur bestätigt wird. Teilenbach bemerkt hierzu: „Die Abstammung der Könige und Herzöge aus dem gleichen Kreise des karolingischen Reichsadels weckte die Vermutung eines wesenhaften Zusammenhanges von Königreichen und Herzogtümern." 27 Da also durch die fortschreitende Feudalisierung die Zentralgewalt beschränkt wurde und gleichzeitig sich als unfähig erwies, die gefährlichen Angriffe von außen durch Sarazenen, Normannen und Ungarn zurückzuschlagen, ergab sich eine Chance für die großen Feudalherren. Durch ihre Lehnsaufgebote waren diese in der Lage, nicht nur die Führung, sondern auch den Schutz zu übernehmen, kurz: eine eigene politische Gewalt aufzubauen. Dies erfolgte in verschiedener Form: im Westen durch die Lehnsfürsten oder aber durch Sonderkönige, wie in der Spanischen Mark, in Burgund und Italien; im Osten aber durch die Stammesherzöge. 28 W i e im Westen die Landschaft, so bot im Osten der Stamm den Rahmen für eine politische Neubildung. Aber diese ist stets nichts weiter als ein Abglanz des fränkischen Reichsgedankens. Die Herzöge konnten die stammesmäßigen Besonderheiten für sich ausnutzen; auch sie mußten aber - und hierin liegt eine Initiative - auf den Willen der von ihnen geleiteten Verbände Rücksicht nehmen. Jetzt machte sich geltend, daß die fränkische Basis zu schmal w a r ; es kam zu Spaltungen, deren Ergebnisse aber - und das ist ein wichtiger Einwand gegen die These vom Bestehen „nationaler Ideen" in jener Zeit - sprachliche und Völkergrenzen unbeachtet ließen. Wenn darauf hingewiesen wird, daß die Masse der Germanen im Osten, die der Romanen im Westen zusam20

Frings, Th„ a. a. O., Bd. 1, S. 55 ff.

27

Tellenbach,

28

So wichtig ein Vergleich mit den westeuropäischen Verhältnissen wäre, so kann hier doch nur

G., Königtum, a. a. O., S. 97.

ein allgemeiner Hinweis gegeben werden. Vgl. die grundlegenden Ausführungen von mann,

R.,

Holtz-

Französische Verfassungsgeschichte von der Mitte des neunten Jahrhunderts bis

zur Revolution, München und Berlin 1 9 1 0 , S. 64 ff.

11

Die Anfänge eines „deutschen Staates"

mengeschlossen wurde, so ist dem vor allem entgegenzuhalten, daß der herrschende Frankenstamm der Teilung verfiel. Jedoch ist es eine Tatsache, daß die fränkische Kulturgemeinschaft zwischen Seinebecken, Scheideraum und Maasgebiet trotz der nun einsetzenden Sprachenscheidung andauerte. In bezug auf die innere Struktur blieben die Verhältnisse aus der Zeit des fränkischen Reiches im wesentlichen bestehen. Um ihre politischen Aufgaben erfüllen zu können, waren die Herzöge, ebenso wie vor ihnen der fränkische König, angewiesen auf den Adel, die Kirche und die noch in beträchtlicher Zahl vorhandenen Freien. 2 " Aber es ist ihnen niemals gelungen, zu Landesherren zu werden, wie den Feudalfürsten im Westen. Damit war es ihnen auch nicht möglich, die Kirche zur Landeskirche umzuformen und den Adel zum reinen Lehensaufgebot zu degradieren.

D i e Kriege des ostfränkischen Reiches ( 9 1 1 - 9 1 9 ) Unter diesem Gesichtspunkt muß man zu der Frage Stellung nehmen, warum es in Ostfranken nicht zur Ausbildung von Teilreichen gekommen ist, wie sie sich im Westen zeigten (Burgund, Spanische Mark). Laut Teilenbach wäre im Jahre 911, also beim Regierungsantritt'Konrads I., die Gefahr eines Auseinanderfallens des Reiches nicht groß, im Jahre 919 dagegen sehr drohend gewesen. Als Grund wird angeführt, die Macht der Stammesherzöge sei inzwischen so weit angewachsen, daß sie zur Not für sich allein oder aber nur in loser Verbindung mit dem Königtum existieren konnten. Die Lage von 911 könne in vielem mit dem anarchischen Zustand Italiens in jener Zeit verglichen werden, während 919 das Königtum von einem ähnlichen Schicksal bedroht worden sei wie das in Adelsherrschaften zerrissene Frankreich. 30 Aber diese Auffassung berücksichtigt in keiner Weise die soziale Struktur in den verschiedenen Ländern, aus der heraus es erst verständlich wird, warum die Stammesherzöge nicht in der Lage waren, Sonderreiche zu bilden. Teilenbach bietet keine überzeugenden Gründe dafür, daß die Krisis 911-919 nicht zum Zerfall des Reiches führte. Er behauptet: Gerade die „stolze Familientradition (der Herzöge, H. S.) mußte sie . . . an das karolingische Reich mehr binden als die kleinen Leute. Während diese in landschaftlicher Gebundenheit und Enge, Traulichkeit und naher Bedrängnis lebten, trieb die Großen ihr Wesen in die Weite und Herrlichkeit des Reiches, in dem sich das Weltgeschehen düster und großartig vollzog." 31 Man fragt sich aber hierbei, warum dieselben Reichsaristokraten in Italien, Burgund und der Spanischen Mark nicht zögerten, Sonderkönigtümer zu schaffen, während die militärisch weit mächtigeren Stammesherzöge vor einem solchen entscheidenden Schritt zurückschreckten. Die Antwort kann nur lauten, daß letztere auf bestimmte Kräfte Rücksicht nehmen mußten, die nicht bereit waren, den Reichsgedanken aufzugeben, das heißt sich den Herzögen endgültig unterzuordnen. Im Westen waren die großen Feudalherren bereits so weit, daß sie das Königtum nur noch 29

30 31

Vgl. über die bedeutsame Rolle der Königsfreien Mayer, S. 55 f. Tellenbach,

G„ Königtum, a. a. O., S. 99.

Ebenda, S. 98.

Th.,

Die Königsfreien, a. a. O.,

12

Stamm, Staat, Imperium

als eine f o r m a l e A u t o r i t ä t betrachteten, von w e l c h e r sie die L e g a l i s i e r u n g ihrer U s u r pationen erreichen k o n n t e n . I m O s t e n dagegen w a r die F e u d a l i s i e r u n g noch nicht so f o r t g e s c h r i t t e n ; die K i r c h e , der A d e l u n d , d i e F r e i e n stemmten sich der v o r d r i n g e n d e n H e r z o g s g e w a l t entgegen. I n diesen K r e i s e n w a r ein Interesse am R e i c h noch v o r h a n d e n , und so erhob sich die entscheidende F r a g e , ob sie für den W i e d e r a u f b a u einer Z e n t r a l g e w a l t n u t 2 b a r gemacht w e r d e n konnten. K o n r a d I . ist dies bekanntlich nicht gelungen, w e i l er nur die K i r c h e als P a r t n e r h a b e n w o l l t e ; sein M i ß e r f o l g m a c h t e deutlich, d a ß eine s o l i d e r e M a c h t b a s i s n o t w e n d i g w a r . D i e s e a b e r k o n n t e nur eine der herzoglichen G e w a l t e n bieten. E s w a r dringend erforderlich, d a ß das K ö n i g t u m d i e M a c h t b e s a ß , F r i e d e n zu w a h r e n , Schutz zu bieten und die M a c h t der übrigen H e r z ö g e zu beschränk e n ; erst dann k o n n t e d i e neue B a s i s gewonnen w e r d e n , auf der es w e i t e r a u f b a u e n k o n n t e . D a s ist die Situation, in der sich die K ö n i g s w a h l v o n 9 1 9 abspielte, und es ist sehr bezeichnend, d a ß d i e H e r z ö g e e b e n nicht die G e l e g e n h e i t benutzt h a b e n , das Reich zu z e r r e i ß e n , sondern d a ß sie sich b e m ü h t e n , es unter ihre H e r r s c h a f t zu b e k o m m e n . A l l e i n zwei Persönlichkeiten h a t t e n

jedoch Aussichten, auf G r u n d ihres

großen

E i g e n b e s i t z e s die M a c h t ü b e r es zu e r l a n g e n : H e i n r i c h von Sachsen und A r n u l f v o n B a y e r n . U n d b e i d e griffen auch nach der K r o n e ; der Sachsenherzog j e d o c h erwies sich a m E n d e nicht nur als der M ä c h t i g e r e , sondern v o n a l l e m als der f ä h i g e r e S t a a t s mann. D i e G r ü n d u n g des „ D e u t s c h e n R e i c h e s " und die W a h l von 9 1 9 D i e D i s k u s s i o n ü b e r die E n t s t e h u n g eines „deutschen R e i c h e s " h a t sich besonders auf d i e W a h l Heinrichs -I. konzentriert. D e r R e g i e r u n g s a n t r i t t des ersten Sachsenherrschers erscheint einer V i e l z a h l v o n H i s t o r i k e r n , w e n n auch nicht a l l e n , als das G r ü n d u n g s d a t u m desselben. H u g e l m a n n ist, w i e e r w ä h n t , sogar noch w e i t e r g e g a n g e n und d a t i e r t e auf ihn den A n f a n g eines deutschen N a t i o n a l s t a a t e s . 3 2 D i e bisherigen E r ö r t e rungen drehten sich in der H a u p t s a c h e um d i e F r a g e der D e s i g n a t i o n Heinrichs durch K o n r a d I., w o b e i diesem R e c h t s t i t e l sehr v e r s c h i e d e n e B e d e u t u n g zugemessen w u r d e . W i e der W a h l a k t aufzufassen ist, ist ebenso s t r i t t i g . 0 G e h t m a n a b e r v o n der neuen A u f f a s s u n g der S t ä m m e und der sogenannten S t a m m e s h e r z o g t ü m e r aus, so stößt man auf a n d e r e P r o b l e m e . Z u n ä c h s t ist unbestritten, d a ß nicht die S t ä m m e , sondern die H e r z ö g e 9 1 9 die entscheidenden F a k t o r e n bei der B e s e t z u n g des K ö n i g t h r o n s gewesen sind. G e w i ß w a r e n letztere nicht in der L a g e , o h n e die b e s t i m m e n d e n K r ä f t e in ihren G e b i e t e n vorzugehen, a b e r die I n i t i a t i v e hat doch w e i t g e h e n d bei ihnen allein gelegen. E s d a r f auch b e m e r k t w e r d e n , d a ß im w e i t e r e n V e r l a u f unserer G e s c h i c h t e die H e r z ö g e n i e m a l s w i e d e r eine d e r a r t i g e R o l l e bei d e r K ö n i g s w a h l gespielt haben. 3 ' 1 D i e s e S i t u a 32

33

3''

Vgl. ders., Wann ist?, a . a . O . , S. 2 1 2 ; Hugelmann, K. G., a . a . O . , vor allem am Schluß, S. 505 ff. Schlesinger, W-, Die Anfänge der deutschen Königswahl, in: [ZRG. GA. 66/1948; Wiederabdruck in:] Die Entstehung des deutschen Reiches, a . a . O . , S. 336 [jetzt auch in: ders., Beiträge zur deutschen Verfassungsgeschichte des Mittelalters. Bd. 1: Germanen, Franken, Deutsche, Göttingen 1963, S. 156], mit Literatur in Anm. 84. Tellenbach,

G., Königtum, a. a. O., S. 107.

Die Anfänge eines „deutschen Staates"

13

tion entsprach durchaus der eigenartigen Struktur ihrer Gewalt und zeigt, wie wenig es auf die Stämme selbst ankam. Viel behandelt ist die Haltung Eberhards, des Bruders Konrads I., welcher 919 in Fritzlar die Franken zur Anerkennung Heinrichs als König veranlaßt hat. 3 j Man hat jene genannte Designation enthusiastisch als wesentliche Leistung Konrads I. für Deutschland gefeiert, und man hat auch Eberhard Lob gespendet, weil dieser auf die Krone verzichtet habe. Bei näherem Hinsehen aber erweist sich dessen „deutsche Mission" als ein ausgezeichnetes Mittel zur Sicherung seiner herzoglichen Stellung in Franken, und was die „deutsche Gesinnung" Eberhards anbetrifft, sostehtesmitihrauchnicht gerade zum besten - hat sich später doch gerade er des öfteren gegen den König empört.31' Neuerdings hat K . Reindel unser Problem von einer ganz anderen Seite her angefaßt: er untersuchte die Haltung Arnulfs von Bayern, des Gegenspielers Heinrichs I. 3 ' Dabei traten sicher die bayerischen Belange etwas zu stark in den Vordergrund. Es ist gleichsam ein Glaubenssatz gewisser bayerischen Kreise, daß ihr Gebiet schon seit alten Zeiten eine Sonderstellung gehabt hatte. So ist denn das Bild, das Reindel von der politischen Stellung Bayerns in der karolingischen Zeit entwirft, ganz sicher übertrieben. Aus seinen eigenen Ausführungen gewinnt man nämlich den Eindruck, daß die herzogliche Gewalt in Bayern eigentlich ziemlich spät erschien, nämlich frühestens 907 mit dem Auftreten Arnulfs, dessen Vater nur als Markgraf begegnet. D e r von Reindel ausführlich dargestellte Lebensweg Arnulfs zeigt, daß erhebliche Widerstände gegen die Aufrichtung einer königsgleichen bayerischen Herzogsgewalt vorhanden waren. Bei der Wahl Konrads I. hat Arnulf keine Rolle gespielt; es ist nicht einmal bezeugt, daß er an ihr teilnahm. Jedenfalls aber hat er den neuen König sofort anerkannt. 38 D i e Versuche Konrads, die herzoglichen Gewalten zurückzudrängen, haben auch mit Arnulf zu Konflikten geführt. 914 mußte dieser zu den Ungarn fliehen, und Konrad setzte seinen Bruder Eberhard als Herzog über Bayern - ein Zeichen, daß die herzogliche Gewalt noch nicht allzu fest konsolidiert war. 917 kehrte Arnulf zurück und verjagte Eberhard, woraufhin Konrad 918 gegen ihn zu Felde zog und nach einer Nachricht, welche Reindel für sicher hält, dabei eine Wunde empfing, an der er starb. 30 Beim Tode Konrads war Arnulf, welcher gerade während der letzten Regierungsjahre des Königs dessen gefährlichster Gegner gewesen war, damit wieder im Besitz seines Herzogtums. Nach diesen Darlegungen untersucht Reindel die auf den T o d Konrads folgenden Ereignisse. Seiner Ansicht nach hatte die Designation Heinrichs nur geringe Bedeutung; er weist sogar auf W. Möhrs neue These hin, welche besagt, daß durch die Fritzlarer Wahl überhaupt nur ein fränkisch-sächsisches Königtum geschaffen worden sei/' 0 D a ß 3ü

Vgl. Holtzmann,

30

Ebenda, S. 118 ff.

' Reindel,

3

K.,

R., Geschichte der sächsischen Kaiserzeit, 3. Aufl., Berlin (1955), S. 67 f.

Herzog Arnulf und das Regnum Bavariae, in: [ZbayrLG. 1 7 / 1 9 5 4 ; Wiederab-

druck in:] Die Entstehung des deutschen Reiches, a. a. O., S. 213 ff. 38

Ebenda, S. 253.

33

Ebenda, S. 259 f.

/l0

Mohr,

W., König Heinrich I. ( 9 1 9 - 9 3 6 ) . Eine kritische Studie zur Geschichtsschreibung der

letzten hundert Jahre. Saarlouis 1950, S. 11 ff. Vgl. Reindel,

K„ a. a. O., S. 262.

14

Stamm, Staat, Imperium

nach Mohr verschiedene Möglichkeiten zur Lösung der Königsfrage bestanden, zeigt doch, wie weit man sich heute von der Auffassung, im Jahre 919 sei ein deutsches Reich gegründet worden, entfernt hat. Reindel stellt dann schließlich die Frage, warum Konrad und nach ihm Eberhard sich für den Anschluß an Sachsen entschieden hätten. E r beantwortet sie damit, daß die Franken in Heinrich einen Bundesgenossen gegen jemand anderen suchten - mit anderen Worten: daß sie vor einer Bedrohung von Seiten Arnulfs Furcht empfanden/' 1 Sie boten Heinrich also die Königskrone, um einer eventuellen Gefahr zu entgehen/' 2

Regnum Teutonicorum Wir kommen nun zu einem entscheidenden Punkt; zu jener viel umkämpften Stelle der von E . K l e b e l neuentdeckten Großen Salzburger Annalen: „Ba-jsarii sponte se reddiderunt Arnolfo duci et regnare eum fecerunt in regno Teutonicorum"/'3 Sie ist nicht nur wichtig als Beweis für die ansonsten nur unzulänglich bezeugte Königserhebung Arnulfs, sondern viel mehr noch wegen Vorkommens von „regnum Teutonicorum". Hier hätten wir also ein altes Zeugnis für ein „deutsches Reich", welches Hugelmann denn auch sofort zum Eckstein seiner Beweisführung hinsichtlich eines frühen Entstehens des deutschen Nationalbewußtseins machte/''1 Aber es steht ganz isoliert, und wenn man auch jetzt ohne allzuviele Vorbehalte akzeptierte, daß Arnulf in der Tat zum deutschen König gewählt worden ist, so hat zu dem anderen Punkt schon H. Mitteis bemerkt: „Es ist dies das erste und auf längere Zeit auch das letzte Mal, daß der Ausdruck ,Deutsches Reich' in einer Quelle gebraucht wird.'"10 Mit der Überlieferung der Annalen sieht es bekanntlich sehr schlecht aus. Sie sind allein in einer Abschrift des 12. Jh. erhalten, welche sich als Schreibübung zu erkennen gibt; Fehler sind ziemlich häufig. Außerordentlich bedauerlich ist dazu, daß das Wort „Teutonicorum" auf Rasur steht. Reindel folgert aus all dem, daß davor zu warnen sei, dem Beleg allzu großes Gewicht beizumessen. Nach seiner Ansicht habe Arnulf keinesfalls ein „deutsches Königtum" angestrebt; er vermutet dagegen, daß hier ein bayerisches Sonderkönigtum ins Auge gefaßt worden sei. In seinen letzten Arbeiten allerdings möchte er nicht mehr von einem solchen, sondern eher von einem karolingischen Teilkönigtum sprechen/'5 Wir möchten zunächst folgendes aus seinen Ausführungen entnehmen: Arnulf hat die Krone ergriffen, jedoch vermutlich nicht 920, wie die Annalen behaupten, sondern 919. Dies führt zur Klärung der Situation, selbst wenn wir es dahingestellt sein lassen, ob der Entschluß des Herzogs und seiner Bayern eine Folge der Wahl Heinrichs in Fritzlar 41 42 43

44 4o

40

Ebenda, S. 263. Ebenda, S. 264. Ebenda, S. 266.

Hugelmann, K. G„ a. a. O., S. 273 und 412. Mitteis, H., Der Staat des hohen Mittelalters. Grundlinien einer vergleichenden Verfassungsgeschichte des Lehnszeitalters, 5. Aufl., Weimar 1955, S. 112. Reindel, K., a . a . O . , S. 269 ff. Kall, H., Der Königsplan des Bayernherzogs Arnulf. Eine Berichtigung, in: ZbayrLG. 20/1957, S. 152.

15

D i e Anfänge eines „deutschen S t a a t e s "

war oder aber ob er früher als diese oder gleichzeitig mit ihr erfolgte. Jedenfalls muß man in Rechnung stellen, daß Arnulf, wenigstens zunächst, entschlossen war, einem anderen die K r o n e nicht zu gönnen. E s kann hier nützlich sein, auf einen ungefähr gleichzeitigen Parallelfall hinzuweisen, der bisher noch nicht herangezogen worden ist. Im J a h r e 9 2 0 nämlich begegnet uns in Lothringen eine ganz ähnliche Situation: der dortige Herzog Giselbert empörte sich gegen den westfränkischen König K a r l I I I . und nahm seinerseits die K r o n e an. D i e s e Tatsache ist durch zahlreiche zeitgenössische Quellen verbürgt, aber auch sie bezeugen nicht eindeutig, ob Giselbert sich zum König von Lothringen oder von Westfranken hat wählen lassen. Flodoard etwa bemerkt zu 9 2 0 nur: „quem

Lothartenses

principem,

reiicto

Karolo

d a ß bei ihm der Begriff „princeps"

rege, delegerant",'"

(Gislebertum)

plurimi

wobei man wissen muß,

in der Bedeutung „ K ö n i g " durchaus üblich ist.

Sicher ist hier allein nur der „rex"-Begriff;

er steht ohne jeden qualifizierenden Zusatz

- ebenso wie im Falle Arnulfs von Bayern. D i e Duplizität der Ereignisse ist hier höchst merkwürdig.

Heinrichs Stellung zur K ö n i g s w a h l Nachdem wir Eberhards und Arnulfs Verhalten bei der Königserhebung von 9 1 9 untersucht haben, macht es sich notwendig, das glaiche auch in bezug auf Heinrich zu tun. Leider stößt man hierbei immer noch hin und wieder auf die alte Legende, d a ß diesen die Mitteilung von seiner W a h l beim Vogelfang überrascht habe/' 8 Bei Betrachtung der Haltung des Sachsenherzogs gegenüber K o n r a d zeigt sich, d a ß es zwischen beiden zunächst zu zahlreichen kriegerischen Konflikten kam. Aber mit dem J a h r e 9 1 6 trat eine Wendung ein: Konrad richtete nun sein ganzes Augenmerk auf die Niederwerfung der Herzöge von Schwaben und Bayern und wurde dadurch in heftige K ä m p f e verstrickt. Über seine Beziehungen zu Heinrich in dieser seiner letzten Regierungsperiode erfahren wir nichts; aber die Forschung neigt zu der Annahme, d a ß es zwischen beiden zu einem Waffenstillstand, wenn nicht sogar zu einer wohlwollenden Neutralität Heinrichs gekommen ist. E s wäre nämlich kaum denkbar, daß K o n r a d bei seinen beschränkten Machtmitteln sich nach dem Süden hätte wenden können, ohne im Norden eine Rückendeckung zu haben. Man sieht also, daß Eberhard buchstäblich gezwungen war, sich zum Schutz gegen Arnulf von Bayern an Heinrich zu wenden. Möglicherweise waren auch dessen Beziehungen zur Familie der Konradiner zuletzt gar nicht so schlecht gewesen, wie man bisher annahm/' 9

/l7

Ich erlaube mir, hierzu auf meine Ausführungen: D i e lothringische Politik Ottos des G r o ß e n , i n : [RhVjbll. 1 1 / 1 9 4 1 ; Wiederabdruck i n : ]

Sproemberg, H.,

Beiträge zur belgisch-niederländi-

schen Geschichte, Berlin 1 9 5 9 , S. 131 mit Anm. 8 7 , zu verweisen. /|S

Holtzmann, R.,

Gesch. d. sächs. Kaiserzt., a. a. O . , S. 6 8 , hat sehr energisch gefordert,

diese Sage ohne realen Hintergrund endlich aus den historischen Darstellungen sollte. E b e n d a , S. 6 3 ; man wird dies aber positiver fassen müssen.

daß

verschwinden

16

Stamm, Staat, Imperium

E s kann mit Sicherheit gesagt werden, daß Heinrich die Entwicklung im Reich sehr aufmerksam verfolgt hat. E r war damals bereits ein politisch erfahrener Mann, der nicht gezögert haben dürfte, bei der Nachricht vom Tode Konrads die Folgen zu überdenken, welche dieses Ereignis für ihn eröffnete. Zwar hatte er die Angriffe des Königs abwehren können, aber dies war doch mit Nachteilen für ihn verbunden gewesen, besonders da er auch Einfälle der Ungarn zurückschlagen mußte. Jetzt eröffneten sich ihm mehrere Handlungsmöglichkeiten: er konnte für die Wahl Eberhards eintreten oder aber sich ganz abseits stellen, welch letzteres die Gefahr einer Spaltung des Reiches hervorgerufen hätte. Außerdem wäre er hierbei das Risiko eingegangen, daß der Bayernherzog, der ihm an Macht nicht nachstand, sich der Krone bemächtigte. Dies aber wäre für ihn recht bedenklich gewesen, denn in jener Situation, da Franken schwach war und da in Schwaben noch keine feste Herzogsgewalt existierte, hätte Arnulf ihn in ganz anderer Weise bedrängen können als es Konrad jemals zuvor möglich gewesen war. Ein anderer Faktor, der mir vielleicht der wichtigste zu sein scheint, sei hier hervorgehoben : verfolgte Heinrich nicht schon seit langem den Plan, das Königtum zu erringen, und zwar in seiner Vollgewalt? Diese Meinung würde zu der bisherigen Auffassung in vollständigem Gegensatz stehen. D a ß die Quellen über die Beweggründe des Sachsen schweigen, besagt nicht viel, denn sie sind überhaupt sehr dürftig. Sein ganzes weiteres Verhalten aber läßt unsere obige Frage gerechtfertigt erscheinen. E s sei nur darauf hingewiesen, wie er das Ungarnproblem und die lothringische Frage gelöst hat. Ich habe selbst an anderer Stelle gezeigt, daß er es in seiner bedächtigen und doch vorausschauenden Art verstand, geduldig zu warten, bis der Augenblick zum Eingreifen gekommen war. Im Unterschied zu den meisten Fürsten seiner Zeit hat er seine Aktionen diplomatisch und militärisch stets auf lange Sicht vorbereitet.'' 0 W i r sind folglich im Recht mit der Annahme, daß er von Anfang an sein Ziel, die Wiederaufrichtung des ostfränkischen Reiches in seinem gesamten Umfang und die Wiederherstellung einer staatlichen Zentralgewalt, niemals aus dem Auge verlor - und er hat es mit äußerster Geduld, Zähigkeit und Klugheit langsam, aber unwiderstehlich verwirklicht. Dabei gilt es zu beachten, daß er sich als Nachfolger der Karolinger fühlte und daher die Gewalt über Italien ebenfalls in Anspruch zu nehmen gedachte. Dies dürfte Holtzmann eindeutig nachgewiesen haben. ül Somit ist festzustellen, daß Heinrich nicht, wie so oft behauptet wurde, die Position eines deutschen Königs anstrebte, sondern er beanspruchte die Würde eines rex Vrancorum, vielleicht sogar die eines Imperator. Seine politische Konzeption war von der fränkischen Tradition beherrscht; von einem deutschen Reich ist hier keine Spur. Man wird daher zwischen seiner politischen Vorstellungswelt und der seines Sohnes Otto I. nicht jenen grundsätzlichen Unterschied konstruieren können, der in der Literatur oft begegnet. 52 Wenden wir uns noch einmal zurück. Ein Mann, welcher derart planmäßig und folgerichtig handelte, ist bestimmt in der entscheidenden Stunde seines Lebens nicht passiv geblieben - nämlich als die ostfränkische Krone zu vergeben war. Es ist sehr wohl möglich, daß Eberhard sie ihm angeboten hat; unstreitig aber war er in diesem 50

Vgl. Sproembcrg, Holtzmann,

32

H., Lothring. Politik, a. a. O., S. 134.

R., Gesch. d. sächs. Kaiscrücit, a. a. O., S. 104.

Ebenda, S. 110 ff.

17

Die Anfänge eines „deutschen Staates"

Augenblick schon bereit, sie zu übernehmen. Dementsprechend führte er sofort die ersten Verhandlungen mit dem Bruder Konrads, und seine staatsmännische Kunst zeigte sich darin, d a ß diese so verliefen, wie er es wollte. Er gedachte keineswegs ein fränkisch-sächsisches Königtum zu gründen, ja er wollte überhaupt nichts Neues schaffen, sondern das „Reich" erneuern. M a n kann daher den Satz Tellenbachs: „ W e d e r Deutsche noch Franzosen glaubten im allgemeinen, neue Staaten geschaffen zu haben. Sie selbst und ihre Reiche halten an den fränkischen Beziehungen fest," 0,1 mit besonderem Rechte auf ihn und seine Nachfolger anwenden. Somit glauben wir, in Erweiterung der Ausführungen von Reindel und gestützt auf die sprachwissenschaftlichen und sozialgeschichtlichen Forschungen, mit Entschiedenheit der Auffassung Hugelmanns von der Schaffung eines „deutschen Nationalstaates" im Jahre 919 widersprechen zu müssen. Das Reich der Ottonen und Salier als „deutsch" zu qualifizieren, ist ein Anachronismus, welcher den staatsrechtlichen Vorstellungen jener Zeit widerspricht. Zum anderen aber bedarf auch der Begriff „Staat" in dieser Beziehung noch einer kurzen Klärung.

I m p e r i u m u n d „deutscher S t a a t " Nachdem wir die These zurückgewiesen haben, das mittelalterliche Reich w ä r e ein Nationalstaat gewesen, bleibt noch die schwierigere Frage zu klären, ob und inwieweit in ihm ein „deutscher Staat" vorhanden war. Auch hierbei w i r d man von vornherein auf die Bedenken bei der Anwendung des Begriffes „deutsch" hinzuweisen haben/''1 G e w i ß : die von Heinrich I. geplante und von Otto I. durchgeführte Vereinigung der Begriffe „imperator" und „rex" kann nicht übersehen w e r d e n ; jedoch verdient die Bedeutung dieses Phänomens eine neue Untersuchung. M a n hat den entscheidenden Wert gern auf die Frage gelegt, ob jene Synthese ein Glück oder ein Unglück für das deutsche Volk gewesen ist, und auch darauf, ob sie vermeidbar w a r . Uns aber erscheint es zweckmäßig, ihren Zeitpunkt und ihre Form auf Grund der neuen Forschungen über die Bedeutung des Imperiums zu untersuchen. Nach den zahlreichen Einzeluntersuchungen über die politischen Auffassungen Karls des Großen um 800 dürfte es keinem Zweifel mehr unterliegen, d a ß dieser bereits vor der Übernahme der Kaiserwürde von der Notwendigkeit überzeugt war, einen neuen und umfassenderen Rechtstitel als den des „rex Frartcorum" zu schaffen.'" Die Ausweitung seines Herrschaftsgebietes durch die Angliederung des Langobardenreiches und die Einbeziehung vieler weiterer Völker in das regnum Francorum mußte einen solchen um so mehr fordern, als es sich hierbei meist nicht um eine einfache Unterwerfung, Tellenbach,

G., Von der Tradition des fränkischen Reiches in der deutschen und französischen Tb., Leipzig 1 9 4 3 , S. 1 8 2 . Vgl. oben S. 6.

Geschichte des hohen Mittelalters, in: Der Vertrag von Verdun 843, hrsg. v. Mayer,

OJ

Der Kürze halber möchte ich auf meine Rezension des Buches von Erdmann,

C., Forschungen

zur politischen Ideenwelt des Frühmittelalters (Berlin 1 9 5 1 ) , in: D L Z . 74/1953, Sp. 672 ff., verweisen. Doch ist die Diskussion weitergeführt worden.

18

Stamm, Staat, Imperium

sondern in der Hauptsache um eine Eingliederung ohne Aufgabe der Besonderheiten jener Völker handelte. Es war folglich nötig und wurde von Karl ins Auge gefaßt, dem rex Francorum eine überhöhte Bedeutung zu geben, das heißt ein Großkönigtum zu schaffen, dem alle Völker und auch die Franken untergeordnet waren. Hierfür aber war der Titel „rex" gänzlich unangemessen, da er, ungeachtet der Bedeutung des regnurn Francorum, für eine derart hohe Stellung nicht zureichte. Sicher wollte Karl immer „rex Francorum" bleiben, aber der Ausdruck „Franci" ließ sich nun einmal nicht auf alle eingegliederten Völker ausdehnen. Jenes Großkönigtum, von dem wir sprachen, war, als Karl der imperator-Titel angeboten wurde, zwar noch nicht staatsrechtlich, wohl aber politisch eine Realität. Es war an sich undenkbar, daß das spätantike Kaisertum im Westen einfach wieder aufgerichtet werden könnte, selbst nicht in byzantinischer Form, da hier inzwischen eine grundlegende Änderung der sozialen und politischen Struktur eingetreten war. Der Feudalismus ließ sich nicht in das spätantike Schema pressen. So ist denn die Kaiserwürde Karls des Großen, obgleich sie spätantikes Erbe war, durchaus unterschieden von der überlieferten Form: der germanischfränkische Gedanke des Großkönigtums tritt hinzu. Diese Kaiserwürde enthält einen Anspruch auf Hegemonie und Suprematie nicht nur über das fränkische und das langobardische Königtum, sondern seiner Rechtsnatur nach über alle christlichen Königreiche.''' Noch unter Karl dem Großen selbst macht sich jene Verschmelzung zweier Auffassungen in der Kaiserwürde dahingehend geltend, daß diese weder das Teilungsprinzip im fränkischen Reich aufhob noch die Königstitel zum Verschwinden brachte. Die antike Kaiserwürde war die einzige Spitze des Reiches gewesen; hier wurde keinerlei Untergliederung geduldet. Dies war im mittelalterlichen Imperium nicht möglich, denn ihm fehlte ein zentralisiertes Beamtentum. Auf Grund dessen kam es hier niemals zu einem zentralisierten Imperium; die Versuche Karls des Großen, ein solches zu schaffen, sind sofort gescheitert. Die Folge war, daß sich in letzter Konsequenz Imperator und rex Francorum wieder trennten; auch das Teilungsprinzip blieb, wie bereits bemerkt, aufrechterhalten. Der Titel „rex Francorum" hatte dabei eine realere Bedeutung als der „imperator"-Titei: er war es, den Heinrich I. beanspruchte und auch erhielt. Folgenreich wurde nun, daß Otto I. diesen „rex" unauflöslich mit dem „imperator" verband. Das Teilungsprinzip war nun verschwunden, und der Herrscher des ostfränkischen Reiches besaß in der Folge einen Rechtsanspruch auf die Kaiserwürde, wodurch praktisch jetzt der „rex" hinter dem „imperator" verschwand. " Wenn man von dieser Seite an den imperialen Gedanken des Mittelalters herantritt, ergibt sich also, daß von vornherein auch für den rex, eben durch seine Verbindung mit dem imperator, der großkönigliche Charkter rechtlich feststeht. Damit aber haben wir ein entscheidendes Hindernis, das es verbietet, diesen rex als deutschen König zu bezeichnen. Er nämlich ist ein Herrscher vieler Völker, auch bevor er imperator ist. 56

V g l . den grundlegenden A u f s a t z v o n alterlichen

Kaisertums

Holtzmann, R.,

und die S o u v e r ä n i t ä t

D e r W e l t h e r r s c h a f t s g e d a n k e des mittel-

der europäischen

Staaten,

in:

HZ,

159/1939,

S. 2 5 1 ff. 57

Tellenbach, G.,

D i e U n t e i l b a r k e i t des Reiches, i n : [HZ. 1 6 3 / 1 9 4 1 ; leicht überarbeitet i n : ] D i e

Entstehung des deutschen Reiches, a. a. O., S. 1 1 0 ff.

D i e A n f ä n g e eines „deutschen Staates"

19

Selbst Mitteis gibt zu, d a ß nach der Zeit Ottos I. das nationale Imperium vom universalen überlagert w u r d e und dahinter fast verschwand. 5 8 Damit zeigt sich, d a ß das regnum Heinrichs I. und seiner Nachfolger bereits ein Imperium oder richtiger ein Großkönigtum darstellte; seine Ausbreitungspolitik vollzog sich unter diesem Aspekt. Aber man wird hier nicht w i e Mitteis von einem „nationalen Imperium" sprechen dürfen, weil es noch keine deutsche Nation gab. Es genügt festzustellen, d a ß der Titel „rex" eine besondere Bedeutung hat, wobei zu konstatieren ist, d a ß ihm niemals das Wort „deutsch" zugesetzt w u r d e - wenigstens nicht in offiziellen Dokumenten. Schon unter den Saliern gab es den Titel „rex Romanorum", durch welchen der supranationale Charakter jener W ü r d e betont wurde.' )IJ Aus all dem folgt, d a ß die Ausweitung des Begriffes „rex" bereits in einer Zeit vor sich ging, in der es noch keine deutsche Nation gab. Die Verschmelzung des rex mit dem Imperator geschah so frühzeitig, d a ß sie eine nationale Begrenzung des Königsterminus verhinderte. Im Westen dagegen w u r d e der Titel „rex Francorum" durch den Bezug auf ein vorwiegend romanisches Gebiet und zugleich durch das Fehlen jeder Verbindung zur imperialen W ü r d e in Grenzen gehalten; unter solchen Voraussetzungen konnten der Titel und vor allem das Amt einen nationalen Charakter annehmen, so d a ß schließlich aus dem rex Francorum- ein rex Franciae wurde. Im Osten lagen die Verhältnisse völlig anders: hier blieb die G e w a l t des rex Francorum so weit ausgedehnt, d a ß sie keinen nationalen Charakter annehmen konnte. G e w i ß hat das sich bildende Reich die Möglichkeit dafür geboten, d a ß sich in ihm eine deutsche Nation entwickelte; gleichzeitig aber hat es auch für andere Nationen den Rahmen abgeben können. Daher wird es verständlich, weshalb im Mittelalter ein deutscher Staat sich nicht bilden konnte. Es ist keine Frage, d a ß man heute eine wesentlich andere Auffassung von dem mittelalterlichen Imperium hat als diejenige, welche unter dem Eindruck der überstarken nationalstaatlichen Entwicklung des 19. Jh. herrschte. Die Möglichkeit "und Realität eines mehrere Völker umfassenden Reiches w i r d jetzt ganz anders beurteilt. Dies zeigte sich auf dem Internationalen Historikerkongreß in Rom, wo W . Holtzmann in seinem großen Vortrag „Imperium und Nationen" erklärte: „Unverkennbar ging die ältere Diskussion von einem politischen Weltbild aus, das in dem modernen Nationalstaat des 19. Jh. das Ziel der historischen Entwicklung erblickte. Nach den Erlebnissen und Ergebnissen des letzten Weltkrieges ist es jedoch zweifelhaft geworden, ob dies der göttlichen Weisheit letzter Schluß ist, und so erhält die Geschichtswissenschaft wiederum aus Antrieben, die sich ihr von außen her aufdrängen, die Aufforderung, das Problem neu zu überdenken"." 0 Er kam hier zu der These, d a ß das Imperium dem werdenden Nationalstaat die Möglichkeit zur Verteidigung einer weltlich-irdischen Staatsgewalt gegeben habe. 01 Holtzmanns Auffassungen sind heftig

58

Mitteis, H., a. a. O., S. 1 2 1 .

59

Ebenda, S. 1 2 2 mit A n m . 1 über den Titel des deutschen Königs.

60

Relazioni del X. Congresso Internazionale di scienze storiche, Bd. 3 : M e d i o evo, Florenz 1 9 5 5 , S. 2 7 5 .

01

Ebenda, S. 3 0 3 .

20

Stamm, Staat, Imperium

diskutiert w o r d e n ; insbesondere wurde bestritten, d a ß das Kaisertum die von ihm geschilderte Rolle gespielt habe. Indessen machte W . Ohnsorge im Verlauf der Diskussion darauf aufmerksam, daß man das sogenannte fränkische Kaisertum als ein überhöhtes Königtum bezeichnen könne. 62 F. Kempf bemerkte, d a ß die Ostpolitik nicht mit der imperialen Frage zusammenhing; der Unterschied zwischen dem universalen Kaisertum und dem deutschen Königtum war seiner Meinung nach gegeben durch die Stellung gegenüber der Kirche. 63 Solche Ausführungen zeigen einen grundlegenden Meinungswandel in der Frage des mittelalterlichen Reiches. Wir beobachten hier das Aufgreifen einer Äußerung von Ficker, der darauf hinwies, d a ß schon im Mittelalter ein Weltreich existiert habe und etliche allgemeine Züge desselben noch zu seiner Zeit bestanden. 6 '' Mit besonderer Schärfe wies Ficker die These von der gemeinsamen ethnischen Basis zurück; hierzu schrieb er: „Bei Nationen, welche eine lange Geschichte hinter sich haben . . ., ist die Einheit des Blutes ganz verwischt; selbst bei der deutschen kann nur in sehr beschränktem M a ß e davon die Rede sein, wollten wir uns auch, von früheren Mischungen absehend, nur an die Tatsache der Germanisierung so vieler Millionen Slawen halten." 65 U n d wir möchten noch folgendes aus seinem berühmten Aufsatz zitieren: „Die Nationen . . . erscheinen in der Geschichte als etwas Werdendes, nicht als etwas Fertiges; ihre Entwicklung folgt ebensosehr den staatlichen Verhältnissen, als sie dieselben andererseits bestimmen kann." 06 So hat denn auch W . Holtzmann in der Diskussion in Rom bemerkt: „Man muß sich hüten, etwa im 10. Jh. von Nationen zu reden, wenn es sich um Stämme oder allenfalls Völker mit einem noch gar nicht oder erst sehr schwach ausgebildeten und quellenmäßig noch gar nicht faßbaren Selbstbewußtsein handelt."'" Unter Berücksichtigung dieser neuen Vorstellungen vom Imperium muß man also den Schluß ziehen, d a ß unser mittelalterliches Reich ein lebensfähiges politisches Gebilde gewesen ist. Indem es auch als regnurn einen universalen Charakter trug, ist es kein „deutscher" Staat gewesen.

Das Nationalbewußtsein Wir wollen nunmehr noch die Begriffe „Nationalgefühl" und „Nationalbewußtsein" einer kritischen Prüfung unterziehen. Wir haben bereits darauf hingewiesen, wie unbefriedigend die Definition Hugelmanns ist, wie wenig sie den wirklichen Verhältnissen Rechnung zu tragen vermag. 62

63 6/1

65 66 07

Atti del X. Congresso Internazionale di scienze storiche (Roma, 4—11 settembre 1955), a cura della Giunta Centrale per gli Studi Storici, Rom 1957, S. 335. Ebenda, S. 336. Ficker, ]., D a s Deutsche Kaiserreich in seinen universalen und nationalen Beziehungen, in: Universalstaat oder Nationalstaat, a. a. O. (siehe oben Anm. 5), S. 39. Ebenda, S. 42. Ebenda. Atti, a. a. O., S. 337.

21

Die Anfänge eines „deutschen Staates" Von

den v i e l e n A r b e i t e n , die das P r o b l e m des N a t i o n a l b e w u ß t s e i n s

und

seine

E n t s t e h u n g zum I n h a l t h a b e n , möchten wir namentlich eine zu R a t e ziehen, w e l c h e j e n e F r a g e n von einer besonders originellen S e i t e b e t r a c h t e t : den A u f s a t z von J . H u i z i n g a : „ W a c h s t u m und F o r m e n des nationalen B e w u ß t s e i n s in E u r o p a bis zum E n d e des 1 9 . J a h r h u n d e r t s " . 6 8 B e z ü g l i c h der frühen E p o c h e n definierte d i e s e r jenes B e w u ß t s e i n : „ E s sind die primitiven G e f ü h l e der A b n e i g u n g zwischen S t ä m m e n u n d V ö l k e r n , w i e m a n sie ü b e r a l l scheinbar unvermeidlich w i e d e r f i n d e t " . D i e s ä n d e r e sich erst i m V e r l a u f des 1 2 . J h . A b e r auch dann b l e i b e „ d e r G e g e n s a t z zwischen den romanischen und germanischen Kontrast

Völkern...,

auf der primitiven

was

Basis

er eigentlich

immer gewesen:

der Sprachverschiedenheit

und

ein

kultureller

des

ethnischen

U n t e r s c h i e d s . " 0 9 E r s t nach 1 3 0 0 m ö c h t e H u i z i n g a von d e m B e g i n n eines N a t i o n a l i s m u s sprechen. 7 0 In D e u t s c h l a n d a b e r hat sich, w i e er schreibt, die Z e n t r a l g e w a l t

damals

nicht fähig gezeigt, d i e w i r k s a m e T r i e b f e d e r zu e i n e m a l l g e m e i n e n deutschen V o l k s u n d S t a a t s b e w u ß t s e i n mit politischer K r a f t zu w e r d e n . E s h e i ß t bei ihm über j e n e Z e i t : „ E i n a l l g e m e i n e s , lebendiges deutsches V o l k s b e w u ß t s e i n b l i e b durchaus b e s t e hen, doch es v e r t e i l t e sich in G e s t a l t v o n A n h ä n g l i c h k e i t an S t a m m , L a n d s c h a f t o d e r S t a d t o d e r als rein dynastisches G e f ü h l über d i e zahllosen E i n z e l t e r r i t o r i e n , in d i e das H e i l i g e R ö m i s c h e R e i c h sich allmählich aufzulösen d r o h t e . D a m i t v e r l o r er seinen a k t i v e n politischen C h a r a k t e r und b l i e b auf d e m instinktiven N i v e a u des einfachen H e i m a t g e f ü h l s " . ' 1 Auch für d i e Z e i t d e r R e n a i s s a n c e gelte noch w e i t g e h e n d d a s s e l b e . Z w a r e n t w i c k e l t e sich jetzt

ein stärkeres N a t i o n a l g e f ü h l , a b e r der neue

deutsche

P a t r i o t i s m u s und N a t i o n a l i s m u s b l i e b eine A n g e l e g e n h e i t der Schriftsteller u n d D i c h t e r . ' 2 M a n k a n n , w i e w i r g l a u b e n , nicht k l a r e r ausdrücken, d a ß das N a t i o n a l g e f ü h l , w e n n es z u m N a t i o n a l b e w u ß t s e i n w i r d , politisch b e s t i m m t i s t ; es e r w e i s t sich als eine F o l g e der politischen

Entwicklung.

N o c h deutlicher k o m m t

dies in d e m

Aufsatz

H u i z i n g a s ü b e r d i e E n t s t e h u n g des N a t i o n a l b e w u ß t s e i n s in d e n N i e d e r l a n d e n

zum

A u s d r u c k . ' 3 E s h e i ß t d a r i n : „ A l s E l e m e n t e j e n e r politischen V o r s t e l l u n g , w e l c h e w i r zur N o t Patriotismus, a b e r noch nicht N a t i o n a l b e w u ß t s e i n und noch w e n i g e r S t a a t s b e w u ß t s e i n nennen k ö n n e n , g l a u b t e n w i r in erster L i n i e ein primitives G e m e i n s c h a f t s gefühl stark e m o t i o n e l l e r A r t zu

finden,

dann ein B e w u ß t s e i n d e r Parteipflicht u n d

endlich d a s j e n i g e der T r e u e gegen den B r o t h e r r n " . H i e r h a b e n w i r eine s o r g f ä l t i g e A b s t u f u n g für den E n t w i c k l u n g s g a n g des Begriffes „ N a t i o n a l b e w u ß t s e i n " , w o b e i H u i -

08

09 ,0

71 72 73

74

3

Huizinga, ]., Wachstum und Formen des nationalen Bewußtseins in Huropa bis zum Ende des XIX. Jh., in: ders., Im Banne der Geschichte. Betrachtungen und Gestaltungen, Nijmegen 1942, S. 131 ff. Ebenda, S. 147 und 149. So auch von der Heydte, F. A. Frbr., Die Geburtsstunden des souveränen Staates. Ein Beitrag zur Geschichte des Völkerrechts, der allgemeinen Staatslehre und des politischen Denkens, Regensburg 1952. Huizinga, ]., a. a. O., S. 151. Ebenda, S. 165. Huizinga, ]., Aus der Vorgeschichte des niederländischen Nationalbewußtseins, ebenda, S. 213 ff. Ebenda, S. 231. Sproemberg

22

Stamm, Staat, Imperium

zinga nicht vergißt hinzuzufügen, d a ß die Phasen dieses Entwicklungsganges bei dem deutschen Volke wesentlich anders sind als bei dessen Nachbarvölkern. D a s Wesentliche ist hier nicht ein ursprüngliches Gemeinschaftsgefühl, resultierend aus einem blutmäßigen Zusammenhang; wir können im Gegenteil Zwischenstadien verfolgen, welche erst spät zu der Entstehung eines Nationalbewußtseins führen. Wir dürfen auch hinzufügen: weil dieses Nationalbewußtsein von den politischen Verhältnissen abhängt, ist es nichts Endgültiges; es kann durchaus einem anderen oder größeren Begriffe weichen. Prüft man nun die Argumente, welche Hugelmann zusammengetragen hat, um seine These von der frühen Existenz eines deutschen Nationalbewußtseins zu stützen, so ist die Sprache, wie wir sahen, in dieser Hinsicht kein beweiskräftiger Faktor. Ebensowenig kann man, wie schon Ficker hervorgehoben hat, dem sogenannten Kontrasterlebnis, das aus der Begegnung mit anderen Völkern entspringt, hier große Bedeutung zumessen. Überdies erscheinen die von Hugelmann beigebrachten Belege, welche für Gefühle der Feindschaft und der Abneigung gegen anderssprachige Völker sprechen sollen, wenig überzeugend. Einzelne Bekundungen etwa gegenüber den Romanen besagen wenig, wenn man bedenkt, daß die romanisch-germanische Gemeinschaft schon bald nach der fränkischen Landnahme einsetzte und im ganzen Raum der Grenzzone bis auf den heutigen Tag andauert. Wenn man sich weiter vor Augen hält, daß alle politischen Bildungen des Mittelalters in dieser Grenzzone zweisprachig gewesen sind - was ein enges Zusammenwirken von Romanen und Germanen voraussetzt so muß man eingestehen, d a ß dies schwerer wiegt als verbale Äußerungen der Feindschaft. 7 5 Recht unpassend sind die Bemerkungen Hugelmanns in bezug auf die Slawen; behauptet er doch ohne weiteres, d a ß die physische Abneigung hier eine große Rolle gespielt habe. Die kleine Blütenlese verächtlicher Äußerungen von Deutschen über Slawen kann nicht als „Beweis" für ein bestehendes deutsches Nationalbewußtsein herhalten, wie Hugelmann uns glauben machen will. Zum anderen bietet sich hier dieselbe Situation wie im Westen d a r : ein sehr frühzeitiges Auftreten der Ehegemeinschaft zwischen den Deutschen und ihren Nachbarn. Im von der Ostkolonisation erfaßten Raum vollzog sich eine weitgehende Vermischung, welche, wie schon Ficker gesehen hat, zur Germanisierung einer außerordentlich hohen Zahl von Slawen führte. Folglich erscheint die genannte Art der Argumentation wenig glücklich.70 Es ist ganz allgemein darauf hinzuweisen, d a ß verächtliche Äußerungen bei allen Völkern festzustellen sind und nichts mit „Nation" zu tun haben, denn innerhalb der „Nation" gibt es ebenfalls Beschimpfungen unter Leuten gleicher Sprache und gleicher Herkunft. W . Holtzmann bemerkt sehr richtig: „Auch darf man nicht vergessen, d a ß es sich bei den früh- und hochmittelalterlichen Beziehungen der Völker untereinander um Machtkämpfe gehandelt hat, wie sie mit genau den gleichen Mitteln auch innerhalb dieser Völker zwischen Herrscher und Fürsten oder zwischen den herrschenden Schichten untereinander ausgetragen w u r d e n . " " 75 /C

77

Hugelmann, K. G., a. a. O., S. 298. Ebenda, S. 299 ff. Die Behauptung, daß von den Deutschen auch die Ehe mit Angehörigen slawischer Fürstengeschlechter abgelehnt wurde, muß er selbst S. 453 als unbegründet wieder zurücknehmen. Es handelt sich bei dem S. 300 angeführten Beispiel um einen Einzelfall. Atti, a. a. O., S. 337.

D i e Anfänge eines „deutschen Staates"

23

Nach Hugelmann liegt zwischen 1150 und 1250 die Periode des kräftigsten N a t i o nalbewußtseins. Dieses ist, wie er sagt, „ein G e f ü h l des Stolzes auf die von G o t t gegebene Art und zugleich des Dienstes an der demütigen E r f ü l l u n g höchster kirchlicheuropäischer A u f g a b e n " , das alle Deutschen beseelte. 7 8 E i n e derartige Äußerung erscheint uns als historisch unhaltbar. D a s staufische Kaisertum bedeutet keineswegs eine „nationale Steigerung", sondern genau das Gegenteil. Wie die Staufen selbst sich sehr rasch entnationalisierten, so wird gerade unter ihnen d a s Imperium supranational und bewußt nach römischem Muster geformt. Zu der gleichen Zeit aber haben auch die in diesen herrschenden Gesellschaftsschichten in besonderem M a ß e westliche K u l tur und Lebensform angenommen, w a s in der Ausbreitung des Rittertums und des von diesem propagierten Menschentypus nachdrücklich zum Ausdruck kommt. E i n e Persönlichkeit wie Friedrich II. als Repräsentanten des deutschen Nationalbewußtseins zu bezeichnen, ist fast p a r a d o x . U n d was Hugelmann unter einem staufischen universalistischen Patriotismus mit nationalem Einschlag 7 8 versteht, wird man schwer begreifen können. Kehren wir auf den B o d e n der Realität zurück. D a s Imperium entfernt sich unter den Staufen noch mehr als unter deren Vorgängern von einer deutschen Basis. Wenn es ihm nicht geglückt ist, ein tragfähiges Fundament für die Zentralgewalt zu schaffen - wodurch die Entstehung eines wirklich deutschen Reiches auf das Schwerste gefährdet wurde - , so lag dies nicht zuletzt an seinem Verhältnis zu jener neuen K l a s s e , die in jener Zeit zu beträchtlicher Bedeutung gelangte: dem Bürgertum.

D a s Bürgertum Nach 1250 war die Reichskirche als Stütze der Zentralgewalt nicht mehr zu verwenden, denn die geistlichen Fürsten hatten sich eng mit den inzwischen emporgestiegenen weltlichen Fürsten verbunden. D i e Zentralgewalt sah sich hier einer Einheitsfront gegenüber, die ihre Rechte beschränkte, ja zu vernichten drohte. Unfähig, in die sich bildenden Territorien noch wirksam einzugreifen, war sie von einer wirklichen Machtausübung weit entfernt. Denn sie hatte es versäumt, sich rechtzeitig mit den Kommunen in Verbindung zu setzen, welche als Unruheherde innerhalb der um sie her entstehenden Territorien erschienen: sie setzten dem Bestreben der werdenden Landesherren, geschlossene Herrschaftskomplexe zu bilden, wirksamen Widerstand entgegen. D i e s e sich selbstverwaltenden Bürgergemeinden besaßen gleichermaßen große finanzielle und militärische Machtmittel. Zu seinem eigenen Unglück hat das staufische Königtum in Italien lange Zeit mit ihnen gekämpft, diesseits der Alpen aber den Landesherren freie H a n d gegen sie gelassen. So f a n d die Zentralgewalt alten Stils ihr E n d e , d a sie weder in einer Hausmacht ein Gegengewicht gegen die Dezentralisationsbestrebungen der Fürsten fand noch durch eine Verbindung mit dem Bürgertum sich in den aufkommenden Territorien Stützpunkte verschaffte, wie d a s in Westeuropa geschah. 78 78

3

*

Hugelmann, K. G., a. a. O., S. 303. Ebenda, S. 328, Anm. 3.

Stamm, Staat, Imperium

24

F ü r die E n t w i c k l u n g eines deutschen G e m e i n s c h a f t s g e f ü h l s w a r e n die K o m m u n e n v o n g r o ß e r B e d e u t u n g . E s ist kein Z u f a l l , d a ß nach dem T o d e Friedrichs I I .

der

R h e i n i s c h e S t ä d t e b u n d versuchte, m a ß g e b e n d in die G e s c h i c k e des Reiches einzugreifen. D i e B ü r g e r s c h a f t e n h a b e n die d r i n g e n d e N o t w e n d i g k e i t e m p f u n d e n , über die G r e n z e n der T e r r i t o r i e n hinaus sich zu vereinigen. Sie sind es auch, die dem B i l d u n g s m o n o p o l der K i r c h e ein E n d e setzten und der V o l k s s p r a c h e E i n g a n g in die K a n z leien und in die L i t e r a t u r verschafften. In dieser Z e i t w i r d das B ü r g e r t u m zum T r ä ger eines deutschen G e s a m t b e w u ß t s e i n s . A m sichtbarsten w i r d dies in der H a n s e . In einer U r k u n d e von 1 3 5 8 bezeichneten sich deren M i t g l i e d e r zum ersten M a l als S t ä d t e v o n der deutschen H a n s e , w a s W . V o g e l mit R e c h t einen d e n k w ü r d i g e n V o r g a n g in der E n t w i c k l u n g unseres V o l k s t u m s zur E i n h e i t nennt. 8 0 W e n n m a n b e d e n k t , d a ß das W i r k u n g s g e b i e t der H a n s e v o n der Z u i d e r s e e bis zum B a l t i k u m und gleichzeitig tief in den binnenländischen R a u m hinein reichte, so w i r d m a n in d e r T a t zugeben k ö n nen, d a ß diese V e r e i n i g u n g einen entscheidenden B e i t r a g zur V e r b r e i t u n g eines deutschen V o l k s b e w u ß t s e i n s in g r ö ß e r e m M a ß s t a b leistete. F r a g t m a n jedoch nach der politischen A u s w i r k u n g ihrer T ä t i g k e i t , so m u ß m a n m i t V o g e l konstatieren, d a ß die H a n s e praktisch in gar k e i n e m V e r h ä l t n i s zum R e i c h gestanden hat. 8 1 H i e r zeigt sich, d a ß dieses R e i c h eben kein deutsches R e i c h w a r ; selbst ein d e r a r t i g energischer A u s druck eines deutschen G e m e i n s c h a f t s b e w u ß t s e i n s f a n d k e i n e Stütze an ihm. Seit d e m 15. J h . gab es w i e d e r h o l t e A n l ä u f e , um die R e i c h s g e w a l t zu f e s t i g e n ; a b e r sie führten zu k e i n e m d a u e r n d e n E r f o l g e , und so v e r l o r das R e i c h m e h r und m e h r die V e r b i n dung zu d e m w e r d e n d e n deutschen V o l k e . D a s K a i s e r t u m K a r l s V . h a t t e praktisch k e i n e B a s i s m e h r in deutschen L a n d e n ; es w a r eine i n t e r n a t i o n a l e und dynastische M a c h t , aus der sich schließlich ein H a b s b u r g e r r e i c h entwickelte, das ohne j e d e s V e r hältnis zu einem deutschen S t a a t e seine E x i s t e n z fristete. D i e Z e n t r a l g e w a l t gründete sich d a m i t jetzt auf eine H a u s m a c h t , deren S c h w e r p u n k t e größtenteils a u ß e r h a l b der deutschen G e b i e t e lagen - w i e k o n n t e dieses R e i c h d a h e r als ein R e i c h der D e u t s c h e n e m p f u n d e n w e r d e n ? S e l b s t literarische V e r s u c h e der H u m a n i s t e n , hier eine W e n d u n g zu erzielen, b l i e b e n o h n e t i e f e r e W i r k u n g . I m G e g e n t e i l : nach dem

unglücklichen

A u s g a n g des B a u e r n k r i e g e s und erst recht nach der K a t a s t r o p h e des D r e i ß i g j ä h r i g e n K r i e g e s hat der P a r t i k u l a r i s m u s das politische G e m e i n s c h a f t s g e f ü h l

der

Deutschen

v ö l l i g in den H i n t e r g r u n d gedrängt. 8 2 Auch F . M e i n e c k e schrieb, d a ß d e r W i l l e zur N a t i o n zuerst d i e F r a n z o s e n , erst im 1 9 . J h . a b e r die D e u t s c h e n und die I t a l i e n e r ergriffen h a b e . So sei es endlich zur N e u gestaltung g r o ß e r S t a a t s n a t i o n e n auf d e m K o n t i n e n t g e k o m m e n . 8 3 Seit der b e g i n n e n d e n N e u z e i t hat d i e m i t t e l a l t e r l i c h e R e i c h s i d e e j e d e innere B e z i e hung zur deutschen N a t i o n v e r l o r e n . S o k o n n t e sich, spät genug, im 18. J h . in enger V e r b i n d u n g mit d e m ökonomischen und kulturellen A u f s t i e g des B ü r g e r t u m s

und

schließlich unter E i n w i r k u n g der V o r g ä n g e in F r a n k r e i c h ein n a t i o n a l e s B e w u ß t s e i n 80

81 82 83

Vogel, W., Kurze Geschichte der Deutschen Hanse, München und Leipzig 1915, S. 41 (Pfingstblättcr des Hansischen GeschichtsVereins 11). Ebenda, S. 65. Vgl. oben S. 3 f. Meinecke, F., Weltbürgertum und Nationalstaat, 7. Aufl., München 1928, S. 6 fi.

25

Die Anfänge eines „deutschen Staates"

entwickeln, dem indessen noch eine konkrete Vorstellung vom Nationalstaat fehlte.8'1 Man wird daher überhaupt einmal die Frage stellen müssen, ob die Anwendung des Staatsbegriffes auf mittelalterliche Verhältnisse und insbesondere auf unser mittelalterliches Reich zulässig ist. Das Wort „Staat" ist, worauf P. E. Schramm auf dem römischen Kongreß nochmals nachdrücklich hinwies 83 , bekanntlich dem Mittelalter völlig fremd. Schramm meint allerdings, es habe damals einen Staat gegeben, fügt jedoch hinzu, daß dieser grundsätzlich verschieden gewesen sei von dem, was wir im neuzeitlichen Sinne unter „Staat" verstehen. Th. Mayer, der sich mit dem Begriff des „modernen Staates" sehr eingehend beschäftigt hat, kommt gleichfalls zu dem Schluß, daß man für das Mittelalter mit abgewandelten Begriffen arbeiten müsse; er weist besonders auf den von W . Schlesinger herausgestellten Terminus „Gefolgschaftsstaat" hin.86 Man erkennt somit, wie gefährlich es ist, wenn Flügelmann die Ausdrücke „Staat" oder gar „Nationalstaat" dazu benutzt, um mittelalterliche politische Strukturen zu kennzeichnen. Die verschiedenen I Iiifsbegriffe „Personenverbandsstaat", „Flächenstaat", „Anstaltsstaat", „Lehensstaat" zeigen, wie sehr der moderne Staatsbegriff zu den damaligen Verhältnissen im Widerspruch steht. Auch der Terminus „Feudalstaat" bietet keine befriedigende Lösung des hier anstehenden Problems, denn er verwischt die Unterschiede zwischen dem Imperium, den selbständigen Königreichen und den Territorien - ist er doch ohne weiteres auf alle diese Gebilde anwendbar. Für unser mittelalterliches Imperium ist der Staatsbegriff außerdem deshalb gänzlich unpassend, weil er den überstaatlichen Charakter dieses Phänomens nicht zum Ausdruck bringt. Gerade wenn man das Imperium und die von der Kurie beanspruchte Universalherrschaft nebeneinander betrachtet, wird deutlich, daß es sich bei beiden um Erscheinungen handelt, die durchaus anderer Natur sind als etwa die übrigen im Werden begriffenen Nationalstaaten Europas. Der Imperator als Haupt der Christenheit repräsentierte eine Gemeinschaft, welche sprachliche und nationale Grenzen überschritt. Mit der Wandlung in der Beurteilung des mittelalterlichen Kaisertums dürfte daher das Verständnis für die Realität einer auf Tradition und Kulturgemeinschaft aufgebauten europäischen Einheit möglich sein. „Manche bezweifeln, ob die Besinnung auf eine große, in Macht gelebte Geschichte einem Volke ziemt, dem beschieden ist, machtlos und zerrissen in fast sterneloser Nacht am Rande des Untergangs seinen Pfad zu suchen", schreibt Hugelmann und meint, daß eine solche Besinnung gerade heute unerläßlich ist. Wir können uns diesen seinen an der „glorreichen" Vergangenheit orientierten Anschauungen nicht anschließen. K. Thieme hat auf dem römischen Kongreß hierzu ausgeführt: „Es wurde wohl klar, wie gefährlich es war, daß die Könige einer bestimmten Nation zugleich diese internationale Sendung hatten, Beschützer der Kirche zu sein. Im und nach dem zweiten Weltkrieg hat sich aus der Erkenntnis dieser Gefahr der Versuch einer Revision auch der mittelalterlichen Geschichtsschreibung im deutschen Sprachgebiet ergeben. 8''

Vgl. oben S. 3. Atti, a. a. O., S. 3 3 8 ; vgl. auch Sestan, E., Stato e nazione neü'alto medioevo, Neapel 1952.

ss

Mayer,

Th., Die Königsfreien, a. a. O., S. 1 4 ff.; vgl. auch Mitteis,

H., a. a. O., S. 3.

26

Stamm, Staat, Imperium

E r sollte heute international unterstützt werden, weil er im engeren deutschen Bereich gefährdet ist." 8 7 U n d er fügte mahnend hinzu: „ D a s muß vor dem hiesigen Forum offen ausgesprochen werden, damit die internationale Wissenschaft wachsam der deutschen hilft, die schon gewonnenen Ansätze zu einem verfeinerten, wirklichkeitsgemäßeren B i l d des mittelalterlichen Reiches nicht wieder unter irgendeiner Parole - wie der vom ,christlichen A b e n d l a n d ' - ersticken zu lassen, was angesichts der wohltuenden skeptischen Nüchternheit der keineswegs illusionshungrigen heutigen akademischen Jugend in Deutschland besonders beklagenswert wäre." 8 8 Wir glauben gezeigt zu haben, daß unser mittelalterliches Reich nicht als deutscher Staat bezeichnet werden kann und daß es nicht gegründet war auf ein tiefgehendes deutsches Nationalbewußtsein. D a h e r ist es unsere Überzeugung, daß wir als Deutsche nicht das Recht haben, uns auf die Machtansprüche dieses Reiches noch zu berufen. E s war ein Reich vieler Völker, und seine E r b e n sind eine Reihe von Staaten und N a t i o nen geworden, ebenso wie dies schon bei dem römischen Imperium der F a l l war und danach bei dem K a r l s des Großen. D i e s e Erben sind heute selbständige Staaten; sie haben ihr eigenes Lebensrecht, welches wir ihnen nicht bestreiten dürfen, indem wir unsere historische Tradition ins F e l d führen. Wir haben vielmehr die A u f g a b e , auf der Basis des gegenwärtigen deutschen Volkstums einen Staat aufzubauen, der die gemeinsame Vergangenheit mit den Nachbarn nicht verleugnen soll, aber deren Eigenrecht anerkennen muß. 87

Atti, a. a. O., S. 342.

88

Ebenda, S. 343.

BETRACHTUNGEN ZUR GESCHICHTE DER IM MITTELALTER*

REICHSIDEE

Die folgenden Ausführungen sollen nicht mehr sein als ein Versuch, zu einem der schwierigsten Probleme der mittelalterlichen Geschichte Stellung zu nehmen - zu einem Problem, über das eine fast unübersehbare Literatur vorliegt. 1 Schon seit langem ist eine Diskussion im G a n g e betreffs einer neuen Sicht des mittelalterlichen Imperiums. Auf dem Internationalen Historikerkongreß in Rom 1955 hielt W . Holtzmann einen Vortrag zum T h e m a „Imperium und Nationen", welcher eine tiefgründige Debatte zur Folge hatte. E r begann mit folgenden W o r t e n : „ D i e Frage, w i e das abendländische Imperium des Mittelalters zu beurteilen sei, beschäftigt die deutsche Geschichtswissenschaft seit bald hundert Jahren, ohne d a ß bisher eine allseits befriedigende Antwort gefunden worden w ä r e . D e r Grund hierfür liegt darin, d a ß bei dieser Fragesteilung ein politisches Moment mitschwingt. . . U n v e r kennbar ging die ältere Diskussion von einem politischen W e l t b i l d aus, das im modernen Nationalstaat des 19. Jh. das Ziel der historischen Entwicklung erblickte. Nach den Erlebnissen und Ergebnissen des letzten W e l t k r i e g e s ist es jedoch z w e i f e l h a f t geworden, ob dies der göttlichen Weisheit letzter Schluß ist, und so erhält die Geschichtswissenschaft, w i e d e r u m aus Antrieben, die sich ihr von außen her aufdrängen, die Aufforderung, das Problem neu zu überdenken." 2 W i r sind in der Tat Zeugen eines eifrigen Ringens der Historiker um ein neues Verständnis dessen, w a s man wohl die „mittelalterliche W e l t o r d n u n g " nennen könnte, und es ist unleugbar, d a ß dieses Ringen unter dem Eindruck der völligen Umgestaltung der W e l t steht, die w i r miterleben. 3 * Vortrag, gehalten am 20. April 1 9 5 9 vor der Société Royale d'Archéologie de Bruxelles. Gedruckt unter dem Titel „Contribution à l'histoire de l'idée d'Empire au moyen-âge" in : Revue Belge 39/1961, S. 3 0 9 - 3 3 3 . 1

A n dieser Stelle möchte ich Herrn Graf ]. de Borchgrave

d'Altena

sowie Herrn P.

Bonenfant,

Professor an der Universität Brüssel, meinen Dank sagen, die es mir ermöglichten, vor dieser gelehrten Gesellschaft zu sprechen. 2

Holtzmann,

W., Imperium und Nationen, in: Relazioni, Bd. 3, Florenz 1 9 5 5 , S. 2 7 5 f f . ; die

Diskussion dazu in: Atti del X. Congresso internazionale storiche, Rom 1 9 5 5 , S. 3 3 0 ff. 3

Auf dem erwähnten Kongreß in Rom haben Historiker osteuropäischer Länder kritisch zu den rein geistesgeschichtlich orientierten Ausführungen Holtzmanns

Stellung genommen (vgl. etwa Graus, F., ebenda, S. 333), während Ohnsorge, W., und Dölger, F., vom Gesichtspunkt der byzantinischen Geschichte her wichtige Ergänzungen machten (ebenda, S. 3 3 4 ) . Von den weiteren Arbeiten zu diesem Thema seien besonders von Mayer, Th., genannt: Das Hochmittel-

Stamm, Staat, Imperium

28

U n s ist heute k l a r , d a ß d i e V o r s t e l l u n g e n , w e l c h e m a n sich früher v o m m i t t e l a l t e r lichen I m p e r i u m machte, v o n den politischen Zeitereignissen der jeweiligen

Epoche

b e s t i m m t w a r e n . Auch der b e r ü h m t e Streit zwischen H . v. Sybel u n d J . F i c k e r m u ß im H i n b l i c k auf die A u s e i n a n d e r s e t z u n g zwischen Ö s t e r r e i c h und P r e u ß e n gesehen w e r den/* D a s deutsche R e i c h v o n 1 8 7 0 / 7 1 hat sich dann b e e i l t , d i e V o r s t e l l u n g

vom

m i t t e l a l t e r l i c h e n I m p e r i u m in seine eigene G r o ß m a c h t k o n z e p t i o n einzubauen, um sich ihrer im f o l g e n d e n als historische R e c h t f e r t i g u n g für die deutschen

Hegemoniebe-

strebungen ü b e r E u r o p a zu bedienen. In der F o l g e z e i t b e m ü h t e n sich H i s t o r i k e r w i e A . B r a c k m a n n und R . H o l t z m a n n um den N a c h w e i s , d a ß die O s t p o l i t i k der Sachsenu n d S a l i e r k a i s e r durch deren I t a l i e n p o l i t i k nicht geschädigt w u r d e ; nach ihrer M e i nung h ä t t e letztere i m G e g e n t e i l , d a sie d i e H e r r s c h a f t ü b e r das P a p s t t u m mit sich brachte, einen d i r e k t e n A u s g a n g s p u n k t für die E x p a n s i o n nach O s t e n u n d W e s t e n g e b i l d e t . 0 S i e schrieben f e r n e r d e m I m p e r i u m eine grundlegende R o l l e bei der V e r einheitlichung d e r deutschen S t ä m m e zu und gelangten durch diese Ansichten zu einer sehr positiven

E i n s c h ä t z u n g v o n R e i c h und R e i c h s i d e e .

D i e s e w a r gänzlich

zeit-

b e d i n g t ; sie f ü h r t e zu einer N a t i o n a l i s i e r u n g des R e i c h s g e d a n k e n s und k o n n t e auch v e r w e n d e t w e r d e n , u m das „ G r o ß d e u t s c h e R e i c h " des N a t i o n a l s o z i a l i s m u s historisch zu untermauern. 1 1 A l l e i n m a n w e i ß zur G e n ü g e , d a ß diese D e u t u n g e n sich in flagrant e m W i d e r s p r u c h zu den w a h r e n historischen Z u s t ä n d e n im M i t t e l a l t e r b e f i n d e n ; w i r brauchen uns bei ihnen nicht l ä n g e r a u f z u h a l t e n . J ü n g s t hat T h . M a y e r mit N a c h d r u c k eine t o t a l e E r n e u e r u n g der M e d i a e v i s t i k gef o r d e r t . D i e Z e i t e n des Positivismus, so f ü h r t e er aus, seien v o r b e i ; heute rücke die Geistesgeschichte in den V o r d e r g r u n d und m i t ihr das Interesse an der E r f o r s c h u n g der geistigen V o r a u s s e t z u n g e n für d i e R e i c h s i d e e und die B i l d u n g des A b e n d l a n d e s . ' Mayer

gibt zu, d a ß eine solche Sicht, unumschränkt

angewendet,

die

politischen

A s p e k t e des P r o b l e m s zu sehr in den H i n t e r g r u n d treten l ä ß t ; dennoch a b e r ist eine d e r a r t i g e Ä u ß e r u n g nichts m e h r als berechtigt. E s scheint m i r infolgedessen, d a ß der H i s t o r i k e r , d e r einen neuen A u s g a n g s p u n k t für die E r f o r s c h u n g der G e s c h i c h t e der R e i c h s i d e e gewinnen w i l l , sich von zwei A u f fassungen distanzieren m u ß : d a v o n , das R e i c h des M i t t e l a l t e r s als rein n a t i o n a l e s , als deutsches P r o b l e m zu betrachten, sowie d a v o n , d e m Streit zwischen K a i s e r t u m und P a p s t t u m zuviel G e w i c h t beizumessen. O h n e Z w e i f e l ist dieser K o n f l i k t ein H i n d e r n i s

alter in neuer Schau, in: HZ. 171/1951, S. 449 ff.; Größe und Untergang des Heiligen Reiches, in: ebenda, 178/1954, S. 471 ff.; Papsttum und Kaisertum im hohen Mittelalter. Wesen und Auflösung einer Weltordnung, in: ebenda 187/1959, S. 1 ff. ' Zusammenstellung und Neudruck der polemischen Schriften beider bei Schneider, Fr., Universalstaat oder Nationalstaat. Macht und Ende des Ersten deutschen Reiches. Die Streitschriften von H. v. Sybel und J. Ficker zur deutschen Kaiserpolitik des Mittelalters, Innsbruck 1941. 5 brackmann, A., Die Ostpolitik Ottos des Großen, in: HZ. 134/1926, S. 242 ff.; Holtzmann, R., c

7

Geschichte der sächsischen Kaiserzeit, Berlin o. J., S. 524 ff. Vgl. meinen Artikel: La naissance d'un Etat allemand au moyen âge, in: Le Moyen Age, 4 e série, 13/1958, S. 216 [hier deutsch S. 4 £.]. Mayer, Th., Papsttum und Kaisertum, a. a. O., S. 1 ff.

29

Betrachtungen zur Geschichte der Reichsidcc

auf dem Wege zu einem deutschen Staat gewesen; jedoch war er in erster Linie ein europäisches Problem und ging keineswegs das „Deutsche Reich" allein an. E s ergibt sich demnach, daß die Geschichte des mittelalterlichen Reiches und der imperialen Idee mit dem Tode Friedrichs II. nicht ihr E n d e fanden. D i e deutschen Historiker haben, wenn sie für die Periode nach 1250 Reichsgeschichte schrieben, ihr Interesse fast ausschließlich den Partikulargewalten zugewandt, die in jener Epoche triumphierten. Ihre Sicht war dabei entscheidend beeinflußt durch die Ereignisse des 19. Jh., vor allem durch die vorherrschende Stellung Preußens, dessen Geschichte als entscheidende Vorbereitung zur Bildung eines deutschen Staates angesehen wurde. Und im Verfolg dieser Auffassung, deren Unrichtigkeit wir heute erkannt haben, ist man schließlich so weit gegangen, der Reichsidee jede weitere Wirkungsmöglichkeit abzusprechen und eine Hoffnung auf ihre Wiedererweckung in letzter Instanz zu leugnen. 8 Aus einer anderen Sicht heraus möchte Th. Mayer der Geschichte der Einzelstaaten eine entscheidende Wichtigkeit beimessen; er stellt den Satz auf, daß man ohne sie die Geschichte des Imperiums selbst nicht verstehen kann. Aber man hat Bedenken, seinem Satz zuzustimmen, daß die Historiker den trennenden Graben zwischen Reichs- und Territorialgeschichte bereits überschritten haben. In Wahrheit ist es noch sehr notwendig, neue Forschungen über die Wirksamkeit der Reichsidee, besonders im Spätmittelalter, anzustellen, wenn man zu einer gerechteren Würdigung ihrer einzelnen Komponenten gelangen will. y Ferner waren nach Mayer die Beziehungen zwischen Kirche und Reich in der späten Periode des Mittelalters von entscheidender Bedeutung. Aber das Verhältnis zwischen den Städten und dem Staat, zwischen Bürgertum und Reichsidee ist wahrlich noch wichtiger gewesen - nicht nur in der Geschichte der Territorien, sondern auch in der des Reiches. D i e Entstehung eines freien Bürgertums, beruhend auf der Wiederbelebung des Fernhandels, hat die Reichsidee in der Form, wie sie in der Zeit von Karl dem Großen über Otto I. bis hin zu Friedrich II. existierte, in Frage gestellt. E s war nötig, ihr eine neue Form zu geben, und für die Beurteilung dessen, ob dies gelang, ist die Beobachtung von Wichtigkeit, daß das mittelalterliche Reich sich nach 1250 nicht in eine Reihe von Territorialstaaten auflöste, sondern daß es starke Kräfte gab, welche sich für seine Einheit und seinen Zusammenhalt einsetzten - besonders unter Karl IV. von Luxemburg und unter den Habsburgern Maximilian I. und Karl V. 1 0 Unter diesem Gesichtspunkt ist ein Seitenblick auf Frankreich nicht ohne Interesse: die feudale Anarchie und die Bildung der autonomen Lehnsfürstentümer seit dem 9. Jh. haben den späteren Aufschwung der Zentralgewalt durchaus nicht ver8

Vgl. Grundmann,

H., in: Gebhardt,

B., Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. 1 : Frühzeit

und Mittelalter, 8. Aufl., hrsg. v. Grundmann, 9 10

H., Stuttgart 1954, S. 382 ff.

Vgl. Mayer, Th., Papsttum und Kaisertum, a. a. O., S. 4. Über die Versuche zur Reichsreform im 14. und 15. Jh. vgl. den kurzen Abriß von Bosl, in: Gebhardt, Rassow,

K.,

B„ a. a. O., Bd. 1, 8. Aufl., S. 678 ff.; über Karl V. siehe das jüngste Werk von

P., und Schalk,

F., Karl V. Der Kaiser und seine Zeit, Köln/Graz 1960. Auch heute

noch empfehlenswert ist wegen ihrer umfassenden Sicht die Arbeit von Ficker,

).,

Königtum und Kaisertum, in: Universalstaat oder Nationalstaat, a. a. O., S. 358 ff.

Deutsches

30

Stamm, Staat, Imperium

hindert; dieser aber ist es dann sogar gelungen, eine absolute Monarchie zu errichten. 11 Unser Vergleich zeigt, daß den Versuchen, die imperialen Vorstellungen zu stärken, wie auch den Wandlungen, welche die Reichsidee in den folgenden Jahrhunderten durchmachte, eine große Bedeutung beigemessen werden muß. Jüngst erwies sich eine Arbeit als sehr aufschlußreich für die Geschichte dieser Idee: das Buch über die „Translatio imperii" von W . Goez. Dieser war der erste, der das Problem von seiner Formulierung im Alten und Neuen Testament über die Spätantike bis in die Neuzeit hinein verfolgte: bis zu der Behandlung, die ihm Ranke zuteil werden ließ. Auf die Geschichte der Reichsidee in ihrer ganzen zeitlichen Entwicklung ist hier neues Licht geworfen worden. Eine der wichtigsten Feststellungen von Goez betrifft eben die spätmittelalterliche Periode; er schrieb, daß der mittelalterliche Gedanke von der „translatio imperii" weithin bekannt zu sein scheint, bemerkt jedoch gleichzeitig: „Aber dieser Anschein trügt." 12 Die bisherge Vorstellung von der translatio stand allzu sehr unter dem Eindruck der kurialen Theorie, wie sie von Innocenz III. vorgetragen wurde; die Geschichte jener Idee in der vorangegangenen wie in der darauffolgenden Periode ist kaum aufgehellt. Der Autor erklärt selbst, über die Vielfalt der Zusammenhänge bei seinem Problem sehr erstaunt gewesen zu sein. Und wenn er sagt: „Die großen Wendepunkte der Weltgeschichte sind es, die man im Mittelalter mit jener Prägung (der Translatio; H. Sp.) bezeichnete" 13 , so ist dies eine bedeutsame Feststellung für die Geschichte der Reichsidee. Daß er weiterhin feststellt: „Innere Umwälzungen sozialer Art hat man freilich nicht mit diesem Worte gemeint" M , ist zwar vielleicht theoretisch richtig, fordert jedoch die Frage heraus, in welchem Maße die sozialen Umwälzungen auf die Entwicklung jener Vorstellung einwirkten. 1; ' Äußerst beachtenswert ist, daß das Werk von Goez neue Möglichkeiten bietet, das Verhältnis zwischen den Begriffen Imperium und regnum aufzuhellen; ist es doch, wie bekannt, gerade deren innige Verflechtung, welche eine negative oder positive Einschätzung des mittelalterlichen Reiches in der Historiographie hervorgerufen hat. Goez' Ausführungen beginnen mit der Untersuchung der Formel „regnum transferre" von ihrem Erscheinen im Alten und im Neuen Testament an, wobei gleich zu Anfang bemerkt werden muß, daß das Wort regnum keineswegs eine Entsprechung für imperium darstellt. Der Autor definiert die translatio imperii als die Tatsache, daß einem Volke die Vormacht genommen und einem anderen gegeben werde; jedoch ist die Beobachtung wichtig, daß, auch bereits im Alten und Neuen Testament, der 11

V g l . das noch immer grundlegende W e r k v o n Paris 1 9 2 2 ; f e r n e r Paris 1 9 4 6 , und Lot,

12

Goez, W.,

Dupont-Ferrier,

G.,

Longnon, A.,

L a f o r m a t i o n d e l'unité française,

L a f o r m a t i o n de l'Etat français et d e l'unité française,

F., Naissance de la France, Paris 1 9 4 8 , S. 8 2 8 Ii.

Translatio

imperii. Ein Beitrag zur Geschichte

des

Geschichtsdenkens

und

der

politischen T h e o r i e n im M i t t e l a l t e r und in der f r ü h e n Neuzeit, Tübingen 1 9 5 8 , S. 1 . 13 14 15

E b e n d a , S. 3. Ebenda. V g l . die g r u n d l e g e n d e n methodologischen E r w ä g u n g e n v o n sur les t r a v a u x d'histoire du moyen âge de 1 9 4 5 S. 6 5 ff.

à

Vercauteren,

1954,

F.,

R a p p o r t général

i n : Relazioni, B d . 3,

a.a.O.,

Betrachtungen zur Geschichte der Reichsidee

31

regnum-Begriff eine ganz besondere Prägung erhalten hat. Goez hat die Bibelstellen geprüft, mit denen die geistlichen Autoren die Theorie von der translatio untermauerten, und k a m zu einem überraschenden Ergebnis. D i e Hauptstütze findet sich beim Propheten Daniel (2, 21) und lautet in der V u l g a t a : „Deus transfert regna atque constituit". Dies aber ist eine falsche Übersetzung, denn im Urtext des Daniel-Buches heißt es: „Gott stürzt Könige und setzt Könige ein." Goez kann schließlich den k l a ren Schluß ziehen, d a ß die Bibel nicht die Q u e l l e dieser berühmten Formel ist. 16 Es ist überdies darauf hinzuweisen, d a ß im Alten Testament der regnum-Begriff in spirituellem Sinne streng an das jüdische Volk gebunden und folglich eine Übertragung des regnum, in welcher Form auch immer, überhaupt nicht denkbar w a r . D i e regnumVorstellung im Neuen Testament w i r d deutlich durch den S a t z : „Mein Reich ist nicht von dieser W e l t " (Joh. 1 8 , 3 6 ) ; hier kann von einem Translationsbegriff schon gar keine R e d e sein. Goez hat richtig erkannt, d a ß die falsche Übersetzung „regnum transferre" an der eben behandelten Daniel-Stelle durch den Kirchenvater Hieronymus in die V u l g a t a hineingebracht worden ist; augenscheinlich ist diese Formel daher römischen Ursprungs. Bei den römischen Historikern findet sie sich nicht nur in der eben genannten Form, sondern auch als „Imperium transferre". D a s Imperium Romanum w a r zur Zeit des Hieronymus bereits zu einem Begriff geworden, dem die christlichen Geschichtsschreiber nicht nur eine universale, sondern auch eine transzendente Bedeutung beilegten. Besonders ausgeprägt findet sich dies bei Eusebius, durch den die Formel dann auch an Hieronymus gelangte. D a s christliche Weltreich w u r d e nun gleichgesetzt mit dem Imperium Romanum1', wodurch der imperium-Begtift. einen supranationalen Charakter und gleichzeitig eine selbständige Existenzberechtigung gewann. Hinzu kommt die Tatsache, d a ß nach römischer Auffassung die gesamte historische Weltentwicklung letzten Endes in das imperium Romanum einmündete und daß, nachdem das Christentum zur Staatsreligion geworden w a r , die Reichsidee eine christlich-spirituelle Färbung annahm. Sie begann sich von ihrem römischen Ursprung zu entfernen - ein Vorgang, der von großer Bedeutung w ä h r e n d der Zeit des Untergangs des Weströmischen Reiches war. 1 8 W ä h r e n d der Völkerwanderungszeit trat die römische Reichsidee ganz augenscheinlich stark zurück; Goez kann wohl für jene Periode eine Reihe von Belegen beibringen, die aber nichts weiter als theoretische Spekulationen darstellen. D a s fränkische Reich der Merowingerzeit ist ohne eine direkte Beziehung zu jener Idee errichtet w o r d e n ; es wuchs jedoch schon unter C h l o d w i g über eine rein nationale G r u n d l a g e hinaus. So konnte sich eine Reichsvorstellung bilden, welche, bewußt von den Galloromanen übernommen, eine einigende K l a m m e r auch über die ständigen Reichsteilungen hinweg darstellte. 1 9 Unter den Karolingern w u r d e das regnum Fran-

16

Goez, W„ a. a. O., S. 7 und 3 6 6 ff.

17

Ebenda, S. 1 7 f f . ; vgl. ferner Hübinger,

P, E.,

Spätantike und frühes Mittelalter, D a r m s t a d t

1 9 5 9 , S. 7. 18

V g l . z. B. ebenda, S. 8.

19

Vgl. Lot,

F.,

a . a . O . , S. 1 9 3 f f . ; Mitteis,

W e i m a r 1 9 5 3 , S. 4 2 . Dagegen hat Ganshof,

H„

D e r Staat des hohen Mittelalters, 4. A u f l . ,

F. L., in: Histoire du M o y e n A g e , Bd. 1 : Les

32

Stamm, Staat, Imperium

corum zu einem Reich vieler Völker; dies hat besonders C. Erdmann betont, der auf die Stelle hinwies, an der Notker von St. Gallen über Karl den Großen sagt: „re ipsa rector et Imperator plurimarum erat nationum,"2" Sie kennzeichnet sehr treffend den übernationalen Charakter des damaligen Frankenreiches. Im Gefolge der Konstituierung des Feudalsystems wurde die Reichsidee in der Weise umgeformt, daß sie selbst mehr und mehr feudalen Charakter annahm. Gleichzeitig geriet sie noch stärker unter den Einfluß der christlichen Lehre 2 1 ; denn wie der Feudalismus im Westen eine neue soziale Ordnung hervorbrachte und auf diese Weise zu einer Vereinheitlichung führte, so hat gleichermaßen die Kirche alle Gebiete des Imperiums erfaßt. Mit vollem Recht hat kürzlich L. Génicot in seinem bemerkenswerten Buch über die Geschichte des Mittelalters herausgestellt, daß in jener Zeit die römische Kirche alle Streitigkeiten austilgte und ihre Kräfte einzig und allein auf die Heidenbekehrung konzentrierte; so konnte sie für die Einheit des Abendlandes eine starke Stütze werden. 22 Unter diesem Gesichtspunkt kommt der Königserhebung Pippins eine besondere Bedeutung zu.23 In diesem Ereignis erblickt man heute weit mehr als früher ein bestimmendes Element für die neue Form der Reichsidee. Das Königtum erhielt hier einen sakralen Charakter; der Reichsgedanke nahm spätantike und byzantinische Vorstellungen in sich auf.2'1 Bei dieser Gelegenheit wäre zu bemerken, daß die jüngsten Forschungen den byzantinischen Einfluß auf die mittelalterliche Reichsidee vielleicht ein wenig überschätzen. Schon seit Konstantin nämlich war das Kaisertum die Repräsentanz der christlichen Gemeinschaft, für deren Sicherheit und Ordnung es zu sorgen hatte. Durch die Schenkung des Patrimonium Petri war Pippin der Schützer des Glaubens und der Kirche geworden. Besonders in letzter Zeit hat die Forschung sich mit den Voraussetzungen und Hintergründen des fränkischen Kaisertums beschäftigt; sie machte deutlich, wie sehr die Umstände danach drängten, den rex Fraticorum offiziell zum Beherrscher des Westens zu machen. Schramm hat in hervorragender Weise auf-

destinées de l'Empire en occident de 395 à 888, Paris 1928 (Histoire générale, publiée sur la direction de Glotz,

G.), die Souveränität der aus den Teilungen der fränkischen Monarchie

hervorgegangenen Königreiche behauptet. 20

Vgl. Erdmann,

C., Forschungen zur politischen Ideenwelt des Frühmittelalters, a. d. Nachlaß

hrsg. v. Baethgen,

F., Berlin 1951, S. 2 mit Anm. 1 und S. 3 0 ; siehe: Monachus Sangallensis

de Carolo Magno lib. I, c. 26, ed. Ph. Jaffé

in: Bibliotheca rerum Germanicarum, Bd. 4,

Berlin 1867, S. 657 [jetzt: Notkeri Balbuli gesta Karoli Magni imperatoris, ed. H. F.

Haefele,

MG. SS. rer. Germ., nova sériés, Bd. 12, Berlin 1962, S. 35], 21

Vgl. die Bemerkungen von Kempf,

22

Génicot,

23

Goez,

2

F., in: Atti, a. a. O., S. 336.

L., Les lignes de faite du Moyen Age, 3. Aufl., Tournai 1961, S. 71.

W„ a. a. O., S. 94 fi.

'' Vgl. Dölger,

F., Rom in der Gedankenwelt der Byzantiner, in: Z K G . 56/1937, S. 2 7 ; ders.,

Europas Gestaltung im Spiegel der fränkisch-byzantinischen Auseinandersetzung des 9. Jh., in: Der Vertrag von Verdun, hrsg. v. Mayer,

Th., Leipzig 1943, S. 203 ff.; ders., Zum Elfenbein

des Romanos und der Eudokia im Cabinet des Médailles in Paris, in: Südostforschung 18/1959, S. 385 ff. ; vgl. ferner die Beobachtungen von Dölger und 337.

und Ohnsorge

in: Atti, a . a . O . , S. 335

33

Betrachtungen zur Gcschichte der Reichsidec

gezeigt, d a ß das fränkische K ö n i g t u m in d e n J a h r e n , die der K a i s e r k r ö n u n g v o r a n gingen, sämtliche i m p e r i a l e n A t t r i b u t e v o m P a p s t t u m e m p f a n g e n h a t t e -

eines nach

d e m anderen. 2 '' D e n n o c h haben w i r heute auch G e w i ß h e i t d a r ü b e r , d a ß K a r l

der

G r o ß e l a n g w ä h r e n d e Ü b e r l e g u n g e n angestellt hat über d e n R e c h t s t i t e l , den er w ä h l e n sollte, um d i e M a c h t , d i e er ausübte, in rechtem L i c h t erscheinen zu lassen. 2 0

Wie

Erdmann

ger-

darlegte, war

ein

fränkisches I m p e r i u m

nicht v o r s t e l l b a r ,

da

der

manische B e r e i c h , im G e g e n s a t z zum O r i e n t , den B e g r i f f eines K ö n i g s der K ö n i g e nicht in

kannte.2'

der

Andererseits

Karolingerzeit

der

waren

die christlichen

Reichsidee

schon

derart

Vorstellungen immanent,

der

daß

Spätantike

eine

Lösung

des genannten P r o b l e m s , o h n e sie zu berücksichtigen, nicht m e h r in B e t r a c h t k o m m e n konnte. K a r l der G r o ß e hat die A k k l a m a t i o n v o n W e i h n a c h t e n

8 0 0 nicht

vorbehaltlos

akzeptiert, j e d o c h aus ihr sofort a l l e K o n s e q u e n z e n gezogen. G o e z hat in d i e s e m Z u s a m m e n h a n g gezeigt, d a ß d i e alleinige R e c h t s g r u n d l a g e des A k t e s die W a h l

durch

die R ö m e r w a r 2 8 ; er sprach der M i t w i r k u n g der F r a n k e n j e d e rechtliche B e d e u t u n g a b und hielt es für falsch, hier v o n einer translatio

zu sprechen. 2 9 W a s hier s t a t t f a n d ,

w a r seiner M e i n u n g nach nichts anderes als eine ganz „ n o r m a l e " römische

Kaiser-

k r ö n u n g ; K a r l h ä t t e n i e m a l s K a i s e r ü b e r das ganze R e i c h w e r d e n w o l l e n ; er e r s t r e b t e allein das Imperium k e i n e translatio.

occidentale,

u n d für ihn gab es nur eine renovatio

imperii

Romani,

F ü r die G e s c h i c h t e der R e i c h s i d e e w a r der V o r g a n g v o n b e t r ä c h t -

licher B e d e u t u n g . 3 0 F e r n e r hat G o e z

entschieden

gegen

H.

Beumann

Stellung

genommen,

der

die

F r a n k e n als „ R e i c h s v o l k " bezeichnete. 3 1 D i e E i n f ü h r u n g eines solchen B e g r i f f s ist für d i e d a m a l i g e Z e i t in der T a t besonders unglücklich, denn sowohl im regnum corum

Fran-

wie in d e m neuen I m p e r i u m w a r e n es allein d i e G r o ß e n , w e l c h e wirklich eine

R o l l e spielten. D e r C h a r a k t e r der f e u d a l e n G e s e l l s c h a f t b e d i n g t e die Schaffung e i n e r iü

20

27

21 30 31

Schramm, P. E., Die Anerkennung Karls des Großen als Kaiser. Ein Kapitel aus der Geschichte der mittelalterlichen Staatssymbolik, in: HZ. 172/1951, S. 449 ff.; vgl. Beumann, H., Nomen imperatoris. Studien zur Kaiseridee Karls des Großen, in: ebenda 185/1958, S. 515 ff. [jetzt auch in: ders., Ideengeschichtliche Studien zu Einhard und anderen Geschichtsschreibern des früheren Mittelalters, Darmstadt 1962, S. 80 ff.]. Vgl. Erdmann, C., a . a . O . , S. 20 ff.; Genicot, L., a . a . O . , S. 96, und meine Rezension von Erdmanns Buch in: DLZ. 74/1953, S. 672 ff. Erdmann, C„ a. a. O., S. 3 ff. und 29 ff. Es heißt in den Reichsannalen: „a. cuncto Romanorum populo adclamatum est" (Annales regni Francorum ad. a. 801, ed. F. Kurze, MG. SS. rer. Germ, in us. schol., Hannover 1895, S. 112). Goez, W„ a. a. O., S. 69 ff. Ebenda, S. 7 1 ; Genicot, L., a. a. O., S. 75. Goez, W., a . a . O . , S. 73 ff.; vgl. Beumann, H., Romkaiser und fränkisches Reichsvolk, in: Festschrift E. E. Stengel zum 70. Geburtstag, Münster/Köln 1952, S. 179 f. In der Karolingerzeit konnte nur ein kleiner Teil der weltlichen und geistlichen Großen bei der Verwaltung des Reiches mitwirken; unter ihnnen waren die romanisierten Franken besonders stark vertreten. Der Volksbegriff könnte nur verwendet werden bei Vorhandensein eines politischen Bewußtseins breiterer Teile der Bevölkerung; ein solches aber war nicht existent.

34

Stamm, Staat, Imperium

R e p r ä s e n t a n z des V o l k e s ; dies a b e r b e d e u t e t keineswegs, d a ß die R e i c h s i d e e

von

e i n e m „ R e i c h s v o l k " a u s g i n g ; sie w u r d e im G e g e n t e i l in der F o l g e z e i t durch und durch f e u d a l . M a n m u ß sich letztlich auch k l a r w e r d e n d a r ü b e r , d a ß K a r l der G r o ß e die Schwierigkeit einer V e r s c h m e l z u n g der I d è e des fränkischen K ö n i g t u m s mit der des römischen I m p e r i u m s deutlich e r k a n n t h a t ; aus diesem G r u n d e hat er später auf sein K a i s e r t u m weniger W e r t gelegt und die W ü r d e des rex

Fr ancor um als seine unent-

behrliche

Demnach

Grundlage

wieder

stärker

hervorgehoben.32

war

die

Kaiser-

krönung nur ein A u f t a k t ; d i e V e r b i n d u n g zwischen den b e i d e n genannten E l e m e n t e n w u r d e durch sie b e w i r k t , a b e r diese V e r b i n d u n g w a r noch nicht organisch u n d untrennbar. M a n kann hier folglich von einer f r a n k o - r ö m i s c h e n R e i c h s i d e e sprechen - eine E r kenntnis, die für d i e B e u r t e i l u n g der K a i s e r k r ö n u n g O t t o s I. von B e l a n g ist. W e n n dieser H e r r s c h e r sich auch als N a c h f o l g e r K a r l s des G r o ß e n betrachtete, so beginnt doch m i t ihm u n z w e i f e l h a f t eine neue P h a s e in der G e s c h i c h t e der R e i c h s i d e e . O t t o k o n n t e nicht w i e K a r l als H e r r s c h e r des gesamten W e s t e n s b e t r a c h t e t w e r d e n . D a sich hier inzwischen v e r s c h i e d e n e selbständige christliche K ö n i g r e i c h e g e b i l d e t h a t t e n , erl a n g t e das I m p e r i u m für ihn eine viel g r ö ß e r e B e d e u t u n g . Auch h a t t e seine H e r r s c h a f t w e i t m e h r als die seiner V o r g ä n g e r f e u d a l e n C h a r a k t e r a n g e n o m m e n , w a s sich besonders in den ä u ß e r e n B e z i e h u n g e n - zu B u r g u n d u n d I t a l i e n , a b e r auch zu den W e s t f r a n k e n - zeigte. 3 3 So b e i n h a l t e t e die K a i s e r w ü r d e in seiner V o r s t e l l u n g eine L e g i timation

seiner

Macht,

namentlich

auch

in

Italien.

h a t t e sich jedoch in j e n e r Z e i t auch d i e O r g a n i s a t i o n

Neben

dem

Feudalismus

der christlichen K i r c h e

fest

e t a b l i e r t ; die B i l d u n g w a r zum M o n o p o l d e r G e i s t l i c h k e i t g e w o r d e n . E s v e r w u n d e r t d a h e r nicht, d a ß das christliche I m p e r i u m für O t t o bereits eine S e l b s t v e r s t ä n d l i c h k e i t war. B e d e n k l i c h scheint es mir zu sein, w e n n G o e z im A n s c h l u ß an H . G r u n d m a n n erk l ä r t : „ D i e E r n e u e r u n g des K a i s e r t u m s durch O t t o I. e r f o l g t e a l l e r W a h r s c h e i n l i c h keit nach unter d e m u n m i t t e l b a r e n , nachweislichen E i n f l u ß dieses G l a u b e n s , d a ß das römische I m p e r i u m bestehen m u ß , w e n n nicht der Antichrist und des W e l t e n d e k o m men s o l l . " 3 4 D i e s beruht, w i e schon gesagt, auf der D a n i e l - V i s i o n v o n den v i e r W e l t reichen, d e r z u f o l g e nach d e m E n d e des vierten Reiches die E n d k a t a s t r o p h e e i n t r i t t ; sie w i r d m i t der aus d e m N e u e n T e s t a m e n t s t a m m e n d e n V o r s t e l l u n g von der A n k u n f t des Antichrist in V e r b i n d u n g gebracht. D a s

Imperium

Romanum

galt als dieses letzte

W e l t r e i c h ; seine K a i s e r hatten d e s h a l b d i e A u f g a b e , die O r d n u n g in der W e l t a u f rechtzuerhalten, d a m i t d i e g e n a n n t e K a t a s t r o p h e nicht hereinbräche. 3 0 E s ist indes sehr unwahrscheinlich, d a ß für O t t o solche V o r s t e l l u n g e n eine g r o ß e R o l l e s p i e l t e n ; v i e l m e h r w a r es das Prinzip der W e l t o r d n u n g an sich, das in bezug auf die R e i c h s i d e e 32

Schramm, P. E., a. a. O., S. 497 ff.

33

Vgl. meinen Artikel: Die lothringische Politik Ottos des Großen, in: [RhVjbll. 11/1941; Wiederabdruck in:] Sproemberg, H., Beiträge zur belgisch-niederländischen Geschichte, Berlin

34 35

1959, S. 192 £. (Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte, hrsg. v. Sproemberg, Bd. 3). Goez, W., a. a. O., S. 78. Hübinger, P. E., a. a. O., S. 7 ff., und Goez, W„ a. a. O., S. 367 ff.

H., u.a.,

Betrachtungen zur Geschichte der R e i c h s i d e e

35

v o n Wichtigkeit w a r . D a s Imperium erschien f o r t a n als die universale G e m e i n s c h a f t der Christen, und der K a i s e r hatte die A u f g a b e , d i e s e G e m e i n s c h a f t z u s a m m e n z u h a l ten u n d auszubreiten. 3 0 N o c h einer anderen T h e s e w i r d man seine Z u s t i m m u n g v e r s a g e n : der nämlich, d a ß v o n jener P e r i o d e an d i e Deutschen als „ R e i c h s v o l k " zu betrachten seien. E s ist in Wahrheit w i e d e r u m die f e u d a l e G e s e l l s c h a f t , welche den entscheidenden E i n f l u ß ausübt, und v o r allem handelt es sich hier um eine Zeit, in der es ein a u s g e p r ä g t e s deutsches N a t i o n a l g e f ü h l noch nicht gab. E s darf überdies nicht vergessen w e r d e n , d a ß die G r e n z e n des ostfränkischen Imperium nicht nur germanische B e w o h n e r umschlossen, sondern auch u n d in großer Z a h l R o m a n e n im W e s t e n und S l a w e n , besonders Tschechen, im Osten. 3 ' In der f o l g e n d e n Zeit hatte O t t o III. versucht, d a s K a i s e r t u m nach s p ä t a n t i k e m M u s t e r w i e d e r zu beleben. A b e r er scheiterte an der T a t s a c h e , d a ß diesseits der A l p e n die G r o ß e n nicht bereit waren, ihren maßgeblichen E i n f l u ß a u f z u g e b e n u n d ihre H e g e m o n i e über den Osten und Südosten durch die K o n k u r r e n z d e r transalpinen G e b i e t e beeinträchtigen zu lassen. 3 8 S o kann m a n , v o n dieser A u s n a h m e abgesehen, d i e Reichsidee bis zum T o d e Heinrichs III. als K ö n i g - K a i s e r t u m charakterisieren. 3 ' 3 D i e s e s erwies sich in den K r i s e n , welche infolge des Hinscheidens O t t o s II., O t t o s III. und Heinrichs II. ausbrachen, als außerordentlich stabil. D i e E r k l ä r u n g hierfür ist, d a ß seit der Zeit O t t o s I. eine D e z e n t r a l i s a t i o n einsetzte, durch welche die sogenannten S t a m m e s h e r z o g t ü m e r beseitigt oder zumindest geschwächt w u r d e n : es bildeten sich neue M a c h t k o m p l e x e unter der H e r r s c h a f t geistlicher oder dynastischer F e u d a l herren ; gleichzeitig aber w u r d e n auch der A d e l und d i e freie B e v ö l k e r u n g d e m K ö n i g w i e d e r unmittelbar unterstellt. 4 0 A u f diese W e i s e entstand eine breitere Gesellschaftsschicht, wobei es v o n größter Wichtigkeit w a r , d a ß d i e neuen Machtinhaber an d e r Aufrechterhaltung der H e g e monie in Italien w i e im O s t e n direkt interessiert w a r e n . D u r c h diesen V o r g a n g w u r den die S t a m m e s v e r b ä n d e praktisch gesprengt, u n d er w a r gleichermaßen die V o r a u s setzung, d a ß d a s K ö n i g t u m v o n den Sachsen erneut auf die F r a n k e n übergehen konnte, ohne d a ß es d e s w e g e n zu inneren Schwierigkeiten k a m . U n t e r K o n r a d II. w u r d e eine neue soziale Schicht an d i e Reichsidee g e b u n d e n : d i e A f t e r v a s a l l e n , zu deren G u n s t e n der K ö n i g gegenüber ihren H e r r e n die Reichsgewalt geltend machte. D i e s e ruhte somit hier auf noch breiterer B a s i s , so d a ß es berechtigt ist, von einem „ K ö n i g - K a i s e r t u m " zu sprechen, d a s sich ebenso auf die Reichskirche w i e auf eine

36

V g l . die D i s k u s s i o n auf d e m römischen H i s t o r i k e r k o n g r e ß i n : Atti, a. a. O . , S. 3 3 0 ff., und d a s danach erschienene W e r k v o n Lotter,

F., D i e V i t a B r u n o n i s des R u o t g e r , B o n n 1 9 5 8

(Kapitel

„ K a i s e r t u m und R e i c h s g e d a n k e " mit L i t e r a t u r a n g a b e n auf S. 9 0 ) . 37

V g l . meinen A r t i k e l : L a naissance, a . a. O., S. 2 3 9 ff. [hier deutsch S. 20 ff.].

38

V g l . A t t i , a . a. O . , S. 336.

39

Ü b e r d a s V e r h ä l t n i s zwischen rex und Imperator

40

V g l . Mitteis,

v g l . Lotter,

F., a. a. O . , S. 9 4 ff.

H., Lehnrecht und S t a a t s g e w a l t . Untersuchungen zur mittelalterlichen V e r f a s s u n g s -

geschichte, 2. A u f l . , W e i m a r 1 9 5 8 , S. 4 2 0 ff., und meinen A r t i k e l : D i e lothringische a. a. O . , S. 2 2 1 f.

Politik,

36

Stamm, Staat, Imperium

starke Panzerreiterei stützte und deshalb in der L a g e war, seine vorherrschende Stellung im Abendland zu behaupten/' 1 Im Laufe des 11. J h . trat indessen ein neuer Strukturwandel ein. D i e weltlichen Feudalherren gewannen eine festere Position ; es bildeten sich Territorialgewalten, welche es der Zentralgewalt in hohem M a ß e erschwerten, ihre Verfügungsgewalt über die Panzerreiter auszuüben. D e r Feudalismus machte, von Westen

herkommend,

starke Fortschritte. Zur selben Zeit übte die kirchliche Reformbewegung einen bedeutenden Einfluß auf die Massen aus; die Kirche jener J a h r e war voll innerer Dynamik und suchte sich aus der totalen Abhängigkeit von der Zentralgewalt zu befreien/' 2 Endlich griff auch die städtische Entwicklung, ebenfalls von Westen her, auf das Reich über: mit dem Bürgertum erschien ein neuer Machtfaktor. D i e s e drei Potenzen - die Territorialfürsten, die Reformkirche, das Bürgertum - haben eine völlig neue Lage heraufbeschworen; standen sie doch sämtlich in scharfer Opposition zu dem hegemonialen „König-Kaisertum" der Salier. E s stellte sich die entscheidende Frage, ob die Reichsidee imstande war, sich den veränderten Umständen anzupassen. Da

die Interessen

jener neuen Machtfaktoren

jedoch keineswegs

die

gleichen

waren, bot sich der Zentralgewalt durchaus die Möglichkeit, eine Einheitsfront zwischen ihnen zu verhindern und sich eine neue Basis zu verschaffen. Heinrich I V . suchte sich mit dem Bürgertum zu verbinden, aber dieses war, bezogen auf das gesamte Reich, noch zu schwach, um als alleinige Basis der Königspolitik zu dienen - befand es sich doch damals noch im untersten Entwicklungsstadium. Dies jedoch darf uns nicht daran hindern, ein Charakteristikum in der Geschichte der Reichsidee darin zu sehen, daß die großen rheinischen und lothringischen Kommunen mit Leidenschaft für den Kaiser Partei ergriffen haben. Im folgenden allerdings haben Heinrich V . und seine staufischen Nachfolger es für richtiger gehalten, sich mit den lokalen Dynasten zu verbinden - und dies gegen die Städte. So kam es, daß unter Friedrich I. die Territorialfürsten zu Stützen der Reichsregierung gemacht wurden. Während des Investurstreites war, wie Goez gezeigt hat, die Kirche bemüht, die Lehre von der Übertragung des Imperiums durch den Papst aufzustellen und durchzusetzen. In Reaktion darauf behauptete man von weltlicher Seite aus, die

translatio

sei als unmittelbar durch G o t t erfolgend anzusehen; von ihm allein und ohne jede Vermittlung erhalte der weltliche Staat seine Macht. Hier beobachten wir das W i e d e r erscheinen der alten franko-romanischen Reichsidee, die übrigens in Westeuropa sich damals in noch reinerer Form zeigte.'' 3 Für die staufische Zeit stellte Goez im Anschluß an die Auffassung O . von Gierkes einen Fortschritt des Einheitsgedankens fest, der die Formel von der 41

Vgl. Bosl, K., in: Gebhardt, B., a. a. O., Bd. 1, 8. Aufl., S. 629.

/i2

Vgl. etwa Génicot,

L., a. a. O., S. 1 3 6 ff.; grundlegend hierzu Tellenbach,

„Renovatio

G., Libertas. Kirche

und Weltordnung im Zeitalter des Investiturstreits, Stuttgart 1 9 3 6 (Forschungen zur Kirchen-

und Geistesgeschichte, hrsg. v. Seeberg, E., u. a., Bd. 7). Vgl. Goez, W., a. a. O., S. 99; Génicot, L., a. a. O., S. 236 ff.; Mitteis, H., Der Staat d. hohen Mittelalters, 4. Aufl., a . a . O . , S. 3 2 6 f . ; sowie Schramm,

P. E.,

D e r König von Frankreich.

W a h l , Krönung, E r b f o l g e und Königsidee vom Anfang der Kapetinger ( 9 8 7 ) bis zum Ausgang des Mittelalters, i n : Z R G . K A . 2 5 / 1 9 3 6 , S. 3 5 2 ff.

Betrachtungen zur Geschichte der Reichsidee

37

imperii" völlig zum Verschwinden b r a c h t e . D i e translatio w i r d jetzt, w i e er weiter ausführt, als direkte Kontinuität zum spätrömischen Imperium gedeutet, so d a ß der kaiserlichen Gewalt die Befugnisse des antiken Imperator zuwuchsen. Damit stehen wir vor einer neuen Entwicklung der Reichsidee - einer Entwicklung, in deren Verlauf ein wichtiger W a n d e l erfolgt: Das König-Kaisertum w i r d zum Kaiser-Königtum. Die Ursache hierfür w a r die Entstehung einer feudalen Gesellschaft im Abendland, in welcher die französischen Formen vorherrschend waren. Außerdem w u r d e infolge der Kreuzzüge die christliche Gemeinschaft des Westens eine Realität. Gestützt auf diese neuen Voraussetzungen, versuchte das Kaiser-Königtum jetzt, sich nicht mehr nur allein die Führung, sondern auch die Herrschaft über das gesamte Abendland zu sichern. Dabei verschob sich die Basis der kaiserlichen Macht eindeutig nach Italien, was bewirkte, d a ß die fränkische Vorstellung vom Königtum in den Hintergrund trat. Zu Zeiten Heinrichs VI. schien dessen Plan einer Erbmonarchie die Verwirklichung des universalen Kaisertums zu bringen. Aber eine solche Politik forderte nicht allein das Papsttum zu einem Kampf auf Leben und Tod heraus, sondern stieß auch auf entschiedenen Widerstand der übrigen westeuropäischen Staaten und schließlich im Innern des Reiches auf den der Territorialfürsten. Daher w a r der Zusammenbruch der imperialen Idee beim Tode Heinrichs VI. nicht allein eine Folge des Fehlens eines starken Herrschers; er w u r d e ebenso durch den nun erfolgenden allgemeinen Sturmangriff gegen diesen Rechtsanspruch ausgelöst. Goez hat gezeigt, d a ß die endgültige Formulierung der kurialen Translationsidee das W e r k des im Kampf mit Kaiser Friedrich I. liegenden Papstes Alexander III. gewesen ist'", und es gilt festzuhalten, d a ß man hier erneut auf die Erhebung Pippins zum König der Franken Bezug nahm. Im J a h r e 1202 nahm Innocenz III. in seiner berühmten Dekretale „Venerabilem' für das Papsttum nicht nur das Verfügungsrecht über das Imperium, sondern auch über das regnum in Anspruch: das Kaiser-Königtum w a r damit auf höchster Ebene angegriffen und praktisch jedes universalen Anspruchs beraubt worden/' 6 Wohl schwerlich hätte die Reichsgewalt einen solchen Schlag erlitten, wenn ihre Basis im Reich nicht stark erschüttert gewesen wäre. Seit der Regierung Friedrichs I. hatten die Herrscher versucht, mit der Reichsministerialität neue Amtsträger für die Verwaltung zu schaffen und, nach dem Beispiel Frankreichs, geschlossene Machtkomplexe zu errichten, welche ihnen unmittelbar unterstanden/' 7 Die Vernichtung der Macht Heinrichs des Löwen hatte der herrschenden Dynastie schließlich den letzten gefährlichen Rivalen vom Halse geschafft. Aber all diese Maßnahmen konnten nicht 'A Vgl. Goez, W„ a. a. O., S. 104 ff. Ebenda, S. 1 5 1 ; Goez

stützt sich hier auf eine neue Interpretation der Briefe Hillins von

Trier. 40

Vgl. Gierke,

O. v., Das deutsche Genossenschaftsrecht, Bd. 3 : Die Staats- und Korporations-

lehre des Altertums und des Mittelalters und ihre Aufnahme in Deutschland, 2. Aufl., Darmstadt 1 9 5 4 , S. 5 1 4 ff., und Goez, Vgl. Kienast, S. 1 1 0 ff. 4

Sproemberg

W.,

W„ a. a. O., S. 1 6 4 ff.

Französische Krondomäne und deutsches Reichsgut, in: HZ.

165/1942,

38

Stamm, Staat, Imperium

von Erfolg gekrönt sein, d a die Hohenstaufen es verabsäumt hatten, die Städte des Reiches für sich zu gewinnen. So müssen wir letzten Endes feststellen, d a ß die Reichsministerialität nur vorübergehend eine Stütze zu sein vermochte, d a sie, anders als in Frankreich, keine besoldete Beamtenschaft war. Allein mit Unterstützung der Städte hätten die Herrscher ihre Macht festigen können. Der Untergang der Hohenstaufen führte zum endgültigen Zerfall ihres Hausbesitzes; die Situation in Deutschland um 1250 w i r d jedoch dadurch charakterisiert, d a ß es dort keine Familie mit einem so bedeutenden Besitz gab, d a ß sie sich hätte der Krone bemächtigen können - in der Form etwa, w i e dies nach dem Ende der letzten Karolinger die Capetinger vermochten. So begann zu jener Zeit ein Wettstreit der Dynastien um die Erweiterung ihrer Hausmacht. Eine Außenpolitik des Reiches erübrigte sich daher für die nächste Zeit, und es w a r ganz natürlich, d a ß man nach Möglichkeit kleine Lokalfürsten auf den Königsthron erhob, um so die Machterweiterung der Territorialfürsten ohne Hinderung sich vollziehen zu lassen. Wesentlich ist nun die Tatsache, d a ß zur selben Zeit der Rheinische Städtebund versuchte, einen gewissen Einfluß auf die Königswahl zu nehmen; jedoch w a r es wenig verheißungsvoll für die Zukunft, d a ß seine Bemühungen an dem entschlossenen Widerstand der Fürsten scheiterten/' 8 Gerade jetzt erschien das Kurfürstenkolleg als Repräsentanz der Territorialgewalten; das Bürgertum aber sah sich jedes Anteils am Reichsregiment verlustig gehen. Zwar haben die Reichsstädte später ihre eigenen Vertretungen gehabt, die jedoch niemals mehr als eine zweitrangige Rolle spielten - letzteres eine direkte Konsequenz der Politik der Hohenstaufen, unter deren Regierung das Bürgertum daran gehindert wurde, sich zu großen Verbänden zusammenzuschließen, und keine wirklichen Beziehungen zur Zentralgewalt hatte. Hieraus folgt, daß, indem die Fürsten und Kurfürsten fortan einen festen Verband bildeten, die Reichsidee in jener Epoche einen sozusagen korporativen Charakter erhielt. Der Ausdruck „Reichsstände" allerdings ist hier völlig unangebracht, d a es unmöglich ist, das Reich nunmehr als einen Ständestaat anzusehen - w a r es doch so, d a ß die Fürsten sich selbständige Territorien geschaffen hatten, auf die die Zentralgewalt mehr und mehr ihren Einfluß verlor. Daher kann man das Wort „korporativ" keineswegs auf das Reich selbst, mit vollem Recht aber auf die Reichsidee beziehen.' , ' J Obwohl während des 13. und 14. Jh. das Reich nicht mehr zu sein schien als ein Spielball ausländischer Mächte, obwohl in seinem Innern eine Neuordnung noch nicht hergestellt war, w ä r e es doch ein Irrtum, für diese Zeit von einem Verschwinden der Reichsidee zu sprechen. Der korporative Zusammenschluß der Fürsten führte nämlich nach und nach zu der Schaffung einer neuen Basis für diese Idee, wobei der entscheidende Faktor darin lag, d a ß sich innerhalb des Reichsgebietes die übrigen Königreiche vom rein deutschen Gebiet zu scheiden begannen. Ohne Zweifel gehörten Italien und Burgund noch formal zum Reich; jedoch waren die deutschen Fürsten recht wenig geneigt, der Zentralgewalt bei der Behauptung dieser „äußeren" Positionen Unterstützung zu gewähren. Generell ist übrigens zu bemerken, d a ß der Prozeß der Um48 49

Siehe meinen Artikel: La naissance, a. a. O., S. 244 [hier deutsch S. 24]. Vgl. Bosl, K„ in: Gebhardt, B„ a. a. O., Bd. 1, S. 678 (mit Literatur).

Betrachtungen zur Geschichte der Reichsidee

39

Wandlung des Imperium in ein „korporatives" Reich mit der allgemeineuropäischen Entwicklungstendenz jener Zeit übereinstimmte. Mit dem Schlag, welchen Philipp der Schöne 1303 den universalen Ambitionen des Papsttums versetzte, war die politische Weltgeltung der Kurie dahin. Hiervon ausgehend, machte die Translationsidee jetzt erneut eine tiefgehende Wandlung durch. Der Versuch des französischen Königtums, mit Hilfe der translatio durch die Kurie nicht nur das Imperium, sondern auch das regnum zu erhalten, scheiterte, aber wohl schwerlich deshalb, weil, wie Goez annimmt, der König von Frankreich es ablehnte, die Krone aus den Händen des Papstes zu empfangen. D e r wahre Grund hierfür war der Widerstand jener korporativen Reichsidee, welcher in den Beschlüssen von Rhens seinen Ausdruck f a n d j 0 : in dem kaiserlichen Gesetz „Licet iuris" von 1338 wurde jeder Anspruch des Papsttums auf die Königswahl zurückgewiesen - die genannte neue Idee bewies ihre Lebenskraft. Goez wollte hier einen Einfluß der Lehre von der Volkssouveränität annehmen; ihm ist jedoch entgegenzuhalten, daß der Versuch Ludwigs des Bayern, mit Hilfe der Römer die Kaiserkrone zu erlangen, vollständig gescheitert ist. 01 E s war vielmehr die Wandlung der Reichsidee unter dem Einfluß der korporativen Ideen, der die Unabhängigkeit des Reiches sicherte. Im folgenden wurde die Dualität der Reichsverfassung noch sichtbarer; die Reichsgewalt machte ihrerseits den Versuch, das Imperium zu einem wirklichen Ständestaat umzugestalten und die Macht der Fürsten zu beschränken. Diese Politik hatte im Endeffekt keinen großen Erfolg; nichtsdestoweniger jedoch blieb die Zentralgewalt eine Realität und zugleich ein einigendes Band, besonders für die kleinen Territorien. ü Es ist tragisch, aber keineswegs zufällig, daß mehrere Dynastien - Habsburger, Wittelsbacher und Luxemburger - nacheinander eine ansehnliche Hausmacht erwarben und, von ihr ausgehend, stets von neuem versuchten, sich ein Recht auf den Thron zu sichern. Unter Karl I V . schien es möglich, unter Zugrundelegung seines Hausbesitzes das Reich nach französischem Muster umzuformen; der Ausspruch Maximilians, Karl sei Böhmens Erzvater und des Reiches Erzstiefvater gewesen, ist grundfalsch und nur aus habsburgischer Sicht heraus getroffen worden. 53 Aber auch diese Macht verfiel, und die des habsburgischen Hauses entstand zu spät, um die Partikulargewalten noch mit Erfolg in Grenzen halten zu können. 50

Vgl. Goez, W., a. a. O., S. 183, und ferner Kern, F., Gottesgnadentum und Widerstandsrecht im früheren Mittelalter. Zur Entwicklungsgeschichte der Monarchie, 2. Aufl., hrsg. v. Buchner, R„ Münster/Köln 1954, S. 79 ff und 298 ff.

51

Vgl. Goez,

oi

Vgl. Härtung, F., Deutsche Verfassungsgeschichte vom 15. Jh. bis zur Gegenwart, 6. Aufl., Stuttgart 1950, S. 17 ff. (mit Literatur); Bosl, K., in: Gebhardt, B., a . a . O . , Bd. 1, 8. Aufl., S. 678 ff.

ü3

Schon Hampe, K., Herrschergestalten des deutschen Mittelalters, 6. Aufl., Heidelberg 1954, S. 286, hat diese Ansicht Maximilians über Karl IV. zurückgewiesen. Vgl. auch Grundmann, H„ in: Gebhardt, B., a . a . O . , Bd. 1, 8. Aufl., S. 464, und Barraclough, G., Die mittelalterlichen Grundlagen des modernen Deutschland, dt. Übertragung von Baethgen, F., 2. Aufl., Weimar 1955, S. 326 f.

4 *

w., a. a. O., S. 186 und 386 ff.

40

Stamm, Staat, Imperium

Inzwischen waren auch andere bedeutende Territorien entstanden, welche dem korporativen Verband der Fürsten einen Rückhalt bieten konnten. Alle Versuche jedoch, von dieser Basis her zu einer Reichsreform zu gelangen, scheiterten an der aufsteigenden Habsburgermacht; die in diese Richtung zielenden Bestrebungen des 16. Jh. schufen kaum mehr als eine rein äußerliche Ordnung. Zum anderen war die Krone in die Hände einer Macht von europäischer Geltung, eben der Habsburger, gelangt, deren während des Dreißigjährigen Krieges unternommener letzter Anlauf, das Reich ihrer Macht zu unterwerfen, aber auf Grund der Intervention ausländischer Mächte mißlang. Nach dem Westfälischen Frieden schließlich kann man dieses Reich wohl kaum noch anders bezeichnen als eine Konföderation souveräner Staaten. Gleichwohl ist selbst beim Vorhandensein einer derart losen Struktur die Reichsidee noch nicht gänzlich erloschen; es bestand jedoch fortan keine Möglichkeit mehr, das Reich wahrhaft zu reorganisieren, da die deutschen Staaten selbst teilweise zu europäischen Mächten geworden waren. Hier tritt die letzte Etappe in der Geschichte jener Idee ans Licht; sie ist davon beeinflußt, daß das Reich einen föderativen Charakter annahm. Die Reichsidee blieb auch im folgenden erhalten: auf ihre späteren, in einer progressiven Entwicklung zum Nationalstaat hinführenden Formen will ich hier jedoch nicht weiter eingehen, da diese mit der alten imperialen Idee nichts mehr zu tun haben. Der letzte, im Jahre 1848 unternommene Versuch, diese zu realisieren, zeigte, wie bekannt, mehr als deutlich, daß die alte Vorstellung vom Imperium endgültig der Vergangenheit angehörte.5'1 Aber ein anderes Problem muß hier noch berührt werden: hinter jenen Wandlungen der Reichsidee verbirgt sich das langsame Entstehen eines deutschen Nationalgefühls, und die Beziehung zwischen diesen beiden Faktoren ist von erheblichem Interesse. In der Zeit des Untergangs der Hohenstaufen gab es noch kein deutsches Nationalgefühl; das Imperium hatte im Gegenteil einen universalen und abendländischen Charakter. Die Masse des Volkes war noch in einer Vielzahl von lokalen Bindungen verhaftet, und wenn auch die Stammesgegensätze beseitigt waren, so erwiesen sich doch die neuen dynastischen Fesseln, welche jetzt zu wirken begannen, um so stärker. Gerade die in Bildung begriffenen Territorialeinheiten entwickelten ein dynastisches Staatsgefühl - ein Vorgang, welcher der Reichsidee jede Basis zu entziehen schien.4" Aber nun geschah etwas Bemerkenswertes: dieser Entwicklung zum Trotz begann alsbald nach der territorialen Zersplitterung ein Gefühl der Zugehörigkeit zu einer deutschen Gemeinschaft beträchtliche Fortschritte zu machen. Und die Schaffung dieses Bewußtseins war in wesentlichem Maße ein Werk des Bürgertums. Allerdings hat es das Reich nicht vermocht, diesen dynamischen Machtfaktor, wie es die anderen Staaten Westeuropas taten, sich direkt zu verbinden; andererseits jedoch waren auch die Partikulargewalten an ihrem Anfang zu schwach, um die rasch emporsteigenden Kommunen unter ihre Herrschaft zu bringen. Das Bürgertum betrieb '> Siehe meinen A r t i k e l : L a naissance, a. a. O . , S. 2 1 4 [hier deutsch S. 4 ] .

5

55

E b e n d a , S. 2 4 0 ff. [hier S. 21 ff.].

Betrachtungen zur Geschichte der Reichsidee

41

Warenexport und Fernhandel, und diese Tätigkeit drängte es dazu, mit aller Energie, deren es fähig war, Verbindungen über die bestehenden Territorialgrenzen hinweg zu suchen und zu finden. Obwohl das Reich stets ein entschiedener Gegner der Städtebünde gewesen ist, bildeten diese zuletzt doch eine äußerst reale Macht." 6 D a s sich selbst verwaltende Bürgertum war großer finanzieller und militärischer Leistungen fähig, und aus diesem G r u n d e legten die Städtebünde ein wichtiges Netz von Verbindungen über das ganze Reich. Es ist bekannt, d a ß das Bürgertum in den neuen Nationalstaaten eine Hauptstütze für den Aufstieg der Zentralgewalt gewesen ist. Im Reich bemerkt man immer aufs neue den Willen, das von ihm repräsentierte Gemeinschaftsgefühl zur Geltung zu bringen; während des Kampfes Ludwigs des Bayern sind deutlich deutsche Bestrebungen bemerkbar, die darauf hinzielten, sich gegen die Kurie sowie gegen Frankreich zu verteidigen. Es sei hier als ein Beispiel nur an die Schriften des Alexander von Roes erinnert. 07 Im folgenden zeigte sich der Beitrag des Bürgertums zur Entwicklung des Gemeinschaftsgefühls besonders darin, d a ß es dem Bildungsmonopol der Kirche ein E n d e setzte und d a ß die deutsche Sprache in die Urkunden und die Literatur Eingang fand. 0 8 Von den Städtebünden trugen der Schwäbische Bund im Süden sowie die Hanse im Norden entscheidend zur Entstehung eines deutschen Gemeinschaftsgefühls bei. Bei der Hanse wird dies besonders augenfällig. Nannten sich die hansischen Kaufleute zunächst „universi mercatores Romani imperii", so tritt seit 1358 an die Stelle dieses Ausdrucks der N a m e „Deutsche Hanse" - wir sehen unter dem Einfluß des Bürgertums die Reichsidee in ein deutsches Zusammengehörigkeitsgefühl sich wandeln. Bekanntlich hat die Hanse als solche keinerlei Beziehungen zum Reich besessen; sie hat keinen Einfluß auf die Reichsangelegenheiten ausgeübt und wollte einen solchen auch niemals ausüben. 69 Nichtsdestoweniger treffen wir hier ununterbrochen den Gedanken einer ökonomischen und kulturellen Gemeinschaft innerhalb des Reiches an. Aber es gilt zu beachten, d a ß der Ausdruck „Deutsche Hanse" niemals den Anspruch enthalten hat, in Hinsicht auf Deutschland allumfassend zu sein; umfaßte die Hanse doch nicht sämtliche deutsche Städte, sondern nur einen Teil derer, in denen niederdeutsch gesprochen wurde. 00 Es ist festzuhalten, daß sich die Hanse zu den in Ausdehnung begriffenen Territorialfürstentümern, welche nach und nach die binnenländischen Hansestädte unter ihre Gewalt brachten, im Gegensatz befand. U n d die Versuche des Deutschen Reiches von 1870/1871, seine Ansprüche auf Herrschaft über die Meere von der dominierenden Rolle herzuleiten, die die Hanse einst in der Ost- und Nordsee spielte, sind historisch in keiner Weise legitimiert. 50 5/

58

59

00

Vgl. Mitteis, H., Der Staat d. hohen Mittelalters, 4. Aufl., a. a. O., S. 350. Über Alexander von Roes vgl. Grundmann, H., in: Gebhardt, B., a . a . O . , Bd. 1, 8. Aufl., S. 423, mit bibliographischen Nachweisen. Vgl. Johansen, P., Umrisse und Aufgaben der hansischen Siedlungsgeschichtc und Kartographie, in: HGbll. 73/1955, S. 100 ff. Siehe meinen Artikel: Die Hanse in europäischer Sicht, in: Dancwerc opstellen aangeboden an Tb. Enklaar ter gelegenheid van zijn vijfenzestigste verjaardag, Groningen 1959, S. 148. Ebenda, S. 149.

42

Stamm, Staat, Imperium

Das Wirken der Hanse brachte es mit sich, daß sich überall dort, wo sie wirtschaftlich tätig war, auch die niederdeutsche Sprache ausbreitete und das deutsche Recht von Lübeck und Magdeburg aus bis tief in die osteuropäischen Gebiete hinein vordrang. Da die beiden genannten Städte juristische Oberinstanzen blieben, bildeten sich in dem von jenem Recht erfaßten Bereich besonders enge Bindungen heraus. W a s die Hanse als Kulturfaktor sowie als Mittler zwischen West und Ost bedeutet hat, haben gerade die jüngsten Forschungen präzise herausgearbeitet. 61 Die hansische Tradition, welche ihre Wirkung bis in die Neuzeit hinein ausübte, hat folglich grundlegend zu einer Art Vereinheitlichung des deutschen Bürgertums beigetragen und damit selbst in den dunkelsten Zeiten der deutschen Zerstückelung ein Gefühl der Zusammengehörigkeit über alle territorialen Grenzen hinweg aufrechterhalten können. Die letzten drei großen Hansestädte Lübeck, Hamburg und Bremen vergaßen nicht, daß sie ihre bevorzugte Stellung dem Reiche verdankten; das Wiedererscheinen einer Reichsidee wurde hierdurch dort wesentlich beeinflußt, und die demokratische und republikanische Tradition, die in ihnen herrschte, spielte in der Zeit zwischen 1870 und 1918 eine wichtige Rolle. Durch den Humanismus und die Reformation gewann die bürgerliche Gesellschaft entscheidende Positionen. Die Feudalkirche wird ersetzt durch eine Beamtenkirche, in der die Bürger bis in die höchsten Stellungen gelangten. Fast ohne Ausnahme stammten die Humanisten, durch deren Wirksamkeit die Schulen und die weltliche Bildung einen gewaltigen Aufschwung erfuhren und das Bewußtsein einer geistigen Gemeinschaft sich weit über die alten Städtebünde hinaus durch ganz Deutschland verbreitete, aus bürgerlichen Familien. Die Reformation steht mit den eben geschilderten Vorgängen in engem Zusammenhang. Ihre Inspiratoren kamen aus bürgerlich-humanistischen Kreisen, und die Bibelübersetzung Luthers brachte allen Deutschen für die Zukunft eine einheitliche Schriftsprache. W a s die Hanse im niederdeutschen Raum geschaffen hatte, wurde durch die Reformation auf das gesamte deutsche Sprachgebiet ausgedehnt: die Dialekte - das Niederdeutsche selbst einbegriffen - mußten in der Hörsprache wie beim geschriebenen Wort der neuen Schöpfung weichen. Während die Vereinheitlichung der Sprache in Frankreich durch den Hof und die Behörden vornommen wurde, war sie in Deutschland das Werk des Bürgertums. Die Rückwirkung dieser Entwicklung auf die Reichsidee konnte nicht ausbleiben, und sie zeigte sich sogleich beim Lenker des Imperiums selbst. Am 8. Februar 1508 regelte Maximilian I. endgültig die Frage des Kaisertitels, indem er aus eigener Machtvollkommenheit erklärte: „Wollet Uns nennen gestracks: Römischen Kaiser. . . alles nicht allein um Unserer ehre willen, sondern mehr zu Bestätigung und behaltung des Römischen Kaysertums, Unser allen und Teutscher Nation zu ehren." Goez hat hierzu bemerkt, daß diese Forderung auf politischer Ebene das Ende der kurialen Translationstheorie bedeutete. 02 Aber in allgemeinerem Zusammenhang gesehen wäre es 61

Vgl. Brandt, A. v., Das Ende der hanseatischen Gemeinschaft. Ein Beitrag zur neuesten Geschichte der drei Hansestädte, in: HGbll. 74/1956, S. 65 ff.

62

Goez, W., a. a. O., S. 1 8 7 ; siehe auch die Rede Papst Pius' XII. auf dem Historikerkongreß zu Rom (Relazioni, Bd. 3, a. a. O., S. 1 6 ff.)

Betrachtungen zur Geschichte der Reichsidee

43

fehlerhaft, die im Hintergrund stehende, aus bürgerlicher Quelle stammende Betonung eines gesamtdeutschen Bewußtseins ignorieren zu wollen. Obwohl die Politik Maximilians habsburgisch und nicht deutsch war, zeigte sich gerade unter seiner Regierung eine Bewegung von unten für eine Reichsreform in wahrhaft deutschem Geiste: man denke an die Tätigkeit Bertholds von Henneberg 13 , die den Höhepunkt der korporativen Reichsidee markiert. Aber als diese Bewegung am Widerstand des Kaisers scheiterte, versuchte man eine andere, revolutionäre Reform mit anderen Mitteln durchzusetzen. Zunächst war es der Adel, der sich der Fürstenmacht in einer Bewegung entgegenstellte, in welcher ökonomische Forderungen eine wesentliche Rolle spielten. Im Vordergrund stand hier Ulrich von Hutten, der eine Verjüngung der Nation als Bedingung für die Wiederherstellung des Reiches forderte. D i e Partikulargewalten, geistliche wie weltliche, sollten beseitigt werden: es galt, ein einiges Deutschland, ein Deutschland freier Menschen zu schaffen, das nur ein H a u p t kannte: den zu neuer Herrlichkeit erhobenen Kaiser. „Mut, Mut, ihr Deutschen, hindurch, es lebe die Freiheit!", rief Hutten aus. Hier erscheint die Reichsidee damit vollkommen gewandelt: obwohl Hutten durch seine A b k u n f t der alten Zeit noch verhaftet war, glaubte er doch, ein neues Reichsideal verwirklichen zu können: das eines freien und einigen Deutschlands. 6 '* Man sieht hier, wie eng sich die Reichsidee mit der von den unteren Gesellschaftsschichten getragenen deutschen Einheitsbewegung liiert, und wenn die genannten Bestrebungen endlich doch zum Scheitern verurteilt waren, dann deshalb, weil der Reichsadel selbst nicht über die genügende militärische Stärke verfügte, um die Macht der Fürsten brechen zu können, und weil der Kaiser ihm weder Unterstützung gewähren konnte noch wollte. Kurz darauf erhob sich im Bauernkrieg eine weitere, entschieden radikalere Bewegung, in deren Verlauf der Wille zur Reform des Reiches klar erkennbar war und starke K r ä f t e die bestehende soziale Ordnung zu erschüttern und umzuwälzen drohten. Aber dieses Unternehmen hatte nicht mehr E r f o l g als das vorige: ebenso wie einst bei den Bauernaufständen in England und Frankreich wurden Bürgertum und Adel durch die radikalen sozialen Forderungen der deutschen Bauern in das Lager der Fürsten getrieben. Dennoch bleibt festzustellen, d a ß hier der G e d a n k e eines von der großen Masse des Volkes getragenen Reiches erscheint; die Reichsidee hatte sich ein weiteres Mal umgeformt: in die Vorstellung von einem einigen, sozial gerechten Staat. Der damalige Kaiser Karl V. stand diesen Ereignissen teilnahmslos gegenüber. Er, der selbst in Spanien demokratische Bewegungen unterdrückt hatte, hegte für eine Reichsreform auch nicht das geringste Interesse; seine Vorstellung war die eines universalen, autokratischen und dynastischen Reiches in seiner reinsten mittelalterlichen Form. 65 63

64 65

Vgl. Härtung, F., a. a. O., 6. Aufl., S. 28, sowie Baethgen, F., in: Gebhardt, B., a. a. O., Bd. 1, 8. Aufl., S. 579 ff. Vgl. limmermann, W., Der große deutsche Bauernkrieg, Berlin 1952, S. 141 ff. Vgl. Rassow, P„ Die politische Welt Karls V., München 1942, S. 20 ff.

44

Stamm, Staat, Imperium

D e r Sieg verblieb also den Partikulargewalten, besonders da das deutsche V o l k während des Dreißigjährigen Krieges derart zu leiden hatte, d a ß den Bürgern und B a u e r n nunmehr j e d e Initiative fehlte. D a h e r gelang es den Herrschern der T e i l staaten, diese immer stärker zu zentralisieren, und es schien, als w ä r e das Schicksal des deutschen Staates und der Reichsidee nunmehr endgültig besiegelt. Jedoch im 18. J h . , als die Folgen jenes K r i e g e s in all ihrer Schwere überwunden waren, erlebte das Bürgertum einen neuen wirtschaftlichen Aufschwung. U n t e r dem E i n f l u ß der Ereignisse in Frankreich begannen bürgerliche K r e i s e , auf literarischer E b e n e ein neues, geistiges Deutschland zu schaffen, in dem die Reichsidee jedoch noch eine recht bescheidene R o l l e spielte. Sehr langsam nur fanden die Deutschen den W e g , der von einer rein geistigen Gemeinschaft zur Erneuerung dieser Idee führte. E i n e Äußerung Schillers aus dem J a h r e 1 8 0 1 kann hierfür als besonders markantes Zeugnis angeführt w e r d e n : „Deutsches Reich und deutsche N a t i o n sind zweierlei D i n g e . . . Abgesondert von dem Politischen hat der Deutsche sich einen eigenen W e r t gegründet, und wenn auch das Imperium unterginge, so bliebe die deutsche W ü r d e unangefochten . . . Indem das politische Reich wankt, hat sich das geistige immer fester und vollkommener gebildet." D i e s e Schillerschen Sätze machen deutlich, d a ß sich die Reichsidee jetzt sozusagen spiritualisiert h a t ; in ihrem Innersten jedoch zeigt sich das G e f ü h l einer geistigen Gemeinschaft der N a t i o n nur um so stärker. Schiller schrieb diese Sätze kurze Z e i t vor der Auflösung des alten Reiches, und man kann bei ihm bereits den Übergang von dem Universalreich von einst zu einer auf gemeinsamer Sprache und

Kultur

beruhenden Gemeinschaft wahrnehmen. Abschließend sei gesagt, daß, wenn er auch das politische Ziel noch nicht sah, er doch eine Vorstellung hatte von der begeisternden K r a f t einer neuen Reichsidee. 0 6 M i t der revolutionären Bewegung von 1 8 4 8 erschien in Deutschland eine „ R e n o v a t i o " der mittelalterlichen Reichsidee; jedoch erkannte man in dem berühmten Paulskirchen-Parlament zu Frankfurt sehr rasch die Unmöglichkeit, das einstige

Imperium

in einen deutschen Nationalstaat umzuwandeln. D a s „Heilige Römische Reich deutscher N a t i o n " w a r tot seit 1 8 0 6 , und das für immer. D a s Reich von 1 8 7 0 / 1 8 7 1 vermochte es am allerwenigsten, als wirklich deutscher Nationalstaat auf der G r u n d l a g e einer neuen Reichsidee zu fungieren. Siehe meinen A r t i k e l : Schiller und der Aufstand der Niederlande, i n : Sproemberg,

H.

Beiträge

zur belgisch-niederländischen Geschichte, Berlin 1 9 5 9 , S. 3 3 4 ff. (Forschungen zur mittelalterlichen Gesdiichte, hrsg. v. Sproemberg,

H., u. a., B d . 3 ) .

DIE ALLEINHERRSCHAFT IM MITTELALTERLICHEN IMPERIUM 919-1024* Lange Zeit konnte es verhältnismäßig einfach erscheinen, einen Abriß der Rechtsstellung der sächsischen Herrscher als Kaiser und Könige zu geben. Diese Periode galt als besonders gut erforscht; die Quellen und Urkunden waren fast vollständig und mustergültig im Rahmen der Monumenta Germaniae publiziert und kritisch untersucht. 1 Die große Kontroverse zwischen Sybel und Ficker über die Bedeutung des Kaisertums war abgeklungen und hatte einer gewissen Kompromißlösung Platz gemacht. 2 Gewiß gab es gerade über die Königswahl Heinrichs I. noch eine Diskussion, die aber allmählich abgeflaut war.' 1 So konnte denn Robert Holtzmann das Ergebnis der Forschungen ziehen und, nicht zuletzt gestützt auf eigene Arbeiten, gleichsam eine endgültige Darstellung bieten, während gleichzeitig Heinrich Mitteis in seinem „Staat des hohen Mittelalters" eine große Schau der Verfassungsgeschichte gab, die gleichfalls abschließend zu sein schien.'* So hoch die fachwissenschaftliche Leistung dieser Arbeiten anzuschlagen ist, so ist doch nicht zu verkennen, daß sie von der Grundanschauung beeinflußt waren, die sich die deutsche Geschichtswissenschaft im 19. Jh. über das Mittelalter und insbesondere über diese Periode gebildet hatte. Diese hatte ihren Ursprung in der Romantik und kam in ihrer Verklärung dem Wunsch nach einem großen und mächtigen einheitlichen deutschen Reich entgegen, für das man in der glänzenden Machtstellung der mittelalterlichen Kaiser ein Vorbild und auch einen Rechtsanspruch zu haben glaubte. Während man im 17. und 18. Jh. nur ein geringes Interesse für diese Kaiserzeit gezeigt und das Ende des mittelalterlichen Imperiums im Jahre 1806 mit Gleichgültig* Recueils de la Société Jean Bodin 2 1 / 1 9 6 9 , S. 2 0 1 - 2 3 9 . 1

Vgl. Wattenbach,

W. / Holtzmann,

R., Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter. Deutsche

Kaiserzeit, Bd. 1 : Das Zeitalter des ottonischen Staates, Berlin 1 9 3 8 ff. [jetzt: 3. Aufl., Die Zeit der Sachsen und Salier, Neuausgabe, besorgt von Schmale, 2

Vgl. die Neuausgabe der Streitschriften Sybels

F.-]., Bd. 1, Weimar 1 9 6 7 ] .

und Ficker s durch Schneider,

F., unter dem

Titel: Universalstaat oder Nationalstaat. Macht und Ende des ersten deutschen Reiches, Innsbruck 1 9 4 1 , sowie den Aufsatz desselben: Neuere Anschauungen der deutschen Historiker zur Beurteilung der deutschen Kaiserpolitik im Mittelalter, Weimar 1 9 3 4 . 3

Vgl. über diese Kontroverse Ernst,

F., in: Gebhardt,

B., Handbuch der deutschen Geschichte,

Bd. 1 : Frühzeit und Mittelalter, 8. Aufl., Stuttgart 1 9 5 4 , S. 1 6 5 ff. Holtzmann,

R., Geschichte der sächsischen Kaiserzeit, 3. Aufl., Berlin o. J., und Mitteis,

H.,

Der Staat des hohen Mittelalters. Grundlinien einer vergleichenden Verfassungsgeschichte des Lehnszeitalters, 4. Aufl., Weimar 1 9 5 3 .

46

Stamm, Staat, Imperium

keit betrachtet hatte, wird im Laufe des 19. Jh. das Kaisertum gleichsam das Symbol einer nationalen Wiedergeburt, und mit voller Absicht hat man 1871 den Titel eines deutschen Kaisers geschaffen, dem übrigens der damalige König von Preußen recht skeptisch gegenüberstand. Aber wie hinter der Kontroverse Sybel/Ficker politische Anschauungen (groß- und kleindeutsch) als maßgebende Faktoren standen, so war der Ausgleich dieser Differenz, d. h. der Einbau der mittelalterlichen Kaiseridee in die historische Sicht der deutschen Geschichte, seit 1870 nicht ohne politische Motive. Es war der RankeSchüler Wilhelm von Giesebrecht, der in seiner „Geschichte der deutschen Kaiserzeit" die Anschauung von der Kaiserzeit als der glänzendsten Periode „deutscher Geschichte" weiteren Kreisen vorgetragen hat. Der Erfolg dieses Werkes machte es zur Grundlage des hochmittelalterlichen Geschichtsstoffes in Schulen und Universitäten, zumindest bis 1914. 5 Aber auch nach der Niederlage von 1918 verschwanden diese Ansichten nicht; sie sind sogar in Reaktion auf die Niederlage erneut aufgegriffen und dann in konsequenter Weise durch den Nationalsozialismus, allerdings in verzerrtem Maße, mißbraucht und übersteigert worden. Während man im Anfang des 19. Jh. das Kaisertum zum Einheitssymbol gemacht hat, ohne den nationalen Charakter zu übersteigern (so z. B. in der Nationalversammlung in der Paulskirche zu Frankfurt 1848), hat man es nach 1871 rein national aufgefaßt. Danach hat Heinrich I. 919 ein deutsches Reich gegründet, und Otto I. hat das Kaisertum zu den Deutschen gebracht. Ganz selbstverständlich datierte man also den Beginn einer deutschen Geschichte auf das Jahr 919.° Man hatte damit nicht nur das Königtum Heinrichs I. und seiner Nachfolger als Rechtsanspruch für das deutsche Volk gewonnen, sondern fing nun auch an, das Kaisertum, also einen universalen Titel, als Legitimation einer deutschen Vormachtstellung in Europa zu verwenden. Daraus wurde unter dem Nationalsozialismus, obwohl dieser den Kaisertitel nicht gebrauchen konnte, die „politische Sendung des deutschen Volkes". Wenn man nun seit dem Zusammenbruch von 1945, gestützt auf Ergebnisse der Nachbarwissenschaften, auch in Deutschland andere Anschauungen über das mittelalterliche Imperium vorträgt, so bleibt es doch erschütternd, daß im Jahre 1955 ein Göttinger Rechtshistoriker diese alten Thesen, und zwar in sehr scharfer Form, wieder äußern konnte. Zwar bemerkt er, daß man eigentlich nicht von deutschen Kaisern des Mittelalters sprechen könne - aber gleichviel: er tut es doch. Diese Rechtsausführungen gipfeln in der Erklärung, daß das Reich von 919 als „deutscher Nationalstaat" aufzufassen sei, der nicht nur auf der Initiative des Königtums, sondern auf dem Willen des deutschen Volkes, das bereits vollkommen nationalbewußt sei, beruhte. Dabei wird allerdings eine juristische Konstruktion eines Nationalstaates vorgetragen, die über die Nation hinausgeht. Ferner wird auf das Bluterbe hingewiesen, das ein entscheidendes Element für das mittelalterliche Imperium gewesen sei. Tatsächlich 5

Giesebrecht, W. v., Geschichte der deutschen K a i s e r z e i t , Bd. 1, 5. Fueter, E., Geschichte der N e u e r e n Historiographie,

die K r i t i k v o n

A u f l . , Leipzig 1 8 8 1 .

Dazu

München und Berlin 1 9 1 1 ,

S. 4 1 6 ff. 0

So Sdjäfer, D., Deutsche Geschichte, Löwe, H., i n : Gebhardt, B., a. a. O.,

B d . 1, 1. A u f l . , J e n a 1 9 1 0 , S. V ff. Vorsichtiger spricht S. 7 8 ff., s'on „Deutschland im fränkischen Reich".

47

D i e Alleinherrschaft im mittelalterlichen Imperium

wird also behauptet, daß Heinrich I. gleichsam nur die Konsequenz aus dem vorhandenen Nationalbewußtsein gezogen habe, um einen deutschen Nationalstaat aufzubauen. D a ß dies an die nationalsozialistische Theorie anklingt, ist unverkennbar.' Wie wenig es aber dem tatsächlichen Stand der Forschung entspricht, zeigt z. B . ein Vortrag von Walther Holtzmann auf dem Internationalen Historikerkongreß in Rom über das Thema „Imperium und Nationen". Darin heißt es: „Die Frage, wie das abendländische Imperium des Mittelalters zu beurteilen sei, beschäftigt die deutsche Geschichtswissenschaft seit bald hundert Jahren, ohne daß bisher eine allseits befriedigende Antwort gefunden worden wäre. Der Grund hierfür liegt darin, daß bei dieser Fragestellung ein politisches Moment mitschwingt." Ferner: „Unverkennbar ging die ältere Diskussion von einem politischen Weltbild aus, das in dem modernen Nationalstaat des 19. Jh. das Ziel der historischen Entwicklung erblickte. Nach den Erlebnissen und Ergebnissen des letzten Weltkrieges ist es jedoch zweifelhaft geworden, ob dies der göttlichen Weisheit letzter Schluß ist, und so erhält die Geschichtswissenschaft wiederum aus Antrieben, die sich ihr von außen her aufdrängen, die Aufforderung, das Problem neu zu überdenken". 8 In ähnlicher Weise hat sich Otto Brunner neuerdings geäußert: „Geschichte ist ohne Bezug auf die Gegenwart, die jeweilige Gegenwart nicht möglich. Aus ihr stammen die Fragestellungen, sie verfestigen sich und sinken zu Schlagworten herab. D e r Wandel innerer Strukturen ist langfristig, und es bedarf längerer Zeit, um ihn wissenschaftlich zu erfassen. Es bleibt nur der Weg, die aus dem Leben selbst an uns herankommenden Fragestellungen zu analysieren, in ihrer Bedingtheit zu erkennen, eine Auseinandersetzung, die immer aufs neue unternommen werden muß". 9 Das gilt nun auch für die Frage der Alleinherrschaft, denn vom rechtsgeschichtlichen Standpunkt muß der veränderten Situation Rechnung getragen werden. E s muß geprüft werden, ob die bisherigen Definitionen, die die Rechtshistoriker für die mittelalterliche Verfassungsgeschichte aufgestellt haben, so groß auch deren wissenschaftliche Verdienste waren, nicht auch zeitbedingt gewesen sind. Otto Brunner hat schon seit längerer Zeit auf Grund der neuen Forschungsergebnisse darauf hingewiesen, daß diese juristischen Definitionen allzusehr unter dem Eindruck der Verhältnisse im 19. Jh. gestanden haben. Sogar gegen Mitteis hat er diesen Einwand erhoben, und

' Hugelmann, K. G.,

Nationalstaat und Nationalitätenrecht im deutschen Mittelalter, B d .

1 :

Stämme, Nation r n d Nationalstaat im deutschen Mittelalter, Stuttgart 1 9 5 5 , S. 2 4 8 ff und 4 1 2 . Vgl.

Zöllner, E.,

D i e politische Stellung der V ö l k e r im Frankenreich, W i e n 1 9 5 0 , S. 5 5 und

S. 3 7 , Anm. 6 5 , der diese Auffassung geradezu als nationalsozialistisch bezeichnet. Nicht unkritisch, aber doch ohne Erkenntnis der grundsätzlichen Bedeutung 8

Age, 4 e série, 1 4 / 1 9 5 9 , S. 3 9 8 ff.; eindeutig dagegen

Holtzmann, W.,

Heitz, G.,

Hlawitschka, E.,

in : L e Moyen

i n : D L Z . 8 1 / 1 9 6 0 , Sp. 6 7 6 .

i n : Relazioni, Bd. 3, Florenz 1 9 5 5 , S. 2 7 5 ff. ; dazu: Atti, R o m 1 9 5 5 , S. 3 3 5 fi.

Bereits früher hatte

Holtzmann, R.,

auf dem Züricher Historikerkongreß in seinem V o r t r a g :

D e r Weltherrschaftsgedanke des mittelalterlichen Kaisertums und die Souveränität der euro3

päischen Staaten (in: H Z . 1 5 9 / 1 9 3 9 , S. 2 5 1 ff.) die bisherige Auffassung angegriffen.

Brunner, O., und Literatur

Feudalismus. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte, i n : Akademie der Wissenschaften [in Mainz] ; Abhandlungen

Jg. 1 9 5 8 , nr. 10, S. 6 2 7 .

der geistes-

und sozialwissenschaftlichen

Klasse,

Stamm, Staat, Imperium

48

m a n w i r d ihm darin nur beipflichten k ö n n e n . M a n m u ß sich grundsätzlich k l a r w e r d e n , d a ß m a n aus der A u f f o r d e r u n g , neue L ö s u n g e n zu

finden,

darüber

den S c h l u ß

zu ziehen hat, an diese A r b e i t zu gehen. E s w i r d dies o h n e Z w e i f e l zu einer neuen und v e r t i e f t e n Sicht des M i t t e l a l t e r s führen, und m a n w i r d , w i e auch B r u n n e r b e t o n t , g e r a d e die politische und verfassungsgeschichtliche A u f f a s s u n g des M i t t e l a l t e r s u m g e stalten müssen, w o b e i auch er es für entscheidend hält, d a ß m a n der Sozialstruktur eine ganz a n d e r e A u f m e r k s a m k e i t

als bisher zu w i d m e n habe. 1 0 I n diesem

Sinne

möchten die f o l g e n d e n A u f f a s s u n g e n als ein b e s c h e i d e n e r V e r s u c h gewertet w e r d e n , A n r e g u n g e n zu neuen D e f i n i t i o n e n für das P r o b l e m der A l l e i n h e r r s c h a f t zu geben. D e r E i n s a t z p u n k t ist bei der Untersuchung der B e g r i f f e „deutsch", „deutsches N a t i o n a l b e w u ß t s e i n " , „deutscher N a t i o n a l s t a a t " und „deutsche K a i s e r " zu suchen, denn, w i e b e m e r k t , sind neuerdings durch H u g e l m a n n diese w i e d e r in den

Vordergrund

gestellt w o r d e n . E s geht d a b e i um die F r a g e , ob das R e i c h H e i n r i c h s I. eine w i r k l i c h e N e u s c h ö p f u n g w a r und w i e dieser zum regnmii

Francorum

steht, bei dem e b e n f a l l s

der „ n a t i o n a l e C h a r a k t e r " zu untersuchen ist. Schließlich geht es um das v i e l u m s t r i t t e n e P r o b l e m des I m p e r i u m s und dessen V e r h ä l t n i s zu der „deutschen N a t i o n " und den übrigen christlichen R e i c h e n . V i e l l e i c h t d a r f doch vorausgeschickt w e r d e n ,

daß

schon F r i e d r i c h M e i n e c k e in seinem b e r ü h m t e n Buch über „ W e l t b ü r g e r t u m und N a t i o n a l s t a a t " e r k l ä r t hat, d a ß v o n deutscher N a t i o n und deutschem N a t i o n a l s t a a t erst im 1 9 . J h . gesprochen w e r d e n kann. 1 1 Schon daraus ersieht m a n , w i e bedenklich die A n w e n d u n g solcher B e g r i f f e auf das hohe M i t t e l a l t e r ist, w i e dies j a auch B r u n n c r b e m e r k t hat. M a n w i r d n i e m a l s leugnen können, d a ß im Reich Heinrichs I . es die w e s t g e r m a n i schen S t ä m m e w a r e n , aus denen das deutsche V o l k entstanden ist, die die eigentliche, w e n n auch nicht einzige B a s i s des I m p e r i u m s g e b i l d e t h a b e n , und m a n soll diese L e i stung nicht v e r k l e i n e r n . A b e r es ist eine a n d e r e F r a g e , ob d a m a l s ein solches N a t i o n a l b e w u ß t s e i n v o r h a n d e n w a r und ob, w i e H u g e l m a n n behauptet, schon 9 1 9 das deutsche V o l k sich seinen N a t i o n a l s t a a t schuf. N a c h dem S t a n d der heutigen

Forschung

w a r e n d i e F r a n k e n schon bei der L a n d n a h m e ein politischer V e r b a n d v e r s c h i e d e n e r V ö l k e r s c h a f t e n , und nur zu b a l d sind sie im regnum

Francorum

ein politischer B e g r i f f

geworden. 1 2 E s ist eine Irreführung, d i e herrschende Schicht der M e r o w i n g e r -

und

K a r o l i n g e r z e i t auch h e r k u n f t s m ä ß i g als F r a n k e n zu bezeichnen und nicht zu beachten, d a ß frühzeitig in der R o m a n i a nicht nur „ r o m a n i s i e r t e F r a n k e n " , sondern auch R o m a n e n zu ihr gehört h a b e n . A u f diesem W e g e ist es, wenn auch nicht allein, zur G l e i c h s e t z u n g v o n „Francia"

10

11

=

F r a n k r e i c h g e k o m m e n , denn v o n A n f a n g an hat das

Ders., Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Südostdeutschlands im Mittelalter, 2. Aufl., Brünn/München/Wien 1942, S. X ff. (Veröffentlichungen des Instituts für Geschichtsforschung und Archivwissenschaft in Wien, Bd. 1), und ders., Feudalismus, a. a. O., S. 593. Meinecke, F., Weltbürgertum und Nationalstaat, 7. Aufl., München 1928, S. 1 ff.

^ Hierüber neuerdings ausführlich Wenskus, R., Stammesbildung und Verfassung. Das Werden der frühmittelalterlichen gentes, Köln/Graz 1961. Dazu meine Rezension in: DLZ. 85/1964, Sp. 682 ff. [vgl. die erweiterte Fassung hier S. 67 ff.].

49

D i e Alleinherrschaft im mittelalterlichen Imperium

Schwergewicht des regnum Francorum im Westen gelegen. 13 Es gibt zu Beginn des 10. Jh. vor allem bei der herrschenden Schicht ein fränkisches Reichsgefühl, aber dieses ist nicht von fränkischem oder deutschem „Bluterbe" getragen, sondern steht über Stammes- und Rassengefühlen. 1 '' Dies ist die Situation, die 919 zu berücksichtigen ist. Tellenbach bemerkt: „Weder Deutsche noch Franzosen glaubten im allgemeinen neue Staaten geschaffen zu haben, sie selbst und ihre Reiche halten an den fränkischen Bezeichnungen fest". 1 ' Besonders hat nun die Germanistik Entstehung und Entwicklung des Wortes „deutsch" untersucht. Dabei ergibt sich, daß etwa in der Zeit Karls des Großen das Wort „theudisk" auftaucht, übrigens in Westfranken, d a ß aber dieses Wort vom H o f e aus angewandt wurde. Sehr langsam verbreitet sich dieser sprachliche Gesamtbegriff, und erst im 13. Jh. kann man von einer allgemeineren Anwendung sprechen. 10 Aber das bezieht sich auf die Sprache, und auch bei dieser ist zu bemerken, d a ß eine gemeinsame deutsche Hochsprache erst in das 16. Jh. gehört. Auf politischer Ebene sieht es noch anders aus. Auch hier wäre wieder auf Tellenbach hinzuweisen, der bemerkt, d a ß den unteren Ständen, die in landschaftlicher Gebundenheit lebten, das Reich mit seinen großen Zielen und seinem Walten in der Welt verhältnismäßig 13

D a r a n ändert nichts die durch die Forschungen von Steinbach

und Petri festgestellte stärkere

fränkische L a n d n a h m e in Nordfrankreich. Über die politische Formung der Franken und der westgermanischen Stämme vgl. Wenskus,

R., a. a. O., S. 5 7 3 ff. Sehr beachtlich ist noch immer

das Kapitel „Le patriotisme gallo-franc" in dem W e r k von Lot, Paris 1948, S. 193 ff. Vgl. auch Schalk, Vertrag von V e r d u n 843, hrsg. v. Mayer, 1/1

Vgl. hierzu Tellenbach,

F., Naissance de la F r a n c e ,

F., Die Entstehung der französischen N a t i o n , in: D e r Th., Leipzig 1943, S. 137 ff.

G., V o n der Tradition des fränkischen Reiches in der deutschen u n d

französischen Geschichte des hohen Mittelalters, i n : ebenda, S. 181 ff. 15

Vgl. ebenda, S. 183.

lu

Grundlegend

sind die Forschungen von Weisgerber,

L.,

zusammengefaßt in: Deutsch

als

Volksname. Ursprung und Bedeutung, Stuttgart 1953, S. 98 ff. und 291. D i e Germanistik hat aber noch nicht immer die Konsequenz hieraus gezogen. So hat Polenz,

P. v., Karlische Re-

naissance, Karlische Bildungsreformen und die A n f ä n g e der deutschen Literatur, in: Mitteilungen des Marburger Universitätsbundes 1959, 1/2, gegen die Auffassung von Baesecke,

G.,

Stellung genommen, der von dem A n f a n g einer deutschen Literatur unter K a r l d e m G r o ß e n spricht, und er hat ebenso die Auffassung von einer althochdeutschen Schriftsprache abgelehnt (S. 32 und 37). Vielmehr sagt er, d a ß erst im 11. Jh. mit dem Erwachen des religiösen Bildungsbedürfnisses des niederen Adels eine literatur-soziologische G r u n d l a g e für einen A n f a n g einer deutschen Literatur geschaffen sei (S. 38). W e n n daher die berühmte Stelle in E i n h a r d s Vita Karoli (c. 29, ed. O. Holder-Egger,

M G . SS. rer. G e r m , in us. schol., 6. Aufl., H a n n o v e r

1911, Neudruck 1927, S. 3 3 ) : „ I t e m barbara mandavit"

et antiquissima

carmina . . . scripsit

memoriaeque

noch in der neuesten Ausgabe übersetzt w i r d : „Ebenso ließ er die uralten deutschen

Lieder aufschreiben" (Übersetzung von Rau, R., i n : Quellen zur karolingischen Reichsgeschichte, 1. Teil, Berlin o. J. [1955], S. 201 [Ausgewählte Q u e l l e n zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe,

hrsg. v. Buchner,

R.,

Bd. 5]), so hat

Polenz

hierbei vorsichtigerweise von „germanisch" gesprochen; richtiger w ä r e natürlich „fränkisch" zu sagen. Auch die W a h l des Ausdruckes „frühdeutsch" b e d e u t e t zwar eine Distanzierung, trägt aber der Situation keine Rechnung, d a ß , wie Polenz

sagt, in der Ottonenzeit mundartlich noch

so starke Differenzen v o r h a n d e n waren, d a ß eine einheitliche Literatur nicht gedeihen konnte.

Stamm, Staat, Imperium

50 gleichgültig

oder

ganz

fremd

geblieben

ist. 1 '

Ferner

ist es

ebenfalls

Teilenbach

gewesen, der nachgewiesen hat, d a ß die sogenannten deutschen S t a m m e s h e r z o g t ü m e r politische N e u s c h ö p f u n g e n des 9. J h . w a r e n und durch d i e I n i t i a t i v e v o n der hohen karolingischen R e i c h s a r i s t o k r a t i e entstanden

Familien

sind. 1 8 D a m i t rücken

diese

S t a m m e s h e r z o g t ü m e r in d i e N ä h e der französischen L e h n s f ü r s t e n t ü m e r . B e i d e n ä m lich v e r d a n k e n ihr A u f k o m m e n dem V e r s a g e n der Z e n t r a l g e w a l t bei

gleichzeitiger

schwerster B e d r o h u n g v o n a u ß e n durch A r a b e r , N o r m a n n e n und U n g a r n und nicht zuletzt dem Fortschreiten der F e u d a l i s i e r u n g , durch d i e d i e großen F e u d a l h e r r e n mit ihren P a n z e r r e i t e r a u f g e b o t e n ein i m m e r b e d e u t e n d e r e r militärischer F a k t o r w u r d e n . So k o n n t e aus diesen K r e i s e n d i e Sicherung nach a u ß e n und d i e F r i e d e n s w a h r u n g im Innern ü b e r n o m m e n w e r d e n , und dadurch l ö s t e sich das regnum

Francorum

in eine g r o ß e

Z a h l m e h r o d e r w e n i g e r selbständiger g r ö ß e r e r o d e r k l e i n e r e r M a c h t k o m p l e x e a u f . w E s ist g e w i ß ein U n t e r s c h i e d insofern, als im O s t e n im großen und ganzen eine ä l t e r e , w e n n auch nicht , , u r a l t e " S t a m m e s g e m e i n s c h a f t als R a h m e n für den

Aufbau

eines H e r z o g t u m s benutzt w u r d e , w ä h r e n d im W e s t e n landschaftliche B e s o n d e r h e i t e n nur t e i l w e i s e für den A u s b a u d e r L e h n s f ü r s t e n t ü m e r v e r w e n d e t w u r d e n . 2 0 I m O s t e n d a r f d i e S t ä r k e des S t a m m e s z u s a m m e n h a l t s nicht überschätzt w e r d e n ; auch hier w i r k t die fortschreitende F e u d a l i s i e r u n g ein, und so setzt sich d i e

dynastisch-anstaltliche

F o r m e b e n f a l l s durch. M i t R e c h t hat Steinbach b e m e r k t : „ W i r sagten S t ä m m e und w o l l e n nicht v e r s ä u m e n , d a r a u f hinzuweisen, d a ß diese S t ä m m e nach unserer A u f f a s sung N e u b i l d u n g e n im westdeutschen

R ä u m e sind, bei denen v i e l e r l e i A l t e s

N e u e s verschmolzen w o r d e n ist. I h r e B e z e i c h n u n g als historische

Landschaften

und wäre

w e n i g e r m i ß v e r s t ä n d l i c h " . 2 1 E r s t wenn m a n sich k l a r w i r d ü b e r d i e z e i t b e d i n g t e politische B e d e u t u n g d e r sogenannten „deutschen S t ä m m e " , wird der eigentliche C h a r a k ter dieser S t a m m e s h e r z o g t ü m e r d e u t l i c h e r : sie sind A b b i l d e r der Z e n t r a l g e w a l t in einem b e s t i m m t e n B e z i r k . D a r u m

finden

sich in ihnen d i e gleichen F a k t o r e n w i e im

G e s a m t r e i c h , nämlich die K i r c h e , der A d e l ( F e u d a l h e r r e n ) und in e r h e b l i c h e m U m fang die F r e i e n , d i e noch die K r a f t zu politischer A k t i v i t ä t besitzen. D e s h a l b sind im

18

19

20

21

Vgl. Teilenbach, G., Vom karolingischen Reichsadel zum deutschen Reichsfürstenstand, in: Adel und Bauern im deutschen Staat des Mittelalters, hrsg. v. Mayer, Th., Leipzig 1943, S. 23. Vgl. ders., Königtum und Stämme in der Werdezeit des Deutschen Reiches, Weimar 1939, S. 92 (Quellen und Studien zur Verfassungsgeschichtc des Deutschen Reiches in Mittelalter und Neuzeit, hrsg. v. Härtung, F., u. a., Bd. VII, Heft 4). Mitteis, H., a. a. O., S. 88 ff. - Vgl. die berühmte Stelle bei Regino, Chronicon ad a. 888, ed. F. Kurze, MG. SS. rer. Germ, in us. schol., Hannover 1890, S. 129: „Post cuius mortem regna . . . in partes a sua compage resolvuntur et iam non naturalem dominum prestolantur, sed unumquodque de suis visceribus regem sibi creari disponit." Über die Unterschiede vgl. Brunner, O., Feudalismus, a. a. O., S. 620 f. ; ferner Bosl, K., Anfänge und Ansatzpunkte deutscher Gesellschaftsentwicklung. Eine Strukturanalyse, in: ders., Frühformen der Gesellschaft im mittelalterlichen Europa. Ausgewählte Beiträge zu einer Strukturanalyse der mittelalterlichen Welt, München/Wien 1964, S. 51. Steinbach, F., Deutsche Sprache und deutsche Geschichte, in: RhVjbll. 17/1952, S. 338. Vgl. dazu Sproemberg, H., La naissance d'un État allemand au Moyen Age, in: Le Moyen Age, 4 e série, 13/1958, S. 221 [hier deutsch S. 8] ; Wenskus, R., a. a. O., S. 458 fi.

Die Alleinherrschaft im mittelalterlichen Imperium

51

Gegensatz zum Westen hier wichtige Einsatzpunkte für eine wiedererstarkte Zentralgewalt vorhanden. 2 2 Diese Situation hat im Jahre 919 dazu geführt, d a ß die Herzöge beim Tode Konrads I. nicht nach einer Schwächung der Zentralgewalt oder gar ihrer Abschaffung strebten, sondern im Gegenteil sie für sich zu erobern wünschten, weil sie diese als Instrument der Aufrichtung einer Gesamtherrschaft erkannten. So stellt sich, insbesondere gestützt auf Forschungen von Kurt Reindel über das Verhalten Arnulfs von Bayern, der Kampf um die Krone in diesem Augenblick dar. 23 Im Gegensatz zur bisherigen Auffassung muß man damit rechnen, d a ß Heinrich I. ein gutes Verständnis für diese Lage hatte und dabei mit überlegener politischer Meisterschaft die Zentralgewalt an sich brachte. 2 ' 1 So bedingen die Verhältnisse eine extensive Politik und ermöglichen sie auch gegenüber der intensiven Politik, wie sie etwa die Lehnsfürsten in Frankreich betreiben. D i e Alleinherrschaft Heinrichs I. und seiner Nachfolger richtete sich daher nicht auf den Ausbau der dynastischen Stellung etwa in Sachsen, also die Schaffung einer Krondomäne wie die der Capetinger in Westfranken, sondern es werden die Elemente in den Herzogtümern, welche noch politisch aktiv sind, unmittelbar der Krone unterstellt und dadurch verhältnismäßig rasch die mit der Krone konkurrierenden Herzogsgewalten gleichsam von oben und unten in die Zange genommen, womit ihre Macht, allerdings unter heftigen Kämpfen, geschwächt und endlich praktisch zerschlagen wird. Ein weiteres wesentliches Element für die Geltendmachung der Rechte der Zentralgewalt ist aber der Rückgriff auf die Stellung des rex Francorum. D e m karolingischen Königtum hatten als Basis seiner Macht die gleichen Faktoren gedient. Insbesondere der Kirche gegenüber hatte der rex Francorum schon seit Pippin eine von ihr anerkannte Sonderstellung eingenommen. 20 Der Rechtstitel des Frankenkönigs war auch die einzige Rechtsform, durch die das Königtum eine Autorität über das gesamte Volk beanspruchen und dadurch seine Überlegenheit gegenüber den Herzögen zur Geltung bringen konnte. Es entsprach daher nicht nur den Zeitverhältnissen, die für einen neuen Rechtstitel gar keine Grundlage boten, sondern auch der politischen Zweckmäßigkeit, daß Heinrich I. kein regnum Teutonicorum schaffen, sondern die Kontinuität des regnum Francorum mit aller Energie sichern wollte. 26 D a s zeigt sich in seiner Haltung 22 23

Vgl. Bosl, K., a. a. O., S. 51. Die ältere Auffassung bei Emst, F., in: Gebhardt, B., a. a. O., S. 165 f.; vgl. Sproemberg, H., La naissance, a. a. O., S. 225 [hier deutsch S. 11] mit Literatur.

v

' Vgl. ebenda, S. III ff. [hier deutsch S. 12 ff.]; ferner Reindel,

K„ Herzog Arnulf und das Reg-

num Bavariae, in: [ Z b a y r L G . 1 7 / 1 9 5 4 ; Wiederabdruck in:] D i e Entstehung des Deutschen Reiches (Deutschland um 900), D a r m s t a d t 1956, S. 213 ff. (Wege der Forschung 1 ) ; Mohr,

W„

König Heinrich I. ( 9 1 9 - 9 3 6 ) . E i n e kritische Studie zur Geschichtsschreibung der letzten hundert Jahre, Saarlouis 1950, S. 11 ff. 25

Vgl. Mohr,

W., D i e karolingische Reichsidee, Münster 1962, S. 14 ff. (Aevum christianum. Salz-

burger Beiträge zur Religions- und Geistesgeschichte des Abendlandes, hrsg. v. Michels,

Th.,

Bd. 5). 26

Vgl. zu dieser vielumstrittenen Frage Sproemberg, deutsch S. 14 ff.].

H., La naissance, a . a . O . , S. 230 ff. [hier

52

Stamm, Staat, Imperium

gegenüber Westfranken und ganz besonders in seiner lothringischen Politik. 27 In dieselbe Richtung gehört die Wiedereinführung eines tatsächlichen Erbrechts seiner Familie, das aber staatsrechtlich nicht festgelegt wird. Die vielumstrittene Designation ist bei den sächsischen Herrschern unter diesem Gesichtspunkt zu würdigen und führt sogleich so weit wie möglich zur Wahl des Sohnes bei Lebzeiten des Vaters. 28 So hat denn Heinrich I. sofort und energisch die Gewalt über die Reichskirche an sich genommen und fand dabei die tatkräftige Unterstützung der Kirche selbst. Die zeitweilige Konzession an den Herzog Arnulf von Bayern war eine Ausnahme und wurde nach dessen Tode nicht erneuert. 29 Außenpolitisch aber bedeutet das den Anspruch auf die Würde des Imperator. Zwar war die Verbindung zwischen dem rex Francorum und dem imperator durch den Zerfall des karolingischen Reiches lockerer geworden, und italienische Kleinkönige hatten sich der Würde bemächtigt. Demgegenüber aber wird bisher vielleicht zu wenig betont, daß Arnulf von Kärnten, gestützt auf Ostfranken, 896 die Würde eines imperator in Rom erhielt und diese gerade auch gegenüber den Teilreichen im Westen sehr nachdrücklich geltend zu machen verstand. Diese Tatsache war unvergessen und Heinrich I. (geboren etwa 875), der doch schon in reiferen Jahren zur Königswürde kam, sehr wohl bekannt. So sehr die Stellung als imperator für die -Sachsenherrscher durch die Tradition Karls des Großen bestimmt wurde, so wenig wird man übersehen dürfen, daß sie ein Jahrhundert nach diesem durch Arnulf repräsentiert worden war. 30 Holtzmann hat zweifellos mit Recht betont, daß Heinrich I. den Plan zur Erwerbung der Kaiserwürde gefaßt hatte und nur durch sein Alter an der Durchsetzung gehindert worden ist. Daher sind die Auffassungen, daß er sich auf ein „nationales" Königtum beschränken würde, ebenso unzutreffend wie die von der Förderung einer föderativen Form des Reiches durch ihn. 31 Die Beurteilung der Stellung des imperator im Mittelalter ist neuerdings viel diskutiert worden, und, wie eingangs bemerkt, gibt es darüber noch keine einheitliche Meinung. Schon die Kaiserkrönung Karls des Großen ist unter neuen Gesichtpunkten dargestellt worden. Es ist gelungen, tiefer in dessen Gedankenwelt einzudringen, und man sieht nun, daß diese Kaiserkrönung eine Vor- und eine Nachgeschichte hat. Karl hat sich schon vorher der Notwendigkeit gegenüber gesehen, für das von ihm nach der romanischen wie germanischen, aber auch der slawischen Seite hin außerordentlich erweiterte regnum Francorum einen neuen Rechtstitel zu schaffen. Denn mehr als je wurde es jetzt deutlich, daß „die Franken", selbst wenn man darin auch die Romanen 27

Ders., Die lothringische Politik Ottos des Großen, in: [RhVjbll. 1 1 / 1 9 4 1 ; Wiederabdruck in:] ders., Beiträge zur belgisch-niederländischen Geschichte, Berlin 1959, S. 134 ff. (Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte, hrsg. v. Sproemberg,

28

Das betont besonders Holtzmann,

H., u. a., Bd. 3).

R., Geschichte der sächsischen Kaiserzeit, 3. Aufl., a. a. O.,

S. 106 ff. 29

Vgl. Sproemberg,

30

Vgl. Löwe,

H., Lothringische Politik, a. a. O., S. 138.

31

Vgl. dazu Holtzmann,

H., in: Gebhardt,

verse bei Ernst,

B„ a. a. O., Bd. 1, 8. Aufl., S. 156, mit Literatur.

R., Gesch. d. sächs. Kaiserzeit, 3. Aufl., a . a . O . , S. 1 0 4 ; die Kontro-

F., in: Gebhardt,

B., a . a . O . , S. 174, und Sproemberg,

a. a. O., S. 235 ff. [hier deutsch S. 17 ff.].

H., La naissance,

53

D i e Alleinherrschaft im mittelalterlichen Imperium

des Westens einschließt, nicht mehr als Basis f ü r das regnum ausreichten. D i e neuen Reichsteile, zunächst Italien, dann aber auch die westgermanischen Stämme, w u r d e n in das Reich eingegliedert. E s w a r der große G e d a n k e Karls, ihre A u t o n o m i e nicht anzutasten; aber eben dadurch ergab sich die N o t w e n d i g k e i t eines neuen Rechtstitels. N u n hat besonders C. E r d m a n n darauf hingewiesen, d a ß es z w a r Ansätze zu einem G r o ß k ö n i g t u m bei den germanischen Völkern gab, aber ein brauchbarer Rechtstitel nicht geschaffen w o r d e n ist. Ferner hat E r d m a n n gezeigt, d a ß K a r l praktisch schon vorher nicht nur König, sondern G r o ß k ö n i g w a r u n d sich als solcher fühlte. Indessen auch er f a n d eine neue, „ r o m f r e i e " Lösung nicht; daher hat er die I m p e r a t o r w ü r d e , als sie ihm angeboten w u r d e , trotz mancher Bedenken als N o t w e n d i g k e i t erkannt, um das tatsächliche Imperium nun auch staatsrechtlich herzustellen. 3 2 D i e Beziehung zur Kirche w a r f ü r die Karolinger seit Pippin gegeben, und zwar auch nicht zufällig, sondern sie entsprach der Stellung der Kirche. Génicot b e m e r k t : „ I n d e m die Kirche sich über das A b e n d l a n d ausbreitete, hat sie hier also nicht nur einer geistigen H a l t u n g Eingang verschafft. Sie tat m e h r : d a sie in sich einheitlich blieb, schuf sie diesem A b e n d l a n d die stärksten G r u n d f e s t e n seiner Einheit." 3 3 M a n wird das vielleicht etwas weiter fassen müssen: d a ß die Kirche, die in erster Linie das spätantike E r b e übermittelte, damit auch f ü r das Reich Möglichkeiten bot, diese spätantiken E l e m e n t e zum Reichsaufbau zu verwenden. G e w i ß ist, d a ß die Schaffung eines einheitlichen Glaubensbekenntnisses, wie das im spätantiken Imperium gewesen ist, auch im mittelalterlichen ein wesentlicher Faktor f ü r sein Entstehen u n d seinen Fortbestand war. In seiner aufschlußreichen Untersuchung über die Translatio imperii hat Goez gesagt, d a ß die Reichsidee zur Zeit Karls die spätantike, die des Imperium Romanum christianum, allerdings gewandelt durch die Stürme der Völkerwanderungszeit, gewesen ist. D a h e r hat er auch energisch betont, d a ß die Kaisererhebung K a r l s als normale römische Kaiserkrönung aufzufassen sei und absichtlich so gestaltet w o r d e n ist. D a m i t v e r w i r f t er die Auffassung, d a ß die Franken als Reichsvolk zu betrachten seien, was neuerdings verschiedentlich behauptet wurde. 3 ' 1 D i e Alleinherrschaft des imperator ist also aus spätantiker Sicht zu beurteilen u n d ist u n d will zunächst dasselbe sein wie das byzantinische Kaisertum. E s hat somit keine nationale G r u n d l a g e . Trotz mancher A b w a n d l u n g e n gegenüber der Zeit K a r l s des G r o ß e n , unter denen wesentlich ist, d a ß die Übereinstimmung zwischen d e m direkten Machtbereich des 32

Erdmann,

C., Forschungen zur politischen Ideenwelt des Frühmittelalters, a. d. N a c h l a ß hrsg.

v. Baethgen,

F., Berlin 1951, S. 1 ff. Vgl. dazu auch meine Rezension in: D L Z .

74/1953,

Sp. 672 ff., und die Diskussion auf dem römischen H i s t o r i k e r k o n g r e ß ; ferner Mohr, W., Reichspolitik und Kaiserkrönung in den Jahren 813 und 816, i n : D i e W e l t als Geschichte 20/1960, S. 168 f.; ders., Reichsidee, a. a. O., S. 43 ff. 33

Génicot,

L.,

Les lignes de faite du moyen âge, 3. Aufl., T o u r n a i

1961, S. 7 1 ; Bosl,

K.,

Translatio Imperii. Ein Beitrag zur Geschichte des Geschichtsdenkens u n d

der

A n f ä n g e , a. a. O., S. 19 ff. 3

'' Goez,

W.,

politischen Theorien im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, Tübingen 1958, S. 69 und 71 ff. Vgl. meinen A u f s a t z : Contribution à l'histoire de l'idée d ' E m p i r e au moyen âge, in: R e v u e belge 39/1961, S. 309 ff. [hier deutsch als: Betrachtungen zur Geschichte der Reichsidee im Mittelalter, S. 27 ff.]. 5

Sproemberg

54

Stamm, Staat, Imperium

Herrschers und dem christlichen A b e n d l a n d in seiner Gesamtheit verlorenging, ist die Reichsidee des Imperium zur Zeit O t t o s im G r u n d e u n v e r ä n d e r t geblieben. Bew u ß t k n ü p f t e dieser an K a r l den G r o ß e n an. Von nun ab unterscheidet sich "endgültig direkte Herrschaft u n d Geltungsbereich der, wie H o l t z m a n n es nennt, „auetoritas" des Imperator.3d D a m i t ist aber dessen Alleinherrschaft nicht nationalisiert; sie bleibt vielmehr ein umfassender Rechtstitel, der sich über alle christlichen Reiche des Westens erstreckt, u n d bewahrt daher, wenn man so sagen darf, seinen europäischen Charakter. 3 6 D a , wie bemerkt, in der sächsischen Zeit von einem deutschen Nationalbewußtsein nicht gesprochen werden kann, so bleibt das Imperium ein Imperium Romanutn christianum. W i e G o e z eingehend untersucht hat, w i r k t die Vorstellung, d a ß das römische Reich das Endreich nach der Weltreichsprophezeiung des Propheten Daniel darstelle, weiter fort. 3 7 So w i r d dieses selbst in der staufischen Zeit in seiner Kontinuität anerkannt, u n d obwohl der Begriff „deutsch" nun häufiger gebraucht w i r d , hat noch der große Historiker der Staufenzeit, O t t o von Freising, den ostfränkisch-römischen Charakter betont, indem er sagt: „Ubi Otto Romam veniens a Iobanne papa ac toto populo augusti notiien sortitur, sieque Imperium Romanum ad, Teutonicos vel iuxta alios orientales Francos derivatur",38 Goez erklärt d a z u : „ M a n sieht Ottos Unsicherheit in dieser Nationalitätenfrage." 3 0 E s braucht in diesem Z u s a m m e n h a n g nicht darauf eingegangen zu werden, d a ß die Bezeichnung „Heiliges Römisches Reich D e u t scher N a t i o n " spätmittelalterlich ist u n d in eine Zeit gehört, in der die Partikulargewalten bereits endgültig die direkte V e r b i n d u n g des Volkes mit d e m Imperium zerschnitten haben. D i e Entstehung eines deutschen Nationalbewußtseins erfolgt im G r u n d e gegen das Imperium.'' 0 D e r Ausdruck „imperium Teutonicorum" taucht hier u n d da auf, w i r d aber niemals offiziell gebraucht, u n d er entspricht auch nicht dem hochmittelalterlichen D e n k e n . E s w ä r e daher zweckmäßig, wenn die üblich gewordenen Ausdrücke „deutsche K a i s e r " u n d „Reich der Deutschen" f ü r das mittelalterliche Imperium modifiziert werden w ü r d e n , denn sie sind durch die Ereignisse der letzten Zeit, durch den Begriff „Großdeutsches Reich" und eine Ideologie, die nicht zuletzt auch das mittelalterliche Imperium herangezogen hat, ebenso belastet wie die Ausdrücke „völkisch" und „nordische Rasse".

3o

Vgl. Holtzmann,

R., Weltherrschaftsgedanke, a. a. O., S. 2 5 5 ff. - Neuerdings sind die Kaiser-

krönung O t t o s I. und seine Reichsidee eingehend diskutiert worden. Vgl. Festschrift zur Jahrtausendfeier der Kaiserkrönung Ottos des G r o ß e n , G r a z / K ö l n 1962 ( M I Ö G . , E r g . b d .

20);

dazu Rezension von Koch, G„ i n : D L Z . 86/1965, Sp. 5 2 8 ff. 30

Vgl. Santifaller,

L.,

O t t o I., das Imperium und Byzanz, in: Festschrift z. Jahrtausendfeier,

a. a. O., S. 19 ff. 37 38

Vgl. den Exkurs bei Goez, W„ a. a. O., S. 366 ff. Ottonis episcopi Frisingensis chronica sive historia de duabus civitatibus lib. VI, c. 22 (Kapitelübersicht), [ed. A. Hofmeister,

M G . SS. rer. G e r m , in us. schol., H a n n o v e r und Leipzig 1912,

S. 29]. 39

Goez, w„ a. a. O., S. 116.

m

Vgl. Sproemberg,

H„ L a naissance, a. a. O., S. 241 ff. [hier deutsch S. 21 ff.].

55

D i e Alleinherrschaft im mittelalterlichen Imperium

Ohne Zweifel sind gerade in der Zeit der sächsischen Herrscher wesentliche Schritte geschehen, um die westgermanischen Stämme, die im Karolingerreich zwar nicht minderen Rechtes waren, aber doch im Schatten der „Franken", welche bereits eine romanisch-germanische Gemeinschaft geworden waren, standen, nun zu direkten T r ä gern des Reichsgedankens zu machen. Diese Verlagerung des Schwergewichts, die, wie nochmals betont, keine Änderung der Rechtsstellung mit sich brachte, hat dazu geführt, d a ß diese Stämme zu einer als unlöslich empfundenen politischen Einheit zusammengeschmolzen wurden. Dieser Prozeß vollzieht sich allerdings in der herrschenden Schicht, das heißt bei den Feudalherren und gegebenenfalls noch bei ihren Vasallen. D i e breite Masse des Volkes ist politisch passiv und wird es durch den fortschreitenden Feudalisierungsprozeß noch mehr. D i e herrschende Schicht aber ist nicht ausschließlich germanisch, und sie empfindet das Reichsgefühl auch noch nicht nur als national/' 1 Mithin ist das Verdienst der sächsischen Herrscher um die Entstehung eines deutschen Volkes unbestreitbar, aber es handelt sich lediglich um eine Vorstufe und noch keineswegs um eine Absonderung von dem nichtgermanischen Teil auch nur des regnum. Dies ist ein besonders zu verwerfender Irrtum, den neuerdings Hugelmann vorgetragen hat/' 2 Man wird daher gut tun, von mittelalterlichen Kaisern und nicht von deutschen Kaisern zu sprechen. D e r Weg zu einem deutschen Nationalbewußtsein ist lang und nicht ohne Rückschläge gewesen. D a m i t aber soll die Leistung dieser Zeit keineswegs verringert werden; sie liegt für die D a u e r nicht in den militärischen E r oberungen, sondern vor allem in der Befriedung Europas und der Verhinderung einer feudalen Anarchie in dessen Mitte. In dieser Sicht sollte heute die Alleinherrschaft der mittelalterlichen Kaiser betrachtet werden, und die Diskussion darüber hat auch bereits eingesetzt/' 3 Der Geschichtsschreiber der sächsischen Herrscher, Widukind von Corvey, hat dem sterbenden K o n r a d I. eine Rede an seinen Bruder für die W a h l Heinrichs I. in den Mund gelegt, in der es zum Schluß heißt: „Ipse enim vere rex erit et Imperator multorum populorum." Das Reich bezeichnete er als regnum Francorum!A 41

In seiner letzten Arbeit: Heinrich I. und die fränkische Königssalbung, hat selbst Lintzel,

M.,

der früher das Reich Heinrichs I. mit dem Reich von 1871 verglich, gegenüber der einsetzenden Kritik erklärt: „Betonen möchte ich . . ., daß im zehnten Jahrhundert in Sachsen und Deutschland recht viele Stammes- und .Nationalgefühle' neben- und übereinander bestanden haben dürften: in Sachscn etwa fränkisch-karolingisches, sächsisches, deutsches, ja eine beginnende römische .Staatsideologie'": ders., Ausgewählte Schriften, Bd. 2, Berlin 1961, S. 604, Anm. 81. 42

Vgl. Hugelmann,

K. G., a. a. O., S. 298 und 453; dazu Sproemberg,

H., La naissance, a. a. O.,

S. 242 [hier deutsch S. 22], 43

So besonders auf dem römischen Historikerkongreß im Anschluß an den Vortrag von mann, W.,

Holtz-

wobei insbesondere Historiker der früher vom Reich abhängigen Länder Polen,

Böhmen und Ungarn den reinen Machtcharakter des mittelalterlichen Reiches zu unterstreichen suchten. Andererseits haben die Byzantinisten, so Dölger,

F., und Ohnsorge,

W.,

(vgl. Atti,

a . a . O . , S. 334 ff.), die Notwendigkeit betont, das Verhältnis zu Byzanz mehr in Betracht zu ziehen. 44

Widukindi monachi Corbeiensis rerum gestarum Saxonicarum üb. I, c. 25, P. Hirsch / H.-E.

s

Lohmann,

[5. Aufl., ed.

MG. SS. rer. Germ, in us. schol., Hannover 1935, S. 38].

56

Stamm, Staat, Imperium

Es kommt hier nicht darauf an, wie es sich mit dieser sogenannten Designation Heinrichs verhält, sondern wie Widukind sowohl das regnum auffaßt als auch die Stellung des Kaisers, der für ihn ein Herrscher vieler Völker ist. Das betont den übernationalen Charakter der Kaiserwürde. Daher kann man es nicht für richtig halten, wenn Mitteis von einem nationalen Kaisertum spricht, das durch Otto I. geschaffen worden sei/" Vielmehr ist das König-Kaisertum hier klar ausgesprochen, denn diese Formulierung liegt vor der Erlangung der Kaiserwürde durch Otto I. Auf dieser Linie liegt die Weiterentwicklung der kaiserlichen Alleinherrschaft in der Sachsenzeit, auch wenn es hierbei verschiedene Schwankungen gegeben hat. Wie bemerkt, ist bei Otto I. die gesamtfränkische Auffassung für das ganze regnum Francorum noch lebendig, und daher hat er schon als König eine ähnliche Stellung eingenommen wie sein Vorgänger, Kaiser Arnulf. Als vnperator hat er sich als Haupt der Christenheit im Sinne Karls des Großen gefühlt und dadurch zwar kein neues Recht, aber eine verstärkte moralische Autorität über die christlichen Reiche des Abendlandes abgeleitet. Bei ihm ist also die Alleinherrschaft noch in erheblichem Umfange wirkliche Oberhoheit. Schon bei Otto II. kann man feststellen, daß der Westen stärker zurücktritt; auch sein Zug bis Paris ist mehr eine Demonstration gegen den Angriff aus dem Westen als der Versuch, oberherrliche Rechte geltend zu machen. Immrehin: das Ringen der beiden großen Familien des Westens um die Herrschaft hat auch ihm ermöglicht, eine Schiedsrichterstellung einzunehmen.'"' Viel diskutiert ist die Kaiserpolitik Ottos III., die nach der früheren Verurteilung heute weniger negativ eingeschätzt wird und auch nicht mehr als so phantastisch gilt. Es bleibt allerdings der bedenkliche Versuch, die Basis vom Reich nach Rom zu verlegen, was mit den tatsächlichen Machtverhältnissen im Widerspruch stand. Aber es ist eine große Idee, die Nebenländer und Lehnreiche unmittelbar in das Imperium einzugliedern, dem sie bisher nur über das regnum angehörten. Der Plan mußte scheitern an dem Widerstand der Großen des Reiches, die eine Beeinträchtigung ihrer Macht befürchteten, was auf kirchlichem wie auf weltlichem Gebiet zum Ausdruck kam. Außerdem war es das Streben der östlichen Länder, eigene, selbständige Reiche zu bilden. Dabei spielt die geographische Situation eine gewisse Rolle, so daß Ungarn und Polen wie auch Dänemark sich verhältnismäßig leicht lösen konnten, während Böhmen tatsächlich in das Reich eingegliedert wurde/" Die Biographin Ottos III., Mathilde Uhlirz, hat bemerkt: „Wir können die gesamte Außenpolitik Ottos III. nur im Zusammenhang mit den Vorgängen an der Ostgrenze des Reiches verstehen.'"' 8 Es ist in der Tat so, daß trotz der zentralen Stellung Italiens und Roms in Ottos Ideologie gerade der Osten gleichsam das Probeobjekt seiner kaiserlichen Auffassung gewesen ist. '•> Vgl. Mitteis,

H.,

a.a.O.,

4. Aufl., S. 120; vorsichtiger Holtzmann,

R.,

Gesch. d. sächs.

Kaiserzeit, 3. Aufl., a. a. O., S. 193. /,G

Vgl. Sproemberg,

47

Vgl. Holtzmann,

/,a

H., Lothringische Politik, a. a. O., S. 192 ff. W., in: Relazioni, Bd. 3, a. a. O., S. 285 ff.

Sie bietet die beste Charakteristik Ottos; vgl.: Jbb. des Deutschen Reiches unter Otto II. und Otto III., Bd. 2 : uhlirz, in: Gebhardt,

M., Otto III. ( 9 8 3 - 1 0 0 2 ) , Berlin 1954, S. 415 ff. Ferner Ernst,

B., a. a. O., Bd. 1, 8. Aufl., S. 208 mit Literatur.

F.,

57

Die Alleinherrschaft im mittelalterlichen Imperium

D a b e i tritt dann der W e s t e n zurück. N o c h unter der R e g e n t s c h a f t seiner M u t t e r T h e o p h a n u w a r 9 8 7 der folgenschwere D y n a s t i e w e c h s e l im W e s t r e i c h erfolgt. E s ist g e w i ß , d a ß w e d e r die Zeitgenossen noch auch H u g o C a p e t selbst sich b e w u ß t w a r e n , d a ß hierdurch eine neue E p o c h e für das W e s t r e i c h b e g a n n . W i e so o f t bei A n f ä n g e n mischt sich bei ihm A l t e s und N e u e s ; er w a r ein E n k e l K ö n i g H e i n r i c h s I . , g e h ö r t e also gleichsam zu der sächsischen F a m i l i e n v e r w a n d t s c h a f t ; er v e r m o c h t e sich auch noch nicht v o n d e m Ü b e r g e w i c h t des Reiches freizumachen, das noch unter ihm sich in d i e A n g e l e g e n h e i t e n seines Reiches einmischte.' 1 9 A b e r K i e n a s t h a t m i t R e c h t

bemerkt,

d a ß n u n m e h r der letzte R e s t der E m p f i n d u n g politischer G e m e i n s c h a f t zwischen W e s t u n d O s t verschwand.'' 0 S o w o h l seine staatsmännische E i n s i c h t als auch d i e ä u ß e r e n U m s t ä n d e und seine geringen M a c h t m i t t e l h a b e n H u g o C a p e t dazu v e r a n l a ß t , d i e A g g r e s s i o n s p o l i t i k seines V o r g ä n g e r s L o t h a r aufzugeben und sich auf die inneren A n g e l e g e n h e i t e n

seines

Reiches zu k o n z e n t r i e r e n . D a m i t a b e r ist ein W e g beschritten, der unter seinen N a c h k o m m e n zur K o n s o l i d a t i o n des W e s t r e i c h e s führt. S p ä t e r w i r d d a n n , gestützt auf d i e A b l e h n u n g jedes Rechtes des Imperator K ö n i g von F r a n k r e i c h g e p r ä g t : „rex

auf den W e s t e n , die b e r ü h m t e F o r m e l für den est

Imperator

in regno

suo":'1

Niemand

kann

leugnen, d a ß d i e innere B e f r i e d u n g F r a n k r e i c h s nicht nur für d i e G e w i n n u n g geistigen F ü h r u n g in E u r o p a ,

sondern

auch für die G e s t a l t u n g seines

der

politischen

Schicksals E n t s c h e i d e n d e s b e d e u t e t hat. J e d e n f a l l s v e r l i e r t n u n m e h r das K ö n i g t u m des O s t e n s seinen gesamtfränkischen C h a r a k t e r u n d richtet seine E x p a n s i o n auf I t a l i e n und auf den O s t e n . D i e A l l e i n h e r r s c h a f t des imperator

w i r d d a h e r nach d e m W e s t e n

eingeschränkt und schließlich bestritten. S o b i l d e t tatsächlich das R e g i m e n t O t t o s I I I . in dieser B e z i e h u n g das E n d e des gesamtfränkischen Reiches und den B e g i n n e i n e r neuen Z e i t . D e r letzte Sachsenherrscher, H e i n r i c h I I . , hat, gleichsam als sein

Pro-

g r a m m , allerdings nach d e m V o r b i l d K a r l s des G r o ß e n , auf seinen B u l l e n s t e m p e l d i e D e v i s e „renovatio

regni

Francorum"

gesetzt."' 2 M a n hat das als A b s a g e an die W e l t -

herrschaftspläne O t t o s I I I . gedeutet, und sicher ist H e i n r i c h in h o h e m M a ß e p o l i t i k e r gewesen. E s b e d e u t e t a b e r nicht m e h r als das Zurückschwenken auf

Realjene

P o l i t i k der ersten Sachsenherrscher, die wir als K ö n i g - K a i s e r t u m bezeichnet h a b e n . Heinrich I I . b e k u n d e t seinen W i l l e n , fränkischer K ö n i g im S i n n e eines G r o ß k ö n i g t u m s zu sein, und er führt die O s t p o l i t i k von diesem S t a n d p u n k t aus und nicht m e h r im S i n n e O t t o s I I I . D i e K a i s e r w ü r d e beansprucht er als sein R e c h t , u n d g e r a d e er h a t , w e n n auch als K ö n i g , i m m e r h i n a b e r als H e r r s c h e r v i e l e r V ö l k e r , I t a l i e n

wieder-

gewonnen und B u r g u n d eingegliedert, w o b e i d i e f o r m a l e S e l b s t ä n d i g k e i t dieser L ä n -

48 511

5a

Vgl. Sproemberg, H., Lothringische Politik, a. a. O., S. 200 ff. Vgl. Kienast, W., Deutschland und Frankreich in der Kaiserzeit (900 bis 1270), Leipzig 1943, S. 45 (Das Reich und Europa. Gemeinschaftsarbeit deutscher Historiker, hrsg. v. Mayer, Th und Platzhoff, W.). Vgl. Schramm, P. E„ Der König von Frankreich. Das Wesen der Monarchie vom 9. zum 16. Jh. Ein Kapitel aus der Geschichte des abendländischen Staates, Bd. 1 : Text, Weimar 1939, S. 181; ferner Löwe, H„ Dante und das Kaisertum, in: HZ. 190/1960, S. 518 ff. Vgl. Bulst-Thiele, M. L„ in: Gebhardt, B., a. a. O., Bd. 1, 8. Aufl., S. 222 mit Literatur; ferner Holtzmann, R., Gesch. d. sächs. Kaiserzeit, 3. Aufl., a. a. O., S. 395 ff.

58

Stamm, Staat, Imperium

der nicht angetastet wurde."' 3 Aber in bezug auf das Westreich hat er die Konsequenz aus der bisherigen Entwicklung gezogen. Mit dem Sohne Hugos, König Robert II., hat er durchaus wie mit seinesgleichen verhandelt, und >venn auch seine Macht sehr viel größer war, so hat er, nicht zuletzt in seinem letzten Vertrag mit Robert im Jahre 1023, ein gemeinschaftliches Vorgehen auf Grund der Anerkennung der Selbständigkeit beschlossen. So bleibt also, im ganzen betrachtet, das König-Kaisertum aufrechterhalten, wird aber begrenzt durch die beginnenden Selbständigkeitsbestrebungen der christlichen Reiche im Westen, während die Oberhoheit im Osten, allerdings nur unter Einsatz der ganzen militärischen Macht des Reiches, behauptet wird. 5 ' 1 Bisher ist die äußere Entwicklung der Alleinherrschaft verfolgt, dabei aber die Stellung der Kirche und des Papsttums noch nicht berührt worden, weil in jener Periode von einer Beschränkung der Alleinherrschaft von dorther nicht gesprochen werden kann. Im Gegenteil: von Anfang an hat Heinrich I., wie bemerkt, ein energisches Kirchenregiment geführt und dies als sein Recht als rex Francorum betrachtet. Auch das Papsttum w i r d zwar für die Konsekration des Kaisers als allein zuständig angesehen, aber mit der Kaiserkrönung Ottos I. wird der alte Anspruch des rex Francorum auf den Imperator-Titel seit Karl dem Großen wieder geltend gemacht und von nun ab als ausschließliches Recht von den Königen des Ostens beansprucht, wenn das auch staatsrechtlich in der Folge gerade von der Kurie und vom Westen nicht unbestritten blieb. 00 Aber in dieser Periode konnte sich das Papsttum nur mit äußerster Mühe der römischen Feudalbarone erwehren und war für das Funktionieren seines Kirchenregiments ganz und gar auf die weltliche Gewalt angewiesen, und hier kam nur das Königtum der Sachsenherrscher in Frage. Abgesehen von Otto III. haben diese Herrscher für die moralische Hebung des Papsttums kein Interesse gezeigt, und sie haben - und das trifft nun auch wieder für Otto III. zu - die Obergewalt über das Papsttum in Anspruch genommen. Daher muß man die Frage der sakralen Bedeutung des König- und Kaisertums in der Sachsenzeit mit Vorsicht betrachten. In der Auffassung der renovatio imperii ist die Betonung der Kontinuität zu Karl dem Großen unverkennbar. So wird man der Ablehnung der Salbung durch Heinrich I. vielleicht keine so große Bedeutung beizulegen haben. 51 ' Gewiß fühlten sich diese Herrscher, besonders seit Otto I., als von Gott Vgl. besonders Mikoletzky, H. L., Kaiser Heinrich II. und die Kirche, Wien 1946, (Veröffentlichungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung, hrsg. v. Santifaller, L., Bd. 8 ) ; auch Bulst-Thiele, M. L., in: Gebhardt, B„ a. a. O., Bd. 1, 8. Aufl., S. 2 1 5 ff. ü'! Vgl. Holtzmann, R., Geschichte der sächs. Kaiserzeit, 3. Aufl., a. a. O., S. 5 2 4 ff. Einen wertvollen Beitrag zu der europäischen Stellung des Kaisertums hat Bezzola, G. A., Das Ottonische Kaisertum in der französischen Geschichtsschreibung des 10. und beginnenden 1 1 . Jh., Graz/Köln 1956 (Veröffentlichungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung, hrsg. v. Santifaller, L., Bd. 18) geliefert; dazu die wichtige Kritik von Werner, K. F., in: HZ. 190/1960, S. 5 7 6 ff.

03

53 50

Vgl. Goez, W„ a. a. O., S. 183 ff. Vgl. hierzu Lintzel, M., a. a. O., S. 598 ff. Zu dieser Kontroverse Ernst, F., in: Gebhardt, a. a. O., Bd. 1, 8. Aufl., S. 166 mit Literatur.

B.,

Die Alleinherrschaft im mittelalterlichen Imperium

59

beauftragt und als Haupt der Christenheit; aber ihre Stellung unterschied sich sehr fühlbar von den sakralen Formen der Alleinherrschaft schon der Staufenzeit oder gar des apostelgleichen Kaisers von Byzanz. So betrachteten sie die Weihe durch die Kirche als Attribut ihrer Alleinherrschaft, aber nicht als Fundament, für das ihnen die Wahl und sehr rasch das Erbrecht die Rechtsgrundlage waren. „Das Kaisertum Ottos I. unterscheidet sich von dem Karls des Großen wesentlich durch das Fehlen theokratischer Züge." 57 Goez hat darauf aufmerksam gemacht, daß etwa seit dem Jahre 1100 anstelle der Erneuerung des Imperium die translatio sich durchsetzt, und bringt dies damit in Verbindung, daß nunmehr eine Ausbildung des mittelalterlichen Einheitsgedankens stattfand, der der ersten Periode noch ferner lag. 58 So ist gewiß das religiöse Moment in der imperialen Alleinherrschaft ganz unverkennbar, aber die geistlich-kirchliche Auffassung vom Kaisertum, wie sie neuerdings W . Holtzmann betont hat, ist überspitzt. 59 Unzweifelhaft haben die Sachsenherrscher vor allem Machtpolitik getrieben, und das sollte mit der Bezeichnung „König-Kaisertum" hervorgehoben werden. Sie war aber keine planlose Eroberungspolitik, und sie ist weitgehend bestimmt von der feudalen Umgestaltung des Abendlandes. Die Aufrechterhaltung der Alleinherrschaft konnte nur erfolgen durch immer wiederholten militärischen Einsatz; dieser aber war durch die Eigenart der Feudalaufgebote, die kein stehendes Heer bildeten, begrenzt und schwierig. Die Alleinherrschaft sowohl der Könige wie der Kaiser war keine Usurpation, sondern legitim durch Wahl und bald sich wieder entwickelndes Geblütsrecht, das aber im Gegensatz zu der Karolingerzeit kein Familieneigentum beinhaltet und daher jede Teilbarkeit des Reiches ausschließt. 00 Infolgedessen ist die Legitimität der Alleinherrschaft in der Sachsenzeit nicht in Frage gestellt worden. Die Zentralgewalt hat allerdings in der ganzen Zeit mit inneren Widersprüchen kämpfen müssen, die zunächst von den Herzögen ausgingen, welche gegen eine völlige Unterordnung unter den Herrscher sich zu wehren versuchten. Aber das Widerstandsrecht, das diese Feudalherren in Anspruch nahmen, gehört zu den typischen Erscheinungen des Feudalismus überhaupt und bedeutet kein Bestreiten der legitimen Alleinherrschaft; es protestiert nur gegen einen angeblichen Mißbrauch. 1 ' 1 Bosl, K., in: Gebhardt, B., a . a . O . , S. 628. Noch immer grundlegend für die Fragen der Beurteilung der Herrscherstellung im früheren Mittelalter ist Kern, F., Gottesgnadentum und Widerstandsrecht im früheren Mittelalter. Zur Entwicklungsgeschichte der Monarchie, 2. Aufl., hrsg. v. Büchner, R., Münster/Köln 1954. Hier ist S. 77 über den sakralen Charakter gehandelt, der sehr betont wird; doch wird S. 82 bemerkt, daß man die kirchliche Herrscherweihe nicht überschätzen dürfe. 58 Goez, W„ a. a. O., S. 104 ff. 5!l Vgl. Holtzmann, W., in: Relazioni, Bd. 3, a. a. O., S. 285 ff. e" Vgl. Teilenbach, G., Die Unteilbarkeit des Reiches. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte Deutschlands und Frankreichs, in: [HZ. 163/1941; überarbeitete Fassung in:] Die Entstehung des Deutschen Reiches (Deutschland um 900), Darmstadt 1956, S. 110 ff. (Wege der Forschung 1). Gl Grundsätzlich vgl. Kern, F., a. a. O., 2. Aufl., S. 138 ff.

57

60

Stamm, Staat, Imperium

Die Alleinherrschaft wurde daher auch mit legalen Mitteln aufrechterhalten. Es ist für unser modernes Rechtsempfinden oft nicht leicht, sich in die mittelalterliche Rechtsanschauung einzufühlen. Die scharfe juristische Trennung, die besonders im Verfassungsrecht zuerst auf Grund des römischen Rechts entwickelt wurde und dann seit der Französischen Revolution sich ausbildete, blieb dem mittelalterlichen Denken fremd. Man begegnet immer wieder einer gewissen Doppelpoligkeit, d. h. einer Verschmelzung verschiedener Prinzipien, die einander gegensätzlich sind. R. Holtzmann hat das auf das Verhältnis zwischen dem Imperator und den unabhängigen Reichen angewandt: „Die Neuzeit ist durch den Rationalismus befruchtet, erfreulich geklärt, in mancher Hinsicht aber auch verarmt. Wir stehen hier an einem Punkt, wo die mittelalterliche geistige Welt reicher war als die moderne."'' 2 Das trifft für die Thronsetzung in der Sachsenzeit weitgehend zu. Wahl- und Geblütsrecht scheinen sich absolut zu widersprechen, aber in dieser Zeit verschmelzen sie rasch miteinander. Schon mit der Wahl Pippins war zum ersten Mal im regnum- Francorum das Geblütsrecht durchbrochen, dann aber nicht ohne Legitimation durch die Kirche wieder eingeführt worden, und zwar auch mit jenem eigenartigen Teilungsprinzip, das aus der Sphäre des Privateigentums stammt. 03 Noch während der Fortdauer seiner Dynastie im legitimen Mannesstamm wurde es durchbrochen, und zwar charakteristischerweise im Westen: durch die Wahl des Ahnherrn der Capetinger, Odo, zum König (888). Es handelte sich bei diesem um eine Persönlichkeit, die durch keinerlei Verwandtschaftsbande mit dem karolingischen Haus verknüpft war. Das Wahlrecht nach dem Aussterben einer Dynastie ist nach germanischer Rechtsauffassung eine Selbstverständlichkeit; aber, wie Kern betont hat, bedeutet es de facto die Bezeichnung einer neuen Königssippe.6'1 Für die sächsischen Herrscher trifft das besonders zu, denn trotz eines gewissen Schwankens gilt es auch für Heinrich II., obwohl dieser aus einer Nebenlinie stammte. Gj Das Bemerkenswerte ist dabei, daß beide Prinzipien nebeneinanderstehen und sich gleichsam ergänzen, statt sich zu widersprechen. Unter diesem Gesichtspunkt muß auch die Frage der Wähler betrachtet werden. Als Rechtssubjekt gilt das Volk. Auch dies hat eine doppelte Wurzel. Für den Imperator ist auf die römische Tradition zu verweisen, für die das römische Volk als dasjenige gilt, das den Imperator anerkennt und ihm unwiderruflich die Gesamtheit der Rechte überträgt, wobei eine Erblichkeit niemals akzeptiert wird, aber auch hier, je länger je mehr, sich geltend macht.60 Für das Königtum bedeutet der Ausdruck „regnum Francorum", daß die Franken als Träger der Beauftragung erscheinen. Kern hat nun aber nachgewiesen, daß von vornherein bei dem Königtum der Franken Königsrecht neben Volksrecht steht und der Herrscher zwar auf die Mitwirkung des Volkes angewiesen ist, aber kraft seines Eroberungsrechtes sich als Herr des Franken02

Holtzmann,

63

Mohr, W„ Reichsidee, a. a. O., S. 14 ff.

R., Weltherrschaftsgedanke, a. a. O., S. 263.

'> Kern, F., a. a. O., 2. Aufl., S. 14 ff.

e

63

Vgl. Mikoletzky,

00

Vgl. Kern,

H. L., a. a. O., S. 12 f.

F., a. a. O., 2. Aufl., S. 213 mit Anm. 461. Es handelt sich hier um die sog. Lex

regia, die zwar in dieser Form erst um 1080 als römisches Rechtsprinzip auftaucht, sich aber in ihrem Rechtsinhalt auf die Institutionen Justinians stützt.

Die Alleinherrschaft im mittelalterlichen Imperium

61

reiches fühlt. 07 Dabei ist zu beachten, daß in der früheren Zeit das Volk, soweit es eine aktive Tätigkeit ausübt, das Volk in Waffen war. Dies berührt sich mit der spätantiken Tradition, in der nur noch das Heer die Wahl des imperator bestimmte. 08 Wenn man aber den Begriff „Volk" anwendet und gar neuerdings mit dem Ausdruck „Reichsvolk" sowohl für die Franken als auch für die Deutschen operiert, so ist dies bedenklich, weil eben der moderne Begriff des Volkes gerade in politischer Beziehung bereits so geprägt ist, d a ß seine Anwendung auf die mittelalterlichen Verhältnisse zu Mißverständnissen führen muß, denn Volk ist für uns die politische Gesamtheit der Bürger. Zunächst einmal ist „populus Romanus" für die Kaiserzeit ein rechtlicher und keineswegs ein nationaler Begriff. Für das Mittelalter aber sind die Franken, wie bemerkt, auch eine politische Organisation. 0 9 Denn besonders in der Romania war das Aufsteigen der Romanen schon durch ihre Zahl und die Religionsgemeinschaft unaufhaltsam, und so tritt neben den Rechtsbegriff des Franken der politische Begriff des Franken als des Untertans des rex Francorum. G. Waitz hat bemerkt: „Eine wahre Volksversammlung hat es . . . niemals für den ganzen Umfang des Fränkischen Reichs gegeben."' 0 D i e Bedeutung des Märzfeldes und später des Maifeldes darf nicht überschätzt werden. Schon im 9. Jh. findet man hier Gremien der kirchlichen und weltlichen Großen, mit denen der König verhandelt. D a s Volk hat zu den Reichsversammlungen Zutritt, erscheint aber nur als eine Menge, der die Beschlüsse des Königs und der Großen verkündet werden.' 1 Selbst die Zustimmung für Kriegszüge, die bei K a r l dem Großen zu Anfang seiner Regierung noch eingeholt wurde, hat sich durch den Fortgang der Feudalisierung schließlich auf die Zustimmung der Großen reduziert. Wie die Verteilung der Kompetenzen aussieht, zeigt sich z. B. bei der Königswahl Heinrichs I. Über sie sagt Widukind von Corvey : „De'tnde congregatis principibus et natu maioribus exercitus Francorum in loco qui dicitur Fridisleri, (Eberhard) designavit eum regem coram omni populo Francorum atque Saxonum."'2 So faßte Widukind den Vorgang auf, und das war gewiß die Ansicht seiner Zeit. D i e politische Rolle des Volkes beschränkt sich bei diesem so eminent politischen A k t auf eine Akklamation.' 11 Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt man, wenn man die Rolle des „populus" der Kirche betrachtet. Hier spielt die sogenannte kanonische Frage, d. h. die Wahl vor allem der Bischöfe durch clerus et populus, eine bedeutende Rolle. In der frühchristlichen Gemeinde hatten die Laien einen erheblichen Anteil an der Wahl der Gemeindevorsteher, wenn auch die apostolische Nachfolge bald die Stellung der Geist67

Vgl. Kern, F., a . a . O . , 2. Aufl., S. 10 ff.; Mitteis, H„ a . a . O . , 4. Aufl., S. 39 ff. Gegen ein Wahlrecht Waitz, G., Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 2, Abt. 1, 3. Aufl., Berlin 1882 (Neudruck 1953), S. 166 ff. 68 Vgl. Stein, E., Geschichte des spätrömischen Reiches, Bd. 1, Wien 1928, S. 47 ff. 69 Vgl. Wenskus, R„ a. a. O., S. 512 ff. 70 Waitz, G., a. a. O., Bd. 2, Abt. 2, 3. Aufl., Berlin 1882 (Neudruck 1953), S. 241. 71 Ebenda, Bd. 3, 2. Aufl., Berlin 1883 (Neudruck 1954), S. 561 und 581 f. 72 Widukind lib. I, c. 26, [ed. P. Hirsch / H.-E. Lohmann, a. a. O., S. 39]. '•' Vgl. über die Wahl Heinrichs I. Sproemberg, H., La naissance, a. a. O., S. 227 ff. [hier deutsch S. 12 ff.].

62

Stamm, Staat, Imperium

liehen gestärkt hat.7'1 Später ist durch Justinian angeordnet worden, daß für ein Bischofsamt drei K a n d i d a t e n von den Geistlichen und den Vornehmen aus dem V o l k e vorgeschlagen werden sollten, während der Metropolit daraus den Würdigsten zu ernennen habe. Auch jenen „maiores natu" blieb später nur ein Zustimmungsrecht.' 0 Bei dem Einbruch des Feudalismus in die Kirchenverwaltung ist das Wahlrecht praktisch ausgeschaltet worden, und die Feudalgewalten, später sogar die Lehnsfürsten, haben sich ein Ernennungsrecht angemaßt. In dem sogenannten Eigenkirchenrecht ist dieses feudale Verfügungsrecht verankert worden. 7 0 Bemerkenswerterweise wurde aber der G r u n d s a t z der kanonischen Wahl rechtlich nicht aufgegeben, und die kirchliche Reformbewegung seit dem 10. J h . hat dann unter dem Schlagwort „libertas ecclesiae" die Forderung der kanonischen Wahl durch clerus et populus wieder aufgenommen. 7 7 A b e r damit ist keineswegs der Einfluß des populus wieder in K r a f t gesetzt worden, sondern es sind der clerus, d. h. die Kirche, und späterhin der Papst, die den weltlichen Gewalten den Einfluß auf die Wahl zu entziehen versuchten.' 8 So ist auch in dieser Beziehung der Begriff „populus" nicht dahin zu verstehen, daß die G e m e i n d e politsch aktiviert w u r d e ; diese hat jetzt ebensowenig etwas zu bedeuten gehabt wie bei dem Eigenkirchenrecht. E s wäre also irreführend, nunmehr von einer Beteiligung des „ V o l k e s " oder eines „Kirchenvolkes" zu sprechen. Dennoch hat das Wiedererscheinen des Begriffes „populus" politische Wirkungen gehabt, als der Begriff „ V o l k " durch das Entstehen der Kommunen, also eines sich selbst verwaltenden Bürgertums, einen neuen Inhalt erhalten hatte.' 9 K . Bosl hat daraus den Schluß gezogen: „ D a s ,Volk' im staatsrechtlichen Sinn ist im 10. Jh. allein der geistliche und weltliche A d e l . " 8 0 D a s ist nichts weiter als der Ausdruck der sozialen Umschichtung durch die feudale Gesellschaftsordnung. A b e r gerade diese Zuspitzung zeigt, daß der Begriff „ V o l k " für diese Zeit einer neuen Definition bedarf. Brunner hat darauf hingewiesen, daß es sich hier nicht um eine herrschende K l a s s e , sondern um eine K l a s s e der Herrschenden gehandelt habe, die der alleinige Gegenspieler des K ö n i g s gewesen ist. 81 M a n hat sich damit geholfen, daß man diese feudale Schicht als Repräsentation des Volkes erklärte, aber der G e d a n k e einer Re7/

' V g l . Feine,

H.

E.,

Kirchliche Rechtsgeschichte. D i e katholische Kirche, 4. A u f l . ,

Köln/Graz

1 9 6 4 , S. 35 ff. und S. 1 2 0 mit Literatur. 75

V g l . Sägmüller,

]. B., Lehrbuch des katholischen Kirchenrechts, B d . 1, 3. A u f l . , F r e i b u r g i. Br.

1 9 1 4 , S. 3 2 6 . 70

V g l . Feine,

77

V g l . e b e n d a , S. 2 6 5 ff. mit L i t e r a t u r ; Tellenbacb,

H. E., a. a. O . , 4. A u f l . , S. 160 ff. und 2 4 4 ff. G.,

L i b e r t a s , K i r c h e und W e l t o r d n u n g

im

Z e i t a l t e r des Investiturstreites, Stuttgart 1 9 3 6 (Forschungen zur Kirchen- und Geistesgeschichte, hrsg. v. Seeberg, 78

E., u. a., B d . 7).

V g l . meinen A u f s a t z : D i e G r ü n d u n g des B i s t u m s A r r a s im J a h r e 1 0 9 4 , i n : S t a n d e n en L a n d e n , B d . 24, L ö w e n 1 9 6 2 , S. 3 3 ff. [hier S. 141 ff.].

79

D a s ist b e s o n d e r s bei der D a r s t e l l u n g der E r e i g n i s s e in F l a n d e r n im Jahre 1 1 2 7 durch G a l b e r t v o n B r ü g g e festzustellen. V g l . Sproemberg,

H.,

E i n e rheinische K ö n i g s k a n d i d a t u r

1 1 2 5 , i n : A u s Geschichte und L a n d e s k u n d e . Festschrift für Steinbach, 80

V g l . Bosl,

K.,

A n f ä n g e u. A n s a t z p k t e .

dt.

Gesellschaftsentwicklung,

Literatur. 81

V g l . Brunner,

O., F e u d a l i s m u s , a. a. O . , S. 6 0 4 .

im

Jahre

F., B o n n 1 9 6 0 , S. 64 ff. a. a. O . ,

S. 3 2 ff. mit

D i e Alleinherrschaft im mittelalterlichen Imperium

63

Präsentation ist dem hohen Mittelalter durchaus fremd. Wieder hat Brunner selbst für das späte Mittelalter erklärt. „Die Stände vertreten nicht das Land, sondern sie ,sind' es."82 Es ist durchaus anachronistisch zu erklären, die Feudalherren verträten ihre Hintersassen; vielmehr nehmen sie ausschließlich ihre und ihrer Familie Interessen wahr. In der sächsischen Zeit kann man also nur von Großen sprechen: einmal von den Kirchenfürsten und zum anderen von den mächtigen Feudalherren, wobei bei diesen immer mehr das Panzerreitergefolge für ihre Stellung von Belang wird. Man ersieht daraus, wie wenig der Begriff „Volk" in politischer Beziehung dieser Situation gerecht wird, denn er täuscht einen Masseneinfluß vor, der nicht vorhanden ist. Noch bedenklicher ist der Ausdruck „Reichsvolk", und zwar „fränkisches" und „deutsches Reichsvolk", wenn dahinter eben nur die Klasse der Herrschenden steht, die weder in Beziehung auf den Stamm noch auf die Rasse einheitlich ist. 83 Es kann an dieser Stelle das Problem nur angeschnitten, aber nicht endgültig gelöst w e r d e n ; aber es dürfte sich bei dem Begriff „populus" ähnlich wie bei vielen antiken Begriffen verhalten, die später einen ganz anderen Sinn bekommen haben. Es sei nur darauf hingewiesen, d a ß man im mittelalterlichen Latein auch nicht „miles" mit „Soldat", sondern mit „Ritter" zu übersetzen hat. Unter diesem Gesichtspunkt der feudalen Umgestaltung der Gesellschaft ist auch die Frage zu betrachten, ob die Alleinherrschaft als absolut oder als beschränkt zu bezeichnen ist. Das Mittelalter ist gekennzeichnet durch das Ringen der Zentralgewalt mit den Partikulargewalten und der mit ihnen auf dem Gebiet des Reiches verbundenen Kirche. Diese beiden Faktoren hat in noch immer grundlegender Weise F. Kern untersucht. Dabei betont er, d a ß der mittelalterliche Herrscher an das „Recht" gebunden ist; er muß den vorgefundenen Rechtszustand achten, kann wohlerworbene Rechte nicht ohne weiteres beseitigen und ist für Abänderungen des Rechts an den „consensus fidelium" gebunden. 84 D i e frühzeitig auftretenden Krönungseide stellen eine Verpflichtung der Herrscher schon bei der Thronbesteigung dar und haben bei der religiösen Anschauung des Mittelalters auch einen besonders zwingenden Charakter. 8 0 Der Bruch des „Rechtes" biete den Einsatzpunkt für ein „Widerstandsrecht", dessen Ausübung allerdings wiederum praktisch den Feudalherren vorbehalten ist, soweit nicht die Kirche mit ihren Machtmitteln gewillt ist einzugreifen. 86 So ist trotz Geblütsrecht und Herrscherweihe der Alleinherrscher keineswegs unbeschränkt. Brunner hat aus dieser Situation sogar die Anwendung des Begriffes „souverän" als anachronistisch bezeichnet. 8 ' Der „consensus fidelium" findet seinen öffentlichen Ausdruck in den Reichsversammlungen und Hoftagen sowie auch auf kirchlichen Synoden, welche in dieser Zeit nach karolingischem Vorbild oft mit den weltlichen Tagungen vereinigt wurden. 8 8 82

Ders., Land und Herrschaft, 2. Aufl., a. a. O., S. 476.

83

Vgl. meinen Aufsatz: Contribution, a. a. O., S. 318 ff. [hier deutsch S. 33 ff.].

8

'' Kern, F., a. a. O., 2. Aufl., S. 128 ff. und 241 ff.

83

Ebenda, S. 131 ff.; vgl. ferner Bouman,

m

Kern, F., a. a. O., 2. Aufl., S. 138 ff.

C. A., Sawing and Crowning, Groningen 1959.

87

Vgl. Brunner, O., Land und Herrschaft, 2. Aufl., a. a. O., S. X V und XVIII.

88

Vgl. Waitz, G„ a . a . O . , Bd. 6, 2. Aufl., bearb. v. Seeliger, reichem Material.

G., Berlin 1896, S. 409 ff. mit

64

Stamm, Staat, Imperium

Hier wurden Angelegenheiten des Reiches und der Kirche verhandelt; der Herrscher war nicht verpflichtet, eine solche Versammlung zu berufen, und abgesehen von den kirchlichen Versammlungen war er auch nicht an einen bestimmten Personenkreis gebunden. D i e Beschlüsse solcher Versammlungen standen unter maßgebendem Einfluß des Herrschers. In politischer Beziehung brauchte er aber ihre Beschlüsse nicht auszuführen; doch war er gehalten, den consensus fidelium bei seinen Entscheidungen zu berücksichtigen, weil er auf die Mithilfe der fideles angewiesen war. Denn er besaß kein stehendes Heer, und andererseits bestand die Gefahr, daß an das Widerstandsrecht appelliert wurde. In der sächsischen Zeit wurde dieses von dem Alleinherrscher praktisch nicht anerkannt und als Rebellion betrachtet. Nach vorsichtigen Anfängen Heinrichs I. ist, wenn auch nicht ohne Schwankungen, die Vollgewalt des rex Francorum bis zum Tode Heinrichs II. behauptet worden, und weder die Kirchc als Korporation noch die weltlichen Großen haben die Gewalt des Alleinherrschers wirklich beschränken können. D e r Schweizer Historiker Werner Näf hat darauf hingewiesen, wie notwendig die gegenseitige Einwirkung der beiden Faktoren gewesen ist, und Brunner hat daraufhin betont, d a ß auch in den Zeiten des Vorwiegens der Zentralgewalt den Feudalgewalten große Bedeutung zukam. E r wendet sich gegen Mitteis' Terminologie des „Lehnsstaats" und stimmt mehr der Ansicht von Näf zu, der von einem Staat feudaler Struktur spricht. 89 In der sächsischen Zeit kann man nur von einem Anfang der Feudalisierung der Verwaltung sprechen. Noch ist der Alleinherrscher in der Lage, selbst die Herzöge als Amtsherzöge zu behandeln. Aber gerade der Kampf gegen die Herzöge hat, wie bemerkt, die Feudalisierung der Bischöfe verstärkt und durch die Einrichtung von Großgrafschaften und die Begünstigung der Dynasten neue Feudalmächte geschaffen, die zwar noch nicht in der Lage waren, die Zentralgewalt zu beschränken, und auch noch nicht korporativ organisiert waren, aber immerhin schon ein fühlbares Gegengewicht bildeten. 90 Man muß also zusammenfassend noch immer die berühmte Rankesche Antithese heranziehen: „Eben dieß sind die Gegensätze, die in den romanisch-germanischen Staaten einander ewig widerstreben. Von dem Begriffe der erblichen Monarchie und der absoluten Gewalt des Staates aus würde man zu allgemeiner Knechtschaft, von dem Begriffe des ständischen Wesens und der individuellen Freiheit aus zur Republik oder zur Wahlmonarchie kommen. Auf der Gegenwirkung beider Principien und ihrer gegenseitigen Einschränkung beruhen unsere Staaten." 91 Dasselbe sagt N ä f , der erklärt: „Grundlegend für die Frühform des ,modernen Staates' (des Feudalstaates, H. S.) ist also ein Dualismus. Es war ein notwendiger Dualismus . . . Überall blieb nicht nur Raum für eine zweite Staatsgewalt, sondern es erhob sich das dringende Bedürfnis, d a ß sie sich bilde, d a ß sie sich entwickle." 92

80

Vgl. Näf,

W.,

Frühformen des „modernen Staates" im Spätmittelalter, i n : H Z .

171/1951,

S. 230 ff., und Brunner, O., Feudalismus, a. a. O., S. 610. 90

Vgl. meinen A u f s a t z : D i e lothringische Politik, a. a. O., S. 220 ff.

91

Ranke,

L., Französische Geschichte vornehmlich im sechzehnten und siebzehnten J a h r h u n d e r t ,

Bd. 1, 3. Aufl., Stuttgart 1877, S. 74. 92

Näf, W„ a. a. O., S. 227.

65

Die Alleinherrschaft im mittelalterlichen Imperium

Es wird nicht notwendig sein, hiernach im einzelnen auf die Verfügungsgewalt des Alleinherrschers weiter einzugehen. Sowohl auf dem Gebiet der Gesetzgebung wie auf dem der administrativen Verwaltung ist sie durch die frühfeudale Form gekennzeichnet. Die fränkische Grafschaftsverwaltung ist noch vorhanden; sie wird allerdings durch das Fortschreiten der Immunitäten immer mehr durchlöchert und auch durch die Zusammenfassung von Grafschaften in der Hand einer Familie. Aber noch immer ist der Alleinherrscher in der Lage, zumindest die weltlichen Feudalbeamten abzusetzen, und, wie erwähnt, hat er das sogar in bezug auf die Herzöge durchführen können. Dies gilt auch auf dem Gebiete der Gerichtsbarkeit. D e r Alleinherrscher ist die Quelle allen Rechts und oberster Richter; er ist in der Lage, überall in die Rechtsprechung einzugreifen/'"' Der Feudalisierungsprozeß hat dazu geführt, daß durch Delegation Gerichtshoheit an die Feudalbeamten kam und die Gerichtsbarkeit der Grundherrschaften in der Hand der Feudalherren sich ausdehnte. Über diese Fragen hat H. Hirsch grundlegend gehandelt, wenn auch seine Thesen nicht unbestritten geblieben sind."4 Nach karolingischem Muster wurden die Geistlichen für die Reichsverwaltung herangezogen. In der Hofkapelle entstand eine Art Hofschule für hohe Reichsbeamte, die dann als Bischöfe in Reichsgeschäften, aber auch bei den Heerfahrten Dienste zu leisten hatten. 00 Das System ist in der späteren ottonischen Zeit stark ausgebaut worden. Dabei darf allerdings nicht das feudale Beamtentum aus den Adelskreisen unterschätzt werden, das immer noch die Hauptmasse der Amtsträger stellt. D a der Alleinherrscher zwar nicht über große Geldeinkünfte verfügt, wohl aber über Stellen und auch über Besitz disponieren kann, ist der Anreiz, in den Königsdienst zu treten, auch für den Adel sehr groß. Das Reichsgut ist über das ganze Reich verstreut, und der geschlossene Eigenbesitz des ottonischen Hauses wird schon unter Otto I. in erheblichem Umfang an die Kirche abgegeben (Magdeburg). Bei dem straffen Kirchenregiment glaubt der Alleinherrscher trotzdem die Verfügungsgewalt auch über dieses zu behalten. Außerdem ist durch Einziehung und Anfall der Gesamtbestand des Reichsgutes noch immer erheblich. Noch ist es den Feudalherren nicht möglich, sich dieses Streubesitzes zu bemächtigen, und gleichzeitig bildet auch die Verfügung des Herrschers über die Reichsklöster mit ihrem außerordentlichen Grundbesitz eine wichtige Quelle für die Macht der Zentralgewalt. 00 So ist trotz Ermangelung eines stehenden Heeres und eines besoldeten Beamtentums der Alleinherrscher in der sächsischen Zeit noch in der Lage, über die gesamten Machtmittel in dem gewaltigen Raum des regnum und des Imperium einheitlich zu verfügen. Hierdurch konnte das Reich damals die unbestrittene Vormachtstellung in Europa erringen und sich stärker erweisen als alle an seinen Grenzen vorhandenen 113

Vgl. Brunner,

O., Land und Herrschaft, 2. Aufl., a. a. O., S. 368 ff.; Mitteis,

4. Aufl., S. 114 ff.; Bosl, K„ in: Gebhardt, Hirsch, van

H„ a. a. O.,

B„ a. a. O., Bd. 1, 8. Aufl., S. 614 ff.

H., Die hohe Gerichtsbarkeit im deutschen Mittelalter, 2. Aufl., mit einem Nachwort

Mayer,

Th.,



Vgl. Sproemberg,

90

Barraclough,

G.,

Weimar

1958,

Mayer

nimmt

eingehend

zu

Hirschs

Thesen

Stellung.

H., Lothringische Politik, a. a. O., S. 219 mit Literatur. Die mittelalterlichen

tragung von Baethgen,

Grundlagen

des modernen Deutschland,

F., 2. Aufl., Weimar 1955, S. 27 ff.

dt.

Über-

66

Stamm, Staat, Imperium

unabhängigen Reiche. So war es möglich, die auctoritas des Imperiums in den verschiedensten Formen, auch weit über den unmittelbaren Machtbereich hinaus, auszudehnen, und dabei erscheint der Alleinherrscher in der Sachsenzeit als das unbestrittene H a u p t der römisch-katholischen Christenheit. Von der antiken und spätantiken Alleinherrschaft unterscheidet sich die mittelalterliche durch ihren feudalen Charakter, der bedingt ist durch den Strukturwandel, der zur Entstehung einer feudalen Gesellschaft geführt hat. 97 Während in der Merowingerzeit das germanische Heerkönigtum noch unvermittelt neben den Resten der spätantiken Verwaltung stand, so wie die Merowingerkönige sich in den Bauten der Römerstädte niederließen, so war in der Karolingerzeit der Verschmelzungsprozeß zwischen diesen verschiedenen Elementen fortgeschritten. Wenn auch die Karolinger sich zuerst auf die nicht romanisierten Franken stützten, so bedeutet ihre Alleinherrschaft doch durchaus keine Barbarisierung der Zentralgewalt, sondern einen Einbau der noch lebensfähigen Elemente der Antike in die Reichsverwaltung. Schon unter Pippin zeigt die sakrale Weihe Einfluß des spätantiken Erbes, und unter Karl dem Großen ist die Übernahme der Imperatorwürde ein deutlicher Ausdruck f ü r den Einbruch spätantiker Elemente in die Form der Alleinherrschaft. Dieses antike E r b e wird freilich völlig umgestaltet, aber die germanischen Elemente desgleichen, wie denn auch Karl der Große in der Frage der Bildung zu klassischen Vorbildern zurückzustreben versuchte. Die Ausweitung des Imperium nach Osten unter ihm ermöglichte das Entstehen eines neuen und selbständigen Machtzentrums unter den westgermanischen Stämmen, wobei aber gleichzeitig die Nivellierung in der Verwaltungsform nach fränkischem Muster und in ihrem Gefolge die Fcudalisierung auf diese Gebiete übergriff. Durch die Sachsenherrscher wird die feudale Anarchie, die vom Westen her den Osten zu erfassen drohte, vorläufig gebannt. So kommt es denn zu einer Alleinherrschaft, welche stärker als die der Karolinger frühfeudale Züge aufweist. Es gelingt, die sich bildende feudale Gesellschaft in den Dienst der Reichsverwaltung zu stellen und dadurch dem regnum und auch dem Imperium eine neue Basis zu schaffen. Im Reich werden dadurch die Stammesgegensätze überbrückt, und im christlichen E u r o p a wird eine verhältnismäßig stabile Ordnung aufgerichtet, die nicht zuletzt auf der Abhängigkeit der Kirche und der Niederhaltung der christlichen Nachbarreiche beruhte. 98 07 98

Vgl. zur Feudalgesellschaft Brunner, O., Feudalismus, a. a. O., S. 602 ff. D i e positive Seite der sächsischen Kaiserzeit hebt vor allem Holtzmann, R., Gesch. d. sächs. Kaiserzeit, 3. Aufl., a. a. O., S. 524 ff., hervor. Eine weniger günstige Beurteilung erbrachte die Diskussion in Rom: Atti, a. a. O., S. 331 ff. - Von wesentlicher Bedeutung ist, daß im Gegensatz zu Westfranken im Ostreich die Fcudalisierung noch nicht so weit fortgeschritten war. Das capetingische Königtum war nicht mehr in der Lage, auf die Bischöfe im Gebiet der großen Lehnsfürsten sowie auf den Adel und die Freien dort Einfluß zu nehmen. Der ostfränkische König jedoch konnte diese Faktoren gegen die Herzöge mobilisieren, da sie sich noch eine gewisse Selbständigkeit bewahrt hatten. Durch die Zentralisierung sowie durch die Gewalt über die Kirche konnte die Vollgewalt des Königs als Alleinherrscher wirksam geltend gemacht werden.

ZU D E M BUCH VON R E I N H A R D W E N S K U S : STAMMESBILDUNG UND VERFASSUNG* Das Werden der frühmittelalterlichen gentes Böhlau Verlag Köln/Graz 1961, X u. 656 Seiten, 2 Karten Das Buch stellt einen großangelegten Versuch dar, die Probleme der deutschen Vor- und Frühgeschichte in neuer Sicht darzustellen. Dadurch wird nun endlich von einer breiten Basis aus ein entscheidender Schritt getan, mit überlebten und wissenschaftlich unhaltbaren Vorstellungen aufzuräumen. Man kann sagen, daß hiermit gleichsam eine neue Generation erscheint, die bereit ist, die Folgerungen ebenso aus den wissenschaftlichen Ergebnissen wie auch aus den politischen Vorgängen zu ziehen. W i r haben es selbst erlebt, wie eine größenwahnsinnige Ideologie unter Mißbrauch der mittelalterlichen Geschichtsforschung das „Großgermanische Reich" zu untermauern versuchte. Nun haben aber die hierbei verwandten Anschauungen eine lange Vorgeschichte. Es genügt nicht, auf den Stand vor 1933 zurückzugreifen. Vielmehr müssen die Probleme von Grund aus neu durchdacht werden, was unter richtiger Auswertung der fachwissenschaftlichen Ergebnisse, gerade auch der Nachbarwissenschaften, geschehen muß. 1 Seit den Zeiten der Romantik beginnt die Verklärung der germanischen und der hochmittelalterlichen Periode unserer Geschichte. In Reaktion auf die Historiographie der Aufklärung mit ihrer rationalen und universalen Auffassung war man auf die nationalen Faktoren in der Geschichte und eine organische Entwicklung von der Frühzeit her zurückgekommen. Man operierte dabei zur Begründung der historischen Vorgänge mit dem Begriff des „Volksgeistes". Dieser Geist sollte sich in allen Formen des historischen Daseins, in Verfassung, Recht, Kunst und Literatur dokumentiert haben, und nur was aus ihm hervorgegangen sei, wurde als lebenskräftig bezeichnet. * Eine gekürzte Fassung dieser Besprechung erschien in der Deutschen Literaturzeitung 6 5 / 1 9 6 4 , Sp. 6 8 2 - 6 8 6 . D e m vorliegenden Druck liegt das Manuskript mit der ursprünglichen, ausführlichen Fassung zugrunde, an der jedoch unter Berücksichtigung der bereits publizierten einige Veränderungen und Kürzungen vorgenommen wurden. 1

M i t diesen Fragen habe ich mich bereits in mehreren Aufsätzen beschäftigt: La naissance d'un Etat allemand au Moyen A g e , i n : L e Moyen A g e , 4 C sér., 1 3 / 1 9 5 8 , S. 2 1 3 ff. [hier a l s : D i e A n f ä n g e eines „deutschen Staates" im Mittelalter, oben S. 3 ff.], u n d : Contribution à l'histoire de l'idée d'Empire au Moyen A g e , in: R e v u e beige 3 9 / 1 9 6 1 , S. 3 0 9 ff. [hier a l s : Betrachtungen zur Geschichte der Reichsidee im Mittelalter, oben S. 2 7 ff.]. W e i t e r f ü h r e n d ist f e r n e r eine A r b e i t v o n Graus,

F., L'Empire de G r a n d e M o r a v i e , i n : 'Das Großmährische Reich, Prag 1 9 6 6 .

Vgl. ferner Böckenförde, Berlin 1 9 6 1 .

W.,

Die

deutsche verfassungsgeschichtliche

Forschung

im 1 9 . Jh.,

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Stamm, Staat, Imperium

Der Schweizer Historiker Fueter hat bereits 1911 scharfe Kritik an dieser Auffassung geübt, indem er bemerkte: „Die Geschichte selbst hat seither genugsam gezeigt, wie unsicher das Fundament ist, auf dem die Lehre von der Unveränderlichkeit der sog. Rasseeigenschaften ruht; es hat sich deutlich ergeben, daß die Ableitung aus einem hypothetischen Volksgeist in vielen Fällen nur historische oder soziologische Unkenntnis maskiert." Ferner betonte er, daß die Historiker die Bedeutung der Sprachgemeinschaft weit überschätzten; überhaupt warnte er vor Rückschlüssen der Sprachwissenschaft auf die Frühzeit. So kam er zu dem Urteil, daß „die nationale Geschichte beinah allein der Pflege für würdig erachtet wurde und von dieser vor allem die Periode des Mittelalters, denn diese war, meinte man sonderbar genug, in besonderem Maße als die Zeit selbständiger nationaler Entwicklung anzusehen".- Diese Worte sind auch heute noch von Bedeutung. Sie zeigen gleichsam prophetisch die Gefahren des Weges, den die nationale Geschichtsschreibung, namentlich in Deutschland, eingeschlagen hat. Wenn auch Wenskus auf diese Hintergründe nicht eingeht, so ist doch sein Ausgangspunkt eine scharfe Kritik an der bisherigen Darstellung der mittelalterlichen Geschichte. Gleich zu Anfang bemerkt er, „daß die Verknüpfung der Begriffe Stammesbildung und Verfassung früher befremdlich angemutet habe". Man setzte die Verfassung als etwas künstlich Gewordenes in Gegensatz zu dem Stamm, der organisch gewachsen sei. Dies ist eben die Auswirkung der romantischen Geschichtsschreibung. Dann stellte er es sich als Aufgabe, kritischer als bisher die Ergebnisse der Sprachwissenschaft und der Frühgeschichte heranzuziehen. Dabei bemerkt er, daß diese Wissenschaften an und für sich nur ungenügende Auskunft gegeben haben, da das Historische nicht im Mittelpunkt ihres Interesses stand. Das ist, wie sich zeigen wird, sehr vorsichtig ausgedrückt, denn gerade diese beiden Wissenschaften haben sich sehr erheblich in den Geschichtsbereich eingemischt, was gerade aus den Darlegungen des Verfassers hervorgeht. Seine erste Frage gilt dem Problem, wie es den Germanen möglich war, den Raum eines universalen Reiches mit ausgeprägtem Staats- und Kulturbewußtsein zu einem System nationaler Nachfolgestaaten aufzusplittern und nicht, wie etwa die in China eindringenden Barbaren, eingeschmolzen zu werden. Die Ursache hierfür sieht er in einem neuen politischen Bewußtsein, das er aus dem Gentilsystem ableitet; er ist der Ansicht, daß dieses stärker war als das römische Reichsbevvußtsein der Provinzialbevölkerung. Das aber ist nicht ganz unproblematisch, denn eine solche Betonung des politischen Bewußtseins kann zu leicht dazu führen, wieder ein Sendungsgefühl zu konstruieren, das der Nationalismus gefährlich mißbraucht hat. Andererseits muß man folgendes beachten: Es ist sehr bedenklich, von einem Reichsbewußtsein der Romanen in der letzten Zeit des weströmischen Reiches zu sprechen. Durch die Überbürokratisierung und die Unterdrückung jeder politischen Tätigkeit sowie durch die zweifellos immer schlechteren wirtschaftlichen Zustände war die Bindung an das Reich schon sehr weitgehend zerstört. 2

Fueter, 416.

E., Geschichte der Neueren Historiographie, München und Berlin 1 9 1 1 , S. 4 2 0 und

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Stammesbildung und Verfassung

Gerade die Masse der Provinzialen war daher durchaus geneigt, sich den neuen Herren anzuschließen, soweit diese ihnen Ruhe und Sicherheit zu verheißen schienen. Auch darf man das politische Bewußtsein bei den eindringenden Germanen keinesfalls überschätzen. Dagegen bemerkt W. mit Recht, daß der Gentiiismus der Germanen unter dem Gesichtspunkt der Völkerkunde zu betrachten ist. Für ihn ergibt sich daraus der Schluß, daß es fragwürdig ist, vorauszusetzen, es habe zu irgendeiner Zeit eine einheitliche germanische Kultur und Verfassung gegeben. Durch Heranziehung der Ergebnisse der vergleichenden Völkerkunde ist es ihm möglich, die Germanenfrage aus der bisherigen Isolierung zu lösen und für viele Probleme eine neue Auffassung zu gewinnen. Der Verfasser geht davon aus, daß unter „Stammesbildung" vor allem der Vorgang zu verstehen sei, der zu einem Stammesbewußtsein führt. So sieht er darin ein geistesgeschichtliches Problem und ein Problem der Geschichte politischer Ideen. Vielleicht ist dieser Standpunkt etwas einseitig, auf jeden Fall aber sehr interessant, denn Wenskus kommt gleich zu der Feststellung, daß in der Geschichte des Stammesbegriffes beispielhaft ein guter Teil der Geschichte der politischen Ideen des 19. Jh. behandelt werden könnte. Sicher ist das ein Kernproblem, denn die Loslösung von den Vorstellungen des 19. und auch des beginnenden 20. Jh. ist vor allem notwendig. Eine der wichtigsten Beobachtungen ist, daß der Glaube an den gemeinsamen Ursprung als eine Fiktion herausgestellt wird. Sehr eingehend untersucht W., welche Bedeutung der Ehegemeinschaft zwischen den einzelnen Stämmen zukommt. Dabei zeigt sich, daß diese, im ganzen gesehen, beschränkt war. Aber die oberen Schichten haben bewußt eine andere Politik getrieben. Hier sind frühzeitig Ehen zwischen Nachbarstämmen und weit darüber hinaus festzustellen. So kommt der Verf. auch hier zu dem Schluß, daß wir ein gültiges Zeugnis eines allgemein-germanischen ethnischen Gefühls nicht besitzen, daß sich dieses erst spät und nur in gewissen Grenzen entwickelt. Ebenso wichtig ist die Erkenntnis, daß die Vorstellung einer reinen Abkunft ebenfalls eine Fiktion war. „In der römischen Kaiserzeit hatten schon durch manche Jahrtausende hindurch immer wieder Schichtungs- und Assimilationsprozesse die Zusammensetzung der ethnischen Einheiten verändert" (S. 34 f.). So stellt der Verfasser wiederum heraus, daß im Gegensatz zum Stammesbegriff der Romantik politische Vorgänge entscheidend zur Formung der Stämme beigetragen haben. D a s ethnische Gefühl folgt den politischen Bildungen mit einigem Zeitabstand. Für die Bewußtseinsbildung kommt noch ein anderer Gesichtspunkt in Frage, den der Verfasser hervorhebt: „ E s besteht eine Abstufung von den führenden Personen über die durchschnittliche Masse bis zu den schlechthin passiven und gleichgültigen Individuen" (S. 64) , 3 Damit ist wiederum eine grundlegende Tatsache ausgesprochen, die gerade für die Bildung eines deutschen Nationalbewußtseins von größter Bedeutung ist. E s wird noch dazu gesagt, daß die Stammestradition nur begrenzten Kreisen ein Lebenswert 3

Hier stützt sich W. auf Mühlmann, S. 110.

6

Sproemberg

W. E.,

Methodik der Völkerkunde,

Stuttgart

1938,

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Stamm, Staat, Imperium

war, während für breite Schichten die lokalen Bindungen weit mehr bedeuteten. N u r so kann man den Gang der Entstehung des deutschen Volkes verstehen. Man muß sich darüber klar sein, d a ß es eine Doppelpoligkeit gibt; auf der einen Seite gewaltige Bewegungen, Überschichtungen und Mischungen, durch die grundlegende Veränderungen eintreten; auf der anderen Seite bei eintretender Konsolidierung die Neubildung einer Tradition, welche ihrerseits höchst unbefangen den neuen Zustand aus der Vorzeit abzuleiten versucht. D a s gilt nun in besonderem M a ß e für die wandernden Stämme. Diese haben - und das trifft vor allem für die Ostgermanen zu - andere Gruppen mitgerissen, auch Unterworfene fremder Herkunft aufgenommen. Beides war f ü r sie eine Notwendigkeit, da die hohen kriegerischen Verluste immer wieder eine Ergänzung forderten, die man nahm, wo man sie finden konnte. Andererseits, und das hat Wenskus besonders betont, war die Anziehungskraft siegreicher Wanderstämme besonders groß. Auf G r u n d dieser Erfahrung arbeitet der Verf. mit dem Begriff „traditionstragender Kern". D a m i t ist wiederum ein wichtiger Gesichtspunkt gefunden, wenngleich der Terminus auch etwas unbestimmt ist. Sogar f ü r die Großstammbildung nimmt Wenskus solche Kerne an. D a m i t lehnt er die Auffassung ab, d a ß die Großstämme durch politischen Zusammenschluß gleichberechtigter Stämme sich gebildet hätten. E r weist darauf hin, d a ß ein Wechsel der Stammeszugehörigkeit keineswegs selten war und es durchaus falsch ist, hierbei von einer inneren Tragik zu sprechen, wie das im 19. Jh. geschah. D e r Verfasser nennt ihn „ethnische Selbstzuordnung" und zeigt, d a ß eine solche sich in sehr verschiedenen Formen vollziehen kann. E r wendet sich anschließend ausdrücklich gegen die Bezeichnung der Germanen als „alte Deutsche" und sagt: „Was den Nationalismus vom ethnischen Bewußtsein unterscheidet, ist sein in die Zukunft gerichtetes Sendungsbewußtsein, das zu Aggressivität und Imperialimus führen kann" (S. 82). E r kommt zu dem Schluß, d a ß im Frankenreich ein deutsches Volksbewußtsein noch nicht vorhanden w a r ; dagegen glaubt er, d a ß sich im ottonischen Reich ein solches entwickelte. Aber wie man sich die Entstehung des deutschen Volksbewußtseins im einzelnen vorzustellen habe, sei weithin noch unklar und bedürfe der Aufhellung. Es komme dabei auf die genaue Definition eines solchen Bewußtseins an. Dabei vertritt der Verfasser den Standpunkt, d a ß die politische Gemeinschaft den Anstoß zur Ausbildung des Stammesbewußtseins gebe und d a ß politische Bildungen vielfach wenig Rücksicht auf kulturelle und sprachliche Verwandtschaft nähmen. Allerdings gebiete die Ehrlichkeit einzugestehen, d a ß wir über die Bildung des Stammesbewußtseins und die damit zusammenhängenden Probleme viel weniger wissen, als das 19. Jh. zu wissen glaubte. D a n n beschäftigt sich Wenskus mit der sogenannten ethnischen Deutung der vorgeschichtlichen Fundgruppen, denn er ist der berechtigten Ansicht, d a ß das so umfangreiche Fundmaterial erst richtig ausgewertet werden muß. Dabei verneint er die bekannten Auffassungen von Kossinna, der archäologische Kulturprovinzen unbedingt mit bestimmten Völkern und Stammesgebieten zusammenbringen wollte. Kossinna hat bekanntlich damit im Sinne gehabt, die germanische und großgermanische Anschauung zu untermauern. Der Protest gegen diese Auffassung hat nun dazu geführt, d a ß die Vorgeschichte sich auf die Kulturgeschichte zu beschränken suchte und d a ß

Stammesbildung und Verfassung

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man beginnt, der ethnischen Deutung in den früheren Epochen mit großer Vorsicht gegenüberzustehen. Dementsprechend wirft der Verfasser die Frage auf, wie weit man damit rechnen kann, daß sich Fundgruppe und Sprachgruppe decken bzw. überhaupt in eine unmittelbare Beziehung bringen lassen. Es ist für die Frühzeit schwer möglich, Kulturprovinzen und Sprachgemeinschaften zur Kongruenz zu bringen. Gerade hier können die Ergebnisse der vergleichenden Völkerkunde viele Aufschlüsse geben. Weiter beschäftigt sich Wenskus mit den ethnischen Verhältnissen Germaniens zur Römerzeit und weist darauf hin, daß bereits damals sehr verschiedene Gruppen bestanden, die durch Uberlagerungen und Mischungen zu erklären sind. Über die Entstehung größerer Verbände gibt es zwei Ansichten, von denen die eine von der Ausweitung älterer Gruppen spricht, die andere von der Aufspaltung eines Urvolkes. Um hier zu einer Klarheit zu kommen, behandelt Wenskus kurz die Frage des indogermanischen Urvolkes. Den Versuch der Sprachwissenschaft, ein solches als eine bewußte Gemeinschaft zu rekonstruieren, lehnt er mit Recht ab. Es stellt sich heraus, daß man die Indogermanen mit einer neolithischen Fundgruppe nicht verbinden kann. Wenn man sich auf die Germanen beschränkt, gibt es auch da nach den heutigen Erfahrungen große Schwierigkeiten. Dabei befaßt sich W . auch mit dem sogenannten nordischen Kulturkreis, der bisher für den Ausgangspunkt des Germanentums gegolten hat. Für die Abgrenzung benutzt er besonders die Lautverschiebung, und zwar bei geographischen Namen. Allerdings ist das Material sehr dürftig und oft recht widerspruchsvoll. Schließlich kommt er zu dem Schluß, daß das Gebiet der JastorfKultur als Ausgangsgebiet große Bedeutung hat. Es reicht vom Odergebiet im Osten bis zu den Rheinmündungen im Westen und von der Lößgrenze im Süden bis nach Mittelskandinavien. Damals scheint sich auch eine gewisse Kulturgrenze mit einer Sprachgrenze vereinigt zu haben. Die Abgrenzung scheint dem Verfasser besonders dadurch gegeben zu sein, daß gegen Nachbarvölker das Gefühl einer grundsätzlichen Fremdheit auftritt. Im Westen wird dies ausgedrückt durch den Begriff „welsch". Dabei ergibt sich, daß das Gebiet der Rheinmündungen vielleicht schon vor den Kelten eine germanische Bevölkerung hatte. Die Absetzung zwischen Kelten und Germanen ist überhaupt sehr schwierig. An der Ostgrenze ist es der Begriff der Veneter, der für die Gesamtheit der östlichen Fremden gebraucht wird und in dem sich die Absetzung der Germanen von ihren Nachbarn widerspiegelt. Wenskus' Grundansicht ist, daß die Bildung des Germanentums nicht vom Kerngebiet der nordischen Bronzekultur ausging, wie man bisher annahm, sondern von den südlichen Kontaktgebieten, wo sich in der Begegnung mit Nachbarstämmen gegenseitige Überschichtungen ergaben. Eben hier bildete sich etwa um 500 v. u. Z. die Jastorf-Kultur aus, die W . mit der germanischen Lautverschiebung in Verbindung setzt. Dementsprechend bestreitet er für die nordische Bronzezeit den germanischen Charakter. W i e unsicher der Germanenbegriff ist, sucht er an den Sueben zu beweisen. Der Streit über Entstehung und Zusammensetzung dieses Stammes ist für ihn der Beweis, wie falsch die bisherigen Methoden waren. Nach seiner Ansicht handelt es sich in diesem Fall wieder um einen Traditionskern, an den sich die verschiedensten Gruppen angeschlossen haben. Die Ausdehnung dieser Sueben bringt er in Zusammenhang mit 6

*

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einem großen Vorstoß germanischer Stämme gen Westen zur Abwehr der Kelten. Die Basis sieht er in den Stämmen an der Elbe, welche einerseits gegen den Rhein und auf der anderen Seite gegen die Donau vorgestoßen sind. Die ersten Erfolge der Sueben hätten dazu geführt, daß sich ihnen so zahlreiche Gruppen anschlössen. Nach Wenskus' Ansicht wäre es beinahe zu einem allgemeinen Zusammenschluß der Westgermanen gekommen, jedoch die siegreichen Vorstöße der Römer hätten das verhindert. Bei dieser Konzentration kann man aber nicht von einem „Nationalgefühl" sprechen, und es ist auch fraglich, ob die Sueben eine ethnische Einheit gebildet haben. Sehr eingehend behandelt der Verfasser dann die Entstehung germanischer Stämme vor der Römerzeit. Die archäologischen Funde ergäben nichts Sicheres. Für die ältere Zeit rechnet Wenskus nur mit Völkerschaften, denn die Stämme faßt er als politische Gebilde auf. Er wendet sich gegen die bisherige Auffassung der Entstehung aus Sippen, deren Bedeutung man sehr überschätzt habe. Das stimmt mit seiner Theorie der Traditionskerne überein, die sich ihm vor allem als zur Landnahme ausziehende Gefolgschaften darstellen. Sehr wesentlich erscheint ihm bei der Ausbildung von Stämmen die Frage nach der Rolle des Königtums. Bisher galt dieses allgemein bei den Germanen als eine jüngere Erscheinung. Die Rechtsgeschichte hat mit besonderem Nachdruck bestritten, daß es vor der Völkerwanderung ein Königtum gegeben habe. Die nicht seltenen antiken Erwähnungen eines rex übersetzte man mit „Fürst" oder „Herzog", um diese Zeugnisse beseitigen zu können. Wenskus hält das für unbegründet. Grabfunde haben gezeigt, daß es in der Bronzezeit Fürstengräber gab. Hiermit konnte aber die Vorgeschichte auch nicht zu bestimmten Schlüssen gelangen, weil in der Eisenzeit derartige Gräber nicht mehr nachzuweisen sind. Dieses Aufhören hat zu den verschiedensten Deutungen geführt. Der Verfasser ist der Ansicht, daß Persönlichkeiten, die mit derartigem Aufwand bestattet wurden, erfolgreiche Landnahmeführer gewesen seien. Daher nimmt er diese Gräber zwar nicht als unbedingten Beweis für ein frühes Königtum, möchte sie aber als Vorboten für das spätere Heerkönigtum werten. Darauf wendet er sich gegen die allgemeine Auffassung, daß Königtum und Adel auf gleicher Ebene gelegen hätten, und nimmt eine frühe Sonderstellung der Könige an. So sieht er in princeps und rex nicht nur verschiedene Rangstufen. Das sonst in frühen Zeiten oft bezeugte Vorrecht der Ältesten läßt sich bei den Germanen nicht mehr nachweisen. Schon in den frühesten Zeugnissen tritt aber die Bedeutung der Abkunft für die Rangstellung einer Person hervor. Die Zugehörigkeit zu einer adligen Sippe ist von größter Bedeutung. Dies hält Wenskus für den Gegenbeweis gegenüber den Vorstellungen des 19. Jh. über den Urkommunismus oder die Demokratie in der germanischen Frühzeit. In Auseinandersetzung mit der Überbetonung des Adels schon in der Frühzeit muß man jedoch die Frage stellen, woher dieser Adel eigentlich entstanden ist. D a in dieser Zeit bei ihm noch kein größerer Besitz nachzuweisen ist, wird man vielleicht doch annehmen müssen, daß seine Vorfahren sich einmal durch Leistung ausgezeichnet haben. Außerdem ist nicht klar bewiesen, daß dieser Adel sich standesgemäß abgeschlossen hat. Unzweifelhaft aber ist, daß schon in der frühen Germanenzeit eine soziale Differenzie-

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rung bestand. Trotzdem lassen sich aus den Grabfunden sichere Schlüsse für die Stellung des Adels in der Frühzeit nicht gewinnen. Ein weiteres Kernproblem ist die Frage der Gefolgschaft. Dabei setzt sich der Verfasser mit dem Einfluß des keltischen Vorbildes auseinander. Den Gefolgschaften weist er entscheidenden Einfluß bei der Umbildung der Sozialstruktur und den kriegerischen Vorstößen gegen den Rhein zu. Dabei weist er darauf hin, daß bei diesen Gefolgschaften, durch die der Adel erst seine herrschaftliche Stellung gewinnt, unfreie Fremde und sogar Verbrecher als Mitglieder nachzuweisen seien. Man muß also das ideale Bild der durch Treue mit dem Herrn verbundenen Volksgenossen sehr erheblich umgestalten. E s ist kein Zweifel, daß jene Gefolgschaften nicht sozusagen aus dem Volke hervorwachsen, sondern Sonderbildungen sind, wie das schon in der Römerzeit festzustellen ist. Hier entwickelt sich im Gegensatz zu dem Bauernkriegertum, das bisher für die germanischen Aufgebote charakteristisch ist, ein Berufskriegertum, das nicht mehr an den Boden gebunden ist, aber für seinen Unterhalt ständig bedeutende Mittel erfordert. Diese zu beschaffen, ist dann ein Anlaß zu immer wiederholten kriegerischen Unternehmen der Herren. Durch die Entstehung der Gefolgschaften gerät, wie der Verfasser richtig sagt, der ganze germanische Raum in Unruhe. Schärfer, als er es tut, muß man die soziale Seite dieses Strukturwechsels beachten. Durch die Vorstöße beginnt der keltische Einfluß sich sehr zu verstärken, denn weite Gebiete keltischer Kultur werden durch die Germanen besetzt. Hierbei blieben große Teile der einheimischen Bevölkerung im Lande sitzen und wurden germanisiert. Dies weist Wenskus im besonderen in den Gebieten des Niederrheins, im Ruhrgebiet, Nordhessen und Hannover nach. Damit tritt auch ein Sprachwechsel ein, und erst jetzt erfolgt eine gewisse Vereinheitlichung durch die Lautverschiebung. Archäologisch ist die Landnahmebewegung im Westen schwer zu erfassen, da der kulturelle Einfluß der Kelten andauert. Deutlicher scheint im Oder-Weichsel-Raum durch die Grabungsfunde das Vordringen germanischer Stämme bewiesen zu werden. E s ist interessant, daß nach den neuesten Forschungen gerade an der Ostseeküste offensichtlich die Landnahme in Wellen erfolgte. Um das Jahr 100 v. d. Z. scheinen die ersten Skandinavier gekommen zu sein und um die Zeitenwende die Goten. Dabei hat sich ergeben, daß sich wahrscheinlich schon früher Handelsniederlassungen der Skandinavier an den Ostseeküsten befunden haben. Über die eigenartige ethnische Zusammensetzung dieser Stämme hat sich Wenskus später noch eingehender geäußert. Sind in dem sogenannten germanischen Kolonialraum starke Umschichtungen und Mischungen zu vermuten, so können auch Umschichtungsvorgänge im altgermanischen Gebiet nachgewiesen werden. Der Verfasser nimmt eine kulturelle Dreiteilung des germanischen Raumes an, indem neben das alte Kerngebiet und das Kolonialgebiet auch das rheinische und süddeutsche Gebiet tritt, in dem der keltische Einfluß kulturell beherrschend wurde. Besonders die Burgen sind für diesen bezeichnend. E s besteht jedoch kein Zweifel, daß die Germanen ebenfalls größere befestigte Siedlungen gehabt haben. Die alte Auffassung von deren Widerwillen gegen Burgen und Städte wird durch die archäologischen Funde widerlegt. Durch Burgenbau und Gefolgschaftswesen sind große Umwälzungen in der Struktur der germanischen Völkerschaften hervorgerufen worden. Man wird allerdings die

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Ansicht vertreten können, daß diese Neuerungen die Folge sozialer Veränderungen gewesen sind. In diesem Zusammenhang widmet der Verfasser dem Wandel in der Verfassung lange Ausführungen. Im Laufe der Römerzeit tritt eine straffere Organisation bei den Germanen hervor. Dabei kommt Wenskus erneut auf die Rolle des Königtums zu sprechen. Bei den Ostgermanen nimmt er ein durch die Landnahme erstarktes, älteres Sakralkönigtum an. Ganz allgemein ist er der Ansicht, daß die Prinzipatsverfassung nicht die Urform der germanischen Verfassung gewesen sei. Um die Entwicklung auf germanischem Boden zu klären, zieht er die Vorgänge in Gallien heran. Bei den Kelten läßt sich, wie er ausführt, nachweisen, daß ursprünglich überall Könige vorhanden gewesen seien. Noch zur Zeit Cäsars sind Reste dieser Institution deutlich erkennbar; wenn auch das Königtum fast überall verschwunden ist, so zeigt das Vorhandensein eines Königsgeschlechts bei fast allen Stämmen den früheren Zustand an. Offenbar nicht lange vorher war ein Umsturz der politischen Ordnung erfolgt, den der Verfasser geradezu als eine „gallische Revolution" bezeichnet und durch den das Königtum fast überall entmachtet wurde. Als Grund wird römischer Einfluß genannt und auch der Druck germanischer Invasion. Doch hält Wenskus mit Recht beides als Erklärung nicht für zureichend, denn das hätte eher zu einer Konzentration führen können, wie es gegen Ende der Eroberung Galliens der Fall war. Der wesentliche Grund ist nach seiner Ansicht die Entstehung stadtartiger Siedlungen, der sogenannten oppida; dies bedeutete eine soziale Umwälzung, die schwerwiegende Folgen für die Stammesstruktur gehabt habe. Richtiger wäre wohl zu sagen, daß es die Auswirkung eines ökonomischen Prozesses gewesen ist. Dabei stellt Wenskus fest, daß gerade diejenigen Stämme keine Könige hatten, auf deren Gebiet sich Burgen oder Siedlungen nachweisen lassen. Das Entscheidende ist aber wahrscheinlich die Ausbildung der Klientelverhältnisse, die für Gallien zur Zeit Cäsars charakteristisch gewesen ist. Es begegnen uns gallische Große mit einer umfangreichen Anzahl von Gefolgsleuten, die um die Vormacht in Gallien kämpften. Das bedeutet allerdings eine soziale Umwälzung, denn offenbar waren die freien Bauern jetzt vielfach in Abhängigkeit geraten. Dadurch wurde dem Königtum in der alten Form der Boden entzogen. Infolge der Machtkämpfe der Großen ist es den Römern gelungen, Gallien dauernd zu unterwerfen, da sie diese Großen in ihr Interesse gezogen haben. Zwar sagt das der Verfasser nicht, aber es drängt sich ein Vergleich mit der späteren Feudalisierung im 8. und 9. Jh. auf. Es waren auch damals westfränkische Große, die durch ihre Vasallenaufgebote die Königsmacht untergraben hatten. Der Verfasser ist sicher mit Recht der Auffassung, daß die beschriebene Entwicklung bei den Kelten auf die Westgermanen eingewirkt hat. Bei diesen lassen sich noch in der späteren Zeit Königsfamilien nachweisen, welche zwar die königliche Macht nicht mehr besaßen, aber durch ihre Abkunft eine besondere Stellung innehatten. Sehr rasch bildet sich durch das Gefolgschaftswesen auch auf germanischem Boden eine neue politische Ordnung aus. Ohne Zweifel ist daher Wenskus' Schluß berechtigt, daß die Prinzipatverfassung bei den Westgermanen jünger ist als das Königtum; auch in dieser Beziehung ist die ältere Auffassung zu revidieren. Ebenso wie bei den Germanen kein Urkommunismus und keine Urdemokratie vorhanden ist, so auch keine alte Adelsverfassung. Schon zur Römerzeit läßt sich wie in Gallien ein ständiger

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Kampf der Adelsparteien nachweisen. Die Umwälzung erstreckt sich ebenfalls auf das religiöse und geistige Gebiet. Diese Feststellungen werden auch durch die archäologischen Funde unterstützt. So ist denn zu Beginn der Römerzeit bei den Westgermanen bereits alles in Bewegung, und die von den Römern damals geschilderten Zustände sind keineswegs die ursprünglichen gewesen. Entscheidenden Wert legt Wenskus auf die Stoßkraft, die durch die Bildung der großen Gefolgschaften entstanden ist. E r sieht darin nicht nur die Auflösung der bisherigen Verfassung, sondern auch einen Fortschritt, der zur Anpassung der Germanen an die westlichen Verhältnisse führte. N u r so erklärt er die Ausbreitung der Germanen; mit einem W o r t : das Gefolgschaftswesen stellt eine Konzentration dar, durch welche neue politische K r ä f t e entwickelt wurden. Unter diesem Gesichtspunkt behandelt er die Stammesbildung in der Römer- und Völkerwanderungszeit. Zwar begegnen zunächst noch die alten Stämme, aber ihre soziale und politische Struktur ist in stetem W a n d e l begriffen. Für die neuen Formen der Stammesbildung möchte Wenskus vier Typen herausarbeiten: 1. Abspaltung unter gleichzeitiger Verlegung des Siedlungsraumes; 2. Abspaltung bei Beibehaltung des Siedlungsraumes; 3. Angliederung und Ansaugung während der W a n d e r u n g ; 4. Akkumulationserscheinungen bei und nach der Landnahme und im Heimatgebiet. Unter dem ersten Typ versteht er praktisch eine koloniale Eroberung. Dabei weist er die Auffassung zurück, d a ß geschlossene Stämme ausgewandert seien; es sind vielmehr Heerhaufen, die sich um einen Führer scharen, um neues Land zu gewinnen. Dieser Vorgang ist besonders charakteristisch f ü r die Ostgermanen. Bei ihnen ist es stets so, d a ß ein mehr oder weniger großer Teil zurückbleibt und d a ß die Auswanderer in der Regel verschiedene Teile fremder Stämme aufnehmen. Bei den Westgermanen begegnen wir einem gestaffelten Ablauf der Landnahme, so d a ß zunächst Heerhaufen vorstoßen und dann die bäuerlichen Siedler folgen. Hier ist eine grundsätzliche Klärung nötig. Es gibt nämlich zwei Formen der Landnahme. D i e eine, bei den Ostgermanen, führt in mehr oder weniger kurzer Zeit zur Ausbildung einer Herrenschicht. D i e auswandernden Kriegerscharen setzen sich über zahlenmäßig sehr große Massen, in der Regel anderer Rasse. Es sind kriegerische Gefolgschaften, die zur Kriegerkaste werden. Man darf diese Form als herrschaftliche Landnahme bezeichnen, denn diesen Stämmen geht es nicht um Siedlungsland, sondern nur um Herrschaft, um die Gewinnung von Menschen, die für ihre Bedürfnisse arbeiten. Sie sind nicht mehr gewillt, selbst Bauern zu werden. Sie werden daher zu einem wandernden Heer und später zu einer Kriegerkaste. D i e andere Form ist eine bäuerliche Landnahme; sie ist charakteristisch f ü r die Westgermanen. Auch hier stoßen kriegerische Gefolgschaften vor, aber es folgen ihnen die Siedler nach, denen es um Siedlungsland geht. D a h e r findet in diesem Fall nicht das Ausgreifen in die Weite wie bei den Ostgermanen statt, sondern eine organische Ausbreitung des ursprünglichen Siedlungsgebietes oder doch die Schaffung eines geschlossenen Siedlungslandes, wie etwa bei den Angelsachsen in Britannien. N u r wenn man diese beiden Kategorien unterscheidet, wird Erfolg und Ausgang ihrer Landnahme verständlich.

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Der zweite Typ der Stammesbildung ist ohne große Bedeutung. Dagegen ist der dritte derjenige, der gerade für die Ostgermanen so wichtig geworden ist: eben der der herrschaftlichen Landnahme. Und so erklärt auch der Verfasser, daß dieser epochemachend bei den Ostgermanen gewesen wäre. Dabei spricht er von Wanderlawinen. Dieser Begriff ist sehr ansprechend, denn er bringt zum Ausdruck, daß hierbei die verschiedensten Menschengruppen mitgerissen wurden. Besonders weist W . darauf hin, daß jenen Stämmen zahllose Sklavenscharen zuliefen sowie römische Soldaten germanischer Abstammung und auch viele Menschen völlig anderer Herkunft. Nicht ganz zutreffend ist sicher die Bemerkung, daß der Vorstoß in den Steppenraum zur völligen Umstellung der Lebensform geführt hat. Sicher sind die Goten durch die Schwarzmeer-Kultur stark beeinflußt worden. Aber es wäre doch einer Untersuchung wert, ob man sie als Reitervolk bezeichnen darf. Man hat vielmehr den Eindruck, daß es sich bei ihren Kriegern um schwere Reiterei gehandelt hat und nicht um die leichte Reiterei der Steppenvölker. Es ist darauf hinzuweisen, daß zum Beispiel auch die Vandalen eine ähnliche Entwicklung durchgemacht haben, obwohl sie nicht in den Steppenraum vorgestoßen sind. Ein sehr schwieriges Problem ist die Frage der Verschmelzung gerade bei diesen wandernden Stämmen. Es besteht kein Zweifel, daß insbesondere bei den Goten ein großer Zustrom fremder Elemente stattgefunden hat. Und dennoch war es möglich, wieder einen einheitlichen Stamm zu bilden. Beachtlich ist auch der Hinweis, daß gerade bei den wandernden Heeren der alte Adel beseitigt werden mußte, da ein einheitliches Kommando notwendig war. Sehr deutlich arbeitet der Verfasser heraus, wie sehr diese wandernden Heere daran interessiert waren, möglichst viele für kriegerische Zwecke verwendbare Menschen aufzunehmen, um den steten Abgang durch die Kriegführung auszugleichen. Dann weist er darauf hin, daß gerade die Führer bei der Landnahme und die späteren Heerkönige Interesse daran hatten, Gefangene in die Gefolgschaft aufzunehmen, weil sie in diesen eine feste Stütze für ihre Macht zu gewinnen hofften. Überblickt man die hier entwickelte neue Auffassung im ganzen, so erkennt man, wie tiefgehende politische und soziale Folgen aus den Wanderungen und auch aus der Landnahme im Anschluß an das bisherige Gebiet bei den Germanen entstanden sind. Es ist kein Wunder, daß nun neue politische Formen auftraten. Wahrscheinlich ist es nur der Mangel an Nachrichten, besonders aus der spätantiken Zeit, der uns das langsame Werden neuer Formen so schwer erkennen läßt. Der Verfasser legt großen Wert auf die Stammessagen. Jedoch für diese sozialen Umwälzungen sind sie nur schwer verwertbar. Die archäologischen Funde geben nur in seltenen Fällen für die aufgeworfenen Fragen schlüssiges Material. Jedenfalls ist auf diesem Wege eine neue Sicht für die Umgestaltung der spätantiken Welt im Westen gewonnen worden. Seine Ergebnisse sucht nun der Verfasser durch die Untersuchung der Bildung einiger der bekanntesten Großstämme der Völkerwanderungszeit zu stützen. Es ist bedauerlich, daß er nicht die oben skizzierten grundsätzlichen Unterschiede bei der Landnahme beachtet hat, weil das Einzeluntersuchungen erspart hätte. Das zeigt sich sofort bei seinen Ausführungen über die Goten. Dabei beschäftigt er sich eingehend mit deren Herkunft unter Heranziehung ihrer Stammessage. Nach seiner Ansicht ist

Stammesbildung und Verfassung

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es immer noch das Nächstliegende, als ihren Ausgangspunkt die Insel Gotland zu betrachten; dort nimmt er auch den Sitz des gotischen Königshauses an. Daneben aber ist mit Zustrom aus dem ganzen südschwedischen Gebiet zu rechnen. Von Gotland aus hält Wenskus frühe Vorstöße an die Ostseeküste für wahrscheinlich und glaubt, daß bereits vorher Handelsniederlassungen der Skandinavier im Weichsellande bestanden. Diese Handelsniederlassungen seien der Ausgangspunkt der Stammesbildung gewesen; sie hätten als Einsatzpunkt für die Auswanderer gedient. Deutlich erscheint dem Verfasser die gefolgschaftliche Struktur der ersten Wanderbewegung. Daraus ergibt sich eine sehr frühe herrschaftliche Landnahme, denn schon die archäologischen Funde erweisen eine Überlagerung der einheimischen Bevölkerung durch skandinavische Einwanderer. Gerade auch der Hinweis auf Handelsbeziehungen würde es erklären, daß das Streben dieser Einwandererscharen ein Vorrücken auf der großen Handelsstraße nach dem Schwarzen Meer gewesen ist. Im einzelnen weist Wenskus dann nach, daß bei den Goten frühzeitig der völlige Übergang zu den Reiterkriegern mit Kettenhemd und Schuppenpanzer eintrat; es entstand also eine schwere Reiterei. Die Umformung dieses wandernden Heeres hat man bisher weniger beachtet. Außerdem läßt sich nachweisen, daß sich den Goten hunnische und alanische Scharen anschlössen und besonders auf dem Balkan massenhaft provinzial-römische Elemente aufgenommen wurden. Den Charakter als wanderndes Heer charakterisiert folgende Bemerkung: „Alle diese Scharen konnten jedoch nicht als Bauern angesiedelt werden. Sie waren gewöhnt, als Herrenschicht über zinsende Ackerbauern zu gebieten, und sahen im Kampf ihren eigentlichen Daseinszweck. So blieben sie stets ein mobiles Element, ständig bereit, sich einem der neuen Führer zu neuen Taten zuzuwenden" (S. 477). So erklärt es sich, daß der Bestand der gotischen Heere sehr stark gewechselt hat und daß nicht mehr als ein Traditionskern vom Balkan nach dem Westen gezogen ist. Man schätzt heute das Heer Theoderichs auf 20 000-25 000 Krieger. Auch die Westgoten sind sicher nicht zahlreicher gewesen. Aber der Charakter als „Volk in Waffen" und die Ausbildung als Berufskrieger haben es ermöglicht, daß diese zahlenmäßig nicht sehr großen Heere größere Reiche gründen konnten. Interessant ist dann die Bemerkung, daß man heute annimmt, die Goten seien auch nach ihrer Niederlage in gewissem Umfang in Italien geblieben. Es entspricht Wenskus' Auffassung, daß der Untergang des Königtums praktisch auch den Untergang des Stammes bedeute. Für ihn hatte das Gotenvolk nach dem Verlust des Königtums seine Repräsentanz verloren und war in kleine Lokalgruppen zerfallen. Vielleicht ist das doch nicht ganz zutreffend. Man wird weiterhin die Auffassung des zeitgenössischen Berichterstatters Prokop nicht ganz verwerfen dürfen, daß ein großer Teil' der Goten nach Gallien abgezogen sei. Dann behandelt der Verfasser die Langobarden. Es ist lange darüber gestritten worden, wie weit dieser Stamm den West- oder Ostgermanen zuzuzählen ist. Hier wendet Wenskus wieder erfolgreich seine These vom Traditionskern an. Damit wird er den Hinweisen auf skandinavische Beziehungen gerecht. Nach seiner Ansicht handelt es sich um eine zahlenmäßig sehr kleine skandinavische Gruppe, die etwa 100 n. d. Z. an der Ostseeküste landete, dort mit den Vandalen zusammenstieß und an die Unterelbe abgedrängt wurde. W i e der Verfasser bemerkt, läßt sich dort das

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Gebiet der Langobarden durch archäologische Funde ziemlich genau festlegen. Sie sind in enge Verbindung mit den Sueben gekommen, woraus es sich erklärt, daß sie vielfach zu den Elbgermanen gerechnet wurden. Auf Grund der Funde läßt sich ihr Abzug nach Süden auf etwa 400 ansetzen. Bei ihnen läßt sich ferner feststellen, daß sie infolge ihrer geringen Kopfzahl in besonders hohem Maße fremde Elemente aufgenommen haben, vor allem durch Freilassung von Sklaven. 489 erscheinen sie in Niederösterreich, nachdem sie vorher vorübergehend unter die Herrschaft der Heruler gekommen waren. Der Verfasser betont ausdrücklich, daß sie keine Bauern, sondern kriegerische Herren waren. Bereits 449 begegnen wir bei ihnen zahlreichen Panzerreitern, obwohl sie in keine Berührung mit den Steppenvölkern gekommen waren. Es ist bekannt, daß sie bei ihrem Einfall nach Italien zahlreiche Gruppen aus anderen Stämmen mitgeführt haben, darunter römische Provinzialen, aber auch Sarmaten und später Bulgaren. Der Traditionskern blieb aber langobardisch, und die einzelnen Elemente sind verhältnismäßig rasch eingeschmolzen worden. Es ist schade, daß Wenskus die Vandalen und Burgunder nicht in seine Untersuchung einbezogen hat, wäre dann doch das Gesamtbild der ostgermanischen herrschaftlichen Landnahme noch deutlicher geworden. Zu ihrem Verständnis ist auch das Ende dieser Reiche wesentlich. In allen Fällen stand eine kleine Minderheit einer außerordentlich großen, kulturell überlegenen Masse fremden Volkes gegenüber. Die Kriegerscharen wurden zerstreut über das Gebiet angesiedelt, wenn auch meist an strategisch wichtigen Punkten. Sie blieben die einzige Kriegsmacht, bildeten aber nicht mehr ein stehendes und geschlossenes Heer; die einzelnen Krieger verwandelten sich in kriegerische Grundherren. Zur Niederhaltung der Unterworfenen reichte diese Militärmacht aus. Im Falle eines äußeren Angriffes durch einen waffengeübten Feind zeigte sich jedoch das Fehlen der Disziplin und der ständigen militärischen Übung. So kam es, daß fast in einer einzigen Schlacht der Untergang dieser Reiche herbeigeführt wurde. Dabei spielte eine erhebliche Rolle, daß die zur Kriegerkaste Gewordenen auf ihre Privilegien stolz waren und daher aus der Bevölkerung keine Elemente aufnahmen. Es fehlte ihnen also im Falle einer Niederlage die Möglichkeit, neue Truppen aufzubieten. Vor allem aber hatten die Untertanen kein Interesse an ihrer Herrschaft, so daß dann ihre Reiche wie Kartenhäuser zusammenbrachen. Nur die Goten konnten es zu einem längeren Widerstand bringen, da Theoderich es verstanden hat, ein stehendes Heer zu erhalten. Aber auch sie erlagen dem Angriff der Byzantiner. Ganz anders liegen die Verhältnisse bei den Westgermanen, denn bei ihnen treffen wir die bäuerliche Landnahme an. Zuerst behandelt der Verfasser die Alamannen. Die Landnahme vollzieht sich bei ihnen durch Heerhaufen, deren Bestandteile nicht einheitlicher Herkunft waren; die entscheidende Rolle spielen gefolgschaftlich organisierte Verbände. Den Heerhaufen folgt dann die Masse der bäuerlichen Siedler nach. Bei ihrer Landnahme wird heute der Anteil der provinzial-römischen Unterschicht für die Ausbildung des Stammes höher eingeschätzt als früher. Die Fortdauer vorrömischer Elemente im schwäbischen Gebiet ist auch heute noch sichtbar. Dann wendet sich der Verfasser den Franken zu. Wieder beschäftigt er sich mit der Deutung des Namens. Die bisherige Auffassung, daß es sich um einen Bund verschiedener Völker gehandelt habe, erscheint ihm bedenklich. Eine feste Umgrenzung

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Stammesbildung und Verfassung

hält er für schwer möglich; der Umfang dieses Großstammes sei zu verschiedenen Zeiten verschieden gewesen. Zur Kennzeichnung möchte er den Begriff „Stammesschwarm" vorschlagen. Ob diese Definition sehr glücklich ist, ist eine Frage, und zwar darum, weil sicher sehr verschiedene Elemente sich zusammengefunden haben, aber doch sehr bald eine innere Verschmelzung eintrat. Nach Wenskus' Ansicht waren die Chamaven das eigentliche Kernvolk der Franken. Es hat aber offensichtlich eine große soziale Umschichtung stattgefunden. Zu einer wirklichen Klärung der Gründe dieser plötzlichen Zusammenballung gelangt Wenskus jedoch nicht. Das einzig Richtige ist, daß wir hier einen vielschichtigen Prozeß vor uns haben. Im 4. Jh. erscheinen die Salier als Spitzengruppe der Franken. Den Namen möchte Wenskus mit der See in Verbindung bringen. Man hat aber den Eindruck, daß es sich bei diesen Saliern um den Vortrupp der Franken handelt, d. h. um den Zusammenschluß der Elemente, die nach einer kriegerischen Landnahme strebten. Es könnte angenommen werden, daß sie das mobile Feldheer der Franken darstellten. Für den Erfolg des Zusammenschlusses zieht der Verfasser seine These von der Bedeutung des Königtums heran. Ganz überzeugen kann das aber nicht, denn offenbar ist die politische Konzentration der Franken doch erst zu einem Zeitpunkt erfolgt, an dem bereits der Durchbruch in römisches Gebiet vollzogen war. Es ist richtig, wenn W . sagt, daß durch das Vorgehen Chlodwigs die Tradition der Merowinger zur fränkischen Tradition wurde und gleichzeitig damit ältere Traditionen verschwanden. Wenn er die Ansicht vertritt, daß die Landnahme in Gallien auch wellenförmig stattfand, so ist dem ohne Zweifel zuzustimmen. Vor allem ist richtig, daß das germanische Element viel zu schwach war, um im ganzen romanischen Raum das Hinüberwechseln der einheimischen Bevölkerung aus der galloromanischen Kulturwelt in die germanische Reichskultur herbeizuführen. Diese Behauptungen sind nur möglich auf Grund der Arbeiten von Steinbach und Petri/' Es ist das Verdienst Steinbachs gewesen, Forschungen über die germanisch-romanische Westgrenze angeregt zu haben, wobei das überraschende Ergebnis erzielt wurde, daß die seit der späten Karolingerzeit feste Sprachgrenze eine germanische Rückzugslinie darstellt und diesseits und jenseits der Grenze ein Sprachenausgleich stattfand, so daß die Sprachinsel von dem umgebenden Land aufgesogen wurde. Die ursprüngliche Behauptung einer sehr starken fränkischen Siedlung in ganz Nordfrankreich konnte nicht aufrechterhalten werden. Doch ist es zweifellos, daß die Frankenkönige in erheblichem Umfang Kriegerscharen angesiedelt haben. So kam es auf romanischem Gebiet in gewissen Grenzen zu einer herrschaftlichen Siedlung. Die Franken erscheinen hier auch als Kriegerkaste. Außerdem sind sicherlich in großer Zahl Krieger aus westgermanischen Gebieten herübergeströmt. Besonders im Seinebecken verfügten die Frankenkönige über riesige Landgebiete, die ursprünglich kaiserliche Domänen waren. Hier konnten sie also großzügig Land an ihre Gefolgsleute verschenken. Dabei spielt die Einrichtung der Königsfreien eine große Rolle. Das gilt nach Ansicht des Verfassers auch für die Aufrichtung der fränkischen Herrschaft in dem später fränkischen Gebiet rechts des Rheins. 4

D i e letzte Zusammenfassung mit Literaturhinweisen bei Steinbach, Handbuch der Deutschen Geschichte, neu hrsg. v. Just,

F., D a s Frankenreich, in:

L., Bd. 1, Konstanz

1957.

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Stamm, Staat, Imperium

Es ist ganz offensichtlich, daß bei den Franken das Königtum als Zentralgewalt für die Gründung des Reiches entscheidende Bedeutung gehabt hat. Aber dieses Königtum, das schon seit Chlodwig als Großkönigtum zu bezeichnen ist, ist durchaus anderer Art als das Heerkönigtum oder das alte Sakralkönigtum. Gewiß: die Kommandogewalt ist die stärkste Stütze. Aber das Entscheidende bleibt doch, daß bereits Chlodwig die Notwendigkeit erkannt hat, die unterworfenen Massen an das Reich zu binden. Das geschah auf romanischem Boden durch seinen Übertritt zum Katholizismus ; damit wurde die romanische Bevölkerung gewonnen. Gerade neuerdings wurde nachgewiesen, daß auch die großen römischen Familien in erheblichem Maße ihre Stellung in Frankreich behaupten konnten. Die Unterschiede zwischen Franken und Romanen haben sich daher ausgeglichen, und es gab bald nur noch eine soziale Differenzierung. Ähnlich sind Chlodwig und seine Nachfolger auch gegenüber westgermanischen Stämmen, die sie unterwarfen, vorgegangen. Die Franken blieben zwar das Königsvolk, aber die Gleichberechtigung aller romanischen und germanischen Untertanen gegenüber dem Königtum hat die unerschütterliche Basis des Frankenreiches geschaffen. Die Untersuchung über Sachsen und Friesen führt Wenskus nicht zu endgültigen Ergebnissen. Es handelt sich dabei um die Frage, ob die Sachsen durch Eroberung oder durch Zusammenschluß verschiedener Stämme gebildet wurden. Mit Recht weist der Verfasser jedoch darauf hin, daß die starken ständischen Unterschiede in der sächsischen Verfassung ein sicheres Zeichen für gewaltsame Eroberung sind. Auch hier gibt es keine Urdemokratie, und Wenskus glaubt Anzeichen dafür zu finden, daß bei den Sachsen in ihrer Frühzeit ein Königtum vorhanden gewesen ist, welches aber nur für die einzelnen Völkerschaften gegolten hat. Seine Lehre von der Bedeutung des Königtums paßt jedoch für den Zusammenschluß dieses Stammes nicht. Die Friesen behandelt er nur sehr kurz, weist aber darauf hin, daß die archäologischen Funde es zweifelhaft erscheinen lassen, daß hier eine Kontinuität seit der Frühzeit bestanden hat. Es wäre immerhin auch merkwürdig, daß die Friesen von den Wanderungsbewegungen ganz unberührt geblieben wären. Das Kernproblem der thüringischen Stammesbildung ist nach Wenskus' Ansicht die Frage nach dem Verhältnis des Thüringernamens zu dem der Hermunduren. Auch hier wird keine überzeugende Lösung geboten. Ganz zweifellos hat dieses Durchzugsgebiet verschiedene Umschichtungen erlebt, wofür die archäologischen Funde ein sicheres Zeugnis bieten. Die Ableitung des Thüringernamens von einem Königsnamen erscheint sehr zweifelhaft. Interessant sind Wenskus' Ausführungen über die Bayern, deren Name erst im 6. Jh. erscheint. Auch hier beschäftigt er sich zunächst mit der Entstehung des Namens. Er meint, daß die alte Ableitung von den Bojern und Böhmen doch schließlich die wahrscheinlichste ist. Mit Recht weist er die Ansicht zurück, daß die Markomannen den Traditionskern der Bayern gebildet haben. Er njmmt für diese den Zusammenschluß sehr verschiedener Elemente an und sagt: „Die Komponenten dieses sich in Böhmen bildenden Neustammes sind schwer zu fassen" (S. 566). Bei den Hessen kommt er ebenfalls zu keinem endgültigen Ergebnis und meint, daß die Eingliederung ihres Raumes in ein fränkisches Reich die chattische Tradition völlig zum Erliegen gebracht habe.

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Zusammenfassend bemerkt er, daß für die Umbildung der älteren Stämme die gefolgschaftsähnlichen Verbände entscheidend waren. Der Prozeß der Stammesbildung war ständig im Fluß; es gibt daher keine allgemein gültige Zuordnung einzelner Gruppen zu bestimmten Stämmen und einzelner Stämme zu bestimmten Stammesgruppen. Wichtig ist folgender Grundsatz, den der Verfasser für seine Arbeit aufgestellt hat: „Wir hielten es aber für notwendig, auch einmal einige Entwicklungslinien aufzuzeigen, die dem klassisch gewordenen Bild widersprechen" (S. 573). Wenn er allerdings hier bemerkt, daß das deutsche Volk schon vor seiner staatlichen Aussonderung aus dem fränkischen Gesamtreich bestand, also vor 900, so wird man ihm nicht folgen können. Seine ganzen Ausführungen beweisen ein sehr langsames Wachsen des politischen Bewußtseins. E r selbst hat betont, daß eine Gemeinschaft von oben her politisch geformt wurde. Man kann aber nicht sagen, daß unser mittelalterliches Reich ein Nationalstaat war, sondern nur, daß es eine Voraussetzung für die Bildung eines deutschen Volkes schuf, nachdem bereits der Zusammenschluß der westgermanischen Stämme unter fränkischer Führung erste Grundlagen hierfür gelegt hatte.

II. Ket^ertum und Kirche

DIE ENTSTEHUNG DES MANICHÄISMUS IM A B E N D L A N D Ein religiös-soziales Problem* Es ist ein sehr kühnes Unterfangen, im Rahmen eines kurzen Vortrages ein so ungewöhnlich verwickeltes und auch wenig bekanntes Thema w i e den Manichäismus im Abendland zu behandeln. Ich bin mir bewußt, d a ß meine Ausführungen nur ein erster und tastender Versuch sind, wissenschaftliches Neuland zu erschließen. D i e Probleme können nur angedeutet w e r d e n ; ihre Lösung dürfte die Wissenschaft noch lange beschäftigen. Es geht dabei um zwei Grundfragen: zunächst um die richtige Beurteilung der religiösen Opposition gegen die Herrschaftskirche der Priester im hohen Mittelalter und außerdem um die Zusammenhänge zwischen dem Abendland und dem byzantinischslavischen Kulturkreis sowie dem Orient überhaupt seit Beginn des 11. Jh. Beide Fragen, die Verbindung zwischen religiöser Opposition und sozialen Bewegungen w i e die Einwirkung des östlichen Kulturkreises auf den westlichen auch in der Zeit der von der bisherigen Lehre in Deutschland behaupteten Isolierung des Abendlandes, gehören zu den wichtigsten Problemen der modernen Geschichtsforschung. Es ist daher notwendig, auch für die mittelalterliche Geschichte sich eingehend mit ihnen auseinanderzusetzen. Man darf allerdings die Bedeutung des Manichäismus im Abendland nicht überschätzen und nicht in den Fehler verfallen, seinen Einfluß hinter allen möglichen religiös-sozialen Bewegungen im Abendland zu suchen. Aber es w i r d sich zeigen, d a ß man durch seine Erforschung vielleicht zu einer neuen Beurteilung vieler Probleme gelangen kann. Bereits bei meinen ersten Arbeiten auf dem Gebiet der niederländischen Geschichte fiel mir auf, daß neben der Reformbewegung in der Kirche im 11. Jh. sich gleichzeitig eine grundsätzliche Opposition gegen die Kirche feststellen läßt. Zwei Persönlichkeiten, die in der kirchlichen Reform während ihrer Anfänge eine gewisse Rolle gespielt haben, der Bischof Wazo von Lüttich (1042-1048) und der Bischof Gerhard I. von Cambrai (1012-1051), haben sich bereits mit dieser religiösen Opposition auseinandersetzen müssen. Bischof Wazo hat in einem denkwürdigen Briefe die Anwendung jeder Gewalt gegen die Ketzer verworfen; Bischof Gerhard jedoch hat sogar die Folter gegen sie anwenden lassen, um sie zum Geständnis zu bringen, und ist für scharfe Maßregeln gegen sie eingetreten. Die Akten der Synode von Arras (1025), in der Gerhard eingehend über seine Verhandlungen gegen Ketzer brichtet, sind eines * A n t r i t t s v o r l e s u n g in L e i p z i g , g e h a l t e n a m 7. 2 . 1 9 5 2 ; b i s h e r u n g e d r u c k t . 7

Sproemberg

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der wichtigsten Dokumente für die Kenntnis der religiösen Ansichten dieser Opposition. Obwohl mir die Bedeutung der Frage von Anfang an klar war und es mir notwendig erschien, die Ursachen und Zusammenhänge dieser Bewegung zu erforschen, habe ich diese Arbeit zugunsten anderer immer wieder beiseite gelegt, weil ich erkannte, d a ß hier nur von einem universalen Standpunkt aus eine Lösung erwartet und auf den bisherigen Wegen der Forschung überhaupt schwerlich ein befriedigendes Ergebnis erzielt werden konnte. Als ich aber später in den Bannkreis des großen belgischen Historikers Henri Pirenne kam, der, beeinflußt von den Ideen Lamprechts, die Bedeutung ökonomischer und sozialer Faktoren in der Geschichte des Mittelalters mit ebensoviel Scharfsinn wie Beherrschung eines ungeheuren Quellenmaterials herausgearbeitet hat, erhielt ich ein besseres Verständnis für die Hintergründe so merkwürdiger Vorgänge wie das Erscheinen der Manichäer im Abendland. Namentlich das letzte Werk Pirennes „Mahomet et Charlemagne", das nach seinem Tode 1937 erschien, hat ganz neue Perspektiven für die Auffassung der Geschichte des frühen und beginnenden hohen Mittelalters gebracht. D i e These, die Pirenne bereits seit langen Jahren auch in einzelnen Untersuchungen vertreten hatte, ging dahin, d a ß erst durch das Vordringen des Islams an die Küsten des Mittelmeers die Einheit des Mittelmeerkreises, welche als das wesentliche und letzte Ergebnis der Antike erscheint, gesprengt worden und dadurch nicht nur die letzte Phase der Antike im Abendland zu E n d e gegangen sei, sondern auch dieses durch die plötzliche Trennung von dem Mittelmeerkreis nun gezwungen war, sich auf eigene Füße zu stellen. Dadurch erst sei der Schwerpunkt des weltgeschichtlichen Geschehens vom Mittelmeer in die nördlichen Teile Europas verlegt worden, worin Pirenne den Beginn einer neuen Weltepoche - des Mittelalters - sieht. Hierbei ist für die allgemeine historische Auffassung des Mittelalters wichtig, d a ß er die gesellschaftlichen Folgen der Zerstörung der Wirtschaftseinheit am Mittelmeer stark herausarbeitet. Dadurch sei der Untergang des Städtewesens und damit das Verschwinden des Bürgertums verursacht worden, wodurch dann die Grundherren die völlige Herrschaft erlangt hätten und in der Lage waren, das feudale Prinzip zum Siege zu führen. Den entscheidenden Einschnitt sieht also Pirenne erst in der Zeit Karls des Großen. Trotz aller teilweise nicht unbegründeten Einwendungen gegen diese These ist ihr Grundgedanke richtig, da hier die fundamentale Bedeutung der Wechselbeziehungen zwischen Abend- und Morgenland herausgestellt wird. Man darf sie aber auch nicht überspitzen. Schon Pirenne selbst weist darauf hin, daß im östlichen Mittelmeer der byzantinische Kulturkreis sich behauptet und sogar Venedig ein wichtiger Stützpunkt dieses Kreises im Abendland wird. Vor allem aber darf man nicht aus dem Abbruch der wirtschaftlichen Beziehungen im östlichen Mittelmcer auf eine dauernde Isolierung des Abendlandes von dem spätantiken und orientalischen Kulturkreis schließen. Nicht nur haben die spätantiken Elemente im Abendland weiterhin schon durch den Einfluß der Kirche einen hervorragenden Einfluß geübt, sondern die Beziehungen zumindest zum byzantinischen Kulturkreis sind nicht abgerissen.

D i e Entstehung des Manichäismus im A b e n d l a n d

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Wenn die neuere Forschung das Auftauchen orientalisch-spätantiker Einflüsse im hohen und späteren Mittelalter vorwiegend auf die Araber zurückführt, so darf deshalb die Zwischenzeit bis zum Beginn der Kreuzzüge nicht unbeachtet bleiben. E s ist kein Zufall, d a ß trotz der politischen Zersplitterung des Abendlandes sich eine große politisch-kommerzielle Offensive am E n d e des 11. Jh. gegen den Orient in Form der Kreuzzüge richtet. Die letzten G r ü n d e hierfür sind umstritten - ebenso für die sozialen Umwälzungen, die in dieser Zeit im Abendland vorgehen und die zunächst in dem Wiedererscheinen eines starken Bürgertums, das nicht nur wirtschaftlich leistungsfähig ist, sondern auch politisch aktiv wird, ihren Ausdruck finden. Es erscheint fruchtbar und, wie wir sehen werden, vielleicht sogar notwendig, f ü r die Periode von 800 bis zu den Kreuzzügen die Gedanken Pirennes über die Wechselbeziehungen zwischen Abendland und mittelmeerisch-orientalischem Kulturkreis weiter zu verfolgen. Bisher sah man deren Wiederaufnahme in der Hauptsache als eine Folgeerscheinung der Kreuzzüge an. Eben daraus entstand die Lehre von der Isolierung des Abendlandes. Indessen das Studium der byzantinischen Geschichte sowie auch der Vorgänge auf dem slavischen Balkan haben immer mehr Anhaltspunkte dafür geliefert, d a ß auch in der genannten Periode wenigstens über den Balkan und Byzanz vielfache Verbindungen zwischen Abend- und Morgenland bestanden, die auf die Entwicklung des Abendlandes von sehr erheblichem Einfluß gewesen sind. D i e Mittlerstellung von Byzanz für die Beschaffung der dem Westen unentbehrlichen Luxuswaren aus dem Orient hat nicht nur zum Austausch von Waren, sondern auch von Kulturgütern und Ideen geführt. Hierbei ist nicht nur der Seeweg von Belang gewesen, sondern auch der Landweg durch die slavischen Gebiete. Wir möchten nur darauf hinweisen, d a ß der erste Kreuzzug in der Hauptsache zu Lande, also durch diese Gebiete, erfolgt. D a s beweist zur Genüge die Wichtigkeit dieser Landverbindung. Wir erkennen hier deutlich, wie wesentlich das Studium der byzantinischen sowie der slavischen Geschichte auch für die Geschichte des hohen Mittelalters ist. In diesen Zusammenhang gehört, wie sich immer deutlicher zeigt, auch die Geschichte der Ausbreitung des Manichäismus im Abendland, und wir dürfen hoffen, von seiner Erforschung neue Ergebnisse für die geschilderte Wechselbeziehung zu erhalten.

M a n i u n d seine L e h r e Es wird notwendig sein, einige Worte über Mani und seine Lehre vorauszuschicken sowie über die Geschichte dieser Lehre bis zu ihrem Eindringen in das Abendland. Bis zum Beginn des 20. Jh. war man für die Geschichte Manis und des Manichäismus so gut wie ausschließlich auf Berichte von deren ideologischen Gegnern angewiesen. Der Ausrottungskampf gegen diese Weltreligion war so gründlich geführt worden, d a ß die Schriften Manis und die eigene Literatur des Manichäismus restlos vernichtet zu sein schienen. Es ist klar, d a ß man auf solche Weise nur ein sehr einseitiges Bild 7

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Ketzertum und Kirche

erhalten konnte und im übrigen w e d e r die Entwicklung der Lehre noch ihre Zusammenhänge mit politischen und sozialen Vorgängen richtig zu beurteilen vermochte. Erst neuerdings sind uns in steigendem M a ß e Originalzeugnisse zugänglich geworden. Zunächst hat Ostturkestan wichtiges M a t e r i a l über Kultur und Kunst der M a n i chäer geliefert. Hier hatte sich an der Verbindung zwischen dem Fernen Osten und Mittelasien, der berühmten Seidenstraße, auf welcher chinesische W a r e n bis zur Entdeckung des Seeweges nach Europa gebracht wurden, ein manichäisches Reich gebildet. Zuerst sind dort manichäische Handschriften gefunden und von F. W . K. M ü l l e r 1904 wissenschaftlich bearbeitet worden. Durch die großen Turfanexpeditionen nach jenen Gebieten Ostturkestans sind dann weitere Handschriften und auch Kunstdenkmäler entdeckt und veröffentlicht worden. A b e r die Originalschriften M a n i s wurden nicht gefunden. Im J a h r e 1930 entdeckte in Ägypten (Fajum) der Berliner Kirchenhistoriker C. Schmidt Reste von Papyrusbüchern, die aus einer zerfallenen Holzkiste stammten. Es gelang ihm nachzuweisen, d a ß es sich um manichäische Handschriften handelte, und zwar um die Bibliothek eines Oberhaupts der Manichäer, die e t w a in der zweiten H ä l f t e des 4. Jh. zusammengestellt worden w a r . Diese Papyrusbände waren allerdings durch Witterungseinflüsse zu einem unansehnlichen Klumpen zusammengeklebt, so d a ß zuerst wenig Hoffnung bestand, zusammenhängende Texte daraus zu gewinnen. A b e r auch hier w u r d e die Methode des Berliner Handschriftenrestaurators Ibscher angewandt, durch die es allmählich gelingt, die einzelnen Schichten abzulösen und die Texte zu rekonstruieren. Hier liegen uns nun Schriften M a n i s selber vor. Noch ist erst ein geringer Teil zugänglich gemacht, aber trotz mancher E i n w ä n d e dürfen w i r annehmen, d a ß uns hier authentisches M a t e r i a l entgegentritt. Über einen dritten Fund in Italien w e r d e n w i r noch berichten. So sind heute die Voraussetzungen, ein klares B i l d vom Manichäismus zu gewinnen, wesentlich günstiger als früher. Aber es sei bereits hier darauf hingewiesen, d a ß die eingangs geschilderten Erkenntnisse über die abendländisch-morgenländischen Beziehungen ebenso wichtig für die Beurteilung der W i r k u n g dieser Lehre im A b e n d land sind. W i r müssen uns hier mit wenigen Worten über die Geschichte Manis und seiner ursprünglichen Lehre begnügen. Wahrscheinlich ist er im J a h r e 216 n. Z. bei Ktesiphon in Mesopotamien geboren und von vornehmer Herkunft gewesen. W e n n er auch Iranier w a r , so w a r seine geistige U m w e l t doch erfüllt von einem Durcheinander hellenistischer, inner- und vorderasiatischer Kulturelemente, w i e sie für das A r s a k i denreich charakteristisch gewesen sind. So hat denn seine Lehre durchaus den C h a r a k ter eines Synkretismus. In hohem M a ß e hat das Christentum, insbesondere die Gnosis, auf M a n i eingewirkt, aber es ist falsch, den Manichäismus nur als eine Form der Gnosis zu betrachten. Lietzmann bemerkt: „Mani selbst w i l l mehr sein und ist auch mehr geworden." A u s den in Fajum entdeckten Schriften zitiert C. Schmidt folgenden S a t z : „ W e r auserwählt hat seine Kirche im Westen (damit meint M a n i das Christentum), dessen Kirche ist nicht gelangt nach dem Osten; w e r auserwählt hat seine Kirche im Osten (hier meint er die iranischen Lehren und den Buddhismus), dessen Auslese ist nicht gekommen

D i e Entstehung des Manichäismus im A b e n d l a n d

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zum Westen . . . Meine Hoffnung aber wird gehen nach dem Westen und wird gehen auch nach dem Osten. Und man wird hören die Stimme ihrer Verkündigung in allen Sprachen, und man wird sie verkündigen in allen Städten. Meine Kirche ist überlegen in diesem ersten Punkte vor den früheren Kirchen." 1 Diese Erklärungen sind auch für die Entstehung des Manichäismus im Abendlande von grundlegender Bedeutung gewesen. Man sieht, daß es sich hier um eine echte Massenbewegung handelt; denn nicht nur alle Völker sollen diese Lehre hören, sondern auch alle Klassen. Wir heben bereits jetzt hervor, daß die Verkündigung in der Volkssprache gefordert wird und daß namentlich auch in den Städten gelehrt werden soll. Mani hat sich selbst als einen Apostel Jesu bezeichnet; er erklärte sich für den von Jesus geweissagten letzten Propheten, den Paraklethen. Nach Mani ist die materielle Welt das Ergebnis einer furchtbaren Katastrophe. Die Finsternis strebte nach dem Licht und überwältigte es. Die Lichtsubstanz, die Verkörperung des Göttlichen, ist daher in den Fesseln der Finsternis gefangen. Der Mensch ist ein dualistisches Mischgebilde. Mani verleugnet eine gewisse Abhängigkeit von der Lehre Zarathustras nicht; auch für ihn ist der Dualismus, der ewige Gegensatz zwischen Licht und Finsternis, eine Grunderkenntnis, auf der sich alles Weltverstehen aufbaut. Gott bedient sich des Menschen, um die Erlösung des Lichtes zu erreichen. Der Weg der Freimachung der göttlichen Lichtsubstanz ist die Askese, die Loslösung von den materiellen Banden des Reiches der Finsternis, also die Überwindung des Irdischen. Daher verwirft Mani grundsätzlich die Fortpflanzung, weil durch sie immer neue Lichtseelen in körperliche Fesseln gebannt werden. Der vollkommene Jünger Manis, der Auserwählte, später als „electus" oder „perfectus" bezeichnet, muß also den Weg strengster Askese gehen. Für seine bescheidene, vegetarische Nahrung hat die Gemeinde der Brüder zu sorgen. Diese Brüder, die später als die „Hörer" Cauditores) bezeichnet werden, bleiben in der Welt; sie ermöglichen durch ihre Arbeit den Auserwählten den Weg zur Erlösung. Zwar gilt die ganze Strenge der Gebote für sie nicht, doch auch ihnen ist soweit als möglich auferlegt, sich von allem Materiellen abzuwenden. Denn die Hauptaufgabe des Gläubigen ist die Erlösung des gefangenen Lichts, die Rückführung des im Materiellen Gefangenen zu Gott. Wir können auf die phantastische Kosmogonie, die Spekulationen über die Erschaffung der Welt, hier nicht weiter eingehen; um so weniger, da sie für den westlichen Manichäismus keine Bedeutung gehabt hat. Diese Vorstellungen sind wesentlich bestimmt von der Gnosis. Die Lichtmasse selbst erscheint in den Vorstellungen Manis als leidend und gekreuzigt. Daher gilt die Kreuzigung Christi als die Kreuzigung des Göttlichen überhaupt. Zwar kennt Mani Jesus als geschichtliche Persönlichkeit, doch lehrt er, daß Jesus nur als Scheingestalt aufgetreten sei. Christi Geburt, seine Kreuzigung und seine Auferstehung sind nur Schein und keine Realität. Wir sehen die nur sehr äußerliche Angleichung an das Christentum; in Wahrheit bildet Manis Lehre hier zu ihm einen völligen Gegensatz, da der Glaube an die reale Wiederauferstehung Christi ein Eckstein der christlichen Religion ist. Während in dieser außerdem das Reich Gottes, die Erreichung des Transzendenten 1

Schmidt,

C. / Polotsky,

H. ]., Ein Mani-Fund in Ägypten, i n : SB. A k . Berlin, Jg. 1 9 3 3 , S. 4 5 .

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Ketzertum und Kirche

nur als Endziel erscheint, glaubt der Manichäismus bereits auf Erden die Finsternis überwinden zu können. Durch den Glauben, daß der Erwählte durch eigene Kraft die Finsternis in sich abtöten und das Licht befreien kann, steht der Manichäismus wiederum im Gegensatz zum Christentum, in dem die Erlösung nur durch die Gnade Gottes erfolgt. Der Manichäismus stellt demgegenüber das Leistungsprinzip auf, das Jesus zum Beispiel in seinem Kampf gegen die Pharisäer verworfen hat.

Manis Ende Manis Tätigkeit fällt bezeichnenderweise in die Zeit einer großen geistigen Krise. Das noch stark hellenistisch ausgerichtete persische Reich der Arsakiden wird durch eine nationale Reaktion Irans unter Führung der Sassaniden (seit 226) ersetzt. Nun tritt auch gegenüber der Synthese zwischen Hellenismus und Orientalismus die iranische Lehre Zarathustras wieder in den Vordergrund. Wir verstehen, daß Manis ganz universale Richtung sich mit einer nationalistischen Reaktion nicht vertragen konnte. Mani ist diesem Kampf wohl zunächst ausgewichen. W i r hören von großen Missionsreisen, die ihn nach Ostiran, Turljestan und Nordindien geführt haben - Gebiete, in denen die Mischkultur stark eingedrungen war (ich erinnere nur an die Gandharakunst). Nach seiner Rückkehr konnte er bei dem berühmten Sassanidenherrscher Schapur I. (ca. 241-271) gewisse Erfolge erringen; ein Sendschreiben an diesen ist erhalten. Aber nach Schapurs Tod haben es die Priester Zarathustras durchgesetzt, daß Mani gefangengesetzt wurde. Nach einer großen Disputation ist er wahrscheinlich zum Tode verurteilt worden. Im Jahre 273 ist er im Gefängnis gestorben. Ohne Frage ist Mani, der den Körper nur als Gefängnis des Lichtes betrachtete, mit voller Überzeugung für seine Lehre in den Tod gegangen. Mani gehört gewiß zu den großen Religionsstiftern, wenn er auch an Originalität und Tiefe weit hinter Buddha und Mohammed zurücksteht. In ihm, so darf man doch sagen, findet der an Alexander den Großen anknüpfende Gedanke der Verschmelzung des Abend- und des Morgenlandes vielleicht die großartigste Repräsentation. Jedoch sein Wirken fällt eben in eine Zeit, in der langsam, aber unaufhörlich eine Reaktion des Orients gegen den Westen stattfindet, und dies hat eben die Basis für seine Religionsgemeinschaft zerstört. Gewiß aber ist Mani eine große und reine Persönlichkeit gewesen - nicht nur geistig, sondern auch künstlerisch hochbegabt. Er war ein entschlossener Kämpfer gegen alles Unrecht, gegen jedes angemaßte Vorrecht auf Grund von Herkunft oder Besitz. Sein kompromißloser Kampf gegen die Mächte der Finsternis wird ihn immer zu einer verehrungswürdigen Gestalt machen, wenn auch der ethische Gehalt seiner Lehre ebenso weit hinter dem des Christentums zurücksteht wie seine spekulativen und phantastischen Schriften gegenüber der klaren Schlichtheit des Evangeliums. Nach seinem Tode begann ein Ausrottungskrieg gegen seine Anhänger, der ähnliche Wirkungen gehabt hat wie etwa die Zerstörung Jerusalems für das Christentum. Es zeigte sich aber auch hier, daß der Tod des Religionsstifters seinen Anhängern nur als eine Bekräftigung seiner Lehre erschien und daher die Ausbreitung dieser Lehre nur

D i e Entstehung des Manichäismus im Abendland

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gefördert hat. Z w a r hat sich im eigentlichen Persien der Manichäismus nicht behaupten können; in Ostturkestan ist durch die Bekehrung des türkischen Stammes der Uiguren jedoch ein Manichäerreich entstanden. Von dort stammen die bereits erwähnten F u n d e manichäischer Handschriften. Nicht minder folgenreich war aber die Ausbreitung nach Westen, zunächst in die Grenzgebiete des römischen Reiches in Kleinasien. D a der Manichäismus geradezu ein Prototyp der hellenistisch-orientalischen Verschmelzung war, hat er in jenen Gebieten einen günstigen N ä h r b o d e n gefunden. Hier dürfte die Gnosis noch stärker auf ihn eingewirkt haben, und hier hat er, wie wir noch sehen werden, allmählich den Charakter einer christlichen Sekte angenommen. Zunächst aber ist er von den genannten Gebieten aus noch in seiner ursprünglichen Form im 4. und 5. J h . über Syrien und Ägypten nach N o r d a f r i k a gedrungen. Wenn bisher N o r d a f r i k a für die Kenntnis des Manichäismus von großer B e d e u t u n g war, so hängt d a s damit zusammen, daß der große Kirchenvater Augustin ( 3 5 4 - 4 3 0 ) ursprünglich selbst Manichäer gewesen ist; er ist 373 zum Manichäismus übergetreten, hat ihm neun J a h r e lang als „auditor" angehört und ist noch als Manichäer nach R o m übergesiedelt. D o r t aber kam er unter christlichen Einfluß, und seit 387 hat er in einer langen Reihe von Streitschriften den Manichäismus bekämpft. Seine Selbstbekenntnisse waren bisher das bedeutendste Zeugnis für den Einfluß der Manichäer auf die Spätantike. D a s hat den Anschein erweckt, als ob der westliche Manichäismus in N o r d a f r i k a sein eigentliches Zentrum gehabt habe, und es hat nicht an Versuchen gefehlt, Verbindungen zwischen dem im 11. Jh. im A b e n d l a n d auftauchenden Manichäismus und N o r d a f r i k a herzustellen. Jedoch wir besitzen kein Zeugnis d a f ü r , daß in den islamischen Ländern von Syrien bis Spanien der Manichäismus sich wirklich gehalten hat oder gar in der L a g e gewesen sei, Mission zu betreiben. D e r Islam hat dort wahrscheinlich kaum noch Manichäer vorgefunden und ihnen jedenfalls den G a r a u s gemacht. D e r Fund von Handschriften in Ägypten hat auch deutlich gezeigt, daß N o r d afrika überhaupt eine so überragende Stellung im Rahmen des Manichäismus nicht zukommt. D e r kleinasiatische M a n i c h ä i s m u s In Wahrheit geht vielmehr die Weiterentwicklung des Manichäismus und v o r allem seine Ausbreitung nach dem A b e n d l a n d von ganz anderen Gegenden aus, und zwar vom Grenzgebiet zwischen Ostrom und dem Sassanidenreich, dem armenischen Bergland. Dieses war seit Jahrhunderten das K a m p f o b j e k t zwischen den genannten beiden Reichen. Seine G r e n z l a g e wie sein gebirgiger Charakter begünstigten d a s Fortbestehen verfolgter Lehren. Bisher fehlen uns allerdings direkte Zeugnisse über den Manichäismus in diesen Gegenden vom 5. bis zum 7. Jh., und darauf ist von den Gegnern des Kontinuitätsprinzips immer wieder hingewiesen worden. A b e r wir müssen bedenken, daß die Erforschung dieses Gebietes überhaupt noch in den A n f ä n gen steckt, und außerdem handelte es sich um eine Glaubensgemeinschaft, die allen Anlaß hatte, sich im Verborgenen zu halten.

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W e n n aber im 7. Jh. die manichäische L e h r e in Armenien uns in einer bedeutenden Position begegnet, so d ü r f t e es an sich nicht zweifelhaft sein, d a ß hier eine Kontinuität vorliegt. D i e byzantinischen Quellen geben uns am E n d e des 7. Jh. eingehende Nachrichten über Geschichte und Vorstellungswelt einer Glaubensgemeinschaft, in der unzweifelhaft manichäische Lehren herrschend gewesen sind. W i r können auf Einzelheiten leider nicht eingehen und erwähnen nur, d a ß im J a h r e 684 ein hellenisierter Armenier, Konstantin, als H a u p t dieser Sekte auf Befehl der byzantinischen Regierung gesteinigt w u r d e . Indessen dieser M ä r t y r e r t o d hat der Sekte noch neuen A u f t r i e b gegeben. Hier treffen wir den Dualismus in der manichäischen Form, die V e r w e r f u n g des Bilderkultes, die Ablehnung des alten Testamentes u n d der Sonderstellung der Priester. E s w i r d nicht bestritten, d a ß es sich hierbei um manichäische Lehren handelt. D i e Sekte tritt unter d e m N a m e n der Paulikianer auf, was nach der herrschenden Meinung daher rührt, d a ß sie sich vor allem auf Paulus berufen haben. Sie erscheinen nunmehr als eine christliche Sekte u n d erheben den Anspruch, die w a h r e L e h r e Christi zu verkünden. Offensichtlich ist unter d e m E i n f l u ß der Gnosis und anderer christlicher Theorien das orientalische E l e m e n t im Manichäismus äußerlich überdeckt w o r d e n . So weit sich feststellen läßt, ist auch der N a m e Manis nunmehr verschwunden. A b e r die christliche Kirche hat sogleich entdeckt, d a ß es sich hier nicht um eine Sekte, sondern um eine andere Religion handelt. D e r K a m p f gegen die Bilder im byzantinischen Reich und die inneren u n d äußeren Krisen in Klei'nasien haben den Paulikianern zeitweise eine gewisse Bewegungsfreiheit verschafft. M i t dem Sieg der B i l d e r f r e u n d e aber ist auch ihr Schicksal entschieden w o r d e n . Im 9., vielleicht schon im 8. Jh. w u r d e n große Verfolgungen gegen sie eingeleitet; eine steigende Anzahl ihrer Anhänger w u r d e nach dem Balkan verpflanzt, wo man sie gegen den Ansturm der Slaven einzusetzen beabsichtigte. Nach byzantinischen Nachrichten hat der Kaiser Johannes Tzimiskes die Paulikianer endgültig geschlagen und die Reste dieser Sekte um 970 nach Bulgarien ausgesiedelt.

D i e Bogomilen W e n n es also in Klcinasien zu einer gewissen Eingliederung des Manichäismus in das Christentum gekommen ist, so f a n d e n diese Lehren auf dem Balkan einen N ä h r boden, der zu ihrer Entwicklung in sozial-revolutionärer Richtung führte. W i r kommen damit zu der neuerdings viel behandelten Frage der Bogomilen, denen das besondere Interesse der neueren bulgarischen und russischen Geschichtsforschung gilt. Ich nenne hier besonders die Arbeit von N . S. Derzavin. W i e er bemerkt, traten sie auf in einer Zeit, in der das byzantinische Herrschaftssystem in Staat und Kirche des neuen Bulgarien eine große soziale Krise heraufbeschwor. „Immer mehr wuchs und vertiefte sich die Opposition der niederen Volksschichten gegen die herrschende soziale und politische O r d n u n g . Dieser Gegensatz m ü n d e t e ein in eine soziale und politische Bewegung, . . . die unter dem N a m e n des ,Bogomilentums' bekannt wurde." 2 2

Hepvcaeun,

H. C., HcTopiiH BoJirapHH, Teil 2, Moskau/Leningrad, 1946, S. 39.

Die Entstehung des Manichäismus im Abendland

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Hierbei berühren wir nun schon den entscheidenden Punkt unseres Vortrages: die Verschmelzung religiöser und sozialer Elemente in der neuen, aggressiven Form des Manichäismus, wie wir ihm im Abendland begegnen werden. Von dogmatischer Seite ist es noch umstritten, inwieweit die Bogomilen direkt als Fortsetzer der Paulikianer aufzufassen sind und vor allem inwieweit bereits Umbildungen des Manichäismus bei den Paulikianern vorgenommen wurden. Wir möchten darauf keinen so entscheidenden Wert legen, da es uns nicht auf die theologische, sondern die historische Bedeutung dieser Anschauung ankommt. In den Hauptpunkten der Lehre ist es unverkennbar, daß die Bogomilen unter manichäischem Einfluß stehen. Die Verwerfung der Sonderstellung des Priestertums mußte hier eine Sozialrevolutionäre Bedeutung erhalten, weil der neue bulgarische Staat den Herrschaftsanspruch der Priesterkirche mit Gewalt durchzusetzen versuchte. Die durchaus ablehnende Haltung der Manichäer gegen den Besitz hat gerade in den kleinbäuerlichen Kreisen der slavischen Bevölkerung den Widerstand gegen das nach byzantinischem Vorbild sie bedrückende Bojarentum gestärkt. So wird denn hier der Manichäismus zur Parole einer Sozialrevolutionären Bewegung.

D e r Manichäismus im A b e n d l a n d Hiermit ist die manichäische Lehre, freilich in bereits abgewandelter Form, nach Europa und an die Grenzen des lateinischen Abendlandes gelangt. Es erhebt sich nun die große Frage, ob ein direkter Zusammenhang zwischen diesen Vorgängen und dem Erscheinen des Manichäismus im Abendland besteht. Es ist lange Zeit bestritten worden, daß die Ketzerbewegungen seit Beginn des 11. Jh. im Abendland tatsächlich als Manichäismus zu bezeichnen sind. Auch hier allerdings häufen sich die Zeugnisse. Grundmann hat in seinem Werk „Religiöse Bewegungen im Mittelalter" gesagt: „Die Ketzer, die in der ersten Hälfte des 11. Jh. in verschiedenen Gegenden Mitteleuropas entdeckt und von der Kirche verfolgt worden sind, wurden von den Zeitgenossen von Anfang an als Manichäer bezeichnet." Aber er fährt fort: „Diese Bezeichnung beruht wahrscheinlich auf der Augustin-Kenntnis der katholischen Beurteiler, sie ist keine Selbstbenennung der Ketzer." Dann aber gesteht er zu: „Tatsächlich stimmen aber die Lehren und Gebräuche, die von den neuen Ketzern berichtet werden, großenteils mit manichäischen Lehren überein, so daß an einem Zusammenhang mit älteren manichäischen Sekten nicht zu zweifeln ist." 3 Wir haben bereits bemerkt, daß wahrscheinlich schon die Paulikianer, sicher aber die Bogomilen die Persönlichkeit Manis nicht mehr erwähnt haben. Grundmann erklärte aber, daß keinerlei Anzeichen von Dualismus nachzuweisen seien und daß es sich weder um eine durch soziale Mißstände oder durch den Verfall in Kirche und Klerus hervorgerufene religiöse Bewegung noch um eine organisierte Sekte handelt. 3

Grundmann,

H., Religiöse Bewegungen im Mittelalter. Untersuchungen über die geschichtlichen

Zusammenhänge zwischen der Ketzerei,- den Bettelorden und der religiösen Frauenbewegung im 12. und 13. Jh. und über die geschichtlichen Grundlagen der Deutschen Mystik, Berlin 1 9 3 5 , S. 4 7 6 (Historische Studien, hrsg. v. Ebering,

£., Heft 2 6 7 ) .

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Dieses Urteil gründet sich auf sehr unbestimmte Angaben aus Berichten von Gegnern der Manichäer, welche für das 11. Jh. häufig noch sehr summarisch sind. Dort, wo wir eingehendere Nachrichten haben, etwa in den Akten von Arras 1025, ergibt sich ein anderes Bild. Aber auch für den Manichäismus im Abendland stehen wir jetzt durch einen glücklichen Fund auf einem gesicherten Boden. Der belgische Forscher A. Dondaine hat in der Nationalbibliothek in Florenz eine Handschrift entdeckt, die ursprünglich dem durch Savonarola berühmten Kloster S. Marco in Florenz gehört hat und etwa 1280 geschrieben ist. Sie enthält einige Originalschriften der Manichäer in Italien, darunter auch ein Ritual der Katharer. Dondaine veröffentlichte sie 1939 unter dem Titel „Liber de Duobus Principiis", und zwar mit einem sehr sorgfältigen Kommentar, in dem er sich gerade über die Zusammenhänge mit der manichäischen Kirche auf dem Balkan eingehend geäußert hat. Im Gegensatz zu der sonstigen Auffassung vertritt er die Ansicht, daß der Manichäismus im Abendland, der zu Beginn des 11. Jh. auftritt, abhängig ist von der Kirche der Bogomilen in Bulgarien. Im 12. Jh. weist er persönliche Beziehungen zwischen den Vertretern der Katharer in Frankreich und Italien und den manichäischen Bischöfen in Bulgarien und Konstantinopel nach. Bulgarische Bischöfe erscheinen im Abendland zur Visitation. Noch im 13. Jh. ist bei den Katharern in Italien und Frankreich die Tradition lebendig, daß ihre Lehrer aus Osteuropa gekommen seien. Dondaine weist die Auffassung zurück, daß keine Beziehungen zwischen den alten Manichäern und dem Manichäismus im Abendland bestanden hätten. Die Abhängigkeit von den Bogomilen und auch von den Paulikianern stellt er auf Grund der neu gefundenen Texte unzweideutig heraus. Vorsichtiger äußert er sich über die Beziehungen zu dem ursprünglichen Manichäismus. E r sagt: „Ob es nun eine historische Tatsache ist, daß ein ununterbrochener Zusammenhang von Mani bis zu den Katharern besteht, oder nicht, so zwingt doch ein Vergleich ihrer Lehren, eine sehr enge Verwandtschaft unter ihnen anzuerkennen." Ferner sagt er, daß die neuen Funde uns nötigen, „im Katharertum einen wirklichen Neumanichäismus zu erkennen.'"1 Bereits von den Bogomilen stellt er fest, daß bei ihrer Lehre der manichäische Dualismus herrschend ist. Obwohl man gegen diese Feststellung Einwände erhoben hat, scheint uns doch hier der zwingende Beweis direkter Abhängigkeit des abendländischen Manichäismus von den Bogomilen und der allgemeinen Kontinuität der Lehre festzustehen. Wenn großer Wert darauf gelegt wird, daß der Name Mani nicht mehr erscheint, so möchten wir darauf hinweisen, welche Transformationen auch das Christentum aufzuweisen hat. Wir erinnern nur an die Auseinandersetzung zwischen Petrus und Paulus, die zur Folge hatte, daß das Judenchristentum allmählich verschwand. Wesentliche Teile des Alten Testaments, vor allem das mosaische Gesetz, wurden außer Kraft gesetzt, und das hat wesentlich zum Welterfolg des Christentums im Mittelmeerraum beigetragen. Es sei zum Schluß noch bemerkt, daß der Manichäismus auf 4

Dondaine, A., Un traité néo-manichéen du 1 3 e siècle. Le Liber de duobus principiis, Rom 1939, S. 53 und 54.

D i e E n t s t e h u n g des M a n i c h ä i s m u s i m A b e n d l a n d

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dem Balkan noch Jahrhunderte fortgelebt hat, etwa in Serbien und Bosnien. D i e Untersuchung dieser Frage dürfte nach Aufhellung der allgemeinen Zusammenhänge eine wertvolle Aufgabe für die osteuropäische Geschichtc sein.

D i e soziale Frage Bisher hat man die Bedeutung des Manichäismus im Abendland im wesentlichen auf theologischem, neuerdings auch auf kulturellem Gebiet gesehen. Grundmann erklärt, daß die Manichäer nur deshalb Erfolg gehabt hätten, weil sie dem erwachenden Drang nach geistigem und religiösem Aufschwung im Abendland entgegenkamen. Daher bringt er sie in engen Zusammenhang mit den Bestrebungenn der Kirchenreform, die wir seit dem 9. Jh. vor allem auf romanischem Boden feststellen können. Aber er übersieht dabei, daß diese von kirchlichen Kreisen ausgeht, welche mit ihr eine stärkere Stellung der Kirche überhaupt erstrebten. Zwar ist nicht von vornherein die totale Herrschaft der Kirche das Ziel gewesen; diese ist erst durch Gregor V I I . in den Vordergrund gestellt worden. Fraglos aber ist, daß man in jenen Kreisen als Rettung aus allen Nöten die Leitung durch die Priester und durch die Kirche in ihrer Gesamtheit als das Allheilmittel angesehen hat. Von einer Beteiligung des Volkes ist dabei keine Rede; man glaubte vielmehr, daß die Leitung auch der äußeren Angelegenheiten durch die Kirche die Menschheit dem Endziel, dem Reiche Gottes auf Erden, näherbringen würde. Aber der Manichäismus im Abendland hat, wie bemerkt, die Stellung der Kirche grundsätzlich bekämpft. Schon auf dem Balkan hat er sich gegen den Herrschaftsanspruch der orthodoxen Kirche gewehrt. Wenn also ein gemeinsamer Ausgangspunkt zwischen der kirchlichen Reformbewegung und dem Manichäismus im Abendland besteht, so liegt er nicht nur auf theologischem oder kulturellem Gebiet, sondern beide gehen von der allgemeinen Krisis aus, in die das Abendland damals geriet. Diese aber ist wesentlich von ökonomischen und sozialen Vorgängen bestimmt gewesen. E s erhebt sich daher die Frage, ob nicht in den gesellschaftlichen Wandlungen der gemeinsame Ausgangspunkt für die Kirchenreform und die Ketzerbewegung zu suchen ist. Grundmann hat mit besonderer Schärfe die Verknüpfung der Ketzerei mit sozialen Problemen verworfen. Für die frühere Zeit leugnet er sie überhaupt; aber selbst für das 12. und 13. Jh. hat er in einem Abschnitt seines genannten Buches, der sich mit der sozialen Herkunft der Humiliaten, Waldenser und Franziskaner beschäftigt, erklärt, man müsse das Mißverständnis beseitigen, daß die religiöse Armutsbewegung aus den untersten sozialen Schichten, aus dürftigen Handwerkerkreisen oder aus dem städtischen Proletariat, hervorgegangen sei. Sie sei überhaupt keine soziale Bewegung aus wirtschaftlichen Gründen. An späterer Stelle erklärt er noch einmal, es sei ein grobes Mißverständnis ihres eigentlichen Sinnes und ihrer Bedeutung, wenn man die Ketzerei für eine Bewegung der untersten Schichten, der Armen, halte. Dabei wendet er sich insbesondere gegen eine Arbeit des italienischen Historikers Luigi Zanoni, der im Jahre 1911 erklärte, daß die Arbeiterschaft der lombardischen Wollindustrie sich durch die Bildung religiös-wirtschaftlicher Genossenschaften gegen die Ausbeutung

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habe wehren wollen und d a ß dies der Einsatzpunkt der Ketzerbewegung gewesen sei. Es ist Grundmann nicht schwergefallen nachzuweisen, d a ß bei allen Ketzerbewegungen und schließlich auch bei den Franziskanern eine Beteiligung aus allen Ständen erfolgte und d a ß die führenden Persönlichkeiten aus dem Bürgertum und teilweise aus dem Adel stammten. Damit aber ist in keiner Weise der Beweis erbracht, daß diese Ketzerbewegungen nicht mit gesellschaftlichen Vorgängen in Verbindung stehen. Es ist sicher ein Irrtum der älteren Forschung gewesen, daß sie ein Proletariat für den Ausgangspunkt dieser Bewegung hielt, das im 11. und auch im 12. Jh. noch gar nicht existierte. D i e ökonomische und soziale Entwicklung im hohen Mittelalter ist vielmehr sehr langsam vor sich gegangen. Es mußten erst überhaupt die Voraussetzungen geschaffen werden für die Wiederbelebung einer größeren handwerklichen Produktion und schließlich für die Anfänge einer industriellen Produktion, aber diese gehört bereits in die späteren Jahrhunderte des Mittelalters. Wesentliche Voraussetzungen sind die allmähliche Erhöhung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und das stärkere Einsetzen eines Fernhandels. Erst hierdurch wird ein Markt geschaffen, für den produziert werden kann. Einen solchen Vorgang beobachten wir nun tatsächlich im Abendland. Sehr allmählich und für uns vorläufig noch kaum faßbar beginnt die Wirtschaft sich zu beleben. Unmittelbar nach der Schaffung des karolingischen Großreiches hatte dessen politischer Verfall eingesetzt. Es teilte sich nicht nur in ein ost- und ein westfränkisches Reich, sondern es splitterten sich auch größere Teile ab wie die spanische Mark, Burgund, die Bretagne, der slavische Osten und Südosten und zeitweise auch Italien. Jedoch auch innerhalb dieser Teilreiche entstand durch den Aufstieg der großen Feudalherren eine Zersetzung der Reichsgewalt, die in Westfranken fast zu einer politischen Anarchie führte. Diese politische Krise hat wesentlich dazu beigetragen, d a ß die Kirche hier an die Stelle der darniederliegenden Staatsgewalt treten konnte. Bei dem völligen Versagen der weltlichen Gewalten sah man die alleinige Rettung in der Übernahme der politischen Führung durch sie. Hieraus hat die kirchliche Reformbewegung ihre eigentlichen K r ä f t e bezogen. In der Gottesfriedenbewegung vermochte sie zuerst breitere Kreise für die Sicherung des Friedens zu mobilisieren. Hierdurch hat sie sich eine Autorität geschaffen, die dann von ihr zum Ausbau des päpstlichen Herrschaftssystems benutzt wurde. Aber im Laufe des 10. Jh. wurde die politische Krise allmählich überwunden. Im ostfränkischen Reich gelang es der sächsischen Dynastie, die Partikulargewalten herabzudrücken und ein neues Großreich aufzurichten, das dann auch Italien in seinen Bannkreis zog. In Westfranken vollzog sich zwar der Wiederaufbau der Reichsgewalt noch nicht; es bildeten sich aber größere Lehensstaaten aus, die ihrerseits der Anarchie Halt zu gebieten vermochten. D a m i t sind nun gewisse Voraussetzungen für einen wirtschaftlichen Aufstieg gegeben. Es ist freilich umstritten, ob zuerst in der Landwirtschaft Fortschritte erzielt worden sind, durch die eine Stärkung der K a u f kraft eintrat, oder ob der Fernhandel den Antrieb zu einer Hebung der Produktion gegeben hat. In Reichsitalien sehen wir aus der politischen Anarchie Städterepubliken sich entwickeln, und hier begegnet uns zuerst der Versuch, sich wieder in den Mittel-

D i e Entstehung des Manichäismus im Abendland

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meerhandel einzuschalten. Schon am Anfang des 11. Jh. vermochten Pisa und G e n u a Seesiege gegen die Araber zu erringen und einen Anteil an der Mittelmeerschi fiahrt zu erhalten. In Italien belebte sich infolgedessen auch die handwerkliche Produktion, d a man mehr Waren zum Austausch mit dem Orient benötigte, und nun beginnt der Wirtschaftszug von Oberitalien wieder die Alpen zu überschreiten und durch Burgund und die Champagne eine Verbindung mit dem N o r d e n herzustellen, wo die flandrischen Tuche ein neuer Exportartikel werden. Wie sehr dieser Fernhandel die Produktion anregte, hat besonders Pirenne nachgewiesen, der in einer freilich etwas umstrittenen Urkunde aus dem Beginn des 12. Jh. bereits d a s Auftauchen flandrischer Tuche auf dem M a r k t in N o w g o r o d festgestellt hat. Hiermit ist in großen Zügen der Hintergrund für eine gesellschaftliche Veränderung gegeben, denn nun beginnt durch den Wiederaufstieg der S t ä d t e eine N e u b i l d u n g des Bürgertums. D i e Harmonie von Staat und Kirche im Mittelalter bis zum Beginn des Investiturstreits ist oft gepriesen worden. Sie bedeutet aber die Herrschaft einer kleinen Schicht in Staat und Kirche. D e r Feudalismus hat nicht nur den Staat ganz durchdrungen, sondern auch die Kirche wesentlich umgebildet. Während er allerdings im ostfränkischen Reich noch nicht zur vollen G e w a l t kommt, wird er in der R o m a n i a allmächtig. D e r Anteil des Volkes an d e m Regiment, der nach germanischer Tradition bedeutend war, hört praktisch a u f ; die Herkunft bestimmt die Stellung des einzelnen. Gleichzeitig hat die Kirche das volle Monopol auf geistigem und kulturellem Gebiet errungen; nur sie vermittelte die Bildung, ihre geistige Herrschaft war daher absolut. Indessen: der wirtschaftliche Aufschwung hat in den wiedererstehenden Städten K a u f l e u t e und Handwerker zusammengeführt, und sie begannen sich ihrer K r ä f t e bewußt zu werden. Bei ihnen sammelten sich zuerst größere Geldmittel a n ; sie schufen sich Mauerringe; die vom L a n d e in die Stadt strömende Bevölkerung führte ihnen kräftige A r m e zur Verteidigung zu. So kam es denn aus der Notwendigkeit der Selbsthilfe zur Bildung von Kommunen überall da, wo sich neue städtische Zentren ausbilden können. Dieser Prozeß setzt im 11. Jh. ein. In diesen K o m m u n e n traten die Einwohner der Städte ohne Rücksicht auf ihre Herkunft zu einer Schwurgenossenschaft zusammen, und diese ertrotzte oder erkaufte sich in immer ausgedehnterem M a ß e von den Stadtherren die Selbstverwaltung. N u n aber sind gerade in der Romania in der Regel die Bischöfe die Stadtherren, was damit zusammenhängt, daß sie eine Residenzpflicht in dem Hauptort ihrer D i ö z e s e hatten. Bei dem Zusammenbruch der Stadtverwaltung blieben sie als ein Zentrum bestehen, und es ist bekannt, mit welchem Geschick sie es verstanden haben, in vielen Fällen die Stadtherrschaft zu erringen. Auf jeden Fall hatten die ihnen unterstehenden kirchlichen Stiftungen in der Stadt großen Grundbesitz. D a h e r stießen die Bürger bei ihrem Streben nach Selbstverwaltung mit den öffentlichen und privaten Rechten der Kirchen überall zusammen. D i e geistlichen Stadtherren erwiesen sich in der Regel als ungeeignet, die Wirtschaftsinteressen der Bürger zu fördern. D e r aufkommenden Geldwirtschaft standen sie zunächst verständnislos gegenüber. Sie waren wohl bereit, Geldbeträge einzuziehen, aber von der Förderung des H a n d e l s und des Verkehrs verstanden sie wenig. E s ist daher an vielen Stellen zu erbitterten K ä m p f e n zwischen den K o m m u n e n und den geistlichen Stadtherren gekommen. Bekanntlich haben sich

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die ersten K o m m u n e n diesseits der Alpen in den nordfranzösischen

Bischofsstädten

gebildet. V o n dort aus greift die Bewegung nach Cambrai über, und im letzten Viertel des 11. J h . werden auch die rheinischen Städte davon ergriffen. E s sei an die V e r j a gung des Bischofs von W o r m s durch seine Bürger und im Zusammenhang damit an die Austreibung Erzbischof Annos aus K ö l n erinnert ( 1 0 7 3 und 1 0 7 4 ) .

D e r M a n i c h ä i s m u s und die k o m m u n a l e B e w e g u n g W e n d e n wir uns nun zur Ketzerbewegung zurück. Bereits Grundmann hat bemerkt, d a ß ihre Ausbreitung wahrscheinlich auf den Fernhandelsstraßen erfolgte. D a s läßt sich nun sehr viel positiver fassen, wenn man die O r t e , in denen manichäische Lehren im A b e n d l a n d auftreten, kartographisch festlegt und sich in jedem einzelnen F a l l e die Stellung dieser O r t e zu den großen Handelswegen vergegenwärtigt. Zunächst ist der Zeitpunkt des Auftauchens dieser Lehren im A b e n d l a n d höchst beachtlich. V o r dem J a h r e 1 0 0 0 liegt kein sicheres Zeugnis vor. W i r erinnern uns dabei, d a ß auch auf dem B a l k a n die Bogomilen erst im 10. J h . eine größere R o l l e zu spielen beginnen. E s ist sehr wichtig, d a ß einerseits frühere Zeugnisse für das A b e n d land nicht vorhanden sind und andererseits dann eine rasche und sehr bedeutende Ausbreitung beginnt. D a s dürfte für den B e w e i s des ausschließlichen Zusammenhanges der Manichäer mit den Bogomilen entscheidend sein. E s unterstreicht eben die Bedeutung dieses kulturellen und ökonomischen Verbindungsweges. D i e zeitliche Festlegung der ersten Zeugnisse hat darum gewisse Schwierigkeiten, weil diese von Rodulfus G l a b e r stammen. Rodulfus G l a b e r war ein cluniazensischer Mönch, stammte aus Burgund, hatte Italien besucht und schrieb im zweiten Viertel des 11. J h . E r ist mehr ein E r z ä h l e r als ein H i s t o r i k e r ; daher sind seine Angaben chronologisch häufig ungenau und nicht immer ganz einwandfrei. Ihm zufolge trat um das J a h r 1 0 0 0 in der N ä h e von Châlons ein M a n n auf, der unter dem niederen V o l k e ketzerische Lehren verbreitete. D i e näheren Angaben lassen erkennen, d a ß es sich in der T a t um manichäische handelte. Rodulfus berichtet auch über die Verbreitung dieser Lehren in Italien, und wir dürfen annehmen, d a ß er hier aus eigener Kenntnis spricht. Beachtlich ist, d a ß nicht Venedig, das sich ganz im byzantinischen Fahrwasser hielt, ihr Ausgangspunkt war. Im J a h r e 1 0 2 2 hören wir von einem großen K e t z e r p r o z e ß in Orléans. In ihn greift der französische K ö n i g R o b e r t II. (der F r o m m e ) e i n : er läßt die K e t z e r

verbrennen.

D a m i t begegnen wir zum ersten M a l dem Eingreifen der weltlichen M a c h t und der S t r a f e des Feuertodes. L e i d e r hat dieses Vorgehen Schule gemacht. - E s folgt der K e t z e r p r o z e ß in Arras 1 0 2 5 . H i e r erscheint als Urheber ein aus Italien stammender G u n d o l f . In Südfrankreich berichtet eine andere Q u e l l e aus dem J a h r e 1 0 1 8 : sunt per Aquitaniam

Manichei"0

„exorti

; 1 0 2 8 wird dort eine Synode gegen die Manichäer

abgehalten. In Italien war währenddessen auch weiterhin die manichäische Mission

5

Ademari Cabannensis chronicon üb. I I I , c. 4 9 , cd. ]. Chavanon,

Paris 1 8 9 7 , S. 1 7 3

tion de textes pour servir à l'étude et à l'enseignement de l'histoire).

(Collec-

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sehr rührig. Der Erzbischof von Mailand ist um 1030 gegen ein Manichäerzentrum in Monteforte bei Turin vorgegangen. Es erregte Aufsehen, daß auch vornehme Leute in diesen Prozeß verstrickt waren. Über Frankreich, in dem Chälons-sur-Marne ein Hauptzentrum bleibt, breitete sich der Manichäismus in der Mitte des 11. Jh. über Lothringen nach den Rheinlanden aus. In Goslar hat Weihnachten 1051 vor dem Gericht Heinrichs III. ein Ketzerprozeß stattgefunden, der viel beachtet worden ist. Auch hier wird von der „Manichea secta" gesprochen. Es dürfte wahrscheinlich sein, daß es sich um lothringische Kaufleute gehandelt hat. Wir haben uns auf einige Stichproben beschränkt. Aus ihnen ergibt sich deutlich, welche Rolle der Fernhandelsverkehr bei der Verbreitung spielt: Orléans, vor allem aber die Champagne, deren Messen ein großer mittelalterlicher Markt waren, liegen im internationalen Verkehrszug. Es erübrigt sich, über die Niederlande und die Rheinlande in dieser Beziehung etwas zu sagen. Ganz falsch wäre die Behauptung, daß der abendländische Manichäismus und die kommunale Bewegung von vornherein miteinander verknüpft gewesen seien; dazu waren ihre Ziele viel zu weit auseinanderliegend. Man muß sich nur vergegenwärtigen, daß jener eine schroffe Abwendung von der Realität bedeutet, während diese ganz reale Forderungen stellte. Vielmehr kann man nur sagen, daß die kommunalen Bewegungen einen Einsatzpunkt für den Manichäismus bildeten, weil hier die Opposition gegen den Besitz der Kirche und ihre materiellen Herrschaftsrechte zuerst sich geltend machen konnte. Hier war also in kleinerem Maßstabe eine ähnliche soziale Spannung vorhanden, wie wir sie in Bulgarien bei der Entstehung der Bogomilen angetroffen haben. Bei dem Kampf gegen die weltlichen Rechte der Kirche konnte eine Lehre, die diese grundsätzlich verwarf und die apostolische Armut forderte, zuerst Gehör finden. Wir haben ähnliche Erscheinungen ja auch zur Zeit der Reformation, wo in der Person Thomas Müntzers religiöse und soziale Opposition zusammenfließt, und ähnlich bei der Erhebung der Niederlande, wo der Bildersturm als Ausdruck sozialreligiösen Widerstandes erscheint. Beide Elemente konnten naturgemäß sich leicht wieder trennen, da, wie bereits gesagt, ihre letzten Ziele durchaus verschiedener Art waren. Wir bemerken überhaupt derartige Bündnisse sehr verschiedener Interessengruppen beinahe bei allen Religionen. Aber es handelt sich nicht nur um rein materielle Forderungen, sondern um den grundsätzlichen Angriff auf das bisherige System. Die Monopolstellung der Priesterkirche wie die der Feudalherren gerät ins Wanken, weil in jenen neuen Kommunen zunächst die bisherige Sozialordnung durchbrochen wird. In der Schwurgemeinschaft der Kommune treten Männer der verschiedensten Herkunft als Schwurgenossen zusammen: „Stadtluft macht frei". Durch die Selbstverwaltung gelangen die Bürger bald in Stellungen, die sie den Grundherren gleichberechtigt erscheinen lassen. Damit wird hier das Herkunftsprinzip überwunden. Dann liefert die immer steigende Wirtschaft große Gelderträge. Die Bürger werden reich; bald versuchen sie auch, sich Bildung zu erwerben. Zuerst bemerken wir, daß unter den Geistlichen auch in höheren Stellen Leute einfacher Herkunft auftreten. Mit dem Ausbau des institutionellen Staates gelangen Bürgerliche zunächst auf fran-

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zösischem Boden in Verwaltungsstellen. Dadurch beginnt das Bildungsmonopol der Kirche erschüttert zu werden. Es gelangen nun auch andere Schichten in den Besitz von Kenntnissen, welche es ihnen erlauben, über Grundfragen der bisherigen Kirchenordnung zu diskutieren. Die Stadt beziehungsweise das Bürgertum wird also das bewegende Element in der gesellschaftlichen Umschichtung. W i r verstehen nach diesen Ausführungen, daß es kein Grund für die Ablehnung sozialer Zusammenhänge ist, wenn Grundmann bei den Ketzerbewegungen des 12. und 13. Jh. gerade das Bürgertum stark vertreten findet. Es war damals noch gar nicht daran zu denken, daß die Leute aus den unteren Schichten an den geistigen Auseinandersetzungen teilnehmen konnten. W i e stark vielmehr die Macht der Priesterkirche war, kann man daraus entnehmen, daß es fanatischen Priestern oft gelang, die Volksmassen gegen die Ketzer aufzuhetzen. Nicht selten hören wir, daß gerade von der „Menge" der Tod der Ketzer auf dem Scheiterhaufen gefordert wird. Wenn auch diese Berichte ausnahmslos aus geistlicher Feder stammen, so ist doch gewiß, daß der Einfluß der Priester auf die niederen Schichten damals noch ein fast unumschränkter gewesen ist. Daher ist nur da, wo sich aus gebildeten Kreisen Persönlichkeiten fanden, die jene Lehren vertraten, ein Erfolg festzustellen. Selbstverständlich ist dieser Erfolg nur durch die Mitwirkung der Massen zustande gekommen. - Wir sehen also, welche Bedeutung einmal der Fernhandel hatte durch den Zustrom fremder Elemente und die Vermittlung neuer Kenntnisse. Andererseits aber führte die Hebung der Produktion zur Ansammlung größerer Massen und auch zu sozialen Spannungen, wie das zunächst besonders in den Produktionsstätten der flandrischen Tuchindustrie festzustellen ist. So ist nicht zu leugnen, daß diese aus dem Orient kommenden Lehren nur da einen wirklichen Nährboden fanden, wo bestimmte ökonomische und soziale Voraussetzungen gegeben waren.

Sekundäre W i r k u n g e n Die Forderung apostolischer Armut und der Kampf gegen jede Sonderstellung der Priester wurden nicht nur in politisch-sozialer Beziehung eine wichtige Parole. Freilich: die kommunale Bewegung hat nach Erringung der Selbstverwaltung weitgehend die Kampfstellung gegenüber der Kirche aufgegeben. Als die Bürger die Selbstverwaltung errungen hatten, waren sie an sich bereit, sich auf religiösem Gebiet der Autorität der Kirche wieder zu unterwerfen. W i r können hier ähnliche Vorgänge beobachten wie beim Bauernkrieg in Deutschland: religiöse und soziale Opposition scheiden sich wieder. In den Kommunen werden zunächst die Kaufleute maßgebend. Noch gibt es ein eigentliches Proletariat kaum; selbst die Zünfte gewinnen erst allmählich Bedeutung. Dies ermöglicht der Kirche, nun ihrerseits in den Städten wieder Fuß zu fassen. Aber auch in der Form, in der das geschieht, spüren wir höchst bedeutende Auswirkungen des Manichäismus. Wir sind nicht der Ansicht, daß man bei dem berühmten Abendmahlsstreit in der Mitte des 11. Jahrhunderts, der von Berengar von Tours ausgeht, einen Einfluß des Manichäismus annehmen muß. Hier geht es zwar um die Sakramente; indessen war Berengar weit entfernt, sie zu verwerfen. Auch bei Abaelard, dem eigentlichen Vater

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der Scholastik, dürften kaum spürbare Einwirkungen festzustellen sein. Ihm ging es ebenfalls um das Dogma, das er in seinem berühmten Werke „Sic et non" zu kritisieren unternahm. Aber die Dialektik, die von nun an begann, dürfte ein Ergebnis der abendländischen Entwicklung allein sein. Der Schüler Abaelards, Arnold von Brescia, hat in Italien diese Methode bereits zum Angriff auf die Priesterkirche benutzt. Friedrich Barbarossa hat bekanntlich, um der Kurie einen Dienst zu leisten, dessen politischer Tätigkeit ein E n d e gemacht und ihn der Kurie ausgeliefert. Bei Arnold können wir schon eher die Wirkungen der Ketzerbewegung spüren. Ein klassisches Beispiel, wie die Reformkirche soziale Spannungen zu benutzen verstand, bildet bekanntlich die Pataria in Mailand, deren Sozialrevolutionäre Tendenz Gregor VII. meisterhaft als Bundesgenossen gegen den kaisertreuen Episkopat in Italien zu verwenden vermochte. D i e Kurie fiel den stadtherrschaftlichen Bestrebungen der italienischen Bischöfe in den Rücken, um deren Selbständigkeit zu brechen. Wir verfolgen hier nicht den W e g Gregors VII., doch möchten wir bemerken, d a ß die mit großer Schärfe betonte Forderung der Ehelosigkeit der Priester zeitlich und örtlich genau mit dem Auftreten des Manichäismus zusammenfiel. D a ß der Manichäismus besonders radikal in diesem Punkte dachte, haben wir ausgeführt. Im ganzen vermochte die Kirche, gestützt auf die weltlichen Mächte, die Sektenbewegung zu unterdrücken, weil deren sozialrevolutionärer Charakter sich auch gegen die Feudalgewalten richtete, und so verstand sie es, diese für den gemeinsamen Kampf gegen die Ketzer zu gewinnen.

Die Katharer Es bleibt erstaunlich, d a ß der Manichäismus trotz vorübergehenden Zurücktretens im 12. und 13. Jh. neuen Auftrieb erhielt. D a s hängt nicht nur mit dem erneuten Einströmen orientalischer Elemente durch die Kreuzzugsbewegung zusammen, sondern mit der Fortdauer des sozialen Umwälzungsprozesses, der durch die Kommunen eingeleitet war. D i e bürgerlichen Kreise gelangen immer mehr in den Besitz der Bildung. U n d andererseits hat der Fortgang der ökonomischen Entwicklung allmählich auch breitere Massen in den Umbildungsprozeß gezogen, die als Handwerker und Arbeiter in den Städten nach größerer politischer Macht strebten. Diese neue Phase der Auseinandersetzung des Manichäismus mit der abendländischen Kirche bildet die zweite große Forschungsaufgabe, die er uns im Abendland stellt. Wir können sie hier nur abschließend in großen Zügen darlegen. Bemerkenswerterweise sind es Italien und Südfrankreich, die Hochburgen des Manichäismus werden. Zeitweise gewinnen die Manichäer, die unter dem N a m e n der Katharer bekannt sind, eine große geistige und auch politische Macht. Im K a m p f e mit ihnen hat die katholische Kirche sich die Waffe der Inquisition geschmiedet. Innocenz III. hat sich das zweifelhafte Verdienst erworben, die bisherige Ketzergesetzgebung zusammenzufassen und ungemein zu verschärfen. Auf dem Laterankonzil von 1215 wird der Grundsatz endgültig festgelegt, d a ß den Ketzern nicht etwa ihre Abweichung nachgewiesen werden muß, sondern d a ß es Sache der Kirche ist, sie aufzu8

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spüren, und sie sich dann zu verantworten haben. Dies ist der sogenannte Inquisitionsprozeß. Jetzt werden alle, welche Ketzer begünstigen, unter dieselbe Strafe gestellt. Und nun gilt es als Grundsatz, die Ketzer nicht zu bekehren, sondern auszurotten. W i r verfolgen den Leidensweg der kirchlichen Opposition nicht weiter. Der Kirche wäre trotzdem der Sieg nicht möglich geworden, wenn sie sich nicht gleichzeitig wenigstens einen Teil der Oppositionsforderungen zu eigen gemacht hätte. Hier hat sie in zwei bedeutenden Persönlichkeiten, übrigens ganz verschiedener Art, entscheidende Helfer gefunden. Der Spanier Dominicus hat in Südfrankreich gegen die Katharer die Bedeutung der Volkspredigt und der unmittelbaren Fühlungnahme mit den Massen erkannt. Der von ihm gegründete und nach ihm benannte Dominikaner-Orden übernimmt jetzt die Führung im Kampf gegen die Ketzer. Daneben aber hat Franz von Assisi eine Form gefunden, in der die Forderung nach apostolischem Leben und christlicher Armut im Rahmen der Kirche eine Verwirklichung fand. Seine Schüler, die Minoriten, haben einen Teil der sozialen Forderungen erfüllt. In dieser Bewegung vor allem spüren wir höchst bedeutende Einwirkungen der manichäischen Lehren. Sie im einzelnen nachzuweisen ist eine besondere Forderung an die mittelalterliche Forschung. W i e wir versuchten, den Manichäismus im Abendland im Rahmen der sozialen Auseinandersetzungen zu schildern, so wird man andererseits seinen Auswirkungen auch in den weiteren religiös-sozialen Kämpfen nachzuspüren haben. W i r haben es nur versucht, die Fülle der Aufgaben, die das Auftreten des Manichäismus im Abendland der mittelalterlichen Geschichtsforschung stellt, anzudeuten, und hoffen, daß die Forschung uns hier wirklich wissenschaftliches Neuland erschließen kann.

G E R H A R D I., B I S C H O F V O N C A M B R A I (1012-1061)* Dieser niederlothringische Kirchenfürst, nächst Fenelon wohl der bekannteste Bischof von Cambrai, hat in der Politik, in der Kirchenreform und in literarischer Beziehung zu seiner Zeit eine bedeutende Rolle gespielt. Wir besitzen in den „Gesta episcoporum Cameracensium", der Bischofschronik, einen eingehenden Bericht über seine Tätigkeit und sein Leben. Der Verfasser dieses Werkes war ein leider namentlich nicht bekannter Domherr von St. Marien in Cambrai, der auf Anordnung Gerhards schrieb, dessen persönliches Zeugnis öfter zitiert und auch eine Anzahl seiner Briefe überliefert hat. Aber man kann ihn nicht als Biographen Gerhards bezeichnen, weil die Geschichte des Bistums, die inneren Wirren in Cambrai und die Beschreibung der Klöster der Diözese im Vordergrund seiner Darstellung stehen. Es fehlt ihr die persönliche Wärme und Vertrautheit, wie sie Anselm in der Lütticher Bischofschronik gegenüber Wazo von Lüttich gezeigt hat. Infolgedessen erhält man in jener Chronik keinen lebendigen Eindruck von Gerhard, so wichtig auch die Nachrichten darin sind. Es ist von Belang, daß der Verfasser sich Flodoards Bistumschronik von Reims zum Muster genommen hat. Ausdrücklich erklärt er, daß er diese gelesen habe, und er hat ganze Kapitel Flodoards in seine Darstellung aufgenommen. Gewiß ist dies bedingt durch die engen Beziehungen von Cambrai zu Reims, aber es ist gleichzeitig auch das Zeichen eines maßgebenden literarischen Einflusses. Flodoard hat in seiner Bistumschronik ein Muster für die lothringischen Chroniken jener Zeit geschaffen, weil er in großem Maße die kirchlichen Archive benutzte und Urkunden und Briefe daraus in seinen Text aufnahm, wodurch ein neuer Typus der kirchlichen Geschichtsschreibung entstand. Der Verfasser der Bistumschronik von Cambrai hat einleitend betont, daß er das Material aus den Archiven herangezogen habe. Damit aber kommen wir auf einen wesentlichen Punkt für die Beurteilung Gerhards: nämlich auf den Einfluß, den Reims in geistiger Beziehung auf ihn gehabt hat. Leider folgt aus der Darstellungsform der Bischofsgeschichte, daß die Jugend Gerhards nur kurz behandelt ist. Aber da gerade diese Zeit für ihn entscheidend gewesen ist, ist die Aufhellung seiner Entwicklungsgeschichte ein besonders schwieriges Kapitel. Zunächst ist schon seine Herkunft nicht leicht zu bestimmen. Der Verfasser der Chronik sagt, er sei „non infimis parentibus Lothariensium et Karlensium" gewesen, und bemerkt weiterhin, daß Gerhard als Knabe zu Erzbischof Adalbero, einem nahen Verwandten, nach Reims gesandt worden sei, wo er auch von seiner Mutter her Besitz gehabt habe. Von Adalbero * Entstanden um 1 9 6 0 ; Anmerkungen anhand einer summarischen I.iteraturangabe ergänzt. 8

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Ketzertum und Kirche

sei er erzogen und zum Domherrn von Reims gemacht worden. Für seine Herkunft ist dies ein besonders wichtiger Anhaltspunkt. Leider ist sie seit der genealogischen Arbeit von Roland 1 nicht wieder untersucht worden. Vanderkindere hat eine Reihe Kombinationen darüber aufgestellt, die aber noch nicht kritisch überprüft worden sind. Die neueren Arbeiten über Gerhard haben sich leider mit ihr nicht beschäftigt. Erzbischof Adalbero (969-989) ist eine bekannte Persönlichkeit; er war der Bruder Graf Gottfrieds des „Gefangenen" von Verdun und also ein Mitglied eines der größten lothringischen Feudaldynastien, des Ardennenhauses. Zunächst bestimmt sich dadurch das Geburtsjahr Gerhards. E r muß spätestens 980 geboren sein, da man sonst nicht von einer Erziehung durch Adalbero sprechen könnte. Weiterhin ist sicher, daß er nicht von väterlicher Seite her ein Mitglied des Ardennenhauses gewesen ist. Die Verwandtschaft muß von weiblicher Linie herrühren, und gerade dies ist bisher im einzelnen nicht befriedigend geklärt worden. Die genealogische Einordnung Gerhards bereitet große Schwierigkeiten. Die Bezeichnung „consanguineus" ist unbestimmt und läßt den genauen Verwandtschaftsgrad zu Adalbero nicht erkennen. Sie zeigt nur, daß Gerhard der vielleicht mächtigsten Familie Lothringens blutsverwandt war. Gut bezeugt ist, daß sein Vater Arnulf Herr von Florennes - einem kleinen Ort im Hennegau - gewesen ist. Nach den eingehenden Untersuchungen von Roland hat Vanderkindere folgende Hypothese aufgestellt: Arnulf war ein Sohn der Alpaidis, und zwar aus ihrer ersten Ehe mit Gottfried. Dieser wird für den ersten lothringischen Herzog Gottfried (t 964) erklärt ; als Grundlage dafür dient eine Notiz der Mir acuta s. Gengulfi, in der es heißt: „Arnulfus, Alpaidis et Godefridi Hainoensis pagi comitis ftlius." Die Miracula gelten als zeitgenössisch und sollen von Gonzo, um 1050 Abt jener Stiftung der Familie Gerhards, verfaßt worden sein. Die Autorschaft ist aber spät bezeugt, und die Quelle verrät auch sonst keine besondere Kenntnis der Familie Gerhards. Die Bezeichnung „Graf des Hennegaus" ist für den Herzog Gottfried ansonsten nicht bezeugt. Weiterhin zieht Vanderkindere einen Bericht der Chronik des Klosters Waulsort in der Nähe von Florennes hinzu. Dort heißt es, daß Eilbert seinen Stiefsöhnen Gottfried und Arnulf die Herrschaft von Florennes geschenkt habe. Wenn Vanderkindere allerdings behauptet, daß Eilbert in zweiter Ehe die Alpaidis geheiratet habe, so steht dies mit dem Wortlaut des Berichtes von Waulsort in Widerspruch, denn dort heißt es, daß Hersindes, die Gattin Eilberts, die Stiefsöhne aus der früheren Ehe erzogen habe. Mithin kann Alpaidis, deren Name in dem Bericht von Waulsort nicht genannt ist, nicht die zweite Frau Eilberts gewesen sein. Dazu kommt, daß der ganze Bericht von Waulsort aus dem 12. Jh. stammt, viele Ungenauigkeiten aufweist und, was zu beachten ist, die Übertragung von Florennes an Gottfried und Arnulf nur im Zusammenhang mit Rechtsansprüchen von Waulsort an Florennes bringt. Noch unsicherer sind die Kombinationen über die Mutter Gerhards, Ermentrudis, deren Großmutter nach mehrfacher Annahme eine Schwester Adalberos gewesen sein soll. Auch hier fehlt es an 1

Roland, G., Histoire généalogique de la maison de Rumigny-Florennes, in: Annales de la Société archéologique de Namur 19/1891, S. 5 9 - 3 0 4 , und: Supplement, ebenda, 20/1893, S. 2 7 - 4 0 ; ders., Un historien ardennais inconnu: Dom Jean Migeotte, ses mémoires sur la baronnie de Rumigny, in: Revue historique Ardennaise 4 / 1 8 9 7 , S. 228-236.

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Gerhard I., Bischof von Cambrai

sicheren Unterlagen. Vor allem aber ist die Behauptung, daß Ermentrudis in erster Ehe mit dem Grafen Richer, dem Nachfolger Herzog Gottfrieds im Hennegau, verheiratet gewesen sei, unbewiesen und auch zeitlich bedenklich, da dieser bereits 973 gestorben ist. Aus diesem Grunde sind denn auch die neueren Untersuchungen von Kimpen, Renn und Tellenbach 2 auf diese Kombination nicht eingegangen. Renn hat in seiner Arbeit über das erste Luxemburger Grafenhaus den Versuch gemacht, eine große Anzahl der führenden Persönlichkeiten Lothringens im 10. und 11. Jh. dieser Luxemburger Familie zuzuzählen. Es ist keine Frage, daß es tatsächlich eine so bedeutende Familienverbindung gegeben und daß diese Sippe, namentlich unter Heinrich II., in der lothringischen wie auch der Reichspolitik ungewöhnlichen Einfluß gehabt hat. Der erste Herzog, Gottfried, wird von Renn mit dieser Familie in Verbindung gebracht, aber er wie die anderen neueren Forscher weisen diesem keinerlei Nachkommenschaft zu; Gottfried ist sicher jung gestorben. E s ist nun auffallend, daß in der von Otto dem Großen beurkundeten Gedächtnisstiftung für ihn aus dem Jahre 965 erwähnt wird, daß die Bestätigung auf Wunsch des Erzbischofs Brun und des Grafen Richer, des Nachfolgers Gottfrieds, erfolge. Der Familie aber wird überhaupt nicht gedacht. So wird man denn auf Grund dieses Tatbestandes eine Abstammung Gerhards von dem Herzog Gottfried und dem Grafen Richer nicht behaupten können. Das ist nicht ohne Belang, denn diese beiden waren so gut wie sicher rheinischer Herkunft. D a beide sich der besonderen Gunst des Hofes erfreuten und zweifellos große Lehen zwischen Maas und Scheide erhalten hatten, so ist es auch verwunderlich, daß die Familie Arnulfs von Florennes offensichtlich nur bescheidenen Besitz gehabt hat und selbst Florennes nur von weiblicher Seite her auf sie gekommen zu sein scheint. Überhaupt hat man den Eindruck, daß die Familie Gerhards zwar in Verbindung mit dem hohen Adel Lothringens stand, aber ihre Position in keiner Weise mit der der übrigen Mitglieder dieser mächtigen Sippen sich vergleichen ließ. Vielmehr werden ihre Angehörigen wie Seitenverwandte behandelt, und so ist die Familie noch nicht einmal zu gräflichem Rang gelangt. Es ist nicht unwichtig, daß Gerhard nicht rheinischer Abkunft war und auch nicht zum höchsten Adel gehörte. Man wird vielmehr bei der Bestimmung seiner Zugehörigkeit davon auszugehen haben, daß er, wie schon erwähnt, nach Reims geschickt worden ist, weil er dort von seiner Mutter geerbte Besitzungen hatte. Hinzu kommt, daß der Verfasser der Bischofschronik von seinen Eltern sagt, sie seien „Lotharienses et Karlenses" gewesen. Mit „Karlenses" bezeichnet er die Westfranken, denn er nennt auch den französischen König „rex Karlensium". Man darf seiner Angabe um so mehr trauen, als „Karlenses" bei ihm durchaus kein Ruhmestitel ist; er haßt diese nämlich. 2

Kimpen, E.,

Rheinische

1 2 3 / 1 9 3 3 , S. l f f . ; Renn,

Anfänge H.,

des

Hauses

Habsburg-Lothringen,

in:

AnnHVNiederrh.

Das erste Luxemburger Grafenhaus ( 9 6 3 - 1 1 3 6 ) ,

S. 5 7 ff. (Rheinisches Archiv, hrsg. v.

Bach, A.,

und

Steinbach, Fr.,

Bd. 3 9 ) ;

Bonn

1941,

Tellenhach, G.,

Vom karolingischen Reichsadel zum deutschen Reichsfürstenstand, in: Adel und Bauern im deutschen Staat des Mittelalters, hrsg. v. berg,

H.,

Mayer, Th.,

Leipzig 1 9 4 3 , S. 2 2 ff.; auch

Sproem-

Die lothringische Politik Ottos des Großen, in: [RhVjbll. 1 1 / 1 9 4 1 ; Wiederabdruck

in:] ders., Beiträge zur belgisch-niederländischen Geschichte, Berlin 1 9 3 9 , S. 111 ff. (Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte, hrsg. v. Sproemberg,

H., u. a., Bd. 3).

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K e t z e r t u m und K i r c h e

So wird nicht zu bezweifeln sein, daß Gerhards Mutter Westfränkin war, ohne daß wir bisher feststellen können, wie im einzelnen ihre Verwandtschaft zu Adalbero gewesen ist. Die allerdings späte Behauptung, daß sein Vater Arnulf aus Rumigny stamme, einem Ort, der in den Ardennen, aber bereits auf französischem Boden liegt, würde die westfränkische Abkunft Gerhards noch unterstreichen. Man wird jedenfalls mit Sicherheit behaupten können, daß seine Muttersprache romanisch war, wenn er auch, wie die meisten lothringischen Großen, der germanischen, der flämischen Sprache mächtig gewesen sein wird. Das bedeutet noch nicht, daß man ihn als reinen Romanen bezeichnen müßte; denn im hohen Adel nicht nur Lothringens, sondern auch Westfrankens waren romanisch-germanische Heiraten in dieser Zeit nicht selten, und es gibt in diesen herrschenden Schichten keine nationalen Gegensätze. Letzteres gilt im besonderen Maße für den lothringischen Raum. Die Entsendung Gerhards nach Reims ist aber nicht nur unter dem Aspekt seiner Familie beachtenswert. Vielmehr kam durch sie der junge Mann in eine politische und kulturelle Atmosphäre eigener Art. Reims war in jener Zeit der vielleicht bedeutendste geistige Mittelpunkt Nordfrankreichs. Hier hatte sich die spätkarolingischc Bildung besonders entwickelt - erinnert sei nur an den großen Hinkmar von Reims. Bekannt ist, was dessen literarische Tätigkeit bedeutete und wie er auch auf die Geschichtsschreibung, vor allem durch seinen Schüler Flodoard, eingewirkt hat. Zweifellos gab es in Reims verhältnismäßig große Bibliotheken und Bildungsmöglichkeiten. So übte es einerseits eine Anziehungskraft für die neuen Ideen der Kirchenreform aus, die durch die Cluniazenser angeregt wurden und sich über ganz Frankreich verbreiteten; andererseits aber wirkte es als Bildungszentrum stark auf das benachbarte Lothringen ein. Die Bedeutung dieses geistigen Einflusses hatte Otto der Große, vor allem durch Vermittlung seines Bruders Brun von Köln, erkannt. Bei seinem Bestreben, Lothringen endgültig in das Reich einzugliedern, konnte er an der Frage der geistigen Ausrichtung der führenden Geistlichkeit nicht vorübergehen. Wenn er nun auch nicht, wie Pirenne behauptet hat, Lothringen durch einen Ring sächsischer Bischöfe regieren lassen wollte, so hatte er doch mit Hilfe Bruns die größten Anstrengungen gemacht, um einen kirchlichen Nachwuchs zu schaffen, welcher unbedingt reichstreu war. Dazu war es nötig, sich mit dem bisherigen Zentrum in Reims auseinanderzusetzen, und Otto verstand es, mit Hilfe seiner vorwaltenden Stellung im Westen entscheidenden Einfluß auf die Besetzung des dortigen Erzstuhls zu erlangen. Bereits Erzbischof Odelrich von Reims (962-969) war ein vornehmer Lothringer, wahrscheinlich ein Mitglied der Luxemburger Sippe. Ihm folgte von 969 bis 989 Adalbero aus demselben Haus, der aus der Schule von Gorze kam. Diese Männer haben die imperiale Politik Ottos I. nachdrücklich vertreten und so dafür gesorgt, daß kein ungünstiger Einfluß auf die lothringische Geistlichkeit von Reims her ausgeübt wurde. Man muß dabei jedoch nachdrücklich betonen, daß die ottonische Politik durchaus keinen nationalen Charakter aufwies und daß die Reichsidee zumindest im Westen nichts mit einer Germanisierung oder dergleichen zu tun gehabt hat. Otto I. fühlte sich als Nachfolger Karls des Großen und als Haupt des ganzen fränkischen Reiches, daher hat er auch in die französischen Verhältnisse dauernd eingegriffen. Diese Vorstellung vom Kaiser als weltlichem Haupt der Christenheit und

Gerhard I., Bischof von Cambrai

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Schirmherrn der Kirche ist in jenem Reimser Kreis besonders lebendig gewesen; sie übte entscheidenden Einfluß auf die geistige Ausrichtung Gerhards. Es ist oft behauptet worden, daß dieser seine Ausbildung dem berühmten Gerbert von Reims verdanke, welchen Adalbero zum Leiter der Schulen in Reims berufen hatte. Der Verfasser der Bischofschronik sagt, daß Adalbero Gerhard „familiariter educavit", von Gerbert spricht er aber nicht. Wir müssen zunächst hieraus schließen, daß doch Adalbero die beherrschende Figur für Gerhard gewesen ist. Dennoch ist gewiß, daß dieser auch nach dem Tode Adalberos der reichskirchlichen Partei angehörte. Er hat die Kämpfe um die Machtposition in Reims zwischen Gerbert und dessen Gegner Arnulf miterlebt, die 991 zur Flucht Gerberts an den Hof Ottos III. geführt haben. Obwohl durch den Tod Adalberos und den Niedergang der reichskirchlichen Partei in Reims die weiteren Aussichten Gerhards sich dort mit Sicherheit verschlechterten, ist er doch Domherr geworden und hat es offenbar verstanden, sich in den schwierigen Auseinandersetzungen zu behaupten. Es ist nicht genau bekannt, wann er Reims verlassen hat. Er begegnet uns erst 1012 als Kapellan am Hofe Heinrichs II., wo er damals vielleicht noch nicht sehr lange weilte. In Reims hat er nun eine entscheidende Bekanntschaft gemacht, und zwar mit Richard, dem späteren Abt von St. Vannes bei Verdun, dem großen Kirchenreformer Lothringens. Auch dieser, ebenfalls hochadliger Herkunft, war zur Ausbildung nach Reims gekommen. Desgleichen gehörten jenem Reimser Kreis der Bruder Gerhards, Eilbert, an, welcher als Mönch in ein Kloster von Reims eintrat, und ebenso Poppo, der spätere Abt von Stablo, der auch zuvor Mönch in Reims gewesen war. Schließlich datiert aus jener Zeit Gerhards Bekanntschaft und Freundschaft mit dem Grafen Friedrich von Verdun, einem Neffen Adalberos, welcher gleich den beiden Vorhergenannten Mönch in Reims geworden ist. Diese Beziehungen sind maßgebend für die kirchliche Haltung Gerhards gewesen. Ihren Hintergrund bildet die lothringische Reformbewegung, die von dem Kloster Gorze ausging und für die Klosterreform in jener Zeit entscheidende Bedeutung gehabt hat. Reichskirchliche Auffassungen, streng religiöse Anschauungen und eifrige Teilnahme an der Klosterreform waren in dieser Zeit noch nicht unvereinbar. In Gerhard haben sie sich im besonderen Maße vereinigt, seinen Aufstieg und auch seinen späteren Mißerfolg bestimmt. Der Eintritt Gerhards in die Hofkapelle Heinrichs II. kann nicht sehr überraschen. Schwerlich hat der Einfluß Gerberts hier eine Rolle gespielt, sicher wirken dagegen die Beziehungen zu der großen Luxemburger Familie, welcher Kunigunde, die Gemahlin Heinrichs II., angehörte. Ganz offensichtlich aber waren es die Neffen Adalberos, Gottfried und Hermann, die, da sie bereits über großen politischen Einfluß verfügten, auch am Hof für ihn gewirkt haben. Vielleicht noch entscheidender war die Unterstützung Richards von St. Vannes, welcher bereits gute Beziehungen zu Heinrich II. besaß. Es besteht auch kein Zweifel, daß die politischen und kirchlichen Ziele Heinrichs II. vollständig mit denen Gerhards übereinstimmten und dieser sich deshalb von Anfang an mit größtem Eifer dem Herrscher anschloß. Daher ist es erklärlich, daß sich Heinrich II. nach dem Tode des Bischofs Erluin von Cambrai entschloß, Gerhard, der übrigens noch nicht einmal zum Priester geweiht worden war, zu dessen Nachfolger zu ernennen.

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Ketzertum und Kirche

Damit wurde dieser auf einen der schwierigsten Posten des Reiches, und noch dazu in einer sehr kritischen Zeit, berufen. Cambrai war das einzige Bistum des Reiches, dessen Diözesangrenzen durch die im Vertrag von Verdun festgelegte Westgrenze Lothringens durchschnitten wurden. Das Gebiet von Arras, das Artois, wurde zum Westreich geschlagen, und außerdem verblieb Cambrai in der Erzdiözese Reims, war also abhängig von einem Erzbischof jenseits der Reichsgrenze. Es war seinerzeit nicht möglich gewesen, eine andere Lösung zu treffen, da das Bistum Cambrai sich quer durch den später niederländischen Raum zieht. Es erstreckt sich vom Artois über den Hennegau und Brabant bis nach Antwerpen, wobei die Scheide im Westen seine Grenze bildet. Diese Querlage ist für das politische Schicksal Cambrais bestimmend gewesen; die eigenartige Verzahnung führte fortgesetzt zu Schwierigkeiten. Diese mußten sich natürlich steigern, als der Einfluß des Reiches auf Westfranken zurückging, außerdem aber Flandern zu einer bedeutenden Macht emporstieg und wegen des Artois, das politisch zu ihm gehörte, in steigendem Maße Einfluß auf Cambrai zu gewinnen suchte. Es kam hinzu, daß das Kerngebiet von Cambrai romanisch und eng mit den benachbarten französischen Gebieten verbunden war. Der östliche Teil war zwar flämisch, aber auch hier gab es Schwierigkeiten vor allem mit den Machthabern des Hennegau und Brabants. Die außen- und innenpolitische Situation Lothringens hatte sich seit dem Tode Ottos I. geändert. Nach der Eingliederung in das Reich, dem Vorstoß gegen Westen und der Niederwerfung der Feudalgewalten war ein gewisser Rückschlag erfolgt. Von der Thronbesteigung der Capetinger an begann der Einfluß des Reiches im Westen zu sinken. Im Innern war es dem Königtum gelungen, die Herzogsgewalt so zu schwächen, daß sie keine Gefahr für eine Absonderung Lothringens mehr darstellte. Dies war erreicht worden durch die Begünstigung der geistlichen und weltlichen Großen als Gegengewicht gegen ein übermächtiges Herzogshaus. Dadurch hatte aber die Feudalisierung Lothringens starke Antriebe erhalten, und die Feudalmächte suchten sich nach westlichem Vorbild selbständige Machtkomplexe zu schaffen, welche nun ihrerseits in steigendem Maße die Verfügungsgewalt des Königs über Lothringen beschränkten. Dieser Prozeß war unter Heinrich II. noch im Anfangsstadium, führte aber schon zu heftigen Konflikten. Zuerst versuchten die mächtigen Luxemburger, auf Grund ihrer Familienverbindungen eine beherrschende Stellung in Oberlothringen zu erringen. Der König erkannte die Gefahr und widersetzte sich diesem Plan energisch, so daß es von 1005 bis 1012 zu einem Krieg mit seinen Verwandten kam. Dabei stellte sich das in Oberlothringen mächtige Geschlecht der Ardennergrafen entschlossen auf die Seite Heinrichs II. Tatsächlich hat sich dann in diesem Kampf die Dezentralisationspolitik günstig ausgewirkt. Im Jahre 1012 war der Widerstand der Luxemburger im Erliegen, und so konnte der König an eine politische Neuordnung in Lothringen denken. Ein erster Schritt hierzu war die genannte Besetzung des Bistums Cambrai. Der Bischof Erluin war schon seit längerem krank und durch innere Schwierigkeiten bedrängt. In Erwartung seines Todes hatten bereits der Graf von Flandern und der Kastellan von Cambrai Kandidaten aufgestellt, von denen jeder eine Bedrohung der Reichsinteressen darstellte. Daraus erklärt es sich, daß der König blitzschnell handelte; er befand sich in den ersten Februartagen in Erwitte in

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Gerhard I., Bischof von Cambrai

der Nähe von Münster und ernannte dort bereits am 1. Februar Gerhard zum Bischof von Cambrai, obwohl Erluin erst am 3. Februar starb. Offenbar wollte er, der von der bedrohlichen Lage in Cambrai unterrichtet war, jeder anderen Kandidatur zuvorkommen. Diese souveräne Art der Einsetzung von Reichsbischöfen entsprach durchaus der Kirchenpolitik Heinrichs II. E s kann kein Zweifel daran sein, daß er einen Mann seines Vertrauens auf diesen schwierigen Außenposten setzen wollte und sicher mit Bedacht eine Persönlichkeit aus dem hohen einheimischen Adel wählte, die mit dem Ardennenhaus so eng verwandt war. Gerhard begab sich mit dem Hofe nach Nimwegen, wo er im März die Priesterweihe erhielt. D e r König wünschte, daß er nach Bamberg kommen sollte, um dort durch den päpstlichen Legaten zum Bischof geweiht zu werden. Das hätte bedeutet, die Trennung Cambrais von Reims zu verschärfen, denn bereits Erluin war durch den Papst und nicht durch den zuständigen Erzbischof von Reims geweiht worden. Diese Absicht Heinrichs II. zeigt deutlich, wie sehr er bestrebt war, den Einfluß der Reichsgewalt auf Cambrai zu verstärken. In derselben Absicht hatte er bereits 1007 Erluin die Grafschaftsrechte im Gau von Cambrai verliehen, wodurch er die reichsfürstliche Stellung des Bischofs betonte. Aber Gerhard weigerte sich, nach Bamberg zu gehen, da er sah, daß hierdurch seine Stellung noch mehr erschwert worden wäre. Dabei spielt wohl seine Anhänglichkeit an Reims ebenso eine Rolle wie seine streng kirchliche Rechtsauffassung. W i e der Verfasser der Bistumschronik berichtet, hat der König nicht auf seinem Wunsch bestanden; er gab aber Gerhard eine Konsekrationsordnung mit, weil er die Weihe nach reichskirchlichem Brauch zu vollziehen wünschte. Daraufhin ist Gerhard am 27. April in Reims geweiht worden; er hat offenbar in guten Beziehungen zu Erzbischof Arnulf gestanden. Für die Geschichte der Beziehungen zwischen Cambrai und Reims und die Versuche, eine Klärung ihres schwierigen Verhältnisses zu erreichen, ist diese Episode von Interesse. Sie zeigt, daß die Einflußnahme auf Reims vom Reich aufgegeben worden und es bereits in die Defensive gedrängt war. Im übrigen gehörte es zur Politik Heinrichs II., auf Grund der bestehenden Zustände in ein gutes Verhältnis zu Frankreich zu gelangen. Wesentlich schwieriger waren die Anfänge Gerhards in Cambrai selbst. 3 Im Gegensatz zu Lüttich war es den dortigen Bischöfen nicht gelungen, sich eine sichere territoriale Basis zu schaffen. E s lag dies, wie bemerkt, nicht zuletzt daran, daß gerade in dieser Zeit die flandrische Macht Cambrai in ihre Gewalt zu bekommen suchte. In Cambrai selbst widersetzte sich die Bürgerschaft wie auch die größte Feudalfamilie einer politischen Macht des Bischofs. Zur Zeit, von der wir hier sprechen, war es vor 3

Vgl. Reinecke,

W., Geschichte der Stadt Cambrai bis zur Erteilung der lex Godefridi

Marburg 1896, S. 4 2 ff.; Schieffer, Cambrai ( 1 0 1 2 - 1 0 5 1 ) ,

Th.,

(1227),

Ein deutscher Bischof des 11. J h . : Gerhard I. von

in: D A . 1 / 1 9 3 7 , S. 3 2 3 ff.; de

Moreau,

E..

Histoire de l'Église en

Belgique, Bd. 2 : L a formation de l'Église médiévale, Bruxelles 1 9 4 5 , S. 16 ff.; Steinbach,

F.,

Die Entstehung der Volksgrenze und der Staatsgrenze zwischen Deutschland und Frankreich, in: RhVjbll. 4 / 1 9 3 4 , S. 1 ff.; Mikoletzky,

H. L„ Kaiser Heinrich II. und die Kirche, Wien 1 9 4 6

(Veröffentlichungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung, hrsg. v. Santifaller, Bd. 8).

L.,

110

Ketzertum und Kirche

allem der Burggraf von Cambrai, der ihm diese streitig zu machen suchte. Der Krieg in Lothringen hatte jenem die beste Gelegenheit gegeben, den Bischof zu bedrängen. Nach dem Tode Erluins bemächtigte er sich der Gewalt in Cambrai und schien unter Begünstigung Flanderns hier eine dauernde Herrschaft begründen zu können. Eben dies hatte den König zum raschen Eingreifen veranlaßt. Um in Cambrai Ordnung zu schaffen, wurden Gerhard die beiden Brüder aus dem Ardennenhaus, Gottfried von Verdun und Hermann von Eenham, als militärische Begleiter mitgegeben und außerdem der Abt Richard von St. Vannes, welcher, wie bemerkt, sein alter Freund war. Wir erkennen hier jenen Kreis, mit dem Gerhard früher und weiterhin auf das engste verbunden gewesen ist. Gleichzeitig aber zeigt sich darin der W i l l e des Königs, hier eine Machtgruppe zu bilden, die in Niederlothringen Ordnung schaffen konnte, was um so mehr nottat, als der Bischof von Lüttich, Balderich II., eine Persönlichkeit ohne Initiative war. Gerhard blieb nicht lange in Cambrai, sondern begab sich bald wieder an den Hof des Königs; er hat an der Belagerung von Metz teilgenommen, welches das letzte Bollwerk der Luxemburger darstellte. Sogleich nachdem es dem König gelungen war, dieses gefährlichen Aufstands Herr zu werden, hat er den entscheidenden Schritt zur Neuordnung Lothringens getan. In Oberlothringen konnte er sich auf den Herzog und auf den neuen Erzbischof von Trier verlassen. Anders aber stand es in Niederlothringen, obwohl dieses noch nicht als ein getrenntes Herzogtum errichtet war. Durch Otto II. waren der Karolinger Karl und nach dessen Gefangennahme in Frankreich sein Sohn Otto als Herzöge eingesetzt worden. Als dieser Otto im Frühjahr 1006 starb, folgte ihm als Erbe sein Schwager Lambert von Löwen, der so in den Besitz von Brüssel gelangte. D a Lambert als Nachkomme Giselberts ohnehin Ansprüche auf die Herzogswürde in Lothringen zu haben glaubte, so erhob er diese nach dem Tode Ottos erst recht. Die Stellung des Reginarhauses zwischen Maas und Scheide war aber viel zu mächtig, als daß Heinrich II. bereit sein konnte, ihm noch überdies die lothringische Herzogswürde zu verleihen. In der Tat hätte das voraussichtlich zur Entstehung eines großen Feudalstaates in Niederlothringen von der Art des späteren Brabant geführt. Heinrich II. nahm mit Rücksicht auf den Aufstand der Luxemburger zunächst eine vorsichtige Haltung ein und ließ es zu, daß sich Lambert des beherrschenden Einflusses im Bistum Lüttich bemächtigte. Nach seinem Sieg aber hat er im Oktober 1012 den Grafen Gottfried von Verdun zum Herzog ernannt, welcher zwar den Titel eines Herzogs von Lothringen erhielt, aber nunmehr offiziell auf Niederlothringen beschränkt wurde. Die Befürwortung dieses Vorganges durch Gerhard wird in den Quellen ausdrücklich erwähnt. Gottfrieds Bruder Hermann hatte zwar schon eine Stellung im Hennegau, aber im übrigen verfügte das Haus Ardenne noch über keinen größeren Besitz in Niederlothringen. Daher mußte der neue Herzog vorsichtig vorgehen, denn Lambert von Löwen schien nicht gewillt, jene Ernennung hinzunehmen, und er war im Verein mit seinem Bruder Reginar vom Hennegau ein gefährlicher Gegner. Es kam sofort zu Streitigkeiten mit Lüttich. Lambert schlug noch im Herbst 1012 die Vasallen des Bischofs vernichtend und entriß diesem bedeutenden Besitz. Bis es Gottfried gelang, diese seine Gegner zu überwinden, verstrich einige Zeit. Am 13. September 1015 jedoch kam es bei Florennes, dem Stammsitz der Familie Gerhards, zu einem Treffen,

111

Gerhard I., Bischof von Cambrai

in welchem Lambert getötet wurde. Dann gelang es durch Gerhards Vermittlung, die Grafen von Löwen und Hennegau zur Anerkennung Herzog Gottfrieds zu veranlassen. Hierbei hat unser Bischof Gelegenheit gehabt, seine diplomatischen Talente zu zeigen. E s beginnen nun die Jahre seines engen Zusammenwirkens mit Herzog Gottfried im Sinne der Reichspolitik. Als dieser im Jahre 1018 vom König beauftragt wurde, zugunsten des Bischofs von Utrecht gegen den Grafen Dietrich von Holland zu Felde zu ziehen, wurden ihm auch Vasallen von Cambrai gleich denen von Lüttich zu Hilfe geschickt. Gerhard selbst beteiligte sich nicht an dem Feldzug, wie er denn überhaupt, soweit wir wissen, an einer militärischen Unternehmung niemals teilgenommen hat. Diese beschriebene übrigens ging glücklich aus: das lothringische Aufgebot wurde geschlagen, und der Herzog geriet in Gefangenschaft. Inzwischen hatte Heinrich II. mit Rücksicht auf seine burgundischen Pläne großen Wert auf gute Beziehungen zum französischen König Robert gelegt. Schon seit dem Jahre 1010 hatte er sich in die Angelegenheiten Burgunds eingemischt, da ihm der dortige König Rudolf, sein kinderloser Oheim, versprochen hatte, ihn als seinen Erben einzusetzen. Rudolf hoffte, so in Heinrich eine Stütze gegen seine übermächtigen Vasallen zu erhalten, sah sich indessen deren Druck nun erst recht ausgesetzt, da die burgundischen Großen unter keinen Umständen den mächtigen Heinrich zum Herrn haben wollten. D i e Verhandlungen hierüber gingen hin und her. Als der Kaiser 1022 aus Italien zurückkehrte, war es sein Wille, sich mit dem französischen König in engere Beziehungen zu setzen. An diesen hatte er bereits im Jahre 1006 den Bischof Notker von Lüttich gesandt, um ihn zu einer gemeinsamen Aktion gegen den Grafen Baldwin I V . von Flandern zu veranlassen. Dieser und in noch größerem M a ß e der Graf Odo von der Champagne, welcher auch Ansprüche auf Burgund geltend machte, bedrohten sowohl Robert wie Heinrich II. Im Jahre 1018 begegnen wir unserem Bischof Gerhard in Begleitung Herzog Gottfrieds auf einem Provinzialkonzil der Erzdiözese Reims in Laon. Vermutlich ist schon dort Fühlung mit dem französischen Hof genommen worden. Fünf Jahre später, im Frühjahr 1023, wurden Gerhard und sein Freund Richard von St. Vannes offiziell zu König Robert gesandt. Sie trafen diesen am 1. Mai in der Königspfalz Compiegne an, wo sich auch eine Anzahl französischer Großer versammelt hatte, verhandelten hier über eine Zusammenkunft der Herrscher und erreichten auch die Zustimmung des französischen Königs zu einer solchen. Daraufhin begaben sie sich zu König Heinrich zurück und blieben an dessen Hof. Am 10. August 1023 fand das Treffen in Ivois (Carignan) am Chiers, an der Grenze beider Länder, statt/' Auch hier erscheint Gerhard als Begleiter und Berater des Königs; neben ihm waren ferner Herzog Gottfried von Lothringen und eine Reihe anderer Großer zugegen. Auf politischem Gebiet wurde vollständige Übereinstimmung erzielt, insbesondere in bezug auf gemeinsames Vorgehen gegen den Grafen von der Champagne. Daneben gab es Besprechungen über eine Kirchenreform. D i e politischen Gewalten wünschten damals den Verfall der Kirche aufzuhalten, um im Interesse ihres eigenen Regiments wieder geordnete Verhältnisse einzuführen. Man kann auch nicht bezweifeln, daß sowohl Robert von Frankreich als auch Heinrich II. '* Hirsch, Breßlau,

S.,

Jbb.

des Deutschen Reichs unter Heinrich II.,

H„ Leipzig 1 8 7 5 , S. 2 5 6 ff.

Bd.

3, hrsg. u. vollendet

von

112

K e t z e r t u m und K i r c h c

aufrichtig kirchlich gesinnt und von dem Willen erfüllt waren, die offensichtlichen Mißstände abzustellen. Zwar boten sich die Verhältnisse in beiden Ländern sehr verschieden dar, aber es bestand doch eine allgemeine Forderung der Zeit, zu einer umfassenden Kirchenreform zu gelangen. Ihre Durchführung schien in erster Linie eine Aufgabe der weltlichen Gewalten zu sein, da das Papsttum, in die italienischen Händel verstrickt, sich nicht als fähig erwies, von sich aus dieses Problem zu lösen. So wurde denn von Ivois aus eine allgemeine Synode für das nächste Jahr nach Pavia berufen ; auf ihr sollte auch der Papst erscheinen, um die Kirchenreform in Angriff zu nehmen. E s besteht kein Zweifel, daß dieser Plan ein dringendes Anliegen Heinrichs II. war, aber auch nicht daran, daß von dessen Ratgebern kaum jemand so eifrig für ihn eintrat wie Gerhard von Cambrai. Hier liegt der Höhepunkt seiner politischen und kirchlichen Tätigkeit. Aber der Kaiser war damals schon ein kranker Mann, und als er im Sommer 1024 nach langem Leiden starb, sanken seine Reformpläne mit ihm ins Grab, da sein Nachfolger Konrad II. eine völlig andere Politik verfolgte. Und so hat auch die große politische Tätigkeit Gerhards ihr Ende gefunden. E s ist nun an der Zeit, in diesem Zusammenhang seine Tätigkeit in der Klosterreform zu schildern. Diese erfolgte in engster Zusammenarbeit mit seinem Freunde Richard von St. Vannes, und er ist einer von dessen treuesten und mächtigsten Helfern geworden. Man war lange der Ansicht, daß die seit dem 10. Jh. ins Blickfeld tretende Klosterreform allein von den Cluniazensern ausging, ja daß bei diesen auch Ausgangspunkt und Initiative für die gesamte Kirchenreform, die unter Papst Gregor VII. gipfelte, zu suchen seien. D a s große Werk von Sackur 0 schien diese Auffassung unumstößlich zu begründen. Indessen haben neuere Forschungen, vor allem von Sabbe und Hallinger 6 , doch wesentlich weitergeführt. Aus ihnen ergibt sich, daß die Cluniazenser gewiß große Bedeutung hatten, jedoch nur eine, wenn auch die größte Bewegung für eine Klosterreform darstellten, und daß außerdem von ihren Anschauungen kein direkter Weg zu den Ideen Gregors VII. verläuft. Dies wird auch gerade an dem Beispiel Gerhards von Cambrai deutlich. D a s Interesse der politischen Gewalten an der Wiederherstellung der kirchlichen Ordnung hat dazu geführt, daß diese sich direkt für die Reform des klösterlichen Lebens interessierten. Von Cluny war ein Herrschaftsverband gegründet worden, der weithin die großen Klöster unter die Oberhoheit des dortigen Abtes zu bringen versuchte, der selbst den ältesten und größten Kongregationen nicht einmal die Einsetzung eines eigenen Abtes erlaubte, sondern sie, gestützt auf päpstliche Privilegien, von Cluny aus regierte. Dies kam zwar der Wiederbelebung mönchischen Lebens und 5

Sackur,

E.,

D i e Cluniacenser in ihrer kirchlichen und allgemeingeschichtlichen W i r k s a m k e i t bis

zur M i t t e d e s 11. J h . , B d . 1, H a l l e a. S. 1 8 9 2 . 6

Sabbe,

E.,

N o t e s sur l a r é f o r m e de R i c h a r d d e S a i n t - V a n n e s d a n s le P a y s - B a s , i n :

Revue

B e l g e d e p h i l o l o g i e et d'histoire 7 / 1 9 2 8 , S. 5 5 1 f i . ; ders., L e culte m a r i a i et l a g e n è s e de la sculpture m é d i é v a l e ,

Hallinger,

K.,

in: Revue

Belge

d'archéologie

et d'art

20/1951,

Heft

2, S.

121 ff. ;

G o r z e - K l u n y . Studien zu d e n monastischen L e b e n s f o r m e n und G e g e n s ä t z e n im

Hochmittelalter,

2 Bde., Rom

1 9 5 0 und 1 9 5 1

(Studia Anselmiana philosophica

theologica,

é d i t a a p r o f e s s o r i b u s instituti pontificii S. A n s e l m i d e urbe, fasc. 2 2 und 2 3 ) ; Koyen, D e p r a e g r e g o r i a a n s e H e r v o r m i n g te ÏCamerijk, T o n g e r l o o 1 9 5 3 .

M.

H.,

Gerhard I., Bischof von Cambrai

113

auch der Wiederbeschaffung des KLosterbesitzes zugute, mußte aber auf den Widerstand der politischen Gewalten und auch der Bischöfe stoßen, denn beider Rechte wurden von Cluny ausgeschlossen. So kam es zu Gegenströmungen und zu landschaftlichen Reformbewegungen, welche bereit waren, sowohl mit den Bischöfen wie auch mit der weltlichen Macht zusammenzuarbeiten. Eine solche ging vom Kloster Gorze bei Metz aus, das seit dem Ende des 10. Jh., begünstigt durch den Episkopat und nicht minder durch den hohen Adel, ein mächtiges Reformzentrum in Lothringen geworden ist. Hallinger hat die Verbindung zwischen Kloster und Hochadel ausgezeichnet herausgearbeitet. Letzterer zeigte sich geneigt, die von der Gorzer Reform erfaßten Klöster mit reichem Besitz auszustatten, so daß diese geradezu zu Hausklöstern wurden. In diesen Kreis ist nun Richard eingetreten. E r entschloß sich, Mönch in St. Vannes zu werden, begab sich dann zusammen mit seinem Freunde, dem G r a fen Friedrich von Verdun, einem Bruder des Herzogs Gottfried, der bereits in Reims Mönch geworden war, nach Cluny, verließ es aber nach wenigen Tagen und kehrte nach St. Vannes zurück. 7 Als hier kurz darauf der Abt starb, gelangte Richard 1005 an die Spitze des Klosters, indem ihn der Bischof von Verdun, welcher dem Haus Ardenne nahestand, zum Abt ernannte. Richard schloß sich nun, wie Hallinger erwies, nicht den Bräuchen von Cluny, sondern denen von Gorze an ; St. Vannes wurde unter ihm zu einem Sammelpunkt des lothringischen Hochadels, dem er ja auch selbst angehörte. Diese eigenständige lothringische Reformbewegung fand gerade gegen Cluny die Unterstützung der Bischöfe und sofort auch die Förderung Heinrichs II., an dessen Hof Richard schon 1006 erschien. Dies ist verständlich, denn seine enge Verbindung mit dem Haus Ardenne war für den König wertvoll. Richard hat auf Bitten Gerhards sich sogleich der Familienstiftung von dessen Haus in Florennes angenommen. Dort hatte Gerhards Vater Arnulf anscheinend bereits im Jahre 1002 mit der Einrichtung eines dem heiligen Gengulf geweihten Stiftes begonnen, welches er durch Familienbesitzungen ausstattete. Aber erst 1010 scheint der Bau vollendet gewesen zu sein, und bei der Errichtung leistete Richard seinem Freunde Gerhard wertvolle Dienste. Vielleicht liegt hier auch der Zeitpunkt, an dem Gerhard in die Hofkapelle aufgenommen wurde. Leider ist die Gründungsgeschichte von Florennes im einzelnen nicht gut bekannt, da die älteren Königs- und Bischofsurkunden hierfür entweder falsch oder verfälscht sind. Aus der Bischofschronik von Cambrai wissen wir jedoch, daß Heinrich II. frühzeitig eine Königsurkunde für Florennes ausstellte. Im Jahre 1015 übergab Gerhard das Kloster, nachdem die Kleriker entfernt worden waren, an den Bischof Balderich II. von Lüttich. Man hat dies mit der Schlacht bei Florennes in Verbindung bringen wollen, aber wohl zu Unrecht. Gerhard hat keinerlei Familieninteressen bei der Stiftung verfolgt, und die reichen Schenkungen Balderichs II. an Florennes waren gewiß auch nicht ohne Einfluß auf seinen Entschluß. Florennes hat seitdem zum Eigenbesitz des Bistums Lüttich gehört. E s ist immerhin auffallend, daß die Familie Gerhards, insbesondere sein Bruder Gottfried, welcher der E r b e des Besitzes geworden ist, nur eine sehr bescheidene Rolle spielte. Indessen viel wichtiger war die Unterstützung, welche Gerhard bei den Reformen 7

Dauphin,

H., Le b. Richard, abbé de St. Vannes de Verdun, Louvain 1946.

114

Ketzertum und Kirche

in der Diözese von Cambrai Richard von St. Vannes gewährt hat. Besonders zu erwähnen ist, d a ß er seinen Bruder Eilbert, den Mönch aus dem Kloster St. Thierry in Reims, zu sich holte. Zunächst übergab er ihm die sich im Eigenbesitz der Bischöfe von Cambrai befindliche Abtei Marbilles, wo die Kleriker durch Mönche der Reformrichtung von Gorze ersetzt wurden. Ein größeres Unternehmen war die Gründung eines Klosters in Château Cambrésis, einem Ort, der erst durch Bischof Erluin geschaffen worden war, denn Heinrich II. hatte diesem ein großes Privileg zum Bau eines Kastells gegeben und der Gründung auch Vergünstigungen erteilt. D i e neue Abtei St. Andreas wurde mit vierundzwanzig Mönchen besetzt und erhielt große Zuwendungen vom Bischof, der auch hier Eilbert zum A b t ernannte. Zu den Klosterunternehmungen seiner Familie gehört auch Hautmont im Hennegau. Es hatte sich im Eigenbesitz des Grafen Hermann von Eenham befunden, welcher es Gerhards Bruder Gottfried als Lehen übergab. Auch in Hautmont befanden sich Kleriker. Gerhard veranlaßte seinen Bruder zum Verzicht auf das Lehen und reformierte mit Hilfe Richards das Kloster, in welches er Mönche einführte. In Cambrai selbst wurden, ebenfalls unter aktiver Unterstützung Richards, das Kloster St. Géry und das Domstift St. Marien reformiert. D a s gleiche geschah mit weiteren Klöstern im Machtbereich Gerhards, etwa mit Marchiennes und Haspres. Zusammen mit dem Bischof von Lüttich und unter Führung Richards wurde die Reform auch in dem Kloster Lobbes eingeführt. D e r gleiche Kreis hat sich erfolgreich bemüht, die Abtei St. Ghislain, auf welche der Graf von Hennegau Anspruch erhob, neu einzurichten. Als Richard seine Tätigkeit auf Veranlassung des Grafen von Flandern auch auf dessen Gebiet ausdehnte, hat Gerhard bei der Absetzung des Abtes Fulrad von St. Vaast und bei der Übergabe dieses Klosters an Mönche von St. Vannes Hilfe geleistet. Wenn so auch Richard die führende Persönlichkeit bei der lothringischen Klosterreform war, ist ihm doch niemand ein treuerer Helfer gewesen als Gerhard, der, wie wir sahen, auch seine Familie in den Dienst dieser Sache stellte. Allerdings geschah dies auf Kosten ihrer politischen Machtstellung. D i e Folgen der feudalen Anarchie, welche eine soziale Krise heraufbeschworen, haben aber auch zu Angriffen auf die herrschende Kirche geführt, denn diese war allzusehr zum Helfer der Feudalaristokratie geworden. D i e Verweltlichung der Geistlichkeit stand im Widerspruch zu den Lehren des Evangeliums. D i e Klosterreform hat zwar auf diesem Gebiet Ordnung geschaffen, brachte aber keine Besserung des Loses der durch die Feudalkriege geschädigten Massen. So erschienen etwa seit dem Jahre 1000 Sektierer 8 , welche bestimmte Lehren des östlichen Dualismus auf dem Wege über Italien nach Frankreich brachten und nicht ohne Grund in den zeitgenössischen Quellen als Manichäer bezeichnet wurden. Sie forderten Askese und Armut 8

Tbeloe,

H., D i e Ketzerverfolgungen im 11. und 12. Jh.: Ein Beitrag zur Geschichte der Ent-

stehung des päpstlichen Ketzerinquisitionsgerichts, Berlin und Leipzig 1913, S. 5 ff. (Abhandlungen zur Mittleren und Neueren Geschichte, hrsg. v. Below,

G. v., u . a . , H e f t 4 8 ) ;

Grund-

mann, H., Religiöse Bewegungen im Mittelalter. Untersuchungen über die geschichtlichen Zusammenhänge zwischen der Ketzerei, den Bettelorden und der religiösen Frauenbewegung im 12. und 13. Jh. und über die geschichtlichen Grundlagen der Deutschen Mystik, Berlin 1935, S. 476 ff. (Historische Studien, hrsg. v. Ebering,

E., Heft 267).

G e r h a r d I., Bischof v o n Cambrai

115

und griffen die Stellung der Priester an, indem sie nur das Leistungsprinzip anerkannten. Bei Bauern und Handwerkern fanden sie großen Anklang, wodurch eine Gefahr für die Herrschaft der Kirche entstand. Manichäische Gedanken drangen, wahrscheinlich im Zuge der Handelsstraßen, auch nach Arras, wo ein Italiener Gundolf als Leiter einer solchen Gruppe von Sektierern erscheint. Gerhard hat sich mit diesen auseinandergesetzt. Es ist ein Dokument erhalten, in dem er an einen Bischof R. über eine im Jahre 1025 in Arras abgehaltene Synode berichtet. Dieses stellt praktisch einen Traktat dar, denn Punkt für Punkt setzt sich unser Bischof hier mit den Ansichten der Sektierer auseinander, so daß wir dadurch eine wertvolle zeitgenössische Quelle über diese besitzen. Seinem Bericht zufolge war es ihm gelungen, die Manichäer zum Widerruf zu bewegen. Daß die Kirche auf dem Wege der Überzeugung gegen jene Sektierer vorging, stellt bereits eine Ausnahme dar, denn in Frankreich hatte man schon Ketzer hingerichtet. Trotzdem spricht der gleiche Geist auch aus einem etwa auf 1043 zu datierenden Schreiben des Bischofs Wazo von Lüttich, welcher auf eine Anfrage seines Amtsbruders Roger II. von Chälons antwortete, man sollte mit Ermahnungen und nicht mit Gewalt gegen die Ketzer vorgehen. In Chälons befand sich ein Zentrum der genannten Sektenbewegung, und aus diesem Grunde hat man gewiß den mit R. bezeichneten Adressaten des Gerhardschen Schreibens in Bischof Roger zu suchen, nicht in Reginar von Lüttich, wie heute meist angenommen wird. In Lüttich nämlich sind, anders als in Chälons, keine Sektierer nachzuweisen; außerdem war Bischof Reginar zu jener Zeit, als der Brief geschrieben wurde, eben erst in sein Amt gelangt. Mit Roger andererseits stand Gerhard in guten Beziehungen. Der Ansicht Sabbes, daß jenes Dokument erst in die Zeit Bischof Gerhards II. von Cambrai gehöre und um 1075 abgefaßt sei, wird man nicht folgen können, besonders da B. Töpfer in einer Arbeit über den Gottesfrieden in Flandern nachgewiesen hat 9 , daß Gerhard, als er einen solchen im Jahre 1041 erließ, in ihn Bestimmungen gegen die Ketzer aufnahm, welche man in keinem anderen Gottesfriedenserlaß antrifft. Das führt zu der Frage nach der Stellung Gerhards zur Treuga Dei, welche auf Grund der Darstellung in der Bischofschronik viel erörtert worden ist.- Die schweren Erschütterungen des kirchlichen Lebens infolge der sozialen Krise hatten zu einer umfassenden Friedensbewegung geführt. Das französische Königtum war außerstande, für die Hauptaufgabe des Staates im Innern, für Recht und Frieden im Lande, zu sorgen; nicht einmal innerhalb ihrer eigenen Domäne konnten die Könige die Friedenswahrung durchführen. Dieses Versagen der Zentralgewalt hat die Kirche veranlaßt, sich jener Aufgabe anzunehmen; sie hat Massenversammlungen einberufen, in denen die Aufrechterhaltung des Friedens beschworen wurde. Dabei fand sie bald die Unterstützung der Lehnsfürsten, welche erkannten, wie sehr ihre Macht sich steigern würde, wenn sie im Auftrag der Kirche die Friedenswahrung übernahmen: es wurde dies ein wichtiges Instrument zur Aufrichtung ihrer landesherrlichen Gewalt; an die Stelle des Königsfriedens trat der Landfrieden. Eben diese Tendenz aber war es, die bei dem Ubergreifen der Bewegung auf das Reichsgebiet Bedenken erregen mußte. Als 1036 die Bischöfe der Reimser Provinz Gerhard zur Teilnahme an einem Gottes9

Töpfer, B., D i e A n f ä n g e der Treuga D e i in Nordfrankreich, in: Z f G . 9 / 1 9 6 1 , S. 8 7 6 ff.

116

Ketzertum und Kirche

friedenserlaß aufforderten, lehnte dieser ab, weil er einen solchen als Eingriff in die Prärogative der Reichsgewalt betrachtete, deren Aufgabe die Friedenswahrung war und die im Gegensatz zu Frankreich auch durchaus imstande gewesen ist, sie durchzuführen. Man hat dieser Haltung Gerhards große Bedeutung zugemessen; vielleicht aber hat der Verfasser der Bischofschronik, ein wütender Gegner französischer Bräuche, auch den Gegensatz hier zu stark betont. Im Jahre 1041 entschloß sich Gerhard, wie wir schon wissen, nämlich, angesichts der inneren Unruhen in Cambrai selbst einen Gottesfrieden zu erlassen. Töpfer hält es für möglich, daß er hierdurch in Konflikt mit Heinrich III. geriet, weil dieser die Gottesfriedensbewegung ausschließlich unter seiner Autorität durchführen wollte. Es entsprach der Haltung Gerhards, daß er im Geiste der Politik Heinrichs II. die Lösung der kirchlichen Angelegenheiten im Zusammenwirken zwischen Staat und Kirche zu erreichen suchte. Aber er mußte große Enttäuschungen erleben, denn die ersten Salier sind ganz andere Wege gegangen als der letzte Kaiser aus sächsischem Geschlecht. Schon bei der Wahl Konrads II. geriet er in eine schwierige Lage. Die lothringischen und rheinischen Großen waren Anhänger des Gegenkandidaten, des jüngeren Konrad. Wenn auch die Bischofschronik betont, daß Gerhard sich absichtlich zurückgehalten habe, so ist dies schon wegen seiner Familienbeziehungen wenig wahrscheinlich. Jedenfalls war er der letzte lothringische Bischof, welcher Konrad II. anerkannte. Jedoch waren es schwerlich nur persönliche Gründe, die Konrad und dessen Sohn Heinrich III. veranlaßten, ihm keine politischen Aufgaben mehr anzuvertrauen. Die Gleichgültigkeit des ersteren in kirchlichen Fragen, seine Unbekümmertheit in der Besetzung der Bischofsstellen entsprachen ebensowenig den Auffassungen Gerhards wie der Versuch Heinrichs III., als letzte Instanz kirchliche Angelegenheiten zu entscheiden - die Absetzung der drei Päpste in Sutri vom Jahre 1046 wurde überhaupt im Westen sehr übel aufgenommen. Zwar hat unser Bischof auch weiterhin seine Verpflichtungen dem Reich gegenüber getreulich zu erfüllen versucht, aber es wurde immer deutlicher, daß er nicht mehr auf wirksame Unterstützung durch die Reichsgewalt rechnen konnte. Herzog Gottfrieds Tod im Jahre 1023 und der Verzicht seines Bruders Hermann, der in das Kloster St. Vannes eintrat, auf seine weltliche Stellung haben ihn seiner besten Stützen beraubt. Sein dritter Bruder Gozelo, von 1023 bis 1044 Herzog von Lothringen, hat eine sehr viel selbständigere Haltung eingenommen und sich um die Angelegenheiten von Cambrai wenig gekümmert. Dadurch ist Gerhard dort selbst in schwere Bedrängnis geraten. Der Verfasser der Bischofschronik hat diesen inneren Unruhen eine sehr eingehende Schilderung gewidmet. Nachdem Heinrich II. 1007 dem Bischof Erluin die Gaugrafschaft in Cambrai übertragen hatte, trat an die Stelle des Grafen der Kastellan von Cambrai, welcher, gestützt auf seine militärischen Vasallen, die politische Gewalt in der Stadt und in der Grafschaft an sich zu reißen suchte. Demgegenüber konnte der Bischof sich schwer behaupten, da er über keine größere militärische Macht verfügte und auch wenig geneigt war, zu kriegerischen Mitteln zu greifen. So kam es wegen der Anmaßungen des Kastellans immer wieder zu Verhandlungen, und der Verfasser der Bischofschronik schildert, wie jener auch die feierlichsten Versprechungen gebrochen hat. Dabei fand er stets erneut Unterstützung im Westen, vor allem durch den Grafen von Flandern, welcher diese Gelegenheit benutzte, um sich in die Angelegen-

117

Gerhard I., Bischof von Cambrai

heitcn von Cambrai einzumischen. W i e weit der gegenseitige H a ß ging, zeigt das Verhalten Gerhards, als 1 0 4 1 der Kastellan W a l t e r ermordet w u r d e : er verweigerte diesem das kirchliche Begräbnis, weil W a l t e r exkommuniziert gewesen war. Jedoch mußte er auf D r ä n g e n der Vasallen W a l t e r s sowie auch des Erzbischofs von Reims nachgeben. D e r spätere V o g t J o h a n n , welcher bereits in Arras eine bedeutende Stellung einnahm, hat unseren Bischof noch schärfer bedrängt und ihn gezwungen, seine Burggrafenwürde anzuerkennen. E s zeigt sich damit deutlich, wie isoliert G e r h a r d nunmehr dastand. So finden wir ihn gegen E n d e seines L e b e n s tief enttäuscht von dem nicht zu brechenden W i d e r s t a n d seiner Vasallen, mehr aber noch von der U n f r e u n d lichkeit und kalten Ablehnung, die er bei Heinrich I I I . fand, dem er doch fast als erster gehuldigt hatte. A m E n d e der Bischofschronik steht ein Schreiben, das er 1 0 4 2 an den K ö n i g richtete; es ist ein erschütterndes Zeugnis seiner T r a u e r und sogar seiner Erbitterung über dessen Verhalten gegen ihn. E r schreibt: „Triginta

quo in nostra urbe inter pagensium

nostrorum

gladios

vivimus",

annos

dueimus,

und er sagt Hein-

rich I I I . ein böses E n d e voraus. D i e letzten J a h r e seines Regiments waren düster und unerfreulich. A m 14. M ä r z 1 0 5 1 ist er nach langer K r a n k h e i t hochbetagt gestorben. Immerhin hat er trotz aller Schwierigkeiten seine Stellung behauptet, und er konnte seinem Lieblingsschüler und Nachfolger Lietbert ein E r b e hinterlassen, welches diesem erlaubte, auch die weltliche M a c h t Cambrais wieder aufzurichten. G r o ß e Verdienste hat er sich um die literarische Entwicklung in Cambrai erworben. 1 0 D e r V e r f a s s e r der Bischofschronik hat eine größere Anzahl seiner B r i e f e überliefert, und Schieffer hat bemerkt, d a ß diese einen stilistisch-literarischen

Ehrgeiz

zeigen. Aus ihnen ist eine eifrige theologische und juristische T ä t i g k e i t G e r h a r d s abzulesen, wobei dessen konservative Gesinnung deutlich hervortritt. Vermutlich enthält die Chronik nur eine Auswahl seiner Briefe, denn nicht nur der Bericht über die Synode von Arras, sondern auch die Akten einer anderen Provinzialsynode sind gesondert überliefert. Höchst bedeutungsvoll in bezug auf die Förderung der Literatur ist der Auftrag, welchen er dem Verfasser der Gesta

episcoporum

Cameracensium

erteilt h a t ; mit diesen wurde eine lange andauernde Periode der Geschichtsschreibung in Cambrai eröffnet. Sie sind ein eigenartiges W e r k , das ganz im Gegensatz zu der etwa gleichzeitigen Bischofschronik von Lüttich steht. Höchst persönlich berichtend, ist der Verfasser von leidenschaftlichem H a ß gegen die französischen Bräuche und überhaupt gegen die Franzosen erfüllt. W i e er selbst betont, hat er manche I n f o r m a tionen von G e r h a r d erhalten; ob er jedoch dessen Ansichten wirklich immer korrekt wiedergegeben hat, ist nicht sicher. D i e Persönlichkeit G e r h a r d s kennen wir in erster Linie durch ihn, aber bei seiner subjektiven A r t ist es fraglich, ob sein B i l d von diesem in allen K o n t u r e n stimmt. Bemerkenswert ist der E i n f l u ß der romanischen Sprache auf sein L a t e i n ; zweifellos w a r er W a l l o n e . B e v o r er die G e s t a abfaßte, hatte er ebenfalls auf Anweisung von G e r h a r d - eine historisch allerdings wertlose B i o g r a p h i e des Bischofs Gaugerich von Cambrai (um 5 9 0 - 6 2 7 ) geschrieben; in seinem W e r k wird 10

Sproemberg, H.,

in:

Wattenbacb, W. / Holtzmann, R.,

Deutschlands

Geschichtsquellen

im

Mittelalter. Deutsche Kaiserzeit, B d . 1 : D a s Zeitalter des Ottonischen Staates, Berlin 1 9 3 8 ff. [jetzt: 3. Aufl., D i e Zeit der Sachsen und Salier, Neuausgabe, besorgt von Weimar 1967], 9

Sproemberg

Schmale, F.-].,

B d . 1,

118

Ketzertum und Kirche

außerdem eine von Gerhard inspirierte Arbeit Fulberts über den Bischof Autbert von Cambrai erwähnt. In den Rahmen der kulturellen Tätigkeit unseres Bischofs gehören auch die großen Kirchenbauten, die unter ihm entstanden. Schon bevor er sein Amt erhielt, hat er in Florennes große Bauten ausführen lassen. Bewunderung erregte der Neubau der Kathedrale von Cambrai ( 1 0 2 3 - 1 0 3 0 ) , von dem aber leider nichts erhalten geblieben ist. E s ist nicht leicht, die unzweifelhaft bedeutende Persönlichkeit Bischof Gerhards richtig zu würdigen. Siegfried Hirsch hat bemerkt: „ E r kann für einen der vollkommensten Repräsentanten der Regierungsform gelten, in deren Ideal Heinrich II. lebte". Dies ist sicher zutreffend, jedoch bleibt hier die lothringische Komponente außerhalb der Betrachtung. Tradition und politische Stellung knüpften Gerhard eng an das Imperium; aber er gehörte, wie dargelegt, einer bestimmten, kulturell stark unter westlichem Einfluß stehenden lothringischen Gruppierung an. Sein Ausgangspunkt war Reims, und die dort herrschenden reichskirchlichen Auffassungen waren für ihn wie für seine Gesinnungsfreunde, welche ebenfalls mit Reims in Verbindung standen, prägend. Ihr Kreis repräsentiert ein Reichsrornanentum, das das Imperium nicht als eine nationale, sondern als eine universale Institution empfand. In Gerhards eifriger Förderung seiner Familienstiftung in Florennes zeigt sich die Liebe zu seiner engeren Heimat, dem Hennegau. Religiöser Eifer und ein tiefes Gefühl für seine kirchliche Würde zeichneten unseren Bischof aus. D i e Wendung in der Kirchenpolitik unter den Saliern hat ihn ebenso wie Wazo von Lüttich in die Opposition getrieben. Jene Gruppe der Reichsbischöfe, welcher beide angehörten, war für das enge Zusammenwirken von Kirche und Imperium, und das Bischofsamt nahm nach ihrer Überzeugung eine zentrale Stellung in der Kirche ein. Wenn sie auch die Übergriffe Heinrichs III. mißbilligte, so führte doch von ihrer Überzeugung kein Weg zu den Proklamationen Gregors V I I . über die alleinige Gewalt des Papstes. Gerhard lebte in dem Gedanken der Harmonie zwischen Kirche und Staat, und es ist tragisch für ihn geworden, daß er den heraufziehenden Konflikt zwischen diesen beiden Gewalten nicht erkannte und auch nicht erkennen wollte, da er ihn für verderblich hielt. E r war nicht wie sein Amtsbruder Wazo eine Persönlichkeit von großer innerer Geschlossenheit; viel sensibler veranlagt, hat er unter den schwierigen Verhältnissen sehr gelitten. Aber er hat sich mit voller Hingabe und steter Opferbereitschaft seinem hohen Amte gewidmet und auch seine Verpflichtungen gegen das Imperium nach besten Kräften zu erfüllen versucht. So ist er eine Persönlichkeit, die in der Geschichte seiner Zeit und seines Landes einen ehrenvollen Platz verdient.

DIE G R Ü N D U N G DES BISTUMS ARRAS IM JAHRE

1094*

D i e kirchliche A b t r e n n u n g des Gebietes v o n A r r a s v o n dem Bistum C a m b r a i ist o f t behandelt w o r d e n , denn dies w a r ein Ereignis v o n erheblicher politischer B e d e u tung. 1 Es k o m m t hinzu, d a ß die Q u e l l e n l a g e f ü r die D a r s t e l l u n g recht günstig ist, d a man in A r r a s aus verständlichen G r ü n d e n so w e i t w i e möglich die U n t e r l a g e n f ü r die G r ü n d u n g des Bistums gesammelt hat und diese S a m m l u n g auch erhalten ist. In Cambrai bieten die erzählenden Q u e l l e n ihrerseits reiches M a t e r i a l . 2 W e n n t r o t z d e m jene Frage hier noch einmal behandelt w i r d , so geschieht dies unter dem Gesichtspunkt der westeuropäischen Geschichte und zur weiteren K l ä r u n g d e r nicht uninteressanten kirchenrechtlichen Fragen. * Standen en Landen 24/1962, S. 1 - 5 0 . 1 Grundlegend ist die Darstellung von Cauchie, A., La querelle des investitures dans les diocèses de Liège et de Cambrai, Bd. 2, Löwen 1891, S. 121 fi.; danach de Aioreau, E., Histoire de l'Eglise en Belgique, Bd. 2 : La formation de l'Eglise médiévale, Bruxelles 1945, S. 93 ff. Die ältere Arbeit von Höres, E., Das Bistum Cambrai, seine kirchlichen und politischen Beziehungen zu Deutschland, Frankreich und Flandern und die Entwicklung der Kommune von Cambrai von 1092-1191, Leipzig 1882, ist demgegenüber ausschließlich vom kaiserlichen Standpunkt aus geschrieben. Vgl. ferner Reinecke, W., Geschichte der Stadt Cambrai bis zur Erteilung der lex Godefridi, Marburg 1896, S. 232 ff.; Reese, W., Die Niederlande und das deutsche Rcich, Bd. 1; Die Niederlande im Reich von den Anfängen bis ins 14. Jh., Berlin 1941, S. 91 f. (Forschungen des deutschen Auslandswissenschaftlichen Instituts, hrsg. v. Six, F. A.); auch Verlinden, Ch., Robert le Frison, Antwerpen/Paris 1935, S. 127 ff.; Lancelin, Ch., Histoire du diocèse de Cambrai, Valenciennes 1946; Lestocquoy, ]., Le diocèse d'Arras, Arras 1949, sowie die Ausführungen von Becker, A., Studien zum Investiturproblem in Frankreich. Papsttum, Königtum und Episkopat im Zeitalter der gregorianischen Kirchenreform (1049 bis 1119), Saarbrücken 1955, S. 81 ff., der allerdings die Vorgänge seinem Thema entsprechend vom Standpunkt des französischen Königtums aus betrachtet. '' Die in Arras gesammelten Briefe und Akten sind am besten publiziert durch Dom Brial in: R. H. F., Bd. XIV, S. 738 ff. ; sie wurden nachgedruckt von Migne, Bd. 162, Sp. 615 ff. Die Autorschaft des ersten Bischofs von Arras, Lambert, ist aus inneren Gründen wahrscheinlich ; vielleicht sind die zum Schluß angehängten Urkunden Paschalis II. von anderer Hand, da sie ziemlich nahe an das Todesjahr Lamberts (1115) heranreichen. Dom Brial hat die Sammlung unter dem Titel „De Atrebatensi cpiscopatu ab Urbano II restituto" abgedruckt. Neue Papsturkunden oder Briefe sind inzwischen nicht entdeckt worden; vgl. Ramackers, ]., Papsturkunden in Frankreich, Neue Folge, Bd. 3 : Artois, Göttingen 1940, S. 5, Anm. 1 ; S. 6 f. und 16 f. (Abhandlungen der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, phil.-hist. Klasse, 3. Folge, nr. 23). In Cambrai gibt es begreiflicherweise keine Urkundensammlung, denn die Papsterlasse 9 *

120

Ketzertum und Kirche

D e n A n l a ß gab der T o d des B i s c h o f s G e r h a r d I I . von C a m b r a i am 12. A u g u s t 1 0 9 2 , der l a n g d a u e r n d e Streitigkeiten um seine N a c h f o l g e h e r v o r g e r u f e n hat. B e f i n d e n w i r uns doch auf einem H ö h e p u n k t der A u s e i n a n d e r s e t z u n g zwischen K a i s e r und P a p s t in der I n v e s t i t u r f r a g e . E s w a r d a h e r selbstverständlich, d a ß d i e B e s e t z u n g eines R e i c h s bistums von b e i d e n Seiten zu beeinflussen versucht w u r d e und dies, w i e in so vielen F ä l l e n , zu zwei K a n d i d a t e n führte. In j e n e m A u g e n b l i c k hat der K l e r u s v o n A r r a s , an der Spitze die K a n o n i k e r des Stiftes St. M a r i e n , sich unter U m g e h u n g a l l e r v o r g e schriebenen Instanzen an P a p s t U r b a n I I . g e w e n d e t und die E i n s e t z u n g eines eigenen B i s c h o f s in A r r a s g e f o r d e r t . E s ist nun m e r k w ü r d i g , d a ß dieses g r u n d l e g e n d e Schreiben in der S a m m l u n g von A r r a s nur in k u r z e m Auszug ü b e r l i e f e r t ist, der

über

e t w a i g e V o r v e r h a n d l u n g e n k e i n e r l e i A u s k u n f t gibt.' 1 M a n w i r d v e r m u t e n d ü r f e n , d a ß solches nicht o h n e G r u n d geschehen ist, nämlich um d i e H i n t e r g r ü n d e des e r w ä h n t e n V o r g e h e n s zu verschleiern. U r b a n I I . hat bereits unter dem 2. D e z e m b e r 1 0 9 2 einen praktisch endgültigen E n t s c h e i d gefällt, i n d e m er e r k l ä r t e , d a ß d i e K i r c h e v o n A r r a s einst eine der h e r v o r r a g e n d s t e n Suffragankirchen der E r z d i ö z e s e R e i m s gewesen sei, einen eigenen B i s c h o f und eine eigene D i ö z e s e besessen h a b e , w i e aus alten

Doku-

menten h e r v o r g e h e . D a h e r b e s t i m m e er aus apostolischer V o l l m a c h t , d a ß d i e K i r c h e v o n A r r a s einen eigenen B i s c h o f w ä h l e n und d i e s e r durch den E r z b i s c h o f

geweiht

w e r d e n solle/' H i e r erscheint das e n t s c h e i d e n d e kirchenrechtliche P r o b l e m : die E r r i c h tung allein durch päpstliche V e r f ü g u n g m i t der B e g r ü n d u n g , d a ß A r r a s einstmals ein gesondertes B i s t u m gewesen sei. 5 E h e w i r auf diese R e c h t s f r a g e eingehen, m u ß d a r a u f hingewiesen w e r d e n , d a ß eine solche V e r f ü g u n g einen tiefen E i n g r i f f in d i e kirchliche R e c h t s o r d n u n g darstellt. D e n n abgesehen v o n der frühmittelalterlichen

Missionszeit

hat A r r a s stets zur D i ö z e s e C a m b r a i gehört. S e l b s t noch als Philipp I I . 1 5 5 9 d i e bisherige V e r w a l t u n g s e i n t e i l u n g der K i r c h e in den N i e d e r l a n d e n neu o r d n e t e , h a t es v i e l e P r o t e s t e gegeben, und i n s b e s o n d e r e der B i s c h o f v o n Lüttich h a t i m m e r w i e der

Einspruch

und

:1

5 (l

das

erhoben.8

Gebiet

von

Die

Arras

Diözese hatte

seit

Cambrai der

war

ebenfalls

frühmittelalterlichen

sehr Zeit

umfangreich, an

Bewoh-

richteten sich alle gegen dieses. Dagegen liegen dort zeitgenössische Berichte aus erzählenden Quellen vor, vor allem eine Lebensbeschreibung Walchers, welcher für Cambrai den Kampf gegen Arras geführt hat, und zwar als Anhänger Heinrichs I V . : Gesta Galchen episcopi Cameracensis, ed. G. Waitz in: MG. SS. XIV, S. 186 ff. Vgl. über diese Quellen Wattenbach, W. / Holtzmann, R., Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter. Deutsche Kaiserzeit, Bd. 1, Berlin 1943, [jetzt: 3. Aufl., Die Zeit der Sachsen und Salier, Neuausgabe, besorgt von Schmale, F.-]., Bd. 1, Weimar 1967], S. 752 ff. Vgl. R. H. F., Bd. XIV, S. 738, Abschnitt A. „Atrebatensis ecclesia, una ex nobilioribus ecclesiis comprovincialibus Remensis metropolis . . . olim principales sedes episcopatus fuit, proprium pontificem habuit, suam diocesim et caetera pontificalia jura firmis antiquitale rationum instrumentis obtinuit. Volumus itaque et apostolica auetoritate praeeipimus ut.. . cardinalem episcopum vobis et ecclesiae vestrae utilem eligere, et electum per manum metropolitani vestri consecrare, et ecclesiae vestrae incardinare studeatis." Ebenda, Abschnitt C. Vgl. unten S. 140 ff. Vgl. Harsin, P., Études critiques sur l'histoire de la principauté de Liège 1 4 7 7 - 1 7 9 5 , Bd. 3, Lüttich 1959, S. 155 ff., und hier unten S. 153.

D i e G r ü n d u n g des B i s t u m s A r r a s

121

nern so sehr zugenommen, daß an sich die Einrichtung einer Diözese Arras sich rechtfertigen ließ. Jedoch die ebenso große Diözese Lüttich hat man ruhig weiterbestehen lassen. So ist denn kein Zweifel, daß allgemeine politische Erwägungen dazu geführt haben, in diesem Augenblick die Trennung von Arras und Cambrai vorzunehmen. Der Bischof Gerhard II. (1075-1092) hatte zwar die Investitur von Heinrich IV. erhalten, dann aber später noch von Gregor VII. die Anerkennung gefunden. D e Moreau ist der Ansicht, er wäre ein eifriger Anhänger Gregors VII. und seiner Nachfolger gewesen; aber andererseits ist es ihm doch gelungen, in seiner Diözese den Frieden aufrechtzuerhalten. D i e Päpste haben sich gehütet, aus diesem Grunde in die Angelegenheiten von Cambrai einzugreifen, und daher hätte vorher ein solches Unternehmen auf die Unterstützung der Kurie nicht rechnen können.' Urban II., der einem französischen Adelsgeschlecht aus der Champagne entstammte und lange Zeit Domherr von Reims gewesen war, hatte ein persönliches Interesse für die französischen Verhältnisse und für Reims. D a s gregorianische Papsttum hatte überhaupt nur den Kampf durchhalten können, weil es in Frankreich immer wieder eine Zuflucht fand und es vor allem die kirchlichen Reformkreise Frankreichs waren, durch die seine Reform Antrieb und Förderung erhalten hat. 8 Urban, der 1088-1099 regierte, war eine ganz andere Persönlichkeit als sein Vorgänger Gregor VI.: weniger fanatisch und kein so starrer Dogmatiker wie dieser. Vielmehr konnte er, wenn er es für richtig hielt, auch sehr erhebliche Konzessionen machen, ohne aber sein Ziel, die Allgewalt des Papsttums, jemals aus den Augen zu verlieren/ 1 In dem Kampf mit Heinrich IV. hatte er ein schweres Erbe von Gregor VII. übernommen, der äußerlich gescheitert war. So geriet auch er zunächst in politische Bedrängnis, und in den Jahren 1091/1092 war seine Situation kritisch. Erst gegen Ende 1092 konnte er in Italien Erfolge gegen Heinrich IV. erzielen. Zu diesem Zeitpunkt kam ihm die Frage einer Neuwahl in Cambrai gelegen, denn er hatte von Anfang an immer auf der Lauer gelegen, der kaiserlichen Partei einen Schlag zu versetzen - man erinnere sich nur der merkwürdigen Ehestiftung zwischen dem jungen Weif von Bayern und der Gräfin Mathilde. Indessen auch von seiten des Reichs war dem Problem Arras-Cambrai vom Beginn der Eingliederung Lothringens im Jahre 925 an Aufmerksamkeit geschenkt worden. D i e Abhängigkeit der so ausgedehnten Diözese Cambrai von der Metropole Reims war nicht nur politisch gefährlich, sondern, und das war zunächst die Hauptsache, erhielt den geistigen Einfluß des Westens auf Lothringen aufrecht. Die Reichsgewalt betrachtete es als ihre Aufgabe, Lothringen, das bisher ganz unter westfränkischem Einfluß gestanden hatte, auch innerlich an das Reich anzuschließen. So bildete es einen Teil der Westpolitik Ottos des Großen, seinerseits auf eine Besetzung des Reimser Erzbistums einzuwirken und Männer dorthin zu bringen, die dem Reichsgedanken nicht feindlich waren. D a s ist ihm auch mit Hilfe seines Bruders Brun von Köln während 7

V g l . de Moreau,

E., a. a. O . , B d . 2, S. 7 2 ff., u n d Pirenne,

H.,

H i s t o i r e de B e l g i q u e , B d . 1,

5. A u f l . , B r u x e l l e s 1 9 2 9 , S. 9 5 . 8

V g l . Haller,

]., D a s P a p s t t u m . I d e e u n d Wirklichkeit, B d . 2 : D e r A u f b a u , 2. A u f l . , Stuttgart

1 9 5 1 , S. 4 3 4 ff. n

V g l . e b e n d a , S. 4 7 0 ff.

122

Ketzertum und Kirche

seiner Zeit gelungen. 10 Eine solche Politik schloß natürlich die unmittelbare Rücksicht auf das Verhältnis von Cambrai zu Arras nicht aus. An dessen Weiterentwicklung kann man recht gut die Einwirkung des Reiches auf den Westen ablesen. Bald ging der Einfluß auf Reims verloren. Dies war zunächst noch nicht so gefährlich für die Reichsinteresscn, da gerade die Tätigkeit Bruns zu einer Verselbständigung der lothringischen Kirche gegenüber dem Westen geführt hatte. Es blieb aber die Abhängigkeit Cambrais von Reims. In dieser Beziehung gab es einige Versuche, auch hierin eine Änderung herbeizuführen. Als im Jahre 993 eine Neubesetzung von Cambrai nötig wurde, hat Otto III. nicht nur einen ihm ergebenen Anhänger, Erluin, zum Bischof bestimmt, sondern auch dessen Weihe durch seinen Vetter, den Papst Gregor V., in Rom vornehmen lassen, wobei der ordnungsgemäße Konsekrator, der Erzbischof von Reims, übergangen wurde. 1 1 Ferner hat Otto III. durch die Übertragung der Grafschaftsrechte im Gebiet von Cambrai die Stellung des Bischofs außerordentlich verstärkt. D e Moreau nennt Erluin den ersten Fürstbischof von Cambrai. 12 D e r formale G r u n d für die Maßnahme Ottos bei der Weihe durch den Papst war der Streit um das Erzbistum Reims zwischen Gerbert und Arnulf. Aber der Charakter dieses Vorgehens ist unverkennbar. Seine Tendenz wurde noch sichtbarer, als bei der Neuordnung der Machtverhältnisse in Niederlothringen Heinrich II. wieder einen ihm ergebenen Mann, Gerhard I., in Cambrai einsetzte. Bei dieser Gelegenheit wünschte er dessen Weihe durch einen päpstlichen Legaten, was wiederum den Versuch einer Durchbrechung der Beziehung zu Reims bedeutete. Aber der neue Bischof lehnte dies ab und ließ sich in Reims weihen. 13 Heinrich II. war zu klug und seine Situation in Lothringen noch zu unsicher, um es auf eine Machtprobe ankommen zu lassen und die Trennung Cambrais von Reims zu erzwingen. Hier zeigte sich auch, d a ß inzwischen die Konsolidierung der Macht der capetingischen Dynastie in Frankreich Fortschritte gemacht hatte. D i e Reichsgewalt war bereits in dieDefensive gedrängt worden. D a h e r ist von da ab von Reichs wegen kein Versuch mehr gemacht worden, eine Lösung des Problems Cambrai-Arras im Sinne einer Lostrennung von Reims zu suchen. D i e Besetzung des Bistums Cambrai ist zwar bis 1092 durchaus im Sinne des Reiches erfolgt, aber sogar in Cambrai selbst mußte man sich gegen das Eingreifen vom Westen verteidigen, wobei es allerdings nicht um den König von Frankreich, wohl aber um einen französischen Lehnsfürsten, den Grafen von Flandern, gegangen ist. Für diese Frage ist nun auch die grundsätzliche Haltung des capetingischen Königtums gegenüber den Bischöfen von Belang. D a s karolingische Königtum hatte fast bis 10

Vgl. Sproemberg, Wiederabdruck

H., D i e lothringische Politik O t t o s des G r o ß e n , in: [RhVjbll. in:]

ders., Beiträge zur belgisch-niederländischen

Geschichte,

S. 162 ff. (Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte, hrsg. v. Sproemberg, 11

Uhlirz,

11/1941;

Berlin

1959,

H., u . a . , Bd. 3).

M„ Jbb. des Deutschen Reiches unter O t t o II. und O t t o III., Bd. 2 : O t t o III. (983

bis 1002), Berlin 1954, S. 191 f. (Jbb.). 12

Vgl. de Moreau, E„ a. a. O., Bd. 2, S. 15.

13

Vgl. Pfister,

Ch., E t u d e s sur le règne de Robert le Pieux ( 9 9 6 - 1 0 3 1 ) , Paris 1885, S. 5 2 ;

Schieffer, Tb., Ein deutscher Bischof des 11. Jahrhunderts : G e r h a r d I. von Cambrai (1012 bis 1051), i n : D A . 1/1937, S. 3 3 3 ; Hirsch, Bd. 2, Berlin 1864, S. 3 2 2 ; de Moreau,

S., Jbb. des Deutschen Reichs unter Heinrich II.,

E„ a. a. O., Bd. 2, S. 16.

123

D i e G r ü n d u n g des Bistums A r r a s

zuletzt eine ziemlich unumschränkte Macht über die Kirche ausgeübt, und das Recht der Besetzung der Bischofsstühle war ihm nicht grundsätzlich bestritten worden, jedoch die feudale Anarchie in Westfranken hatte dazu geführt, daß die Lehnsfürsten zunächst die Vogteigewalt über die großen Abteien und dann auch über die Bistümer in ihrem Machtbereich mehr und mehr erlangten. Immerhin hat auch das capetingische Königtum grundsätzlich sein Recht nicht aufgegeben und erhebliche Reste jener Macht über die Kirche behauptet. Dabei ist folgendes zu bemerken : auch im Westreich hat es Ansätze gegeben, den Bischöfen weitgehend Hoheitsrechte zu übertragen sogar die Verfügung über die Grafschaften. Dieser Prozeß ist durch den Verfall der Zentralgewalt abgeschnitten worden, während er bekanntlich im Osten in der späteren Ottonenzeit und unter den Saliern erst in größerem Umfange durch die Zentralgewalt vorgenommen wurde. Gerade nun die Bistümer, die bereits Grafschaftsrechte hatten, wurden in erster Linie zum Anschluß an das Königtum gezwungen, um ihre Selbständigkeit in gewissen Grenzen gegenüber den Lehnsfürsten zu behaupten. Die Angliederung dieser Herrschaftsbezirke der Bischöfe an die Domäne des Königs ist von großer Bedeutung für den Aufbau der inneren Machtstellung des französischen Königtums geworden. Unter diesem Gesichtspunkt ist neuerdings von A. Becker dessen Politik gegenüber den Bischöfen neu untersucht und dabei die Bedeutung der sogenannten Kronbischöfe hervorgehoben worden. 14 Immerhin konnte gegen Ende des 11. Jh. das Königtum noch über ein Drittel der Bischofssitze verfügen: über etwa 26 von insgesamt 11.10 Es ist bezeichnend, daß gerade Reims zur Krondomäne gekommen ist. Der dortige Erzbischof hatte Grafenrechte seit 940; Reims war Krönungsstadt und außerdem ein königlicher Stützpunkt mitten in der großen Grafschaft Champagne, die ein gefährlicher Nachbar der königlichen Domäne war. 10 Nun wird das Regiment des Königs Philipp I. (1060-1108) von den französischen Historikern im allgemeinen ungünstig beurteilt. Doch verkennt man nicht, daß er trotz aller menschlichen Schwächen unter sehr schwierigen Verhältnissen die königliche Macht wenigstens behaupten konnte und daß er die königlichen Rechte gegenüber dem Papsttum nicht aufgegeben hat. 1 ' Es kam ihm zugute, daß der Kampf des Papsttums 14

necker,

lo

V g l . Holtzmann,

A., a. a. O., S. 1 9 f. u n d 2 1 £. R.,

Französische Verfassungsgeschichte v o n der M i t t e des neunten J a h r h u n -

derts bis zur R e v o l u t i o n , München und Berlin 1 9 1 0 , S. 1 4 5 (Handbuch der mittelalterlichen und neueren Geschichte, hrsg. v . Below,

G. v., und Meinecke,

F., A b t . I I I : V e r f a s s u n g , Recht,

Wirtschaft). V g l . Vercauteren,

F., É t u d e sur les civitates de la B e l g i q u e Seconde, B r u x e l l e s 1 9 3 4 , S. 8 5 fï.

( A c a d é m i e r o y a l e de Belgique, Classe des lettres et des sciences morales et politiques,

Mé-

moires, 2 e série, t. X X X I I I ) . 17

V g l . Luchaire,

A., i n : Lavisse,

FL., Histoire de F r a n c e depuis les origines jusqu'à la r é v o l u t i o n ,

B d . 2, Teil 2 : Les Premiers Capétiens Philipp u r t e i l t ; Monod,

(987-1137),

S. 1 6 8 ,

der vielleicht zu scharf

über

G., Essai sur les rapports de Pascal II a v e c P h i l ' p p e I e r , Paris 1 9 0 7 .

E i n e a n d e r e A u f f a s s u n g v e r t r i t t Petit-Dutaillis,

Ch.,

A n g l e t e r r e , Paris 1 9 5 0 , S. 9 0 ff. V g l . f e r n e r Perroy, Français, Paris 1 9 5 0 , S. 1 0 0 , s o w i e eingehend Becker,

-

L a monarchie f é o d a l e en F r a n c e et en E.,

Histoire de F r a n c e pour tous les

A., a. a. O . , S. 1 9 ff.

124

Ketzertum und Kirche

gegen die weltliche Verfügungsgewalt über die Bistümer auf einen derartigen Widerstand im Reich stieß, daß man schon aus taktischen Gründen gegenüber England und Frankreich große Rücksicht üben mußte. In Frankreich außerdem wurde die Macht der Lehnsfürsten über die Bistümer viel drückender empfunden als die Obergewalt des Königtums; die französischen Bischöfe zeigten eine natürliche Tendenz, sich an das Königtum anzuschließen. Gerade zu diesem Zeitpunkt (1092) verstieß Philipp seine Gemahlin Berta und entführte die Gemahlin des Grafen von Anjou, Bertrada. Dieser Skandal hatte nicht nur politische Folgen, weil Berta die Stieftochter des Grafen von Flandern war, sondern er hat auch die Kirche veranlaßt, den König zu exkommunizieren. Zwar fand Philipp eine gewisse Unterstützung auch in dieser Schwierigkeit bei den Kronbischöfen, und sogar die französischen Lehnsfürsten haben sich geweigert, gegen ihn vorzugehen. Aber seine politische Handlungsfreiheit war praktisch eingeschränkt. Dies zeigte sich bei der Kreuzzugsbewegung, welche besonders in Frankreich in dieser Zeit durch Urban II. ins Leben gerufen wurde und bei der der französische König eine rein passive Rolle spielte, was allerdings vielleicht auch seinem Charakter entsprach. 18 Daher hat bereits Cauchie dargelegt, daß die Behauptung des späteren Bischofs Lambert von Arras, Philipp habe von Anfang an die Trennung von Arras unterstützt, wenig Glauben verdient. Wenn jener später an den päpstlichen Gegenbischof Odo von Cambrai schrieb, daß der König von Frankreich sich aktiv für ihn eingesetzt habe, so traf das für die Anfangszeit bestimmt nicht zu.1'1 Der neugewählte Bischof von Arras stand vielmehr auf seiten Urbans II. und konnte gar keine andere Haltung einnehmen. Daher hat er der Exkommunikation Philipps zugestimmt, und es versteht sich, daß der König dies persönlich übelgenommen hat. So hat denn ein Vasall Philipps, als sich Lambert zu dem Kreuzzugskonzil von Clermont 1095 begab, diesen gefangengenommen; erst auf energisches Eingreifen Urbans II. wurde er wieder befreit. 20 Indessen die Behauptung Lamberts ist nicht ganz unwahr, denn es ist durchaus verständlich, daß der französische König ein Interesse daran hatte, das in seinem Reich liegende Arras von der kirchlichen Abhängigkeit eines Reichsbistums zu lösen, und wir werden sehen, daß Philipps Sohn Ludwig VI. versucht hat, Arras zu einem Kronbistum zu machen. 21 Wenn also in dieser entscheidenden Phase das französische Königtum sich passiv verhalten mußte, bedeutet das nicht etwa eine Parteinahme für Cambrai. Becker ist der Ansicht, daß Philipp I. sich

18

V g l . Luchaire,

A„ bei Lavisse,

1!)

Schon Cauchie,

A., wies auf die Nachricht des Chronicon S. A n d r e a e castri Cameracesii Hb. III,

c. 1 7 , ed. L. Francorum episcopum

Bethmann

precibus habere

in: M G .

exoratus, dato

E„ a. a. O., S. 1 7 3 f., und Haller,

privilegio

SS. VII, S. 5 4 4 , hin, wonach Urban „. . . maxime

predictam

ecclesiam

constituit."

amodo

comitis

Roberti.

Atrebatum

esse dignoscitur";

. ., in cujus potestate

nr. 1 1 8 , i n : Migne, V g l . ebenda.

21

Vgl. unten S. 1 5 2 .

in saeculum

Atrebatum

et assensum

Philippi

aber es heißt zuvor „per erat";

Bd. 1 6 2 , Sp. 6 9 0 ; vgl. Cauchie,

w u r d e erst 1 1 0 5 Bischof von Cambrai. 20

et usque

regis

cardinalem

Ferner hat Lambert an Bischof O d o geschrieben,

d a ß die Trennung v o n A r r a s erfolgt sei „per licentiam de cujus regno

}., a. a. O., Bd. 2, S. 4 5 4 ff.

Francorum

consilium

et

regis, auxilium

Lamberti Atrebatensis episcopi epistola

A., a. a. O., Bd. 2, S. 1 2 3 , A n m . 1. O d o

125

D i e Gründung des Bistums A r r a s

anfangs für die Trennung von Cambrai und Arras interessiert habe, weil er hoffte, ein neues Kronbistum zu gewinnen; doch habe er sich, enttäuscht von dem Vorgehen Urbans II., bald zurückgezogen. Aber es ist bei der schwierigen Situation Philipps unwahrscheinlich, daß er sich an dieser Angelegenheit beteiligt hat, und der spätere Hinweis auf seine Zustimmung bedeutet offensichtlich nur den Versuch, die Aktion auch durch den König zu legitimieren. 22 In Frankreich jedoch gab es einen anderen politischen Machtfaktor, der unmittelbar an jener Trennung interessiert war und hierbei eine sehr aktive Rolle gespielt hat. Arras und das Artois gehörten zu den ältesten Zielen der flandrischen Expansion und waren auf jeden Fall seit 988 fest in der Hand des Grafen von Flandern. 23 W i e alle französischen Lehnsfürsten wollten auch diese sich den entscheidenden Einfluß auf die Kirche in ihrem Gebiet sichern, was notwendig war, um ihre fürstliche Gewalt zu konsolidieren. Zunächst konnten sie nicht daran denken, die Diözesanorganisation umzuändern, die hier noch auf der christlichen Mission im Gefolge der fränkischen Landnahme beruhte und infolgedessen mit den politischen Grenzen in keiner Weise übereinstimmte. Daher haben sie zunächst die großen Klöster, welche entweder sofort oder später zu Königsklöstern geworden waren, in ihre Gewalt gebracht. Als Laienäbte und später als Vögte haben sie über deren riesige Besitzungen verfügt und nicht zuletzt die in der karolingischen Zeit darauf angesetzten ritterlichen Vasallen unter ihr Kommando gezwungen. Die Panzerreiteraufgebote dieser großen Klöster bildeten einen sehr wichtigen militärischen Faktor. 2 ' 1 Für das Artois war von zentraler Bedeutung die große Abtei St. Vaast (S. Vedastus). Diese, die zuerst im 7. Jh. in den Quellen begegnet, hatte außerordentlich großen Besitz; das außerhalb der alten Römerstadt gebaute Kloster wurde in der Normannenzeit durch ein Kastell geschützt, und um dieses bildete sich eine Stadt, die unter der Herrschaft der Äbte stand. Die alte Römerstadt wurde zur Altstadt; ihre Mauern waren verfallen. In ihr befand sich die Kirche St. Marien, in welcher Vedastus ursprünglich wohl begraben gewesen ist. Dort wurde, ebenfalls noch im 7. Jh., ein Kanonikerstift eingerichtet, dessen Besitz aber sehr klein war und dessen Herrschaftsrechte sich nicht über die Klostermauern hinaus erstreckten; nur die Kleriker und die Hintersassen des Stiftes unterstanden seiner Gerichtsbarkeit. W i e Vercauteren richtig bemerkt, hat der dauernde Aufenthalt des Bischofs in Cambrai das Aufsteigen der Abtei St. Vaast zur Stadtherrschaft begünstigt und das Stift zur Ohnmacht verurteilt. 23 So ist denn die mittelalterliche Stadt Arras um das Kloster herum entstanden, und hier war der Abt Stadtherr. Die Neustadt hat sehr rasch wirtschaftliche Bedeutung erlangt; sie wurde auch eine beliebte Residenz der Grafen von Flandern. Diese haben die Vogteigewalt über St. Vaast ausgeübt, welche auch hier der Hauptstützpunkt ihrer Macht im Artois war. Gegen 22

Becker,

23

V g l . Vercauteren,

24

Vgl. im allgemeinen Voigt,

A., a. a. O., S. 81 f. F., a. a. O., S. 1 9 0 ff. K.,

D i e karolingische Klosterpolitik

und der Niedergang

des

westfränkischen Königtums. Laienäbte und Klosterinhaber, Stuttgart 1 9 1 7 , S. 2 4 6 ff. Für die flandrischen Verhältnisse ist wichtig V erbruggen,

]. F., Het leger en de v l o o t v a n de graven

v a n V i a a n d e r e n vanaf het ontstaan tot in 1 3 0 5 , Brüssel 1 9 6 0 , S. 8 8 ff. 25

V g l . Vercauteren,

F., a. a. O., S. 1 9 2 f.

126

Ketzertum und Kirche

die landesherrliche Gewalt der Grafen von Flandern dortselbst konnten die Bischöfe von Cambrai nicht allzuviel ausrichten; dennoch empfand die flandrische Seite die von diesen herrührende Abhängigkeit als lästig. Bereits am Ende des 10. Jh. ist nun ein bemerkenswerter Vorstoß gegen Cambrai erfolgt, der im Zusammenhang mit den Loslösungsbestrebungen von Arras Interesse verdient. Etwa 985 war Fulrad Abt von St. Vaast, eine Persönlichkeit von unzweifelhafter Bedeutung. Dieser hat den Versuch unternommen, die Exemption seines Klosters von dem Diözesanbischof, d. h. von Cambrai, durchzusetzen. Zu diesem Zwecke legte er ein gefälschtes Privileg des Bischofs Vindicianus von Cambrai (ca. 674) vor, in welchem dem Kloster die völlige Unabhängigkeit zugestanden wurde. Gleichzeitig beschlagnahmte er Bischofsgut in Arras, wobei er bemerkenswerterweise die Unterstützung der Grafen von Flandern fand. Hier zeichnet sich zum ersten Mal das Bündnis zwischen Arras und den Grafen von Flandern gegen Cambrai ab. Es fällt zusammen mit dem Vorstoß Flanderns gegen das Reich. Der Abt Fulrad wurde ca. 1007 abgesetzt und anschließend eine Klosterreform in St. Vaast durchgeführt.3" Entweder von Fulrad selbst, was wahrscheinlich ist, oder aber auf seine Veranlassung ist das sogenannte Chronicon Vedastinum geschrieben worden, in dem behauptet wird, daß es von Anfang an zwei Bistümer, Arras und Cambrai, gegeben habe und Arras einen selbständigen Bischof beanspruchen könne27. Auch hier zeigt sich bereits in der Bistumsfrage ein Zusammengehen zwischen Flandern und Arras. Es darf dabei nicht unerwähnt bleiben, daß gerade in jener Zeit die erwähnten Versuche des Reiches einsetzten, Cambrai von Reims zu trennen, was natürlich den flandrischen Interessen zuwiderlief.28 Wenn diese Frage dennoch bis zum Ende des 11. Jh. offiziell geruht hat, so liegt das einmal daran, daß inzwischen durch die Klosterreform die Interessen von St. Vaast in eine andere Richtung gelenkt worden sind und daß zunächst die Reichspolitik keine Eingriffe in die westlichen Verhältnisse machte, aber bis zum Investiturstreit stark genug war, um Vorstöße aus dieser Richtung gegen Cambrai aufzufangen. Trotzdem aber ist dort eine Reaktion auf die Behauptungen von St. Vaast festzustellen, und zwar in sehr merkwürdiger Art. 26

Diese Ereignisse sind nur bekannt durch einen rein parteiischen Bericht aus Cambrai: Gesta episcoporum Camcracensium lib. I, c. 107 ff., ed. L. C. Bethmann

in: MG. SS. VII, S. 446 ff.

E r schildert Fulrad in den schwärzesten Farben; jedoch sowohl dessen Briefwechsel mit den Erzbischöfen von Canterbury als auch die von ihm verfaßte fränkische Königsordnung beweisen, daß dieser ein Mann von literarischer Bildung gewesen ist. Vgl. Sackur,

E., D i e Clunia-

censer in ihrer kirchlichen und allgemeingeschichtlichen Wirksamkeit bis zur Mitte des 11. Jh., Halle 1894, S. 1 3 6 ; danach de Moreau, Holtzmami, 27

„Dyonisius

. . ., cui curae juit cunetas nasse sedes dyocesis

tanas, inferiores

vero suffragarias

esse instituit":

SS. X I I I , S. 6 7 8 ; und ferner „Etenim Bélgica

secunda:

W. /

metrópolis

civitas

cum hystoria Remorum

sitae, et editiores

Marcelli

una, civitas

. . . scire cupiens parrochias

sedes

pastore

acceperit

numero

ternario."

Vgl. oben S. 122.

signatas

Ebenda, S. 681.

quasque

metropoli-

Chronicon Vedastinum, ed. G. Waitz in: M G .

batum una . . .; cumque Dionisius redditur 28

E„ a . a . O . , Bd. 2, S. 163. Ferner Wattenbach,

R., Geschichtsquellen, Bd. 1, a. a. O., S. 119 ff.

proprio,

ex

constáis

referat,

Cameracensium dyocesis

collecto

dicens:

suae, easdem

senario

provintia

una, civitas

episcoporum

Atre-

pretitulatas numerus

127

Die Gründung des Bistums Arras Der

Verfasser

der „Gesta

episcoporum

dessen

Cameracensium",

große

Bistums-

geschichte e t w a 1 0 5 3 abgeschlossen w a r und über dessen Person w i r k e i n e r l e i N a c h richten besitzen, hat sich sowohl m i t der S t e l l u n g v o n St. V a a s t als auch mit d e m V e r h ä l t n i s A r r a s / C a m b r a i beschäftigt. D a s V i n d i c i a n u s - P r i v i l e g von St. V a a s t w a g t er nicht anzugreifen, b e m e r k t jedoch, d a ß m i t ihm die D i ö z e s a n r e c h t e des B i s c h o f s nicht a u f g e g e b e n s e i e n . 2 ' W i d e r s p r u c h seinerseits w a r um so w e n i g e r angebracht, als er selbst ein zweites V i n d i c i a n u s - P r i v i l e g bringt, und z w a r für St. M a r i e n in

Arras.

D i e s e s ist noch p l u m p e r gefälscht und setzt das e r s t g e n a n n t e P r i v i l e g voraus. 3 0 M a n kann das nur e r k l ä r e n , w e n n man a n n i m m t , d a ß d e r V e r f a s s e r zugunsten des S t i f t s St. M a r i e n in A r r a s v o r e i n g e n o m m e n w a r . E s w i r d sich nicht entscheiden lassen, ob ihm v o n dort aus das P r i v i l e g zuging o d e r ob er selbst an dessen F ä l s c h u n g b e t e i l i g t w a r , denn f r a g l o s l a u t e t e dieses nicht günstig für den B i s c h o f v o n C a m b r a i , w e n n es dessen Stellung auch nicht d i r e k t b e d r o h t e . D i e A b h ä n g i g k e i t der Gesta Chronicon

Vedastinum

von

dem

ergibt sich daraus, d a ß d i e A u s f ü h r u n g e n des letzteren ü b e r das

V e r h ä l t n i s C a m b r a i / A r r a s v o n d e m V e r f a s s e r der G e s t a für seine D a r s t e l l u n g benutzt w o r d e n sind. E r spricht v o n einem D o p p e l b i s t u m , v o n den Schwestern A r r a s C a m b r a i , w o m i t also d i e hier w a l t e n d e B e z i e h u n g als eine P e r s o n a l u n i o n

und

aufgefaßt

w i r d , bei der rechtlich b e i d e B i s t ü m e r f o r t b e s t a n d e n . 3 1 D i e s e r S a c h v e r h a l t ist b i s h e r noch w e n i g b e a c h t e t w o r d e n , w e i l m a n der A n s i c h t w a r , d a ß das Chronicon ter als die Gesta

spä-

e n t s t a n d e n sei. M i t h i n ist dadurch der V o r s t o ß v o n St. V a a s t zu

einem durchaus gegenteiligen Z w e c k e u m g e b o g e n w o r d e n . S o stehen w i r hier am A n f a n g einer S e l b s t ä n d i g k e i t s f o r d e r u n g den

sehen,

daß

die v o n

ihm

gewählte

des K l e r u s v o n A r r a s ,

Begründung

eben

diejenige

und wir ist,

also wer-

mit

der

er schließlich im J a h r e 1 0 9 3 d i e E i n s e t z u n g seines eigenen B i s c h o f s in A r r a s

for-

derte. 3 2 Inzwischen h a t t e sich auch die S t e l l u n g der G r a f e n v o n F l a n d e r n zum R e i c h geändert. E s w a r ihnen gelungen, die S c h e i d e g r e n z e zu überschreiten und d i e a l t e M a r kenorganisation

O t t o s I. zu sprengen. Aus diesen

Eroberungen

entstand

das

so-

g e n a n n t e R e i c h s f l a n d e r n , und d a d i e K a i s e r einwilligten, den G r a f e n v o n F l a n d e r n dieses zu L e h e n zu geben, w a r zunächst ein gewisser R u h e z u s t a n d erreicht. J e g r ö ß e r a b e r die flandrische M a c h t w u r d e , um so m e h r drückte sie auf C a m b r a i . I n seinen noch i m m e r g r u n d l e g e n d e n A u s f ü h r u n g e n hat W . R e i n e c k e sich m i t den B e z i e h u n g e n zwischen b e i d e n beschäftigt. 3 3 S o w o h l bei dem T o d e B i s c h o f R o t h a d s 9 9 5 als auch nach dem H i n s c h e i d e n B i s c h o f E r l u i n s hat der flandrische G r a f B a l d u i n I V . versucht, seinen unehelichen Sohn A z e l i n auf den Bischofsstuhl v o n C a m b r a i zu bringen, v e r 29

Er schreibt dazu: „retento sibi pastoralis privilsgio sium üb. I, c. 20, a. a. O., S. 409, Z. 33.

regiminis."

Gesta episcoporum Cameracen-

Vgl. ebenda lib. I, c. 26, S. 410 f. „Has duas fuisse matris aecclesiae sedes, certa res esL, quae nunc unius pastoris moderamine reguntur; quod facile ex descriptionibus Dyonisii papae perpenditur, qui universis provineiis singulas sedes propriis terminis discrevit": Ebenda, lib. I, c. 5, S. 404, Z. 41 ff. Vgl. auch c. 12, S. 407, Z. 48 ff. 3 - Vgl. unten S. 142.

30 31

33

Vgl. Reinecke,

W„ a. a. O., S. 225 ff.

128

Ketzertum und Kirche

mochte jedoch dem Reich gegenüber seinen W i l l e n nicht durchzusetzen. 3 ' 1 Im L a u f e des 11. J h . ist ein solcher Versuch zwar nicht wiederholt worden, jedoch die schwierige Stellung des Bischofs von Cambrai gegenüber seinem Kastellan

und

seinen

Vasallen sowie auch gegenüber der K o m m u n e in Cambrai hat mehrmals dazu geführt, daß dieser die H i l f e des G r a f e n von Flandern anrufen mußte. So wuchs der tatsächliche E i n f l u ß Flanderns auch in dem unmittelbaren Herrschaftsgebiet des Bischofs. Immerhin haben G e r h a r d I., Lietbert und auch noch G e r h a r d I I . von Cambrai ihre Unabhängigkeit •gegenüber Flandern behaupten können. N u n war aber der Konflikt zwischen diesem und dem Reich bereits wieder in vollem G a n g e . D i e Vertreibung seines Neffen Arnulfs I I I . aus Flandern durch R o b e r t den Friesen hat zum Eingreifen der Reichsgewalt geführt, denn der Bischof von Lüttich und, hinter ihm stehend, Heinrich I V . haben die Ansprüche von Arnulfs jüngerem B r u d e r B a l d u i n , welcher nach dem T o d e seines Bruders mit seiner M u t t e r in die in deren Besitz befindliche Grafschaft Hennegau geflohen war, unterstützt. So wurde R o b e r t der Friese von A n fang an ein erbitterter G e g n e r des Reiches, was auch dazu führte, daß er sich in dem Konflikt zwischen G r e g o r V I I . und Heinrich I V . sofort auf die Seite des Papstes stellte; und dieser hat alles getan, um den G r a f e n von Flandern zu gewinnen. Für das flandrische Kirchenregiment ist dies überaus folgenreich geworden, denn der G r a f benutzte die Gelegenheit, um nun auch den E p i s k o p a t unter seine M a c h t zu zwingen. D i e Bischöfe von Thérouanne waren seine schwächsten Gegner, da sie ihre Residenz im L a n d e hatten. So konnte hier zuerst ein praktisches Ernennungsrecht des G r a f e n durchgesetzt w e r d e n . ^ E s ist nicht überraschend, d a ß gerade in jener Zeit die Landesherren ihre Rechte auszudehnen versuchten, weil der grundsätzliche Angriff der K u r i e auf den E i n f l u ß der weltlichen G e w a l t e n über die Bischöfe diese F r a g e in gegenteiliger W e i s e zu lösen drohte. D a r u m richteten auch die G r a f e n weiterhin ihre A u f merksamkeit darauf, die Diözesanrechte fremder Bischöfe auszuschließen und da neben die bischöfliche Kirchenverwaltung zu territorialisieren. D i e s e A u f g a b e w a r schwierig. D i e D i ö z e s e Tournai war mit dem Bistum Noyon vereinigt; der dortige Bischof aber saß außerhalb des Landes und war Kronbischof. A u f der anderen Seite griff die D i ö z e s e Utrecht auf das flandrische G e b i e t über. E s ist nun Pirenne gelungen, den Nachweis zu führen, d a ß R o b e r t I I . durch direkte Verhandlungen mit der K u r i e den Versuch gemacht hat, diesen

flandrischen

T e i l der genannten D i ö z e s e abzutren-

nen. 30 Beachtenswert erscheint dabei, d a ß er zu diesem Zweck eine eigene G e s a n d t schaft an die K u r i e gesandt hat, die allerdings keinen E r f o l g hatte. W i r wissen auch sonst von Gesandtschaften des

3/'

Vgl. ebenda, S. 2 2 6 f.

3a

Vgl. van Werveke,

36

flandrischen

H o f e s nach R o m , so etwa in der F r a g e

H c t bisdom Terwaan, Gent 1 9 2 4 , S. 77 ff. ; Verlinden,

H.,

S. 1 2 4 ff., und de Moreau,

E., a. a. O., Bd. 2, S. 65 ff.

Grundlegend ist Pirenne,

H.,

Ch.,

a.a.O.,

Tanchelin et le projet de démembrement du diocèse d'Utrecht

vers 1 1 0 0 , in: Bulletin de l'Académie Royale de Belgique, Classe des Lettres, Jg.

1927,

S. 1 2 0 ff., der nachweist, daß der spätere Sektierer Tanchelm im Auftrage des Grafen in dieser Frage nach Rom gesandt wurde. Zustimmend de Moreau, neuerdings Mohr,

W.,

E.,

a. a. O., Bd. 2, S. 4 1 8 , und

Tanchelm von Antwerpen, in: Annales universitatis Saraviensis, Bd. 3,

Saarbrücken 1 9 5 4 , S. 2 3 4 ff.

129

D i e Gründung des Bistums A r r a s

der Reform von St. Bertin. 3 ' D a nun auch ein reger Briefwechsel zwischen den Päpsten und den flandrischen Grafen bekannt ist, wird man den Schluß ziehen können, d a ß auch die Vorgänge in Arras von Anfang an in die Kirchenpolitik der letzteren gehören. Vielleicht darf man sogar noch einen Schritt weiter gehen. Der neue Bischof von Arras, Lambert, w a r vor seiner W a h l Kanoniker zu St. Peter in Lille, einem großen Stift, welches in engsten Beziehungen zu den Grafen von Flandern gestanden hat und in dem diese öfter residiert haben. '8 Verlinden hat betont, d a ß Robert der Friese durchaus kein gefügiges Instrument für Gregor VII. und Urban II. gewesen ist. Aber in dem Kampf gegen das Kaisertum, durch den die Päpste in schwerc Bedrängnis gerieten, mußten sie auf Bundesgenossen Wert legen. Die gemeinsame Gegnerschaft gegen Heinrich IV. hat dazu geführt, d a ß Gregor und Urban den Grafen von Flandern in deren Streben, nicht nur die Klöster, sondern auch die bischöflichen Gewalten unter ihren Einfluß zu bringen, nachgeben mußten. G e w i ß stand dies mit der Forderung der Kirchenreformer nach der libertas ecclesiae in Widerspruch, aber ohne Hilfe politischer Bundesgenossen w ä r e die Kurie verloren gewesen. 39 W i e eng die Beziehungen des flandrischen Grafenhauses zu der kirchlichen Reformpartei waren, beweist auch die Heirat Roberts II. mit d e m e n t i a von Burgund. Das Datum dieser Ehe ist nicht bekannt. D a aber der Nachfolger Roberts II., Balduin VII., 1093 geboren ist, so ist auf jeden Fall anzunehmen, d a ß sie spätestens 1092 geschlossen worden ist, wahrscheinlich etwas früher/' 0 Hierdurch gewann die beteiligte Linie des flandrischen Grafenhauses weitreichende Familienverbindungen, da d e m e n t i a als Tochter des Pfalzgrafen von Burgund mit den meisten großen Dynastien Europas verwandt w a r - ihr Bruder etwa w a r durch seine Heirat König von Kastilien geworden. Auch mit Heinrich IV. w a r über dessen Mutter Agnes von Poitou ein nahes Verwandtschafts Verhältnis entstanden. Vom Standpunkt der kirchlichen Beziehungen w a r es aber noch bedeutsamer, d a ß zwei Brüder der d e m e n tia als Erzbischöfe amtierten: der eine in Besançon, ein weiterer, Guido, in Vienne. Diesen kennen wir als einen der Führer der kirchlichen Reformpartei und als späteren Papst Calixt II. Jene Ehe wurde in Flandern sehr begrüßt, da Robert der Friese durch Usurpation zur Regierung gelangte und hiermit eine neue, gleichsam internationale Legitimation erlangt war. In kirchlicher Beziehung bedeutete sie natürlich eine enge Bindung an die kirchliche Reformpartei.'' 1

37

V g l . Sproemberg,

H.,

Beiträge zur Französisch-Flandrischen Geschichte, Bd. 1 : Alvisus, A b t

v o n Anchin ( 1 1 1 1 - 1 1 3 1 ) ,

Berlin 1 9 3 1 , S. 7 5 f. (Historische Studien, hrsg. v. Ebering,

E.,

Bd. 2 0 2 ) . 3S

Auch ist in jener Zeit der K a n t o r des Stiftes Schreiber v o n Urkunden der G r a f e n v o n Flandern gewesen; vgl. Actes des comtes de Flandre 1 0 7 1 - 1 1 2 8 , ed. F. Vercauteren,

Bruxelles

1938,

S. X C I V . 30

Vgl. Verlinden,

Ch., a. a. O., S. 1 2 8 ff., und firenne,

H., Histoire de Belgique, Bd. 1, a. a. O.,

S. 1 1 4 . m

Vercauteren,

F., in: A c t e s . . . ,

a . a . O . , S. X V I I I ; ferner Vanderkindere,

L.,

territoriale des principautés belges au moyen âge, Bd. 1, Bruxelles 1 9 0 2 , S. 3 0 2 . 41

Vgl. Haller,

]., a. a. O., Bd. 2, 2. A u f l . , S. 1 0 5 .

La

formation

Kctzcrtum und Kirche

130

D e r H i n w e i s auf diese B e z i e h u n g e n ist nötig, um Stellung zu einem K o n f l i k t zu gewinnen, in welchen R o b e r t der F r i e s e gegen E n d e seines L e b e n s mit dem

flandri-

schen K l e r u s und dem E r z b i s c h o f R e i n a l d v o n R e i m s geraten w a r . I m Z u g e seines verschärften genommen.

Kirchenregimes Dieses

beinhaltet

hatte

Robert

bekanntlich

auch

das

Spolienrecht

die B e s c h l a g n a h m e

energisch

wahr-

des N a c h l a s s e s

von

G e i s t l i c h e n zugunsten der weltlichen G e w a l t . E s ist ein Recht, das aus dem sogenannten E i g e n k i r c h e n r e c h t a b g e l e i t e t w i r d und schon in der K a r o l i n g e r z e i t auftaucht. D e r K ö n i g und auch die L e h n s f ü r s t e n g l a u b t e n sich zu seiner A u s ü b u n g berechtigt, d a die K i r c h e durch sie m a t e r i e l l ausgestattet w o r d e n w a r und sie in steigendem

Maße

G e l d e i n k ü n f t e benötigten. Z w e i f e l l o s a b e r w u r d e es von den G e i s t l i c h e n als ein M i ß brauch e m p f u n d e n , besonders d a es bei d e m M a n g e l einer geordneten

Beamtenver-

w a l t u n g willkürlich und g e w a l t t ä t i g ausgeübt w u r d e . In einer Z e i t , in der d i e K i r c h e sich d e m E i n f l u ß der weltlichen G e w a l t v ö l l i g zu entziehen versuchte, m u ß t e es über das Spolienrecht n a t u r g e m ä ß zu K o n f l i k t e n k o m m e n . M ö g l i c h e r w e i s e ist dieses d a m a l s auch u m f a s s e n d e r und nachdrücklicher geltend gemacht worden/' 2 S o n i m m t es nicht w u n d e r , d a ß es auch mit R o b e r t dem F r i e s e n h i e r ü b e r zu Streitigkeiten k a m , und es ist verständlich, d a ß d e s

flandrische

K l e r u s jetzt w e n i g e r denn j e b e r e i t w a r , sich

dessen E i n g r i f f e n zu fügen. I m J a h r e 1 0 9 2 w u r d e eine G e s a n d t s c h a f t

flandrischer

Kle-

riker zu U r b a n I I . nach I t a l i e n geschickt, w e l c h e sich in heftigster F o r m ü b e r die A u s übung des R e g a l i e n - und Spolienrechts durch den G r a f e n beschwerte. D i e D a r s t e l l u n g der

flandrischen

Q u e l l e h i e r ü b e r w i r d bestätigt durch eine B u l l e U r b a n s an R o b e r t

den F r i e s e n v o m 2 . D e z e m b e r 1 0 9 2 , in der der P a p s t das V o r g e h e n des G r a f e n als mißbräuchlich

bezeichnet und um R ü c k g a b e

N a c h A n g a b e der

flandrischen

des beschlagnahmten

Gutes

ersucht/' 3

Q u e l l e hat R o b e r t auf diese B u l l e hin zunächst nichts

u n t e r n o m m e n . I n f o l g e d e s s e n w a n d t e n sich d i e

flandrischen

G e i s t l i c h e n an ein P r o v i n -

zialkonzil in R e i m s , das unter d e r F ü h r u n g des dortigen E r z b i s c h o f s R e i n a l d

am

2 0 . M ä r z 1 0 9 3 tagte. Sie h a b e n sich dort auf das heftigste b e k l a g t , und der E r z b i s c h o f hat einige v o n ihnen im N a m e n des K o n z i l s b e a u f t r a g t , dem G r a f e n R o b e r t das I n t e r dikt über ganz F l a n d e r n anzudrohen, falls er nicht sofort das b e s c h l a g n a h m t e

Gut

h e r a u s g ä b e . D a r a u f h i n soll der G r a f dieser F o r d e r u n g entsprochen haben/' / ' E s k ö n n t e nun scheinen, als ob R o b e r t der F r i e s e in einen heftigen K o n f l i k t m i t der K i r c h e geraten sei. A b e r w i r w e r d e n sehen, d a ß m a n sich d a v o r hüten m u ß , diese E r e i g n i s s e zu überschätzen. T r o t z d e m sind sie für die V e r h a n d l u n g e n über A r r a s von B e l a n g . Z w e i D i n g e sind f e s t z u h a l t e n : die T a t s a c h e einer flandrischen G e s a n d t s c h a f t an die K u r i e und d i e sehr aggressive H a l t u n g R e i n a l d s von R e i m s . D i e s e r w a r seit 1 0 8 3 E r z b i s c h o f und g e h ö r t e zu den F ü h r e r n der K i r c h e n r e f o r m p a r t e i in F r a n k r e i c h . 42

Vgl. hierzu Feine, H. E., Kirchliche Rechtsgeschichte. Die katholische Kirche, 4. Aufl., Köln/Graz 1964, S. 191 f. und 249 f.; Hauck, A„ Kirchengeschichte Deutschlands, Bd. 4, 8. Aufl., Berlin/Leipzig 1954, S. 313 ff.

43

Vgl. Veründen, Cb., a. a. O., S. 125 ff. - Aus der Darstellung Lamberts von St. Omer sei folgender Satz hervorgehoben: „clerici non valentes sustinere diutius, Urbanum papam adetuites, eius provoluti pedibus, lacrimabilem de tyranno jecerunt querimoniam": Lamberti genealogia comitum Flandriae, ed. L. C. Bethmann in: MG. SS. IX, S. 310, Z. 7 £.

44

Vgl. Verlinden,

Cb., a. a. O., S. 126 ff.

Die Gründung des Bistums Arras

131

Wir dürfen auch nicht vergessen, daß Urban II. ursprünglich Domherr von Reims gewesen war und daß er, nachdem er auf den Stuhl Petri gelangte, gerade Reinald mit Begünstigungen für seine Kirche überhäuft hatte/'0 Aus dieser Grundeinstellung ist es verständlich, daß Reinald sich so scharf gegen das Spolienrecht in Flandern gewandt hat. Andererseits aber übersah er die allgemeine Lage nicht, welche, wie bemerkt, große Rücksicht auf den Grafen von Flandern erforderte. Robert hat ganz offensichtlich seine Haltung übel vermerkt, und hierin liegt vermutlich auch der Schlüssel zum Verständnis der Einstellung des Grafen zu dem Problem ArrasCambrai. Wenn Verlinden bemerkt, daß dieser eine ganz andere Haltung gegenüber der Kurie im Falle Arras-Cambrai eingenommen habe, so berücksichtigt er die inneren Zusammenhänge zu wenig.'' 0 Es fällt zunächst auf, daß Urban II. in seiner Bulle an Robert keineswegs scharfe Töne anschlägt, sondern ganz im Gegenteil sich auf gutes Zureden beschränkt. Er hebt hervor, daß Robert ausgezeichnete literarische und theologische Kenntnisse besäße und daß Gott ihn gegen den Willen seiner Verwandten mächtig und reich gemacht habe. Dann bemerkt er, daß der Graf sich zu Unrecht auf das Alter seines Rechts in der Frage des Anspruches auf den Nachlaß der Geistlichen stütze. Man könne sich gegenüber der Kirche nicht auf ein weltliches Gewohnheitsrecht berufen/" Wenn man dagegenhält, mit welcher Schärfe Urban II. ein derartiges Verhalten bei Heinrich IV. getadelt hat, so erkennt man deutlich, daß er jeden Konflikt mit dem Grafen von Flandern vermeiden wollte. Man wird einen Schritt weiterkommen, wenn man berücksichtigt, daß unter demselben Datum, dem 2. Dezember 1092, der Papst Erlasse an den Erzbischof Reinald von Reims und den Klerus von Arras gegeben hat, in denen er die Frage ArrasCambrai entschied. Dieses Zusammentreffen kann nicht zufällig sein. Zunächst einmal war sich Urban darüber klar, daß der Fall Arras nur im Zusammengehen mit dem Grafen von Flandern gelöst werden konnte; andererseits gibt der endgültige Charakter der Entscheidung Anlaß zu vermuten, daß nicht nur ein Schreiben des Klerus von Arras an der Kurie vorgelegen, sondern auch eine direkte Fühlungnahme mit dem Grafen von Flandern stattgefunden hat. Wir wiesen schon darauf hin, daß Gesandtschaften des flandrischen Hofes an die Kurie auch sonst bekannt sind/'8 Gleichzeitig ist bezeugt, daß in jener Zeit mehrfach Boten des Klerus von Cambrai zu Heinrich IV. wegen der Neubesetzung des Bischofsstuhls geschickt wurden/' 8 Es ist daher unwahrscheinlich, daß Robert und der Klerus von Arras, die über diese Verbindungen sicher unterrichtet waren, nicht ihrerseits zu dem Mittel einer direkten Berichterstattung gegriffen haben sollten. Merkwürdigerweise ist das erste Schreiben des genannten Klerus an Urban II. im Gegensatz zu den anderen Aktenstücken nur im kurzen Auszug wiedergegeben. W i r hatten bei der Erwähnung dessen schon die Vermutung geäußert, 45 46 47 48 49

Vgl. Haller, ]., a. a. O., Bd. 2, 2. Aufl., S. 434 und 444. Vgl. Verlinden, Ch„ a. a. O., S. 127. Vgl. JL. 5471. Vgl. oben S. 128 mit Anm. 35. Vgl. Meyer von Knonau, G., Jbb. des Deutschen Reiches unter Heinrich IV. und Heinrich V., Bd. 4 : 1 0 8 5 - 1 0 9 6 , Leipzig 1903, S. 408.

132

Ketzertum und Kirche

daß dies nicht ohne Grund geschehen sei. Nimmt man an, daß auf Veranlassung Roberts eine Gesandtschaft aus Arras zu Urban II. gezogen ist, so ist verständlich, daß man dort diesen Sachverhalt zu verschleiern versuchte, denn das Übergehen des Metropoliten konnte später als unerwünscht erscheinen. 00 Dagegen war es für den Grafen von Flandern in diesem Augenblick durchaus begreiflich, daß er keine Verhandlung mit dem Erzbischof von Reims wünschte, sondern sich direkt an den Papst wandte, um eine rasche Entscheidung in der von ihm gewünschten Weise zu erreichen. Damit wurden alle Weiterungen mit Cambrai zunächst abgeschnitten und auf diese Weise sofort eine Rechtsgrundlage geschaffen. Generell wäre noch zu bemerken, daß man den persönlichen diplomatischen Verhandlungen des Mittelalters größere Aufmerksamkeit schenken sollte. Ganshof hat den internationalen Beziehungen jener Zeit neuerdings eine schöne Arbeit gewidmet 01 ; es wäre aber zur Ergänzung noch manche Einzelforschung nötig. So haben die großen Kirchenversammlungen ohne Zweifel Gelegenheit geboten, politische Gespräche von internationaler Bedeutung zu führen. Außerdem wäre es von Interesse, das Material für politische Gesandtschaften an die Kurie zu sammeln. Es waren auch hier in der Regel Geistliche, die als Gesandte verwendet wurden; man wird jedoch untersuchen müssen, wie weit sie politische Aufträge von den Königen oder Fürsten erhalten haben. Gerade besonders wichtige Angelegenheiten dürften vertraulich behandelt worden sein, und mündliche Aufträge sind vielleicht häufiger gewesen, als wir das bisher annahmen. Urban II. war nach dem Zurückweichen Heinrichs IV. im Vordringen gegen Rom. Es war ihm allerdings noch nicht geglückt, die Stadt selbst der Partei Heinrichs zu entreißen, weshalb er das Weihnachtsfest 1092 wahrscheinlich noch in Salerno feierte. 52 Während die Angelegenheit des Spolienrechts in Flandern wenigstens äußerlich geregelt wurde, haben seine Entscheidungen in bezug auf Arras keineswegs das Ende der Aktionen bedeutet. Bei der Betrachtung der beiden Aktenstücke muß man zwei Dinge unterscheiden: zum einen die historische Begründung der Trennung von Arras und Cambrai, zum zweiten die Frage der Kompetenz für diesen Fall. Wenden wir uns zunächst der ersten Frage zu. Der Kirche von Arras wurde durch den Papst bestätigt, daß sie einst eine der vornehmeren Suffragankirchen von Reims gewesen sei und damals nach zuverlässigen Quellenzeugnissen eigene Bischöfe sowie eine selbständige Diözese besessen habe. 03 Eine nähere Erläuterung zu dieser Behauptung findet sich in dem Antrag des Klerus von Arras an das Provinzialkonzil zu Reims vom 20. März 1093 - eben dasselbe, auf dem die Klage gegen Robert von Flandern verhandelt wurde. An deren Spitze steht nämlich, daß die civitas Arras ehemals einen Bischof besessen und zu den vornehmeren civitates der Metropole Reims gehört habe. Diese Eigenschaft als civitas wird näher begründet durch ein civitates-Vetzéiàxms der Römerzeit, die so50

V g l . oben S. 1 2 0 und unten S. 1 4 0 .

51

V g l . Ganshof, L e moyen âge, i n : Histoire des relations internationales, publiée sous la direction de Renouvin,

52

Vgl. Meyer

P., Bd. 1 , Paris 1 9 5 3 .

von Knonau,

G., a. a. O., Bd. 4 , S. 3 8 0 .

° 3 D e n Text siehe oben S. 1 2 0 , A n m . 4.

133

Die Gründung des Bistums Arras

genannte Notitia Galliarum, in der Arras an vierter Stelle der provincia Belgica secunda vor Cambrai aufgezählt wird.0'1 Auf dieses Verzeichnis spielt auch Urban II. an, indem er bemerkt, daß er Reims seine ursprüngliche Zahl von zwölf Suffraganen wiedergeben wolle. Gerade dieses Verhältnis zeigt, daß für den Papst Urban die Information aus Arras die Grundlage bildete.'" Noch bedeutsamer ist die Erinnerung an die Behauptungen in dem Chronicon Vedastinum sowie in den Gesta episcoporum Cameracensium, auf die wir bereits hingewiesen hatten. Denn dort war behauptet worden, daß es von Anfang an zwei Bistümer, Cambrai und Arras, gegeben habe, die nur durch eine Personalunion vereinigt worden seien. Es war also schon dort darauf hingewiesen, daß Arras ursprünglich seinen eigenen Bischof gehabt habe. Hier stößt man wieder auf die Vorarbeit, die vermutlich zuletzt in den Kreisen des Stiftes St. Marien geleistet wurde und die höchst merkwürdigerweise auf der Arbeit des Abtes Fulrad von St. Vaast beruht. 66 Für die Rechtslage ist es nämlich bedeutsam, ob wirklich ursprünglich zwei Bistümer bestanden; ist doch die Auflösung einer Personalunion eine sehr viel einfachere Sache als die Schaffung einer neuen Diözese. Hier handelt es sich um eine wichtige kirchenrechtliche Frage. Die Notitia Galliarum, auf welche man sich in Arras und an der Kurie berief, ist eine Liste aus der ausgehenden Römerzeit, die allerdings später, bei der Angleichung der kirchlichen an die politische Verwaltungseinteilung, zu einem Verzeichnis der kirchlichen Diözesen geworden ist. E s ist aber eine andere Frage, ob dies ausnahmslos so war, ob die Notitia an sich eine zwingende Beweiskraft besitzt. Schon Loening hat bei der allgemeinen Untersuchung jener Verhältnisse bemerkt, daß natürlich auch Veränderungen festzustellen sind."' „Haec

civitas

civitatibus

olim suo proprio

totius Remensis

proprium

habuerit,

. . . ex sanctorum

et earum suffraganeae ante Cameracum

paslori

enumerantur;

posita invenitur":

sogenannten „Notitia

dicata et subnixa . . . una ex antiquis und ferner: „Quod

metropolis",

Galliarum"

canonum

Tb.,

colügitur,

ubi Gallicanae

inter quas et haec civitas Atrebatum

a Remensi

nobilioribus episcopum metropoles quarta

et

R. H. F., Bd. X I V , S. 7 3 9 , Abschnitt C und D . In der findet

sich im Teil V I (Belgica

unter nr. 5 Arras, unter nr. 6 Cambrai Mommsen,

epilogio

et

autem haec civitas sit, et

genannt.

secunda)

unter nr. 1 Reims,

Die Notitia ist nach Untersuchung

von

frühestens E n d e des 4. Jh. verfaßt; die Stelle findet sich in: M G . A A . I X ,

Berlin 1 8 9 2 , S. 5 5 6 . 55

Vgl. oben S. 1 2 6 , Anm. 27.

50

Vgl. oben S. 126.

57

„So richtig es ist, dass im allgemeinen die kirchliche die weltliche Eintheilung zur Grundlage nahm, so falsch würde es jedoch sein, diese Regel als eine ausnahmslose hinzustellen oder eine unbedingte Uebereinstimmung der kirchlichen und weltlichen Eintheilung annehmen zu wollen." Loening,

E.,

Geschichte des deutschen Kirchenrechts, Bd. 1 : Das Kirchenrecht in Gallien von

Constantin bis Chlodovech, Straßburg 1 8 7 8 , S. 1 4 f. Ausdrücklich weist Loening

darauf hin,

daß vielfach mehrere städtische Gebiete zu einem Bistum vereinigt wurden, in denen eigene Bischöfe nicht nachzuweisen sind: ebenda, S. 16. Vgl. ferner Werminghoff,

A.,

Geschichte der

Kirchenverfassung Deutschlands im Mittelalter, Hannover und Leipzig 1 9 0 5 , S. 3 5 ff.; ferner Duchesne,

L., Fastes episcopaux de l'ancienne Gaule, Bd. 1 : Provinces du Sud-Est, 2. Aufl.,

Paris 1 9 0 7 , S. 3 0 ; Bd. 2 : L'Aquitaine et les Lyonnaises, Paris 1 9 1 0 , S. 17 f.; Flach, origines de l'ancienne France, Bd. 3, Paris 1 9 0 4 , S. 1 0 2 10

Sproemberg

].,

Les

134

Ketzertum und Kirche

M a n wird zunächst zu berücksichtigen haben, d a ß wir über die Christianisierung dieser Grenzgebiete in der Römerzeit so gut wie keine zeitgenössischen Nachrichten haben und auch die archäologischen F u n d e hierüber nur beschränkten Aufschluß geben können. Noch weniger wissen wir über die Kircheneinteilung. D e M o r e a u hat bemerkt, d a ß f ü r das Christentum in Gallien günstige Bedingungen bestanden ; seit 275 bereits w u r d e eine gewisse Toleranz geübt, weil die konstantinische Dynastie von A n f a n g an sich gegen eine Christenverfolgung wandte:' 8 Im Gegensatz zu den Rheinlanden jedoch, in denen durch die großen Legionslager ein weitaus stärkerer E i n f l u ß des Römertums geübt w u r d e und daher ein rascheres Eindringen des christlichen Glaubens erfolgte, lagen hierfür in den nördlichen, aber auch in den südlichen N i e d e r landen die Verhältnisse weniger gut. Selbst in den Rheinlanden aber sind infolge der Zerstörungen durch die V ö l k e r w a n d e r u n g die Zeugnisse über die Bischöfe sehr unsicher, obwohl an deren Vorhandensein kaum ein Zweifel besteht. Auch hier sah man sich veranlaßt, nach der erneuten Christianisierung zu Kombinationen zu greifen, welche o f t willkürlich waren, und wie bei den Märtyrern hat man auch bei den Bischofslisten sich der Legenden bedient. W . Levison hat in meisterhafter Weise f ü r die Rheinlande die Vorgänge klargelegt. 5 0 Schon hieraus ergibt sich, d a ß in den genannten Gebieten von festen Diözesangrenzen damals nicht die R e d e gewesen sein kann. E i n typisches Beispiel ist Lüttich, das Nachbarbistum von Cambrai. In der Römerzeit finden wir Tongern als Z e n t r u m ; aber die dortigen Ausgrabungen haben nur bescheidene Spuren des Christentums zutage f ö r d e r n können, so d a ß man zu dem Schluß kommt, d a ß seine christliche G e m e i n d e nur klein gewesen ist. 00 D a n n ist bekanntlich der Sitz nach Maastricht verlegt w o r d e n ; schließlich von dort aus nach Lüttich." 1 Auch Arras w a r bis zum E n d e der Kaiserzeit ein nicht unwichtiger K n o t e n punkt und hat eine bedeutende M a n u f a k t u r besessen. Neuerdings ist man geneigt, seine Stellung höher als bisher anzuschlagen, u n d zweifellos w i r d auch dort eine christliche G e m e i n d e vorhanden gewesen sein. 02 A b e r Vercauteren hat betont, d a ß ein tiefes D u n k e l über der Geschichte der Entstehung des Christentums in A r r a s läge ; als Belege könnten nur die Gesta episcoporum Cameracensium angeführt w e r d e n und •)S De

Moreau,

E., a. a. O., Bd. 1 : La formation de la Belgique chrétienne des origines au

milieu du Xe siècle, 2. Aufl., Bruxelles 1945, S. 27 fi. 59

Levison,

W.,

Die

Anfänge rheinischer Bistümer in der Legende,

in:

[AnnHVNiederrh.

1 1 6 / 1 9 3 0 ; Wiederabdruck in:] ders., Aus rheinischer und fränkischer Frühzeit. Ausgewählte Aufsätze, Düsseldorf 1948, S. 7 ff. 60

Vgl. de Maeyer,

111

Vgl. de Moreau,

R., in: Geschiedenis van Viaanderen, Bd. 1, Brüssel 1936, S. 100. E„ a . a . O . , Bd. 1, 2. Aufl., S. 39 und 68; ferner meinen Aufsatz: Lüttich

und das Reich im Mittelalter, in: Sproemberg,

H.,

Beiträge zur

belgisch-niederländischen

Geschichte, Berlin 1959, S. 347 (Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte, hrsg. v.

Sproem-

berg, H., u. a„ Bd. 3). 61

Vgl. Vercauteren, Lestocquoy,

}.,

F., Étude, a. a. O., S. 186. Eine neue, umfassende Untersuchung legte vor: Les Etapes du développement urbain d'Arras, in: Revue Beige

S. 163 ff., der wertvolle Ergänzungen zu Vercauteren

23/1944,

bringt. Vgl. auch Petri, F., D i e Anfänge

des mittelalterlichen Städtewesens in den Niederlanden und dem angrenzenden Frankreich, in: Studien zu den Anfängen des europäischen Städtewesens, Lindau und Konstanz 1958, S. 236 und 241 (Vorträge und Forschungen, hrsg. v. Mayer, Th., Bd. 4).

Die Gründung des Bistums Arras

135

außerdem ein Bischofskatalog aus dem Ende des 12. Jh., der aber auch keine Namen bringt, sondern nur bemerkt, daß vor der Verfolgung durch die Vandalen Arras einen eigenen Pfarrer und Bischof gehabt habe, jedoch nach dieser lange eines Bischofs entbehrte. Daher kommt Vercauteren zu dem Schluß, daß höchstens ein Wanderbischof als Missionar eine Zeitlang in Arras residiert habe, ohne daß wir dies aber sicher belegen könnten. 03 Nicht viel anders liegen die Verhältnisse in Cambrai ; auch hier ist eine alte Manufaktur nachzuweisen, die sich bis in die römische Spätzeit erhalten hat. Dagegen fehlen alle Nachrichten über einen Bischof; der Hinweis auf die Gesta ist hier ebenfalls ohne jeden größeren Wert. (/l Das alles sind deutliche Zeichen, wie fragmentarisch die Kirchenorganisation selbst zu Ende der Römerzeit in diesen Gebieten noch gewesn ist. Höchstwahrscheinlich gab es in den Städten mehr oder weniger große christliche Gemeinden und naturgemäß auch Pfarrer; zweifelhaft ist aber, ob diese Gemeinden bedeutend genug waren, um auch einen Bischof zu besitzen oder ob nicht Bischöfe für einen weit größeren Bezirk, als es die civitas war, eingesetzt wurden. Wir sehen letzteres z. B. für Trier und Köln in der Person des Maternus, dem auch Tongern unterstanden haben soll.0'' Das Schwergewicht der römischen Verwaltung liegt in der Stadt, und es ist sehr fraglich, inwieweit die Christianisierung auf das Land vorgedrungen ist. Daher wird man von Diözesen kaum sprechen können, denn diese setzen bereits eine gewisse Christianisierung des Landes oder aber Missionssprengel voraus; letztere jedoch hatten noch keine bestimmten Grenzen. Endlich kann man Romanisierung und Christianisierung nicht unbedingt gleichsetzen. Der belgische Archäologe Breuer hat auf Grund der Bodenfunde festgestellt, daß die Christianisierung jener Gebiete verhältnismäßig geringfügig w a r ; er bezweifelte daher die Durchführung einer festeren Bischofsorganisation in der Römerzeit.'' 0 So war denn die christliche Organisation noch wenig fest gefügt, als die Stürme der Völkerwanderung über sie hereinbrachen. In dem größten Teil von Gallien hat sich das Christentum dennoch gehalten, da die Germanen sich nur als Herren über das Gebiet gesetzt haben. Auch waren die Goten und Burgunder bereits Christen. Anders aber liegt die Sache bei den Franken. Sie waren noch Heiden; außerdem fand bei ihnen weitgehend eine bäuerliche Landnahme statt, wodurch auch erhebliche Teile der romanisierten Bevölkerung wieder in das Heidentum zurückgefallen sind. Zunächst hat vor allem die Untersuchung von R. de Maeyer über die römischen villae in Belgien ergeben, daß diese großenteils schon vor der fränkischen Landnahme verlassen waren oder zu ihrer Zeit zerstört wurden. Das bedeutet den Abzug der ländlichen Oberschicht, welche wahrscheinlich aus Sorge vor den Einfällen schon früher nach Innergallien geflüchtet ist. Ganz ähnlich dürften die Verhältnisse in den Städten ia Vgl. Vercauteren,

F., Étude, a. a. O., S. 1 8 7 .

64

Vgl. ebenda, S. 2 0 8 . Petri, F., a. a. O., S. 238.

65

Vgl. Levison, W., a. a. O., S. 8. Breuer, J., La Belgique romaine (Notre passé), Bruxelles 1 9 4 6 , S. 1 1 2 fi. ; demgegenüber kommen ältere Auffassungen, wie sie z. B. Rietschel, S., Die civitas auf deutschem Boden bis zum Ausgange der Karolingerzeit, jur. Diss. Leipzig 1 8 9 4 , S. 22 ff., vertrat, nicht mehr in Betracht.

66

10 »

136

Ketzertum und Kirche

gewesen sein, in denen vermutlich ebenfalls nur die unteren Schichten verblieben. W e n n auch die Auffassung Pirennes von dem Untergang der Städte und dem A u f hören des Fernhandels gewisse Korrekturen erfahren hat, so ist doch wenigstens in diesen Gebieten der Rückgang ganz augenscheinlich.'" D a h e r ist es nicht verwunderlich, daß das Christentum auch in Gegenden verschwand, aus denen die romanische Bevölkerung nicht ganz verdrängt wurde. Petri hat seine Auffassung über den germanischen Einfluß in der W a l l o n i e neuerdings stark modifiziert; auch er nimmt jetzt eine Symbiose zwischen Franken und Romanen an. 08 D e r Übertritt Chlodwigs zum Katholizismus hat zwar erhebliche T e i l e der Franken ebenfalls für das Christentum gewonnen. D a aber die Merowinger grundsätzlich jede Zwangsmaßnahme in G l a u bensfragen ablehnten, hat sich die Christianisierung in entlegeneren Regionen nur sehr langsam durchgesetzt. 09 E s war also ein völliger Neuaufbau der Kirchenorganisation nötig, was nur auf dem W e g e der Mission geschehen konnte. Hierzu hat H. van W e r v e k e bei der Schilderung der Vorgänge in Thérouanne bemerkt, daß man sich nicht mehr an die römische Einteilung der civitates halten konnte - auch wenn man von den noch vorhandenen ausging - , sondern an die fränkischen G a u e und G r a f schaften anknüpfen müßte. In den Gebieten der fränkischen Landnahme war die alte Verwaltungsordnung praktisch vernichtet, und so wurde z. B . auch im Fall T h é rouanne eine Zusammenlegung verschiedener civitates vorgenommen. Auch dort hat der Bischofssitz verschiedentlich gewechselt. 70 D i e einzige Nachricht über die Verhältnisse in Arras und Cambrai bringt die Vita Vedasti. Nach der gründlichen Untersuchung von Krusch ist diese etwa 6 4 2 verfaßt worden, rund 100 J a h r e nach dem T o d e des Vedastus. Sie ist ein rein literarisches Produkt, welches von Jonas, einem Mönch aus dem italienischen Kloster B a b b i o , geschrieben wurde. Dieser hat sich mit solchen literarischen Arbeiten beschäftigt und ist auf seinen Reisen auch nach Arras und Cambrai gekommen. Krusch konnte nachweisen, daß Jonas so gut wie gar keine historischen Unterlagen für seine V i t a gehabt hat. 7 1 D e Moreau hat freilich eine gewisse mündliche Tradition als Grundlage annehmen wollen; es wird aber nicht mehr aus der V i t a zu entnehmen sein, als daß Vedastus als Missionar nach Arras kam und dort wieder eine Kirchenorganisation begründete. D a ß dies schon zur Zeit Chlodwigs vor sich ging, ist möglich, aber nicht bewiesen ; das gleiche gilt von der Tatsache, daß die Mission von Reims aus eingeleitet worden ist. A m sichersten dürfte sein, daß sich 6 4 2 ein G r a b des Vedastus in der Kirche von St. Marien in Arras befand. 7 2 Von früheren Bischöfen gibt es keine Spur; 67 08

00

70

72

Vgl. z. B. Génicot, L., Das Mittelalter, Köln 1957, S. 10 (mit Literatur). Vgl. Petri, F., Zum Stand der Diskussion über die fränkische Landnahme und die Entstehung der germanisch-romanischen Sprachgrenze, in: RhVjbll. 1 5 - 1 6 / 1 9 5 0 - 5 1 , S. 65 ff. Vgl. Loening, E., a . a . O . , Bd. 2 : Das Kirchenrecht im Reiche der Merowinger, Straßburg 1878, S. 33 ff. Vgl. van Werveke, H., Het Bisdom Terwaan, Gent 1924, S. 8. Krusch, B., in: Ionae vitae sanetorum Columbani, Vedasti, Johannis, Hannover und Leipzig 1905, S. 301 ff. (MG. SS. rer. Germ, in us. schol.) Vgl. de Moreau, E., a . a . O . , Bd. 1, 2. Aufl., S. 54 ff. ; Lestocquoy, ]., Les saintes et les églises de l'abbaye de St. Vaast d'Arras, in: Revue du Nord 26/1943.

137

D i e Gründung des Bistums Arras

desgleichen nicht von Bischöfen in Cambrai zu Beginn der fränkischen Zeit. Hauck hat Vedastus als einen Missionsbischof noch ohne festen Sitz betrachtet, dessen Sprengel ganz unbestimmt gewesen ist. Hiermit dürfte er das Richtige getroffen haben.'" E s besteht nun kein Zweifel, daß der Sitz von Arras nach Cambrai verlegt wurde, und auch hierüber gibt es eine neue, interessante Arbeit. Man hatte bisher im allgemeinen angenommen, daß die Gründe für die Verlegung nicht bekannt seien; man hatte mit Vercauteren vermutet, daß Cambrai inzwischen größere Bedeutung erlangt hätte.''' Hierfür lassen sich in der T a t gewisse Gründe anführen. E s fällt auf, daß nach der Eroberung von Arras durch die Franken unter Chlodio, von welcher Mitte des 5. Jh. der Dichter Sidonius Apollinaris berichtet, dieses in Verfall geriet; bei Gregor von Tours wird es nicht mehr erwähnt. In Cambrai dagegen befand sich ein Königssitz der salischen Franken, und auch später erwähnt es Gregor als einen wichtigen befestigten Ort.'' 1 D e r niederländische Historiker Boeren hat nun eine merowingische Urkunde von ca. 679/86 für das Stift St. Gaugerich in Cambrai entdeckt und aus ihr Schlüsse ziehen können für die Geschichte von Cambrai im Beginn des 7. Jh. Nach seiner Ansicht hat König Chlothar II., als er um 599 das Gebiet von Cambrai zu erobern vermochte, den Sitz des Bischofs von Arras dorthin verlegt und seinen Parteigänger Gaugerich dort eingesetzt. 76 Damit ist ein wichtiges Motiv, das bisher fehlte, gefunden. Sicherlich hat auch die wirtschaftliche Situation Cambrais eine Rolle gespielt, jedoch ist es möglich, daß der Rückgang von Arras eben mit der Verlegung des Sitzes zusammenhing." Diese politischen Gründe für den Wechsel der Bischofsresidenz sind nicht ohne Interesse in Hinsicht auf die Vorgänge im Jahre 1093. Vielleicht wird man noch einen Schritt weitergehen und die Klostergründung St. Vaast in Arras auch mit einbeziehen können. Durch die Fälschungen der Urkunden des Klosters hat lange Unklarheit über diesen Vorgang bestanden, doch dürfte jetzt erwiesen sein, daß es sich um eine bischöfliche Gründung handelt. Man schreibt sie Autbert zu, der etwa seit 650 Bischof gewesen ist; doch ist der genaue Zeitpunkt unsicher.' 8 Petri hat die Gründung des Gaugerich-Klosters und die des Klosters St. Vaast in Arras in Parallele gesetzt und möchte daraus sogar eine Bestätigung des Doppelbistums erschließen.' 9 Eine solche jedoch ist kaum wahrscheinlich. Man wird nämlich einen Passus der Vita Vedasti beachten müssen, in dem es heißt, daß nach dem Tode des Vedastus es nicht möglich war, seine Leiche in die Kirche St. Marien zu transportieren, und daß dann ein V e r 73

Vgl. Hauck,

11

Vgl. Vercauteren,

A., a. a. O., Bd. 1, 8. Aufl., Berlin/Leipzig 1954, S. 113.

75

Vgl. ebenda, S. 2 0 9 .

' 6 Vgl. dazu Boeren,

F., Étude, a. a. O., S. 208. P. C.,

Contribution à l'histoire de Cambrai à l'époque

mérovingienne,

Maestricht et Vroenhoven 1940. D i e Arbeit war mir nicht zugänglich, sondern nur die eingehende Besprechung von Blockmans, Belge 2 0 / 1 9 4 1 , S. 707 ff. de Moreau, satz zu Blockmans, 77

F.,

L'histoire mérovingienne de Cambrai, in:

Revue

E„ a. a. O., Bd. 1, 2. Aufl., S. 61, Anm. 3, ist im Gegen-

aber ohne überzeugenden Grund, skeptisch.

Vgl. Petri, F., Anfänge, a. a. O., S. 2 3 7 . F., Étude, a. a. O., S. 188, und de Moreau,

78

Vercauteren,

7:1

Petri, F., Anfänge, a. a. O . , S. 2 3 8 .

E„ a. a. O., Bd. 1, 2. Aufl., S. 3 4 4 .

138

Ketzertum und Kirche

trauter des Bischofs erklärte, dieser wolle in einer K a p e l l e jenseits des Crinchon begraben sein. Dies aber ist eben diejenige Stelle, an der kurz danach das Kloster St. Vaast gegründet wurde. Bei dem rein legendarischen Charakter der V i t a verdient diese Äußerung sicher keinen G l a u b e n ; hier spricht deutlich die Absicht einer späteren Zeit. 8 0 D a das Kloster St. Vaast um 675, dem aus der Vita erschließbaren Gründungstermin, entweder erst geplant war oder in seinen Anfängen bestand, weist alles auf den Bischof Autbert hin. Für die Stellung Cambrais war es nicht ohne Belang, daß der Gründer, der als Heiliger galt, in einem Kloster und nicht in der alten Stiftskirche begraben war. E s sei darauf hingewiesen, daß wir für Lüttich etwas ganz ähnliches feststellen können. M a n konnte zwar den eigentlichen Gründer des Bistums, Servatius, nicht mehr hierhin überführen; der Märtyrertod des Bischofs Lambert jedoch hat die Möglichkeit zur Schaffung einer Kultstätte gegeben, und wieder aus gewissen politischen Erwägungen wurde der Bischofssitz von Maastricht nach Lüttich verlegt. Seit diesem Vorgang ist Lambert, der in der Kathedralkirche in Lüttich begraben war, der Patron Lüttichs und des Lütticher Bistums gewesen. 81 Man wird also sagen können, daß - im Gegensatz zu den Ausführungen in der Gründungsurkunde des Bistums 1094 - von einem Doppelbistum nicht gesprochen werden kann. W i r haben rechtlich eine translatio beneßcii und nicht eine unio berieft clor um vor uns. 82 Unter den Rechtsfolgen einer solchen translatio ist besonders bemerkenswert, d a ß der bisherige Sitz durch sie seine rechtliche Qualität verliert und diese auf diejenige Kirche übergeht, mit der nunmehr das Kirchenamt verbunden wird. D e r neue Sitz tritt somit in den G e n u ß aller Rechte und Privilegien des alten Sitzes ungeschmälert ein. 83 Dementsprechend ist also von vornherein das G e b i e t von Arras und Cambrai, zu dem übrigens nicht nur diese beiden civitates, sondern nach Osten hin noch andere Gebiete gehörten, von Anfang an als eine einheitliche Diözese zu betrachten. 84 Sie fand seit Gaugerich ihren rechtlichen Mittelpunkt allein in Cambrai. Auch die Behauptung, daß Arras während der Verbindung mit Cambrai eine kirchliche und kirchengerichtliche Sonderverwaltung besessen habe, und zwar durch

80

„Nam

ipse

pontifex

fluviolo aedificaverat, praeparatus

esse

in

oraturio,

requiescere

quem

ipse

disponebat;

vivens

de

Vita Vedasti c. 9, ed. B.

videbatur":

ligneis

tabulis

super

sed tarnen nec locus sie delectus Krusch,

a.a.O.,

litus

nec

Crienco

monumentus

(siehe Anm.

71),

S. 3 1 7 . Merkwürdigerweise läßt sich der tote St. Vaast doch erbitten, sich vorläufig in St. Marien begraben zu lassen. 81

Vgl. meinen Aufsatz: Lüttich und das Reich, a. a. O., S. 3 4 7 f.

82

„Gaugericus,

qui

episcopalis

sedis

dignitatem

ad

Cameracensem

transtulit

Series

urbem":

episcoporum in monasterio montis s. Michaelis conscriptae (Nomina episcoporum Atrebatensium et Cameracensium), ed. O. Holder-Egger vero

sedem

episcopalem

Atrebato

in: M G . SS. X I I I , S. 7 5 0 , Z. 47 f . ; „Vedulfum

Cameracum

transtulisse

plerique

existimant":

. . .

Gallia chri-

stiana, Bd. 3, 2. Aufl., Paris 1 8 7 6 , Sp. 4. 83

Hinschius, System

P„

des

Das Kirchenrecht

katholischen

der Katholiken und Protestanten

Kirchenrechts

mit

besonderer

in Deutschland,

Berücksichtigung

auf

Bd.

2:

Deutschland,

Berlin 1 8 7 8 , S. 3 9 7 und 3 9 9 . Sehr richtig wird dies in der Gallia christiana, Bd. 3, a . a . O . , Sp. 3 2 0 , dargestellt: „post cujus (sc. Vedulfi) 8 ''

Vgl. unten S. 145, Anm. 122.

discessum

nomen

episcopatus

Atrebatensis

periit."

139

D i e G r ü n d u n g des Bistums A r r a s

zwei Archidiakone und einen kirchlichen Vizedominus, trifft für die frühere Zeit nicht zu.8'' Das Gebiet dieses späteren Bistums w a r in zwei Archidiakonate eingeteilt: Arras und Östrevant. 8 " Es fehlt aber jeder Beweis, d a ß die Archidiakone selbständige Funktionen ausübten und in Arras ihren Sitz hatten. Sie haben vielmehr w i e üblich zur Umgebung des Bischofs gehört, wofür übrigens aus der letzten Zeit auch ein Zeugnis vorliegt. 8 ' Das Wesentliche ist, d a ß das sogenannte jüngere Archidiakonat, dessen Funktionen jeweils einen begrenzten Teil der Diözese umfaßten, erst eine Erscheinung des 10. Jh. ist. 88 Demzufolge w ü r d e die Einteilung in Archidiakonate für Cambrai sehr viel später vorgenommen, und es ist bezeichnend, d a ß für Arras zwei in Frage kamen, deren Abgrenzung nach politischen Gesichtspunkten erfolgte, während sechs andere bei Cambrai verblieben. Diese zeigten ihrerseits wiederum, wie wenig die Diözeseneinteilung hier mit den römischen civitates zu tun hatte, denn sie erstreckten sich über Brabant bis an die Scheidemündung und hatten natürlich gar nichts mehr mit der alten civitas von Cambrai zu tun.811 W a s nun den Vizedominus anbetrifft, so handelte es sich bei ihm um einen Verwaltungsbeamten, der ähnliche Funktionen w i e der Vogt hatte. Dieses Amt ist meist in weltliche Hände gelangt. In Cambrai ist der Vizedominus als Vasall des Bischofs nachzuweisen, während für Arras keine Spur eines solchen vorhanden ist. 90 Es entsprach der Politik der Bischöfe von Cambrai, d a ß sie nach dem Aufhören der Konflikte mit St. Vaast w i e zur Zeit der Gründung den dortigen Abt gegen St. Marien ausspielten. In diesen Zusammenhang gehört auch ihre Territorialpolitik in Arras. Bei der Einrichtung des Bistums Arras mußte man leider feststellen, daß, abgesehen von dem sehr bescheidenen Besitz des Stiftes St. Marien, offenbar so gut wie gar keine Güter der Bischöfe von Cambrai in diesem Gebiet vorhanden waren. Daher forderte 8i>

„Atrebatensis batensi palem

tarnen

ecclesia

ecclesia

illius

non amisisse,

suo titulo

diócesis

duos Semper

episcopalia

set pro sut penuria

habuit

tractabantur, sub alterius

archidiáconos,

unde

constat,

iugo diutius

et nonnisi

ipsatn

laborasse"

in

dignitatem

Atreepisco-

: Series episcoporum

in monasterio mdtitis s. Michaeli conscriptae, a. a. O . , S. 7 5 0 , Z. 4 8 fï. D i e G a l l i a christiana, B d . 3, 2. A u f l . , a. a. O., Sp. 3 2 1 , bestimmt die kirchengerichtliche Sonderstellung noch g e n a u e r :

„necnon

vicedominum

[babuit]."

per aequalitatem" 8li

qui

absente

episcopo

de

causis

Atrebatensis

episcopatus

judicaret

Es w ü r d e eine solche Sonderstellung v o n A r r a s e t w a den Rechtsfolgen einer

„Archidiaconias

entsprechen; vgl. Hinschius,

duas,

quarum

una Atrebatensis,

„unio

P., a. a. O., B d . 2, S. 4 2 5 . altera

dicitur

Obstrevandensis",

so zählt sie

U r b a n II. in der Restitutionsbulle f ü r A r r a s a u f : R. H. F., B d . X I V , S. 7 5 0 , Abschnitt C. V g l .

Vanderkindere,

L„ a. a. O., B d . 1, 2. A u f l . , S. 2 7 5 .

D a ß der A r c h i d i a k o n A l a r d v o m O s t r e v a n t gleichzeitig praepositus

des wichtigen St. G a u g e r i c h -

Stiftes in C a m b r a i w a r , zeigt ein Vergleich z w e i e r U r k u n d e n des J a h r e s 1 0 8 9 . D i e eine trägt die Unterschrift : „S. Alardi

et ecclesiae

s. Gaugerici

archidiaconi

praepositi"

Ostrevantensis",

: Duvivier,

die a n d e r e hat „S. Alardi

arcbidiaconi

Ch., A c t e s et documents anciens intéressant la

Belgique, Bd. 2, B r u x e l l e s 1 9 0 3 , nr. 7 4 und 7 5 , S. 4 5 1 und 4 5 2 . V g l . ders., Recherches sur le Hainaut ancien du V i l e 88

Feine,

au

x i l e siècle, Bruxelles 1 8 6 5 , S. 3 5 .

H. E., a. a. O., [4. A u f l . , S. 2 0 1 ] .

89

V g l . die K a r t e 1 bei de Moreau,

90

V g l . Reinecke,

E„ a. a. O., Zusatzbd. 1, Bruxelles 1 9 4 8 .

W., a. a. O., S. 3 2 und 6 4 ff.

140

Ketzertum und Kirche

Urban II. von dem Grafen Robert von Flandern, Liegenschaften zurückzugeben, welche an Arras angeblich durch die Schuld der Bischöfe von Cambrai verlorengegangen seien.111 Aber auf diesem Wege ließ sich nicht viel erreichen. D e r erste Bischof von Arras, Lambert, mußte betrübt die Armut seines Bistums feststellen, und dieses ist immer materiell sehr schlecht gestellt geblieben. 0 - Infolgedessen versuchten seine Bischöfe, die alten großen Klöster ihrer Diözese unter ihre Oberhoheit zu bekommen - vor allem St. Vaast, denn sie wurden durch die Stadtherrschaft des dortigen Abtes in Arras sehr bedrängt. Ihre Bemühungen hatten indessen keinen Erfolg, denn hinter dem Abt von St. Vaast stand der Graf von Flandern. 03 Es stand also die materielle Situation des Bischofs in Arras in krassem Gegensatz zu seiner Lage in Cambrai, wo er sogar die Hoheit über den ganzen Gau erlangte und dadurch ein eigenes Fürstentum gründen konnte.9'1 Das ist gewiß nicht zufällig; man darf es als Politik der Bischöfe von Cambrai bezeichnen, in Arras keine Konkurrenz für den eigenen Ort großwerden zu lassen. D e r Verlust von Arras bedeutete also für sie keine materielle Einbuße; man kann ihn höchstens als eine Prestigefrage bezeichnen. Wenn nun Urban II. die Auffassung vertrat, daß auf Grund alter Zeugnisse Arras einen selbständigen Bischof besessen habe und diese Diözese nur aus zeitbedingten Gründen mit Cambrai vereinigt worden sei, so kann man sagen, daß er dies in gutem Glauben tat, denn er konnte sich auf Angaben sowohl aus Arras wie aus Cambrai stützen. Letztere waren allerdings literarischer Natur und enthielten keinerlei Beweis für den wirklichen früheren Zustand. ! ' J Wenn also ein scheinbarer Grund für die Auflösung der Union vorlag, so ist das Verfahren dabei doch eigenartig gewesen und kirchenrechtlich von allgemeiner Bedeutung. Urban II. hat in den beiden Schreiben vom 2. Dezember 1092 gegenüber dem Klerus von Arras erklärt, er befehle aus apostolischer Autorität, daß man dort einen Bischof wähle und ihn durch den Metropoliten weihen lasse; gleichzeitig forderte er den Erzbischof Reinald von Reims auf, denjenigen, den der Klerus von Arras sich erwähle, ohne Verzug zu weihen. 00 Es war dem Papste nicht unbekannt, daß auf IJi

Urban II. fordert von Robert von Flandern unter dem 11. März 1095 (JL. 5546) Besitzungen für Arras zurück, die er bezeichnet als „possessiones episcopis

. . . male

distractas

de

manibus

tenenlium

ejusdem eripere,

episcopatus et eidem

a

Cameracensibus

ecclesiae

restituere":

R. H. F., Bd. X I V , S. 753, Abschnitt C. 92

Auch Lambert von Arras spricht einmal von der „inopia

Irerum]

sedis

nostrae":

ebenda,

S. 751, Abschnitt B. Die schlechte finanzielle Lage ergibt sich aus den Gesta episcoporum Cameracensium lib. II, c. 13, a. a. O., S. 459. Vgl. auch meine Arbeit: Alvisus, a. a. O., S. 18, Anm. 2, und Reinecke,

W„ a. a. O., S. 22, Anm. 4.

93

Vgl. oben S. 125 und unten S. 151.

9/|

Vgl. meine Aufsätze: Lothr. Politik, a . a . O . , S. 155 f., sowie: Residenz und Territorium im niederländischen Raum, in: [RhVjbll. 6 / 1 9 3 6 ; Wiederabdruck in:] Beiträge zur belgisch-niederländischen Geschichte, Berlin 1959, S. 243 (Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte, hrsg. v. Sproemberg,

05 96

H., u. a., Bd. 3).

Vgl. oben S. 132, Anm. 51 und 52. Brief an den Klerus von Arras: „Volumus cardinalem ecclesiae

episcopum vestrae

. . . eligere,

incardinare

itaque

et electum

studeatis":

et apostolica

per manum

auetoritate

metropolitani

praecipimus vestri

ut . . .

consecrare,

et

R. H. F., Bd. X I V , S. 738, Abschnitt C. Ferner an

141

D i e Gründung des Bistums A r r a s

diese W e i s e die bisherige Rechtsanschauung für einen solchen F a l l entschieden verletzt worden w a r . Sie besagte, d a ß bei Gründung oder auch Trennung von Bistümern das Provinzialkonzil unter Vorsitz des Metropoliten zu entscheiden habe und für den Fall, d a ß bestehende Rechte verletzt würden, die Zustimmung des Geschädigten unentbehrlich sei. Sie beruhte vor allem auf canones afrikanischer Konzilien" 7 ; jedoch es ist bekannt genug, d a ß sie auch in der mittelalterlichen Kirche lebendig geblieben ist. So hat in dem berühmten Fall der Gründung des Erzbistums M a g d e b u r g der Widerspruch des früheren Metropoliten, des Erzbischofs von Mainz, und des unmittelbar Geschädigten, des Bischofs von Halberstadt, w e d e r durch den Kaiser noch durch den Papst oder durch eine allgemeine Synode in Italien beseitigt w e r d e n können. Erst als die derzeitigen Inhaber beider Ä m t e r starben und ihre Nachfolger durch den Kaiser gezwungen wurden, ihre Zustimmung zu geben, konnte die päpstliche V e r fügung der Gründung des Erzbistums M a g d e b u r g durchgeführt werden. 9 8 Bereits Gregor VII. hat den Anspruch auf ein ausschließlich päpstliches Reservat bei der E r richtung von Bistümern erhoben, ohne aber damit durchzudringen. Seinem Beispiel ist Urban II. gefolgt, und er hat bei jener Gelegenheit zum ersten M a l e versucht, diesen Anspruch durchzukämpfen. D a ß es sich um eine grundsätzliche F r a g e handelte, geht d a r a u s hervor, d a ß er sehr bald danach in verschiedenen Fällen ähnliche Entscheidurigen getroffen h a t . " D i e Erklärung, d a ß es ausschließlich das Recht des apostolischen Stuhles sei, Bistümer zu vereinigen, zu trennen oder neue zu errichten, konnte bei R e i n a l d natürlich nur tiefste Verbitterung hervorrufen. Es kommt hinzu, d a ß dieser d a m a l s bereits in gespannten Verhältnissen zum Papst stand. Urban hatte ihn im Oktober 1092 angegriffen, w e i l einer seiner S u f f r a g a n e die anstößige zweite Ehe König Philipps geRainald : „ M a n d a m u s itaque episcopum

eligerit,

tibi

consecrare

et

atque

praecipimus,

eidem

ecclesiae

ut illum

quem

incardinare

non

ecclesia

illa . . . sibi

differas":

ebenda,

in Ab-

schnitt B. 97

Sägmüller,

]. B., Lehrbuch des katholischen Kirchenrechts, Bd. 1, 3. A u f l . , Freiburg i. Br. 1 9 1 4 ,

S. 3 0 1 ff. 08

V g l . Hollzmann,

R.,

Geschichte

der

sächsischen

Kaiserzeit,

3. A u f l . , Berlin

o. J.

(1955),

S. 1 8 5 f. 99

Vgl. Hinschius,

P„ a. a. O., Bd. 2, S. 3 8 3 . Urban erklärt an R e i n a l d : „Solius

est episcopatus

conjungere

et conjunctos

disjungere,

aut etiam

novos

enim

constituere":

Bd. X I V , S. 7 3 8 , Abschnitt B. A u f unseren Fall folgt die Vollziehung einer unio

Apostolici R. H. F., zwischen

S. Paul-Trois-Chäteaux (Tricastinum) und Orange ( A r a n s i o ) . D i e Entscheidung Urbans datiert v o m 1 5 . A p r i l 1 0 9 5 ( J L . 5 5 6 1 ; D r u c k : G a l l i a christiana, Bd. 1 , 2. A u f l . , Paris 1 8 7 0 , Instrumenta, S. 1 1 9 ; vgl. dazu im T e x t ebenda, Sp. 7 1 2 ) ; sie w u r d e indessen v o n Paschalis II. bereits 1 1 1 3 wieder, und zwar f ü r die Dauer, aufgehoben ( J L . 6 3 2 9 ; D r u c k : G a l l i a christiana, Bd. 1, 2. A u f l . , a. a. O., Instrumenta, S. 1 3 2 ) . Gleichfalls hierher gehört eine Entscheidung, welche Urban auf dem Konzil v o n Clermont ( 1 8 . - 2 8 . N o v . 1 0 9 5 ) über einen Streit zwischen Bischof und K l o s t e r in Tours traf. Hier heißt es: „Dominus pedes

coram

omni concilio,

licere

sibi facere

ex auctoritate

ex uno episcopatu

S. 9 8 , Abschnitt A .

duos,

apostolica

Papa,

et decretis

et ex duobus

imperato

silentio,

pontificalibus

unum similiter."

erectus

concionatus

in est,

R. H. F., Bd. X I V ,

142

K e t z e r t u m und K i r c h e

weiht hatte. 100 Man darf nicht vergessen, daß die engen Beziehungen von Reims zur Krone den Erzbischof veranlaßten, auch in diesem Konflikt sich zumindest wohlwollend gegenüber dem König zu verhalten. 101 So zeigte er sich nicht geneigt, dem Befehl des Papstes ohne weiteres zu folgen; vielmehr teilte er der Geistlichkeit von Arras mit, daß er den Klerus von Cambrai aufgefordert habe, er möge seinen Anspruch auf Arras erweisen. Zur Erledigung der Sache habe er eine Provinzialsynode nach Reims einberufen. Sollte dort die Forderung von Arras als begründet anerkannt werden, so würde sie nach Anweisung des Papstes und dem Spruch des Provinzialkonzils erfüllt werden. 102 Mit Entschiedenheit hat also Reinald den alten Rechtsanspruch gewahrt und die Entscheidung des Papstes praktisch ignoriert. Am 20. März 1093 trat das Provinzialkonzil in Reims zusammen, und beide Parteien waren der Aufforderung des Erzbischofs gefolgt. Es bedeutete dies einen Rückzug von seiten Arras', da man sich dort nach dem' Entscheid des Papstes auf weitere Verhandlungen nicht einzulassen brauchte. Aber man kannte die Rechtslage gut genug, und so hielt man es für angebracht, sich nicht nur auf die Entscheidung des Papstes zu stützen, sondern die Forderung historisch und juristisch zu fundieren. Die historische Begründung ist wieder dieselbe wie in dem Schreiben an Urban II. Für zwei Punkte aber glaubte man noch den juristischen Nachweis führen zu müssen: erstens, daß eine volkreiche civitas, die ehemals einen Bischof besaß, einen Rechtsanspruch auf dessen Wiedereinsetzung habe; zweitens, daß es dem Papst allein zustehe, die Forderung nachzuprüfen und den Zeitpunkt ihrer Erfüllung zu bestimmen. Zugunsten des ersten führte man die Anweisung des Petrus an seinen Schüler Clemens an, welche die allgemeine Anordnung enthielt, in die einzelnen civitates Bischöfe zu senden - übrigens eine Fälschung Pseudo-Isidors. 103 Sodann folgt der canon VI des Konzils von Sardica (343/344) in einem sachlich nicht unbedenklichen Auszug 10 ''; endlich wird der canon V des Konzils von Karthago (386-390) angeführt. In der Tat wird in diesen Konzilsbeschlüssen ein Anspruch auf Wiederherstellung ehemaliger Bistümer bei ausreichender Bevölkerung anerkannt, aber es war mehr als kühn, mit ihnen hier zu argumentieren. Schon der canon von Sardica überließ dem Provinzialkonzil die endgültige Entscheidung in einer solchen Frage; der von Karthago aber besagt, daß die Zustimmung des geschädigten Bischofs bei diesem Akte unentbehrlich ist.10ü

100

Schreiben U r b a n s an R e i n a l d v o m 2 7 . O k t . 1 0 9 2 : J L . 5 4 6 9 ; R . H. F., B d . X I V , S. 7 0 2 f.

101

V g l . oben S. 1 2 3 und Hader,

102

„Quod

si rationes

concilii

consilio

vestrae

a vestro

]., a. a. O . , B d . 2, 2. A u f l . , S. 6 1 7 . victoriae

desiderio

locum

obtinuerit,

non vos fraudari

ex domni patiemur":

Papae

praecepto

et

totius

R. H. F., B d . X I V , S. 7 3 9 ,

Abschnitt B. 103

E b e n d a , S. 7 4 0 , Abschnitt B ; vgl. J L . 1 0 .

104

D e r C a n o n ist abgedruckt bei Hefele,

K.

J. v.,

Conciliengeschichte, B d . 1 , 2. A u f l . , Frei-

burg i. Br. 1 8 7 3 , S. 5 7 8 . D e r A u s z u g ist nach der lateinischen Fassung g e f e r t i g t (vgl. dazu ebenda, S. 5 3 3 ) ; der besonders wichtige Schlußpassus fehlt. R . H. F., Bd. X I V , S. 7 4 0 , A b schnitt B.

143

Die Gründung des Bistums Arras

Für das Reservatrecht des Papstes berief man sich auf Entscheidungen Gregors des Großen, welche indessen keineswegs im Widerspruch zu den Bestimmungen der afrikanischen Konzilien standen. lnu D i e diesbezüglichen Ausführungen zeigen ein großes Maß von juristischen Kenntnissen und auch von diplomatischem Geschick. Praktisch wurde damit zunächst die Endgültigkeit der ersten päpstlichen Entscheidung aufgegeben. Was die Kleriker von Cambrai hierauf erwidert haben, ist nicht überliefert. Aus Arras wird dazu bemerkt, daß sie keinen Beweistitel vorzulegen vermochten. 10 ' In der Zuschiebung der Beweispflicht an die Beklagte lag die Kunst des Anklägers, denn es war völlig klar, daß Cambrai keine Urkunde besitzen konnte, in der ihm Arras durch päpstlichen Entscheid zugesprochen wurde, weil dieses einen Teil seiner Diözese bildete. Hier wird entscheidend, daß vorzeiten eine translatio vor sich gegangen war und keine uriio. Nach der Äußerung der Parteien ließ der Erzbischof das erste Schreiben Urbans an ihn vorlegen. Daraufhin befahl er, eine Canonessammlung zu holen und den von Arras angezogenen canon V I von Sardica vorzulesen. Dabei stellte sich heraus, daß auch hier das Provinzialkonzil als endgültige Instanz anerkannt wurde. 108 Von Seiten Arras' hat man wieder auf die Entscheidung des Papstes hingewiesen; man führte zwei Zeugen an, die von diesem gekommen waren und erklärten, sie hätten den Auftrag, den Erzbischof zur unverzüglichen Weihe des Gewählten anzuweisen. Das jedoch machte auf Reinald und die Bischöfe keinen Eindruck. Der Bericht aus Arras behauptet, daß man geneigt gewesen wäre, der Bitte von dort zu entsprechen; aber in diesem Augenblick habe sich der Vertreter von Cambrai, Walcher, erhoben und erklärt, daß er vor dem Papst den Gegenbeweis anzutreten bereit sei.10!l Das Konzil entschied nach diesem Antrag, und als Termin der Verhandlung wurde der Mai 1093 festgesetzt. Es war kaum zu bezweifeln, daß der Papst für Arras entscheiden würde, aber Reinald hatte zweifellos einen Erfolg erzielt: er hatte das Mitbestimmungsrecht des Provinzialkonzils durchaus behauptet, und auch formal war die Bestimmung, daß der geschädigte Teil zustimmen mußte, durch die Zulassung Cambrais zu einer Verhandlung vor dem Papste anerkannt worden.

1Cb

„Eins videlicet

volúntate,

in cuius potestate

est diócesis

Bd. 1, 2. Aufl., S. 49. Vgl. hierzu Sägmüller,

constituía":

Hefele,

K. J. v., a. a. O.,

]. B., a . a . O . , Bd. 1, 3. Aufl., S. 301 mit

Anm. 4. 106 Gregorii I. registri üb. II, ep. 42, an den Bischof Felix von Acropolis, und lib. IV, ep. 29, an den Bischof Januarius von Cagliari auf Sardinien, ed. P. Ewald

und L. M.

Hartmann,

M G . Epp. I, Berlin 1891, S. 141 f. und 263. 107

„Privilegia

quibus

Atrebatensem

ecclesiam

sibi

possidendam

vendicarent,

non

afferrent":

R. H. F., Bd. X I V , S. 740, Abschnitt E . 108

„Non debent

illi ex alia provincia

pos habuerunt,

invitati facere

aut si qua tarn populosa

episcopum,

nisi aut in civitatibus

est civitas vel locus, qui mereatur

quae

habere

episco-

episcopum":

ebenda, S. 741, Abschnitt A. 100

In den sogenannten Gesta Lamberti heißt es: „Episcopi. ab archiepiscopo proprium

postulaverunt",

pontificem

habere,

hoc ipsum esse paratos

und ferner: „Atrebatensem

seque ipsum vel Cameracenses

probare."

. . inducías ecclesiam clericos

tanti difßniendi

negotii

non debere

jure

aliquo

domini

Papae

in praesentia

Ebenda, Abschnitt B. Es scheint demnach, als ob man doch

144

Kctzertum und Kirche

E s war jedoch nicht möglich, daß Cambrai die Sache wciterverfolgen konnte, weil es damals dort noch nicht zu einer Entscheidung über die Bischofswahl gekommen war. Kurz nach dem Konzil in Arras hat man Manasses gewählt, der aber nicht die Zustimmung des Kaisers fand und nach Reims floh, um die Hilfe Reinalds anzurufen. Mit Zustimmung Heinrichs IV. wurde nun Walcher erhoben und am 30. November 1093 vom Kaiser investiert, womit aber die Unruhen in Cambrai nicht ihr E n d e fanden."" Es versteht sich, daß Arras hierdurch freies Spiel gewann. Seine Vertreter erschienen vor Urban, und dieser fällte ein Versäumnisurteil gegen Cambrai, von dem er in zwei Schreiben an Reinald und den Klerus von Arras Mitteilung gegeben hat. Allerdings hielt er noch die Möglichkeit eines Einspruches offen, sofern Cambrai nämlich den Erwerb von Arras durch ein päpstliches Privileg nachweisen könne - wobei er ohne Zweifel wußte, daß dies unmöglich war. Im Falle daß Reinald die Weihe des Erwählten von Arras verschleppen sollte, erklärte sich der Papst selbst bereit, diese zu vollziehen. 111 E s ist bemerkenswert, daß er hierdurch von seinem ersten Entscheid zurückwich, da er die Mitwirkung des Provinzialkonzils anerkannte und auch dem Geschädigten das Recht des Einspruches zugestand. 112 Ein Vorteil für Cambrai entstand hierdurch allerdings nicht. Man hatte nun in Arras den Eindruck, daß man einen Schritt vorwärts gehen könne. Am 10. Juli 1093 wurde Lambert, bisher Kanonikus und Kustos des Stiftes St. Peter in Lille, einstimmig zum Bischof gewählt. Es war dies eine durch Klugheit und Gewandtheit hervorragende Persönlichkeit, die, wahrscheinlich in Übereinstimmung mit dem Grafen von Flandern, bereits die bisherigen Verhandlungen für Arras geleitet hatte. 113 Auf die Anzeige der Wahl hin erklärte sich der Erzbischof zur Weihe bereit, doch wünschte er erst die Komprovinzialbischöfe über ihre Meinung zu befragen. Wieder erscheint hier bei ihm das Bestreben, seine Rechte gegenüber der Kurie zu wahren. In Arras glaubte man aber, sich darauf nicht einlassen zu müssen, und wandte sich mit einer Beschwerde an den Papst, in der man um eine Fristsetzung für die Weihe bat.11'1 Urban hat daraufhin den Erzbischof angewiesen, Lambert innerhalb von 30 Tagen nach Empfang des Schreibens zu weihen, widrigenfalls er selbst den Akt vornehmen würde. 11 '' In einem gleichzeitigen Schreiben beglückwünschte er Lambert zur Wahl, teilte ihm seine Anweisung an Reinald mit und forderte ihn auf, bei deren Nichterfüllung nach Rom zur Weihe zu kommen. 110

von Seiten Cambrais die grundsätzliche Erörterung der Frage, gegebenenfalls die Ableugnung einer Union, versuchen wollte. 110

Vgl. Cauchie,

111

J L . 5484 und 5 4 8 5 ; R. H. F., Bd. X I V , S. 741 f.

112

„Sustinuerunt provinciaü

113

A., a. a. O., Bd. 2, S. 131 ff. autem

concilio

Cameracensium fuerat constitutum":

clericorum

adventum

usque

ad tempus

quod

utrisque

in

ebenda, S. 741, Abschnitt D .

Die Angabe des Berichtes von Arras, daß Reinald Lambert vorgeschlagen habe

(ebenda,

Abschnitt E ) , ist wenig wahrscheinlich. Lamberts Beziehungen weisen auf Flandern. Seine Verbindung zu Arras vor der Wahl ergibt sich aus einem Schreiben des praepositus von Arras an den praepositus

Walbert

Walter von Lille: ebenda, S. 742, Abschnitt C.

lw

Schreiben des Klerus von Arras an Urban, ebenda, S. 743, Abschnitt C.

115

Schreiben Urbans vom 11. Okt. 1 0 9 3 : J L . 5 4 9 0 ; R. H. F., Bd. X I V , S. 744, Abschnitt B.

11(i

Weiteres Schreiben vom 11. Okt. 1 0 9 3 : J L . 5 4 9 1 ; R. H. F., Bd. X I V , S. 744, Abschnitt B.

Die Gründung des Bistums Arras

145

Reinald e r k l ä r t e sich d a r a u f h i n zur W e i h e bereit, w o d u r c h er also tatsächlich die W a h l anerkannte, hielt aber den gesetzten Terrain nicht ein."' Inzwischen w a r man in Reims zu dem Entschluß gekommen, dem Papst die W e i h e zu überlassen. 1 ' 8 D e r Versuch Lamberts, durch persönliche V o r s t e l l u n g in Reims am 1 8 . D e z e m b e r 1 0 9 3 die W e i h e zu erlangen, blieb daher erfolglos. D e r Erzbischof gab ihm lediglich ein Begleitschreiben an den Papst mit. Tatsächlich w a r er auch zu diesem V o r g e h e n berechtigt. 1111 A m 2 4 . D e z e m b e r reiste die A b o r d n u n g mit L a m b e r t nach Rom. Danach traf ein neues Schreiben U r b a n s in Reims ein, welches den K l e r i k e r n v o n C a m b r a i anheimstellte, am 26. Februar 1 0 9 4 , dem zur W e i h e L a m b e r t s angesetzten Termin, in R o m zu erscheinen, um ihre Ansprüche zu vertreten. 1 2 0 W i e d e r u m also nahm d e r Papst Rücksicht auf den Anspruch v o n Cambrai, gehört zu w e r d e n , w e n n dies auch rein f o r m a l e Bedeutung hatte. L a m b e r t erreichte R o m am 1 9 . F e b r u a r 1 0 9 4 . 1 2 1 E r f ü h r t e zwei Schreiben an U r b a n mit sich: das eine enthielt eine B e s c h w e r d e des K l e r u s v o n A r r a s über den Erzbischof sowie die Bitte um A b g r e n z u n g der neuen D i ö z e s e ; hierbei sollte die G r e n z e zwischen Frankreich und dem Reich zugrunde gelegt w e r d e n , welche natürlich mit dem U m f a n g der alten civitas v o n A r r a s nicht das Geringste zu tun hatte. 1 2 2 Ferner übergab er ein Schreiben Reinalds, das w i e d e r u m auf das Mitspracherecht d e r K o m p r o v i n z i a l b i s c h ö f e v e r w i e s . 1 2 3 D e r Erzbischof äußerte 117 118

119

120

121

122

123

Schreiben Reinalds an Lambert: ebenda, Abschnitt C. Das folgt aus dem Schreiben Urbans an Reinald: „Decuerat": JL. 5500; R. H. F., Bd. XIV, S. 747 f. Caucbie, A., a. a. O., Bd. 2, S. 127, hat dieses vor das Schreiben vom 11. Okt. an Reinald gesetzt. Dies ist falsch, da in diesem Schreiben bereits von der Romreise Lamberts gesprochen wird. Ein Ultimatum für dessen Weihe in Reims war daher widersinnig. Dagegen heißt es im Bericht von Arras, Reinald habe ihn „aeeepto astutiori quam prudentiori consilio" nach Rom gesandt: R. H. F., Bd. XIV, S. 745, Abschnitt A. „In proxima Quadragesima, cum Atrebatenses pro electi sui confirmatione ad nos venerint, ipsi quoque cum ecclesiae suae auetoritatibus nostrae se audientiae repraesentent": ebenda, S. 748, Abschnitt A. Das Schreiben JL. 5500 muß nach dem 18. Dezember zu Reinald gelangt sein, da dieser es in seinem Begleitschreiben an Urban nicht erwähnt. Auch muß den Cambraier Klerikern eine angemessene Zeit zur Reise nach Rom zugestanden worden sein. Urban setzt in dem Schreiben an Reinald vom 25. März 1094 ( J L . 5515) die Möglichkeit eines rechtzeitigen Erscheinens voraus. Lambert mußte auf dieser Reise von den Anhängern König Philipps flüchten, da er als Parteigänger Urbans galt: R. H. F., Bd. XIV, S. 745, Abschnitt B. „Praecipiat auetoritas vestra ut divisio d.uorum regnorum, Francorum scilicet et Teutonicorum, sit episcopatus nostri meta, sicut antiquis temporibus fuisse per successorum relationem et alia certa indicia cognovimus": ebenda, S. 747, Abschnitt D. Dagegen hat sich Urban II. in der sogenannten Restitutionsbulle von 1094 vorsichtiger ausgedrückt, indem er sagt: „limites inter Atrebatensem et Cameracensem ecclesias fore praeeipimus, quos antiquitus fuisse, vel scriptorum monumentis . . . vel certis . . . indieiis potuerit comprobari": ebenda, S. 750, Abschnitt C. Durch diesen Entscheid wird also, anscheinend zum ersten Mal, die politische Grenze für die Bistumsgrenzen verbindlich gemacht. Dies wird zwar nicht ausdrücklich gesagt; jedoch in Verbindung mit dem Antrag von Arras und der tatsächlichen Durchführung ist dieser Grundsatz hierdurch ausgesprochen. Vgl. unten S. 150. Über das Zustimmungsrecht der Komprovinzialbischöfe vgl. Hinschius, P., a. a. O., Bd. 2, S. 537.

146

K e t z e r t u m und Kirche

Bedenken; er fragte, ob nicht die Trennung von Arras und Cambrai dazu führen könnte, daß Cambrai sich der Metropolitangewalt von Reims entziehe, und zeigte sich besorgt in bezug auf die Rechte des Kaisers. 12 ' 1 Da aber auch der letzte Termin in Rom von Cambrai versäumt wurde, ist Lambert am 19. März 1094 vom Papst geweiht worden. In einer ganzen Reihe von Erlassen wurde dieser Entscheid verkündet, vornehmlich jedoch in der sogenannten Restitutionsbulle vom 23. März 1094. 12u Im wesentlichen schließt sich diese in ihrer Begründung an die Klageschrift von Arras an. Bemerkenswert ist die Anführung des canon VI von Sardica und des canon V von Karthago. Die dort enthaltenen Rechtssätze von der Mitwirkung der Provi nzialsynode und der Notwendigkeit der Zustimmung der Geschädigten wurden damit anerkannt. Wir bemerken also einen formalen Rückzug des Papstes, welcher in den Begleiterlassen ausdrücklich erklärte, daß die Gegenpartei nicht erschienen sei, obwohl maneinenMonathindurch auf sie gewartet habe. Aus diesem Grunde habe er Lambert selbst geweiht und die Trennung von Cambrai und Arras für alle Zeit verfügt. 120 Auf diese Weise wurde somit doch der Entscheid des Papstes durchgeführt, ohne daß allerdings die bisherige Rechtssituation eine grundsätzliche Änderung erfuhr. In einem besonderen Schreiben empfahl der Papst Lambert dem Grafen Robert von Flandern, dessen Mitwirkung so zum sichtbaren Ausdruck kam. 12 ' Der Erzbischof war aber noch nicht zufrieden. Auch er suchte nachdrücklich sein Recht zu wahren und forderte von Lambert ein persönliches Treucgelübde. Dieser erklärte sich hierzu bereit; auf einem Provinzialkonzil in Reims am 21. September 1094 leistete er den Eid und wurde als Bischof von Arras anerkannt. 128 Hiermit aber war der Streit nicht beendet, denn die Zustimmung von Arras war nur insofern erreicht worden, als Manasses, der Kandidat der päpstlichen Partei in Cambrai, vor jenem Konzil in Reims auf alle Ansprüche bezüglich Arras verzichtet hatte. 129 Aber er hatte die Anerkennung des Kaisers nicht gefunden, und der inzwischen gewählte und vom Kaiser investierte Walcher war entschlossen, die Trennung rückgängig zu machen.1,10 Zunächst hatte ihn der Papst akzeptiert und sogar Reinald entschloß sich, ihn als Bischof von Cambrai zu weihen - allerdings unter der Voraussetzung, daß er Arras aufgebe. 131 Jedoch Walcher legte trotzdem gegen den Entscheid Urbans Be124

V g l . unten S. 1 5 0 .

123

Bulle v o m 23. M ä r z 1 0 9 4 : R. H. F., Bd. X I V , S. 7 5 0 , Abschnitt D ; J L . 5 5 1 2 .

12,1

„Nos

siquidem,

cardinali

auctore

deinceps

Deo,

potiatur

legitimum

episcopo":

Atrebatensis

ecclesia

R. H. F., Bd. X I V , S. 7 4 8 , Abschnitt D .

sempiternum

statuimus,

ut

Schreiben

Urbans v o m 2 5 . M ä r z 1 0 9 4 ; J L . 5 5 1 5 . 127

Bulle v o m 3 1 . M ä r z 1 0 9 4 : J L . 5 5 1 8 . Es ist bemerkenswert, daß Urban gegenüber dem G r a f e n v o n Flandern Cambrai und A r r a s als „ecclesiae

quae in tua ditione

sunt" bezeichnete: R. H. F.,

Bd. X I V , S. 7 4 9 , Abschnitt D . 128

„In concilio habuimus, ejusque

quod

Remis

. .. consilio consecratione

12!l

Vgl. oben S. 1 4 4 £.

130

„Sperans grari."

procul

cum coepiscopis

et assensu confirmantes

dubio,

prudentia

noslris

coepiscoporum

atque

principibus

nostrorum.

. . ipsius

multis

XV.

kal.

professionem

confirmavimus."

Ebenda, S. 7 5 2 , Abschnitt D.

atque

illius

instantia

predictam

diviüonem

Gesta episcoporum Cameracensium continuatio, c. 7, ed. L. C. Bethmann

octobris suscepimus,

posse

redinte-

in: M G

SS.

VII, S. 5 0 2 , Z. 3 8 f. 131

Ein ausdrückl. Verzicht, w i e Cauchie, A . , a. a. O . , Bd. 2, S. 1 4 1 , behauptet, ist nicht anzunehmen.

147

D i e Gründung des Bistums Arras

rufung ein und bestürmte diesen, einen neuen Termin anzusetzen. D e r Papst ließ zwar von seiner grundsätzlichen Ansicht nicht ab, erklärte sich aber doch noch einmal zu einer Verhandlung bereit: er entbot die Parteien nach Clermont 1 3 2 , wo vom 18. bis 2 8 . N o v e m ber 1095 das berühmte Kreuzzugskonzil stattfand. Walcher erschien auch und erklärte die Einsetzung Lamberts als unkanonisch; wahrscheinlich bezog er sich dabei auf die Bestimmung, daß das Einverständnis des Geschädigten notwendig sei.1,13 D e r Papst aber forderte, wie das von Anfang an der Fall gewesen war, von Cambrai den urkundlichen Beweis des Besitzrechtes auf Arras. D a es diesen selbstverständlich nicht liefern konnte, bestätigte das Konzil die Restitutionsbulle am 28. November 1095. 1 ! '' Gleichzeitig wurde Walcher abgesetzt und Manasses als Bischof von Cambrai anerkannt. 1 , l j E s kann nicht überraschen, daß dieser Streit mit einer vernichtenden Niederlage Cambrais ausging, denn in diesem Augenblick stand Urban II. auf der Höhe seiner Macht und hatte durch seinen Kreuzzugsaufruf die beherrschende Stellung im A b e n d land gewonnen. Jedoch ist es gewiß zu weitgehend, wenn Haller bemerkt: „Seit 1 0 9 5 ist es Tatsache und nicht mehr bestritten: die Kirchen Frankreichs sind dem Papst Untertan und werden von ihm regiert". 1 3 0 Ebenso tritt die Stellung des G r a f e n Robert von Flandern stärker als je hervor, denn im Gegensatz zu dem gebannten K ö n i g von Frankreich wurde er einer der Führer des Kreuzzuges und ein besonderer Vertrauensmann des Papstes. 1 3 ' D e r Kaiser war nicht in der Lage, zum Schutze der Rechte Cambrais einzutreten; vielmehr geriet er selbst in die Defensive. Nachdem der G r a f von Flandern zunächst einmal Arras von Cambrai losgerissen hatte, gingen seine Pläne weiter: W i e seine Vorgänger hatte auch er die Absicht, letzteres unter seine G e w a l t zu bringen. Nichts konnte ihm daher erwünschter sein als der Streit in Cambrai zwischen der päpstlichen und der kaiserlichen Partei. Schon auf dem Konzil in Clermont hatte sich Walcher über das Vorgehen Roberts II. beschwert; nach seiner Absetzung hat dann der G r a f von Flandern den Angriff auf Cambrai eröffnet. D e r K a n d i d a t der 132

Schreiben an Walcher, den electus

von Cambrai, vom 11. März 1 0 9 5 : J L . 5 5 4 7 ; R . H. F . ,

Bd. X I V , S. 7 5 3 , Abschnitt B . „Noveris

praeterea

ecclesia

vehementer

munitam",

Cameracensem interpellasse,

Schreiben an Lambert vom 15. Aug. 1 0 9 5 : J L . episcopum, dicentem

missis ad nos literis ac nuneiis, pro se et ecclesiam

und ferner: „Unde oportet prudentiam

cum tuis clericis convenire."

suam

Romanis

5570:

Atrebatensi

privilegiis

tuam ad hujus negotii responsionem

esse

paratam

R . H. F., Bd. X I V , S. 7 5 4 , Abschnitte A und B . „Quod contra iura

133

Urbanus ipsum Statuerat Gesta Galcheri, v. 191 ff. „Cessent

canones;

canonum Lambertum

episcopum": meae

leges

erunt

auctorizabiles":

Cameracensium cont., c. 8, a. a. O . , S. 5 0 3 , Z. 19 f. D i e Auffassung von Cauchie,

Gesta

ep.

A., a. a. O.,

Bd. 2, S. 193, Anm. 6, ist unzutreffend. '' „Recitatum

13

est autem Atrebatensis

ecclesiae

Privilegium

in Claromontensi

concilio ex

domni Urbani papae / / . . . . atque ab omni consessu concilii sub magno silentio auditum, datum et confirmatum

praeeepto collau-

est": R . H. F . , Bd. X I V , S. 7 5 5 , Abschnitt B ; J L . 5 5 9 1 . Cauchie,

a. a. O., Bd. 2, S. 144. 135

Ebenda, S. 145 ff.

130

Haller, ]., a. a. O., Bd. 2, 2. Aufl., S. 455.

137

Pirenne,

H., Histoire de Belgique, Bd. 1, 5. Aufl., a. a. O . , S. 115.

A.,

148

K e t z e r t u m und K i r c h e

päpstlichen Partei, Manasses, schloß sich eng an ihn an, um Walcher von dort zu vertreiben. 138 Nur seine Teilnahme am Kreuzzug hat verhindert, daß der Graf sofort in Cambrai einfiel; nach seiner Rückkehr im Jahre 1100 jedoch unternahm er einen diesbezüglichen Feldzug, und im Jahre 1102 belagerte er die Stadt selbst. Dies zog einen Feldzug Heinrichs IV. gegen Flandern nach sich, der aber keinen Erfolg hatte. Schließlich kam es 1103 zu Verhandlungen, in denen dem Grafen eine beherrschende Stellung in Cambrai eingeräumt wurde - allerdings unter der Bedingung, daß er Walcher anerkenne. Aber Robert hielt sich hieran nicht und vertrieb Walcher aus der Stadt. Die kritische Lage des Reiches in der letzten Zeit Heinrichs IV. mußte eine Aktion von seiner Seite verhindern. Sobald aber Heinrich V. im gesicherten Besitz der Macht war, hat er sich jener Angelegenheit energisch angenommen. Inzwischen war als Nachfolger des Manasses Odo von Tournai zum päpstlichen Gegenbischof in Cambrai erhoben worden. Dieser aber sah sich durch den Grafen von Flandern aufs schwerste bedrängt; daher wandte auch er sich an Heinrich, welcher einen neuen Kriegszug gegen Flandern unternahm. Dabei hat er die Wiederherstellung der Obergewalt von Cambrai über Arras gefordert. 139 Aber auch dieser Versuch des Reiches ist an dem Widerstand Flanderns gescheitert. Der Nachfolger Urbans II., Paschalis II., hat die dortigen Grafen mit allen Mitteln unterstützt. E r ist sogar so weit gegangen, im Jahre 1103 Robert II. zu einem Kreuzzug gegen die Kirchen von Cambrai und Lüttich aufzufordern, da diese auf seiten des gebannten Heinrich IV. standen. In einer berühmten Streitschrift hat Sigebert von Gembloux eine solche Maßnahme nicht ohne Grund scharf getadelt.1'*0 In bezug auf Arras bestätigte Paschal am 14. April 1101 die Erlasse Urbans. D a s Vorgehen Heinrichs V. gab ihm dann Anlaß, noch einmal durch Bullen die Selbständigkeit des neuen Bistums zu garantieren. 1 ' 1 Aber damit war der Kampf des Reiches gegen diese Trennung nicht beendet. Heinrich V. war der letzte Kaiser, der eine offensive Reichspolitik im Westen getrieben hat. Durch ihn wurde 1114 Burchard, einer seiner Vertrauten, zum Bischof von Cambrai gewählt, und dieser hat sich auch gegen die Kurie durchsetzen können.1''2 Der Graf von Flandern benutzte damals erneut die Gelegenheit, sich in Cambrai einzu138

Cauchie,

130

E b e n d a , S. 2 3 4 ff.; Cauchie,

pum

A„ a. a. O . , B d . 2, S. 1 4 8 ff.; Reinecke,

Cameracensem

omnibus

sive in comitatu C a m b r a i : Migne, m

cum Ecclesia

quaecunque

V g l . Wattenbach,

eadem

vestro

W„ a. a. O . , S. 2 3 3 .

A., a. a. O . , B d . 2, S. 1 5 4 ff. „Unde Ecclesia

tenuit",

sibi

commissa ante

amore

discordiam

gratiae

regni

mandando nostrae

et sacerdotii

rogamus

ut

episco-

sustentare

curetis

in pago

Atrebatensi

in

b e h a u p t e t e L a m b e r t v o n A r r a s in einem Schreiben an O d o von

B d . 1 6 2 , Sp. 6 9 0 , Abschnitt C.

W./

Holtzmann,

R„

a.a.O.,

S. 4 1 0 und 7 1 5 f f . ; d a z u de

Moreau,

E„

a. a. O . , B d . 2, S. 83 ff. 141

B e s t ä t i g u n g der B u l l e U r b a n s I I . ; J L . 5 8 6 7 ; R . H . F . , B d . X I V , S. 7 5 6 . D e r V o r s t o ß Heinrichs V . und O d o s von C a m b r a i f ü h r t e zu drei E r l a s s e n Paschalis' II. v o m 6. A p r i l

1112:

J L . 6 3 1 7 - 6 3 1 9 an den Erzbischof R a d u l f v o n R e i m s ( R . H . F . , B d . X I V , S. 7 5 6 ) , an d e n G r a f e n B a l d w i n V I I . v o n F l a n d e r n und d e s s e n M u t t e r d e m e n t i a ( e b e n d a , S. 7 5 7 ) s o w i e an d e n K l e r u s v o n A r r a s ( e b e n d a ) , in denen er seinen unabänderlichen Beschluß b e k u n d e t e , d i e T r e n n u n g aufrechtzuerhalten. 1,12

V g l . Meyer

von Knonau,

G„ a. a. O . , B d . 6 : 1 1 0 6 - 1 1 1 6 , L e i p z i g 1 9 0 7 , S. 3 1 3 .

149

Die Gründung des Bistums Arras

mischen: Karl von Dänemark, der Nachfolger Roberts, erreichte 1122, daß ihm vom Kaiser wiederum eine Machtstellung in der dortigen Grafschaft zugestanden wurde. 1 '' 3 Das steht im Zusammenhang mit einem größeren Plan Heinrichs V., der die Absicht hatte, im Bunde mit seinem Schwiegervater Heinrich I. von England gegen den französischen König Ludwig V I . vorzugehen, welcher eine der Hauptstützen des Papstes war. Offenbar wollte man auf die genannte Weise den Grafen von Flandern in diese Koalition einbeziehen. Nun glaubte sich der Kaiser stark genug, die Frage Arras/ Cambrai von neuem aufzurollen. Als Ende 1122 der Frieden mit Calixt II. geschlossen war, berief der Papst zum 18. März 1123 ein großes Konzil in den Lateran. Auf ihm wirkten sich die friedlichen Beziehungen zwischen Kaiser und Papst aus, und Heinrich V . benutzte die Gelegenheit, um durch den ihm treu ergebenen Bischof Burchard von Cambrai, welcher inzwischen auch die päpstliche Bestätigung erhalten hatte, vor dem Konzil die Forderung auf Rückgabe von Arras zu stellen. Calixt zeigte sich geneigt, dieser Forderung zu entsprechen, und wies den Erzbischof von Reims an, den Bischof Robert von Arras nach Rom vorzuladen.1/1/1 Offensichtlich stand diese M a ß nahme in Verbindung mit dem Angriffsplan Heinrichs V . gegen Ludwig V I . D e r französische König versuchte, sich der drohenden Übermacht des anglo-normannischen Reiches zu entziehen. E s ging namentlich um die Normandie, die Heinrich I. seinem älteren Bruder Robert entzogen hatte. Als dann sein einziger Sohn starb, versuchte man dort, den Sohn Roberts, Wilhelm, zum Herzog zu machen, und fand dabei die Unterstützung Ludwigs VI., der die Normandie von England zu trennen wünschte.1/,ü Das führte auf der anderen Seite zu dem Plan einer gemeinsamen Aktion Heinrichs I. und Heinrichs V., die sich Reims zu ihrem Operationsziel wählten. 146 Aber auch diesmal mußte Heinrich V . davon Abstand nehmen, in Frankreich einzubrechen, da die französischen Lehnsfürsten sich zur Abwehr der Bedrohung um Ludwig V I . scharten unter ihnen bemerkenswerterweise auch der Graf Karl von Flandern. Dieser Mißerfolg hat dazu geführt, daß der Plan, Arras für Cambrai wiederzugewinnen, nicht weiter verfolgt wurde. Noch Calixt II. hatte Ludwig V I . einen Beruhigungsbrief gesandt. Hier zeigt sich zuerst der Wille des französischen Königs, Arras zum Kronbistum zu machen; jedoch blieb sein Bestreben vorerst ohne Erfolg. 1 '' 7 D e r Tod Heinl '' 3

Vgl. Reinecke,

W., a. a. O., S. 2 4 2 ; ferner Niermeyer,

]. F., in: Algemene geschiedenis der

Nederlanden, Bd. 2, Utrecht 1950, S. 59 ff. 1',/'

„Calixtum papam Romae generale conciüum anno Dei Christi 1123, mense Martio, in Lateranis celebrasse . . . "Tunc etiam domnus Burchardus ecclesiae a Cameracensi

gravem querimoniam

apud papam

super diremptione

Atrebatensis

intulit. Cuius clamorem ille benigne

suscipiens,

tempus tractandi de hoc negotio Uli constituit." Chronicon S. Andreae castri Cameracesii lib. III, c. 34, a. a. O., S. 547, Z. 18 ff. Vgl. J L . 7075 a. l'io Vgl, Cartellieri,

A., Der Vorrang des Papsttums zur Zeit der ersten Kreuzzüge 1 0 9 5 - 1 1 5 0 ,

München und Berlin 1941, S. 153 f. 146

Vgl. Meyer von Knonau, G„ a. a. O., Bd. 6, S. 279 ff. Am 19. Febr. 1124 schrieb Calixt II. an Ludwig VI. über diese Angelegenheit: ad nos cum litteris tuis venerabilem suscepimus, quem de jure Atrebatensis

fratrem nostrum Robertum

Atrebatensem

parochiae confratri nostro Burchardo

copo, qui adversus eum in generali concilio proclamationem

„Venientem

episcopum . . .

Cameracensi

ad nostram vocaveramus praesentiam, eumque praefixo termino se nostro praesentaret 11

Sprocmberg

epis-

fecerat, responsurum constituto die conspec-

150

Ketzertum und Kirche

richs V. brachte dann einen Wendepunkt der Reichspolitik im Westen; weder Lothar III. noch die staufischen Kaiser haben die antifranzösische Politik fortgesetzt. Die verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen dem englischen Königshaus und den Weifen führten im Gegenteil zu einem Bündnis zwischen den Staufen und den Capetingern, welches eine wichtige Voraussetzung der staufischen Innen- und Außenpolitik bildete: wurde doch dadurch die Gefahr der Weifen im Inneren zurückgedrängt und außerdem eine Befriedung der Westgrenze erreicht. Daher hat von nun ab das Reich alle Ansprüche auf Arras fallengelassen. Die alte Auffassung, daß dessen Abtrennung das erste große Zeugnis des Rückganges der deutschen Macht an der Westgrenze und eine Folge der Katastrophe von 1077 gewesen sei. ist zweifellos übertrieben und im Grunde unrichtig1'*8; ihr liegt eine Vorstellung von einem deutsch-französischen Gegensatz zugrunde, die in dieser Form jener Zeit völlig fremd war. Ganz besonders abwegig ist die Meinung, bei dem Streit zwischen Arras und Cambrai habe es sich um eine Art nationalen Kampfes gehandelt; Cauchie hat sie in Auseinandersetzung mit der älteren deutschen Literatur mit Recht zurückgewiesen. 1 '' 9 So war es also nicht unbegründet, wenn Reinald von Reims gegenüber der Entscheidung Urbans II. einwandte, daß mit der Abtrennung von Arras die Gefahr eines Angriffes auf Reims durch den Kaiser hervorgerufen wurde und jetzt außerdem die Möglichkeit bestand, Cambrai von Reims zu trennen. 150 Wir wissen, daß allein Änderungen in der internationalen Politik Heinrich V. daran gehindert haben, in dieser Richtung vorzugehen. Es wäre an sich natürlich gewesen, wenn als Folge der Trennung Cambrai dem Erzbistum Köln angegliedert worden wäre, zu welchem sein Schwesterbistum Lüttich und auch Utrecht gehörten; hatte doch Urban den Grundsatz angenommen, daß für die Kirchenorganisation die politische Grenze maßgebend sein sollte. Unter diesem Gesichtspunkt wurde ja auch die Diözese Arras von ihm geschaffen. 101 Aber dies war eine politische Kampfmaßnahme gewesen, mochte sie auch durch die tatsächlichen Verhältnisse durchaus gerechtfertigt worden sein. Die Kurie hat sich daher niemals bereit finden lassen, Cambrai von Reims zu trennen. So verblieb dieses Bistum in seiner Zwitterstellung zwischen West und Ost. Es schien damit zunächst der Gewalt der Grafen von Flandern zu verfallen. Dies war besonders zu befürchten, als die tui, per quasdam sui negotii fuisse

nobis est litteras

venientem

detentum...

tibi tanquam

In colloquio

dilectissimo

V g l . Hirsch,

Cameracensem

usque ad mutuum autem

nostro

p a p a e epistola nr. 2 5 7 , Migne, S. 3 2 6 ff., und Becker, 1/l8

nuntiatum,

ab imperatore

illo

et Ecclesiae

bonum

ad nos pro

exsecutione

quod cum eo sumus habituri

colloquium

quod

filio significare

episcopum operante

Domino

curabimus."

B d . 1 6 3 , Sp. 1 3 1 2 f. V g l . Luchaire,

operati

fuerimus

J L . 7 1 4 3 ; Calixti II.

A., bei Lavisse,

E., a. a. O.,

A„ a. a. O., S. 8 2 .

S., J b b . des Deutschen Reichs unter Heinrich II., B d . 1, Berlin 1 8 6 2 , S.

A n m . 3 ; d e m stimmt Meyer

von Knonau,

355,

G., a. a. O . , B d . 4 , S. 4 0 9 , A n m . 3 0 , zu.

149

V g l . Cauchie,

150

V g l . ebenda, S. 1 2 5 , A n m . 1 . D e r Papst glaubte hieran nicht; jedoch R e i n a l d hat diese A r g u -

A„ a. a. O., B d . 2, S. 1 2 3 , A n m . 3 .

mente in seinem Empfehlungsbrief Bd.

XIV,

S. 7 4 7 ,

Abschnitt A ) ,

f ü r L a m b e r t zur W e i h e in R o m v o r g e t r a g e n (R. H. F., und L a m b e r t

B e d e n k e n g e ä u ß e r t . V g l . auch Cauchie, 151

V g l . oben S. 1 4 5 mit A n m . 1 2 2 .

selbst hat dem

A., S. 1 2 9 , A n m . 4.

Papst

gegenüber

derartige

Die Gründung des Bistums Arras

151

Reichsgewalt sich praktisch vom Westen zurückzuziehen begann. 102 Jedoch an die Stelle des Reiches traten nunmehr die niederländischen Fürsten, die es nicht dulden wollten, daß der Bischof von Cambrai, dessen Diözese sich, wie erwähnt, weithin über den Hennegau und Brabant ausdehnte, von Flandern abhängig wurde. Auch sie waren bestrebt, ihre landeskirchliche Unabhängigkeit so weit wie möglich zu behaupten. So hat denn Reinecke seine Ausführungen über die Beziehungen Flanderns zu Cambrai mit der Bemerkung geschlossen: „Es ist den Grafen nie gelungen, das Bistum Cambrai zu einem territorialen herabzudrücken". 1 '' 3 Als Flandern in den Kampf zwischen Frankreich und England hineingezogen wurde, haben daher die Grafen vom Hennegau Einfluß auf die Besetzung des Bischofsstuhls von Cambrai gewonnen. Aber nur zu bald wurde das Bistum zum Spielball in dem Kampf der Feudalmächte um die Vorherrschaft in den Niederlanden. 10 '' Bei dem Zusammenschluß derselben unter den niederländischen Valois wurde es völlig in deren Machtbereich eingegliedert. Während es Lüttich gelang, durch engere Beziehungen zum Reich seine Unabhängigkeit zu behaupten, war dies Cambrai nicht möglich - sicherlich die Folge der Untergrabung seiner territorialen Machtstellung durch die Grafen von Flandern.' 00 Anders aber war es in Arras. Der Bischof Lambert hatte eine gewisse Rolle in der großen Politik spielen können, jedoch gelang es ihm und seinem Nachfolger Robert nicht, eine größere materielle Basis zu erlangen. Die Bitte Urbans II. an den Grafen von Flandern, dem Bischof verlorengegangene Besitzungen wiederzubeschaffen, hatte keinen nachweisbaren Erfolg. Die Verfügung über den Kirchenbesitz war eine wichtige Grundlage der flandrischen Macht, sowohl der dort angesetzten Vasallen als auch der finanziellen Einkünfte wegen. So blieb Arras auf die geringen Mittel des Marienstiftes angewiesen. Daher war es naheliegend, den Versuch zu machen, die in der Diözese liegenden großen exemten Klöster mit ihrem reichen Besitz unter die direkte Gewalt des Bischofs zu bringen. Aber auch hier bestand die große Schwierigkeit, daß der Graf von Flandern Vogt dieser Klöster war und nach der Reformierung die tatsächliche Macht über sie ausübte. Am drückendsten war die Stellung des Abtes von St. Vaast, welcher keineswegs gewillt war, von seiner überragenden Position in der Stadt selbst zu weichen. Gewiß war das Kloster des hl. Vedastus ursprünglich bischöflich gewesen, dann jedoch zum Königskloster geworden und auf diesem Wege als exemt in die Vogteigewalt der Grafen von Flandern gekommen.15f> 152

Vgl. Kienast, W., Deutschland und Frankreich in der Kaiserzeit ( 9 0 0 - 1 2 7 0 ) , Leipzig 1 9 4 3 , S. 6 2 ; Reese, W., a . a . O . , Bd. 1, S. 1 5 6 , der sich gegen die Unterschätzung der staufischen Westpolitik durch Pirenne (Histoire de Belgique, Bd. 1, 5. Aufl., a . a . O . , S. 1 7 5 f.) wendet. Aber auch er betont, daß der Verlust von Arras ohne größere Bedeutung für das Reich w a r : a. a. O., S. 76.

153

Vgl. Reinecke, W., a. a. O., S. 2 5 8 , Anm. 1.

15''

Vgl. de Moreau,

io°

Für Lüttich vgl. meinen Aufsatz: Lüttich und das Reich, a. a. O., S. 3 6 6 . Für die burgundische

E., a. a. O., Bd. 3 : L'Eglise feodale 1 1 2 2 - 1 3 7 8 , Bruxelles 1 9 4 5 , S. 1 7 5 ff.

Kirchenpolitik vgl. de Moreau,

E., a . a . O . , Bd. 4 : L'Eglise aux Pays-Bas sous les ducs de

Bourgogne et Charles-quint 1 3 7 8 - 1 5 5 9 ; Bruxelles 1 9 4 9 , S. 55 ff. m

Ii

Lecesne, E„ Histoire d'Arras, Bd. 1, Arras 1 8 8 0 , S. 6 4 f.

152

Ketzertum und Kirche

Es bedurfte besonderer Verhältnisse, um einen Vorstoß gegen St. Vaast zu wagen. Wir haben schon darauf hingewiesen, daß im Jahre 1123 König Ludwig VI. Einspruch gegen die Rückgabe von Arras an Cambrai erhoben hatte. Ebenso weigerte er sich, die Trennung von Noyon und Tournai anzuerkennen, welche Paschalis II. 1113, wieder auf Drängen Flanderns, durchführen wollte. 10 ' Im Jahre 1127, nach dem Tode Karls von Dänemark, hatte er darüber hinaus versucht, entscheidenden Einfluß auf Flandern zu gewinnen. Nachdem dies gescheitert war, unternahm er einen groß angelegten Vorstoß zur Erringung dortiger kirchlicher Positionen, wobei er die Unterstützung Innocenz' II. erhielt, der vor seinem Gegner Anaklet II. nach Frankreich geflohen und auf die Hilfe des Königs von Frankreich angewiesen war. Dies gehört in den Rahmen der großen Aktion des capetingischen Königtums, welche zuerst durch Ludwig VI. und seinen großen Berater Suger von St. Denis planmäßig betrieben wurde. Es war das Ziel, möglichst viel Bistümer unmittelbar unter den König zu bringen, um Stützpunkte auch außerhalb der Domäne zu gewinnen und dadurch eine breitere Basis für die Krongewalt zu schaffen. Als im Jahre 1131 der Bischof Robert von Arras gestorben war, mischte sich der französische König daher in die Bischofswahl ein und setzte es durch, daß eine ihm und Suger nahestehende Persönlichkeit, der Abt Alvisus von Anchin, gewählt wurde. Wieder mit Unterstützung des Papstes hat er nun planmäßig dessen Stellung als Kronbischof ausbauen wollen; hierher gehört etwa ein Erlaß Innocenz' II., der die Abtei St. Vaast der Gewalt des Bischofs von Arras unterwarf. Während seiner ganzen Regierungszeit (1131-1147) hat Alvisus, gestützt auf seine engen Beziehungen zum französischen König und zur Kurie, einen erbitterten Kampf geführt, um diesen Erlaß durchsetzen zu können und auch die übrigen Klöster unter seine Macht zu beugen. loS Innocenz II. wußte indessen sehr wohl, daß durch päpstliche Urkunden die Unabhängigkeit von St. Vaast in Arras anerkannt war, und er hat in diesem wie in anderen Fällen seine unter dem Zwang der Verhältnisse zugunsten Ludwigs VI. und des Alvisus erlassenen Verfügungen später widerrufen. Dietrich vom Elsaß, seit 1127 Graf von Flandern und ein kluger Politiker, hielt sich vorsichtig im Hintergrund. Aber an den realen Machtverhältnissen ist diese Politik gescheitert. Arras sank in provinzielle Abhängigkeit herab ; es war fortan ein flandrisches Territorialbistum. So ist der tatsächliche Hintergrund des Kampfes um ein neues Bistum Arras das politische Ringen um die Vormacht im Westen. Die großen Mächte haben jedoch vergeblich versucht, ihren Einfluß zu erhalten oder zu gewinnen. Vielmehr war der wahre Sieger das niederländische Territorialfürstentum, welches zuerst Arras und später auch Cambrai in seine Gewalt bekam. l j 9 157

Luchaire, A., bei Lavisse, E., a. a. O., S. 327. 158 Vgl_ Sproemberg, H., Das Erwachen des Staatsgcfühls in den Niederlanden, in: L'organisation corporative du moyen âge à la fin de l'ancien régime, Bd. 3, Löwen 1939, S. 53 ff. ; vgl. auch ders., Alvisus, a. a. O., Regesten nr. 5 1 , 70, 71, 87, 88, 93, 1 0 1 , 1 1 4 - 1 1 7 und 120, S. 1 6 2 ff. 159 Becker, A., erklärt a. a. O., S. 21 mit Anm. 64, daß Arras seit Ludwig VI. französisches Kronbistum gewesen sei. Dann weist er darauf hin, daß auch bei dem Tode des Alvisus Graf Dietrich vom Elsaß sich um Bestätigung der Wahl des Nachfolgers an den Reichsregenten Suger gewandt habe: ebenda, S. 1 6 1 mit Anm. 182. Trotzdem aber konnte in Arras ein Krön-

Die Gründung des Bistums Arras

153

Die Grundsätze Urbans II. bei der Trennung von Arras und Cambrai sind weiterhin von Bedeutung geblieben. Zwar hat der Papst praktisch vor den Ansprüchen des Metropoliten erheblich zurückweichen müssen, aber, wie es dem System der Kurie entsprach, blieb der einmal ausgesprochene Rechtssatz „Solms enim apostolici est, episcopatus conjungere et conjunctos disjungere aut etiam novos constituere" in Kraft. 1 0 0 E r war ein wichtiger Schritt für die Ausbildung der päpstlichen Zentralgewalt. Von hier aus führt ein direkter Weg zu jener umfassenden Neuordnung, die durch die Bulle vom 12. Mai 1559 für die Kirche in den Niederlanden vorgenommen wurde. Sie bildete den Abschluß der politischen Organisation dieses Gebietes, denn die neue Kircheneinteilung zerriß alle alten Bindungen und schuf eine einheitliche niederländische Kirche mit einem Primas in Mecheln an der Spitze. Damals wurde Cambrai zum Erzbistum erhoben und ihm Arras als SufTragan untergeordnet. Deutlicher als im Jahre 1093 ist hier die Initiative des Staates festzustellen: es war Philipp II., der aus politischen Gründen diese Neuordnung an der Kurie durchgesetzt hat. Sie war aber nur möglich, weil damals der Papst bereits die unumschränkte Gewalt hatte, aus eigener Machtvollkommenheit Bistümer zu gründen, zu vereinigen oder zu trennen, wie das in dem Satze Urbans zum Ausdruck gekommen ist. Auch diesmal waren innerkirchliche Gründe zweifellos vorhanden: die alten Diözesen waren viel zu umfangreich; es bestanden außenpolitische Bindungen nach Reims und nach K ö l n ; eine Intensivierung der Kirchenverwaltung erwies sich unter den veränderten Verhältnissen als dringend notwendig. Aber dennoch erfolgte hier ebenfalls eine politische Kampfmaßnahme, denn es war nur zu offenbar, daß die Bulle dazu dienen sollte, nicht nur die Reformation niederzuwerfen, sondern auch die politischen Selbständigkeitsbestrebungen der Niederlande zu brechen. 161 Trotzdem hat die Neuordnung, soweit das niederländische Gebiet katholisch blieb, die gesteckten Ziele einer Intensivierung des Kirchenlebens zweifellos erreicht. So kann man sagen, daß hier der Grundsatz Urbans II. erfolgreich angewendet wurde. Durch ihn war es möglich, die Kirchenordnung mit den politischen Verhältnissen in Einklang zu bringen, und somit geht auch die Ordnung der gegenwärtigen belgischen Kirche auf die 1094 ausgesprochenen Rechtssätze zurück.

100

181

bistum sich nicht halten - eben weil es unmöglich wurde, eine territoriale Basis zu schaffen, da die Einbeziehung der Abtei St. Vaast, welche die Stadtherrschaft in Arras ausübte, nicht gelang. In Tournai konnte nach der Trennung die Kommune die Selbständigkeit des Bischofs decken; daher wurde es ein Kronbistum. Ganz ähnlich war in dem Streit über St. Bertin verfahren worden; vgl. Sproemberg, H., Alvisus, a. a. O., S. 72 ff. Vgl. de Moreau, E., a. a. O., Bd. 5 : L'Eglise des Pays-Bas 1 5 5 9 - 1 6 3 3 , Bruxelles 1952, S. 13 ff., und Sproemberg, H., Zur Geschichte der katholischen Kirche in Belgien (II), in: ders., Beiträge zur belgisch-niederländischen Geschichte, Berlin 1959, S. 306 ff. (Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte, hrsg. v. Sproemberg, H., u. a., Bd. 3).

III. Staatsbildung in Flandern

DIE ENTSTEHUNG DER GRAFSCHAFT FLANDERN Teil I D i e ursprüngliche Grafschaft Flandern

864-892*

Vorwort Wenn man sein Lebenswerk der Erforschung der Geschichte eines bestimmten Gebietes gewidmet hat, wäre man kein wirklicher Historiker, wenn man nicht mit ganzer Kraft ein inneres und unmittelbares Verhältnis zu den Menschen dieses Landes zu gewinnen versuchte und ein tieferes Interesse an ihren historischen Schicksalen im allgemeinen nähme. Für den Deutschen ist das Gefühl wirklicher Anteilnahme an der Geschichte der nördlichen wie der südlichen Niederlande gewiß nichts Unnatürliches, denn die Stammesverwandtschaft und die überaus engen Beziehungen zur Geschichte des eigenen Landes bieten besondere Möglichkeiten der Einfühlung. Dennoch soll nicht geleugnet werden, daß es auch für den mittelalterlichen deutschen Historiker langer Arbeit bedarf, um zu einem sicheren Verständnis der Sonderentwicklung dieser Gebiete zu gelangen und den Weg zu dem Herzen der sie bewohnenden Menschen zu finden, die eine eigene ruhmreiche Geschichte von Jahrhunderten außerhalb des Reiches gestellt hat. Von hohem Wert für meine Forschungen war mir die freundschaftliche Hilfe zahlreicher belgischer und niederländischer Gelehrter. Es wurde mir von den verschiedensten Seiten in persönlicher Diskussion und durch wissenschaftliche Hinweise Hilfe geleistet, so daß es mir schwer fällt, jedem einzelnen namentlich für seine Anregungen meinen Dank auszusprechen. Am meisten schulde ich dem Großmeister der belgischen Historiker, Henri Pirenne, der seit langem meinen wissenschaftlichen Arbeiten ein freundlicher Förderer gewesen ist. Für die hier behandelten Fragen gewährte er mir eine eingehende Rücksprache, in der er aus der Fülle seiner Kenntnis das Grundproblem in höchst bedeutender Weise erörterte. Daneben war es vor allem der beste Kenner der flandrischen Verfassungsgeschichte, François L. Ganshof von der Universität Gent, der mir trotz seines teilweise abweichenden Standpunktes in nie ermüdender Freundschaft seine Hilfe zur Verfügung gestellt hat. Herr Eg. J. Strubbe, der Historiker Brügges, gab mir nicht nur Gelegenheit, in Brügge selbst die Schauplätze der Ereignisse kennen zu lernen, die in der vorliegenden Arbeit dargestellt werden, sondern er hat durch seine wissenschaftlichen Erklärungen meine Arbeit wesentlich gefördert. Nicht unerwähnt möchte ich auch für Belgien die liebenswürdige Hilfe des

* A l s Bd. 2 8 2 erschienen i n : Eberings Historische Studien, Berlin 1 9 3 5 .

158

Staatsbildung in Flandern

Antwerpener Historikers Floris Prims und einer Reihe junger belgischer Gelehrter lassen, die mir in persönlicher Diskussion wertvolle Hinweise gaben. In den Niederlanden werde ich es den Utrechter Studenten nicht vergessen, daß sie den deutschen Historiker zu sich gerufen haben und ihm zuerst Gelegenheit gaben, über diese Probleme öffentlich zu sprechen. Sehr freute mich auch das lebhafte Interesse des historischen Kreises an der Universität Nimwegen, der mir ebenfalls Gelegenheit zu einem Vortrag gab. Von den Gelehrten in den Niederlanden ist an erster Stelle hier Otto Oppermann von der Universität Utrecht zu nennen, der als deutscher Historiker an einer niederländischen Universität so wertvolle Arbeit für die Förderung der mittelalterlichen Studien in den Niederlanden geleistet hat. Er hat in wiederholten eingehenden Diskussionen durch seine große Spezialkenntnis für meine Arbeit eine Reihe wichtiger Verbesserungen und Zusätze gegeben. Bedeutende persönliche Anregung verdanke ich auch dem Königlichen Hausarchivar N. Japikse im Haag und Herrn Professor W . Mulder in Nimwegen. Besonders herzlich möchte ich aber den Dank meinen beiden persönlichen Freunden in den Niederlanden aussprechen, Herrn D. Th. Enklaar in Breda und Herrn C. D. J. Brandt in Utrecht, die mir nicht nur liebenswürdige Gastfreundschaft gewährten, sondern auch auf Grund ihrer ausgezeichneten Fachkenntnisse wertvolle wissenschaftliche Hinweise gaben. So wichtig diese ausländische Hilfe gewesen ist, so wäre die Arbeit doch niemals zustande gekommen ohne die Ermutigung und den sachverständigen Rat des Professors Robert Holtzmann in Berlin, der, selbst eine der größten Autoritäten auf dem Gebiet der Verfassungsgeschichte, die neuen hier vorgetragenen Ansichten mit freundlichstem Verständnis und steter Geduld mit mir erörterte. Vieles verdanke ich auch dem Geschichtsschreiber der Normannen, W . Vogel von der Universität Berlin, der mit lebhaftestem Interesse meine Forschungen förderte. Es ist mir eine besondere Freude, nach langjähriger Spezialforschung eine Arbeit vorlegen zu dürfen, die sich mit den Grundfragen der sonderstaatlichen Entwicklung auf niederländischem Boden beschäftigt. In einem zweiten Heft werde ich die Frage der flandrischen Verfassung unter dem Gesichtspunkt der Entstehung des Staatsgedankens auf niederländischem Boden behandeln. In meinen Vorträgen habe ich über das Thema und seine Bedeutung für die nord- und südniederländischen Verhältnisse bereits gesprochen. Es ist natürlich, daß die Ablehnung der Mark-Theorie und die stärkere Basierung der flandrischen Grafenmacht auf die grundherrschaftliche Stellung eine tiefgreifende Wirkung auf die Theorien über die Entstehung der flandrischen Verfassung üben müssen. Die ungewöhnlichen Schwierigkeiten des Stoffes haben mich aber veranlaßt, den zweiten Teil noch nicht der Öffentlichkeit vorzulegen, doch hoffe ich, daß seine endgültige Fertigstellung nicht allzu lange auf sich warten lassen wird. Berlin-Westend, im August 1935 Heinrich Sproemberg

159

D i e Entstehung der Grafschaft Flandern

D i e ursprüngliche Grafschaft Flandern (864-892) Die zahlreichen neuen Arbeiten zur flandrischen Verfassungsgeschichte befassen sich leider so gut wie gar nicht mit der Entstehung und Frühzeit der Grafschaft, obwohl gerade damals die Grundlagen geschaffen wurden, die für die Weiterentwicklung von entscheidender Bedeutung waren. Wir sind allerdings über die Anfänge Flanderns sehr schlecht unterrichtet, da wir nur äußerst dürftige Nachrichten besitzen. Schon im frühen Mittelalter hat sich infolgedessen eine Reihe von Legenden über die Frühzeit Flanderns gebildet, durch die die historische Forschung mehrfach in die Irre geführt worden ist. Nach Beseitigung dieser trügerischen Nachrichten bleibt nur wenig; das kann aber den Historiker nicht von der Pflicht entbinden, den Versuch zu wagen, auf Grund der bescheidenen, aber sicheren Überlieferung ein Bild der tatsächlichen Entwicklung zu zeichnen. Die bisherige Auffassung von der Entstehung der Grafschaft Flandern geht dahin, daß 864/866 König Karl der Kahle seinem Schwiegersohn Balduin gleichsam zur Ausstattung eine besondere und ausgedehnte Gewalt an der flandrischen Küste verliehen hat, die entweder als Mark oder als ein Dukat, d. h. als ein Militärkommando, bezeichnet wird. Man ist ferner der Ansicht, daß Balduin bereits vorher eine wenn auch bescheidene Machtstellung in Flandern besessen habe, entweder als Graf des ursprünglichen Flandern, d. h. des Gebietes von Brügge, oder doch wenigstens durch den Besitz größerer Lehen im flandrischen Gebiet. 1 Wenn das auch scheinbar im Einklang steht mit der flandrischen Tradition und mit den tatsächlichen Verhältnissen, wie sie sich im 10. Jh. seit Arnulf I. feststellen lassen, so sind dennoch die Grundlagen dieser Auffassung längst erschüttert, und zwar was die Marktheorie angeht durch die Arbeit von Vanderkindere „Le Capitulaire de Servais et les origines du comté de Flandre", und für die früheren Beziehungen Balduins zu Flandern durch die von A. de Saint Léger „La légende de 1

D i e Marktheorie hat zuerst Warnkönig,

L. A„

in seiner Flandrischen Staats- und Rechts-

geschichte, Bd. 1, Tübingen 1835, S. 109 und 111 f., wissenschaftlich vorgetragen. kindere,

Vander-

L., hat sie in seinem grundlegenden Werk: La formation territoriale des principautés

belges au moyen âge, Bd. 1, 2. Aufl., Bruxelles 1902, S. 37 f., sowie in seinem Aufsatz: Le Capitulaire de Servais et les origines du comté de Flandre, in: Compte rendu des séances de la Commission Royale d'Histoire, 5 e série, 7/1897, quellenmäßig zu begründen

versucht.

Dieser Ansicht hat sich namentlich auch Lot, F., Fidèles ou Vassaux, Paris 1904, S. 7 und Anm. 1, angeschlossen. Longnon,

A., La formation de l'unité française, Paris 1922, S. 33, hat

Flandern für eine Fortsetzung des „duché de France maritime", also für ein Dukat, erklärt, das auch er auf eine Verleihung durch den König zurückführt. D e n weitesten Umfang hat schließlich Flach, ]., dem Dukat von Flandern geben wollen. Nach seiner Auffassung hat der König in Flandern staatsrechtlich eine Art von Unterkönigtum geschaffen (Les origines de l'ancienne France, Bd. 4, Paris 1917, S. 33 f.). Neuerdings hat Ganshof,

F.-L., Coup d'oeil sur

l'évolution territoriale comparée de la Flandre et du Brabant, in: Annales de la Société Royale d'Archéologie de Bruxelles 38/1934, S. 83, den Charakter als Mark oder Dukat für Flandern noch einmal betont, wobei er allerdings darauf hinweist, daß er sich nur der bestehenden Auffassung ohne neue eigene Untersuchung anschließe.

160

Staatsbildung in F l a n d e r n

Lydéric et des forestiers de Flandre". 2 In beiden Fällen ist allerdings vermieden worden, die bestehende Auffassung im ganzen anzugreifen. Man konnte daher unter Zuhilfenahme von Kompromißlösungen die Haupttheorie noch aufrechterhalten. Dennoch ist es bemerkenswert, daß die größte Autorität auf dem Gebiet der belgischen Geschichte, Henri Pirenne, sich gegen die Marktheorie sehr zurückhaltend verhalten hat. 3 Mit der Quellengrundlage der Mark- oder Dukattheorie sieht es nun sehr wenig glänzend aus. Noch Vanderkindere hat sich in der Hauptsache auf Meyerus berufen, der zwar als Vater der flandrischen Geschichtsschreibung gilt, aber doch ein Historiker des 16. Jh. ist. Vanderkindere bemerkt übrigens, daß er eine Quelle für die Angaben des Meyerus nicht habe feststellen können, und eine neue Untersuchung von V. Fris hat die Glaubwürdigkeit des Meyerus als Quelle stark in Zweifel gezogen 4 . Übrigens spricht Meyerus selbst gar nicht von der Einrichtung einer Mark, sondern nur von einer großartigen Ausstattung der Judith mit der Herrschaft über das ganze Gebiet zwischen Scheide, Somme und dem Ozean. 5 Erst Flach hat eine Quelle herangezogen, die wenigstens noch in das hohe Mittelalter gehört. Es ist eine Predigt zu Ehren der Überführung der Reliquien des Wandregisel und seiner Genossen nach dem Kloster St. Peter in Gent, die ganz offenbar die Grundlage für den Bericht des Meyerus gebildet hat. Aber auch diese Quelle ist nichts weniger als zeitgenössisch. Schon Holder-Egger hielt sie für wenig glaubwürdig und am Ende des 11 Jh. entstanden." Oppermann hat sie in seiner neuen Arbeit über Blandinium mit gutem Recht als für gänzlich lügenhaft erklärt.' Der Bericht der Quelle, der von der Verleihung eines „regnum" an Balduin spricht, ist ganz offenbar legen2

Für Vanderkindere

v g l . die v o r i g e A n m . ; die A r b e i t v o n Saint-Léger,

A. de, i n : Bulletin de

la Commission historique du d é p a r t e m e n t du N o r d 2 6 / 1 9 0 4 , S. 1 1 5 f. 3

Pirenne,

H.,

Histoire de Belgique, B d .

1, 5. A u f l . , Bruxelles

1929,

bemerkt bei der

Ein-

setzung B a l d u i n s n u r : „ L e riche héritage de J u d i t h v i n t s'adjoindre aux domaines p a t r i m o n i a u x de Baudouin". V o n B a l d u i n II. heißt es S. 6 0 : „Peut-être prit-il déjà le titre de marquis" und schließlich v o n A r n u l f I. S. 1 0 5 : „ A r n o u l ne se contenta pas du titre de c o m t e ; il s'attribua celui d e marquis ( m a r c b i o ) " . H e r r P r o f e s s o r Pirenne

hat mir liebenswürdigerweise

persönlich

diese A u f f a s s u n g bestätigt.

'' Vanderkindere,

L., L a f o r m a t i o n territoriale, B d . 1, 2. A u f l . , a. a. O . , S. 3 6 , A n m . 3, und ders.,

Capitulaire, a. a. O., S. 1 0 6 ; Fris, V., Essai d'une a n a l y s e des „ C o m m e n t a n t sive A n n a l e s rerum F l a n d r i c a r u m " de Jacques de M e y e r e , G a n d 1 9 0 8 , S. X I f. 5

„Totam accipit

regionem (Balduinus)

septentrionis

Scalde,

Somona

appellatur

barbariem

et Oceano

comes

perpetuus

foret

regni regni

terminatam in hoc

dotalem

maximo

Galliarum

ut

ab eo (Carola adversum

propugnator"

Danos

: J. M e y e r u s ,

imperatore) omnemque Commen-

tarii sive A n n a l e s rerum F l a n d r i c a r u m , A n t v e r p i a e 1 5 6 1 , ad a. 8 6 3 . c

Flach,

]., a. a. O., B d . 4, S. 3 4 ; E x sermone de a d v e n t u SS. W a n d r e g i s i l i , A n s b e r t i et V u l f -

ranni, ed. O . Holder-Egger vgl. Holder-Egger

' Oppermann,

in : M G . SS. X V , S. 6 2 5 ff. Ü b e r die Entstehung dieser

Quelle

ebenda, S. 6 2 4 .

O., D i e ä l t e r e n U r k u n d e n des K l o s t e r s B l a n d i n i u m und die A n f ä n g e der Stadt

G e n t , 1. Teil, Utrecht/Leipzig und München 1 9 2 8 , S. 1 6 0 (Bijdragen v a n het Instituut v o o r middeleeuwsche Bd. 1 1 ) .

geschiedenis

der

Rijks-Universiteit

te Utrecht,

utg.

door

Oppermann,

O.,

161

Die Entstehung der Grafschaft Flandern

darisch und nur zur Verherrlichung des flandrischen Grafenhauses geschrieben.8 Abgesehen davon, daß auch hier weder von einer Mark noch von einem Dukat die Rede ist, wird man einen derartigen Legendenbericht am besten überhaupt aus dem Spiel lassen. Es verdient allein Beachtung, wie übrigens schon Vanderkindere bemerkt, die berühmte Stelle bei Folcwin von St. Bertin, der bei dem Tode Balduins II. von dessen Erbe als „marka eius" spricht." Die Quelle stammt indessen aus der Mitte des 10. Jh. und schildert die Verhältnisse nicht zur Zeit Balduins I., sondern beim Tode Balduins II. (918). Zur Zeit Folcuins trug aber der Sohn Balduins II., Arnulf I., bereits den Titel „marchio", so daß dieser daher für einen Grafen von Flandern als etwas Normales erschien. Daß es sich bei der Bezeichnung „marchio" und infolgedessen auch „marka" bei Folcwin nur um Titel und nicht um ein Amt handelt, ergibt sich unzweideutig daraus, daß Folcwin nicht allein Balduin II. als „inclitus marchisus" genau nach dem Vorbild Arnulfs benennt, sondern sogar dem Bruder Arnulfs, Adalolf. denselben Ttel gibt.10 Der jüngere Bruder hatte aber selbstverständlich keinerlei Anspruch auf ein Markgrafenamt in Flandern. Daher dürfte es sicher sein, daß Folcwin, dessen Geschichtsschreibung keinen offiziellen Charakter trägt, die ihm aus seiner Zeit bekannten Verhältnisse ohne weiteres in die frühere Zeit übertragen hat. Auf jeden Fall muß die Folcwin-Stelle als einziger Quellenbeleg für die Markverleihung von 864/866 als sehr dürftig erscheinen. Die Grundfrage bei der Mark- und Dukattheorie ist, ob König Karl Balduin I. eine Amtsgewalt verliehen hat, die höher war als diejenige eines Grafen, und ob er ihm einen umfassenderen Amtsbezirk zugewiesen hat, also eine Art Militärkommando an der flandrischen Küste, denn daß Titel und Hoheitsrechte von den französischen Lehnsfürsten usurpiert wurden, ist ein ganz gewöhnlicher Fall. 11 Für 8

„Surrexit ludith,

Ulis diebus

filia Karoli

cum ea Dei

gratia

prosapia

Balduinus.

. . Qui,

aeeepta

Calvi, Universum regnum inter mare Gallicum

in regno

et prefatum

Scaldem

fluvium

sortitus

ex forlissima

est":

Z. 28 ff. Wenn Holder-Egger

heroum

Sermo de adventu Wandregisili c. 10, a. a. O., S. 627,

dabei als Quelle auf die Annales Blandinienses hinweist, so

berichten diese 863 nur: „Baldwinus, sat": Ann. Bland., ed. L. Bethmann

Nicholao

papa agente,

Iuditb

corarn patre Karolo

despon-

in: M G . SS. V, S. 24, Z. 4. Von der Verleihung Flanderns

findet sich also hier kein Wort. I-lacb hat gerade die Wendung „regnum universum"

als Unter-

königtum für seine Theorien verwandt. 9

„Markam

vero

eius filii eius inter se diviserunt":

sium c. 103, ed. O. Holder-Egger

Folcwin, Gesta abbatum S. Bertini Sithicn-

in: MG. SS. X I I I , S. 627, Z. 8 f. Vgl. Vanderkindere,

La formation territoriale, a. a. O., Bd. 1, 2. Aufl., S. 42. Übrigens bemerkt Waitz,

L.,

G., Deut-

sche Verfassungsgeschichtc, Bd. 3, 2. Aufl., Berlin 1884, S. 380, Anm. 1, daß der Ausdruck „Mark" auch für „Grafschaft" in den Quellen gebraucht wird. 10

„Balduinus

inclitus

marchisus":

gebraucht für Balduin „marchio"

Folcwin, Gesta abbatum c. 98, a . a . O . , S. 624, Z. 1 0 ; er und „comes"

ohne Unterschied nebeneinander, vgl. z. B.

ebenda, Z. 28 und 29. Für die Bezeichnnung Adalolfs als Markgraf vgl. „Adalolfus

markisus" :

ebenda c. 102, S. 626, Z. 24. 11

Vgl. die sehr bedeutenden und originalen Ausführungen von Holtzmann,

R., über den Ur-

sprung der Lehnsfürstentümer: Französische Verfassungsgeschichte von der Mitte des 9. Jh. bis zur Revolution, München und Berlin 1910, S. 6411. (Handbuch der mittelalterlichen und

162

Staatsbildung in F l a n d e r n

das Verständnis der Entstehung Flanderns ist es von größter Bedeutung, ob es sich dabei um die Realiserung eines vom König verliehenen großen Rechtstitels handelt oder ob die Ausbreitung aus eigener Kraft erfolgte. Beschränkt man sich zunächst auf die Marktheorie, so hat schon Vanderkindere bemerkt, daß es keinen zeitgenössischen Text gibt, der Balduin I. oder Balduin II. als Markgrafen bezeichnet.12 Das drückt die wahre Sachlage nur recht unvollkommen aus, denn wir müssen bemerken, daß gerade diejenigen Autoren, die es wissen mußten, Balduin I. auch nach 866 als „comes" bezeichneten und niemals von Flandern als einer Mark sprachen, so z. B. auch Hinkmar in den Reichsannalen.13 Gewiß wird damals ein „marchio" auch als „comes" bezeichnet; wenn wir aber in dem Erlaß Karls des Kahlen auf dem Reichstag zu Quierzy am 14. Juni 877 unter den Ratgebern, die der König für den Thronfolger bei seiner Abwesenheit auswählte, Balduin ausdrücklich unter den Grafen genannt finden und keineswegs an erster Stelle, so wird es kaum zu verstehen sein, warum der König in einem so offiziellen und feierlichen Aktenstück seinem Schwiegersohn den Titel „comes" gegeben hat, wenn er ihn zum Markgrafen ernannt hatte.14 Bei dieser Sachlage dürfte eine grundsätzliche Erwägung von Belang sein. Die Einrichtung einer Mark an der lothringischen Grenze steht im Widerspruch zu der Politik Karls des Kahlen. Es ist bekannt, daß Karl der Kahle niemals die Teilung von 843 als endgültig angenommen hat. Er fühlte sich als der Enkel Karls des Großen und hielt an der Reichseinheit grundsätzlich fest. Ihm lag daher der Gedanke einer dauernden festen Grenzziehung im Innern des fränkischen Reiches überhaupt ganz fern. Vor allem traf das aber zu für die Grenze gegen Lothringen, denn seit 860 war der Plan der Verdrängung Lothars II. die leitende politische Idee Karls des Kahlen.10 Die Einrichtung einer Mark an dieser Stelle hätte gleichsam eine offizielle Anerkennung der Teilung von Verdun als Dauerzustand bedeutet; es ist klar, daß der König das unter keinen Umständen wollte.10 Eine Mark aber etwa gegen die Normannen einzurichten, erscheint nicht weniger zwecklos, weil die flandrische Küste doch keine Grenze gegen die Normannen war und, wie wir sehen werden, vom König gerade damals die normannische Angelegenneueren Gcschichte, hrsg. v. Below,

G.

v.,

und Meinecke,

F., A b t . I I I : V e r f a s s u n g ,

Recht,

Wirtschaft). 12

Vanderkindere,

13

A n n a l e s Bertiniani ad a. 8 7 1 , cd. G.

L., L a f o r m a t i o n territoriale, B d . 1, 2. A u f l . , S. 4 2 .

S. 1 1 5 : „Balduvinum M

„. . . ex c o m i t i b u s vero: V. Krause,

Waitz,

SS. rer. G e r m , in us. schol., H a n n o v e r

1883,

comitem". aut Teudericus

aut Balduinus":

M G . Cap. II, ed. A. Boretius

H a n n o v e r 1 8 9 7 , nr. 2 8 1 , S. 3 5 9 , Z. 1 8 . V g l . dazu Dämmler,

E„

/

Geschichte des

Ostfränkischen Reiches, Bd. 3, 2. A u f l . , Leipzig 1 8 8 8 , S. 4 5 f. (Jbb.) ; f e r n e r Bourgeois,

E„

L e C a p i t u l a i r e de K i e r s y s/Oix, Paris 1 8 8 5 , S. 1 4 6 f. lj

V g l . Calmette,

}.,

L a d i p l o m a t i e carolingienne du traité d e V e r d u n à la mort de Charles le

C h a u v e , Paris 1 9 0 1 , S. 9 7 . 10

D e n engen staatsrechtlichen Zusammenhang zwischen M a r k und Reichsgrenze betont besonders Brunner,

H.,

Deutsche Rechtsgeschichte, B d . 2, 2 . A u f l . , neu bearb. v. Schwerin,

München und Leipzig 1 9 2 8 , S. 2 3 2 .

C. Frhr.

v.,

Die Entstehung der Grafschaft Flandern

163

heit in ganz anderer Weise geregelt wurde. 17 Vor allem aber bestand die Normannengefahr nicht für die flandrische Küste allein oder war diese vor 879 ihr Hauptangriffspunkt. Es hätte daher an allen Küsten des westfränkischen Reiches, besonders aber z. B. an der Seinemündung, Anlaß zur Gründung von Normannenmarken bestanden. Der Zusammenhang zwischen Mark und Reichsgrenze wird übrigens eben an dem Auftauchen des Markgrafentitels für die Grafen von Flandern deutlich. Er erscheint zuerst während der Regierung Arnulfs I., und damals lag allerdings Flandern an der westfränkischen Reichsgrenze, die einer besonderen Verteidigungsorganisation zu bedürfen schien. Pirenne faßt die Annahme des Markgrafentitels durch Arnulf I. zuerst als den Ausdruck fürstlichen Machtgefühls auf, bemerkt aber dann außerdem, daß er gewählt war, weil er der besonderen Lage Flanderns an der Grenze des westfränkischen Königreichs entsprach. 18 Wir befinden uns in einer Zeit der endgültigen Auseinandersetzung zwischen dem west- und dem ostfränkischen Reiche. Erst die Folgen der Katastrophe von Andernach 939 haben der Zwitterstellung Lothringens zwischen den beiden Reichen ein Ende gemacht. Nach der endgültigen Eroberung Lothringens hat Otto I. energische Maßnahmen getroffen, um das wichtige Land dauernd bei dem deutschen Reiche zu halten. Bereits Vanderkindere hat darauf hingewiesen, daß der Kaiser Marken im Westen fast als eine zusammenhängende Militärgrenze in Niederlothringen einrichtete. 19 Das westfränkische Reich wurde dadurch in eine dauernde Verteidigungsstellung gedrängt. Unzweifelhaft bestehen Zusammenhänge zwischen diesen Vorgängen, und es dürfte ferner vielleicht auch für Arnulf ein Moment von Bedeutung gewesen sein, daß er im Titel nicht hinter den lothringischen Großen an seiner Ostgrenze zurückstehen wollte. Wir haben eine interessante Parallele aus Nordniederland, wo für den Grafen Dietrich IV. von Holland wegen des Besitzes der Burg von Viaardingen der Titel „marchio" auftaucht. Das ist ebenso verfassungsrechtlich unzutreffend wie die Annahme, daß der Graf von Holland überhaupt als Militärkommandant der friesischen Küste eine Markgrafenstelle gehabt habe. 20 Abschließend sei noch bemerkt, daß der Titel in Flandern schon im Anfang des 12. Jh. verschwindet und daß das gerade wieder in eine Zeit fällt, in der die Reichsgrenze ihre trennende Bedeutung eingebüßt hatte und auch die deutschen Westmarken völlig in der allgemeinen 17

18 19

20

Vgl. unten S. 1 6 4 f. Pirenne, H., a. a. O., Bd. 1, 5. Aufl., S. 1 0 5 . Vanderkindere, L., La formation territoriale, Bd. 1, 2. Aufl., a. a. O., S. 69. - Die Kritik von Pirenne, H., a. a. O., Bd. 1, 5. Aufl., S. 70, Anm. 4, bezieht sich nicht auf die Tatsache der Errichtung der Militärgrenze, sondern nur auf ihre Auswertung durch Vanderkindere.

Oppermann,

O., Untersuchungen zur nordnicderländischen Geschichte des 1 0 . bis 13. Jh.,

2. Teil: Die Grafschaft Holland und das Reich bis 1 2 5 6 , Utrecht 1 9 2 1 , S. 1 5 (Bijdragen van het Instituut voor middeleeuwsche geschiedenis der Rijks-Universiteit te Utrecht, uitg. door

Oppermann,

O., Bd. 4 ) ; vgl. die Sonderuntersuchung von Enklaar, D. Th., D e Verovering Dirk III in 1 0 1 8 , in: Tijdschrift voor geschiedenis 3 0 / 1 9 1 5 , S. 1 8 9 f.

van het Merwede-Gebied door Graaf

164

Staatsbildung in F l a n d e r n

Territorialisierung untergegangen waren. D i e Auffassung Vanderkinderes, d a ß das Verschwinden des Markgrafentitels im Zusammenhang steht mit der Reorganisation des französischen Staates und einer dadurch bedingten Herabdrückung der Lehnsfürsten, ist für Flandern wenig überzeugend, weil gerade das Haus Elsaß in Flandern, das sich zuerst wieder auf den Grafentitel beschränkte, gegen den Willen des französischen Königs zur Macht gelangte und seine Souveränität besonders betonte. 21 D i e Frage des Dukates bedarf einer besonderen Erörterung. Man könnte sich vorstellen, d a ß der König an der flandrischen Küste ein Militärkommando eingerichtet hätte, um das von den Normannen heimgesuchte Land in einen besseren Verteidigungszustand zu setzen. Wir wissen, d a ß Karl der Kahle den Ahnherrn der Capetinger, Robert den Tapferen, in Francien mit einem derartigen K o m m a n d o bekleidete. 22 Man muß sich aber grundsätzlich darüber klar sein, d a ß es für den D u k a t in Flandern noch weniger eine Quellengrundlage gibt als für die Mark. D a bei sei wieder hervorgehoben, d a ß sich das nur auf die Verleihung eines Dukats durch den König bezieht, nicht etwa auf eine herzogsgleiche Macht des späteren Grafen von Flandern. D i e Stellung Roberts des Tapferen bietet zwar eine Analogie; man wird aber nicht vergessen dürfen, d a ß der Markgrafentitcl und der Besitz einer Mark für ihn ausdrücklich bezeugt ist. 23 Man kann darauf aufmerksam machen, d a ß ebenso für den Grafen von Holland der Titel eines Präfekten gebraucht wird, der als eine Art Herzogsstellung aufzufassen wäre, und d a ß sich auch für Holland nachweisen läßt, d a ß hierfür nicht die geringste Rechtsgrundlage bestand. 2 '' Wenn man schon die Verleihung eines Militärkommandos an Balduin I. quellenmäßig nicht belegen kann, so muß man doch als Nachweis für sein Vorhandensein wenigstens verlangen, d a ß es sich irgendwo wirksam gezeigt hätte. Merkwürdigerweise ist das aber nicht der Fall. Wir sind verhältnismäßig gut über die Taten Roberts des Tapferen gegen die Normannen unterrichtet. Dagegen erfahren wir von ähnlichen Heldentaten Balduins I. aus der Geschichtsüberlieferung nichts. Im Jahre 864 wurde ein Einfall der Normannen in Flandern durch die Landwehr zurückgewiesen. Balduin wird dabei nicht genannt, und außerdem ist er überhaupt schwerlich vor 866 in seine flandrische Position gelangt. 25 D i e ausgezeichnete Arbeit von Vogel über die N o r 21

Pirenne,

22

Schon 1793 hat Siardus Dyckius

H„ a. a. O., Bd. 1, 5. Aufl., S. 205 ff. in den Acta Sanctorum, O k t o b e r , Bd. VI, S. 487 f., ein staat-

liches M i l i t ä r k o m m a n d o angenommen. Longnon,

A., a. a. O., S. 41 f., und namentlich Flach,

].,

a. a. O., Bd. 4, S. 34, haben die D u k a t t h e o r i e im einzelnen ausgebaut, wobei besonders Flach mit etwas phantastischen Argumenten arbeitet. Für Robert den T a p f e r e n vgl. Kalckstein,

K.

v.,

Robert der T a p f e r e , Markgraf von Anjou, Berlin 1871, S. 152. Dieser macht aber auch darauf aufmerksam, d a ß von der Verleihung eines D u k a t s an Robert keine zeitgenössische Q u e l l e spricht. E r f a ß t auch seine Stellung als herzogsgleich auf. Dagegen ist der Markgrafentitel sicher bezeugt. 23

E b e n d a und z. B. Hinkmar in den Annales Bertiniani ad a. 8 6 5 : „Rodberto marchio in Andegavo

21

' Oppermann,

2j

fuerat":

autem,

qui

a. a. O., S. 79.

O., N o r d n i e d e r l d . Gesch., Teil 2, a. a. O., S. 9, hat das schlagend nachgewiesen.

Vgl. unten S. 168 sowie meinen demnächst in der Revue beige de philologie et d'histoire erscheinenden Aufsatz über Judith, Gräfin von Flandern [zuletzt in: Sproemberg,

H.,

Beiträge

Die Entstehung der Grafschaft Flandern

165

mannen gestattet uns, über die Richtung der Normannenzüge gegen das westfränkische Reich einen klaren Überblick zu gewinnen und auch festzustellen, wie sich die westfränkische Reichsregierung in den einzelnen Abschnitten des Kampfes mit ihnen verhalten hat. Für das Regiment Balduins I. in Flandern müssen wir eine überraschende Feststellung machen. Im Jahre 866 hat Karl der Kahle durch eine riesige Tributzahlung den Abzug der Normannen aus seinem Reich erkauft. 20 Daraufhin ist dann für das ganze westfränkische Reich eine Zeit der verhältnismäßigen Ruhe vor den Normannen gefolgt, und diese hat im besonderen für Flandern bis 879, also während der ganzen Zeit des Regiments Balduins I., angedauert. 27 Dann allerdings haben sich die Normannen für viele Jahre häuslich in Flandern niedergelassen und es im weitesten Umfang ausgeplündert. Es darf aber schon hier bemerkt werden, daß selbst in dieser Periode seit 879 bis 892 von keiner Kriegstat des Grafen von Flandern, damals Balduins II., gegen die Normannen berichtet wird. Vielmehr sind es andere Persönlichkeiten, die den Abwehrkampf geführt haben. 28 Die Tatsache, daß wir aus der echten Überlieferung der Zeit keine Nachrichten über Kriegstaten Balduins I. haben, stimmt damit überein, daß eine erneute Untersuchung seines berühmten Eheprozesses Balduin zwar als klugen und gewandten Diplomaten, aber durchaus nicht als grimmigen Kriegsmann zeigt. Es wird gerade aus dem Prozeß deutlich, daß der Ausgangspunkt für den Aufstieg Balduins der westfränkische Hof gewesen ist und nicht Kriegstaten an einer entlegenen Küste. Wenn der König und Hinkmar fürchteten, daß Balduin, als er mit Judith entflohen war, sich an die Normannen um Hilfe wenden würde, und er vielleicht auch mit einem solchen Bündnis gedroht hat, so ist das doch keinerlei Beweis dafür, daß er gerade ein gefährlicher Feind der Normannen gewesen war. Zur Erklärung der Besorgnis des Königs reicht es vollkommen aus, daß, wie wir auch sonst wissen, der Bund mit den Normannen damals der letzte Rettungsanker für politische Flüchtlinge im Westfrankenreich war. 2 " Erweisen sich somit alle Versuche, Balduin I. von vornherein ein großartige Position in Flandern einzuräumen, als quellenmäßig schlecht begründet und mit den wirklichen Ereignissen nicht ohne weiteres vereinbar, so setzt die zeitgenössische Überlieferung einer solchen Annahme auch noch ein anderes Hindernis entgegen durch die Nachrichten über die Machtstellung des Grafen Ingelram im späten flandrischen Gebiet. Der flandrischen Tradition hat es immer Schwierigkeiten bereitet, daß in dem Capitulare von Servais vom November 853 das ganze Gebiet, das später für die flandrische Herrschaft in Frage kam, in zwei Missatsprengel geteilt war, von denen zur belgisch-niederländischen Geschichte, Berlin 1 9 5 9 , S. 56 ff. (Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte, hrsg. v. Sproemberg, 26

Vgl. Vogel,

H., u. a., Bd. 3)].

W., Die Normannen und das Fränkische Reich bis zur Gründung der Normandie

( 7 9 9 - 9 1 1 ) , Heidelberg 1 9 0 6 , S. 2 1 3 ff. (Heidelberger Abhandlungen zur mittleren und neueren Geschichte, hrsg. v. Hampe, 27

K., u. a., Heft 14).

Ebenda, S. 224.

28

Vgl. unten S. 1 8 4 .

29

Ebenda, S. 107. - Meyer von Knonau, G., Jahrbücher des Deutschen Reichcs unter Heinrich IV. und Heinrich V., Bd. 2, Leipzig 1894, S. 294 ff. (Jbb.). Ebenda, S. 295, Anm. 191. Die Darstellung der Kölner Ereignisse ebenda, S. 391 ff., und bei Koebner, R„ Die Anfänge des Gemeinwesens der Stadt Köln, Bonn 1922, S. 93 ff.

306

Galbert von Brügge

sie nicht zu l e i s t e n ; als die Situation für sie kritisch w u r d e , erwiesen sie sich als h i l f los u n d feige. S o spiegelt sich in den A u g e n eines kirchlichen Geschichtsschreibers die kommunale Bewegung wider! L a m b e r t ist nun b e k a n n t als ein M a n n v o l l e r P h a n t a s i e , der leichtfertig m i t seinen Quellen

umging,

jedem

Klatsch

zugänglich

war

und

vor

Lügen

nicht

zurück-

schreckte.' 0 R . K o e b n e r z u f o l g e kann man den w a h r e n V e r l a u f der K ö l n e r E r e i g n i s s e t r o t z d e m a n h a n d seiner D a r s t e l l u n g r e k o n s t r u i e r e n ' 1 ; allerdings d ü r f e seine gehässige Schilderüng der B ü r g e r nicht o h n e weiteres a k z e p t i e r t w e r d e n . 7 2 W i r a b e r möchten doch fragen, i n w i e w e i t m a n d e m H e r s f e l d e r M ö n c h h i e r G l a u b e n schenken d a r f . Z u w e n i g ist bisher berücksichtigt w o r d e n , d a ß nicht nur seine P h a n t a s i e in der

Dar-

stellung sich ausprägt, sondern in erster L i n i e d i e A u f f a s s u n g einer ganz b e s t i m m t e n sozialen Schicht. L a m b e r t s B e r i c h t über K ö l n ist ein geradezu klassisches Z e u g n i s für die E i n s t e l l u n g der F e u d a l i t ä t gegenüber d e m a u f k o m m e n d e n B ü r g e r t u m u n d für j e n e G e s i n n u n g , die d i e B i s c h ö f e als S t a d t h e r r e n v e r t r a t e n : diese w a r e n nicht gewillt, den B ü r g e r n auch nur i m geringsten e n t g e g e n z u k o m m e n . H i e r o f f e n b a r t sich der V o r s a t z , rechtliche und ö k o n o m i s c h e F o r d e r u n g e n der städtischen B e v ö l k e r u n g zu religiösen V e r b r e c h e n zu stempeln, i n d e m m a n sie zu F r e v e l t a t e n an H e i l i g t ü m e r n

ummünzte.

D i e s ist eine ganz ähnliche H a l t u n g w i e j e n e , die w i r bei d e m A n g r i f f d e r F e u d a l fürsten auf das K i r c h e n g u t feststellen m u ß t e n ; mit R e l i g i o n o d e r Christentum hat sie nichts zu tun. D i e b ü r g e r f e i n d l i c h e Position L a m b e r t s v o n H e r s f e l d h a t bereits R a n k e

hervor-

g e h o b e n . ' 3 W i e w e n i g sie der historischen E n t w i c k l u n g R e c h n u n g trug, hat der F o r t gang der k o m m u n a l e n B e w e g u n g deutlich genug offenbart. G e r a d e in K ö l n hat sich das B ü r g e r t u m als militärisch und organisatorisch besonders leistungsfähig erwiesen. D i e H o f f n u n g d e r K ö l n e r auf eine I n t e r v e n t i o n des K ö n i g s , die -

auch nach L a m -

b e r t - 1 0 7 4 eine R o l l e spielte, hat drei J a h r z e h n t e d a r a u f , im J a h r e 1 1 0 6 , zu einer erneuten E r h e b u n g zugunsten des seiner d a m a l i g e n H a f t entflohenen H e i n r i c h I V . geführt. D i e S t a d t hat sogar nach d e m im selben J a h r e e r f o l g t e n T o d e dieses Herrschers sich so energisch gegen seinen N a c h f o l g e r Heinrich V . gewehrt, d a ß dieser v o n ihrer B e s t r a f u n g a b s e h e n u n d sich mit ihr vergleichen m u ß t e . K o e b n e r hat auf diesen Z e i t p u n k t die S e l b s t ä n d i g k e i t K ö l n s d a t i e r t , obgleich ein entsprechendes P r i v i l e g nicht vorliegt. Auch er h o b das ungewöhnliche Geschick der dortigen B ü r g e r bei d e r m i l i tärischen und politischen V e r t e i d i g u n g ihrer S t a d t h e r v o r . G e w i ß hing das Scheitern des A u f s t a n d s von 1 0 7 4 m i t seiner noch m a n g e l h a f t e n O r g a n i s a t i o n z u s a m m e n , m ö g licherweise a l l e r d i n g s auch mit d e m großen A n s e h e n , das A n n o als K i r c h e n f ü r s t gen o ß . D i e Schilderung L a m b e r t s ist d a m i t in ihrer T e n d e n z abzulehnen.

Diese Charakteristik stammt von Holtzmann, R., in: Wattenbach, W. / Holtztnann, R., a. a. O., Bd. 2, S. 469 f. 71 Koebner, R„ a. a. O., S. 100. ' - Ebenda, S. 103, Anm. 3 ; es handelt sich hier vor allem um die Bemerkungen Lamberts ad a. 1074 (Lamperti annales, ed. O. Holder-Egger in: Lamperti opera, MG. SS. rer. Germ, in us. schol., Hannover und Leipzig 1894, S. 190, Z. 11 ff.) 7 3 Vgl. hierzu Wattenbach, W. / Holtzmann, R„ a. a. O., Bd. 2, S. 464 f. mit Anm. 75. 70

Stellung und Bedeutung

307

Berühmt ist die Bemerkung in der Kölner Königschronik zum Jahre 1112: „Coniuratio Coloniae facta est pro übertäte'Diese so völlig andere Stellungnahme einer Geschichtsquelle wurde aber nachweislich erst hundert Tahre nach den Ereignissen, also im 13. Jh., abgegeben.''' Der Fakt an sich erscheint trotzdem nicht unglaubwürdig und ist auch im allgemeinen von der Forschung als wahr angenommen worden. Nur gegen die Formulierung „pro libertate'' sind Bedenken anzumelden, weil sie eben doch der Ausdruck einer späteren Epoche ist. Unter allen rheinischen Städten hatte Köln in der kommunalen Bewegung die Führung. D a s kann nicht überraschen, denn diese Stadt war damals wohl der größte Handelsplatz und überhaupt die größte Stadt auf Reichsboden. Daneben aber ist wichtig, daß sie in engster Beziehung zum Westen gestanden hat. Kein Ort war so sehr durch den Fernhandel mit Flandern und England verknüpft wie Köln. Allerdings ist daraus, daß die Erhebung in Köln im Jahre 1074, die in Cambrai im Jahre 1077 stattfand, keine Priorität abzuleiten. Beide Ereignisse resultieren wie die ihnen folgenden aus der allgemeinen sozialen Umschichtung. Wohl haben sie sich gegenseitig beeinflußt, jedoch direkte Beziehungen gab es nicht. Von Städtebünden konnte damals noch nicht die Rede sein. Eine zusammenfassende Übersicht über die kommunale Bewegung am Rhein findet sich bei Planitz, der aber leider die Beziehungen zu Flandern außer acht gelassen hat. Wir sehen, daß seit dem Ende des 11. Jh. in den großen Städten ein blutiges Ringen zwischen Bürgern und Stadtherren begann. Von einer literarischen Interessenvertretung der Kommunen beziehungsweise der werdenden Kommunen ist nichts zu bemerken; es sind nur Zerrbilder, die wir von den Geschichtsschreibern über sie erhalten. Daher sind viele Fragen noch offen, etwa wie sich der niedere Klerus zur Kommunebildung'verhalten hat.

Gründungsstädte Während es den großen Städten äußerst schwergefallen ist, eine gesicherte Selbstverwaltung zu erreichen, besitzen wir einige Privilegien, die an kleinere Städte von den Stadtherren freiwillig vergeben wurden und noch aus der Zeit vor den siebziger Jahren des 11. Jh. stammen. Hierher gehört vor allem die neuerdings so oft behandelte Urkunde der Maasstadt Huy, welche Bischof Dietwin von Lüttich im Jahre 1066 vergab. Sie wurde von dem Lütticher Archivar E . Fairon wieder aufgefunden und unter anderem von Planitz behandelt. 0 Dieser bezeichnete das Stück als das älteste 7/

' Chronica regia Coloniensis, rec. II, ad a. 1 1 1 2 , ed. G. Waitz, MG. SS. rer. Germ, in us. schol., Hannover 1 8 8 0 , S. 5 2 .

75 i0

Vgl. dazu Koebner, R., a. a. O., S. 270, Anm. 1. Fairon,

E., Chartes confisquées aux bonnes villes du pays de Liège et du conté de Looz après

de la bataille d'Othée 1 4 0 8 , Bruxelles 1 9 3 7 ; Edition, deutsche Übersetzung und Kommentar von Planitz, H., Die Handfeste von Huy von 1066, der älteste städtische Freiheitsbrief im deutschen Reich, in: Jahrbuch der Arbeitsgemeinschaft der Rheinischen Geschichtsvereine S. 63 ff. Vgl. auch ]oris,

6/1942,

H., Les origines commerciales du patriciat hutois et la charte de 1 0 6 6 ,

in: L a nouvelle Clio 3 / 1 9 5 1 , S. 172 ff.

308

Galbert von Brügge

Stadtprivileg auf Reichsboden, und E. Ennen gründete auf ihm die Theorie von einer besonderen Rolle der Maasstädte bei der Übernahme einer Gemeindeordnung aus dem mittelmeerischen Raum." Es ist jedoch unzweifelhaft, daß die Rechte, welche Huy hier zugebilligt werden, noch recht beschränkt sind, und wenn den Bürgern die Verteidigung der Stadt übertragen wird, springt auch der Zweck der Urkunde ins Auge. Ganz offensichtlich gehört diese Privilegierung in die Territorialpolitik des Bischofs Dietwin, der eifrig bestrebt war, seine Diözese Lüttich zu stärken und zu sichern. 78 Der Haupteinwand gegen die Bedeutung der eben erwähnten Urkunden für die kommunale Bewegung liegt in der Tatsache, daß für Lüttich ein solches Privileg nicht nachweisbar ist. Dieses nämlich war schon damals die bedeutendste Stadt an der mittleren Maas, ein berühmtes Zentrum der Bildung und des Handels; mithin hätte hier zuerst die Privilegierung erfolgen müssen. Wir haben die gleiche Problematik in Flandern. Fr. Blockmans verdanken wir den Beweis, daß in der Zeit zwischen 1067 und 1070 im sogenannten Reichsflandern, d. h. in jenem Gebiet der flandrischen Grafen, welches sie diesseits der Scheide vom Reich zu Lehen trugen, durch Baldwin VI. eine Stadtgründung (Geerardsbergen) erfolgte, bei der bereits eine schriftliche Privilegierung stattfand.' 0 Anschließend hat Blockmans auch nachzuweisen gesucht, daß eine Reihe anderer, kleinerer flandrischer Städte schon vor 1127 gräfliche Stadtrechtsurkunden erhalten hat. 80 Der Fall von Geerardsbergen ist nun dem von Huy durchaus analog zu beurteilen: hier wie dort geschah die Privilegierung in einer gefährdeten Grenzposition des jeweiligen Territoriums. Nicht zufällig fallen beide Urkunden in jene Zeit, da ein heftiger Kampf um die Ausbildung der Territorien in Lothringen stattfand. Auch die an Geerardsbergen vergebenen Rechte waren sehr bescheiden. Beide Typen sind als Gründungsstädte zu bezeichnen, wenn auch Huy eine größere Handelsniederlassung war und eine sehr viel ältere Geschichte besessen hat. Die Erhebung zur selbständigen Stadt jedoch geschah in beiden Fällen allein durch den Willen der Stadtherren. Daher ist auch in Geerardsbergen wie in Huy ein Schwurverband nicht zu erwarten und wohl auch nicht vorhanden gewesen. Bemerkenswert erscheint, daß für die großen flandrischen Städte Brügge, Gent, Ypern, Arras und St. Omer aus jener Zeit keine fürstlichen Privilegien nachweisbar sind. Es ist aber, wie Blockmans durchaus richtig ausgeführt hat, undenkbar, daß die Bürgerschaft von zweit- und drittrangigen Städten bereits Privilegien mehr oder weniger großen Umfanges besessen hätte, als die großen Städte Flanderns diese noch mehr als sieben Jahrzehnte lang entbehren mußten.' 1 Auf Grund dessen hat der genannte Gelehrte die Spuren der beginnenden Selbstverwaltung in den Quellen verfolgt und wertvolle Anhaltspunkte dafür gefunden, daß schon in der zweiten Hälfte des 11. Jh. Ermen, E., a. a. O., S. 212 ff. Wattenbach, W. / Holtzmann, R„ a. a. O., Bd. 2, S. 717. '!l Blockmans, Fr., De zoogenannte Stadskcure van Geerardsbergen van tusschen 1067 en 1070, in: Handelingcn van de Koninglijke Commissie voor Geschiedenis 106/1941, S. 1 ff. 80 Ders., De oudste Privileges der groote vlaamsche Steden, in: Nederlandsche Historiebladen 1/1938, S. 421 ff. 8 1 Ebenda, S. 424. 77 78

309

Stellung und Bedeutung

zumindest Schöffen in den G r o ß s t ä d t e n v o r h a n d e n w a r e n . E s ist kein Z u f a l l , d a ß die ersten Privilegierungen in die Z e i t B a l d w i n s V I . f a l l e n ; w i r w e r d e n noch sehen, d a ß unter ihm d i e flandrische G r a f e n g e w a l t A n l a ß zu politischen K o n z e s s i o n e n hatte. A b e r diese w ä r e n n a t u r g e m ä ß nicht erfolgt, wenn nicht bereits eine E n t w i c k l u n g in den b e d e u t e n d e n S t ä d t e n eingesetzt hätte, d i e zu einer Sonderrechtsstellung u n d S e l b s t v e r w a l t u n g d r ä n g t e und v o r a l l e m die inneren V o r a u s s e t z u n g e n d a f ü r geschaffen hat. D i e von der landesherrlichen S e i t e aus eigener I n i t i a t i v e e r f o l g t e n schriftlichen P r i vilegierungen k l e i n e r e r S t ä d t e k ö n n e n niemals der A u s g a n g s p u n k t der

autonomen

Rechtsstellung der K o m m u n e n gewesen sein. E i n m a l setzten sie bereits eine b e s o n d e r e Rechtsentwicklung voraus, w i e sie nur in d e n g r o ß e n F e r n h a n d e l s - und

Gewerbe-

zentren e r f o l g t sein k o n n t e ; zum a n d e r e n w a r ein bürgerliches B e w u ß t s e i n

erforder-

lich, das e b e n f a l l s d o r t zuerst entstehen m u ß t e . E s ist d a h e r nicht entscheidend, o b d i e R e c h t s f o r m der b e f r e i t e n S t a d t g e m e i n d e , die E n n e n für j e n e M a a s s t ä d t e als o r i g i n e l l e Schöpfung in Anspruch n i m m t , dort wirklich f o r m a l zuerst

fixiert

w o r d e n ist. V i e l -

m e h r k o m m t es d a r a u f an, w o d i e bürgerliche G e s i n n u n g e n t s t a n d e n ist, w e l c h e e b e n die V o r a u s s e t z u n g für d i e P r i v i l e g i e r u n g d a r s t e l l t e und erst zur B i l d u n g einer w i r k lichen K o m m u n e führte.

D i e A n f ä n g e k o m m u n a l e r B e w e g u n g in F l a n d e r n W i r müssen d a h e r unser A u g e n m e r k auf d i e V o r g ä n g e in den Z e n t r e n

Flanderns

richten und eine E r k l ä r u n g d a f ü r zu finden versuchen, w a r u m d i e P r i v i l e g i e r u n g dort erst später einsetzte. M i t d e r A n n a h m e nämlich, d a ß die ä l t e r e n P r i v i l e g i e n sämtlich v e r l o r e n g e g a n g e n seien, w i r d man k a u m operieren k ö n n e n , o b w o h l d e r a r t i g e V e r l u s t e in E i n z e l f ä l l e n durchaus möglich sind. M a n hat d a v o n auszugehen, d a ß in F l a n d e r n das V e r h ä l t n i s zwischen l a n d e s h e r r licher G e w a l t und S t a d t von A n f a n g an ein b e s o n d e r e s gewesen ist. D i e n i e d e r l ä n d i schen F ü r s t e n w a r e n ganz a l l g e m e i n in einer schwierigen S i t u a t i o n , als sie v o r der T a t s a c h e standen, d a ß die älteren S t ä d t e , soweit sie sich durch d i e R ö m e r z e i t

hin-

durchgerettet h a t t e n , B i s c h o f s s t ä d t e g e w o r d e n w a r e n u n d in ihnen der B i s c h o f fast stets die m a ß g e b e n d e politische S t e l l u n g errungen hatte. D i e politische N e u o r d n u n g im niederländischen R a u m w u r d e b e s t i m m t durch d i e fränkische L a n d n a h m e , in deren G e f o l g e d i e a l t e römische A u f g l i e d e r u n g w e i t g e h e n d durchbrochen o d e r

vernichtet

w o r d e n ist. D i e F e u d a l f ü r s t e n sahen sich gezwungen, bei d e m A u s b a u ihrer R e s i d e n zen und B u r g e n w e i t g e h e n d zu N e u g r ü n d u n g e n zu schreiten, u n d erst sehr spät w u r den d i e g r o ß e n B i s c h o f s s t ä d t e in ihren M a c h t b e r e i c h wirklich eingegliedert. Z u eigentlichen Z e n t r e n des politischen L e b e n s sind d i e s e letzteren jedoch mit der einzigen A u s n a h m e v o n Lüttich, das a b e r selbst sich als Z e n t r u m

eines großen

geistlichen

F ü r s t e n t u m s e t a b l i e r t e , nicht g e w o r d e n . 8 2 82

21

Vgl. meinen Aufsatz: Residenz und Territorium im niederländischen Raum, in: [RhVjbll. 6/1936; Wiederabdruck in:] Sproemberg, H., Beiträge zur belgisch-niederländischen Geschichte, Berlin 1959, S. 224 f. (Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte, hrsg. v. Sproemberg, H., u. a., Bd. 3). Sproemberg

310

Galbert von Brügge

Nach dem raschen V e r f a l l der westfränkischen Zentralgewalt, nach der Krise im ostfränkischen Reich hatten die Normannen bekanntlich im 9. Jh. den niederländischen R a u m nicht nur verheert, sondern in erheblichem A u s m a ß hier auch ihre Standquartiere aufgeschlagen. A l s einziges probates Mittel gegen sie erwies sich der Kastellbau, der dann von den flandrischen Grafen auch in großem U m f a n g angewendet wurde.' MJ D i e so entstehenden flandrischen Kastelle, von vornherein als eine A r t Fluchtburgen angelegt, wurden fast a l l e zu Ansatzpunkten städtischer Entwicklung. W i r möchten auf Einzelheiten nicht eingehen, sondern nur hervorheben, d a ß sich hier eine Initiative des Landesherrn zeigt, w i e sie zu so früher Zeit sonst nirgends in diesem A u s m a ß festzustellen ist. Z w a r sind einige Kastelle, w i e e t w a das von Gent, bereits älteren D a t u m s ; sie waren jedoch infolge des Normanneneinbruchs völlig in V e r f a l l geraten und w u r d e n ebenfalls durch die landesherrliche G e w a l t w i e d e r a u f - und ausgebaut. Auch die großen flandrischen Klöster standen unter der Vogteigewalt der Grafen, weshalb hier in gleichem M a ß e der A n f a n g städtischer Entwicklung vom Landesherrn ausgeht. Weitgehend w a r dieser direkt Stadtherr, teilweise, eben als Vogt der Klöster, Inhaber der richterlichen G e w a l t . Mithin steht die städtische Entwicklung auf flandrischem Boden nicht, w i e in anderen Gebieten, einzelnen Stadtherren gegenüber, sondern von vornherein einem Landesherrn. Es ist dabei von Bedeutung, d a ß der Graf von Flandern seine Residenzen wechselte und nicht w i e die geistlichen Stadtherren an eine Stadt gebunden w a r . Soweit er, worauf w i r noch zurückkommen werden, eine V e r w a l t u n g ausbildete, hatte sie nur einen geringen U m f a n g . Es fehlte an seinem Hof der zahlreiche Klerus, der in den kirchlichen Residenzen um den Stadtherrn saß und dem dort in der Regel ein besonderes Stadtquartier zur Verfügung stand. Daher blieben hier jene Reibungen aus, welche sonst - w i r möchten nur an den bereits behandelten V o r f a l l in Köln oder an die Bildung der Kommune von Cambrai erinnern - zwischen Geistlichkeit und entstehendem Bürgertum fast überall vorgekommen sind. W ä h r e n d des 10. Jh. setzte ein rascher Aufstieg des flandrischen Fürstentums ein. Nach dem Tode seines eigentlichen Gründers B a l d w i n II. (918) regierte bis 965 Arnulf I. Ihn hat Pirenne in einer berühmten Schilderung als einen der größten Fürsten seiner Zeit bezeichnet und geschrieben, es w ä r e unmöglich, im 10. Jh. einen anderen großen V a s a l l e n zu finden, der so souverän in seinem Gebiet gewesen sei w i e Arnulf. 8 ' 1 D i e Ursache des flandrischen Aufstieges w a r die fortdauernde Krise der Zentralgewalt in W e s t f r a n k e n : durch den Kampf zwischen den letzten Karolingern und den ersten Capetingern sank hier die Königsgewalt zu einem Schatten herab. So w a r es den flandrischen Grafen möglich, ein relativ großes und geschlossenes Gebiet in ihre G e w a l t zu bringen, in welchem sie zwar nicht juristisch, aber faktisch souverän herrschten. Der König w a r überhaupt nicht in der L a g e , Oberrechte geltend zu machen; sogar in der Außenpolitik ist Flandern völlig eigene W e g e gegangen. Die Tatsache, d a ß im Westen die N o r m a n d i e sich selbständig entwickelte, hat schließlich dazu geführt, d a ß sein Ausdehnungsstreben sich nach dem Osten richtete: im 11. Jh. 83

8,1

Vgl. ebenda, S. 246 f., und Dbondt, ]., Het ontstaan van het vorstendom Viaanderen, in: Revue Beige 21/1942, S. 78 ff. Pirenne, H„ Histoire de Belgique, Bd. 1, 5. Aufl., a. a. O., S. 105.

Stellung und Bedeutung

311

begann sein Kampf gegen die Reichsgewalt, der zu tiefen Einbrüchen in das Reichsgebiet führte. Während des Investiturstreits überschritt Flandern endgültig die Scheidegrenze und schuf sich in Niederlothringen eine bedeutende Position. Ihren Höhepunkt erreichte diese Machtentwicklung unter Baldwin V. (1035-1067); damals erschien der Graf von Flandern schon fast als ein König. Baldwin war Vormund des französischen Königs und Schwiegervater des Herzogs Wilhelm von der Normandie. Dieses letztere hat die Eroberung Englands durch die Normannen erleichtert, vielleicht auch sogar erst ermöglicht, da Wilhelm mit dieser Rückendeckung alle Kräfte auf die Invasion verwenden konnte und überdies noch aus Flandern Zuzug erhielt. In jener Zeit wurde mit den Herrschaften Dendermonde und Aals ein erheblicher Teil Brabants dauernd für Flandern gewonnen, und auch die Eename erscheint von nun ab als ihm zugehörig. W i r werden allerdings sehen, daß Galbert noch zwischen dem französischen Teil Flanderns und dem auf Reichsgebiet liegenden unterscheidet. Die Heirat des ältesten Sohnes Baldwins V., des späteren Baldwin VI., mit der Besitzerin der Grafschaft Hennegau sowie die des Zweitgeborenen Robert mit der Regentin der Grafschaft Holland haben die flandrische Macht noch weiter auf Reichsboden ausgebreitet. Die Reichsgewalt war in der Zeit des Investiturstreites nicht in der Lage, gegen diese Usurpationen Einspruch zu erheben, obwohl über die genannten Reichslehen an sich nur mit Zustimmung des Königs verfügt werden konnte.

D i e innere Verwaltung Entsprechend dem äußeren Machtanstieg Flanderns vollzog sich die Verstärkung der lehnsfürstlichen Gewalt im Innern; beides stand in engstem Zusammenhang. Neben der Normandie gab es in Frankreich kein Lehnsfürstentum, das eine solche Machtkonzentration aufzuweisen hatte. Der Graf von Flandern ist damals wirklich zum dominus terrae geworden, wenn man ihn auch noch nicht sofort als Landesherrn im später üblichen Sinne ansehen darf. F. L. Ganshof ,hat die entscheidenden Voraussetzungen zusammengestellt, auf Grund derer besonders Baldwin V. eine strafie Verwaltungsorganisation durchzusetzen vermochte. 8j Er nannte im einzelnen: 1. Einführung und Ausbau der Kastellanien, durch welche das Herrschaftsgebiet abweichend von der alten Grafschaftsverfassung neu gegliedert wurde. Ausgenommen von dieser Reorganisation blieben freilich einige Lehnsgrafschaften im Westen mit eigenen Grafendynastien. Im Kerngebiet Flanderns jedoch wurden die alten Bildungen zerschnitten, was zur Festigung der Macht des flandrischen Grafen führte. Dies vor allem deshalb, weil die in die flandrischen Kastelle eingesetzten Kastellane flicht aus dem Feudaladel genommen wurden, sondern, wie wir noch sehen werden, teilweise sogar Unfreie des Grafen waren. Allerdings halte ich im Gegensatz zu Ganshof dies hier nicht für allein ausschlaggebend, sondern möchte besonders herausstellen, daß die Kastelle keine eigentlichen Burgen, sondern bereits Stadtkerne waren: hier 8a

21

Ganshof,

F. L., L a F l a n d r e sous les premiers comtes, B r u x e l l e s 1 9 4 3 , S. 3 8 f.

312

Galbert von Brügge

stand dann der Kastellan einer werdenden Bürgerschaft gegenüber. Es wird noch gezeigt werden, daß die Einsetzung von Finanzbeamten in den Kastellanien die Entstehung von Feudalherrschaften verhindert hat - eine Tatsache, bei der die eigenartige Struktur Flanderns in Rechnung zu stellen ist. 2. Mit Hilfe der Vogteigewalt wurde der Kirchenbesitz zu einer wichtigen Stütze der gräflichen Herrschaft. Während des 9. und 10. Jh. hatten die Grafen die großen Königsklöster in ihre Hand gebracht und deren gewaltige Grundherrschaften praktisch zu ihrer Domäne geschlagen. Dabei belebten sie auch die verfallene Klosterzucht und lenkten mit Hilfe von Reformmönchen sehr energisch das kirchliche Leben wieder in geordnete Bahnen. Übrigens wurde den Klöstern zur Bestreitung ihres Unterhalts ein erheblicher Teil ihres Besitzes zurückgegeben; jedoch unterstanden die dort angesetzten Vasallen nunmehr dem Grafen, welcher auch die Gerichtsbarkeit über diesen Besitz ausübte. 3. D i e Grafen stellten sich an die Spitze der Gottesfriedensbewegung. Schon im Jahre 1030 tat dies Baldwin III., und 1063 handelte Baldwin V . ebenso. Beide haben eine Friedensgesetzgebung erlassen, in die auch der Schutz der Kaufleute und Fremden einbezogen wurde. Hier läßt sich damit der Übergang vom Gottesfrieden zum Landfrieden beobachten. 86 4. D i e Grafen begünstigten den Ausbau der Kastelle wie der Städte und nahmen sich der Belange der Bevölkerung persönlich an. 5. Der flandrische Klerus wurde - mit den Bischöfen an der Spitze - mehr und mehr in die Landesverwaltung einbezogen. Der Bischof von Therouanne konnte sich nicht zu einem Territorialherrn entwickeln; sein Amtskollege von Cambrai geriet in jener Zeit unter den maßgebenden Einfluß Flanderns. Der Graf erschien als der geborene Schutzherr der Kirche, und es ist gewiß richtig, wenn Ganshof betont, daß ihn keineswegs allein die politischen Gründe in diese Richtung wiesen, sondern es ihm auch ein religiöses Anliegen war, für Ordnung in der Kirche zu sorgen. Ohne Frage aber lief das auf die Bildung einer Landeskirche hinaus. 87 Endlich müssen wir selbst - und besonders in Hinsicht auf die Hauptgestalt unserer Abhandlung, Galbert von Brügge - noch ein Wort über die Notare sagen. Wir sprachen schon davon, daß neben den Kastellan, den Burggrafen, ein Finanzbeamter trat, der die gesamten Einkünfte des Grafen, unter welchem Rechtstitel sie auch laufen mochten, einzuheben hatte und der gegen E n d e des 11. Jh. bereits einer zentralen Verwaltung unterstand. 8 - E s ist dies ein entscheidender Durchbruch durch die hochfeudale Verwaltung, welche auf Verleihung von Nutzungen (Lehen) beruhte und daneben nur in geringem Maße eine direkte Finanzverwaltung kannte. Eine solche ist eben nur möglich, wenn die Geldwirtschaft wieder an Bedeutung zunimmt.

80

Vgl. Wattenbach,

W. / Holtzmann,

R., a. a. O., Bd. 2, S. 696, Anm. 185, und Ganshof,

F.

L„

La Flandre, a. a. O., S. 41. 87

Ebenda, S. 42.

88

Dies war die große Entdeckung Pirennes: S. 127 und S. 128, Anm. 1.

vgl. Histoire de Belgique, Bd. 1, 5. Aufl., a. a. O.,

Stellung und Bedeutung

313

Landesherr und Städte in Flandern bis zur Mitte des 11. Jahrhunderts Aus dieser Charakteristik der inneren Verwaltung ist deutlich zu ersehen, wie sehr in Flandern die Grafen bereits auf die Interessen des werdenden Bürgertums Rücksicht nahmen. Sie wurden in ähnlicher Weise, wie sie als Beschützer der Kirche auftraten, auch zu Schirmherren der Städte. Ihre Haltung stand im Gegensatz zu der der geistlichen und auch fast aller anderen weltlichen Feudalfürsten. Mehr und mehr nämlich konnte geradezu von einer planmäßigen Förderung des flandrischen Bürgertums durch den Grafen gesprochen werden. Seine Außenpolitik erwies sich gerade für die Kaufleute als vorteihaft, wurden diese doch auch im Ausland durch seine Macht geschützt. Die engen Beziehungen sowohl zu Frankreich als auch zu England mußten dem beginnenden Fernhandel Flanderns äußerst nützlich sein. Desgleichen verhinderte die hervorragende Stellung der Grafen Feudalfehden im Innern und Invasionen von außen; die von ihm ausgeübte Friedenswahrung war für das wirtschaftliche Gedeihen des Landes entscheidend und bewirkte mit, daß sich neben dem Fernhandel auch das Exportgewerbe entwickeln konnte. Man versteht vollkommen, wie eng hierdurch das Zusammenwirken zwischen Grafen und Bürgern wurde. Die Einnahmen des ersteren begannen nun, die Geldform anzunehmen, und da sie sich ständig steigerten, machten sie den Grafen schließlich von den Leistungen der Feudalherren unabhängig. Man kann die eigenartige Entwicklung der städtischen Privilegierung in Flandern nur unter Berücksichtigung dieser besonderen Umstände richtig verstehen. Die Rechtspflege und die Ausbildung des Rechts lagen praktisch in der Hand des Grafen, und wir sehen, daß dieser hierbei eben die Belange der Städte in seine Maßnahmen einbezog. Aus diesem Grunde bestand zunächst für das werdende Bürgertum kein Anlaß, mit Gewalt eine Änderung der Machtverhältnisse vorzunehmen. Das Auftauchen der Schöffen beweist, daß die gräfliche Verwaltung von sich aus gewisse Konzessionen machte; allerdings sah sie sich nicht veranlaßt, grundsätzlich auf ihre Rechte zu verzichten, d. h. zur schriftlichen Privilegierung überzugehen. Diese Handlungsweise ist für mittelalterliche Verhältnisse charakteristisch; vollzog sich hier doch der Ubergang vom Gewohnheitsrecht zu fester Rechtssetzung stets allmählich und nur dann, wenn ein dringender Anlaß dazu bestand. Schon das Entstehen des Notariats zeigt, daß das Bürgertum auch in die Verwaltung einzudringen begann: Die Notare waren bis in das 12. Jh. hinein zwar noch Geistliche, stammten jedoch größtenteils nicht mehr aus dem Feudaladel. Immer stärker wurden von ihnen bürgerliche Geschäftskenntnisse verlangt; die Erhebung der Einkünfte sowie die Ausfertigung von Urkunden setzten bereits ein bedeutendes Rechtswissen voraus. So entwickelte sich hier der Typ eines nichtfeudalen und schließlich auch nicht mehr rein geistlichen Beamten. Besonders im 11. Jh. mag die Abhängigkeit von der gräflichen Gewalt für die Bürger der größeren flandrischen Städte drückend gewesen sein. Nicht immer dürften die Zugeständnisse des Grafen den selbstbewußter werdenden Bürgern genügt haben. Auch zeigte sich bei den Kastellanen in den Städten die Tendenz, trotz der Nieder-

314

G a l b e r t v o n Brügge

haltung durch die über ihnen stehende Gewalt zu Feudalherren aufzusteigen, was zu Gegensätzen zwischen ihnen und der jeweiligen Bürgerschaft führte. Zu beachten ist endlich, daß die Entwicklung von Tuchgewerbe und Fernhandel eine rasche Bevölkerungsvermehrung im Gefolge hatte und jetzt auch mittlere und untere Schichten in den Städten Bedeutung erlangten. Allerdings wird die Konjunktur zu jener Zeit auch diesen noch ihr Auskommen gesichert haben; jedenfalls sind noch keine sozialen Gegensätze spürbar. Stets stand die Stadtbevölkerung der Grafengewalt geschlossen gegenüber; solange diese jedoch in sicherem Aufstieg begriffen war, konnte es keinem geraten erscheinen, mit ihr in Konflikt zu kommen.

D i e erste Krise des flandrischen Staates und ihre Widerspiegelung in der Geschichtsschreibung Wir sahen die Tendenz in den Städten, zur Bildung von Kommunen zu gelangen, und man kann die folgenden Ereignisse nicht verstehen, ohne diese ökonomische und soziale Strukturwandlung als treibendes Moment in Anschlag zu bringen. Gegen Ende der Regierungszeit Baldwins V. geriet der flandrische Staat in eine Krise, welche letztlich die Möglichkeit bot, dieser Strukturwandlung freie Bahn zu schaffen. Wir erwähnten bereits, daß Baldwin V. zwei Söhne hatte: Baldwin von Hennegau und Robert, der damals in Holland saß. Dieser dürfte von Anfang an aktiver und energischer als sein Bruder gewesen sein, der dazu wahrscheinlich bereits zu Ende der Regierung seines Vaters ein kranker Mann war. Jedenfalls rechnete Baldwin V. zweifellos damit, daß Robert Ansprüche auf das flandrische Erbe stellen würde - noch dazu, wo dieser nicht Graf von Holland war. 8n Es ist nun ein Problem, wie weit ein solcher Anspruch noch seine Berechtigung besaß. Das ursprüngliche Prinzip des SippeEigen und damit der Anwartschaft zumindest aller volljähriger Söhne auf einen Teil des Erbes war auf französischem Boden bereits weitgehend dem Amtsgedanken gewichen. Das Amt an sich war nicht teilbar, was hieß, daß die jüngeren Söhne vom Erbe ausgeschlossen wurden oder, wenn es hoch kam, geringe Anteile davon empfingen. G. Teilenbach hat diesen Vorgang, der sogar das karolingische Teilungsrecht beseitigt hat, besonders hervorgehoben.110 Seine rechtliche Seite ist vielfach erörtert worden, auch von Ch. Verlinden, dem Biographen Roberts des Friesen." 1 Unzweifelhaft war in jener Zeit eine grundsätzliche Entscheidung zwischen beiden Prinzipien noch nicht getroffen. Wir möchten zum Beweis dessen nur daran erinnern, wie heftig 80

Seine Frau, eine sächsische Herzogstochter und die W i t w e des verstorbenen letzten G r a f e n v o n H o l l a n d , hatte m e h r e r e Söhne, deren Ansprüche auf das E r b e ihres V a t e r s bei ihrer V o l l j ä h r i g keit a n e r k a n n t w u r d e n , wodurch die Regierung R o b e r t s ihr E n d e f a n d .

Tellenbach,

G., D i e U n t e i l b a r k e i t des Reiches, i n : [HZ. 1 6 3 / 1 9 4 0 ; W i e d e r a b d r u c k i n : ] D i e E n t -

stehung des Deutschen Reiches, D a r m s t a d t 1 9 5 6 , S. 1 1 3 f. ( W e g e der Forschung 1 ) . 91

Verlinden,

Ch., R o b e r t I la Frison, comte de F l a n d r e , Paris 1 9 3 5 , S. 4 0 f . ; Sproemberg,

H., D a s

E r w a c h e n des S t a a t s g e f ü h l s in den N i e d e r l a n d e n , in : L'organisation c o r p o r a t i v e du moyen âge à la fin d e l'ancien régime, B d . 3, L ö w e n 1 9 3 9 , S. 4 6 f.

315

Stellung und Bedeutung

die Söhne Wilhelms des Eroberers um dessen E r b e gekämpft und dadurch die Einheit des anglo-normannischen Reiches in Frage gestellt haben. Man kann somit nicht sagen, daß Roberts dann auch erhobene Forderung von vornherein von der Hand zu weisen war. E s zeigt allerdings die Schwäche Baldwins V I . , daß er, der anerkannte Thronfolger in Flandern und Herr der Grafschaft Hennegau, dieses Vorgehen seines Bruders mit Besorgnis betrachtete. Uns interessiert die Stellung der Geschichtsschreibung hierzu. D i e den Ereignissen zeitlich am nächsten stehende Quelle, die „Genealogía comitum Flandriae Bertiniana" aus dem E n d e des 11. Jh., spricht nur davon, daß Robert nach seiner Heirat mit der Gräfin von Holland für eine große Geldsumme seinem V a t e r schwor, auf Flandern zu verzichten. 02 D i e s e Auffassung ist rein dynastisch; nur Sohn und V a t e r des Herrschaftsgeschlechtes stehen im Blickfeld. D e r Vorgang erscheint als eine Familienregelung, bei der das „ L a n d " noch nicht in Erscheinung tritt. Allerdings ist diese Quelle auch, wie schon ihr N a m e verrät, eine genealogische. E s gibt aber noch einen anderen Bericht: den des Hermann von Tournai aus dem 12. J h . In ihm ist bereits von einer Mitwirkung des Landes die Rede. E s wird nämlich erzählt, d a ß Baldwin V . aus Sorge, es könnte nach seinem T o d e ein Krieg zwischen seinen Söhnen entstehen, schon zu Lebzeiten sein ganzes L a n d dem älteren übergab und seine G r o ß e n (optimates) veranlaßte, diesem Mannschaft und Treue zu leisten. Robert mußte in Anwesenheit seines Vaters, seines Bruders und eines großen Teils des Adels öffentlich auf die Heiligenreliquien einen E i d ablegen, d a ß er weder Baldwin selbst noch seinen E r b e n in Flandern irgendeinen Schaden tun werde/ 13 Hier haben wir somit ein ganz anderes B i l d ; von einer Geldleistung an Robert ist nicht mehr die Rede, um so mehr aber von dessen öffentlichem Verzicht, der gleichzeitig dadurch bedeutsam wird, daß dem anderen Bruder in Flandern Mannschaft und Lehnseid geleistet werden mußte. D i e s e Erbregulierung wird so unter den Schutz der Vertreter des Landes gestellt. Hermann war der Geschichtsschreiber der Stadt Tournai. Schon in ganz jungen J a h ren ist er von seinem Vater, einem angesehenen Mann offenbar bürgerlicher Herkunft, und seinen Brüdern kurz nach 1092 in das damals eben reformierte St. Martinskloster dortselbst gegeben worden. E r hat es bis zum A b t dieses Klosters gebracht, später jedoch diese W ü r d e niedergelegt und sich vor allem dem K a m p f seiner Stadt für die Einsetzung eines eigenen Bischofs gewidmet. Tournai gehörte seit der fränkischen Zeit zu dem nordfranzösischen Bistum Noyon. M i t dem Anwachsen seiner Bedeutung und auf Grund der besonderen politischen Verhältnisse wuchs auch der W i l l e zur kirchlichen Verselbständigung. Tournai war eine alte Römerstadt und leitete hieraus das Recht auf ein eigenes Bistum her. Hermann ist nun in den schwierigsten Auseinandersetzungen, die sich zwangsläufig ergaben, tätig gewesen; während eines Aufenthalts in R o m schrieb er 1141 sein Geschichtswerk, das die erwähnten Bemerkungen über die flandrischen Vorgänge enthält. 92

Genealogía comitum Flandriae Bertiniana, ed L. C. Bethmann

in: MG. SS. IX, S. 3 0 6 :

tus duxit filiam Bernardi Saxonum comitis Gertrudem . . . Hlc aeeepta maxima sacramento Flandriam abdieavit. . ." 93

a patre suo

„Rober-

pecunia

Hcrimanni liber de restauratione monasterii saneti Martini Tornaccnsis c. 12, ed. G. Waitz MG. SS. X I V , S. 280.

in:

316

Galbert von Brügge

E s erscheint m i r von B e l a n g , d a r a u f hinzuweisen, d a ß diese V o r g ä n g e also auch v o n den V e r t r e t e r n der B ü r g e r s c h a f t a u f m e r k s a m v e r f o l g t w u r d e n . U m s t r i t t e n

ist,

i n w i e w e i t es d a m a l s schon zur B i l d u n g einer K o m m u n e in T o u r n a i g e k o m m e n w a r , a b e r d a ß d i e k o m m u n a l e B e w e g u n g dort A l t e r und S t ä r k e aufweist, steht a u ß e r Frage. 9 ' 1 D i e v o l l e P r i v i l e g i e r u n g e r f o l g t e nach der D u r c h s e t z u n g der kirchlichen S e l b s t ä n d i g keit, und T o u r n a i hat mit ihr eine ganz b e s o n d e r e Rechtsstellung errungen. E s erhielt nämlich den Status eines K r o n v a s a l l e n F r a n k r e i c h s , w e i l es, mitten in F l a n d e r n gelegen, u n m i t t e l b a r dem französischen K ö n i g u n t e r s t a n d . M a n k ö n n t e es in ü b e r t r a g e nem Sinne als einzige „ f r e i e R e i c h s s t a d t " in F r a n k r e i c h bezeichnen. F ü r die D a r s t e l l u n g d e r flandrischen E r e i g n i s s e bei H e r m a n n w a r das o h n e B e l a n g . D i e K o m m u n e ist nicht ohne E i n f l u ß auf seine Geschichtsschreibung g e b l i e b e n , jedoch stehen kirchliche Interessen im V o r d e r g r u n d . O b er eine u n m i t t e l b a r e Ü b e r l i e f e r u n g des G e s c h e h e n s v o n 1 0 6 3 bis 1 0 6 7 besessen hat, l ä ß t sich nicht genau f e s t s t e l l e n ; doch ist seine D a r s t e l l u n g w o h l im a l l g e m e i n e n gut fundiert. W e n i g e r W e r t zu legen ist j e d e n f a l l s auf die E r z ä h l u n g G i s e l b e r t s v o n M ö n s , d i e übrigens eindeutig im I n t e r e s s e d e r G r a f e n v o n H e n n e g a u entstand und noch später anzusetzen ist. L a m p e r t von H e r s f e l d w e i ß von den genannten E i d e s l e i s t u n g e n nichts, o b w o h l er ihnen v o n allen A u t o r e n zeitlich a m nächsten gestanden hat. S e i n e m B e r i c h t über R o b e r t ist k a u m etwas K o n k r e t e s zu e n t n e h m e n .

D i e Erzählung Galberts von Brügge H i e r nun zuerst müssen w i r auf den B r ü g g e r N o t a r G a l b e r t zu sprechen k o m m e n , der, w i e w i r noch eingehend ausführen w e r d e n , sich z w a r hauptsächlich m i t den E r eignissen von 1 1 2 7 beschäftigt, j e d o c h in einem E i n s c h u b auf d i e eben besprochenen V o r g ä n g e eingeht. S e i n e D a r s t e l l u n g ist v ö l l i g selbständig und, v o n der

„Genealogia"

a b g e s e h e n , so kurz nach unseren E r e i g n i s s e n geschrieben w i e k e i n e a n d e r e uns bek a n n t e . G a l b e r t stellte die E i d e s l e i s t u n g R o b e r t s erst an das E n d e der R e g i e r u n g B a l d w i n s V I . E r schrieb, d a ß dieser, als er sein E n d e nahen fühlte, sein H o f g e r i c h t (curia)

nach B r ü g g e b e r i e f und gleichzeitig d i e G r o ß e n und B a r o n e seiner ganzen

G r a f s c h a f t um sich v e r s a m m e l t e . H i e r z u lud er auch seinen B r u d e r R o b e r t ein, den er öffentlich beschwor, seinen Söhnen nach seinem T o d e F r i e d e n und Sicherheit zu bew a h r e n und in keiner W e i s e ihr E r b t e i l zu s c h ä d i g e n ; als E n t g e l t d a f ü r w o l l t e e r ihm v i e l e G e s c h e n k e geben. A u f G r u n d dieses V o r g a n g s f a n d d i e E i d e s l e i s t u n g in der K i r c h e zu St. D o n a t i a n statt, und z w a r in A n w e s e n h e i t der ganzen V e r s a m m l u n g . 0 5 E s ist bei G a l b e r t k e i n e R e d e d a v o n , d a ß diese E r e i g n i s s e i r g e n d w i e m i t B a l d win V . im Z u s a m m e n h a n g stehen. Schenken wir ihm G l a u b e n , so müssen sie auch, w i e Vgl. hierzu Vercauteren, F., a. a. O., S. 250 fi. ; Ennen, E., a. a. O., S. 128 f. ; sowie Rolland, P., Tournai, notre cité, Bruxelles 1944, S. 66 f. Rolland war der beste Kenner der Geschichte Tournais. a ° Galbert, De multro, traditione et occisione gloriosi Karoli comitis Flandriarum (Histoire du meurtre de Charles le Bon, comte de Flandre) c. 69, ed. H. Pirerme, Paris 1891, S. 110 f. (Collection de textes pour servir à l'étude et à l'enseignement de l'histoire). 04

317

Stellung und Bedeutung

Verlinden richtig bemerkt hat, E n d e 1069 oder Anfang 1070 stattgefunden haben.116 An der Richtigkeit der von ihm verzeichneten Tatsachen ist an sich nicht zu zweifeln. Galbert lebte in Brügge, und er wird keinesfalls ein solches Faktum beschrieben haben, ohne hierfür eine gut beglaubigte Unterlage zu besitzen. D a er übrigens 1127 wahrscheinlich schon ein älterer Mann war, dürften seine Kenntnisse über die Brüggcr Tradition recht umfangreich gewesen sein. E s kommt uns nun in diesem Zusammenhang nicht so sehr auf die Ubereinstimmung mit Hermann an, sondern mehr auf die Form, in welche Galbert seine Erzählung kleidete. Sie präsentiert sich als eine feierliche Erklärung Baldwins V I . , die mit den Worten „Ego Flandriartim comes Baldevinus . . .", also im Stil einer Urkunde beginnt. Man sollte dies in Hinsicht auf die späteren angeblich im Wortlaut gebrachten Dokumente in Galberts W e r k nicht außer acht lassen. E s dürfte ganz unwahrscheinlich sein, daß über unseren Gegenstand eine Urkunde angefertigt worden ist; ohne Frage hat Galbert selbst den ihm vorliegenden Bericht in eine juristisch derart präzise Form gebracht. Schon die Tatsache, daß hier keine Erklärung Roberts begegnet, spricht für die These. Sie besagt nichts dagegen, daß der Rechtsinhalt richtig wiedergegeben worden ist, erweist sich aber von Belang bei Betrachtung der Juristentätigkeit Galberts. E i n zweites kommt hinzu: Hermann stellte bei der Eidesleistung ausschließlich den Feudaladel heraus; vom V o l k ist keine Rede. B e i Galbert dagegen finden wir einige interessante Nuancen, die hierüber hinausweisen. In der Bemerkung, daß Roberts Verzichtleistung ebenso nützlich für das Land wie für Baldwin V I . wäre („tarn -patriae quam sibi prenosset. . ."), steht schon das L a n d an der Spitze, nicht mehr der Herrscher. E s erscheint w e i t e r in d e r W e n d u n g : „precavere

patriae

huic

et liberis

tneis";

besonders deutlich aber wird es samt seinen Bewohnern herausgestellt in der Forderung B a l d w i n s : „ne a fratre

meo

. . . fdii

mei et incolae

terrae

meae

aliquid

injuriae

. . .

patiantur"n' Galbert sagt nicht, daß die Bürger bei jener Versammlung zugegen waren; wohl aber tritt in seiner Fassung der dynastische Charakter noch stärker zurück als in den anderen Quellen. D e r Schutz des Landes und seiner Bewohner wird als wesentliches Moment für den Vertragsabschluß gekennzeichnet. Für sich genommen bedeutet das nicht sehr viel, jedoch muß man bei Betrachtung des folgenden sich immer vor Augen halten, wie sich ein solcher Vertrag bei Galbert widerspiegelt, wie er ihn begründet und formuliert. Galbert leugnet ein Erbrecht Roberts nicht. E r bezeichnet beide Brüder als „heredes terrae Flandrensis", weiß also nichts davon, daß, wie Lampert von Hersfeld mitteilt, damals eine Primogenitur in Flandern bestanden haben soll. Kurze Zeit später jedoch war eine solche vorhanden, denn schon Robert selber hat seinen zweiten Sohn Philipp ohne weiteres von jeder Anwartschaft auf flandrisches Gebiet ausgeschlossen. 08

06 97 98

Verlinden, Ch„ a. a. O., S. 43 ff. Galbert, De multro Karoli c. 69, a. a. O., S. 110 und 111. Verlinden, Ch„ a. a. O., S. 43, Anm. 2.

318

G a l b e r t von Brügge

Robert der Friese bemächtigt sich Flanderns Wir können auf die weitere Entwicklung nur in großen Zügen eingehen, da hier vor allem die Stellung Galberts interessiert. Verlinden hat mit Recht betont, daß Robert,solange Baldwin V I . lebte, das Abkommen einhielt, nach dessen Tode jedoch sofort zu intrigieren begann und das neue Regiment zu stürzen suchte. Baldwins Nachfolger, Arnulf III., war etwa 15 Jahre alt, und die Regentschaft für ihn führte, wenn auch nicht rechtlich, so doch praktisch, seine Mutter, die Gräfin des Hennegaus. Galbert schildert nun recht anschaulich, wie Robert durch Agenten in dem Küstengebiet Flanderns sowie in Brügge Anhänger warb und schließlich, sobald es ihm aussichtsreich genug erschien, auch persönlich auftauchte. D i e Folge sei eine allgemeine Erhebung zu seinen Gunsten gewesen.1'9 Dieser Sachverhalt dürfte unbestreitbar sein. E s interessiert hier nicht weiter, warum Robert sofort Erfolg hatte und inwieweit die Gräfin vom Hennegau daran Schuld trug. Nach gewissenhafter Prüfung der Quellen kam Verlinden zu der Ansicht, daß die Einführung eines verschärften Feudalsystems an der Küste Flanderns ein wesentlicher Anlaß für den Aufstand gewesen sein könnte. Im Hennegau herrschte der Feudaladel, das Bürgertum war unbedeutend, die Bauern befanden sich in drückender Abhängigkeit. Man wird kaum feststellen können, ob die Gräfin wirklich Absichten gehabt hat, solche Zustände auch in Flandern einzuführen, oder ob Robert ihr dies nur zugeschrieben hat. Zu bestimmten Maßnahmen dürfte es kaum gekommen sein, aber es ist gut möglich, daß das Auftreten des Gefolges der Gräfin gewisse Befürchtungen hat aufkommen lassen. Jedenfalls brachte die massive Erhebung im Norden für Robert großen Gewinn, und das, obwohl Baldwin V I . offenbar nicht unbeliebt gewesen war und Flandern bisher unter einem energischen landesherrlichen Regiment gestanden hatte. Galbert sagt zwar nicht ausdrücklich, daß sich die Bürger an dem Aufstand beteiligten; wohl aber bemerkt er, daß sich Robert an die prineipes et maiores des Küstengebietes und Brügges gewandt und sie durch Geld und Versprechungen zur Teilnahme aufgefordert habe. 100 D i e maiores dürften an dieser Stelle Vertreter der Bürgerschaft bezeichnen. Obgleich Galbert unter dem Enkel Roberts gedient hatte und diesen sehr verehrte, prangerte er doch mit aller Schärfe den beschriebenen Verrat an. E r geht so weit, die E r mordung des Grafen Karl von Flandern auf ihn zurückzuführen und zu behaupten, Karl hätte sein Martyrium zur Sühne und Tilgung jener Schuld seines Großvaters erlitten. 101 Auch diese Auffassung ist für seine Beurteilung von Interesse. Als er sein Werk schrieb, spielte der Eidbruch für ihn eine große Rolle; hatten doch er und die Bürger 99 100

G a l b e r t , D e m u l t r o K a r o l i c. 69, a. a. O . , S. 112. „Misit latenter et in dolo ad prineipes et majores viciniae circa mare, scilicet in Isendica,

Ostburg,

Reddenburg

sibi eos,

et Brugis, et ad Flandrenses

marinos, et pretio et sponsionibus

quatenus ipse per illos patriae comitatum obtineret, propelleret." 101

qui parvuli et inutiles

extitissent

Ebenda.

„Post illum vero comes, preeipuum,

nepotesque

confederavit

optimus omnium

consulum

consul, terrenae

dignitatis sidus et

quartus fuit, in cujus traditione et martirio Deus antiquae traditionis terminavit

dictae correctionem,

et pro justitia patriae

occisum transduxit in requiem

loco in quo olim juratum est." E b e n d a , S. 114.

sanetorum,

in

lumen vineodem

319

Stellung und Bedeutung

von B r ü g g e d e m G r a f e n W i l h e l m d i e T r e u e geschworen, ihn a b e r später w i e d e r v e r lassen und sich d e m G r a f e n Dietrich genähert. D i e s e s V e r h a l t e n hat G a l b e r t schwer bedrückt, und seine m e r k w ü r d i g e D a r s t e l l u n g von der Schuld R o b e r t s u n d ihrer Sühne w i r d hiervon beeinflußt w o r d e n sein. Vielleicht e r k l ä r t es sogar, d a ß er g e r a d e den T o d K a r l s in den V o r d e r g r u n d seines W e r k e s stellte und nicht e t w a den von dessen V o r g ä n g e r n R o b e r t II. u n d B a l d w i n VII., w e l c h e beide, auf Seiten des französischen K ö n i g s stehend, im K r i e g e ihr E n d e f a n d e n . O f f e n b a r a b e r sollte K a r l hierdurch auch verherrlicht w e r d e n , i n d e m er a l s O p f e r für seine ganze F a m i l i e hingestellt w u r d e . Noch eine a n d e r e , hieran anschließende Nachricht G a l b e r t s hat mit d e m V e r r a t R o b e r t s zu tun. Es w i r d nämlich erzählt, d a ß d e r neue Herrscher diejenigen, d i e von seinem Neffen zu ihm ü b e r g e l a u f e n w a r e n , i m m e r f ü r v e r d ä c h t i g gehalten hat. D i e s e nun faßten, a l s sie sich verachtet sahen, den P l a n , R o b e r t hinterrücks zu e r m o r d e n u n d B a l d w i n , den B r u d e r A r n u l f s , „sicut justum erat quia justior heres Flandriarutn erat", zum G r a f e n zu erheben. B e m e r k e n s w e r t ist d i e nachdrückliche Betonung, d a ß dieser B a l d w i n , Graf v o m H e n n e g a u , besser b e g r ü n d e t e Ansprüche auf F l a n d e r n h a t t e ; es w i r d nicht gesagt, d a ß dies nur d i e Ansicht der V e r s c h w ö r e r g e w e s e n sei. D e r A n schlag w u r d e a u f g e d e c k t , d i e an ihm B e t e i l i g t e n getötet oder geächtet. D i e s e m Bericht setzt nun G a l b e r t noch eine e i g e n a r t i g e W e n d u n g h i n z u : d e m einen V e r r a t sei ein neuer gefolgt, f ü r den Gott jedoch d a s in ihn v e r w i c k e l t e Geschlecht in d e r dritten u n d vierten G e n e r a t i o n gestraft habe. 1 " 2 Pirenne sah hierin eine A n s p i e l u n g auf d i e M ö r d e r K a r l s von D ä n e m a r k ; G a l b e r t d e u t e t e ihm z u f o l g e also an, d i e s e seien d i e N a c h kommen der V e r r ä t e r des unglücklichen G r a f e n A r n u l f g e w e s e n . A b e r es d ü r f t e g a n z unwahrscheinlich sein, d a ß es sich hier um echte N a c h k o m m e n h a n d e l t e . S t a m m t e n d i e M ö r d e r K a r l s doch aus der S i p p e des Propstes Bertulf von St. D o n a t i a n , und d a ß diese bereits bei den früheren Ereignissen eine R o l l e gespielt hat, ist nicht b e k a n n t u n d ganz unwahrscheinlich. M i r scheint es v i e l m e h r sicher zu sein, d a ß G a l b e r t mit seiner A u s d r u c k s w e i s e auf den S t a n d der Verräter zielt. E r hatte d i e V e r r ä t e r A r n u l f s a l s U n f r e i e (servi) aus dessen G e f o l g e bezeichnet 10 ' 1 , u n d w i r wissen, d a ß Bertulf und sein Geschlecht e b e n f a l l s zu den servi des G r a f e n gehörten. W i r d ü r f e n d a h e r g e w i ß sein, d a ß G a l b e r t den V e r r a t , der in den verschiedenen F ä l l e n geübt w u r d e , von den E i n w o h n e r n F l a n d e r n s auf d i e servi ablenken w o l l t e . D i e s e T e n d e n z , g e w i s s e T a t b e s t ä n d e umzubiegen, w e r d e n w i r auch noch an a n d e r e n Stellen b e m e r k e n .

Pirenne über die Beurteilung von Galberts W e r k Pirenne hat hervorgehoben, d a ß d e r Bericht G a l b e r t s eine sehr seltene Erscheinung i n n e r h a l b der mittelalterlichen H i s t o r i o g r a p h i e darstellt, nämlich ein Tagebuch. l ü '' G a l b e r t selbst hat uns eine l e b e n d i g e Schilderung seiner A r b e i t s w e i s e h i n t e r l a s s e n : 102

103 10,1

Ü b e r diese Ereignisse vgl. ebenda, S. 1 1 4 f. Z u m Schluß heißt e s :

in quarta

vei tertia

gene-

ris Linea Deus vindieavit consequenter in genere traditorum scilicet antiquam traditionem novis periculis, novo genere precipitationis. " „. .. servi . . . dominum suum . . . gladiis iugulaverunt" : ebenda, S. 113. Pirenne, H„ in : ebenda, S. VI.

320

Galbert von Brügge

während der Ereignisse habe er, wie er sagt, alles das, was er erfuhr, auf Wachstafeln aufgezeichnet und, sobald er Zeit fand, auf Grund dieser Aufzeichnungen abschnittsweise seinen Bericht fertiggestellt. 1 0 5 Pi renne hat daraufhin untersucht, wann die einzelnen Abschnitte verfaßt worden sind, und so ein genaues B i l d von der Redaktion gegeben. D e r Bericht, der in seinem K e r n die Ereignisse T a g für T a g vorüberziehen läßt, wobei das betreffende Tagesdatum stets am Rande angegeben ist, entstand seinen Feststellungen zufolge in drei Perioden. D i e cc. 17 bis 67 sowie 72 bis 85 sind von März bis M a i 1127, die cc. 1 bis 14, 68 bis 71 und 86 bis 92 nach dem 22. M a i 1127, aber vor Februar 1128 geschrieben worden. D e r die cc. 93 bis 122 umfassende Schluß, welcher die Schilderung der revolutionären Ereignisse in Flandern enthält, entstand während der Monate Februar bis Juli des Jahres 1128. Schon aus diesen D a t e n erkennt man die gründliche Bearbeitung. D a s Tagebuch bildete nur die Unterlage und den K e r n ; sehr erhebliche Partien sind ihm eingeschoben oder vorangestellt. Pirenne hat nun erklärt, daß Galbert wahrscheinlich nicht die Zeit oder auch nicht den Mut gehabt hat, letzte Hand an sein W e r k zu legen; in der Form, wie es uns heute vorliegt, sei es nicht dazu bestimmt gewesen, veröffentlicht zu werden. E r schließt dies daraus, daß Galbert im Vorwort nur über den Mord zu berichten ankündigt, nicht aber zugleich über die weiteren Ereignisse; auch enthielte das W e r k Unstimmigkeiten, und die Anschauungen des Autors wechselten oft. Pirenne meinte weiter, die Darstellung sei mit vollständiger Naivität und in bestem Glauben geschrieben worden. D e r Erzähler spräche ganz offen; niemals versuche er, die Ereignisse umzugestalten, sondern berichte sie so, wie sie ihm zugetragen wurden. 1 0 6 D a s also hieße, daß Galbert sozusagen nur „auffing", was erzählt wurde; daß er persönlich in keiner Weise an den Ereignissen beteiligt gewesen sei und auch keine bestimmte Tendenz verfolgt habe. E i n e solche Auffassung können wir nicht teilen. T r ä f e sie zu, dann würde allerdings der besondere Charakter von Galberts Geschichtsschreibung nur in der Primitivität bestanden haben, mit der er detailgetreu eine Art Stenogramm abf a ß t e ; auch der Politiker und Jurist Galbert hätte dann nur eine passive Rolle gespielt. Leider hat man, nicht zuletzt auf Grund der eben skizzierten Meinung Pirennes, bisher nicht ernstlich versucht, die Persönlichkeit unseres Autors näher ins Licht zu rücken, was für die Bedeutung der Nachrichten und vor allem der staatsrechtlichen Erklärungen in seinem W e r k von großem Belang wäre. Auch den Anteil Galberts an der Formulierung oder gar der Entstehung dieser Erklärungen zu erforschen, wurde kaum in Angriff genommen. E s ist dies eigentlich um so merkwürdiger, als man zum einen deren historischen W e r t nicht leugnen konnte, zum anderen aber, wie bemerkt, auch Pirenne anerkannte, daß unser Autor ein juristisch sehr gebildeter Mann war und ° „Et notandum, quod in tanto tumultu rerum et tot domorum incendiis, quae per ígnitas sagittas nocte tectis suburbiorum injecerant ab intus, et etiam latruneuli exterius, ut sibi aliquid furarentur, et inter tot noctium pericula et tot dierum certamina, cum locum scribendi ego Calbertus notarius non haberem, summam rerum in tabulis notavi, donec, aliquando noctis vel diei expectata pace, ordinärem secundum rerum eventum descriptionem presenteni, et sie, secundum quod videtis et legitis, in areto positus fidelibus transcripsi": E b e n d a c. 35, S. 58. 100 Pirenne, H„ in: ebenda, S. XII ff.

10

Stellung und Bedeutung

321

seine Darstellung sich durch außergewöhnliche Lebendigkeit auszeichnet. Hier liegt daher der entscheidende Akzent unserer Untersuchung.

G a l b e r t über das Z i e l seiner A r b e i t Pirenne zufolge hat Galbert in seiner Einleitung das Ziel seines Werkes nur recht unvollkommen angegeben, da er die Schilderung der Ermordung des Grafen K a r l als seine Aufgabe bezeichnete 1 0 ', die Folgen, die sich hieraus ergaben, jedoch mit darstellte. Aber dies kann man wohl nicht wie der genannte Forscher als Beweis dafür anführen, daß die Arbeit unvollendet geblieben sei. G e r a d e die Einleitung ist den Notizen nachträglich hinzugefügt, und überblickt man das W e r k im ganzen, so sind die nach dem Mord beschriebenen Vorgänge durchaus als dessen Folgen zu bezeichnen. E i n zwingender Grund, die Aufgabenstellung anders zu fassen, bestand also nicht. Wesentlich scheint mir auch, daß das Schlußkapitel (c. 122) einen sehr klaren Punkt hinter die Erzählung setzt: Galbert schildert, wie Dietrich vom E l s a ß nach dem T o d e Wilhelms sein Regiment begann, wie er, durch Klerus und Volk nach der Sitte seiner Vorfahren bestätigt, von den Königen Frankreichs und Englands anerkannt wurde und diese ihm Lehen und Regalien zustanden. 1 0 8 Man muß unbedingt zugeben, daß hiermit nicht nur rechtlich, sondern auch kompositorisch ein Abschluß erreicht war, und wird daher das W e r k als vollendet ansehen müssen. D a r a n , daß dieses von seinem Verfasser für die Öffentlichkeit bestimmt war, gibt es keinen Zweifel ; hat Galbert doch betont, d a ß er es auch den kommenden G e n e r a tionen zum Nutzen bestimmt habe. 1 0 a W i r wiesen bereits darauf hin, daß er für die Bürger von Brügge die Anrede „vos" gebrauchte, und bekommen so einen weiteren Beweis dafür, daß wir es hier mit einem auf Wirksamkeit berechneten Bericht zu tun haben. D i e M e t h o d e G a l b e r t s und der T o d W i l h e l m s von Y p e m E s ist das Verdienst von P. Bonenfant, in einer kleinen, aber überaus scharfsinnigen Untersuchung zum ersten M a l die Methode Galberts bei der Darstellung der Ereignisse näher beleuchtet zu haben. 1 1 0 Bonenfant behandelte eine jener Stellen unseres Autors, die A n l a ß zu verschiedenen Hypothesen gab und gleichzeitig auch für die Geschichte Brabants von Interesse ist. Wilhelm von Ypern, der unmittelbare Nachfolger des Grafen K a r l , erhielt bei der Belagerung von Aalst eine Wunde, an deren Folgen er am 28. Juni 1128 verstarb; 107

108

109

110

„Tanti quiclem prineipis mortem descripturus. . . quamquam stilo ar'ulo tarnen memoriae fidelium scribendo commendavi peregrinum mortis ipsius eventum." Ebenda, praefatio, S. 2. Ebenda c. 122, S. 176. „Securum enim me facit, quod veritatem omnibus apertam qui me cum eodem percellebantur periculo loquor, et eam posteris nostris mémorandum commendo." Ebenda, praefatio, S. 2. Bonenfant, P., La dépendance du château d'Alost au XII e siècle, Bruxelles 1951, Album Dr. Jan Lindemans, S. 1 ff.

322

Galbert von Brügge

der Thronstreit in Flandern wurde diesem Umstand gemäß zugunsten Dietrichs vom E l s a ß entschieden. E s ist nun viel beachtet worden, daß G a l b e r t bei der eingehenden Schilderung dieses Ereignisses die Stadt Aalst als ..extra

consulatum

nostrum"

gelegen bezeichnete; auch galt ihm die Belagerung als ein Unternehmen des Herzogs von B r a b a n t , dem W i l h e l m nur zu H i l f e kam. Aus beidem hat man die auch von Pirenne akzeptierte Folgerung gezogen, Aalst hätte damals zu B r a b a n t gehört oder sei zumindest von dessen Herzog lehnsabhängig gewesen. D i e s jedoch mußte, wie auch B o n e n f a n t betont hat, zu den merkwürdigsten K o m b i nationen führen. E s ist nämlich gut belegt, d a ß B a l d w i n V . , ebenso wie vor ihm schon B a l d w i n I V . , durch den K a i s e r mit dem sogenannten Reichsflandern

belehnt

worden ist, von dem die Herrschaft Aalst einen wesentlichen T e i l bildete. M a n hat jene A n g a b e G a l b e r t s mit anderen Nachrichten in Verbindung gebracht, in denen von tasächlichen Ansprüchen des B r a b a n t e r Herzogs die R e d e ist. D i e B e weisführung Bonenfants soll hier nicht im einzelnen wiederholt werden; jedoch ist auf seinen exakten Nachweis aufmerksam zu machen, d a ß Aalst im J a h r e 1 1 2 8 unzweifelhaft zu Flandern gehört hat. D i e Versuche Brabants, hier Rechte geltend zu machen, beruhten auf dem Streben des dortigen Herzogs, seinen T i t e l für die Stärkung seiner Position auszunutzen. Bekanntlich w a r er „dux

Lotharingiae"

und als solcher V e r t r e -

ter des Königs, und er leitete - bisweilen nicht ohne E r f o l g - gewisse Forderungen hieraus ab, die jedoch meist recht unbedeutend waren (Geleitrecht und ähnliches). B o n e n f a n t hat auch über eine Äußerung G a l b e r t s K l a r h e i t geschaffen, der Pirenne noch entnehmen wollte, d a ß Iwan, der damalige Feudalherr von Aalst, ein V a s a l l des Herzogs von B r a b a n t gewesen sei. Iwan hatte unserem A u t o r zufolge erklärt, er werde den G r a f e n Dietrich vom E l s a ß nicht anerkennen, ohne den R a t des englischen Königs und des Herzogs von B r a b a n t eingeholt zu h a b e n . " 1 M i t Recht bemerkte B o n e n f a n t , d a ß es sich hier um eine K o a l i t i o n gegen den französischen K ö n i g handelte, an der sich der englische K ö n i g und der B r a b a n t e r Herzog beteiligten und die der erstere finanzierte. D i e s e s Versprechen Iwans besagt also nichts über eine Lehnsabhängigkeit seiner Herrschaft Aalst. Im übrigen werden wir noch sehen, d a ß Iwan so etwas wie der Führer der

flandri-

schen Opposition gegen W i l h e l m von Y p e r n w a r und als Sprecher der Bürger auftrat. D i e Erzählung G a l b e r t s zeigt ihn als eine Persönlichkeit, die eine mächtige Stellung in Flandern innehatte. W a r u m hat nun G a l b e r t Aalst als außerhalb Flanderns liegend bezeichnet? W e n n man das c. 120, in dem diese Bemerkung steht, im Zusammenhang liest, b e k o m m t man, wie B o n e n f a n t mit Recht betonte, hierüber K l a r h e i t . E s hatte vor allem den Zweck, nachzuweisen, d a ß W i l h e l m von Y p e r n durch ein Gottesgericht gefällt worden sei und die Bürger von Brügge hierfür nicht die geringste Schuld träfe. 1 1 2 D i e s e 111

„Qitia ergo Iwan et Daniel, duo ex paribus et prineipibus Flandriae, a rege Angliae donaria plurima suseeperant, et plura erant pro expulsione nepotis sui, scilicet nostri consulis Willelmi, aeeepturi, nihil absque consilio regis facere deliberarant, seu absque consilio ducis Lovaniae Galbert, D e multro Karoli c. 1 0 1 , a. a. O . , S. 1 4 6 f.

„. . . in tantis periculis Brudgensium locus fuisset. . . dispensatione solita Deus subvenit ipsis; nam consulem Willelmum gladio sui judicii eneeavit, sed illo quippe modo, ut non in propria

323

Stellung und Bedeutung

Erklärung hängt mit dem E i d zusammen, den die Brügger dem Grafen Wilhelm geleistet hatten. Wir wiesen schon darauf hin, daß die Bestrafung von Verrat ein Hauptthema der Galbertschen Arbeit gewesen ist. D i e Brügger Bürger hatten den genannten, auch von Galbert selbst mitbeschworenen Eid gebrochen, und dies wollte unser Autor von ihnen abwälzen. Es ist wohl kein Zweifel, daß er als Geistlicher von dem Bruch eines dem Landesherrn geleisteten Schwurs besonders bedrückt worden ist. E r hatte ihn, wie wir noch sehen werden, durchaus bewußt vollzogen und glaubte wohl vor allem deshalb daran, daß er eine Sünde begangen und daher eine Strafe zu erwarten hätte. Was nun in seiner Macht stand, wollte er tun, um sich selbst, in erster Linie aber seine Mitbürger zu entlasten. Und hier fassen wir zum ersten Mal das Gefühl Galberts, der Bürgergemeinschaft, also der Kommune, anzugehören. Gerade an unserer Stelle nämlich gebraucht er die Wendung „nos Brudgenses",113 Er führt dann aus, den Tod Wilhelms könne Gott allein dem Herzog von Brabant anlasten, zu dessen Hilfe der Graf nach Aalst gezogen sei. Als Ritter des Herzogs sei dieser dort gewesen, nicht für die Grafschaft. 114 Kategorisch weist unser Autor die Beschuldigung zurück, die Bürger von Brügge könnten deshalb belastet werden, weil sie Wilhelm Widerstand geleistet hätten. Wir haben dieses Kapitel ausführlich behandelt, weil Galberts wiederholte Beteuerungen erkennen lassen, wie wichtig ihm jene Angelegenheit gewesen ist. Wie kam er aber - und so lautet auch die Frage Bonenfants - zu seiner Behauptung über Aalst? Die Antwort hierauf ist für die Würdigung Galberts von großer Bedeutung. E r wandte hier nämlich die Methode des distinguo an, wie sie in der damaligen Dialektik bereits ausgebildet war."'' E r unterschied zwischen der ursprünglichen Grafschaft Flandern, welche innerhalb des französischen Königreichs lag und als Lehnsfürstentum unter der französischen Krone zusammengefaßt war, und den Gebieten jenseits der französischen Grenze auf Reichsboden, die Lehen des Reiches waren - weswegen übrigens, wie wir noch sehen werden, der Graf von Flandern als Reichsfürst aufgefaßt werden konnte - und die nur eine Personalunion mit Flandern verband. Dies war staatsrechtlich durchaus korrekt; man konnte auf solche Weise eine juristische Scheidung vornehmen. 110 In Wahrheit geschah hier jedoch nichts anderes als ein Ausweichen ; war doch Reichsflandern zu Galberts Zeit längst praktisch ein Teil des Fürstentums Flandern geworden. Unser Autor wußte das auch ganz genau, denn gerade in seiner Darstellung waren es Iwan und Daniel, die Vertreter Reichsflanderns und sed in alienae nos Brudgenses

pugnae

caussa, scilicet ducis illius cujus in auxilio

a morte illius innoxii deputabamur,

quoniam

militabat,

emoreretur.

quidem nemo e nostris ipsi

Proinde intulerat

mortem" : ebenda, c. 120, S. 173. 113 Yg[ ¿¡g vorige Anm. 11/1

„. . . Willelmus ibidem

comes . . . ideo in auxilium ducis maxime

a Deo préfixa

comitatu

primo,

non imputabatur

sed pro salute

conscendisset,

ejus pugna aut ejus

nisi duci; ducis enim miles in hoc fuerat,

et honore

ducis, velut

alius quislibet

solidarius,

mors

nec ibidem

pro

rnortuus

est."

Galbert, D e multo Karoli c. 120, a. a. O., S. 173 f. 115

Bonenfant,

P., a. a. O., S. 3.

Sie ist übrigens auch später in den Begriffen „Flandre sous la couronne" und „Flandre imperiale" aufrechterhalten worden.

324

Galbert von Brügge

Herren von Aalst, welche bei dem Aufstand gegen W i l h e l m an erster Stelle standen. Deutlicher konnte man wohl die Zugehörigkeit dieser Gebiete kaum dokumentieren. W i r erkennen hieran, d a ß Galbert juristisch sehr g e w a n d t und genau über staatsrechtliche Verhältnisse informiert w a r , aber auch, d a ß er nicht zögerte, diese seine juristische und dialektische Gewandtheit zugunsten seiner Mitbürger und d a m i t für eine sehr einseitige Formulierung des Tatbestandes einzusetzen. Dies w i d e r l e g t bereits deutlich die Behauptung, er w ä r e naiv gewesen. Für seine Methode sind seine Ausführungen über den Sinn des Todes K a r l s des Guten ebenfalls aufschlußreich. W i r hatten schon erwähnt, d a ß er hierin ein Sühneopfer für die Schuld von K a r l s Großvater Robert I. sah, und w i r wiesen auf die M e r k w ü r d i g k e i t dieser Theorie hin. M a n muß wohl die Folgerung ziehen, d a ß es sich hier w i e dort um eigene Konstruktionen Galberts handelt. Z w a r dürfte es keinem Zweifel unterliegen, d a ß man in Flandern vor allem in bürgerlichen Kreisen über den T o d W i l h e l m s von Ypern außerordentlich erleichtert w a r , und es mag auch sein, d a ß man diese A r t der Entscheidung zwischen ihm und Dietrich als Gottesgericht in einem Zweikampf a u f f a ß t e . A b e r die Meinung, nun sei der A b f a l l der Bürger von W i l h e l m und ihr Eidbruch durch das Eingreifen Gottes gerechtfertigt, dürfte schon nicht mehr von allen geteilt worden sein. D i e m e r k w ü r d i g e Unterscheidung zwischen Flandern und der Grafschaft A a l s t endlich, wie sie Galbert vorführt, hat bestimmt als Entlastungsgrund bei den Bürgern von Brügge keine Rolle gespielt. Unser Autor setzte hier Rechtskonstruktionen ein, die lediglich von ihm aufgestellt waren, wenn sie sich auch juristisch und formal begründen ließen. D a m i t glückt hier der Nachweis einer geistigen Urheberschaft Galberts an diffizilen Passagen in seinem W e r k . Er legt zum ersten M a l eine A r t Plädoyer für die Schuldlosigkeit der Bürger von Brügge bei ihrer revolutionären Aktion vor.

G a l b e r t s S t e l l u n g zu K a r l von D ä n e m a r k W i r möchten nun eine Reihe von Fragen behandeln, die in die Methode Galberts einführen und gleichzeitig den Charakter seiner Geschichtsschreibung verdeutlichen sollen. Der M o r d an K a r l ist vielfach behandelt w o r d e n : von Annalen, historischen D a r stellungen und auch von der Dichtung. Er hat einen außerordentlichen Eindruck gemacht, nicht nur w e i l K a r l s hervorragendste Vasallen ihn in gräßlicher W e i s e ausführten, sondern auch, w e i l sie es in der Kirche bei einer religiösen H a n d l u n g taten. Eben d a r u m ist K a r l zum M ä r t y r e r erklärt worden, wenn die Kirche ihn auch nicht zum Heiligen gemacht hat. Jene Bluttat ist nicht ohne Analogien in der mittelalterlichen Geschichte - denken w i r nur an Thomas Becket, Erzbischof von Canterbury, den V a s a l l e n des englischen Königs 1170 vor dem A l t a r seiner Kirche meuchelten, oder an Bischof Albert von Lüttich, der 1192 durch V a s a l l e n Kaiser Heinrichs VI. fiel.11' B e i d e sind ebenfalls 117

Über die Ermordung Alberts von Löwen vgl. die kleine Schrift von de Moreau, Louvain, prince-evêque de Liège, Bruxelles 1 9 4 5 .

E., Albert de

325

Stellung und Bedeutung

von der Kirche zu Märtyrern erhoben worden. All diese Vorgänge geben einen Einblick in die Spannungen und Kontraste in der Seele mittelalterlicher Menschen, die man nur zu oft geneigt ist, für unkompliziert zu halten. Bei der schrankenlosen geistigen Macht der Kirche in jener Zeit gehörte sehr viel dazu, daß die brutale Wildheit der Vasallität, für die wir sonst Zeugnisse genug besitzen, auch diese letzte Barriere durchbrach; besonders da es ziemlich gewiß war, daß zumindest die, die solche Morde ausführten, einer furchtbaren Strafe gewärtig sein konnten. Der Schrecken über Karls Ermordung ist nicht nur in Brügge, sondern weithin groß, die Reaktion darauf heftig gewesen. Pirenne hat eine Übersicht über die vorhandenen Quellen gegeben, so daß wir uns hier kurz fassen können. Die neben Galbert bedeutendste Darstellung stammt von dem Archidiakon Walther von Thérouanne; ihr Autor hat sie auf Anordnung seines Bischofs wahrscheinlich schon im Jahre 1127 geschrieben. 118 Des weiteren hat auch der bereits erwähnte Hermann von Tournai eingehend über dieses Ereignis gehandelt. 119 Besonders interessant ist, daß Abt Suger von St. Denis, der Geschichtsschreiber und Staatsmann Ludwigs VI. von Frankreich, über den Mord berichtete. 120 Außerdem beschäftigten sich mit ihm noch zwei Wundergeschichten: die Translatio des hl. Jonatus und die Miracula der hl. Gertrudis 121 . Eine Passio Karls, die wahrscheinlich von einem Dänen im 13. Jh. verfaßt worden ist, bringt sehr ungenaue Nachrichten. 122 Schließlich sind noch einige von Pirenne neu herausgegebene Gedichte über den Tod Karls zu nennen, die einiges historisch Beachtenswerte enthalten. 123 Wir haben hier nicht die Absicht, die Geschichte der Tötung im einzelnen darzustellen; es geht uns um die Stellung Galberts zu ihr. Nur zum Vergleich werden wir daher auch die anderen Quellen heranziehen. Ganz allgemein ist zu bemerken, daß das Urteil über Karl sehr günstig lautete. Er galt als guter Landesvater, als strenger Richter gegen aufsässige Vasallen und - dies berichtet aber nur Galbert - als ein sehr kirchlicher Mann. Auf letztere Frage werden wir noch zurückzukommen haben.

Naturalis dominus Mit Baldwin VII., der im Juni 1119 an den Folgen einer Wunde starb, erlosch der legitime Mannesstamm Roberts des Friesen. Baldwin hatte der Darstellung Gal118

Walther

von Thérouanne,

Vita

Karoli

comitis F l a n d r i a e ,

ed. R.

Köpke

in:

M G . SS.

XII,

(siehe A n m .

29),

A c t a s a n c t o r u m , M a i III, A n t w e r p e n 1 6 8 0 , S. 8 8 ff. u n d 1 1 7 ff.; v g l . d i e E d i t i o n b e i Sackur,

E.,

S. 5 3 7 ff. 110

H e r m a n n v o n T o u r n a i , L i b e r d e r e s t a u r a t i o n e , a. a. O . ( s i e h e A n m . 9 3 ) , S. 2 8 4 ff.

120

S u g e r v o n St. D e n i s , V i t a L u d o w i c i G r o s s i c. 3 0 , ed. H. Waquet,

a.a.O.,

S. 2 4 0 ff. 121

R e i s e nach N o r d - F r a n k r e i c h im F r ü h j a h r 1 8 8 9 , i n : N A . 1 5 / 1 8 9 0 , S. 4 4 8 ff. 122

Passio

Pirenne,

Karoli

.comitis a u c t o r e

anonymo,

e d . R.

Köpke

in:

MG.

SS.

XII,

S.

6 1 9 ff. V g l .

H., E i n l e i t u n g z u : G a l b e r t , D e m u l t r o K a r o l i , a . a. O . , S. II, A n m . 1 .

123

P o é s i e s l a t i n e s sur l e m e u r t r e d u c o m t e C h a r l e s l e B o n , e d . H. Pirenne

22

Sproemberg

i n : e b e n d a , S. 1 7 7 ff.

326

Galbert von Brügge

berts z u f o l g e seinen V e t t e r K a r l zum N a c h f o l g e r eingesetzt, dessen V a t e r , K ö n i g K n u t II. von D ä n e m a r k , im J a h r e 1086 von seinen U n t e r t a n e n vor d e m A l t a r einer Kirche e r m o r d e t w u r d e und d a f ü r den N i m b u s eines H e i l i g e n erhielt. K a r l s M u t t e r A d e l a w a r d i e Tochter Roberts des Friesen, und d i e E h e zwischen ihr und K n u t w a r z u s t a n d e g e k o m m e n , a l s letzterer bei einem Versuch, Erbansprüche auf E n g l a n d g e l tend zu machen, in F l a n d e r n g e w e i l t hatte. A l s nach d e m T o d e K n u t s dessen B r u d e r sich der dänischen K r o n e bemächtigte, floh K a r l mit seiner M u t t e r nach F l a n d e r n ; hier w u r d e er a l s ein M i t g l i e d des flandrischen Fürstenhauses erzogen. G a l b e r t stellt die D i n g e so d a r , a l s ob m a n K a r l dort schon l a n g e a l s Herrscher gewünscht h ä t t e u n d der sterbende B a l d w i n ihn d e s h a l b zum N a c h f o l g e r designierte s o w i e ihm den T r e u e e i d leisten ließ. 12 ' 1 D a ß diese H a n d l u n g B a l d w i n s stattfand, w i r d m a n nicht bestreiten können, d a d i e D a r s t e l l u n g Sugers sie bestätigt. D i e Rechtslage w a r hier jedoch k e i n e s w e g s einfach, denn d i e weibliche E r b f o l g e w a r in den französischen L e h n s f ü r s t e n t ü m e r n noch nicht v ö l l i g durchgedrungen. A u f jeden F a l l b e d u r f t e ein solcher V o r g a n g w i e der genannte einer besonderen L e g a l i s i e r u n g . W i r hatten nun schon auf G a l b e r t s A u s s a g e hingewiesen, bei d e r T h r o n f o l g e B a l d w i n s V I . w ä r e ehem a l s d a s „ L a n d " b e f r a g t w o r d e n ; hier spricht er nur von den proceres a l s denen, d i e zu entscheiden hatten. Interessant ist, d a ß in diesem F a l l der Oberlehnsherr, nämlich der K ö n i g von Frankreich, ebensowenig g e f r a g t w o r d e n zu sein scheint w i e der deutsche König, der Lehnsherr f ü r Reichsflandern. A n der A n e r k e n n u n g K a r l s durch den französischen K ö n i g kann man trotzdem nicht z w e i f e l n ; w i r w e r d e n gleich d a r a u f zurückkommen. A n d e r s als nach d e m T o d e K a r l s a b e r h a t dieser sich bei dessen R e g i e r u n g s a n t r i t t d a m i t begnügen müssen, einen F o r m a l a k t auszuführen. G a l b e r t v e r l i e r t b e m e r k e n s w e r t e r w e i s e kein W o r t d a r ü b e r , w e l c h e W i d e r s t ä n d e K a r l in F l a n d e r n selbst a n t r a f . D o r t nämlich lebte noch d i e G e m a h l i n Graf R o berts II., d e m e n t i a , u n d diese trat, w i e w i r d e m Bericht W a l t h e r s von T h e r o u a n n e entnehmen können, f ü r W i l h e l m von Y p e r n a l s N a c h f o l g e r B a l d w i n s ein, den unehelichen Sohn Philipps von F l a n d e r n , des B r u d e r s ihres Gatten. E s hat K a r l sehr erhebliche M ü h e gekostet, den von ihr geschürten W i d e r s t a n d n i e d e r z u w e r f e n ; er hat sogar K r i e g gegen sie führen müssen. A l l d a s verschweigt Galbert. 1 2 5 N u r i n d i r e k t könnte m a n hiervon einen W i d e r h a l l in seiner D a r s t e l l u n g finden: er h a t nämlich W i l h e l m mit größtem H a ß v e r f o l g t u n d behauptet, d a ß dieser später im E i n v e r s t ä n d nis mit den M ö r d e r n K a r l s gestanden habe. N a c h dessen T o d e hat W i l h e l m ja, w i e w i r wissen, versucht, d i e G r a f e n w ü r d e an sich zu r e i ß e n ; er scheiterte a b e r - vornehmlich a m W i d e r s t a n d des K ö n i g s von Frankreich, der a u s politischen G r ü n d e n W i l h e l m von der N o r m a n d i e a l s frandrischen Herrscher zu sehen wünschte. G a l b e r t hat sich bemüht, W i l h e l m von Y p e r n mit a l l e n M i t t e l n herabzusetzen; m a n findet e t w a bei ihm d i e B e m e r k u n g , W i l h e l m s M u t t e r sei eine Tucharbeiterin g e w e s e n und

i2''

125

„Quem quidem per plures annos in prineipem preoptaverant proceres nostri, si forte sie evenire potuisset. Igitur comes Balduinus, adolescens fortissimus, tnoriendo, nepoti suo Kurolo regnum simul cum prineipibus contradidit et sub fidei securitate commendavit." Galbert, De multro Karoli c. 1, ebenda, S. 3. Vgl. Walther von Therouanne, Vita Karoli c. 8 f., a. a. O., S. 512 f.

327

Stellung und Bedeutung

hätte diese Tätigkeit zeit ihres Lebens ausgeübt.120 Wir möchten diesen Fakt hervorheben, denn abgesehen von der hier sich eklatant äußernden feindlichen Gesinnung Galberts darf man wohl auch annehmen, daß er als Bürger die uneheliche und anscheinend auch unfreie Geburt Wilhelms als besonderen Makel empfunden hat. Seine Verachtung der servi haben wir bereits kennengelernt 12 ', und wir werden noch mehr in dieser Richtung zu beobachten haben. So verliert er, der ganz gewiß vorzüglich über die Geschichte Karls unterrichtet war, kein Wort darüber, welche Dienste dieser dem französischen König geleistet hat, um von ihm, wie man annehmen kann, die Investitur zu erlangen. Das Wissen um die späterhin feindliche Einstellung Karls gegen den genannten Herrscher sowie das Bestreben, die Beziehungen Flanderns zur französischen Krone möglichst in den Hintergrund treten zu lassen, werden unserem Autor hier die Feder geführt haben. Seine Auffassung von der Stellung Karls findet gleich zu Anfang ihren Ausdruck, indem er ein Bild von diesem zeichnet, welches ganz dem Ideal eines mittelalterlichen Herrschers entspricht.128 Eine Stelle daraus möchten wir besonders hervorheben: die Bezeichnung Karls als „naturalis dominus noster et princeps". Auch sonst sind ehrenvolle Bezeichnungen für den Grafen überliefert 129 ; diese Formel aber, die man mit „geborener Landesherr und Fürst" zu übersetzen hat, ist staatsrechtlich von besonderem Belang. „Dominus noster" in der Bedeutung „Landesherr" begegnet uns in Flandern schon während des 11. Jh. und ist zu Anfang des 12. Jh. recht häufig belegt. 130 In Urkunden der flandrischen Grafen - auch in Empfängerausfertigungen begegnet es in Verbindung mit der „Dei gratia"-Formel; in einem Stück Roberts II. schrieb man sogar: „Ego Robertus universe Flandrie post Deum princeps".131 Diese Bezeichnungen kann man ohne weiteres zu Galberts Wendung vom „naturalis domila

' In einem von ihm gebrachten Schreiben Ludwigs VI. von Frankreich an die Großen und Barone Flanderns heißt es: „Igitur quia terra conturbata nam Willelmi,

ut violenter

verunt, se nullo modo

regnum

W illelmum

ex nobili patre et matre ignobili,

obtineat,

est, et conjurationes

et contra

illum in comitem

eum omnes

recepturos

jam factae fere

sunt in

de civitatibus

eo quod spurius sit, natas

quae lanas carpere, dum viveret

ipsa, non cessaret.

De multro Karoli c. 47, a. a. O., IS. 7 6 ; vgl. die Anm. 3, in der Pirenne

persoadjurascilicet

. .": Galbert,

bemerkt, daß dies die

einzige Mitteilung über den niedrigen Stand der Mutter Wilhelms sei. Über die Beteiligung Wilhelms an dem Mord an Karl vgl. ebenda, c. 25 und 34, S. 42 ff. und 57 ff. Anders äußert sich Walther von Therouanne, a. a. O., c. 3 und 7, S. 540 ff., der jede Schuld Wilhelms bestreitet, was auch der Wahrheit entsprechen dürfte. Galbert ist hier bestimmt voreingenommen. 127

Vgl. oben S. 319.

128

„. . . comes militiae

Karolus,

fama

ecclesiarum

Flandriarum

et generis

Dei preerat,

marchio,

naturalis

regio

sanguine,

nobilitatus erga pauperes

noster

dominus

septennis

largus, inter proceres

et princeps,

in comilatu

pater

qui

quidem,

et

advocatus

suos jueundus ac honestm,

adversus

bostes crudelis et cautus . . . " : Galbert, De multro Karoli, praefatio, a. a. O., S. 1. 129

Etwa bei Suger, Vita Ludowici Grossi c. 30, a. a. O., S. 240.

130

So besonders Ganshof,

F.-L.,

in: Geschiedenis van Viaanderen, Bd. 2, Brüssel 1937, S. 118,

und Buntinx, ]., Algemene geschiedenis der Nederlanden, Bd. 2 : De volle Middeleeuwen 925 bis 1305, Utrecht 1950, S. 136. 131

Urkunde Roberts II. für die Abtei St. Andreas, in: Actcs des comtes de Flandre 1 0 7 1 - 1 1 2 8 , par F. Vercauteren,

22

Bruxelles 1938, nr. 25, S. 76.

328

G a l b e r t von Brügge

nus" in Beziehung setzen. Sie drücken die Vorstellung aus, der Graf von Flandern besitze sein Amt kraft göttlichen Willens und sei zumindest für die Bevölkerung Flanderns der alleinige Herrscher; das Verhältnis zu dem Oberlehnsherrn tritt hier ganz in den Hintergrund. Galberts Ausdruck „geborener Landesherr" hat hier sicher auch eine Spitze gegen diesen, denn d a er auf einen Grafen angewandt wurde, welcher nicht im Zuge des normalen Erbrechtes, das heißt der Nachfolge im Mannesstamm, seine W ü r d e erlangt hatte, liegt hierin die Meinung versteckt, auch in einem solchen Falle sei allein die Herkunft maßgebend. W i r sehen hier die Scheidung zwischen Amt und Lehen, eine der wichtigsten Theorien, die Galberts W e r k durchziehen. Unserem Autor w a r natürlich bekannt, d a ß eine Belehnung Karls sowohl durch den französischen w i e auch durch den deutschen König erfolgen mußte; aber er setzte diese Belehnungen durchaus von dem eigentlichen Amt des Grafen ab. Es steht nun hiermit in Einklang, d a ß wir in damaliger Zeit auch die Ausbildung einer Legende verfolgen können, nach welcher bei der Gründung der Grafschaft Flandern der Ahnherr der Grafen, B a l d w i n I., von seinem Schwiegervater Karl dem Kahlen mit dem gesamten regnum zwischen Nordsee und Scheide durch die Gnade Gottes beschenkt worden sei. Dies berichtet eine Heiligengeschichte, die wahrscheinlich Ende des 11. Jh. in Gent entstanden ist. 132 Hier verschränkt sich der Glaube an die karolingische Abstammung, auf deren Bedeutung für die Stellung der niederländischen Dynasten wir schon hinwiesen, in eigentümlicher Weise mit der Vorstellung der Übergabe einer souveränen Herrschaft an das flandrische Haus. Für die Ausbildung der eigenständigen Territorien in den Niederlanden haben diese Legenden eine große Bedeutung erlangt. 133 Man sieht also, w i e sehr jetzt das Gefühl zum Ausdruck kam, in Flandern sei eine Staatsbildung wenn auch noch nicht vollendet, so doch im Werden - w a s mit den tatsächlichen Verhältnissen auch übereinstimmte, sie widerspiegelte. D a s Angebot der deutschen Königskrone an K a r l Für die Beurteilung der von Galbert aufgestellten Theorien ist das c. 4 von Belang, in dem erzählt wird, d a ß nach dem Tode Heinrichs V. (1125) dem Grafen Karl die deutsche Königskrone angeboten wurde. W i r wissen, d a ß dies der Wahrheit entspricht, denn Otto von Freising berichtet in seiner Chronik ebenfalls darüber. 13 '' 132 Yg[

meine

A r b e i t : D i e Entstehung der G r a f s c h a f t Flandern, Teil I: D i e ursprüngliche G r a f -

schaft Flandern ( 8 6 4 - 8 9 2 ) , Berlin 1 9 3 5 , S. 1 1 [hier S. 1 6 0 ] , 133

V g l . meine A r b e i t : Das Erwachen, a. a. O., S. 8 4 ff.

13

'' „Anno

ab incarnatione Domini

M0C°XXV°

defuncto

absque berede

Moguntiae conveniunt, ibique habito de successore consilio llllor Saxonum, Fridericus dux Suevontm, Leopaldus regnum designantur."

Heinrico



principes

regni optimates, Lotharius dux

marcbio orientalis, Karolus comes Flandriae,

ad

Ottonis episcopi Frisingensis chronica sive historia de duabus civitatibus

lib. VII, c. 1 7 , rec. A. Hofmeister,

M G . SS. rer. G e r m , in us. scho!., 2. A u f l . , H a n n o v e r und

Leipzig 1 9 1 2 , S. 3 3 3 . Vgl. den A u f s a t z des E d i t o r s : Hofmeister,

A., Studien über O t t o v o n

Freising, in: N A . 3 7 / 1 9 1 2 , Teil I: S. 9 9 ff., Teil II: S. 6 3 3 ff. Das W e r k ist nach 1 1 4 0 entstanden.

329

Stellung und Bedeutung

Sein Zeugnis wiegt um so schwerer, ais er ein E n k e l Heinrichs I V . sowie ein S t i e f b r u d e r des d a m a l i g e n staufischen A n w ä r t e r s auf d i e K r o n e , des H e r z o g s

Friedrich

v o n S c h w a b e n , w a r . A u ß e r o r d e n t l i c h vertraut mit den Reichsgeschäften, w a r er ü b e r diese W a h l , die die Interessen seiner F a m i l i e so stark b e r ü h r t e , sehr gut unterrichtet. S o k ö n n e n w i r hier eine N a c h r i c h t G a l b e r t s auf ihren W a h r h e i t s g e h a l t hin genau kontrollieren. U n s e r A u t o r berichtet, d a ß eine G e s a n d t s c h a f t bei K a r l erschien, b e s t e h e n d

aus

dem K a n z l e r des E r z b i s c h o f s v o n K ö l n und einem G r a f e n G o t t f r i e d , der h ö c h s t w a h r scheinlich m i t G o t t f r i e d v o n N a m u r identisch ist. 13i> K a r l h a b e , so w i r d w e i t e r gesagt, auf B i t t e n seiner F r e u n d e hin d i e ihm von diesen b e i d e n a n g e b o t e n e K r o n e

ab-

gelehnt, w o b e i ihn die Rücksicht auf sein L a n d b e s t i m m t h a b e n soll. Z u diesem V o r g a n g hat namentlich W . B e r n h a r d i ausführlich S t e l l u n g g e n o m m e n . E r behauptete, d a ß d i e I n i t i a t i v e offenbar v o m E r z b i s c h o f v o n K ö l n ausging,

daß

dieser einen möglichst ohnmächtigen

der

Fürsten

ausgesucht h a b e ,

der a u ß e r d e m

K i r c h e ganz besonders ergeben gewesen sei. E r fügte hinzu, d a ß schon d i e A b h ä n g i g k e i t K a r l s v o n der französischen K r o n e ihn f ü r d i e W ü r d e eines deutschen K ö n i g s ungeeignet machte. H i e r z u a b e r ist doch einiges zu sagen. D e r G r a f v o n F l a n d e r n w u r d e seiner R e i c h s lehen w e g e n durchaus als Reichsfürst betrachtet, und ihn als ohnmächtigen H e r r s c h e r zu charakterisieren

ist w o h l m e h r als abwegig. I n n e r h a l b

seiner G r a f s c h a f t

hatte

K a r l zu jener Z e i t seine G e g n e r n i e d e r g e w o r f e n , und die M a c h t F l a n d e r n s w a r auf G r u n d der E n t w i c k l u n g der S t ä d t e w i e auch i n f o l g e der K o n z e n t r a t i o n der l a n d e s herrlichen G e w a l t a u ß e r o r d e n t l i c h groß. D i e G r a f e n v o n F l a n d e r n gehörten

daher

zu den mächtigsten westeuropäischen Fürsten. W a s die E i n s t e l l u n g zur K i r c h e betrifft, so h a b e n sie a l l e r d i n g s auf der S e i t e des gregorianischen P a p s t t u m s gegen das R e i c h gestanden. D i e s h a t t e politische G r ü n d e . D i e E n t w i c k l u n g ging auf eine

flandrische

L a n d e s k i r c h e z u ; so h a t e t w a g e r a d e K a r l

eine politische Schutzherrschaft über das B i s t u m C a m b r a i aufgerichtet. 1 3 6 E r erscheint d a h e r sehr fraglich, ob er ein gefügiger M a n n in d e r H a n d d e r K i r c h e gewesen w ä r e . Schließlich ist noch d a r a u f hinzuweisen, d a ß er in bezug auf seine dynastische A b k u n f t eine besonders s t a r k e Position hatte. V ä t e r l i c h e r s e i t s w a r er, w i e b e m e r k t , ein Sohn des K ö n i g s v o n D ä n e m a r k ; überdies h a t t e er als G r o ß n e f f e K n u t s des G r o ß e n auch Ansprüche auf den englischen T h r o n . D a s flandrische H a u s aber, d e m

seine

M u t t e r e n t s t a m m t e , hat durch seine H e i r a t e n ganz a u ß e r g e w ö h n l i c h e dynastische B e ziehungen g e h a b t . E s sei nur b e m e r k t , d a ß G e r t r u d , 135

J3G

die G r o ß m u t t e r K a r l s ,

eine

Über die Wahl vgl. besonders Bernhardi, W., Lothar von Supplinburg, Leipzig 1879, S. 9 ff. (Jbb.). Den Kanzler hat Oppermann, O., Rheinische Urkundenstudien, 1. Teil: Die kölnischniederrheinischen Urkunden, Utrecht 1922, S. 37, mit dem capellarius Dietrich identifiziert; über den Grafen Gottfried vgl. Pirenne, H., in : Galbert, De multro Karoli, a. a. O., S. 8, Anm. 3. In neuerer Zeit hat Rousseau, F., in der Einleitung zu seiner Ausgabe: Actes des comtes de Namur de la première race 9 4 6 - 1 1 9 6 , Bruxelles 1936, S. CVI, herausgestellt, daß Gottfried eine erhebliche Rolle in den Reichsangelegenheiten jener Zeit spielte, wodurch die Wahrscheinlichkeit, daß er hier mitwirkte, noch gestärkt wird. Reinecke, W., a. a. O., S. 242.

330

G a l b e r t v o n Brügge

Billungerin w a r : die Tochter des Herzogs Bernhard von Sachsen. Seine Urgroßmutter Adela hatte König Robert II. von Frankreich zum Vater; so konnte er auch den deutschen König Heinrich I. zu seinen Ahnen zählen, dessen Enkel Robert gewesen ist. Es kommt hinzu, daß über Judith, die Stammutter des flandrischen Hauses, eine genealogische Linie zu Karl dem Großen hinführte. In jener Zeit, da auf solche dynastischen Beziehungen großer Wert gelegt wurde, war Karl in diesem Punkte keinem seiner Mitbewerber unterlegen. 13 ' Trotzdem ist es sehr wohl zu verstehen, daß er das Angebot zurückwies, denn gegenüber dem Sachsenherzog Lothar von Supplinburg, der schließlich die Krone erlangte, sowie dem Schwabenherzog Friedrich von Staufen war er im Reiche sicher der Schwächere. Es war sehr zweifelhaft, inwieweit die Kirchenfürsten ihn unterstützt hätten und ob man in Flandern bereitgewesen wäre, für eine Politik im Dienste des Reiches Opfer zu bringen. So wird man zusammenfassend wohl sagen können, daß für den Erzbischof von Köln nicht die von Bernhardi angeführten Gründe maßgebend waren, sondern vielmehr der Wunsch, dem als Netfen Heinrichs V. am besten berechtigten Kandidaten Friedrich von Staufen andere entgegenzustellen. Durch mehrere Anwärter wollte man die staufische Partei in Verlegenheit bringen und zurückdrängen, was schließlich auch gelang. Akzeptiert man diese Annahme, so versteht man um so besser, daß Karl Bedenken tragen mußte, sich in ein solches Abenteuer zu stürzen. Es ist von nicht zu unterschätzender Bedeutung, daß dieser schwache Versuch, die deutsche Königskrone 1125 mit dem westlichen Gebiet zu verbinden, gescheitert ist. Von nun ab verlagert sich der Schwerpunkt der Königsgewalt im Reich nach dem Südwesten und Osten; die unter den Saliern bestehende engere Beziehung zu den Rheinlanden und Lothringen zerbrach. Es war an sich notwendig, daß sich das deutsche Königtum im Zuge der Umbildung des Staates eine geschlossenere Hausmacht schuf. Jedoch ist es als sehr folgenreich anzusehen, daß dies nicht im Westen geschah. Eben hierdurch nämlich ist die Sonderung der Niederlande gefördert, vielleicht auch sogar erst ermöglicht worden; darüber hinaus blieb die Westgrenze des Reiches ungedeckt, so daß hier die Voraussetzungen für eine Aggression bestanden, wie sie schließlich auch von Seiten des französischen Königtums nicht ausgeblieben ist. Betrachten wir am Ende dieses Teiles noch die Form, in welche Galbert das Angebot der deutschen Krone an Karl kleidet; zeigt sie doch wieder die eigenartige Terminologie unseres Autors. Ihm zufolge ist von den „sapientiores in clero et populo" die Initiative ausgegangen; die Gesandten hätten den Auftrag gehabt, „ex parte totius cleri et ex parte totius populi regni et imperii Teutonicorum" Karl zur Übernahme der Würde aufzufordern; und es ist schließlich noch einmal von den „meliores in clero et populo" in dem genannten Kapitel die Rede. 138 Nun ist bekannt genug, daß diese Darstellung ein recht schiefes Bild von der damaligen Form der deutschen Königswahl gibt. Während bis hin zu Heinrich IV. im wesentlichen das 137

V g l . Warnkönig,

L. A.,

Flandrische Staats- und Rechtsgeschichte bis zum J a h r 1 3 0 5 , B d .

1,

Tübingen 1 8 3 5 , S. 1 3 2 . 138

„Omnes

enim

expectabant.

meliores

tarn in clero

quam

in populo

eligendum

sibi eum justissimo

.." A l l e Stellen G a l b e r t , D e multro K a r o l i c. 4, a. a. O., S. 8.

desiderio

Stellung und Bedeutung

331

Erbrecht zugunsten eines P r ä t e n d e n t e n entschied, brachte der Investiturstreit d i e g r o ß e W e n d e . D i e W a h l des Gegenkönigs R u d o l f von R h e i n f e l d e n im J a h r e 1077 w a r eine K a m p f a n s a g e an d a s E r b r e c h t ; hier k a m d a s freie F ü r s t e n w a h l r e c h t zum Durchbruch. 1 ' 11 ' D i e s e s a b e r hat mit der W a h l durch K l e r u s u n d V o l k im G r u n d e nichts zu tun. A u c h hier könnte man bei G a i b e r t eine g e w i s s e D i a l e k t i k insofern v e r muten, d a ß er den Begriff clerus a l s R e p r ä s e n t a n z des geistlichen Korps, vor a l l e m der rheinischen Erzbischöfe, a u f g e f a ß t wissen w o l l t e , w ä h r e n d sich hinter d e m populus d i e weltlichen Fürsten verbergen. A b e r m a n w i r d zugeben müssen, d a ß dies eine sehr k ü h n e A u s l e g u n g ist. G a l b e r t w a r über d i e w a h r e n V e r h ä l t n i s s e unterrichtet; er hat offenbar d i e G e s a n d t e n gesehen und vielleicht auch gesprochen. W i e k o m m t er zu seiner F o r m u l i e r u n g ? Es ist nicht a l l z u schwer, in diesem F a l l e d i e Q u e l l e f e s t z u s t e l l e n : w i r sehen hier einen Einbruch der I d e o l o g i e des Investiturstreits. D a s R e f o r m p a p s t t u m f o r d e r t e für d i e Bischöfe eine freie W a h l durch K l e r u s und V o l k . D i e electio durch d i e G e m e i n d e w a r ein urchristliches P r i n z i p ; der K l e r u s als W a h l b e t e i l i g t e r trat im L a u f e d e r Zeit a l l m ä h l i c h hinzu, um d a n n a b e r d i e G e m e i n d e i m m e r mehr in den H i n t e r g r u n d zu d r ä n g e n . D a s Staatskirchenrecht d a s M i t t e l a l t e r s hat den Herrscher a l s entscheidende Potenz eingeschaltet 1 '' 0 , bis der Investiturstreit d e m ein E n d e setzte. G r e g o r VII. b e k ä m p f t e unter der F a h n e der libertas d i e Einmischung des S t a a t e s in d i e W a h l ; er eben stellte d i e F o r d e r u n g d e r freien W a h l e n a u f , w o b e i a m E n d e jedoch d i e Aufsicht u n d schließlich auch d i e E r n e n n u n g bei Bischofsbesetzungen von der K u r i e an sich gezogen w u r d e . Es ist nun nicht v e r w u n derlich, d a ß G a l b e r t a l s Geistlicher diese F o r m d e r W a h l durch K l e r u s und V o l k a l s d a s N o r m a l e hinzustellen versuchte und sich bemühte, sie von den kirchlichen Ä m t e r n auch auf d i e weltlichen zu übertragen - besonders auf d a s K ö n i g t u m . D ü r f e n w i r doch, w e n n w i r dies beobachten, nicht vergessen, d a ß d i e K u r i e ihre - t e i l w e i s e erfolgreichen - Anstrengungen hauptsächlich d a r a u f richtete, d i e deutschen K ö n i g s w a h l e n zu beaufsichtigen und zu bestätigen, mithin also dieses h e r v o r r a g e n d e w e l t liche A m t unter Kirchenrecht zu stellen. In der Zeit d i e s e r prinzipiellen A u s e i n a n d e r setzung hatte m a n bekanntlich g e r a d e in Frankreich über d i e F r a g e „ A m t u n d L e h e n " neue Theorien konzipiert. Sie w u r d e n in der Publizistik des Investiturstreites v i e l erörtert, und m a n k a n n mit B e s t i m m t h e i t voraussetzen, d a ß G a l b e r t über sie w o h l unterrichtet w a r . W i r w e r d e n h i e r f ü r im L a u f e der Untersuchung noch w e i t e r e Z e u g nisse beibringen. N e b e n der W a h l durch K l e r u s und V o l k a b e r ist d a s A u f t r e t e n der meliores u n d sapientiores zu beachten. H i e r i n spiegelt sich d e r E i n f l u ß der k o m m u n a l e n B e w e g u n g ; sind doch diese A u s d r ü c k e charakteristische Bezeichnungen für d i e V e r t r e t e r der Bürgerschaft - in der R e g e l f ü r K a u f l e u t e o d e r F e r n k a u f l e u t e . W i r b e m e r k e n d a m i t also den E i n f l u ß der sozialen u n d auch schon d i e A n d e u t u n g einer ständischen D i f f e renzierung. 139

Mitteis,

m

V g l . zur Rechtsfrage Feine,

H., a. a. O., 4. A u f l . , S. 1 9 7 f. Dieser Vorgang w i r d allerdings gelegentlich überschätzt.

Libertas, a. a. O., S. 1 0 9 ff.

H. E„ a. a. O., Bd. 1, [4. A u f l . , S. 2 6 6 ff.]; auch T ellenhoch,

G„

332

Galbert von Brügge

D a s Angebot der Krone von Jerusalem an Karl Im anschließenden c. 5 behandelt Galbert das Angebot der Krone des Königreichs Jerusalem an Karl. Hierbei werden die Auftraggeber bei weitem verschwommener gekennzeichnet; wie unser Autor schreibt, richteten die „christiani nom'mis milites" einen Brief an Karl und forderten ihn auf, die Krone anzunehmen. Im weiteren spricht er noch einmal vom „populus christianorum"; hier tritt also der Klerus zurück. Für dieses Ereignis ist Galbert der einzige Zeuge; indessen ist an seiner historischen Richtigkeit wohl ebenfalls nicht zu zweifeln. Im April 1122 war König Baldwin II. von Jerusalem von den Sarazenen gefangengenommen und erst im Juli 1124 wieder befreit worden. Die dadurch bedingte Vakanz des Thrones gibt Galbert als Grund für das Angebot an; aber er erzählt auch, daß die christlichen Ritter Baldwin gehaßt hätten, weil er streng und geizig gewesen sei und das Volk Gottes nicht gut regiert habe."' 1 In Wahrheit jedoch ist Baldwin ein tüchtiger König gewesen, der sich alle Mühe gab, die christliche Herrschaft in Syrien zu konsolidieren, dabei allerdings stets mit dem Widerstand des aufsässigen Feudaladels zu ringen hatte. Die Tatsache, daß die Kreuzfahrerstaaten auf rein herrschaftlicher Landnahme aufbauten und man weder eine breitere Siedlung durchführen noch einen Ausgleich mit der Bevölkerung Syriens erreichen konnte oder wollte, ist ein entscheidender Grund zum Untergang dieser feudalen Bildungen gewesen. Vor allem aber war es die durch das überspitzte Lehnswesen geförderte Uneinigkeit und Renitenz der Vasallen, die eine ständige Gefahr für diese Staaten abgab. Gerade Baldwin II. hat nun unter Berücksichtigung dessen eine sehr geschickte Politik verfolgt, und es gelang ihm, da er keinen Sohn hatte, sein Reich seinem Schwiegersohn Fulco von Anjou zu vererben. 1 '' 2 Die unbestimmte Form, in die Galbert seine Darstellung über das Thronangebot kleidet, darf daher wohl darauf zurückgeführt werden, daß dieses nicht etwa von legitimierten Vertretern des Königreichs Jerusalem ausging, sondern lediglich von unzufriedenen Vasallen. Man versteht daher, daß Karl von Dänemark auch hier sehr wenig geneigt war, seine Einwilligung zu geben. Im übrigen sind, wie wir wissen, die Dinge in dem fernen Königreich sehr rasch wieder ins Reine gebracht worden. Trotzdem verdient dieser Vorgang, wie wir wissen, mehr Interesse, als man ihm bisher entgegengebracht hat. Er zeigt mit aller Deutlichkeit die besondere Stellung des flandrischen Fürstenhauses. Die ersten Kreuzzüge sind in erster Linie ein Werk der französischen oder französisch beeinflußten Ritterschaft gewesen, wobei die Lehnsfürsten eine führende Rolle gespielt haben. Neben den Normannen traten hier auch die flandrischen Grafen stark hervor. Robert der Friese hatte eine Pilgerfahrt nach dem Heiligen Lande unternommen, Robert II. sich am ersten Kreuzzug mit einem beträchtlichen Aufgebot beteiligt. Daß die flandrischen Fürsten keine große 1,51



„. . . christiani Hominis milites qui miütiae christianae ibidem studuerant odio habebant, eo quod tenax et parcus fuisset rex ille captus, nec bene rexisset populum Dei." Galbert, De multro Karoli c. 5, a. a. O., S. 10. Grousset, R., Histoire des croisades et du royaume franc de Jerusalem, Bd. 1 : L'anarchie musulmane et la monarchie franque, Paris 1934, S. 588 und 676 f.

333

Stellung und Bedeutung

Neigung zeigten, Herrschaften im Orient zu übernehmen, ist verständlich, denn sie regierten schon in Europa einen mächtigen Staat. Andererseits aber ist auch einleuchtend, daß ihr Herrscherhaus in der Ferne bekannt und angesehen war. Karl von Dänemark ist etwa um 1107 ebenfalls als Pilger nach Jerusalem gezogen und hat dort als Kreuzritter gegen die Ungläubigen gekämpft. 1 '' 3 Daher erklärt sich das an ihn gelangte schriftliche Angebot wohl am besten mit der Annahme, daß man ihn dort noch persönlich kannte. Eine andere und für uns interessante Frage ist, inwieweit sich hier bereits die merkantilen Interessen Flanderns geltend gemacht haben. Ohne Zweifel hatte der flandrische Tuchexport damals schon das Mittelmeer erreicht, und die Fernhandelsinteressen des Landes hätten eine derartige enge Verbindung zum Orient an sich wünschenswert erscheinen lassen. Wesentlich für diese Frage ist allerdings das Ausmaß der flandrischen Schiffahrt. Über dieses herrscht in der Forschung noch keine Einigkeit. Pirenne, der zwar den Tuchexport von Ypern aus bis ins Mittelmeer zu Beginn des 12. Jh. zugab, behauptete andererseits, daß zu jener Zeit von einer ausgedehnten flandrischen Fernschiffahrt noch keine Rede sein könne. Demgegenüber hat sich P. van Werveke sehr eifrig für die Existenz einer solchen Schiffahrt eingesetzt, und R. Doehaerd teilte seine Ansicht.1''4 Trotzdem glauben wir nicht, daß der Graf von Flandern, hätte er das Thronangebot angenommen, auf eine Unterstützung durch flandrische Schiffe in größerem Ausmaß hätte zählen können. Das Interesse der Kommunen hieran war in erster Linie deshalb nicht erheblich, weil die Annahme der Krone Jerusalems zur Abwesenheit des Landesherrn geführt hätte. Galbert schilderte beide Angebote mit Behagen ; bedeuteten sie doch nicht nur die Heraushebung seines Herrn als eines Herrschers, dessen hervorragender Ruf so bedeutsame Anträge veranlaßte. Sie konnten darüber hinaus auch zur Betonung der überragenden Position des gesamten flandrischen Grafenhauses dienen.1'"'

D i e Frage der unfreien Ministerialität Im folgenden kommt Galbert auf die Vorgeschichte der Ermordung seines Herrn zu sprechen. Hierbei ist, wie neben ihm die anderen Quellen berichten, die Unter143

„Cumque

ante comitatum

Hierosolymitanorum

multa insignia

et egregia

fecisset,

arripuit

sanctae

peregrinationis

viam

. . ." : G a l b e r t , D e multro K a r o l i c. 1 2 , a. a. O., S. 2 1 . E s ist m e r k w ü r d i g ,

d a ß diese Stelle wenig angezogen w i r d ; so spricht e t w a Doehaerd solchen P i l g e r f a h r t ; auch Cartellieri,

nur v o n der Möglichkeit einer

A., D e r V o r r a n g des Papsttums zur Zeit der ersten K r e u z -

züge 1 0 9 5 - 1 1 5 0 , München und Berlin 1 9 4 1 , S. 1 8 1 , bezieht sich A n m . 2 nicht d i r e k t auf unseren Beleg. Es b e f r e m d e t auch, d a ß G a l b e r t die Notiz hierüber nicht im Zusammenhang mit d e m T h r o n a n g e b o t , sondern erst v i e l später bringt. V g l . auch W a l t h e r v o n T h é r o u a n n e , V i t a K a r o l i c. 2, a. a. O., S. 5 4 0 . 144

Pirenne,

H.,

Histoire

D a g e g e n van Werveke, S. 7 ff., und Doehaerd,

économique de l'occident m é d i é v a l , (Bruges)

1 9 5 1 , S. 1 9 1

und

R., L e s relations commerciales entre G è n e s , la B e l g i q u e et l'outremont

d'après les archives notariales Génoises, Bd. I : Introduction, Bruxelles/Rome 1 9 4 1 , S. 8 0 f. 143

573.

H., D e r flandrische E i g e n h a n d e l im M i t t e l a l t e r , i n : H G b l l . 6 1 / 1 9 3 6 ,

V g l . G a l b e r t , D e multro K a r o l i c. 5 am Ende, a. a. O., S. 1 0 .

334

G a l b e r t v o n Brügge

suchung der Rechtsstellung der mächtigsten Feudalfamilie des damaligen Flandern das entscheidende Moment gewesen.1'lC Wir erwähnten schon, welche Bedeutung der Propst von St. Donatian als Kanzler von Flandern und als Haupt der Verwaltung hatte. Zur Zeit Karls war diese Stelle in der Hand Bertulfs, dessen Bruder als Kastellan (Burggraf) von Brügge sich ebenfalls in einer hervorragenden Position befand. Auch die übrigen Angehörigen dieser Familie gehörten zu den angesehensten Vasallen Flanderns. Galbert hat sich im c. 71 sehr ausführlich über die Herkunft der Bertulf-Sippe geäußert, deren erster bedeutender Vertreter eben der Vater Bertulfs, Erembald, gewesen ist. Schon dieser fungierte von 1067 bis etwa 1089 als Burggraf von Brügge und hat dann seine Stellung vererbt. Vor seinem Amtsantritt, so berichtet Galbert, sei er ein bottio et miles seines Vorgängers gewesen, welcher den Namen Boldrannus führte. Zu der Gattin dieses Boldrannus habe er in ehebrecherischen Beziehungen gestanden und sei, wie man behauptet, von dieser dazu angereizt worden, ihren Gemahl umzubringen; das schändliche Weib habe ihm hierfür die Burggrafenwürde in Aussicht gestellt. Erembald fand sich, wie Galbert weiter erzählt, zu dieser Tat bereit; auf einer Expedition gegen die Feinde Flanderns stürzte er in der Nacht den Boldrannus von einem Schiff in die Tiefe, und dieser fand dabei den Tod. Pirenne verhielt sich zu dieser Schilderung recht skeptisch; er äußerte die Ansicht, daß Galbert sie einem „chant populaire historique" entlehnt habe. 1 '" W a s er hierunter versteht, wird nicht ganz k l a r ; er dachte wohl an eine Art Spielmannslied. W . Blommaert erklärte dann geradezu die Ermordung des Boldrannus für ebenso unhistorisch wie die Existenz dieser Persönlichkeit überhaupt. 1 '' 8 Immerhin berichtet auch die allerdings spätere ungenaue Passio Karoli comitis von der an diesem vollbrachten Bluttat 153 , und es ist kaum wahrscheinlich, daß ihr Verfasser den Bericht Galberts je zu Gesicht bekam; mithin muß jene Geschichte in Flandern bekannt gewesen sein. Zur Frage der Verifizierung des Boldrannus wäre noch zu bemerken, daß dessen Vorgänger im Amt, Robert I., nur ein einziges Mal, nämlich in einer Urkunde von 1046, genannt wird. l u 0 Für die Zeit bis 1067 fehlt dann jede Erwähnung eines Brügger Burggrafen. Damit kann also nicht mit Bestimmtheit gesagt werden, daß es einen Boldrannus nicht gab. Galbert neigte im allgemeinen nicht zu Erfindungen, wenn auch in bezug auf die besagte Bluttat angenommen werden muß, daß sein Haß gegen die Mörder seines Herrn ihn bereit machte, jedes üble Gerücht über sie und ihre Sippe zu glauben. Klammern wir die Mordgeschichte aus, so bleiben die Fakten, daß Erembald durch Baldwin VI. 146

W a l t h e r v o n Thérouanne, V i t a K a r o l i c. 1 4 , a. a. O., S. 5 4 5 ; Suger von St. Denis, V i t a Ludowici Grossi c. 3 0 , a. a. O., S. 2 4 2 .

"" Galbert, D e multro K a r o l i c. 7 1 , a. a. O., S. 1 1 5 . Es ist bemerkenswert, d a ß in dieser später eingeschobenen Geschichte Erembald nur als homo

et miles

des Kastellans bezeichnet w i r d ;

von einer Beziehung zum G r a f e n ist keine Rede. - D e r Hinweis auf das Lied S. 1 1 6 , A n m . 1. Pirenne

will G a l b e r t auch hier im G r u n d e nur als Sprachrohr der öffentlichen Meinung hin-

stellen. 148

Blommaert,

149

Passio K a r o l i comitis c. 2, a. a. O., S. 6 2 0 .

150

Blommaert,

W., Les châtelains de Flandre, G a n d 1 9 1 5 , S. 1 0 f. W., a. a. O., S. 1 0 .

Stellung und Bedeutung

335

zum Kastellan von Brügge ernannt wurde, bis zu seinem Tode als solcher fungierte und diese W ü r d e zum erblichen Besitz seiner Familie machen konnte. So müssen die flandrischen Grafen wohl davon überzeugt gewesen sein, d a ß er sich nicht schuldig gemacht habe; es w ä r e sonst ganz unbegreiflich, d a ß er, der unfreier Herkunft w a r , sich in jenem Amt hätte behaupten können. Es hat sich hier sicher nur um eine Klatschgeschichte gehandelt, die von den zahlreichen Gegnern seiner mächrigen Sippe in Umlauf gesetzt worden ist. Gewisse Parallelen hierzu findet man in den Quellen der Zeit des öfteren; man denke nur an die Erzählungen des Hermann von Tourn a i . b l Galbert allerdings berichtet das Begebnis ohne jeden Vorbehalt; verdächtig ist nur, d a ß er es nach seiner uns bereits begegneten Methode in Beziehung setzte zu dem Tode der Nachkommen Erembalds, die bekanntlich von den Zinnen des Grafenschlosses in Brügge hinabgestürzt wurden. Er hat dies wieder benutzt, um sein schon früher angeführtes Bibelzitat von der Rache Gottes bis ins dritte und vierte Glied zu illustrieren. 102 Nach Galbert hat die Initiative in bezug auf die Feststellung des Rechtsstatus der Bertulf-Familie bei dem Grafen gelegen; er behauptet weiter, d a ß sie im Rahmen einer allgemeinen Maßnahme erfolgte. 153 Diese Darstellung ist nicht korrekt, denn es wird im weiteren Verlauf deutlich, d a ß es sich hier nicht um eine Rechts-, sondern um eine Machtfrage handelte. Bedenken wir nur, d a ß Karl erst nach siebenjähriger Regierung, im J a h r e 1126, sich dieser Angelegenheit zuwandte. Über die Tragweite seines Vorgehens w i r d er sich keiner Illusion hingegeben haben, zumal von seinen Vorgängern die Herkunft des prepositus und dessen Anverwandter niemals beanstandet worden war.10'* Bertulf, der seine W ü r d e wahrscheinlich im J a h r e 1091 erhalten hatte, w a r dazu lange Zeit hindurch Kanzler von Flandern gewesen; er hatte, als lo1

1,3

Er berichtet im Liber de restauratione c. 18, a. a. O., S. 282, folgendes: „Clementia, cum de viro suo comité Roberto genuisset tres filios infra tres annos, timens, ne, si plures adhuc generaret, inter se de Flandria contenderent, arte muliebri egit, ne ultra par er et." Dies ist mehr oder weniger für wahr genommen worden, aber man hat es hier ganz gewiß mit üblem Klatsch zu tun. Die Gräfin Clementia war die Schwester des Reformpapstes Calixt II. (Guido von Vienne). Sie war in Flandern verhaßt, da sie schon zu Lebzeiten ihres Gatten einen ungewöhnlichen Anteil an der Herrschaft genommen hatte, wie dies etwa aus den Urkunden der Zeit hervorgeht. Auch erhielt sie später ein so ausgedehntes Wittum, daß die Stellung der Nachfolger ihres Gemahls, Graf Roberts II., dadurch beträchtlich erschwert wurde. Erst Dietrich vom Elsaß hat sie aus Flandern hinausdrängen können. Dies dürften die Anlässe für Hermanns Fabeleien gewesen sein. „In hoc ergo gradu quarto punita est in successores suos antiqua preeipitatio Boldranni nova ista preeipitatione, quae facta est ab propugnaculis camerae comitis in Brudgis, et forsitan dispensante Deo, punitum est in eis peccatum parentum, sicut in Exodo legi tur . . . " Galbert, De multro Karoli c. 71, a. a. O., S. 116, mit Bezug auf Exod. 20, 5. „Volens itaque comes pius iterum revocare honestatem regni, perquisivit qui fuissent de pertinentia sua proprii, qui servi, qui liberi in regno." Ebenda c. 7, S. 12. „. . . prepositus et cognati ejus a comitis predecessoribus usque ad hoc tempus de servili conditione non interpellatus nec pulsatus fuit, quasi sopitum et multis temporibus neglectum foret, omnium oblivioni tradebatur, nisi in predicta belli appellatione ad recordationis veritatem revocatum flösset." Ebenda, S. 13.

336

Galbert von Brügge

Karl seine Maßnahmen einleitete, bereits über drei Jahrzehnte dieses höchste Amt in der Verwaltung bekleidet.10'' Daß sich seine Familie als eine der ersten in Flandern fühlte, wird man verstehen. Galbert berichtet, er habe erklärt, dieser Karl von Dänemark wäre niemals zur Grafenwürde gelangt, wenn er, Bertulf, es nicht gewollt hätte. „Nun aber, da er durch mich Graf geworden ist, erinnert er sich nicht, was ich ihm Gutes getan habe, sondern arbeitet daran, mich mit meinem ganzen Geschlecht in den unfreien Stand hinabzustoßen, indem er durch seine Räte festzustellen sucht, ob wir seine servi seien. Möge er aber nachforschen, soviel er will, wir sind und werden immer Freie sein. Kein Mensch auf dieser Erde wird uns in den unfreien Stand stoßen können."1,1'1 Diese Rede gibt vorzüglich die Gesinnung Bertulfs wieder, zeigt aber auch - gewollt oder ungewollt - die Situation: hier findet ein Machtkampf statt. Nirgends nämlich ist eine Andeutung vorhanden, daß das Verfahren des Grafen sich auch auf andere erstreckt habe. Zu Beginn seiner Regierung hatte Karl, wie wir bereits wissen, mit Widerständen zu kämpfen gehabt und große Mühe aufwenden müssen, diese niederzuwerfen. Es dürfte sicher sein, daß ihn Bertulf hierbei unterstützte; als ebenso gewiß jedoch wird man annehmen können, daß dessen Sippe, deren Macht so groß war, die Bemühungen des Grafen, ein festes Regiment auch über sie aufzurichten, nicht dulden wollte. Hier dürfte der Anlaß zu dem Konflikt gelegen haben. Der Graf muß sich stark genug gefühlt haben, um diese Sippe, deren Gefährlichkeit die Ereignisse deutlich demonstrierten, niederzuwerfen. Hatte doch ihr großer Anhang bereits Unordnung heraufbeschworen und, wie Galbert im einzelnen schildert, durch Plünderungen und Fehden den Frieden im Lande in Frage gestellt.157 Für unseren Autor ist charakteristisch, welch hohe Bedeutung er der Friedenswahrung durch den Grafen zuschrieb. E r hat gleich zu Beginn seiner Darstellung darauf hingewiesen, daß Karl den Landfrieden, der sich, wie bemerkt, in Flandern aus der Gottesfriedensbewegung entwickelt hat, ausdrücklich erneuerte.lüS Man wird nicht fehlgehen, wenn man den Einfluß der Kommune zumindest als einen Ursprung für diese Sicht annimmt. Denn es waren die Bürger und auch die Bauern, die das größte Interesse an der Sicherheit vor dem räuberischen Feudaladel besaßen.109 Wir kommen nun zur Rechtsfrage. Daß es Galbert nicht ganz wohl war bei einem derartigen Vorgehen des Grafen gegen die Bertulf-Sippe, haben wir bereits angedeutet; gibt er doch selbst zu, daß in diesem Punkt das Recht in Vergessenheit geraten war. In der Tat demonstrierte man hier in gewisser Beziehung den Bruch eines praktisch bestehenden Gewohnheitsrechtes. In Frankreich war die Ministerialität zu jener 150

Actes, ed. F. Vercauteren,

a. a. O., S. L I I und L I V f. Ausdrücklich wird er als solcher genannt

bei Walther von Therouanne, Vita Karoli c. 14, a. a. O., S. 545. 150 15

Galbert, D e multro Karoli c. 8, a. a. O., S. 14.

' Ebenda c. 9 f . , S . 14 ff.

158

Ebenda c. 1, S. 3 f.

159

„Sed a principio mors

et pugna

regni inde

nullus

contigisset"

comttum

perpessus

est rapinam

fieri

in regno,

eo quod

maxima

Ebenda c. 9, S. 16. Im folgenden c. 10 wird die Klage der

Bauern (rustici) über Räubereien der Feudalherren geschildert, was Karl zum sofortigen Eingreifen veranlaßte.

337

Stellung und Bedeutung

Zeit bereits ein einheitlicher Stand; die dort unter den Vasallen und Ministerialen besonders zahlreichen Unfreien waren rechtlich längst mit ihren freien Standesgenossen verschmolzen. D a s Rittertum hatte sich als homogene Schicht etabliert, der die Kreuzzüge eine moralische Legitimierung geben sollten. Auf deutschem Boden lagen die Verhältnisse anders; indessen haben wir Flandern nicht nur staatsrechtlich, sondern auch gewohnheitsrechtlich dem französischen Kreis zuzurechnen. Ganshof hat gezeigt, wie jener Verschmelzungsprozeß hier und in Lothringen im einzelnen verlief, und Pirenne stimmte seinen Ergebnissen zu. lü0 Man wird kaum annehmen dürfen, d a ß für Karl etwa das deutsche Vorbild bestimmend war, denn er ist ganz mit den französischen Verhältnissen verwachsen. E r hat wahrscheinlich jenes alte Recht, das er als Vorwand benutzte, herausgesucht, um, gedrängt von den Feinden der Bertulf-Sippe"' 1 , einen Anlaß zu finden, diese aus der Macht zu drängen. Hieraus dürfte sich auch sein zögerndes Verhalten erklären. Wissen wir doch aus den anderen zeitgenössischen Berichten, welches allgemeine Aufsehen jene M a ß n a h m e erregte wenn sie auch niemand zu verwerfen wagte. Das Verfahren des Grafen, die Gegner des praepositus vorzuschicken, war ohne Frage taktisch klug: es bleibt nur unbegreiflich, d a ß er sich insgesamt über die Folgen so wenig klar war. Galbert behauptet allerdings, d a ß er die feindliche Haltung der Bertulf-Sippe richtig einschätzte 102 , wird aber hier wohl kaum das Richtige getroffen haben. W ä r e Karl sonst wohl bei dieser überaus gespannten Lage nach Brügge gezogen - mitten in das Machtzentrum seiner Gegner? E r war gegen einen plötzlichen Überfall oder Aufstand in keiner Weise gesichert. Ist es doch die Schwierigkeit einer Feudalregierung, in der Regel nur ein geringes bewaffnetes Gefolge zum sofortigen Einsatz zu besitzen, sich aber stets einer großen Anzahl kampfgewohnter Vasallen und bald auch dem bewaffneten Bürgeraufgebot gegenüberzusehen. D e r Graf wußte um die längere Zeitspanne, die es dauerte, bis er seinerseits stärkere militärische K r ä f t e mobilisieren konnte. E r handelte daher hier geradezu fahrlässig. Energisches Zupacken schon zu dem Zeitpunkt, als jene Sippe anfing, ihre Gefolgsleute um Brügge zu versammeln, wäre das richtige Vorgehen gewesen. Es bleibt noch zu untersuchen, wie Galbert selbst zu der Frage der Unfreiheit gestanden hat. Wir möchten hierbei daran erinnern, d a ß es die serví waren, die er in erster Linie für den Verrat an Arnulf verantwortlich machtc. 103 Auch an der eben behandelten Stelle gibt er seiner Verachtung über den unfreien Stand energischen Ausdruck, indem er die Herkunft der Bertulf-Sippe in Gegensatz stellt zu ihrem übermütigen und unverschämten Auftreten. 10 '' E r war bemüht, von seinen Landsleuten die Schuld an den Ereignissen abzuschieben - und hier erhellt jetzt, d a ß er die J,>

" Ganshof,

F.-L.,

Étude sur les ministeriales en Flandre et en Lotharingie, Bruxelles

1926;

Pirenne, H., Histoire de Belgique, Bd. 1, 5. Aufl., a. a. O., S. 151 f. 101

Galbert, D e multro Karoli c. 19, a. a. O., S. 33 mit Anm. 1.

162

„. . . cónsul precautus tionem audierat."

103

detractionem

prepositi

et suorum

intellexerat,

et fraudem

simul et

tradi-

Ebenda c. 8, S. 14.

Vgl. oben S. 319.

IM Vgl, etwa: „Ceterum et fama atque religione

prepositus

cum tota nepotum

gloriosior":

successione

post comitem

in regno

Galbert, D e multro Karoli c. 8, a. a. O., S. 14.

potentior

338

G a l b e r t von Brügge

servi nicht unter diese Landsleute rechnet. Es ist sehr wahrscheinlich, daß sein Bürgerstolz bei dieser Auffassung eine gewisse Rolle spielt. In der Stadt wurden die Unfreien oder Halbfreien rechtlich zu Freien; jeder Bürger war ein freier Mann. Diese Tatsache dürfte Galberts Darstellung zweifellos ebenso bestimmt haben wie seine deutlich zu beobachtende Feindschaft gegen die Ministerialen.

G a l b e r t und die Ermordung Karls Wir haben keine Veranlassung, auf die Einzelheiten des Mordes an Karl einzugehen, der am 2. März 1127 in der Kirche St. Donatian durch die Sippe Bertulfs erfolgte. Pirenne hat darauf aufmerksam gemacht, daß sowohl Walther von Thérouanne als auch Hermann von Tournai die Bluttat selbst mit mehr Details schildern als Galbert. 1 1 " O b man wie der genannte Gelehrte Galberts Bericht deshalb als weniger lebendig bezeichnen kann, ist freilich eine Geschmacksfrage. Auf jeden Fall geht unser Autor viel eingehender als die anderen Berichterstatter auf die Vorbereitung der Tat ein. Hier erzählt er äußerst dramatisch, und man darf wohl behaupten, daß seine diesbezügliche Schilderung ein wahres Kunstwerk ist. Indessen könnte man vielleicht aus seinen Darlegungen über den Mord selbst schließen wollen, er habe diesem nicht beigewohnt und auch unter seinen unmittelbaren Folgen nicht sehr gelitten. Wie er sagt, hätten nämlich die Mörder die unmittelbaren Freunde Karls und jeden, den sie dafür hielten, erschlagen oder verjagt. An Geistlichen haben sie sich zwar im großen und ganzen nicht vergriffen, doch waren auch diese natürlich in äußerster Angst. Galbert schreibt zwar, er habe seinen Bericht mitten während des Aufruhrs und im Feuerschein vieler brennender Häuser abgefaßt; jedoch hat man eigentlich nicht den Eindruck, daß er sich selbst in besonderer Gefahr wähnte. 106 E r zeigt sich nämlich, wie wir bereits wissen, als ein aufmerksamer Beobachter, der nicht nur Nachrichten oder Gerüchte aufzeichnete, sondern auch über sie reflektierte und sogar Zeit fand, die Angaben über die Vorgänge in eine einwandfreie Form zu bringen. Daraus läßt sich doch einiges ablesen. D a ß er nicht in persönliche Gefahr kam, beweist, daß er keine politisch unbedingt hervorragende Stellung eingenommen hat. Seine Schilderung des Kampfes um die Burg macht darüber hinaus deutlich, daß er dort nicht gewohnt hat; er dürfte vermutlich im suburbium eine bescheidene Heimstatt innegehabt haben. Gerade bei dem eben erwähnten Kampfesbericht kommt auch wieder zum Ausdruck, daß er mit den Bürgern fühlte und sich ganz als einer der ihrigen empfand. Wir werden damit vermuten können, daß er aus einer der Bürgerfamilien des suburbium stammte. Wie sehr er gerade dem Kaufmannsstand seine Aufmerksamkeit widmete, ergibt sich aus einigen weiteren, unmittelbar mit dem Mord zusammenhängenden Nachrich105

Pirenne,

H., i n : ebenda, S. 2 5 , Anm. 2. Vgl. Walther von Thérouanne, V i t a Karoli c. 2 5 , a. a. O.,

S. 5 4 8 f. ; Hermann von Tournai, Liber de restauratione c. 2 8 , a. a. O . , S. 2 8 5 . E s steht natürlich dahin, wie wahr diese Berichte sind. I(i(1

Galbert, D e multro K a r o l i c. 3 5 , a. a. O . , S. 5 8 ; vgl. oben S. 3 1 9 f. mit Anm. 1 0 5 .

Stellung und Bedeutung

339

ten. So erzählte er an einer oft angeführten Stelle, daß die schreckliche Nachricht bereits innerhalb eines Tages nach London gelangte und dort die Kaufleute und Bürger in große Aufregung versetzte. Er erwähnte selbst, daß er dies von den Brügger Kaufleuten gehört habe. l(i7 Ebenso berichtete er sehr eingehend von der Panikstimmung, die unter den Kaufleuten, welche in Ypern zur Messe weilten, bei Bekanntwerden der Bluttat entstand; die ausländischen Kaufleute hätten sofort mit ihren Waren die Flucht ergriffen.11'8 Und an anderer Stelle lesen wir, daß die in Ypern gebliebenen flandrischen Kaufleute durch Wilhelm von Ypern gefangengesetzt wurden, um sie zu zwingen, ihm den Treueid zu leisten und ihn als Grafen anzuerk e n n e n . A l l das ist ein Zeichen dafür, wie sehr unseren Autor das Schicksal der Kaufmannskreise interessierte. Diese Teilahme hat er allen anderen Berichterstattern voraus. D i e Bürger von Brügge nach der Ermordung des Grafen Die unmittelbar auf den Mord folgenden Ereignisse erzählt Galbert mit besonderer Ausführlichkeit; jetzt hat er Tag für Tag notiert, was er sah oder hörte. Wir möchten auch hier hervorheben, wie sehr er dabei den Standpunkt der Bürgerschaft von Brügge wiedergibt, und ferner darauf hinweisen, daß man seinen Ausführungen einiges über die Organisation dieser Bürgerschaft entnehmen kann. Bezeichnenderweise ließ Bertulf sofort nach der Tat die Kirche und die anliegenden Gebäude der Grafenburg befestigen und bewachen, da er einen Angriff der Bürger befürchtete und sich eine Zufluchtsstätte schaffen wollte. 1 ' 0 Wenige Stunden später bereits, am 3. März, zeigte sich denn auch das erste Eingreifen der Bürger in den Gang der Ereignisse. Bertulf hatte nach Gent gesandt, um die Leiche des Grafen dorthin schaffen zu lassen. Hiergegen aber erhoben nicht nur die Kanoniker von „. .. occiso consule in castro Brugensi, in mane unius diei, scilicet feriae quartae, fama impiae mortis ejus in Londonia civitate, quae est in Anglia terra, secundo die postea circa primam diei perculit cives . .. sie etiam per negotiatores nostros intelleximus, qui eodem die Londoniae mercaturae intenti fuere." Galbert, De multro Karoli c. 12, a. a. O., S. 22. 108 „Quo tempore negotiatores omnium circa Flandriam regnorum ad Ipram confluxerant in cathedra saneti Petri, ubi forum et nundinae universales feriebantur, qui sub pace et tutela piissimi comitis securi negotiabantur. Eodem tempore ex Longobardorum regno mercatores descenderant ad idem forum .. . In cujus fori confluxu cum fama universos de diversis locis percelleret, accinctis rebus suis et die et nocte fugerunt, secum infamiae nostrae terrae ferentes et ubicumque divulgantes." Ebenda c. 16, S. 28 f. Vgl. auch Ganshof, F. L., Iets over Brügge gedurende de preconstitutionelle periode van haar geschiedenis, in: Nederlandsche Historiebladen 1/1938, S. 288. 1G'J „.. . captivati sunt mercatores Flandriae, de quocumque loco apud forum convenisset in lpra, et constricti ut in Willelmo fidem, securitatem et hominia facerent, et sie in comitem sibi assumerent." Galbert, De multro Karoli c. 25, a. a. O., S. 43. 1/(1 „.. . jussit prepositus ecclesiam undique armis et vigiiiis premuniri, et Solarium et turrim templi, in quae loca, si forte a civibus insultus fieret, sese reeiperent ipse et sui. Et introierunt illa nocte milites ex precepto prepositi in Solarium ecclesiae armati, premunientes turrim et exitus ejus continuis vigiiiis, ti mentes impetum et ineursum civium fore contra se die sequenti et deineeps." Ebenda c. 21, S. 36 f. 167

340

Galbert von Brügge

St. Donatian, sondern auch die „cives" Einspruch: auf die Kunde von dem Vorhaben des praepositus hin erschienen sie in Waffen und stellten sich mit gezückten Schwertern um die Bahre des Erschlagenen. 1 ' 1 Wir halten dafür, diese Initiative mit allem Nachdruck zu betonen, obwohl die Partei der Grafenmörder von den Bürgern nicht offen angegriffen wurde. Bertulf gab in der Frage der Überführung der Leiche nach. Ihm war klar, daß, da er und sein Bruder, der Burggraf, bei der Tat nicht dabeigewesen waren, seine Politik darin bestehen mußte, möglichst von dem schrecklichen Geschehnis abzurücken und sich und jenen davor zu bewahren, als Anstifter des Ganzen zu gelten. Für die Bürger ergab sich eine schwierige Lage, da das Hinscheiden des Grafen, der keine direkten Erben hatte, Flandern zunächst der Anarchie preisgab. Niemand war vorhanden, der ein unbestreitbares Recht auf die Nachfolge hatte; daher hörte praktisch jedes Regiment auf. Besonders schwierig war die Lage natürlich für die Brügger Bürger. Der prepositus und der Burggraf waren mit ihren Bewaffneten in der Stadt und bemühten sich fieberhaft, ihre alten Beziehungen zu den Feudalherren der Umgebung aufrechtzuerhalten sowie Anschluß an einen möglichst aussichtsreichen Kandidaten für die Thronfolge zu bekommen. Sie verhandelten mit Wilhelm von Ypern, dem einzigen noch am Leben befindlichen männlichen Nachkommen Roberts des Friesen, dessen uneheliche Abkunft aber ein großes Hindernis für eine eventuelle Nachfolge war. Der Prätendent nun war unserem Galbert schon deshalb verhaßt, weil er einst Karl, seinem geliebten Herrn, den Thron streitig gemacht hatte. Die Partei der Mörder versuchte also, ihre Stellung in Brügge zu sichern. Zu diesem Zweck unternahm sie es auch, die Stadt in einen besseren Verteidigungsstand zu setzen. Es wurde befohlen, das suburbium zu befestigen, und unter Führung des Burggrafen baute man, wie Galbert erzählt, aus vorhandenem Holz und anderem zusammengerafften Material dort eine Umwallung. Dabei bemerkt unser Autor unter dem 6. März, daß die Bürger schon damals, also nur vier Tage nach der blutigen Tat, entschlossen waren, den Grafen zu rächen und sich gegen seine Mörder zu wenden. Zwar wagten sie es immer noch nicht, offen gegen diese vorzugehen; jedoch zeigten sie großen Eifer, die Befestigungen zu errichten, besetzten diese nach Fertigstellung und ließen niemanden hinaus oder herein, der nicht Bürger war. 1 ' 2 Diese Ummauerung war für die Brügger Kommune von hohem Belang. Ganshof hat die Ansicht vertreten, das suburbium sei schon vorher befestigt gewesen und die jetzigen Arbeiten hätten entweder der Erneuerung gedient oder aber eine Erweiterung der früheren Anlagen dargestellt. E. Ennen wollte eine steinerne Ummauerung 171

172

„. . . evoeaverant omnes cives loci, qui cum rem intellexissent, armati accurrentes, extractis gladiis circuierunt feretrum comitis, parati ad resistertdum, si quis auferre moliretur." Ebenda c. 22, S. 39. „Igitur sepes et ligna . . . et insuper universa quae ad opus sepiertdi utilia sibi videbantur, castellano duce, diripiebant cives, et fabricabantur ad defensionem communem turres et propugnacula et exitus contra hostes. In quo ergo perficiendo omnes festinabant, tarn clerus quam populus. et die operando, donec, consummato opere circumItaque nulla fuit requies nocte invigilando sepiendi suburbium, custodes ordinarent ad singulas portas et turres et propugnacula, quatenus nemo exiret nisi cognitus, et nemo intromitteretur nisi civis." Ebenda c. 25, S. 44 f.

341

Stellung und Bedeutung

annehmen, stützte sich dabei jedoch nur auf die Ausführungen von Ganshof 1 ' 3 . Die Schilderung unseres Autors schließt nun jede derartige Vermutung aus, denn er wies, wie bemerkt, auf die verwendeten Holzvorräte hin; auch war die Zeit für den Bau einer steinernen Befestigungsanlage viel zu kurz. Galberts spätere Mitteilung, die Bürger von Brügge hätten sich unter Dietrich vom Elsaß durch neue Gräben geschützt, wird ebenfalls kaum zugunsten obengenannter These herangezogen werden können.1''1 Bei Beurteilung der Ganshofschen Aufstellungen müssen wir entscheidenden Wert auf das Zeugnis unseres Werkes legen. Galbert spricht ausdrücklich von der Befestigung des suburbium, und wir bemerken in seiner ausführlichen Erzählung keinen weiteren Hinweis auf eine innere Befestigungslinie außer der des Castrum. Man wird daher annehmen können, daß die von Ganshof erwähnten älteren Befestigungsanlagen eine Erweiterung des Castrum darstellten, während das suburbium damals noch nicht ummauert war. Wir haben dabei ja zu berücksichtigen, daß die flandrischen Kastelle ihrer Anlage nach Fluchtburgen waren und keineswegs von vornherein Grafenburgen darstellten. Die Befestigung des Wiks ist von Ennen zu Recht als wesentliche Voraussetzung für die Bildung einer Kommune in Brügge bezeichnet worden. 1 " Sie war zweifellos ein Ausdruck der auf Zusammenschluß gerichteten Bewegung der Bürgerschaft und erfolgte nicht zufällig in dem Moment, da diese politisch aktiv hervortrat.

D i e Bürger gegen die Bertulf-Sippe Inzwischen hatte sich nämlich die Lage in Flandern geändert. Die unmittelbare Bestürzung war vorbei und einer tiefen Empörung gewichen, so daß nunmehr der ernste Versuch unternommen wurde, den Mord zu rächen und die, die ihn geplant und ausgeführt hatten, aus der Macht zu verjagen. Der Darstellung Galberts zufolge war es Gervasius de Praet, der Kämmerer Karls des Guten und ehemals sein besonderer Vertrauter, welcher zuerst den Kampf gegen die Mörderclique aufnahm. 1 ' 0 Während der Tat hatte er sich in der Begleitung des Grafen Karl befunden; es war ihm jedoch gelungen, in dem Tumult zu entfliehen. 1 " Jetzt begann er eine Erhebung, die, da sein Besitz in der Nähe Brügges lag, stark auf die Stadt ausstrahlen mußte. Er sammelte ritterliche Vasallen und Fußvolk um sich, erstürmte zunächst Ravenschot, eine Festung der Mörder, und zog dann in die Nähe Brügges, wo er das Haus eines Bruders von Bertulf zerstörte. Schließlich richtete er seinen Marsch direkt auf 173

Ganshof,

F.-L., Iets over Brügge, a. a. O., S. 2 8 6 ; Ennen,

1//

' „At Brudgenses defensabant.

fossatis

novis circumdederunt

Qua tempestate

villa Orscamp

se, vigiliis depredata

E., a. a. O., S. 1 6 2 . et insidiis suis et suorum

est prorsus a militibus

militum

Willelmi

sese

consulis."

Galbert, D e multro Karoli c. 1 1 0 , a. a. O., S. 158. 173

Ennen,

1711

Galbert, De multro Karoli c. 26, a. a. O., S. 45. Walthcr von Therouanne, Vita Karoli c. 33,

E„ a. a. O., S. 1 5 2 ff.

a. a. O., S. 552, gibt seine Begleitung auf 30 Pferde an. Nach Hermann von Tournai, Liber de restauratione c. 3 1 , a. a. O., S. 286, ging der Widerstand von Baldwin von Gent aus. 177

Galbert, De multro Karoli c. 16, a. a. O., S. 28.

23

Sproemberg

342

Galbett von Brügge

die Stadt. Das, brachte den Aufstand der dortigen Bürger gegen die Mörder zum Ausbruch. Beachtenswert ist dabei, daß zwischen Gervasius und den Bewohnern des suburbium Verhandlungen angeknüpft und die aus ihnen resultierenden Vereinbarungen durch gegenseitige E i d e befestigt wurden. Man legte fest, daß die Bürger von Brügge am nächsten T a g e die Truppe des Gervasius in das suburbium einlassen und mit ihr gemeinsame Sache machen sollten. 1 ' 8 Hier nun zeigt sich, daß zu jener Zeit bereits eine Organisation der Bürgerschaft vorhanden war. D a nämlich die G e f a h r bestand, daß die noch sehr mächtige Mörderpartei, wenn sie etwas über den Pakt erführe, über die Bürger herfallen würde, schloß man diesen heimlich ab. N u r die „sapientiores loci", wie Galbert sie nennt, wußten um ihn; der Masse der Bürger blieb er verborgen. D a s Geheimnis um ihn wurde gewahrt, und am 9. März konnte Gervasius in das suburbium einziehen. D i e Mörder waren völlig überrascht und zogen sich nach heftigem K a m p f in das Castrum zurück. D i e nicht informierten Bürger waren sich zuerst im unklaren darüber, auf wessen Seite sie sich schlagen sollten; nach der D a r stellung Galberts jedoch ist sehr rasch eine Einheitsfront gegen die Mörderpartei zustandegekommen. E s ist recht interessant, daß unser Autor bei der Darstellung dieser Ereignisse zwischen burgenses (cives) und castrenses unterschied. 1 ' 9 Offenbar verfügten die Mörder im Castrum über Anhänger; die Einwohner dieses gräflichen Bezirks waren zwar an dem Mord selbst nicht beteiligt, kämpften jedoch zunächst auf seiten der Bertulf-Sippe. Auch dies geht aus der Schilderung Galberts hervor, der aber ebenso berichtet, daß, als die Sache der Mörder bedenklich wurde und man denjenigen, die nicht unmittelbar an der T a t beteiligt gewesen waren, freien Abzug anbot, eine große Anzahl Personen das Castrum verließ. 1 8 0 Hierdurch wird offenbar, daß das Schwergewicht in organisatorischer wie in politischer Beziehung im suburbium, in der Kaufmannssiedlung lag. D i e Bewohner des suburbium waren die eigentlichen cives; in ihrem Auftrag und Interesse handelten die sapientiores oder meliores nicht nur hier, sondern auch in anderen Situationen. Als nämlich die Bürger von G e n t denen von Brügge zu Hilfe kamen und unter Führung ihres Kastellans am 14. und 15. März in Brügge eintrafen, führten sie eine Schar von Bewaffneten aus der Umgebung mit sich, die hauptsächlich ans Plündern dachte. Als sie vor den Toren des suburbium erschien und mit G e w a l t eindringen wollte, widersetzten sich dem die

178

„Summiserunt autem secretos internuntios ad Gervasium et suos, componentes de fide et umicitia et fidissima securitate in invicem. Insuper conjuraverunt vindictam comitis sui, et ut die subsequenti intromitterent exercitum Gervasii ad se infra suburbium, et reciperent eos sicut fratres intra munitiones suas." Ebenda c. 27, S. 47. l'O Vgl. etwa ebenda: „Burgenses igitur nostri"; und c. 28, S. 48: „compositionem /actam inter burgenses et Gervasium." 180 Galbert bemerkt: De multro Karoli c. 36, S. 59: „Plures inclusi fuerant intra Castrum, qui in morte comitis rei non fuere", sagt dann aber von den Anhängern der Mörder im Castrum: „Ad haec vero nefanda infinitus erat reorum et coadjutorum infra muros numerus." Über den Abzug der Nichtbelasteten heißt es im c. 37, S. 61 f.: „Igitur, secundum edictum et pactum hujusmodi, exierunt perplures, quia eorum erat aperta innocentia, aut parati fuerunt quibus minus credebatur, probare innocentiam."

343

Stellung und Bedeutung

Brügger Bürger, und erst nachdem die sapienliores beider Städte eingegriffen hatten, kam es zu einem förmlichen, wiederum eidlich geschlossenen Vertrag. 1 8 1 Ganshof hat in seiner Untersuchung über die praekonstitutionelle Periode von Brügge zugegeben, d a ß die Bürger als universitas hier auch mit bewaffneter Macht auftraten. Seiner Meinung nach ließen sie sich nur von ihren eigenen Interessen leiten; jedoch stellt er auch den sich hier manifestierenden kollektiven Geist der Selbstverteidigung heraus und betont, d a ß jene gemeinschaftliche Aktion der Brügger Bürger eine Organisation voraussetzte, die zwar privatrechtlichen Charakter gehabt hat, aber doch ihre Mitglieder befähigte, eine führende politische Kraft darzustellen. Für ihn ergab sich die Frage, ob es sich dabei um eine Gilde oder eine Brüggische Hanse gehandelt habe. 182 Die Belege, mit denen er für das letzte plädiert, sind durchaus beachtenswert; inzwischen jedoch hat Ennen den Unterschied zwischen Gilde und Schwurverband noch einmal klar herausgearbeitet. 1 8 ' Nur der Schwurverband stellte eine wirkliche Bürgergemeinschaft d a r und w a r daher zu politischem Handeln befähigt. D i e Richtigkeit der Ansicht von Ennen, d a ß das suburbium der Ausgangspunkt der Kommunebewegung war, w i r d hier sehr deutlich demonstriert. Sahen wir doch, d a ß die Bewohner des Brügger Castrum zunächst einmal dem Handeln der Einwohner des suburbium passiv oder sogar feindlich gegenüberstanden. Man wird ihnen zugute halten müssen, d a ß sie viel unmittelbarer unter der G e w a l t der Mörderpartei sich befanden, zu der ja auch der Kastellan zählte. Sicher hat es sich bei ihrer beträchtlichen Anzahl in der Hauptsache um die abhängigen Leute des Grafen und des St. Donatian-Stiftes gehandelt. Eine rechtliche Trennung nimmt G a l bert übrigens zwischen suburbiumund CÄi/ra/Ä-Bewohnern nicht vor. Unser Autor selbst identifizierte sich durchaus mit den burgenses, und gerade nach den Untersuchungen Ennens über die Bedeutung dieses Ausdruckes 184 w i r d man dem besondere Aufmerksamkeit zu widmen haben. Ennen sieht die burgenses als Marktsassen an und betrachtet den Begriff als eine U m w a n d l u n g des älteren mercator (Kaufmann). So sehr nun unseren Galbert auch Kaufmannsbelange interessierten den Ausdruck mercator gebrauchte er in seiner Darstellung nie. W i r möchten daher anehmen, d a ß im suburbium von Brügge bereits eine Vereinigung über die Gilde hinaus bestand, das Gefühl der Zusammengehörigkeit also schon über den Stand hinweggegriffen hatte. Sicher waren die Vertreter der Bürger in der Mehrzahl angesehene Kaufleute, vielleicht aber gab es unter ihnen auch Grundbesitzer. Jedenfalls erfreuten sie sich des Vertrauens der gesamten Bevölkerung des suburbium, w i e aus den Schilderungen Galberts zur Genüge hervorgeht. W i r müssen damit annehmen, d a ß die kommunale Bewegung zu jener Zeit viel weiter fortgeschritten war, als Ganshof zugeben möchte. Ihr Reifegrad kann nicht allein am Vorhandensein schriftlicher Privilegien gemessen w e r d e n ; ich stimme mit Blockmans darin überein, d a ß hier auch die

181

182 18:!

„. . . pene pugnatum fuisset undique, nisi quod sapientiores sese composuissent Ebenda c. 33, S. 55. Ganshof, F.-L., Iets over Brügge, a. a. O., S. 2 9 0 mit Anm. 61. Ennert, E., a. a. O., S. 170. Ebenda, S. 181 und 309.

23

in utraque

acie."

344

Galbert von Brügge

mündlichen Rechtszugeständnisse stark zu berücksichtigen sind. Bei Galbert jedenfalls tritt die Gemeinschaft der burgenses militärisch und politisch ohne jede Frage als eine Korporation auf. Ferner hatte ihre militärische Disziplin die Bürger bereits zu einem nicht unerheblichen Machtfaktor werden lassen. Die cives waren nicht nur wohl bewaffnet, sondern auch geübt, im Verband zu fechten. Besonders aber besaßen sie - und nur sie allein - die Kenntnis der Belagerungstechnik. W i e Galbert unter dem 18. März erzählt, standen die Feudalherren fast hilflos vor der Befestigung des Castrum und den in seinem Innern verschanzten Gebäuden; es mußten erst die Bürger herangeholt werden, um die weitere Belagerung durchzuführen. JSl ' Diese trieben dann die Eingeschlossenen von Position zu Position, bis letztere schließlich nur noch den Turm der Grafenburg in Händen hielten. Hier haben sie sich bis zum 19. April mit außerordentlicher Tapferkeit verteidigt, wurden aber endlich doch besiegt. Die Überlebenden erlitten ein furchtbares Ende: man stürzte sie von dem Turm in die Tiefe. Diese Kampfesschilderung atmet eine großartige Dramatik und trägt Züge, die auch in dem berühmten Lied vom Untergang der Nibelungen begegnen. Die hier wie dort ausbrechende Wildheit und andererseits die unerhörte Tapferkeit, welche vor nichts, auch nicht vor dem Mord zurückschreckte, sind ein Erbe aus der germanischen Vorzeit. Diese wirft auch ihre Schatten, wenn Galbert von urzeitlichen Gebräuchen der Mörder am Grabe des Erschlagenen berichtet. 180 Eine Episode verdient noch hervorgehoben zu werden: die Verhandlung zwischen Belagerten und Belagerern, als die Lage für die Bertulf-Sippe äußerst kritisch geworden war. Der Kastellan versuchte nach dem Abzug der Bewohner des Castrum, da die Sippe sich völlig isoliert fühlte, mit den Angreifern ins Gespräch zu kommen. Inzwischen nämlich waren die großen Feudalherren Flanderns in stattlicher Zahl mit ihrem Gefolge in Brügge eingetroffen, wo sich der Kampf konzentriert hatte. Alle vereinigten sich unter der Parole, an der Bertulf-Sippe für den Grafenmord Rache zu nehmen. Der Kastellan und seine Verwandten aber rechneten mit den vielen persönlichen und verwandtschaftlichen Banden zwischen ihnen und jenen Feudalherren. Sie setzten darauf, von ihren Standesgenossen milder beurteilt zu werden als von ihren persönlichen Feinden und den Bürgern, welche zu keiner Verhandlung bereit waren. Der Bruder Bertulfs knüpfte, wie Galbert berichtet, an den Beschluß der Belagerer an, den Unschuldigen freien Abzug zu gewähren, und hoffte auf eine sorgfältige Unterscheidung zwischen den unmittelbar am Mord Beteiligten und den „weiteren" Eingeschlossenen. Er sprach von der Mauer des Kastells zu den Feudalherren, erinnerte sie an die alte Freundschaft zwischen ihm und ihnen und behauptete, daß weder sein Bruder Bertulf noch er selbst unmittelbar an dem Mord beteiligt gewesen seien. Er forderte daher für die bei ihm befindlichen Geistlichen die Rechtfertigung vor einem geistlichen Gericht, für die Ritter eine Untersuchung nach weltlichem Recht. Daß die Mörder seine Verwandten waren, bestritt er nicht, bezeichnete 183 180

Galbert, De multro Karoli c. 40, S. 64 f . ; vgl. auch c. 35, S. 58 f. Ebenda c. 90, S. 135. Hier wird in einem Nachtrag von dem Totenmahl der Mörder berichtet, das den Erschlagenen daran hindern sollte, sich an den Tätern zu rächen.

Stellung und Bedeutung

345

dies aber als den einzigen G r u n d dafür, daß er mit ihnen zusammenhielt. Um der Sippenverwandtschaft willen forderte er auch für sie freien Abzug und Vertreibung aus dem Lande. 187 Es fällt auf, d a ß hier ein äußerst geschicktes Plädoyer für alle diejenigen gehalten wird, welche nicht direkt zu den Mördern Karls gehörten. Sollte der Kastellan wirklich seine Rede mit so fein ausgefeilten juristischen Spitzfindigkeiten gespickt haben? Betrachten wir vor einer Stellungnahme noch die Antwort, die ihm laut Galbert von einem Ritter namens Walther erteilt w u r d e : die Belagerer wollten keiner Wohltat von seiten der Sippe des Kastellans mehr eingedenk sein; sie wollten in Z u k u n f t keine Gemeinschaft mit den Verrätern des Grafen, die an der Plünderung des Schatzes der Grafschaft teilgenommen hatten und jetzt zu Unrecht die Grafenburg in ihrem Besitz hielten. Für ihre Schandtat hätten sie nicht nur allen Besitz, sondern auch das Leben verwirkt; sie seien ehrlos und geächtet und hätten alle Christen gegen sich aufgerufen 1 8 8 - letzteres eine deutliche Anspielung auf den Gottesfrieden. Nach dieser Rede sagte sich die gesamte Mege der Belagerer symbolisch von dem Burggrafen wie dem prepositus los. D i e Formulierung dieser Antwort mit ihren juristischen Feinheiten dürfte wie die der Rede des Kastellans auf das Konto Galberts zu setzen sein. Wir zweifeln nicht daran, d a ß der Bertulf-Bruder den Pardon für sich und seine Leute forderte und die Belagerer diesen nicht gewähren wollten. Aber wir haben doch starke Bedenken dagegen, d a ß beides in juristisch derart geschliffener Form erfolgt sein soll. Hier sieht man vielmehr die H a n d des geschulten Rechtsgelehrten - und dies dürfte für die Beurteilung der weiteren in Galberts Werk vorhandenen Reden doch von Belang sein. Die Grafenwahl Sehr bald hatte sich damit der Umschwung in Flandern geltend gemacht, denn bereits sieben Tage nach dem Mord war eben mit dem Einmarsch des Gervasius in Brügge das Spiel Bertulfs im wesentlichen verloren. D e r wütende Widerstand des Restes der Belagerten, von denen sich sowohl der eben Genannte als auch sein Bruder, der Kastellan, durch heimliche Flucht zu retten verstanden, hat an der Situation nichts mehr ändern können. D i e Macht des größten Feudalhauses in Flandern war völlig gebrochen worden. Nunmehr ging es um die Neubesetzung des Grafenstuhls. W i r betrachten hier besonders, welche Rolle die Bürger dabei gespielt haben und wie Galbert zu den mit ihr zusammenhängenden Ereignissen stand. Der erste Kandidat, der seinen Anspruch anmeldete, war Wilhelm von Ypern. Wir hatten schon darauf hingewiesen, daß er bereits beim Tode Baldvvins V. als 187

18H

Ebenda c. 38, S. 62 f. Vgl. z . B . : „reos damnamus et prorsus exp elleremus a nobis, nisi quod nostri sanguinis propinquitatem inviti quidem servamus in ipsis." „Omnia enim, tarn vitam proprium quam rem extrinsecam, injuste possidetis, quandoquidem sine fide, sine lege vos fecistis et idcirco omnes christiani nominis professores contra vos armastis." Ebenda, S. 63.

346

Galbert von Brügge

Prätendent aufgetreten w a r und hierbei die Unterstützung seiner Tante, der Gräfin d e m e n t i a von Flandern, gefunden hatte, welche inzwischen mit dem Herzog Gottfried von Löwen verheiratet war. Karl hatte, wie wir ebenfalls bereits wissen, gegen diese Koalition einen harten Kampf führen müssen, weshalb sich W i l h e l m ganz offensichtlich den H a ß Galberts zuzog. Nach dem Tode Karls schienen seine Aussichten günstiger zu sein. W a r Karl noch von Baldwin VII. designiert worden und konnte, da er im Lande erzogen war, als flandrischer Prinz gelten, so gab es jetzt niemanden, der die Interessen des Hauses im L a n d e repräsentierte. Die uneheliche Geburt Wilhelms konnte für seine Pläne kein absolutes Hindernis sein - man denke nur daran, d a ß Wilhelm von der Normandie auch ein natürlicher Sohn, trotzdem jedoch nach dem Aussterben der legitimen Nachkommen Rollos nicht nur Herzog, sondern sogar König von England geworden ist. Außerdem w a r unser Wilhelm von Ypern zweifellos ein tüchtiger Mann, und er befand sich in Flandern selbst. Sogar Galbert gab trotz seiner Antipathie zu, daß, w ä r e Wilhelm direkt nach dem Tode Karls nach Brügge gekommen und hätte sich an die Spitze des Kampfes gegen die Mörder gestellt, für ihn wohl gute Aussichten bestanden hätten, neuer Graf zu werden. 1 8 9 Unser Autor fügt allerdings hinzu, daß, weil er dies nicht tat, Gott anders disponiert habe. In der Tat scheint Wilhelms Verhalten zunächst zweifellos ungeschickt gewesen zu sein, denn er suchte, wenn man unseren Quellen glauben darf, erst einmal Fühlung mit Bertulf. Allerdings hat er sehr rasch erkannt, d a ß nur eine Stellungnahme gegen die Mörder ihm überhaupt Aussicht auf den Thron bot, und so berichtet Galbert, daß, als am 11. April der prepositus in seine Hände fiel, er ihn auf grausame Weise hinrichten ließ. Dabei kann sich unser Autor trotz allem die Bemerkung nicht verkneifen, Bertulf hätte auf die Frage nach seinen Mitschuldigen noch unter Todesqualen behauptet, auch W i l h e l m habe von der Verschwörung gewußt. 190 Dies steht jedoch zu unseren übrigen Zeugnissen durchaus im Widerspruch. Besonders das Verhalten des Königs von Frankreich sowie der beiden späteren Grafen Wilhelm und Dietrich vom Elsaß unserem Wilhelm gegenüber ist ein schlagender Beweis für dessen Unschuld. Der König versuchte, nachdem er seinen Kandidaten hatte durchsetzen können, einen Ausgleich mit Wilhelm, jedoch dieser lehnte a b ; er w a r überzeugt, das beste Recht auf die Grafenwürde zu haben. 101 Aus der Gefangenschaft, welche erst in Brügge, später in Lille über ihn verhängt wurde, ist er während des Kampfes der beiden anderen Prätendenten wieder befreit worden, weil man ihn in 18!)

190

„Et quidem in consulatum sublimatus juisset Willelmus eodem tempore, si statim Brugas descendisset ad faciendam vindictam domini sui et nepotis iraditi consulis": ebenda c. 25, S. 43. Ebenda c. 57, S. 93. Die Gefangennahme Bertulfs gelang nur durch Verrat der Bürger von Ypern. „. .. rex ibat apud Winendala, locutum Willelmo Uli lprensi, adulterino comiti, pro concordia facienda inter ipsum et verum novumque comitem. At illi adulterino comiti indignum fuit supra modum inire concordiam cum vero Flandriarum consule vel aliquam pacis compositionem se facturum, quia eum despectui habebat. Rex igitur aegre ferens superbiam et contemptum adulterini Iprensis comitis ipsumque dedignatus, ad nos usque reversus est." Ebenda c. 56, S. 90.

347

Stellung und Bedeutung

diesem Kampf zu verwenden gedachte 192 - war er doch ein erfahrener Kriegsführer. 193 Als die Nachfolgefrage zu seinen Ungunsten ausging, begab er sich nach England, zu dessen Königshaus er in verwandtschaftlichen Beziehungen stand. In dem dort nach dem Tode Heinrichs I. (1135) zwischen Stephan von Blois und Mathilde, der Tochter Heinrichs, ausbrechenden Bürgerkrieg ist er als Söldnerführer Stephans hervorgetreten, wurde von diesem mit der Grafschaft Kent belehnt und kehrte nach dessen Tode und dem Siege Heinrichs II. 1155 nach Flandern zurück, wo er auf seinen Besitzungen bis 1165 lebte. 104 Dieser kurze Lebenslauf genügt, um zu zeigen, daß man zwar gegen Wilhelm vorging, weil er sich um die Grafenwürde bewarb, aber offensichtlich keinerlei Grund vorlag, ihn der Mitwisserschaft am Tode Karls zu beschuldigen. Hier sah eben Galbert die Dinge zu sehr unter dem Gesichtspunkt der persönlichen Feindschaft; allerdings gab er wohl auch der Abneigung der Bürger von Brügge gegen Wilhelm Ausdruck, die von ihm als Kriegsmann kaum eine Förderung ihrer Interessen erwarten durften und denen vielleicht auch sein Pochen auf das Erbrecht nicht paßte. Eigentümlich ist die Haltung unseres Autors einem anderen Kandidaten, nämlich dem Grafen Baldwin I V . vom Hennegau, gegenüber. D a dieser ein Urenkel Baldwins V I . von Flandern im legitimen Mannesstamm war, da sein Großvater, von Robert dem Friesen Flanderns beraubt, im Hennegau regiert hatte, war sein Anspruch auf die Grafenwürde nach dem Aussterben der legitimen Linie Roberts praktisch unbestreitbar. Aber Galbert scheint dies nicht recht wahrhaben zu wollen. E r berichtet über ihn einzig, daß Baldwin von Aalst mit einem großen Heer der Genter das Kastell Oudenarde belagerte, wohin sich unser Baldwin zurückgezogen hatte. Denn dieser sei in Flandern eingedrungen, das ihm nach dem Rechte der Verwandtschaft gehörte. 195 An diese kurze und bündige Mitteilung schließt unser Autor im weiteren Verlauf einen Exkurs über die flandrische Dynastie seit Baldwin V . an, in dem er auch die Abstammung des genannten Baldwin und seine Erbansprüche erwähnt. E r nennt ihn zwar „miles strenuus"m, findet aber kein Wort der Sympathie für ihn. Man müßte annehmen, daß er, der doch das einstige Vorgehen Roberts des Friesen verabscheut hat, jetzt mit ganzem Nachdruck für den durch dessen Verrat verdrängten Nachkommen eintreten würde. Nichts dergleichen aber geschieht; es bleibt bei den behandelten kurzen Sätzen. liw

E b e n d a c. 79, S. 122 f. ; c. 86, S. 131 ; c. 90, S. 135 ; c. 101 f., S. 146 ff.

19:1

E b e n d a c. 49, S. 79 ; vgl. auch die dortige Anm. 2.

' Vgl. die Darstellung bei de Smet, ]. / . , Notice sur Guillaume d'Ypres, in : Mémoires de l'Acade-

1!, !

mie royale d e Belgique 15/1921. ° „Eadem tempestate Baldwinus ex Alst et Razo cum gravissimo Gendensium

19

Castrum Oldenarda,

exercitu

in quo comes de Montibus se et suos introduetos premunierat,

dutn regnum Flandriarum,

obsederant ad invaden-

quod sibi jure cognationis justius pertinebat" : G a l b e r t , D e multro

Karoli c. 67, a. a. O., S. 108. * „. .. iste puer de Montibus comes et miles strenuus, jure patriam obtenturus Flandriarum,

1! !

audita traditione consulis Karoli,

pro jure hereditario

Flandriam totam" : ebenda c. 69, S. 113.

requirit patrium et hereditatem

nunc suam

348

Galbert von Brügge

Ganshof hat B a l d w i n IV. vom Hennegau als den gefährlichsten der nächsten Mitbewerber um die W ü r d e bezeichnet 197 ; jedoch ist es sehr zweifelhaft, ob dieser w i r k lich große Aussichten gehabt hat, sie zu erlangen. Deutlich ist der Hinweis Galberts auf die Feindschaft der Genter, die man bei der Beurteilung dessen stark in Betracht ziehen muß. W i e W i l h e l m w a r B a l d w i n zu Verhandlungen mit den Bürgern in keiner W e i s e geneigt. Er hielt sein Erbrecht für völlig ausreichend, und wenn er Unterstützung suchte, dann nur bei dem französischen König. Dieser w a r , w i e Ganshof meint, Kontakten nicht gänzlich abgeneigt, obwohl er den Zusammenschluß von Flandern und Hennegau nicht begrüßte und überdies bereits einen eigenen K a n d i d a ten aufgestellt hatte. A b e r w i r erinnern uns, d a ß schon in früherer Zeit der rein f e u d a l e Charakter des Regiments derer vom Hennegau zu Zustammenstößen zwischen dem von dort kommenden F e u d a l a d e l und den Flandrern geführt hatte. D a s Ansehen jener Linie, aus der B a l d w i n stammte, w a r bei diesen immer noch alles andere als günstig; besonders die flandrischen Bürger w a r e n ihr entschieden abgeneigt. So erklärt sich die zweideutige Stellungnahme Galberts, der z w a r nach seiner Theorie das Recht auf den Thron nicht bestreiten, andererseits jedoch auch nicht für ihn eintreten konnte, d a dieser den Bürgern nicht genehm w a r . W i e sehr deren Interessen seine Darstellung bestimmten, geht aus der Erzählung über das Auftauchen eines weiteren Prätendenten hervor. A m 16. M ä r z traf laut Galbert bei den Belagerern der M ö r d e r in Brügge die Gräfin Petronella von H o l l a n d ein, begleitet von ihrem kleinen Sohn und einer Schar von Vasallen. Sie hoffte, w i e Galbert weiter berichtet, die Belagerer w ü r d e n diesen ihren Sohn zum Grafen wählen, „weil ihr dies unsere Bürger und eine Zahl von Feudalherren nahegelegt hatten". 108 Es besteht kein Grund, diese Tatsache anzuzweifeln, aber erstaunlich ist sie doch. W i e auch Pirenne bemerkt, bestand für Petronella oder ihren Sohn Dietrich überhaupt kein Anspruch. Ihre einzige Verbindung mit der flandrischen Familie ging auf die Urgroßmutter dieses Dietrich VI. von H o l l a n d zurück, welche in zweiter Ehe mit Robert dem Friesen verheiratet w a r ; Dietrich aber stammte noch dazu aus einer sich von der ersten Ehe herleitenden Provenienz. Es f ä l l t also äußerst schwer, hier ein Erbfolgerecht zu konstruieren. Jedoch ist Petronella von H o l l a n d eine Persönlichkeit mit sehr weitreichenden dynastischen Beziehungen gewesen. Ihr Stiefbruder, der d a m a l i g e König im Reich Lothar von Supplinburg 1 9 0 , w a r ihr sehr wohlgesinnt und hat auch dazu beigetragen, die Grafschaft Holland erheblich zu vergrößern. Hätte er wie die Salier die Reichsmacht hinter sich gehabt und eine aktive Westpolitik betrieben, so w ä r e es ihm g e w i ß möglich gewesen, auf die Besetzung der 107

198

Gattshof, F.-L., Le Roi de France en Flandre en 1127 et 1128, i n : R e v u e historique de droit français et étranger 27/1949, S. 208 f. „. .. comitissa Hollandensis ad obsidionem accessit cum filio suo et multa multitudine cum ipsa. Sperabat enim omnes obsidionis principes electuros filium ejus in cnmitem, eo quod illud ei cives nostri et plures principum suggessissent. Habebat quippe tnagnas gratias eis comitissa, et laborabat omnium procerum animos convertere in amicitiam sui danclo et promittendo multa." Galbert, D e multro Karoli c. 34, a. a. O., S. 56.

199 Petronella, auch Gertrud genannt, stammte aus der zweiten E h e der Mutter Lothars mit dem Herzog Dietrich von Oberlothringen. V g l . Bemhardi, W., a. a. O., S. 513 und 8 1 3 ff.

349

Stellung und Bedeutung

Herrschaft eines Landes Einfluß zu gewinnen, von welchem er mit dem sogenannten Reichsflandern einen nicht unbedeutenden Teil als Lehen zu vergeben hatte. Jedoch war er auf Grund seines Gegensatzes zu den Staufen und seiner großen politischen Unfähigkeit außerstande, hier ernstlich etwas zu unternehmen. D i e Gräfin überzeugte sich sehr bald davon, daß ihr Söhnchen als ernsthafter Anwärter nicht in Frage kam, gab es aber nicht auf, in die flandrischen Verhältnisse einzugreifen. Nunmehr trat sie für einen anderen Kandidaten ein, der infolge einer zweiten E h e ihres Vaters ebenfalls ihr Stiefbruder war: Dietrich vom Elsaß. Dieser Sohn des Herzogs Dietrich von Lothringen war wie Karl von Dänemark ein Enkel Roberts des Friesen, denn seine Mutter Gertrud war dessen Tochter gewesen. D i e Gräfin von Holland hat für ihn Anhänger zu werben gesucht, indem sie den Bürgern von Gent und Brügge für den Fall, daß er Graf würde, Handelsfreiheit in ihren Gebieten zusagte - und dies war ein wirklicher Trumpf in ihrer Hand. 2 0 0 D e r Durchzugshandel durch Holland war für die flandrischen Kaufleute äußerst wichtig; außerdem besaß Petronella auch Seeland und damit die Gebiete an der Mündung von Rhein und Scheide. So versteht man gewiß das Wohlwollen Galberts für diese K a n didatur - obwohl er zugeben mußte, daß Dietrich zunächst keine Aussichten hatte, den Thron zu erlangen. Als er nämlich bei der Wahl seine Ansprüche anmeldete und sein Bote in Brügge auftrat, schob man seine Bewerbung mit der Bemerkung beiseite, der von ihm gesandte Brief sei gefälscht. 201 So waren seine Bemühungen zu diesem Augenblick noch völlig unreal und es ganz offen, wie die Nachfolgefrage entschieden würde. D i e Versuche der Prätendenten Wilhelm und Baldwin, mit Waffengewalt ihr Ziel zu erreichen, hatten zu keinem Erfolg geführt - hauptsächlich infolge des Widerstandes der Bürger; aber auch bei dem Adel schienen beide offenbar keine Resonanz gefunden zu haben. Dietrich war in Flandern völlig unbekannt und als deutscher Fürstensohn für die Flandrer ein fremder Mann. Zu jener Zeit hatte auch die Gräfin von Holland ihre eben geschilderte Initiative noch nicht unternommen. Wenn diese, wie Galbert berichtet, zunächst der Ansicht war, ihr Sohn könne gewählt werden, indem die Bürger ihren Einfluß zu seinen Gunsten geltend machten, so zeigt sich bei unserem Autor die Vorstellung von der Möglichkeit einer Nachfolge durch freie Wahl, das heißt durch einen freien Entscheid des Adels und der Bürger. Wir sehen also, daß Galbert keineswegs für das rein dynastische Erbrecht plädierte, was durch seine Schilderung der weiteren Ereignisse sehr stark unterstrichen wird. In dieser verzwickten Situation trat König Ludwig VI. von Frankreich auf den Plan. Wie erwähnt, hat Ganshof eine ebenso scharfsinnige wie eingehende Abhandlung geschrieben, die seinen Standpunkt, seine rechtlichen Kompetenzen und seine 2011

„. . . ad Brudgenses landiae

comitissa

salutem:

nostros, et frater

Quicquid

obtinebitis,

si quidem

et liberum

negotiandi

tarn ad clerum

quam ad populum

ejus Theodoricus

a predecessoribus me in comitatum prebebo

transitum,

nostris

Ebenda c. 47, S. 76 f.

consulibus

subrogatis. simulque

bert, D e multro Karoli c. 99, a. a. O., S. 144. 201

adoptivus

comes

inciniae

legitime

Mercatoribus

nostrae

Gendensium possidetis, vestris

soror mea comitissa

mandarunt

et nostrorum

et totius

Holavium

et per me

ftrmius

Flandriae

pacem

idem prebebit.

. .'"

Gal-

350

G a l b e r t v o n Brügge

politischen Absichten in der flandrischen Frage herausarbeitete." 0 2 D a s französische Königtum w a r durch die Bildung des anglo-normannischen Reiches in eine sehr bedrängte L a g e gekommen; der hierdurch erfolgte plötzliche Machtzuwachs eines der größten französischen Lehnsfürsten drohte die ohnehin schwache Position der Capetinger völlig zu erschüttern. Es k a m hinzu, d a ß Philipp I., der d a m a l s regierte, ein wenig fähiger Herrscher w a r ; erst die kluge Politik seines großen Sohnes L u d w i g V I . hat dem Königtum w i e d e r Autorität und Ansehen verschafft. L u d w i g hat es verstanden, mit H i l f e der Kirche, der Bürger und der Bauern zunächst einmal Ordnung in dem unmittelbaren Hausbesitz der Capetinger im Herzogtum Franzien zu schaffen; danach übernahm er es, wohlberaten von seinem bedeutenden Minister Suger von St. Denis, die königliche G e w a l t w i e d e r zur Geltung zu bringen. 203 Diese A u f g a b e jedoch w a r außerordentlich schwierig und bei der bescheidenen Macht L u d w i g s mit Waffengewalt nicht zu lösen. D a s mußte der König, der wohl auch selbst ein tapferer Krieger w a r , sehr schnell erfahren, und so blieb ihm nichts anderes übrig, als mit diplomatischen Mitteln, nämlich durch geschickteste Nutzung der Spannungen zwischen den einzelnen französischen Lehnsfürstentümern, seinem Recht als König und Oberlehnsherr w i e d e r Achtung zu verschaffen. D i e westeuropäische Politik drehte sich d a m a l s besonders um die Frage der Nachfolge im anglo-normannischen Reich. Heinrich I. von E n g l a n d hatte 1120 bei einem Schiffbruch seinen einzigen legitimen Sohn verloren. Er heiratete daraufhin ein J a h r später eine Tochter Herzog Gottfrieds von Löwen, der in zweiter E h e mit der bereits öfter erwähnten d e m e n t i a von Flandern vermählt w a r . D a dieser E h e aber keine Nachkommen entsprossen, w u r d e die E r b f o l g e f r a g e brennend. A u s der langen Reihe der unehelichen Kinder Heinrichs ist als zukünftiger König Englands niemand in Betracht gezogen worden. 20 ' 1 Nach dem T o d e Kaiser Heinrichs V . (1125) hatte Heinrich I. seine Tochter M a t h i l d e , welche noch verhältnismäßig jung w a r , veranlaßt, nach E n g l a n d zurückzukehren, und ihr die Nachfolge zu verschaffen gesucht. E n d e 1126 bereits l i e ß er ihr in der Normandie und in E n g l a n d huldigen. L u d w i g VI. hielt jedoch jetzt die Gelegenheit für gekommen, seinem gefährlichen Gegner einen Schlag zu versetzen und womöglich sogar die Verbindung zwischen der N o r m a n d i e und E n g l a n d zu sprengen. Es gab nämlich einen zweifellos ausgezeichnet legitimierten A n w ä r t e r auf den englischen Thron: W i l h e l m , den Sohn des älteren Bruders Heinrichs I., des von diesem aus der N o r m a n d i e verdrängten und in Gefangenschaft gehaltenen Robert. Eben das Wissen um diese Anwartschaft hat Heinrich veranlaßt, so rasch als möglich die anglo-normannische Nachfolge zu ordnen. Der 1101 geborene W i l h e l m , der später den Beinamen Clito erhielt, hatte für eine lange Zeit seine Zuflucht in Flandern gefunden, mit dessen Dynastie er durch seine Großmutter M a t h i l d e , die Tochter B a l d w i n s V., eng verbunden w a r . B a l d w i n VII. hat ihn in seinen Ansprüchen entschieden unterstützt, und davor bereits hatte auch 202

Ganshof,

203

V g l . CarteUieri,

F.-L., L e Roi, a. a. O . (vgl. oben A n m . 1 9 7 ) , S. 2 0 6 ff.

20/i

E b e n d a , S. 1 8 0 . CarteUieri verhindert.

A., a. a. O., S. 1 4 6 ff. ist der Ansicht, die K i r c h e h a b e die N a c h f o l g e der unehelichen S ö h n e

351

Stellung und Bedeutung

Ludwig VI. ihn gegen Heinrich I. ausgespielt, um dem englischen König in der Normandie Schwierigkeiten zu machen. Nach dem Tode Baldwins hatte Karl von Flandern dann eine andere Politik gegenüber England eingeschlagen; er wechselte von der Feindschaft zu einer gewissen Neutralität über. Daher war es jetzt allein der französische König, welcher sich Wilhelms mit größter Energie annahm. 1126 verheiratete er ihn mit einer Nichte seiner Gemahlin und belehnte ihn mit einigen der Normandie benachbarten Grenzgebieten. Wilhelm galt jetzt durchaus als ein Mitglied des französischen Königshauses. Es ist sicher, daß Ludwig von Anfang an entschlossen war, ihn auch mit Flandern zu belehnen. Wilhelms Ansprüche auf dieses Gebiet waren zwar nicht die besten, aber immerhin war er ein Urenkel Baldwins V. Suger von St. Denis erklärte in seinem Werk kurz und bündig, daß Wilhelm die Grafschraft kraft Erbrechts erhalten habe. 200 Hier spiegelt sich selbstverständlich der Standpunkt des französischen Königs ; sowohl Baldwin vom Hennegau wie Dietrich vom Elsaß dürften in puncto Verwandtschaft Flandern mit mehr Recht beansprucht haben. Bei Hermann von Tournai findet sich die sonst nicht bezeugte Behauptung, daß flandrische Große einem jüngeren Sohn Ludwigs VI. selbst die Grafenwürde angeboten hätten. Hierdurch aber wäre es, da zu jenem Zeitpunkt die männlichen Nachkommen des französischen Königs noch minderjährig waren, praktisch zu einer unmittelbaren Herrschaft Ludwigs über Flandern gekommen - ein Wagnis, dessen üblen Ausgang er sich leicht ausrechnen konnte: sein fehlender Erbanspruch hätte alle seine Gegner auf den Plan gerufen. Wenn diese Offerte überhaupt auf Wahrheit beruht, war es daher selbstverständlich, daß der König sie ablehnte. 21 ' 6

Die Wahlverhandlung in A r r a s Nachdem er von der Ermordung Karls gehört hatte, ist Ludwig VI. offenbar sofort nach Flandern aufgebrochen. Über die Tragweite des Geschehens war er sich völlig im klaren; daß er Wilhelm von der Normandie dort einsetzen wollte, stand fest. Aber er mußte sehr vorsichtig operieren, denn er befand sich nicht nur im Kampf mit Heinrich I., sondern auch mit dem Grafen Theobald von der Champagne. Mit W a f fengewalt etwas zu erreichen, war für ihn aussichtslos ; er konnte sich auch nicht allzu weit von seinem Hausbesitz entfernen, da er einen Angriff seiner Gegner befürchten mußte. So hat er sich mit einem kleinen militärischen Gefolge, jedoch mit einer größeren Anzahl seiner Vasallen nach Arras begeben, wo er etwa am 13. März eintraf. 20 ' Hier hatte er einen gewissen Stützpunkt, da der Bischof von Arras, der Herr 20d

„Comitem

Flandrie

Guilelmum

Normannum,

äd eum enim jure consanguìnìtatìs

spectabat

filium Roberti

lerosolimilani

- constituit."

Suger, Vita Ludowici Grossi c. 30,

Normannie

comitis

-

a. a. O., S. 2 4 6 . 20(1

Louis V I le Gros. Annales de sa vie et de son règne ( 1 0 8 1 - 1 1 3 7 ) . A v e c une introduction historique par Luchaire, A., Paris 1 8 9 0 , nr. 379, S. 1 7 5 fi. ; vgl. die Vorrede S. XCVIII.

207

Ganshof, F.-L., Le Roi, a. a. O., S. 207.

Galbert von Brügge

352

in d e r A l t s t a d t w a r , der königlichen G e w a l t u n t e r s t a n d . D i e g r ö ß e r e M a c h t a l l e r d i n g s übte der A b t von St. V a a s t aus, dessen K l o s t e r in d e r H a n d des G r a f e n v o n F l a n dern w a r . W e i t e r hinein ins L a n d w a g t e sich L u d w i g V I . nicht, da er ü b e r eine zu geringe M a c h t v e r f ü g t e , als d a ß er in die P r ä t e n d e n t e n k ä m p f e mit G e w a l t h ä t t e eingreifen k ö n n e n . M i t R e c h t hat m a n seinem klugen V o r g e h e n Achtung gezollt,

der

angeblich eine S t e l l u n g über den P a r t e i e n einnahm. In einem M a n d a t nämlich, das a m 2 0 . M ä r z in B r ü g g e eintraf, f o r d e r t e er die d o r t z u s a m m e n g e k o m m e n e n

Feudal-

herren auf, sich zur G r a f e n w a h l nach A r r a s zu begeben. 2 0 S D i e Versammlung,

welche

daraufhin

zustandekam,

ist o h n e F r a g e

eine

curia

regis g e w e s e n : D e r K ö n i g hat hier als oberster L e h n s h e r r , a b e r auch in seiner E i g e n schaft als

rex

die E n t s c h e i d u n g ü b e r

H a n d g e n o m m e n . N e b e n den - G r o ß e als a n w e s e n d e r w ä h n t hof hat

gezeigt, d a ß

die N e u b e s e t z u n g

flandrischen

des G r a f e n s t u h l s

F e u d a l h e r r e n w e r d e n auch

in

eben diejenigen, d i e den K ö n i g b e g l e i t e t e n .

Gans-

d a m i t die n o r m a l e F o r m für eine d e r a r t i g e B e l e h n u n g

geben war. 2 0 9 A l l e r d i n g s w a r

die

französische

der A k t insofern nicht n o r m a l , als der K ö n i g

gevon

F r a n k r e i c h hier einen neuen Rechtszustand schaffen w o l l t e und dazu unter a n d e r e m sein K ö n i g s r e c h t v e r w e n d e t e . L u d w i g h a t alles versucht, um jetzt seine Stellung als K ö n i g über

juristische

F l a n d e r n auszubauen, w e n n er auch die u n m i t t e l b a r e

gierung, w i e eben e r w ä h n t , nicht annahm. 2 1 0 D a ß er bei der G r a f e n w a h l v o n die S z e n e beherrschte, ist nicht zu bestreiten.

Seine Akteure waren

Re1127

die

erwähnten

französischen und flandrischen G r o ß e n , w e l c h e d i e v o n ihm gewünschte

Kandida-

tur W i l h e l m s v o n der N o r m a n d i e o h n e w e i t e r e s wie

Ganshof

die

daß

der

K ö n i g eine e i n s t i m m i g e A n n a h m e seines K a n d i d a t e n b e g e h r t e und erreichte.

Die

der

der

Grafenmörder

entscheidende zu

Grund

überlassen,

sei

das

Versprechen

h i e r f ü r wirklich, ihnen

Güter

meint,

annahmen. O b

dahingestellt.

war,

Sicher

ist,

flandrischen B ü r g e r fühlten sich, w i e G a l b e r t später ausführte, v o n seinem V o r g e h e n regelrecht überrumpelt. 2 1 1

D i e Haltung der Bürger W i e v e r h i e l t e n sich unser A u t o r und die B ü r g e r nun zu diesem A k t ?

Ganshof

schrieb, d a ß sie eine im G r u n d e r a d i k a l e H a l t u n g einnahmen und gegenüber

dem

21,3

Galbert, De multro Karoli c. 47, a. a. O., S. 75 f.; Ganshof, F.-L., Le Roi, a. a. O., S. 208. Ganshof hat in: Trois mandements perdus du Roi de France Louis VI. intéressant la Flandre, in: Handelingen van het Genootschap „Société d'Emulation de Brügge" 87/1950, S. 119 f., den Text des Mandats in scharfsinniger Weise rekonstruiert. Wie sich aus Galbert, De multro Karoli c. 34, a. a. O., S. 56 f., ergibt, hatte man in Brügge bereits am 16. März von der Ankunft des Königs Kenntnis.

2,,!l

Ganshof, F.-L., Le Roi, a. a. O., S. 211. Vgl. ebenda, S. 227. Galbert, De multro Karoli c. 106, a . a . O . , S. 153. Sproemberg, S. 50 und 72.

210 211

H., Das Erwachen, a . a . O . ,

353

Stellung und Bedeutung

positiven Recht, das der K ö n i g für sich in A n s p r u c h nehmen k o n n t e , Rechtsansprüche ganz a n d e r e r A r t erhoben. 2 1 2 N a c h d e m die W a h l in A r r a s v o l l z o g e n w a r , s a n d t e L u d w i g V I . ein neues M a n d a t an d i e

flandrischen

B ü r g e r , das nach d e r A n g a b e G a l b e r t s den B r ü g g e r n a m 3 0 . M ä r z

v o r g e t r a g e n w u r d e . E s enthielt d i e M e l d u n g , die G r o ß e n F r a n k r e i c h s und F l a n d e r n s hätten auf V o r s c h l a g und R a t des K ö n i g s W i l h e l m zum G r a f e n g e w ä h l t ; a m S c h l u ß stand der B e f e h l , den neuen H e r r n a n z u e r k e n n e n . 2 ' 3 D a s ist e i n d e u t i g : den B ü r g e r n w u r d e a u f e r l e g t , eine endgültige E n t s c h e i d u n g zu respektieren.

Allerdings

denn er schloß dem

Zoll

oder dem

Anerkennung

versuchte

sein Schreiben

Landzins.214

der W a h l

durch

scharf unterscheiden zwischen des

neuen

über

Grafen

die A u f n a h m e

der Aber

Verbindlichkeit

dem R e c h t s a k t , des

Grafen,

zu

der nach welche

hatten.

Ansicht

war,

und

den

zu erreichen

des

lassen,

wie

nur V e r s p r e c h u n g e n ,

Voraussetzung

abgeschlossen

walten

von Z u g e s t ä n d n i s s e n ,

dies w a r e n

d i e B ü r g e r zur

unwiderruflich (receptio)

König,

mit dem Angebot

etwa

die

die

Man

muß

Königs

und

Verhandlungen man

sich

nun-

m e h r b e m ü h t e . Auch sie w u r d e , w i e k l a r ersichtlich ist, v o n v o r n h e r e i n unter k ö n i g lichen B e f e h l

gestellt;

für

ein M i t b e s t i m m u n g s r e c h t

der

Bürger

blieb

nicht

viel

übrig. 2 1 5 B e t r a c h t e n w i r nun den B e r i c h t G a l b e r t s , so erregt ein b e r ü h m t e s K a p i t e l unsere A u f m e r k s a m k e i t , um dessen I n t e r p r e t a t i o n m a n sich bereits seit l a n g e m b e m ü h t , d a sie besonders wichtig ist. A m 2 7 . M ä r z nämlich riefen nach A u s k u n f t unseres A u t o r s die B ü r g e r von B r ü g g e eine V e r s a m m l u n g a u f den sogenannten Z a n d b e r g , den F r e i t a g s m a r k t , ein, zu der sie auch F l a n d r e r aus d e r U m g e b u n g e i n l u d e n ;

hier

ver-

schworen sie sich auf d i e heiligen R e l i q u i e n . G a n s h o f meinte, dies sei bereits unter dem u n m i t t e l b a r e n E i n d r u c k d e r V e r s a m m l u n g in A r r a s g e s c h e h e n ; auch w ä r e die Sorge vor Vergeltungsmaßnahmen

des englischen K ö n i g s ein A n l a ß d a f ü r gewesen,

w i e W a l t h e r v o n T h e r o u a n n e berichtet. B e i der Untersuchung des kleinen, a b e r sehr s o r g f ä l t i g stilisierten c. 5 1 , das w i e d e r die H a n d des geschulten J u r i s t e n v e r r ä t , h a b e n w i r dem P e r s o n e n k r e i s , d e r den E i d schwur leistete, sowie der F o r m u l i e r u n g und d e m I n h a l t des E i d e s unser m e r k z u ' w i d m e n . G a n s h o f hat betreffs des ersteren v o n „ r e p r ä s e n t a t i v e n

Augen-

Elementen"

aus der K a s t e l l a n i e v o n B r ü g g e gesprochen, w o r u n t e r er R i t t e r , f r e i e B a u e r n

und

B ü r g e r von A a r d e n b u r g v e r s t a n d . J e d o c h s t i m m t diese A u f z ä h l u n g nicht ganz mit Galberts „judex"

Text

et meliores"

212

zusammen.

Der

erste,

der den

aus B r ü g g e , der zweite ein „scabinus";

Ganshof,

Schwur

leistete, w a r

hiernach

insgesamt w i r d von „omnes

ein

fortiores

gesprochen. B e r e i t s P i r e n n e hat die S c h w ö r e n d e n sämtlich als „ S c h ö f f e n "

F.-L., Lc Roi, a. a. O., S. 222.

213 Yg[ di e Rekonstruktion bei dems., Trois mandements, a . a . O . , S. 125 f. Galbert, De multro Karoli c. 52, a. a. O., S. 83: „,Precipio ergo et volo ac consulo absque dolo vobis, suburbanis simul omnibus qui assistitis, ut suscipiatis noviter electum comitem Willelmum et a rege comitatu dortatum in dominum et consulem vobis."* 2 K Ebenda c. 52, S. 83. 21ü Hierüber gehen die Auffassungen von Ganshof und mir sehr auseinander.

354

Galbert von Brügge

charakterisiert 2 "', und unzweifelhaft hat es sich hier um dem Bürgertum nahestehende Kreise und deren Vertreter gehandelt. Der Wortlaut des Schwurs gleicht nach Pirenne auffällig demjenigen des später von den flandrischen Grafen bei ihrem Regierungsantritt geleisteten Eides. 2 1 7 E r ist juristisch äußerst sorgfältig formuliert, und Galbert sagt, daß die Zahl derer, die ihn sprachen, sehr groß gewesen ist. Daher sieht man allgemein und mit vollem Recht in dem ganzen Akt eine „con)uratio", welche charakteristisch ist für die Begründung einer Kommune. D a ß diese sich hier spontan bildet, daß der Schwurverband offiziell einberufen wird, und nicht nur für Brügge, sondern auch für weitere Teile Nordflanderns, daß er schließlich offenbar geleitet wird von den Schöffen und den „meliores", die uns bereits wiederholt begegnet sind, zeigt deutlich, wie fortgeschritten die Organisation des Bürgertums zu diesem Zeitpunkt in Flandern schon gewesen ist.

In dem Eid heißt es : „furo me talem electurum comitem .. . qui utilitati

cotnmuni-

ter patriae velit et possit prodesse."2m Zweck dieses Schwurverbandes ist also die Grafenwahl gewesen, und unzweideutig wird bei Galbert ausgesprochen, daß es darum ging, Wähler zu bestimmen. 219 Kurz und klar: die Versammlung proklamierte den Anspruch auf das Wahlrecht oder wenigstens das Mitwahlrecht der Bürger. Dies ist ohne Zweifel ein revolutionärer Akt, denn einen solchen Anspruch hatte es bis dahin in Flandern niemals gegeben. Vor der Schwere dieser Erkenntnis verschwindet die Frage, ob man am 27. März von dem Ergebnis der Wahl in Arras und der Belehnung des Grafen Wilhelm durch den König schon Kunde hatte. Was man allerdings sagen muß, ist, daß der Beschluß der Bürger, als Wähler aufzutreten, durch jene Akte, welche mit dem genannten Mandat am 30. März in Brügge mitgeteilt wurden, gegenstandslos geworden war. 220 D i e Bürger waren allerdings nicht geneigt, das, was ihnen dieses Mandat auferlegte, ohne weiteres hinzunehmen. Sie forderten darüber eine besondere Beratung, und sie haben, wie Galbert im folgenden erzählt, mit ihren .Schwurgenossen, aber auch mit den Gentern darüber verhandelt, ob sie der Wahl zustimmen oder sich ihr widersetzen sollten. Für die Besprechungen mit den Gentern wurden 20 Ritter und 12 seniores aus den Reihen der Bürger bestimmt; sie sollten Absprachen auf Grund dessen treffen, daß sich die flandrischen Bürger verpflichtet hatten, in der Wahlfrage gemeinsam vorzugehen. D e r König zog mit dem Grafen Wilhelm den Bürgern entgegen, um zu erreichen, daß dieser „secundum preceptum suum et electionem primorum terrae" von ihnen aufgenommen würde. Wieder ist Iiier nur von der receptio die Rede - ebenso wie zu unserem Erstaunen auch in Galberts Worten über die Verein-

210

Pirenne,

217

Ebenda, Anm. 1.

218

Ebenda c. 51, S. 80 f.

2111

H., in: Galbert, D e multro Karoli, a. a. O., S. 80, Anm. 6, und S. 81, Anm. 13.

Dies noch einmal gegen Ganshof,

F.-L.,

Les origines du concept de souveraineté nationale en

Flandre, in: Revue d histoire du droit 18/1950, S. 141, Anm. 2, der meine Ausführungen: Das Erwachen, a. a. O. (siehe oben Anm. 91), S. 51, beanstandet hatte. 220

Anders Ganshof,

F.-L.,

Les origines, a. a. O., S. 142, Anm. 2.

Stellung und Bedeutung

355

barung zwischen den Brüggern und den Gentern. Diese nämlich faßten, wie gesagt wird, einen Beschluß „de receptione novi electi, ut susciperent cum in consulem et terrae totius advocatum",221 Dies ist eine staatsrechtlich ganz klare Ausdrucksweise, welche jedoch im folgenden Kapitel ins Gegenteil verkehrt zu werden scheint, wenn es heißt: „Cives nostri et Gendenses.. . elegerunt Wiüelmiun in comitem sibi et patriae". Gansnof legte nun auf das „eligere" dieses Satzes größten Wert und erklärte, daß hier ein wirklicher Wahlakt vollzogen worden sei.222 Um Klarheit zu erhalten, ist es von entscheidender Bedeutung, ob man bei Galbert eine Unterscheidung zwischen receptio und electio feststellen kann. Unser Autor hat beide Ausdrücke als gleichwertig behandelt. Wenn er im c. 52 sagt, daß die Bürger sich die Antwort „de receptione seu electione" vorbehalten hätten 223 , ist jeder Unterschied zwischen dem einen und dem anderen Vorgang verwischt. Nun ist es viel in der Forschung erörtert worden, daß etwa bei der deutschen Königswahl die Anerkennnung ein staatsrechtlicher Akt ist, welcher innerhalb der Wahlhandlung liegt; man hat deshalb von ihr als von einer fortgesetzten Wahl gesprochen.22'' Indessen gibt es bei dieser Wahl keine Oberinstanz, und daher sind hier die Verhältnisse völlig anders. Solange der Kreis der Wahlberechtigten nicht feststand, war es selbstverständlich wichtig, daß der neugewählte König die Zustimmung auch der bei der Wahl nicht Anwesenden erlangte - zumindest insoweit sie eine wesentliche Macht repräsentierten. Bei jener flandrischen Grafenwahl dagegen war, wie Galbert selbst mitgeteilt hatte, die Lage k l a r : der König hatte die Wahl bestimmt und den Grafen investiert; die Bürger konnten zwar über die Annahme des neuen Herrn verhandeln, damit aber an der Endgültigkeit des Wahlaktes selbst nichts mehr ändern. Die Schwankungen in Galberts Auffassung liegen einfach darin begründet, daß er zwei Rechtsauffassungen wiedergab, deren grundsätzlichen Unterschied er aber nicht anerkennen wollte. Die Bürger waren der Ansicht, sie könnten ein Mitbestimmungsrecht bei der Wahl geltend machen; der König und der Landesherr dagegen dachten gar nicht daran, auf diese revolutionäre Forderung einzugehen. Das Taktieren unseres Autors in dieser Hinsicht zeigt sich im folgenden recht deutlich. So brachte er das den Bürgern am 6. April 1127 durch den Grafen und König Ludwig gewährte Kommuneprivileg nicht im Wortlaut, sondern gab nur eine Analyse dieses wichtigen Dokuments. Von hohem Interesse ist, daß er es als eine „chartula conventionis" bezeichnete. Es ist nämlich wahrscheinlich, daß es sich hier um ein Chirograph, d. h. um eine zweiseitige Urkunde gleich der für St. Omer vom 14. April 1127 handelte, welche noch in beiden Fassungen im Original erhalten ist. Galbert nun faßte die Zweiseitigkeit in origineller Weise auf: als Vertrag zwischen zwei Rechtsparteien, der beide Teile binden sollte; die Urkunde des Landesherrn war damit für ihn kein reiner Gnadenakt. Er sagt dann weiter, sie sei gegeben worden „pro pretio

221

Galbert, D e multro Karoli c. 53, a. a. O., S. 84.

271

Ganshof,

223

Galbert, D e multro Karoli c. 52, a. a. O., S. 83.

22/'

Vgl. Mitteis,

F.-L., Les origines, a. a. O., S. 1 4 2 . H., Die deutsche Königswahl. Ihre Rechtsgrundlagen bis zur Goldenen Bulle,

2. Aufl., Brünn/München/Wien 1 9 4 4 , S. 47 ff., besonders S. 55.

356

G a l b e r t von Brügge

electionis et susceptionis personae novi consulis", schob also hier den Begriff der Wahl in sein Referat des Textes ein. 22j Sehen wir uns daraufhin aber die Einleitung der Urkunde von St. Omer an, so lautet die entsprechende Stelle: „. . . petitioni burgensium Sancti Audomari contraire nolens, pro eo tnaxime quia meam de consulatu Flandrie petitionem libenti animo receperunt..." Auch hier wird zwar der Bitte der Bürger die Bitte des neuen Grafen gegenübergestellt, was ganz gewiß ein sehr weites Entgegenkommen für die in der Kommune vereinigte Bürgerschaft bedeutete. Aber der Text ist ganz klar darin, daß der Graf allein um die receptio gebeten hatte; von einer Wahl findet sich kein Wort. Außerdem hat die Urkunde die Form eines Hoheitsaktes, nicht eines gegenseitigen Vertrages; dies kommt unter anderem darin zum Ausdruck, daß als Sicherung ihres Inhalts ein Eid des Grafen sowie des Königs von Frankreich und der Barone dienen sollte, die Bürger jedoch nur als Objekt, als die Beschenkten erschienen; als Zeugen traten sie nicht auf, und sie bekräftigten auch die Urkunde nicht. Hier handelte es sich damit um alles andere als um ein gegenseitiges Abkommen. Die Bewilligungen für die Bewohner von Brügge werden über das Privileg von St. Omer kaum hinausgegangen sein; Galbert aber machte aus einer Übereinkunft einen zweiseitigen Vertrag und sprach von der electio statt von der receptio. Es wäre trotzdem unrichtig, ihn deswegen einen Fälscher oder Lügner zu nennen; unterliegt es doch keinem Zweifel, daß die Bürger die Vorgänge so verstanden haben wollten, wie er sie darstellte. Nicht ohne Grund hat er sicher den Inhalt des Privilegs nur umschrieben und nicht dessen Wortlaut gebracht, denn dieser hätte sich zu der Auffassung der Bürger in ziemlichem Widerspruch befunden. Ganshof sagt über diese Auffassung: „Die Bürger der Städte und eine Anzahl der Ritter Nordflanderns waren der Ansicht, daß sie ebenso wie der König von Frankreich und die großen Barone Flanderns das Recht hätten, den Grafen zu wählen, wenn der Grafenstuhl unbesetzt war, und ihre Zustimmung an genau bestimmte Bedingungen zu binden. Das zielt darauf hin, einen wichtigen Teil der Souveränität in Anspruch zu nehmen. Aber die Städte und Ritter sind weit entfernt von einer einfachen Aufstellung ihrer Rechte; sie gehen nach gemeinsamer Beratung vor, und nach Annahme ihrer Bedingungen durch den Landesherrn schreiten sie zur Wahl desselben. Sie haben also ihre Forderung in die Tat umgesetzt."228 Das ist vollkommen richtig, und diese Forderungen, von den Kommunen erhoben, sind, was auch Ganshof anerkennt, revolutionär. Nur eben blieben sie, was die Praxis anbelangte, zunächst noch Programm; wenn Ganshof von einem Umsetzen in die Tat spricht, so hat er nicht richtig gesehen. Galbert hat sich also absolut mit den Forderungen der Bürger identifiziert. Und auf Grund der bisherigen Untersuchungen wage ich es zu sagen: er hat diesen Forderungen erst den rechten juristischen Ausdruck verliehen. Wer anders könnte auch in diesem Augenblick der Rechtsberater der Bürger gewesen sein? Das Kapitel von St. Donatian war seiner führenden Männer beraubt, die Mitglieder des Grafenhofes völlig zerstreut. Gewiß fanden sich allmählich bei den Belagerern größere Feudal225

Galbert, D e multro K a r o l i c. 5 5 , a. a. O., S. 87.

220

Ganshof,

F.-L.,

Les origines, a. a. O., S. 1 4 3 f.

S t e l l u n g und

357

Bedeutung

herren ein; aber weder ist anzunehmen, daß diese über derartige Rechtskenntnisse verfügten, noch daß sie sich in jenen Tagen für die Sachc der Bürger so eingesetzt hätten. Galbert aber besaß die Kenntnisse und ebenso die nötige Geschäftserfahrung. Warum sollte er sie nicht für diesen Zweck zur Verfügung gestellt haben?

Der Aufstand der Bürger Wir haben großen Nachdruck auf die Feststellung gelegt, daß die Erzählung Galberts uns schon an ihrem Beginn erkennen läßt, wie sich in bezug auf das Regiment in Flandern zwei Rechtsanschauungen schroff gegenüberstanden: die des Landesherrn und die der Kommune. Die Regierung Wilhelms bestätigte dann auch die Unversöhnlichkeit der Interessen des neuen Grafen und der Bürger Flanderns. Ludwig VI. von Frankreich hatte mit der Einsetzung Wilhelms einen Überraschungserfolg errungen - dank seiner überaus geschickten Diplomatie und der Ausnutzung einer günstigen politischen Situation. Aber er hatte damit auch die Lage in Westeuropa verändert, und es war selbstverständlich, daß diese Verschiebung des politischen Gleichgewichts von seinen Gegnern keineswegs hingenommen wurde. Der englische König hatte, wie bemerkt, sich bereit gezeigt, jeden Prätendenten, der gegen Wilhelm auftrat, zu unterstützen; nach dessen Einsetzung verdoppelte er seine Anstrengungen, ihn aus Flandern zu vertreiben. W a r es doch mit Sicherheit anzunehmen, daß Wilhelm, sobald er seine Stellung dort gefestigt hatte, sich auf die Normandie stürzen würde. Zu diesem Zwecke jedoch bedurfte er der Unterstützung der flandrischen Vasallen, aber auch des Geldes der Bürger. Daraus erklären sich die sofort einsetzenden Spannungen zwischen dem neuen Landesherrn und seinen Untertanen. Nach der Darstellung Galberts begannen die Differenzen Wilhelms mit den Bürgern zunächst auf dem Gebiet der Gerichtshoheit. Bereits am 11. April, unmittelbar nach der Verleihung der selbständigen Gerichtsbarkeit an Brügge, entstand dort der erste Konflikt, weil der neuernannte Kastellan einen Bürger der Stadt festnehmen ließ und vor das Gericht des Grafen zog. Die Bürger von Brügge eilten sofort zu den Waffen, drangen in das Haus des Grafen ein und vergriffen sich an dem Kastellan. Sic forderten, daß der Gefangene ihrem eigenen Gericht überantwortet werden sollte. 227 Hier konnte durch Nachgiebigkeit eine Beilegung erreicht werden; aber schon wenige Monate später, unter dem 1. August 1127, meldete Galbert ein ähnliches, aber ernsteres Vorkommnis. Der Graf hatte in Lille während des Wochenmarktes einen seiner Unfreien auf dem Markte ergreifen lassen, um ihn zu bestrafen; die Bürger von Lille griffen daraufhin ebenfalls zu den Waffen und trieben ihn und sein Gefolge aus der Stadt. Damit war der Marktfrieden empfindlich gestört worden. 228 Am 17. September 1127 kam es zu einem dritten Zusammenstoß: Wilhelm 22'

„Clamaverunt malefactum

228

enim se nunquam corrigere."

pati

dominium

cuiuspiam,

imo

in sua potestate

staret

hoc

E b e n d a c. 9 3 , S. 1 3 7 ; v g l . auch d i e d o r t i g e A n m . 3 . H e r m a n n v o n T o u r n a i , L i b e r d e r e s t a u r a t i o n e c. 3 6 , a. a. O . , S. 2 8 9 .

24

velle

G a l b e r t , D e m u l t r o K a r o l i c. 5 9 , a. a. O . , S. 9 6 .

Sproemberg

358

G a l b e r t v o n Brügge

ließ in Brügge Verhaftungen von Personen vornehmen, die er der Teilnahme an der Ermordung des Grafen K a r l beschuldigte; diese aber erklärten, sie dürften nur vor dem Schöffengericht von Brügge gerichtet werden. 2 2 0 Der entschlossene W i d e r s t a n d der Bürger der Kommunen zeigt deren Ansicht, die Bestrafung der Verbrechen innerhalb der Stadt sei Angelegenheit des Stadtgerichts; man fühlte sich also weitgehend aus der Gerichtsgewalt des Grafen ausgeschieden. Dieser hat sich einer solchen Meinung mit allen Mitteln widersetzt; durch hohe Geldstrafen suchte er den W i l l e n der Bürger zu brechen. Bei der Verfolgung der Mitschuldigen am T o d e K a r l s wollte er seine Gerichtsbarkeit durch keinerlei Eingreifen der Städte gehindert wissen. Dies entsprach dem bisherigen Rechtszustand in Flandern, und ohne Frage haben die Bürger versucht, die ihnen zugestandenen Rechte außerordentlich weit auszulegen. A l l e r dings ist auch anzunehmen, d a ß die Feudalbeamten, vor a l l e m die Kastellane, welche die Beschränkung ihrer bisherigen Macht verständlicherweise äußerst ungern sahen, bei der Anwendung des landesherrlichen Rechts schroff und gewaltsam vorgegangen sind. Es ist nicht schwer einzusehen, d a ß daneben ein erheblicher Teil des A d e l s mit den begüterten Baronen an der Spitze die Organisation der Bürger in den großen Kommunen und ihre Privilegierung mit scheelen Augen ansahen. Andererseits waren sich gerade diese organisierten Bürger ihrer Macht voll bewußt g e w o r d e n ; d a ß sie sich auf jede vermutete Verletzung ihrer Rechte hin stets sofort in W a f f e n versammelten, zeigt ihr stolzes Selbstbewußtsein. D e r Streit griff schließlich auch auf Gebiete über, in denen die juristische Situation des Grafen wenig günstig w a r . W i e Galbert berichtet, beschwerten sich die Feudalherren darüber, d a ß W i l h e l m den Bürgern von Brügge den Zoll erlassen hatte. 230 Sie erklärten, er habe kein Recht dazu, ohne ihre Zustimmung eine solche Befreiung vorzunehmen; der Graf jedoch vertrat die Ansicht, er könne eine solche M a ß n a h m e nach seinem Ermessen entscheiden. Er hielt sich daher auch für berechtigt, im September 1127 die Zollbefreiung w i e d e r aufzuheben. Pirenne wertete diesen Schritt als eine f e u d a l e Reaktion 2 3 1 , und er hat d a m i t zweifellos recht. Jedoch ist, w a s die juristische Seite anbelangt, dazu zu sagen, d a ß W i l helm der Meinung w a r , er könne einen Teil der Zugeständnisse deshalb zurücknehmen, weil er sich bei ihrer V e r g a b e im Irrtum über die w a h r e Rechtslage befunden habe. Hier tritt uns eben die Auffassung entgegen, d a ß dieses und ähnliche Privilegien formaljuristisch einseitige Hoheitsakte des Landesherrn waren, die umzuändern oder auch aufzuheben ihm ohne weiteres zukäme. Auf der anderen Seite aber operierte die Kommune jetzt mit den von Galbert vorgetragenen Argumenten: d a jene 220

„.. . summopere taret.

tarnen

rogabant

consulem,

ut secundum

Judicium

scabinorum

. ." G a l b e r t , D e multro K a r o l i c. 8 8 , a. a. O . , S. 1 3 3 . Ganshof,

F.-L.,

terrae

ipsos

trac-

L e droit urbain en

F l a n d r e au début de la preraiere phase de son histoire ( 1 1 2 7 ) , i n : R e v u e d'histoire du d r o i t 1 9 / 1 9 5 1 , S. 3 9 7 , A n m . 3 0 . 230

G a l b e r t , D e multro K a r o l i c. 8 8 , a. a. O . , S. 1 3 2 ; vgl. auch die dortige A n m . 5. G e g e n die A u s führungen Pirennes

in dieser N o t e meinte Ganshof,

F.-L.,

L e d r o i t urbain, a. a. O., S. 4 0 7 ,

A n m . 3 5 , der Z o l l sei nur den Bürgern selbst, nicht a b e r den in Brügge Handel treibenden A u s w ä r t i g e n erlassen w o r d e n . 231

Pirenne,

H„ Histoire de Belgique, B d . 1, 5. A u f l . , a. a. O., S. 2 0 5 .

359

Stellung und Bedeutung

Bewilligungen ein zweiseitiger Vertrag seien, mache der Angriff einer Partei auf eine Bestimmung diesen als Ganzes nichtig. Folglich seien die Wahl und Anerkennung Wilhelms durch die Bürger hinfällig geworden, da dieser das Privileg eklatant verletzt habe. Nicht lange darauf begann der organisierte Aufstand. Der Darstellung Galberts zufolge erhoben sich am 3. Februar 1128, empört über die Gewalttaten ihres Kastellans, die Bürger von St. Omer. Sie nahmen Arnold, den Neffen des Grafen Karl, in der Stadt auf, leisteten ihm den Treueeid und versuchten, ihn als Prätendenten für die Grafenwürde aufzustellen. Doch war ihnen kein Erfolg beschieden; sie mußten sich schließlich mit Wilhelm um die außerordentlich große Summe von 600 Mark Silber vergleichen. Diese finanzielle Buße jedoch vermehrte, wie unser Autor bemerkt, ihren Haß auf den Grafen außerordentlich.2'®2 Erschien diese Revolte noch als Einzelaktion, so trugen die Ereignisse in Gent bereits anderen Charakter. Hier erhoben sich die Bürger am 16. Februar gegen ihren Burggrafen, weil dieser sich Rechtsverletzungen hatte zuschulden kommen lassen. Der Burggraf begab sich zu Wilhelm, um diesen zu Verhandlungen mit den Bürgern von Gent zu bewegen. Der Graf aber wollte, kaum daß er sich in der Stadt befand, den Burggrafen mit Gewalt wieder einsetzen. Daraufhin setzten sich die Bürger mit Daniel von Termonde und Iwan von Aalst, den mächtigsten Feudalherren Reichsflanderns, welche zu Gent immer in guten Beziehungen standen, in Verbindung und zogen den Grafen zur Rechenschaft. W i e Galbert berichtet, wurde Iwan, nachdem die Bürger in Gent zusammengerufen worden waren, zu ihrem Sprecher ernannt und erhob Anklage gegen Wilhelm. 233 Es dürfte opportun sein, sich über Iwan und Daniel ein klares Bild zu verschaffen. Iwan und sein Bruder Baldwin besaßen die Herrschaft Aalst, welche den Hauptteil Reichsflanderns ausmachte, Daniel die nahe dieser gelegene Herrschaft Termonde. Es ist so gut wie sicher, daß die drei nahe Verwandte waren. 23 ' 1 Bei Galbert treten Iwan wie Daniel sehr früh als Gegner der Mörder Karls in Erscheinung; sie kamen mit ihren Vasallen bereits am 10. und 11. März nach Brügge. 2 3 ' Über die frühere Zeit geben uns einige Urkunden Aufschluß. Iwan erscheint zuerst in einem Dokument Baldwins VII. aus dem Jahre 1127, und zwar zusammen mit seinem Bruder Baldwin 23 "; die Ersterwähnung Daniels weist ein 1122 ausgefertigtes Stück Karls auf, in dem auch Baldwin und Iwan wieder als Zeugen erscheinen. 237 Eine Urkunde von 1123 für St. Peter in Loo, die die Unterschrift eines Danihele de Thenremonde trägt, 232

Galbert, D e multro K a r o l i c. 9 4 , a. a. O., S. 1 3 7 f. mit den A n m m . 2 und 3 auf S. 1 3 8 .

233

„Tunc cives, sicut pepigerant tem ad rationem,

cum Daniele

et convocatis

universis

principe

et Iwanno

in Gandavo,

fratre

Iwan prolocutor

Baldwini,

posuerunt

c'wium statutus

comiest

..."

Ebenda c. 9 5 , S. 1 3 8 . 23''

Über Daniel vgl. Vanderkindere,

L., La formation territoriale des principautés belges au moyen

âge, Bd. 1, 2. A u f l . , Bruxelles 1 9 0 2 , S. 2 2 9 f . ; über Iwan ebenda, S. 1 1 5 f. Vgl. auch W „ a. a. O., S. 4 6 . 23'

Galbert, D e multro K a r o l i c. 3 0 und 3 1 , a. a. O., S. 5 2 und 5 3 .

230

Actes, ed F. Vercauteren,

237

Ebenda, nr. 1 0 7 , S. 2 4 5 f.

24

a. a. O., nr. 8 3 , S. 1 8 8 .

Blommaert,

360

Galbert von Brügge

ist von zweifelhafter Echtheit 238 ; dagegen muß es als sehr bedeutsam angesehen werden, daß Baldwin und Iwan von Gent w i e auch Daniel von Teremonde als Zeugen und Eideshelfer in dem oft erwähnten großen Privileg für St. Omer vom 14. April 1127 erscheinen"'11 - ein Fakt, auf den w i r noch zu sprechen kommen. Endlich findet sich die Unterschrift beider unter einer Urkunde Wilhelms, welche Vercauteren zufolge in die Zeit nach dem 24. Sept. 1127 gehört; hier stehen sie unter den barones et prineipes Flandriae an erster Stelle. 2 '' 0 Auch Galbert hat ausdrücklich ihre Stellung als pares et prineipes Flandriae hervorgehoben. 2 '' 1 Nach Ausweis dieser Belege gehörten beide zu den mächtigsten Großen Flanderns, und es zeigt sich auch, d a ß sie offenbar ziemlich lange mit dem Grafen Wilhelm in besten Beziehungen gestanden haben. Den Grund, der sie veranlaßte, zu Führern des Aufstandes gegen diesen zu werden, will Galbert darin sehen, d a ß sie vom englischen König außerordentlich große Geschenke erhalten hatten und ihnen für die Austreibung Wilhelms noch größere versprochen worden waren. 2 '' 2 A n dieser Tatsache ist wohl nach allem, was wir schon darlegten, kaum zu zweifeln; auffallend bleibt indessen, d a ß Wilhelm, der doch ansonsten gerade mit dem Adel Flanderns in ein enges Bündnis zu treten versuchte, es nicht verstanden hat, diese mächtigen Männer für sich zu gewinnen. W i r können nur vermuten, d a ß er auf irgendeine Weise ihre persönlichen Interessen verletzte - vielleicht durch die Einsetzung eines Burggrafen in Gent, der sich dort rasch verhaßt machte. Jedenfalls müssen sich Iwan und Daniel wohl unter einem anderen Grafen größere Chancen ausgerechnet haben. Aber es ist auch nicht von der Hand zu weisen, d a ß die Besorgnis über die Zukunft Flanderns, welche durch die feindliche Stellungnahme des mächtigen englischen Königs in recht trübem Licht erschien, bei ihnen eine große Rolle spielte. W i e weit darüber hinaus ihre persönlichen Beziehungen zu den Bürgern von Gent sie zu Gegnern der Politik Wilhelms haben werden lassen, muß dahingestellt bleiben. Wenden wir uns nun der berühmten Anklagerede Iwans in Galberts c. 95 zu, wo Grundsätze entwickelt werden, die für die Verfassungsgeschichte Flanderns und' die Stellung des flandrischen Bürgertums von fundamentaler Bedeutung waren. W i e berichtet wird, ging Iwan davon aus, daß, hätte der Graf die Bürger dem Gesetz entsprechend behandelt, keine Rechtsbrüche vorgekommen wären. Er habe jedoch gegen das Recht und gegen die E i d e die Privilegien über die Zollbefreiung, die Friedenswahrung und die übrigen Rechte verletzt, welche die Einwohner des Landes von den früheren Grafen, von seinem Vorgänger Karl und auch von ihm selbst erhalten hätten, und dadurch den Treueid gebrochen, den er genau so geleistet 238

Ebenda, nr. 1 1 5 , S. 265.

230

Ebenda, nr. 1 2 7 , S. 298.

2/'°

Ebenda, nr. 128, S. 3 0 2 .

2'a

Galbert, De multro Karoli c. 1 0 1 , a. a. O., S. 146.

242

Ebenda; vgl. die dortige Anm. 4.

2''3

Ebenda c. 95, S. 1 3 8 f. Auf die Bedeutung dieser Anklage habe ich zuerst in Vorträgen in Belgien während des Jahres 1 9 3 8 , dann in meinem Aufsatz: Das Erwachen, a. a. O., S. 64 f., der aus dem Jahre 1 9 3 9 stammt, hingewiesen. Dazu dann Ganshof, S. 1 4 4 f.

F.-L.,

Les origines, a. a. O.,

Stellung und Bedeutung

361

habe wie diejenigen, die mit ihm zusammen geschworen hätten. Weiterhin sei auf die Gewalttaten gegen die Bürger in Lille und in St. Omer hinzuweisen sowie auf die Gefahren, welche jetzt den Bürgern von Gent drohten. Iwan forderte daher die Einsetzung eines Gerichtes in Ypern, zu dem die Großen beider Parteien und weise Männer aus Klerus und Volk zusammenkommen sollten,, um über die Anklage gegen Wilhelm zu entscheiden.2V' Könne er sich hier rechtfertigen, so solle er seine Würde behalten; werde er aber als ein Gesetzesbrecher, Treuloser und Meineidiger erkannt, so solle er aus der Grafschaft weichen, damit diese einem würdigen und rechten Manne übertragen werden könne. Die Rede schloß mit den Worten: „Wir sind die Mittler zwischen dem König von Frankreich und Euch, so daß Ihr nichts Gültiges in der Grafschaft vornehmen könnt ohne Rücksicht auf die Ehre des Landes und unseren Rat. Ihr habt uns, Eure Eideshelfer bei dem besagten König, und die Bürger fast ganz Flanderns schurkisch wider das Recht und den Eid behandelt - wider den Eid des Königs, wider Euren eigenen Eid und den aller Großen des Landes." 2 ' 0 Schreiten wir zu einer Analyse dieses juristischen Exposés. Der Graf wird angeklagt des Bruches eines vom König, von ihm selbst sowie von den flandrischen Großen beschworenen Rechtszustandes. Das Bemerkenswerte ist nun, daß nicht die Abstellung seiner Übergriffe gefordert wird, sondern daß man bereits eine Rechtslage konstruiert, nach der er nur noch die Wahl hat, die aufgezählten Vergehen abzuleugnen, das heißt ihre Unrichtigkeit zu erweisen, oder aber als Verurteilter das Land zu verlassen. Dies ist eine staatsrechtlich revolutionäre Argumentation. Sahen wir doch, daß der Graf von einer anderen Rechtsauffassung ausging, über deren formale Berechtigung man sehr wohl diskutieren konnte; davon aber wollte man hier nichts wissen. Nicht weniger revolutionär ist die Einsetzung einer Gerichtsversammlung über den Landesherrn. Bisher gab es allein die curia, die, wie Ganshof sehr richtig betont hat, ein Gerichtshof des Grafen war, dessen Zusammensetzung er bestimmte und dessen Leitung ihm zustand. Jetzt aber sollte, wie bei Galbert zu lesen ist, ein Kollegium zusammentreten, welches nicht nur aus Feudalherren, sondern auch aus „weisen Männern aus Klerus und Volk" bestand; es war dazu bestimmt, den Landesherrn lediglich als Angeklagten, tatsächlich als bereits Verurteilten zu betrachen. Prüfen wir die Rechtslage. Iwans Rede ging davon aus, daß er und seine Mitgeschworenen auf Grund des Eides, den sie für die Aufrechterhaltung der von dem Grafen gewährten Privilegien geleistet hatten, nicht nur gegen die Verletzung protestieren konnten, sondern darüber hinaus zum Richter über den Landesherrn erhoben worden seien. Eine Appellation an den König erübrige sich; nunmehr habe das Land das Recht, darüber zu entscheiden, ob Wilhelm das Grafenamt weiterführen dürfe oder als Verbrecher Flandern verlassen müsse. 2/,/l

2'10

„Ponatur curia vestra, si placct, in lpra, qui locus est in medio terrae vestrae, et conveniant principes utrimque nostrique compares ac universi sapientiores in clero et populo in pace et sine armis, tranquillo animo et bene consideralo, sine dolo et malo ingenio, et dijudicent." Galbert, De multro Karoli c. 95, a. a. O., S. 139. Ebenda, Vgl. Ganshof, F.-L., Les origines, a. a. O - S. 145 f.

362

Galbert von Brügge

Hierbei ist nun von Wichtigkeit, d a ß aus der U r k u n d e f ü r St. O m e r hervorgeht, d a ß I w a n und Daniel tatsächlich zu den Unterzeichnern der Kommuneprivilegien gehört haben. D e n n wenn auch G a l b e r t bei seinem Bericht über das Brügger D o k u ment nur den König, den G r a f e n u n d die Bürger als Eidesleistende erwähnte, so d ü r f e n wir doch gewiß sein, d a ß dieses Stück wie auch das f ü r G e n t im wesentlichen die gleiche Zeugenreihe aufwiesen, die uns bei der Verleihung f ü r St. O m e r begegnet. D a ß die Bürger zwar mit Sicherheit den Treueid leisteten, aber als Rechtspartei in den Privilegien nicht erschienen, haben wir bereits dargelegt. O b die G r o ß e n ohne V e r h a n d l u n g berechtigt waren, als Richter über den G r a f e n aufzutreten, ist sehr fraglich; die Bürger waren es keinesfalls. D a es auch noch nicht feststand, wie sich der König von Frankreich in dieser Angelegenheit verhalten w ü r d e , ist wohl der merkwürdige Satz über die Mittlerrolle der G r o ß e n zwischen ihm und Wilhelm in die Anklagerede aufgenommen worden. E i n Punkt in ihr erscheint sofort verdächtig: die Bemerkung, der Gerichtshof in Y p e r n solle auch besetzt werden durch „weise M ä n n e r aus Klerus u n d Volk". Dies ist, wie wir wissen, Galberts geliebte Formel, welche er dem kanonischen Wahlrecht entlehnte. Prüfen wir ihre Berechtigung, so ist festzustellen, d a ß von einer Mitwirkung des Klerus bei diesen ganzen Vorgängen praktisch gar keine R e d e ist. D i e Bischöfe, deren Befugnisse sich auch über flandrisches G e b i e t erstreckten, standen durchaus auf seiten Wilhelms beziehungsweise des Königs von Frankreich; einen A n spruch auf Entscheidung über die Besetzung des Grafenstuhles haben sie nie erhoben. Bleibt also das Volk, das heißt die Bürger. A b e r sie hatten, wie wir sahen, überhaupt keinen Rechtsanspruch. Iwans A n k l a g e r e d e stellte zwar den ihnen zugefügten Rechtsbruch in den V o r d e r g r u n d ; es steht aber sehr dahin, inwieweit sich in ihr hier Dichtung und W a h r h e i t verflechten. Von Rechtsvergehen gegen den flandrischen Feudaladel erwähnt sie überhaupt nichts; trotzdem aber erscheinen im folgenden nur I w a n und D a n i e l als die eigentlich H a n d e l n d e n . G a l b e r t erzählt, d a ß Graf W i l h e l m nach der Anklage Iwans aufgesprungen sei, diesen von seinem Lehnseid entbunden habe u n d mit ihm einen gerichtlichen Zweikampf ausfechten wollte zum Beweise dessen, d a ß er der G r a f s c h a f t ein guter Verwalter w a r ; auch machte er Iwan f ü r den A u f ruhr der Bürger verantwortlich. 2 ''" Ferner waren es I w a n und D a n i e l , die nach Ypern zu ziehen beabsichtigten u n d schließlich durch ihre Boten dem G r a f e n aufsagten. 2 ' 7 Dies alles spricht f ü r unsere obige Behauptung. W e n n G a l b e r t nun Iwan als „prolocutor civium" bezeichnet, was Ganshof nicht ganz korrekt mit „Sprecher für alle" übersetzte, so ist dieser Ausdruck sehr hoch gegriffen. Fraglos hatte der Adlige in der Darstellung unseres Autors die Anliegen der Bürger verfochten; aber vertrat er wirklich deren Rechtspartei? M i t seiner dialektischen Kunst hat G a l b e r t das so darstellen wollen. D e r Begriff „nos", welcher in der R e d e mehrfach begegnet, ist zweideutig; er kann sich auf I w a n u n d die Bürger beziehen, ebensogut aber auf diesen und die G r o ß e n Flanderns. W i r dürfen mit Sicherheit annehmen, d a ß er absichtlich so verw e n d e t w o r d e n ist. G a l b e r t bringt unter der H a n d die Beschwerden der Bürger, 246

„Iwanmim, si ausus esset prae tumultu civium illorum . . . " Galbert, De multro Karoli c. 95, a. a. O., S. 139. 2 « Ebenda, S. 140.

Stellung und Bedeutung

363

ihren Rechtsanspruch auf Mitentscheidung im Lande und mit letzterem das revolutionäre Programm der Kommune ins Spiel. Daß er die Rede in seinem Sinne gestaltete, verrät eben die Wahl des Ausdrucks „clerus et populus". An dem Mitspracherecht des flandrischen Klerus konnte den Kommunen zwar nichts liegen; der „populus" aber mußte an einem so entscheidenden Punkte einfach erwähnt werden. Noch ein weiterer Fakt macht die Formulierung der Anklage Iwans verdächtig. Dieser lehnte den Zweikampf ab, der Graf jedoch stimmte nunmehr der Einsetzung der geforderten curia zu.2''8 Es ist ganz undenkbar, daß er dies in ruhiger Erwartung dessen tat, was ihm der Rede zufolge bevorstand. Nicht nur hatte er nach ihr auf jeden Fall mit einer Verurteilung zu rechnen - er hätte auch die Bürger von Flandern als Richter über sich anerkannt. Das aber konnte logischerweise in einer Situation, die durch seine heftigen Konflikte mit den Bürgern gekennzeichnet war, von ihm nicht erwartet werden. Wir werden daher annehmen müssen, daß Iwan wohl eine Gerichtsentscheidung vor einer curia gefordert hat, daß diese curia aber allein aus Adligen beider Parteiungen bestehen sollte. In diesem Falle nämlich hätte der Graf noch eine Chance gehabt, von der Anklage loszukommen, denn die flandrischen Großen waren in ihrer erdrückenden Mehrheit auf seiner Seite. Auch wäre es sehr unwahrscheinlich gewesen, daß sie den gegen die Burggrafen gerichteten Beschwerden stattgegeben hätten; waren diese Burggrafen doch Vertreter des Feudaladels. Nur von dieser Voraussetzung her ist das Zugeständnis des Grafen also zu begreifen. Iwan und Daniel dürften auch verlangt haben, daß für Leib und Leben der Beisitzer jener curia Sicherheit geleistet werden sollte. Wahrscheinlich aber hatte der Graf, sobald er aus Gent abgezogen war, seine Ritter gesammelt und sie Ypern besetzen lassen, wonach natürlich ein von ihm unabhängiges Gericht kaum noch denkbar war. Dies könnte der Anlaß für Daniel und Iwan gewesen sein, ihm aufzusagen. Der Hintergrund des Ganzen wird deutlicher, wenn man weiß, daß bereits am 11. März Dietrich vom Elsaß in Gent erschien und darauf wartete, nach der Absetzung Wilhelms- als neuer Graf anerkannt zu werden. 2 '' 9 Da die Gerichtssitzung am 8. März stattfinden sollte, durchschaut man den Plan Iwans und Daniels. Der 8. März war ein Zeitpunkt, an dem der neue Prätendent bereits in Gent erwartet wurde; daher war Iwan in keiner Weise bereit, über die Maßnahmen gegen Wilhelm zu diskutieren. Er disponierte schon über die Grafenwürde, da die Verhandlungen mit Dietrich vom Elsaß längst abgeschlossen waren. Das dürfte Wilhelm nicht unbekannt gewesen sein, und eben darum wird er seine Maßnahmen gegenüber der curia in Ypern getroffen haben. Man kann zusammenfassend sagen: Im Namen der von ihm vertretenen Gruppe hat Iwan eine Kampfansage gegen Wilhelm abgegeben; mit einer Regelung auf gerichtlichem Wege war es beiden Parteien gar nicht mehr ernst. Jedoch die Worte, in welche Galbert die Anklage kleidete, beinhalteten neben dieser Kampfansage das revolutionäre Programm des flandrischen Bürgertums. 248

„At Iwan renuit. Et determinaverunt diem, . . . quando pactfice in Ipra convenirent." Ebenda. Vgl. dazu Sproemberg,

249

H., Das Erwachen, a. a. O., S. 68 f.

Galbert, D e multro Karoli c. 96, a. a. O...S. 1 4 1 .

364

Galbert von Brügge

Unter Führung von Daniel und Iwan sind sofort die Konsequenzen aus dem Bruch mit Wilhelm gezogen worden. Galbert berichtet ausführlich über die Verhandlungen der Gruppe um Dietrich mit den übrigen flandrischen Städten, die dazu dienen sollten, in Form eines neuen Schwurverbandes wieder eine gemeinsame Front zu schaffen. D i e Bürger von Brügge verhielten sich zunächst abwartend, wobei die Popularität ihres neuen Burggrafen Gervasius, der bekanntlich eine führende Rolle im Kampf gegen die Bertulf-Sippe gespielt hatte, stark ins Gewicht fiel. Immerhin waren sie, nachdem dieser die Neigung zeigte, sich Dietrich anzuschließen, am 31. März zum selben Schritt bereit2^0 - nicht zuletzt wohl auch deshalb, weil inzwischen die Gräfin von Holland ihr bereits erwähntes Angebot über den freien Handelsverkehr in ihrem Gebiet abgegeben hatte. 2 ' 1 Der neue Graf hat daneben gleichfalls einen sehr hohen Preis für seine Anerkennung zahlen müssen, denn er gab den Großen und dem Volke Flanderns die Freiheit, die Rechte und Gewohnheiten des Landes nach eigenem E r messen zu verbessern. Im Unterschied zu früheren Gewährungen war dies, wie Ganshof mit Recht betont hat, ein Generalprivileg für das ganze L a n d ; allerdings dürfte es nur mündlich gegeben worden sein.2:>2 Am 2. April leistete der Kastellan von Brügge Dietrich den Treueid - nach Galbert mit der Erklärung, er schwöre Wilhelm ab, weil die Großen des Landes und das ganze Volk ihn als Verbrecher verachteten und jetzt den natürlichen Erben und rechten Landesherrn angenommen hätten. 2ü3 E s ist beachtenswert, daß hier das Erbrecht in den Vordergrund gestellt wurde.

D a s Eingreifen des Königs Inzwischen hatte sich Graf Wilhelm, erschreckt durch das Umsichgreifen des Abfalls, an König Ludwig gewandt, um dessen Intervention zu veranlassen. 254 Wir haben bereits bemerkt, daß in der von Galbert wiedergegebenen Anklagerede von dem französischen König praktisch gefordert wurde, er solle als Garant der Privilegien gegen Wilhelm Stellung nehmen. Natürlich wußte man genau, daß Ludwig dies weder wollte noch konnte; man war aber, nicht zuletzt auf Grund von Zusicherungen des englischen Königs, auch ziemlich gewiß, daß er es nicht wagen würde, mit militärischer Gewalt in Flandern einzugreifen. Und er war wirklich viel zu vorsichtig, um unter derartigen Umständen einen Krieg an mehreren Fronten heraufzube250

Über die Verhandlungen berichtet Galbert in c. 97 0., ebenda, S. 141 ff.; vgl. Ganshof,

F.-L.,

Les origines, a. a. O., S. 152 ff. 251

Vgl. oben S. 349.

2u2

„Superaddita

est a consule

honore

meliorandi

terrae

habitantium."

prineipibus omnia

suis et populo

jura et judicia

terrae

et mores

libertas

de statu rei publicae

et consuetudines

Galbert, D e multro Karoli c. 102, a. a. O., S. 148. Canshof,

ipsorum

terram

et in-

F.-L.,

Les origines,

et dilectione

suseeperint."

a. a. O., S. 152. 253

„. . . vosque

heredem

naturalem

et dominum

terrae justum cum honore

Galbert, D e multro Karoli c. 104, a. a. O., S. 150. Vgl. Blommaert, 2r''
1(il

Ebenda, S. VIII.

102

Ebenda, S. 11.

103

Ebenda, S. 12.

28

F., Gotha 1 8 9 9 , S. VIII.

H., Histoire de Belgique, Bd. 1, 5. Aufl., a. a. O., S. X I V .

424

Pirenne und die deutsche Geschichtswissenschaft

zu haben."16'* In dem Schlußband hat er noch einmal seine Grundeinstellung zur Geschichtsschreibung betont: „. . . C'est une fortune bien rare que d'avoir pu écrire une histoire aussi longue. E t aux yeux de beaucoup, c'est sans doute une grande outrecuidance que d'en avoir conçu et réalisé le dessein. Dans notre époque de spécialisation, il semble indispensable pour l'exécution d'une oeuvre de synthèse du genre de celle-ci de mobiliser toute une équipe de travailleurs ,qualifiés'. Pourtant, à répartir ainsi le cours de l'histoire en compartiments étanches, ne risque-t-on pas de perdre de vue sa continuité? Est-il possible de comprendre un moment de la durée en dehors de ceux qui le précèdent et de ceux qui le suivent?" 11 ''' Mit Absicht sind diese Zitate aus den Einleitungen wiedergegeben worden, um die Ausführung und die Weiterbildung seiner Geschichtsauffassung sichtbar zu machen. Es ist nun bemerkenswert, d a ß Pirenne das Zitat aus Lamprechts „Deutscher Geschichte" in der Einleitung bringt, auf das Werk hinweist, aber den Autor nicht nennt, obwohl er dort zahlreichen Gelehrten seinen D a n k ausspricht. In Wahrheit aber sieht die Sache anders aus. Pirenne stand in dauerndem Briefwechsel mit Lamprecht, und Hübinger hat Kenntnis von einem Brief Pirennes an Lamprecht gegeben, in dem dieser sagt: „. . .ce livre avait ,été considéré partout' - c'est ce qu'il écrivit à Lamprecht - 'comme une oeuvre de la nouvelle école que vous représentez et qu'il aura ainsi contribué à faire connaître chez nous'." Ferner hat er im Februar 1905 an Lamprecht geschrieben: „ O n ne comprend l'histoire qu'en la traitant à travers de longues périodes . . . Il est certain que le sens historique ne s'acquiert que dans l'histoire synthétique et qu'il trouve sa vraie matière dans l'histoire universelle." Gerade die einheitliche Konzeption hat natürlich viele Angriffsflächen geboten. Ganshof hat in seiner Biographie Pirennes zu den einzelnen Einwänden Stellung genommen und auch auf die teilweise Berechtigung der Kritik hingewiesen. 166 Van Werveke hat demgegenüber stärker betont, welche große Bedeutung auch die späteren Bände der Geschichte Belgiens durch ihre große Schau besitzen. 18 ' Gegenüber dieser einheitlichen Darstellung hat man nun auch den anderen W e g in den Niederlanden beschritten. In zwölf Bänden (1949-1958) hat ein Kollektiv belgischer und niederländischer Historiker eine „Algemene geschiedenis der Nederlanden" geschrieben. In der Einleitung zu diesem großen Werk, an dem eine Reihe von Schülern Pirennes beteiligt war, hat wieder van Werveke den Wert der Kollektivarbeit verteidigt. E r wußte sehr wohl um die Bedenken Pirennes. 108 In der Tat, so wertvoll und unentbehrlich diese große gcsamtniederländische Geschichte ist, die sowohl die Niederlande wie Belgien und Luxemburg umfaßt, so ist doch eingetroffen, was Pirenne befürchtet hatte: Viele sind ihre eigenen Wege gegangen. So bleibt die „Histoire de Belgique" in ihrem Wert durchaus bestehen. Es wäre lohnend, sie im einzelnen in ihrer Anlage

16

'' Pirenne,

H., Geschichtc Belgiens, Bd. 3, Übersetzung des französischen Manuskripts von

helm, F., Gotha 1907, S. VI. 165

Pirenne, H., Histoire de Belgique, Bd. 7, a. a. O., S. XI.

166

Ganshof, F.-L., in: Biographie Nationale . . ., a. a. O., S. 688 ff.

167

van Werveke,

H., Gedächtnisrede, a. a. O. (siehe oben Anm. 2), S. 30 ff.

108 Ders. j n : Algemene geschiedenis der Nederlanden, Bd. 1, Utrecht 1949, S. IX ff.

Ant-

Pirenne und die deutsche Geschichtswissenschaft

425

mit Lamprechts „Deutscher Geschichte" zu vergleichen, die praktisch heute vergessen ist. Zunächst ist schon grundsätzlich der Unterschied festzustellen, daß Pirenne seiner Arbeit einen vorsichtig, aber geschickt ausgewählten wissenschaftlichen Apparat beigegeben hat. Vor allem die ersten Bände sind weit mehr als eine Synthese, sie bieten vielfach neue Forschungsergebnisse. So verkörpert diese Arbeit die Vereinigung einer großen Sicht und die Heranziehung und Weiterverarbeitung von Spezialforschungen. Bei Lamprecht liegt das Hauptgewicht auf der neuen Konzeption. So ist es denn kein Zufall, daß das Werk Pirennes nach nunmehr beinahe siebzig Jahren noch immer seine Wirkung ausübt, wozu allerdings auch noch seine große Kunst der lebendigen Darstellung beigetragen hat. Bemerkenswert ist schon die andere Haltung Pirennes gegenüber dem Begriff der Nation. Lamprecht hat der vierten Auflage seiner „Deutschen Geschichte" ein interessantes Kapitel vorangeschickt, die „Geschichte der Formen des Nationalbewußtseins". 109 Darin hat er nun die sehr langsame Entwicklung des Nationalbewußtseins und damit auch der Bildung einer deutschen Nation in einer Weise behandelt, die den bisherigen Auffassungen vollkommen widersprach. Uber Einheitsgefühl, Stammesgefühl, Nationalgefühl und Anfänge eines Nationalbewußtseins führt er seine Darstellung zum Nationalbewußtsein des 19. Jh. E s war damals ein geradezu revolutionärer Gedanke, das deutsche Nationalbewußtsein erst in die Neuzeit zu datieren, denn damals versuchte man die Existenz der deutschen Nation schon bis in die Karolingerzeit zurückzuverlegen, was sich politisch sehr gefährlich auswirken sollte. 1 ' 0 Ähnliche Gedanken hat dann später Huizinga vertreten. 171 Aber bedenklich war daran, daß Lamprecht diese Entwicklung stets mit dem „Seelenleben" der einzelnen Zeit verknüpfte. Zwar hat er auch die Verbindung zu der ökonomischen Entwicklung betont, aber er ist niemals zur völligen Klarheit gelangt, daß die Kulturstufen, von denen er spricht, schematisch waren und keineswegs eine so primäre Bedeutung besessen haben, wie er es behauptet hat. Schmoller hat, so sehr er vom wirtschaftsgeschichtlichen Standpunkt die Arbeit würdigt, mit vollem Recht gegen diesen eigenartigen Schematismus Front gemacht 1 ' 2 , und Pirenne hat unzweideutig erklärt, daß er diese Ansicht nicht teilen könne. So hat er mir 1931 geschrieben: „ . . . j'ai été intimement lié avec lui jusqu'à sa mort. J e possède de lui une collection de lettres où il me décrit mois par mois l'évolution de ses idées et de ses travaux. Son action a été grande sur mes idées pendant sa prémiere période, mais je n'ai pu le suivre dans la construction des Kulturstufen qu'il a élaborée de plus en plus pendant la seconde et qui m'a toujours paru très arbitraire." 1 ' 3 Lamprecht hat diesen Schematismus erst in den späteren Auflagen seiner Deutschen Geschichte herausgearbeitet. Für Pirenne war die Betonung der sozialen und ökonomischen Faktoren 169

Lamprecht,

K„ Deutsche Geschichte, Bd. 1, 4. Aufl., Berlin 1905, S. 3 ff.

Vgl. meinen Aufsatz: La naissance, a. a. O., S. 213 ff. [hier deutsch S. 3]. 1/1

Huizinga,

]., Aus der Vorgeschichte des niederländischen Nationalbewußtseins, und: Wachstum

und Formen des nationalen Bewußtseins in Europa bis zum Ende des 19. Jh., in: ders., Im Banne der Geschichte, Nijmcgen 1942, S. 131 und 151. 1,2

Schmoller,

1/3

Vgl. den Brief an mich unten S. 441.

G., Grundriß der allgemeinen Volkswirtschaftslehre, Bd. 2, Leipzig 1910, S. 664.

426

Pirenne und die deutsche Geschichtswissenschaft

wichtig, die in der Aufgliederung des Werkes von Lamprecht so deutlich zum Ausdruck gekommen waren. In dieser Beziehung ist Pirenne Lamprecht gefolgt. Aber in der Vorstellung des Nationalbegriffes ist er von anderen Voraussetzungen ausgegangen, die auch nicht allein auf der besonderen Situation Belgiens beruhten. Lamprecht unterlag noch immer den Vorstellungen der Romantik, und er hat viel zu sehr die germanische Geschichte als Teil der deutschen Geschichte behandelt. Dadurch war eine zu große Ausweitung des Raumes der Vorgeschichte des deutschen Volkes gegeben. 1 '' 1 Pirenne dagegen geht von einem begrenzten Raum aus, betont aber die Verflechtung dieses Raumes mit den Nachbargebieten, während es Lamprecht nicht gelungen ist, die so verderbliche Isolierung der offiziellen deutschen Geschichtsauffassung zu durchbrechen. In einer 1899 gehaltenen Rede hat Pirenne seine Auffassung von der Nation dargelegt. 1 " Sein untrüglicher Sinn für die realen Faktoren hat sich auch in dieser Beziehung bewährt, auch wenn sein Nationalbegriff in Belgien umstritten geblieben ist. Grundsätzlich ist es tief zu beklagen, daß Lamprechts fortschrittliche Auffassungen im Grunde nur bei Pirenne auf fruchtbarem Boden gefallen sind, während sich - wie bemerkt - in der deutschen Geschichtswissenschaft ein Sturm gegen diese Ideen erhob, der zur Folge hatte, daß man diese Richtung erstickt hat. 1 ' 6 Das ist folgenreich geworden. Der Weg zu einer Reform der Geschichtsauffassung wurde dadurch verbaut. Auf diese Weise ist dem Nationalismus und schließlich dem Faschismus auch durch die Geschichtswissenschaft freie Bahn gegeben worden. Uber die Beziehungen Pirennes zu Lamprecht in den Jahren von 1900 bis 1914 liegen bisher nur wenige Zeugnisse vor. Aber man wird nicht bezweifeln können, daß sie eng und freundschaftlich geblieben sind. Pirenne hat selbst an mich geschrieben, d a ß ihm Lamprecht fast jeden Monat über seine Arbeiten berichtet hat. Und Hübinger hat auf Grund von Lamprecht-Briefen feststellen können, daß der Briefwechsel tatsächlich sehr eng gewesen ist. Daraus ist hervorzuheben: Pirenne schrieb im Sommer 1914 an Lamprecht, daß der fünfte Band seiner „Histoire de Belgique" vor dem Abschluß stehe. Gleichzeitig zeigte er ihm die Verlobung eines seiner Söhne an und fügte hinzu, daß dieser den nächsten Winter nach Leipzig fahren würde, wo Lamprecht mit so großem Erfolg Geschichte lehre. Noch am 28. Juni 1914, am Tage des Attentats von Serajewo, schrieb Pirenne an Lamprecht, ohne daß auch nur eine Spur des Bewußseins der Tragweite dieses welthistorischen Ereignisses darin zu finden ist. 1 ' 7 Das ist übrigens ein bemerkenswertes Zeugnis dafür, wie wenig man in Belgien mit einem Weltkrieg rechnete und wie ahnungslos Pirenne den wahren Verhältnissen in Deutschland gegenüberstand.

1'/|

Heute hat sich auch in Deutschland die Auffassung gewandelt. Vgl. z. B. Wenskus,

R.,

Stammes-

bildung und Verfassung. D a s W e r d e n der frühmittelalterlichen gentes, Köln/Graz 1 9 6 1 , und meine Rezension dazu i n : D L Z . 8 5 / 1 9 6 4 , Sp. 6 8 2 ff. [hier erweitert S. 6 7 ff.]. 1,a

Pirenne,

17(i

Vgl. oben S. 4 1 1 ff.

177

Hübinger,

H., Hommages et souvenirs, Bruxelles 1 9 3 8 , S. 1 5 8 . P. E., a. a. O., S. 4 5 .

Pirenne und die deutsche Geschichtswissenschaft

427

Im ersten Weltkrieg Pirenne ist vom Ausbruch des Krieges völlig überrascht worden. Infolge des Überfalls auf Belgien hat er seine Beziehungen zu den deutschen Historikern sofort abgebrochen. Man nahm bisher an, daß das generell so gewesen sei, aber Hübinger konnte nachweisen, daß die Beziehungen zu Lamprecht eine gewisse Ausnahme darstellen. Lamprecht hat am 31. August 1914 brieflich Pirenne seine Hilfe angeboten. Darauf hat er aber keine Antwort erhalten. Lamprecht war dann im April 1915 zu einem Frontbesuch in Brüssel. Aber bezeichnenderweise hat er Pirenne nicht sprechen können. Immerhin liegt ein Brief Pirennes an Lamprecht vom 6. April 1915 vor, den Hübinger veröffentlicht hat. Pirenne hat darauf folgendes geantwortet: „ . . . C r o y e z . . . à la vieille affection d'un homme qui vous doit beaucoup, qui a été heureux d'une communauté d'idées et de tendances qui le rapprochaient de vous, qui a pu apprécier toute la sincérité de votre affection, compati à vos douleurs et partagé vos joies et qui pleure en ce moment la mort d'un de ses fils, mort en défendant sa patrie." Mit Recht hebt Hübinger den Schluß dieses Briefes hervor: „L'humanité est au-dessus des contingences historiques." 1 ' 8 Dieser Ausbruch zeigt die ganze Größe des Charakters Pirennes und darf sehr wohl als das Leitmotiv seiner wissenschaftlichen Tätigkeit bezeichnet werden. Lamprecht hat seinerseits 1915 zwei Vorträge gehalten, die für seine Stellungnahme zum Krieg und das Verhältnis zu Pirenne und zu Belgien von Interesse sind. 179 Der erste trägt den Titel „Deutsche Zukunft" und eröffnete die „Kriegsreden" an der Leipziger Universität. Er ist am 9. Januar 1915 in der Universitätsaula gehalten worden. Es ist ein sehr merkwürdiger Text, der vor allem die Entstehungsgeschichte des deutschen Nationalbewußtseins behandelt. Im Gegensatz zu der damals herrschenden Meinung bestreitet Lamprecht, daß es im Mittelalter ein deutsches Nationalbewußtsein gegeben habe. Nur in einzelnen Persönlichkeiten und Schichten tauche der Gedanke einer deutschen Nation auf. Dann finde eine sehr langsame Entwicklung statt, und nach seiner Ansicht könne man frühestens im Jahre 1750 von einem Nationalbewußtsein sprechen, das allerdings noch mit kosmopolitischen Gedanken vermischt sei. Erst im 19. Jh., und zwar hauptsächlich in der zweiten Hälfte, beginne das Bewußtsein einer deutschen Nation die Massen zu ergreifen. Allerdings hat er die Umwälzung der sozialen Verhältnisse im Kapitalismus kaum berücksichtigt. Sein Anliegen war, die „Geschichte der deutschen Einheit und Freiheit" zu schildern. Er stellt die Frage, ob durch den Krieg die große Tendenz auf Einheit und Freiheit in Deutschland gestört werden könne, und antwortet, diese Entwicklungsrichtung werde eher belebt werden. 180 Bei aller Apologetik ist diese Rede nicht ohne Widersprüche

178

Ebenda, S. 46.

1,(J

Sie sind auf Grund von Nachschriften der Tochter Lamprechts, stützung von R. Kötzscbke

Tod gedruckt worden (Gotha 1 9 1 6 ) . 180

Ebenda, S. 19.

Marianne Lamprecht, mit Unter-

unter dem Titel: Deutsche Zukunft -

Belgien, nach

Lamprechts

428

Pirenne und die deutsche Geschichtswissenschaft

und Skepsis, so wenn er z. B . s a g t : „ O b der K r i e g günstig o d e r ungünstig a u s f ä l l t , es w i r d sich nicht ä n d e r n lassen, d a ß d i e deutschen S t i m m u n g e n sich verschmelzen . . . wir k ö n n e n d a m i t rechnen, d a ß das D e u t s c h e n t u m i m m e r m e h r über das P r e u ß e n t u m herauswachsen w i r d " . 1 8 1 S e i n e A n s i c h t e n sind u n k l a r . E r sieht für d i e Z u k u n f t w i r t schaftliche und soziale F r a g e n im V o r d e r g r u n d stehen. A m S c h l u ß k o m m t er auf die militaristische B e r l i n e r J a h r h u n d e r t f e i e r v o n 1 8 1 3 zu sprechen, die er rühmt, und er schließt m i t d e m L i e d „ D e r G o t t , der E i s e n wachsen l i e ß . . . " W e n i g e W o c h e n d a r a u f , a m 4 . M ä r z 1 9 1 5 , hat L a m p r e c h t einen zweiten V o r t r a g in D r e s d e n g e h a l t e n : „ B e l g i e n nach geschichtlichen und persönlichen E r f a h r u n g e n " , der mit einer D i s k r e d i t i e r u n g der W a l l o n e n und der V e r h e r r l i c h u n g des F l a m e n t u m s die A b s i c h t der O k k u p a t i o n unterstützte, durch F o r c i e r e n der F l a m e n f r a g e d i e E i n h e i t s f r o n t des belgischen W i d e r s t a n d s zu spalten. Sein A b r i ß der geschichtlichen E n t w i c k lung dieses G e b i e t e s seit dem M i t t e l a l t e r ist sachlich f r a g w ü r d i g , der A k t u a l i s i e r u n g u n t e r g e o r d n e t . E r lehnt in dieser R e d e die E x i s t e n z einer belgischen N a t i o n a b und sagt, er h a b e sich w i e d e r h o l t m i t seinem F r e u n d e P i r e n n e , d e m h e r v o r r a g e n d e n b e l gischen H i s t o r i k e r , ü b e r diese F r a g e eingehend u n t e r h a l t e n , sei a b e r zu k e i n e r Ü b e r einstimmung m i t ihm gelangt. 1 8 2 L a m p r e c h t identifiziert sich m i t den

Kriegszielen,

w e n n er z . B . e r k l ä r t : „ E s k a n n kein Z w e i f e l sein, d a ß wir uns in B e l g i e n i r g e n d w i e tätig b e h a u p t e n w o l l e n und w i r jetzt w ä h r e n d des K a m p f e s m i t dem freien

und

offenen H e r z e n des E r z i e h e r s an das V o l k herangehen m ü s s e n " , w e n n er auch eingesteht, d a ß „ d i e wirklich f ü h r e n d e n Schichten . . . einstweilen noch nicht zu h a b e n " seien. „ S i e v e r l e u g n e n j e d e F r e u n d s c h a f t , die sie m i t D e u t s c h e n g e h a b t h a b e n , und ich w e i ß , d a ß m a n sich v o r seinen deutschen F r e u n d e n v e r l e u g n e t hat, w e n n

diese

auch nur A n s t a n d s b e s u c h e machen w o l l t e n . " 1 8 3 D a r a u s spricht u n v e r k e n n b a r die E n t täuschung, d i e P i r e n n e m i t seiner unzweideutigen H a l t u n g L a m p r e c h t b e r e i t e t hatte. O b g l e i c h L a m p r e c h t G e l e g e n h e i t geboten w a r , d i e deutsche F r o n t zu besichtigen und auch B r ü s s e l zu besuchen, so hat er anscheinend dort ü b e r h a u p t keinen B l i c k für die tatsächlichen

V o r g ä n g e gehabt. E r hat nicht m e h r erlebt, d a ß P i r e n n e

wegen

seines W i d e r s t a n d s und w e g e n der F l a m e n f r a g e d e p o r t i e r t w o r d e n ist. A u f „ F l u c h t nach v o r n " h a t t e sich L a m p r e c h t von j e n e r Position entfernt, die einst v e r a n l a ß t hatte, in ihm d i e fortschrittliche Geschichtswissenschaft

seiner Pirenne

Deutschlands

v e r k ö r p e r t zu sehen. 18 ' 1 W e n n P i r e n n e nach Ausbruch des K r i e g e s den K o n t a k t zu L a m p r e c h t nicht gleich ebenso abgebrochen hat w i e zu den a n d e r e n deutschen H i s t o rikern, d a n n w o h l in der A n n a h m e , er w ü r d e sich von der K r i e g s h y s t e r i e j e n e r ebenso unterscheiden w i e e h e d e m in seiner wissenschaftlichen K o n z e p t i o n . W e n n

auch Pi-

r e n n e von L a m p r e c h t s b e i d e n K r i e g s r e d e n sicher nichts g e w u ß t hat, so m u ß t e er doch erkennen, d a ß sich seine in L a m p r e c h t gesetzten E r w a r t u n g e n nicht e r f ü l l t e n .

Die

B e z i e h u n g e n zwischen P i r e n n e und L a m p r e c h t sind so am K r i e g zerbrochen.

Ebenda, S. 22. Ebenda, S. 38. 183 Ebenda, S. 57. 18'< Engelberg, E., Zum Methodenstreit um Karl Lamprecht, in: Karl-Marx-Universität 181

182

1409-1959, Bd. 2, Leipzig 1959, S. 23 ff.

Leipzig

Pirenne und die deutsche Geschichtswissenschaft

429

Anders als die deutschen Historiker hat Pirenne die politische Probe am Beginn des ersten Weltkrieges glänzend bestanden. E r war vom ersten Augenblick an Gegner der deutschen Militärgewalt. Pirennes Lehrer Kurth hat sich nach Asche, einer kleinen Stadt in der Nähe von Brüssel, zurückgezogen, wo er am 4. Januar 1916 gestorben ist. Im Jahre 1921 hat ihm Pirenne eine berühmte Gedenkrede gehalten, aus der vielleicht eine Stelle zitiert werden darf, da sie auch die Meinung Pirennes zeigt : „En dépit de sa culture toute romane et de son admiration pour la France, il se faisait de la culture germanique un idéal dans lequel, à son insu, il mettait trop de lui même pour qu'il pût correspondre à la réalité. Comme un si grand nombre d'entre nous, il ne prenait pas garde aux progrès effrayants que faisaient là-bas le pangermanisme et le militarisme. Il ne voyait pas l'Allemagne qu'elle était devenue, mais telle qu'il la rêvait et la construisait dans son esprit." 18u Kurth hatte seinen Ansichten gegenüber Deutschland auch einen literarischen Ausdruck gegeben. E s ist die nach seinem Tode (1919) erschienene Schrift „Le guet-apens prussien en Belgique." 1 8 0 Für Kurth war dieser Krieg ein Kampf der Barbarei gegen die Zivilisation: „Belgien war bis zum 3. August 1914 ein blühender Garten der europäischen Zivilisation. Heute ist es nicht mehr als ein Friedhof." 1 8 ' Durchaus bekennt er seine Freundschaft zu Deutschland. Ihm bleibt es unverständlich, daß auch die deutschen Wissenschaftler sich hinter die offizielle Politik stellten und den Uberfall auf Belgien gebilligt haben. Im Preußentum sah er den bösen Geist Deutschlands und vergleicht die Preußen mit den Hunnen. Aber selbst jetzt unterscheidet er zwischen den herrschenden Kreisen und dem deutschen Volk. E s ist erschütternd, dieses Buch zu lesen, und unter dem Eindruck dessen, was wir nach 1933 erlebt haben, darf man es gewiß als eine ernste Mahnung betrachten, gegen Imperialismus und Militarismus, wie er sich zuerst 1914 offenbarte, entschieden Front zu machen. Pirenne hat durchaus die Auffassungen Kurths geteilt, obwohl er einen viel klareren politischen Blick gehabt hat. So war sein Zusammenstoß mit dem deutschen Militärregime, der Kurth erspart geblieben ist, da er keine amtliche Tätigkeit mehr ausübte, unvermeidlich. In der ersten Zeit der Okkupation hat die deutsche Regierung versucht, in ein gewisses Verhältnis zu den Belgiern zu kommen, was sich aber bald als unmöglich erwies. Gerade die Vorkommnisse bei dem Durchzug haben den preußischen Militarismus für immer in Belgien verhaßt gemacht. E s dauerte also nicht allzu lange, daß man diesen noch relativ milden Kurs aufgab und nun mit Gewalt versuchte, aus Belgien herauszuholen, was nur irgend möglich war. Man schaffte die Rohstoffe nach Deutschland, so daß die Fabriken in Belgien stillstehen mußten und schon 1915 zwei Millionen Belgier - also ein Viertel der Bevölkerung - arbeitslos waren. D i e deutsche Regierung hat von Anfang an die Flamenfrage auszunützen versucht. Das allgemeine Wahlrecht hatte den Flamen zu großem politischem Einfluß verholfen, doch sah es mit der Gleichberechtigung des Flamentums noch immer sehr düster aus. Vor allem war die Forderung der Flamen auf eigene höhere Schulen und UniversiE., a. a. O . , S. 4 0 . Leider war mir das Original der R e d e nicht zugänglich.

185

Striefler,

186

Vgl. hierzu ebenda, S. 4 0 ff.

187

E b e n d a , S. 4 2 .

430

Pirenne und die deutsche Geschichtswissenschaft

täten 1914 noch unerfüllt. So hat sich schon im Oktober 1914 in Gent eine Organisation „Jong Viaanderen" gebildet. Diese Bewegung kam dann 1915 in enge Verbindung mit dem deutschen Generalgouvernement. Die sogenannten „Aktivisten" hofften, die deutsche Regierung würde nun alle ihre Forderungen erfüllen, was sich allerdings als ein Zeichen großer Naivität erwies. Demgegenüber bildete sich eine größere flämische Bewegung, die sogenannten „Passivisten", die nicht geneigt waren, mit den Deutschen zusammenzugehen. Allerdings hat die deutsche Regierung entschlossen gehandelt. Sie bewilligte alle Sprachforderungen der „Aktivisten" und benutzte diese Gelegenheit, um auch das akademische Leben wieder in Gang zu bringen. Die belgischen Universitäten waren geschlossen worden. Nun aber wurde am 15. Februar 1916 die Wiedereröffnung der bisher französischsprachigen Universität Gent als einer rein flämischen durchgeführt. 188 Damit war natürlich ein besonderer Anlaß zu dem Konflikt mit Pirenne gegeben. Er und Frédéricq hatten maßgebenden Einfluß an der Universität, und obwohl Frédéricq ein Flamenführer war, ist er ebenso wie Pirenne entschlossen gewesen, dieses „Geschenk" aus der Hand des Feindes zurückzuweisen. Ebenso protestierte er gegen den „Rat von Flandern", den man von deutscher Seite im Februar 1917 als eine politische Marionette einrichtete. Die deutsche Militärverwaltung suchte diesen Einfluß gewaltsam auszuschalten. W i r möchten kurz aus dem Bericht zitieren, den Pirenne und später sein Sohn von den Ereignissen gegeben haben. Sein Sohn schreibt: „Le 18 mars 1916, vers 9 heures du matin, un officier de l'armée d'occupation allemande se présentait chez mon père, M. Henri Pirenne, qui habitait alors, rue Neuve Saint-Pierre à Gand, et le priait de le suivre à la .Kommandantur'. Il y fut reçu par un major qui lui annonça son départ immédiat pour l'Allemagne; et comme il s'enquérait de la raison de son arrestation l'officier se borna à lui répondre: J e l'ignore, c'est un ordre'." 180 Er erzählt dann weiter, wie es seiner Mutter noch gestattet wurde, in Anwesenheit des Offiziers von seinem Vater Abschied zu nehmen. Dieser aber konnte seine Söhne nicht sehen, denn schon eine Stunde nach seiner Verhaftung wurde er in das Interniertenlager in Krefeld abtransportiert. Am 12. Mai 1916 kam er in das Lager Holzminden, am 24. August nach Jena, wo er seinen Freund Frédéricq antraf. Aber am 24. Januar 1917 fand eine plötzliche Überprüfung statt, ihre Korrespondenz und ihre Papiere wurden beschlagnahmt. „Dann wurde mein Vater", so schreibt sein Sohn, „nach Kreuzberg an der Werra gebracht, als politisch gefährlicher Gefangener." 190 Dort äußerte sich Pirenne zu einem evangelischen Geistlichen: „Chez nous, le servage est aboli depuis le XIII e siècle: il existait encore en Allemagne au commencement du XIX e . Pour des gens accoutumés à la liberté depuis six cents ans et ceux dont le grand-père a peut-être été corvéable d'un seigneur et attaché à la glèbe, les mots n'ont pas le même sens, et il est difficile de tomber d'accord." 191 Diese Auffassung hatte, 188 Noch immer eine der besten Darstellungen ist Clough, Sh. B., History of the Flemish movement in Belgium. A study in nationalism, New York 1930. Vgl. dazu meine Rezension in: DLZ. 55/1934, Sp. 796 ff. 189 pirennet H., Histoire de l'Europe des invasions au XVI e siècle, Brüssel 1936, S. V. 1 9 0 Ebenda. 1 0 1 Ebenda, S. XI.

Pirenne und die deutsche Geschichtswissenschaft

431

wie Pirenne bemerkt, seinen Gesprächspartner in Erstaunen versetzt. Aber dann erklärt er, daß, je mehr er Deutschland näher kennenlernte, es ihm um so klarer wurde, daß dessen Disziplin, seine Gewohnheit zu gehorchen, sein Militarismus, sein Mangel an Intelligenz und seine Schwierigkeit, sich den politischen Verhältnissen anzupassen, zum großen Teil in der neuen Leibeigenschaft, die im 16. Jh. entstand, ihre Erklärung finde.192 Dann fügt Pirenne noch hinzu: „Le souci de l'érudition officielle allemande de tout expliquer par la race a amené plusieurs remarques qui montrent précisément combien est fausse cette théorie historique née des besoins de la politique, et le caractère de la population au milieu de laquelle il vivait a manifestement inspiré certaines explications sociales qui comptent parmi les pages les plus prenantes de l'oeuvre." 193 Diese Bemerkungen, die aus Pirennei Buch stammen, das er während und nach dem Kriege geschrieben hat, zeigen, wie die deutschen Verhältnisse nun Pirenne ganz anders erschienen sind. Aus der Sphäre der reinen Wissenschaft wurde er nun der realen Situation gegenübergestellt und hat seine Irrtümer in der Beurteilung der deutschen Zustände schmerzlich erkennen müssen. Im ganzen muß man feststellen, daß die Behandlung Pirennes durch die deutschen Behörden zeitweilig hart war, aber doch niemals zu solchen Scheußlichkeiten geführt hat, wie sie das NaziRegime im letzten Weltkrieg so vielen Gelehrten aus allen Ländern und nicht zuletzt aus Deutschland selbst zugefügt hat. Aber Pirenne empfand mit Recht die Beraubung der Freiheit als besonders bedrückend, und es war eine Zeit, in der man noch glaubte, daß auch die Kriege nicht jeder Humanität entbehren würden. Gerade die Belgier, die in den Jahrhunderten des Mittelalters und der Neuzeit so viele Schrecken erlebt haben, waren mindestens seit 1830 Frieden und Sicherheit gewohnt. Als Wissenschaftler traf ihn besonders der Angriff der deutschen Historiker, und so hat er im Vorwort des fünften Bandes seiner „Geschichte Belgiens", den er dem Andenken seines gefallenen Sohnes widmete, in der Einleitung bemerkt: „Avant la guerre, mon livre avait rencontré en Allemagne le meilleur accueil; tout à coup, il devint la cible contre laquelle s'acharnèrent non seulement les politiciens et les journalistes à la solde du Grand Etat-Major, mais, hélas, des historiens. Il ne fut plus qu'écrit à tendances, inspiré par je ne sais quel nationalisme officiel, voire même par ce que les polémistes d'outre-Rhin appellaient sans rire l'impérialisme belge. Je me rappelle que, pendant mon internement, un généreux anonyme se plut à m'envoyer durant longtemps des numéros de gazettes où j'étais pris à partie et chapitré sans aménité sur mon aberration ou ma mauvaise foi."19/' Man spürt, wie tief ihn das getroffen hat, denn gerade die Historiker waren es doch gewesen, zu denen er enge Verbindung besessen hatte. Es entspricht aber seiner Art, daß er, wenigstens an dieser Stelle, keinen Namen nennt. Sowohl Henri Pirenne als auch das Problem Belgien sind auch für mich persönlich bedeutungsvoll geworden. Schon bei meiner Doktorarbeit, die sich mit den Bischöfen von Lüttich im 11. Jh. beschäftigte und deren Thema ich mir selbst gewählt hatte, war ich auf die Schriften Pirennes gestoßen. Sie hatten großen Eindruck auf mich Ebenda. Ebenda. 19/ ' Pirenne, IL, Histoire de Belgique, Bd. 5, 2. Aufl., a. a. O., S. XII. 192 193

432

Pirenne und die deutsche Geschichtswissenschaft

g e m a c h t . 1 8 ' D a mein Studium ( 1 9 0 9 - 1 9 1 4 ) in eine Z e i t fiel, in der noch der K a m p f um L a m p r e c h t in l e b e n d i g e r E r i n n e r u n g w a r , so h a t t e ich mich auch mit

dessen

Schriften beschäftigt und auch hier sehr b a l d gesehen, d a ß die herrschende Geschichtsa u f f a s s u n g g r o ß e Schwächen aufwies. A n der B e r l i n e r U n i v e r s i t ä t w a r d a m a l s D i e t rich S c h ä f e r der absolute H e r r s c h e r ü b e r die m i t t e l a l t e r l i c h e Geschichte. N e b e n ihm trat der Ö s t e r r e i c h e r M i c h a e l T a n g l ,

dem ich m e i n e S p e z i a l a u s b i l d u n g

verdanke,

stark zurück. Schon bei der W a h l meines D o k t o r t h e m a s w a r es zu A u s e i n a n d e r s e t zungen m i t S c h ä f e r g e k o m m e n . E r s t recht lagen die Ansichten, die ich mir w ä h r e n d dieser A r b e i t b i l d e t e , durchaus im G e g e n s a t z zu den I d e e n Schäfers. E s w a r d a b e i v o n B e d e u t u n g , d a ß ich im U n t e r s c h i e d zu den meisten H i s t o r i k e r n N a t i o n a l ö k o n o m i e als zweites H a u p t f a c h g e w ä h l t h a t t e und in den S e m i n a r e n Schmollers und W a g n e r s eine ganz a n d e r e A r t der Geschichtsauffassung k e n n e n l e r n t e , als sie S c h ä f e r und die Jungrankianer

vertraten.

Die

sozialen

und

ökonomischen

Probleme,

die bei

den

N a t i o n a l ö k o n o m e n an sich im V o r d e r g r u n d standen, m u ß t e n zwangsläufig dazu führen, d i e rein politische Ausrichtung der H i s t o r i k e r als einseitig zu empfinden. N a c h A b s c h l u ß m e i n e r D i s s e r t a t i o n h a b e ich es gewagt, sie an P i r e n n e zu senden. D a r a u f hat er in einer l i e b e n s w ü r d i g e n K a r t e aus G e n t v o m 4 . A p r i l 1 9 1 4

geant-

w o r t e t . D a b e i hat er mich als jungen A n f ä n g e r ermutigt, m e i n e Forschungen

fort-

zusetzen. H e u t e d a r f ich sagen, d a ß diese Z e i l e n richtunggebend für mich gewesen sind, denn sie h a b e n entscheidend dazu beigetragen, d a ß ich auch weiterhin mich m i t der westeuropäischen, i n s b e s o n d e r e belgisch-niederländischen

Geschichte,

beschäftigt

h a b e , und gegenüber der d a m a l s und noch später herrschenden Richtung der deutschen Geschichtswissenschaft eine u n a b h ä n g i g e S t e l l u n g einnehmen k o n n t e . D a z u trug w o h l auch d i e F a m i l i e n t r a d i t i o n bei, in der ich g r o ß g e w o r d e n bin. N a c h d e m frühen T o d e meines V a t e r s (gest. 1 9 0 3 ) k a m ich w i e d e r in das H a u s

meines

G r o ß v a t e r s H e i n r i c h D e r n b u r g ( 1 8 2 9 - 1 9 0 9 ) . D i e s e r hat sich m e i n e r von A n f a n g an sehr a n g e n o m m e n , und dadurch k a m ich frühzeitig in eine wissenschaftlich w i e politisch a n r e g e n d e A t m o s p h ä r e . D e r L e b e n s w e g meines G r o ß v a t e r s w a r von

eigener

A r t . N a c h der T e i l n a h m e an dem B a d e n e r A u f s t a n d 1 8 4 8 h a t t e er sich w i e d e r dem juristischen S t u d i u m z u g e w a n d t , das er bereits 1 8 5 0 b e e n d e t e . Schon 1 8 5 1 w u r d e er P r i v a t d o z e n t in H e i d e l b e r g , und 1 8 5 4 w u r d e er als N a c h f o l g e r T h e o d o r M o m m s e n s auf eine P r o f e s s u r nach Zürich b e r u f e n , w o er

bis 1 8 6 2 , zuletzt als O r d i n a r i u s , tätig

w a r . D a n n wechselte er nach H a l l e , ging schließlich 1 8 7 3 an die U n i v e r s i t ä t B e r l i n , w o er gleichzeitig als K r o n s y n d i k u s auf L e b e n s z e i t in das preußische H e r r e n h a u s b e rufen wurde. 1 8 0 B e s o n d e r e B e d e u t u n g hat für ihn sein A u f e n t h a l t in Zürich besessen, w o er F r e u n d s c h a f t mit G o t t f r i e d K e l l e r geschlossen hat. D u r c h seine H e i r a t

mit

A u g u s t e Schaffner, die aus einer alten F r a n k f u r t e r F a m i l i e s t a m m t e , sind seine B e ziehungen zu S ü d d e u t s c h l a n d stets sehr eng gewesen. I m G r u n d e hat er sich i m m e r als H e s s e gefühlt. N i c h t o h n e B e l a n g w a r e n auch seine B e z i e h u n g e n zu F r a n k r e i c h . Sein O n k e l J o s e p h D e r n b u r g

(1811-1895)

und dessen Sohn H a r t w i g

(1844-1908)

Sproemberg, H., Die Bischöfe von Lüttich im 11. Jh., Promotion am 11. Februar 1914 in Berlin. Der größte Teil der Dissertation ist heute noch ungedruckt. l!)(i Vgl. die Nachrufe von Seckel, E., Gedächtnisrede auf Heinrich Dernburg, Halle 1908, und Kipp, Th., Heinrich Dernburg, Leipzig 1908. 195

Pirenne und die deutsche Geschichtswissenschaft

433

waren beide Professoren an der Sorbonne, an der ihr Andenken noch heute lebendig ist. Waren schon dadurch für mich Beziehungen zu Westeuropa gegeben, so war es von politischem Belang, daß der Bruder Heinrich Dernburgs, Friedrich Dernburg (1833-1911) eine bedeutende politische Rolle gespielt hat und sein Sohn Bernhard (1865-1935) mir Beziehungen zu den liberalen Kreisen öffnete. Dadurch wird verständlich, daß ich frühzeitig vieles Interessante sehen und hören konnte und Verständnis für die großen politischen Vorgänge erhielt. Diese frühe politische Schulung und die Einführung in die Universitätsatmosphäre hat sich schon bei meinem Studium geltend gemacht. Dadurch war es mir möglich, zu einer selbständigen Auffassung zu kommen. Besonders machte es sich bemerkbar in meiner Stellung zu Dietrich Schäfer, der mein Lehrer gewesen ist, da er die mittelalterliche Geschichte an der Berliner Universität in erster Linie vertrat. Gerade der Standpunkt Schäfers stand in schroffem Gegensatz zu den Auffassungen, die ich von Haus aus mitbrachte. Es war mir unmöglich, dieser Richtung zu folgen. Schon Gerhard Ritter hat bemerkt, daß das Gefühl einer politischen Krise in eingeweihten Kreisen damals verbreitet gewesen ist. Seit dem Jahre 1905 wiederholten sich die Krisen in kurzen Abständen, und immer bedrückender war das Gefühl, daß Deutschland nicht auf dem richtigen Wege sein konnte. 197 Indessen hat man doch nicht geglaubt, daß die Lage so ernst sei, und besonders in Kreisen der Professoren war man ziemlich ahnungslos. Im Gegensatz dazu hatte aber Dietrich Schäfer schon lange den Ausbruch eines Weltkrieges ins Auge gefaßt, und er hat ihn als notwendig sogar begrüßt. Ein besonderes Zeugnis hierfür ist eine Rede, die er zur 100-Jahrfeier von 1813 in der neuen Aula der Berliner Universität am 9. Februar 1913 in Anwesenheit Wilhelms II. gehalten hat. Mit Schärfe wandte er sich gegen den Begriff Humanität. Er sagte: „Wir wollen uns nicht erheben über andere Völker, aber man zeige uns das Volk, das sich einer christlicheren, einer humaneren Gesinnung erfreute als das deutsche. Man möge uns mit Mahnungen zur Humanität und zur Dämpfung unseres nationalen Stolzes verschonen." Und zum Schluß hieß es: „Sollte Gott wollen, daß Eure Majestät an der Spitze des deutschen Heeres ins Feld ziehen müßten, Deutschlands Rechte und Deutschlands Ehre zu wahren, so würde auch die akademische Jugend von heute mit Körner beten: ,Zum Leben, zum Sterben segne mich! Vater, ich preise Dich'." 198 An dieser Feier habe ich selbst teilgenommen und stand als Mitglied des Studentenausschusses an der Rückwand des Podiums. Ich sehe vor mir die grimmige Entschlossenheit Dietrich Schäfers und dann den Kaiser, der das Podium betrat in der Uniform der Garde du Corps, den Adlerhelm auf dem Kopfe, mit der Faust auf den Tisch schlug und in den Saal schrie: „Meine Herren, die Weltgeschichte ist das Weltgericht!" Ich kann nicht leugnen, daß mich dies mit Besorgnis und Schrecken erfüllte. W i e verschieden diese Vorgänge gewirkt haben, geht aus der schon berührten Schilderung von Karl Lamprecht hervor. Ihm erscheint in seinem erwähnten Vortrag 1117

Vgl. Ritter, G., Eine neue Kriegsschuldthese, i n : HZ. 1 9 4 / 1 9 6 2 , S. 6 5 0 ff.

198

Wiederabdruck der Rede in: Schäfer, D., Aufsätze, Vorträge und Reden, Jena 1 9 1 3 , S. 4 5 6 und 4 5 9 .

434

Pirenne und die deutsche Geschichtswissenschaft

gerade diese Feier als ein Höhepunkt, denn er sagt: „ S o muß ich denn zum Schluß noch fragen, mit welcher Aussicht wir wohl in die Zukunft treten. Mir kommt als Antwort darauf die Erinnerung an eine unvergeßliche Szene, die ich 1913 in Berlin miterlebte." N u n spricht er von der oben erwähnten Feier in der Berliner Universitätsaula. Nachdem er die Versammlung geschildert und vor allem die Anwesenheit des K a i s e r s hervorgehoben hat, sagt er: „ W a s nun geschah, das gab ein B i l d der G r ö ß e Preußens in so künstlerisch vollendeter Form, wie ich es noch nie erlebt hatte." E r bemerkt: „Ich hatte einen bescheidenen Platz an der Medizinischen Fakultät erhalten und konnte von d a aus alles genau übersehen. D e r K a i s e r riß sich in plötzlichem Impuls empor, eilte auf das K a t h e d e r und sprach. E s kommt nicht darauf an, w a s er gesagt h a t ; die Worte waren beinahe gleichgültig, aber unter einem G e f ü h l hat wohl jeder gestanden, der diesem Aktus beigewohnt hat. Auch wenn er nicht K a i s e r gewesen wäre, w ü r d e er die Versammlung hingerissen haben . . . Ich habe eine solche Einheit des inneren Gefühls, einen solchen Ernst oder, richtiger gesagt, eine solche in der L u f t liegende Mahnung zur T a t k r a f t nie wieder erlebt. D a s ist die Kultur Preußens." 1 9 9 Bemerkenswert ist, d a ß er von der R e d e Dietrich Schäfers, die doch der Hauptinhalt dieser Feier war, kein Wort sagt. Allerdings w a r Schäfer sein persönlicher Gegner. M a n sieht aber, wie ganz anders sich in seinen Augen dieses Ereignis widergespiegelt hat und wie weit sich Lamprecht von seiner ursprünglichen Position entfernt hatte. M a n hat es neuerdings unternommen, sich mit der politischen Haltung der deutschen Professoren im ersten Weltkrieg eingehender zu beschäftigen. Schwabe geht in seiner Untersuchung 2 0 0 davon aus, daß die deutschen Professoren sich seit 1848 weitgehend aus der aktiven Politik zurückgezogen hätten. D a s ist wohl nur bedingt richtig, wenn man die Haltung der Jungrankianer, Treitschkes, Sybels und erst recht Dietrich Schäfers bedenkt. M a n kann nur sagen, daß die Professoren es nicht mehr liebten, sich wie 1848 in den Parlamenten zu betätigen. Schwabe weist auf die Veränderung der sozialen Verhältnisse hin und ist der Ansicht, daß die bürgerliche Intelligenz nur äußerlich noch ihre Stellung behauptet habe. D i e eigentlichen Machtfaktoren waren neben Kirche und Großgrundbesitz die Unternehmer und im steigenden M a ß e die organisierte Arbeiterschaft. So seien die Professoren als maßgebende Vertreter der N a t i o n nicht mehr in F r a g e gekommen. Seit 1870 hatte die mittelalterliche deutsche Geschichtc ihre Gegenwartsbeziehung stark eingebüßt, und gerade hier herrschte die reine Fachwissenschaft. D i e neuzeitlichen Historiker standen allzu stark unter dem Einfluß Bismarcks und predigten das, was sie für Bismarcksche Politik hielten. Ihnen k a m es in hohem M a ß e auf die „Weltgeltung" des deutschen Reiches an. N a c h Schwabe gab es mehrere Strömungen unter den Historikern. Auf der einen Seite die Betonung der deutschen Weltpolitik und auf der anderen Seite der „ K a theder-Sozialismus". D i e letztere richtete sich vorwiegend nach innen und forderte soziale Reformen. D i e imperialistische Richtung aber gewann immer größeren Einfluß.

199 200

Lamprecbt, K„ Deutsche Zukunft, a. a. O., S. 27. Schwabe, K„ Zur politischen Haltung der deutschen Professoren im ersten Weltkrieg, in: H Z . 193/1961, S. 601 ff.

Pirenne und die deutsche Geschichtswissenschaft

435

Man muß daher die Ansicht von Schwabe berichtigen, wenn er sagt, daß man in der Öffentlichkeit und in der Wissenschaft glaubte, daß der Professor seine staatsbürgerlichen Pflichten im Bereiche seiner Wissenschaft, mochte diese noch so eng sein, am kompetentesten zu erfüllen habe. 201 Indessen auch er bemerkt die immer stärker werdende Tätigkeit Dietrich Schäfers als wissenschaftliches Haupt der Alldeutschen. Für ihn trifft es nicht zu, daß er durch den Krieg überrascht worden ist, denn er hat, wie schon bemerkt, konsequent auf diesen Krieg wissenschaftlich hingearbeitet, weil er ihn für unvermeidbar hielt. Aber in der Mehrzahl waren die Hochschullehrer auf diesen Krieg nicht vorbereitet, und als man nun eine Art wissenschaftliche Mobilmachung versuchte, sind sie zu keiner klaren realistischen Auffassung gelangt. Sie wurden von dem allgemeinen Rausch überrannt. Es ist erstaunlich, wieviel bedeutende Historiker dem Taumel nationalistischer Begeisterung verfallen sind. Wenn Schwabe darauf hinweist, daß die Reichsregierung sich außerstande zeigte, dem Weltkrieg einen propagandistischen Sinn, abgesehen von den Gedanken der „nationalen Verteidigung", zu geben, so haben auch die Professoren diese Lücke zunächst nicht ausfüllen können. An dem Beispiel Lamprechts sieht man, wie wenig sie imstande waren, die realen Verhältnisse zu erkennen und eine Aussicht auf die Zukunft zu geben. Dabei ist es von großer Bedeutung, daß die deutsche Geschichtswissenschaft ihren Unterricht zu sehr auf die deutsche Geschichte konzentrierte. Die Kenntnis der Geschichte der Nachbarnationen war gering, und man versuchte gar nicht, sie zu vermitteln. Es gab dann Kollegs über Weltgeschichte, auf die wir noch zurückkommen werden. Schon der Schulunterricht ging in Geschichte höchstens bis 1870. Es existierte dann nur noch das Thema Bismarck, die Verhältnisse in anderen Ländern wurden kaum gestreift. Das war für die historische Bildung überaus verhängnisvoll, denn auf diese Weise wurde die Anschauung gefördert, daß das deutsche Volk im Mittelpunkt der Welt stehe. So wurde schon damals mit dem Begriff der „deutschen Sendung" operiert. So konnte dem wilden Nationalismus freie Bahn geschaffen werden. Es war wieder Dietrich Schäfer, der in seinen Werken „Deutsche Geschichte" und „Weltgeschichte" diese Anschauungen von der zentralen Stellung des deutschen Volkes gepredigt hat. 202 Die Tendenz dieser Bücher war ganz eindeutig. Vor allem waren sie in der Hand der Lehrer an höheren Schulen von außerordentlich großer geistiger Wirkung im Dienste des Imperialismus. Gegen den Krieg hat sich unter den offiziellen Historikern Deutschlands wohl am entschiedensten Hans Delbrück, der Berliner Professor für Neuere Geschichte, gewandt. Schwabe zitiert einen Brief von Max Lehmann an Delbrück, der zeigt, daß es auch andere Ansichten gab: „Ranke! ,Weh dir, daß du ein Enkel bist', das habe ich mir oft zugerufen seit dem 25. Juli 1914, als rings um mich die Kriegspsychose tobte und ich, hier fast allein, zwar Deutschlands Besiegung für unmöglich hielt, aber doch noch an etwas anderes dachte - an das, womit Ihr herrlicher Brief schließt, an die 201

Ebenda, S. 603.

202

Schäfer, D „ Deutsche Geschichte, Bd. 2, Jena 1 9 1 0 ; ders., Weltgeschichte der Neuzeit, Bd. 2, Berlin 1 9 0 8 .

436

Pirenne und die deutsche Geschichtswissenschaft

Einheit der romanisch-germanischen Nationen . . ," 20! Der Neffe Delbrücks, Peter Rassow, hat in einer Gedenkrede 1948 eine wichtige Charakteristik Delbrücks gegeben. Dabei äußert er sich gerade über die Opposition Delbrücks gegen die herrschende politische Meinung vor und während des ersten Weltkrieges. Dabei sagt er: „Die Punkte, an denen Delbrück vor allem und immer wieder und mit den äußersten Kräften seiner machtvollen Persönlichkeit in die Politik eingegriffen hat, sind gerade diejenigen, an denen die führenden Politiker des deutschen Volkes die entgegengesetzte Richtung eingeschlagen haben."20'1 In der Tat hat Delbrück mit großen Schwierigkeiten an der Berliner Universität zu rechnen gehabt. Die Berliner Akademie hat es abgelehnt, ihn zum Mitglied zu wählen, was ebensowenig zum Ruhme der Akademie war wie in manchen anderen Fällen, so z. B. bei der Ablehnung von Robert Holtzmann. Delbrück stammte zwar auch aus der Rankeschule, aber er ist nicht den Weg der Jungrankianer gegangen. Schon 1898 hat er sich gegen die übersteigerte Nationalitätenpolitik der Regierung gewandt, auch war er immer ein Gegner des Sozialistengesetzes. Deshalb bekämpfte ihn der fanatisierte Teil des Nationalismus, die Hakatisten und Alldeutschen, mit größter Erbitterung. Für seine Haltung wurde er sowohl gerichtlich wie dienstlich gemaßregelt. 20 '' So hat er sich denn auch während des Krieges gegen die Kriegszielpolitik der Militaristen und Großindustriellen gewandt und ist für einen Verständigungsfrieden eingetreten, wofür er gleichfalls gemaßregelt wurde. 206 Schwabe bemerkt allerdings, daß auch Delbrück sich erst spät und im Grunde niemals von der Bindung an die altpreußischen Traditionen freimachen konnte. Schwabe nennt ihn einen „Muß-Demokraten". 20 ' Die Annexionspläne auf Belgien und Frankreich hat Delbrück jederzeit abgelehnt, da er sie weder für gerecht noch für politisch vernünftig hielt. 208 Aber diese Opposition war erfolglos, da hinter ihr keine Organisation stand wie auf der Gegenseite bei den Alldeutschen. Hier wirkte sich besonders die leidenschaftliche Propaganda Dietrich Schäfers aus, der schon im Juli 1915 an die Spitze eines Ausschusses trat, der mit größter Hartnäckigkeit das Annexionsprogramm bis zum bitteren Ende durchzusetzen versucht hat. Neuerdings ist eine Denkschrift Dietrich Schäfers vom 20. Juli 1915 veröffentlicht worden, in der in geradezu maßloser Weise Annexionen nach allen Seiten gefordert wurden. Bemerkenswert ist, daß dieser deutsche angeblich unabhängige Ausschuß geradezu als Vertretung der Großindustriellen erscheint, deren führende Persönlichkeiten ihm angehörten. 200 203 m 205 206 207 208

Vgl. Schwabe, K„ a. a. O., S. 606. Rassow, P., Hans Delbrück als Historiker und Politiker, in: Sammlung 4/1949, S. 428. Ebenda, S. 439. Ebenda, S. 440. Schwabe, K„ a. a. O., S. 626. Ebenda, S. 6 1 0 ff.

20'j pretscht G., Dietrich Schäfer - der Alldeutsche, in: WZ. Leipzig, ges.- u. sprachwiss. Reihe, 9 / 1 9 5 9 - 6 0 . Allerdings kann ich nicht billigen, daß Pretsch Schäfer Profitsucht nachsagte und erklärte, dieser hätte keine Ehre besessen. Davon kann keine Rede sein. Schäfer, der aus einfachen Kreisen stammte, war Alldeutscher aus Überzeugung und ein ehrlicher Fanatiker. Vielleicht gerade deswegen war sein Wirken so unheilvoll.

Pirenne und die deutsche Geschichtswissenschaft

437

An dieser Stelle kann nicht weiter auf die so umfangreiche Diskussion über Kriegsziele und Kriegsschuld eingegangen werden, aber es bleibt ohne Zweifel Tatsache, daß gerade auch aus Gelehrtenkreisen diese so verderblichen Annexionsforderungen unterstützt worden sind. 210 E s wäre vielmehr beizeiten notwendig gewesen, gegen das Aufkommen solcher Anschauungen Front zu machen. Ganz besonders bedenklich ist der Kult, der mit den Ideen von 1914 getrieben wurde. Richtiger ist die Feststellung Schwabes, daß die deutschen Professoren am E n d e des Krieges erkennen mußten, sie seien mit der politischen Aufgabe, die sie sich zu Kriegsbeginn gestellt hatten, in jeder Beziehung gescheitert. E s ist interessant, daß er berichtet, daß der Theologe R . Seeberg sich von einem Arbeitervertreter schon Mitte Oktober 1918 sagen lassen mußte: „ D e r hohen W o r t e seien jetzt genug gefallen. D i e Professoren täten besser, wenn sie sich um eine gerechte Lebensmittelversorgung bekümmerten." Seeberg war einer der Führer der Annexionisten. 2 1 1 Noch gefährlicher aber war die Politik der großindustriellen Kreise, die ihren Wunsch, die Bodenschätze Belgiens und Lothringens in die Hand zu bekommen, nicht aufgeben wollten und daher wesentlich dazu beitrugen, d a ß alle Versuche, wenigstens noch rechtzeitig Frieden zu schließen, scheiterten. Meine Tätigkeit in der belgischen Sektion hat mir - wie gesagt - Gelegenheit gegeben, im okkupierten Belgien selbst die Situation zu studieren. Auf wiederholten Reisen nach Belgien konnte ich die Folgen der Annexionspolitik feststellen. Sehr deutlich trat mir vor Augen, welchen Schaden gerade die Politik Ludendorffs anrichtete. J e d e r weiß, welche Folgen seine Unterdrückungspolitik im Osten gehabt hat. Aber auch in Belgien hat die Verschärfung der Deportation nur größeren Widerstand erzeugt. Damals erhielten wir Kenntnis von dem Plan Ludendorffs, d a ß er die Frauen und Kinder der belgischen Arbeiter in Lagern nach Deutschland deportieren wolle, um die Belgier zur Arbeit für das wilhelminische Deutschland zu zwingen. M i t besonderem Bedauern hatte ich von der Deportation Pirennes gehört. Leider war es mir nicht möglich, mich für ihn zu verwenden, so wie es zum Beispiel seine holländischen Freunde getan haben. Aber gerade damals kam es zum Zusammenstoß über Pirenne und Belgien mit Dietrich Schäfer. Dieser ließ keine Möglichkeit aus, um für seine sture und fanatische Politik zu werben. So erschien er 1917 im Kriegspresseamt und forderte mich auf, in seinem Sinne in der belgischen Frage und gegen Pirenne zu wirken. Aber es versteht sich, daß mir das unmöglich war, und als ich ihm mit Festigkeit erklärte, daß ich niemals zu einer solchen Aktion bereit wäre, kam es zu einem völligen Bruch. 212

210

Vgl. Fischer, F., Deutsche Kriegsziele. Revolutionierung und Separatfrieden im Osten 1914 bis 1918, in: HZ. 188/1959, S. 249 ff.; auch Schwabe, K„ a. a. O., S. 623 ff.

211

Ebenda, S. 629. Schäfer schied mit der Erklärung, er werde verhindern, daß ich je ein deutsches Katheder besteigen würde - und in der Tat hat es 30 Jahre gedauert, bis ich diesen Widerstand überwinden konnte. Schäfer hat auch persönlich immer schwarz-weiß gesehen. Selbst mein Freund W. Vogel hat in seinem Nachruf auf ihn (HGbll. 54/1929, S. 3 ff.) bei aller Anerkennung der wissenschaftlichen Leistung die politischen Schattenseiten Schäfers nicht ganz verschweigen können.

212

29

Sproemberg

438

Pitenne und die deutsche Geschichtswissenschaft

Vielleicht darf ich doch darauf hinweisen, daß gerade die Tätigkeit im Kriegspresseamt in den Jahren 1915/1918 von hohem Wert für mich gewesen ist. Es war eine für den Historiker ganz seltene Gelegenheit, gleichsam von der Nähe aus Geschichte zu erleben, Hintergründe zu erkennen. Das war auch für die Beurteilung der revolutionären Ereignisse von 1918 von Belang. Da eine grundlegende Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse ausblieb, änderte sich auch die Grundrichtung der deutschen Historiographie nicht. Es fiel ihr sogar schwer, den tatsächlich eingetretenen Veränderungen Rechnung zu tragen. Die Erkenntnis, daß es ein Zurück in die Zeit vor 1914 nicht gab - ebensowenig wie etwa in Frankreich nach 1789 - hat sich nur sehr langsam durchgesetzt. Unter diesen gesellschaftlichen Umständen war man nicht bereit, auf die Weltmachtpläne zu verzichten.

Zwischen Novemberrevolution und Faschismus Es ist hier nicht der Ort, die politische Entwicklung in der Weimarer Republik zu rekapitulieren. Begreiflich, daß Pirenne seine völlige Ablehnung der Kontakte mit den deutschen Historikern lange aufrecht erhalten hat. Gerade in dieser Zeit hat er sein großes Werk über die Geschichte Belgiens vollendet und sich noch mehr der Geschichtsschreibung im großen Stil zugewandt, wie das seine Arbeiten über die mittelalterlichen Städte und schließlich über den Übergang zwischen Spätantike und Mittelalter zeigen. Gerade in dem letzten Werk hat er Neuland betreten, denn er wandte seine Erkenntnisse über die Bedeutung der ökonomischen und sozialen Faktoren auf ein Gebiet an, auf dem man derartiges noch nie versucht hatte. 213 Dazu trat nun seine internationale Tätigkeit. Bekannt ist sein Auftreten auf dem Historikerkongreß in Oslo im Jahre 1928, wo seine Ausführungen über Spätantike und Mittelalter sensationell waren. 214 Gewiß, er kam dort auch mit deutschen Historikern wieder zusammen, aber zu einem wirklichen Kontakt mit der offiziellen deutschen Geschichtswissenschaft ist es damals nicht gekommen. So wurden zwar seine Werke in Deutschland gelesen, doch seine Anschauungen hatten keine Wirkung auf die deutsche Geschichtswissenschaft. So kam es denn nicht zu einer Annäherung zwischen der deutschen und belgischen Geschichtswissenschaft. Mir persönlich war es ungemein schwer geworden, meine Forschungsarbeiten fortzusetzen, eben weil der Einfluß Dietrich Schäfers weiter wirkte. Der frühe Tod meines Lehrers Michael Tangl (1921) hat mich dann auch einer Verbindung mit der Universität beraubt. Die deutsche GeschichtsVgl. auch Hübinger,

P. E., a. a. O., S. 1 8 3 ff.; Schwabe, K., a. a. O., S 628. Rörig,

F., hat in:

Stand und Aufgaben der Hansischen Geschichtsforschung, in: HGbll. 69/1950, S. 2, an den Auffassungen Schäfers heftige Kritik geübt. 213 y » ]

vor a

llem

:

Pirenne,

H., Les villes du moyen âge. Essai d'histoire économique et sociale,

Brüssel 1 9 2 7 ; Mahomet et Charlemagne, Brüssel 1 9 3 7 ; La civilisation occidentale au moyen âge du X I e au milieu du X V e siècle. Le mouvement économique et social, Paris 1 9 3 3 . Vgl. dazu die Übersetzung von Hübinger,

P. E., Geburt des Abendlandes, o. O. 1 9 3 9 , mit wichtigem

Kommentar, und meine Rezension in: HGbll. 60/1935, S. 2 4 1 ff. m

Ganshof, F.-L., in: Biographie Nationale . . ., a. a. O., S. 6 8 1 .

Pirenne und die deutsche Geschichtswissenschaft

439

Wissenschaft war weitgehend beherrscht von der Diskussion über die Kriegsschuldfrage. Sicher war der Vertrag von Versailles wenig geeignet, einen dauernden Frieden herbeizuführen. Insbesondere war das Schuldbekenntnis des deutschen Volkes, das damals gefordert wurde, unberechtigt, denn die Schuldfrage ist zwischen den kriegführenden imperialistischen Mächten sehr kompliziert gewesen. Für die deutsche Geschichtswissenschaft bedeutete es kein Glück, daß sie sich mit dieser Frage derart intensiv beschäftigte, ohne daran zu denken, aus den Erfahrungen zu lernen. So haben denn die deutschen Professoren gegen die nun wieder auftretende und noch gefährlichere nationalistische Welle ebensowenig ihre Pflicht getan wie vor 1914. Die imperialistischen Ideen wirkten sich besonders an den Schulen aus, weil hier der Einfluß der alten Konzeption noch immer beherrschend war. Es kam nicht zu einem Richtungswandel der deutschen Geschichtswissenschaft, und das hat ohne Zweifel mit zum Sieg des Nationalsozialismus beigetragen. Die mangelnde politische Bildung im Unterrichtswesen hat es ermöglicht, daß derartig minderwertigen Büchern wie dem „Mythus des 20. Jahrhunderts" von Rosenberg überhaupt Gehör geschenkt werden konnte. So erinnere ich mich, wie schon vor der Machtergreifung 1933 gebildete Leute sagten, die noch nicht Nationalsozialisten waren: Die Historiker haben uns belogen, jetzt erst erfahren wir die Wahrheit. Das ist ein furchtbares Zeugnis für die Tätigkeit der deutschen Geschichtswissenschaft in der Zeit vor dem zweiten Weltkrieg.** ** Hier bricht das Manuskript ab.

29

HENRI P I R E N N E AN HEINRICH

SPROEMBERG

1.

Uccle, 11 Mars 1931 Monsieur le Docteur, Je suis très heureux du bon souvenir que vous m'avez conservé et j'ai reçu avec reconnaissance le 1 er volume de vos Beiträge zur Französisch-Flandrischen Geschichte. J e n'ai eu que le temps jusqu'ici de le parcourir très rapidement. Soyez certain que je le lirai avec l'attention qu'il mérite. Il m'a semblé que vous n'aviez pas utilisé l'article de E. Sabbe, La réforme de Richard de S. Verme dans les Pays-Bas (Rev. belge de phil. et d'hist. VII (1928) N" 2). Vous citez mon Histoire de Belgique d'après l'édition allemande déjà bien vieille puisqu'elle a paru en 1899. La 5 e édition française (1929) contient naturellement beaucoup d'améliorations. Ne voyez, je vous prie, dans ces très légères observations, qu'une preuve de mon intérêt pour votre étude dont j'espère que la suite paraîtra bientôt. J e souhaite de tout mon cœur, croyez-le bien, que les relations scientifiques se rétablissent, telles qu'elles étaient avant la guerre entre travailleurs belges et travailleurs allemands. Agréez, Monsieur le Docteur, l'assurance de mes sentiments les plus distingués et les plus dévoués. H.

Pirenne

2.

Uccle, 18 Mars 1931 Monsieur le Docteur, J e viens de lire votre belle étude sur Marculf avec le plus grand intérêt. Il faudrait naturellement, pour en apprécier les résultats avec exactitude, recourir aux sources. J e ne le puis faute de temps. Mais il me paraît que votre conception générale est tout à fait conforme aux faits. Il est certain que le début du VIII e siècle a vu se produire une subversion profonde de l'état des choses mérovingien, tant au point de vue des institutions qu'au point de vue économique. L'influence cléricale et l'influence austrasienne deviennent prépondérantes. Il est très vraisemblable que Marculf se rattache à ce mouvement. Votre hypothèse est aussi séduisante que probable. J'ai été d'autant plus heureux de la connaître que la grande transformation européenne du VIII e s., produite à mon sens par la poussée de l'Islam dans la Méditerranée, m'occupe depuis

441 assez longtemps. Permettez-moi de vous offrir en hommage reconnaissant une petite note qui se rattache à ce sujet. La 3 e édition de ma Bibliographie à laquelle vous voulez bien vous intéresser, est sous presse et paraîtra dans le courant de l'année. Quant à mon Histoire de Belgique voici l'indication des éditions du texte français t. I 5 e édit. 1929 t. II 3 e édit. 1922 t. III 3 e édit. 1923 t. IV 3 e édit. 1927 t. V 2 e édit. 1926 t. VI I e édit. 1926 t. VII sous presse. Veuillez agréer, Monsieur le Docteur, l'assurance de mes sentiments les plus distingués et les plus dévoués. H.

Pirenne

3. Uccle, le 31 Mai 1931* Monsieur le Docteur, Je viens de recevoir votre aimable lettre et l'article si sympathique et si compréhensif que vous avez bien voulu consacrer à la 5 e édition de mon Histoire de Belgique dans la Deutsche Literaturzeitung. Vous comprendrez sans peine que je l'ai lu avec autant d'intérêt que de reconnaissance. Je suis touché tout à la fois du soin que vous avez pris à faire connaître les remaniements de mon livre au public allemand et de l'honneur que vous me faites en recherchant les influences que la science allemande a exercées sur ma formation. Vous caractérisez admirablement ma position à l'égard de Lamprecht. J'ai fait sa connaissance en 1883 et j'ai été intimement lié avec lui jusqu'à sa mort. Je possède de lui une collection de lettres où il me décrit mois par mois l'évolution de ses idées et de ses travaux. Son action a été grande sur mes idées pendant sa premiere période, mais je n'ai pu le suivre dans la construction des Kulturstufen qu'il a élaborée de plus en plus pendant la seconde et qui m'a toujours paru très arbitraire. Comme vous l'avez très finement observé, ce qui me frappe surtout dans l'histoire ce sont les mouvements de masse que l'observation empirique révèle et qui m'apparaissent comme les réalités les plus scientifiquement observables de l'évolution historique. De là mon goût (qui s'est précisé jadis pendant mes études en Allemagne) pour l'histoire économique et sociale. La Belgique se prêtait particulièrement bien à son étude. En outre les in* A m K o p f dem maschinengcschriebenen M a n u s k r i p t s b e f i n d e t sich die handschriftliche B e m e r k u n g : „copie remise par S p r o e m b e r g à Leipzig le 2 7 . I V . 5 6 " .

442 fluences de races y sont réduites à leur minimum. D e là vient le peu d'importance que je leur ai attribuée. Mais de là aussi découle ma conception, comme vous l'avez fort bien vu, de la formation de la Belgique et de sa civilisation internationale. Le parti qu'on en a tiré en politique s'est développé tout-à-fait en dehors de moi. J e n'ai voulu que faire œuvre d'historien. J'ai connu trop tard le livre de Kienast pour pouvoir l'utiliser, mais je ne manquerai pas d'y recourir dans une nouvelle édition. J e n'ai pas besoin de vous dire combien j'adhère à ce que vous me dites dans votre lettre de la nécessité de rétablir le plus intimement possible les relations scientifiques si cruellement rompues par la guerre. J e me réjouis pour ma part de reprendre de plus en plus le contact avec l'Allemagne à laquelle je sais tout ce que je lui dois. Excusez-moi de vous exprimer si mal les sentiments et les idées que votre article et votre lettre m'ont inspirés. J e viens d'être cruellement meurtri par la mort inopinée d'un de mes fils. Croyez, Monsieur le Docteur, à mes sentiments les plus reconnaissants et les plus dévoués. H.

Pirerme

4. Uccle, 4 Mai 1932 Monsieur le Docteur, E n réponse à votre aimable lettre du 20 avril, je suis heureux de pouvoir vous dire que l'organisation des échanges scientifiques avec l'Allemagne et l'Autriche est en bonne voie de réalisation en Belgique. M. le professeur Ganshof m'a fait part de ses conversations avec M. le prof. Eisenmann, et nous avons tracé les grandes lignes de ce qu'il y aura à faire ici pour aboutir promptement à un résultat pratique. Nous allons très prochainement nous mettre en rapport avec le comité belge des sciences historiques et constituer une commission dans laquelle M. Ganshoff sera le Vertrauensmann. J e suis certain que nous rencontrerons partout le meilleur accueil. Le succès ne peut faire aucun doute. J e me réjouis profondément de voir des relations normales se rétablir dans le monde scientifique. Puisse ce commencement être le présage d'une reconstitution morale de l'Europe sur les anciennes bases carolingiennes qui ont supporté pendant si longtemps sa communauté culturelle qui est indispensable à son progrès. Croyez, Monsieur le Docteur, à mes sentiments les plus distingués et les plus dévoués. H. Pirenne La 3 e édition de ma Bibliographie de l'Histoire de Belgique vient de paraître bien en retard avec le millésime de 1931 ! J'en ai fait envoyer un exemplaire à la Deutsche

443 Literatur-Zeitung. Mais si vous désirez recevoir personnellement le volume, je serai heureux de vous le faire adresser par mon éditeur.

5. Sart-lez-Spa, 18 Sept. 1933 Cher Monsieur le Docteur, Comme vous le voyez par la date de cette lettre, je vous écris de la campagne où je suis venu pour rétablir ma santé qui était assez misérable ces derniers temps. C'est là ce qui m'a empêché de me rendre au Congrès de Varsovie à mon vif regret, et de faire votre connaissance personnelle, comme je le souhaitais vivement, en passant par Berlin. Excusez-moi aussi de n'avoir pu répondre plus tôt à vos aimables lettres et de ne pas vous avoir encore remercié de vos cordiales félicitations pour le prix Franqui auxquelles j'ai été très sensible. J'ai eu le plaisir d'avoir de vos bonnes nouvelles par M. le professeur Ganshof. Comme vous me le dites de votre côté, il m'a assuré que les derniers événements n'exerceraient aucune action sur le projet si réconfortant de rétablir l'échange des communications scientifiques entre l'Allemagne, la France et la Belgique. Je vous avoue très franchement que je n'étais pas sans craintes à ce sujet. La note insérée dans le dernier N° de l'Historische Zeitschrift (incident Huizinga) avait produit ici une fâcheuse impression. Vous avez peut-être vu la riposte de la Tijdschrift voor Geschiedenis en Hollande. D'autre part une phrase de votre dernière lettre où vous m'affirmez que vous êtes un partisan convaincu de l'indépendance de la Belgique pourrait laisser croire que certains historiens allemands ne partagent pas sur cette question votre manière de voir. Vous voyez que je vous parle avec une entière franchise. Pour moi, mon point de vue reste ce qu'il a toujours été. Je reste aussi désireux que jamais de voir s'améliorer les relations scientifiques entre historiens et de les tenir soigneusement à l'abri de la politique. Je me réjouis de savoir que je suis là dessus en pleine communauté d'idées avec vous. Pour le reste faisons confiance à l'avenir. Permettez-moi de vous envoyer en souvenir très cordial une petite note sur le trésor des rois mérovingiens qui vient de paraître dans le volume publié en l'honneur du professeur H. Kohi à Oslo, et croyez, cher Monsieur le Docteur, a mes sentiments les plus dévoués et les plus distingués H. Pirenne Mon adresse sera encore Sart-lez-Spa* * Im Original unterstrichen.

jusqu'au 6 octobre,

444

6. Bruxelles, le 29 Avril 1934 Q i e r Monsieur le Docteur, J e vous remercie de votre très intéressante lettre. En ce qui concerne Marculf, vous aurez sans doute remarqué par ma note p. 680 n. 1 ne rejette* pas du tout vos conclusions. E l l e les envisage au contraire comme très probables si l'on admet, ce que je suis tout prêt à admettre avec vous, que Marculf a pris comme modèle un texte plus ancien, sans doute le document pour Corbie de 716. J'aurai d'ailleurs encore à revenir sur cette question. L a perspective de vous voir entreprendre un travail sur l'expansion du Manichéisme en Occident me réjouit beaucoup. C'est là certainement une question du plus haut intérêt pour la connaissance des rapports entre l'Orient et l'Occident. Il est évident que ces rapports ont été très nombreux à partir du commencement du X I e siècle dans le domaine artistique et intellectuel. Ils l'étaient aussi dans le domaine économique, mais par Venise et les villes grecques du Sud de l'Italie. C'est seulement à partir des croisades que les ports de la Méditerranée occidentale ont repris le chemin de la mer égée et du bosphore que les Musulmans avaient formé pour eux au I X e siècle. J e suis très sensible à l'intérêt que vous voulez bien prendre à mon voyage en Egypte. J'en suis revenu tout à fait heureux de ce que j'ai vu là bas, et en excellente santé. J'en aurai besoin pour expédier le travail qui s'est accumulé pendant mon absence et pour continuer la mise au point de mon livre sur l'Islam et l'Occident. Croyez, Monsieur le Docteur, à mes sentiments les plus cordialement dévoués H.

Pirenne

J e ne sais si je vous ai remercié de l'aimable envoi de votre Jahresberichte sur la littérature historique belge en 1931, si admirablement au courant. J'y ai lu avec le plus grund plaisir votre appréciation si objective et si sympathique du dernier volume de mon Histoire. Il est évident que l'attitude des critiques, en présence d'un travail de ce genre, dépend essentiellement de leur conception historique générale. J'ai lu pour ma part avec grand intérêt le compte-rendu si détaillé et si intelligent de M. Pétri. // J'ai appris aussi avec joie ce que vous me dites de la reprise des rapports scientifiques entre nos pays. M. Ganshof me tient de son côté au courant. * Einzufiigen: que je ne rejette, oder qu'elle ne rejette.

445

7. Uccle, 31 D é c . 1934 Cher Monsieur le Docteur, Cette année encore vous vous êtes rappelé la date d e m a naissance et j'ai été très touché de cette preuve de votre sympathie. J e profite du renouvellement de l'année pour vous présenter mes meilleurs vœux de santé et d e bonheur. J e suis bien certain que 1935 nous apportera de nouvelles manifestations d e votre activité scientifique. E l l e continuera je l'espère à se développer dans le sens d e l'histoire des Pays-Bas qui vous doit déjà tant. J e vous remercie de l'aimable envoi* de l'article que vous lui avez consacré dans les Jahresberichte et dont une fois de plus j'ai admiré l'information impeccable et la justesse. J e vais partir pour R o m e dans quelques jours pour inspecter l'Institut historique belge, mais je serai de retour en février. J'espère bien vivement que vous exécuterez votre projet de passer par la Belgique en revenant d e votre conférence à Utrecht et que j'aurai ainsi le grand plaisir de vous revoir en mars. A bientôt donc. Bonne année ! et Croyez toujours, cher Monsieur le Docteur, à mes sentiments les meilleurs et les plus dévoués H. Pirenne 8.

Uccle, 18 Avril 1935 Cher Docteur Sproemberg, J e viens d'achever avec un vif intérêt la lecture de votre revue des travaux consacrés à l'Hanse en 1933-34, comme toujours si riche et si instructive. J e vous en remercie cordialement. P. 317 il me semble que vous exageriez un peu la divergence entre les résultats d e Buchner et les miens. Sur tous les caractères essentiels du commerce mérovingien, lui et moi sommes d'accord. Q u a n t à ce qu'il dit de la continuation du commerce au V I I I e siècle, il invoque des faits concernant Venise. O r Venise, comme je l'ai fait observer, appartient au domaine économique byzantin où la grande navigation n'a pas été influencée par l'invasion musulmane. J e ne vois donc pas qu'il y ait réfutation par B . d e ce que j'ai dit. A partir d e 750 environ rien** ne prouve une continuation du * Versehentlich w i e d e r h o l t e s , d e l ' a i m a b l e envoi' ist gestrichen. **

I m O r i g i n a l unterstrichen.

446 commerce par mer des chrétiens sur les la Méditerranée occidentale. J e conserve le meilleur souvenir de dernière à laquelle j'ai encore beaucoup Croyez, cher Docteur Sproemberg, dévoués

côtes de Provence et de l'Italie du Nord dans notre conversation si vivante de la semaine réfléchi. à mes sentiments les meilleurs et les plus H.

Pirenne

9. Uccle, 30 Septembre 1935 Monsieur le Docteur, J'ai été bien vivement touché des preuves de sympathie que j'ai reçues de vous dans ces derniers temps qui ont été si durs pour moi. J e ne sais si vous savez qu'après l'abominable malheur qu'a été la mort de mon fils aîné, je suis tombé gravement malade. J e me croyais en voie de rétablissement et venais de partir pour la campagne où j'ai malheureusement attrappé une pleurésie. J e suis maintenant en convalenscence mais encore bien misérable et incapable de travailler. J e viens seulement de lire votre belle étude sur les origines du comté de Flandre que j'attendais avec impatience depuis notre conversation si intéressante du printemps. Il m'a semblé que votre conception du règne de Baudouin T était complètement justifiée. Pour Baudouin II, avant de me prononcer, je voudrais pouvoir vérifier quelques unes de vos hypothèses, ce que je ne peux malheureusement faire en ce moment. Mais de toute manière votre travail est ce qui a jamais paru de plus approfondi sur les origines du comté, et on ne pourra plus écrire là dessus sans le prendre comme point de départ. J'espère bien qu'il trouvera en Belgique la diffusion qu'il mérite. Les photographies de Berlin que vous avez eu la gracieuseté de m'envoyer m'ont fait le plus grand plaisir. J'ai tant appris dans son Université et j'y ai laissé tant de bons souvenirs! L e reverrai-je avant de mourir? Croyez, cher Monsieur le Docteur, à mes sentiments les plus cordialement dévoués H.

Pirenne

VI. Wissenschaftlicher Nachlaß und Bibliographie

BIBLIOGRAPHIE HEINRICH (Auf

Grund

SPROEMBERG

der v o n L i l y S p r o e m b e r g in der Wissenschaftlichen Zeitschrift der

Universität

Rostock, Jg. 1 7 , 1 9 6 8 veröffentlichten Bibliographie bearbeitet.)

Die Bischöfe von Lüttich im 11. Jahrhundert. Teildruck: Die Quellen. Berlin, phil. Diss. von 1914. Marculf und die fränkische Reichskanzlei. In: NA. 47. 1927, S. 77-142. Niederlothringen, Flandern und das burgundische Reich bis 1477. In: Jahresberichte für deutsche Geschichte. 6. 1930, S. 470-497. Beiträge zur Französisch-Flandrischen Geschichte. Bd. 1 : Alvisus, Abt von Anchin (1111-1131). Berlin 1931. (Historische Studien. 202.) Die Entstehung der Grafschaft Flandern. T. 1 : Die ursprüngliche Grafschaft Flandern (864-892). Berlin 1935. (Historische Studien. 282.) Judith, Königin von England, Gräfin von Flandern. In: Revue beige. 15. 1936, S. 397-428 u. S. 915-950; erneut abgedr. in: Beiträge zur belgisch-niederländischen Geschichte. Berlin 1959, S. 56-102, mit Nachwort S. 103-110. (Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte. 3.) Die Niederlande und das Rheinland in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts. In: Jahrbuch d. Arbeitsgemeinschaft d. Rheinischen Geschichtsvereine. 2. 1936, S. 7 6 - 8 9 ; erneut abgedr. in: Beiträge zur belgisch-niederländischen Geschichte. Berlin 1959, S. 259-273, mit Nachwort S. 274-276. Residenz und Territorium im niederländischen Raum. In: RhVjbll. 6. 1936, S. 113 bis 139; erneut abgedr. in: Beiträge zur belgisch-niederländischen Geschichte. Berlin 1959, S. 224-251, mit Nachwort S. 251-258. Das Erwachen des Staatsgefühls in den Niederlanden. Galbert von Brügge. In: L'Organisation corporative du Moyen Age à la fin de l'ancien Régime. 1939, S. 31 bis 89. (Commission Internationale pour l'histoire des Assemblées d'Etats. 3.) Einführung zu: N. Japiske, Die Oranier. Statthalter und Könige. München 1939, S. VI-XXVIII. Die lothringische Politik Ottos des Großen. In: RhVjbll. 11. 1941, S. 1 - 1 0 1 ; erneut abgedr. in: Beiträge zur belgisch-niederländischen Geschichte. Berlin 1959, S. 111-214, mit Nachwort S. 214-223. Zur Geschichte der katholischen Kirche in Belgien. In: RhVjbll. 17. 1952, S. 247 bis 262; erneut abgedr. in: Beiträge zur belgisch-niederländischen Geschichte. Berlin 1959, S. 277-300, mit Nachwort S. 300-301.

450

Wissenschaftlicher N a c h l a ß u n d Bibliographie

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Wissenschaftlicher Nachlaß u n d Bibliographie

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Sproemberg

454

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WISSENSCHAFTLICHER NACHLASS H E I N R I C H SPROEMBERG geb. 25. N o v e m b e r 1889 - gest. 10. Juni 1966 D r . D r . h. c. Professor mit Lehrstuhl. Universität Rostock 1 9 4 6 - 1 9 5 0 , D i r e k t o r des Historischen Instituts. Karl-Marx-Universität Leipzig 1 9 5 0 - 1 9 5 8 (em.), D i r e k t o r des Instituts für allgemeine Geschichte und der A b t . Mittelalter, der Abt. Landesgeschichte des Instituts f ü r deutsche

Ge-

schichte, der A b t . Geschichte des Sorbischen Instituts, Fachrichtungsleiter Geschichte an der Philosophischen Fakultät. Vorsitzender der Historischen Kommission bei der Sächsischen A k a d e m i e der Wissenschaften zu Leipzig 1 9 5 0 - 1 9 5 7 . Vorsitzender der Hansischen Arbeitsgemeinschaft in der DDR

1 9 5 5 - 1 9 6 6 . Mitglied zahlreicher internationaler wissenschaftlicher Gesellschaften. Heraus-

geber der „Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte" 1 9 5 6 - 1 9 6 6 . Forschungsgebiet:

Mittel-

alterliche Geschichte N o r d w e s t e u r o p a s .

Nachrufe G . Heitz - E . Müller-Mertens, in: Z f G , Jg. 1966, S. 9 7 7 - 9 7 8 ; A. Joris, in: R e v u e beige, Jg. 1966, S. 1 1 3 3 - 1 1 3 6 ; M. Unger, in: H Z , Jg. 1966, S. 2 6 2 - 2 6 3 ; E . Müller-Mertens, i n : H G b l l . , Jg. 1966, S. V - V I I I ; G. Heitz, in : Liber memorialis H. Sproemberg. É t u d e s présentées à la Commission intern, pour l'histoire des assemblées d ' é t a t s , Rostock 1966, ( W Z Rostock 1968), S. 3 - 8 ; M. Unger, in: Jb. f. Regionalgesch., 3. Bd., 1968, S. 2 7 6 - 2 7 9 . D e r Nachlaß

befindet sich im Archiv der Deutschen A k a d e m i e der Wissenschaften zu Berlin, ein

Teil lagert z. Z . noch im Besitz der Familie in Berlin-Niederschönhausen. D i e Arbeitsbibliothek ist größtenteils in die Deutsche Staatsbibliothek Berlin übernommen worden ( 3 0 0 0 Bde, eingearbeitet). Zeitlicher U m f a n g : vorwiegend 1 9 1 4 - 1 9 6 6 . U m f a n g : 11 lfm., dazu 1 8 0 0 Sonderdrucke. Ordnungs- und Verzeichnungszustand: vorläufig geordnet und verzeichnet (Kartei), Sonderdrucke geordnet und verzeichnet (Kartei).

Forscbungs-

und V

eröflentlichungsmanuskripte

E n t h ä l t u. a. ungedruckt gebliebene, druckfertig bearbeitete Buchmanuskripte : D i e G r ü n d u n g des Klosters St. Vaast (um 1930). Beiträge zur französisch-flandrischen Geschichte (Alvisus), zweiter B a n d (nach 1931). Geschichte der N i e d e r l a n d e und Belgiens (um 1940).

460

Wissenschaftlicher Nachlaß Heinrich Sproemberg

Übersetzung und Bearbeitung von L . v. d. Essen, Alexandre Farnèse. Prince de Parme, gouverneur général des Pays-Bas, 1 5 4 5 - 1 5 9 2 , 5 Bde, Brüssel 1 9 3 3 - 1 9 3 7 (um 1 9 4 3 ) . Arbeitsstufen und z. T . mehrere fertige Fassungen zu veröffentlichten Arbeiten, teilweise auch Vorarbeiten dazu. Quellenkundliche

Untersuchungen

im Zusammenhang mit der Herausgabe von

Wattenbach-

Holtzmann. Studien über Geschichte des mittelalterlichen Städtewesens, der Hanse, des Ständestaates, dazu auch Vortragsmanuskripte. Ferner aktuelle Vortragsthemen z. B . über die Stellung der Geschichtswissenschaft in Deutschland ( 1 9 4 6 ) , Aufgaben der Geschichtslehrer ( 1 9 4 6 ) , Gegenwartsaufgaben der Mittelalter-Geschichtsforschung in der D D R ( 1 9 5 5 ) . Vorarbeiten und Manuskripte von Rezensionen und Literaturberichten zu französischen, belgischen und niederländischen Mittelalter-Publikationen. Vgl. auch Bibliographie H. Sproemberg. V

orlesungsmanuskripte Enthält u. a. voll ausgearbeitete Manuskripte der Hauptvorlesung Allgemeine Geschichte des

Mittelalters ( 1 9 4 6 - 1 9 5 2 ) . Vorlesungen Geschichte der Niederlande ( 1 9 5 4 ) , Stadt und Kirchc im Mittelalter (um 1 9 5 5 ) , Geschichte Frankreichs ( 1 9 5 6 - 1 9 5 7 ) . Ausarbeitungen für Seminare zu vorwiegend sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Themen. Manuskripte und Protokolle (über die Aussprachen zu Manuskriptvorlagen der Teilnehmer und Gastvorträge) des Kolloquiums ( 1 9 5 1 - 1 9 5 8 ) . Wissenschaftliche

Korrespondenz

Enthält u. a. Briefwechsel über Forschungsvorhaben, Publikationen und zu Kongressen z. B. mit F. Altheim,

Marc Bloch,

P. Bonenfant,

A. Cartellieri,

J . Cuvelier,

D . Th. Enklaar,

E . Erdmann,

L. v. d. Essen, F . - L . Ganshof, L. Génicot, J . Gilissen, P. Jeannin, R. Latouche, R . Lejeune, W . Levison, F. Lot, E . Lousse, H. Pirenne, L. Santifaller, F. Vercauteren, W . Vogel, H. v. Werveke (vorwiegend 1 9 3 0 - 1 9 6 6 ) . Internationaler Litcraturaustausch vorwiegend mit niederländisch-belgischen und französischen Historikern ( 1 9 3 1 - u m 1 9 3 3 ) : Empfangene Sonderdrucke (vorwiegend 1 9 3 0 - 1 9 6 6 ) .