Erinnerungsarbeit und demokratische Kultur [Reprint 2015 ed.] 9783110947731, 9783598237607


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German Pages 130 [132] Year 1996

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Table of contents :
Vorwort
I. Herbstforum Essen Bernd Faulenbach
Erstarrte Rituale oder demokratische Kultur? Zu den Aufgaben und Problemen der Erinnerungsarbeit heute
Die Bedeutung von Gedenktagen und -orten für die überlebenden Verfolgten
Ich trug den gelben Stern
Muß das denn sein?
II. Kein Schlußstrich! Gegen das Vergessen
Die Stadt München stellt sich der Erinnerungsarbei
Kein Schlußstrich! Gegen das Vergessen
Der Kampf um die Erinnerung
„Judenumsiedlung“ Überlegungen zur politischen Vorgeschichte des Holocaust
Von nichts gewußt
Auf verlorenem Posten
Die Deutschen und ihre Geschichte
Die Autoren
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Erinnerungsarbeit und demokratische Kultur [Reprint 2015 ed.]
 9783110947731, 9783598237607

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Gegen Vergessen Für Demokratie e.V.

Jahrbuch des Vereins Gegen Vergessen - Für Demokratie" Band 1

Erinnerungsarbeit und demokratische Kultur Herausgegeben von Hans-Jochen Vogel und Ernst Piper

K-G-Saur München 1997

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Gegen Vergessen - Für Demokratie: Jahrbuch des Vereins „Gegen Vergessen - Für Demokratie". München: Saur Bd. 1. Erinnerungsarbeit und demokratische Kultur. - 1997 Erinnerungsarbeit und demokratische Kultur / hrsg. von HansJochen Vogel und Ernst Piper. - München : Saur, 1997 (Jahrbuch des Vereins „Gegen Vergessen - Für Demokratie" ; Bd. 1) ISBN 3-598-23760-X NE: Vogel, Hans-Jochen [Hrsg.]

© Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed on acid free paper Alle Rechte vorbehalten / All Rights Strictly Reserved K. G. Saur Verlag GmbH & Co. KG, München 1997 Part of Reed Elsevier Satz: Textservice Zink, Schwarzach/Baden Druck/Binden: Legoprint S.r.l. Trento, Italien Jede Art der Vervielfältigung ohne Erlaubnis des Verlags ist unzulässig. ISBN 3-598-23760-x

Inhalt

Vorwort I. Herbstforum

7 Essen

Bernd Faulenbach Erstarrte Rituale oder demokratische Kultur? Zu den Aufgaben und Problemen der Erinnerungsarbeit heute

9

Max Mannheimer Die Bedeutung von Gedenktagen und -orten für die überlebenden Verfolgten

18

Inge Deutschkron Ich trug den gelben Stern

23

Wolfgang Lüder Muß das denn sein?

35

II. Kein Schlußstrich! Gegen das Vergessen Christian Ude Die Stadt München stellt sich der Erinnerungsarbeit

37

Hans-Jochen Vogel Kein Schlußstrich! Gegen das Vergessen

41

Ernst Piper Der Kampf um die Erinnerung

47

Götz Aly „Judenumsiedlung" Überlegungen zur politischen Vorgeschichte des Holocaust

60

Jörg Friedrich Von nichts gewußt

79

Peter Steinbach Auf verlorenem Posten

98

Rita Süssmuth Die Deutschen und ihre Geschichte

122

Die Autoren

130 5

Vorwort

Mit diesem Jahrbuch dokumentiert der am 1. November 1993 gegründete Verein „Gegen Vergessen - Für Demokratie" zum dritten Mal seine Tätigkeit. Die ersten beiden Bände, „Gegen Vergessen - Für Demokratie" und „Leben in Diktaturen", sind im Piper Verlag erschienen. Nunmehr hat der Verein im K.G. Saur Verlag eine Heimstatt gefunden. Dafür sei Herrn Prof. Dr.Dr. h.c. Klaus G. Saur auch an dieser Stelle gedankt. Der vorliegende Band dokumentiert zwei Ereignisse. Zum einen das Forum, das am 22. Oktober 1995 im Anschluß an die Mitgliederversammlung in der Alten Synagoge in Essen stattfand. Themenschwerpunkt dieses Herbstforums war die Erinnerungsarbeit. Zum anderen sind hier aufgenommen die Beiträge zu der ersten umfassenden Vortragsreihe, die der Verein organisiert hat. Sie fand im Februar und März 1996 in München, an historischer Stelle, im Alten Rathaussaal statt. Ziel dieser Vortragsreihe war es, anknüpfend an die vielen Veranstaltungen des Gedenkjahres 1995, Faktenwissen zu vermitteln, zugleich aber auch der Frage nachzugehen, wie wir Heutigen mit diesem Wissen umgehen sollten. Auch nach dem 50. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs ist die tätige Auseinandersetzung mit den von Deutschen in diesem Jahrhundert verübten Verbrechen notwendig. Dies umso mehr, als Repräsentanten einer sogenannten Neuen Rechten versucht haben, aus der Erinnerung an den 8. Mai 1945 politisches und publizistisches Kapital im Sinne eines „nationalen Sonderwegs" zu schlagen. Gerade auch angesichts der Tatsache, daß die wiedererlangte deutsche Einheit Brüche im Selbstbewußtsein der West- wie der Ostdeutschen freigelegt hat, ist eine entscheidende Voraussetzung für die positive Entwicklung unseres Gemeinwesens, die Anerkennung der jüngsten Vergangenheit und all ihrer Schrecken. Nur die Erinnerung vermag uns frei zu machen. Hans-Jochen Vogel

Emst Piper

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I. Herbstforum Essen Bernd. Faulenbach Erstarrte Rituale oder demokratische Kultur? Zu den Aufgaben und Problemen der Erinnerungsarbeit heute

Erinnerungsarbeit findet heute in vielfältiger Weise in Deutschland statt. Ich möchte hier über die Frage der Formen, der Inhalte und der gesellschaftlichen Bedeutung der gegenwärtigen Erinnerungsarbeit sprechen. Haben die recht, wie Götz Aly, die in der Gedenkkultur nur ein Mittel sehen, den eigentlichen Fragen der Auseinandersetzung mit dem Holocaust auszuweichen? Sind die Formen erstarrt, hohl, unangemessen? Gibt es - wie Henryk Broder meint - ein Zuviel des Gedenkens? Dies sind provozierende Fragen, die ich vor Zuhörern stelle, die sicherlich ganz überwiegend prinzipiell Erinnerungsarbeit bejahen, an einem Ort, der der Erinnerung dient und an dem Erinnerungsarbeit geleistet wird. Bevor ich mich den Fragen nähere, möchte ich anmerken, daß ich unter Erinnerungsarbeit das bewußt unternommene Erinnern an den Holocaust, die NS-Verbrechen und ihre Opfer, an die anderen Verbrechen des Totalitarismus, an die totalitäre Erfahrung des 20. Jahrhunderts verstehe, ein Erinnern, das die Frage nach der Widerständigkeit, nach menschlichem Verhalten in der Diktatur, nach demokratischen Traditionen einschließt. Erinnern ist dabei ein kommunikativer Vorgang, der in Veranstaltungen, öffentlichen Manifestationen, pädagogischem Tun, wissenschaftlicher Arbeit, künstlerischer Gestaltung u.a. seinen Ausdruck findet. Für diesen ist die Erinnerung der Überlebenden - wir hören gleich Max Mannheimer und Inge Deutschkron - von besonderer Bedeutung. Meine Überlegungen beziehen sich freilich auf den gesellschaftlichen Prozeß des Erinnerns insgesamt. Um den gegenwärtigen Stand der Erinnerungsarbeit und ihrer Probleme genauer zu sehen, möchte ich zunächst Entwicklungslinien der Erinnerungsarbeit in der Bundesrepublik und in der D D R grob nachzeichnen, dann die Konstellation seit 1989/90 bzw. mit ihr verbundene Probleme der Erinnerungsarbeit umreißen und abschließend einige Überlegungen zur Weiterentwicklung der Erinnerungsarbeit anstellen.

I. Zur Entwicklung der Erinnerungsarbeit Die Entwicklung der Erinnerungsarbeit in der Nachkriegszeit war ein komplizierter Prozeß, der in zwei sich bald trennenden Gesellschaften ablief, zwischen denen es im

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Bernd Faulenbach

Hinblick auf die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit Interdependenzen gab. Er wurde beeinträchtigt durch Verdrängung und politische Instrumentalisierung, die sich teilweise merkwürdig amalgamierten, und wurde beeinflußt durch die politischgesellschaftlichen Entwicklungen und Klimata. 1. Zur Bundesrepublik In der frühen Nachkriegszeit waren die Erfahrungen des Krieges bestimmend, sie dominierten die Erinnerung der Menschen - wie übrigens auch die Literatur zeigt; erst allmählich wurde die ganze Tragweite des Holocaust bewußt - blieb jedoch in vieler Hinsicht abstrakt. Zwar setzte die Zeithistorie früh ein, doch war die Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit ausgesprochen halbherzig. Vielfach wurde kumulativ der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft gedacht. Ich erinnere an den schwierigen Prozeß zur Gedenkstätte in Dachau. Uberlebende versuchten ohne große Resonanz - Gedenkstätten zu errichten. Immerhin bildete sich freilich in der Bonner Republik - getragen von den Repräsentanten des politischen Lebens schon in den 50er Jahren ein regelmäßiges Gedenken an die Männer des 20. Juli heraus. Beachtung fanden auch der kirchliche Widerstand und die Weiße Rose. Ein Wandel begann in den 60er Jahren. Die NS-Prozesse und die Verjährungsdebatten trugen dazu bei, das Ausmaß der NS-Verbrechen bewußt zu machen. In der Wissenschaft, an den Universitäten und in Teilen der Öffentlichkeit wurde verstärkt über die gesellschaftlichen Bedingtheiten der NS-Herrschaft und NS-Politik diskutiert. Der Widerstandsbegriff wurde verbreitert. Die kritischen Fragen der Studenten Ende der 60er Jahre verbanden sich mit dem Willen zu politisch-gesellschaftlicher Veränderung. Zwar wurden damit Tatbestände beleuchtet, die vorher verdrängt worden waren, doch wurde die NS-Erfahrung von der studentischen Linken z.T. rasch instrumentalisiert - die Erinnerung verlor ihr Eigengewicht. Verstärkt seit den 70er Jahren setzte eine breitere intensive Erinnerungsarbeit ein, an deren Entwicklung ein verändertes politisches Klima, Bundespräsident Heinemann, die Schülerwettbewerbe und eine neue Geschichtsbewegung - außerhalb und innerhalb etablierter Institutionen - Anteil hatten. Erst jetzt wurden Zeitzeugen auch Opfer, die vorher nur teilweise gehört worden waren - befragt, historische Orte gekennzeichnet, Gedenkstätten geschaffen. Dieser breite Prozeß der Hinwendung zur Geschichte der NS-Zeit, auch vor Ort, kulminierte Ende der 80er Jahre - sie scheint inzwischen ihren Höhepunkt überschritten zu haben, was im Hinblick auf die Ursachen und Auswirkungen diskutiert werden muß. 2. Zur DDR Die Entwicklung in der lands. Hier begann man Kampf zu pflegen, doch munistisch dominierten 10

D D R verlief recht unterschiedlich von der Westdeutschfrüh, die öffentliche Erinnerung an den antifaschistischen wurde diese Erinnerung zunehmend im Sinne eines komAntifaschismus instrumentalisiert. Verbunden damit war

Erstarrte Rituale oder demokratische Kultur?

eine höchst selektive Erinnerung, der kommunistische Antifaschismus stand im Zentrum, die anderen Gegner des Nationalsozialismus wurden in den Hintergrund gerückt oder wegeskamotiert, der kommunistische Widerstand heroisiert und mythisiert. Wenig oder gar nicht beachtet wurden die Opfer - die Opfer des Holocaust, andere Opfergruppen, nicht einmal die in Gefangenschaft gestorbenen oder umgebrachten russischen Soldaten. Schon seit Mitte der 50er Jahre wurden Buchenwald, Sachsenhausen und Ravensbrück zu Nationalen Mahn- und Gedenkstätten ausgebaut, wobei ein Teil der überkommenen Bausubstanz abgerissen wurde. Diese Gedenkstätten wurden zu Zentren des antifaschistischen Staatskultes, hier wurde die Erinnerung ritualisiert, zugleich wurden die Stätten als Kulisse feierlicher Gelöbnisse genutzt, hier stellte sich das SED-System dar. Zahllose Gedenkstätten und Traditions-Kabinette entstanden allerorten in der DDR. Keine Frage, die öffentliche Erinnerung an die NS-Zeit hatte hier einen anderen Stellenwert als im Westen, doch wurde sie - ungeachtet des redlichen Engagements vieler, nicht zuletzt junger Menschen - zur Legitimation des Systems, seiner Führungsgruppe und deren Politik verwandt, zugleich als Kampfmittel gegen die Bundesrepublik, in der die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus alles andere als überzeugend war, eingesetzt. Durch die politische Instrumentalisierung wurde die Erinnerung deformiert. Insgesamt wird man wohl sagen können, daß die Erinnerung an den antifaschistischen Kampf im Erziehungssystem und in der Öffentlichkeit in der D D R eine große Rolle spielte, doch auch in besonderer Weise der Legitimation der D D R diente, die sich als das bessere Deutschland darzustellen suchte. 3. Bundesrepublik und DDR im Vergleich Vergleicht man die Entwicklung in beiden deutschen Staaten, so sind Unterschiede nicht zu verkennen: (1) In der D D R war der Antifaschismus stets eine Sache, die durch Partei und Staat gefördert und in erheblichem Maße auch geformt wurde. Dieser Tatbestand wird mit dem Begriff „verordneter Antifaschismus" charakterisiert, der indes nicht zu der Annahme führen darf, daß dieser Antifaschismus ausschließlich von oben befohlen war. Unübersehbar war er jedoch von hierher geprägt und unverkennbar an den Staat D D R und die SED gebunden. Erwähnt werden muß auch, daß der politökonomisch geprägte Antifaschismusbegriff geradezu zur Verhinderung der Einsicht führte, daß die Gesellschaft des Dritten Reiches in vielfältiger Weise in die NS-Verbrechen verwickelt war; der Antifaschismus immunisierte gegenüber einer selbstkritischen Aufarbeitung. Der Prozeß der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit war im Westen ungleich komplizierter. Zwar legitimierten sich auch das Grundgesetz und die Bundesrepublik durch die nachdrückliche Absage an den Nationalsozialismus und seine Ideen. Die scharfe Verurteilung der NS-Verbrechen war auch hier selbstverständlich. 11

Bernd Faulenbach Zugleich aber trat die Bundesrepublik die Rechtsnachfolge des Dritten Reiches und damit auch die Haftung für die Verbrechen des Dritten Reiches an - so halbherzig diese Aufgabe auch wahrgenommen wurde. Der Prozeß der gesellschaftlichen Erinnerungsarbeit aber kam - abgesehen von der Zeithistorie, die zunächst die Vergangenheit ebenfalls mit manchen Begrenzungen in den Blick nahm - nur mühsam in Gang. Doch gerade weil er verzögert war - so läßt sich etwas überpointiert sagen war es seit den 70er Jahren ein selbständiger, recht breiter gesellschaftlicher Prozeß. (2) Im Mittelpunkt der Erinnerungsarbeit in der S B Z und D D R stand der kommunistische Widerstand. Anfangs war der Widerstandsbegriff breiter, wurde aber bereits Ende der 40er Jahre verengt; im letzten Jahrzehnt der D D R erweiterte er sich wieder, wobei außenpolitische Rücksichten wirksam wurden. Der Holocaust spielte nur eine recht geringe Rolle. In der Bundesrepublik wurde zunächst vorrangig der Widerstand des 20. Juli gewürdigt, erst seit Ende der 60er Jahre wurde der Widerstand der Arbeiterbewegung und die Resistenz bestimmter Bevölkerungsgruppen verstärkt gesehen. Zentral für das Gedenken in der Bundesrepublik wurden aber - seit den 60er Jahren, mehr noch seit den 70er Jahren - die Opfer des Holocaust. Andere rassisch verfolgte Gruppen - wie die Sinti und Roma, auch die slawischen Opfer und weitere Opfergruppen - wurden nur zögernd in dieses Gedenken einbezogen. Und teilweise blieb auch der politische Widerstand unterbelichtet.

II. Die durch die deutsche Vereinigung veränderte Konstellation und mit ihr gegebene Probleme der Erinnerungsarbeit Der Zusammenbruch der kommunistischen Welt, die friedliche Revolution in der D D R und die deutsche Vereinigung haben unser Verhältnis zur Vergangenheit verändert - auch neue Bedingungen für Erinnerungsarbeit geschaffen. Lassen Sie mich einige Probleme nennen. (1) Durch die Vereinigung sind zwei politische Erinnerungskulturen zusammengeflossen. Durch das Ende der D D R ist zwar der D D R - Antifaschismus an sein Ende gekommen, doch wirkt er in verschiedener Weise nach - in vielen Köpfen, auch in den Gedenkstätten und ihrer Gestaltung. So haben die Länder Brandenburg und Thüringen 1991 Fachkommissionen eingesetzt, die Vorschläge zur Überarbeitung der Gedenkstätten in der D D R machen sollten. Sie sind dieser Arbeit mit Engagement nachgekommen - ihre Ergebnisse wurden viel diskutiert, manchmal auch verzerrt wiedergegeben und attackiert, weil sie bestimmten Ritualisierungen widersprachen. Keine Frage, daß die Neukonzeption der Gedenkstätten zur Historisierung der Erinnerungsarbeit der D D R beigetragen hat, was übrigens auch die Beschäftigung mit der Entwicklung der Erinnerungsarbeit im Westen stimuliert hat. Es kommt darauf an, in welchem Geist diese Historisierung erfolgt. Die Kommissionen und die neuen Gedenkstättenleitungen in den neuen Bundesländern jedenfalls waren

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Erstarrte Rituale oder demokratische Kultur?

und sind davon überzeugt, daß die bisherige Arbeit zu revidieren war, wobei sie das Ziel leitete und leitet, die Gedenkstättenarbeit auf eine neue Grundlage zu stellen. Dieses Ziel scheint mir jedoch nicht überall geteilt zu werden. (2) Mit der Wende in der D D R ist eine zweite problematische Vergangenheit stärker in den Vordergrund der öffentlichen Diskussion gerückt. Auch diese Vergangenheit ist aufzuarbeiten in all ihren Aspekten. Es geht um die strafrechtliche, zivilrechtliche, politische und nicht zuletzt um die historische Aufarbeitung. Die intensive Beschäftigung mit der DDR-Diktatur und ihren Folgen ist auf komplizierte Weise vielfältig mit der der NS-Vergangenheit verbunden; ich nenne einige Aspekte: - Das SED-System erhielt einen Teil seiner Legitimität aus dem Antifaschismus. - Manche Orte sind gleichermaßen Orte des NS-Terrors wie des stalinistischen Terrors (auch wenn diese in Deutschland nicht gleichzusetzen sind), woraus beträchtliche Schwierigkeiten der Gedenkstättengestaltung resultieren. - Die Aufarbeitung der Vergangenheit des SED-Systems wird teilweise in Analogie zu der der NS-Zeit gesehen, von anderen jedoch wird gerade diese Analogie als abwegig qualifiziert. Manche - etwa die Gruppe um Rainer Zitelmann - sehen die beiden Vergangenheiten geradezu in einem Konkurrenzverhältnis. In einer Anzeige wurde behauptet, die bewußt vorgenommene Konzentration auf die Erinnerung der NS-Zeit sei von der Absicht gesteuert, der Auseinandersetzung mit der SED-Vergangenheit auszuweichen. Ich glaube, die beiden Vergangenheiten dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Sie sind nicht gleichartig und nicht gleichgewichtig. Die NS-Verbrechen dürfen mit Hinweis auf die stalinistischen Verbrechen nicht relativiert werden, doch sind die Verbrechen des Stalinismus auch nicht umgekehrt mit Hinweis auf die NS-Verbrechen zu bagatellisieren. Das stalinistische System in der D D R , das sich im Laufe der Zeit zwar veränderte, doch nicht zu einem Rechtsstaat oder gar zu einer Demokratie mutierte, hat - dies ist banal, muß aber immer wieder betont werden keinen bürokratisch-industriell durchgeführten Genozid zu verantworten. Aber Unrecht geschah auch hier. So kann keine Frage sein, daß auch Orte des Gedenkens für die Stalinismus-Opfer zu schaffen sind - in Bautzen, Hohenschönhausen und anderorts. Und in Buchenwald und Sachsenhausen sind in angemessener Weise auch die Nachkriegslager in den Gedenkstätten zu berücksichtigen. (3) Europa hat sich 1989/90 verändert und damit auch Deutschlands Rolle in Europa. In dieser Situation wird diskutiert, welche Konsequenz die neue Situation im Hinblick auf die Gegenwartsbedeutung der jüngsten deutschen Geschichte hat. Manche meinen, Deutschland sei jetzt ein „normaler" Staat und hoffen, daß nun die Vergangenheit einfach ad acta gelegt werden kann. Dies ist jedoch energisch zu bestreiten. Vom Ausland her werden alle Entwicklungen in Deutschland, die im entfernten an die NS-Zeit erinnern, überaus kritisch gesehen. Noch wichtiger ist: um unserer demokratischen Kultur willen darf die Vergangenheit nicht vergessen werden. 13

Bernd Faulenbach

Was indes im Hinblick auf die gegenwärtige Konstellation die Besonderheit bedeutet, darüber gab und gibt es am Beispiel des Golfkrieges und Bosniens Streit. Mir scheint, der Streit über die Gegenwartsbedeutung der Vergangenheit ist legitim, so lange er die Erinnerungsarbeit nicht unmittelbar prägt in einer Weise, daß sie von den Bedürfnissen der Gegenwart her bestimmt wird. Andererseits muß die Vergangenheit im Hinblick auf ihre Gegenwartsrelevanz immer wieder befragt werden. Die genannten Punkte lassen erkennen, daß die Erinnerungsarbeit in einem veränderten Umfeld stattfindet, auf das die Erinnerungsarbeit sich einzustellen hat. Von einer durchgängigen Tendenz zur Geschichtsvergessenheit in der Öffentlichkeit, so scheint mir, kann - wie die Veranstaltungen des Frühjahrs zu Kriegsende und Befreiung vom N S gezeigt haben - nicht die Rede sein. Doch bin ich nicht so sicher, wie tief das Bewußtsein der jüngsten Vergangenheit verankert ist. Es gilt jedenfalls dem Vergessen entgegenzutreten, zumal angesichts der Mordbrennereien.

III.

Überlegungen zur Weiterentwicklung der Erinnerungsarbeit

Selbstverständlich ist die Erinnerungsarbeit weiterzuentwickeln. Mag sein, daß es hier und da in den letzten Jahren zu einer gewissen Erstarrung im Gewohnheitsmäßigen gekommen ist, auch zur Anpassung, an das was „man" zu tun hat. Und doch: selbst Rituale, die die Regelmäßigkeit eines bestimmten öffentlichen Gedenkens ermöglichen, machen Sinn, sie bieten eine gewisse institutionalisierte Voraussetzung dafür, daß das Erinnern nicht zufällig, oder gleichsam kampagnenmäßig verläuft. Vor diesem Hintergrund kann ich der Einrichtung eines HolocaustGedenktages durchaus etwas abgewinnen. Allerdings ist immer auf die Formen zu achten, die dem Anlaß wirklich angemessen sein müssen. Entscheidend ist, daß unter den Ritualen die Geschichte, das Geschehen noch sichtbar bleibt, es nicht verkürzt oder gleichsam klischiert erscheint, sondern seinen Stachel behält. Deshalb ist Erinnerungsarbeit im Sinne von historischer Forschung bedeutsam - Rituale tendieren zur Stilisierung und Enthistorisierung. Sie bedürfen des Korrektivs der Wissenschaft, auch wenn dieses unbequem sein mag, und anderer Formen lebendiger Auseinandersetzung. Um nicht mißverstanden zu werden: Wissenschaft alleine reicht nicht, zumal die Geschichtswissenschaft in Deutschland akademischer als in anderen Ländern ist. Es bedarf pädagogischer Bemühungen und einer von vielen getragenen Auseinandersetzung mit Geschichte. Prinzipiell - so glaube ich - ist von einer Pluralität der Erinnerungsarbeit auszugehen, der auch die Vielfalt des Geschehens entspricht. Mir scheint, sie sollte nicht auf eine bestimmte Form eingeengt werden. Spurensuche mit Jugendlichen macht ebenso Sinn wie eine Gedenkveranstaltung oder die wissenschaftliche Erarbeitung einer Dokumentation. Lassen Sie mich drei Punkte ansprechen, die mir im Hinblick auf die Weiterentwicklung der Erinnerungsarbeit wichtig zu sein scheinen:

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Erstarrte Rituale oder demokratische Kultur?

(1) Aus meiner Sicht kommt den Gedenkstätten eine besondere Bedeutung als Kristallisationspunkten der Erinnerung zu. Der authentische O r t macht deutlich, daß das Geschehen nicht abstrakt war, sondern konkret, an dem klar zu bezeichnenden O r t stattfand und die Spuren des Geschehens noch sichtbar sind. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, daß die Spuren entschlüsselt werden, deshalb sind Zeugnisse der Zeitgenossen systematisch zu sammeln, auch Zeitungen aus der Zeit des Geschehens. Für die Besucher sind Dokumentationsausstellungen nötig, die nach dem Stand der wissenschaftlichen Forschung professionell (jedenfalls was die größeren Gedenkstätten betrifft) gestaltet sein müssen. Möglichkeiten zur Weiterinformation sollten geboten werden. Bei großen Gedenkstätten sind Archiv und Bibliothek unabdingbar. Die Arbeit der Gedenkstätten darf nicht bei der Erzeugung von Betroffenheit stehen bleiben, sie muß Anstöße geben, das Geschehen in seinem Kontext zu erfassen, doch auch im Hinblick auf die Gegenwart zu reflektieren. Die Gedenkstätten sollen als Lernorte fungieren, was auch den Einsatz zeitgemäßer didaktischer Methoden angebracht erscheinen läßt. Es kommt in den Ausstellungen und Museen in besonderer Weise darauf an, das Geschehen möglichst umfassend und differenziert darzustellen - das Schicksal der Opfer, die Täter, die Verschränkung mit der Gesellschaft. Es muß deutlich werden, wie kurz auch in modernen Gesellschaften der Weg des Abgleitens in die Inhumanität ist. In den Gedenkstätten geht es um das Geschehen einer früheren Zeit, diese muß im Mittelpunkt stehen. Dennoch glaube ich, daß große Gedenkstätten Orte sein können, die sich auch mit Problemen der Gegenwart, die einen Bezug zum historischen Geschehen haben, auseinandersetzen sollten. Wechselausstellungen, Kongresse können sinnvoll sein; geeignete Themen könnten dabei die Fragen der Rechte von Minderheiten, die Menschenrechtsfrage, die Nationalitätenkämpfe in Osteuropa, Rassismus u.a. sein. Das historische Geschehen, so einzigartig es war, fordert im Hinblick auf die Gegenwart zu besonderer Verantwortlichkeit und Sensibilität auf. Gedenkstätten bedürfen heute, um ihre Arbeit durchführen zu können, der Professionalität von Historikern, Museumsmachern, Pädagogen. Was eine gut ausgestattete Institution ausmacht, das kann man am Holocaust-Museum in Washington sehen. Dieses kann - auch wenn man die Übertragung seines Modells auf Deutschland und Europa nicht für sinnvoll hält - insofern Vorbild sein, als wir die an authentischen Orten errichteten Gedenkstätten so mit qualifiziertem Personal und Mitteln ausstatten, daß sie ihre Funktion der Aufklärung über Vergangenheit im Hinblick auf Gegenwart und Zukunft ausüben können. Ihre Arbeit ist dabei noch stärker zu vernetzen; nicht jede Gedenkstätte kann alle Aspekte und alle Aufgaben in gleicher Weise wahrnehmen hier geht es auch um Zusammenarbeit. Es handelt sich bei den großen Gedenkstätten um Einrichtungen mit gesamtstaatlicher Bedeutung. Der Bund muß seiner Verantwortung stärker nachkommen - das Zurückfahren der Mittel kann nicht hingenommen werden. Selbstverständlich sind aber auch die Länder und die Kommunen gefordert. 15

Bernd Faulenbach

(2) Im Zentrum der Erinnerungskultur steht zu Recht der Holocaust. Doch heißt dies nicht, so glaube ich, daß die Erinnerungskultur auf diesen beschränkt sein sollte: - Ich halte es für nötig, jüdisches Leben vor dem Holocaust zu dokumentieren, was an verschiedenen Stellen - etwa hier in der alten Synagoge - geschieht. Der Aufbau eines größeren Museums in Berlin ist zu begrüßen. - Selbstverständlich gilt es auch, der anderen Opfergruppen zu gedenken, auch der politischen Gegner des Nationalsozialismus. Auch die Beschäftigung mit Einzelschicksalen bleibt sinnvoll. - Erinnerung kann und soll selbstverständlich widerständiges Handeln einschließen, so ambivalent dies auch sein mag, auch Zivilcourage im Alltag. - Erinnern sollten wir uns auch der Opfer des kommunistischen Totalitarismus. Auch diese O p f e r haben ein Recht, nicht vergessen zu werden. Auch ihre Erfahrung gilt es zu reflektieren. Der historische Zusammenhang, die Aufeinanderfolge der Geschehnisse, ist bei Dokumentationen zu berücksichtigen. - Eine demokratische Erinnerungskultur sollte aus meiner Sicht - wie schon G u stav Heinemann gefordert hat - nicht zuletzt auch die demokratischen Traditionen deutscher Geschichte lebendig halten. Dazu gehören alle die Kräfte und Persönlichkeiten, die sich für Freiheit eingesetzt haben, der Freiheitsbewegungen, die die Strukturen der Unfreiheit, etwa den Obrigkeitsstaat, überwinden wollten - ich denke an die 48er-Bewegung, an die Demokratiebewegung, die Arbeiterbewegung usw. (3) Unsere Erinnerungsarbeit verläuft - abgesehen von ihren lokalen und regionalen Differenzierungen - im nationalen Rahmen. Dies ist gutenteils auch sinnvoll, es geht durchaus auch u m unser nationales Selbstverständnis, u m die Frage, in welcher Weise sich die Gesellschaft mit ihrer Geschichte in Beziehung setzt. Dennoch spricht vieles dafür, unsere Erinnerungskultur - womöglich - mit der anderer Nationen zu verknüpfen, zumal etwa der Eroberungs- und Vernichtungskrieg, auch der Holocaust, viele Nationen betraf, im Westen und vor allem im Osten. Erinnerung ist nicht nur eine nationale, sie ist auch eine europäische, ja auch eine universale Aufgabe. Hier liegt, wie mir scheint, eine der wichtigen Aufgaben der nächsten Jahre. Eine demokratische Erinnerungskultur sollte nicht national exklusiv sein. Deshalb macht es Sinn, bi-nationale oder transnationale Erinnerungstage, Veranstaltungen, Konferenzen zu realisieren und die Kommunikation zwischen denen, die im Bereich der Erinnerungsarbeit tätig sind, zu verbessern. Erinnerungsarbeit ist eine ständige Aufgabe. E s hieße, ihre Bedeutung verkürzen, wenn man in ihr nur ein Kampfmittel gegen den Extremismus sähe. Gerade nach dem Epochenumbruch 1989/90, angesichts des allmählichen Aussterbens der Generationen, die die N S - Z e i t erlebt haben, der Überlebenden, die ihre Erfahrungen wiedergegeben haben, ist sie für die demokratische politische Kultur in Deutschland und Europa unverzichtbar und bedarf besonderer Förderung. Die Erinnerungskultur ist ein konstitutiver Bestandteil der demokratischen politischen Kultur. Wie es um die demokratische politische Kultur bestellt ist, wird sich daran zeigen, ob unsere 16

Erstarrte Rituale oder demokratische Kultur?

Gesellschaft sich als fähig erweist, ein kollektives Gedächtnis zu entwickeln, das vielfältige widersprüchliche Erinnerungen an die verschiedenen Vergangenheiten des 20. Jahrhunderts bewahrt, die Bedeutung der NS-Zeit dabei nicht einebnet, doch auch widerständiges und demokratisches Handeln einschließt und die tägliche Einlösung von Menschen- und Bürgerrechten zur ständigen Aufgabe erhebt.

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Max Mannheimer

Die Bedeutung von Gedenktagen und -orten für die überlebenden Verfolgten

Wenn ich von meinen persönlichen Erfahrungen ausgehe, dann hatte ich seit Jahrzehnten den Wunsch, den Ort aufzusuchen, wo sechs meiner engsten und liebsten Verwandten ermordet wurden: Auschwitz-Birkenau. Von vielen Uberlebenden weiß ich, daß sie den gleichen Wunsch hatten, doch sie hatten nicht immer die Kraft, die Begegnung mit der Vergangenheit zu ertragen. Ich kann dies gut verstehen, denn bei der Begegnung mit der Zeit des Grauens braucht es viel Kraft. Das habe ich selbst erlebt: Obwohl 48 Jahre vergangen waren (1991), war für mich der Besuch Birkenaus (Auschwitz II) schwer zu ertragen. Dieser größte Aschenfriedhof der Welt bot einen gespenstischen Anblick. Zwischen den Ruinen der im Herbst 1944 in die Luft gesprengten Krematorien und Gaskammern wuchert Gras. Die Pferdeställe, ursprünglich für militärische Zwecke vorgesehen, die mir vom 2. Februar 1943 bis zum 15. März 1943 als Unterkunft dienten, verwittern und verfallen. Die stehengebliebenen Schornsteine gleichen warnenden Fingern, die zum Himmel zeigen. In dem kleinen Teich spiegelt sich die untergehende Sonne. Zwei Jungen fischen dort. Fast eine Idylle. Auf einer Tafel wird in fünf Sprachen darauf hingewiesen, daß in diesen Teich die Menschenasche aus den Krematorien gekippt wurde. Der Film dieser Zeit, lief mit aller Grausamkeit ab: „Auschwitz-Birkenau, Todesrampe, Mitternacht vom 1. zum 2. Februar 1943. Alles aussteigen! Alles liegenlassen! Eine Panik. Jeder versucht, so viel wie möglich in die Taschen zu stopfen. Die SS-Leute brüllen: Bewegung! Ein bißchen Dalli! Noch ein Hemd wird angezogen. Noch ein Pullover. Zigaretten. Vielleicht als Tauschobjekt. Männer auf diese Seite, Frauen auf die andere Seite, Frauen mit Kindern auf die LKWs. Männer und Frauen, die schlecht zu Fuß sind, können mit den L K W mitfahren. Viele melden sich. Der Rest wird in Fünferreihen aufgestellt. Eine Frau versucht, zu uns herüberzukommen. Sie will vermutlich ihren Mann oder Sohn sprechen. Ein SS-Mann reißt sie mit einem Spazierstock zu Boden. Am Hals. Sie bleibt liegen. Wird weggezerrt. Arbeitseinsatz? Ein SS-Offizier steht vor uns. Obersturmführer. Wird von einem Posten so angesprochen. Vermutlich Arzt. Ohne weißen Kittel. Ohne Stethoskop. In grüner Uniform. Mit Totenkopf. Einzeln treten wir vor. Seine Stimme ist ruhig. Fast zu ruhig. Fragt nach Alter, Beruf, ob gesund. Läßt sich Hände vorzeigen. Einige Antworten höre ich. Schlosser - links. Verwalter - rechts. Arzt - links. Arbeiter - links. Magazineur der Firma Bata - rechts. Es ist unser Bekannter. Büchler aus Bojkowitz. Schreiner — links.

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Die Bedeutung von Gedenktagen und -orten für die überlebenden Verfolgten Dann ist mein Vater an der Reihe. Hilfsarbeiter. Er geht den Weg des Verwalters und Magazineurs. Er ist fünfundfünfzig. Dürfte der Grund sein. Schwielen an den Händen. Wie gut sind die Schwielen. Links. Mein Bruder Ernst: zwanzig, Installateur - links. Mein Bruder Edgar: siebzehn, Schuhmacher - links. Versuche meine Mutter, Frau, Schwester, Schwägerin zu entdecken. Es ist unmöglich. Viele Autos sind abgefahren. Aufstellung in Dreierreihen. Ein SS-Posten fragt nach tschechischen Zigaretten. Ich gebe ihm welche. Er beantwortet meine Fragen. Die Kinder kommen in den Kindergarten. Männer können ihre Frauen sonntags besuchen. Nur sonntags? Das reicht doch! Es muß wohl reichen. Wir marschieren. Auf einer schmäleren Straße. Wir sehen ein hell erleuchtetes Quadrat. Mitten im Krieg. Keine Verdunkelung. Wachtürme mit MGs. Doppelter Stacheldraht, Scheinwerfer, Baracken. SS-Wachen öffnen ein Tor. Wir marschieren durch. Wir sind in Birkenau. Vor einer Baracke bleiben wir zehn Minuten stehen. Dann werden wir eingelassen. Aus dem Transport von eintausend Männern, Frauen, Kindern sind es jetzt 155 Männer. Mehrere Häftlinge sitzen an Tischen. Geld und Wertgegenstände sollen abgegeben werden. Auch Verstecktes. Sonst gibt es harte Strafen. Aus meinem Hemdkragen trenne ich ein Stück auf. Zehn-Dollar-Note. Von meinem Schwiegervater. Als Reserve für Notzeiten. Die Namen werden registriert. Ich frage, ob ich die Kennkarte behalten soll. Nein, heißt es. Wir bekämen neue. Wir kommen ins Freie. Dann eine andere Baracke. In einem Raum legen wir unsere Kleider ab. Nur Schuhe und Gürtel behalten wir. Sämtliche Haare werden abgeschnitten. Und abrasiert. Wegen der Läuse. Wir werden mit Cuprex eingesprüht. Kommen in einen sehr warmen Raum. Stufenartig angelegt. Wie eine Sauna. Wir sind nackt und freuen uns über die Warme. Eigenartig sehen wir aus. Komisch. Glatzen, um den Bauch einen Gürtel und wir haben Schuhe an. Ein Häftling in gestreifter Kleidung kommt herein. Stellt sich vor uns. Wir fragen nach den Frauen, Kindern. „Gehen durch den Kamin"! Wir verstehen ihn nicht. Wir halten ihn für einen Sadisten. Wir fragen nicht mehr. Im Raum wird es immer heißer. Plötzlich wird eine Eisentür aufgerissen. Führt zu einem Nebenraum. Häftlinge brüllen: Bewegung, Dalli ... genau wie die SS an der Rampe. Scheint die Lagersprache zu sein. Mit Stockschlägen werden wir in den eiskalten Raum unter die Brausen getrieben. Eiskalter Raum. Eiskaltes Wasser. Nach der warmen Sauna. Beim Versuch, dem kalten Strahl auszuweichen, gibt es Stockschläge. Nach zehn Minuten wird das Wasser abgestellt. Handtücher gibt es nicht. Dafür Kleidung. Fremde Kleidung. Zivilkleidung mit einem breiten roten Strich auf der Rückseite der Jacke, je einem Strich an den Hosenbeinen. Scheint Ölfarbe zu sein. Es gibt eine Jacke, Hose, Unterhose, Hemd, Socken. Keinen Mantel. Keine Mütze. 2. Februar 1943 Mein Bruder Edgar ist groß. 186. Die Ärmel seiner Jacke sind zu kurz. Viel zu kurz. Er bittet um Umtausch. Bekommt einen Faustschlag ins Gesicht. Fällt auf den Betonboden. Ich helfe ihm auf die Beine. Die Jacke bleibt die gleiche. Das ist also der Arbeitseinsatz. Wie lange kann man das aushalten? Wir treten draußen an. Warten eine halbe Stunde. Die Tür einer Desinfektionsanlage ist offen. Wir sehen zwei Häftlinge. Sie tasten die Kleidungsstücke nach eingenähtem Geld und nach Wertsachen ab. Das Geld werfen sie auf einen Haufen. Meistens Dollar-Noten. Scheint hier wertlos zu sein. Wir warten und frieren. Endlich geht es weiter. Wir marschieren. Kommen in einen Block. Dreistöckige Bettgestelle. Sechs Häftlinge eine Pritsche. Die Stubendienste brüllen: Marsch, marsch in die Betten, Schuhe unten stehen lassen. Wir klettern auf die Pritschen. Pritschen ohne Stroh und ohne Decken. Schlafen können wir nicht. Beten wir, schlägt jemand vor. Wir beten. Schema Israel ... Aufstehen, Bewegung, brüllen die Stubendienste. Einige von uns suchen verzweifelt nach ihren Schuhen. Viele finden sie nicht. Alte Schuhe, die nicht passen, sind da. Sie fragen die Stubendienste. Faustschläge sind die Antwort.

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Max Mannheimer Uns alle beschäftigt nur die Frage: Wo sind unsere Eltern, Frauen, Geschwister? Wo sind die Kinder? Wo sind sie? Vor dem Block antreten. Wir frieren. Es ist noch dunkel. Der Boden ist schlammig. Links von uns ist der Stacheldraht. Elektrisch geladen. Totenkopf. Darunter: „Lebensgefahr". Ich bin verzweifelt. Schaufeln werden wir bekommen. Eigenes Grab schaufeln. Das sind meine Gedanken. Ich spreche sie aus. Mein kleiner Bruder tröstet mich. Ich sollte ihm Stütze sein. Elektrisch geladener Stacheldraht. Nur berühren - aus. Tut nicht weh. Mein kleiner Bruder fragt: Willst Du mich allein lassen? Vordermann! Seitenrichtung! Sauhaufen! Der Blockälteste schreit. Die Stubendienste schreien. Versuchen durch Stoßen die Reihen zurechtzurücken. Ein SS-Mann kommt. Der Blockälteste meldet die Zahl. Wir werden gezählt. Bleiben noch eine halbe Stunde stehen. Abmarsch in eine andere Baracke. Wir treten ein. Die Baracke ist ganz leer. Stehen herum. Eine andere Gruppe kommt wenige Minuten nach uns. Juden aus Polen. Aus Pruszana. Ein Tisch wird hereingebracht. Mehrere Häftlinge in gestreifter Kleidung kommen. Mit Karteikarten. Mit Tätowiernadeln. Namen werden aufgerufen. Zum letzten Mal. Später werden nur noch die Nummern gelten. Der linke Unterarm ist das Namensschild. Edgar 99727, ich 99728, Ernst 99729. Unser Einbrennstempel. Wie beim Vieh. Damit es nicht verloren geht. Die Häftlinge mit den "Iatowiernadeln sind sehr gewandt. Das macht die Erfahrung. Beim neunundneunzigtausendsiebenhundertachtundzwanzigsten Mal hat man Erfahrung. Wir warten noch eine Stunde. Treten draußen an. Wir marschieren wieder. In ein neues Lager. Zwei unübersehbare Reihen Pferdeställe. Uberall Schlamm. Leicht gefroren. Das Lager ist menschenleer. Wir sind also die Pioniere. Das ganze Bild ist etwas gespenstisch. Zwei lange Reihen Baracken, Schlamm, Stacheldraht. Von weitem hört man das Geräusch von Dieselschleppern. Tuck, tuck, tuck, tuck ... Die Betten kennen wir schon. Dreistöckig. Für sechs Personen. Keine Decken. Blankes Holz. Wir werden in die Betten befohlen. Hier befiehlt der Blockälteste. Ein Reichsdeutscher mit grünem Winkel: „ein Krimineller." E r spricht zu uns. Birkenau sei kein Sanatorium, Disziplin, Sauberkeit. Fleiß. Nur so könne man überleben. Die Baracke hat an den Stirnseiten Tore. Auf einer Seite der Baracke ist der Schlafraum des Blockältesten. Hierher wird auch die Verpflegung gebracht: Brot, Margarine, Marmelade, Suppe, eine schwarze Brühe, die man Kaffee oder Tee nennt. Auf der anderen Stirnseite ist ein Abort. Ein Häftling wird zum Scheißmeister bestimmt. Er hat hier für Ordnung und Sauberkeit zu sorgen. Seit gestern abend haben wir nichts zu essen bekommen. Inzwischen ist es Mittag. Seit zwei Stunden stehen wir zwischen zwei Blocks herum und tun gar nichts. Wir bewegen die Arme, hüpfen, nur um nicht zu frieren. Anfang Februar ohne Mantel. Ohne Hut. Ohne Essen. Ohne Eltern. Ohne Geschwister, Frauen. Ohne Heim. Ohne Hilfe. Ohne Hoffnung."

Es dauerte lange Zeit, bis ich mein Gleichgewicht wiedergefunden hatte. Ich konnte auch mit niemandem darüber sprechen. Anders ist es für mich in der Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers Dachau. Obwohl Dachau und die zwei Außenlager eine Zeit der Angst und des Schreckens gewesen sind, begleite ich seit einem Jahrzehnt Gruppen durch die Gedenkstätte. Anfangs mußte ich meine Gefühle stark unterdrücken, besonders wenn ich in den Krematoriumsbereich kam. Sehr bald erkannte ich, daß diese Führungen durch einen ehemaligen Häftling und die darauf folgenden Gespräche für die Besucher und besonders für die junge Generation von Bedeutung sind. Den Führungen gingen meistens Vorträge in Schulen und anderen Institutionen voraus. Im Frühjahr 1994 erhielt ich einen Brief eines ehemaligen Schülers des DomGymnasiums Freising. Nach dem Besuch des Films „Schindlers Liste" bat er mich 20

Die Bedeutung von Gedenktagen und -orten für die überlebenden Verfolgten

um Rat und Hilfe. Seine Verzweiflung über das Geschehene war so groß, daß er für längere Zeit nicht ansprechbar war. Viele Gedanken gingen ihm durch den Kopf: Warum konnten nur so wenige gerettet werden? Warum ist keiner in Deutschland dagegen aufgestanden? Warum hatten so viele Deutsche ihre Freude an den Judenverfolgungen? Woher kam der Judenhaß? Warum wollen sich viele Deutsche nicht mit dieser Problematik auseinandersetzen? Und vieles andere mehr. Ahnliche Fragen werden nach den Führungen in Dachau gestellt. Und dort erlebe ich auch immer wieder, daß gerade junge Leute sich schämen, Deutsche zu sein. Bücher und Filme können zwar vieles vermitteln, doch die Authentizität des Ortes ist nicht zu ersetzen. Auschwitz würde ich hier an die erste Stelle setzen, das Synonym für den Völkermord an Juden, Sinti und Roma. Ich kenne mehrere Jugendgruppen, die während ihres Aufenthaltes und ihrer freiwilligen Arbeit in Auschwitz in ihrer Einstellung verändert wurden. Auch die von dem Förderverein für Internationale Jugendbegegnung veranstalteten Sommercamps in Dachau zeigen ähnliche Ergebnisse. Gedenken braucht Raum und Zeit - unter dieses Motto stellte der Bund der Katholischen Jugend Münchens mehrere Veranstaltungen, die am 8. Mai dieses Jahres begannen und noch weitergehen. Der 8. Mai war für die einen der Tag der Niederlage, für die anderen der Tag der Befreiung. Die Mehrheit der Bevölkerung versuchte, in den Trümmern zu überleben. Plötzlich war es nicht mehr wichtig, die Ansprüche der sogenannten „arischen Herrenrasse" zu propagieren. Jetzt stand man um Lebensmittel an, ging auf Hamsterfahrten, suchte Familienangehörige. Von Politik hatte man genug. Schnelle Anpassungsleistungen wurden vollzogen. Man verleugnete die Vergangenheit, stürzte sich in den Wiederaufbau. In der Rückschau erweist sich der 8. Mai 1945 als einschneidender Wendepunkt der deutschen Geschichte. Die Niederlage im Zweiten Weltkrieg ist eine grundlegende Bedingung der Freiheit und des Friedens. Im Rückblick kann der 8. Mai nur als ein Tag der Befreiung gewertet werden. All jenen Kräften, die ihn als „Tag der Niederlage" sehen, muß entschieden widersprochen werden. „Befreiung ist kein Zustand, sondern ein langer Weg in die Demokratie" schreibt Heribert Prantl in der „Süddeutschen Zeitung". Die erste Station auf diesem Weg ist der 8. Mai 1945. Uns muß es ein dringendes Anliegen sein, die nationalsozialistische Geschichte Deutschlands nicht zu vergessen, damit die faschistische Barbarei in Deutschland nie mehr eine Chance hat und damit von Deutschland nie mehr ein Krieg ausgehen kann. Lange Zeit war das Thema „Konzentrationslager" durch die Notwendigkeiten des Aufbaus verdrängt worden. Gedenktage bedeuten den verfolgten Überlebenden sehr viel. Eindrucksvoll und bewegend war die Feier anläßlich des 50. Jahrestages der Befreiung des Konzentrationslagers Dachau. Eine große Zahl der 2000 ehemaligen Häftlinge kam zum ersten Mal seit der Befreiung an den Ort ihres Leidens, viele aus den Ostblockländern. Die Begegnung mit ehemaligen Kameraden brachte alte Erinnerungen zurück und die schmerzliche Frage, warum nur so wenige überleben konnten. 21

Max Mannheimer

Die Zeit der „Ehemaligen" geht langsam zu Ende. Bleiben werden Lebensberichte, Filme mit Interviews. Deshalb ist der Erhalt der Gedenkstätten erforderlich, weil nur über die Konfrontation mit den Spuren der hier Inhaftierten und über die Vermittlung von geschichtlichem Wissen ein Gedenken gelingen kann. Menschen, die solche Gedenktage und Gedenkstätten für überflüssig halten, haben nicht begriffen, daß 1945 viele Verfolgte der Nazizeit zur treibenden Kraft der im Aufbau befindlichen Demokratie wurden. Dankbar bin ich, daß es einen Verein „Gegen Vergessen - Für Demokratie" gibt, der die Erinnerung an die schlimme Zeit wachhält und zur Festigung demokratischer Kräfte beiträgt.

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Inge Deutschkron Ich trug den gelben Stern

/. Am ganzen Körper bebend, das Gesicht aschfahl und von Angst verzerrt, stand der blinde Levy vor seinem Chef. „Ich habe die Listen, Herr Weidt." Er hielt das Formular in beiden Händen, das für jeden Juden die organisatorische Vorstufe zur Deportation bedeutete. Nach der ersten Deportation gab es keinen Juden in Berlin, der die wahre Bedeutung der harmlos aussehenden Vordrucke, auf denen der Besitz verzeichnet werden mußte, nicht kannte. Otto Weidt, dessen Hände ebenso zitterten wie die von Levy, riß ihm die Formulare aus der Hand. „Gib her!" sagte er barsch. Levy verstand nicht. Der kleine Mann wich an die Wand zurück. Weidt zog bereits einen Mantel an, befahl Ali, ihm die Blindenbinde zu bringen, und stapfte, laut mit dem Stock auf den Boden stoßend, aus dem Büro. Er sprach kein Wort. Niemand wußte, was er vorhatte. Wir standen im Büro. Gustav Kremmen und das Lehrmädchen Erika wußten nicht, was sie sagen sollten. Kremmen klopfte Levy, der seine Hände wie schützend vor die blinden Augen hielt, auf die Schulter und sagte unbeholfen, fast mit Rührung in der Stimme: „Wird schon in Ordnung gehen." Hampel, der Vertreter, trat ein. In seiner polternden Art wünschte er „einen wunderschönen guten Morgen". Kremmen schob ihn aus dem Büro, wohl um zu erklären, was geschehen war. Levy war wieder in die Werkstatt zurückgegangen. Dort saßen die dreißig Blinden an ihren Werkbänken. Keiner sagte ein Wort. Sonst sangen sie oder erzählten einander Witze, während ihre Hände schematisch die Faser durch die Bohrlöcher der Besenhölzer zogen. Sie taten es schneller, als ein Sehender es gekonnt hätte. Hinter der Werkstatt lag die Zurichterei. Unter der Anleitung eines Fachmanns, Horn mit Namen, bereiteten einige sehende Mitarbeiter das Material vor. Horn stammte aus Polen. Sein Deutsch verriet jiddische Anklänge. Er war klein von Gestalt, sein Kopf mit dem krausen blond-grauen Haar schien unproportional groß. Auf einer gewaltigen Nase unter einer hohen Stirn saß eine Brille mit dicken Gläsern. Seine Gesichtszüge ließen eine etwas weinerliche Güte erkennen. Er schien immer in Angst zu leben. Sein Lachen äußerte sich lediglich in einem Verziehen seines breiten Mundes. Horns etwa 17jähriger Sohn lernte das Handwerk des Vaters in der Blindenwerkstatt als einer der vier oder fünf Hilfsarbeiter. Tüchtige Fachleute wie Horn waren selten. Weidt brauchte ihn, und er vergötterte Weidt. Daß Weidt mit den „Listen" von Levy möglicherweise zur Gestapo gegangen war, wie Ali andeute23

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te, verbreitete sich wie ein Lauffeuer in der Werkstatt. Ich weiß nicht mehr, wann Weidt zurückkehrte, aber als er das Büro betrat, zuckte es in seinem Gesicht. Noch im Mantel ging er schnurstracks in die Werkstatt. „Das ist erledigt", sagte er zu dem angstvoll wartenden Levy. „Erledigt?" Levy murmelte das Wort verständnislos. „Ja", sagte Weidt, „wie soll ich wohl meine Wehrmachtsaufträge ausführen, wenn man mir meine Arbeiter wegnimmt?" Die Leute begannen zu lachen. Erst leise in sich hinein, dann immer lauter. Sie hatten verstanden. Levy wollte Weidt die Hand küssen. Er wehrte ihn unwillig ab und verschwand. Als er im Büro erschien, war er der strahlende Sieger, aufrecht, den Schalk in den Augen. Aber zugleich warnte er: „Dieses Mal hat es geklappt, ob das nächste Mal auch ...?" Die Maschinerie der Deportationen war angelaufen. Sie wurden zu einer ebenso schrecklichen wie exakten Routine. Die Gestapo setzte die Normen. Die Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde erhielten die Weisung, daß am Tag X ein weiterer Transport aus Berlin abgeht, für die 1000 Personen bereitzustellen sind. Dann folgte, wie Dr. Conrad Cohen berichtete, die Direktive. Und nach dieser Direktive stellte die Jüdische Gemeinde die Listen zusammen. Für den ersten Transport waren Menschen über 65 Jahre ausgewählt worden. Dann forderte die Gestapo Arbeitsunfähige, von Unterstützung lebende Personen, alleinstehende Frauen mit Kindern. Die Kategorien änderten sich ständig. Levy hatte die „Listen" bekommen, weil er als Blinder und über 60 Jahre alt registriert war. Als Berufstätige in nicht kriegswichtigen Betrieben zur Deportation aufgerufen wurden, traf es auch mich. Ich erhielt die „Listen". Meine Mutter war völlig verstört. „Ich melde mich freiwillig. Ich lasse dich nicht allein gehen", erklärte sie. Tagelang rang sie mit mir. Sie arbeitete in einer Fabrik, die Batterien für Funkgeräte herstellte und zu den kriegswichtigen Betrieben gehörte. Natürlich hatte ich Angst vor dem, was am Ende der Deportation stehen würde. Wir wußten es damals noch nicht und ahnten nur, daß es schlimmer sein müßte als das bisher Erlebte. Aber neben der Angst erwachte in mir auch Neugier. Welchem Schicksal waren diejenigen entgegengegangen, die uns schon verlassen hatten? Was erwartete mich auf diesem Weg? Ich ging zu Dr. Cohen meinem früheren Arbeitgeber, bei dem ich an einigen Nachmittagen so wie einst im Haushalt half. „Gib das Ding sofort her!" sagte Cohen. Ich sah die „Listen" nicht wieder. Die Jüdische Gemeinde hatte offenbar den Namen einer anderen Person auf die Liste setzen müssen. Meine Mutter war gänzlich erschöpft von der Aufregung der vergangenen Tage. Mich quälte zunächst der Gedanke, daß nun ein anderer das mir zugeteilte Los tragen mußte. Aber ich vergaß es bald. Dann kamen auch in kriegswichtigen Betrieben Arbeitende an die Reihe, soweit sie dort relativ unwichtige Aufgaben hatten, etwa Boten oder ungelernte Hilfsarbeiter. Die Firmen A E G und Siemens wurden gegen die Auskämmung ihrer Betriebe bei der Gestapo vorstellig. Sie erklärten - zweifellos glaubwürdiger als Otto Weidt - , daß der Arbeitsprozeß gestört würde, wenn ihnen die fleißigen jüdischen Arbeiter, für die es zu jener Zeit keinen Ersatz gab, genommen würden. Aber die 24

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Züge mit Deportierten rollten weiter. Familien wurden auseinandergerissen; alte Menschen von ihren Kindern getrennt. Die ersten Transporte, die Menschen über 65 Jahre nach Theresienstadt brachten, begannen im Juni 1942.* Der 85jährige Onkel Paul Litten, einst einer der angesehensten Bürger der pommerschen Stadt Köslin, mußte mit. Er war ein wohlhabender Mann gewesen, der sein Leben lang von seinen fünf Kindern verwöhnt worden war. Im Alter wurde er von zweien seiner Töchter versorgt. Drei seiner Kinder waren ausgewandert. Sie hatten versprochen, ihn nachkommen zu lassen. Dazu kam es nicht mehr. Er konnte kaum noch allein gehen. „Macht euch um mich keine Sorgen, meine Kinder", sagte er tröstend, als die Gestapo ihn holte. Er wußte, daß er seine letzte Reise antrat. Seiner unverheirateten Schwester, Tante Gustel, brachte meine Mutter noch eine warme Jacke, bevor sie zum Abtransport geholt wurde. Sie lebten im Altersheim Altonaer Straße. Als wir hinkamen, fanden wir die alten Herrschaften beim Packen. Ja, natürlich würden sie sich vorsehen. Natürlich würden sie schreiben, natürlich würden sie sich nicht erkälten sie wiederholten es immerzu, wenn die Angehörigen, die gekommen waren, um beim Packen zu helfen, vorsorgliche Ratschläge gaben. Keiner glaubte dem anderen. Jeder wußte genau, daß es kein Wiedersehen geben würde. „Ich werde mich um Paul kümmern", sagte meine Tante, der Typ einer alten Jungfer, viel verlacht, gutmütig und den Wirren des Lebens gegenüber sehr hilflos. Sie war stets von ihrem wohlhabenden Bruder unterhalten worden. N u n gehörte sie wohl zu den wenigen, die sich noch eine Aufgabe für Theresienstadt vornahmen. „Theresienstadt wird schon nicht so groß sein, daß ich ihn dort nicht finden werde", meinte sie. Mit Hilfe meiner Mutter packte sie ihre wenigen Habseligkeiten in eine große Tragetasche. Verlegen lachend tat sie einen Blechnapf hinein. „Wie ein Hundenapf, nicht wahr?" Solche Eßnäpfe waren an die alten Leute verteilt worden. Während im Hause Geschäftigkeit herrschte wie bei einem U m z u g und die Auflösung um sich griff, standen draußen die Angehörigen, die schon Abschied genommen hatten, weinten, schluchzten und warfen sich verzweifelt einander in die Arme. Langsam und zögernd verließen sie den Ort, von dem aus ihre lieben Angehörigen die Reise in den Tod antraten. D a s Haus aber wurde mit neuen Opfern gefüllt - „provisorisch" - , denn alle waren dorthin umgesiedelt worden, um auf ihren Abtransport zu warten. Auch Tante Olga war unter ihnen. An dem von der Gestapo festgesetzten Tag waren die jüdischen Ordner erschienen. „Olga Sata Rosenberg, Sie haben die Listen erhalten. Wir hoffen, Sie sind zum Abtransport bereit? Wollen Sie bitte mitkommen." Für den ersten Transport war die „Fracht" noch von der Gestapo abgeholt worden, entweder weil die Aktion geheim bleiben sollte oder um die „Reaktion" zu prüfen. Aber die Juden fügten sich ohne Widerstand. Im Gegenteil - sie führten die ihnen *

117 Transporte gingen nach Theresienstadt mit insgesamt 14 797 Personen.

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erteilten Befehle genau aus. Mit den Listen verschickte die Jüdische Gemeinde einen Brief, in dem die Opfer informiert wurden: „Ihre Abwanderung ist für ... behördlich angeordnet worden ... Am ... können Sie ihr Reisegepäck in der Zeit von 9-13 Uhr in der Sammelunterkunft, Pestalozzistraße 7-8, abliefern. Am Montag, dem ... um 6 Uhr morgens wird Ihre Wohnung durch einen Beamten versiegelt werden. Sie müssen sich zu diesem Zeitpunkt bereithalten. Wohnungs- und Zimmerschlüssel sind den Beamten auszuhändigen ..." Dieser Anordnung war ein Merkblatt beigefügt, das alle zu beachtenden Anweisungen enthielt: „Wir bitten Sie herzlich, diese Anweisungen genauestens zu befolgen und die Transportvorbereitungen in Ruhe und Besonnenheit zu treffen. Die von der Abwanderung betroffenen Mitglieder müssen sich bewußt sein, daß sie durch ihr persönliches Verhalten und die ordnungsgemäße Erfüllung aller Anweisungen entscheidend zur reibungslosen Abwicklung des Transportes beitragen können. Es ist selbstverständlich, daß wir, soweit dies zugelassen ist, alles tun werden, um unseren Gemeindemitgliedern beizustehen, um ihnen jede mögliche Hilfe zu leisten." Die von der Gemeinde eingesetzten Ordner waren meist junge Leute. Sie taten ihre Pflicht. Manchmal schienen sie grausam. Sie trieben die Opfer an: „Schnell, schnell, sind Sie noch nicht fertig?" Aber vielleicht wäre jede Verzögerung des Unabwendbaren noch grausamer gewesen. Sie überwältigten unsere alte Wirtin aus der Bamberger Straße 22, die sich mit Händen und Füßen und fürchterlichem Geschrei gegen die Deportation wehrte, und trugen sie mitsamt dem Stuhl, auf dem sie wie angeklebt saß, die Treppen herunter zum wartenden Lastwagen. Diese Leute hatten ihre Norm zu erfüllen. Sie sprachen kein freundliches Wort, höchstens: „Denken Sie, uns macht das Spaß?" Vielleicht verbargen sie ihre Gefühle. Unter ihnen befanden sich Lehrer, Anwälte, ehemalige Angestellte jüdischer Organisationen, die arbeitslos geworden waren.

II. „Sie müssen mir etwas ganz fest versprechen", eindringlich forderte es die kleine Frau Gumz. Sie hielt die Hände meiner Mutter wie in einem Schraubstock umklammert. Ihre blauen Augen glänzten und schimmerten vor Erregung wie Irrlichter. Ihre aufgesprungenen Lippen über den breit auseinanderstehenden, etwas vorgeschobenen Zähnen zitterten. „Sie müssen mir etwas versprechen!" wiederholte sie mehrmals. Es war an einem kalten düsteren Novembertag im Jahre 1942. Nun schon ein Jahr lang rollten die regelmäßigen Transporte jüdischer Menschen aus Berlin in Richtung Osten. Niemand wußte genau, wohin. „Aber was soll ich Ihnen denn versprechen?" fragte meine Mutter ein wenig 26

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verwirrt und ratlos. „Ich kann Ihnen doch nichts versprechen, ohne zu wissen, um was es geht!" „Doch, das müssen Sie aber", verlangte Frau Gumz. Etwas verlegen und ganz leise fügte sie hinzu: „Wenn ich Ihnen sage, um was es geht, würden Sie vielleicht zögern." „Also gut", gab meine Mutter endlich nach, „ich verspreche es Ihnen." Frau G u m z lachte kurz und, wie es schien, sehr zufrieden. „Sie haben mir eben versprochen, daß Sie und Inge sich nicht wie die anderen deportieren lassen." „Aber Frau G u m z " , rief meine Mutter und entzog ihre Hände dem immer noch festen Griff, „ich verstehe das alles nicht, und überhaupt, was ist geschehen, daß Sie so reden, und wie stellen Sie sich das vor?" Frau Gumz beugte sich vor. „Der Fritz von nebenan, Sie wissen schon, der junge Soldat, ist aus dem Osten zurückgekommen." Dann fügte sie sehr leise hinzu: „Er hat erzählt, was sie dort mit den Juden machen." „Ja, was denn?" fragte meine Mutter spürbar erregt. „Ach, ich kann Ihnen das nicht erzählen, es ist furchtbar." Ihre letzten Worte gingen in Tränen unter. „Der Fritz hat unterschreiben müssen, daß er nicht darüber spricht, was er gesehen hat, aber wer kann denn das . . . ! " „Es ist also wahr, was der englische Sender schon seit einiger Zeit berichtet." Meine Mutter sagte es mehr zu sich selbst. Sie dachte an die vagen Meldungen über Vergasungen, Hinrichtungen, Erschießungen von Juden, an die keiner von uns so recht geglaubt hatte, oder vielleicht besser gesagt, nicht hatte glauben wollen. Es erschien so unfaßbar. Frau G u m z schien die Frage meiner Mutter vorausgeahnt zu haben. Ganz schnell entgegnete sie: „Wir helfen Ihnen, ich verspreche es Ihnen. Mein Mann und ich haben das schon beschlossen. Sie kommen zu uns." So einfach sagte sie das. Als wir aus der Tür ihres Ladens in die Dunkelheit traten, rief sie uns noch nach: „Vergessen Sie nicht, Sie haben es versprochen . . . ! " Ihre fast bittenden Worte klangen uns nach. „Wir müssen das mit Ostrowski besprechen", überlegte meine Mutter. „So einfach ist das schließlich nicht." Ein wenig zögernd gingen wir zu ihm. „Die Gumzens sind so einfache Menschen, daß sie die Tragweite ihrer Absicht nicht übersehen", hatte meine Mutter mehrmals eingewandt, wenn wir über die Möglichkeit des „Untertauchens" sprachen. Sie wiederholte ihre Bedenken, aber Ostrowski war anderer Meinung. „Das ist eine großartige Idee", rief er aus, rieb sich die Hände und schien erfreut, endlich eine Gelegenheit gefunden zu haben, seine Opposition gegen Hitler aktiv auszudrücken. „Natürlich, das werden wir tun. Grete und ich werden Ihnen helfen." Seine Freundin Grete betrieb seit Ostrowskis Entlassung aus dem Staatsdienst eine Papierhandlung mit Leihbücherei. Sie diente teils als Einnahmequelle, teils als Tarnung, denn ehemalige SPD-Funktionäre waren der Gestapo wegen vermuteter antinazistischer Umtriebe stets verdächtig. Eine bürgerliche Existenz konnte diesen Verdacht beseitigen oder doch mindern. Sie wohnten in einer kleinen 1 V5-Zimmer27

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Wohnung in Berlin-Halensee. Es war klar, daß wir bei Ihnen kein Unterkommen finden konnten. „Macht euch darüber keine Sorgen", meinten beide, „da gibt es den Laden, da gibt es unser Bootshaus, und schließlich gibt es noch mehr Menschen in Berlin, die so denken wie wir." Sehr beruhigt und mit vielen Nahrungsmitteln beladen, die wir seit Jahren nicht mehr gesehen hatten, verließen wir unsere Freunde - meine Mutter nunmehr überzeugt, daß wir das „Untertauchen" wagen sollten. „Es kann nicht mehr lange dauern mit diesem Hitler, höchstens noch drei Monate." Ostrowski sprach es im Brustton der Überzeugung. Wir waren geradezu verhungert nach Zuversicht und Optimismus. So nahmen wir seine Worte dankbar auf. Wie er zu dieser Analyse gelangte, die er uns so überzeugend darzulegen verstand, weiß ich heute nicht mehr. Einzelheiten über die Kriegslage bezog er natürlich vom englischen Sender. Aber was ihn veranlaßt haben mag, Ende 1942, als Hitler noch auf dem Höhepunkt seiner Macht stand, ein so rasches Ende des Dritten Reiches zu erwarten, vermag ich nicht zu sagen. Nun war die Entscheidung gefallen. Lediglich der Termin unseres „Untertauchens" stand noch nicht fest. Wir wollten ihn so lange wie möglich hinauszögern. Mit großer Aufmerksamkeit verfolgten wir die Aktivitäten der Gestapo, die langsam, aber konsequent alle Juden aus Berlin deportierte. Als ich am Nachmittag von der Arbeit nach Hause kam, fand ich eines Tages einen Zettel meiner Mutter vor, die in der Abendschicht arbeitete. Auf dem Zettel stand nur: „Ich kann nicht mehr, wir müssen so schnell wie möglich untertauchen." Was war geschehen? Sie erzählte mir, was sich in meiner Abwesenheit zugetragen hatte. Als an der Wohnungstür geklingelt wurde, öffnete sie. Vor ist standen zwei baumlange Kerle, der eine ein Gestapomann, der andere sein Fahrer. Sie verlangten Einlaß, um etwas aus dem versiegelten Zimmer einer vor Wochen deportierten Hausgenossin zu holen. „Was machst du eigentlich zu Hause?" fragte der Gestapomann meine Mutter. Sie erklärte ihm, daß sie erst am Abend zur Arbeit ginge. „Na, da können wir dich doch gleich mitnehmen!" meinte er gut gelaunt, indem er meiner Mutter auf den Popo klatschte. „Wo ist dein Zimmer?" Sie ging ihm voran in unser Zimmer. Er ließ sich in einem Sessel nieder und hieß seinen Fahrer, das gleiche zu tun. „Also gut, mach dich fertig, pack ein paar Sachen zusammen, viel wirst du nicht brauchen, wir warten so lange." Meine Mutter wußte nicht, was sie tun sollte. Sie tat schließlich, als habe sie die Aufforderung nicht richtig verstanden, nahm eine Näharbeit und setzte sich. „Bist du allein!" fragte der Gestapomann. „Nein, ich habe eine Tochter." „Na, machst du dich nicht fertig?" drängte er. Meine Mutter erklärte ihm sehr ruhig, wenn sie schon deportiert würde, dann wolle sie mit ihrer Tochter Zusammensein, und die sei noch bei der Arbeit. „Was meinst du?" wandte sich der Gestapomann an den Fahrer. „Was sollen wir 28

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machen, sollen wir sie mitnehmen, oder sollen wir sie hierlassen?" Der Fahrer hatte sein Gesicht hinter einer Zeitung versteckt und zuckte die Schultern. Da stand der Gestapomann auf, trat dicht an meine Mutter heran und griff nach ihr. „Lassen Sie das!" rief sie und versuchte, sich seinen Händen zu entziehen. Als der Gestapomann sich einen Augenblick abwandte, gab der Fahrer meiner Mutter durch ein Zeichen zu verstehen, daß der Gestapomann nur ein grausames Spiel spielte. Sie setzte sich wieder an ihre Näharbeit. Der Gestapomann baute sich vor ihr auf, stemmte die Hände in die Hüften und fuhr sie an: „Sag mal, hörst du nicht? Du sollst dich fertig machen; wir nehmen dich mit!" Noch einmal bat sie ihn, sie doch nicht ohne ihre Tochter mitzunehmen. Endlich lachte der Gestapomann laut auf, wandte sich an den Fahrer und fragte: „Na, was meinst du, sollen wir sie doch noch hierlassen?" Der Fahrer nickte vorsichtig. „Na schön", sagte der Gestapomann und sich zum Gehen wendend: „Das nächste Mal kommst du nicht so billig davon, Freundchen!" Meine Mutter konnte mir nicht sagen, wie lange diese Tortur gedauert hatte. Ihr schienen es Stunden gewesen zu sein. Es muß etwa um die gleiche Zeit gewesen sein, als Robert Gero in der Blindenwerkstatt kam, um mir zu sagen: „Wenn du wirklich untertauchen willst, dann mußt du es bald tun. Ich kann dich nicht mehr lange schützen." Es gab nur noch wenige jüdische Häuser in Berlin, die auszuräumen waren. Die Wiener Gestapo würde ihr Ziel, Berlin „judenrein" zu machen, erreichen. Es sei nur noch eine Frage kurzer Zeit, meinte er. Ich sagte ihm, daß wir in Kürze untertauchen würden. Wir gingen noch einmal zu den Gumzens. „Meint ihr wirklich ...?" Meine Mutter konnte den Satz nicht beenden, da hatte Frau Gumz bereits sehr energisch „ja" gesagt. Ihre Augen leuchteten. Natürlich hatte ich auch Weidt über unser Vorhaben verständigt und von ihm jede Hilfe zugesagt erhalten. Als ich erwähnte, daß wir noch einige Sachen hätten, die ich nicht gerne in die Hände der Gestapo fallen lassen wollte, meinte er: „In meinen Lagerräumen ist noch Platz." Meine Mutter begann mit den Vorbereitungen. An jedem Nachmittag, wenn ich von der Arbeit heimkehrte, während sie sich bereits zu ihrer Arbeitsstelle aufgemacht hatte, fand ich einen gepackten Koffer vor. Ich schleppte ihn am nächsten Morgen in aller Frühe zur Blindenwerkstatt. Nach einem neuen Gesetz durften Juden in Deutschland nicht mehr über Eigentum verfügen. Sie waren lediglich Nutznießer staatlicher Leihgaben. Wir besaßen noch zwei Couches, die wir vielleicht später noch brauchen konnten. Ich fragte Weidt um Rat. Er war ein praktischer Mann. „Wir holen sie mit dem Firmenwagen ab", meinte er, obgleich er so gut wie ich wußte, daß das riskant war. Weidt kannte keine Angst. „Das wird so schnell gehen, daß es keiner sieht." Wir verabredeten, die Couches an einem Vormittag abzuholen, wenn die meisten Menschen ihrer Arbeit nachgingen, meine Mutter aber wegen ihrer Nachtschicht zu Hause war. Und so geschah es. Wenige Tage vor unserem Untertauchen baten wir die Wirtin, uns die von ihr angebotenen Betten 29

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doch wieder ins Zimmer zu stellen. Die wenigen Gegenstände, die wir zurücklassen mußten, machte ich durch Risse und Löcher unbrauchbar. Ich hatte eine böse Freude an dieser unauffälligen Zerstörung. Als die Vorbereitungen abgeschlossen waren, setzten wir den Termin unseres „Untertauchens" fest. „Eure Freunde nehmen euch auf", sagte Weidt, „gut und schön, aber was werdet ihr am Tage machen? Bei ihnen herumsitzen?" E r hatte recht. Das hatten wir nicht bedacht. Aber er schien sich darüber schon Gedanken gemacht zu haben. „Du kannst bei uns weiterarbeiten. Wir müssen sehen, wie wir das legalisieren können", überlegte er. Ich verstand kein Wort. Er ließ mich gehen und versicherte mir, er würde schon Rat finden. Wenige Tage später erschien Frau R im Büro. Ich wußte, daß sie eine Wohnung in der Nähe des Alexanderplatzes hatte und Schwarzmarktgeschäfte betrieb; auch, daß sie Mädchen, die dem ältesten Gewerbe nachgingen, beherbergte oder vermittelte. Ich hatte nie viel Notiz von ihr genommen und wußte nur, daß sie immer Zugang zu Weidt hatte und sich mit ihm duzte. Weidt bat mich eines Morgens in sein Büro und fragte: „Hast du 50 Mark dabei?" Ich sah ihn erstaunt an, nickte aber. „Hier, Frau P. hat ein Arbeitsbuch für dich besorgt." Er hielt es mir hin. Ich starrte auf den Adler mit dem Naziemblem und begriff nichts. „Du bist von nun an Gertrud Dereszewski. Sieh dir genau an, wann sie geboren ist! Lern das alles hübsch auswendig." Weidt lächelte verschmitzt und erklärte, wie er das geschafft hatte. Gertrud Dereszewski war ein Mädchen, das Frau P. „nahestand". Es hatte keinerlei Neigung, wie andere deutsche Frauen bis zum Alter von 55 Jahren zur Arbeit in einem Rüstungswerk dienstverpflichtet zu werden, und zog es vor, dem bisherigen Gewerbe weiter nachzugehen. So verkaufte Gertrud Dereszewski ihr Arbeitsbuch zu einem relativ niedrigen Preis und erhielt dafür einen Betriebsausweis mit Bild als Arbeiterin der Blindenwerkstatt Otto Weidt. Ich erhielt ebenfalls einen derartigen Ausweis, der sich von dem ihren nur durch mein Bild unterschied. Gertrud Dereszewski wurde offiziell sowohl bei der Krankenkasse als auch beim Arbeitsamt gemeldet. Dann kam der Tag. Es war der 15. Januar 1943. Die gläserne Tür des Berliner Mietshauses schlug hinter uns zu. Wir standen auf der Straße. „Ich habe meine Uhr liegenlassen!" rief meine Mutter. Sie war ganz bleich; noch einmal hinaufgehen? Es schien uns fast wie ein schlechtes Omen. Dennoch - wir wagten es. Leise schloß meine Mutter auf. Niemand durfte uns sehen. Wir hatten den Stern bereits von unseren Mänteln getrennt. Unser Aufbruch mitten am Tag mit großen Tragetaschen in der Hand hätte Verwunderung, wenn nicht gar Verdacht erregen müssen. Noch einmal schlichen wir in das Zimmer zurück, das in seiner Kahlheit fremd und kalt erschien. Tatsächlich lag die Armbanduhr meiner Mutter auf dem Tisch. Sie ergriff sie hastig. Wir eilten davon. Dann tauchten wir bei Gumzens unter, die uns freudig begrüßten. „Ich bin so stolz, daß ich Sie dazu überreden konnte", sagte die einfache Frau und wies uns eine Kammer im rückwärtigen Teil der düsteren Parterrewohnung hinter dem Laden zu. 30

Ich trug den gelben Stern

„Bei uns gehen so viele Menschen ein und aus, da fallen Sie gar nicht auf, meinte Herr Gumz, der von Hitlers nahem Ende ebenso überzeugt war wie Ostrowski. An die erste Nacht unseres neuen Daseins erinnere ich mich nicht. Ich war so erschöpft, daß ich in dem eichenen Bett, das ich nun für mehrere Wochen mit meiner Mutter teilen mußte, sofort einschlief. A m nächsten Morgen ging ich wie jeden Tag zur Arbeit in die Blindenwerkstatt Weidt. Meine Existenz war durch die Dokumente der Gertrud Dereszewski sozusagen legalisiert worden. Den Kunden und den Vertretern der Firma Weidt, die mich kannten, wurde nun meine Heirat mitgeteilt. Ali, die wie Weidt viel Sinn für die Komik dieser Situation hatte, brachte einen alten Trauring mit. Ich war nun Frau Dereszewski und mußte viele zweideutige Witze über mich ergehen lassen, die sich auf die Hochzeitsnacht bezogen. Mir war alles recht. An meinem Tagewerk änderte sich zunächst gar nichts. Meine Mutter fand sich schwer in das Nichtstun. Sie bemühte sich, im Haushalt zu helfen, aber das gelang nicht so recht, denn die Familie G u m z hatte keinen geregelten Tagesablauf. Es gab keine festen Mahlzeiten. Jeder aß, wann es ihm gerade gefiel. Meine Mutter konnte auch nicht einmal in der Küche helfen, denn der Herd stand im Laden, w o die Wäsche zum Trocknen von der Decke hing, die Plätterin mit dem Gasbügeleisen über gestärkte Kragen fuhr und die Heißmangel fast ständig in Betrieb war. Während das Mittagessen auf dem Herd brodelte, nahm Frau G u m z Pakete schmutziger Wäsche entgegen, legte sie zum Sortieren bereit und händigte die saubere Wäsche an die Kunden aus. Meine Mutter war immer froh, wenn ich nach Hause kam und ihr bei ihrer Untätigkeit Gesellschaft leistete. Wenn sie Frau G u m z ihr Leid klagte, daß sie sich so überflüssig vorkomme, gab ihr Frau G u m z ein paar Strümpfe zu stopfen und sagte: „Aber seien Sie doch froh; ruhen Sie sich doch ein bißchen aus." D a s schlichte Gemüt der Frau konnte nicht fassen, daß die neue Situation als „Illegale" meiner Mutter keine Ruhe ließ. Dennoch schliefen wir in den ersten Tagen unserer Illegalität sehr viel ruhiger als zuvor, denn die Sorge bedrückte uns nicht mehr, was der nächste Tag an Schikanen und Quälereien bringen würde. Jeden Abend mühte sich Herr Gumz, mit seinem Rundfunkgerät einen ausländischen Sender zu erreichen. Da saß dann der vierschrötige Mann in seiner Arbeitskleidung, ohne Kragen und Krawatte, und kroch förmlich in den Apparat hinein und wir mit ihm. Gelang es ihm nicht, denn deutschsprachigen Sendungen aus dem Ausland wurden oft gestört, war er den ganzen Abend brummig. Immer wieder versuchte er es von neuem, gelang es, dann verzog sich sein zahnloser Mund zu zynischem Lachen, wenn die Nachrichten ungünstig für Hitlers Kriegführung lauteten. Sein zwölfjähriger Sohn spielte währenddessen, aber seine sehr wachen Augen ließen erkennen, daß er genau wußte, was sein Vater tat. Er war nicht in der Hitler-Jugend. „Das haben wir geschafft", lachte Gumz. Er konnte sich immer wieder von neuem darüber freuen, wie ihm das gelungen war. Er schlug sich auf die Oberschenkel: „Plattfüße hat er, habe ich gesagt, und der Doktor hat das auch bescheinigt. Z u m Marschieren ist so einer doch nicht geeignet." Frau G u m z hatte immer Angst um ihren „Papa". „Er redet zuviel", sagte sie und 31

Inge Deutschkron

wünschte die Zustimmung meiner Mutter. Gumz kannte keine Vorsicht. Grüßte ein Kunde mit „Heil Hitler", dann erschien er im Laden, um ihn sich ganz genau anzusehen und ein Gespräch mit ihm zu beginnen. Er verstand es, solche Leute unsicher zu machen. Sie wußten nie, wie sie mit ihm dran waren. Oft erklärte er in aller Ausführlichkeit, wie er die Aussichten für die Welt sah: „Nur so viele werden überleben, wie unter einem Lindenbaum Platz haben", verkündete er als Zeuge Jehovas. Manche hörten ihm ungläubig zu, andere zeigten Furcht. Uberzeugen konnte er kaum jemanden, aber daß es mit Deutschland ein schlechtes Ende nehmen könnte, das schien vielen nicht mehr ausgeschlossen, wenngleich es noch keine unmittelbaren Anzeichen dafür gab. „Wir werden uns noch zu Tode siegen", sagten einige der Kunden von Gumz angstvoll. Frau Gumz war weniger gesprächig. Sie beobachtete die Menschen und war allenfalls zu einigen sarkastischen Bemerkungen bereit. „Ach, wissen Sie, unser Führer wird das schon machen. Machen Sie sich man keine Sorgen." Es wurde viel gelacht bei der Familie Gumz. Mir zuliebe wurde Hans Rosenthal zum Essen eingeladen. Die Mahlzeit bestand zumeist aus Karnickelbraten. Viele Berliner hielten damals Karnickel in ihren Schrebergärten oder, wie die Familie Gumz, im Keller oder auch auf dem Balkon. In den Anlagen und Parks der Stadt suchten die Berliner Futter für ihren Sonntagsbraten. Die Gumzens reicherten diese Mahlzeiten mit Gemüse aus ihrem Garten in Berlin-Drewitz an. Dazu gab es einen sehr süffigen Obstwein eigener Produktion. Was Wunder, daß wir vergnügt waren. Ich erinnere mich eines solchen Abends, an dem Hans zu Gast war und ein zu jener Zeit relativ schwerer Luftangriff unserem Vergnügen ein jähes Ende bereitete. Da die Gumzens im Parterre wohnten, mußten wir nicht in den Keller gehen. Hans war sehr besorgt, daß der Luftschutzwart seines Hauses ihn im Keller vermissen würde, denn es war längst nach 20 Uhr, der erlaubten Ausgangszeit für Juden. Wieder einmal hatte uns die Angst eingeholt, die wir einige vergnügte Stunden lang vergessen hatten. Die irgendwo detonierenden Bomben waren dagegen bedeutungslos und unwichtig. Wenige Tage nach unserem Untertauchen hörte ich in meinem kleinen Büro der Blindenwerkstatt Weidt, wie eine mir bekannte Frauenstimme, die ich nicht gleich identifizieren konnte, nach mir fragte. Krampfhaft überlegte ich, wer das sein könnte. Dann hörte ich Weidts Stimme. „Die Deutschkron", sagte er, „die ist seit Tagen nicht mehr zur Arbeit erschienen. Was wollen Sie von ihr?" In Sekundenschnelle verschwand ich unter meinem Schreibtisch. Schlagartig wußte ich, daß es die arische Ehefrau eines Mitbewohners aus der Bamberger Straße 22 war. Ali war aufgestanden, um mich zu suchen und zu warnen. Sie sah mich nicht unter meinem Schreibtisch. Erst, als ich vorsichtig hervorguckte, entdeckte sie mich und setzte sich geistesgegenwärtig davor. Ich war nun gänzlich unsichtbar und hörte, wie Frau Wachsmann sagte: „Deutschkrons sind verschwunden und haben weder Gas noch Elektrizität bezahlt. Auch den Hausschlüssel haben sie mitgenommen." 32

Ich trug den gelben Stern

„Warum kommen Sie eigentlich hierher?" fragte Weidt. „Ich habe doch neulich Ihren Lieferwagen gesehen und beobachtet, wie die Couches der Deutschkrons eingeladen wurden. Da dachte ich mir ..." Weidt unterbrach sie. „Mir fällt ein, die Deutschkron hat ihren letzten Lohn nicht abgeholt. Daraus kann ich Ihnen den fehlenden Betrag auszahlen. Wieviel macht es denn?" Frau Wachsmann nannte eine Summe. Weidt wies den Buchhalter an, die Summe aus der angeblichen Lohntüte der Deutschkron zu entnehmen. „Sind sie jetzt zufrieden?" „Ja, aber der Hausschlüssel?" meinte Frau Wachsmann. „Da kann ich Ihnen leider nicht helfen. Sollte sich die Deutschkron melden, werde ich es ihr sagen", vertröstete Weidt die Frau, die dann auch befriedigt das Büro verließ. Ich kroch aus meinem Versteck hervor. An diese Rechnungen hatte ich natürlich nicht gedacht. Ich war verlegen. Weidt meinte: „Mach dir nichts draus, auch das will gelernt sein." Dann überlegten wir, wie ich den Hausschlüssel zurückschicken könnte, ohne daß Weidt in den Verdacht geriet, mit mir Kontakt gehabt zu haben. Tage später fuhr ich mit der S-Bahn nach Grünau, einem Vorort Berlins, um dort den Schlüssel mit einem Brief aufzugeben, in dem ich mich entschuldigte, den Schlüssel erst jetzt und auf diesem Weg zu übergeben. „Die Ereignisse haben sich so überschlagen, daß ich es vergaß und erst daran erinnert wurde, als ich ihn in meiner Tasche fand." Außerdem legte ich Geld für Gas und Elektrizität dem Brief bei. Wir hörten nie wieder etwas von Frau Wachsmann. Einige Tage lang war ich im Büro wachsamer als zuvor. Dann vergaßen wir die Angelegenheit. Es schien unvermeidlich, daß auch Ali irgendwann untertauchen mußte. Sie sprach immer wieder mit ihrem „Papi", wie sie Weidt nannte, darüber. Ohne ihre Eltern ginge sie natürlich nicht, erklärte sie. Weidt überlegte lange und beschloß schließlich, ein sogenanntes Ausweichlager für die Blindenwerkstatt zu mieten. Die Werkstatt in der Rosenthaler Straße bot nur wenig Raum. Der Bedarf nach einem Lager war glaubhaft. Also mietete Weidt ein Ladenlokal in der Neanderstraße 18. Dort wurden Bürsten und Besen eingelagert. Wer in diesen Lagerraum sah, konnte an seiner Nutzung nicht zweifeln. In dem hinter dem Laden gelegenen Raum wurde Quartier für drei Personen vorbereitet. Eines Nachts zog dann die Familie Licht dort ein. Ali ging wie gewohnt ins Büro, um weiter als Sekretärin von Weidt zu arbeiten; ihre Bezahlung bestand nun vornehmlich aus Lebensmitteln. Auch ihr Vater fand in der Werkstatt eine Arbeit. Nur die Mutter blieb am Tage in der Neanderstraße. In der Blindenwerkstatt wußte außer uns keiner davon; aber die meisten ahnten es wohl. Dann kam Horn, bat und bettelte: „Weidt, bitte hilf mir! Ich will nicht deportiert werden; hab' Familie, meinen Sohn, meine Tochter!" Seine Augen flehten, und immer wieder aufs neue wiederholte er seine Bitte. Weidt wollte gern helfen, wenn er nur gekonnt hätte. Dann fiel ihm eine Möglichkeit ein. Ohne Zögern trennte er den letzten Raum von der wie ein Schlauch angelegten Werkstatt ab, indem er einen 33

Inge Deutschkron

großen Kleiderschrank vor die Tür schieben ließ. In diesem Schrank hingen Mäntel und Kleider. Schob man sie beiseite, dann wurde offenbar, daß der Schrank keine Rückwand hatte. So konnte das spätere Asyl der Familie Horn betreten werden. Vier Personen sollten darin hausen. Auch sie wollte Weidt mit Lebensmitteln versorgen. Dann kamen die Zwillinge Marianne und Anneliese Bernstein, etwa 18 Jahre alt. Marianne war blind und machte Heimarbeit für Weidt. Auch sie baten täglich: „Bitte, Papi, hilf uns!" Weidt holte noch einmal Frau P.; sie nahm die beiden Mädchen auf. Eine Kammer - ein Kabuff, wie sie sagte - war hinter ihrer Wohnung noch frei. Alles schien so einfach. Wir fanden Vergnügen daran, auch Weidt, der ein bewundernswertes Organisationstalent entwickelte. Wir dachten nicht viel weiter als von einem Versteck zum anderen.

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Wolfgang Lüder Muß das denn sein?

„Muß das denn sein?" wurde ich immer wieder gefragt, als ich in den letzten beiden Legislaturperioden des Deutschen Bundestages die Themen behandelte und aufgriff, mit denen wir uns heute beschäftigt haben. „Muß das denn sein?", „Können wir nicht endlich einen Schlußstrich unter die Vergangenheit ziehen?", „Haben wir nicht genug erlebt?", „Müssen wir nicht nach vorn sehen?", so und ähnlich lauteten die Fragen, die an uns Innenpolitiker aller Fraktionen gerichtet wurden. Die Fragen kamen nicht nur von Bürgern außerhalb der Politik. Die Fragen kamen auch von den Kolleginnen und Kollegen aus dem Bundestag aus nahezu allen Fraktionen, nicht vom Bündnis 90/Die Grünen, aber vereinzelt aus SPD und F.D.P., vermehrt aus der C D U und noch stärker aus der CSU. Wir haben geantwortet: Ja, es muß sein, daß wir uns erinnern, daß wir uns den Ursachen zuwenden, die diese Vergangenheit möglich gemacht haben, von der heute die Zeitzeugen Inge Deutschkron und Max Mannheimer gesprochen haben, der Vergangenheit, der sich Professor Faulenbach mit Intensität gewidmet hat. Wir - das waren und sind Politiker aus allen demokratischen Parteien. Es sind im wesentlichen diejenigen, aus den Bonner Koalitionsparteien ebenso wie aus der Opposition, die sich bei uns in unserem Verein „Gegen Vergessen - Für Demokratie" als Mitglieder engagieren, von der Bundestagspräsidentin Frau Prof. Dr. Süssmuth aus der C D U und ihren Vizepräsidenten, der Kollegin Antje Vollmer vom Bündnis 90/Die Grünen, Hans-Ulrich Klose von der SPD und Dr. Burkhard Hirsch von der F.D.P., über die Ministerpräsidenten Rau, Teufel und Biedenkopf bis hin zu den vielen namentlich nicht Erwähnten, aber wichtigen Politikern. Wir haben gesagt, und ich wiederhole es hier, daß das Erinnern sein muß, um der Verantwortung gegenüber der Vergangenheit willen, mehr und deutlicher noch, um unserer Verantwortung gegenüber der Gegenwart und der Zukunft willen. Ich will in diesem Schlußwort nicht wiederholen oder zusammenfassen, was gesagt worden ist. Ich möchte einige wenige Fußnoten anfügen: 1. Wir müssen uns bewußt sein, für wen wir Erinnerungsarbeit leisten. Erinnerungsarbeit leisten wir für die Betroffenen. Aber Betroffene sind nicht nur die Opfer. Betroffene sind vor allem wir, die wir heute Verantwortung tragen. Betroffene sind wir, weil wir unserer Verantwortung gerecht werden müssen, das Wissen um die Vergangenheit weiterzuverwenden. Ich halte es für wichtig, daß wir uns darüber klarbleiben, wer betroffen ist von der Vergangenheit, nämlich wir alle. 35

Wolfgang Lüder

2. Wir sollten uns vornehmen, das, was wir heute gehört haben, anderen Betroffenen weiterzuvermitteln. Ich schlage deswegen vor, daß wir in unserem Verein versuchen sollten, die Broschüre, die wohl über die heutige Veranstaltung erstellt werden wird, über den heute anwesenden Kreis hinaus zu verbreiten. Die Betroffenen in Bundestag und Bundesrat, die Mitglieder der Fraktionsführungen und die Abgeordneten, die Ministerpräsidenten und die Länderminister, auch die Verantwortlichen in den Länderparlamenten und in den Verbänden der kommunalen Selbstverwaltung, im Städtetag und im Gemeindebund, sollten von uns angeschrieben und mit dem konfrontiert werden, was wir heute hier gehört und gemeinsam erarbeitet haben. Manch einer von denen liest ja doch, was ihm zugesandt wird. 3. Ein Gedanke im Anschluß an Prof. Faulenbach: Er sprach davon, wie im Westen Deutschlands nach der Befreiung von der Hitlerdiktatur die Aufarbeitung der Vergangenheit lief, womit sie begann und wie langsam es ging. Nachdenklich stimmen muß uns, daß zunächst der Opfer des 20. Juli gedacht und die Geschichte des 20. Juli behandelt wurde und erst ganz zum Schluß die jüdischen Opfer und die Geschichte des Holocaust „an die Reihe" kamen. Ich ergänze: Wir sind auch im Westen immer noch nicht fertig, weil die Aufarbeitung der Verantwortlichkeiten für die Untaten an den Minderheiten, an den Roma und Sinti, an den Opfern der Militärjustiz noch längst nicht abgeschlossen ist. Dies bringt mich aber zum Blick auf den Osten: Nach dem Ende der SED-Diktatur werden wir auch mit den Möglichkeiten unseres Vereins darauf zu achten haben, daß sich nicht eine in der Themenwahl und im Zeitablauf vergleichbare langwierige und selektierte Aufarbeitung der Geschichte des SED-Unrechts auftut. Hier sollte uns die Erfahrung von 45 Jahren Bundesrepublik Deutschland Mahnung sein. 4. Und noch ein Hinweis: Professor Faulenbach sprach von der Problematik, daß die Tater aus der einen Diktatur die Opfer in der anderen wurden. Er erwähnt die Problematik der „Doppelnutzung" der KZ und die Fragen, die sich daraus für die Gestaltung der Gedenkstätten ergeben. Ich kenne die Intensität dieser Problematik aus Berlin. Sachsenhausen ist ein Stichwort dazu. Das Erinnern muß versuchen, allen Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Aber warnen lassen sollten wir uns durch den Satz, den Theodor Heuss, unser erster Bundespräsident, bei der Einweihung des Mahnmals in Bergen-Belsen sprach, als er sich mit denen beschäftigte, die das Unrecht der einen Seite gegen das Unrecht der anderen aufrechnen wollten. Heuss sagte: „Das Unrecht und die Brutalität der anderen zu nennen, um sich darauf zu berufen, das ist das Verhalten der moralisch Anspruchslosen." Ich möchte, daß dieser Satz Mahnung wird für alle, die sich mit dieser Problematik befassen. Das Herbstforum 1995 hat uns darin bestätigt weiterzuarbeiten, um der Verantwortung vor der Zukunft gerecht zu werden.

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II. Kein Schlußstrich! Gegen das Vergessen

Christian Ude Die Stadt München stellt sich der Erinnerungsarbeit

Es gibt einen beklemmenden Unterschied zwischen öffentlicher Rede und privatem Gedanken. Bei drei Themen erlebe ich es zur Zeit, daß sich sogar ein besonders breiter Graben auftut zwischen dem, was man gleichsam offiziell sagen darf und dem Teil, den man sich selber denkt. Auffällig ist dies vor allem beim Ausländer-Thema: Da gibt es keinen vor Publikum gesprochenen Satz, der nicht damit beginnen würde, daß man selbstverständlich nichts gegen Ausländer habe, sondern im Gegenteil ihre Integration befördern wolle; aber dann folgen doch viele Hinweise und Indizien, daß die persönliche Bewertung ganz anders aussieht - nur ausgesprochen wird sie nicht, jedenfalls nicht offiziell. Ahnlich ist es bei wohltätigen Aufrufen: Jeder ist dafür, daß immer noch mehr gesammelt und gespendet wird für die Notleidenden dieser Welt und nur ganz nebenbei hört man ein Gemurmel, wonach endlich Schluß sein müsse mit solchen Aktionen, weil wir doch selber genug Probleme haben. „Genug ist genug" - so lautet auch das heimliche Motto vieler Landsleute zum Thema: Auseinandersetzung mit deutscher Vergangenheit. Bei diesem Thema stehen offizielle Rede und private Gedanken in einem besonders krassen Widerspruch. Nach meiner Beobachtung hat sich dieser Widerspruch im vergangenen Jahr, das ein Jahr der Gedenktage „50 Jahre danach" war, nicht verkleinert, sondern ganz im Gegenteil vergrößert. Jede Ansprache, in der die Schrecken der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft beim Namen genannt wurden, jede Rundfunknachricht über neue Appelle, das Vergangene nicht zu verdrängen, jeder politische oder kirchliche Aufruf, sich der besonderen deutschen Verantwortung zu stellen, jede Zeitungsserie über die Greuel in den Konzentrationslagern oder das Elend in der Ruinenlandschaft, jeder Filmbeitrag im Fernsehen über den Holocaust hat neben der erwünschten Reaktion ganz sicher auch das Gefühl genährt, jetzt aber, ein halbes Jahrhundert danach, müsse Schluß sein mit diesem Thema, das uns allenfalls deprimiere oder überfordere oder uns gar ein schlechtes Gewissen aufnötige, wozu doch jetzt für uns Nachgeborene und so lange Zeit danach kein Grund mehr bestehe. Machen wir uns keine Illusionen: Diese Reaktionen - und viel derbere, viel deftigere - waren häufig, neben all der Nachdenklichkeit und Betroffenheit, die selbstverständlich im Jahr der Gedenktage auch hervorgerufen werden konnte. Diese Stimmungslage zu erkennen, bedeutet ja nicht, ihr auch nachzugeben. Das Wort von Primo Levi, das Wolfgang Sofsky seinem Buch über die Ordnung des 37

Christian Ude

Terrors vorangestellt hat, ist unverändert wahr. Es lautet: „Es ist geschehen und folglich kann es wieder geschehen. Es kann geschehen, überall." Deshalb gibt es keine Alternative zur Arbeit gegen das Vergessen, wenn Rückfälle in die Barbarei dauerhaft ausgeschlossen werden sollen. Aber wenn wir uns den Unterschied zwischen offizieller Rede und privatem Gedanken eingestehen, kann das der Erinnerungsarbeit nur zugute kommen: Wenn wir um die begrenzte Reichweite offizieller Gedenkstunden, Mahnungen und Appelle wissen, müssen wir uns eben intensiver bemühen, an die Menschen heranzukommen, vor allem an die jungen Leute, denen die Relevanz des Themas für ihr eigenes Leben erst noch erschlossen werden muß. Deshalb begrüße ich es nachdrücklich, daß der maßgeblich von Hans-Jochen Vogel ins Leben gerufene Verein „Gegen Vergessen - Für Demokratie" sich nicht auf höchst bedeutsame Fachtagungen und Kolloquien beschränkt, sondern beispielsweise Schulen und Jugendverbänden Zeitzeugen vermittelt, die plastisch und aus eigenem Erleben über die Auswirkungen der Diktatur, über das Leben und Leiden unter einer Gewaltherrschaft und über das Unvorstellbare des Holocaust berichten können. In einer Schulklasse, einem Jugendclub oder im Kreis von Studenten, wo solche Erzählungen authentisch vermittelt wurden, verbietet sich die heute besonders moderne Illusion, man könne der Politik und all ihren Auswirkungen entkommen, wenn man sich ausschließlich auf den eigenen Job und den Spaß danach konzentriert. Ich erinnere mich, daß es genau diese Auseinandersetzung mit der Zeitgeschichte während der Schulzeit war, die mich zum politischen Engagement geführt hat. Bild-Bände spielten dabei eine wichtige Rolle. Die Abfolge der Bilder - Hitler in Münchner Bier-Kellern, SA marschiert, anti-semitische Ausschreitungen, Hochbetrieb in Rüstungsfirmen, Aufmärsche und Parteitage, Panzer und marschierende Kolonnen, Schlachten in fernen Ländern und schließlich die Bilder des Grauens aus Konzentrationslagern und die Ansichten der zerstörten Trümmerstadt - diese Abfolge der Bilder hat mir immer wieder die Frage aufgezwungen, wann das Unrecht und die Katastrophe noch aufzuhalten gewesen wäre. Und je mehr wir in der Schule über den NS-Staat und sein Instrumentarium der Unterdrückung, Verfolgung und Vernichtung erfuhren, desto bewußter wurde uns, daß wir für ein Flugblatt der Weißen Rose - das war ja in unmittelbarer Schwabinger Nachbarschaft geschehen unser Leben nicht aufs Spiel gesetzt hätten. Auch eine Nacht bei der Gestapo im Wittelsbacher Palais hätten wir nicht in Kauf genommen. Sich darüber klarzuwerden, daß man in einer Diktatur kein Held des Widerstands wäre, bedeutet ja keine Resignation, sondern eine umso unausweichlichere Verpflichtung, Demokratie mit Leben zu erfüllen und durch Engagement zu verteidigen, solange dies ohne Risiko für Leib und Leben oder die persönliche Freiheit möglich ist. Es gibt, was die Abwehr von Intoleranz, Gewalt und Diktatur angeht, keine wichtigere Erkenntnis als diese: „Wehret den Anfängen". Es ist selten zu spät, aber nie zu früh. Die Stadt München hat allen Anlaß, sich der Erinnerungsarbeit zu stellen, denn München ist nicht irgendeine Stadt, was wir in positiven Zusammenhängen uner38

D i e Stadt München stellt sich der Erinnerungsarbeit

müdlich herausstreichen, sondern eben auch in negativen Zusammenhängen eine Stadt mit einer herausgehobenen Rolle. München ist nicht zufällig „Hauptstadt der Bewegung" geworden, auch wenn es natürlich über diesen Wunsch des nationalsozialistischen Oberbürgermeisters Karl Fiehlerund diesen Befehl des Führers niemals eine Abstimmung der Bevölkerung gegeben hat. Es hat stattdessen Ereignisse gegeben: In München gab es schon vor und auch kurz nach der Jahrhundertwende eine beklemmende, intensive antisemitische Hetze. München war schon früh ein Sammelbecken der völkisch-nationalistischen Rechten. München war 1919/20 der Geburtsort der N S D A P und bis zum Kriegsende Sitz der Partei. In München begann der verhängnisvolle Aufstieg Adolf Hitlers und anderer Nazi-Größen wie Rudolf Heß, Heinrich Himmler und Hermann Göring. In München wurde der „Völkische Beobachter" gedruckt, in München wurde der Hitler-Putsch unternommen, München war später die Stadt der Aufmärsche und Kulturveranstaltungen um „alte Kämpfer". München wurde von Hitler zur „Hauptstadt der deutschen Kunst" ernannt und so auch zum Zentrum der Verfehmung „entarteter" Kunst. In München wurde das erste Konzentrationslager geplant und unmittelbar nach der Machtübernahme, schon im März 1933, vor den Toren der Stadt errichtet. Bei der Polizeidirektion München war die zentrale Zigeuner-Polizeistelle des Reichs, in der die Erfassung und spätere Verfolgung, Deportation und Ermordung von Sinti und Roma vorbereitet wurde. Im Wittelsbacher Palais residierte und folterte die Gestapo, im Justizpalast herrschte der Terror der berüchtigten Sondergerichte. In der Haftanstalt Stadelheim wurde die Justizwillkür vollstreckt. Und hier, im Alten Rathaussaal, diesem ebenso festlichen wie prominenten Ort der Stadt, ordnete Joseph Goebbels am Abend des 9. N o v e m ber 1938 bei einem Abend der alten Kämpfer jenes Programm an, das mit dem Begriff „Reichskristallnacht" zynisch verharmlost wurde. Alle diese historischen Wahrheiten auszusprechen, heißt ja nicht „das eigene Nest zu beschmutzen" - wieso soll überhaupt eine braune Vergangenheit „unser N e s t " sein - , heißt nicht, die demokratischen Traditionen zu leugnen und den Widerstand zu vergessen. Ganz im Gegenteil: Den Wert der Aufklärung, den Wert von Toleranz und Weltoffenheit, von bürgerlichen Freiheiten und demokratischen Rechten kann man erst voll ermessen, wenn man sich über die verheerenden Auswirkungen des Untertanen-Geistes und der Obrigkeitshörigkeit, völkischer oder nationalistischer Ressentiments und diktatorischer Befugnisse klargeworden ist. Den Wert des Sozialstaates einschließlich seiner Kosten kann man erst beurteilen, wenn man sich mit den Langzeitschäden fehlender sozialer Sicherungssysteme zeitgeschichtlich auseinandergesetzt hat. Und auch die herausragenden charakterlichen und politischen Leistungen des Widerstands kann man erst mit dem gebührenden Respekt würdigen, wenn man sich mit dem System auseinandersetzt, dem er gegolten hat, und das Risiko erkennt, dem er sich auslieferte. Zum Glück hat es ja neben der schrecklichen braunen Tradition, die nicht verdrängt werden darf, auch eine Tradition des Widerstands gegeben: Ich erinnere an Wilhelm Hoegner, der schon in den 20er Jahren der Hitler-Bewegung die Stirn bot und ihr parlamentarisch und publizistisch zusetzte. Ich erinnere an weitere Parla39

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mentarier, die sich der Hitler-Bewegung entgegengestellt und das Ermächtigungsgesetz abgelehnt haben, wie Josef Felder, den ich herzlich begrüße. Ich erinnere an sozialdemokratische und kommunistische Gruppen die in den Untergrund gingen, ich erinnere an Pater Rupert Mayer und den kirchlichen Widerstand, ich erinnere an Publizisten, Männer und Frauen der Bürgerschaft, die wegen demokratischer Äußerungen nach Dachau kamen, ich nenne den nicht nur studentischen Widerstand der Weißen Rose und chronologisch zuletzt die Freiheitsaktion Bayern um den soeben verstorbenen Hauptmann Gerngross, die maßgeblich dazu beigetragen hat, das sinnlose Töten bei Kriegsende abzukürzen. Der Verein „Gegen Vergessen - Für Demokratie" hat es sich ausdrücklich zum Ziel gesetzt, auch die Erinnerung an die Männer und Frauen des Widerstands wachzuhalten. Deshalb ist seine Tätigkeit, die die Landeshauptstadt München mit der heute beginnenden Vortragsreihe und darüber hinaus tatkräftig unterstützt, entgegen landläufigen Klischeevorstellungen nicht deprimierend, sondern ermutigend.

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Hans-Jochen Vogel Kein Schlußstrich! Gegen das Vergessen

Wie alle vergangenen Ereignisse ist auch die Geschichte eines Volkes der Spannung zwischen Erinnern und Vergessen, Zuwendung und Verdrängung ausgesetzt. Perioden intensiverer Beschäftigung mit der Vergangenheit wechseln ab mit Perioden, in denen diese Vergangenheit aus dem Blick gerät, in denen sie verblaßt und nur noch für den Historiker existent ist. Manches schwindet sogar ganz aus dem Gedächtnis. Das gilt für unsere Geschichte im Ganzen, aber auch für einzelne Abschnitte dieser Geschichte. Die letzten Monate der NS-Gewaltherrschaft und ihr Ende sind in der ersten Hälfte des vergangenen Jahres anläßlich der 50. Wiederkehr dieser Ereignisse ebenso wie die zwölf Jahre, die diesem Ende vorausgingen, wieder deutlicher in unser Bewußtsein getreten. In dichter Folge reihten sich zwischen Januar und Mai 1995 die Gedenktage aneinander und erinnerten uns an das, was wir vor einem halben Jahrhundert den Juden, den Sintis und Romas, den Polen und anderen europäischen Völkern - denen der ehemaligen Sowjetunion zumal - angetan haben. Wir erinnerten uns aber auch daran, daß die Schrecken, die von Deutschland ihren Ausgang genommen hatten, in den späteren Kriegsjahren in aller Härte in unser Land zurückkehrten. Und deutlicher als zuvor empfanden wir, daß der 8. Mai 1945, daß das Kriegsende - wie es Richard von Weizsäcker schon zehn Jahre zuvor in seiner großen Rede formuliert hat - Niederlage und Befreiung zugleich war, ja daß die totale Niederlage die Vorbedingung der Befreiung war, weil wir ungeachtet des tapferen Widerstandes und der mutigen Anstrengungen Einzelner die mörderische Gewaltherrschaft nicht aus eigener Kraft abzuschütteln vermochten. Daß uns das alles noch einmal zum Bewußtsein kam, war gut. Und die Veranstaltungen, die in diesem Zusammenhang stattfanden, die Betrachtungen, die angestellt, die Reden, die gehalten wurden, waren - von Ausnahmen abgesehen - dem Anlaß durchaus angemessen. Das gilt in besonderer Weise für die Gedenksitzung des Deutschen Bundestags Ende April 1995 und die denkwürdige Ansprache, die der damalige polnische Außenminister Bartoszewski bei dieser Gelegenheit gehalten hat. Es gilt aber auch - um ein räumlich nahegelegenes Beispiel zu erwähnen - für die Veranstaltung zum Gedenken an die Befreiung des Konzentrationslagers Dachau. Das alles war eindrucksvoll. Aber können wir jetzt zur Tagesordnung übergehen und darauf vertrauen, daß die Erinnerung vorhält, bis wir - vielleicht im Jahre 2020, wenn sich die Geschehnisse zum 75. Mal jähren - von neuem einen termingebundenen Anlaß sehen, zurückzudenken? Oder haben gar die recht, die sagen, jetzt sei es genug, jetzt müsse ein Schlußstrich gezogen, das Geschehen müsse „historisiert",

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d.h. im Klartext, es müsse in die Archive verbracht, zu den Akten gelegt und in den Geschichtsbüchern künftig nicht anders abgehandelt werden als die Kreuzzüge oder der Dreißigjährige Krieg. Außerdem: Schlimme Verbrechen seien ja auch von Angehörigen anderer Völker begangen worden. Um auf den letzten Einwand gleich zu erwidern: Ja, auch von anderen sind Menschen in großer Zahl gequält und ermordet worden, darunter Millionen von Deutschen. Aber das kann den Holocaust und die übrigen Verbrechen der NS-Gewaltherrschaft nicht relativieren, geschweige denn in einem milderen Lichte erscheinen lassen. Das hieße die ursächliche Aufeinanderfolge der Untaten verkennen. Außerdem: Es geht um unsere Geschichte, nicht um die Geschichte anderer Völker. Ein wechselseitiges Aufrechnen von Verbrechen verbietet sich ohnehin für alle, die es mit der Achtung der Menschenwürde und der Gottebenbildlichkeit jedes einzelnen Menschen ernst meinen. Weil das so ist, können wir die Dinge nicht auf sich beruhen lassen. Nein: Wir müssen auch den Nachgeborenen immer wieder vor Augen führen, welcher Verbrechen nicht irgendwelche Menschen auf unserem Planeten zu irgendwelchen Zeiten, sondern Männer und Frauen in unserem Lande und in diesem Jahrhundert fähig waren; Männer und Frauen, die sich dabei lautstark auf ihr Deutschsein beriefen, ja ihre Taten als Ausdruck deutschen Wesens und ihrer Zugehörigkeit zur sogenannten Herrenrasse propagierten. Und wir müssen die Erinnerung daran wachhalten, wie und warum unser Volk zuerst dem Verderber und dann dem Verbrechen anheim fiel. Oder deutlicher gesagt, wie und warum ein nicht unbeträchtlicher Teil unseres Volkes dem Verderber zulief, und warum sich ihm nur wenige offen widersetzten. Wer nicht weiß, wessen Menschen in ihrem Fanatismus und ihrer Mordlust fähig sind, wer die Warnzeichen nicht erkennt, die auf das drohende Unheil hinweisen, der ist neuerlichen Gefahren gegenüber weniger wachsam, weniger widerstandsfähig als derjenige, dem die Verbrechen der Vergangenheit, die Katastrophen unserer jüngeren Geschichte vor Augen stehen. Gewiß: Auch wer von alldem nie irgendetwas gehört hat, könnte und sollte erkennen, wohin es führt, wenn die Menschenwürde geleugnet, eine Minderheit verteufelt, Freund-Feind-Denken propagiert und die Gewalt als Mittel zur Lösung politischer Probleme erst befürwortet und dann auch eingesetzt wird. Aber in den Endjahren der Republik von Weimar hat dieses Vermögen, das dem Menschen eingeboren sein sollte, eben nicht ausgereicht. Haben zuviele dem, was Kurt Schumacher den Appell an den inneren Schweinehund nannte, nicht widerstanden. Und die Generationen, die die Zeit vor 1945 nicht mehr miterlebt haben - schätzungsweise sind das schon über zwei Drittel unseres Volkes - könnten der Einsicht und der Entschlossenheit, dieser Einsicht gemäß zu handeln - wenn auch aus anderen Gründen - ebenso ermangeln, wenn ihnen das Wissen über die Katastrophe ihrer Vorfahren fehlt. Aber - so meinen manche - Anzeichen dafür, daß wir in unserem Lande noch einmal in eine solche Situation kommen könnten, gäbe es doch gar nicht. Besondere Anstrengungen seien schon deshalb überflüssig. Sicher: Die Stimmenzahlen der rechtsextremistischen Parteien waren zuletzt 42

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rückläufig. Und die Stimmen für die PDS bei den Berliner Wahlen waren bei weitem nicht alle Stimmen für diejenigen in dieser Partei - und sie gibt es doch - die zum Stalinismus oder doch zum Kommunismus zurückkehren wollen. Aber ein Georg Haider, der aus seiner Sympathie für die Waffen-SS als Organisation keinen Hehl macht, hat in unserem Nachbarland Osterreich vor wenigen Wochen über 20 Prozent erreicht. Und niemand kann sicher sein, daß nicht auch bei uns ein neuer Schönhuber - insbesondere bei weiter zunehmender Arbeitslosigkeit - wiederum seine Gefolgschaft finden würde. Richtig ist auch, daß die Zahl der fremdenfeindlichen Straftaten offenbar 1995 weiter abgenommen hat. Aber mit über 1000 lag sie noch immer bedrückend hoch. Das gilt noch mehr für die 1036 Straftaten mit antisemitischem Hintergrund, die bisher für 1995 gemeldet wurden - darunter nicht weniger als 43 Schändungen jüdischer Friedhöfe. Jede dieser Straftaten ist eine zuviel! Niemand kann auch gewährleisten, daß die Zahl in Zukunft nicht wieder steigt. Die ersten Reaktionen auf die Brandkatastrophe von Lübeck, auf deren vielfältige Aspekte ich schon bei anderer Gelegenheit eingegangen bin, haben im übrigen deutlich gemacht, daß eine Mehrheit unseres Volkes die Befürchtung, es könne sich auch in diesem Fall um einen extremistischen Mordanschlag mit ausländerfeindlichem Hintergrund gehandelt haben, für durchaus realistisch hielt. Überdies ist das Potential an erklärten Neonazis und deren Gewaltbereitschaft nach dem Verfassungsschutzbericht angewachsen. Zugleich haben sich neue Strukturen in Form von themen- und aktionsbezogenen Kreisen und Gruppen gebildet. Nach wie vor werden auch extremistische Schriften und Texte in beträchtlicher Zahl verbreitet. Es verdient deshalb geschärfte Aufmerksamkeit, wenn ein so kompetenter und besonnener Mann wie der Präsident des Bundeskriminalamtes, Hans-Ludwig Zachert, von einer „entsetzlichen Militanz" der rechtsextremen Szene und auch für 1995 von einem sehr hohen Niveau rechtsextremer Aktionen spricht. Unabhängig davon hat sich am rechten Rande des politischen und kulturellen Spektrums unserer Gesellschaft ein Geflecht entwickelt, das sich selbst als „Neue Rechte" bezeichnet. Diese „Neue Rechte" fordert unter anderem den „Primat der Nation" klassifiziert das größer gewordene Deutschland als „Hegemonialmacht" oder als „Vormacht Europas", propagiert den „Bruch mit der Westbindung" und will den Deutschen ganz allgemein „die Angst vor der Macht" nehmen. Man braucht nur die Beiträge in dem Sammelband „Die selbstbewußte Nation" oder Aufsätze in Zeitschriften wie „Kritikon", „Junge Freiheit" oder „Mut" zu lesen, um zu erkennen, daß da an unselige Traditionen der deutschen Vergangenheit angeknüpft wird. Die Anzeige, die dieser Kreis zum 8. Mai 1995 in der FAZ ausgerechnet unter der Devise „Gegen das Vergessen" aufgegeben hat und die in einer befremdlichen Mischung von Republikanern ebenso wie von führenden Mitgliedern und Repräsentanten demokratischer Parteien unterschrieben wurde, führt in dieselbe Richtung. Diese publizistischen Aktivitäten überschneiden sich mit solchen, die in der Nachfolge Ernst Noltes auf eine Relativierung und Entsorgung der NS-Gewaltherrschaft hinauslaufen, der man jetzt mit „neuer Unbefangenheit" begegnen will. Zu 43

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nennen ist hier der kürzlich erschienene Band der Propyläen - Geschichte Deutschlands, der schon durch seine Bebilderung - wie Jost Dülffer, der Kölner Historiker formuliert hat - immer wieder zur „Identifikation mit der subjektiven Erlebniswelt der öffentlichen Schauseiten des NS-Regimes" einlädt. Zusätzlich werden die Verbrechen des Regimes durch mehr oder weniger dubiose Vergleiche mit anderen Ländern oder Zeiten ihres spezifischen Charakters entkleidet, so etwa dadurch, daß für die Verfolgung von Künstlern nach 1933 der an Bismarcks Auseinandersetzung mit der katholischen Kirche erinnernde Begriff „Kulturkampf" und für den damaligen Rückgang der Arbeitslosigkeit, der aus der Zeit Ludwig Erhardts populäre Begriff des „Wirtschaftswunders" verwandt wird. Noch krassere Beispiele liefern die in Münchner Verlagen erschienenen Bücher Jürgen Hoffmanns „Stalins Vernichtungskrieg 1941-45" und Heinz Magenheimers „Kriegswenden in Europa 19391945". Hoffmann behauptet allen Ernstes, Hitler sei einem von Stalin mit Hochdruck geplanten und vorbereiteten Eroberungskrieg nur knapp zuvor gekommen. Von Auschwitz spricht er in empörender Weise als von der „Gasangelegenheit". Magenheimer kreidet es Hitler an, daß er im September 1941 die Chance ungenutzt gelassen habe, Moskau zu erobern, und meint außerdem „es wäre nicht korrekt, der deutschen Politik bereits im Sommer 1940 vorzuhalten, kein geeignetes Konzept für die politische und wirtschaftliche Neugestaltung Europas im Sinne einer allseits befriedigenden Völkerverständigung entwickelt zu haben." Ich weiß nicht, ob solche Sätze nur mir vorübergehend die Sprache verschlagen! Insbesondere das furchtbare Wort von der „Gasangelegenheit" kam mir in den Sinn, als ich die bewegende Rede des israelischen Staatspräsidenten Weizman las, die er am 16. Januar 1996 vor dem Deutschen Bundestag gehalten hat und in der er auf die Auslöschung seines Volkes in Europa in einer Weise und in einer Sprache eingegangen ist, die den Verstocktesten zur Einsicht bringen müßte. Gerade vor dem Hintergrund solcher Publikationen erscheint es besonders bedrückend, daß diejenigen, die zwischen 1939 und 1945 von den Kriegsgerichten wegen Wehrdienstverweigerung, Desertion oder Wehrkraftzersetzung zum Tode verurteilt wurden, heute noch immer mit dem Makel eines todeswürdigen Verbrechens behaftet sind und daß im Bundestag nun schon im dritten Jahr darüber gestritten wird, ob es dabei bleiben soll oder ob die wenigen, die einmal solche Urteile überlebt haben und noch am Leben sind und diejenigen, die diesen Urteilen zum Opfer gefallen sind, endlich von diesem Makel befreit werden sollen. Unser Projekt hat dieser Tage einen neuen Vorstoß unternommen, um den Bundestag zu der lange überfälligen Entscheidung zu bewegen. Dem allen darf nicht mit einem Achselzucken begegnet werden. Auch Totschweigen ist keine angemessene Reaktion. Notwendig ist die offene Auseinandersetzung mit solchen Positionen. Es genügt auch nicht, nach dem Staat zu rufen oder zu erklären, „man" oder die Politik oder die Schulen oder sonst irgendwer müsse dies oder jenes unternehmen. Vielmehr ist jeder Einzelne aufgerufen, selber etwas zu tun. Schließlich ist auch die Weimarer Republik nicht zugrunde gegangen, weil es an Gerichten oder an Polizei mangelte oder weil ihre Verfassung die eine oder andere 44

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Unzulänglichkeit aufwies. Nein: Sie ist zugrunde gegangen, weil am Ende die Verteidigerinnen und Verteidiger der Demokratie in der Minderheit und ihre erklärten Feinde und die Gleichgültigen in der Mehrheit waren. Einige Männer und Frauen haben sich deshalb 1993 zusammengefunden und das Projekt „Gegen Vergessen - Für Demokratie" ins Leben gerufen. Heute sind es schon über 850 aus den verschiedensten politischen und gesellschaftlichen Bereichen. Wir haben in der Zwischenzeit vielfältige Aktivitäten entwickelt. Parlamentarische Initiativen gehören dazu ebenso wie Tagungen, Seminare und Jugendveranstaltungen mit Zeitzeugen, die Unterstützung der Gedenkstättenarbeit, die Förderung von Veröffentlichungen und wissenschaftlichen Projekten und die Zusammenarbeit mit örtlichen Initiativen. Dabei hat sich unser Zusammenschluß, ohne die Unterschiede zwischen den beiden Diktaturen zu verkennen, von Anfang an auch mit der Opposition, dem Widerstand und der Verfolgung im kommunistischen System befaßt. Heute tritt unser Projekt in Kooperation mit der Landeshauptstadt München erstmals mit einer ganzen Vortragsreihe und erstmals hier in München an die Öffentlichkeit. Ihnen, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, danke ich für Ihr Grußwort und dafür, daß sich die Stadt zur Mitwirkung bereitgefunden und insbesondere den alten Rathaussaal zur Verfügung gestellt hat. Die Stadt unterstreicht damit, welche Bedeutung sie der Thematik beimißt, um die es hier geht. Übrigens bietet der Saal einen Anknüpfungspunkt eigener Art. Denn - nicht allen wird das gegenwärtig sein - hier in diesem Saal hat Goebbels am späten Abend des 9. November 1938 vor den sogenannten „alten Kämpfern", die sich an diesem Tage wie alljährlich zum Gedenken an den am 9. November 1923 gescheiterten Putsch zunächst im Bürgerbräu-Keller und dann hier im alten Rathaussaal versammelt hatten, jene Rede gehalten, in der er zunächst den Tod des Diplomaten vom Rath mitteilte und dann mit haßerfüllten antisemitischen Parolen zur Rache und Vergeltung aufrief. Diese „Brandrede" im wahrsten Sinne des Wortes war der Auslöser der Reichspogromnacht. Die Vortragsreihe will unter dem Motto „Kein Schlußstrich!" Folgerungen aus dem ziehen, was ich darzustellen versucht habe. Sie will kein Betroffenheitsritual zelebrieren oder ihren Veranstaltern ein gutes Gewissen oder das Gefühl verschaffen, höheren moralischen Maßstäben zu genügen als andere. Und erst recht will sie keinen Dauerverdacht gegen das eigene Volk in alle Zukunft hinein perpetuieren oder gar einen kollektiven Schuldkomplex konservieren. Schuld ist ohnehin ein individueller Begriff. Und von den Nachgeborenen kann man wohl verlangen, daß sie sich mit dem dunkelsten Kapitel unserer Geschichte beschäftigen. Nicht aber, daß sie sich für Taten schuldig bekennen, die Angehörige früherer Generationen begangen haben. Darum soll die Reihe die Erinnerungen an die Ungeheuerlichkeiten der Gewaltherrschaft über die Gedenktage hinaus für den Alltag fruchtbar machen. Sie soll auf diese Weise unsere demokratische Ordnung und die Grundprinzipien, auf denen sie beruht - etwa das Prinzip der Menschenwürde und der Menschenrechte - stabilisieren. Und sie soll die Abwehrkräfte unserer Gesellschaft gegen neuerliche Fehlentwicklungen und Gefahren stärken. Zu solchen Fehlentwicklungen rechne ich übri45

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gens auch sprachliche Entgleisungen, für die ein ärgerliches Beispiel kürzlich sogar im „Spiegel" zu lesen war. Dort hieß es in einer Filmkritik, die sich mit Verhoevens Mutter Courage und folglich mit der Deportation einer Jüdin nach Auschwitz befaßte, es handle sich um ein plattes Gesinnungswerk, das mit trampeliger Penetranz den Nationalsozialismus dämonisiere und von dem zu fürchten sei, daß es nun viele Schulklassen absitzen müssen. Nicht die Kritik als solche - die muß selbstverständlich auch an einem solchen Film möglich sein - die Sprache und die Wortwahl erwecken Unbehagen - um das Mindeste zu sagen. Die Vortragsreihe tut insgesamt das, was Bundespräsident Roman Herzog am 19. Januar 1996 in seiner Rede anläßlich des Tages des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus als notwendig bezeichnet und gefordert hat. Dem Herrn Bundespräsidenten ist im übrigen dafür zu danken, daß er den 27. Januar - den Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz — zum alljährlichen Gedenktag bestimmt hat. In der Vortragsreihe befassen sich drei Referate mit den Fakten, die vor dem Vergessen bewahrt werden müssen. Das von Herrn Dr. Aly mit dem Genozid an den Juden, der mit ihrer Entfernung begann und mit ihrer Vernichtung endete. Das von Herrn Dr. Friedrich mit der Tatsache, daß so viele nach 1945 behaupteten, sie hätten von nichts gewußt - mit dem Phänomen des Wegschauens und der Verdrängung, ein Phänomen, das wesentlich zur Fortdauer der Gewaltherrschaft beigetragen hat und in den letzten Jahren bei den ausländerfeindlichen Ausschreitungen von neuem zu beobachten war. Und das von Prof. Dr. Steinbach mit dem Widerstand und der Frage, warum er auf verlorenem Posten stand und das Regime nicht zu Fall bringen konnte. Das letzte Referat, das von Frau Präsidentin Süssmuth, wird eine Kernfrage, wenn nicht die Kernfrage unseres Themas, behandeln - nämlich die nach dem Verhältnis der Deutschen zu ihrer Geschichte.

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„Wir müssen uns in Deutschland miteinander geistig zurechtfinden. Wir haben noch nicht den gemeinsamen Boden. Wir suchen zusammenzukommen." Mit diesen Worten begann Karl Jaspers im Januar 1946 seine Vorlesungen über die geistige Situation in Deutschland. Karl Jaspers, auf den Lehrstuhl für Philosophie an der Universität Heidelberg zurückgekehrt, den er seit 1921 innegehabt hatte und von dem er in den Jahren der Schande, als sein Antipode Heidegger Universitätsrektor wurde, vertrieben worden war, war nun voll der Hoffnung auf einen demokratischen Neuanfang in dem von den Armeen der Alliierten befreiten Land. Doch schon bald überwog wieder die Sorge. Und 1948, als Hunderttausende von Nazis längst wieder in Amt und Würden waren, während die ehemals Verfolgten selbst in den Kommunalverwaltungen vieler Städte als Außenseiter kaum noch eine Chance auf Anstellung hatten, als die Gründung der neuen deutschen Teilstaaten näherrückte, und der Ruf, einen Schlußstrich unter die Vergangenheit zu ziehen, immer lauter wurde, da flüchtete sich Jaspers ins nahe Basel, wo er, obgleich schon 65 Jahre alt, noch einmal 13 Jahre lang lehren konnte. 1946 erschienen Jaspers' Vorlesungen unter dem Titel „Die Schuldfrage. Zur politischen Haftung Deutschlands". Diese schmale Schrift hätte wegweisend werden können für eine demokratische Erneuerung Deutschlands und der Deutschen, wenn sie denn gelesen worden wäre. Jaspers unterscheidet vier Schuldbegriffe: 1. Die kriminelle Schuld von Verbrechern, die gegen Gesetze verstoßen haben und vom Gericht ihrer Strafe zugeführt werden. 2. Die politische Schuld der Staatsmänner und der Staatsbürgerschaft, infolge derer der Einzelne die Konsequenzen der Handlungen des Staates tragen muß. Diese politische Haftung trifft alle Angehörigen eines Staates, unabhängig von ihrem Geburtsdatum. Die urteilende Instanz ist die Macht des Siegers, er entscheidet über Wiedergutmachung, Reparationen, Demontage, Macht- und Territorialverlust. Kriminelle Schuld und politische Haftung werden vor sozialen Instanzen verhandelt. Der dritte und vierte Schuldbegriff führt uns in den persönlichen Bereich: Da ist 3. die moralische Verantwortung des Einzelnen für seine Handlungen, unabhängig davon, ob sie ihm befohlen waren oder nicht. Instanz ist hier das eigene Gewissen, das uns, wenn wir ihm Gehör schenken, zur Buße mahnt, die Voraussetzung für eine moralische Erneuerung ist, die demjenigen, der sich in ostentative Ignoranz flüchtet, versagt bleibt. Schließlich 4. die metaphysische Schuld, die aus der zwischenmenschlichen Soli47

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darität erwächst und uns mitverantwortlich macht für alles auf der Welt begangene Unrecht, soweit wir ihm nicht mit den uns gegebenen Mitteln widerstehen, so bescheiden diese auch sein mögen. Es liegt in der Natur des Begriffs, daß über diese metaphysische Schuld vor einer weltlichen Instanz nicht zu richten ist. Und doch kann gerade sie besonders schwer wiegen, da sie die große Mehrzahl betrifft. Doch ich bin Historiker und kein Moraltheologe, so daß ich mich mit der Frage nach dem Erbe des Nationalsozialismus vor allem im Rahmen der ersten beiden Schuldbegriffe auseinandersetzen will, der kriminellen und der politischen Schuld, wobei es ja das Kennzeichnende der Zeit des Nationalsozialismus ist, daß das Kriminelle und das Politische in einem so erschreckenden Maße in Eins fallen. Das Deutsche Reich, am 8. Mai 1945 endlich von der tödlichen Geißel des Nationalsozialismus befreit, hatte den Krieg verloren - das eine war ohne das andere nicht zu haben gewesen. Eine Justiz, die diesen Namen verdiente, gab es nicht mehr, aber auch keine Staatsgewalt. Nach 1945 sprachen die Alliierten Recht, zunächst gemeinsam, im sogenannten Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozeß, dann jede Siegermacht in ihrer Besatzungszone. Etwa 60 000 Deutsche und Österreicher wurden wegen NS-Verbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit von alliierten Militärgerichten verurteilt. Allein in den westlichen Besatzungszonen wurde mehr als 800mal die Todesstrafe verhängt, allerdings bei weitem nicht immer vollstreckt. Auch in den anderen Staaten fanden zahlreiche Strafverfahren statt. So wurden allein in den Niederlanden, Österreich und Ungarn etwa 50 000 NS-Straftäter verurteilt, wobei wir nicht wissen, wieviele von ihnen Deutsche waren. Aus anderen Ländern fehlen vielfach gesicherte Zahlen, insbesondere auch aus der Sowjetunion, wo es viele Tausend Verurteilungen gab, darunter auch von zahllosen einfachen Kriegsgefangenen. Mit der Gründung der beiden deutschen Staaten im Jahr 1949 begannen dann die deutschen Gerichtsbarkeiten tätig zu werden, wobei in der Sowjetischen Besatzungszone schon seit 1947 deutsche Gerichte im Auftrag der Sowjetischen Militäradministration agierten und bis zur Staatsgründung mehr als 8000 Urteile sprachen, nachdem sowjetische Militärtribunale zuvor bereits mehr als 17 000 Straftäter verurteilt hatten. Ziel war die völlige Ausschaltung der Nationalsozialisten aus dem politischen und öffentlichen Leben. Mehr als eine halbe Million Menschen verloren bis 1947 ihren Arbeitsplatz im öffentlichen Dienst der späteren D D R . Das Bekenntnis zum Antifaschismus wurde bald zur Staatsdoktrin, was das Weiterwirken antisemitischer Ideologeme nicht ausschloß, wie der tragische Fall von Paul Mercker zeigt, der 1952 inhaftiert und 1955 vom Obersten Gericht der D D R zu acht Jahren Gefängnis verurteilt wurde, wobei es in der Begründung unter anderem hieß, er habe sich in der Nazizeit „nicht auf die politische, sondern auf die rassische Emigration" gestützt und zionistische Tendenzen vertreten. Von den westlichen Besatzungsmächten hatten es die Amerikaner besonders gründlich mit der sogenannten Entnazifizierung getrieben. 13,5 Millionen Menschen wurden in einer Fragebogenaktion erfaßt, von denen am Ende etwa 90% als entlastet galten. Während nur 1698 Personen in die Kategorie der „Hauptschuldigen" fielen, 48

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wurde über 150 000 Personen ein Berufsverbot verhängt, darunter auch über vergleichsweise harmlose Zeitgenossen, da bloße Parteimitgliedschaft oftmals ein ausreichender Grund dafür war. Geldstrafen mußten etwa 600 000 Betroffene bezahlen. Die Spruchkammerverfahren fußten häufig auf einer ganz ungenügenden Aktenlage, was dazu führte, daß viele Nazigrößen, die aufgrund ihrer Verteidigung genügend sogenannte Persilscheine beibringen konnten, durch die großen Maschen dieses Netzes fielen, ohne daß ihr Fall später neu aufgerollt wurde, während viele kleine Leute mit einer Strafe belegt wurden. So war es möglich, daß in Westdeutschland viele ehemalige Nazis ihre Positionen als Universitätsprofessoren, Polizeioffiziere, Verwaltungsbeamte oder Richter behielten oder rasch wieder erlangten. Schlimmer noch, dieser gutgemeinte, aber dilettantische und in der Sache kontraproduktive Versuch, die ungeheuerliche Hinterlassenschaft der Naziverbrechen aufzuarbeiten, mobilisierte auf breiter Front Ressentiments. Typisch ist folgende Zeitungsmeldung vom 3. November 1951: „In Stadtoldendorf, Kreis Holzminden, wurden in Anwesenheit aller Ratsmitglieder die Entnazifizierungsakten im Ofen des städtischen Gaswerkes verbrannt. Der Bürgermeister verwies darauf, daß Stadtoldendorf als erste Stadt der Bundesrepublik einen Schlußstrich unter die gesamte Entnazifizierung ziehe. Er übergab dann eine dickleibige Akte mit den Fällen von etwa 400 Entnazifizierten den Flammen. Den Beschluß, die Akten zu verbrennen, hatte der Stadtrat auf einer Feier anläßlich des fünfzigjährigen Bestehens des städtischen Krankenhauses gefaßt, bei der des Stifters Max Lewy gedacht und auf dem jüdischen Friedhof ein Kranz niedergelegt wurde." Eine Meinungsumfrage ergab im selben Jahr, daß 40 Prozent der Bevölkerung der Meinung waren, das Reich Hitlers sei besser gewesen als die demokratische Nachkriegsordnung. Ausländische Besucher, die in den ersten Nachkriegsjahren nach Deutschland kamen, waren erschüttert über den neu aufflammenden Haß gegen die Juden, die für Hunger und Not verantwortlich gemacht wurden. Die Fixierung auf den wirtschaftlichen Wiederaufbau, die Verdrängung der Mitschuld daran, daß überhaupt etwas wiederaufgebaut werden mußte, der tradierte Antisemitismus und die durch die erneute militärische Niederlage ausgelösten bzw. wiederbelebten Inferioritätsgefühle gingen eine folgenschwere Verbindung ein, die die bundesrepublikanische Gesellschaft in jener Wohlstandsselbstgefälligkeit erstarren ließ, der nicht nur historische Perspektive und damit letztlich auch nationales Bewußtsein fehlte, die auch auf wirkliche ideologische Auseinandersetzung bewußt verzichtete und die den demokratischen und sozialen Erneuerungsprozeß schließlich so minimalisierte, daß der aufgestaute Modernisierungsbedarf ab Mitte der 60er Jahre sich in einer Reihe von Eruptionen entlud. So wie viele in den Jahren der braunen Herrlichkeit ihre Energien darauf gewendet hatten, nicht wahrzunehmen, was um sie herum vorging, so waren sie nun durch eine erträgliche Rekonstruktion der Vergangenheit, ihrer eigenen zumal, in Anspruch genommen. Man hatte nie so recht Bescheid gewußt und doch im Zweifel Schlimmeres verhütet. „Bonn ist nicht Weimar" war eine der Beschwörungsformeln, mit denen man sich gegen die Zumutungen der Erinnerungsarbeit wehrhaft zu machen suchte. 49

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Unmittelbar nach Kriegsende hatte es in weiten Teilen der Öffentlichkeit ein Bewußtsein für die Notwendigkeit eines Neuanfangs und eines Bekenntnisses der eigenen Mitschuld am Geschehenen gegeben. Das Schuldbekenntnis der Evangelischen Kirche ist ein berühmtes Beispiel dafür. 1946 erschienen „Der SS-Staat" von Eugen Kogon, „Offiziere gegen Hitler" von Fabian von Schlabrendorff, „Hitler in uns selbst" von Max Picard und eben auch Jaspers' „Schuldfrage", um nur einige wenige Beispiele aus einer gewaltigen Fülle von Büchern, Zeitschriften, programmatischen Erklärungen usw. zu nennen. Auch das Ahlener Programm der C D U , in dem es hieß, der Kapitalismus habe abgewirtschaftet, gehört natürlich in diesen Kontext. Doch schon bald, und der beginnende Kalte Krieg trug das seine dazu bei, schlug die Stimmung um. Die zahlreichen Friedhöfe für KZ-Opfer waren nun häufig als „Kriegsgräberstätte" beschriftet. Die ehemaligen Angehörigen der Waffen-SS schlössen sich zu einer Hilfsgemeinschaft, der HIAG, zusammen, die mit dem Anspruch auftrat, Veteranen einer militärischen Eliteeinheit zu organisieren. Verschiedene Kasernen der neuerstandenen Bundeswehr wurden nach Nazigenerälen benannt, keine nach einem Widerstandskämpfer. Der verlorene Krieg wurde mehr als alles andere zum Motor der eigenen Entschuldung. Vier Millionen junge Männer waren auf den Schlachtfeldern, den sowjetischen vornehmlich, geblieben. Waren die Deutschen nicht genug gestraft? Ihren Höhepunkt hatte diese Schlußstrichmentalität 1960 erreicht, als Vertreter aller Parteien im Bundestag für die Verjährung aller NS-Straftaten außer Mord stimmten. Eine ganze Gesellschaft versuchte sich von ihrer Geschichte abzuspalten, die zum Betriebsunfall degenerierte. Doch 1965 kam der Deutsche Bundestag nach einer leidenschaftlichen Debatte zu einem anderen Ergebnis als fünf Jahre zuvor. Die Verjährungsfrist für Mord, die damals 20 Jahre betrug, wurde verlängert, in der Folge dann immer wieder, schließlich ganz aufgehoben. Die Fülle immer dringlicherer Telegramme des deutschen Botschafters in Washington, der vor andernfalls zu erwartenden negativen Reaktionen aus dem Ausland gewarnt hatte, mögen hier ebenso ihre Wirkung getan haben, wie der erste Auschwitz-Prozeß, der 1963 bis 1965 in Frankfurt stattgefunden und im In- und Ausland ein außerordentliches Echo gehabt hatte. Am 19. Oktober 1965 wurde an der Berliner Freien Volksbühne und gleichzeitig an weiteren 15 Theatern das Oratorium „Die Ermittlung" von Peter Weiss uraufgeführt. Die 18 Angeklagten des Auschwitzprozesses traten unter ihren realen Namen auf, die 409 Zeugen wurden auf neun anonyme Rollen konzentriert. An die Stelle der 24 Verteidiger trat ein Rechtsradikaler. Die ungeheuere Wirkung des Stückes lag vor allem in seiner dokumentarischen Kargheit begründet, die auch denjenigen, die das Prozeßgeschehen nicht im Detail verfolgt hatten, einen Blick in die Hölle des Holocaust gewährte. Die Zentralstelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen, die 1958 in Ludwigsburg endlich errichtet worden war, leitete bis heute über 100 000 Ermittlungsverfahren ein, konnte jedoch nur knapp 6500 Verurteilungen erreichen, so daß Jörg Friedrich, der die justizielle Selbstentschuldung der bundesdeutschen Gesellschaft mit bedrückender Genauigkeit dokumentiert hat, zu Recht von einer „kalten Amnestie" spricht. Bei vielen Verfahren reichten die Beweismittel nicht aus, das 50

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schwindende Erinnerungsvermögen der Zeugen erschwerte die individuelle Schuldzuweisung, die Identifizierung des persönlichen Tatbeitrags, den der B G H zur Voraussetzung für eine Verurteilung gemacht hatte. Selbst dort, w o die Täter zweifelsfrei ermittelt werden konnten, sahen die Gerichte in der Regel die Tatbestandsmerkmale des Mordes nicht erfüllt und erkannten auf Beihilfe zum Mord, mit entsprechend geringen Strafen. Vielfach fielen die Strafen so gering aus, daß, wenn man die Haftdauer auf die gesamte Zahl der Opfer umlegt, manche Täter für eine Tötung nur mit Minuten im Gefängnis büßten. Alfred Streim, seit 1963 in Ludwigsburg tätig und seit 1984 Leiter der Zentralstelle, zieht das nicht eben ermutigende Fazit: „Unser Strafgesetzbuch ist auf die persönliche Schuld des Täters abgestellt und daher kaum geeignet, Regierungskriminalität oder Massenverbrechen zu verfolgen." Wer sich, ohne „persönlichen Tatbeitrag", als KZ-Aufseher, als Giftgaslieferant, als Reichsbahnsekretär, der für Deportationen die Züge bereitstellte, als Verwaltungsbeamter, der für die „Entjudung" der deutschen Wirtschaft sorgte, oder als Mitglied eines Erschießungskommandos in das Räderwerk der Vernichtungsmaschinerie eingegliedert hatte und - teils aus Uberzeugung, teils aus Loyalität - mitwirkte an der Ermordung von Millionen Menschen, war als bloßer Pflichterfüller exkulpiert. A u s der Masse der Täter blieb nur die kleine Gruppe der Exzeßtäter, die anderen tauchten unter im Meer der Ahnungslosen, der Mitläufer, der von Befehlen Bedrängten. Manchmal lief die Trennlinie mitten durch die Beteiligten hindurch, wie bei dem kaufmännischen Angestellten Friedrich Wilhelm Boger, der im ersten Auschwitzprozeß angeklagt war. Er hatte ein seither oft kopiertes Folterinstrument erfunden, die „Bogerschaukel". Ich zitiere aus dem Urteil des Frankfurter Schwurgerichts: „Sie bestand aus zwei aufrecht stehenden Holmen, in die eine Eisenstange quer hineingelegt wurde. Boger ließ die Opfer in die Kniebeuge gehen, zog die Eisenstange durch die Kniekehlen hindurch und fesselte dann die Hände der Opfer daran. Dann befestigte er die Eisenstange in den Holmen, so daß die Opfer mit dem Kopf nach unten und mit dem Gesäß nach oben zu hängen kamen." Boger schlug stundenlang auf die an der Schaukel hängenden Opfer ein, bis der Tod eintrat. D a s Gericht wertete dies als Mord, denn Boger habe „nur aus einer gefühllosen und unbarmherzigen Gesinnung heraus" so handeln können. Derselbe Boger war auch an Selektionen beteiligt. Er sonderte nicht mehr arbeitsfähige Häftlinge aus, die dann vergast wurden. Mindestens 1000 Menschen kamen so zu Tode. Hier erkannte das Gericht nicht auf Mord. D a Boger sich bei den Selektionen nicht „besonders eifrig oder brutal und rücksichtslos gegen die jüdischen Menschen gezeigt hat", konnte das Gericht seinen Tötungswillen nicht mit letzter Sicherheit feststellen. Dieser Fall zeigt in extremer Weise, in welchen Notstand sich die Justiz durch ihre Rechtskonstruktionen gebracht hatte. D a waren am einen Ende der Befehlskette Hitler und seine Kumpanen, die sich selbst gerichtet hatten oder in Nürnberg am Galgen geendet waren. A m anderen Ende der Befehlskette wurde eine Meute von 51

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blutrünstigen Exzeßtätern identifiziert, die an ihren Opfern ihren Sadismus auslebten. Doch der ganze Kosmos der Deportations- und Tötungsmaschinerie, an der Hunderttausende, wenn nicht Millionen mitgewirkt hatten, verschwand hinter einer Nebelwand von Nichtgewußthaben und Pflichterfüllung. Die Restitution der eigenen Biographie in einer im wirtschaftlichen Aufbruch sich befindenden Gesellschaft wurde zum entscheidenden Bezugspunkt individuellen und sozialen Handelns. Die Erinnerung an die wenig ruhmreiche Vergangenheit hatte allenfalls die Qualität eines Störfaktors. Zwanzig Jahre dauerte es, bis in Dachau eine KZ-Gedenkstätte gegründet wurde, und lange Zeit blieb sie die einzige. Warum, so ist zu fragen, bedurfte es erst, 40 Jahre nach Kriegsende, des 16jährigen Lehrlings Rainer Ritzel und seiner Videokamera, um die bis dahin unbekannte Geschichte des KZ- Außenlagers Mühldorf am Inn zu dokumentieren. So wie auch in Stadtallendorf, auf die Initiative einer Schülergruppe, erst seit 1988 eine Gedenktafel an das Lager „Münchmühle" erinnert und erst 1994 in Landsberg am Lech, dem Endpunkt, ein Mahnmal für die Opfer des Dachauer Todesmarsches errichtet wurde. Zahllose weitere Beispiele für die lange verdrängte Erinnerung ließen sich unschwer finden. 1990 ließ die Universität Tübingen einen Gedenkstein für die NS-Opfer der Anatomie aufstellen. Der Hirnforscher Jürgen Peiffer sagte bei seiner Einweihung: „Wir müssen uns allerdings fragen lassen, warum wir heute nicht zum 45. Mal der Opfer gedenken. Warum ist dies die erste Feier, welche hier Universitätslehrer der Medizin, aber auch Vertreter der Justiz zusammenführt, um sich zu erinnern; zu erinnern an Vorgänge, die wir ... durch kollektive Affekte der Schuldabwehr zu verdrängen geneigt waren?" Professor Peiffer führt uns zurück zu der politischen Haftung, von der eingangs die Rede war. Die durch die sogenannte Wiedergutmachung moralisch scheinbar entlastete Bundesrepublik hatte sich, auf der Basis der Adenauerschen Option für einen Westkurs, rasch wieder in die Gemeinschaft der zivilisierten Staaten integriert. Die Stichworte Marshall-Plan, Montanunion, Europäische Verteidigungsgemeinschaft, Wiederbewaffnung mögen hier genügen. Schon im Dezember 1950 hatte der Bundestag Richtlinien zum Abschluß der Entnazifizierung erlassen. Ein halbes Jahr später folgte das sogenannte 131er-Gesetz, nach dem für über 150 000 entlassene nationalsozialistische Beamte und Angestellte die Versorgungsansprüche wiederhergestellt wurden. Zudem wurde ihnen die Möglichkeit eröffnet, wieder in den Staatsdienst einzutreten. Adenauer scheute 1953 nicht davor zurück, ehemalige Nazis sogar in sein Kabinett aufzunehmen. Ein besonders krasser Fall war der von Theodor Oberländer. Der ehemalige Ostexperte der Nazis war nun sinnigerweise Bundesvertriebenenminister. 1941 hatte eine von Oberländer geleitete Sondereinheit in der Sowjetunion Hunderte von Menschen abgeschlachtet. Alexander und Margarete Mitscherlich haben bei ihrer Analyse jener Jahre die Formulierung von der „Unfähigkeit zu trauern" geprägt. Sie rekurriert auf den von Freud entwickelten Begriff der Trauerarbeit. In Freuds berühmtem Essay „Trauer und Melancholie" heißt es: „Bei der Trauer ist die Welt arm und leer geworden, bei der Melancholie ist es das Ich selbst." Der Trauernde muß sich am Verlust seines 52

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Liebesobjekts abarbeiten. Der Melancholiker erträgt den Verlust nicht, er empfindet das eigene Ungenügen als so schmerzhaft, daß er der Opferrolle als Projektionsfläche bedarf. Galt erst die Erkenntnis, daß die Juden unser Unglück sind, so wurden dieselben Leute sodann Opfer der Nazis und fielen schließlich den siegreichen Amerikanern und Russen anheim. Wenn in einer Umfrage unter jungen Deutschen kürzlich 4 8 % der Meinung waren, die Deutschen seien in der Zeit des Nationalsozialismus eher Täter gewesen, 4 4 % aber glauben, sie waren eher Opfer, so sprechen solche Zahlen eine erschrekkend deutliche Sprache. Um die schale Geborgenheit solcher Scheinwelten hinter sich zu lassen, bedarf es des Mutes der Konfrontation mit der Realität. Margarete Mitscherlich sagt in diesem Zusammenhang: „Um die Fähigkeit zu trauern zu entwickeln, ist eine besondere Art der Erinnerungsarbeit notwendig, die die Wiederbelebung unserer damaligen Verhaltensweisen, unserer Gefühle und Phantasien einschließt." Millionen von Menschen hätten sich ihres Begeisterungsrausches für die braunen Machthaber erinnern müssen - ein ebenso notwendiger wie schmerzhafter Prozeß. Doch in den frühen Jahren der Bundesrepublik sind die energetischen Potentiale vor allem zur Verdrängung genutzt worden, zur Abspaltung der persönlichen gefühlsmäßigen Beteiligung von den kollektiven Erinnerungen, wie sie sich manifestierten im wachsenden Kanon des unleugbar Gewußten. Der Preis dafür war, davon war schon die Rede, ein wachsender sozialer und geistiger Immobilismus. Man könnte vielleicht sagen, die bundesdeutsche Gesellschaft war, im Sinne von Lévi-Strauss, eine „kalte Gesellschaft", der verzweifelte Versuch, in einem konsumorientierten erinnerungslosen Hier und Jetzt historische Evolution einzufrieren, wobei die sogenannte „deutsche Katastrophe" der Jahre 1933-1945 eskamotiert wurde. Volkhard Knigge hat am Beispiel des Abrisses der Lagergebäude in Buchenwald, Dachau und Neuengamme gezeigt, daß in diesem Punkt ein breiter politischer, sogar deutschdeutscher Konsens herrschte. „Das Schandmal der Vergangenheit möge ausgelöscht werden", lautete die Parole der Hamburger Gefängnisbehörde, die in Neuengamme eine Anstalt des „modernen Strafvollzugs von Weltruf" schaffen wollte. Buchenwald war mit 130 Außenlagern eines der größten KZs auf deutschem Boden gewesen. Fast 300 000 Häftlinge waren durch dieses Lager gegangen, mehr als 40 000 in ihm umgekommen. Das Politbüro der SED verfügte 1950 die Wiederaufforstung des gesamten Lagergeländes. Lediglich das Krematorium sollte erhalten bleiben, um an die Ermordung Ernst Thälmanns zu erinnern. Tatsächlich wurde das Lager weitgehend abgerissen, zur Wiederaufforstung des Geländes kam es allerdings nicht. Die Objekte der Erinnerung, „Schandmale der Vergangenheit", verfielen dem Vergessen, zumal die schrecklichsten Vernichtungsstätten sich hinter dem „Eisernen Vorhang" verbargen. Die Opfer waren aufgegangen in Rauch, so daß es noch heute eines Gesetzes bedarf, um Zweifel daran zu unterdrücken, daß sie jemals existiert haben. Die Opfer der ersten Massenexekutionen waren zunächst in Massengräbern, die sie meist zuvor selbst hatten ausheben müssen, verscharrt worden. Später ließen die 53

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Nazis die Leichen wieder ausgraben, u m sie zu verbrennen. Diese grauenhafte Arbeit mußten Häftlinge tun. Einer berichtet darüber in dem Film „Shoah": „Am Anfang, als wir die Gruben öffneten, konnten wir uns nicht zurückhalten, wir sind ausnahmslos alle in Tränen ausgebrochen. Aber dann kamen die Deutschen näher, sie haben uns totschlagen wollen, sie zwangen uns, zwei Tage lang in einem wahnsinnigen Rhythmus zu arbeiten, unter ständigen Schlägen und ohne Arbeitsgeräte. Die Deutschen hatten sogar gesagt, daß es verboten war, das Wort,Toter' oder das Wort,Opfer' auszusprechen, sie wären nichts als Holzklötze, nichts als Scheiße, es hätte überhaupt keine Bedeutung, es wäre Nichts. Wer das Wort,Toter' oder ,Opfer' aussprach, bekam Schläge. Die Deutschen zwangen uns, von den Leichen zu sagen, daß es .Figuren' seien, das h e i ß t . . . Marionetten, Puppen, oder Schmattes, das heißt Lappen. Der Gestapochef von Wilna hat uns gesagt: ,Dort liegen neunzigtausend Personen, und es darf nicht die geringste Spur zurückbleiben.'"

Später, als die Massenvergasungen in großem Umfang eingesetzt hatten, wurden die Leichen direkt verbrannt, in Verbrennungsöfen der Firma Topf aus Erfurt. Keine Spur sollte bleiben; ein Vorhaben, das mißlang. Jean Claude Pressac hat in seiner Studie über die Krematorien von Auschwitz eindringlich ein Problem nationalsozialistischer Herrschaft dargestellt, bei dessen Lösung Kohlenmonoxyd und Zyklon B nicht halfen. 100 000 Menschen waren schnell vergast, doch die Beseitigung von 100 000 Leichen blieb, aller deutschen Ingenieurskunst zum Trotz weitaus schwieriger. Und auch wenn die Leichen verbrannt waren, blieb die Asche, blieben Koffer, Brillen, Schuhe, Prothesen und Goldzähne. Als die sowjetischen Soldaten am 27. Januar 1945 das Vernichtungslager Auschwitz befreiten, fanden sie, fein säuberlich gestapelt, 348 820 Herrenanzüge, 836 255 Damenkleider, Berge von Kinderbekleidung, und sieben Tonnen Frauenhaar vor. Die Toten zeugen von den Untaten ihrer Mörder. Wolfgang Koeppen beschreibt es in seinem Roman „Jakob Littners Aufzeichnungen aus einem Erdloch". Jakob Littner, die Hauptfigur des Romans, berichtet: „Ich muß heute mit anderen jüdischen Männern mit Schaufeln zum Massengrab der Ermordeten gehen. Das Grab war nur leicht mit Erde bedeckt; das Blut sickerte durch. Der Leichenhaufen war in Gärung geraten. Blasen stiegen auf, und eine 54

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schreckliche Wolke der Verwesung hing schwer und atemraubend in der Luft. Wilde Hunde hatten das Erdreich aufgewühlt. Sie hatten Leichenteile in ihren feuchten Schnauzen bis in die Stadt getragen. Der Hund eines Bauern brachte eine Hand in das Haus seines Herrn.jeden Tag müssen andere Männer hinausgehen, das Grab mit neuer Erde zu bedecken. Die Arbeit ist so furchtbar, daß sie jeder nur einmal leisten kann." Nur ganz langsam gehen die Körper der Toten ein ins Erdreich. Wer einmal über die Killing Fields in Kambodscha gegangen ist, wo die dünne Erdschicht über den langsam zerfallenden Skeletten immer wieder nachgibt, weiß, wovon ich spreche. Der Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien schickt sich an, uns neues Anschauungsmaterial zu liefern. Lagen die Schatten der Leichenberge auch über dem Land, so daß ein Gespräch über Bäume fast unmöglich schien, so geriet doch die Identität der Opfer des rassistisch motivierten Vernichtungskriegs, den die Deutschen im Osten Europas geführt hatten, ins Ungewisse. „Den Opfern 1933-1945" hieß es meist auf den Gedenktafeln, wobei unklar blieb, ob hier die hingemordete europäische Judenheit gemeint war oder ihre auf den Schlachtfeldern gebliebenen Henker. Die Täter verschwinden im Unterholz offiziöser Rabulistik. Vom Unrecht, das „im deutschen Namen" geschehen sei, ist die Rede, wo doch die Täter selbst sehr deutsche Namen hatten. Auf den Gedenktafeln, die heute dort angebracht sind, wo früher Synagogen standen, lesen wir, die nationalsozialistischen Machthaber hätten die Gebäude zerstört, während es doch in Wirklichkeit die Bürger der betreffenden Städte und Dörfer waren. In den Geschichtsbüchern der D D R war häufig von den Hitlerarmeen die Rede, die 1939 die östlichen Nachbarländer überfallen haben, so als ob diese Hitlerarmeen aus einer Spezies von Außerirdischen bestanden hätten, die 1933 plötzlich von Deutschland Besitz ergriffen hatten, während in Wirklichkeit doch diese Armeen aus Millionen von deutschen Männern bestanden, unseren Vätern und Großvätern. Doch die Erinnerung, abgedrängt in die Tiefenschichten menschlichen Bewußtseins, wirkte weiter fort. „Die Vergangenheit ist nicht tot, sie ist nicht einmal vergangen", heißt es in Christa Wolfs „Kindheitsmuster". Die Toten sind gegenwärtig, auch wenn sie unserer Wahrnehmung scheinbar entrückt sind. Die Psychoanalytikerin Gabriele Teckentrup stellt als Ergebnis ihrer Forschungen fest: „Die traumatischen Erlebnisse unserer Eltern und Großeltern sind niemals vergangen. Sie tauchen im Generationentransfer im Erleben ihrer Kinder wieder auf." Helen Epsteins Buch „Children of the Holocaust" und Gerald Posners Buch „Hitler's Children" bezeichnen die einander entgegengesetzten Pole dieser transgenerationellen Weitergabe von Traumata, von der Täter- wie Opferfamilien gleichermaßen betroffen sind. Der Psychotherapeut Jürgen Müller-Hohagen schildert in seinem Buch „Verleugnet, verdrängt, verschwiegen" aus seiner Praxis zahlreiche Beispiele für die fortdauernden seelischen Auswirkungen der Nazizeit. Es geht um alle Aspekte des Geschehens, also Flucht, Vertreibung, Verfolgung, Verlust, aber natürlich auch um Täter in 55

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der Familie. Dabei waren die wenigsten unter unseren Eltern und Großeltern teuflische, vom Blutrausch besessene Bestien. Und, es muß leider hinzugefügt werden, noch weniger hatten den Mut zum Widerstand. Die übergroße Mehrheit der Menschen waren ängstliche Befehlsempfänger, Rädchen im Getriebe, die froh waren, nichts Genaues zu wissen, Pflichterfüller, die am Herrschaftsanspruch des Obrigkeitsstaates nicht zweifelten. Der Normalfall war auch im Dritten Reich der des Mitläufers. „Ganz normale Männer" hat Christopher Browning sein Buch genannt, in dem er zeigt, wie aus einfachen Polizisten routinierte Mörder werden. Nicht dem debilen Sadisten Julius Streicher gebührt unsere Aufmerksamkeit, sondern den Männern des Polizeibataillons 101, wenn wir herausfinden wollen, wie der monströse Unrechtsstaat der Nazis möglich war, welche Voraussetzungen zur millionenfachen Verschränkung von Normalität und Brutalität geführt haben. Das Gebot der Erinnerungsarbeit gilt für Individuen wie für das Gemeinwesen. Eine Stadt wie München, für Adolf Hitler der geliebteste Fleck der Erde, hat hier eine besonders schwere Bürde zu tragen. Mehr als jede andere deutsche Stadt diente München der Inszenierung nationalsozialistischer Herrschaft. 1936 war München erstmals Ort einer sogenannten politischen Aufklärungsausstellung. Der Erfolg dieser „antibolschewistischen Schau" war derart groß, daß daraus eine regelmäßige Einrichtung werden sollte, wobei München jeweils als Ausgangspunkt dieser Wanderausstellungen geplant war. Am 8. November 1937 wurde im Bibliotheksbau des Deutschen Museums von Joseph Goebbels und Julius Streicher das nächste Horrorkabinett eröffnet: „Der Ewige Jude - Große politische Schau". Bis Jahresende kamen 321 000 Besucher, ein Erfolg, den in dieser Größenordnung selbst die Veranstalter nicht erwartet hatten. Hätte man später versucht, die 321 000 braven Münchner zu identifizieren, die diese Ausstellung gesehen haben, so wäre man mit derselben kollektiven Amnesie konfrontiert worden, der nach dem 8. Mai 1945 so vieles anheim gefallen ist. Die vor zweieinhalb Jahren gezeigte Ausstellung „Hauptstadt der Bewegung", die in ihrem unreflektierten Positivismus oft nur schwer zu ertragen war, war hier keine Hilfe. Ebenso wenig vermochte diese Heerschau nationalsozialistischer Hinterlassenschaft den Blick zu schärfen für die Wunden, die Hitlers Größenwahn dem Stadtkörper schon vor Kriegsausbruch geschlagen hat. Das klassizistische Herzog-Max-Palais fiel der Spitzhacke ebenso zum Opfer wie Münchens bedeutendste Jugendstilfassade am Studio Elvira in der Von-der-TannStraße. Die beiden von Carl von Fischer an der Briennerstraße erbauten Stadtpalais mußten den sogenannten Ehrentempeln weichen. Die älteste protestantische Kirche Münchens, die Matthäuskirche am Sendlinger-Tor-Platz, wurde im Juni 1938 ebenso abgebrochen wie die Synagoge in der Herzog-Max-Straße. Gauleiter Adolf Wagner, der sonst vor allem durch exzessive Trinkgelage von sich Reden machte, wollte seinem Führer damit eine Freude machen. Der Königsplatz wurde so erfolgreich nazifiziert, daß der „Völkische Beobachter" 1936 mit unverhohlener Begeisterung feststellen konnte, hier sei „in aller Stille ... eine Art Thingplatz, eine Feierstätte entstanden." An den Folgen dieser Nazifi56

Der Kampf um die Erinnerung

zierung des Klassizismus tragen wir noch heute. Das gilt auch für die Ludwigstraße, die damals besonders gelitten hat. Vier der nach italienischem Vorbild erbauten Paläste mußten einem „Zentralministerium" weichen. Das von Leo von Klenze in der Ludwigstraße errichtete Palais des Herzogs Max, eines der bedeutendsten Werke der Münchner Klassik, mußte einem Neubau der Reichsbank Platz machen. Diese Verluste, so schmerzlich sie sind, sind heute allerdings nicht in erster Linie unser Problem. Problematisch ist vor allem, daß diese Verluste nicht bewußt sind. Daß in München das Bewußtsein für die Erlebnisdimension des öffentlichen Raums traditionell unterentwickelt ist, ist dafür keine zureichende Entschuldigung. 1933 hatten über 10 000 Juden in München gelebt, im April 1945 waren es noch 84. Zwischen diesen beiden Ziffern liegen zwölf Jahre, die durch systematische Schikane, Erniedrigung, Enteignung, Flucht, Deportation und Mord geprägt sind. Die bloße Zahl der Opfer läßt kaum erahnen, was wir dadurch verloren haben. So ist es verdienstvoll, um auch ein positives Beispiel zu erwähnen, daß der Geschichtswettbewerb der Landeshauptstadt München 1993/94 „Jüdisches Leben in München in zwei Jahrhunderten" zum Thema hatte. Die wichtigsten Wettbewerbsbeiträge sind auch in Buchform erschienen, so daß einmal mehr die Chance besteht, sich die Zeit zu vergegenwärtigen, als an der Herzog-Max-Straße noch eine stattliche Synagoge stand, als man bei Bamberger und Hertz einkaufte und viele Bürger, wie etwa Thomas Mann, beim Bankhaus Feuchtwanger ihr Konto hatten. Ich komme zum Schluß: „Erinnerung gibt Herkunft und Zukunft" heißt es bei Verena Lenzen. Die Erinnerung bewahrt die Toten davor, ins namenlose Nichts zu fallen, einen zweiten Tod zu sterben. Uns bewahrt sie vor der Verfestigung traumatischer Strukturen. Ohne Erinnerung keine Erlösung. Das Totengedenken stiftet Gemeinschaft, die Rückbesinnung fundiert die Identität jedes sozialen Verbandes, jedes Gemeinwesens. Ich denke, das gilt gerade auch für die wieder geeinte deutsche Nation. Auch Herrschaft braucht Herkunft. Eine geschichtslose Nation ist nicht denkbar. Es ist kein Zufall, daß deutsche Historiker nach 1945 über kein Thema so erbittert und so öffentlichkeitswirksam gestritten haben wie über die Bewertung der Verbrechen des Nationalsozialismus. Christian Meier, zur Zeit des Historikerstreits Vorsitzender des Historikerverbandes, bemerkt im Rückblick: „Jeder größere Versuch, diese Vergangenheit einzuebnen hat mit ihrer Belebung geendet." Ich füge hinzu: Erst wenn wir bereit sind, uns zu erinnern, werden andere Völker ihre Aufmerksamkeit anderen Epochen der deutschen Geschichte zuwenden können. Ging es im „Historikerstreit" um die „Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung", wie es im Untertitel der Dokumentation heißt, so betont Johann Baptist Metz in seinem Plädoyer für eine anamnetische Kultur, für eine Kultur der Erkenntnis durch Wiedererinnerung: „Die empfundene Singularität dieses Grauens darf nicht vorschnell metaphysisch aufgeladen werden." Denn dann würde der Holocaust zur unfaßlichen Tragödie werden, zu einem Vorfall außerhalb des historischen Raums, würden sich Verantwortung und Erinnerung im Apokalyptischen auflösen. Au57

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schwitz war nicht der historische Ort eines Zivilisationsbruchs, das wäre eine allzu bequeme Erklärung. Auschwitz hat vielmehr das destruktive Potential der Moderne in der denkbar radikalsten und schonungslosesten Weise bloßgelegt. Nicht Teufel und Dämonen haben die Vernichtungslager errichtet und betrieben, sondern Architekten und Ingenieure, Wehrmachts - und Polizeioffiziere, Aufseher und Arzte. Ein halbes Jahrhundert ist inzwischen vergangen. Die Zeit heilt nicht nur Wunden, sie läßt auch die Beteiligten sterben. Mit wachsendem zeitlichen Abstand werden die Historiker immer mehr zu Trägern der geforderten anamnetischen Kultur. Gegen alle Reduktionismen, seien sie strukturalistischer oder positivistischer Natur, muß dabei die konkrete Totalität des historischen Prozesses verteidigt werden. Jede Erscheinung ist ein Moment des Ganzen so wie die Benennung des Ganzen nichts ist ohne die Schilderung der Ereignisse. Der italienische Historiker Renzo de Feiice hat einmal gesagt: „Wer den Faschismus begreifen will, muß seine Geschichte erzählen." Erinnerung bedarf der Anschauung, und Anschauung bedarf der Konkretion. Als ich 1988 Ruth Elias' Lebensbericht „Die Hoffnung erhielt mich am Leben" herausbrachte, entschloß ich mich zum erstenmal, von einem Sachbuch ein Vorausleseexemplar zu machen, das dann ein großes Echo fand. Fast 100 Buchhändler, viele sehr junge darunter, schrieben an den Verlag. Der Tenor der Zuschriften war, daß dieses wahrhaft erschütternde Einzelschicksal sie mehr von den Schrecken des Holocaust hatte begreifen lassen als die abstrakten Zahlen der Geschichtsbücher ihrer Schulzeit. Die menschliche Betroffenheit, die aus erinnernder Empathie entsteht, hilft uns zu begreifen. Tätige Erinnerung ist das, worauf es ankommt, eine Erinnerung, die sich auf wirkliche Trauerarbeit gründet und in dem Bewußtsein stattfindet, daß wir die Nachfahren der Täter, nicht der Opfer sind. Diese tätige Erinnerung wird uns unweigerlich zu der Erkenntnis führen, daß wir Deutsche angesichts der Schuld, die unser Volk in diesem Jahrhundert auf sich geladen hat, in besonderem Maße dazu aufgerufen sind, Ausbeutung, Terror und Unrecht entgegenzutreten, wo und wie immer sie in Erscheinung treten. Der große französische Historiker Marc Bloch, der 1944 von der Gestapo erschossen wurde, hat einmal gesagt, Aufgabe der Historiker sei es, den Dialog zwischen den Lebenden und Toten zu organisieren. Welche unter den Toten aber könnten uns näher sein als die Opfer von deutscher Hand?

Bibliographie Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992. Reinhard Bauer/Ernst Piper, München. Die Geschichte einer Stadt, München 1993. Christopher Browning, Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die „Endlösung" in Polen, Reinbek 1993. Helen Epstein, Die Kinder des Holocaust. Gespräche mit Söhnen und Töchtern von Überlebenden, München 1987. 58

Der Kampf um die Erinnerung

Erinnern oder Verweigern. Das schwierige Thema Nationalsozialismus, München 1994 (= Dachauer Hefte, Heft 6). Jörg Friedrich, Die kalte Amnestie. NS-Täter in der Bundesrepublik, N A München 1994. „Historikerstreit". Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung, München 1987. Holocaust: Die Grenzen des Verstehens. Eine Debatte über die Besetzung der Geschichte, hg. v. Hanno Loewy, Reinbek 1992. Karl Jaspers, Die Schuldfrage. Zur politischen Haftung Deutschlands, N A München 1987. Ders., Wohin treibt die Bundesrepublik? Tatsachen - Gefahren - Chancen, München 1966. Jüdisches Leben in München. Lesebuch zu Geschichte des Münchner Alltags, hg. v. der Landeshauptstadt München, o.0.1995. Claude Lanzmann, Shoah, Düsseldorf 1986. Verena Lenzen, Jüdisches Leben und Sterben, München 1995. Reinhard Matz, Die unsichtbaren Lager. Das Verschwinden der Vergangenheit im Gedenken, Reinbek 1993. Alexander Mitscherlich, Der Kampf um die Erinnerung. Psychoanalyse für Fortgeschrittene Anfänger, München 1974. Alexander und Margarete Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens, München 141982. Jürgen Müller-Hohagen, Verleugnet, verdrängt, verschwiegen. Die seelischen Auswirkungen der Nazizeit, München 1988. Gerald L. Posner, Hitler's Children. Sons and Daughters of Leaders of the Third Reich talk about themselves and their Fathers, New York 1991. Jean-Claude Pressac, Die Krematorien von Auschwitz. Die Technik des Massenmordes. Mit einem Einführungstext von Ernst Piper, München 1994.

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Götz Aly „Judenumsiedlung" Überlegungen zur politischen Vorgeschichte des Holocaust"'

Es gehört zu den großen Leistungen der Historiker nach dem Zweiten Weltkrieg, daß sie sich angesichts der deutschen Verbrechen die Perspektive der Opfer zu eigen machten. Deswegen muß der Blick aus der Perspektive der Täter irritieren. Aber die Frage nach dem Entscheidungsprozeß, der zum Holocaust führte, zwingt uns in die Innenansicht der Verwalter und Planer. Dann erst wird sichtbar, in welchem Ausmaß für die damals sogenannte „Endlösung der Judenfrage" auch die gängigen Regeln staatlich-bürokratischer Prozeduren galten. Das meiste daran erscheint uns nicht so fern, daß es nicht mit gewöhnlichen historiographischen Mitteln beschreibbar wäre. Die innere Logik der politischen Prozesse im NS-Staat entwickelte sich in der Spannung großer Veränderungs- und Expansionspläne, instabiler Zwischenlösungen und - gemessen an den Zielen - äußerst begrenzter Ressourcen. Daraus folgten Erwartungsdruck und Handlungsbedarf, würde man heute sagen. Doch war der Entscheidungsrahmen an zwei Punkten wesentlich verändert und erweitert: Die staatlich durchgesetzte, in der deutschen Gesellschaft weithin akzeptierte rassistische Werteordnung und die von Anfang an gewollte militärisch-imperiale Expansion, ermöglichten zum einen die Abwälzung von Problemen auf „minderwertige" Völker und Menschengruppen und zum anderen die projektive Uberwindung aktueller Beengungen und Schwierigkeiten mit Hilfe immer neuer Eroberungen. Die im Rückblick immer scheinhafte Möglichkeit der großen, in ihrer totalitären Perfektion auch utopischen Lösung erlaubte es, auf Kompromisse ebenso zu verzichten wie auf die Setzung von Prioritäten. Politische Entscheidungen fallen im allgemeinen weder an einem Tag, noch werden sie geradlinig umgesetzt. Auch sind sie nicht ausschließlich positiv determiniert. Die Zusammenfassung meiner eigenen Forschungen zum Mord an den europäischen Juden fällt mir schwer. Sie führt notwendigerweise zu Vereinfachungen, die dem Thema unangemessen sind und - anders als im Rahmen eines Vortrags - nicht in der Diskussion relativiert werden können. Ich hoffe aber, Interesse für die eigenen und fremden Arbeiten zu wecken, auf die ich mich hier gestützt habe: Victor Klemperer, Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 19331941, Bd. 1, Aufbau-Verlag, Berlin 1995; Michael Wildt (Hg.), Die Judenpolitik des SD 1935 bis 1938. Eine Dokumentation, R.01denbourg Verlag, München 1995; Susanne Heim, „Deutschland muß ihnen ein Land ohne Zukunft sein". Die Zwangsemigration der Juden 1933 bis 1938, in: Arbeitsmigration und Flucht, Berlin-Göttingen 1993, S. 48-81; Götz Aly und Susanne Heim, Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/M 19942; Götz Aly, „Endlösung". Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden, S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 19962.

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„Judenumsiedlung"

Für das Ergebnis entscheidend bleibt, welche Optionen sich in den Probephasen von Versuch und Irrtum als tauglich oder untauglich erweisen. So gesehen läßt sich der Gang politischer Willensbildung - selbst unter den Bedingungen der NS-Diktatur als mehr oder weniger offener Prozeß fassen: Die Ubergänge zwischen Planungen, vorauseilender Praxis und Entscheidungen blieben fließend, die Grenzen zwischen den vielen beteiligten und interessierten Institutionen, zwischen den verschiedenen Ebenen der Verwaltungen durchlässig. Es gab nicht den einen Befehl Hitlers zum Massenmord; es gibt nur die falsche Annahme späterer Analytiker, die ungeheuerliche Tat müsse in einer völlig außergewöhnlichen Form beschlossen worden sein.

I. Judenpolitik und Sicherheitsdienst Schon in den „Richtlinien zur Judenfrage", die Heydrich am 21. September 1939 für den deutsch besetzten Teil Polens erließ, und mit denen er die Enteignung von etwa zwei Millionen Menschen und die Bildung eines „Judenreservats" bezweckte, hieß es: „Es ist selbstverständlich, daß die heranstehenden Aufgaben von hier in allen Einzelheiten nicht festgelegt werden können", vielmehr dienten die Richtlinien „gleichzeitig dem Zwecke, die Chefs der Einsatzgruppen zu praktischen Überlegungen anzuhalten". Jeder aktiv Beteiligte sollte seine konkreten Erfahrungen formulieren und zur Anpassung stets vorläufiger Handlungsanweisungen beitragen. Auch unterschied Heydrich stets zwischen einem „Nah-" und „Fernplan": So konnten die Praktiker der Judenpolitik in der Gewißheit handeln, daß ihre Improvisationen vorläufiger Bestandteil einer „geplanten Gesamtmaßnahme", einer „endgültigen Lösung" seien. Das hohe Maß an praktischer Freiheit zur Ausgestaltung des antijüdischen Staatsterrors galt selbstverständlich auch für die örtlichen Dienststellen der Gestapo und des Sicherheitsdienstes. Im zweiten Band der Aufzeichnungen Victor Klemperers wird die besondere Grausamkeit der Dresdner Verantwortlichen deutlich. Schon 1936 wird im Protokoll der alljährlichen „Schulungstagung der Judenreferenten" aus den regionalen Dienststellen lobend - etwa im Gegensatz zu München - hervorgehoben: „Abschnitt II Dresden: Juden werden hier nicht als nebensächlich, sondern als Hauptreferat betrachtet. Die Außenstellen arbeiten ebenfalls sehr gut, sind prima besetzt." Partiell pflegten die Funktionäre des Führerstaats einen offenen, kooperativen Führungsstil. So verzichteten die Dozenten der SS-Junkerschule in Bad Tölz auf allzu einfache Indoktrination, statt dessen forderten sie die intellektuelle, zweifelsohne destruktive Phantasie der einzelnen Absolventen heraus. Im Frühjahr 1937 lauteten die wahlweise zu bearbeitenden Themen für die Abschlußklausur: „Welche Wege würden Sie einschlagen, um die jüdische Versippung einer Person zu überprüfen und unter Beweis zu stellen", „Stellen Sie einen Reichsbericht Juden im Viehhandel' zusammen und machen Sie eigene Vorschläge zur Änderung der beschriebenen 61

Götz Aly

Übel" oder: „Wie stelle ich mir die Lösung der Judenfrage vor?" Alle diese Fragen waren damals noch unentschieden, aber sie beschäftigten diejenigen, die solche Themen formuliert hatten. Zu den Mitarbeitern der SD-Abteilung 11/112 („Beobachtung weltanschaulicher Gegner/Judentum") in der Berliner Zentrale des Sicherheitsdienstes gehörten früh Männer wie Adolf Eichmann, Herbert Hagen oder Theodor Dannecker. Sie wurden nach mehrfachen Reorganisationen des Sicherheitsapparats später zu Exponenten der Todesbürokratie; das bürokratische Kürzel lautete dann: R S H A I V B 4 . Schon im Mai 1934 warnte einer dieser SD-Männer, daß sich aus dem Fernziel der „restlosen Auswanderung" ein „Stocken der Judenabschiebung" und damit ein „Dauerzustand" ergeben könne. Um das zu verhindern gelte es, die Lebensmöglichkeiten der Juden einzuschränken, ihre Angst und das Gefühl der Ausweglosigkeit „auch mit den sonst abzulehnenden Straßenmethoden", also mit Hilfe eines staatlich dosierten „Volkszorns" zu verstärken. „Deutschland muß ihnen ein Land ohne Zukunft sein", so faßte der Referent die strategische Stoßrichtung zusammen. In den Tagebuchblättern Klemperers liest sich dasselbe Thema im Sommer 1935 so: „Daß neulich ein Gendarm von mir wissen wollte, seit wann ich ,eingebürgert' sei, schrieb ich wohl; sie müßten über die Nichtarier in ihrer Gemeinde Bescheid wissen. Ich rechne wahrhaftig damit, daß man mir das Häuschen einmal anzündet und mich totschlägt. Wir nahmen von Blumenfelds Abschied zwischen den Kisten in ihrer schon entleerten Wohnung . . . " Zur Tätigkeit der SD-Abteilung „Judentum" gehörte gleichfalls die Überwachung und Einschüchterung derjenigen „Arier", die dem Staatsantisemitismus Widerstand oder wenigstens Passivität entgegensetzten, etwa die „klerikal verhetzte, katholische Landbevölkerung" oder jene Protestanten, die halböffentlich, „mit Scham und Schmerz" feststellten, „daß es Gemeindekirchenräte gibt, die die Judentaufe verweigern". Die Herren des SD setzten alles daran, die jüdischen Organisationen in ihrer Bewegungsfreiheit zu hemmen. Sie steuerten die Auswahl der Vorsitzenden zur „Ausrichtung der Judenschaft"; sie trachteten nach der Errichtung eines „geistigen Ghettos", früh begannen sie damit, den Verfolgungsapparat (so wie später die Maschinerie der Vernichtung) aus dem erpreßten Vermögen der Opfer zu finanzieren „durch einen von jedem Juden zu entrichtenden Beitrag". Theodor Dannecker, der später die Deportation der französischen, griechischen und ungarischen Juden vor Ort organisierte, verlangte 1937 anläßlich einer Schulung der regional zuständigen Judenreferenten: „Keine Minute Ruhe geben, stets die führenden Juden durch Vermahnung in Atem halten." Adolf Eichmann setzte nach: „In den meisten Fällen werden Sie nur dann Erfolg haben, wenn Sie die Juden untereinander jüdisch-politisch ausspielen." Und dennoch war den Judenexperten des SD auch das nie genug. Es habe „bisher am Systematischen in der Arbeit gefehlt", beklagten sie 1937 intern, und es bestehe die Gefahr, bei den vielen Kleinigkeiten „die große Linie aus dem Auge zu verlieren". Sie monierten, daß weiterhin Staatsaufträge an jüdische Firmen ergingen, daß die antijüdische Propaganda der NSDAP nach 1935 „fast ganz eingeschlafen" sei und es 62

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den Parteirednern an einschlägiger Ausbildung fehle. Sie verstanden sich als Pioniere einer systematischen Segregation: Sei es die von ihnen inspirierte genaue, individuelle Erfassung der deutschen Juden mit Hilfe einer Volkszählung, sei es das gesetzliche Verbot von „Rassenschande" oder - lange bevor die Schweizer Regierung danach verlangte - die besondere Kennzeichnung jüdischer Pässe und schließlich die optische Stigmatisierung der Verfolgten selbst. Sie wurde vom SD schon 1938 einschließlich graphischer Entwürfe und Kostenvoranschläge ventiliert, also genau drei Jahre vor der amtlichen Einführung des Judensterns in Deutschland. Im besetzten Polen mußten die Juden bereits vom Herbst 1939 an weiße, besternte Armbinden tragen. Die Juden-Referenten des SD koordinierten, prüften, veränderten, milderten oder befürworteten Ideen zur Verschärfung antisemitischer Politik aus anderen Behörden, damit „baldmöglichst in die Behandlung der Judenfrage bei den einzelnen Ministerien eine einheitliche Linie kommt". Sie berichteten dem besorgten Wirtschaftsminister, wie gerade die verstärkte Diskriminierung zum Nachlassen des ausländischen Boykotts führe, weil sie die deutschen Juden - die sie insoweit als „Faustpfand" betrachteten - zwinge, sich aus existentiellen Gründen „bei den verantwortlichen Juden in Amerika für eine Änderung des Kurses einzusetzen". Im Jahr 1938 notierte Klemperer die individuellen Folgen des Staatsterrors: „Wieder ungemein verstärkter Antisemitismus. Über jüdische Vermögensabgabe schrieb ich Blumenfelds. Dazu Verbot einzelner Gewerbe, gelbe Kurkarten in Bädern. Auch tobt sich die Weltanschaug scientificer aus. In München tagt eine akademische Gesellschaft zur Erforschung des Judentums." Im Bericht des SD für dasselbe Jahr 1938 finden sich alle diese Einzelheiten vermerkt, begründet und absichtsvoll kommentiert: „Zusammenfassend kann festgestellt werden, daß die Judenschaft damit endgültig aus allen Teilen des deutschen Gemeinschaftslebens ausgeschlossen ist." Klemperer: „Allertiefste Einsamkeit". Es ist vor diesem Hintergrund nur konsequent, wenn Göring in seiner internen Rede vom 6. Dezember 1938 die „gute Seite" der November-Pogrome hervorhob, die er darin sah, daß „die ganze Auswanderungsfrage akut geworden ist, daß die Völker sehen: Der Jude kann nicht in Deutschland wohnen."

II. Krieg und Umsiedlung So sehr die antijüdische Politik schon seit 1933 auf die Vertreibung, parallel dazu auf soziale Abschnürung und auf die Zerstörung der bürgerlichen Existenz gerichtet war, so wurden die wichtigsten Voraussetzungen, die zum Holocaust führten, doch erst im Krieg geschaffen. Zunächst verbaute sich die deutsche Führung den außenpolitisch ohnehin problematischen, bis dahin favorisierten Weg der Zwangsauswanderung erst recht. An dessen Stelle traten Pläne zur Deportation der deutschen, dann der europäischen Juden an die tatsächliche oder nur gedachte Peripherie des rasch wachsenden deutschen Imperiums: Das Judenreservat Lublin, dann der Madagaskar63

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plan, bald darauf die „Ostraumlösung" - beabsichtigt war die Umsiedlung in den eisigen Nordosten der Sowjetunion - folgten innerhalb der nächsten 18 Monate. Gleichzeitig gerieten mit der Eroberung immer neuer Länder immmer mehr Juden unter deutsche Herrschaft. Schon nach der Eroberung und Zerteilung Polens zählten sie nicht mehr nach Hunderttausenden, sondern nach Millionen. Nach dem Krieg gegen Frankreich waren es in den von Deutschen besetzten Ländern Europas bereits vier Millionen, im Spätherbst 1940 notierte Eichmann unter dem Stichwort „Endlösung der Judenfrage" 5,8 Millionen, die aus dem „Lebensraum des deutschen Volkes" ausgesiedelt werden sollten. Der Begriff „Lebensraum" umfaßte mehr als die noch im Madagaskarplan genannten besetzten Länder: Gemeint waren damit alle kontinentaleuropäischen Juden westlich der deutsch-sowjetischen Interessengrenze einschließlich derjenigen, die in den französischen Kolonien Tunesien, Algerien und Marokko lebten. Mit Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion im Sommer 1941 zählte Eichmann 11 Millionen Juden in ganz Europa, die er nunmehr für die „Endlösung" in Betracht zog. Weit über das in den ersten sechs Jahren der nationalsozialistischen Diktatur bereits erreichte Maß hinaus beförderte der Krieg auch die Atmosphäre des Unöffentlichen, atomisierte die Deutschen, zerstörte ihre durchaus vorhandenen Bindungen an religiöse und juridische Traditionen in noch stärkerem Maß. Da auch außenpolitische Rücksichten kaum noch zählten, entstand eine Situation, die in der Sprache der Täter „einmalige Gelegenheit" genannt wurde. Es sei erforderlich, „die Aktion" jetzt durchzuführen, so rechtfertigte ein Vertrauter Heydrichs die für das Jahr 1941 geplante Massenabschiebung von einer Million Menschen aus dem annektierten Westpolen, „weil sich während des Krieges noch die Möglichkeit biete, ohne Rücksicht auf die Stimmung der Weltöffentlichkeit verhältnismäßig rigoros vorzugehen". Mit demselben Argument hatte Hitler die Ermordung deutscher Geisteskranker schon 1935 auf den Zeitpunkt eines möglichen Krieges verschoben. Schließlich notierte Goebbels im März 1942 zum Betrieb der ersten Gaskammern: „Von den Juden selbst bleibt nicht mehr viel übrig. Gott sei Dank haben wir jetzt während des Krieges eine ganze Reihe von Möglichkeiten, die uns im Frieden verwehrt sind, die müssen wir ausnutzen." In den ersten beiden Jahren des Zweiten Weltkriegs wurden die meisten europäischen Juden auch Opfer jener Diskriminierungspolitik, die zuvor schon in Deutschland und Österreich erprobt worden war. Im besetzten Polen, Holland und Frankreich, in den abhängigen Staaten Slowakei, Rumänien und Ungarn wurden die jüdischen Minderheiten nach deutschem Vorbild enteignet, ihrer politischen und sozialen Rechte beraubt. Darüber hinaus aber wurden die Juden zusätzlich zu Opfern jenes übergreifenden politischen Vorhabens, das die Um- und Aussiedlung, die „ethnische Entflechtung" vieler Millionen Menschen bezweckte und dessen Verwirklichung bald in weiten Teilen des deutsch beherrschten Europa begann. In seiner Reichstagsrede vom 6. Oktober 1939 verkündete Hitler die neuen Prinzipien „einer weitschauenden Ordnung des europäischen Lebens". Die „wichtigste Aufgabe" sah er darin, „eine neue Ordnung der ethnographischen Verhältnis64

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se" zu schaffen, „das heißt, eine Umsiedlung der Nationalitäten, so daß sich am Abschluß der Entwicklung bessere Trennungslinien ergeben, als es heute der Fall ist". Weiter heißt es in der Rede: „In diesem Zusammenhang" sei auch „der Versuch einer Ordnung und Regelung des jüdischen Problems" zu unternehmen. Neben seiner Funktion als „Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei" erhielt Heinrich Himmler am folgenden Tag eine zweite, weniger bekannte Aufgabe: die des „Reichskommissars für die Festigung deutschen Volkstums" (RKF). Als solcher sorgte er in den folgenden Jahren mit Hilfe mehrerer tausend Mitarbeiter und einem Dutzend neugeschaffener Institutionen - etwa der Volksdeutschen Mittelstelle, der Haupttreuhandstelle Ost, der Deutschen Umsiedlungs- und Treuhandgesellschaft m.b.H., dem Stabshauptamt des R K F - für das „Heim-ins-Reich" von rund 600 000 ethnischen, sogenannten „Volks"-Deutschen. Sie stammten aus dem Baltikum oder aus Südtirol, aus Wolhynien oder Bessarabien, aus der Bukowina, der Dobrudscha und aus anderen Regionen. Anders als Hitlers Rede vermuten läßt, folgten die Umsiedlungen nicht primär ethnopolitischen Absichten, sondern sie hatten sich eher ungeplant - und ohne jede Vorbereitung - aus denjenigen militärischen und kriegswirtschaftlichen Erwägungen ergeben, die zu den deutsch-italienischen wie den deutsch-sowjetischen Bündnisverträgen geführt hatten. Mögen viele der deutschstämmigen Zwangsumsiedler subjektiv noch so sehr mit dem Dritten Reich sympathisiert haben, so blieben sie doch Objekte der Machtpolitik. Sie wurden aus übergeordneten machtpolitischen Gesichtspunkten heraus binnen weniger Wochen entwurzelt, verschoben, einer „modernen Völkerwanderung" unterworfen, wie Himmler den staatlichen Gewaltakt der Zwangsumsiedlung gerne umschrieb. Ihren Besitz von insgesamt mehr als drei Milliarden Reichsmark verrechnete der Fiskus des Deutschen Reiches - zum Vorteil der Außenhandelsbilanz - mit der Sowjetunion, mit Rumänien wie mit Italien gegen Erdöl- und Lebensmittellieferungen. Die Umsiedler ihrerseits sollten die Wohnungen, H ö f e und Betriebe, das Handwerksgerät, das Vieh und den Hausrat derjenigen Polen oder Juden erhalten, die vom Dezember 1939 an systematisch enteignet, vertrieben und ghettoisiert wurden. „Naturalrestitution" nannte man das Verfahren. D a s Ineinandergreifen der Volksdeutschen-Umsiedlung und des Deportierens zeigte sich exemplarisch in Lodz, das zum bevölkerungspolitischen Umschlag- und Lagerplatz wurde. Neben dem Ghetto, in dem 160 000 Juden eingeschlossen wurden, bestanden dort auch stets überfüllte Abschiebelager für etwa 30 000 Polen und Ansiedlerlager für ebensoviele Volksdeutsche. Desgleichen wird der Zusammenhang in den Geschäftsverteilungsplänen und den Karrieren der Organisatoren sichtbar. Wie Himmler hatte auch Reinhard Heydrich eine Doppelfunktion inne. Seine spezielle Zuständigkeit für „die Judenfrage" ist bekannt und vielfach beschrieben. Weniger genau sind seine doppelten Zuständigkeiten für die ihm unterstehende Einwandererzentralstelle (EWZ) und die Umwandererzentralstelle (UWZ) untersucht. Heydrich wirkte einerseits am Heim-ins-Reich der ethnischen Deutschen aus Ost- und Südosteuropa mit, und andererseits organisierte er die zu ihrer Ansiedlung erforderlichen „Abschiebungen". Deshalb schuf er im Dezember 1939 Eichmanns 65

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Referat IVD4. Es war für die Umsiedlung von Polen, später von Serben, Kroaten und Slowenen genauso zuständig wie für die Deportation der Juden: Das Referat trug 1940 die sehr allgemeine Bezeichnung „Auswanderungs- und Räumungsangelegenheiten". Einem Mann wie Oswald Pohl unterstand nicht nur die gesamte KZ-Verwaltung, gleichzeitig sah er sich mit allen Stockungen der gesamten Umsiedlungspolitik konfrontiert - in seiner Eigenschaft als durchaus aktiver Aufsichtsratsvorsitzender der Deutschen Ansiedlungsgesellschaft. Hermann Behrends war 1936/37 Vorgesetzter Eichmanns im SD gewesen, 1939/41 organisierte er als Stellvertretender Leiter der Volksdeutschen Mittelstelle das „Heim-ins-Reich" der auslandsdeutschen Minderheiten. Es sind keine biographischen Zufälle, wenn die Personen, die monatelang für die Vertreibung der Polen verantwortlich zeichneten, später die Vernichtung der europäischen Juden an zentralen Stellen organisierten. Gut bekannt ist, daß der Leiter der Umwandererzentralstelle Litzmannstadt (= Lodz), Hermann Krumey, 1944 zusammen mit Eichmann nach Budapest reiste, um dort die Deportation der ungarischen Juden nach Auschwitz ins Werk zu setzen. Seit dem Dezember 1941 gehörte zum „Aufgabenbereich der Umwandererzentralstelle" eben beides: Die Umsiedlung der Polen und die „Durchführung von Zweckmaßnahmen gegen Juden und Asoziale", wie einer der dort beschäftigten SS-Männer die Massenvergasungen in Chelmno bezeichnete. Wenn in der deutschen Verwaltung vom Herbst 1941 an von „Judenaussiedlung", „-umsiedlung" und „-evakuierung" gesprochen wurde und dann Mord gemeint war, so ist das nicht nur als Tarnung zu verstehen, sondern auch als Hinweis auf die Genesis des Programms. Im September 1939 war Polen dreigeteilt worden: Deutschland annektierte den westlichen Teil, die Sowjetunion den östlichen, in der Mitte - zwischen Warschau, Krakau, Radom und Lublin wurde eine deutsch besetzte Zone geschaffen - das „Generalgouvernement" unter Führung von Hans Frank. Ursprüglich sollten dorthin alle Juden und etwa die Hälfte der Polen aus dem Westen deportiert werden. Insgesamt wollte man mehr als fünf Millionen, zuvor all ihrer Subsistenzmittel beraubte Menschen in ein wirtschaftlich amputiertes Gebiet verschleppen, das bereits zwölf Millionen Einwohner zählte und etwa so groß war wie Bayern und Baden-Württemberg zusammen.

III. Ethnische Dominopolitik Doch betraf die Politik des Umsiedeins die Juden in ihrer Gesamtheit ungleich härter als die Polen. Nicht nur, daß sie von Anfang an kollektiv enteignet wurden, was bei den Polen in aller Regel individuell und erst dann geschah, wenn sie tatsächlich zugunsten einer deutschstämmigen Umsiedlerfamilie vertrieben wurden - auch im Zielgebiet der Vertreibung, also im Generalgouvernement, mußten die Juden ihrerseits den polnischen Vertriebenen weichen. Wo immer in den folgenden Monaten 66

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beim Heim-ins-Reich von mehr als einer halben Million Volksdeutschen Schwierigkeiten auftraten, Häuser, Geld, Hausrat und Arbeitsplätze für „rückgesiedelte" Deutsche, für „abgesiedelte" Polen fehlten, „ausgetauschte" Rumänen unterzubringen waren, wurden die Angehörigen der jüdischen Minderheit Europas noch schneller beraubt, zusammengepreßt, an die Peripherie der jeweiligen Städte und Regionen gedrängt. Es verhielt sich exakt so, wie die ungarische Zeitung „Magyarorszäg" schon am 24. Oktober 1939 kommentierte: Deutschland könne mit Hilfe dieser Umsiedlungsaktionen und durch den Vermögenstransfer der Umsiedler „auf längere Zeit die Beschaffung der Lebensmittel und Rohprodukte sichern" und diese Umsiedler ohne größeren finanziellen Aufwand in Polen ansiedeln, „die dort das weite Gebiet übernehmen, das bisher meist in jüdischen Händen war". Ursprünglich sollte die Region Lodz nicht dem Deutschen Reich zugeschlagen werden, schließlich lebten dort 1939 mehr als 500 000 Polen und etwa 300 000 Juden. Die Annexion geschah - nachträglich am 9. November 1939 - allein unter dem Gesichtspunkt der „Baltenansiedlung", denn für diese Umsiedler wurde aufgrund ihrer Urbanen Herkunft neben Posen eine zweite Großstadt benötigt. Aus ganz anderen Motiven, wegen der dortigen Kohlegruben, wurde nachträglich auch die Region Sosnowitz/Dombrowa im Osten Oberschlesiens einverleibt. Hier lebten etwa 70 000 Juden. War Heydrich am 21. September 1939 noch davon ausgegangen, er werde etwa 180 000 Juden aus den neu annektierten Gebieten ins Generalgouvernement zu deportieren haben, so waren es drei Wochen später - wegen der zusätzlichen Annexionen, deren Gründe nichts mit der Judenpolitik zu tun hatten - dreimal soviele: insgesamt 550 000. Gleichzeitig war das Generalgouvernement, wohin die Deportierten gebracht werden sollten, verkleinert und dazu weit überproportional wirtschaftlich geschwächt worden. Damit nicht genug: Gingen die Organisatoren der Massendeportation ursprünglich davon aus, Zentralpolen sei ein „Abschiebeterritorium", das die deutschen Besatzer lediglich polizeilich kontrollieren, aber ansonsten „sich selbst überlassen" wollten, so änderte sich das rasch. Schon im Frühjahr 1940 verbot Göring - in seiner Funktion als „Beauftragter für den Vierjahresplan" - weitere Deportationen über den bis dahin genehmigten Rahmen hinaus. Das geschah am 12. Februar 1940 aus wirtschaftlichen und militärischen Rücksichten, auf Wunsch des in Krakau residierenden Generalgouverneurs Frank, jedoch gegen den Willen des so allmächtig erscheinenden „Reichsführers SS". Früh schon entstand eine Patt-Situation, in der sich verschiedene Besatzungs- und Umsiedlungskonzeptionen gegenseitig blockierten. Schon in den ersten konkreten Schritten zur Bildung des Ghettos in Lodz findet sich der Zusammenhang zur Umsiedlung der Baltendeutschen. So schrieb der Vertreter des Reichskommissars für die Festigung deutschen Volkstums in Posen im Januar 1940 an seinen Kollegen von der UWZ: „Die für Lodz bestimmten Baltendeutschen sind bereits auf dem Weg nach Posen, so daß in einigen Tagen die Wohnungen in Lodz zur Verfügung stehen müssen. Die Evakuierung der Judenwohnungen und die Überführung der Wohnungsbesitzer in das (noch nicht geschlossene, 67

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G.A.) Ghetto muß daher sofort erfolgen." Anfang März meldete die Gestapo aus Lodz: „Im Morgengrauen des 2. März wurde ein Randgebiet des Ghettos umstellt. Die dort wohnenden Polen wurden festgenommen, nach Uberprüfung durch die Kripo und Stapo zum Teil den Standgerichten zugeführt, zum Teil von den städtischen Behörden ihren neuen Wohngebieten im Polenviertel zugeleitet. Der Rest dieser Personen wird am 4.3. durch uns evakuiert werden. In das gesamte durch diese Aktion geräumte Wohngebiet werden am Montag den 4.3. Juden aus dem Stadtzentrum eingewiesen, so daß ein erheblicher Wohnraum zur Einweisung von Balten entsteht." Die Beispiele zeigen exemplarisch, wie das Heim-ins-Reich der Volksdeutschen, die Vertreibung der Polen und die Judenpolitik sich wechselseitig bedingten. So hatte Eichmann Mitte Oktober 1939 die bereits begonnene Verschleppung der Juden aus Wien, Kattowitz und Mährisch-Ostrau abbrechen müssen, weil die Ansiedlung der Baltendeutschen und die dafür notwendigen Vertreibungen plötzlich Vorrang erhielten. Die Deportation von etwa 1000 Juden aus Stettin in die Gegend von Lublin, die am 12./13. Februar 1940 gegen den Protest der deutschen Besatzungsbehörden vollzogen wurde, stand dagegen in diesem neuen Kontext: Himmler hatte auf Wunsch der baltendeutschen Führung angeordnet, Wohnungen für diejenigen Umsiedler aus Mitau, Riga und Reval freizumachen, die „seegebundenen Berufen" nachgingen. Das Projekt zur Deportation der deutschen und der westpolnischen Juden in ein „Judenreservat Lublin" scheiterte aus den bereits angedeuteten Gründen rasch. Den vorläufigen Ausweg sahen die Umsiedlungspraktiker in der Bildung des Ghettos Lodz. Sie riegelten es in der Nacht vom 30. April zum 1. Mai 1940 ab. Die Stadtverwaltung erhielt die „feste Zusage", daß bis zum 1. Oktober 1940, also binnen fünf Monaten, „die Juden aus dem Litzmannstädter Ghetto vollständig beseitigt" wären. Aber wie? Schon am 24. Januar 1940 hatte Goebbels in seinem Tagebuch notiert: „Himmler verschiebt augenblicklich die Völker. Nicht immer mit Erfolg." Die Schwierigkeiten des Umsiedeins und der damit eng verknüpften Deportation der Juden ergaben sich gerade nicht aus einer einheitlichen Strategie, sondern aus den divergenten Interessen, die in unterschiedlichen Machtzentren des damaligen Deutschland verfolgt wurden. Frank forderte nicht nur den Stopp der Deportationen, da sie seinen ehrgeizigen Plan zur Schaffung einer Musterkolonie („Nebenland des Reiches") zunichte machen mußten, sondern bald schon forderte er auch die Deportation der eineinhalb Millionen Juden, die im Generalgouvernement lebten. Er tat das aus rassistischen wie aus bevölkerungsökonmischen Gründen, da seine Wirtschaftsfachleute das Land schon in ihren ersten Stellungnahmen für „überbevölkert" erklärt hatten. Aus solchen Gegensätzen folgte aber niemals der Kompromiß, vielmehr machten sich die Beteiligten daran, ihre Konflikte mit Hilfe immer größerer, weitgespannterer Pläne projektiv zu überwinden. So entstand Ende Mai 1940, noch vor der Kapitulation Frankreichs, das Projekt der „insularen Lösung Madagaskar". Rückblickend erscheint dieses Vorhaben als völlig abwegig. Deshalb wird es nicht selten als Metapher für den angeblich schon fest geplanten Völkermord interpretiert. 68

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Bedenkt man aber, daß die „Achsenmächte" in Gestalt italienischer Soldaten längst schon in Addis Abeba und Mogadischu standen, daß Algerien, Marokko und Tunesien zum geschlagenen Frankreich gehörten und das deutsche Außenministerium alles daransetzte, das faschistische Spanien zum Kriegseintritt zu bewegen, dann wird eher klar, warum sich Hitler im Sommer 1940 bereits mit den personellen Alternativen zur Besetzung des künftigen Gouverneursposten in einem noch fiktiven „Deutsch-Ostafrika" beschäftigte, warum die bereits begonnene Ummauerung des Warschauer Ghettos unter Hinweis auf den Madagaskarplan abgebrochen wurde, warum sich einige der Mitarbeiter Eichmanns zu Tropenkursen meldeten und bereits gegen Malaria geimpft wurden. Das Projekt scheiterte nach wenigen Wochen an der Überlegenheit der britischen Mittelmeerflotte. Und eben deshalb wurde das Warschauer Ghetto im November 1940 endgültig abgeriegelt - nachdem sich ein weiterer Umsiedlungsplan als unrealisierbar erwiesen hatte. Auch dieses Ghetto sollte, wie das in Lodz, lediglich für kurze Zeit bestehen. Allerdings blieb völlig unklar, wie lange.

IV. „Liquidierung des Judentums?" Da der Reichsfinanzminister damals befürchtete, der Augenblick rücke näher, „in dem der Unterhalt der Juden der öffentlichen Hand zur Last fällt", beauftragte er den Reichsrechnungshof damit, die Ghettoverwaltung in Lodz zu überprüfen. Die Revisoren stellten in ihrem Abschlußbericht vom Januar 1941 fest: „Die zuständigen örtlichen deutschen Behörden waren sich darüber im klaren, daß das Problem der Befriedung und Eindeutschung sowie des Aufbaus des Wirtschaftslebens der Stadt nur im Zusammenhang mit der restlosen Aussiedlung oder vorübergehend auch mit der Isolierung des Judentums gelöst werden konnte." Darüber, wie sich die Verhältnisse weiterentwickeln würden, könne „Endgültiges nicht gesagt werden". Nur soviel galt den Rechnungsprüfern als sicher: Der Unterhalt der Lodzer Juden erfordere, berechnet auf der Basis von Gefängniskost, mindestens 2,5 Millionen Reichsmark pro Monat. Um diesen Betrag zu vermindern, setzten sie auf die angebliche Möglichkeit, „daß ein größerer Teil der arbeitsunfähigen Ghettobewohner im Frühjahr 1941 in das Generalgouvernement evakuiert wird" und darauf, die Arbeitsfähigen - etwa ein Viertel von 160 000 - mit Zwangsarbeit zu versehen. Während die Gutachter des Reichsrechnungshofs also auf die Abschiebung in Richtung Warschau setzten und ein fiskalisches Problem einfach aus ihrem Zuständigkeitsbereich verbannen wollten, geschah in Warschau ähnliches. Dort erhielt der Leiter der „Dienststelle Generalgouvernement" des Reichskuratoriums für Wirtschaftlichkeit (RKW) im Januar 1941 den Auftrag, ein betriebswirtschaftliches Gutachten über das dortige Ghetto zu erstatten. Auch er kam zu dem Schluß, daß die etwa 400 000 Ghettoisierten zum puren Überleben einen monatlichen Zuschuß von etwa 4,6 Millionen Reichsmark benötigten, sofern man das Ghetto nicht „als Mittel"

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ansähe, „das jüdische Volkstum zu liquidieren". Wollte man die Belastung der öffentlichen Kassen vermeiden, so konnte man nach Ansicht des Rationalisierungsfachmanns drei Wege einzeln oder auch parallel einschlagen: Einmal könne man die bessere „Ausnutzung der jüdischen Arbeitskraft" versuchen, was Investitionsmittel und zum zweiten „eine gewisse Lockerung" der Absperrung voraussetze - oder aber: „Man läßt eine Unterversorgung eintreten ohne Rücksicht auf die sich ergebenden Folgen." Die kühl-kalkulatorischen Formulierungen beider Gutachten sprechen für sich, praktisch bewirkten sie die bis dahin nicht gängige Unterscheidung zwischen arbeits- und nichtarbeitsfähigen Juden. Sie wurde für die Anfangsphase der späteren Massenmorde in den Gaskammern charakteristisch. Und so gesehen erscheint es als spezifische Replik auf die haushaltstechnisch begründeten Erwägungen zur „Unterversorgung" Hunderttausender Menschen, wenn Eichmanns Verbindungsmann in Posen, der Verwaltungsjurist Rolf Heinz Höppner, sechs Monate später schrieb: „Es ist ernsthaft zu erwägen, ob es nicht die humanste Lösung ist, die Juden, soweit sie nicht arbeitseinsatzfähig sind, durch irgendein schnellwirkendes Mittel zu erledigen. Jedenfalls wäre das angenehmer, als sie verhungern zu lassen." Noch im Zeichen des Madagaskarplans war im Sommer 1940 eine zweite Umsiedlungswelle vorbereitet worden: Die Deutschen aus Litauen, aus Bessarabien und aus der Nordbukowina wurden auf Grund weiterer, aber durchaus gemeinsam verabredeter sowjetischer Annexionen zwischen dem Oktober 1940 und dem März 1941 „heim ins Reich" geholt, ebenso ein Teil der Rumäniendeutschen. Auch sie mußten ihre Heimat aus rein machtpolitischen Erwägungen verlassen: Es handelte sich um ein Zugeständnis an das rohstofftechnisch wichtige Rumänien, das mit deutschem Zutun einen erheblichen Teil seiner Gebiete an die Sowjetunion verlor und gleichzeitig - ebenfalls auf deutsches Betreiben - sowohl die Süddobrudscha an Bulgarien als auch Nordsiebenbürgen an Ungarn abtreten mußte. Die Umsiedlung eines Teils der deutschstämmigen Bevölkerung sollte die Aufnahme rumänischer Flüchtlinge und Zwangsumsiedler erleichtern. Die Neuansiedlung war konzeptionell immer auch mit ökonomischer Rationalisierung verbunden. Aus dieser Logik heraus mußten für eine deutschstämmige Familie zwei, oft drei „fremdvölkische", so der terminus technicus, weichen. Darüber hinaus wollte die Wehrmacht riesige Truppenübungsplätze anlegen. Das Landwirtschaftsministerium wollte aus den ländlichen Armutsregionen des Reiches mindestens 300 000 Kleinbauernfamilien — also etwa eineinhalb Millionen Menschen in den neu eroberten Osten „verpflanzen" und ihnen dort 20-Hektar-Höfe zuweisen. Sie sollten sich aus den süd- und südwestdeutschen Erbteilungsgebieten rekrutieren. Für den Gau Mainfranken hatten die Statistiker beispielsweise berechnet, daß in der Rhön 84,1 Prozent der landwirtschaftlichen Betriebe geschlossen und die Felder dann zu wirtschaftlicheren Betriebseinheiten zusammengelegt werden müßten. Aus diesen ganz unterschiedlichen Projekten errechnete sich schon im Winter 1940/41 ein „Vertreibungssoll" von mindestens fünf Millionen Menschen. Die Mit70

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arbeiter der Umwandererzentralstelle blieben weit dahinter zurück. Tatsächlich hatte das Eichmannsche Referat „Räumungsangelegenheiten" bis zum März 1941 „nur" 408.525 Menschen deportiert. Infolgedessen saßen schon im Winter 1940/41 eine viertel Million Volksdeutscher „Heimkehrer" in 1500 Umsiedlerlagern fest, die in den östlichen und südlichen Regionen des Deutschen Reiches eingerichtet werden mußten. Auch konnte der Vertrag mit Italien, in dem die Umsiedlung von 200 000 Südtirolern vereinbart worden war, deshalb nicht, beziehungsweise nur sehr schleppend erfüllt werden. So entstand ein ständig zunehmender - von Himmler und seinen Mitarbeitern selbst verursachter - Druck zur Entwicklung immer umfassenderer Enteignungs- und Deportationspläne.

V. Die Einübung des

Mordens

Bereits im Herbst 1939 und im folgenden Winter wurden in Pommern, Westpreußen und im besetzten Polen 10 000 bis 15 000 Geisteskranke ermordet. Das geschah nicht im Rahmen der sogenannten „Euthanasie", der „Aktion T4", die erst etwas später begann, vielmehr wurden diese Anstaltspatienten von zwei Kommandos der SS entweder erschossen oder in mobilen Gaskammern umgebracht. Der Hintergrund läßt sich eindeutig dokumentieren: Zwischen Oktober und Dezember 1939 trafen innerhalb von nur sechs Wochen 60 000 Deutschbalten in den Häfen Danzig, Stettin und Swinemünde ein, ihnen folgten - im Januar und Februar 1940 - 120 000 Wolhynien- und Galiziendeutsche per Pferdetreck und Eisenbahn. In diesem Zusammenhang sprachen am 29. Oktober 1939 Funktionäre der Einwandererzentralstelle, die ja Teil des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) war, in Gdingen über Räumung von Heil- und Pflegeanstalten zum Zweck der „Versorgung der kranken und gebrechlichen Baltendeutschen". Allein in Danzig mußten sofort 1000 Krankenhausbetten in Beschlag genommen werden. Vorsorglich sollten deshalb, so wurde besprochen, auch im Umkreis der pommerschen Häfen, wo die nächsten Umsiedlerschiffe erwartet würden, Irrenanstalten „freigemacht" und für die „pflegebedürftigen Personen" bereitgestellt werden, die mit diesen Transporten eintreffen würden. Zusammenfassend heißt es in einem Fernschreiben an das Reichssicherheitshauptamt: „Die Frage des Antransportes der Gebrechlichen in den Unterkünften in Pommern und Mecklenburg wird von der Zentralstelle Gotenhafen (d.i. Gdingen/Gdynia) aus bearbeitet." Vier Tage später, am 3. November, organisierte dieselbe Stelle bereits den Abtransport polnischer Geisteskranker in Westpreußen: „Es handelt sich um 700 Geisteskranke, die von der Irrenanstalt Schwetz in die Irrenanstalt Konradstein bei Pr. Stargard umgeleitet werden sollen. Die dadurch frei werdenden Unterkünfte sollen am Sonnabend, dem 4.11.1939, durch 200 gebrechliche Baltendeutsche aus Neustadt (Westpr.) und 500 aus Danzig neu belegt werden." Konradstein war eines der Zentren, wo die Männer des Sonderkommandos „Kurt Eimann" polnische und pommersche Psychiatriepatienten erschossen. 71

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Im Januar 1940 ermordeten SS-Einheiten 500 Patienten der Anstalt Chelm in der Nähe der neuen deutsch-sowjetischen Grenze, um die Anstalt als Durchgangslager für Wolhyniendeutsche nutzbar zu machen. Zur selben Zeit wurden Hunderte von Patienten der Anstalt Tiegenhof bei Gnesen in den Gaswagen ermordet, die in den Kraftfahrzeugwerkstätten des KZs Sachsenhausen für diesen Zweck vorbereitet worden waren - den Aussiedlungsstab Gnesen leitete damals Dieter Wisliceny, ein enger Mitarbeiter Eichmanns. Im Sommer 1940 wurden im Hinblick auf den Madagaskarplan und auf Veranlassung des Reichssicherheitshauptamts auch alle geisteskranken deutschen Juden, die als Patienten in psychiatrischen Kliniken untergebracht waren, kollektiv ermordet; anders als die „arischen" Patienten, die nur teilweise und aufgrund, wenn auch oberflächlicher, diagnostischer Kriterien als „lebensunwert" bestimmt wurden. Nachdem Himmler die Umsiedlung der 50 000 Litauendeutschen wegen der Überlastung seines Umsiedlungsapparats bereits zweimal hatte verschieben müssen, schien sie ihm im Mai 1941 in greifbare Nähe gerückt. Die Auffanglager sollten in Ost- und Westpreußen vorbereitet werden. In der Zeit vom 21. Mai bis 8. Juni wurden in der ostpreußischen Heil- und Pflegeanstalt Soldau 1558 deutsche und etwa 400 polnische Geisteskranke getötet, die aus einem größeren Einzugsgebiet dort hingeschafft worden waren. Die Anstalt diente später als zentrales Durchgangslager für litauendeutsche Umsiedler. Die SS-Einheit, die damals schon Massenmorde mit Hilfe der Gaswagen organisierte und den Umsiedlungsstäben zugeordnet war, nannte sich Sonderkommando Lange. Es war jenes Kommando, das vom Dezember 1941 an das erste Vernichtungslager betrieb - Chelmno (Kulmhof) in der Nähe von Lodz. Wie solche praktischen Erfahrungen das weitere Vorgehen beeinflußten, läßt sich an einem winzigen Beispiel zeigen. Nachdem im Juni 1940 - auf Grund von Protesten Franks - die Deportation von „Krüppeln, Gebrechlichen, Kranken, Transportunfähigen usw." aus der Region Posen/Lodz ins Generalgouvernement verboten worden war, beschwerten sich bald die Landräte des Warthegaus: Die Zurückgebliebenen würden „der öffentlichen Fürsorge zur Last fallen" und so „auf die Dauer unmögliche" Zustände eintreten. Eichmanns örtlicher Referent Höppner, der wußte, daß er die Kranken und Gebrechlichen nicht aussiedeln durfte, notiert auf den Rand des Berichts: „U.(nter) U.(mständen) müssen gegen transportunfähige Personen andere Maßnahmen ergriffen werden." Die Marginalie trägt das Datum vom 22. Oktober 1940. Bereits am 27., 28. und 30. Oktober wurden 290 alte und kranke Juden aus Kaiisch unter dem Vorwand, sie würden „zur Heilung in ein Sanatorium" gebracht, in einen nahegelegenen Wald verschleppt und erschossen. Zum selben Zeitpunkt begannen die Umsiedlungsbehörden im Süden Deutschlands kirchliche Heil- und Pflegeanstalten zu beschlagnahmen, um dort einige Zehntausend Umsiedler aus Südtirol und aus Südosteuropa vorübergehend unterzubringen. Die Vermerke, Briefe und Fernschreiben der Organisatoren sprechen eine eindeutige Sprache - zwei Beispiele seien genannt: Im September 1940 berichtete der Würzburger Beauftragte der Volksdeutschen 72

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Mittelstelle an seine Berliner Vorgesetzten: „Zur Unterbringung der für den Gau Mainfranken vorgesehenen Volksdeutschen aus Bessarabien habe ich u.a. von der Nervenheilanstalt Werneck mehrere Häuserkomplexe beschlagnahmt und durch Umsiedlung der Geisteskranken die Freimachung durchgeführt." Uber die Anstalt Attl bei Wasserburg am Inn vermerkte ein führender Umsiedlungsexperte der SS: „Dieses Kloster gehört Laienbrüdern, die bisher unheilbare Idioten in Ihrer Anstalt untergebracht hatten. Ein Teil dieser Belegschaft ist bereits,abgereist'. Der Kreisleiter hat diese Anstalt dem Reichsführer SS zur Aufnahme von Rückwanderern zur Verfügung gestellt." Schon diese ersten Massenmorde standen in engem Zusammenhang mit der allgemeinen Umsiedlungspolitik. Ein konkreter Befehl, die Geisteskranken zu ermorden, lag nicht vor. Offenbar handelten die Beteiligten in stiller Ubereinkunft, für die es lediglich einer vagen Zweckmäßigkeitsvorgabe bedurfte. Insgesamt wurden bis zum Herbst 1941 zur „Platzschaffung für Volksdeutsche Umsiedler" bereits mehr als 30 000 Menschen ermordet. Bevor die Funktionäre des Umsiedeins die Lager zur Vernichtung der Juden Europas errichteten, hatten sie zwei Jahre lang den Massenmord erprobt und die Sicherheit gewonnen, daß die vielen beteiligten deutsche Beamten und auch die deutsche Öffentlichkeit solche Verfahrensweisen zuließen.

VI. Zwischenlösung und Radikalisierung Im November 1940 hatte sich Himmler mit seiner Politik der „völkischen Flurbereinigung" offenkundig in eine Sackgasse manövriert. Statt der angekündigten ethnischen und ökonomischen Neuordnung, statt der damit verbundenen raschen „Abschiebung" von Millionen „Fremdvölkischen", entwickelte sich die Realität ganz anders. Im Spätherbst 1940 saßen Hunderttausende von Menschen in Umsiedlerlagern fest oder waren in Ghettos eingepfercht, ihrer Produktionsmittel beraubt. Sie mußten - je nachdem, ob sie Juden, Polen oder Volksdeutsche waren - hungernd, kümmerlich oder ausreichend, in jedem Fall aber unproduktiv am Leben erhalten werden: mitten im Krieg, bei äußerster Knappheit von Lebensmitteln, fehlendem Wohnraum und Mangel an Arbeitskräften. Am 10. Dezember 1940 versuchte Himmler dieses Fiasko vor den Reichs- und Gauleitern mit seinem Vortrag „Über Siedlung" zu rechtfertigen. Die Details müssen hier ausgelassen werden, sie bestätigen nur die bereits gezeigte enge Verquickung aller Umsiedlungsvorhaben. Entscheidend ist das letzte Blatt der überlieferten Redenotizen. Da sich Frank konsequent weigerte, deportierte Polen aufzunehmen, kündigte Himmler für das Generalgouvernement an: „Judenaussiedlung und damit noch mehr Platz für Polen." Er versprach sich und seinen Zuhörern also, daß die Deportation der eineinhalb Millionen Juden aus Zentralpolen Platz zur Vertreibung polnischer Bauern aus dem annektierten Westpolen und dadurch Raum zur Ansiedlung 73

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der (hauptsächlich aus Südosteuropa stammenden) deutschstämmigen Umsiedler schaffen werde. Himmler wird, als er diese Absicht vortrug, bereits an den Krieg gegen die Sowjetunion gedacht und den Sieg vorausgesetzt haben. Kurzfristig aber mußte er auf das Mittel der Ghettoisierung zurückgreifen, die er immer als Provisorium, niemals als Dauerzustand, sondern als eine Art massenhafter Abschiebehaft verstand. Bereits am 20. Januar 1941 kündigte der Leiter der Abteilung Umsiedlung in Warschau an, was dann in den folgenden Wochen geschah: Die „Umsiedlung" weiterer 72 000 Juden in das Warschauer Ghetto, da im westlichen Teil des Distrikts „Platz für 62 000 Polen (aus dem annektierten Westen abzuschiebende Umsiedler, G.A.) geschaffen werden" müsse, die ihrerseits den Deutschen aus Bessarabien, der Bukowina und Dobrudscha zu weichen hatten. Die Logik der ethnischen Dominopolitik bewirkte die weitere Verelendung und Ghettoisierung der polnischen Juden. Am Ende einer langen Umsiedlungskette, die ihren Anfang nicht in der „Judenfrage" genommen hatte, sondern 1939 von den deutsch-sowjetischen Verträgen und von den militärischen wie wirtschaftlichen Projekten zur Neuordnung Europas ausgelöst worden war, wurden in den ersten Monaten des Jahres 1941 Zehntausende Juden zusätzlich zwischen die Ghettomauern Warschaus gepreßt. Sie mußten, von ihrer eigenen Not abgesehen, die Überlebensmöglichkeiten der dort schon Eingesperrten weiter minimieren. Am 25. März 1941 notierte der Generalstabschef des Heeres, Franz Halder, eine Besprechung seines Generalquartiermeisters Wagner „mit Heydrich wegen bevorstehender Ostfragen". Gemeinhin wird angenommen, dabei sei es ausschließlich um den Handlungsspielraum der späteren Einsatzgruppen gegangen. Doch notierte Heydrich am nächsten Tag, unmittelbar nach einer Unterredung mit Göring: „Bezüglich der Lösung der Judenfrage berichtete ich kurz dem Reichsmarschall (d.i. Göring, d.V.) und legte ihm meinen Entwurf vor, dem er mit einer Änderung bezüglich der Zuständigkeit Rosenbergs zustimmte und Wiedervorlage befahl." Das Dokument wurde erst vor vier Jahren im Moskauer Sonderarchiv aufgefunden. Es relativiert die Annahme vieler Historiker, der berühmte Brief Görings vom 31. Juli 1941, mit dem er Heydrich beauftragte, einen „Gesamtentwurf über die organisatorischen, sachlichen und materiellen Vorausmaßnahmen zur Durchführung der angestrebten Endlösung der Judenfrage vorzulegen", sei die wesentliche Zäsur auf dem Weg zum Holocaust. Der Vermerk vom 26. März 1941 muß als Bestätigung, möglicherweise als Erweiterung eines Auftrags „zur Lösung der Judenfrage" verstanden werden, den Heydrich um die Jahreswende 1940/41 mündlich erhalten und bereits weiterentwickelt hatte. Die offizielle schriftliche Form war Ende Juli 1941 vermutlich nur deshalb notwendig, um Heydrichs Handlungsspielraum gegenüber anderen Behörden zu erhöhen. Jedenfalls benutzte Heydrich den Brief Görings später genau so. Die von Göring erwähnte „Zuständigkeit Rosenbergs" ist Indiz für die Richtung, denn Rosenberg war zu diesem Zeitpunkt bereits designierter Minister für die Zivilverwaltung der später besetzten sowjetischen Gebiete. Außerdem erhielt der 74

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Leiter des Amtes IV, Heinrich Müller, eine Kopie des Schreibens „zur Unterrichtung Eichmanns", dem für alle Deportationen zuständigen Leiter des Referats IVB4. Demnach bereitete Heydrich also spätestens seit März, parallel zur konzeptionellen Formierung der späteren Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD, im selben Kontext die Deportation aller europäischen Juden vor, die westlich der deutsch-sowjetischen Interessengrenze lebten. Seither setzte auch Eichmann auf die hinsichtlich genauer örtlicher Ziele noch kaum fixierte, inzwischen dynamisch verstandene Option „weiterer Abschub nach Osten". Zwar kennzeichnete das völkermörderische Prinzip der „natürlichen Dezimierung durch Umsiedlung" auch schon den Madagaskarplan, doch war es dabei nicht um die vollständige Ausrottung der Deportierten gegangen. Der neue Plan jedoch beinhaltete den Volkermord: Gedacht war an die Trennung der Deportierten nach Geschlechtern, wahlweise an die Massensterilisierung, an mörderische Zwangsarbeit für die Arbeitsfähigen unter den Deportierten und an „Absterbereservate" für die Kinder und Alten. Angesichts dieser geplanten Massenumsiedlung, vor allem angesichts der gewollten, unvorstellbaren Grausamkeit ihrer Umstände, wird sich das moralische Empfinden dagegen sträuben, nun noch weiter begrifflich zu differenzieren. Und dennoch ist der Unterschied zur späteren industriellen Vernichtung deutlich: Die Deportierten sollten noch eines „natürlichen" Todes sterben, sie sollten zum einen Teil in Ghettos und Lagern verhungern und erfrieren, zum anderen Teil sich unter einem barbarischen Polizeiregiment zu Tode arbeiten. Wie die vorherigen Deportationsprojekte war auch dieses neue Vorhaben an enge zeitliche Vorgaben geküpft. Wie die vorherigen setzte auch dieser Plan einen militärischen Erfolg voraus - den schnellen Sieg über die Sowjetunion. Aber was noch nicht erreicht war, galt im nationalsozialistischen Deutschland bereits als Grundlage für das weitere Handeln. Erst recht wurde nun so verfahren, als seien die Juden schon deportiert. Und genau daraus ergaben sich die konkreten Voraussetzungen für die letzten Schritte zum Mord an den europäischen Juden mit Hilfe von Gaskammern.

VII. Vorschläge aus der Praxis Schon im Januar 1940 hatte Eichmann, „die Schwierigkeiten" beklagt, „die aus der Wechselwirkung zwischen Ansetzung der Volksdeutschen und Evakuierung der Polen und Juden entstehen". Eineinhalb Jahre später, im September 1941, als es bereits um Massendeportationen in die neueroberten sowjetischen „Räume" ging, fragte Höppner bei Eichmann an, „was nun mit diesen ausgesiedelten, für die deutschen Siedlungsräume unerwünschten Volksteilen endgültig geschehen soll, ob das Ziel darin besteht, ihnen ein gewisses Leben für dauernd zu sichern, oder ob sie völlig ausgemerzt werden sollen?" Die Anfrage stammt vom 3. September. Schon am 15. August wußte Eichmann, daß Hitler die „Evakuierung während des Krieges abgelehnt" hatte. Am 16. Septem75

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ber besprach Himmler mit seinen engsten Mitarbeitern, die für die Umsiedlungspolitik in ganz Europa zuständig waren, das Thema Judenfrage. Siedlung Ost". Die Details sind nicht bekannt, aber die Besprechung fand im Führerhauptquartier statt. Am 17. September stand fest, daß Hitler auf Druck der Gauleiter und Bürgermeister die Deportation einiger Zehntausend deutscher, österreichischer, tschechischer und luxemburgischer Juden noch während des Krieges genehmigt hatte. Die Züge sollten in das Ghetto Lodz rollen - also in den Zuständigkeitsbereich Höppners. Dessen Anfrage hatte Eichmann noch nicht beantwortet. Am 29. September schickte er ihm die Kopie eines Briefes, den er im Original an den Leiter der Hauptabteilung „Menscheneinsatz" des Reichskommissars für die Festigung deutschen Volkstums sandte: „Obwohl die sich für die Ansiedlung (der Volksdeutschen, d.V.) ergebenden Schwierigkeiten nicht verkannt" würden, so begann Eichmann, könne „zur Zeit mit einer Wiederaufnahme der Evakuierungen nicht gerechnet werden". Außerdem führte er zu seiner Rechtfertigung an, daß seine „Bestrebungen, ein anderes Territorium für die Aufnahme von Räumungskontingenten als vorläufige Ausweichmöglichkeit zu finden, wobei an die besetzten sowjetrussischen Gebiete gedacht wurde," vorläufig gescheitert seien und „entschieden wurde, daß erst eine bessere Transportlage abgewartet werden muß". Der Brief macht deutlich, daß im September 1941 noch nicht über die systematische Vernichtung aller Juden in den Gaskammern entschieden worden war. Die Dokumente bestätigen, was Martin Broszat schon 1977 feststellte: „Mir scheint dagegen, daß es überhaupt keinen umfassenden allgemeinen Vernichtungsbefehl gegeben hat, das .Programm* der Judenvernichtung sich vielmehr aus Einzelaktionen heraus bis zum Frühjahr 1942 allmählich institutionell und faktisch entwickelte und nach der Errichtung der Vernichtungslager in Polen (zwischen Dezember 1941 und 1942) bestimmenden Charakter erhielt." Mit Broszat gehe ich davon aus, daß die Vernichtungspraxis zunächst noch - bis in den April 1942 hinein - experimentell angelegt war. Dieser Gesichtspunkt verstärkt die Bedeutung des Konsenses, den Heydrich auf der Wannsee-Konferenz erreichte, und führt zu der Frage, ob die Vernichtungsmaschinerie nicht gestoppt oder zumindest verlangsamt worden wäre, hätten sich in den ersten Wochen und Monaten ernsthafte Widerstände und Legitimationsschwierigkeiten aufgetan. Daraus folgen Fragen an das Verhalten vor allem der Deutschen, die in dem Maß gestellt werden müssen, wie von der auch exkulpierenden Vorstellung vom „Führerbefehl" Abschied genommen wird. Die Rolle Hitlers läßt sich, betrachtet man die Gesamtheit der Dokumente, nicht als die des unerbittlichen Befehlsgebers beschreiben, sondern als die eines Politikers, der seinen Leuten freie Hand ließ, sie ermunterte, Phantasie zu entwickeln, um das unmöglich erscheinende doch möglich zu machen - und der sie bedingungslos deckte. Offen erörterten diejenigen, die die Deportation der enteigneten und ghettoisierten Juden immer wieder aufgeschoben hatten, im Herbst 1941 die Möglichkeit der systematischen, schnellen Vernichtung. Sie begriffen den Massenmord als einfachste Art der Realisierung jener Pläne, die sie seit Jahren immer neu entwickelt hatten und niemals verwirklichen konnten. Die Vertreter aller anderen Institutionen 76

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stimmten dem neuen „Lösungsweg" deshalb zu, weil er ihre Interessen am wenigsten tangieren würde und sie alle die baldige Deportation der Juden längst fest in ihr Kalkül einbezogen, sie enteignet, zusammengedrängt und so behandelt hatten, als existierten sie schon nicht mehr. A m 16. Dezember 1941 erklärte Hans Frank den Mitgliedern seiner Regierung in Krakau die bevorstehende Ermordung der Juden: „Ich werde daher den Juden gegenüber grundsätzlich von der Erwartung ausgehen, daß sie verschwinden. Sie müssen weg." „Aber", fragte Frank rhetorisch, „was soll mit den Juden geschehen? Glauben Sie, man wird sie im Ostland in Siedlungsdörfern unterbringen? Man hat uns in Berlin gesagt: Weshalb macht man diese Scherereien; wir können im Ostland (im besetzten Baltikum, G.A.) oder im Reichskommissariat (Ukraine, G.A.) auch nichts mit ihnen anfangen, liquidiert sie selber!" Vielleicht reagierte Frank auf einen fragenden Blick, jedenfalls fügte er hinzu: „Man kann bisherige Anschauungen nicht auf solche gigantischen einmaligen Ereignisse übertragen. Jedenfalls müssen wir aber einen Weg finden, der zum Ziele führt. (...) Wo und wie das geschieht, ist eine Sache der Instanzen, die wir hier einsetzen und schaffen müssen und deren Wirksamkeit ich Ihnen rechtzeitig bekanntgebe." „Ich saß ja am Schreibtisch in Berlin", so sagte Eichmann später in Jerusalem aus, und er sei dort mit der „grundsätzlichen Befehlsgebung Heydrich-Himmler" einerseits konfrontiert gewesen und andererseits mit der „Berichterstattung der Leute, die eben aus ihrer Praxis heraus nun die Vorschläge machen mußten, so daß dann höheren Orts andere Richtlinien erteilt wurden". Schließlich sei „das Ganze war ja in ewiger Bewegung, in ewigem Fluktuieren gewesen". Was Eichmann in exkulpierender Absicht vorbrachte, kennzeichnet die Breite seines Spielraums. E r saß an der Schnittstelle zwischen oben und unten, zwischen zentralen Vorgaben und tatsächlichen Möglichkeiten. E s gehörte zu seinen Aufgaben, daran mitzuwirken, daß das „ewige Fluktuieren" in praktikabler Weise strukturiert würde. Die „Endlösung" wurde nicht befohlen, sie wurde nicht von dem einen oder anderen „Architekten" entworfen. Es kam darauf an, in der entscheidenden Situation den Konsens zu moderieren. D a s entspricht der allgemeineren Einsicht in die polykratische Struktur des nationalsozialistischen Staates, die angesichts der Quellenlage nicht mehr angezweifelt werden kann. Doch darf sie nicht - wie das gelegentlich geschieht - als Konglomerat von Eitelkeiten, Eifersüchteleien und Intrigen mächtiger Nazigrößen mißverstanden werden. Sie repräsentierte zumindest auch reale Interessendivergenzen. Dennoch hatte Franz Neumann nur bedingt recht, als er schon 1944 im „Behemoth" feststellte, „die Entscheidungen des Führers sind lediglich Ergebnis" der zwischen konkurrierenden Interessen und Führungen „erzielten Kompromisse". Der Begriff „Kompromiß" bedarf der Erörterung. Auch wenn die Repräsentanten einzelner Institutionen gegensätzliche, einander ausschließende Interessen verfochten, so waren sie doch gemeinsam dazu bereit, die Gegensätze, die ihre divergenten Konzeptionen - und insbesondere das intendierte Tempo der Umsetzung - produzieren mußten, mit Hilfe von Raub, Sklavenarbeit und Vernichtung zu überwinden. 77

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Daraus ergab sich die von allen Beteiligten vertretene Logik der „besonderen Ermächtigung des Führers": Nicht die abwägende Entscheidung für die eine oder andere Variante, nicht, wie Neumann meinte, der Kompromiß zeichneten sie bis zum Herbst 1941 aus, sondern der Versuch, widerstreitende Interessenlagen, Pläne und „Notwendigkeiten" gleichermaßen zu berücksichtigen und die Zielkonflikte im Sinne „endgültiger Lösungen" maximalistisch zu überwinden. Mit anderen Worten: Je radikaler und weitreichender die einzelnen Pläne, Umsiedlungsprojekte und Kriegsziele wurden, desto größer mußte - mathematisch ausgedrückt - das kleinste gemeinsame Vielfache werden, in dem all diese Vorhaben aufgingen. Im Spätsommer und Herbst 1941 wurde schnell klar, daß auch das letzte Deportationsprojekt zur „Endlösung" Papier bleiben würde. Daraus folgte die Suche nach einer Perspektive, in der möglichst alle divergierenden Interessen gleichzeitig verwirklicht werden konnten. Dieser vielfältige politische Prozeß kann und muß - auch wenn sich nicht mehr alle Dimensionen des Verbrechens aufklären lassen - so genau wie nur möglich beschrieben und analysiert werden. Das führt zur Historisierung des Geschehenen, bedeutet aber gerade nicht, den Holocaust zu verdrängen, vielmehr geht es darum, die Umstände, die schließlich zu seiner Realisierung führten, umfassend zu vergegenwärtigen.

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Jörg Friedrich Von nichts gewußt

Im Juli 1954 entschied das Landgericht Köln über die quälendste Frage der deutschen Nationalgeschichte: Was dachten, was wünschten, was wußten die Reichsbürger, als sie zwischen 1940 und 44 den jüdischen Volksteil in die Vernichtung entließen? Köln verhandelte gegen seinen früheren Gestapo-Chef Sprinz wegen Deportation von 8500 Juden, die zwischen Mai 1942 und November 1943 nach Auschwitz, Theresienstadt und Majdanek verschleppt worden waren. 200 von ihnen kehrten zurück. Sprinz gab an, Ziel und Zweck seines Tuns nicht gekannt zu haben. Er war der festen Ansicht, die Evakuierungen führten in eine Art Indianerreservat, eine Arbeitskolonie, so wie in Kriegen allenthalben Bevölkerungsgruppen hin- und hergeschoben wurden, ohne deshalb gleich ausgerottet worden zu sein. Hätte er Hitlers wahre Absichten gekannt, er hätte sie mißbilligt, und ihm seine Mithilfe und Loyalität gekündigt! So wie Sprinz haben sich alle Gestapo-Chefs, alle Judenreferenten, alle Polizei-, Finanz-, Zoll- und Eisenbahnbeamten eingelassen, welche die Deportationen abgewickelt haben. Ferner die Überzahl des deutschen Volkes. Denn oberhalb der regionalen Stapoleitstellen standen nur Hitler und Himmler und weit unterhalb die KZ-Kommandanten und -Berserker im verborgensten Polen. Dazwischen lag das getäuschte Volk. Hinter seinem Rücken - auf der Achse Himmler, Berlin, - Höß, Auschwitz - sowie vermittels ahnungsloser Werkzeuge wurde die Endlösung der Judenfrage vollstreckt. „Im Namen des deutschen Volkes", wie es im Gedenkdeutsch heißt, doch jenseits des Wissens, Wollens, Duldens und des Vorteils des deutschen Volkes. Das nicht. Das Gestapo-Unwissen war insofern die vorderste Position des Gesellschaftsunwissens. Dergestalt wurde es vor Gericht verteidigt. Darum sind die Urteile ein bundesdeutscher Justiz- und Gesellschaftsspiegel. Die Geschichte wird sie eher lesen als Urteile über uns, die Schadensabwickler des Dritten Reiches. Franz Sprinz war badischen Ursprungs, wurde mit der kölnischen Art nie recht warm und sie nicht mit ihm. So erklärte es sich vermutlich, daß die früheren Sekretärinnen seiner Dienststelle ihn vor Gericht nicht deckten, sondern desavouierten. Anfangs, bezeugten die Gestapovorzimmerdamen, habe man an die offiziell so deklarierten Umsiedlungen geglaubt. Anfang 1942 hätten aber zur Front abkommandierte Polizisten die Dienststelle im Urlaub besucht und von massenhaften Exekutionen baltischer, weißrussischer und ukrainischer Juden berichtet. Ein dazu eingesetzter Kollege hätte darunter seelisch dermaßen gelitten, daß ihn Alpträume und Schreikrämpfe plagten, bis er eine Nervenheilanstalt aufsuchen mußte. „Ende 1942, Anfang 1943" heißt es im Urteil vom 9.7.54 „seien sie sich dann alle unter den 79

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Angestellten darüber im klaren gewesen, daß die deportierten Juden umgebracht würden." Das Gericht hielt dies Zeugnis für glaubhaft, hätte nun allerdings auf Beihilfe zum Mord erkennen müssen. Darin sah man eine gewisse Unbilligkeit. Es waren nämlich vor Strafkammern in Hechingen, Stuttgart, Düsseldorf, Münster, Würzburg und Nürnberg Deportationen verhandelt worden, die nach Uberzeugung der Richter und Geschworenen in totaler Unwissenheit vonstatten gingen. An dieser Beweiswürdigkeit hatten auch der Bundesgerichtshof und das Bayerische Oberste Landesgericht keinen Rechtsfehler gefunden. Nach Aufforderung durch den Bundesgerichtshof stellten die Tatrichter fest, daß die Gestapoleute nicht nur den Evakuierungsgrund verkannt sondern, wie das Landgericht Stuttgart feststellte, „es nicht einmal für möglich gehalten hätten, die Tötung der verschleppten Juden sei beabsichtigt." „Angesichts des wenig intelligenten Eindrucks, den die Angeklagten in der Hauptverhandlung machten und unter Berücksichtigung der äußerst raffinierten Täuschung in den Umsiedlungserlassen" war der Gestapo kein Tötungswille nachzuweisen. Überdies machten die Beamten eine noch von Paul von Hindenburg unterzeichnete gesetzliche Grundlage ihres Handelns geltend: die sogenannte Reichstagsbrandverordnung vom Februar 1932. Nach Artikel 2 derselben hätten sie bei Umsturzgefahr Beschränkungen der persönlichen Freiheit verhängen können. Das Weltjudentum sei ihnen als Kriegstreiber, Aufruhr- und Dolchstoßpotential bezeichnet worden. So habe man, wenn auch mit menschlichem Bedauern, dem Gesetzesauftrag gehorcht. Auch habe zur Tatzeit kein Richter und Staatsanwalt Bedenken erhoben. Das Bayerische Oberste Landesgericht pflichtete dem insoweit bei, als die Gestapo offenbar im guten Glauben der Gesetzmäßigkeit gehandelt habe. Es komme nicht darauf an, wie man im Nachhinein über dergleichen Verordnungen denke, sondern was man sich zu ihrer Geltungszeit dabei gedacht habe. „Alles legal" dachte der Jurist und Gestapochef von Nürnberg, Dr. Benno Martin, der nach den Münchner Leitlinien von der Schuld an der Deportation von 4700 fränkischen Juden freigesprochen wurde. Wenngleich der Intimus von Julius Streicher auch nichts vom Ziel der Fahrt, die vom Nürnberger Fäkalienbahnhof ausging, ahnte, hatte ihn das Nürnberger Landgericht der Freiheitsberaubung im Amt überführt. Die dreijährige Haftstrafe dünkte die Münchner Revisionsinstanz übertrieben, weil die Gestapo die Freiheit nicht willkürlich beraubt, sondern nach Maßgabe des Gesetzes. Gerechtfertigt durch die Reichstagsbrandverordnung in der Fassung des Bayerischen Obersten Landesgerichts von 1950 wurde Martin von den Nürnbergern freigesprochen, doch nicht endgültig. Der Bundesgerichtshof schaltete sich ein und klagte, wenn jede Schandtat dadurch erlaubt sei, daß man sie zuvor in Gesetzesform brächte, müßten alle Nazis freigesprochen werden. Kein Staat habe ein Recht, hunderttausend Leute zu verschleppen, weder mit noch ohne Begleitparagraph. Martin überlegte sich den Fall und bekannte dem Nürnberger Landgericht in der Drittverhandlung, daß er die Judenverschleppung genau genommen doch nicht für Recht, sondern für bitteres Unrecht angesehen habe. Doch erstens habe er befürch80

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tet, bei Befehlsverweigerung gleich mit ins K Z zu fahren. Dort drohte, wenn nicht den Juden, so doch den Gestapochefs der Tod! Zweitens sei ihm nach schlaflosen Nächten eingefallen, die Deportation so menschlich wie möglich zu gestalten, Ubergriffe zu verhindern und damit, statt gegen, für die Juden zu arbeiten. Die Nürnberger Richter waren begeistert, weil ihnen zwei gleich gute Freisprüche offenstanden. Einerseits, weil Martin gegen seinen Willen und gewaltsam zur Deportation gezwungen war. Andererseits, weil er äußerlich deportiert, in Wahrheit aber geholfen habe. Der Wunsch, anderen Menschen, selbst in den Zug nach Auschwitz zu helfen, ist aber keine Straftat. Will man den Richtern glauben, sind die deutschen Juden noch nie so human behandelt worden, wie auf dem Weg in die Gaskammer. U m dies Beweisergebnis zu gewinnen, mußten allerdings noch einige damit unverträgliche Zeugnisse entkräftet werden. Einige Deportierte waren zurückgekehrt und gaben andere Erinnerungen zu Protokoll. In Düsseldorf hatte die Gestapo die Sammelstelle im Schlachthof eingerichtet. Der 1949 angeklagte Gestapoführer hatte bei der Abfahrt dem Begleitpersonal Ade gesagt, den Juden aber zugerufen „Von euch brauche ich mich ja nicht zu verabschieden. Wir sehen uns ja doch nicht wieder." Diese Bemerkung sei schon dadurch gegenstandslos, urteilte das Düsseldorfer Schwurgericht, weil man sich ja soeben im Verhandlungssaal wiedergesehen habe. Die arische Ehefrau, deren Gatte in die Deportation geraten war, wurde gedrängt „So, nun nehmen Sie Abschied auf ewig. Ihre Ehe war eine Episode." Ewige Abschiede führen nicht zwangsläufig in den Tod wie hier. Im nachhinein wird der Äußerung von der Zeugin ein ganz anderer Sinn unterlegt, als er seinerzeit bestand. D a s gilt auch für jenen Transport nach Theresienstadt, vor welchem die Greisinnen angebrüllt wurden: „Ihr Sarahs, wenn ihr nicht ruhig seid, lege ich ein paar von euch um; ich habe schon 10 umgelegt." Hier handelte es sich um typische brutale Äußerungen des Angeklagten, die keinen Mordverdacht begründen, weil sie auf seine „großmaulige Art" und „Wichtigtuerei" zurückgingen. Wenn die Gestapo nämlich bei der Deportation barsch wurde dann nur, um ihre übergroße Nähe zum Judentum zu kaschieren. In Stuttgart hatte eine barmherzige Seele den Transportopfern Nahrung zugesteckt. Der Anschnauzer des Deporteurs „Wir tun alles, um diese Bagage wegzubringen und ihr päppelt sie wieder hoch" erklärt sich nach Ermittlungen des Stuttgarter Landgericht komplexer als es scheinen will: Die Gestapo hatte große Angst vor der Gestapo. Der Schnauzer schnauzte wegen Anwesenheit seiner Kollegen. „Er war bis 1938 geschäftlich mit Halbjuden assoziiert gewesen und hatte vorher lange Jahre mit Juden vom Kaufhaus Tietz zusammengearbeitet." So mußte er „jeden Verdacht einer Freundschaft zu Juden ausschließen, der ihm als Gestapobeamten zu einer erheblichen Gefährdung hätte werden können." Wenn der Gestapomann die Tötung, die er nicht ahnte, mit eigenen Worten androhte, klang dies nicht drohend, sondern warnend, wie „Wenn die Amerikaner am Rhein stehen, legen wir alle Juden um. Ihre Frau wird dann auch umgelegt." Will sagen, eine typische „Wiedergabe einer ihm mitgeteilten Absicht einer höheren Dienststelle zur Beseitigung der Juden." Diese Sinngebung entwickelt das Düsseldorfer Schwurgericht aus der grundlegenden Annahme, daß die Judenvernichtung 81

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ein Staatsgeheimnis war. Wer aber ein Staatsgeheimnis verrät, der tut dies in sabotierender Absicht. Das größte Verständnisproblem, nicht nur für die Gerichte, liegt nun darin, daß der Staat selbst sein Staatsgeheimnis unentwegt ausplauderte. Schon das Landgericht Hechingen hat im Pilotverfahren der Serie im Sommer 1947 den vielzitierten Goebbels-Artikel in „Das Reich" vom 16. November 1941 in sein Urteil gesetzt: „Die Juden sind schuld". Goebbels ändert mit der blutigen Kriegswende im ersten Rußlandwinter sein Propagandakonzept. Die Jubelchöre über die so blitzenden wie verlustarmen Anfangssiege verklingen und Trutzgesänge heben an. Das Soldatenopfer wird verklärt, das Märtyrerblut geadelt, der stählerne Durchhaltewille beschworen und die Kriegsschuldfrage aufgeworfen. Der ausgelassene, rauhbeinige Aggressor von 1940 gibt sich 1941/42 als überlistetes, in die Zange des kapitalistisch-bolschewistischen Weltjudentums genommenes Gewaltobjekt zu erkennen. Die Juden hetzen die Völker gegeneinander in den Krieg. Damit sichern sie ihren Verdienst und herrschen über die Welt, indem sie alle Welt miteinander entzweien. Roosevelt, Churchill, Stalin, de Gaulle sind jüdische Marionetten, darum ignorieren sie den deutschen Verständigungswillen arglistig. Alle Toten gehen auf das Konto der Juden. Der Führer hat beizeiten davor gewarnt, den Juden Konsequenzen angedroht, sie wollten nicht hören, hielten seine Worte für Bluff. Die Kriegsurheber lassen sich nicht warnen, sie sind auf Grund ihrer Globalerfolge nicht auf einen Schlag militärisch auszuschalten, man muß sie bei ihrem eigenen Fleisch und Blut, ihren Rassegefährten im deutschen Herrschaftsgebiet packen. Statt die Armeen der Welt aufzureiben, die sich blind für die Juden in die Schlacht werfen lassen, rottet der Führer scharfblickend die Wurzel des Übels aus, zerreißt die Drähte der Drahtzieher, verbrennt den Brandherd. Das hatte er bereits im Januar 1938 für den Bedarfsfall vorausgesagt. „Wir erleben eben den Vollzug dieser Prophezeiung, und es erfüllt sich damit am Judentum ein Schicksal, das zwar hart, aber mehr als verdient ist." Die deutschen Juden verfügen „über geheime Verbindungen zum Ausland und nützen diese in allen kriegswichtigen Angelegenheiten aus (...) Mitleid oder gar Bedauern ist da gänzlich unangebracht. In dieser geschichtlichen Auseinandersetzung ist jeder Jude unser Feind (...) Das Judentum erleidet nun einen allmählichen Vernichtungsprozeß." Diesen Artikel hatte die Tagespresse flächendeckend nachgedruckt, und so war er bis in das Amtsblatt für den Kreis Hechingen gedrungen. 1947 konnte das dortige Landgericht den Zusammenhang des Vernichtungsaufrufs mit dem Erlaß der Gestapoleitstelle Stuttgart nicht übersehen. Darin werden die Landräte des Dienstbereichs wie folgt angewiesen: „Im Rahmen der gesamteuropäischen Entjudung gehen zur Zeit laufend Eisenbahntransporte von je 1000 Juden aus dem Altreich, der Ostmark und dem Protektorat nach dem Reichskommissariat Ostland. Württemberg und Hohenzollern ist daran zunächst mit einem Transport von 1000 Juden beteiligt, der am 1.12.41 von Stuttgart abgeht." Beiliegend eine Liste von 130 Juden aus dem Kreis Hechingen und 111 Juden aus der Stadt Haigerloch. Der verantwortliche Menschenjäger, der Landrat Schraermeyer, wurde in zweiter Instanz vom Landgericht Tübingen freigesprochen wegen akuter KZ-Furcht und 82

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der üblichen Liebenswürdigkeiten. Die Q u a l der Todgeweihten sei so unermeßlich, daß ihnen seitens der Quälgeister „ein gutes Wort, ein Handschlag, ein Gespräch schon viel bedeutete." Der Trost und das Bedauern für das entsetzliche Los, das die Deporteure zwar nicht kannten, wenn auch am eigenen Leibe fürchteten, machten spätere Gerichte als schizophrenes Syndrom aus. Die deportierende Amtsperson und der bedauernde Mitmensch zerfielen in zwei Bewußtseinszustände. Den Mitmensch bewegten - bis in den Rang eines fränkischen Gestapochefs - KZ-Furcht und KZ-Trost. Die Amtsperson registriert die Amtsanweisung. 100 Juden am 12. Dezember zum Bahnhof. „Für eine Bekanntgabe der Absicht der Tötung" erkannte das Landgericht Düsseldorf „bestand keine Notwendigkeit." Daraus müßte auf die Unkenntnis von den Zusammenhängen geschlossen werden. Wenn nun Goebbels bis hinein ins Amtsblatt Hohenzollern Vernichtungsabsichten drucken ließ, führt das Landgericht Nürnberg fort „erscheint es aber fraglich, ob Goebbels seine Ausführungen überhaupt so verstanden wissen wollte, da ja die öffentliche Bekanntgabe des Vernichtungsplans zu seiner sonstigen strengen Geheimhaltung in einem unverständlichen Widerspruch stehen würde." Das gelte verschärft für das halbe Dutzend durch Volksempfänger und „Völkischen Beobachter" verbreitete Führerreden, in denen drastisch Ausrottung, Ausmerzung, Vergeltung Auge um Auge, Vernichtung mit Stumpf und Stiel angekündigt und als vollzogen gemeldet wurden. Es existiere kein Nachweis, „daß gegebenenfalls die Reden im Sinne einer beabsichtigten physischen Vernichtung verstanden worden sind." Der einzig existierende Nachweis ist, daß die beabsichtigte physische Vernichtung von denen, die sie nicht verstanden, reibungslos vollzogen wurde. Für alle Vollzugsakte bis auf den letzten war das Verständnis - wie Düsseldorf erkannte - keine Notwendigkeit, vielmehr ein Hindernis. Zu vielen Vollstreckern taten die Opfer leid, vor allem die vielen Kinder. Der entscheidende Durchbruch durch das Widerspruchsgespinst gelang in seiner katholischen Menschenkenntnis dem Landgericht Köln im Fall des von seinen Sekretärinnen hereingerissenen Sprinz: Er hatte, als er evakuierte, das Mordziel gewußt, aber nicht dienstlich gewußt. Erst wenn man den Menschen zerlegt in Amts- und Privatmensch, in Dienstwissen und Bescheidwissen, in notwendige und hinderliche Erkenntnisse, in praktische Vernichtungsarbeit und theoretische Sinngebung, in rechtliche Verantwortlichkeit und privates Dafürhalten wird seine Funktionstüchtigkeit plausibel. Dem wissenden Sprinz hing alles zum Hals heraus, versagten die Nerven, pochte das Gewissen, kroch das Mitleid hoch oder die Schadenfreude, der Rassenhaß, je nachdem. All das sind persönliche Anpassungsformen an den Dienstsprinz. Dieser tut, was er nicht zu wissen braucht: unschuldige Mitbürger zum Schafott befördern. Der Bescheidwisser hingegen weiß, was er nicht zu tun braucht, dem Evakuierten das Leben aus dem Leib holen. Der Empfänger der Todgeweihten ist der Henker. Er löscht das Lebenslicht, das ist wahr, braucht aber nicht zu wissen, warum. Er verläßt sich auf das Todesurteil und das es schon verdient ist. Vor welchem Publikum, in welchem Saal wurde das Todesurteil über die deutschen Juden gefällt? In der Reichskanzlei, bei der Preisvergabe durch den Volksverband? 83

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Eigentümlicherweise hat sich das Interesse, das Tatbild, das Eingedenken der Nachkriegsdeutschen auf das Schafott zentriert, auf die Fabrikation des Todes, Gaskammer, Krematorium, Rampe. Mit seiner Industrieform wird dieser Genozid qualifiziert. Seine leidenschaftslose Automation mache ihn so unvergleichlich in der Geschichte. Kurz, das, was niemand wußte, der nicht dabei war. Das, hingegen, was alle gesehen haben, das Deportationsgeschehen, - das, was zig Millionen jahrelang gehört und gelesen haben, Hitlers schäumendes Todesurteil, - das, was eine überwältigende Mehrheit gebilligt oder hingenommen hat, - die Rassengesetze, nach denen es gefällt wurde, - das, was Unzähligen sinnträchtig schien, der Urteilstermin, Deutschlands schwingender Endsieg, der auf die Endlösung des Feindes aller Feinde zusammenschrumpfte, - der Ertrag, den Hunderttausende davontrugen, indem sie die Wohnungen der Erschlagenen bezogen, in ihnen sich niederließen und ihre Garderobe auftrugen, - daß die deutschen Städte vier Jahre eine Selektions- und Verladerampe gewesen; - das qualifiziert den Holocaust weit weniger als das Zyklon B. Denn dies Geschehen, das In-den-Tod-Jagen von 160 000 Juden aus dem Altreich, ist von der bundesdeutschen Justiz quittiert worden mit insgesamt 7 Jahren Haft, soviel wie 2 Autodiebstähle. Vier Männer haben gehaftet, drei aus Köln und einer aus Oelde. U m hier die massenhaften Tatbestände der Beihilfe zum Mord zu annullieren, mußte der beinharte Kern des Terrors, die Gestapochefs, persönlich zu Schlafmützen konvertiert werden. Die Gestapochefs erinnerten sich nämlich am besten an eines. Daß sie ihr Wissen mit Abertausenden von Sekretärinnen, Polizisten, Eisenbahnern, Finanzbeamten, Standesbeamten, Landräten, Wohnungsämtern, Banktreuhändern geteilt hatten. Auch die Neubesitzer der Paletots, die oft genug mit Einschußlöchern aus Riga zur heimatlichen Volkswohlfahrt gelangten, wußten, daß deren Inhaber nie zurückkehren würden. Was aber Tausende von Mordgehilfen und Nutznießern wissen, läßt sich vor der Gesamtbevölkerung nicht geheimhalten. Zumindest nicht, wenn Hitler es zugleich im Radio begründet. Da das Wissen denn unteilbar war, machte es sich als Unwissen auf und davon. Bis zum heutigen Tag erzählen das Von-nichts-gewußt Gedächtnis der Zeitgenossen und die schriftliche Überlieferung der Akten, Briefe und Tagebücher zwei miteinander unvereinbare Geschichten. Vermutlich werden beide noch eine Zeitlang konkurrieren. Einem bereits in den Deportationsprozessen abgelegten Zeugnis zufolge hätten die Deportierten selbst ihr Schicksal nicht vorausgewußt. Sonst hätten sie doch ihre Mitbürger sofort alarmiert. Als Zeugen benannten die Gestapochefs gern Mitarbeiter der jüdischen Gemeinden, die sie zur Aufstellung von Deportationslisten genötigt hatten. Daraus erwächst vielleicht eine gewundene Perspektive und zudem sieht jeder dem eigenen Tod schwerer ins Auge als dem fremden. Im übrigen ist dieser Aspekt geklärt. Der schriftlichen Überlieferung ist ein gewaltiges Dokument zugewachsen. Schlagartig wurde es als die getreuste, die tiefenschärfste Chronik der Judenverfolgung im Reich erkannt. Der in den Tagebüchern Viktor Klemperers eingemeißelten Wahrheit ausgesetzt, werden wir uns dekonspirieren müssen. Der Text wird vom 84

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Lesepublikum verschlungen und bei der allgemeinen Reverenz sollte der Untergang der Legende auch getrost verkündigt werden. Der zweite, von 1942 bis 1945 reichende Band handelt einzig von der lähmenden Todesangst der Dresdner Juden, die, inmitten ihrer Landsleute, doch restlos von ihnen aufgegeben, den Strudel der Vernichtung auf sich zutreiben sehen. Goebbels' vom November 1941 datierte „allmähliche Vernichtung" war nicht das Geheimnis von Auschwitz, sie stand Millionen in den Städten im Gesicht geschrieben. Den einen als ihr angebrochenes Schicksal, den anderen als das, was sie besser nichts anging; weiteren als das, was endlich fällig war; weiteren, die, gepeinigt von der Schande, den Ertrinkenden die Hand hinhielten, meistens zum Gruß, manchmal zur Errettung. Zu letzteren zählen die arischen Gatten in den Mischehen, denen Klemperer ein ewiges Denkmal setzt. Seine Frau Eva war in N a m e und Tat eine Mutter der Lebendigen. U m diese spärlichen Rettungsringe herum werden die Gemeinden ohnmächtig in die Tiefe gerissen wie vorausgeschaut, wie den Vorangegangenen bereits widerfahren und wie es ihnen unflätige, prügel-, spuck-, und randalierwütige Gestapobeamte tagtäglich einbleuen. D a s Vernichtungsfieber grassiert so schamlos in weiten Volksteilen, daß es Kinder und Jugendliche infiziert und verpöbelt. „Auf dem Heimweg kränkten mich Beschimpfungen eines gutgekleideten, intelligent aussehenden Jungen, von etwa 11,12 Jahren. .Totmachen! Alter Jude, alter Jude!' Der Junge muß doch Eltern haben, die das unterstützen, was ihm in der Schule und bei den Pimpfen beigebracht wird." Schüler suchen Jüdinnen aus Straßenbahnen zu stoßen, zischen Todeswünsche ins Ohr. Verkehrsmittel, Straßen und Geschäfte sind eine Spießrutengasse, auf welcher epidemisch gegeifert, geknufft und gedemütigt wird. Der Hort der Wohnung ist das Besuchsgelände rasender Gestapomänner. „7. März 42: Die Haussuchungen sind bis zur Wasastraße gediehen. Dort sagt man dem Apotheker Steinberg:,Warum hängt ihr euch nicht auf?' und zeigt ihm, wie man eine Schlinge macht." „11. Mai 42: Haussuchung im Altersheim Günzstraße. Frauen von 70 bis 85 Jahren bespuckt, mit dem Gesicht an die Wand gestellt und von hinten mit kaltem Wasser Übergossen." „23. Mai: Unten fanden die Leute gestern eine Schüssel Spinat; der Inhalt wurde den Damen ins Gesicht und über das Kleid geschmiert." „24. Januar 43: Sie benahmen sich wie die Tiere, prügelten unvermittelt auf ihn und Frau Hirschel, nahmen ein paar Streichhölzerschachteln und Papierservietten als verbotene Mangelware fort. Clemens, der große Blonde, der auch mich geschlagen hat, sagte ,Ich hasse dich so furchtbar, sei gewiß, ich mache dich noch einmal kalt.' Hirschel, der oft mit ihm zu verhandeln hat, erwiderte,Warum eigentlich hassen Sie mich so?' Clemens: ,Das kann ich dir ganz genau sagen: Weil du J u d e bist. Bestimmt werde ich dich umbringen.'" Anders als das Landgericht Düsseldorf es vorschützte, bedeutete so etwas mehr als Kraftmeierei. „25. Juli 1942: Bei Steinitz Verzweiflungsstimmung. Dazu stand er unter dem Eindruck des Mordes an Goldmann. Auf dem Friedhof arbeitend hatte Steinitz die Schilderung der Leute gehört, die den Toten aus dem Polizeipräsidium Dresden auf 85

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den Friedhof geschafft hatten: Die Leiche lag nackt in einer Blutlache. Schon ist der nächste Mordfall zu verzeichnen. Es klingelt vor einer halben Stunde. Käthchens Schwägerin brachte die Nachricht vom Tod des vor etwa 14 Tagen verhafteten Joachimsthal. - Verhaftet werden, gleichgültig um welcher Nichtigkeit willen! Der Bruder Joachimsthal hat nach einer Version ,den Stern verdeckt', nach einer anderen über die Ausgehzeit hinaus in einem Restaurant gesessen, in dem seine Frau arbeitet. Verhaftetwerden ist jetzt identisch mit Getötetwerden gleich hier an Ort und Stelle, die Konzentrationslager werden erst gar nicht mehr in Anspruch genommen." „24. Mai: Ernst Kreidl ist ,bei einem Fluchtversuch erschossen.' Die Urne steht zur Verfügung. Der Mann hat an die absolut unmögliche Flucht bestimmt mit keinem Hauch gedacht. 63 Jahre, geschwächt, Anstaltskleidung, ohne Geld ... Und am hellen Tage ... Unverhüllter Mord. Einer von Abertausenden." „16. Oktober: Das Fürchterlichste ist die Unsicherheit, der schleichende Mord. Das Nichtigste genügt zum Vorwand der Beseitigung. Wir wissen noch heute nicht, weshalb Ernst Kreidl getötet wurde. Wir werden auch über Eger nichts erfahren. Und immer das Gefühl: in der nächsten Stunde vielleicht ich." „8. Juni 42: Das übliche Lied: Die Arier sagen .Haltet aus! Es geht zu Ende.' Wir waren uns darin einig, daß unsere Existenz jetzt ein Wettrennen mit dem Tode bedeutet." „27. Oktober: Wirklich schleicht der Mord so gräßlich um, wie nie zuvor. Acht Frauen in einer Woche, acht jüdische Frauen der kleinen Gemeinde Dresden ... Schlimmer fast als dieses Töten ist die Aushungerung der Kinder. Frau Hirschel sagt, die ständige Hungerklage der kleinen Jungen sei für sie das Furchtbarste,,Mutter sieh mal der Junge hat ein Würstchen und beißt hinein' usw. usw. den ganzen Tag". Das auch mit dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand nicht zu Vereinbarende, ist der Eintrag unter dem 16. März 1942: „Als furchtbarstes KZ hörte ich in diesen Tagen Auschwitz (oder so ähnlich) bei Königshütte in Oberschlesien nennen. Bergwerksarbeit, Tod nach wenigen Tagen. Nicht unbedingt und sofort tödlich aber,schlimmer als Zuchthaus' soll Buchenwald bei Weimar sein." Mitte März waren gerade die ersten Evakuierungstransporte in Auschwitz eingetroffen. „30. Mai: Tägliches Näherrücken der Todesgefahr." „27. Juli: Seliksohns Unterhaltung rotiert um ihre beiden Brennpunkte: ,Wenn ich nur evakuiert würde!' und ,Wenn ich nur Veronal hätte!!' Er wiederholt hundertmal, daß wir alle ermordet werden. Und ich glaube, er hat recht. Er selber: schon einmal im KZ gesessen, einstmaliger Angestellter der Sozialdemokraten (,Vorwärts'-Buchhandlung)." „29. August: Der Ausrottungswille steigt immerfort, im gleichen Maße, wie die Siegeschancen fallen. Der Verwalter unseres Hauses, erzählte Frau Ziegler, sei wegen Judenfreundlichkeit vor die Gestapo geladen worden. Auf seine Erklärung, die Leute seien anständig, wurde ihm gesagt, es gäbe keine anständigen Juden und die ,ganze Rasse werde ausgerottet werden.'" „17. Oktober: Heute zum erstenmal die Todesnachricht zweier Frauen aus dem 86

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KZ. Beide wurden von dem Frauenlager in Mecklenburg nach Auschwitz transportiert, das ein schnell arbeitendes Schlachthaus zu sein scheint." 30. Oktober: Todesnachricht gekommen aus Auschwitz. Todesursache ..Gehirnschlag'. Das ist die neunte Dresdnerin, die man von Ravensbrück nach Auschwitz gebracht hat." „29. November: Heute morgen kam Frau Eger zu uns. Sie habe erfahren (sie hat einen Bruder bei der SS), daß ihr Mann morgen in ein KZ abtransportiert werde. Der Transport dauere bis zu 8 Tagen. Die Leute würden in verschiedenen Städten (Leipzig, Chemnitz usw.) aufgesammelt, in den Lagern träfen größere Gruppen auf einmal ein. Am Ende dieser Reise stehe für die jüdischen Mitglieder der Tod." „28. Februar 1943: Bleistiftbrief von Lewinsky. Gestern Alarm. Ich möge mich nicht sorgen, die gegenwärtige Aktion gelte nicht den Mischehen. Es seien Juden von auswärts in hiesige Lager gebracht und diese Lager ganz abgeschlossen worden. Evakuierung stehe unmittelbar bevor. Ich ging zu Fischmanns. Die Lagerisolierung besteht seit gestern morgen. Alle Nicht-Mischehelinge, buchstäblich alle sind seit gestern im Lager. N u r Hirschel und Kahlenberg sind zur Abwicklung der Geschäfte frei geblieben. Alle anderen werden evakuiert. Man wird keinen von ihnen wiedersehen. Frau Voß, die Seliksohns, Reichenbachs, Frau Ziegler, ich rechne sie alle zu den Toten. Wie lange wird man uns hier leben lassen?" „4. März: Sehr bedrückt. Sie nehmen bevorstehende Trennung Mischehen an. D.h. Alternative: Die Frau läßt sich scheiden oder wird zur Jüdin erklärt und gleichfalls evakuiert. Daß die vorgestern Nacht Evakuierten heute noch am Leben seien, wurde bezweifelt; wahrscheinlicher, daß sie in ihrem Viehwaggon - zwei Notdurfteimer in jedem Waggon - vergast worden seien." „10. März: Immerfort Kämpfe im Osten ... immerfort Gerede von innerer Zuspitzung, immerfort Ruhe und Terror. - Ruhe der Bevölkerung, Terror der Regierung." So geht es durch den ganzen Krieg. „26. November 1944: Bei Windes wurde wieder einmal der Bericht eines Urlaubers erzählt. Schauerliche Judenmorde im Osten. Die Truppe mußte Schnaps bekommen. ,Wenn wir Schnaps bekamen, wußten wir schon immer, was kommen würde.' Einige Leute hätten Selbstmord verübt ,um das nicht ein zweitesmal mitansehen und auf das Gewissen nehmen zu müssen.' Das ist nun schon zu häufig und von zu vielen arischen Seiten übereinstimmend berichtet worden, als das es Legende sein kann. Und es stimmt ja doch auch zu dem hier Erlebten." Klemperers Chronik deckt sich in versdhiedener Hinsicht mit Uberlieferungen der arischen Seite. Beide setzen sich nämlich mit dem auseinander, was man heute auch nicht kennt: Aus welchem Anlaß und Grunde ließ das Deutsche Reich die Juden Europas töten? Das weiß man nicht genau. Die Tat, die doch seit 50 Jahren unter Betrachtung steht wie kein zweites Ereignis unter der Sonne, ist insoweit unaufgeklärt. Wenn nicht dem Allgemeinverständnis, so doch der Wissenschaft ist bekannt, wer dabei war. Befehlsketten, Dienstwissen, Bescheidwissen sind kaum noch strittig. Aber der Grund ist ein Rätsel. „Das ist das Schrecklichste für mich" sagte eine arische Frau Eger zu Klemperer „daß die Leute immer sagen 87

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,Etwas muß doch ihr Mann gemacht haben, man tötet doch niemanden ohne Grund.'" Eben dies soll nach dem Allgemeinverständnis aber den Juden widerfahren sein. Man tötete sie ohne realen Grund, nämlich aus einem irrealen Grund, aus einem Spleen, aus Rassenhaß. Das war Hitlers Tatmotiv, darum der Befehl. Die Ausführung erfolgte aus Angst, aus Gehorsam, in Unwissenheit, um Schlimmeres zu verhüten. Und wenn nicht bei der Gestapo so doch unter den KZ-Schergen sollen doch Rassenhasser gewesen sein. Neben den vielen Endlosem also, die keinerlei die Juden berührenden Motive gehabt hätten, blieben als Interessenten die obsessiven Antisemiten in der Reichskanzlei und neben der Gaskammer übrig. Daß die Mörder Rassenhaß verspürten steht außer Frage, fraglich ist nur, warum der Rassenhaß 1941/42 zum Mord führte. Nagte er doch im Sommer 1940 nicht minder tief an den Nazis als ein, zwei Jahre später. Dennoch betätigten die Judenexperten damals ihren Rassenhaß fieberhaft mit Evakuierungsplänen, darunter solchen Verrücktheiten wie dem Madagaskarplan. Durch den erwartungswidrig sich hinziehenden Krieg waren die ethnischen Säuberungen unpraktikabel. Hätten aber die Briten 1940 erwartungsgemäß ihre Luftschlacht über England verloren oder aus Friedensliebe kapituliert, dann wären vielleicht die Juden des Kontinents so improvisiert und chaotisch vertrieben worden, wie sie seit Sommer 1941 vernichtet wurden. Es müssen also zwischen dem Sommer 1940 und dem Januar 1942, dem Datum der Wannseekonferenz, innerhalb des Rassenhasses Zustände eingetreten sein, die ihm den definitiven Vernichtungsimpuls hinzugefügt haben. Und in den nachfolgenden 33 Kriegsmonaten muß der auslösende Faktor insoweit stabil geblieben sein, daß die Unternehmung nicht, wie die vorherigen Lösungen der Judenfrage, vorzeitig abgebrochen, sondern daß sie die endgültige wurde, die Endlösung. Zum Allgemeinverständnis, im Urteil der Gerichte und im Gedächtnis der Zeitgenossen sind die im Laufe der Vollstreckung gelieferten offiziellen Ausführungen unernst, Redensarten, dummes Propagandagewäsch, das niemand geglaubt habe. Dazu zählen die Führerreden, die Goebbels-Artikel, die ganze Nazi-Bewußtseinsindustrie, die in den völkermörderischen Jahren pausenlos Genozid suggerierte, verlangte, begründete, die Luft förmlich mit Mordlust verpestete, die Hemmungen abstumpfte. Das alles hätte mit dem zugleich vollstreckten, unwissentlich präparierten und im Verborgenen vollzogenen Völkermord nicht das mindeste zu schaffen. Der propagierte Völkermord lenkte von dem vollstreckten ab, war Irreführung, Täuschung, Lug und Trug. Prüft man die Völkermordpropaganda trockenen Blickes, wie Klemperer es tut, so atmet sie wüsten Antisemitismus. Der aber expliziert sich nicht mit sich selber. Die Juden werden nicht umgebracht, weil sie Juden und darum lebensunwürdig sind. Hitlers Genozidreden und das ganze daran angehängte Trommelfeuer Goebbels' lassen davon in der Tat kein Sterbenswort verlauten. Diese, seine mutmaßliche Privatmeinung hätte er denn den Deutschen verheimlicht, soviel ist wahr. Hingegen überschüttete er sie mit seiner Dienstmeinung als oberster Kriegsherr. Als solcher mußte er die Kriegsursachen und Kriegsziele und Kriegslisten kennen. Gewisse Erfolge waren ihm ja bis Ende 1941 schwer abzusprechen. Und so 88

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rief er von seinem Berliner Feldherrnhügel, daß die Juden am Krieg schuld seien. Seine ganze prekäre Frontenbildung, das widernatürliche Bündnis von Kapitalismus und Bolschewismus entstünde aus dem arteigenen indirekten Kriegsstil des Weltjudentums. Es wiegele kunstvoll alle anderen zum eigenen Nutz und Frommen auf. Weil alle Kriegskonflikte der Völker nur durch das eine Judenvolk auf die Welt kämen, müsse es von der Welt verschwinden. Dann herrsche Frieden und Eintracht und mehr wolle Deutschland im allgemeinen und Hitler insbesondere nicht. Die Idee von der jüdischen Kriegsschuld ist genauso hirnverbrannt wie das Gerede vom jüdischen Ungeziefertum. Darauf kommt es aber nicht an. Kriegsbereitschaft wird öfter mit hirnverbrannten Behauptungen gespeist. Unstrittig gab Hitler sich als Besitzer einer politischen Wunderwaffe aus. Von 1941 bis 43 sollte sie bewirken, die Judenmarionetten Roosevelt, Churchill und Stalin durch die Vernichtung ihrer Rassenhintermänner zu schwächen, abzuschrecken und in die Knie zu zwingen, die friedliebenden Völker Europas gegen den gemeinsamen Feind und hinter Deutschlands Führung zu scharen. 1943/44 sollte sie bewirken, die Deutschen und ihre Verbündeten aus Furcht vor der jüdischen Rache an der Kapitulation zu hindern. Hitler hat den Versuch unternommen, seinen Ausrottungsfeldzug gegen das Judentum dergestalt zu begründen. O b dies aber das Motiv der Naziführer oder nur ihr Vorwand gewesen ist, wissen wir nicht. Es gibt dazu keinen Aktenbeweis und wenn ein solcher Plan je schriftlich fixiert worden wäre, hätte man ihn beizeiten vernichtet. Es gibt überhaupt keinen niedergelegten Plan, Befehl, Stenogramm, nur Ausführungsverordnungen. So ist alles geheimnisvoll bis auf das, was ganz obenauf zu Tage liegt. Klemperer zählt zu den wenigen, die der Realitätstüchtigkeit der Parole vom jüdischen Krieg Aufmerksamkeit leiht: „14. Januar 1945: Jeder Tag predigt aufs neue, daß dieser Krieg für das 3. Reich wirklich der jüdische Krieg ist." „20. Juli 1944: Leitartikel der ,Dresdener Zeitung'. Juden in der Normandie'. Noch werde gekämpft, da erschienen schon die ,ewig Gierigen', die ,Krummnasigen' um Besitz zu ergreifen. Es sei ja ,ihr* Krieg,,Alljudas' Krieg ... Wichtig an alldem ist mir dies: 1. Erstes Dekret der Alliierten ist überall Aufhebung der Judengesetze. 2. Die Judenhetze, das Zusammenziehen aller Feinde in den Feind namens Jude wird deutscherseits immer grotesker." „11. Dezember 1943: Ein karikiertes Judengesicht zwischen Fahnen der Alliierten vorlugend: ,Der ist schuld am Kriege!'" „24. Juli 1943: Der Vorschlag einer Chicagoer Zeitung, England solle sich in die USA aufnehmen lassen: Jüdischer Plan, die Weltmacht endgültig zu erringen. Weltherrscher werden dann die Juden im Weißen Haus." „24. Juli: Die Kriegslage schien für Deutschland sehr bedrückend, und schon steigt wieder ihre Judenhetze an. Das Radio brachte zum ,Terrorangriff auf Rom', der Uberfall sei von den Juden befohlen worden, er bedeute den Krieg des Judentums gegen die Christenheit." Klemperer zeichnet den hermetischen Deutungsrahmen, den Hitler und Goeb89

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bels dem Krieg überstülpen. Wieweit die Deutschen der Propaganda vom „Jüdischen Krieg" gefolgt sind, konnte er nicht wissen. Soviel steht fest, sie sind dem Propagandisten gefolgt und zwar so blindlings und selbstvergessen, wie diese es sich selbst nicht hätten träumen lassen. Wieweit diese Hingabe Führern gezollt wird, denen man nicht ein Wort ihrer Zentralbotschaft abkauft, steht dahin. Wahrscheinlich ist es nicht, doch brauchen wir hier nicht allein in Vermutungen zu stochern. Die Judenvernichtung erscheint in einer recht authentischen Quelle, den Feldpostkarten von der Ostfront. Der Befehlslage nach hatte sie dort nichts zu suchen. Im Herbst 1941 waren den Soldaten die seit einem Vierteljahr wütenden Massaker der Einsatzgruppen der Himmler-Polizei militärisch erläutert worden. Es handele sich hier um eine Sicherungsmaßnahme, verkündete ihre Heeresführung, die Spezialverbände durchführten und den Soldaten nichts angingen. Notwendig sei allein, daß er sie verstünde. Ohne Befehl eines Offiziers habe er den Massenexekutionen weder beizuwohnen, noch sie zu photographieren oder mitzuteilen. Die notwendigen Mitteilungen waren auf den normalen Dienstweg beschränkt. Die Orts- und Feldkommandanturen meldeten den Quartiermeistern im Generalstab der Armeen, welche Gebiete von den Todesschwadronen judenrein gemacht worden waren. Der Einsatzkommandoführer sprach seine Einsätze mit den Abwehroffizieren der Armeestäbe vorher durch und erstattete nachher Meldung. Für den Wehrmachtssoldaten genügte das Wissen, daß die Kommandos im Auftrag der politischen Führung operierten. Die Juden würden ausgerottet 1. weil sie die biologischen Träger der bolschewistischen Führungskaste seien, 2. weil sie die Träger des Partisanenkampfes und der Spionage im Besatzungsgebiet seien. So begann auf Wehrmachtsterritorium die Endlösung unter den Augen und in Kenntnissetzung von Millionen von Landsern. Sie haben daran keine Erinnerungen, aber die Aktendokumente sind Legion und hinzutritt die Kunde, die sie trotz Verbotes nach Hause schrieben und zu Hause erzählten. Ihre Erlebnisse waren zu neuartig, aufregend und ungeheuerlich, als daß sie hätten geheim bleiben können. Wenn man im Einzugsgebiet von 150 Divisionen 700 000 Menschen füsiliert, muß es sich herumsprechen. Eben weil das so ist, mußten die Armeeführer den Sinn der Sache ihrerseits zur Sprache bringen und eine feste Befehlslage herstellen. Erstaunlicherweise erfaßten die Führerbegeisterten im Rußlandheer den Sinn schon auf Anhieb und längst bevor die Generäle darüber aufklärten. Das Augenscheinliche und die Begriffswelt des NS-Staates verbanden sich mühelos zu einer Vorstellung des Unvorstellbaren. Die Einzelheiten, die heute mit dem Wüten der Einsatzgruppen verbunden werden, die blutige Gestalt des Massakers, nehmen in den Berichten allenfalls zufällig Raum ein. Man hat etwas gesehen, möchte aber wegen kriegsbedingter Geheimhaltung nichts Näheres mitteilen. Stattdessen wird das Geschehene oder Gehörte wie selbstverständlich mit den öffentlichen Ankündigungen Hitlers vom Ende der jüdischen Rasse in Europa in Verbindung gebracht, die fällig werde, wenn sie Deutschland in einen Zweiten Weltkrieg verwickele. Niemand schreibt: Hitlers Geschwätz ist ernst gemeint! Wer hätte das gedacht! „Der Jude muß wissen" schreibt der Angehörige einer Nachrichten-Kompanie im 90

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August '41 „daß der Führer mit seinem Wort Ernst zu machen pflegt und hat nun die entsprechenden Konsequenzen zu tragen. Sie sind unerbittlich hart, aber notwendig, wenn endlich Ruhe und Frieden unter den Völkern einkehren sollen." Ein Unteroffizier schreibt im August 1942 nach Hause: „Es muß und wird uns gelingen, die Welt von dieser Pest zu befreien, dafür garantiert der deutsche Soldat der Ostfront, und wir wollen nicht eher zurück, als hier die Wurzel des Übels ausgerissen und die Zentrale der jüdisch-bolschewistischen ,Weltbeglücker' vernichtet ist. Mögen unsere Wünsche recht bald in Erfüllung gehen, denn nur dann kann uns ein frohes Wiedersehen vereinigen, wenn wir uns dem jüdischen Einfluß von innen und außen befreit wissen." Ein Obergefreiter, der an einem Sonntag im März 1943 über den Sinn des Krieges nachsinnt - Stalingrad war verloren, die Angloamerikaner kämpften sich ihren Weg durch Italien hoch - glaubt, daß der Jude in Deutschland seinen gefährlichsten Gegner erkannt habe „den er mit Hilfe anderer arischer Menschen vernichten will. Als Kämpfer selbst tritt er nicht auf, dafür arbeitet und hetzt er im Hintergrund und hat dabei alle Fäden in der Hand, ist aber deshalb schwer selbst zu bekämpfen. Er bedient sich dabei aller Mittel und Völker. Seien es Katholiken, Bolschewisten, Protestanten, mag er sie nach der Vernichtung Deutschlands selbst bekämpfen, jetzt ist alles recht, um das erste Ziel zu erreichen." Deutschland, schrieb ein Unteroffizier im selben Monat, existierte nach einem verlorenen Krieg nicht mehr. „Es kann doch nicht sein, daß der J u d e siegt und herrscht. Die Engländer und Amerikaner sind sowieso die größten Verräter an der weißen Rasse und an der germanischen Kultur. Sie wissen ganz genau, worum es geht. U n d die wollen uns mit Hilfe der Russen als Konkurrenten aus dem Feld schlagen. Und wissen vielleicht selbst nicht, daß sie damit nur den Juden dienen." Die Verschwörung des Judentums erscheint als einzig plausible Erklärung für die absurde Frontstellung eines Krieges, der die Bolschewisten und US-Imperialisten in einem Ring um Deutschland zusammenschweißt. Im Mai 1943 grübelt ein Unteroffizier im besetzten Lyon über die „Hintergründe des Roosevelt-Krieges. Wo wäre wohl England jetzt, wenn die U S A sich neutral gehalten hätten? Ich glaube, der Krieg wäre schon längst zu Ende. Aber es muß tatsächlich der Jude hinter allem stecken, der uns vernichten will und nachher über den Trümmern der Welt herrschen. Und das darf nicht geschehen, komme was will." Zwölf Tage später kommen in demselben Offizier Gedanken an den 1914-18 Krieg hoch. „Der Weltkrieg ist dadurch für Deutschland verloren gegangen, daß die Moral in der Heimat von der Feindpropaganda und den Juden untergraben worden ist. Sollte das nochmal passieren? Was dann kommen würde, das können wir uns alle an den 5 Fingern abzählen." Der verletzliche Rücken der Front ist nun nicht mehr die deutsche Heimat wie 1918, sondern viel weiträumiger, kontinentaler: es ist das besetzte Europa. Dort, wo die Besatzungstruppen dünn sind, weil die russische Front die Mannstärke schluckt, dort ist die Durchhaltemoral, die Kollaborationsbereitschaft, die lähmende Furcht der Garant der deutschen Herrschaft. Die Herrschaft ist materiell zu brüchig, um durch militärische Gewalt gesichert zu werden. Sie stützt sich ab mit der Gewalt über die Seelen und Empfindungen. 91

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Der Rassengedanke ist nationenübergreifend. Er liiert etwa Deutsche und Franzosen, so daß ein Hauptmann des Reserve-Artillerieregiments 5 im August 1942 schreibt: „Uber die Judenfrage kann man nur sagen, daß man erstaunt sein muß, wie wenig die französische Bevölkerung - auch sogenannte gebildete Kreise - hier noch der Aufklärung bedürfen. Frankreich wird einmal sehend werden." Staaten, wie das verbündete Ungarn, die sich noch nicht an die Juden vernichtungspolitik des Reiches geschmiedet haben, sind, unsichere Verbündete. „In Ungarn ist alles schön und gut" schreibt ein Infanterieleutnant im Juli 1941 „nur ist uns Deutschen das freie Umherlaufen der vielen Juden unerträglich. D a ist dieses Volk gewissermaßen immer noch Träger der Nation. Sie sind tonangebend, weil sie eben das ganze Geld besitzen. Zwar hat man zwei den Nürnbergern ähnliche Gesetze geschaffen, aber all das nützt noch nichts." In Litauen ist die Kollaboration schon weiter. „Die Juden," heißt es hier mit Datum 10. April 1942 „auch Frauen und Mädchen, dürfen nur in Kolonnen von litauischer Polizei begleitet, aus dem Ghetto auf die Straße zur Arbeit gehen und werden haufenweise erschossen, da man sie los sein will und ihnen vorwirft, mit den Partisanen der Umgebung gemeinsame Sache zu machen." Der Rücken der Front ist das deutsche Trauma schlechthin. Von dort aus wird der Dolch gezückt, dort schnappt die Falle zu; die Kämpfer sind eingekesselt, von Versorgung abgeschnitten und leichte Beute für das Massaker der Bolschewisten. „Wir liegen noch etwas weiter zurück," schreibt der Sanitäts-Unteroffizier eines Bau-Bataillons „so daß wir mit den Russen noch nie in Gefechtsberührung gekommen sind. Allerdings treibt sich im rückwärtigen Gebiet noch allerhand lichtscheues Gesindel umher, das unter Umständen gefährlicher ist als vorn im Kampf. Es ist kein Gegner im offenen Kampf, sondern er sucht seine Beute bei Nacht. Kürzlich wurde ein Kamerad von uns, bei Nacht ermordet, im Walde aufgefunden. Er wurde von hinten abgestochen. D a s kann nur der Jude sein, der hinter diesen Verbrechen steckt. Die darauf vorgenommene Razzia ergab auch einen ganz schönen Erfolg. Die Bevölkerung selbst haßt den Juden wie noch nie. Sie sehen jetzt ein, daß er an allem die Schuld trägt. Dieser Kampf muß bis zum äußersten geführt und durchgekämpft werden, dann wird die Welt den ewigen Frieden finden." Der Jude ist der Sammelbegriff für alles Undurchschaubare im internationalen System, für alle Gefahr aus dem Hinterhalt, für alle Vernichtungsängste wenn der Feldzug fehlschlägt. „Mami," schreibt ein Gefreiter im August 1944 „ich möchte Dir etwas schreiben, aber nicht lachen. D u weißt doch, die ganze Sache steht auf der Messerspitze. Es geht jetzt doch um die Entscheidung und ich habe das Gefühl, als wenn das Messer abbricht. Der Krieg geht seinem Ende entgegen, aber ich glaube nicht für uns. D u weißt doch, der Jude wird eine Blutrache nehmen, hauptsächlich an den Parteileuten. Ich war ja leider auch einer, der die Parteiuniform getragen hat. Ich habe es ja schon bereut. Ich bitte Dich, bringe die Uniform beiseite, ganz gleich wohin und wenn D u die ganzen Sachen verbrennst. Ich kann schon des nachts nicht mehr schlafen darum." Den Müttern allerdings ist nicht unbedingt nach Weglaufen zumute. „Liebe Mutter," schreibt ein Obergefreiter im April 44. „Deine Einstellung den Juden gegenüber hat sich auch mächtig geändert. Hast D u die Juden nicht vorher 92

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bedauert und jetzt willst Du sie sogar schlagen helfen. Ja, ja, die Zeiten ändern sich." In verzweifelter Zeit hält die Vergeltungswut das Volk beisammen; die Juden erfüllen ihre Bindefunktion noch als sie längst tot sind. „Hier im Dorfe," schreibt ein Gefreiter zur gleichen Zeit „hat es mal viele Juden gegeben, neulich hatten wir Pech, beim Tarnen der Geschütze (Einpflanzen von Bäumen) stießen wir auf eingescharrte Leichen. Ja, man kann so allerhand erleben, aber es kann uns als alte Krieger nicht mehr erschüttern." Der Sinn der Vernichtungsmaßnahmen steht ihnen unerschütterlich vor Augen „denn es kann und darf nicht sein" schreibt ein Unteroffizier im August 1944 „daß wir den Krieg verlieren, dann sind wir Deutschen unrettbar verloren. Die Juden werden über uns herfallen und alles ausrotten was deutsch ist, es würde ein furchtbares und grausames Hinmorden geben." Insofern wäre das furchtbare und grausame Hinmorden der Juden eine legitime Vorbeugung gewesen. D a s ist von Anfang an als ein logischer und kaum verwunderlicher Vorgang erschienen. Im August 1941 schon kannte ein Gefreiter „die Tatsache, wie die Judenfrage mit einer imponierenden Gründlichkeit gelöst wird." Die Maßnahme währte gerade acht Wochen, doch es war völlig klar, was sie bezweckte. „Es geht für uns," schreibt ein Leutnant im Februar 1942 „um die Gewinnung Europas, für die anderen ein großer Verlust, im Grunde aber eben um die jüdische Weltgeltung, die unserer Lösung der Judenfrage, die Vernichtung des deutschen Volkes entgegenstellt. Es ist schon ein Glaubenskrieg und zwar ein sehr radikaler, an dessen Ende nur vollständige Vernichtungen stehen." Und im Dezember 1942 heißt es aus Rußland „Es spricht aus allem die schrecklich chaotische Fratze des Judentums. Ich glaubte das nicht, bis ich hier herkam. Es gibt nur eins für das Judentum: Vernichtung ... und die Einmaligkeit unserer Sendung ist mir bewußt." Die Sendung der deutschen Kriegernation scheiterte und alles stellte sich als falsch heraus. Nicht das Judentum hatte den Krieg angezettelt sondern Hitler. Die Juden rotteten das geschlagene deutsche Volk nicht aus, sie waren selbst ausgerottet und zwar völlig nutzlos. Dadurch war der Krieg nicht entschieden worden. Der Völkermord hatte jeden Sinn verloren. Das hatte man nicht wissen können und darum war es insofern richtig: Man hätte von der ganzen Sache nichts gewußt. Das, was man gewußt hatte, den jüdischen Krieg, hatte es nie gegeben. U n d von Krematorien, die irgendwo hinten in Schlesien gelodert hatten, davon hatte man nichts gewußt. An was erinnerte man sich heute, wäre die Sommeroffensive 1942 an ihrem Scheitelpunkt in Stalingrad im September gelungen? Davon trennte die 6. Armee zeitweilig nur wenige hundert Meter Wolgaufer. Worauf hätten die Deutschen diesen Sieg zurückgeführt? Nicht zuletzt doch auf Hitlers sachgerechte Behandlung der Judenfrage. Der Rassenstolz hätte die legendäre Kampfkraft des Wehrmachtsoldaten beflügelt, die radikale Ausrottungswelle hätte die Loyalität der ukrainischen Bevölkerung angelockt, die sich dergestalt materiell davon überzeugen konnte, daß sie von den Gottesleugnern und Tscheka-Agenten, vom Trägervolk des Bolschewismus befreit wurden. So widerstanden die Ukrainer dem Partisanendruck, verkauften den Deutschen freudig ihren Weizen, ihre Hilfsdienste und traten sichtbar auf die Seite des Besatzers, indem sie in den Einsatzgruppen Schützenhilfe leisteten und den 93

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Zielen des Reiches dienten. Die Judenpolitik in West- und Südeuropa schließlich stiftete die spontane Identifikation in Frankreich, Holland, Ungarn, Kroatien, Rumänien mit der Operation Barbarossa. Diese Länder stellten Trüppen, vor allem aber arbeiteten sie aus Leibeskräften an der Belieferung des deutschen Nachschubs. Sie begriffen, daß dieser Kreuzzug ein neugeborenes politisch-rassisch entschlacktes Europa anstrebte. So hätte man den Genozid als die einzig richtige Methode gepriesen, das Übel an der Wurzel zu packen, die Störenfriede bequem auszuschalten und eben dadurch die Gutwilligen miteinander zu verbünden, anstatt sich in künstlichen Gegensätzen blutig zu zerreiben. Die Judenmassaker an der Ostfront paarten sich mit dem Ziel eines deutschen Lebenskrieges, in dem ohnehin -zig Millionen unnützer Esser, Unruhestifter und rote Führungseliten auszumerzen wären. Die Hauptdeportationszeit ist mit dem gewaltigen Truppenverschleiß an der Ostfront verbunden, der dem eroberten und verbündeten Kontinent im Westen und Südosten Besatzungskräfte entzogen. Hier im Rücken des gigantischen Ringens keimte die Furcht vor Sabotage, Spionage und Zusammenbruch bei anglo-amerikanischer Landung. Ihm beugten Terror Entjudung und Kollaboration vor. Die Deportationen waren das Medium des Terrors und der Kollaboration. So wirkten sie und andere Wirkungen standen nicht zu Gebot. Als die deutschen Städte in Trümmer fielen, glaubten unzählige Deutsche, was Hitler und Goebbels ausgesät hatten: Die Rache der Juden sei angebrochen doch Kapitulation sei glatter Selbstmord. Haben Hitler und Goebbels ihr Staatsgeheimnis darum ständig ausposaunt, um die Volksgenossen als Mitwisser auf Gedeih und Verderb an sich zu ketten? Weil das Experiment Kriegführung durch völkermörderischen Terror die dahineingesetzten Hoffnungen verfehlte, steht es als fremdes, ganz und gar unbegreifliches Grauen als das Medusenhaupt der Zivilisation da. Es wird ausgiebig verflucht und bewehklagt und zwar dermaßen heftig, daß Versuche, die Ereignisse als Menschenwerk, als Erfolgskalkül, als Mittel zu Zwecken zu verstehen, mißfallen. Der Genozid wird eingehegt als unverständliche, jede Vorstellungskraft sprengende Passion. Versunken in die namenlose Q u a l der Opfer, gilt die Rekonstruktion der Tatmotive als Profanie. Davon will man ungern wissen. Die Geschichte des „jüdischen Kriegs" ist vorerst ungeschrieben. Dabei quillt das Material aus allen Ritzen: Die Vorstellung eines deutschen Lebenskrieges, in dem der Feind um Dutzende Millionen unnützer Esser zu dezimieren wäre. Die Judenmassaker an der Ostfront gingen als Element in eine Flurbereinigung ganz anderer Dimension ein. Ferner, wie tief reichte die Wahrnehmung des anglo-amerikanischen Bombenkriegs als jüdische Vergeltung? Haben Hitler und Goebbels ihr Staatsgeheimnis nicht darum ständig ausposaunt, um die Volksgenossen als Mitwisser an sich zu ketten und ihnen Fluchtwege zu verstellen? „Eines möchte ich dem deutschen Volke sagen" dröhnt Göring kurz vor Einkesselung der Stalingrad-Armee: „was würde denn das L o s des deutschen Volkes sein, wenn wir diesen Kampf nicht gewinnen würden. Wird der Krieg verloren, dann bist du vernichtet. Der Jude steht mit seinem nie versiegenden Haß hinter diesem Vernichtungsgedanken. ... Dieser Krieg ist nicht der Zweite Weltkrieg, dieser Krieg ist 94

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der große Rassenkrieg!" Berichte des S D , Korrespondenzen ausländischer Diplomaten und amerikanische Nachrichtenquellen kurz vor der Kapitulation berichten übereinstimmend von der tiefen Prägung der Deutschen durch dieses Raster. Rührt die überreich bezeugte Zustimmung und Apathie angesichts der Deportationen aus der Genugtuung, dem jüdischen Vernichtungsgedanken durch einen Präventivschlag zuvorgekommen zu sein? Bestätigte der Bombenterror dies Deutungsmuster und hat Hitler durch Einweihung und Einbindung der Volksgenossen in den Genozid sie zum Durchhalten gezwungen? Haben sie darum ihre schönen Städte, Weib und Kind verbrennen lassen, weil sie sich im Zirkel vernichtender Schläge, Präventiv- und Gegenschläge gefangen wähnten? Die Verquickung von Krieg und Volkermord setzte Millionen von Reichsbürgern mit der Judenvernichtung in Zusammenhang. Sie haben Hitler das Phantom des jüdischen Weltfeindes geglaubt, dessen sich Deutschland auf Sein oder Nicht-Sein erwehren müsse. Sie haben diese „deutsche Geheimwaffe" - wie sie der NS-Arbeiterführer Robert Ley nannte - in die besetzten Länder getragen und über ihren Erfolg gestaunt. Also mußte irgendetwas daran sein. Die Geheimwaffe werde, - so Ley - , „eine Weltfrage werden, mit der sich alle Völker werden auseinandersetzen müssen." Für die von Deutschland besetzten und die mit ihm verbündeten Länder Europas hat das genau so zugetroffen. Der Antisemitismus war der Kitt der Kollaboration. Ohne Kollaboration aber wäre Europa nicht vier Jahr lang mit ganz bescheidenen Besatzungskräften eine deutsche Festung gewesen. Als nach ihrer Niederlage die Judenverfolgung auf den persönlichen Rassenwahn Hitlers zurückgestutzt wurde, ist die Hauptsache unkenntlich geworden: die enorme Gefolgschaft, die Loyalität, die Ausrottung im Kriege an sich zu binden vermag. Daß die kriegerische Bereitschaft, sich selbst und andere massenhaft auszulöschen, einer Besessenheit bedarf, liegt auf der Hand. Insbesondere derjenige, dem die materiellen Kräfte ausgehen, behilft sich mit seelischen. Im Wahn sind noch Leute mitzureißen, sich für eine eigentlich verlorene Sache zu opfern. Mit der härteren Willenskraft des rassisch Überlegenen den Sieg zu zwingen. Oder wenn er nicht mehr zu zwingen ist, Vergeltung zu üben für die unverdiente Niederlage. U n d Wahn steckt an, sammelt Verbündete, bildet Gemeinschaften an und für sich einander Fremder. Totaler Krieg bedeutet gemeinhin die unbeschränkte Mobilisierung der Wirtschafts- und Menschenressourcen. An dem Fall Hitler ist zu lernen, daß totaler Krieg auch durch totale seelische Inbesitznahme zu führen ist. Durch die Konzentration der psychischen Vernichtungsenergien. Ein solcher Krieg findet in sich keinen Halt mehr in rationalen Erfolgsberechnungen. Wie ein rasendes Geschoß zerschellt seine Raserei erst in dem Kessel einer gegen ihn aufmarschierenden Welt. So ist es den Deutschen widerfahren. Sie verloren mit dem Krieg begreiflicherweise ihr Gedächtnis daran, auf welchen Wegen sie sich in die Abgründe von Zerstörung, Leid und Verbrechen verirrt hatten. Weil der Irrtum offenbar war, gab man ihn Hitler, dem Wahnbesessenen, zurück. Etwas dermaßen Abstoßendes, Krankhaftes und Sinnloses wie das, was seine Führung erreicht hatte, hat niemand gewußt, gewollt und betrieben. Davon konnte man sich gar nicht energisch genug distanzieren. 95

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Nun ist es von absurder Zwangsläufigkeit, daß Leute auftauchen, die nicht ohne Resonanz resümieren, wie eine Tat, die keiner gewußt, gewollt und begangen hat, denn stattgefunden haben mag. Sie ist eine Lüge! Die Auschwitz-Lüge nimmt die Nachkriegsdeutschen auf unangenehme Weise beim Wort. Sie haben selbst die Wahrheit verdreht und eine Tat ohne Täter überliefert, ohne Tatmotiv, ohne erkennbaren Sinn. Der verlautbarte Sinn, den Hitler ständig eingehämmert und den ein Heer von Mitgestaltern und Schergen offenbar nachvollzogen hat, macht die öffentliche Gestalt der Endlösung aus. Ob die annoncierte Vergeltung der jüdischen Kriegsschulden Hitlers fadenscheiniger Propagandatrick oder seine innerste Triebfeder war, ist kaum ein Unterschied. Für das Gelingen des Genozids kam es nicht darauf an, was sein Erfinder glaubte, der als scharfsinniger Hasardeur eigentlich besser wußte, wie der Krieg entstanden war. Hitlers Gründe sind nur für seine eigene Biographie interessant. Für den Verbrechenserfolg ist die Tätergesinnung entscheidend, die Vorstellungswelt der Vollstrecker und ihrer Heimat, der völkischen Vernichtungsgemeinschaft. Ihr Tatverständnis ist von der Niederlage verschluckt. Doch ohne den Wahn, den Untergang mit dieser Tat abzuwenden, hinauszuschieben oder zu vergelten ist das Täterkollektiv unbegreiflich. Was veranlaßt hunderttausende von Offizieren, Soldaten, Polizisten, Diplomaten, Industriellen, Verwaltungsjuristen, Bahn- und Finanzbeamten inmitten der Mühe und Not des Krieges, mit Ausdauer und Hingabe die Entjudung des Kontinents vorzunehmen? Außerdem verlangen nicht nur die deutschen Absichten und Teilnehmer nach einer schlüssigen Erklärung. Die vernichteten Juden des Altreichs bilden knapp 3% der Opferzahl der Endlösung. Sie betraf überwiegend ein Dutzend besetzter oder verbündeter Länder. Ohne die Regierungen des Marschalls Petain aber, des Königs Leopold, des Marschalls Antonescu, des Monsignore Tiso und des Poglavnik Pavelic, ohne die niederländischen Eisenbahner, die französische Polizei, die litauischen und ukrainischen Hiwis wäre die Endlösung unweigerlich gescheitert. Die Deutschen okkupierten Frankreich mit 3000 Kopf Personal. Hingegen standen dort 100 000 französische Polizisten. 30 000 davon in Paris, wo 148 000 Juden lebten. Sie sind nach Karteien des Pariser Polizeipräfekten verschleppt worden. Die deutsche Kontinentalherrschaft fußte auf Terror und Kollaboration. Und die Überzahl der Terroristen waren Kollaborateure. Ihre Verwicklung in den deutschen Rassenkrieg kettete sie an den Okkupanten. Sie konnten mit ihm siegen, untergehen, doch nicht ihn verlassen. Aus naheliegenden Gründen hat die europäische Dimension der Endlösung in den beteiligten Völkern ebenfalls zu Umdeutungen geführt. Sie wollen alle zu allem brutal gezwungen worden sein. Das verträgt sich mit der Aktenlage genau so wenig wie die Ahnungslosigkeit der Stapoleitstellen im Reich und der Reichsbürger, die in den Laken der Verschwundenen schliefen, sich mit ihren Handtüchern trockneten, ihr Eingemachtes aufaßen, sie zuvor 4 Jahre Todesangst ausstehen und danach von den städtischen Schlachthöfen und Fäkalienbahnhöfen davonfahren ließen ohne Gedenken, wenn auch mit Hintergedanken. Das kann nicht sein. Es gibt keinen 96

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Grund an dem trockenen Eintrag der hellsichtigen Berliner Journalistin Ursula von Kardorff zu zweifeln, die ihrem Tagebuch zu Silvester 1942 Depressionen anvertraut „über die Ausrottung der Juden, gegen die die Masse der Bevölkerung allerdings gleichgültig bleibt." Die Bundesrepublik pflegt jahraus jahrein ein betretenes Gedenken an die Opfer bei gleichzeitiger Erinnerungslosigkeit an die Tat. An was sollen wir an den Gedenkstätten und Gedenktagen eigentlich denken? An Hitlers und seiner KZ-Bestien geheime Kommandosache? Oder an das völkische Vernichtungswerk, das die Feldpostkarten berichten? An den singulären Nazi-Völkermord, den seither Konventionen ächten und die Annalen der Menschheit schmähen? Oder an das totale Durchgreifen, das noch immer den Vollstreckern in der Vollstreckung überlassen bleibt? Den Genozid, der ihnen als Selbsterrettung und -entschlackung erscheint, wenn er begangen und als unbekanntes, abscheuliches Rätsel, wenn er vorüber ist. Der, den keiner abzuschrecken wußte. Die Raserei, die, als sie sich auflud, niemand entschlossen zertrat. Innerhalb ihrer Grenzen sowenig wie außerhalb. An eine zielstrebig projektierte Massenvernichtung, die Zwecken dient, Nationen fanatisiert, zusammenschweißt und politischen Desperados ausliefert. An einen Tötungsrausch, gegen den noch keinerlei Strategie gefunden ist. Man hofft noch heute, solche Rasenden kämen irgendwann von selbst zu Verstand. Und wenn nicht, dann durch gutes Zureden, geduldiges Wegsehen, kleine Prämien, leere Drohungen, halbe Maßnahmen. Das ist einmal der bitterste Irrtum der Zivilisation gewesen. Lange her, doch immer noch aktuell.

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Vor einiger Zeit wollte ein Teilnehmer jener Einrichtung, die sich Talk-Show nennt und nicht selten mit Friedrich Dieckmann als Talgschau bezeichnet werden könnte, in einer Debatte über die Auseinandersetzung der Deutschen mit ihrer Vergangenheit witzig sein und zitierte einen angeblichen Kollegen, der den Satz geprägt haben sollte: „Ich habe ein ganz vorzügliches Gedächtnis. Ich vergesse, was ich will." Es ist gewiß nicht der Ausdruck eigener Humorlosigkeit, wenn statt dessen darauf verwiesen wird, daß die wahre Anstrengung im Erinnern, nicht im Vergessen liegt. Es sei denn, man weitet das Bild aus und verhält sich wie im Schlager der fünfziger Jahre. „Alles vergessen heißt alles verzeihen" sang Heidi Brühl und gab damit dem Lebensgefühl auf eine denkbar prägnante Weise Ausdruck. Wer über den Versuch spricht, Vergessen zu verhindern, erinnert an den Kampf um die kollektive Erinnerung. Gegen den Kollegen aus der Talk-Show hilft deshalb nur der Hinweis auf die Anstrengung, die mit dem Willen zur Erinnerung verbunden ist, genauer auf die nicht selten ungeheure Anstrengung des Erinnerns. In der Tat: Erinnern ist anstrengend, nicht nur, wenn man sich selbst seines Weges vergewissern will. Denn Erinnerung ist der Neigung zum Vergessen abzutrotzen. Mit den Appellen am Sonntag und den Bekundungen des Geschichtsbewußtseins an Gedenktagen ist es ja nicht getan, denn die Last des Erinnerns berührt ja nicht die Vergegenwärtigung an sich, sondern die Vergegenwärtigung um unseretwillen, die wir aus verschiedenen Traditionen kommen und ganz unterschiedliche Vorstellungen von unserer Zukunft haben. Erinnern ist nicht nachteilig für ein Gemeinwesen - im Gegenteil. Schon in der Antike wußte man, daß das Vergessen der Motor der Veränderung zum Schlechteren ist. Polybios, der nach Aristoteles präzise den Verfassungskreislauf als Entwicklungsmodell beschrieben hatte, konstruierte keine Mechanik des Verfassungswandels, sondern eine Theorie zur Bedeutung des historischen Bewußtseins für grundlegende Veränderungen. E r sah im Verlust des Bewußtseins des Bürgers von den Ursprüngen seiner Gesellschaft aus einem schlechten politischen Ordnungssystem, etwa aus Tyrannis, aus der Ochlokratie oder der Massentyrannei, die Ursache für die Geringschätzung der guten Ordnung, in der er lebte. In diesem Sinne mag es gestattet sein, den Blick zurückzulenken zu jenen, die wie kaum andere befugt waren, den deutschen Nachkriegsgesellschaften ihren Ursprung immer wieder ins Gedächtnis zu rufen, jene, die sich angesichts der Nachfolgebereitschaft vieler ihrer Zeitgenossen vor 1945 auf verlorenem Posten wähnten und erkennen mußten, daß sie keineswegs automatisch als Regimegegner in eine allgemein anerkannte Stellung der Nachkriegsgesellschaft einrücken konnten. Dabei war zunächst alles so eindeutig. 98

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Mai 1945 - der Wunsch aller, die sich als Opfer und Gegner nationalsozialistischer Herrschaft betrachtet hatten, war nach langen, quälend langen Jahren endlich in Erfüllung gegangen. Die Niederlage hatte man herbeigesehnt und doch zugleich gefürchtet. Schließlich war der Wunsch immer spürbarer, immer mächtiger, immer drängender geworden: „Hitler muß w e g ! " Manche wußten seit 1939, daß Hitler selbst die Axt an seine Herrschaft gelegt hatte, andere, wie Moltke und Yorck, entschlossen sich im Mai 1940, - die Wehrmacht hatte die französische Armee in eine unvorstellbare Niederlage getrieben - über das Danach nachzudenken. Andere waren sich nach den nordafrikanischen Niederlagen, viele nach Stalingrad sicher, daß dieser Krieg nicht zu gewinnen war. Sie bereiteten sich im Inneren, aber auch im Exil auf die neue deutsche Demokratie vor, die bei aller Skepsis gegenüber der Demokratiefähigkeit der Deutschen unausweichlich war. Im Spätsommer 1944 hatten dann erstmals amerikanische Truppen deutschen Boden betreten. Das erwartete Ereignis, eine Kapitulation wie am Ende des Ersten Weltkriegs, war jedoch ausgeblieben. Deutschland wurde zum Schlachtfeld, denn der Nero-Befehl hatte die bis dahin in Europa von den Deutschen befolgte Strategie der „Verbrannten Erde" bewußt in das Heimatgebiet getragen. „Zwischen Bomben und Gestapo" lebte man dort immer gefährlicher, wie Ursula von Kardorff schrieb. Keine Beschwörung der Gefühle von Soldaten, die bis zuletzt zur Fahne mit dem Hakenkreuz gestanden hatten, kann aus der Welt reden, daß die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht wirklich eine Befreiung war. Zumindest waren in den Hochfrühlingstagen des Jahres 1945 Zusammenbruch, Niederlage und Befreiung vielfach noch eins. Und dennoch war spürbar, daß die von allen gemeinsam erlebte Situation - „das Ende des Dritten Reiches" - von den Zeitgenossen ganz unterschiedlich empfunden wurde. D a war der Regimegegner Eberhard Bethge, ein enger Freund von Bonhoeffer, der aus dem Gefängnis in der Lehrter Straße entkommen, unmittelbar zuvor aber noch enge Freunde und Angehörige verloren hatte, die hinterrücks erschossen worden waren, nachdem ihnen ihre Bewacher eröffnet hatten, sie seien frei - Stunden, bevor das Gelände von Soldaten der Roten Armee besetzt worden war. Er hatte seine engsten Angehörigen nicht nur zu beklagen, sondern zu beerdigen: die Brüder Bonhoeffer, Hans von Dohnanyi, Rüdiger Schleicher. D a war der Regimegegner Karl Ibach, als Kommunist 1933 einer der jüngsten politischen Gefangenen im K Z Kemna, 1936 zu langjähriger Haft verurteilt, 1943 in eine Bewährungseinheit gepreßt und in sowjetische Gefangenschaft geraten - als er sich dort als Regimegegner zu erkennen gab, erntete er nur lautes Lachen - Faschist oder Antifaschist, das sei doch gleich, er sei Deutscher. Ibach dachte an seine Eltern, die ihm nicht einmal vorgeworfen hatten, wegen seiner Uberzeugung in die Regimegegnerschaft und aus dieser in die qualvolle Haft geraten zu sein. Erst 1948 kam Ibach, der dem Ende der NS-Herrschaft entgegengefiebert hatte, aus der Kriegsgefangenschaft zurück und wurde einer der wichtigen Sprecher des Widerstands in Europa. D a war der Sozialdemokrat Kurt Schumacher, dem die Nationalsozialisten nie verziehen hatten, daß er Goebbels 1932 im Reichstag frei heraus erklärt hatte, sie würden „niemals das Maß seiner Verach99

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tung" erreichen. Langjährige Haft hatten ihn gezeichnet, aber niemals den Wunsch genommen, den Neuaufbau entscheidend mitzuprägen. Beherzt gründete er die SPD neu und machte sie für jenen Konflikt bereit, der vor genau fünfzig Jahren spürbar war und mit der Zwangsvereinigung von KPD und SPD zur SED nicht das letzte Wort hatte. In Thüringen hatte zur gleichen Zeit ein anderer ehemaliger Sozialdemokrat, Hermann Brill, bereits auf Wunsch der Amerikaner die Arbeit aufgenommen und in Weimar mit dem Aufbau einer neuen Stadtverwaltung begonnen. Er hatte die Befreiung des Lagers Buchenwald erlebt und sofort politische Verbindungen geknüpft, die eine Allianz der Regimegegner begründen sollte. Deshalb gehörten der Stadtverwaltung von Weimar Sozialdemokraten, Kommunisten und ein Liberaler an. Dennoch dürfen die Beispiele, die sich noch um viele andere - Gustav Dahrendorf, Ernst Lemmer, Theodor Heuß, Andreas Hermes, Jakob Kaiser - vermehren ließen, uns nicht täuschen. Es ist historisch nicht zutreffend, wenn man betont, die Nachkriegsordnung Deutschlands sei entscheidend aus dem Widerstand heraus geprägt worden - dies ist sowenig zutreffend wie die Behauptung, die aus dem Exil zurückgekehrten deutschen politischen Flüchtlinge hätten die Nachkriegsordnung entscheidend prägen können. Dies galt 1945 eigentlich nur für die Sowjetische Besatzungszone, wo Ulbricht und seine Moskauer Freunde durch die sowjetische Besatzungsmacht eine hervorragende Ausgangslage für die bevorstehenden politischen Auseinandersetzungen um die Macht bekommen hatten. Hinzu kam, daß viele Regimegegner ihren Widerstand nicht überlebt hatten und nicht zu ersetzen waren. Man stelle sich vor, Julius Leber und Wilhelm Leuschner, Adam von Trott zu Solz und Hans-Bernd von Haeften, Alfred Delp und Dietrich Bonhoeffer, Theodor Haubach und Carlo Mierendorff, Mertz von Quirnheim und Professor Kurt Huber, aber auch Willi Münzenberg und Anton Saefkow als unabhängige Kommunisten hätten mit Beck, Goerdeler, Hassell, Yorck, Moltke, Schwerin in der Stunde der Neuordnung zur Verfügung gestanden - sie hätten gemeinsam mit den Emigranten des deutschen politischen Exils die von Huber in seinem Schlußwort vor dem Volksgerichtshof so kategorial beschworenen „deutschen Dinge" bestimmt: eine geradezu phantastische Nachkriegsvision! Oder ist diese Vorstellung unrealistisches Wunschdenken? Vermutlich, denn weil die Mehrheit der Zeitgenossen Mitläufer waren, d.h. vielleicht sogar ehedem gläubige Nationalsozialisten, war nicht ausgemacht, daß die Regimegegner wirklich die Chance erhalten hätten, auf die sie hingearbeitet hatten. Diejenigen aber, denen die Stunde der Befreiung von der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft als der völlige Einsturz fest gefügter Strukturen und Vorstellungen vorkam, die wollten sich doch nicht völlig aus dem öffentlichen Leben verabschieden. Sie artikulierten sich dann in den frühen fünfziger Jahren in der Sozialistischen Reichs-Partei, der nationalsozialistischen Nachfolgeorganisation. In der Tat aber war nach 1945 nichts mehr so, wie es vorher war. Der Schock der Einsicht in Terror, Verfolgung, Rassenpolitik und Verbrechen des Völkermords saß tief, ein Schock, der sich mit den Bildern von den befreiten Lagern immer weiter ausbreitete. Das offenbar überlebensnotwendige Trennungsdenken angesichts der 100

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gefangen gesetzten hohen NS-Führer, der bald in Nürnberg Angeklagten und auch konsequent verurteilten Hauptkriegsverbrecher, fraß sich unwiderstehlich in das Selbstbewußtsein ein und bestimmte das Selbstwertgefühl der Deutschen, die sich bald stärker mit ihrer Entnazifizierung auseinandersetzten als mit den Verbrechen, die während des Krieges von Deutschen oder auf Befehl der Nationalsozialisten begangen worden waren: „Gott sei Dank, wir sind nicht so", so empfanden die meisten Deutschen und erklärten sich selbst zu Verführten, zu Bedrängten, zu Terrorisierten. Hannah Arendt etwa, die 1950 nach Deutschland gekommen war, benannte als den für sie „erschreckendsten Aspekt" deutscher Realitätsflucht die „Haltung, mit Tatsachen so umzugehen, als handele es sich um bloße Meinungen", aus dem das Recht eines jeden auf „Unwissenheit" abgeleitet wurde. Wenn sie konstatierte, das „Desinteresse an der Zurückweisung von Nazidoktrinen" sei bemerkenswert, so drängt sich geradezu die Fragestellung meines Vortrags auf: Waren Widerstand und Exil auf dem verlorenen Posten? Auf welche Weise ereignete sich das, was Helmuth James von Moltke als eine Frage der Gnade benannt hatte, die Wiedererrichtung des Bildes vom Menschen im Herzen der Mitmenschen durch die Auseinandersetzung mit dem Leiden, dem Fühlen und dem Wollen der Regimegegner. So befreit sie sich 1945 gefühlt hatten, so sehr hatten sie verdrängt, daß das Dritte Reich vor allem und zuerst einmal eine Mitläufer- und Denunziationsgesellschaft gewesen war, daß sie als Regimegegner vor 1945 in der absoluten Minderzahl waren und es nach 1945 zwangsläufig bleiben mußten. Erst im Zuge der Generationen konnte es eine Veränderung geben. Zunächst herrschte der stillschweigende Kompromiß zwischen Tätern und Mitläufern, aus dem bald dann auch der Kompromiß zwischen, - und dies sagte Adolf Arndt - , Stalingradkämpfern und Widerstandskämpfern wurde. Nur unter dieser Voraussetzung ließ sich ein Trennungsstrich zwischen „Nazis" und „Nichtnazis" ziehen, denn Antinazi, das wollte man nicht sein. Zu tief hatte sich das Gift der Diffamierung aller Regimegegner in die Köpfe eingefressen, zu quälend war das Gespür für das Versagen des einzelnen und der Mehrheit, zu beherrschend war der Wunsch, zu vergessen, nach vorne zu schauen. Als Axel von dem Bussche erstmals in der Göttinger Studentenzeitung den Widerstand positiv bewertete, gab es Proteste seiner Kommilitionen, gab es Nachfragen und Kritik. Die Hochschullehrerschaft verweigerte ebenso Diskussionen wie Offiziere, und wer über Schuld nachdachte, dem drohte nach 1945 in der Regel, ebenso isoliert zu werden wie vor der „Stunde Null". Und im Exil? Zumindest im Westen warteten viele vergebens und mit zunehmender Ungeduld darauf, zurückgerufen zu werden. Ernst Reuter, Erich Ollenhauer, Walter Janka - sie alle hatten doch immer „mit dem Gesicht nach Deutschland" gestanden, hatten durchgehalten, weil sie zurückkehren wollten, hatten sich immer Gedanken über den politischen Neuanfang gemacht und sich bereitgehalten. Einigen gelang es, zurückzukehren - andere warteten verzweifelt auf die Chance, schickten, wie Ernst Reuter, sogar die Familie vor, erkannten langsam, was Klaus Mann dann kurz vor seinem Selbstmord niederschrieb: „Wir werden nicht gebraucht". 101

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Emigranten - dies waren für viele Deutsche ebenso wie die Regimegegner, nach denen man Schulen und Straßen zu benennen mehrheitlich abgelehnt hatte, bis weit in die fünfziger Jahre hinein keineswegs Menschen, die wegen ihrer unbeirrt beibehaltenen und wiederholt bezeugten guten und zu respektierenden Gesinnung verfolgt, bedroht, vertrieben und schließlich ausgebürgert worden waren, sondern sie galten in der Regel als Verräter, die gegen deutsche Interessen gehandelt hatten. Und nicht selten wurden sie sogar als „Feiglinge" tituliert, die sich im Unterschied zu den Regimegegnern im Innern die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus innerhalb von Deutschland nicht zugemutet hatten. Emigranten - dies waren Regimegegner, die nicht nur für das Scheitern der ersten deutschen Demokratie mitverantwortlich gemacht wurden, sondern vielfach auch Menschen, die bei ihrer Rückkehr nach Deutschland fremde Uniformen trugen und sich in den Dienst der Besatzungsmächte stellten, die sie als Befreier bezeichneten. Keiner der zurückgekehrten Emigranten war vor Nachfragen und Spott, vor Attacken und Diffamierungen sicher; manche verzweifelten, manche zogen sich zurück, und nur sehr starke Menschen engagierten sich politisch und hielten die Nachstellungen aus. Die Auseinandersetzung um das Exil war im Deutschland der fünfziger Jahre zu einer Art Schlüsselfrage geworden, die immer wieder den Zustand der Republik charakterisierende und auch furchtbare Dimensionen aufwarf - ob es u m die Aufführung einzelner Stücke von Bertolt Brecht ging, um den Streit um Marlene Dietrich, u m eine Auseinandersetzung mit dem wohl bayerischsten aller Emigranten, Oskar Maria Graf, oder um einen handfesten, aber wohlfeil zu habenden Effekt in der parlamentarischen Auseinandersetzung, wie er sich an Herbert Wehner entzündete. U n d als exemplarisch erscheinen heute Versuche, den sozialdemokratischen Kanzlerkandidaten Willy Brandt in seiner Ehre zu verletzen und in „Acht und B a n n " ' zu tun, nur um einen leichten und raschen Vorteil in den politischen Wahlkampf-Auseinandersetzungen zu finden, den die Mobilisierung deutscher Vorurteile in der Konkurrenz zwischen Konrad Adenauer und Willy Brandt versprach. In dieser frühen Debatte ging es also niemals allein um die Bewertung des kommunistischen und des nichtkommunistischen Widerstands, sondern es ging generell und zunehmend um die Anerkennung des Exils als einer Möglichkeit der Regimegegnerschaft schlechthin, um die Würdigung der politisch verursachten Emigration der NS-Zeit als einer Form der Flucht, die zugleich Voraussetzung für die Fortsetzung der politischen Auseinandersetzung mit dem Staat Hitlers war. Damit ging es beim Exil um einen wichtigen Bereich und eine wirkungsvolle Ausdrucksform der Gegnerschaft zum NS-Regime neben dem Widerstand im Innern. Seit etwa gut zwanzig Jahren, seit der Einrichtung eines großen Forschungsschwerpunktes der Deutschen Forschungsgemeinschaft, gehört auch die Geschichte des Exils in den Zusammenhang der Regimegegnerschaft. Dies ist nicht zuletzt das 1

Hans Georg Lehmann, In Acht und Bann: Politische Emigration, NS-Ausbürgerung und Wiedergutmachung am Beispiel Willy Brandts, München 1976

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Ergebnis einer intensiveren Beschäftigung mit den Fluchtvoraussetzungen, mit den Lebenssituationen im Exil und mit den Leistungen der Emigranten bei ihrem Kampf gegen den NS-Staat von außen. Historisch gesehen waren überdies die Ubergänge zwischen Exil und Widerstand stets fließend: Manche Regimegegner versuchten, sich im NS-Staat zu behaupten, oder leisteten im Innern ihren Widerstand, ehe sie emigrierten. Andere kehrten nach ihrer Flucht aus Deutschland irgendwann zurück, um dann von innen heraus das Regime zu bekämpfen. Einige deutsche Emigranten wurden von paktierenden oder kollaborierenden Regimes ausgeliefert, wie etwa Vichy-Frankreich oder der Sowjetunion Stalins nach dem „Nichtangriffspakt" vom 23. August 1939; andere kämpften an beiden Fronten, etwa, indem sie sich unter den Bedingungen des Agenteneinsatzes in Deutschland einsetzen ließen. Den Nationalsozialismus konnte man überdies überall zu schwächen suchen, auch im Ausland, wo es die öffentliche Meinung zu beeinflussen galt, auch vom Ausland aus, indem man sich in den Dienst von Nachrichtendiensten, Redaktionen oder Beratergruppen stellte. Diese Vermischung der Linien zwischen Widerstand und Exil, die Uberlagerung der Fronten und der Aktivitäten an der äußeren Front der Emigration und an der inneren Front ist wissenschaftlich ebenso unbestritten, wie sie historisch real ist. Deshalb war es nur folgerichtig, auch in der widerstandsgeschichtlichen Darstellung die Konsequenzen einer langjährigen Widerstands- und Exilforschung zu ziehen. Ausdruck fand diese Verbindung in der Tatsache, daß Anfang 1980 der „Widerstand", einer der außerordentlich wichtigen Kultusministerempfehlungen entsprechend, auch in der historisch-politischen Bildung unter Einbeziehung des Exils, des Widerstands im Alltag, selbst der Desertion in den Unterricht aufgenommen wurde. Hier und heute erneut für eine Aufspaltung in Widerstandsbereiche im Innern und Exil zu plädieren, dies hieße mithin, eines der wichtigen Ergebnisse historisch-politischer Bildung und der Aneignung des Widerstands als tragende Säule unseres Ursprungsbewußtseins im Sinne des Polybios preiszugeben. Rufen wir uns deshalb die entsprechende Passage dieser fachübergreifenden grundlegenden Unterrichtsempfehlung ins Gedächtnis: die Schule, heißt es, müsse versuchen, den Widerstand in den Gesamtzusammenhang nationalsozialistischer Herrschaft und Politik zu stellen. Deshalb seien „auch die Widerstandsbewegungen außerhalb Deutschlands und die Aktivitäten von Emigranten im Exil zu würdigen". Die Ausgrenzung des deutschen Exils aus der Widerstandsgeschichte wäre ein Rückfall in die fünfziger Jahre. Es sollte mit einer engen Definition des Widerstands ein Ausschluß des Exils aus einem historischen Zusammenhang begründet werden. Man wandte sich bewußt von der Vielfalt der Perspektiven ab, davon, in dieser Vielfältigkeit ein Kennzeichen des Widerstands und des Exils zu sehen. Deshalb versuchte man, „Widerstand" auf nurmehr einen Nenner zu bringen, um gerade das in der Zukunft zu vermeiden oder unmöglich zu machen, was lange Zeit als Leistung der Widerstandsgeschichte galt: unterschiedliche weltanschauliche und politische Perspektiven, vielfältige Situationen der Widerständigkeit und Manifestationen auch des ziviles Mutes zu integrieren. 103

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Statt dessen wurde versucht, mit festem Blick auf ein geschichtspolitisches Ziel Widerstand so zu definieren, daß umstrittene Bereiche der realen Geschichte der Regimegegnerschaft von vornherein ausgeschlossen werden können. Der Schwerpunkt dieser politisch motivierten, also nicht aus der Bemühung um die Sache verständlichen Definition wurde dabei auf die Tatsache gelegt, daß als Widerstand nur jene gegen das NS-Regime gerichtete Handlung bezeichnet werden könne - und in Zukunft solle - , die „auf deutschem Boden" oder zumindest aus dem Machtbereich der Nationalsozialisten heraus erfolgt sei, die auf den Sturz des Regimes zielte und riskant war. Kurzum: Als Widerstand könne nur gelten, was sich innerhalb Deutschlands ereignet hätte. In letzter Konsequenz hätte eigentlich nur der Umsturzversuch des 20. Juli 1944 allen Kriterien genügt, denn nur er kam, wie Rothfels sagte, seinem Ziel nahe, den Umbruch zu erreichen. Wir wissen heute, daß dies einen großen Teil der politischen Gemeinsamkeit im Umkreis des Attentats darstellte - daß die Tat aber keineswegs die unterschiedlichen Auffassungen über die Ziele der Auflehnung und die Konturen der Neuordnung nivellierte. Es kam darauf an, Hitler und seine Herrschaft zu beseitigen - danach mußte eine neue Auseinandersetzung beginnen, die uns tief in die Verwerfungen der Nachkriegszeit, des Kalten Krieges und der deutschen Teilung geführt hätte. Vielleicht war das Ziel der Kritiker an einem Widerstandsbegriff, der sich auf die Verfolgungsabsichten der Nationalsozialisten und die Unterdrückungsmacht des NS-Staates bezog, der Versuch, diese Verwobenheit und Gleichzeitigkeit, die Dynamik und auch Widersprüchlichkeit von Exil und Widerstand zu verklären, sie um so undeutlicher zu machen, je mehr die Instrumentalisierung des Traditionsbegriffs als problematisch empfunden wurde. Denn in einer pluralistischen Gesellschaft wird und muß es vielfältige Geschichtsdeutungen und Geschichtsbilder geben, die auszuhalten sind. Das Exil gehört dazu - und es teilt die Verwerfungen unseres Jahrhunderts. Daran zu erinnern, ist nicht müßig. Mit einer bewußt verengenden Widerstandsdefinition hätte man gewiß das Ziel erreicht, vor allem die politischen Auseinandersetzungen unter deutschen Kriegsgefangenen im Westen wie im Osten nicht mehr als Thema der Geschichte des Gesamtwiderstands zu würdigen. Aber auch diese Konflikte sind ein Teil der deutschen Geschichte nach 1939 - und bis heute erinnern sich Kriegsgefangene an Diskussionen in den Gefangenenlagern über den Ausgang des Krieges, über die heftigen Debatten über die Bindekraft des Soldateneides, über die politischen Kontroversen, die auch nur einer leichten Andeutung möglicher Sympathien für die Hinwendung zur Demokratie des westlichen Typs folgen konnte. Wilton Park verkörpert zwar bis heute die Möglichkeit einer Umkehr in der Kriegsgefangenschaft, aber eben in der westlichen Gefangenschaft, ebenso wie die Zeitschrift „Der Ruf". Wer aber den Blick nach Westen wendet, kann ihn nicht vor den Verhältnissen in den sowjetischen Gefangenenlagern verschließen. Dies hat nichts mit Ehrung, viel aber mit der verwirrenden Fülle deutscher Geschichte zu tun. Auch die Zusammenarbeit zwischen Regimegegnern in fremden Armeen oder gar in den europäischen 104

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Widerstandsbewegungen wäre damit ausgeklammert worden. Der gewiß hohe Preis für eine derartige Bereinigung eines ohne jeden Zweifel sehr verwirrenden Bereichs deutscher Zeitgeschichte wäre aber die Ausklammerung der Geschichte des politischen Exils gewesen. Die Ausgrenzung des Exils aber bedient sich immer wieder, und dies seit 1945, eines moralischen - und deshalb eines prinzipiellen - Arguments: Risikobewußtes und risikobereites Handeln solle, so hörte man immer wieder, zwar besonderen Respekt verdienen; das schloß aber die Rechtfertigung der durch politische Flucht deutlich gemachten Regimegegnerschaft aus. Denn, so lautete das Argument, riskant lebte man im Reich, nicht aber im Ausland. Dieses Kriterium ist nicht abwegig konstruiert, sondern erinnert nur an eine von manchem für längst überwunden gehaltene Position, die sich in idealtypischer Klarheit in einer Studie findet, die in den frühen sechziger Jahren die „Technik und Moral einer Verschwörung" untersuchen wollte. In dieser Studie wird die Emigration neben dem „Selbstmord" und der „Desertion" als eine der untersten Stufen des Versuchs erwähnt, den Nationalsozialismus zu bekämpfen. Lapidar heißt es: „Wie der politische Selbstmord so war auch die Emigration und die Desertion eine Weise des Fortgehens. Der Schock, den die plötzliche, nicht totzuschweigende Abwesenheit eines prominenten Regimegegners in der Öffentlichkeit hervorrufen konnte, und die damit verbundene stumme Demonstration seiner Gegnerschaft machten die Emigration zu einem Politikum und damit zu einer ,Methode des passiven Widerstands'". Neben diesem Demonstrationseffekt konzidierte der Verfasser zwar noch die Möglichkeit, „von außen, vom Ausland her, nunmehr offen und ungehemmt mit geistigen Waffen weiterhin aktiven Widerstand leisten" zu können - dennoch bleibt seine Perspektive durch den Gegensatz des Widerstands „von innen", im Umkreis des 20. Juli 1944, und „von außen" geprägt. Deshalb faßte er die Ansicht der im Lande gebliebenen Widerstandskämpfer zusammen wie folgt: „Was konnte ein Emigrant praktisch tun? Er konnte Flugschriften und Broschüren verfassen, nach Deutschland einschmuggeln und damit Widerstandskämpfern im Lande fertiges Druckmaterial liefern - das dann aber noch verteilt, verbreitet werden mußte." Er fährt fort: „Das geheimpolizeiliche N e t z im ,Dritten Reich' war aber derartig engmaschig und perfekt, daß dieses illegale Schrifttum Spuren hinterließ und Verhaftungswellen motivierte, die jeden erfaßten, der verdächtig war". Einmal ganz abgesehen davon, daß wir heute große Zweifel an dem Bild des Gestapo-Netzes haben und viel stärker die Bedeutung des Denunziationswesens betonen, so wird doch auf diese Weise suggeriert, daß nicht nur ein ineffektiver Kampf von außen geführt wurde, sondern daß dieser Kampf von außen mit einer Gefährdung der inneren Front einherging. J a mehr noch: Durch das Exil scheint sich das Risiko im Innern noch zu vergrößern. D a der Koloß „mit verbalen Waffen" praktisch nicht zu stürzen war, scheint das Exil auf der einen Seite durch seine Wirkungslosigkeit, durch die zusätzliche Gefährdung der Deutschen andererseits charakterisiert werden zu können. Belastet mit dem Makel des Landesverrats, angewiesen auf die Macht des Wortes, ohne tiefen Rückhalt bei den Regierungen des 105

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Auslands, sondern bestenfalls bei den jeweiligen Oppositionsparteien, ohne staatsrechtlichen Status - etwa als Exilregierung - und nicht selten auch ohne moralischen Respekt - denn welcher Ausländer begriff wirklich, daß man als Deutscher die militärische Niederlage seines Landes herbeisehnte und in der bedingungslosen Kapitulation nicht nur das kleinere Übel, sondern die Voraussetzung für eine Erneuerung Deutschlands sah? - konnten die Emigranten bis weit in die Mitte der sechziger Jahre hinein niemals moralische und politische Anerkennung erlangen. Die Kluft zwischen ihnen und dem Widerstand schien unüberbrückbar zu sein. Dies änderte sich erst durch die Kanzlerschaft von Willy Brandt, denn dieser wurde als Beleg für die Möglichkeit einer „Existenz" im Exil und zugleich in einer als Regimegegnerschaft gedeuteten des Widerstands anerkannt-wohlgemerkt 1965. Der Vorwurf, durch Aktivitäten im Ausland, auch im Rundfunk, zur Gefährdung der Deutschen beigetragen zu haben, die wegen des Abhörens ausländischer Rundfunksender Gefahr für Leib und Leben riskierten, er wirkte hingegen noch lange nach. Diese Bemerkungen hätten vor wenigen Monaten wahrscheinlich Erstaunen hervorgerufen, denn sie reflektieren im Rückblick vor allem die Auseinandersetzung der Deutschen mit dem Exil in der Nachkriegszeit - bis weit in die sechziger Jahre hinein. Mit den geradezu periodisch aufbrechenden Widerstandsdiskussionen der vergangenen Jahrzehnte, die noch einmal im fünfzigsten Jahr des Attentats einen sich inhaltlich allerdings mehr als erschöpfenden Gipfelpunkt erreicht hatten, wird an die frühe „innere" Widerstandsdefinition angeknüpft, die seit den fünfziger Jahren den Zugang zu jenem Bereich bestimmte, den wir durch Schlagworte wie „Aufstand" oder „Vollmacht des Gewissens" kennenlernten. Die angeblich neue Definition vom Widerstand als dem von deutschem Boden ausgehenden Versuch, das Gesamtsystem zu stürzen, ist eine sehr alte Begriffsbestimmung und kann, wie viele der ihr vorangegangenen, weder ihren Zeitbezug noch ihre politische Ziel- und Stoßrichtung verbergen. Tatsächlich hat sich seit den späten fünfziger Jahren eine bemerkenswerte Ausweitung des Begriffsfeldes „Widerstand" ergeben, in der sich nicht zuletzt auch die Dynamik und der Anspruch moderner Diktaturen spiegelt: Protest, N o n konformität, Dissidenz, Selbstbehauptung, Distanz, Konspiration stellen Aspekte eines widerständigen Verhaltens dar, das sich im ideologischen Konflikt ebenso zu beweisen und zu bewähren hatte wie im mitmenschlichen Handeln oder in der Wahrnehmung der ganzen Verantwortung für sich selbst, für eigene Überzeugungen und auch für die eigene Nation, an die man, wir wissen es gerade von Emigranten, und gerade im Ausland gekettet bleibt, bis hin zur Internierung gemeinsam mit Nationalsozialisten, die im Ausland lebten, nur seiner Herkunft und seiner Sprache wegen. Jede dieser bisher angedeuteten Definitionen des Widerstands spiegelte politische Rahmenbedingungen und Absichten: Herrschte unter dem unmittelbaren Eindruck des NS-Staates noch in den frühen fünfziger Jahren eine naturrechtliche Rechtfertigung der Regimegegnerschaft in vielen Aspekten vor, die es erlaubte, auch einzelne anzuerkennen, die stellvertretend für andere handelten und sich an vorstaatlichen 106

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Menschenrechten orientierten, so galt seit der Mitte der fünfziger und vollends seit den sechziger Jahren nur der Umsturzversuch aus dem Zentrum der Macht als wahrer, anerkennungswürdiger Widerstand. Hatte man sich in den fünfziger Jahren noch das Gefühl für die besondere Bedeutung eines mutigen individuellen Eintretens gegen den NS-Staat in ganz unterschiedlichen Lebensbereichen bewahrt, so fragte man seit der Mitte der fünfziger Jahre stärker nach den Ordnungsvorstellungen der Regimegegner. Als „Aufstand des Gewissens" galt nun vor allem das Eintreten für Recht und Rechtsstaat - dies zielte sowohl auf die Erinnerung an den Widerstand in der D D R als auch auf die Begründung einer prinzipiellen Unterscheidung in einen angeblich totalitären und einen antitotalitären Widerstand - dies auch als Reaktion auf eine wachsende Zelebrierung des Widerstands in der D D R . Nun hatte man im Westen immer wieder auf die Erinnerung an den Widerstand im Osten zu reagieren - und umgekehrt. Dies war nicht nur nachteilig, wie oftmals behauptet wird, weil man sich in beiden deutschen Teilstaaten nur auf den Widerstand besonnen hätte, in dessen Tradition man sich selbst stellte. Sondern dies hatte auch positive Folgen. Denn jeder Versuch der Einengung von Traditionen wurde durch die Traditionsbildung im anderen Teil Deutschlands herausgefordert, fragwürdig gemacht und fast gezwungenermaßen in Zusammenhänge gerückt, welche die Erinnerung an den Gesamtwiderstand gegen den Nationalsozialismus zu einem der wenigen Bereiche von gesamtdeutscher Anerkennung machten. Dennoch wurde die Deutung der Vergangenheit seit den fünfziger Jahren zunehmend Ausdruck politisch beeinflußter Interpretationen der Vergangenheit, auch des Anspruchs der D D R , allein den konsequent antifaschistischen Strang der Geschichte zu verkörpern, was ja, wie nicht betont zu werden braucht, in gleicher Weise auf die Selbstlegitimierung der D D R und der Entlegitimierung der Bundesrepublik zielte. Dieser Konflikt erklärt Verzerrungen der Würdigungen, etwa die Rechtfertigung der „Roten Kapelle" als einer „verdienten Kundschaftergruppe" auf der einen, als erbärmliche landesverräterische „Spione Stalins" auf der anderen Seite und begründete die Diskreditierung ihrer Mitglieder, weil sie angeblich doch gar keinen Widerstand geleistet, sondern allein versucht hätten, eine Diktatur durch eine andere zu ersetzen. Dies berührte auch die Einschätzung des Nationalkomitees Freies Deutschland ( N K F D ) und des Bundes Deutscher Offiziere ( B D O ) , die in die Tradition der Nationalen Volksarmee ( N V A ) integriert wurden und folglich auch im Westen als „Keimzelle der D D R " empfunden wurden. U n d dies betraf in den fünfziger Jahren auch die Bewertung der deutschen Emigration, wie die regelmäßigen Debatten über Inszenierung einzelner Brecht-Stücke im Westen, die Distanz gegenüber Thomas Mann, das Unverständnis für Feuchtwanger und - u m ein bayerisches Beispiel in die Erinnerung zu rufen - die ehrabschneidende Diskussion über Oskar Maria Graf. Weil der nationalkonservative Widerstand, der aus dem Bürgertum und dem Militär hervorging, seit den fünfziger Jahren in der Bundesrepublik, der kommunistische Widerstand in der D D R anerkannt wurde, könnte sich die Folgerung aufdrängen, daß damit doch der Widerstand in die Erinnerung der Deutschen integriert worden sei und die Auseinandersetzung letztlich doch nur um Fragen gradueller Differenzie107

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rung ging. Wie ein Blick auf die Auseinandersetzung um die Würdigung des Exils zeigt, wäre dies ein Kurzschluß. Ich möchte mich deshalb einmal ganz auf die Auseinandersetzung mit Versuchen konzentrieren, die Geschichte des politischen Exils in die Widerstandsgeschichte zu integrieren und auf diese Weise die Versuche, die zum Sturz des NS-Regimes von außen beitragen sollten, aus der Widerstandsgeschichte zu verdrängen. In der Konzentration auf diesen Aspekt der Debatte möchte ich noch einmal die in den letzten Jahrzehnten unternommenen Versuche beleuchten, die Geschichte der Regimegegnerschaft unter Einschluß des Exils zu erforschen, darzustellen und zu vermitteln. Diesen Versuchen, die unser Bild vom Exil nachhaltig verändert haben, kommt bei der Kritik der jüngsten Ausgrenzungsversuche eine ganz besondere Bedeutung zu. Keine seriöse Gesamtdarstellung des Widerstands im Zeitalter der modernen Diktaturen könnte es sich heute leisten, auf die Berücksichtigung des Exils zu verzichten. Oder könnten wir uns vorstellen, daß die französische Resistance-Forschung auf die Erwähnung von Leclerc und de Gaulle verzichten würde? Es ist kein Zufall, daß versucht wird, mehr als fünfzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges eine neue Debatte über das Exil zu eröffnen. Den Sturz und den Untergang dieses NS-Regimes hatten viele Emigranten wie Regimegegner an der „inneren Front" herbeigesehnt, weil sie sich die Befreiung Deutschlands von nationalsozialistischer Herrschaft und die Rückkehr in ihr Land wünschten, für das sie auch nach ihrer Flucht und ihrer Vertreibung Verantwortung empfanden und für dessen Erneuerung sie arbeiten wollten. Gerade die Angehörigen des politischen Exils setzten auf Rückkehr, standen mit dem Gesicht nach Deutschland, setzten im Ausland die Auseinandersetzung mit dem verhaßten Feind fort, von dem sie nicht selten anzunehmen bereit waren, er hätte aus Deutschland das erste von den Nationalsozialisten besetzte Land gemacht. Die jüngste Debatte hat wohl auch damit zu tun, daß heute aus ganz naheliegenden Gründen der Kreis der aus Deutschland vertriebenen Emigranten und Regimegegner so klein geworden ist: Beide üben in der Politik und in der Publizistik kaum mehr einen nennenswerten Einfluß aus. Jeden Tag lesen wir neue Nachrufe auf Emigranten aus Deutschland und Regimegegner, lesen, was sie einstmals bedeutet haben - in der Regel für ihr Fach, weniger für unser Land, für unsere Forschung, unsere Kultur, für die akademische Lehre oder unser politisches Leben. Mühsam rechnend müssen wir uns klarmachen: Wer am Ausgang des Dritten Reiches dreißig Jahre zählte, ist heute bereits achtzig Jahre alt - die meisten Emigranten aber waren älter. Die heute lebenden Zeitgenossen der Endphase des NS-Staates, sie sind heute etwa 75 Jahre alt - sie zählten 1933 zwischen zehn und fünfzehn Jahren. Was sie über das Exil und das Dritte Reich berichten, zumal als im Lande gebliebene, hätte in etwa den Quellenwert späterer Erzählungen meiner Tochter, die jetzt sechzehn Jahre alt ist, über das, sagen wir einmal, Asylproblem oder über die Vereinigung des Jahres 1989 oder den Kruzifix-Streit, wohlgemerkt aber erst in fast sechzig Jahren. Die Zuspitzung der Debatte scheint also möglich geworden zu sein, weil die Gruppe derjenigen, die sich verteidigen könnte, so klein und auch so alt geworden ist. 108

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Deshalb können diejenigen, die Hitlers Machtergreifung als Kinder und den Zusammenbruch des Regimes als Mittzwanziger erlebt haben, heute mit dem Anspruch auf Zeitzeugenschaft sehr massiv, machtvoll und lautstark gegen die Einbeziehung des Exils in die Widerstandsgeschichte auftreten. Zeitgenossenschaft vermittelt sich überdies nicht nur direkt, denn wenn es so wäre, dann müßte diese das Ende der Geschichte als Wissenschaft sein, hat diese doch gerade und vor allem durch Uberlieferung, die der Historiker kritisch zu betrachten gelernt hat, der Erinnerung zu dienen. Die Uberlieferung des Exils macht einen guten Teil der Uberlieferung dieser Geschichte des vertriebenen Deutschland aus, ohne welches die Nachkriegszeit nicht denkbar ist. Wer das Exil auf diese Weise aus der Regimegegnerschaft ausgrenzt, verstellt den Nachwachsenden die Möglichkeit, diesen wichtigen Bereich deutscher Geschichte im Zeitalter der Diktaturen unseres Jahrhunderts zum Feld einer inneren Auseinandersetzung zu machen. Deshalb liegt es heute nicht zuletzt auch an denen, die in den vergangenen Jahren mit einzelnen Emigranten Kontakt hatten, durch sie mitgeprägt wurden und ihre Weltsicht, ihr Politik- und Weltverständnis, aber auch ihre Zukunftsperspektive durch die aus Deutschland vertriebenen Deutsche vermittelt bekamen, ob die in die Wirren der deutschen Vergangenheit gerückten Lebensgeschichten der Emigranten und deren Leistung aus den historischen Zusammenhängen gelöst werden, in die sie gehören: in die Geschichte der Auseinandersetzung mit Hitler und seiner Herrschaft - bei allen Unterschieden, die sich vor dem Exil und in den Zeiträumen ihrer Vertreibung, in den Jahren ihrer Auseinandersetzung mit den deutschen Verhältnissen, die mit dem Gesicht nach Deutschland geführt wurden, und in den Jahren der Rückkehr herausgebildet haben. Die Debatte über die Scheidung der Regimegegner in ehrenwerte und ehrlose, in Hochverräter und Landesverräter, in risikobewußte und das Risiko angeblich meidende wäre gewiß pietätvoller verlaufen, wenn wir uns in die Erinnerung gerufen hätten, wie zu anderen Zeiten die Toten geehrt, wie ihrer Taten gedacht wurde. Eines der ersten Zeugnisse bewegender Ehrung ist Ihnen vielleicht noch aus dem Schulunterricht bekannt. Anläßlich der ersten Totenbeisetzung erwähnt Perikles die Schwierigkeit, das „rechte Maß der Rede zu treffen, wo man auch die Vorstellungen, die jeder sich von der Wahrheit macht, kaum bestätigen kann: denn der wohlwollende Hörer, der dabei war, wird leicht finden, die Darstellung bliebe hinter seinem Wunsch und Wissen zurück, und der unkundige, es sei doch manches übertrieben, aus Neid, wenn er von Dingen hört, die seine Kraft übersteigen. Denn so weit ist das Lob erträglich, das anderen gespendet wird, als jeder sich fähig dünkt, wie er's gehört hat, auch zu handeln; was darüber hinausgeht, wird aus Neid nicht mehr geglaubt". Die Ausgrenzungsversuche zu Lasten des Exils aus der Geschichte der Regimegegnerschaft, die wir unter dem Begriff des „Widerstands" fassen, wurden von Zeitgenossen unternommen, die nicht emigriert waren, sondern das Dritte Reich in Deutschland überlebt hatten - insofern bietet Thykidides mit seiner Überlieferung der Rede des Perikles sicherlich eine Erklärung, die deutlich macht, weshalb man nun nach Unterscheidung, und dies heißt nach einer Gewichtung der Anerkennung, 109

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strebt. E s geht aber um mehr als um die Rahmenbedingungen einer politisch-ethischen und moralischen Würdigung: E s geht um die Revision einer in den vergangenen Jahren immer fester gewordenen Verbindung zwischen dem Kampf im Innern und der Auseinandersetzung mit dem NS-Regime von außen, eine Verbindung, die eine große Dynamik hat und in welcher sich die vermeintlich so klaren Grenzen verschieben. K ä m e es zu einer Ausgrenzung der Emigrationsgeschichte aus der Gesamtgeschichte der Regimegegnerschaft, so wäre dies Ausdruck einer bruchlosen Anknüpfung an Deutungen der fünfziger Jahre und die Relativierung einer Reputation, die seit den fünfziger Jahren gerade die Angehörigen der Emigration - auch und gerade der politisch und kulturell bedingten, in Deutschland und in der Welt gefunden hat. Dem, und ich will mein Ziel nicht verheimlichen, möchte ich mit meinem Vortrag entgegentreten, indem ich Schlaglichter auf die Aneignung der Erfahrung des Widerstands und des Exils in der Zeit nach 1945 werfe. Dabei geht es keineswegs um die Unterscheidung in die Richtungen des Exils, die bereits in der räumlichen Verteilung deutlich werden. Sinnbild dieser Richtungen sind vielfach die Orte, an die sich Regimegegner aus Deutschland flüchten konnten: Prag und Wien, die Schweiz und Paris, Brüssel und Amsterdam, London und Moskau, Stockholm, auch Warschau, Ankara und Haifa, schließlich Marseille, Lissabon, die Hauptstädte Mittel- und Lateinamerikas, auch Shanghai und die Dominikanische Republik, schließlich die Städte der U S A . Es geht immer auch um die politischen Kontroversen innerhalb des Exils, die einerseits die politischen Konflikte der Weimarer Zeit aufnahmen, auch die innerparteilichen Kontroversen, die politische Illusion in der Einschätzung der Gegenwart und der Zukunft, andererseits auch die heftigen Konflikte innerhalb des Exils spiegelten, die aus den unterschiedlichen Antworten auf die Fragen der Zeit hervorgingen. U n d diese Fragen rührten an den Grund politischer Existenz: Wie sollte man die Erfüllung der außenpolitischen Ziele, insbesondere die Revision des Versailler Vertrages bewerten, hatte man doch selbst diese Revisionen gefördert? Wie konnte man mit den unterschiedlichen und zudem wechselhaften Asylbedingungen in den Zufluchtstaaten umgehen? Wie reagierte man auf die Herausforderung des Spanischen Bürgerkrieges, für manche ein exemplarischer Kampf um die europäische Identität und Freiheit, für andere eine Stufe auf dem Weg zur politischen Macht, zur Hegemonie im Exil? Wie stellte man sich zu den Forderungen der Einheits- und Volksfront, zu den stalinistischen Säuberungen, den Schauprozessen, den Verfolgungen und schließlich zur Kumpanei der großen Diktatoren? Wie stellte man sich zu Deutschland, seiner Kultur und Geschichte, seiner Sprache und seinen Verbrechen? Was erhoffte man sich vom Krieg, schließlich von der Niederlage, vom Kampf gegen den Nationalsozialismus in den Armeen der Alliierten, in Dienststellen der deutschen Kriegsgegner, in den Propagandaeinrichtungen und Nachrichtenabteilungen, in den Stäben, die sich auf die Besetzung Deutschlands vorbereiteten? Diese Fragen lenken den Blick auf das politische Wollen der Emigranten in einer Phase der nationalsozialistischen Machterosion, die man trotz aller Hoffnungen nicht voraussehen konnte. Erst seit 1945 wissen wir ja, daß diese Diktatur nicht so 110

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stabil war wie die autoritären Regimes in Portugal und Spanien - deshalb vergessen wir zu schnell und zu leicht, wie unsicher die Lage der politischen Emigration war, und wie schnell aus der trügerischen Sicherheit des Zufluchtsortes nach 1939 höchste Gefahr erwachsen konnte: Theodor Wolff, Johanna Kirchner, Rudolf Breitscheid stehen ebenso für die Gefährdung im Exil wie jene unvorstellbar vielen, die von Stalin nach Deutschland ausgeliefert wurden. Wir wissen von der Gefahr der Emigration, vom Risiko der Flucht, vom Leben im Exil, dem ja bereits in der Heiligen Schrift eine schwer auf der Seele lastende und den Menschen in seiner Menschlichkeit gefährdende Bedeutung zukommt. Und dennoch scheinen wir die Unterstellung zu akzeptieren, die Emigration sei aus der Unsicherheit im nationalsozialistischen Deutschland in die Sicherheit des Auslands erfolgt, fast so, als hätten die Zurückgebliebenen das ganze Risiko der deutschen Geschichte auf sich genommen. Von dieser Deutung ist nur ein kleiner Schritt zur Schilderung einer angeblichen „Schattenexistenz" der Emigranten, die in ihren Zufluchtsländern manchmal als „nützlich, meist als lästig empfunden und empfangen" worden seien, angeblich aber immer als „entmachtet" gegolten hätten. Schattenexistenz - dieser Begriff mag zutreffen für ihre Wahrnehmung durch den Widerstand im Umkreis des 20. Juli 1944 - keineswegs beschreibt der Begriff aber das Feld aktiver Wirksamkeit im Ausland, das die Nationalsozialisten fürchteten, so sehr, daß sie sogar die Lebensverhältnisse des Exils beeinflussen wollten - und konnten. Daß sich die Regierungspläne der deutschen Militäropposition nicht auf die von außen zurückkehrenden Exilpolitiker stützten, sprach nicht gegen diese, sondern zeigt nur, wie groß die Vorbehalte waren und auch in der Nachkriegszeit blieben. Vergessen ist heute, daß erste Emigranten bereits vor 1933 Deutschland verließen, etwa ein Emil Julius Gumbel oder eine Vicky Baum, daß andere wußten, welcher Gefährdung sie bereits vor 1933 ausgesetzt waren und wie sich diese steigern mußte im Augenblick der nationalsozialistischen Machtergreifung. Ich erinnere an Carl von Ossietzky, an Theodor Lessing - der im Exil sogar ermordet wurde - , an Friedrich Wolf und Remarque, selbst Brecht, nicht zuletzt an Thomas Mann. Auch Einstein war ebenso wie Feuchtwanger bereits vor 1933 Opfer von Angriffen und Übergriffen, von Drohbriefen und selbst Überfällen geworden. Die wenigsten hatten aber ihre Flucht vorbereiten können und wollen - ihre Phantasie reichte so wenig wie bei den Regimegegnern, die im Lande blieben, dazu aus, sich vorzustellen, was Erosion des Rechtsstaates wirklich bedeutete. Die arrivierten Emigranten stellten überdies die Minderheit, denn der durchschnittliche politische Flüchtling war jung, hatte seine Ausbildung vielfach noch gar nicht abgeschlossen und stand vor der Herausforderung, sich eine eigenständige Existenz aufzubauen. Die Flucht erfolgte ins Nichts; Asyl - das war nicht die bequeme Sicherheit, sondern spiegelte das Risiko einer ungesicherten Existenz. Daß Zeitgenossen und Nachlebende sich so schwer taten, dieses riskante Leben, das Anna Seghers schließlich in ihrem Roman „Transit" geradezu zur Metapher menschlicher Existenz im 20. Jahrhundert werden ließ, anzuerkennen - dies hing sicherlich mit der Nachwirkung der Weimarer Kulturkonflikte, mit der Propaganda

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der Nationalsozialisten und mit den Problemen einer angemessenen Deutung des Exils nach der Befreiung vom Nationalsozialismus zusammen. Diese Deutung fiel ja um so schwerer, als in der SBZ ja offensichtlich einige zurückgekehrte Emigranten, überwiegend aus Moskau, aber auch aus dem Westen, politischen Einfluß gewannen - zum Leidwesen der Rückkehrwilligen viel früher als die Angehörigen der Emigration aus London, den USA, der Türkei oder Skandinavien, deren Rückkehr in die westlichen Besatzungszonen zunächst unerträglich erschwert wurde. „Ich weiß, daß der Emigrant in Deutschland wenig gilt - er hat noch nie viel gegolten in einem von politischen Abenteurern heimgesuchten Land" 2 - mit diesen Worten wandte sich Thomas Mann, einer der bekanntesten und vielleicht auch einer der als deutscher Emigrant nach 1945 umstrittensten Flüchtlinge unseres Jahrhunderts, im Goethejahr 1949 an die deutsche Öffentlichkeit. Thomas Mann reagierte mit dieser resignierend klingenden Feststellung noch einmal auf frühe Vorwürfe, die ihm, dem von den Nationalsozialisten in die „Reichsacht", wie man vielleicht sagte, gebannten Literaten, Erfolgsschriftsteller, Nobelpreisträger, von Frank Thieß, einem heute weitgehend vergessenen Publizisten, gemacht worden waren. Thieß rechnete sich wie andere - Carossa, Bergengruen, auch Wiechert - der in seiner nachwirkenden Rede an die nachwachsende Generation dem Widerstand ein Denkmal setzte und zugleich die Emigration überging - der „inneren Emigration" zu. Er reagierte auf Manns Betrachtungen „Über die deutsche Schuld" und eröffnete einen Grundsatzstreit über die Bewertung politischer Existenz im Deutschland der Diktatur, als er in einem offenen Briefe betonte, es sei doch „schwerer" gewesen, in Deutschland „seine Persönlichkeit zu bewahren, als von drüben", aus den, wie er sagte, „Logen und Parterreplätzen des Auslands" ... „Botschaften an das deutsche Volk zu senden (und) der deutschen Tragödie zuzuschauen" 3 . Thomas Mann reagierte hart und entschieden auf diese Anwürfe, vielleicht, weil er sich an seine Stigmatisierung durch die politische Rechte in den auslaufenden Jahren der Weimarer Republik erinnerte. Überdies hatte Mann nicht, wie er betonte, „das Herzasthma des Exils, die Entwurzelung, die nervösen Schrecken der Heimatlosigkeit" 4 vergessen - Herzasthma, das paßte nicht zu Logen und Parterreplätzen. Thomas Mann erinnerte sich daran, daß nicht alle, die im Lande blieben, das Risiko einer Existenz in der Diktatur eingegangen waren, sondern Vorteile suchten, Bevorteilungen fanden und sich nicht selten auf den Plätzen einrichteten, welche die Vertriebenen geräumt hatten. So wird seine Empörung über „die Vorteile, deren Ihr genösset", verständlich, und deshalb bezeichnete er sie zurecht als „Verleugnung der Solidarität". Er fühlte den Stich der Fragenden, denn „der einzelne, wenn er zufällig kein Jude war, fand sich immer der Frage ausgesetzt: Warum eigentlich? Die anderen tun doch mit. Es kann doch so gefährlich nicht sein". Fast zwölf Jahre lang hatte sich 2 3 4

Thomas Mann, Ansprache in Goethejahr, zit. nach ders., Politische Schriften und Reden Bd. 3, Frankfurt/M. 1968, S. 310. Frank Thieß, Die innere Emigration, Münchener Zeitung v. 18.8.1945. Thomas Mann, Warum ich nicht nach Deutschland zurückgehe, in: ebd., S. 179.

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der Emigrant zu rechtfertigen - warum sollte diese Gewohnheit fortgesetzt werden. Mußte sich nicht derjenige erklären, der zur Fahne Hitlers gestanden hatte, viel eher als derjenige, der sich abgewandt hatte? Thomas Mann bekannte sich in seiner Entgegnung zu seiner Ausbürgerung zu seinen beiden Söhnen, die im amerikanischen Heere dienten, und zu seinen Enkeln, die englischsprechend aufwuchsen. In der Tat: „Die Verständigung zwischen einem, der den Hexensabbat von außen erlebte" und denen, die „mitgetanzt und Herrn Urian aufgewartet (hätten), war schwer, ganz zu schweigen von der Möglichkeit, daß Hitler gesiegt hätte. In seinen Augen seien die nach 1933 in Deutschland entstandenen Bücher „weniger als wertlos und nicht gut in die Hände zu nehmen: Ein Geruch von Blut und Schande haftet ihnen an; sie sollten eingestampft werden". Damit waren die Fronten klar bezeichnet: Auf der einen Seite der Flüchtling, der Verjagte und Verhöhnte, diejenigen, die das Deutsche Reich im Sommer 1940 sogar in den deutsch-französischen Waffenstillstandsverhandlungen erneut für vogelfrei erklärte, im Originalton: „die deutsche Wehrmacht und das deutsche Volk halten die deutschen Emigranten für die größten Anstifter zum Krieg und zum H a ß und für Verräter an ihrem Volk". Und auf der anderen Seite der Angepaßte, der Willfähige, der in Distanz verharrende „innere Emigrant", Frank Thieß unter ihnen, oder der höchst umstrittene, karrierebewußt glatte Friedrich Sieburg, der sich, beobachtet von Emigranten aus Deutschland, in Paris für den NS-Staat engagiert hatte oder gar, wie Thieß oder Ernst von Salomon, in der Zeit der beginnenden Entnazifizierung zum Sprecher der angepaßten Deutschen wurde. Mit dieser Kontroverse des Sommers 1945 begann eine lange Debatte, die das Bild des Deutschen vom Exil vielleicht viel nachhaltiger bestimmte als die Ausbürgerungspolitik der Nationalsozialisten, als Vertreibung und Enteignung, Entwurzelung und Entheimatung - dies um so mehr, als in der S B Z augenscheinlich einige der Emigranten entscheidende Positionen einnahmen. „Einmal Verräter, immer Verräter" - diesen Satz schickte Gehlen O t t o John nach, als er unter immer klarer werdenden Umständen in der damaligen D D R auftauchte. Das Klima wurde eisiger: O b es nun ein Willi Eichler war oder ein mühsam und unter Anstrengungen zurückgekehrter Ernst Reuter, ein Herbert Wehner oder ein Erich Ollenhauer - sie wurden nicht selten in den Kreis um O t t o Braun gerückt, dessen Emigration vielen Sozialdemokraten heute als Flucht erscheint; dabei hatten sie durch ihre Erfahrungen der deutschen Nachkriegsgesellschaft wichtige Voraussetzungen für die Aneignungen demokratischer Ordnungsvorstellungen und Grundempfindungen geschaffen. Der Emigrant, daran war kein Zweifel, befand sich in der Defensive, weil er unter Verdacht gestellt wurde: Adenauers Vergleich von Eichmann und Brandt ist ebenso vergessen wie die Frage von Strauß an den sozialdemokratischen Kanzlerkandidaten, was er denn im Kriege gemacht habe? Politiker müssen gewählt werden und haben deshalb mit den Stimmungen ihrer Wähler zu rechnen - deshalb hatten sich politische Emigranten in ihrer Gegenkritik zurückzuhalten. U m so wichtiger waren die Versuche der nicht in dieser Weise auf die öffentliche Anerkennung angewiesenen Künstler und Wissenschaftler, die zu113

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rückgerufen wurden, nicht selten aber fremd blieben. Thomas Mann wandte sich bis zu seinem Tode mehrfach gegen den gängigen und verbreiteten Vorwurf, im Ausland „sein Vaterland preisgegeben zu haben", indem er immer wieder seinen „Konflikt" beschrieb, der „so gut der seine wie der gleichführender Menschen in Deutschland" war: daß der ersehnte „Untergang des Nazi-Regimes gleichbedeutend war mit der nationalen Katastrophe, dem Sturz, der Erniedrigung und Zerreißung Deutschlands" 5 . Nachdem er öffentlich angegriffen worden war, reagierte er ebenso öffentlich und wurde so in einem Maße zum Sprecher des remigrierenden Exils, wie er es vorher niemals geworden war. Nein, in angeblich „bequemster Lebenslage" hatte sich Mann niemals gefühlt, und schon gar nicht hatte er der „Tragödie seines Volkes von weitem zugesehen und ins Blaue hinein darüber geschwätzt". Er wußte, daß diese Kritik sich nicht allein an seiner Person und schon gar nicht an seinem Werk entzündete und eine prinzipielle Bedeutung hatte: Es ging auch, wie ein Außenstehender an Thomas Mann geschrieben hatte, um „engen Nationalismus und krankhaftes Selbstmitleid", um „Verständigung", um den Umgang mit „menschlichen Trümmern". Auf lange Sicht konnte sich die Position nicht durchsetzen. Der Vorwurf des Vaterlandsverrats schien die Regimegegner aus dem inneren Widerstand und aus dem Exil in gleicher Weise zu lähmen, denn diejenigen, die Emigranten als die Verteidiger des Bösen empfanden - sie waren in der Mehrzahl, weil unter den Uberlebenden von Diktaturen immer die Mitläufer und die Duckmäuser in der Mehrzahl sind. N o c h in den sechziger Jahren war im moralischen Urteil des „Widerstandes" von innen das Verdikt über die Emigranten relativ klar formuliert und entwickelte sich zu einer schweren Hypothek, die nur wenige tragen und so abbauen konnten. Zu ihnen gehörte auch das Ehepaar Weichmann. Dabei drängt sich allerdings der Eindruck auf, als wenn die mehrfach konstatierte Tatsache einer tiefen Entfremdung zwischen innerem Widerstand und Exil vor allem auch die Konkurrenzen um Macht und Einfluß nach 1945 spiegelte, weniger aber die unmittelbaren und zeitursprünglicheren Überlegungen nach 1933. Denn nichts verweist darauf, daß der Grenzübertritt der erste Schritt eines „bequemeren Weges" war. Dieses Urteil, das sich nach meiner Kenntnis der Quellen und der Schicksale aus dem Exil allein auf das Urteil der überlebenden Regimegegner stützen konnte und insofern einen Gutteil Selbstrechtfertigung und Selbsterhöhung spiegelte, lautet: „Der Emigrant hatte gut reden". Er agierte angeblich nur außerhalb der Machtzone Hitlers und seiner Gestapo und konnte bald nur noch reagieren. Darum sollte, so sagten immer wieder dem Exil sehr kritisch gegenüberstehende angebliche Zeitzeugen, für die Verschwörer des 20. Juli die Emigration als bequemerer Weg gegolten haben, weil für den, der die Flucht erwog und sie glücklich hinter sich gebracht hatte, doch keine unmittelbare Gefahr für Leib und Leben bestand. Gefunden habe ich derartige Belege in den Quellen nicht. Besser, so sagten die Zeitzeugen, sei es gewesen, „Talleyrandsche Methoden" anzuwenden, seine wahre Gesinnung also tarnen, sich demütigen lassen und ein 5

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Ebd.

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Doppelspiel treiben, d.h. heimlich Widerstand leisten, anstatt zu emigrieren. Wer genau hinsieht, merkt rasch, daß die auf diese Weise behauptete angeblich selten einmütig vertretene Auffassung der Verschwörer des 20. Juli 1944 nichts anderes spiegelt, als das Selbstbewußtsein der späten vierziger und frühen fünfziger Jahre, denn anders wäre es nicht zu erklären, daß man betonte, die Widerstandskämpfer hätten sich überdies ihre „deutliche, patriotische Distanz zu den Alliierten zugute" gehalten und aus der zunächst vielfach beklagten „ N o t " einer „Distanz auf Gegenseitigkeit" eine „Tugend" zu machen versucht. Diese Kontroverse um die Bewertung von Exil und Widerstand wäre mehr als fünfzig Jahre nach der Befreiung vom Nationalsozialismus nur eine Episode, bestenfalls eine Etappe der Geschichtspolitik geblieben, wenn nicht in den heftigen Auseinandersetzungen in der Öffentlichkeit der Eindruck entstanden wäre, daß heute die Positionen der Kontrahenten in der ersten deutschen Debatte nach 1945 über das Verhältnis der Emigration zur Regimegegnerschaft noch einmal zu erwägen wären. Denn im Zuge der Kontroverse über den Widerstand ist die Forderung, die Geschichte des Exils aus dem Gesamtbereich der Widerstandsgeschichte auszugrenzen und getrennt vom Widerstand, der im Innern erfolgte, zu würdigen, in einer Weise und Intensität erhoben worden, die an die vergangenen Auseinandersetzungen erinnert. Die erste Debatte ist von ihren Rahmenbedingungen her verständlich, die jüngste allerdings nicht. Denn die angedeutete erste Auseinandersetzung über die Emigration fand Ende der vierziger Jahre in einem merkwürdigen Klima statt. Die Vorbehalte gegenüber dem Exil waren dabei bei vielen Kritikern keineswegs geringer als diejenigen, die man gegen konsequente Regimegegner im Innern hegte. Die Debatte wurde ja nicht von Regimegegnern und deren Angehörigen eröffnet, die im Lande geblieben waren, sondern von denen, die man als Mitläufer, als zu Folgschaft bereite Zeitgenossen bezeichnen würde. Ihnen waren Motivation, Lebenslage, der „Kosmos" beider Reaktionsweisen auf die Errichtung einer Diktatur gewiß ebenso wie den meisten Deutschen mehr als fremd. Jene, die den entscheidenden Wurf gewagt oder aktiv unterstützt hatten und deren Angehörige schon bald wieder als Verräter galten - sie waren den Deutschen ebenso fremd wie Emigranten. In beiden personifizierte sich die Schuldfrage, und an beiden wurde deutlich, welche Alternativen es zum Mittun und Mitlaufen, zum Befehlsgehorsam und zur Folgebereitschaft, aber auch zum Schweigen hatte, das rasch in ein Verschweigen überging. Die Geschichte wird immer von den Überlebenden gedeutet, auch von jenen, die als Verfolger überlebt haben, die ihre Deckung gesucht und gefunden hatten, die vergessen wollten und verdrängen konnten. Viele der Deutschen, die nach 1933 nicht emigriert waren, beschworen in ihrer Kritik am Exil allerdings nicht nur beredt die Voraussetzungen ihrer eigenen Selbstbehauptung gegenüber den Zumutungen der deutschen Diktatur. Sie schilderten nur scheinbar die Voraussetzungen ihres „inneren Widerstandes", sondern sie rechtfertigten sich, indem sie den politischen Emigranten fehlenden Mut, mangelnden Behauptungswillen, sogar Feigheit unterstellten.

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Dabei kamen ihnen verbreitete Vorurteile entgegen: Einerseits war deutlich, daß sogar die Alliierten den Emigranten, die sie als Neubürger aufgenommen hatten, mißtrauten - zu lasch und freundlich gegenüber den Deutschen die einen, zu scharf und selbstbewußt die anderen, politisch zu eigenständig die dritten. Andererseits ließen die Deutschen die aus politischen Gründen geflohenen Remigranten spüren, daß sie diese weder liebten noch, und dies trieb Klaus Mann mit in den Selbstmord, für den deutschen Wiederaufbau brauchten. Die Deutschen, wenn sie sich mit dem Widerstand identifizierten, fanden sich bestenfalls in jener Rede wieder, die Theodor Heuss im November 1945 zur Erinnerung an den Widerstand gehalten hatte. Er beschwor dabei nicht nur die aktive, höchst spannungsreiche und alle politischen Gegensätze überwindende Regimegegnerschaft, sondern rief die Erinnerung an den „dumpfen Widerstand" wach, „der nicht auf die Straßen der Marschkolonnen (ging), sondern in den Hinterstuben in sich hinein(fraß) ... und auch seinen Ausbruch (suchte)" und sparte dabei auch die innere Emigration nicht aus: „Nun blühte jenes System auf", sagte er, „jenes teuflische System, das nebeneinander Verlockung, Verführung, Umschmeichelung der Massen kannte, jene Abfolge von Orden, Prämien, Titeln, Auszeichnungen, die ganze Hierarchie von Pöstchen, die das Subalterne in dem Deutschen ansprach und an sich zog. Und dann das andere: Terror, Bespitzelung, Haussuchung, Briefkontrolle, Vorladung, Denunziantentum, Verhaftung ohne Vernehmung, Quälerei, Zwangsarbeit, Tötung" 6 . Der Gegensatz zwischen den beiden Zitaten von Thomas Mann und Theodor Heuss macht deutlich, wie schwer es Emigranten und alle anderen Regimegegner Ende der vierziger Jahre hatten, weithin Anerkennung für ihre Entscheidung zu finden, obwohl man um wie vieles eher bereit war, den Widerstand im Innern anzuerkennen, sofern er, und dies ist der Vorbehalt, zum Umkreis des 20. Juli 1944 gehörte. Damit wurde vergessen, wie schwer sich die Deutschen zunächst auch mit der Anerkennung gerade des Widerstands im Umkreis des 20. Juli getan haben: die Alliierten mißtrauten den konspirierenden Regimegegnern vor Kriegsende noch mehr, als wir lange Zeit vermutet haben. Die seit einiger Zeit zugänglichen Akten der Geheimdienste der Alliierten lassen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Man mißtraute den deutschen Regimegegnern, die sich bemühten, Alternativen zur nationalsozialistischen Politik zu entwickeln. Man mißtraute auch dem inneren Widerstand selbst - zumindest politisch - den deutschen Emigranten, die sich den Alliierten hilfreich zur Verfügung stellten, obgleich unübersehbar ist, in welcher Weise das Vertrauen im Zeitverlauf wuchs. Im günstigsten Fall möchte man gehofft haben, den Widerstand gegen das NS-Regime ausnutzen zu können, um das militärische Durchhaltevermögen der Deutschen zu schwächen oder sogar militärische Aktionen hinter den Kampflinien vorzubereiten. Ein tieferes Verständnis für die nationalkonservativen Umsturzbestrebungen fehlte im Ausland ebenso wie im Inland. Der Brite Peter Wilkinson etwa schildert seine Reaktion auf den Umsturzversuch 6

Theodor Heuss, Die großen Reden, München 1967 (dtv), S. 52.

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vom 20. Juli, den er als „wohlkalkulierte Provokation" der „Rechtsopposition" empfunden hatte, die auch zukünftig „alles in ihrer Macht Stehende tun (würde), um zumindest den Kern der preußischen Führungskaste und der deutschen Armee zu erhalten 7 ." Weit war dieses Urteil nicht von der Einschätzung der Deutschen in den fünfziger Jahren entfernt, die sich vehement darüber stritten, ob Schulen oder Straßen den Namen von Regimegegnern tragen sollten. N o c h unbeliebter waren zu dieser Zeit Emigranten. Die Deutungen der Nationalsozialisten wirkten nach, in denen das Attentat im Führerhauptquartier als Versuch einer „kleinen ehrgeizigen Clique" von Adeligen und Militärs dargestellt wurde, durch Landes- und Hochverrat den Abwehrwillen der Deutschen zu schwächen und die adeligen Standesvorrechte zu behaupten. Viele Deutsche folgten ihnen erschreckend lange Zeit und sahen in den Militärs, die angeblich eidbrüchig geworden seien, kaum mehr als „Verräter". Wie man den Emigranten häufig die Präzision alliierter Bombenangriffe zuschrieb, so machte man bald die Regimegegner in der militärischen Führung für die Rückschläge im Mittelabschnitt der Ostfront verantwortlich. Und selbst diejenigen, die Hitlers Deutung nicht folgten und sich Goebbels Propaganda widersetzten, ließen sich bis tief in die Nachkriegszeit an ihren Stammtischen zu dem Vorwurf hinreißen, die Tat Stauffenbergs sei dilettantisch vorbereitet und inkonsequent durchgeführt worden. Zu diesem Argument gesellte sich überdies bald der moralische Vorwurf, erst in letzter Minute den Umsturz gewagt zu haben, um die eigene Stellung, die „eigene H a u t " , sagte man wohl, zu retten. Ich denke, dies zeigt, wie brüchig der Boden ist, von dem aus man eine Gewichtung zwischen Exil und Widerstand vornehmen könnte. Im Osten Deutschlands kamen weitere Einwände hinzu: Konsequent seien die Regimegegner des 20. Juli 1944 nicht gewesen, denn sie hätten die Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft nicht in Frage gestellt, aus der sich ja gerade der, so sagte man, „Faschismus" als Ausdruck einer besonders kritischen und krisenhaften Lage der kapitalistischen Gesellschaft entwickelt hätte. Erst in den achtziger Jahren wurden in der D D R andere Deutungen zugelassen, die nun allerdings die Regimegegner als aktive Friedenskämpfer zu würdigen bestrebt waren. So setzte man sich eigentlich über den inzwischen erreichten kritischen Forschungsstand hinweg. Seit den sechziger Jahren hatte sich in der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach einer längeren Inkubationsphase, die insbesondere die Rezeption der Exilliteratur begünstigte, die Kritik am bürgerlich-militärischen Widerstand insbesondere auf die als äußerst problematisch gedeuteten Verfassungsvorstellungen der nationalkonservativen Regimegegner konzentriert: Sie seien vielfach in vordemokratischen Ordnungsvorstellungen befangen gewesen, hätten die Kritik an der liberalen Gesellschaft geteilt und die Tendenz der weitgehenden Individualisierung als Entwurzelung des einzelnen, als Atomisierung und gar als Zersetzung der ständischen Strukturen gedeutet. Man solle sich, so wurde argumentiert, einen Staat vorstellen, der das 7

Peter Wilkinson, S.O.E. und Deutschland: Ein persönlicher Beitrag, in: Klaus-Jürgen Müller u. David N. Dilks, Hg., Großbritannien und der deutsche Widerstand, Paderborn 1994, S. 191.

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Ergebnis eines gelungenen Umsturzversuches geworden wäre. Vor allem aber, und dies gilt seit den sechziger Jahren wohl als der entscheidende Vorwurf, sei in diesen Kreisen der Widerstand keineswegs durch das Unrecht motiviert gewesen, welches die Nationalsozialisten in der Konsolidierungsphase ihrer Herrschaft angewandt hätten, noch durch die Verfolgung der als rassische Gegner diffamierten Mitmenschen - und schon gar nicht durch den „Völkermord an den Juden", über dessen Vorbereitung und Durchführung der Widerstand, wie wir wissen, überraschend gut informiert war. Aber auch diese Vorbehalte teilte die deutsche Emigration, ob einige ihrer Angehörigen zu den wenigen gehörten, die bereits im Herbst 1942 die Massenmorde im Osten öffentlich ansprachen - übrigens mit einem im Rückblick kaum vorstellbaren Ergebnis: der Weigerung, diesen Nachrichten überhaupt Glauben zu schenken. In der Kritik dieser Vorbehalte gegenüber dem 20. Juli 1944 kam es der Forschung in den vergangenen Jahren darauf an, den Widerstand im Umkreis des 20. Juli 1944 präzise in seinen Voraussetzungen und Entwicklungen, aber auch in seinen langfristigen und taktischen Zielen zu begreifen. D i e Forschung, im Widerstand sowohl den Gegensatz als auch den Ausdruck seiner eigenen Gegenwart zu sehen, ihn also aus den Horizonten seiner Zeit zu interpretieren und so besser und angemessener zu verstehen, wurde nicht zuletzt in beeindruckenden Biographien aufgegriffen und umgesetzt - mit bezeichnenden Lücken, etwa bei dem Polizeipräsidenten von Berlin, Graf Helldorf, bei dem Polizeidirektor und Einsatzgruppenchef, Arthur Nebe, oder auch dem zum Verhängnis für den 20. Juli 1944 werdenden General Fromm, die unsere Schwierigkeiten bei der politisch-ethischen und moralischen Bewertung des Widerstands spiegeln. Vielleicht lag es an der zunehmend deutlich gewordenen inneren Problematik des deutschen Widerstands, daß sich viele Gegensätze zwischen dem Widerstand im Innern und der politischen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in den vergangenen zwanzig Jahren abgeschliffen haben. Umfangreiche interdisziplinäre Forschungsschwerpunkte haben ihren Teil dazu beigetragen, daß die Geschichte des Exils inzwischen cum grano salis ein intensiv bearbeitetes Forschungsfeld ist, das viele Ergebnisse, die das Exil als eine besondere Form der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus erscheinen lassen, hervorgebracht hat. In der Rezeptionsgeschichte trat ein tiefer Wandel in den sechziger Jahren ein. Hier wirkte sich die Konfrontation der deutschen Öffentlichkeit mit dem demokratischen Exil aus, das insbesondere die politische Führungsgruppe der SPD verkörperte. Die Reihe der Namen, die in diesen Zusammenhang gehören, ist ebenso lang wie eindrucksvoll: Sie umfaßt Willi Eichler ebenso wie Erich Ollenhauer, Willy Brandt und Herbert Wehner, das Ehepaar Weichmann ebenso wie Ernst Reuter und wurde zweifellos auch im Zuge einer politischen Auseinandersetzung um die Voraussetzungen, die Leistungen und die Folgen des Exils in das Gesamtbild der deutschen Gegnerschaft integriert, die Mitte der fünfziger Jahre begann und einen Höhepunkt in den Wahlkampfauseinandersetzungen um Willy Brandt erreichte. Mit dessen Ministeramt und schließlich Kanzlerschaft schien das latent stets virulente Problem einer Einbindung

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der Emigrationsgeschichte in die Gesamtgeschichte der Regimegegnerschaft gelöst worden zu sein. O h n e Zweifel ist der 20. Juli 1944 aber eher und auch stärker in das Geschichtsbild der Deutschen integriert worden, zunächst als Teil einer Gegnerschaft, die viele andere Facetten hat, dann als Ausdruck eines Gesamtwiderstandes, dessen Stränge sich in der Tat des 20. Juli zu kulminieren scheinen. In den siebziger und vor allem dann in den achtziger Jahren schien ein Abschluß dieser Entwicklung erreicht: Keine Gesamtdarstellung des Widerstands verzichtete nun darauf, auch ein Bild des Exils zu entwerfen. Gegen den Nationalsozialismus - dies war eine Hälfte der Integrationsklammer, deren andere aus dem Gefühl erwuchs, daß innerhalb der Gegnerschaft heftige Auseinandersetzungen aus der Frage nach dem Weg und dem Ziel des politischen Widerstands stattfanden. Diese Facetten spiegeln sich zum einen in den Schlagworten wider, die dem Begriff des Widerstandes heute zugeordnet werden: Protest, Nonkonformität, Selbstbehauptung und Verweigerung, schließlich abweichendes Verhalten, Dissidenz und Resistenz werden darunter gefaßt und verweisen a u f das Problem des Widerstands in Diktaturen schlechthin, aber auch der ideologische Gegensatz, der zur konspirativen Tätigkeit führt und sich schließlich zur aktiven Konspiration steigerte, der keine Deckung kennt, als Vorbereitung des Umsturzes. Erschwerend kam im Hinblick auf das Exil natürlich die Zielfrage hinzu. Wer etwa, so war in diesem Zusammenhang zu hören, nur eine Diktatur durch eine andere hätte ersetzen wollen, der verdiene nicht, als Regimegegner gewürdigt oder gar geehrt zu werden. Widerstand gegen den Nationalsozialismus habe sich als unbestreitbar totalitär auszuweisen, ehe er Anspruch auf Ehrung als eine besondere F o r m der inneren Auseinandersetzung hätte. Dagegen läßt sich nur einwenden, daß sich im Exil ebenso die ganze Breite deutscher Geschichte und ihrer Konflikte spiegelt, wie in anderen Bereichen, und daß Historiker gerade in der Auseinandersetzung mit diesen Kontroversen einen Beitrag zur Entwicklung politischer Maßstäbe leisten - nicht aber, indem sie sich zum Zensor über die Geschichte als eine abgeschlossene vergangene Wirklichkeit machen. Das letztgenannte Argument verfolgt das Ziel, den kommunistischen Widerstand wenn schon nicht aus der Widerstandsgeschichte selbst auszugrenzen, so doch zumindest derart zu qualifizieren, daß auch in lebensgeschichtlicher Hinsicht nahezu jede positive gedankliche Assoziation mit kommunistischen Regimegegnern ausgeschlossen bleibt. Ich denke, jedem ist es unbenommen, sich selbst um eine Bewertung des kommunistischen Widerstandes zu bemühen und diese Bewertung auch vorzunehmen. Dies ist deshalb auch nicht der entscheidende Punkt der Auseinandersetzung, sondern lediglich die Frage, ob sich Historiker auch weiterhin angehalten fühlen sollen, die ganze Vielfältigkeit und Widersprüchlichkeit einer Geschichte der Regimegegner zu erfassen, indem sie die Breite des Widerstands unter Einschluß der Kommunisten zur Kenntnis zu nehmen bereit sind. Oder ob sie sich politischen und moralischen Prämissen unterstellen, die den Zugriff auf diese Breite und Vielfalt erschweren. In ihr verkörpert sich eine Herausforderung, die jede Geschichte darstellt. Die 119

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moralische Bewertung problematischer Bestrebungen, etwa derjenigen, aus den Gefangenenlagern aller Alliierten heraus zum Sturz des Regime beizutragen, interessiert hier weniger als die Auseinandersetzung mit der Frage, welche Bedeutung die bereits mehrfach angedeutete Definition des Widerstands als ein im Innern des Reiches bewiesenes risikobereites Handeln für die Geschichte der Regimegegnerschaft hat und welcher Preis für eine Ausgrenzung eines widerstandsgeschichtlichen Bereiches hingenommen werden muß. Der Preis wäre gewiß die öffentliche Ausgrenzung des Exils aus der Geschichte der NS-Regimegegnerschaft, die Widerstand gegen den Nationalsozialismus zu nennen sich in den vergangenen vierzig und fünfzig Jahren eingebürgert hat. Ubertragen Sie diese Vorgehensweise auf andere Gesellschaften: Es würde etwa bedeuten, den Franzosen zuzumuten, de Gaulle nicht mehr in den Kontext der Resistenz zu stellen. Diese Ausgrenzung hat einige Jahrzehnte der Auseinandersetzung mit der Regimegegnerschaft geprägt, sie hat bei denen, die flüchten mußten oder vertrieben wurden, die ihren Namen schließlich auf den Ausbürgerungslisten fanden und so staatenlos wurden, tiefe Verletzungen hinterlassen und Zweifel bestärkt, die vielfach bei den in die Emigration Getriebenen und Gezwungenen und auf diese Weise aus ihrer Lebensbahn in die Unsicherheit der Existenz in ganz fremden Lebenskreisen Geworfenen gewachsen war: zunächst in der unmittelbaren Konfrontation mit dem NS-Regime und mit der Nachfolgebereitschaft Williger wie der Tatenlosigkeit der Schwachen, nicht selten aber auch unter dem Eindruck der politischen Auseinandersetzungen im Exil selbst. N u r oberflächliche Betrachter der Lebenswirklichkeit im Exil können sich ja zu der These steigern, die Flucht sei in die Sicherheit des Auslands erfolgt. Tatsächlich war es ja so, daß die politischen Richtungskämpfe aus den Jahren der Weimarer Republik vielfach fortgesetzt wurden und nur deshalb die Ausgangsbedingungen unserer Demokratie beeinflussen konnten. Unbestreitbar ist, daß sich zu diesen Konflikten andere mit jenen gesellten, die sich als nationalsozialistisch Gesonnene zu Hitler bekannten, daß auch die deutschen Diplomaten Einfluß nahmen, um die Lebensumstände der deutschen Emigranten negativ zu beeinflussen. Auch die Aufnahmeländer gestalteten die Lebensbedingungen keineswegs komfortabel. D e r durchschnittliche Emigrant war jung, Mitte zwanzig, er hatte seine Ausbildung häufig nicht abgeschlossen, fand sich nur schwer in die neuen Lebensumstände hinein und schätzte sich glücklich, wenn seine Zukunftsperspektive über einen Zeitraum von Monaten kalkulierbar blieb. Kategorien bürgerlicher Sicherheit - Logenplätze und Terrassenplätze - versagen hier als Kategorien. Es kommt darauf an, auch in Zukunft im Exil eine gleichwertige Form der Selbstbehauptung im Europa der Diktaturen und der Bekämpfung des NS-Staates, nicht zuletzt auch der Neuordnung zu behandeln. Die enge Verzahnung zwischen den Differenzierungsbestrebungen der modernen Widerstandsforschung und dem Exil wird vor allem unter der Voraussetzung und Überwindung des Nationalsozialismus ein wichtiger gemeinsamer Bezugspunkt für jene Regimegegnerschaft gesehen werden, denen die deutsche Nachkriegsgesellschaft wesentliches verdankt. So sehr die Widerstandsforschung sich um eine Verbreitung der konzeptionellen und 120

Auf verlorenem Posten

begrifflichen Grundlagen bemühte, so wenig wird diese Entwicklung an der Exilforschung vorbeigehen dürfen. Der politische Flüchtling „stand mit dem Gesicht nach Deutschland" - er wollte zurückkehren, auch gegen die Widerstände und Vorurteile derjenigen, die ihn gehen ließen. Er löste sich nicht von den Verhältnissen, unter denen er sein Leben riskiert hatte, um zu entkommen oder um sich zu behaupten, ehe er entkommen war. Der Emigrant gehört zur Widerstandsgeschichte wie der 20. Juli. Beide Bereiche waren sich fremd, sie urteilten häufig nicht gerecht übereinander. Dies gibt uns aber nicht das Recht, uns auf eine Seite zu schlagen. Deshalb nehme ich die Herausforderung weiterhin sehr ernst, auch die Geschichte des Exils in die Widerstandsgeschichte einzubeziehen. Dahin gehört trotz aller begrifflichen Ausgrenzungsversuche, auch das Exil, die Gegnerschaft zum Nationalsozialismus von außen. Entscheidend ist die Wirklichkeit, auch - und für den Historiker gerade: die vergangene. Manchmal mag es schwer sein, sie ins Bewußtsein zu heben. Helfen Sie uns dabei!

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Die Deutschen und ihre Geschichte

Zwei Fragen will ich unter dem Thema „Die Deutschen und ihre Geschichte" nachgehen: Wie sind wir bisher mit der Zeit zwischen 1933 und 1945 umgegangen und was haben wir bereits an Geschichte neu geschaffen und nach 1945 aus der Geschichte gelernt? Dies gilt sowohl für die Zeit der alten wie auch dann der erweiterten Bundesrepublik, insbesondere aber auch in bezug auf unsere europäischen Nachbarn. Im 50. Jahr nach Ende des Zweiten Weltkrieges brach kurz vor dem 8. Mai erneut eine Auseinandersetzung darüber aus, ob wir nun am 8. Mai den Tag der Niederlage oder der Befreiung begehen. Dies zeigt uns, daß 50 Jahre danach der Streit um diese Frage zwar etwas abgeebbt, aber keineswegs beendet ist. Diejenigen, die diesen Tag als Niederlage erlebt haben, verübeln es jenen, den 8. Mai als Tag der Befreiung, als das Ende der nationalsozialistischen Diktatur und als das Ende des Zweiten Weltkrieges, in dem mehr als 50 Millionen Menschen ihr Leben lassen mußten, zu beurteilen. Ich war am 8. Mai 1945 acht Jahre alt. Wir haben damals Ängste erlebt. Was kommt jetzt? J e älter ich aber wurde, desto mehr verstand ich im Nachdenken über diese Zeit: Es war der Tag der Befreiung und nicht der Tag unserer größten Niederlage. Das war der Tag, an dem 1933 das Ermächtigungsgesetz beschlossen wurde, nicht der 8. Mai. Dieses fünfzigste Erinnerungsjahr hat eine Menge Positives bewirkt. Was habe ich selbst erlebt? Eine Intensität der Auseinandersetzung mit Dokumenten und Quellen, aus denen ich vieles gelernt habe, was mir vorher so nicht bewußt war. Ein Beispiel: In der intensiven Auseinandersetzung mit Ravensbrück, mit der Verfolgung, dem Leid, das den Polen angetan wurde, ist mir einmal mehr deutlich geworden, auf welche Weise auch dieses Volk ausgerottet werden sollte. Das Ziel waren vor allem die Intellektuellen. Die Land- und Industriearbeiter brauchte man, und sie sollten nicht mehr lernen als das, was unbedingt nötig war. Dieses 50. Erinnerungsjahr war für mich aber auch ein Jahr intensivster Begegnungen mit überlebenden Opfern. Nicht wenige von ihnen traf ich in den ehemaligen Konzentrationslagern. Manche waren zum ersten Mal nach Deutschland zurückgekehrt. Dabei war es für mich wichtig zu beobachten, in welcher Weise sich große Teile der jungen Generation heute mit der Frage beschäftigen „Wie war das damals?" Dies war anders als 1945 oder danach. Sie fragten auch anders als die 68er Generation. Die jungen Menschen heute interessierte nicht primär die Frage der Schuldzuweisung an 122

Die Deutschen und ihre Geschichte

die damaligen Erwachsenen, sondern sie wollten wissen, was damals tatsächlich gewesen ist. Ich habe viele Jugendliche in den Gedenkstätten der ehemaligen Konzentrationslager getroffen, die dort freiwillig arbeiten, um Geschichte zu erhalten. Dieses fünfzigste Jahr ist nicht ein Jahr des Schlußstrichs, sondern des Sich-Vergewisserns und des Weitertragens der Erinnerung in die Zukunft. Der 27. Januar als Holocaust-Gedenktag wirft die Frage auf, ob wir den Tag richtig gewählt haben. Ich meine ja. Es ist der Tag der Befreiung von Auschwitz. 10 Jahre früher wäre es nicht möglich gewesen, sich auf einen solchen Gedenktag zu einigen. Auch das ist ein Zeichen von Lernprozessen, bei denen Abstand zugleich einen Zugewinn an Lernfähigkeit und Erinnerungsvermögen bedeutet. Ich werde den Tag nicht vergessen, an dem sich die Vorsitzenden der Fraktionen des Deutschen Bundestages auf diesen Gedenktag einigten, und wir den Bundespräsidenten bitten konnten, alles weitere in seine Hand zu nehmen. Damit wurde ganz klar gesagt: D a s fünfzigste Jahr ist ein Jahr mit neuen Entscheidungen, nicht ein Jahr des Schlußstrichs. Hannah Arendt hat 1947 ein Büchlein geschrieben mit dem Titel „Besuch in Deutschland". Wir haben es selbst mit Studierenden im Jahre 1994/95 noch intensiv gelesen. Was hat sie damals beobachtet? Sie schrieb: Offenbar sind die Deutschen unfähig zu trauern. Sie sind so sehr mit ihrem Wiederaufbau beschäftigt, daß sie nicht trauern können. In ihrem Bericht machte sie eine Ausnahme. In Berlin habe sie erlebt, wie sehr die Menschen mit der jüngsten Vergangenheit beschäftigt sind und darüber reden. Ich habe mich gefragt: Ist das in Deutschland so geblieben? Was habe ich selbst gelernt? Gelernt habe ich, daß Menschen nicht nur Nähe, sondern auch Abstand brauchen, um das Erinnern zuzulassen und mit der Vergangenheit besser umzugehen. Aus den Darstellungen von früher habe ich gelernt, wieviel Ängste damals die Menschen umgetrieben haben. Was ist, wenn ich selbst sagen muß, was habe ich damals gewußt, was habe ich getan, inwieweit bin ich schuldig geworden? Wir dürfen nicht vergessen, daß unsere Geschichte nach 1945 mit der Aufarbeitung von außen begann, nicht von innen. Mir ist deshalb heute umso mehr deutlich, welch ungeheure Leistung es in den neuen Bundesländern bedeutet, sich dieser Aufgabe unmittelbar gestellt zu haben. Ich komme noch einmal auf Hannah Arendt zurück. Sie hat nie aufgehört, über dieses Thema zu arbeiten. Ich erinnere an ihre Darstellungen zum Eichmann-Prozeß, wo sie wegen ihrer differenzierten Betrachtung viel Kritik bei ihren eigenen Landsleuten geerntet hat. Trotzdem stand für sie nie außer Frage, in welcher Weise das Scheitern, das Versagen ein langer Prozeß war. Alles das, was ich in meiner Schulzeit gehört habe - „Es war Hitler und nicht wir Deutschen" - revidiere ich in dem Maße, wie ich heute weiß, daß es mehrere Anlässe gab, wo wir hätten nein sagen können. Die sogenannte „Kristallnacht" war der letzte Versuch des Diktators zu erproben, wie stark der Widerstand im Volk ist. Ich habe auch gelernt, wie solche Konstellationen entstehen, die dann in die Katastrophe führen. 1928 hatten die Nationalsozialisten 2,8 Prozent der Stimmen. 123

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Wie schnell sind sie gewachsen, wie schnell haben sich Stimmungen im Volk verändert! Es war ja nicht Hitler, der die Ideen von biologischen Sondermerkmalen, von Rassenüberlegenheiten und -unterlegenheiten entwickelt hat. Sie waren theoretisch vorbereitet. Es gab die Wegbereiter. Nicht er hat die Theorien über Volk und Führerschaft entwickelt. Sie waren schon vorhanden. Der Rassismus ist nicht im Kopf einer einzelnen singulären Persönlichkeit, eines großen Verführers und Demagogen, entstanden. Nein, so war es nicht. Es ist wichtig, in der Aufarbeitung für die Zukunft bewußt zu machen: Wer waren die geistigen Wegbereiter, die zunächst nur eine Minderheit und sehr rasch dann eine Mehrheit erreichen konnten? Nach meiner Meinung kann daraus nicht so etwas wie eine Kollektivschuld abgeleitet werden. Aber es gibt eine individuelle und eine gemeinschaftliche Verantwortung für das, was wir aus der Geschichte erfahren haben und was es im Rahmen menschlicher Möglichkeiten zu verhindern gilt. Deshalb ist es mir wichtig und ich wiederhole: Achtet nicht nur auf die Quellen, die uns das Unmenschlichste vom Unmenschlichen vor Augen führen, sondern auch auf jene, die aufzeigen, wie es dazu gekommen ist. Schon sehr früh nach 1945 haben Historiker die Frage nach dem Unbegreiflichen gestellt. Ich möchte das mit Zitaten aus zwei Werken verdeutlichen, die mir wichtig sind. Es ist einmal der Ranke-Schüler Sybel, der nach der Reichsgründung 1871 fassungslos fragte: „Wodurch hat man die Gnade Gottes verdient, so große und mächtige Dinge erleben zu dürfen? Und wie wird man nachher leben?" Und ich nehme auf der anderen Seite die verzweifelte Frage des Historikers Friedrich Meinecke, der noch bei Sybel studiert hatte und der im Jahre 1946 schrieb: „Wird man die ungeheuerlichen Erlebnisse, die uns in den 12 Jahren des Dritten Reiches beschieden wurden, je vollkommen verstehen? Erlebt haben wir sie, aber verstanden haben wir sie, keiner von uns ausgenommen, bisher nur unvollkommen. Die deutsche Geschichte ist reich an schwer lösbaren Rätseln und an glücklichen Wendungen. Aber dies uns heute gestellte Rätsel und die von uns heute erlebte Katastrophe übersteigt für unser Empfinden alle früheren Schicksale dieser Art." Unlängst hat auch Günter Grass in einem Interview gesagt, dem Verstehen sind Grenzen gesetzt, weil man das nicht Faßbare nicht fassen kann und auch nicht will. Aber ich warne vor Formulierungen, die ich auch wieder bei der „Neuen Rechten" entdecke. Das mit den Schicksalen ist eine höchst mißverständliche Formulierung, so als ob das Schicksal über uns hereingebrochen ist und daß es immer wieder unglückliche Schicksale gibt. Als Historikerin möchte ich eins mit Nachdruck feststellen: Geschichte ist das Ergebnis menschlichen Handelns. Ich warne auch davor, allzu häufig von Zufällen in der Geschichte zu reden, sondern eher zu fragen, was Menschen, beabsichtigt oder unbeabsichtigt, bewirkt haben. Natürlich gibt es auch in der Geschichte der Menschheit Regelwerke unbeabsichtigter Nebenwirkungen. Aber ganz entscheidend ist, daß wir uns des mit Absicht handelnden Menschen in der Geschichte bewußt bleiben. Wenn wir Formulierungen wie „das Schicksalhafte", „das Rätselhafte" gebrauchen, dann ist dies dem menschlichen Begreifen fast nicht zugänglich. Für mich ist 124

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es dann eine Art Entschuldigung. Mir geht es aber darum, bei allem menschlich Unfaßbaren doch nicht müde zu werden, das, was wir aufspüren, erkennen und erklären zu können, dem menschlichen Begreifen und Erkennen zugänglich zu machen. Andernfalls vernebeln wir es erneut durch die Kategorien des nicht Verstehbaren. Die deutsche Katastrophe ist weder ein Betriebsunfall noch ein Fatum. Dies zu wissen, scheint mir für die Zukunft wichtig, weil wir sonst nicht aus der Geschichte lernen können. Es gibt also nicht so etwas wie einen zwanghaften, vorherbestimmten Weg, so daß man sagen könnte, eigentlich konnten wir nichts ändern. Auch für uns später Geborene gilt es anzuerkennen, daß es Konstellationen als Folge von Nichthandeln gibt, die es uns dann fast unmöglich machen, noch handeln zu können. Ich verkenne nicht die ungeheuren Schwierigkeiten, Widerstand zu leisten, nachdem der Widerstand mehr und mehr gebrochen wurde oder vorher gar nicht praktiziert wurde. U m so wichtiger ist es, rechtzeitig Widerstand zu üben. D a macht auch die Diskussion über political correctness Sinn. Wenn wir alle korrekt sind, so daß niemand mehr etwas Eigenständiges denkt und auch nicht mehr eigenständig handelt, dann mag über uns hereinbrechen, was wir selbst herbeigeführt haben. Deswegen ist menschliches Handeln gefragt. Hannah Arendt ist für mich ein ganz wichtiges Vorbild, weil sie mir die Kategorie des Politischen wieder erschlossen hat. Sie ist mir immer gegenwärtig, wenn ich daran denke, wie groß heute die Gefahren sind, das Öffentliche in falschem Sinne als Transparenz und Medien zu verstehen, ohne das Öffentliche als das Politische zu begreifen, das uns alle angeht. In diesem Sinne ist Zivilcourage Ausdruck einer zivilen demokratischen Gesellschaft, etwas, was Bürger zu tun haben und nichts Außergewöhnliches. Von Hannah Arendt ist aber noch ein weiterer Gedanke abzuleiten. Sie gehört nicht zu denen, die sagen, es passiert nie wieder, ich gebe Euch die Sicherheit, daß Ihr es um jeden Preis verhindern könnt. Sie ist sehr skeptisch gegenüber dem, was man im menschlichen Bereich über das „nie wieder" sagen kann. Die Aussage von Hannah Arendt ist, nur der Mensch ist befähigt zu handeln, neu anzufangen, zu sagen, wir beginnen neu in einer anderen Richtung, ohne zu vergessen, was vorher gewesen ist. Dieses Gebot, die Verpflichtung und die Möglichkeit, handeln zu können, sind ganz wichtig. Handeln zu können gegenüber uns selbst, gegenüber den Opfern und gegenüber der Zukunft. Davon geht vor allem die Botschaft aus: Sie können die Vergangenheit nicht bewältigen, Sie können sie nicht wiedergutmachen. Sie können sich mit der Vergangenheit auseinandersetzen, können lernen oder auch nicht lernen. Sie wissen, daß Sie immer nur Teile wahrnehmen, und daß es ein langer Prozeß ist, an dessen Ende Sie nicht sagen können, ich weiß nun alles. Das Erinnern ist auch immer das Sich-Zugänge-Verschaffen zu Bereichen, die wir uns bisher nicht erschlossen haben. Wir müssen jenen Teil der Auseinandersetzung aufnehmen, vor dem wir uns scheuen und vor dem wir Angst haben. Ich weiß auch: Nach wie vor gibt es Tabus. 125

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Mir begegnet oft der Vorwurf, und dies auch bei den jüngsten Wahlkämpfen: Sie können wir nicht wählen. Sie knebeln uns mit der deutschen Geschichte von 1933 bis 45. Sie machen unser Volk schwach, belasten die junge Generation und wissen gar nicht, was Sie damit anstellen. Ich antworte dann: Auch Sie werden mich nicht daran hindern, diesen Zeitabschnitt in unserer Geschichte als das zu markieren, was er ist und zwar ohne zu relativieren und ohne damit unser Volk zu knebeln. E h e r vermag ich zu erkennen, daß das Erinnern in den Menschen neben Belastungen auch ungeheure Kräfte freisetzt, und daß es uns im positiven Sinne mehr Chancen als Belastungen eröffnet. Es ist oft schwierig, dafür den Blick zu öffnen. Aber warum sind einige so militant dahinter her, zu verdrängen, den Schlußstrich zu fordern und auch die Geschichte umzuschreiben? Sind wir wirklich so schwach, daß wir, wie im Historikerstreit, die Relativierung brauchen, u m uns mit unserer Geschichte auseinandersetzen zu können? Müssen wir wirklich Stalin zum Vergleich heranziehen? Was Stalin gemacht hat, sind ebenfalls ungeheure Verbrechen. Aber sie relativieren nicht das, was 1933 bis 1945 von uns aus geschehen ist. Und dann immer wieder auch diese Frage: Gab es nicht auch früher in der Geschichte Genozids? Ja, es gab sie. Aber warum stellen wir diese Frage? U m sagen zu können, so schlimm war es doch gar nicht? Wollen wir damit die Einmaligkeit so relativieren, daß sie in der Tat lediglich zu einem Stück Geschichte wird, zwar nicht gut, aber auch nicht außergewöhnlich? Ich meine, es muß das Außergewöhnliche bleiben. Das Inferno, das ausgelöst worden ist, darf mit keinem Wort, mit keinem Punkt und Komma relativiert werden. Nur wenn man der Wahrheit voll ins Auge schaut, kann man aus der Wahrheit auch die Kraft entwickeln, die Menschen für Alternativen und Versöhnung brauchen. Welche Kraft Opfer aus den schrecklichsten Erfahrungen schöpfen können, zeigt der Präsident Südafrikas. E r hat 27 Jahre im Gefängnis verbracht und hat doch nicht Rache, sondern Versöhnung zum Inhalt seiner Politik gemacht und damit auch die Menschen erreicht. Auch zur Geschichte der Deutschen gehört, nicht zu vergessen, daß diejenigen, die am meisten gelitten haben, uns die Hand entgegenstreckten, um neu anfangen zu können. Niemand kann allein neu anfangen. Aus eigener Kraft konnten wir es nicht schaffen. Zur deutschen Geschichte gehört deshalb auch, sich an jene zu erinnern, die mitten im Zweiten Weltkrieg Ausschau hielten nach dem besseren Deutschland und sich mit jenen zusammentaten, die ein anderes Deutschland längst herbeisehnten. Ohne diejenigen, die uns die Hand gereicht haben, hätten wir überhaupt keine Chance gehabt. Manchmal macht es mich ganz traurig, daß wir das nicht begreifen. Wir begreifen auch nicht, daß unsere Nachbarn angesichts von Rechtsextremisten, Angriffen auf Ausländer, auf Flüchtlingsheime und Friedhofsschändungen immer wieder fragen, gibt es das wieder bei Euch, keimt da wieder etwas auf? Verstehen wir es wirklich nicht, daß insbesondere bei den Opfern sofort alles wieder lebendig vor Augen steht, was sie erlitten? D a ß wir deshalb kritischer betrachtet werden als andere

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Länder, in denen es auch Rechtsextremisten gibt? Um so wichtiger ist es, daß wir ihnen sagen können, wir gehen tatkräftig dagegen an. Allzu oft sind jene Menschen herabgesetzt worden, die damals mit ihren Lichterketten Zeichen gesetzt haben. Was wäre denn gewesen, wenn sie diese Zeichen nicht gesetzt hätten? Ich bin der Überzeugung, daß gerade die Zeichen aus der Bevölkerung ein wichtiges Signal waren, um Veränderungen herbeizuführen, ja daß sie entscheidend waren. Seit wann wird die Auschwitzleugnung bei uns strafrechtlich geahndet? Erst seit kurzem. Aber was ist, wenn sie im Internet wieder auftaucht? Dann muß sie international geahndet werden. Darauf müssen wir uns in der Völkergemeinschaft verständigen. Zu unserer Geschichte gehört - ich habe das bereits gesagt - nach Scheitern, Versagen, unmenschlichsten Handlungen, neu anfangen zu können. Zu unserer Geschichte gehört aber auch, diejenigen nicht zu vergessen, die das durch ihren Widerstand, ihr Durchhalten ermöglicht haben. Als ich Parlamentspräsidentin wurde, hatte ich mich mit einem Projekt vertraut zu machen, von dem ich zuerst nicht verstand, warum dies 1988/89 noch immer zur Realisierung anstand: Die Geschichte der Weimarer Reichstagsabgeordneten, das Mahnmal und die Dokumentation. Es war der Streit um die Behandlung der Kommunisten in der Dokumentation. Zur Geschichte gehören auch Toleranz, Respekt vor dem Widerstand auch derjenigen, die andere politische Auffassungen vertraten. Ich bin froh, daß wir 1992 eine Lösung gefunden haben. Ich habe mich danach gefragt, warum wir uns in Deutschland mit Mahnmalen und Gedenkstätten so schwer tun. Eindringliche, nicht monumentale Mahnmale, mitten unter den Menschen, wünsche ich mir und für alle Opfer. Aber das wäre vielleicht noch 1945 möglich gewesen, nicht jedoch heute. Auch da gilt es aus der Geschichte zu lernen. Das Mahnmal im Reichstag wird daran erinnern, daß 10 Prozent der Reichstagsabgeordneten der Weimarer Republik ermordet worden sind. Nicht wenige schon vor 1933. Es gab also Widerstand. Hoher Respekt vor denen, die damals dem Ermächtigungsgesetz nicht zugestimmt haben. Wir sind auch in der Demokratie immer schnell geneigt zu sagen: Loyalität vor allem anderen. Demokratien brauchen Loyalität. Aber ebenso wichtig ist, alle Seiten einer Entscheidung zu beurteilen und nicht später unter Hinweis auf Fraktionsbindungen zu sagen: „Ich konnte ja nicht anders." Wo, wenn nicht in der Demokratie, kann ich anders? Deshalb kann mir niemand meine persönliche Verantwortung abnehmen. Die geht in keinem Kollektiv unter. Bei allen Entscheidungen sollten wir uns aber auch bewußt machen, welche Lehren und Konsequenzen die Mütter und Väter des Grundgesetzes aus der Vergangenheit gezogen haben. Kurt Schumacher fand es gar nicht in Ordnung, daß die Alliierten uns eine Verfassung auferlegen wollten. Daß schon 1949 in der Präambel des Grundgesetzes vom „gleichberechtigten Glied in einem vereinten Europa" die Rede war, kann nicht hoch genug geschätzt werden. Nicht nur die Einbindung 127

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Deutschlands in die europäische Einheit, sondern auch in das Völkerrecht, vor allem aber die Bindung an die Grund- und Menschenrechte waren damals das Entscheidende. Dabei wird deutlich, wie groß die Visionskraft war, die inmitten von Zusammenbruch und Leid entwickelt wurde. Nehmen wir jene zum Maßstab, die damals unsere Demokratie begründet haben, denen es wichtig war, daß wir nicht wieder isoliert Entscheidungen treffen, nie wieder die Würde der Person in Frage stellen und darauf achten, daß Integrität und Unversehrtheit der Person gewahrt bleiben. Wir können gar nicht hoch genug bewerten, was im Rahmen der deutschen Geschichte nach 1945 für uns Deutsche ermöglicht wurde mit der Rückkehr in die europäische und die internationale Völkergemeinschaft. Wer sagt, das war alles nur eine Folge von weltpolitischen Konstellationen, des Lagers freier Staaten und des Kommunismus, dem kann ich sagen, ja, diese Situation ist uns entgegengekommen. Aber sie mußte nicht so entschieden werden. Die Geschichte nach 1945 gehört zu dem, was wir der jungen Generation auch vermitteln müssen. Gerade am Beispiel der Weimarer Republik kann man lernen, was es für Konsequenzen hat, wenn Demokraten die eigene Demokratie eher zurückweisen, ihr skeptisch gegenüberstehen, und wenn das alte Denken im Obrigkeitsstaat, die Rolle von Anordnung und Gehorsam, noch in den Köpfen steckt. In Krisenzeiten geht es dann sehr rasch, die Demokratie als untauglich hinzustellen und nach dem starken Mann zu rufen, um schnell die Probleme zu lösen. Da sage ich: Nur die Diktatur ist schnell. Die Demokratie verlangt das Ringen um Entscheidungen, einmal im Konflikt und ein anderes Mal im Konsens. Deshalb ist es auch so wichtig, daß Demokraten einander respektieren und nicht heruntermachen. Der politische Wettbewerb darf nicht zur Frage von Sieg oder Niederlage werden. Das fair play ist ganz entscheidend. Wir leben in einer Zeit, in der wir uns auf das verlassen, was bei uns an stabiler Demokratie gewachsen ist. Sie war zunächst verordnet und ist erst allmählich angeeignet und angenommen worden. Wir dürfen sie nicht leichtfertig aufs Spiel setzen. Diejenigen, die in Freiheit leben, vergessen oft, was es heißt, keine Freiheit mehr zu haben. Zu unserer Geschichte gehört auch, daß wir die große Chance zur Wiedervereinigung erhalten haben. Es gab wieder Menschen, die vorangingen, andere, die folgten und sagten: mit uns nicht mehr. Wir ergreifen die Chance zum Widerstand. Anders als es 1945 war, haben sie sich selbst befreit. Bei unserer alltäglichen Bedrängnis würdigen wir viel zu wenig, was dort geleistet worden ist. Da wird immer wieder der Vorwurf erhoben: Ihr lebt auf Kosten der jungen Generation. Aber haben wir das nicht vor 1989 viel stärker getan als nach 1989? Wie sehen wir eigentlich heute den Einsatz von damals, die Chance zur Befreiung, zur Freiheit zu nutzen, die Möglichkeit zu erringen, anders als bisher zu leben? Ich werde nicht die Diskussion im deutschen Ausschuß vergessen, als es um die Frage ging, sollen die Akten aus der D D R in das Bundesarchiv nach Koblenz gehen, wo sie 30 Jahre lang verschlossen bleiben, oder sollen sie den Betroffenen zugänglich 128

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gemacht werden. Es stand damals auf der Kippe. Ich vergesse nicht den Hungerstreik von Bärbel Boley. Diese Gruppe wußte, wofür sie gekämpft hatte, warum sie die Akten sichern wollte und warum sie die Stasizentralen besetzt hatte. Es ist gar nicht hoch genug zu bewerten, daß die Gauck-Behörde heute das ermöglicht, was ein Teil der Menschen in den neuen Bundesländern verlangte. Es ist unsere gemeinsame Geschichte und unsere gemeinsame Aufarbeitung. Es darf hier nicht ein West gegen Ost geben. Wir haben allen Grund zu schweigen, statt laut und urteilend uns über die anderen zu erheben. Auch die Menschen in den neuen Bundesländern brauchen Zeit. Auch ihr Erinnern wird sich verändern. Aber sagen wir nicht, daß sie etwas verdrängen wollen, während wir die Erinnerungsbereiten sind. Alles, was dort heute geschieht, spricht dagegen. Ich möchte unserem Volk wünschen, daß es seine Geschichte annimmt und daß durchaus in einem positiven Verhältnis zu ihr mit ihr umgegangen wird. Wir sollten Phantasie und Engagement dafür entwicklen, wie wir der jungen Generation heute durch Filme, Dokumente und Zeitzeugen das vergegenwärtigen, was für uns alle unfaßbar war. Zugleich müssen wir auf die Bedeutung des lebendigen Erhalts von Verfassung, Parlament, Gewaltenteilung, Menschenrechtsorganisationen, europäischen und internationalen Institutionen verweisen. Wer mit leichter Hand sagt, wir brauchen keine U N O , den möchte ich fragen, was wäre denn, wenn es sie nicht gäbe oder den Europarat, die Menschenrechtsorganisationen? Institutionen sind kein Bollwerk mehr, wenn die Menschen sie nicht schützen. Aber sie sind wichtige Garanten für das, was Menschen ausdrücken, wenn sie diese Institutionen schaffen. Lassen Sie mich zum Abschluß unterstreichen: Die Aufarbeitung der Vergangenheit muß weitergehen. Zu den nächsten Schritten sollte gehören, daß eine Lösung für jene Opfer gefunden wird, die immer noch keine Entschädigung bekommen haben. Daß wir auch in der Frage der Kriegsgerichtsurteile zu vernünftigen und auch raschen Entscheidungen kommen. Daß gerade jene, die schon allzu lange auf Rehabilitierung warten, rehabilitiert werden. Dazu sollten auch die inzwischen verstorbenen Opfer gehören. Unsere Verpflichtung gegenüber den Opfern ist es, unerschrokken und mutig, wie sie es waren, heute zu handeln.

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Die Autoren

Dr. Götz Aly'xstHistoriker und Publizist, habilitierte sich am Otto-Suhr-Institut der F U Berlin, veröffentlichte zuletzt „Endlösung" (Frankfurt 1995) und arbeitet derzeit an einer Studie über Völkerverschiebung in Europa. Inge Deutschkron, Journalistin, geboren in Finsterwalde, 1960 Deutschland-Korrespondentin der israelischen Zeitung „Maariv", von 1972 bis zur Pensionierung 1987 Redakteurin bei „Maariv" in Tel Aviv. Prof. Dr. Bernd Faulenbach, Vorsitzender der Historischen Kommission des SPDParteivorstandes, Professor für Neuere Geschichte an der Universität Bochum. Dr. h.c.Jörg Friedrich ist Publizist, hat sich besonders mit der Nichtverfolgung von NS-Verbrechen in der Bundesrepublik beschäftigt, erhielt 1995 einen Ehrendoktor der Universität Amsterdam. Wolfgang Lüder, Rechtsanwalt, früherer Bürgermeister und Senator für Wirtschaft in Berlin, von 1987 bis 1990 Bundestagsabgeordneter der FDP. Max Mannheimer,

Vorsitzender der Lagergemeinschaft Dachau.

Dr. Ernst Piper ist Historiker, 1983-1994 Geschäftsführer des Piper Verlags, zahlreiche Veröffentlichungen zu historischen und politischen Themen, habilitiert sich derzeit über Alfred Rosenberg an der Universität Potsdam. Prof. Dr. Peter Steinbach ist Professor für die historischen Grundlagen der Politik an der F U Berlin, Wissenschaftlicher Leiter an der Gedenkstätte Deutscher Widerstand (Berlin), zahlreiche Veröffentlichungen zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Prof. Dr. Rita Süssmuth ist Präsidentin des Deutschen Bundestages. Christian Ude, Oberbürgermeister der bayerischen Landeshauptstadt München seit 1993. Dr. Hans-Jochen Vogel, früherer Bundesminister der Justiz und Regierender Bürgermeister von Berlin, ehemaliger Partei- und Fraktionsvorsitzender der SPD im Bundestag, ist Vorsitzender des Vereins „Gegen Vergessen - Für Demokratie".

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