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German Pages 252 [253] Year 2024
Anne-Kathrin Weber Mitleid und Mitgefühl bei Hannah Arendt und Martha Nussbaum
Anne-Kathrin Weber
Mitleid und Mitgefühl bei Hannah Arendt und Martha Nussbaum Ein Gegen- und Miteinanderdenken zweier polarisierender Theorien
Budrich Academic Press Opladen • Berlin • Toronto 2024
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Gießener Dissertation im Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften
Alle Rechte vorbehalten. © 2024 Budrich Academic Press GmbH, Opladen, Berlin & Toronto www.budrich-academic-press.de ISBN eISBN DOI
978-3-96665-072-4 (Paperback) 978-3-96665-923-9 (eBook) 10.3224/96665072
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Für meinen Papa. Und meine wundervolle Familie.
Inhaltsverzeichnis Vorwort 1 1.1 1.2 1.3 2 2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.1.4 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4 2.3 3 3.1 3.1.1 3.1.2 3.2 3.2.1 3.2.2 3.3
Einleitung Aktualität und Ambivalenz: das politische Mitleid/Mitgefühl Mitleid/Mitgefühl in den Politischen Theorien Hannah Arendts und Martha Nussbaums: ein systematisches Gegen- und Miteinanderdenken Stand der Forschung
9 13 16 26 33
Mitleid und die „erweiterte Denkungsart“ in der Politischen Theorie Hannah Arendts 43 Die Antipolitik des Mitleids: die Französische Revolution 45 Zweierlei Mitleid(en) 47 Mitleid als antipolitisches Mittel und Ziel 53 Der „Zauber“ des „gefühlsseligen“ Mitleids 63 Die „politischen Leidenschaften“ und Alternativen zum Mitleid 68 Die Maxime der „erweiterten Denkungsart“: Lektionen aus dem Eichmann-Fall 78 Eichmanns „absoluter Mangel an Vorstellungskraft“ 80 Die „erweiterte Denkungsart“ und das politische Urteil 85 Die „erhebenden Gefühle“ des Massenmörders 102 Arendts Mangel an „Herzenstakt“ 107 Zwischenfazit 116 Mitgefühl und Empathie in der Politischen Theorie Martha Nussbaums Mitgefühl und Empathie: durchlässige Differenzen Das Mitgefühl als „hilfreiche“ politische Emotion Die Empathie als „moralisch neutrale“ Fähigkeit Die Vision einer öffentlichen Mitgefühlskultur: politisches Ziel und Mittel Bürgerschaftliches Mitgefühl kultivieren Den Bezugskreis ausweiten Zwischenfazit
124 125 127 134 137 139 157 170
7
4 4.1 4.2 4.3 4.4
Distanz, Differenz und Dissens – über die Potenziale und Gefahren von Mitleid/Mitgefühl und Perspektivwechsel Identifikation Dimensionierung Hierarchisierung Imagination
177 181 195 199 211
5
Fazit
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Dank
224
Literaturverzeichnis
226
Quellenverzeichnis
252
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Vorwort Als Chantal Mouffe 2005/2007 in ihrem Essay „Über das Politische“ wagte, den kosmopolitischen Mainstream der Demokratietheorie, namentlich Habermas, Giddens, Beck und Held, kritisch herauszufordern, war die Empörung groß. Mouffes Einwände gegen das deliberative, rationalistische, prozeduralistische, konsensorientierte Verständnis des Politischen erschienen vielen mehr als demokratiepolitisches Sakrileg denn als legitime Kritik, die die alltäglichen Erfahrungen in der Realdemokratie produktiv bearbeitet. Anderthalb Jahrzehnte später hat sich die Forschungsdiskussion in Politischer Theorie und Ideengeschichte geradezu vom Kopf auf die Füße gedreht: Wer heute demokratietheoretisch reüssieren will, muss sich mit Affekten und Emotionen befassen. Angesichts des weltweiten Siegeszuges des Populismus mit seinen Appellen an eine gefühlte, vermeintlich höhere Weisheit des Volkes und angesichts der unter Druck geratenen westlichen Demokratien wirkt das lange vorherrschende Vertrauen in rationale Prozeduren brüchig und die (un)heimliche Macht des Nicht-Rationalen ist unübersehbar. Dass diese Polarisierung nicht alles ist und nicht alles sein sollte, wird in Anne-Kathrin Webers Arbeit über die Funktionen, Möglichkeiten und Gefahren der emotionalen Dimensionen des Politischen idealtypisch deutlich. Statt sich in eine wenig erquickliche und kaum Erfolg versprechende Frontstellung von Rationalität versus Emotionalität zu begeben, wählt Anne-Kathrin Weber einen anderen, klassischen Weg und befragt zwei Theoretikerinnen, die sich der Fragen bereits angenommen und Lösungswege erwogen haben. Das politiktheoretische Forschungsprojekt war dennoch nicht ganz leicht zu realisieren, handelt es sich doch bei Arendt und Nussbaum, wie Weber treffend schreibt, um zwei „philosophische Popstars“, die in der Forschungsliteratur für nahezu jede erdenkliche Positionierung in Dienst genommen werden können und oft genommen werden. Gute Forschung darf sich von solch zeitgeistigen Verlockungen jedoch nicht irritieren lassen, ein Anspruch, der hier aufs Beste realisiert wurde. Zwei Weber’sche Argumentationen möchte ich in diesem Sinne hervorheben. Da ist erstens die im Gesamtwerk Nussbaums zentrale Hypothese, dass Emotionen zweifelsfrei auch kognitive Anteile haben, dass also eine demokratiepolitische Entgegensetzung „rationales Gespräch“ versus „emotionales Geschrei“ eine viel zu schlichte Charakterisierung der Grundstrukturen des Politischen darstellt. Dessen Fundamente bilden sich vielmehr als hoch komplexes Amalgam aus kognitiven, rationalen, emotionalen, affektiven und sogar somatischen Anteilen aus und können nur als solches angemessen konzipiert werden. Eine denkbare Synthese dieser schwer zu vereinbarenden 9
Mosaiksteine findet sich in der für beide Denkerinnen bedeutsamen „Liebe zur Welt“, die bei Arendt den Fokus Freiheit, bei Nussbaum den der Gerechtigkeit und für beide eine Reflexion über das Gute und das Böse impliziert. Dass Nussbaum in ihrer Politischen Anthropologie eine positive Verbindung zwischen Emotion und Kognition sehr viel stärker herausarbeitet und hervorhebt als Arendt, gehört zu den besonderen Stärken des Nussbaum’schen Weltund Menschenbildes. Anne-Kathrin Webers Deutungen legen sogar nahe, dass Arendt diese Verbindung als potenziell antipolitisch zurückweist. Den zweiten anregenden Gedankengang entwickelt Anne-Kathrin Weber an Arendt, bei der es darum geht, „das Schicksal der anderen mitzudenken, aber eben nicht mitzufühlen“ (S. 44). Im Zentrum steht die Art des Mitleidens der Französischen Revolutionäre, die ihnen eine freiheitliche Politik im Arendt’schen Sinne unmöglich macht(e). Diese spezifische Art des Mitleids entspricht einer banalen, sentimentalen, kollektiven Gefühlsaufwallung, die zu einer Berauschung an den eigenen starken Gefühlen führt, in der Pluralität und jegliche Distanz zwischen Menschen – Arendts berühmter Zwischenraum – verloren gehen und damit Gewalt und das Gesellschaftliche alles zu durchdringen vermögen. An die Stelle eines intersubjektiven politischen Sprechens tritt eine billige „Redseligkeit“ (S. 59), tritt Geschwätzigkeit und gefühlsduseliges Füreinander an die Stelle handelnden Miteinanders (S. 68). Wirklichkeitsabgewandt erliegen die französischen Revolutionäre den eigenen mitleidenden Gefühlen, einer veritablen „(Selbst)Berauschung“ (S. 66) am eigenen Gutsein, die das Gegenteil echten Mitleidens darstellt. Bekanntlich hat die von Arendt verehrte Amerikanische Revolution nichts von dieser pseudoradikalen Ergriffenheit. Das intimisierte öffentliche Mitleiden ist folglich gar kein Mitleiden, sondern eine narzisstische Ausstellung des sentimentalen Gefühls, das nur das Subjekt, nicht aber das Objekt dieses Gefühls befriedigt. Die revolutionäre Selbstberauschung entspringt dem unauthentischen Gefühls-Import aus dem Privaten; sobald es ins Öffentliche transportiert wird, verliert es seinen Charakter; der falsche Ort (ein klassischer Arendt’scher Topos) transformiert es in etwas Gefährliches. Eine solch selbstverliebte Form des zur Schau gestellten Mitleidens und Gutseins scheint mir von heutigen Pathologien des Öffentlichen nicht weit entfernt zu sein. Vielfältige weitere Anregungen lassen sich der folgenden Analyse entnehmen. Ich habe eine persönliche Auswahl getroffen, bin aber sehr sicher, dass die hoffentlich zahlreichen LeserInnen dieses Buches zahlreiche andere inspirierende Gedanken aus dem Gespräch zwischen Arendt, Nussbaum und Weber herauslesen werden. Dass ausgerechnet Distanzfähigkeit für empathische Nähe entscheidend ist – beide Denkerinnen sprechen sich ausdrücklich gegen Distanzverluste aus – und Selbstverlust gerade keine hinreichende Voraussetzung für eine mitfühlende freiheitliche Politik darstellt, sollte in demokratie10
politisch schwierigen Zeiten wie unseren unverzichtbare Maxime sein. Die Fähigkeit zur Imagination muss entsprechend ernsthaft trainiert werden, verdeutlicht Anne-Kathrin Weber an ihren Quellen – sonst bleibt das Politische im handlungslosen Fühlen stecken. Nicht immer sind gut gemeinte „heiße“ Gefühle von DemokratInnen gut für die Demokratie, sie braucht vor allem die Anstrengung nachdenklicher, aufmerksam zuhörender, respektvoller Nüchternheit. Demokratie braucht kühle Herzen. Barbara Holland-Cunz
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1 Einleitung Mitleid, Mitgefühl und Empathie sind gegenwärtig zu zentralen Maßstäben politischen Handelns avanciert.1 So fokussierte die mediale Aufmerksamkeit während der COVID-19-Pandemie schnell auf emotionale Marker, mit denen politische Führungsstile und Entscheidungen verglichen wurden. Politikerinnen wie die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel oder die ehemalige neuseeländische Premierministerin Jacinda Ardern standen dabei im Zentrum der Diskussionen über ihr emotionspolitisches Krisenmanagement – und wurden ob der überzeugenden Performanz des Mitgefühls vielfach gelobt. In einem Artikel im Wirtschaftsmagazin Forbes hieß es beispielsweise: „Generally, the empathy and care which all of these female leaders have communicated seems to come from an alternate universe than the one we have gotten used to. It’s like their arms are coming out of their videos to hold you close in a heart-felt and loving embrace. Who knew leaders could sound like this? Now we do“ (Wittenberg-Cox 2020). Eine derart schwärmerisch dargelegte Idealisierung politischer Emotionalität regt zum Nachdenken über einen seit einiger Zeit zu beobachtenden Trend an. Denn Mitleid, Mitgefühl und Empathie wurden bereits deutlich vor der Pandemie und auch in anderen politischen Settings verstärkt adressiert und instrumentalisiert. Insbesondere das Jahr 2015 sticht dabei heraus – ein Jahr, in dem sowohl die Quantität als auch die Qualität der politischen Indienstnahme von Mitleid, Mitgefühl und Empathie einen vorläufigen Höhepunkt erreichte und bis heute als solches prägend ist: In Europa wurde das Mitgefühl so offen, umfassend und polarisierend wie vielleicht noch nie zuvor ins Zentrum des gesellschaftspolitischen Diskurses gerückt – aus gutem Grund, denn 2015 stieg die Fluchtmigration deutlich an. Auch wenn wir uns mittlerweile an die Aufnahmen von überfüllten Fischerbooten im Mittelmeer und auch das damit verbundene Sterben gewöhnt zu haben scheinen, hat sich ein Bild in unser kollektives Gedächtnis eingebrannt, nämlich dasjenige des auf der Flucht ertrunkenen Kleinkindes Alan Kurdi, das Anfang September 2015 im türkischen Badeort Bodrum mit dem Kopf im Sand angespült wurde (vgl. hierzu ausführlich Adler-Nissen/Andersen/Hansen 2020; Sirriyeh 2018; Sohlberg/Esaiasson/Martinsson 2019). Das schreckliche Bild des toten Kindes avancierte postwendend zu einem visuellen Mahnmal für kollektives Mitgefühl. Zu einer ähnlichen Mitgefühlsikone ist der Slogan „Wir schaffen das!“
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Erste Gedanken hierzu habe ich bereits vor einigen Jahren grob skizziert (vgl. Weber 2016a; 2016b).
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geworden, mit dem Bundeskanzlerin Angela Merkel Ende August 2015 bei ihrer Sommerpresskonferenz auf die Aufnahme hunderttausender Asylsuchender einstimmte. Dieser kurze Satz wurde als politische Programmatik für eine deutsche Mitgefühls- und Willkommenskultur gedeutet, die, je nach politischer Haltung, entweder mit Stolz und Freude begrüßt oder als Niedergang westlicher Kultur und Werte aufs schärfste kritisiert wurde. Zweifelsohne hat diese in rechtskonservativen Kreisen als staatlich verordnet wahrgenommene Mitgefühlskultur zu einem Erstarken fremdenfeindlicher Kräfte wie der Alternative für Deutschland (AfD) geführt. Die besonders in diesem Milieu verwendete despektierliche Bezeichnung der damaligen Bundeskanzlerin als „Mutti Merkel“ zeigt, wie eng mitfühlende Emotionalität mit dem Geschlecht verknüpft ist – ein Befund, den auch die bereits angesprochene Idealisierung ‚weiblicher‘ Mitgefühlspolitiken im Rahmen der Corona-Pandemie bestätigt. Mitleid, Mitgefühl und Empathie werden in Politik und Gesellschaft aber nicht nur eingefordert oder problematisiert – sie werden inszeniert, evoziert und als politisches Ziel funktionalisiert, und zwar nicht nur in Deutschland, wie weitere Beispiele aus dem Jahr 2015 belegen: So präsentierten sich die damaligen Staats- und Regierungschef:innen wie François Hollande, Angela Merkel, Benjamin Netanjahu und Mahmud Abbas beim Pariser „Marche Républicaine“ als Reaktion auf die islamistischen Terroranschläge im Januar 2015 Arm in Arm vor einer Kulisse von Demonstrant:innen (vgl. Bogerts 2015: 225) – ein wirkmächtiges Bild, das Geschlossenheit und Mitgefühl ausdrücken sollte, mit den Opfern der Terroranschläge, aber auch mit der französischen Nation. Der politische Ausdruck des Mitgefühls ist dabei nicht nur als individuelle oder kollektive Geste der Betroffenheit zu verstehen, wie ein weitere Episode aus demselben Jahr zeigt: Als im Juni ein 21-Jähriger weißer USAmerikaner neun Afro-Amerikaner:innen in einer Methodist:innenkirche in Charleston, South Carolina, erschoss, hielt der damalige US-Präsident Barack Obama eine Rede beim Trauergottesdienst für den getöteten Reverend der Kirche. Scheinbar aus einer spontanen Gefühlsregung heraus stimmte er zum Abschluss das Kirchenlied „Amazing Grace“ an – ein bewegender performativer Akt, der eigenes Mitgefühl ausdrückte und gleichzeitig auch andere dazu aufrief, mitzufühlen. Nicht nur das Setting dieser Mitgefühlsperformanz verband dabei den individuellen Emotionsausdruck mit einem kollektiven Appell zur Verantwortungsübernahme, sondern vor allem auch die Wahl dieses bestimmten Liedes, gilt „Amazing Grace“ doch als musikalisches Symbol der Abschaffung der Sklaverei (vgl. Neiman 2020: 28f.). Generell bietet die US-amerikanische Politiklandschaft bereits seit den 1990er Jahren optimale Bedingungen, die politische Indienstnahme von Mitgefühl, Mitleid und Empathie zu studieren, setzten die Kandidat:innen sowohl aus dem demokratischen als auch aus dem republikanischen Parteienlager 14
doch wiederkehrend auf Mitleid/Mitgefühl und Empathie als Leitvisionen ihrer politischen Agenden (vgl. u. a. Berlant 2004: 1ff.; Land 2020; Pedwell 2012; Reese-Schäfer 2001: 10; Weber 2018; Woodward 2004). Daher verwundert es kaum, dass „empathy“ auch für Barack Obamas Präsidentschaft als ein zentrales Schlagwort fungierte (vgl. u. a. Pedwell 2012); Hillary Clinton, die bei der Wahl 2016 das demokratische Erbe Obamas verteidigen sollte, aber gegen ihren republikanischen Kontrahenten Donald Trump verlor, hatte im Wahlkampf seit Anfang 2015 zunehmend auf den Slogan „Love and Kindness“ gesetzt (vgl. Weber 2018). Es ist wahlweise paradox oder zynisch, dass nicht Clinton, sondern Trump – ausgerechnet! – mithilfe der Performanz von Mitgefühl die Wahl gewonnen hat.2 So inszenierte er sich im Wahlkampf gekonnt als Fürsprecher für jene, die sich angesichts des sozialen Wandels abgehängt fühlten (vgl. hierzu die aufschlussreiche Feldstudie von Hochschild [2016] sowie Murphy 2019: 3; vgl. in der vorliegenden Arbeit Kap. 3.3 und 4.3). Politiken, die das Mitgefühl, Mitleid oder die Empathie adressieren und instrumentalisieren, bieten daher mehr als nur warme Worte oder heimelige Symbolik. Diese Emotionen beziehungsweise die Fähigkeit zum empathischen Perspektivwechsel sind sowohl auf der Ebene politischer Entscheidungsträger:innen als auch auf derjenigen der politischen Subjekte verortet; sie kreieren dabei multiple, ineinander verflochtene Spannungsfelder. Kurzfristig motivieren sie Handlungen (vgl. Klein/Nullmeier/von Wersch 1999b: 10), mittelfristig stiften sie Identität und formieren das kollektive Gedächtnis (vgl. Kaindaneh/Rigby 2012: 160) und stellen damit langfristig politische (Machtund Herrschafts-)Instrumente dar, die weitreichende Konsequenzen für das Politische entfalten. Wir haben es also mit wirkmächtigen Emotionen zu tun – nicht nur im Privaten, sondern ganz besonders auch im Politischen. Mitgefühl, Mitleid und Empathie bergen gleichermaßen großes politisches Potenzial und handfeste Gefahren für die Demokratie. Um dieses Für und Wider pointiert auszuleuchten, so mein Vorschlag, lohnt es sich, die polarisierenden Thesen zweier herausragender Denkerinnen gegen- und miteinander zu denken: Hannah Arendt und Martha Nussbaum.
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Trump hat darüber hinaus auf aggressive Weise ‚Gegen-Emotionen‘ zu Clintons Wahlkampfemotionen zur Schau gestellt – vor allem Hass (auf das politische „Establishment“) und Abscheu (gegenüber Migrant:innen).
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1.1 Aktualität und Ambivalenz: das politische Mitleid/ Mitgefühl Zunächst sollte ich aber erläutern, was ich überhaupt damit meine, wenn ich von „Mitleid“, „Mitgefühl“ oder „Empathie“ spreche. In der Alltagssprache werden diese Begriffe sehr häufig synonym verwendet. Der Neurowissenschaftler Robert Sapolsky spricht treffend von einem „regelrechten Definitionssumpf“ (Sapolsky 2017: 25; vgl. auch Schaal/Fleiner 2015: 69; Marcus 2000: 224; die Germanistin Gesine Lenore Schiewer [2014: 13] wertet diesen Zustand hingegen als „Charakteristikum innovativen und offenen Nachdenkens“). Erschwerend kommt hinzu, dass sich Begriffsinhalte aus früheren Epochen nicht mehr mit Definitionen aus der Gegenwart decken (vgl. Frevert 2011: 18). Auch wenn eine Allgemeingültigkeit der Begrifflichkeiten weder angestrebt wird noch werden sollte, wird es insbesondere Politikwissenschaftler:innen deutlich erschwert, präzise terminologisch zu arbeiten. Denn die Disziplin hat nach wie vor keine eigenen nennenswerten Begriffsdefinitionen produziert und muss behelfsweise auf diejenigen aus der Psychologie oder der Philosophie zurückgreifen3 – auf Definitionen also, denen eine (proto-)politische 3
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Ein Blick in die deutschsprachigen Fachlexika aus der Politikwissenschaft offenbart, dass die Begriffe „Mitleid“ und „Mitgefühl“ sowie auch „Empathie“ nicht zu den Standardeinträgen gehören, mehr noch: Es lassen sich darin bislang überhaupt keine emotionstheoretischen Einträge finden. In der englischsprachigen The Encyclopedia of Political Science (Kurian [Hrsg.] 2011) ist immerhin ein eigener und ausführlicher Beitrag zu „Emotions in politics“ auszumachen, wonach die Rolle von Emotionen im Politischen „pervasive“, also „allumfassend“ (Capelos 2011: 500) sei. „Mitleid“ oder „Mitgefühl“ werden darin allerdings nicht erwähnt. Nachschlagewerke benachbarter Disziplinen sind zumindest dahingehend ergiebiger: Im Metzler Lexikon Philosophie (Prechtl/ Burkard [Hrsg.] 2008) existiert ein Eintrag zum „Mitleid“, der es als einen „Zentralbegriff der Ethik“ und als „ein auf den Mitmenschen gerichtetes Gefühl, das von dessen Leiden inspiriert ist mit dem Ziel zu helfen“ (Jung 2008: 379) definiert. Im Lexikon der Ethik (Höffe [Hrsg.] 2008) hingegen werden unter dem Eintrag der „Sympathie“ zwei auch für die vorliegende Analyse relevante Fragen angesprochen (allerdings leider nicht diskutiert): „Ist S[ympathie] ein verläßliches Motiv?“ und „Bedeutet S[ympathie] nicht eine Privilegierung bestimmter Personen u. Objekte, oder wahrt sie die für moralisches Handeln zu fordernde Neutralität?“ (Horn 2008: 306). In Nachschlagewerken der Psychologie lassen sich insgesamt deutlich mehr Einträge zu „Mitleid“ und „Mitgefühl“ finden – die allerdings theoretische Trennschärfe und Tiefe vermissen lassen. Ein Beispiel hierfür ist der Eintrag im Lexikon der Psychologie (Wenninger [Red.] 2000): „Mitgefühl“ ist demnach eine „positive Empathie-Emotionen [sic!], die durch internalisierte Regeln bzw. normative Überzeugungen mitgesteuert wird“ (Wenninger 2000: 75). Was genau „Empathie-Emotionen“ sind, bleibt offen; interessant ist hierbei, dass das Mitgefühl als „positiv“ charakterisiert und als (teil-) kognitivierbarer Prozess dargestellt wird. Diese Definition von Mitgefühl kommt der
Komponente fehlt. Auch aus diesem Grund habe ich mich dafür entschieden, Arbeitsdefinitionen von „Mitleid“ und „Mitgefühl“ sowie „Empathie“ aus meinem Untersuchungsgegenstand heraus zu entwickeln. Ich orientiere mich hierbei im Wesentlichen an der Emotionstheorie Martha Nussbaum, die ich in Kapitel 3.1 genauer darlegen werde. Sie erscheint mir insofern stimmig und sinnvoll, als dass sie „Emotionen“ unverrückbar mit unseren sozialen Kontexten in Verbindung setzt. Demnach werden wir nicht einfach von prä-sozialen Affekten überwältigt – ein Zustand, der uns gänzlich in unserem Selbst verhaftet –, sondern können aufgrund komplexer kognitiver Anteile in unserem emotionalen Erleben Rückschlüsse ziehen auf das, was uns wichtig ist – persönlich wie politisch. Nach einem solchen proaktiven Verständnis von Emotionalität können wir somit für uns selbst und für unser gesellschaftspolitisches Miteinander Verantwortung übernehmen (lernen). Die Emotionstheorie Martha Nussbaums ist zudem allgemein genug gehalten, um damit auch vergleichende Aussagen zu den Thesen Hannah Arendts zu ermöglichen – angesichts der bereits angesprochenen Vielfalt an Definitionen und Konzeptionen rund um „Emotionen“, „Gefühle“ und „Affekte“ kommt dies einem wahren Glücksgriff gleich. Wenn ich also von „Mitleid“ und „Mitgefühl“ spreche, meine ich damit auf einen individuellen oder kollektiven anderen gerichtete Emotionen, die sich – je nach Situation und Person – durch kognitive Anteile auszeichnen und sich anhand bestimmter Körperzustände manifestieren können, aber nicht müssen. Wesentliches Merkmal dieser Emotionen ist, dass sie sich auf das Leid oder eine missliche Lage eines (oft menschlichen, manchmal auch tierischen4) anderen beziehen. Ausgelöst werden Mitleid und Mitgefühl sehr häufig durch einen Perspektivwechsel, auch wenn dieser kein notwendiges Kriterium für das Erleben dieser Emotionen darstellt (vgl. Kap. 3.1.2). Mitleid und Mitgefühl müssen zudem nicht per se zu (altruistischen) Handlungen führen, sie können aber dahingehend motivierend und aktivierend wirken.
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von Martha Nussbaum nahe (vgl. Kap. 3.1.1). Im selben Lexikon wird „Mitleid“ als „ähnlich wie Mitgefühl ein uneigennütziges Gefühl bzw. intrinsisches Motiv, das bei Begegnung mit menschlichem Leid auftritt und das zu spontaner, informeller Hilfeleistung führen kann“ (ebd.), beschrieben. Auf eine Unterscheidung zwischen „Mitleid“ und „Mitgefühl“ wird hierbei nicht eingegangen; an späterer Stelle werden beide Emotionen synonym verwendet. Der Psychologe Michael Tomasello, der zu den Gemeinsamkeiten und Unterschieden von Menschenkindern und dem Nachwuchs von Menschenaffen forscht, hat gezeigt, dass sowohl der Perspektivwechsel als auch das Mitgefühl nicht nur beim Menschen zu beobachten sind – spezifisch menschlich ist aber laut Tomasello (2020: 319) deren Zielsetzung: Bei Menschenaffen ist das Mitgefühl demnach Ausdruck einer individuellen Emotionalität gegenüber Verwandten und Freund:innen, bei Menschen hingegen von kollektiver Sozialität.
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Auch wenn sich beide Emotionen sehr ähneln, ist dem Mitleid ein stärkeres Hierarchisierungspotenzial zwischen dem Subjekt und dem Objekt der Emotion inhärent.5 Dieser Aspekt ist für die zentralen Thesen meiner Arbeit unmittelbar relevant (vgl. Kap. 4.3). Daher habe ich mich dagegen entschieden, die eine Emotion in meinen allgemeinen Ausführungen sprachlich unter die andere zu subsumieren. Dass der Lesefluss durch die stete Nennung beider Emotionen – des positiver konnotierten „Mitgefühls“ und des negativer konnotierten „Mitleids“ – immer wieder leicht unterbrochen wird, ist daher beabsichtigt, um diese konzeptionelle Differenz, die für die politiktheoretische Betrachtung emotionaler Distanzverhältnisse wesentlich sein kann, kontinuierlich offenzulegen. Unter „Empathie“ verstehe ich – ebenfalls in Rekurs auf Nussbaum – eine vom Mitleid/Mitgefühl abgrenzbare Fähigkeit, die auf einem Perspektivwechsel beruht (vgl. Kap. 3.1.2). Sie ist, in ihrer Reinform, ein bewusster Akt des Sicheindenkens und -fühlens in ein anderes Wesen, eine Fähigkeit, die zunächst moralisch neutral ist. Sie löst demnach nicht automatisch Mitgefühl, Fürsorge oder Wohltaten (vgl. Krause 2011: 84) aus. Das Subjekt kann die Emotion eines anderen selbst fühlen; dies ist allerdings kein notwendiges Kriterium für den der Empathie zugrunde liegenden Perspektivwechsel. Dieser zeichnet sich nicht durch einen reziproken Akt aus, sondern durch eine Handlung, die im Subjekt verankert ist und keine Wechselseitigkeit mit dem Erleben desjenigen voraussetzt, in dessen Lage sich das Subjekt versetzt (vgl. zu den Schwierigkeiten eines Wechselseitigkeitsanspruchs Young 1997; vgl. hierzu auch Kap. 4.3). Wie in den vorangegangenen Begriffsbestimmungen zum Mitleid/Mitgefühl bereits angeklungen ist, befasse ich mich in dieser Arbeit mit „Emotionen“ und bewusst nicht mit „Affekten“. Dafür gibt es zwei Gründe: erstens einen textimmanenten, da sowohl Hannah Arendt als auch Martha Nussbaum den Emotionsbegriff verwenden, wenn sie Empfindungen im Politischen charakterisieren, und zweitens einen analytischen, da mit „Emotionen“ konkret erfahrbare, verbalisierbare und intentionale Phänomene viel eher zu begreifen und zu systematisieren sind als mit der deutlich universelleren, aber auch viel vageren Vorstellung von „Affekten“.6 Im Anschluss an die Arbeiten von Gilles 5
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Ich bin mir darüber im Klaren, dass auch diese Wortwahl bereits eine potenzielle Hierarchisierung zwischen der ‚Senderin‘ des Mitleids/Mitgefühls und dem ‚Empfänger‘ signalisiert. Analog der Verwendung beider Emotionsbegriffe möchte ich auch damit die genannten Hierarchisierungstendenzen sprachlich offenlegen. Ich bin daher nicht gänzlich überzeugt von Linda Åhälls (2018: 43) These, wonach der Unterschied zwischen „Emotionen“ und „Affekten“ (innerhalb eines feministischen Bezugsrahmens) lediglich als graduell zu verstehen sei, genauso wenig wie von Héla
eleuze und Félix Guattari bestimmt der momentan vielleicht populärste VerD treter des Affektbegriffs, Brian Massumi, diese als „proto-political“, als „the first stirrings of the political, flush with the felt intensities of life“ (Massumi 2015: ix), deren transversale und polyvalente „processuality“ Massumi hervorhebt. Ich beschäftige mich aber gerade nicht mit dem „Proto’schen“ im Sinne einer unbewussten Affizierung und Disposition (vgl. auch Zerilli 2016: 249), sondern mit dem konkreten „Politischen“. Zudem beinhalten Emotionen nach meiner Auslegung einen (mindestens graduell ausgeprägten) Subjektbezug, der sich dahingehend von Affekten als „pre-individual bodily forces“ (Clough 2008: 1) und als des Egologischen „enteignet“ (Butler 2018: 102)7 abgrenzt. Ich stimme hierbei der folgenden Einschätzung Linda Z erillis (2016: 261) zu: [A]ffect theory leaves us stranded when it comes to judging politically understood as entailing the revision of irrational beliefs, especially democratically problematic beliefs such as those that undermine basic political principles of equality, freedom, and social justice. […] The unpredictability of affect, its lack of connection with any object, raises pressing questions about its role in a critical political practice.
Ich bevorzuge den Emotionsbegriff zudem, obwohl – oder gerade weil – er eine naturwissenschaftliche Intervention zu dem in der Philosophie und Politischen Theorie traditionell verwendeten „Gefühls“-Begriff markiert (vgl. Frevert 2011: 29f.). Er verspricht, die starre Fixierung der VernunftGefühl-Dichotomie, die lange Zeit den Main- und Malestream dieser beiden Disziplinen geprägt hat, zu durchbrechen. Zudem ist er Ausdruck einer „politisch-sozialen Sprache“ (Frevert 2011: 18) und steht, insbesondere im anglophonen Sprachraum, in Kontrast zum Begriff der „Gefühle“ („feelings“) als individuelle sensorische Empfindungen. „Emotionen“ sind demnach (proto-soziale und proto-politische) Ausdrücke dieser Empfindungen (vgl. Capelos 2011: 500), um die es mir vorrangig geht. Mitleid/Mitgefühl als politische „Emotionen“ statt als präpolitische „Affekte“ zu verstehen, erlaubt es mir eher, so mein letztes Argument, die Deskriptionsebene zugunsten normativer Fragen zu transzendieren. Dies ist auch deshalb relevant, da alle Überlegungen zur Politisierung des Mitleids/Mitgefühls in eine traditionsreiche ideengeschichtliche „Mitleidskultur“ (Demmerling/Landweer 2007: 167) eingebettet sind, in der das Normative zuweilen ganz klar
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Heckers (2021:16) Vorschlag, dass die Kategorie der „Berührbarkeit“ „das gesuchte Phänomen hinter Emotionen, Gefühlen und Affekten“ sei, mit deren Hilfe Arendts Thesen zur Emotionalität zu verstehen seien. Übersetzungen fremdsprachiger Begriffe und Sätze habe ich immer selbst vorgenommen, sofern nicht anders gekennzeichnet.
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überwiegt – wie diese Passage aus der Feder des deutschen Mitleidsethikers, Arthur Schopenhauer, belegt: [G]ränzenloses8 Mitleid mit allen lebenden Wesen ist der festeste und sicherste Bürge für das sittliche Wohlverhalten […]. Wer davon erfüllt ist, wird zuverlässig Keinen verletzen, Keinen beeinträchtigen, Keinem wehe thun, vielmehr mit Jedem Nachsicht haben, Jedem verzeihen, Jedem helfen, so viel er vermag, und alle seine Handlungen werden das Gepräge der Gerechtigkeit und Menschenliebe tragen (Schopenhauer [1840] 1977: 275).
Als politisierte Emotionen und ebensolche Fähigkeit, nicht als präpolitische Affekte, sind Mitleid/Mitgefühl und Empathie dabei in einem komplexen Spannungsverhältnis zwischen einem „kreativ-emanzipatorischem Aspekt von Handeln“ und einem „herrschaftlich überformte[n], politische[n] Instrument“ (Sauer 2013: 256) verortet. Etwaige Annahmen von der „emotionalen Neutralität demokratischer Politik“ (Schaal/Heidenreich 2013: 9) werden damit ad absurdum geführt (vgl. ebd.). Auch in anderen, separaten oder überlappenden Räumen wie dem beruflichen (vgl. v. a. Hochschild 2006) und dem künstlerischen9 sind Mitleid/Mitgefühl und die Empathiefähigkeit zunehmend ins Zentrum des allgemeinen Zeitgeistes gerückt. Diese aktuelle Fokussierung und Fixierung auf das Mitleid/Mitgefühl lassen sich, so meine These, vor allem auf zwei dominante politische Trends zurückführen: nämlich auf den erstarkenden Rechtspopulismus und -extremismus sowie die immer tiefer gehende Neoliberalisierung unserer Zeit.10
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Ich zitiere grundsätzlich Originaltexte, ohne dabei Anpassungen an die heute gültigen Rechtschreib- und Zeichensetzungsregeln vorzunehmen. Nur an Textstellen, an denen es unerlässlich ist klarzustellen, dass ein Fehler nicht durch eine fehlerhafte Zitation meinerseits zustande gekommen ist, markiere ich dies mit einem „sic!“. Gleiches gilt für besonders frappante Formulierungen, die mir beachtenswert erscheinen. Hervorhebungen sind immer aus dem Originaltext zitiert, es sei denn, ich selbst habe eine bestimmte Passage betont. In diesem Fall habe ich Entsprechendes am Zitatende vermerkt. Ein Beispiel hierfür ist das mobile „Empathiemuseum“: www.empathymuseum.com [letzter Zugriff am 12.09.2023]. Neben der These über die zunehmende Mediatisierung der Politik (vgl. Dörner 1999; Meyer 2001: 242), die den Trend zur Emotionalisierung des Politischen befördere, bieten Birgit Sauer (2007: 178f.) und Florian Weber (2007: 12) noch eine andere, sicherlich ebenfalls zutreffende Deutung an, wonach Emotionen aufgrund der zunehmenden Erosion der politischen Macht von Institutionen weltweit in den Fokus rücken (vgl. auch Kap. 3.2.1).
Vor allem in der Psychologie und der (frühkindlichen) Pädagogik wird das politische Mitleid/Mitgefühl als ‚Gegenmittel‘ gegen rechtspopulistische und rechtsextreme Positionen und Kräfte in Stellung gebracht: Demnach ist es für das gute Funktionieren einer Demokratie und das Vermeiden von (individueller und gesellschaftlich-politischer) Grausamkeit unerlässlich, bereits in der frühen Kindheit Fähigkeiten wie Empathie und die Bereitschaft zum Mitgefühl zu erlernen (vgl. u. a. Baron-Cohen 2011: 154; Zaki 2020). Dies fördere nicht zuletzt das kritische Denken (vgl. u. a. Jährling 2018; Renz-Polster 2019) und das Gefühl von Zugehörigkeit in einer immer entgrenzter werdenden und als solcher wahrgenommenen Welt. Aus dieser Perspektive sind Verheißungen nach (nationaler) Zugehörigkeit und rigiden Abgrenzungen auch deshalb so erfolgreich, weil Institutionen zunehmend als ‚empathielos‘ beziehungsweise als „still-face“ wahrgenommen würden: Hierbei handelt es sich um einen Begriff aus einem Experiment des Entwicklungspsychologen Edward Tronick, in dem eine plötzliche emotionale Regungslosigkeit der primären Bezugsperson deutlich wahrnehmbaren Stress und anschließend Resignation bei einem Baby zur Folge hatte. Übertragen auf die politisch-institutionelle Ebene kann nach dieser Deutung die Tatsache, dass sich Menschen von der Politik und Institutionen missachtet und übersehen fühlten, in einigen Fällen zu einem psychologischen Trauma führen (vgl. Bader 2016). Empathie und Mitleid/Mitgefühl fungieren nach dieser Interpretation – im Nebeneinander mit, oft aber auch als konzeptioneller Ersatz für Moral – als basale, aber dennoch wirksame Schutzmechanismen gegen dasjenige, das man pathetisch die ‚Versuchung des Bösen‘ nennen könnte: Blinder Gehorsam basiert demnach auf einer völligen Ausblendung der Bedürfnisse anderer, schlimmer noch, der absoluten Verneinung deren (Mit-)Menschlichkeit. Dieser Perspektive steht eine Interpretation gegenüber, die statt der demokratiestärkenden eine demokratieschwächende Tendenz des politisierten Mitleids/Mitgefühls betont: nämlich die ökonomische Erschließung und Nutzbarmachung dieser Emotionen als „Compassion Inc.“, wie der vielsagende Titel eines populärwissenschaftlichen ökonomischen Sachbuchs (Sinha 2018) lautet. Eindrucksvoll haben die Studien unter anderem vom Arlie R. Hochschild (2006), Eva Illouz (2006) Birgit Sauer (2013) und Brigitte Bargetz (2013) gezeigt, dass Mitleid/Mitgefühl und vor allem auch die Fähigkeit zum empathischen Perspektivwechsel im Rahmen eines „Affektregime[s]“ (Bargetz/Sauer 2015: 94) als politisch-ökonomische Macht- und Herrschaftsinstrumente dienen können, und zwar konkret mittels „Gefühlsnormierung“ und „Gefühlsarbeit“ (Hochschild 2006: 125; 133) sowie über informellen Zwang zur sogenannten „Selbstoptimierung“ (vgl. u. a. Illouz 2006; Schnabel 2015: 203). 21
Nach dieser Lesart dienen Emotionen im Politischen11 letztlich der Komplizenschaft, statt dass sie selbst Widerstandspraktiken darstellen. Carolyn Pedwell (2014: 183) hat hierbei die Tendenz identifiziert, dass die genuin feministische Forderung, Mitgefühl und Fürsorge zu einem Primat politischen und gesellschaftlichen Handelns zu machen, angeeignet und neoliberaler Prämissen entsprechend transformiert wurde. Das besonders perfide dabei sei, dass dieser Prozess „biopolitischer Regulation“ (Pedwell 2014: 185) immer stärker mit dem gleichzeitig angestoßenen Prozess der Subjektivierung maskiert werden könne. Mitleid/Mitgefühl und vor allem die Empathiefähigkeit werden hierbei als „skills“ (Köppen 2015: 120) umgedeutet, als Fähigkeiten, die es im Berufsleben, aber zunehmend auch in allen anderen Lebensbereichen zu zeigen gelte. Damit werden sie zu einer „Ressource“ (Sauer 2013: 252), die in einem klassisch ökonomischen Sinn nutzbar gemacht wird (vgl. hierzu auch Sznaider 2021). Der „homo oeconomicus“ wird zum „homo empathicus“ (Rifkin 2010: 45; vgl. auch Schiewer 2014: 149) erklärt und als solcher zelebriert (vgl. kritisch hierzu Görlach 2019). Wenn Ökonom:innen die 11
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„Das Politische“ erscheint mir ob seiner Weite eher geeignet als ein stärker prozeduraler und institutionalisierter „Politik“-Begriff, um all dasjenige zu erfassen, das von Emotio nalität durchdrungen werden kann. Ich folge hiermit der Einordnung Pierre Rosanvallons, die Oliver Marchart (2010: 13) für seine umfassende Studie über den Begriff „des Politischen“ (2010) übersetzt hat: „Das Politische“ ist demnach dasjenige, das von „‚der Macht und von Gesetz [handelt, AKW], vom Staat und der Nation, von der Gleichheit und der Gerechtigkeit, von der Identität und der Differenz, von der citoyenneté und Zivilität, kurzum: heißt von allem [..], was ein Gemeinweisen jenseits unmittelbarer parteilicher Konkurrenz um die Ausübung von Macht, tagtäglichen Regierungshandelns und des gewöhnlichen Lebens der Institutionen konstituiert‘“. Dieser Definitionsumriss kann meines Erachtens zumindest in Teilen der Kritik Walter Reese-Schäfers begegnen, wonach der Begriff „des Politischen“ suggeriere, dass der politische Bereich ausdifferenziert darstell- und gegenüber anderen Lebensbereichen abgrenzbar sei (vgl. Reese-Schäfer 2013: 20). Genau dies wäre für eine Studie über die Wirkmächtigkeit von Emotionen, die im Individuum entstehen, aber kollektiv fühl- und steuerbar sind, von Nachteil. Der Begriff „des Politischen“ lässt meines Erachtens die Dynamisierung mehrerer Ebenen des politischen Prozesses, die Überlappungen der Sphären im Hinblick auf das Wirken von Emotionen in allen Bereichen des menschlichen Lebens konzeptionell eher zu als der im Vergleich statischere und eng gefasstere „Politik“-Begriff. Allerdings verwende auch ich den Begriff „des Politischen“ mit einigem Unbehagen, denn ich teile die Vorbehalte, die aus der Begriffsetablierung durch Carl Schmitt im deutschsprachigen Raum resultieren (vgl. u. a. Reese-Schäfer 2013: 20) – zumal der Versuch der Transformation des Begriffs durch Chantal Mouffe, die sich explizit auf Carl Schmitt beruft und sein „dem Politischen“ inhärentes Freund-Feind-Schema in ein Modell der Gegner:innenschaft umbildet (vgl. Mouffe 2007), ein deutliches Element von Konfrontation beinhaltet, die „das Politische“ nicht in jedem Falle beinhalten muss oder sollte (vgl. hierzu Marchart 2010: 35ff.).
Empathiefähigkeit enthusiastisch anpreisen (vgl. u. a. Singer/Ricard 2015), muss dies aber keinesfalls eine empathischere (Arbeits-)Welt bedeuten, die sich entschieden für mehr Gerechtigkeit und Gleichheit einsetzt – im Gegenteil dient Empathie oftmals einem Elitediskurs und damit als ein Selbstsicherungsmechanismus dieser sozialen Gruppe (vgl. Flam 2013: 13). All jene sind hingegen von Exklusion bedroht, die nicht zu jeder Zeit das jeweils geforderte „Gefühlsdispositiv“ (Sauer 2013: 246) im Sinne einer gesteuerten Hierarchisierung zwischen ‚guten‘ und ‚schlechten‘ Emotionen (vgl. u. a. Ahmed 2004: 3; Pedwell 2014: 93) abrufen und vorzeigen (können und wollen). In der Fülle der Forderungen nach oder Ablehnung von „mehr Mitgefühl“ und „mehr Empathie“ im Politischen liegt mittlerweile eine deutlich festzustellende Entgrenzung des Gegenstandes vor. In diesem Rahmen ist auch eine inhaltliche Verklärung der psychologischen Wirkmechanismen und der politischen Wirkmächtigkeit von Mitleid/Mitgefühl sowie der Empathie im „Age of Empathy“ (vgl. de Waal 2019) zu beobachten. Ein prägnantes Beispiel hierfür liefert die Studie The Science of Evil (2011) des Psychologen Simon Baron-Cohen. Demnach ist Empathie „one of the most valuable resources in our world“ (Baron-Cohen 2011: 19): Empathy is a universal solvent. Any problem immersed in empathy becomes soluble. It is effective as a way of anticipating and resolving interpersonal problems, whether this is a marital conflict, and international conflict, a problem at work, difficulties in a friendship, political deadlocks, a family dispute, or a problem with a neighbour (Baron-Cohen 2011: 194).
Sowohl die politische Fähigkeit der empathischen Perspektivübernahme, die Baron-Cohen als „Universallösungsmittel“ anpreist, als auch die emotionalen Regungen im Mitleid/Mitgefühl werden dabei meist scherenschnittartig im linken politischen Spektrum verortet; dabei wird übersehen, dass sie durchaus auch von Vertreter:innen des rechten Spektrums gezielt instrumentalisiert werden (vgl. Sirriyeh 2018) und gleichzeitig als Forderung auf diese einwirken. Die oftmals zu beobachtende mangelnde Tiefenschärfe der Anrufung von Mitleid/Mitgefühl und Empathie äußert sich darin, dass metatheoretische Fragen nach Macht und Herrschaft12 sowohl in der politischen Praxis als auch 12
Ich verwende den „Macht“-Begriff nicht im Arendt’schen Sinne einer gemeinsamen politischen Aktion von Individuen, sondern nach Max Weber ([1922] 2002: 28) als Durchsetzung eines (politischen) Willens, auch gegenüber Widerständen. Unter „Herrschaft“ hingegen verstehe ich ein sowohl im Rahmen institutioneller Strukturen als auch gegebenenfalls im Kontext informeller Beziehungen vorkommendes Hierarchieverhältnis zwischen Herrschenden und Beherrschten mit fest etablierten Verhaltensregeln
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in der medialen, oft auch wissenschaftlichen Analyse – die Feministische Theorie ist hiervon ausgenommen – oftmals kaum gestellt werden (vgl. Holland-Cunz 1994: 239): „[E]mpathic engagement can distance as much as it connects, exclude as much as it humanises, fix as much as it transforms and oppress as much as it frees“ (Pedwell 2014: 190). Das Mitleid/Mitgefühl wird, dieser Lesweise gemäß, sogar mit einem „Hornissennest“ (Berlant 2004: 9) verglichen und als „Euro-American political obsession“ (Pedwell 2014: ix) gleichsam lokalisiert und kritisiert. Wie bereits gezeigt, geht diese „Obsession“ rund um die Politisierung des Mitleids/Mitgefühls mit einer deutlichen emotionalen Vergeschlechtlichung einher. Dieser Automatismus, der die historisch gewachsene Konnotation des Mitleids/Mitgefühls als „weiblich“ widerspiegelt (vgl. u. a. Frevert 2011: 36f., Eitler 2011: 116f.), ist ein markanter Beleg dafür, dass die Frage nach den Potenzialen und Gefahren des politisierten Mitleids/Mitgefühls und der Empathie nicht zuletzt aus diesem Grund eine durch und durch feministische ist.13 Dieser Befund wird maßgeblich durch die klassische feministische Utopie einer „liebevollen demokratischen Öffentlichkeit“ (Holland-Cunz 1994: 241)
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(vgl. u. a. Schubert/Klein 2018: 162); im Gegensatz zu Max Webers Definition von „Herrschaft“ (vgl. Weber [1922] 2002: 28) zielt meine Begriffsverwendung nicht notwendigerweise auf das Element der Fügsamkeit der Beherrschten gegenüber der oder des Herrschenden ab und fokussiert stattdessen stärker auf die Subjektebene – also die der Herrschaftsausübung. Jede theoretische Annäherung an Mitleid/Mitgefühl ist dabei in den Kontext des auf Platon zurückgehenden und sich äußerst hartnäckig erweisenden Dualismus zwischen Rationalität und Emotionalität eigebettet, der an die Trennung zwischen der öffentlichen und der privaten Sphäre (vgl. u. a. Buckel/König 2012: 273) sowie vergeschlechtlicht entlang der Zuordnung Mann-Frau gekoppelt war. Sara Ahmed (2004: 170) hat darauf verweisen, dass diese Konnotation mit einer Abwertung sowohl von Feminismus als auch Emotionalität einhergeht. Diese „archaic formations“ (Berlant 1998: 283) sind weiterhin überaus wirkmächtig, auch im gegenwärtigen Emotionsdiskurs: Frauen mögen zwar von dem skizzierten Wandel der Erfordernisse hin zu mehr Empathie und Mitleid/Mitgefühl zumindest in geringen Teilen profitieren. Damit könnte theoretisch ihre traditionelle Ausgrenzung aus dem politischen Raum (für eine grundlegende Reflexion über das Spannungsverhältnis zwischen Sphärentrennung und Geschlecht vgl. u. a. HollandCunz 1994; Klinger 1996; Pateman 1989) zumindest in Ansätzen überwunden werden. Dennoch zielt dieser Prozess wohl doch primär auf eine bestimmte Formierung von (sensitiver) Männlichkeit ab (vgl. Woodward 2004: 60) und trägt zu einer vertieften Stereotypisierung und Naturalisierung des (vermeintlich) ‚weiblichen‘ Mitleids/Mitgefühls (die z. B. bei Krell 2013: 274 sowie Pinker 2008: 130 zu finden ist) bei. Auch ist damit oft eine Stigmatisierung verbunden, die, das hat Martha Nussbaum (1995a: 365) notiert, besonders Frauen aus den sogenannten Entwicklungsländern betrifft, die sich nicht nur qua Frausein, sondern auch qua Rassismus potenziere.
gestützt, die mit Mitleid/Mitgefühl sowie der Empathiefähigkeit eng verknüpft war (und ist14): Die ‚Ent-Patriachalisierung des Öffentlichen‘ durch ‚weibliche Tugenden‘, eine demokratische Entpolarisierung der Sphären erschien als angemessenes Gegenbild zur formalisierten patriarchalen Öffentlichkeit; zugespitzt formuliert: mit Empathie gegen Rituale, Intuition statt Konvention, personalisierte Bindung an Stelle sachbezogener Verhandlung (Holland-Cunz 1994: 238).
So einladend und erstrebenswert eine solche Vision auch klingt – für die (feministische) Politische Theorie rücken die Ambivalenzen des politisierten Mitleids/Mitgefühls und der Empathie spätestens mit den Herausforderungen in den Fokus, die sich ergeben, wenn diese Emotionen beziehungsweise diese Fähigkeit als politisches Ziel zulasten anderer formuliert werden, wie Jonathan Marks (2007: 727) zu Recht moniert: „[C]ompassion is no substitute for justice, because it is a kindness the powerful extend to the weak, not an obligation binding on all.“ Aber auch als politisches Mittel sind Mitleid/Mitgefühl und Empathie systematisch zu untersuchen, denn wie individuell erlebte und kulturell geprägte Emotionen gleichzeitig als politische fungieren können, die Legitimationsstrukturen unterliegen (sollten) und sich Dissens und demokratischen Schranken beugen müssen, ist eine hochspannende und komplexe Frage. In Zeiten, in denen sich die jeweiligen Distanzverhältnisse zwischen dem politischen Subjekt und „den anderen“ kontinuierlich zu verschieben scheinen, sind diese Aspekte von entscheidender Bedeutung sowohl für die Demokratietheorie als auch für die realpolitische Praxis.
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Diese Utopie wird nach wie vor von einigen feministischen Theoretiker:innen propagiert. So betont beispielsweise Elisabeth Porter (2006: 104) das enorme positive Wirkpotenzial von Mitleid/Mitgefühl als übergeordnetes politisches Ziel im Rahmen einer (feministischen) „politics of compassion“: „Political care is the demonstration of compassionate decency by committed citizens, political representatives, and political leaders who collectively strive for an inclusive polity that is responsive to peoples’ needs“ (Porter 2006: 116). Eine solche Mitgefühlspolitik transzendiert laut Porter denn auch die Forderungen, die sich aus Care-Ansätzen ergeben, indem diese kollektiviert und politisiert würden (vgl. u. a. Porter 2006: 99). Das Ziel einer „politics of compassion“ sei „distinctively feminist in stressing the relational aspects of politics and in building on women’s traditional experience of compassionate care“ (Porter 2006: 116).
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1.2 Mitleid/Mitgefühl in den Politischen Theorien Hannah Arendts und Martha Nussbaums: ein systematisches Gegen- und Miteinanderdenken Das oben skizzierte Für und Wider der politischen Wirkmächtigkeit von Mitleid/Mitgefühl und Empathie spiegelt sich in äußerst pointierter und polarisierender Weise in den Politischen Theorien zweier herausragender Denkerinnen wider: Hannah Arendt und Martha Nussbaum. Das systematische Gegen- und Miteinanderdenken beider Theorien legt Spannungskräfte zwischen Freiheit und Gemeinsamkeit offen und berührt signifikante Fragen von Herrschaft, Legitimation und Pluralität. Sowohl bei Arendt als auch bei Nussbaum lassen sich die jeweiligen Thesen zum Mitleid/Mitgefühl zudem als wegweisend für ihre grundsätzlichen Haltungen zu Emotionalität im politischen Raum deuten. Zunächst werde ich die Thesen Hannah Arendts und Martha Nussbaums zu Mitleid, Mitgefühl und dem Perspektivwechsel porträtieren. In Kapitel 2 werde ich Arendts vehemente Warnung vor der Politisierung des Mitleids in Über die Revolution ([1963] 2011b) darlegen (vgl. Kap. 2.1). Anschließend fächere ich ihre Thesen zur gesellschaftspolitischen Relevanz eines intersubjektiven Perspektivwechsels auf, die sie in und ausgehend von Eichmann in Jerusalem ([1963] 2011a) als „erweiterte Denkungsart“ ausbuchstabiert hat (vgl. Kap. 2.2), und die als Alternativkonzeption zum politisierten Mitleid zu verstehen ist, denn für Arendt ist das Mitleid „the real adversary“, wie George Kateb (1984: 93) konstatiert. Es steht demnach paradigmatisch für die Gefahren, die aus der politischen Indienstnahme einer der Intimität zuzuordnenden Leidenschaft als öffentlich-kollektives Gefühl resultieren. Der anti-politische Charakter des Mitleids steigert sich in Arendts Politischer Theorie bis hin zu einer potenziell proto-totalitären Drohkulisse, die Pluralität und Realität verneint und vernichtet. Die Thesen, die ich in Kapitel 3 vorstellen werde, könnten kaum kontrastreicher sein: Für Martha Nussbaum, die von der deutschen Wochenzeitung Die Zeit als „einzig ernst zu nehmende[] Anwärterin auf den seit Hannah Arendts Tagen verwaisten Meisterdenkerinnen-Thron“ (Lau 2002) betitelt wurde, steht außer Frage, dass das Mitgefühl eine tragende Rolle im öffentlich-politischen Raum spielt und spielen sollte. Aus dieser Perspektive heraus ist es nahezu fahrlässig, dessen enormes instrumentelles Potenzial ungenutzt zu lassen. Zunächst werde ich die formalen Strukturmerkmale darlegen, die Nussbaum für Mitgefühl und Empathie systematisch erarbeitet hat (Kap. 3.1), um anschließend ihre kühne Vision einer öffentlichen Mitgefühlskultur zu erschließen (Kap. 3.2). In Kapitel 4 werde ich diese beiden polarisierenden Theorien schließlich systematisch gegen- und miteinander denken. Querschnittartig durch die Kategorien „Identifikation“ (Kap. 4.1), „Dimensionierung“ (Kap. 4.2) sowie 26
„Hierarchisierung“ (Kap. 4.3) werden dabei die drei maßgeblichen Aspekte sichtbar, die nicht nur den Vergleich der beiden Politischen Theorien bestimmen, sondern die letztlich zentral sind für jede demokratietheoretische Auseinandersetzung mit der politischen Wirkmächtigkeit des Mitleids/Mitgefühls sowie des Perspektivwechsels: die Frage nach der Ausgestaltung horizontaler und vertikaler Distanz zwischen derjenigen, die mitleidet/mitfühlt, und demjenigen, der Mitleid/Mitgefühl (gewollt oder ungewollt) empfängt, die Frage nach dem Umgang mit politischer Differenz sowie nach den Möglichkeiten und dem Stellenwert von Dissens innerhalb strategischer Mitgefühlspolitiken. Ich schließe meine Analyse mit einem zentralen Konvergenzpunkt beider Theorien ab: der „Imagination“ (Kap. 4.4). Eine systematische und detaillierte Zusammenschau der Politischen Theorien Hannah Arendts und Martha Nussbaums, wie sie in dieser Arbeit unternommen wird, ist bislang nicht auszumachen (vgl. auch Kap. 1.3). Dies ist umso erstaunlicher, als ein Vergleich sich zunächst aufgrund der sehr deutlichen Polarisierung der Thesen über die Wirkmächtigkeit von Mitleid und Mitgefühl anbietet. Dass sich diese auf zwei sehr ähnliche, aber dennoch voneinander zu unterscheidende Emotionen – Mitleid (Arendt) und Mitgefühl (Nussbaum) – beziehen, ist dabei kein Hindernis, wie z. B. Murphy (2019: 11) insinuiert: Vergleichbar sind sie deshalb, weil beide auf die politische Indienstnahme der jeweiligen Emotion als kollektive Reaktion auf bestehendes Leid abzielen. Zudem ist der einzig entscheidende Unterschied, den es nach meinem Verständnis in der Beschaffenheit zwischen Mitleid und Mitgefühl im fühlenden Subjekt zu konstatieren gilt, nämlich derjenige des größeren Hierarchiepotenzials im Mitleid, für beide politisierte Emotionsformen unmittelbar relevant, wie ich vor allem anhand der Thesen Martha Nussbaums zu einer öffentlichen Mitgefühlskultur zeigen werde. Insbesondere vor diesem Hintergrund ist es äußerst bedauerlich, dass sich Nussbaum selbst nicht mit den Thesen Arendts befasst hat (vgl. kritisch hierzu auch Slaby 2017: 148, FN 29). Der Vergleich lohnt aber auch deshalb, weil sich Hannah Arendt und Martha Nussbaum, erstens, ihren Sujets auf markante Weise, nämlich emotional, nähern; zweitens, weil sie beide eine kraftvolle Vorstellung eines „öffentlichen Glücks“ verfolgen und damit, drittens, ein (partiell) neo-Aristotelisches Erbe vertreten. Der Tatsache zum Trotz, dass Arendts und Nussbaums Theo rien inhaltlich wenig explizite Überschneidungspunkte bieten, arbeiten beide im Grunde mit einer essentialistischen Vorstellung über die menschliche Natur.15 Diese spiegelt sich auf der formalen Ebene ihres Schreibens in
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Arendt selbst betrachtete Aussagen über die Natur des Menschen mit Skepsis (vgl. Arendt [1958] 2007: 19ff.). Nussbaum hingegen hat offensiv die universalistische und
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einer auffälligen ‚emotionalen Methode‘ wider (vgl. hierzu ausführlich Weber 2014: 5ff.). Arendts Theorie wurde beispielsweise eine „impressionistisch-einfühlende Assoziationskraft“ (Mommsen 2011: 36) attestiert und als eine Theoriebildung klassifiziert beziehungsweise deklassiert, die von einer „emotional bestimmten Methode“ geprägt sei, welche von einem „emotionalen Schockzentrum“ (Voegelin [1953] 1998: 35) ausgehe, das „Strahlen aussendet auf ihren Wunsch, die Gründe des Schrecklichen zu untersuchen, die dazu gehörenden politischen Entscheidungen in der westlichen Zivilisation zu verstehen und sich mit Mitteln, dem Bösen Einhalt zu gebieten, zu beschäftigen“. Auch wenn dieses Vorgehen laut Voegelin zu einer „Entgrenzung des Gegenstandes“ (ebd.) führe, ist diese Beobachtung trotz der ihr inhärenten Kritik eine relativ akkurate Beschreibung für Arendts Vorgehen, das sich nicht nur in ihrer Totalitarismusstudie zeigt, sondern sich wie ein roter Faden durch ihr Werk zieht. Martha Nussbaum changiert sogar noch selbstbewusster und expliziter als Arendt zwischen persönlicher Erlebnisebene und theoretischer Betrachtung. Deutlich wird dies vor allem anhand des ersten Kapitels ihres emotionstheoretischen Hauptwerks, Upheavals of Thought ([2001] 2008), in dem sie ihre Emotionstheorie anhand ihrer eigenen Gefühle hinsichtlich des Todes ihrer Mutter aufzufächern beginnt. Nussbaums Werk ist durchzogen von derartigen persönlichen Erlebniszentren, von denen aus sie ihre Theoriebildung entwickelt (vgl. Nussbaum 2013: 11f.).16 Wie Arendt transformiert auch Nussbaum diese ‚emotionale Methode‘ selbstbewusst zu einer leidenschaftlichen Auseinandersetzung mit ihren politiktheoretischen und philosophischen Sujets. Diese Transformation ist umso bedeutender, als sie immer noch ein Wagnis und einen möglichen Angriffspunkt darstellt, jedenfalls für weibliche Denker:innen.17
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‚essentialistische‘ Seite ihrer Theorie betont (vgl. Nussbaum [1993] 2007b: 179; 2000: 34ff.; vgl. auch Reese-Schäfer 2001: 68; Straßenberger 2019: 214). Interessanterweise adressiert Nussbaum – die sonst kaum auf Arendts Thesen rekurriert; nennenswert sind lediglich Nussbaums Ablehnung von Arendts Thesen zu den Ereignissen in Little Rock (vgl. Nussbaum 2013: 316; vgl. hierzu auch Kap. 2.3) sowie ihre Auseinandersetzung mit der Analyse von Augustins Liebesbegriff in Arendts Dissertationsschrift (vgl. Nussbaum [2001] 2008: 551ff.) – explizit Arendts ‚emotionale Methode‘: „To see how problematic this doctrine of love is, we have only […] to consider Arendt, writing this from her 1929 situation. She takes from Augustine a lesson that may well have calmed her, but one that could not have been useful in directing her actions and speeches in the world in which she found herself“ (Nussbaum [2001] 2008: 553f.; meine Hervorhebung). Die Philosophin Susan Neiman, die ebenso wie Martha Nussbaum Schülerin von John Rawls war, arbeitet mit einer ähnlichen ‚emotionalen Methode‘ und verweist in diesem Kontext indirekt auch auf das diesbezügliche Vorbild Arendts (vgl. Neiman 2020: 38). Neiman konstatiert, dass sie selbst bewusst „zwischen Analyse und Anekdote“ wech-
Sowohl Arendts als auch Nussbaums Politische Theorie weisen darüber hinaus auch inhaltlich einen emotionalen Fokus auf, nämlich die Grundannahme einer „Liebe zur Welt“ (vgl. Kap. 4), mit der sich beide seit den Anfängen ihrer jeweiligen wissenschaftlichen Tätigkeit beschäftigen – Arendts Dissertationsschrift Der Liebesbegriff bei Augustin ([1929] 2006)18 und Nussbaums philosophische Essays in Love’s Knowledge (1990) belegen dies. Beide Theorien beinhalten eine geradezu erotische Vorstellung der Liebe zur Welt als einem Begehren, die Welt als Mit-Welt vor dem Bösen zu schützen (Arendt) und trotz ihrer inhärenten Fragilität (vgl. v. a. Nussbaum [1986] 2007) zu einer Vorstellung des Guten hin zu transformieren (Nussbaum). Bei Nussbaum bedingt diese Liebe zur Welt zum einen die emotionsaffine Vorstellung, nach der wir uns erst durch unsere Emotionen als aktives Subjekt in der Welt konstituieren. Emotionen sind demnach „Beteiligung[en] an der Welt“, wie auch Robert Solomon (2009: 150) befindet, die den Menschen mit der „world of risk and mutuability“ (Nussbaum [1986] 2007: 7) verbinden. Zum anderen evoziert Nussbaum explizit die Vision einer gesellschaftlichen Liebe gegenüber „one’s fellow citizens seen as fellow inhabitants of a common public space“ (Nussbaum 2013: 2). Allerdings, und das wird an späterer Stelle noch zu problematisieren sein (vgl. Kap. 3.2.1), präsentiert Nussbaum hiermit vorrangig eine „patriotische“ Liebe, die die Nation stärken soll, statt einer weltbürgerlichen. Arendts Konzeption einer amor mundi zielt hingegen auf die Übernahme von (politischer) Verantwortung ab, die normativ weiter gefasst ist als die zur Nation, und die Arendt in den Kontext der „Sorge“ um die Welt setzt: „Das gesteigerte Realitätsbewußtsein, das als solches Lust ist, entstammt einer leidenschaftlichen Weltoffenheit und Weltliebe, die sich in der
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sele, denn sie sei davon überzeugt, „dass konkrete historische Beispiele allgemeine moralische Fragen nicht verdunkeln, sondern erhellen. Diese Art moralischer Schulung hilft uns, sowohl komplexe als auch einfache Formen des Bösen zu erkennen, und bereitet uns darauf vor, sie künftig zu verhindern“ (Neiman 2020: 32f.). Arendts Thesen zur christlichen Nächstenliebe (vgl. hierzu ausführlich Tömmel 2013: 202ff.) – die sie auch in anderen Werken angerissen hat (vgl. u. a. Arendt [1958] 2007: 66f.; Arendt [1963] 2011b: 89) – sind mit ihrer Konzeption des Mitleid(en)s inhaltlich verwandt, aber nicht identisch, auch wenn Arendt dies an einer Textstelle in Über die Revolution ([1963] 2011b: 89; vgl. hierzu insbesondere die englische Originalversion, in der Arendt direkt von „compassion“ spricht, in der deutsche Übersetzung jedoch von „Nächstenliebe“, vgl. Arendt [1963] 2016: 65) insinuiert. Dennoch gibt es einen entscheidenden Unterschied zwischen Arendts Konzeption der Nächstenliebe und derjenigen des Mitleids: Arendt unterstellt der Nächstenliebe zwar eine apolitische, aber eben keine radikal antipolitische Wirkung wie dem Mitleid. Insofern werde ich mich auf Verweise beschränken, wo immer eine für meine Fragestellung relevante Parallele zwischen den beiden Phänomenen auszumachen ist.
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‚tragischen Lust‘ nicht einmal dadurch beirren läßt, daß der Mensch an der Welt zugrunde geht“ (Arendt [1968] 1989b: 20; meine Hervorhebungen).19 Aus diesen Konzeptionen der „Liebe zur Welt“ erwächst in beiden Theorien die Vorstellung eines „öffentlichen Glücks“ (vgl. insb. Kap. 2.1.4). Darunter verstehen Hannah Arendt und Martha Nussbaum in auffällig ähnlicher Weise die aktive und leidenschaftliche Gestaltung von Politik als lustvollem Akt sowie als Garant für den (V-)Erfolg übergeordneter politischer Prinzipien wie Gerechtigkeit (Nussbaum) und Freiheit (Arendt). Sowohl bei Arendt als auch bei Nussbaum ist diese sehr empathisch vorgetragene Leidenschaftlichkeit für das Politische auch auf den US-amerikanischen Wirkkontext zurückzuführen, der den realpolitischen Rahmen beider Theorien bildet. Davon zeugt nicht nur Arendts Begeisterung über die Institutionen und Intentionen der Gründungsphase der Vereinigten Staaten, die immer wieder in ihren Schriften und persönlichen Briefen durchscheint (vgl. auch King 2015: 107), sondern auch Nussbaums stärker auf die Gegenwart gerichtetes, sehr amerikanisches Plädoyer für einen „kritischen“ Patriotismus (vgl. Kap. 3.2.1) und natürlich ihre im Vergleich zu europäischen Theorien deutlich affirmativere Emotionsvision. Beide, Arendt und Nussbaum, verteidigen vehement eine übergeordnete Konzeption des Glücks als oberstes Ziel politischen Handelns (vgl. auch Gutschker 2002: 478) sowie der Erscheinung im öffentlichen Raum. Sie folgen damit der aristotelischen Theorie, wonach der Mensch „seiner Natur nach in die politische Gemeinschaft“ (Nikomachische Ethik I 5, 1097b) gehöre und dabei der Verfolg des Glücks (eudaimonia) als „Ziel (telos) alles menschlichen Tuns“ (Nikomachische Ethik X 5, 1176a) maßgeblich sei. Arendt definiert diese Glücksvorstellung als rein öffentliches Glück; bei Nussbaum hat das Glück eine stärker individuelle Funktion. Zudem beschäftigen sich sowohl Arendt als auch Nussbaum mit den Elementen einer bürgerschaftlichen Infrastruktur (vgl. Honig 2017: 4), mit den Symbolen und Schauplätzen der Demokratie (vgl. Kap. 3.2.2).
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Trotz dieser eindeutig wahrnehmbaren Leidenschaftlichkeit in Sujet und Form ist Judith Mohrmann (2015: 49, FN 121) darin zuzustimmen, dass Arendt diese emotionalen Komponenten ihrer Theorie nicht systematisch theoretisch entwickelt hat. Etwas anders steht es um Arendts Verständnis der „Welt“, die zwar mehrere Ausprägungen hat (vgl. u. a. Meints 2011: 79 FN 185), vor allem aber das Gemeinsame bezeichnet (vgl. u. a. Arendt [1968] 1989b: 40f.), das kleine Einheiten, aber auch die Welt als Weltbürger:innentum umfassen kann. Deutlich wird dies vor allem in ihren Reflexionen über grenzüberschreitende Gefahren – bedingt durch Technologie oder Kernenergie beispielsweise (vgl. Arendt [1958] 2007: 7ff.; vgl. auch Weber 2014).
Bei beiden ist die Antike somit ein „entscheidende[r] Bezugspunkt“ (Straßenberger 2006: 155). Allerdings sind den Gemeinsamkeiten der beiden NeoAristotelikerinnen (vgl. Gutschker 2002; Straßenberger 2006)20 ebenfalls deutliche Grenzen gesetzt: Bei Nussbaum überwiegt die Intention, Gerechtigkeit zu befördern (vgl. u. a. Nussbaum 2016: 8); Arendt hingegen hat – zum Leidwesen vor allem der feministischen Politischen Theorie – normative Thesen über Gerechtigkeit nicht substanziell berührt (vgl. u. a. Benhabib 1996: 194; Dietz 1995: 40). Stattdessen hält sie sich aus aristotelischer Perspektive eher an die Abwehr des Bösen, um die freiheitlichen Gestaltung des Gemeinwesens zu schützen. In diesem Rahmen richtet sich Arendt allerdings entschieden gegen die politische Wirkmächtigkeit von Mitleid im öffentlichen Raum. Mit dieser Festlegung bricht sie wiederum mit dem aristotelischen Erbe, wonach Emotionen das Politische maßgeblich gestalten können (vgl. Rhetorik I 2, 1356a).21 Der Vergleich der Politischen Theorien Hannah Arendts und Martha Nussbaums ist in zwei Rezeptionstendenzen eingerahmt, die die vorliegende Analyse geprägt und, vor allem, deutlich erschwert haben: Dabei handelt es sich, erstens, um den mittlerweile fast groteske Züge annehmenden Personenkult um Hannah Arendt, der weit über die Wissenschaft hinaus zu einer schier endlosen Bemühung von und aus den jeweiligen Kontexten teilweise völlig losgelösten Zitaten in Publikationen unterschiedlichster Natur geführt hat.. Martha Nussbaum steht diesem Dasein als ‚philosophischem Popstar‘ in nichts nach. Bereits vor über zwanzig Jahren wurde ihr im deutschen Feuilleton eine „Allgegenwart“ (Lau 2002) attestiert; aktuell publiziert sie im Rekordtempo Schriften zu den großen Themen unserer Zeit, die allerdings zuweilen manifestartigen, weniger philosophischen oder politiktheoretischen Charakter besitzen. Zweitens befinden wir uns, wie ich bereits skizziert habe, inmitten eines ‚Emotionshochs‘, das seit ungefähr einem Jahrzehnt eine wahre Flut an mehr oder weniger einschlägigen Kommentaren mit sich gebracht hat. Das 20
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Laut Grit Straßenberger (2006: 158) stellt dieses von Jürgen Habermas geprägte „Etikett“ ein „allgemeines Label“ dar, „unter dem sehr unterschiedliche, zum Teil divergierende Rezeptionsmuster und -inhalte rubriziert werden können. [Der Neoaristotelismus, AKW] kann als umfassende Vollrezeption betrieben werden oder als nur selektiver Rekurs auf bestimmte Elemente Aristotelischen Denkens“ und „umfaßt sowohl traditionalistische Rückkehrbewegungen als auch moderne Transformationen und bietet gleichermaßen partikularistische wie universalistische Lesarten“. Sophie Bourgaults (2011) Beobachtung, dass Arendts Theorie des Mitleids deutlich vom Neo-Aristotelismus abweicht, ist daher korrekt. Ihr zufolge weisen Arendts Gedanken in dieser Frage eher machiavellische Züge auf, „puisqu’elle place les demandes et les considérations de la gloire, des actes et de la théâtralité bien au-delà de celles de l’âme (ou du souci de l’âme)“.
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Erstarken des Rechtspopulismus hat beide Tendenzen, den Arendt’schen Personen- und den gegenwärtigen Emotionskult, weiter befeuert. Ein Analysedesign, das auf die Gegenüberstellung zweier sehr unterschiedlicher und polarisierender Theorien fokussiert, droht darüber hinaus in eine gewisse Schieflage und, gegebenenfalls, in eine plakative Konstruktion zu verfallen. Dieser Gefahr soll durch eine sorgfältige hermeneutische Textanalyse begegnet werden, mit der Widersprüche, Ungereimtheiten und Asymmetrien systematisch offengelegt werden. Hierfür ist allgemein eine konträre Konzeptionsbewegung zwischen den beiden Theorien zu berücksichtigen: Nussbaum schließt von der Basis ihrer allgemeinen und umfassenden Emotionstheorie auf konkrete Emotionen wie das Mitgefühl; sie bewegt sich theoretisch also von der Breite in die Tiefe beziehungsweise vom Allgemeinen ins Konkrete. Hannah Arendt hingegen zieht vom Partikularfall des Mitleids ganz offensichtlich Rückschlüsse auf das Allgemeine, bewegt sich so theoretisch also von der Tiefe in die Breite. Auch in Bezug auf den Textkorpus gilt es Unterschiede zu berücksichtigen: Martha Nussbaum hat eine äußerst umfassende, mehrere Jahrzehnte Schaffenszeit umspannende eigenständige Emotionstheorie vorgelegt, in der das Mitgefühl eine wesentliche Rolle spielt. Im Werk Hannah Arendts hingegen ist weder eine derartige Kohärenz noch Quantität der Aussagen zur politischen Wirkmächtigkeit von Emotionen zu finden; es empfiehlt sich daher, nicht von einer in sich geschlossenen Emotionstheorie auszugehen (vgl. auch Degerman 2019: 169), sondern stattdessen von fragmentarischen Auseinandersetzungen, die in der Gesamtschau allerdings ein eindrucksvolles und vielschichtiges Mosaik bilden. Dafür werden auch einige Briefe in die Analyse einbezogen, die Arendt an ihre engsten Freund:innen und Familienmitglieder geschrieben hat. Aus ihnen lassen sich die aus ihrem Theoriekorpus generierten Thesen sehr gut ergänzen beziehungsweise illustrieren, da Arendt sowohl Grundlagen als auch Details ihrer Theoriebildung in ihrer persönlichen Korrespondenz, zum Beispiel mit ihrer Freundin Mary McCarthy oder ihrem Doktorvater Karl Jaspers, umfassend dargelegt hat. Auch deshalb wird die Analyse von Arendts Theorie zum Mitleid sowie zur „erweiterten Denkungsart“ mehr Entfaltungsraum benötigen als die bereits umfassend ausformulierte Theorie Martha Nussbaums zu Mitgefühl und Empathie. Eine weitere Differenz betrifft die sprachliche Ebene: Ich habe mich dazu entschieden, mit den deutschen Textversionen von Arendts Werken zu arbeiten, die sie selbst vom englischen Original übersetzt beziehungsweise die Übersetzung autorisiert hat, sofern deutsche Fassungen vorliegen. Ich habe mich hierbei an Arendts eigener Feststellung im Fernsehinterview mit Günter Gaus im Jahr 1964 orientiert, dass es keinen Ersatz für die Muttersprache gebe (Arendt 2007a: 60). Dementsprechend habe ich Nussbaums Theorie auf Eng32
lisch rezipiert (im Text aber oftmals ins Deutsche übersetzt); dies erschien mir auch dahingehend sinnvoll, da die Qualität der jeweiligen Verlagsübersetzungen ihrer zahlreichen Werke deutlich variiert.22
1.3 Stand der Forschung Auch wenn international bereits seit einigen Dekaden ein stetig wachsendes Forschungsinteresse an Emotionalität im Politischen zu verzeichnen ist, war die deutschsprachige politikwissenschaftliche Emotionsforschung bis vor kurzem noch eine „Randerscheinung“ (Korte 2015: 12); Emotionen stellten in der klassischen Demokratietheorie lange „das Anwesend-Abwesende und das Abwesend-Anwesende“ (Fleiner/Schaal 2012: 182; vgl. hierzu auch Walzer 2004: 110) dar. Diese Lücke der politikwissenschaftlichen Emotionsforschung wurde von anderen Disziplinen viel früher und viel selbstbewusster gefüllt.23 Seit dem Jahrtausendwechsel, spätestens aber bedingt durch die ‚Ära Trump‘ und das Erstarken von Rechtspopulismus und -extremismus auch in Europa, hat sich mittlerweile auch die Politikwissenschaft des Trendthemas „Politik und Emotionen“ angenommen, und das quasi schlagartig.24 Flankie-
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In der Übersetzung von Die neue religiöse Intoleranz (2014) werden beispielsweise die verschiedenen Bedeutungsebenen der Begriffe „Mitgefühl“, „Empathie“ und „Mitleid“ gänzlich übergangen. Dies betrifft vor allem die Hirnforschung, die menschliches – auch dezidiert politisches – Verhalten teils sehr selbstbewusst und umfassend zu deuten weiß. Robert C. Solomon (2009: 149f.) spricht hierzu abwertend von einem „Neuroreduktionismus“, der damit zwar einen wichtigen Zugzwang, ein wissenschaftliches ‚Aufrütteln‘, für andere Disziplinen wie die Politikwissenschaft, aber eben vor allem auch einen „zentralen gegenwärtigen Machtdiskurs“ (Völkel 2004: 140) konstituiert hat. Welche Problematik sich aus dieser Prädominanz der Neurowissenschaften für eine geisteswissenschaftliche Untersuchung des Gegenstandsbereichs ergibt, hat u. a. Carolyn Pedwell (2014: 151ff.) kritisch herausgearbeitet. Eine markante Problematik ist dabei die Übertragung basal-individueller Phänomene auf ein (politisches) Kollektiv (vgl. zu den Potenzialen und Grenzen dieser interdisziplinären Übertragung Schaal/Schmid [2018]). Als generelle Überblickswerke zum Themenfeld „Emotionen und Politik“ empfehlen sich unter anderem die Studien beziehungsweise Sammelbände von Bendelow/Williams (Hrsg.) (1998), Clarke/Hoggett/Thompson (Hrsg.) (2006), Döring (Hrsg.) (2009), Heidenreich/Schaal (Hrsg.) (2012), Helfritzsch/Müller Hipper (Hrsg.) (2021) Hoggett/Thompson (Hrsg.) (2012), Klein/Nullmeier (Hrsg.) (1999), Korte (Hrsg.) (2015), Schaal/Heidenreich (2013), Walzer (2004). Auch in den einzelnen politikwissenschaftlichen Subdisziplinen sind mittlerweile einschlägige emotionstheoretische Studien auszumachen. Thematisch zur vorliegenden Studie passend sind hier beispielsweise folgende Werke zu nennen: zu politischer Emotionalität und (sozialen) Medien vgl. Boler/Davis
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rend dazu hat der sogenannte „affective turn“ (vgl. u. a. Bargetz 2019: 365f.; Hoggett/Thompson 2012: 1; Zerilli 2016: 239) dazu beigetragen, dass (herrschaftskritische) kulturwissenschaftliche Studien über „affektive Politiken“ (Bargetz 2019) trenden, deren politikwissenschaftliches (und natürlich emotionstheoretisches) Erkenntnispotenzial jedoch stark variiert. Allerdings ist noch lange keine Sättigung an Inhalt und Fülle explizit politikwissenschaftlicher beziehungsweise politiktheoretischer Forschung zur politischen Emotionalität absehbar – ein solcher Effekt wäre auch gar nicht wünschenswert. Denn gerade im Hinblick auf die Untersuchung der Potenziale und Gefahren von Mitleid/ Mitgefühl und Empathie im politischen Raum ist eine nach wie vor gravierende Leerstelle zu monieren (vgl. auch Ure/Frost 2014: 2). Meine Arbeit positioniert sich daher in einem Spannungsfeld gleich dreier Forschungsdesiderate. Dies betrifft a) die politikwissenschaftliche beziehungsweise politiktheoretische Erkundung der Wirkmächtigkeit des politisierten Mitleids/Mitgefühls sowie der Empathiefähigkeit, b) die Tiefenanalysen der Politischen Theorien Hannah Arendts und Martha Nussbaums zu Mitleid, Mitgefühl sowie den Fähigkeiten, die auf dem Perspektivwechsel beruhen, sowie c) den bereits angesprochenen Mangel eines detaillierten systematischen Vergleichs der Politischen Theorien Arendts und Nussbaums zu diesen Emotionen beziehungsweise Fähigkeiten. Im nachfolgenden Forschungsstand werde ich auf die Studien fokussieren, die sich für meine Arbeit als einschlägig erwiesen haben; zudem gehe ich auf einige Publikationen ein, die – obgleich auf den ersten Blick thematisch relevant – bei genauerer Betrachtung eher Abgrenzungspotenzial geboten haben. Zu a), der politikwissenschaftlichen Analyse von Mitleid/Mitgefühl und Em pathiefähigkeit im Politischen: Auch wenn das Mitleid/Mitgefühl in der ideengeschichtlichen Tradition über lange Zeit eine herausragende Stellung eingenommen hatte, ist erst seit einem guten Jahrzehnt – im Sog des bereits skizzierten ‚Emotionshochs‘ – ein erstarktes Interesse an diesen Emotionen als Forschungsgegenstand in der (deutschsprachigen) Politikwissenschaft zu verzeichnen.25 Dennoch war die
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(2021), Gaertner (2019), Wahl-Jorgensen (2019); zu Emotionen und Politischer Bildung vgl. Besand (2015), Besand/Overwien/Zorn (Hrsg.) (2019), Frech/Richter (Hrsg.) (2019), Schröder (2020); zu Emotionen und Populismus vgl. Diehl (2012), Leggewie (2015); und zu (begriffs-)historischen Analysen von Emotionalität vgl. Frevert et al. (2011), Stalfort (2013). Zwar ist im vergangenen Jahrzehnt eine Vielzahl an Publikationen erschienen, die sich in irgendeiner Form auf eine wie auch immer geartete „Politik des Mitgefühls“ (oder
Auswahl an Publikationen über die politische Wirkmächtigkeit von Mitleid, Mitgefühl und der Empathiefähigkeit letztlich überschaubar, die für die vorliegende Analyse unmittelbar einschlägig waren. Darunter fällt vor allem der Sammelband von Ure/Frost (2014), in dem das politisierte Mitgefühl und Mitleid aus unterschiedlichen Facetten umfassend beleuchtet wird. In The Politics of Compassion (2018)26 analysiert Ala Sirriyeh die diskursive politische Anrufung von Mitgefühl im Kontext der aktuellen Debatten und Politiken rund um Immigration und Asyl in Australien, dem Vereinigten Königreich und den USA. Sirriyeh wendet dabei Nussbaums Mitgefühlstheorie auf Fallstudien an und zeigt, dass das Mitgefühl sowohl von Befürworter:innen als auch von Gegner:innen der entsprechenden politischen Maßnahmen in Dienst gestellt wird. Dem Mitgefühl deutlich zugeneigter zeigt sich Elisabeth Porter (2006), die in ihrem Aufsatz „Can Politics Practice Compassion?“, genauso wie Martha Nussbaum, für eine Mitgefühlskultur plädiert. Porters allerdings deutlich (differenz-)feministisch(er) angelegte Thesen zielen dabei auf eine enge Verbindung des politisierten Mitgefühls mit Care-Ansätzen ab. Statt auf das positive Wirkpotenzial des Mitgefühls zu fokussieren, behandelt der Literaturwissenschaftler Fritz Breithaupt in seinem Buch Die dunklen Seiten der Empathie (2017) detailliert – und durchaus politiktheoretisch relevant – die Grenzen und Gefahren von Empathie. Eine ähnliche inhaltliche Ausrichtung verfolgt auch Carolyn Pedwell (2014) mit ihrer Studie über die politische Wirkmächtigkeit von Mitgefühl – sie spricht synonym von „empathy“ –, eine Studie, die eine kritische Perspektive auf Macht und Herrschaftsverhältnisse bietet und deren Erkenntnisse für meine Arbeit einschlägig
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eine „politics of compassion“) beziehen; allerdings handelt es sich bei den meisten dieser Studien entweder um populärwissenschaftliche Sachbücher oder essayistische Schriften (vgl. Mühl 2018; Schnabel 2015; Sznaider 2021), kulturwissenschaftliche beziehungsweise interdisziplinäre Analysen (vgl. u. a. Assmann/Detmers 2016; Weber/ Marsal/Dobashi [Hrsg.] 2011) oder Regionalstudien (vgl. u. a. Peterie 2017; Xu 2017), die sich jeweils nur bedingt und punktuell für eine übergeordnete politiktheoretische Analyse eignen. Explizit politiktheoretisch ausgelegt ist hingegen die Studie Mary F. Scudders (2020) über die Grenzen der Empathie und ihren konzeptionellen Gegenvorschlag des „Zuhörens“ als Maxime demokratischer Deliberation. Edward U. Murphy hat ein Werk mit demselben Titel (2019) vorgelegt, das vor allem im Hinblick auf Aufbau, Intention und Diktion ausgesprochen stark an die Thesen Nussbaums erinnert: Der Autor fokussiert auf eine Zustandsbeschreibung vor allem der gegenwärtigen US-amerikanischen Gesellschaft im Hinblick auf (den Mangel an) Mitgefühl und plädiert, ähnlich enthusiastisch und umfassend wie Nussbaum, für eine mitfühlendere Gestaltung von liberaler Politik und Gesellschaft mit dem Ziel, Gerechtigkeit zu fördern und eine sozialdemokratisch ausgerichtete politische Kultur nach skandinavischem Vorbild zu etablieren.
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waren. In ihrem kurzen Überblick über die „feministische Kritik“ der „Politik der Empathie“ (2020) hat auch Brigitte Bargetz die Probleme, die sich aus der Indienstnahme von Empathie und Mitgefühl ergeben (Bargetz setzt diese Phänomene gleich), prägnant auf den Punkt gebracht. Der von Lauren Berlant bereits 2004 herausgegebene kulturwissenschaftliche Sammelband Compassion: The Culture and Politics of an Emotion war für meine Analyse ebenfalls anregend, da einige der darin enthaltenen Beiträge explizit auf die Gefahren der Politisierung des Mitleids/Mitgefühls fokussieren, die im Hinblick auf den herrschaftskritischen Fokus in der rein politikwissenschaftlichen Forschung nicht erschöpfend untersucht werden. Zu b), den Thesen Hannah Arendts und Martha Nussbaums zu Mitleid, Mitgefühl und den Fähigkeiten, die auf dem Perspektivwechsel beruhen: Auch wenn die Analysen über Hannah Arendts Thesen zur politisierten Emotionalität und dem Mitleid zahlreich sind und kontinuierlich zunehmen, ist die Auswahl an umfassenden und tiefgehenden Auseinandersetzungen mit Hannah Arendts ‚Mitleidstheorie‘ 27sowie originellen Interpretationen letztlich nicht groß. Im Rahmen dieser Selektion sticht für mich besonders der Aufsatz Dan Degermans (2019)28 heraus. Darin hat der Autor eine partielle Neuinterpretation des Stellenwertes vorgeschlagen, den Emotionen im Werk Hannah Arendts einnehmen. In diesem Zuge geht Degerman auch auf die paradigmatische Rolle ein, die das Mitleid für Arendts generelle Thesen zu Emotionen im Politischen spielt. Degerman hat diese hermeneutisch detailliert erschlossen und über eine Verbindung zwischen Mitleid und Solidarität spekuliert – eine Lesart, der ich mich allerdings nicht anschließen kann. Gleiches gilt für die Studie Héla Heckers über die „Berührbarkeit“ in Arendts politischem Denken (2021), die sich um eine systematische Annäherung an Arendts Konzeptionen von Emotionalität bemüht. Hecker argumentiert, dass Emotionen in Arendts Werk demnach nicht als grundlegend a- oder antipolitisch zu verstehen seien, sondern als „Berührbarkeiten“ – also als „Bereitschaft zum Erleiden“ (Hecker 2021: 15) – Ausdruck von Weltbezug seien, der sich wiederum durchaus als im (Arendt’schen Sinne) politisch klassifiziere. So originell diese Perspektive auch ist, überzeugt sie mich allerdings nicht, missachtet sie doch die mar27
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Arendts Thesen zum Mitleid sind zwar weder kohärent noch werksübergreifend systematisch inhaltlich ausgearbeitet. Nichtsdestotrotz sind sie dennoch umfangreich und vor allem aufschlussreich genug, dass es gerechtfertigt erscheint, diesen Begriff mit aller theoretischen Vorsicht zu verwenden. Degermans Beitrag erschien in der Online-Version des European Journal of Political Theory bereits 2016, in der Printversion, die ich zitiere, allerdings erst 2019.
kante Arendt’sche Trennlinie zwischen privaten Leidenschaften und öffentlichen Emotionen. Auch Volker Heins (2007) hat einen Aufsatz über die Rolle von Emotionen im Werk Hannah Arendts vorgelegt, der für einen nuancierten Blickwinkel auf das Sujet plädiert, und der in diesem Kontext oft zitiert wird. Allerdings war er für meine Überlegungen kaum nutzbar zu machen – so überwiegen in Heins’ Studie die Ausführungen zu Max Weber; darüber hinaus wird das Mitleid kaum thematisiert. Gleiches gilt für die Beiträge von Johannes Lang (2015) sowie von Martin Caver (2019). Letzterer streift das Mitleid am Rande seiner Ausführungen über James Baldwin und Arendt über die Liebe im Politischen zwar, untersucht das Mitleid aber nicht systematisch. Als einschlägiger erweisen sich hingegen die Thesen Judith Mohrmanns zum Arendt’schen Mitleid, die sie in ihrem Vergleich über die Konzeptionen politischen Handelns bei Arendt und Kant (2015) entwickelt hat. Darin hat Mohrmann das Mitleid in Arendts Politischer Theorie umfangreich analysiert, die Stärken dieser Thesen offengelegt und gleichzeitig auf gravierende Schwachstellen hingewiesen. Gleiches gilt für Seyla Benhabibs auch nach fast dreißig Jahren weiterhin relevante Studie über die Modernitätskonzeption im Werk Hannah Arendts (1996). Insbesondere ihre Ausführungen über die „erweiterte Denkungsart“29 stellen gute Anknüpfungs- und Abgrenzungspunkte für meine eigene Analyse dar. Das gilt auch für Giunia Gattas (2011) leider nur kurze Kritik an der ‚Sterilität‘ von Arendts Konzeption der „erweiterten Denkungsart“, die sie mit der Theorie Karl Jaspers’ kontrastiert. Eine feministische Diskussion zu Arendts Thesen zum Mitleid, die auch die essenzielle Frage nach emotionalen Distanzverhältnissen thematisiert, hat Kathleen B. Jones (1993) eröffnet – eine Diskussion, die in dieser Arbeit ebenfalls eine Rolle spielt (vgl. Kap. 4.1). Für die vorliegende Arbeit hat sich zudem der Aufsatz Matthew J. Newcombs (2007) als hilfreich erwiesen, in dem der Autor eine weitgehend stimmige Analyse der Charakteristika von 29
Zur Konzeption der „erweiterten Denkungsart“ im Werk Hannah Arendts sind einige aktuelle Studien zu verzeichnen: So hat Stephen Acreman (2018) in seiner Monografie über die „erweiterte Denkungsart“ in der Politischen Theorie sowohl die Originalkonzeption bei Kant als auch die Weiterentwicklung in den Theorien Arendts, Gadamers, Habermas’ und Lyotards porträtiert und interpretiert. Sonia Kruks (2019) hat die „erweiterte Denkungsart“ in Arendts Politischer Theorie aus einer feministischen Perspektive neu gelesen und überzeugend dargelegt, dass sich Arendts Thesen zur „erweiterten Denkungsart“ nur bedingt für eine Feministische Theorie politischen Uteilens eignen. Matthiesen/Klitmøller (2019) haben hingegen aus einer psychologischen Perspektive die „erweiterte Denkungsart“ in der Politischen Theorie untersucht und dabei vor allem auf die Verbindung dieser Fähigkeit mit dem Handeln fokussiert, dabei allerdings die werksimmanente Abgrenzung Arendts zur Empathiefähigkeit nicht berücksichtigt.
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Arendts Konzeptionen von compassion und pity darlegt und deren Rigidität kritisiert. Ähnlich tief reichen auch der kurze französischsprachige Aufsatz von Sophie Bourgault (2011) sowie eine leicht erweiterte englischsprachige Version dieser Analyse (2018). Bourgault hat darin auf einige wichtige Widersprüche in Arendts Thesen zum Mitleid hingewiesen sowie eine diesbezügliche (allerdings nicht detailliert ausgearbeitete) Parallele zum Neokonservativismus aufgezeigt. Die Diskussion um Hannah Arendts Thesen zum Mitleid und zur „erweiterten Denkungsart“ wird dezidiert disziplinenübergreifend geführt. So finden sich Analysen auch in der (englischen) Literaturwissenschaft, unter anderem im Sammelband von Lauren Berlant (Hrsg.) (2004). Als sehr ertragreich haben sich hieraus vor allem Deborah Nelsons Thesen über Arendts spezifisch realistische und mitleidslose Haltung erwiesen, die Nelson anhand von Arendts Eichmann-Interpretation (2004) entwickelt, und die auch Simon Swift (2011) detailliert aufgegriffen hat. Nelson hat in ihrem Aufsatz zudem explizit auf die Verbindungslinien zwischen Über die Revolution ([1963] 2011b) und E ichmann in Jerusalem ([1963] 2011a) verwiesen (vgl. Kap. 2), die aber in der umfangreichen Arendt-Forschung bislang vernachlässigt wurden. Die Thesen Nelsons zu Arendts genereller Emotionsaversion (2006; 2017) waren ebenfalls von Erkenntnisinteresse für die vorliegende Arbeit. Martha Nussbaums Emotionstheorie wird demgegenüber zumindest quantitativ häufiger rezipiert als Hannah Arendts unsystematisch dargelegte Thesen zur politischen Emotionalität. In der neueren Forschung zu Emotionen und Politik werden Nussbaums Reflexionen immer wieder (kurz und/oder kritisch) als Referenzpunkt herangezogen (vgl., stellvertretend für viele andere, Döring 2009: 73; Heidenreich 2015: 491; Schaal/Fleiner 2015: 70; Slaby 2010: 10 FN 8; Wilkinson 2017: 212f.). Es gibt nur wenige wissenschaftliche Analysen von Emotionalität im politischen Raum, die ohne einen Verweis auf Nussbaums Thesen auskommen – was auch daran liegt, dass sie einer lehrbuchartigen kognitivistischen Emotionstheorie entspricht (vgl. Schwiewer 2014: 30). Allerdings ist ob der Fülle der Verweise eine erstaunliche, aber deutlich wahrnehmbare Verzerrung in der inhaltlichen Rezeption und insbesondere der Kommentierung von Nussbaums Mitgefühlstheorie wahrzunehmen: Nussbaums generelle Emotionstheorie wird zwar oftmals grob skizziert, ihre konkreten Thesen zur politischen Wirkmächtigkeit von Mitgefühl werden aber kaum wirklich tiefgehend rezipiert. Bis auf die wissenschaftlichen Rezensionen von Krause (2014), Slaby (2017) und der oben bereits erwähnten kurzen Hinzuziehungen bei Degerman (2019) ist eine umfassende beziehungsweise detaillierte Kritik zu Nussbaums Thesen im Rahmen ihres, das Mitgefühl in den Fokus stellenden, Werkes Political Emotions (2013) kaum auszuma38
chen30 – vor allem keine dezidiert politiktheoretische.31 Immerhin verknüpft aber Grit Straßenberger (2019) den Kommunitarismus Martha Nussbaums mit ihrer Emotions- und Mitgefühlstheorie. Für eine politiktheoretische Debatte ebenfalls nützlich sind die – wenn auch nicht umfassenden – Auseinandersetzungen Lois Shepherds (2003) und Steven R. Smiths (2005) mit dem Spannungsverhältnis zwischen politischem Mitgefühl und Akteur:innenschaft in Nussbaums Theorie. Problematisiert wird diese vor allem im Rahmen kulturwissenschaftlicher (Affekt-)Theorien. Darin werden Nussbaums Thesen auffallend oft und auf markante Weise als Abgrenzungsfolie thematisiert (vgl. u. a. Ahmed 2004: 173; Pedwell 2014: 93ff.; Woodward 2004: 63; 67ff.). Dass das Urteil über Nussbaums Emotions- beziehungsweise Mitgefühlstheorie en gros kritisch-ablehnend ausfällt, ist sicherlich maßgeblich bedingt durch Nussbaums explizites Bekennen zum Liberalismus (vgl. v. a. Nussbaum [1997] 2000: 89; 1999a; 2013), ihrem Insistieren auf dem Universalismus von Werten und Emotionen (vgl. u. a. Nussbaum 2000: 34ff.; vgl. kritisch hierzu Braidotti 2014: 44; Jaggar 2005; Pedwell 2014: 14; Schwartzman 2005; Zerilli 2016: 167ff.) und nicht zuletzt aufgrund ihrer beißenden beziehungsweise als „gewalttätig“ (Ahmed 2004: 173) wahrgenommenen Kritik an Judith Butler (Nussbaum 1999b). Auch wenn hier eine gewisse Eindimensionalität in der Auseinandersetzung mit Nussbaums Emotionskonzept zu verzeichnen ist, waren die oben genannten Arbeiten mittelbar, im Falle von Carolyn Pedwells (2014) Studie sogar unmittelbar, von Relevanz für meine politiktheoretischen Überlegungen rund um Distanz-, Differenz- und Dissensverhältnisse des politischen Mitleids/Mitgefühls sowie der Fähigkeiten, die auf einem Perspektivwechsel beruhen (vgl. Kap. 4). In anderen Disziplinen ist wiederum erstaunlich wenig detaillierte Interaktion mit den politischen Implikationen von Nussbaums normativ aufgeladener Mitgefühlstheorie zu verzeichnen. Offenbar wird weithin die Ansicht geteilt, die die Soziologin Eva Illouz in einem Vortrag (2015c)
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Die meisten überschaubaren detaillierteren Kommentare zu Nussbaums Werk beziehen sich hauptsächlich auf ihre früheren und mittlerweile deutlich abgeschwächten Thesen zur Wirkmächtigkeit von Literatur im Kontext eines gesellschaftlichen Mitgefühlsbildungsprozesses, vgl. u. a. D’Olimpio/Petersen (2018); Maxwell (2006); Mrovlje (2019); Vasterling (2007). Aus einer philosophischen Perspektive und bezugnehmend auf Nussbaums vorherige Ausführungen zum Mitgefühl hat Roger Crisp (2008) die kognitivistischen Prämissen von Nussbaums Mitgefühlskonzeption kritisiert. Auch Michael Weber (2005) hat die Voraussetzungen problematisiert, auf denen Nussbaum ihre Mitgefühlstheorie aufbaut. Laura Cannon (2005) bietet ebenfalls eine – feministisch geprägte – Fundamentalkritik an den notwendigen Bedingungen an, auf denen Nussbaums Mitgefühlskonzeption beruht.
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darlegte: „She thinks that we should put compassion and love at the center of liberal polities, and […] I don’t find it personally extremely interesting, to tell you the truth.“32 Zu c), dem Vergleich der Politischen Theorien Hannah Arendts und Martha Nussbaums zum Mitleid, Mitgefühl sowie zu den Fähigkeiten, die auf dem Perspektivwechsel beruhen: Das größte Forschungsdesiderat ist allerdings im Hinblick auf den systematischen und detaillierten Vergleich der Politischen Theorien Hannah Arendts und Martha Nussbaums zum Mitleid/Mitgefühl sowie zu den Fähigkeiten zu monieren, die auf dem Perspektivwechsel beruhen. Ein Zusammendenken beider Theorien, das mehr als über ein paar Sätze oder Passagen hinausgeht (vgl. u. a. Bourgault 2011; Degerman 2019; Mohrmann 2015; Roberts-Miller 2007; Rosenmüller 2015) und darüber hinaus auch Tiefenschärfe aufweist, ist bislang kaum erfolgt. Ausnahmen hierzu stellen – neben meinem eigenen Versuch, die vorliegende Analyse in Aufsatzlänge zu skizzieren und mithilfe von Hillary Clintons Wahlkampf um das US-Präsident:innenamt zu illustrieren (Weber 2018) – die Studien von Maša Mrovlje (2019) und Veronika Vasterling (2007) dar. Mrovlje fragt in ihrer Studie nach der politischen Signifikanz von narrativer Imagination und problematisiert Nussbaums (früheren) Fokus auf Literatur unter anderem mithilfe von Arendts Thesen. Dabei bietet sie einen interessanten und detaillierten Vergleich eines Teilaspektes der Politischen Theorien Hannah Arendts und Martha Nussbaums an, der in dieser Hinsicht in die Tiefe geht und spannende Befunde offenbart; dies gilt auch in der Erweiterung des Fokus über die Literatur hinaus, hin zur Differenzierung zwischen dem Wert von empathischer Identifikation und demjenigen repräsentativer Urteile. Jedoch, und das ist das große Manko dieses Aufsatzes, hat Mrovlje dabei die Tatsache nicht miteinbezogen, dass Nussbaum ihre Gedanken zur Wirkmächtigkeit von Literatur für den politischen Raum mittlerweile relativiert hat (vgl. Kap. 3.2.2). Auch Veronika Vasterling (2007) analysiert einen Aspekt der Narration in beiden Werken, und zwar in Bezug auf die Methodik. Vasterling ist der Ansicht, Nussbaum wäre besser mit Arendts „hermeneutischer Phänomenologie“ beraten gewesen als mit ihrer eigenen kognitivistischen Emotions32
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Noch vernichtender fällt das Urteil Thomas Bedorfs (2015: 251) zu Nussbaums genereller Emotionstheorie aus, die er in einer kurzen Passage fundamental kritisiert: „Diese politische Indienstnahme der Gefühle wird man angesichts der Komplexität der Lage nicht weiter ernst nehmen wollen.“ Eine solche Fundamentalkritik greift allerdings ebenfalls deutlich zu kurz, wie ich in Kap. 3.2 darlegen werde.
theorie. Das „Verstehen“ sei bei Arendt deutlich realistischer konzipiert, Nussbaums Emotionstheorie verbleibe hingegen zu stark in einem idealen ‚Innen‘. Da Vasterling, ebenso wie Mrovlje, nur einen speziellen Ausschnitt aus den Theorien beleuchtet, der zudem die Frage nach dem Stellenwert von Emotionen generell und Mitleid/Mitgefühl im Besonderen nicht nennenswert tangiert, war er für meine Analyse nur bedingt aufschlussreich. Grit Straßenberger hat ebenfalls einen der wenigen komparatistisch angelegten Analysen zwischen den Politischen Theorien Hannah Arendts und Martha Nussbaums vorgelegt, nämlich über den beiden Theorien gemeinsamen Neoaristotelismus (2006). Dieser Aufsatz war vor allem für den allgemeinen ideengeschichtlichen Rahmen meiner Arbeit einschlägig. Straßenberger (2006: 176) bringt darüber hinaus Arendt und Nussbaum mit der Fähigkeit des Perspektivwechsels explizit in Verbindung. Kurz und pointiert, allerdings inhaltlich unsystematisch und, was Nussbaums Thesen betrifft, wenig tiefgehend, ist auch Judith Mohrmanns (2015) Abgrenzungsversuch zwischen Arendts und Nussbaums Thesen zur Emotionalität im politischen Raum ausgefallen. Aus einer Arendt’schen Perspektive kritisiert Mohrmann Nussbaums kognitivistische Emotionstheorie und vor allem deren mangelnde Aussagekraft für den politischen Raum sowie die generelle Übertragbarkeit ihrer interdisziplinär gewonnenen Thesen auf politiktheoretische Reflexionen. Ähnlich verfährt Dan Degerman (2019) in dem bereits vorgestellten alternativen Deutungsversuch über den Stellenwert von Emotionen im Werk Hannah Arendts. Darin rekurriert er auch auf Nussbaums Theorie und setzt sie den Thesen Arendts als Abgrenzungsfolie entgegen. Degermans Aufsatz überzeugt durch die theoretische Tiefe, die dieser Vergleich trotz seiner Kürze hat. Der Autor kommt, genauso wie ich (vgl. Kap. 4.3), zu dem Schluss, dass Nussbaums Programmatik rund um das politische Mitgefühl ein Top-down-Ansatz inhärent ist. Meine Arbeit, das ist der Auseinandersetzung mit der bereits vorhandenen Forschungsliteratur zu entnehmen, ist vordergründig im Bereich der ‚klassischen‘ Politischen Theorie angesiedelt. Ich habe mich dabei nicht systematisch, aber dafür gezielt, auch der Ideengeschichte zum Mitleid/Mitgefühl und den Fähigkeiten, die auf dem Perspektivwechsel beruhen, bedient, und zwar immer dann, wenn mir die Einbettung der Thesen Hannah Arendts und Martha Nussbaums in den größeren theoretischen Kontext sinnvoll erschien. In meiner Analyse habe ich zudem immer wieder auf Sekundärliteratur aus verschiedenen Strömungen Feministischer Theorie zurückgegriffen. Meine Arbeit auch hier zu verorten, lässt sich auf zweierlei Weise begründen: Erstens werden die Politischen Theorien Hannah Arendts und Martha Nussbaums von Vertreter:innen sowohl der Politischen als auch der Feministischen Theorie rezipiert – auch wenn die Philosophin Nussbaum nicht als ‚klassische‘ Politische Theoretikerin gilt, und die Politische Theoretikerin Arendt gemein41
hin nicht als Vordenkerin feministischen Denkens bekannt war (vgl. auch Kap. 2.1). Daher war diese Verortung der pragmatischen Tatsache geschuldet, dass ich die Argumente, die für meine Analyse unabdingbar waren, oft genau an dieser Schnittstelle zwischen Politischer und Feministischer Theorie vorgefunden habe. Diese Tatsache ist, zweitens, natürlich alles andere als erstaunlich, denn ein Schwerpunkt der feministischen Theorie und Praxis liegt traditionell auf der Untersuchung von und dem Umgang mit emotionalen (bzw. affektiven) Politiken („the politics of emotion“, Åhäll 2018: 43, Hervorhebung im Original; vgl. auch Bargetz 2019). Auch wenn ich meine Arbeit innerhalb eines dezidiert emotionstheoretischen Bezugsrahmens positioniere, habe ich in diesem Kontext trotzdem punktuell auch kulturwissenschaftliche Quellen herangezogen, die rein affekttheoretisch argumentieren. Dieser Transfer erschien mir zulässig und sinnvoll, sofern diese Argumente für meine politiktheoretischen Thesen über das politisierte Mitgefühl beziehungsweise Mitleid, verstanden als Emotionen im Politischen, anwendbar waren.
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2 Mitleid und die „erweiterte Denkungsart“ in der Politischen Theorie Hannah Arendts Mitleid und Politik – für Hannah Arendt sind dies zwei Gegensätze par excellence. Mit ihrem Werk Über die Revolution ([1963] 2011b) hat sie eine der schärfsten und pointiertesten Kritiken am politisierten Mitleid vorgelegt, die die Politische Theorie zu bieten hat. Das Mitleid ist für Arendt in ihrer Reinform eine Leidenschaft, die sich eines Menschen angesichts des Leidens eines anderen ermächtigt; eine unbändige, unaufhaltsame und unnachgiebige Kraft zwischen Zweien. Diese Leidenschaft ist in der Sphäre der Intimität beheimatet (vgl. Arendt 2003: 530).33 Wird das Mitleid jedoch in den politischen Raum übertragen, transformiert es zur „stärkste[n] und vielleicht gefährlichste[n] aller revolutionären Leidenschaften“, notiert Arendt ([1963] 2011b: 90f.). Das Mitleid ist demnach nicht nur a-politisch, sondern antipolitisch. Diese „critique[] le[] plus brutal[]“ (Bourgault 2011) hat Arendt aus ihrer vergleichenden Studie über das Revolutionsgeschehen in Amerika und Frankreich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts heraus entwickelt. In der Französischen Revolution nämlich sei Mitleid als politisches Ziel und politisches Mittel umfassend instrumentalisiert worden – mit gravierenden Folgen für den politischen Raum. Nur einen Monat nach ihrer Fundamentalkritik am politisierten Mitleid erschien Arendts Bericht ([1963] 2011a) über den Prozess gegen einen der Hauptorganisatoren des Holocausts, Adolf Eichmann. Auch wenn inhaltliche Schnittmengen der Sujets beider Werke auf den ersten Blick nicht ersichtlich sind, zeigt die genauere Betrachtung, dass sich diese „Charakterbilder“ (Arendt/Scholem 2010: 445) – über die französischen Revolutionäre und über Adolf Eichmann – deutlich wechselseitig geprägt haben. Deborah Nelson (2004: 234) bietet hierfür die These an, dass Arendt ihre Entscheidung, das Mitleid aus dem öffentlichen Raum zu verbannen, in Über die Revolution theoretisch begründet und in Eichmann in Jerusalem auf das Konkrete übertragen habe. Im Eichmann-Buch steht nämlich Arendts Interpretation eines essenziellen charakterlichen Mangels Adolf Eichmanns im Zentrum – allerdings nicht ein eklatanter Mangel an Mitleid für die Millionen von Men33
Diese Lokalisierung von Leidenschaften in der Intimität ist laut Arendt eine direkte Folge des neuzeitlichen Eindringens der Gesellschaft in dasjenige, das vormals zur Privatsphäre gehört habe. Deren Gegenstand, der Haushalt mitsamt der menschlichen Notwendigkeit, sei zugleich im öffentlichen Raum politisiert worden. Erst damit sei es zur wichtigsten Funktion des Privaten geworden, Intimität zu gewährleisten (vgl. Arendt [1958] 2007: 48f., 62ff.).
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schen, die er in den Tod befördert hatte, sondern die basale Unfähigkeit, „vom Gesichtspunkt eines anderen Menschen aus sich irgend etwas vorzustellen“ (Arendt [1963] 2011a: 126). Diesem „banalen Bösen“ sei nur mit der Fähigkeit einer „erweiterten Denkungsart“ zu begegnen, wie Arendt in späteren Publikationen ausführt – also mit einer Fähigkeit zu einem möglichst umfassenden, aber emotionsfreien, Perspektivwechsel. In beiden Werken sticht das leidenschaftlich vorgetragene Plädoyer Arendts deutlich hervor, das Schicksal der anderen mitzudenken, aber eben nicht mitzufühlen – eine an Schärfe kaum zu überbietende Warnung vor dem Emotionalen, die Arendt sowohl anhand der Französischen Revolution als auch des Prozesses gegen Adolf Eichmann entwickelte. Beide Studien, insbesondere aber das Revolutionsbuch, sind aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive mit deutlichen Mängeln behaftet. Das Problem liegt laut Claudia Althaus (2001: 276, FN 119) an der „methodischen Unschärfe“, mit der Arendt zwischen historischer Beschreibung und der Konstruktion eines Idealtypus changiere, der von der Vergangenheit abweicht. Aber auch wenn diese historischen Sujets eine durchaus prägende Rolle in den politiktheoretischen Thesen Arendts über Emotionalität spielen, dient deren Interpretation letztlich eher als Anlass und damit als ein, aber eben nicht alleiniger, Baustein ihrer Theoriebildung. Deutlich wird dies in Arendts Rede ([1968] 1989b) anlässlich der Verleihung des Lessing-Preises im Jahr 1959: Arendt zieht darin eine breit angelegte Verbindung von Lessing hin zur Französischen Revolution, von dort aus zur antiken Vorstellung des Mitleids, weiter zu jenen, die in „finsteren Zeiten“ als Parias von der Gesellschaft ausgeschlossen sind und zu Objekten des Mitleids werden, und damit schließlich und explizit zu sich selbst, zum „personalen Hintergrund meiner Überlegungen“ (Arendt [1968] 1989b: 34) als Mitglied „der Generation und Menschengruppe, der ich angehöre“ (Arendt [1968] 1989b: 32) – als Jüdin. Arendts Politische Theorie speist sich also aus verschiedenen Quellen – historischen, philosophischen, aber eben auch biografischen. Der großzügige Interpretationsspielraum historischer Fakten, den Arendt sich erlaubt, sollte daher nicht dazu führen, Arendts Thesen für nichtig zu erklären, im Gegenteil: Er ist Ausdruck und Zeugnis für eine originelle Denkweise, die auf vielerlei Ebenen polarisiert – so auch und gerade in der Zusammenschau von Über die Revolution und Eichmann in Jerusalem, in denen sie ihre Gefahrenwarnung vor dem Mitleid im Politischen pointiert dargelegt hat.
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2.1 Die Antipolitik des Mitleids: die Französische Revolution Zu behaupten, Hannah Arendt habe das Mitleid politiktheoretisch bloß abgelehnt, ist eine gewaltige Untertreibung: „Ich hasse Mitleid, fürchte mich davor, schon immer“, schreibt Arendt am 22. November 1970 an ihre Freundin, die US-amerikanische Schriftstellerin Mary McCarthy (Arendt/McCarthy 1995: 394). Hass und Furcht, zwei an Stärke kaum zu überbietende emotionale Zustände – das Mitleid als Sujet hat Arendt offenkundig tiefgehend beschäftigt, und das nicht nur im Privaten: Wenn Arendt die Stärke und Gefahr des revolutionären Mitleids betont und gleichzeitig befindet, es sei „politisch gesprochen, ohne Bedeutung und ohne Folgen“ (Arendt [1963] 2011b: 109f.), entspricht dies keiner deskriptiven Zustandsbeschreibung, sondern ganz klar einem normativen Plädoyer (vgl. auch Bourgault 2011) gegen die passive Erduldung und die aktive Indienstnahme des Mitleids im politischen Raum. Arendts Kritik am Mitleid als Mittel und Ziel des Politischen kann hierbei auch paradigmatisch für andere Emotionen gedeutet werden. Ein eindeutiger Hinweis hierauf stammt von Arendt selbst, den sie im Zuge von Änderungen einer Passage anlässlich der Veröffentlichung ihres Briefwechsels mit Gershom Scholem gab: „[W]as passiert, wenn Gefühle öffentlich zur Schau gestellt werden, darüber habe ich in meinem Buch On Revolution bei der Erörterung des Mitleids im Charakterbild des Revolutionärs ausführlich gehandelt“ (Arendt/Scholem 2010: 445). Bis auf wenige Ausnahmen (vgl. Kap. 2.1.4) dürfen Emotionen laut Arendt keine Rolle im Politischen spielen, um dessen Essenz nicht zu gefährden. Diese manifestiert sich bei Arendt nach antikem Vorbild (vgl. u. a. Arendt [1958] 2007: 35) maßgeblich im gemeinsamen Handeln und Sprechen unter der Prämisse menschlicher Differenz und politischer Gleichheit.34 Der Ausgang von Politik ist laut Arendt immer ungewiss; das einzig legitime und im Vorfeld festgelegte Ziel von Politik sei die 34
Für Arendt sind Menschen qua Menschsein ungleich; im Politischen hingegen agieren sie (idealerweise) als Gleiche. In ihrem Denktagebuch hat Arendt dieses Verhältnis folgendermaßen skizziert: „Pluralität: Ganz voneinander zu scheiden ist 1. die Tatsache der Pluralität der Menschen und Völker und ihre grundsätzliche Ungleichheit – ohne diese reine Vielheit gäbe es keine Politik, ohne diese grundsätzliche Ungleichheit bedürfte es keiner Gesetze […]. Im Falle der Liebe sucht er [der Mensch, AKW] das ihm Gemässe, im Falle der Vielheit hat er zu rechnen mit den ‚Ungemässen‘, Fremden, Verschiedenen. […] In der politischen Gemeinschaft ist alles gegenseitig – ‚mutual‘. Ich bin angewiesen und verantwortlich in dem Masse, als Andere auf mich angewiesen und für mich verantwortlich sind. Dies allein ist die ‚Gleichheit‘ des Gesetzes, die nichts mit der faktischen Ungleichheit der Menschen zu tun hat, an die das Gesetz gar nicht rührt“ (Arendt 2003: 37f.).
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Freiheit (vgl. u. a. Holland-Cunz 2012; Volk 2010). In der hieraus resultierenden Entgegensetzung von Emotionalität und Freiheit folgt Arendt klar den Thesen Immanuel Kants. Demnach gefährden Leidenschaften die Freiheit, „weil sie sich mit der ruhigsten Überlegung zusammenpaaren lassen, mithin nicht unbesonnen sein dürfen wie der Affekt, daher auch nicht stürmisch und vorübergehend, sondern sich einwurzelnd, selbst mit den größten Vernünfteln zusammen bestehen können“ (Anth §80, 265). In dieser Verknüpfung mit der Rationalität verändern Leidenschaften laut Kant das menschliche Verhalten und machen das Subjekt, das die Leidenschaft erlebt, daher unfrei. Für Kant folgt hieraus, dass sich der Mensch niemals wünschen könne, den Leidenschaften unterworfen zu sein: „Denn wer will sich in Ketten legen lassen, wenn er frei sein kann?“ (Anth §74, 253). Arendts Thesen über Emotionen im Generellen und über das Mitleid im Besonderen basieren unzweifelhaft auf dieser ideengeschichtlichen Grundlage. So betont Arendt den Kontrast zwischen einer entemotionalisierten (idealisierten) Theorie über das Politische und den Gefahren, die in ihren Augen von einem politisierten Mitleid ausgehen. Diesen scharfen Kontrast zwischen Emotionalität und Freiheit, zwischen Mitleid und Politik, hat Arendt in ihrer Studie über das Revolutionsgeschehen in Frankreich und Amerika äußerst polarisierend dargelegt. Arendts Thesen über Emotionen im revolutionären Geschehen können deshalb auf den politischen Raum generell übertragen werden, weil sie auf zentrale Weise mit der Essenz des Politischen verknüpft sind (vgl. auch Mohrmann 2015: 16; abweichend hierzu Degerman 2019: 167): Revolutionen sind für Hannah Arendt Momente in der Geschichte, in denen die Erfahrung eines radikalen Neuanfangs auf die Idee der Freiheit trifft (vgl. u. a. Arendt [1963] 2011b: 34, 255ff.). Freiheit war aber nach Arendts Interpretation in der Amerikanischen und in der Französischen Revolution mit ganz unterschiedlichen Zielen verknüpft: Die Freiheit, nach der die amerikanischen Revolutionäre strebten, war laut Arendt eine politische; das wahre Ziel der Französischen Revolution sei hingegen nicht eigentlich Freiheit gewesen, sondern die Befreiung von Elend anlässlich der „soziale Frage“35, die die Französische Revolution beherrscht habe – das Stillen der Forderungen des „hungrigen Körpers“ (Honig 1995: 139). 35
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Mit der Wendung der „sozialen Frage“ bezeichnet Arendt dasjenige, „was wir einfacher und treffender die Tatsache der Armut nennen sollten. Denn Armut ist mehr und anderes als ein einfacher Zustand des Beraubtseins und des Entbehrens; die ‚Schande‘ der Armut liegt darin, daß die unmittelbare Leibesnot, die unwiderstehlich zur Stillung drängt, zu einem Dauerzustand geworden ist. Armut ist für Menschen entwürdigend, weil ihr Elend sie unter den absoluten, unaufhörlichen Zwang des rein Körperlichen stellt“ (Arendt [1963] 2011b: 74).
In diesem Prozess sei die Freiheit „geopfert“ (Arendt [1963] 2011b: 75) worden, und zwar der „Notwendigkeit“, die die Agenda der französischen Revolutionäre als ein ganz und gar „präpolitisches Phänomen“ (Arendt [1958] 2007: 41) bestimmt habe – denn erst die Befreiung von der Notwendigkeit im Sinne der Befreiung von Körperlichkeit und Abhängigkeit macht laut Arendt ([1958] 2007: 40f.; 2007b: 38ff.) Politik überhaupt möglich (vgl. kritisch hierzu u. a. Butler 2018: 117f.). Deswegen sei es das „Unglück“ (Arendt [1963] 2011b: 117) der Französischen Revolution gewesen, dass ihr Ausgangspunkt das Mitleid mit den Armen und damit eine vorgefertigte Agenda gewesen sei: Man habe „die leidende[] Masse[] befreien“ statt, wie in der Amerikanischen Revolution, „das Volk emanzipieren“ (Arendt [1963] 2011b: 142) wollen. Diese Kontrastierung offenbart eine deutliche „Abwertung alles NichtHeroischen“ (Holland-Cunz 2012: 50) und nährt die Kritik an einem gewissen Bias für das Elitäre (vgl. hierzu besonders scharf Jörke 2016: 202f.). Arendts politiktheoretischer Versuch, den Körper mit seinen Notwendigkeiten aus einer Idealkonzeption des politischen Raumes fernzuhalten (vgl. Zerilli 1995: 175), der sich in Arendts Revolutionstheorie deutlich manifestiert, hat darüber hinaus vielfach dezidierten feministischen Widerspruch hervorgerufen (vgl. hierzu v. a. die Beiträge in dem exzellenten Sammelband von Honig [Hrsg.] 1995, insbesondere von Landes 1995; Butler 2018: 78f.). Diese Kritik wird auch anhand Arendts berühmt-berüchtigter normativer Sphärentrennung zwischen dem Raum des Intim-Privaten sowie des Öffentlich-Politischen genährt, die sich scherenschnittartig in ihrer Gefahrenanalyse des politisierten Mitleids widerspiegelt. Denn die Unterscheidung, die Arendt zwischen der Französischen und der Amerikanischen Revolution anhand der „sozialen Frage“ trifft, ist eindeutig auch mit der strikten Differenzierung verknüpft, die Arendt generell zwischen dem „Politischen“ und dem „Sozialen“ vornimmt (vgl. Benhabib 1996: 155) – eine Unterscheidung, die laut Richard Bernstein (2004: 96) stark „überzeichnet“ ist. Aller Kritik zum Trotz ist Arendts politiktheoretische Analyse des Spannungsverhältnisses zwischen Emotionen und dem Politischen dennoch mehr als ertragreich. Dies gilt insbesondere für Arendts sehr eindringliche Warnung vor der Antipolitik des Mitleids.
2.1.1 Zweierlei Mitleid(en) Auch wenn Arendt ihre Warnung vor der Politisierung des Mitleids auch in anderen Quellen als dem Revolutionsbuch bestätigt, weisen ihre Thesen zum Mitleid(en) keine begriffliche Kohärenz auf – das verwundert insofern nicht, da Arendt ihre emotionstheoretischen Vorannahmen einer „theoretisch wenig ausgewiesenen Phänomenologie“ entlehnt, wie Judith Mohrmann (2015: 23) 47
notiert, und stattdessen einen „unsystematischen, essayistischen und interventionistischen Umgang mit Begriffen“ (Volk 2013: 507) pflegt (vgl. hierzu auch Bourgault 2018: 225). So führt Arendt ([1977, 1978] 2008: 79) in ihrem Spätwerk aus, dass „Gefühle und Emotionen“ von äußeren Ereignissen erzeugte „Passionen“ seien, die „die Seele affizierten“ und bestimmte Reaktionen, „ihre passiven Zustände und Stimmungen“ hervorriefen. Diese Gleichsetzung von „Gefühlen“ und „Emotionen“ mit „Passionen“, also „Leidenschaften“, steht in Kontrast zu einer ausführlichen Differenzierung, die Arendt zu verschiedenen Formen des Mitleid(en)s in Über die Revolution vorgenommen hat. Da die Thesen zum Mitleid in diesem Werk sowohl vom Umfang als auch von der inhaltlichen Tiefe her am systematischsten ausgearbeitet sind, folge ich in meiner Analyse diesen zumindest werksimmanent relativ kohärenten Definitionen. Arendt ([1968] 1989b: 29) bestimmt das Mitleid demnach zunächst als „zweifellos [..] natürlich-kreatürliche[n] Affekt, von dem jeder normal geartete Mensch unwillkürlich beim Anblick auch des fremdesten Leides noch ergriffen wird“. Arendt orientiert sich hierbei offenbar an der Terminologie Immanuel Kants, der zwischen einem „Affekt“ als einem zeitlich stark begrenzten Zustand eines „Rauschs“ und einer „Leidenschaft“ als einem länger andauernden und tiefer in das Innenleben des Menschen reichenden Zustand des „Wahnsinns“ (Anth §74, 253) differenziert. In Arendts Revolutionsbuch ist der Affektcharakter des Mitleids als ‚natürlicher‘ Impuls jedoch letztlich nur von untergeordnetem Interesse. Arendt nimmt stattdessen eine konzeptionelle Zweiteilung vor: Sie kontrastiert das Mitleiden im längerfristigen Zustand einer „Leidenschaft“ (vgl. u. a. Arendt [1963] 2011b: 113) mit dem Mitleid als „Gefühl“ (vgl. u. a. Arendt [1963] 2011b: 112; Arendt spricht an wenigen Stellen auch von einer „Emotion“, vgl. u. a. Arendt [1963] 2011b: 115). Dieses kann, im Gegensatz zur Leidenschaft, auf ein Kollektiv gerichtet sein und sich in der Öffentlichkeit beziehungsweise im Politischen zeigen. Diese Unterscheidung zwischen dem Mitleiden als Leidenschaft und dem Mitleid als Gefühl ist meines Erachtens wesentlich nicht nur für das Verständnis von Arendts ‚Mitleids‘- sondern auch ihrer gesamten ‚Emotionstheorie‘ (vgl. abweichend hierzu Hecker 2021). Sie ist am deutlichsten in der englischen Originalversion des Textes, On Revolution ([1963] 2016), ersichtlich: „Compassion […] was discovered and understood as an emotion or a sentiment, and the sentiment which corresponds to the passion of compassion is, of course, pity“ (Arendt [1963] 2016: 83f., meine Hervorhebungen).36 Für die
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Die englische Version umfasst, auch unter Berücksichtigung des unterschiedlichen Layouts, knapp hundert Seiten weniger als die deutsche Ausgabe. Barbara Holland-Cunz
Differenzierung setzt Arendt in der deutschen Version erstens auf die Kurz charakterisierung als „Leidenschaft“ beziehungsweise „Gefühl“, zweitens auf eine sprachliche Nuance – so formuliert sie die Leidenschaft des Mitleids oftmals als Verbsubstantivierung („Mitleiden“), das Gefühl des Mitleids hingegen als reguläre Substantivform („Mitleid“) –, sowie drittens auf ausführliche Charakterisierungen dieser beiden Mitleidsformen: Mitleiden, die leidenschaftliche Betroffenheit von dem Leiden anderer, als sei es ansteckend, und mitleidiges Bedauern, also Mitleid in dem gewöhnlichen Wortsinn, das nicht eigentliches Leiden ist, sind nicht nur nicht dasselbe, sie dürfen nicht einmal verwandte Phänomene sein. Wirkliches Mit-Leiden kann seiner Natur nach sich nicht auf das Leiden einer Klasse oder eines Volkes beziehen, und das sogenannte ‚Leiden der Menschheit‘ überhaupt wird niemals auch nur in seinen Gesichtskreis treten. Es kann nicht weiter reichen als bis zu dem konkreten augenfälligen Leiden des Einzelnen, ohne aufzuhören, wirklich mitzuleiden (Arendt [1963] 2011b: 108).
Diese Textpassage ist äußerst aufschlussreich für die formale und inhaltliche Bestimmung des Mitleids in Arendts Politischer Theorie: Das Mitleiden als Leidenschaft, als „leidenschaftliche Betroffenheit von dem Leiden anderer“, das dem englischen „compassion“ entspricht, ist für Arendt das „wirkliche Mit-Leiden“ – ein „mehr oder weniger chaotische[s] Durcheinander von Ereignissen“ der Seele, das wir „erleiden (pathein)“ (Arendt [1977, 1978] 2008: 78). Leidenschaften sind demnach klar im Subjekt lokalisierte, vom Subjekt wahrnehmbare (vgl. ebd.) und einem „introspektiven inneren Sinn“ (Arendt [1977, 1978] 2008: 79) zugängliche Phänomene. Sie seien „natürlich“ (Arendt [1963] 2011b: 101) und funktionierten wie unsere Körperorgane ohne eigenes Zutun (vgl. Arendt [1977, 1978] 2008: 43).37 Sie sind demnach ein wesentlicher Ausdruck für die Naturzwänge des Menschen, die eine zunächst natürlich gegebene (und folglich wesentlich mithilfe der Teilhabe am Politischen zu überwindende) menschliche Unfreiheit begründen (vgl. Holland-Cunz 2012: 92ff., 130). Die Leidenschaften sind laut Arendt im menschlichen Herzen lokalisiert, das sich durch „Dunkelheit“ (Arendt [1963] 2011b: 122) auszeichne. In der
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(2012: 43ff.) hat darauf hingewiesen, dass sich Arendts deutsche Textfassungen generell teilweise erheblich von den englischen Versionen unterscheiden. Diese Zuschreibung steht in Widerspruch zu einer anderen Aussage in Über die Revolution, wonach es für Menschen „keineswegs selbstverständlich“ sei, „auf den Anblick von Elend mit Mitleid zu reagieren“ (Arendt [1963] 2011b: 89). Wahrscheinlich hat Arendt in ihrem Revolutionsbuch diese These vertreten, um das Verhalten der amerikanischen Revolutionäre zu erklären, die eben nicht vom Mitleid ergriffen worden seien.
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„Helle“ (Arendt [1958] 2007: 77) des öffentlichen Raums können und dürfen Leidenschaften demnach nicht erscheinen, weil sie in ihrem subjektiven Erleben nicht (wirklich) intersubjektiv vermittelbar sind (vgl. auch Degerman 2019: 166). Diese Konzeption erlaubt es Arendt, eine doppelte Schutzbarriere zu errichten: nämlich einerseits eine, die das Politische vor dem Eindringen der Intimität in Form des Emotionalen schützt, und anderseits eine, die das Intimste des Menschen vor dem „Licht des öffentlich politischen Bereichs“ (Arendt [1958] 2007: 48) bewahrt. Es gibt allerdings eine signifikante Ausnahme für Arendts ansonsten hermetische Abgrenzung der Leidenschaft des Mitleidens vom öffentlich-politischen Raum: Eine Leidenschaft kann, so Arendt ([1963] 2011b: 122) „Antrieb zu einer Handlung“ werden, als individuelles Movens politischer Akteur:innen durchaus im Politischen erscheinen – indem ein Kollektiv nämlich als Singular gedacht wird (vgl. Arendt [1963] 2011b: 120; vgl. auch Kateb 1984: 93). Allerdings schränkt sie sofort ein, dass dieser Antrieb in dem Moment in seinem Wesen „zerstört“ werde, in dem er „öffentlich ausgesprochen und zur Schau gestellt“ werde: „Sobald sie [die Leidenschaften, AKW] erscheinen, werden sie zu bloßem Schein, hinter dem sich wieder andere Antriebe und Motive verbergen mögen, nämlich die Heuchelei, die Täuschung und die Selbsttäuschung“ (Arendt [1963] 2011b: 122). In dieser eng beschränkten Ausnahmekonstruktion ist auch eine ansonsten fehlende Verbindung zwischen Leidenschaft und Vernunft ersichtlich, die Arendt ([1970] 2000: 190) wie folgt beschreibt: „Um vernünftig reagieren zu können, muß man zunächst einmal ansprechbar sein, ‚bewegt‘ werden können; und das Gegenteil solcher Ansprechbarkeit des Gemüts ist nicht die sogenannte Vernunft, sondern entweder Gefühlskälte […] oder Sentimentalität, also eine Gefühlsperversion.“ Arendt bestimmt hiermit also, dass die ‚Wärme‘ einer Leidenschaft durchaus einer „vernünftigen“ Reaktion zuträglich sein kann – allerdings innerhalb eng gesteckter Grenzen in einem Spannungsfeld zwischen völliger Indifferenz und überbordender „Sentimentalität“, zwischen zwei Aspekten also, die wesentlich für Arendts Reflexionen über Emotionalität und Perspektivwechsel sind, wie ich an späterer Stelle ausführlich darlegen werde. Demnach empfanden die französischen Revolutionäre tatsächlich Mitleid, das sie allerdings von der individuellen auf die kollektive Ebene übertrugen: „Robespierre, gesetzt den Fall, er war wirklich ein Opfer der Leidenschaft des Mitleidens, [konnte] gar nicht anders [..], als diese Leidenschaft in ein Gefühl zu verwandeln und zu pervertieren, wenn er sie politisch einsetzen wollte, d. h. in einem Bereich, in dem er nicht mehr mit dem konkreten Leiden einzelner Personen konfrontiert war“ (Arendt [1963] 2011b: 114). Dieser Satz ist auf mehrerlei Weise aufschlussreich: Ideengeschichtlich betrachtet zeigt er zunächst, wie stark Arendt anhand des Charakterbildes von Maximilien de 50
Robespierre, einem der führenden französischen Revolutionäre, die Leidenschaft des Mitleidens mit einer Krankheit gleichsetzt, so dass derjenige, der davon „ergriffen und getrieben“ (Arendt [1963] 2011b: 89) wird, ein „Opfer“ ist. Damit absorbiert und perpetuiert Arendt eindeutig die Thesen Kants, wonach „Affekten und Leidenschaften unterworfen zu sein, [..] wohl immer eine Krankheit des Gemüts [ist], weil beides die Herrschaft der Vernunft ausschließt“ (Anth §73; 251). Und weiter: „Der Affekt wirkt auf die Gesundheit wie ein Schlagfluß, die Leidenschaft wie eine Schwindsucht oder Abzehrung. – Er ist wie ein Rausch, den man ausschläft, obgleich Kopfweh darauf folgt, die Leidenschaft aber wie eine Krankheit aus verschlucktem Gift oder Verkrüppelung anzusehen“ (Anth §74, 252). Diese starke Leidenschaftskritik kulminiert bei Kant in der folgenden berühmten Wendung: „Leidenschaften sind Krebsschäden für die reine praktische Vernunft und mehrenteils unheilbar“ (Anth §81, 266). Es ist daher wenig überraschend, dass Arendt das Emotionale im Sinne einer „Kontamination“ (Nelson 2017: 68) von Politik durch Emotionen deutet, die die (auf Kant zurückgehende) Unfreiheit des Subjekts einer Leidenschaft wie dem Mitleiden eindrucksvoll versinnbildlicht. Ähnlich wie Kant scheut sich auch Arendt nicht davor, ihre Kritik am Mitleid mit pointierter Wortwahl auszudrücken – so bezeichnet sie politisierte (Massen-)Emotionalität wahlweise als „Perversion“ (Arendt [1963] 2011b: 112; vgl. auch 114) oder als ein „Degenerieren“ (Arendt 2003: 59). Die Wahl dieser markanten Begrifflichkeiten wird verständlich, wenn man sich aus Arendts Perspektive die Folgen der Politisierung des Mitleids vergegenwärtigt: Im Rahmen der Transformation einer wahrhaften, als monumental erlebten Leidenschaft in ein Gefühl kann das Mitleid laut Arendt nämlich tatsächlich im Politischen erscheinen und wirken. Es höhlt dabei aber Politik nach ihrem Verständnis aus und vernichtet sie schließlich. Dabei bemüht Arendt einen an Schärfe kaum zu überbietenden Kontrast zwischen einem „wirklichen“ Mitleiden, das als ausschließlich subjektiv erlebbare Naturgewalt „mit leidenschaftlicher Intensität über die Welt hinweg direkt zu den Leidenden selbst“ (Arendt [1963] 2011b: 110) dränge, und einem politisierten Mitleid, das sich als Gefühl auf das Leiden eines Kollektivs richtet und gleichsam von einem Kollektiv empfunden werden kann. Die französischen Revolutionäre, so befindet Arendt in Über die Revolution, hätten diese Transformation der Leidenschaft des Mitleidens in das Mitleid als Gefühl vollzogen und es damit „entprivatisiert“ und „entindividualisiert“ (Arendt [1958] 2007: 63). Das Mitleid als Gefühl ist für Arendt in diesem Fall eine (vermittelte) Reaktion auf eine Regung der Seele (vgl. Arendt [1977, 1978] 2008: 79), eine subjektive Wahrnehmung der eigenen Affekte und Leidenschaften „samt ihrer Reintegration in ein erneutes Situationsverhältnis“ (Seyd 2015: 129). Gefühle sind demnach bearbeitete Produkte von 51
einstmals unmittelbaren Leidenschaften, also das, was vermittels Gedanken für die Erscheinung in der Welt aufbereitet wurde (vgl. Arendt [1977, 1978] 2008: 41). Diese Konzeption tangiert die Frage nach einer etwaigen emotionalen Authentizität, denn das, was intersubjektiv nachvollziehbar ist, ist nicht die „wirkliche“ Leidenschaft, die das Subjekt selbst in seinem Innersten empfindet, sondern die Repräsentation derselben als Gefühl. Auch dies macht das Mitleid als öffentliche Emotion für Arendt so problematisch (vgl. Degerman 2019: 158; 170) – wobei natürlich zu bezweifeln ist, dass eine „authentische“ Emotion immer einer vermittelten zu bevorzugen ist. Wenn Arendt schreibt, dass „das Gefühl, das der leidenschaftlichen Ergriffenheit durch das Leiden anderer entspricht, […] natürlich das Mitleid im gewöhnlichen Wortsinn“ (Arendt [1963] 2011b: 112; meine Hervorhebung) sei, verweist sie darauf, dass der Mitleidsbegriff die Leidenschaft als Naturgewalt nicht in adäquater Weise auszudrücken vermag, sondern nur das „pervertierte“ Gefühl des Mitleids. Arendt nimmt eine deutliche Abstufung vor, wenn sie den Prozess dieser konzeptionellen „Verwandlung“ dessen, „was vielleicht ursprünglich ein echtes Leiden und eine Leidenschaft gewesen war, in die Grenz- und Maßlosigkeit bloßer Gefühle“ (Arendt [1963] 2011b: 114, meine Hervorhebung) beschreibt. Allein diese Bestimmung des „Mitleids“ impliziert Subordination und Statik. An einer anderen Textstelle steigert Arendt die Differenz zwischen dem „wirklichen“ Mitleiden und einer Wandlung desselben „ins Gefühl“ ins Absolute. Die Leidenschaft wird dabei nämlich „abgetötet“, wie Arendt (2003: 60) in ihrem Denktagebuch notiert: „When we mobilize com-passion, we become passion-free“ (Arendt 2003: 526). Gleichzeitig vermittle das Mitleid als Gefühl eine „Pseudo-Lebendigkeit“ (Arendt 2003: 59). Auch wenn das Mitleid als Gefühl also vorgibt, ganz nah bei anderen Menschen zu sein, ist es nach Arendts Interpretation viel distanzierter als das Mitleiden als Leidenschaft. Allerdings handelt es sich hierbei nicht um eine wirksame politische Distanz im Arendt’schen Sinne (vgl. Arendt [1963] 2011b: 113) – im Gegenteil: Diese Distanzierung im Gefühl des Mitleids ist laut Arendt eine vom leidenschaftlichen Erleben, mehr noch, vom eigentlichen Leid eines anderen Menschen (vgl. auch Degerman 2019: 166; dieser Aspekt spiegelt sich auch in Arendts Kritik an der christlichen Nächstenliebe wider, vgl. Kap. 2.1.3). Insofern ist es nicht verwunderlich, dass Arendt ein Verwandtschaftsverhältnis zwischen den beiden Mitleidsformen kategorisch ablehnt (vgl. Arendt [1963] 2011b: 108). Eine solche kontrastreiche zweigeteilte Konstruktion des Mitleid(en)s hat aus theoretischer Perspektive einen eindeutigen Reiz, da sie Arendt erlaubt, genuine menschliche Leidenschaften anzuerkennen, während sie gleichzeitig die politischen Gefahren der Transformation von Leidenschaften in (Massen-)Gefühle problematisieren kann – im Falle des politisierten Mitleids sind 52
dies die bereits festgelegte Zielvorgabe, die mangelnde Dialogizität sowie der inhärente Handlungsimpuls.
2.1.2 Mitleid als antipolitisches Mittel und Ziel Dass das Mitleid als Gefühl im öffentlichen Raum erscheinen kann, heißt für Arendt nicht, dass es dort auch erscheinen sollte. Ihr normatives Verdikt hierzu lautet: „Sowohl die leidenschaftliche Anteilnahme an fremdem Leid wie die Perversion dieses echten Leidens in das gefühlsselige Mitleid stehen außerhalb der Politik“ (Arendt [1963] 2011b: 112). Auch wenn dieser Ausschluss aus dem politischen Raum für beide Mitleidsformen gleichermaßen gilt, liefert Arendt dafür unterschiedliche Begründungen: Für das Mitleiden als Leidenschaft basiert Arendts Kritik vor allem auf dem Verlust von Distanz zwischen den Menschen, innerhalb derer sich Politik überhaupt erst abspielt: „In dieser Hinsicht der Liebe nicht unähnlich, kann es dem Mitleiden auf seiner höchsten Stufe wohl gelingen, die in allem menschlichen Verkehr sonst immer vorhandene Distanz, den weltlichen Zwischenraum, der Menschen voneinander trennt und sie gleichzeitig miteinander verbindet, auszulöschen“ (Arendt [1963] 2011b: 109). Dieser Distanzverlust, den sie auch ausführlich in den Geboten christlicher Nächstenliebe identifiziert hat (vgl. u. a. Arendt [1929] 2006; [1958] 2007: 66ff.), ist für Arendt gleichbedeutend mit dem Verlust, sich politisch zu beteiligen. Das Mitleiden als Leidenschaft ist somit von vornherein von den politischen Angelegenheiten ausgeschlossen. Es ist apolitisch. Für das Mitleid als Gefühl liegt die Sache anders. Arendts Interpretation der Französischen Revolution, die „die Welt in Brand“ (Arendt [1963] 2011b: 68) gesetzt habe, ist eine an Schärfe kaum zu übertreffende Warnung davor, was passiert, wenn das Mitleid als Gefühl im Politischen erscheint – mehr noch, wenn es aktiv evoziert und instrumentalisiert wird. Das zentrale Problem für Arendt liegt, wie bereits erwähnt, darin, dass in der Französischen Revolution nicht Freiheit das eigentliche Ziel der Revolution gewesen sei, sondern die Befreiung von der Notwendigkeit, die Abschaffung des Elends der Massen. Nach dieser Interpretation ist das Mitleid a) als politisches Ziel festgelegt worden, und zwar im Rahmen eines Vorgangs, den Arendt in Anlehnung an die Thesen Jean-Jacques Rousseaus zur „volonté générale“ als „Einschwingen in den Allgemeinwillen“ (Arendt [1963] 2011b: 100) charakterisiert. Die französischen Revolutionäre um Robespierre hätten das Mitleid, das das „Zentrum“ der Politischen Theorie Rousseaus darstelle, schließlich auf realpolitischer Ebene in den „Mittelpunkt der revolutionären Entwicklung“ (Arendt [1963] 2011b: 103) gerückt. Damit setzten sie das Mitleid, so kann Arendts Argumentation weiter gedeutet werden, b) als politisches Mittel ein, um das gesellschaftliche Kollektiv zu steuern. Arendt verbindet mit die53
ser Mittelfunktion das Phänomen der ‚Sprachlosigkeit‘ sowie einen unmittelbaren Handlungsimpuls. In Arendts Bildsprache nimmt das Mitleid als leidenschaftliches Movens und instrumentalisiertes Gefühl dabei die Gestalt eines vom Subjekt der Emotion unabhängigen Akteurs mit einer eigenen Agenda ein (vgl. u. a. Arendt [1963] 2011b: 113). Einem wilden Tier gleich wird das Mitleid demnach in die Öffentlichkeit gezerrt, um dort gemäß seiner Natur buchstäblich ein Blutbad anzurichten: [E]s ist [..] gemeinhin keineswegs das Mitleiden, das es unternimmt, die Welt zu ändern, um menschliches Leiden zu lindern; wenn es aber aus irgendwelchen besonderen Umständen heraus dazu doch gedrängt wird, so wird es seiner Natur gemäß vor den langwierigen und langweiligen Prozessen des Überredens, Überzeugens, Verhandelns und Kompromisseschließens, welche die der Politik gemäßen Handlungen sind, zurückscheuen; es wird statt dessen versuchen, dem Leiden selbst Stimme zu verschaffen und zur ‚direkten Aktion‘ schreiten – nämlich zum Handeln mit den Mitteln der Gewalt (Arendt [1963] 2011b: 110).
Arendt schreibt dem Mitleid somit kein Potenzial für altruistisches Handeln zu; es kann nach dieser Lesart weder die Welt ändern noch Leiden lindern, sondern zerstört stattdessen die Essenz des Politischen. Das Mitleid als Gefühl ist daher antipolitisch. Das „Einschwingen in den Allgemeinwillen“
Wie Walter Reese-Schäfer (2012: 101) zur Politischen Theorie Arendts notiert, ist „politisches Handeln immer konstituiert durch sich durchkreuzende, vielfältige, plurale Absichten, so dass das eigentlichste und ursprünglichste, also der Kernstruktur des politischen Handelns nächste Produkt nicht die Verwirklichung konkreter Ziele ist“. Nach Arendts Interpretation ist aber genau das in der Französischen Revolution geschehen – das Mitleid sei zum politischen Ziel der Revolution erhoben worden, um die „soziale Frage“ zu klären. Damit sei das Politische unzulässigerweise funktionalisiert worden (vgl. Arendt [1958] 2007: 43; Volk 2013: 514). Das Problem liegt hierbei in der Zweckimmanenz, denn in einer solchen Konfiguration ist das (vermeintlich) ‚politische‘ Ziel bereits vorgefertigt, bevor ein wahrhafter politischer Prozess im Arendt’schen Sinne überhaupt stattgefunden hat. Außerdem moniert Arendt, dass dieser von Emotionen geleitete Prozess, der dazu dienen sollte, „Unglückliche glücklicher zu machen, anstatt für alle Gerechtigkeit zu etablieren“ (Arendt [1968b] 1989: 30), von Parteilichkeit statt von unabhängigen Institutionen geprägt gewesen sei. 54
Maßgeblich mitverantwortlich für die diesbezüglichen Verfehlungen der französischen Revolutionäre sind laut Arendt Rousseau und seine Vorstellung vom „Einschwingen in den Allgemeinwillen“ (Arendt [1963] 2011b: 100). Anstelle eines kollektiven und pluralistischen Aushandelns individueller Positionen unterstellt Arendt der Französischen Revolution ein singuläres Interesse, nämlich das Elend zu beseitigen. Dieses Gesellschaftsinteresse ist an keine spezifischen Personen gebunden (vgl. Arendt [1958] 2007: 51) und basiert nicht mehr auf einer „Meinung, auf die sich viele öffentlich geeinigt haben“ (Arendt [1963] 2011b: 96, meine Hervorhebung). Auch die Frage der politischen Legitimation ist dadurch tangiert, denn das Mitleid als revolutionäres Ziel beziehungsweise als allgemeiner Wille des Volkes ersetzt demnach eine wahrhaft legitimatorische Basis: „Daraus folgte, daß die persönliche Legitimation der Volksrepräsentanten, die ja überzeugt davon waren, daß der Ursprung legitimer Macht im Volk liegt, sich primär auf dieses leidenschaftliche Mitgefühl38 berufen mußte, […], also auf die Fähigkeit, sich leidend und mitleidend mit der ‚unermeßlich großen Masse der Armen‘ zu identifizieren“ (Arendt [1963] 2011b: 95). Diese „bewußte Formierung“ zu einer „Kardinaltugend des Politischen überhaupt“ (ebd.) entspricht dem Mitleid als Gefühl. Damit verweist Arendt auf eine strategisch evozierte Mitleidspolitik, die politisch gesehen keine valide Legitimation erfahren hat, da sie strukturell auf der Singularität des Persönlichen beruht. In dieser Konstellation ist de facto kein Korrektiv angelegt, oder konkreter: kein Korrektiv, das ‚objektiv‘ die (vermeintlich) politische Beschlussfassung eines allgemeinen Volkswillens überprüfen könnte. Einzig die Einfühlung in sich selbst hat als ‚Überprüfungsorgan‘ gelten können (vgl. Mohrmann 2015: 45) – was für Arendt hochproblematische Konsequenzen mit sich bringt. Spätestens damit ist das Herzstück des Politischen nach Arendts Theorie berührt: nämlich das politische Handeln, das in Pluralität und nach vorangegangener öffentlicher Deliberation stattfindet (vgl. u. a. Arendt [1958] 2007: 220). Wenn das Mitleid zu einer Zielvorgabe von Politik wird und Legitimation bloß in sich selbst angelegt (ergo: nichtig) ist, dann entfällt der gegenseitige Meinungsaustausch (vgl. auch Mohrmann 2015: 29, 41). In diesem Rahmen schreibe „die praktische Vernunft als die Stimme aller“ vor, „was zu wollen ist“ (Arendt 2003: 182). Das „Einschwingen in den Allgemeinwillen“ bedeute, „daß aus vielen einer würde, womit die Welt, die sich immer nur zwischen den Menschen in ihrer Vielfalt bilden kann, von der Erde verschwände“ (Arendt [1968b] 1989: 48). Ausgesprochen pathetisch beschreibt
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Diese ist eine der raren Textstellen, an denen Arendt von „Mitgefühl“ statt vom „Mitleid(en)“ schreibt.
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Arendt damit das Bedrohungsszenario, das durch die Anrufung des Mitleids als Gefühl letztlich nicht nur das Politische, sondern das gesamte menschliche Miteinander in seiner Diversität fundamental tangiert. Laut Arendt ist es eine „Tatsache, daß nicht der Mensch, sondern die Menschen die Erde bewohnen und eine Welt zwischen sich errichten“ (Arendt [1963] 2011b: 226). Diese Vorstellung von Pluralität als „Gleichheit und Verschiedenheit“ (Arendt [1958] 2007: 213) der Menschen schließt eine absolute Diversität von Meinungen und Interessen ein (vgl. u. a. Arendt [1963] 2011b: 118). Barbara Holland-Cunz (2012: 60) hat darauf verwiesen, dass die Pluralität somit eine maßgebliche Voraussetzung für „demokratische Gemeinsamkeit“ ist. Im „Einschwingen in den Allgemeinwillen“ ist keine wahrhafte Pluralität mehr möglich, weil ein solcher Prozess laut Arendt den Selbstverlust (vgl. Arendt [1963] 2011b: 99f.) im Sinne der (negativ konnotierten) „Fähigkeit, sich selbst im Leiden der anderen zu verlieren“ (Arendt [1963] 2011b: 102) forciert. Damit beschreibt sie den Verlust der Fähigkeit, mit sich selbst im Dialog zu stehen, das heißt zu denken (vgl. ebd.), Eigeninteressen und Eigenwillen auszubilden und ihnen gemäß zu handeln. Stattdessen finde im Mitleid eine „Rebellion gegen sich selbst“ (Arendt [1963] 2011b: 99) statt. Das maß- und grenzenlose Mitleid zerstört somit die für Arendts Politikverständnis essenzielle Pluralitätsmaxime (vgl. auch Nelson 2004: 233): Die politische Gefahr der Armut besteht gerade darin, daß sie die Pluralität vernichtet und aus den Vielen so etwas wie Eines macht, daß dieses physische Leiden Gefühle und Stimmungen erzeugt, welche der Solidarität zum Verwechseln ähnlich sehen, und daß schließlich das Mitleid mit einem leidenden Kollektiv so leicht für echtes Mitleiden gehalten werden kann, das nur einem Einzelnen gegenüber möglich ist, eben weil sein Objekt scheinbar ein Singular ist, aber ein so ungeheuer großer, daß nur ein maßlos gesteigertes Gefühl ihm entsprechen kann. Robespierre hat gelegentlich die Nation mit dem Meer verglichen, und an dem Vergleich ist immerhin so viel wahr, daß das Meer des Elends und der Sturm der Gefühle, den es entfesselte, das Ihre dazu getan haben, die Grundlagen der Freiheit zu überspülen (Arendt [1963] 2011b: 120).
Nicht nur an dieser Textstelle wird deutlich, wie naturgewaltlich, geradezu apokalyptisch, Arendt das Mitleid beschreibt, wie stark das Mitleid als „Sturm der Gefühle“ zum Gegenspieler der Freiheit wird und diese zu zerstören droht, und wie sehr sie mit dieser sprachlichen Stilistik das Mitleid mit der Notwendigkeit parallelisiert (vgl. u. a. Arendt [1958] 2007: 43). Arendt passt sich somit sprachlich ihrer eigenen Diagnose an, dass die zeitgenössischen Beschreibungen der Französischen Revolution und ihren ‚Nachwehen‘ mit Metaphern von Naturgewalten beschrieben worden seien (Arendt [1963] 56
2011b: 60). Die Masse der Elenden nimmt in Arendts Bildsprache die Form einer Lawine (vgl. Arendt [1963] 2011b: 75) beziehungsweise einer mächtigen Strömung an, die die Französische Revolution beherrscht habe. Damit macht Arendt das von ihr diagnostizierte Ausmaß des „Unglücks“ der Französischen Revolution anschaulich, das sich auch auf nachfolgende Umsturzversuche niedergeschlagen habe: Seither ist an die Stelle des ruhigen Stolzes, am Bau des eigenen Hauses mitwirken und über das seit Jahrtausenden angehäufte Wissen in diesen Dingen frei verfügen zu dürfen, das mehr oder minder bewußt verzweifelte Gefühl getreten, von dem Sturmwind der Revolution, einem verlorenen Blatte gleich, in eine ungewisse Zukunft geweht zu werden (Arendt [1963] 2011b: 69).
Die Französische Revolution hat demnach das Bedürfnis der politischen und sozialen Verwurzelung, das Arendt mit dem Bild des Hauses illustriert (das Quelle des Stolzes ist, die eigenen Lebensumstände mitgestaltet zu haben), wie einen Baum bis auf den Stumpf gewaltsam gekappt, die Menschen dabei vereinzelt und sie ihrem Schicksal schonungslos ausgeliefert. Drastischer hätte Arendt die politischen Folgen der Französischen Revolution wohl kaum verbildlichen können. Die Aspekte der Entwurzelung, der Verzweiflung, der Vereinzelung und der gewaltsamen Lenkung verweisen dabei auf Motive, die für Arendts Theorie über die Elemente des Totalitarismus zentral sind (vgl. Arendt [1951] 2009). Darin befindet sie, dass die ‚Erzeugung‘ einer Masse (z. B. durch einen totalitären Herrscher; sie bezieht sich hier auf Stalin) jegliche „Gruppensolidarität“ beseitige und besten Nährboden, gar „die conditio sine qua non“, für totale Herrschaft bilde (Arendt [1951] 2009: 643). Die Menschen, die in diese Masse gepresst würden, verlieren demnach die gemeinsame Welt, die Möglichkeit, Politik zu machen und damit auch die Chance auf Freiheit (vgl. Benhabib 1996: 67). Sowohl die Blätter-Analogie als auch die im vorigen Langzitat genannte Wendung des „Meer an Elends“ liefern einen deutlichen Hinweis darauf, dass Arendt in ihrer Beschreibung über die quasi-apokalyptische Wirkmächtigkeit des politisierten Mitleids eine ähnliche Massendiagnose stellt: Die Singularität des Volkes in der Französischen Revolution verbindet Arendt mit einem großen Konglomerat an (vereinzelten, „verlorenen Blättern“ gleichenden) Menschen, die dem Allgemeinwillen folgen, von patriotischen (Massen-)Stimmungen gelenkt und manipuliert werden können (vgl. Arendt [1963] 2011b: 118). Aus dieser revolutionären „Masse“ (vgl. u. a. Arendt [1963] 2011b: 85) kann laut Arendt jedoch keine wirklich politische Macht generiert werden, denn diese entsteht nur dann, wenn Menschen freiwillig zusammenkommen, miteinander sprechen und gemeinsam handeln. 57
Diese aufschlussreiche Verbindung des Mitleids als Gefühl mit dem Begriff der „Masse“ verweist auf zweierlei: Zum einen lässt sie Rückschlüsse auf Arendts unverhohlene Geringschätzung kollektiver Emotionalität zu – und damit auch ihr Unverständnis gegenüber denjenigen, die sich nicht gegen diese Form der Beherrschung auflehnten, und die das emotionale Verleitetwerden dem eigenen Denken und Handeln vorzögen (vgl. Arendt [1963] 2011b: 87f.). Dieses Urteil erinnert stark an die Thesen Aristoteles’ über die „Natur“ der „Leute aus der Menge“: „[I]ndem sie nach ihren Affekten (pathos) leben, suchen sie die ihnen eigene Lust und das, wodurch diese entsteht, und meiden die entgegengesetzte Unlust, haben aber vom Werthaften und wahrhaft Lustvollen nicht einmal eine Vorstellung, da sie nie davon gekostet haben“ (Nikomachische Ethik X 10, 1179b). Auch wenn aus den vorherigen Ausführungen bereits deutlich geworden ist, dass Arendt im Gegensatz zu Aristoteles den rhetorischen Einsatz von pathos in der politischen Rede vehement ablehnen würde und sich daher ihre Politische Theorie in diesem Punkt maßgeblich von der Aristotelischen absetzt, treffen sich beide Konzeptionen jedoch deutlich in dieser Geringschätzung der „Leute aus der Menge“, die sich anfällig für kollektive Emotionalisierung zeigten. Im Gegensatz zu Rousseau, der für eine Ausweitung des angeborenen und in der Erziehung gestärkten Mitleids hin zu einer universalen Allgemeinheit plädiert (vgl. Rousseau [1762] 1998: 261), warnt Arendt davor, dass aus einer solchen politischen Zielsetzung nicht nur ein antipolitisches, sondern auch indirekt ein proto-totalitäres Potenzial des Mitleids entstehen könne. Die Mitleidskonzeption Arendts mit einem proto-Totalitarismus zu verbinden, mag zwar im Hinblick darauf verwundern, dass Arendt schreibt, dass weder Ideologie noch Terror, die beiden Grundpfeiler des Totalitarismus, ausschließlich in totalitären Systemen vorkämen (vgl. Arendt [1951] 2009: 962). Darüber hinaus hat Arendt dezidiert darauf hingewiesen, dass der Terror in der Französischen Revolution – im Gegensatz zur Russischen Revolution – kein Prinzip in sich selbst dargestellt habe (vgl. Arendt [1963] 2011b: 127). Dennoch ist diese Verknüpfung graduell zulässig, wie mir scheint, da Ideologie und Terror in Arendts Interpretation der Französischen Revolution zumindest bis zu einem gewissen Grad und in einer gewissen Form präsent gewesen sind. Denn in Frankreich sei damit begonnen worden, den „Wert eines Menschen nach dem Ausmaß und der Radikalität“ zu beurteilen, „mit der er gegen seine eigenen Interessen und Impulse handelt“ (Arendt [1963] 2011b: 100). Das politisierte Mitleid der Französischen Revolution weist laut Arendts Schilderung somit tatsächlich einige, wenn auch durchaus nicht alle, Strukturelemente einer Ideologie auf: Diese ist demnach vor allem ein „Instrument, mit dessen Hilfe Prozesse und Ereignisse berechnet werden können“ (Arendt [1951] 2009: 963). Sie beinhalte einen „Anspruch auf totale Welterklärung“ (Arendt [1951] 2009: 964) 58
sowie ein unmittelbares Bewegungselement, richte sich ausschließlich auf die Zukunft, passe alle Geschichte in ein vorgefertigtes Narrativ ein und immunisiere gegen die Wirklichkeit (vgl. ebd.). In Arendts Thesen über das mitleidige „Einschwingen in den Allgemeinwillen“ scheint eine Art Welterklärungsanspruch durchaus durch,39 genauso wie ein Bewegungselement – der unmittelbare und antreibende Handlungsimpuls –, die Sprachlosigkeit des Mitleids, die einem vorgefertigten Narrativ mit substanzlosen Phrasen in die Hände spielt, sowie ein Wirklichkeitsverlust im Rahmen des „Zaubers“ der Sentimentalität. ‚Sprachlosigkeit‘ und gewaltaffiner Handlungsimpuls
Die Emotionalisierung von Kollektiven ist insbesondere auch wegen dieser dem Mitleid laut Arendt inhärenten ‚Sprachlosigkeit‘ sowie des unmittelbaren Handlungsimpulses höchstproblematisch, der zu Gewalt und Terror führen könnte. In diesen beiden Fällen berührt Arendts Fundamentalkritik das Mitleid als politisches Mittel (vgl. u. a. Arendt [1963] 2011b: 114). Auch wenn das Mitleid(en) nicht eigentlich „sprach-los“ ist, wie Arendt ([1963] 2011b: 109) schreibt, sondern sich in Gesten und Blicken ausdrücke, fehlt demnach sowohl dem Mitleiden als Leidenschaft als auch dem Mitleid als Gefühl die Art der intersubjektiven Kommunikation, die das Sprechen im öffentlichen und insbesondere im politischen Raum ermöglicht. Mit diesem, nicht gänzlich überzeugenden, Charakteristikum schließt Arendt das Mitleid von vornherein aus einer deliberativen Vorstellung von Politik aus.40 Zwar äußert sich das Mitleid als Gefühl laut Arendt dennoch – allerdings mit „falschen und unechten“, mit „idealistischen, hochtönenden Phrasen“ (Arendt [1963] 2011b: 108f.). Arendt attestiert diesem Mitleid sogar „Redseligkeit“ (Arendt [1963] 2011b: 109). Im Gegensatz zur ‚Sprachlosigkeit‘ des „echten“ Mitleidens als Leidenschaft, das sich nicht oder nur einer anderen Person (und oft nur mit Gesten) mitteilen könne, sei das Mitleid auf ein Kollektiv gerichtet 39
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Allerdings ist zu betonen, dass dieser wie auch immer geartete Welterklärungsanspruch, den die französischen Revolutionäre laut Arendt bemühten, nicht die allen Ideologien eigene geschichtliche Vorherbestimmung umfasste. Hier ist eine schematische Einpassung des Mitleids in die ‚Schablone‘ der Ideologie nicht möglich, denn Arendt war der Ansicht, dass der „Begriff der historischen Notwendigkeit“ (Arendt [1963] 2011b: 127) zu Zeiten der Französischen Revolution noch fremd gewesen sei. Iain Wilkinson (2017: 221) schlägt hierbei das Paradoxon vor, wonach Arendt, indem sie dem Mitleid einen deliberativen Charakter abspricht, es gleichzeitig zur Debatte stelle. Arendts wirklich vernichtende Thesen über den antipolitischen Charakter des Mitleids geben allerdings zu wenig theoretischen Spielraum dafür her, dass damit über die Wirkmächtigkeit des Mitleids im Sinne eines ergebnisoffenen Prozesses überhaupt auch nur ansatzweise diskutiert werden könnte.
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und könne „sich einer Menge mitteilen“ (Arendt [1963] 2011b: 113). Damit erzeugt und ist das kollektive Mitleid gleichzeitig eine Massenstimmung, die aber einem lebendigen Austausch von pluralistischen Meinungen diametral gegenübersteht. Die eigentliche ‚Sprachlosigkeit‘, die somit nicht nur das Mitleiden als Leidenschaft, sondern im Grunde auch das Mitleid als Gefühl betrifft – denn die „Phrasen“ des Mitleids können zwar die Masse bewegen, nicht aber einen wahrhaft politischen Dialog erzeugen –, zerstört somit die Essenz des Politischen. Als ‚politisches‘ Mittel verhindert und vernichtet das Mitleid dieser Lesart zufolge den politischen Dialog und verschleiert diese Tatsache mit einer „furchtbare[n] Sprache“ (Arendt [1963] 2011b: 114), im Falle der Französischen Revolution mit den Worten „[p]ar pitié, par amour pour l’humanité, soyez inhumains!“ („aus Mitleid, aus Liebe zur Menschlichkeit, seid unmenschlich!“). Diese (sprachlose) „Sprache“ legt es ausschließlich darauf an, Menschen(-massen) in Bewegung zu versetzen. Das alles hat für Arendts Politische Theorie schwerwiegende Konsequenzen, denn Freiheit muss nach Arendts Dafürhalten „in einem unaufhörlichen Gespräch stets aufs Neue ‚besprochen‘ werden“ (Holland-Cunz 2012: 136). Erneut ist hier nicht nur ein antipolitisches Moment berührt, sondern zeigt sich auch ein weiterer protototalitärer Zug im Mitleid, denn (politische) Sprachlosigkeit, der Zwang zur Stille, ist für Arendt ein Merkmal totalitärer Bewegungen (vgl. Arendt [1958] 2007: 36; Holland-Cunz 2012: 131; Newcomb 2007: 113). Noch zerstörerischer wirkt für Arendt allerdings ein anderes Charakteristikum, das im Rahmen des strategischen Einsatzes des Mitleids den genuin politischen Prozess gefährdet: Sowohl das leidenschaftliche Mitleiden als Movens als auch das politisierte Gefühl des Mitleids erzwingen eine sofortige Handlung mit schnellstmöglichem Resultat (vgl. Arendt [1963] 2011b: 114). Diese Deutung wird ideengeschichtlich durch die Mitleidsethik Arthur Schopenhauers gestützt, wonach „das Mitleid nicht bloß mich abhält, den Andern zu verletzen, sondern sogar mich antreibt, ihm zu helfen“, ein Vorgang, den Schopenhauer ([1840] 1977: 266f.) als „ganz unmittelbare, ja instinktartige Theilnahme am fremden Leiden“ charakterisiert. Sie steht allerdings in gewissem Widerspruch zu Kants Bestimmungen der Charakteristika von Affekten und Leidenschaften – Affekte als „Rausch“-artige Zustände könnten zwar einen unmittelbaren Handlungsimpuls auslösen; allerdings reichten sie nie so tief in die menschliche Seele wie die Leidenschaften, die viel berechnender auf den Menschen wirkten, sich Zeit ließen, um einen Zweck zu erreichen (vgl. u. a. Anth §74, 252). Das Mitleid als Gefühl, das Arendt identifiziert, scheint einem solchen Kantischen Affektcharakter mitsamt einem unmittelbaren Handlungsimpuls nahezukommen; allerdings spricht Arendt auch dem Mitleiden als Leidenschaft einen solchen Impuls zu. Dieser hat zunächst für 60
das Subjekt des Mitleids schwerwiegende Konsequenzen: Das Mitleiden als Leidenschaft „befällt“ laut Arendts Interpretation das mitleidende Subjekt, ohne dass es sich wehren könne; es mache daher „als reines Erleiden auf jeden Fall das Handeln unmöglich“ (Arendt [1968] 1989b: 30). Dass der Handlungsimpuls Handeln verhindert, ist kein Paradoxon, sondern beruht auf der spezifischen Konzeption des Politischen in Arendts Theorie: Dieser Impuls steht wahrhaft politischem Handeln diametral entgegen, das von Gedanken, Diskussionen und gemeinsamen Urteilen durchzogenen ist (vgl. auch Newcomb 2007: 109f.). Aber auch das Objekt des Mitleids ist durch den Handlungsimpuls des Subjekts maßgeblich in seiner eigenen Handlungsfreiheit beschnitten – dies ist auch dann der Fall, wenn das Mitleid als Gefühl politisiert wird. Denn dieser Impuls zementiert ein grundlegendes Hierarchieverhältnis zwischen denjenigen, die als Subjekte Mitleid empfinden, und denjenigen, die das kollektive Objekt des Mitleids darstellen (vgl. Arendt [1963] 2011b: 95). In der Instrumentalisierung des politisierten Mitleids sieht Arendt die Gefahr gegeben, dass die Subjekte des Mitleids für andere sprechen und handeln (vgl. Volk 2013: 514; Mrovlje 2019: 174). Demnach erzeugt das Mitleid ein eklatantes Ungleichgewicht zwischen (im Idealfall) politisch Gleich(rangig)en, weil es dem Objekt des Mitleids seine Beteiligungsmöglichkeit am politischen Prozess raubt. Arendts Ansatz richtet sich folglich entschieden gegen die Illusion (oder Utopie) einer politischen Gleichheit, die das Mitleid garantieren oder sogar erst erzeugen könne. Dieser Aspekt ist in der Tat zentral für die Einschätzung des Gefahrenpotenzials des politisierten Mitleids. Arendt verweist zu Recht darauf, dass es wohl einfacher ist, für andere zu handeln, als gemeinsam mit ihnen als Gleiche zu sprechen und zu handeln (vgl. auch Žižek 2016: 12, 76), ergo: Politik zu machen. Missrepräsentation und Machtmissbrauch können die Folge sein, Unterdrückung kann fortgeschrieben werden. Wie Sara Ahmed (2004: 193) betont, führt ein solcher Handlungsmodus dazu, dass Erwartungen von Verschuldung und Dankbarkeit ein bereits im Akt des Mitleids potenziell vorhandenes Machtungleichgewicht verstärken. Es ist daher für jede ernstzunehmende Theorie und Praxis politischen Mitleids/Mitgefühls unumgänglich, Partizipationsstrukturen anzudenken und zu ermöglichen und einen aktiven Dialog zu führen, der auf einem gewissenhaften Zuhören basiert (vgl. hierzu Porter 2006: 116; Scudder 2020; Young 1997). Arendt geht aber mit ihrer Kritik konzeptionell noch einen deutlichen Schritt weiter: Sie verknüpft einen solchen Handlungsimpuls, der im Füreinander- statt im Miteinanderhandeln angelegt ist, direkt mit Gewalt und potenziellem Terror. Wieder ist Arendt in ihrer Wortwahl alles andere als zurückhaltend: „Eines steht fest: Wo immer man die Tugend aus dem Mitleid abgeleitet 61
hat, haben sich Grausamkeiten ergeben, die es unschwer mit den grausamsten Gewaltherrschaften der Geschichte aufnehmen können“ (Arendt [1963] 2011b: 114). Bei allen Revolutionen sei es zu einer „Verherrlichung der Gewalt“ (Arendt [1963] 2011b: 147) gekommen, bei denen sich die Gewalt auf die Notwendigkeit berufen habe. Dies habe fatale Folgen gehabt: „Wo immer die Lebensnotwendigkeiten sich in ihrer elementar zwingenden Gewalt zur Geltung bringen, ist es um die Freiheit einer von Menschen erstellten Welt geschehen“ (Arendt [1963] 2011b: 75). Arendts wieder apokalyptisch anmutende Formulierungen spielen dabei sicher auf Robespierres programmatische Verbindung von Tugend und Terror an.41 Der direkte Handlungsimpuls vernichtet damit auch aktiv die für Arendts Politische Theorie so wichtigen zwischenmenschlichen Distanzen, den weltlichen Zwischenraum, „in dem sich politische Angelegenheiten und alles, was Menschen im Verkehr miteinander tun, abspielen“ (Arendt [1963] 2011b: 109; vgl. u. a. auch Arendt [1958] 2007: 66). Stattdessen wird dieser auf Distanz beruhende Zwischenraum im Mitleid unmittelbar und oft unter Gewaltanwendung vernichtet – und damit die Freiheit schlechthin (vgl. Arendt [1963] 2011b: 145). In der Tat verknüpft Arendt das (Mit)Leid derart stark mit Gewalt, dass sie es im Kontext der Französischen Revolution sogar als dessen Ursprung ausmacht. Diese „Quelle“ (Arendt [1963] 2011b: 142) der Gewalt kontrastiert sie mit der Quelle der Macht in der Amerikanischen Revolution, die für Arendt im gemeinsamen Handeln in Pluralität liegt. Dass Emotionen wie das Mitleid gerade aufgrund eines ihnen gegebenenfalls inhärenten Handlungsimpulses für politische Aktion förderlich sein könnten – diese Möglichkeit hat Hannah Arendt offenbar nicht in Betracht gezogen. Ein Grund dafür könnte in der Differenz liegen, die Arendt zwischen Macht und Gewalt formuliert. Demnach entsteht Macht in der konzertierten Aktion mit anderen, wohingegen eine Person nur mithilfe von Werkzeugen Gewalt durchsetzen kann (vgl. Arendt [1970] 2000: 172f.; 181). Da das Mitleid laut Arendt kein wahrhaft politisches Sprechen und Handeln ermöglichen kann, entsteht weder durch die Leidenschaft noch durch das öffentliche
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In seiner Rede vor dem Nationalkonvent ließ Robespierre ([1794] 1971: 594) Folgendes verlauten: „[I]n der gegenwärtigen Lage [sei] der erste Grundsatz eurer Politik, das Volk durch Vernunft und die Volksfeinde durch Terror zu lenken. Wenn in friedlichen Zeiten der Kraftquell der Volksregierung die Tugend ist, so sind es in Zeiten der Revolution Tugend und Terror zusammen. Ohne die Tugend ist der Terror verhängnisvoll, ohne den Terror ist die Tugend machtlos. Der Terror ist nichts anderes als die unmittelbare, strenge und unbeugsame Gerechtigkeit; er ist also eine Emanation der Tugend; er ist nicht so sehr ein besonderer Grundsatz als vielmehr die Folge des allgemeinen Grundsatzes der Demokratie, angewandt auf die dringendsten Bedürfnisse des Vaterlandes.“
Gefühl Macht; mehr noch, das Mitleid vernichtet politische Macht durch den Impuls zum Füreinanderhandeln, der sowohl das Subjekt als auch das Objekt des Mitleids maßgeblich in seiner politischen Handlungsfreiheit behindert, sowie durch eine ihm inhärente Neigung zur Gewalt. Arendts Argumentation ist zwar bis zu einem gewissen Punkt nachvollziehbar, eignet sich jedoch nicht zu einer deskriptiven Bestimmung des Mitleids. Denn diese Emotion muss eben gerade nicht per se zu einem automatischen Handlungsimpuls führen – dazu spielt vor allem die Frage nach der Distanz zwischen Subjekt und Objekt des Mitleidens eine Rolle (vgl. Kap. 4.1). Ist die räumliche und menschliche Distanz zu groß, wird das Subjekt keinen derartigen Impuls verspüren. Ein Handlungsimpuls muss zudem nicht automatisch zu Gewalt, sondern kann stattdessen zu politischem Engagement führen, das durchaus mit Arendts Definition von politischem Handeln vereinbar ist. Insofern ist die folgende Feststellung durchaus zutreffend: „For someone who is regularly referred to as ‚the theorist of new beginnings‘ and defender of ‚spontaneity,‘ Arendt was remarkably apprehensive about the creative and disruptive potential of emotion”, befindet Johannes Lang (2015; vgl. auch Mohrmann 2015: 104, FN 223).
2.1.3 Der „Zauber“ des „gefühlsseligen“ Mitleids Arendts mannigfaltige Warnungen vor dem Mitleid als Ziel und Mittel im Politischen tangieren ganz klar die beiden Hauptelemente ihrer Politiktheorie – das Sprechen und das Handeln. Das Mitleid berührt aber auch noch einen dritten wichtigen Aspekt der Essenz dessen, was das Politische nach dieser Interpretation ausmacht: die Anerkennung der Realität. Arendt verknüpft das Mitleid in beiden Ausprägungen mit einer substanziellen Abkehr von der Wirklichkeit: In seiner Form als Leidenschaft kennt es demnach keine Welt, da es nur zwischen Zweien auftritt und dabei nichts öffentlich Teilbares erschafft; in seiner politisierten Form als Gefühl schlägt sich das Mitleid wiederum in „Sentimentalität“ nieder, die die Perspektive des Mitleids trotz der Mitteilbarkeit auf und innerhalb ein(es) Kollektiv(s) letztlich immer nach innen richtet. Dieses Mitleid als ein „auf sich selbst reflektiertes Gefühl“ (Arendt [1963] 2011b: 112), in das die Leidenschaft des Mitleidens transformiert wurde, „schwelgt“ (Arendt [1963] 2011b: 113) in den eigenen Stimmungen. Insofern ist die Distanz im Gefühl des Mitleids nicht nur eine einfache, bei der das Objekt des Mitleids das Subjekt nicht eigentlich sonderlich tangiert, sondern eine „gefühlsselige[]“ (ebd.), die gleichzeitig eine Illusion des Distanzabbaus für das Subjekt kreiert. An dieser Stelle verwendet Arendt nunmehr zwei Schlüsselbegriffe ihrer ‚Mitleidstheorie‘: Arendt spricht von einem „Zauber“ (Arendt [1963] 2011b: 63
103), den das Mitleid(en) bei den französischen Revolutionären evoziert habe, mit dem Ziel, Not und Elend abzuschaffen. Arendt bedient sich damit eines Begriffs, den bereits Friedrich Nietzsche in seiner Polemik gegen das Mitleid verwendet hatte (vgl. Nietzsche [1886] 2016: 41; vgl. auch Kap. 4.3). Sie verdeutlicht und verdichtet damit ihre Kritik an der eigenen Affizierung am Mitleid: Dieser „Zauber“ entsteht laut Arendt nämlich dadurch, dass sich Menschen an ihren „erhebenden Gefühlen“ (vgl. Arendt [1963] 2011b: 154; vgl. zu „erhabenen Gefühlen“ Robespierre [1794] 1971: 587) ergötzen – aber auch an dem Gefühlszustand eines ganzen Kollektivs (vgl. auch Mohrmann 2015: 42). Die „erhebenden Gefühle“ der französischen Revolutionäre weisen dabei eine deutliche Parallele zu der Konzeption von „Zauber“ auf, die Arendt bereits in ihrer Dissertationsschrift Der Liebesbegriff bei Augustin ([1929] 2006) vorgetragen hatte. Darin gibt das Konzept der christlichen Nächstenliebe Arendt Anlass zu einer scharfen Kritik an einem radikalen Selbstbezug des Subjekts der caritas: Mit geflügelten Worten und überbordenden Gefühlen werden Gedanken an die Nächste demnach instrumentalisiert, um einem rein egoistischen Bedürfnis nachzukommen. Die Konsequenz hieraus ist nicht nur Selbstbezug, sondern auch (Selbst-)Betrug und letztlich sogar der Verlust der gemeinsamen Welt: „[D]ie dilectio proximi läßt den Liebenden selbst in der absoluten Isolierung, und die Welt bleibt für diese isolierte Existenz die eremus. In der Erfüllung des Gebotes der Nächstenliebe wird diese Isolierung gerade in bezug auf die Welt, in der die creatura ja auch als isolierte lebt, realisiert und nicht etwa vernichtet“ (Arendt [1929] 2006: 69). Wie im Mitleid auch ist das Objekt der Nächstenliebe reines Mittel zum Zweck, einen gewünschten Zustand zu erleben – den Zauber der Selbstaffizierung beziehungsweise die Nähe zu Gott. Diese fundamentale und substanzielle Kritik am „Zauber“ der eigenen Gefühlszustände hat Arendt in der auf ihre Dissertationsschrift folgenden philosophischen Biografie Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik ([1957] 1981)42 noch einmal ausgeweitet: In der Zeit der Romantik sei dieser „Zauber“ „in der Grenzenlosigkeit der Stimmung“ (Arendt [1957] 1981: 65) entstanden und habe – auch der jüdischen Salonnière Varnhagen – wesentlich dazu gedient, sich an den eigenen Gefühlen zu ergötzen. Dieser „Zauber“ ist laut Arendt ein kontinuierliches Insichhineinfühlen um des Fühlens, nicht um des Gegenstands, willen (vgl. Arendt [1957] 42
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Arendt hatte den Großteil des Manuskripts für dieses Buch, das als ihre Habilitationsschrift geplant war und das sie in einem Brief an Karl Jaspers als „Frauenbuch“ (Arendt/ Jaspers 1985: 332) betitelte, bereits 1933 fertiggestellt; erstmals und auf Englisch veröffentlicht wurde es aufgrund von Arendts Flucht aus dem nationalsozialistischen Deutschland allerdings erst 1957.
1981: 21). Hierbei handelt es sich wieder um eine „Perversion“ von Leidenschaften in Gefühle im Rahmen einer Selbstaffektion43 – ein Mitschwingen mit dem, „was die neu entdeckte Skala der Herzensbewegungen in Erregung bringen konnte“, wie Arendt ([1963] 2011b: 112) beißend und in Inhalt und Form an Mary Wollestonecraft ([1792] 2004) erinnernd formuliert.44 Im Gegensatz zu Wollstonecraft allerdings, die auf den Gebrauch der Vernunft für Frauen pocht (vgl. Wollstonecraft ([1792] 2004: 83), setzt Arendt diese „Sentimentalität“ in Verbindung mit dem Rationalitätsglauben des 18. Jahrhunderts – sie seien „zwei Seiten der gleichen Sache, die beide gleichwohl in den schwärmerischen Überschwang führen konnten, in dem man sich allen Menschen brüderlich verbunden fühlt“ (Arendt [1968] 1989b: 32).45 Die Emotionalität der Romantik ist demnach die phänomenologisch groteske Mutation, die unge43
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Im Konzept der „Selbstaffektion“ kommt der Gedanke zum Ausdruck, „daß die Empfindung, Wahrnehmung oder Erfahrung der Außenwelt durch die bewußte oder nicht-bewußte geistige oder leibliche Eigentätigkeit des Subjekts (mit)bestimmt wird, [..] daß […] das Subjekt in den äußeren Dingen sich selbst empfindet, wahrnimmt oder erfährt“ (Rehbock 1995). Arendt könnte ihr Konzept der Selbstaffektion partiell der Kant’schen Theorie entlehnt haben, in der die „Selbstaffizierung“ mit der Einbildungskraft verknüpft ist. Demnach ist die Selbstaffizierung ein maßgeblicher Faktor für die Konstitution der Eigenwahrnehmung des Subjekts (vgl. KrV B §24, 153–154; Mudroch 1987: 156). Interessant ist hierbei, dass Kant vor allem auf die Form der Wahrnehmung als Auslöser der Selbstaffizierung abzielt (vgl. Mudroch 1987: 159). Übertragen auf Arendts Theorie fokussiert diese Art der Selbstaffizierung folglich auf das emotionale Erleben. Mary Wollstonecraft ([1792] 2004: 95) schreibt hierzu beispielsweise: „[I]t is not against strong, persevering passions, but romantic wavering feelings that I wish to guard the female heart by exercising the understanding: for these paradisiacal reveries are oftener the effect of idleness than of a lively fancy.“ In dieser expliziten Kritik an Frauen klingen Arendts und Wollstonecrafts Thesen fast austauschbar: „Another instance of that female weakness of character, often produced by confined education, is a romantic twist of the mind, which has been very properly termed sentimental. Women subjected by ignorance to their sensations, and only taught to look for happiness in love, refine on sensual feelings, and adopt metaphysical notions respecting that passion, which lead them shamefully to neglect the duties of life, and frequently in the midst of these sublime refinements they plump into actual vice. […] [S]entiments become events“ (Wollstonecraft [1792] 2004: 228f.). Es gibt weitere deutliche Hinweise darauf, dass Arendt den Dualismus zwischen Emotionalität und Rationalität nicht dogmatisch verfolgt und der Rationalität mit Skepsis begegnet. So schreibt Arendt beispielsweise im Februar 1968 an einen ihrer Studierenden, dass sie „beunruhigt“ („bothered“) sei aufgrund seiner „unexamined acceptance of the well-worn opposition of passion to reason. But, it would be unfair to charge you with this, since it is so deep in the Anglo-Saxon tradition and everything you were taught. This is just to indicate that I don’t believe that the Greeks had the same notion about this whole question as the one taken for granted since the seventeenth and eighteenth centuries“ (vgl. Hannah Arendt Papers, Subject File, Cont. 61).
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wollte Weiterentwicklung des aufklärerischen Appells zur Vernunft (vgl. auch Appiah 2019: 122). Historisch ordnet Arendt diese „radikale[] Subjektivität“ des Gefühlslebens der Geburt des „moderne[n] Individuum[s] [..] mit seinen dauernd wechselnden Stimmungen und Launen“ (Arendt [1958] 2007: 49) zu, die mit der „Ausweitung des Privaten“ keinen öffentlichen Raum bereitstelle, sondern bedeute, „daß das Öffentliche aus dem Leben des Volkes nahezu vollständig geschwunden ist, so daß überall das Entzücken und der Zauber, und nicht Größe oder Bedeutung, vorwalten. Denn bezaubernd gerade kann das Öffentliche […] niemals sein, und zwar eben darum, weil es für das Irrelevante keinen Platz hat“ (Arendt [1958] 2007: 65, meine Hervorhebung). In Über die Revolution hat Arendt diese Kritik am „Zauber“ des „Irrelevanten“ vehement erneuert und gefestigt. Wieder findet sie im Mitleid die Quelle allen Übels – und ihren ideengeschichtlichen Gegner erneut in Jean-Jacques Rousseau: „Was ihn eigentlich interessierte, war nicht das Unglück anderer, sondern waren die Bewegungen des eigenen Herzens, welche unter anderem auch durch den Anblick fremden Leidens erzeugt werden können“ (Arendt [1963] 2011b: 112). In der Essenz ersetzt dieser „Zauber“ des Mitleids schließlich den Dialog mit sich selbst, ergo: das Denken: „Wenn der innere Sinn – Schmerz – zum ‚politischen‘ Prinzip werden soll, wird er zum Mit-leid, das vor allem auch Mit-leiden mit sich selbst ist und in dieser Hinsicht als Mit-fühlen das Mitsich-selbst-Sprechen ersetzen soll“ (Arendt 2003: 523). Arendt bestärkt damit nicht nur ihre Kritik an Rousseau, sondern folgt mit der These von der (Selbst-) Berauschung einer in der Ideengeschichte populären Deutung eines Nebeneffekts von Revolutionsgeschehen: So lässt sich ein solcher Gedanke auch in der Theorie Max Webers finden. Dessen Vortrag Politik als Beruf ([1919] 2018) war unmittelbar von den (vor-)revolutionären Ereignissen zwischen dem Ende des Ersten Weltkrieges und dem Beginn der Weimarer Republik – nach Webers eigenen Worten dem „Karneval, den man mit den [sic!] stolzen Namen einer ‚Revolution‘ schmückt“ (Weber [1919] 2018: 62) – geprägt war: Wenn jetzt in diesen Zeiten einer, wie Sie glauben, nicht ‚sterilen‘ Aufgeregtheit – aber Aufgeregtheit ist eben doch und durchaus nicht immer echte Leidenschaft – wenn da plötzlich die Gesinnungspolitiker massenhaft in das Kraut schießen mit der Parole: ‚Die Welt ist dumm und gemein, nicht ich, die Verantwortung für die Folgen trifft nicht mich, sondern die anderen, in deren Dienst ich arbeite und deren Dummheit oder Gemeinheit ich ausrotten werde‘, so sage ich offen, dass ich zunächst einmal nach dem Maße des inneren Schwergewichts [Hervorhebungen im Original] frage, was hinter dieser Gesinnungsethik steckt, und den Eindruck habe, dass ich es in neun von zehn Fällen mit Windbeuteln zu tun habe, die nicht real fühlen, was sie auf sich nehmen, sondern sich an romantischen Sensationen berauschen [meine Hervorhebungen] (Weber [1919] 2018: 80f.).
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Demnach ist die „eitle Selbstbespiegelung in dem Gefühl der Macht“ (Weber [1919] 2018: 64), die „rein persönliche Selbstberauschung“, die nicht mehr „Dienst an der ‚Sache‘“ ist, „[d]ie Sünde gegen den heiligen Geist seines Berufs [des Politikers, AKW]“ (Weber [1919] 2018: 63). In Arendts Gedanken zur Berauschung an den „erhebenden Gefühlen“ lässt sich aber noch eine zweite Weber’sche These finden. Weber befindet, dass sich einige in „mystische Weltflucht“ begäben, „ihrem eigenen Tun nicht gewachsen gewesen [seien], nicht gewachsen auch der Welt, so wie sie wirklich ist und ihrem Alltag“ (Weber [1919] 2018: 82). Damit hätten sie ihren Beruf (beziehungsweise ihre Berufung) als Politiker verfehlt. Diese „mystische“ Flucht vor einer „Welt, so wie sie wirklich ist“ gleicht der Zuschreibung, die Arendt für die Akteure der Französischen Revolution und deren Fokus auf das Mitleid als Ziel und Mittel im Politischen wählt: Arendt zufolge führen diese Gefühle dazu, dass deren Träger:innen „seltsam unempfindlich für das faktisch Reale“ sind, gar unempfindlich für „die Wirklichkeit von Menschen“ (Arendt [1963] 2011b: 115; vgl. auch [1957] 1981: 65). Sie hebeln die gegebene Realität aus und erzeugen eine emotionale innerliche Scheinrealität, „eine emotionsgeladene Unempfindlichkeit für reale Verhältnisse und die dazu gehörige Verantwortungslosigkeit und Unzuverlässigkeit“, wie Arendt ([1963] 2011b: 115) scharf kritisiert. Damit stiehlt sich das Subjekt nicht nur aus der Verantwortung für das Gemeinwesen – ein Vorgang, den Arendt mit unverhohlener Missachtung straft; das Problem besteht für Arendt auch darin, dass Stimmungen in der Selbstberauschung nur dem Subjekt selbst zugänglich sind. Damit kann die gemeinsame Welt, wie sie dem Subjekt in dieser Stimmungslage erscheint, von anderen nicht gesehen und erlebt werden. Damit entfällt eine zentrale Komponente der pluralen Wirklichkeitserfahrung (vgl. auch Meints 2011: 80). Die Formulierung Arendts, dass emotionale Gefühlzustände gegen die „Wirklichkeit von Menschen“ immun machen, ist in der Tat äußerst bemerkenswert. Andere Menschen trotz und qua der allen Menschen inhärent liegenden Differenz anzuerkennen, ist eine Grundvoraussetzung für Arendts Verständnis eines freiheitlichen Zusammenlebens. Im Innenleben der Menschen hingegen kann diese Differenz bis zur Totalität verneint werden. Demnach ist die Französische Revolution auch wegen der Abkehr von der Realität essenziell gescheitert, die die Berauschung an den kollektiven Mitleidsgefühlen laut Arendt hervorgerufen hat. Statt wahrer politischer Veränderung habe sie nämlich nur „volkserhebende[] Gefühle und patriotische[] Redensarten“ (Arendt [1963] 2011b: 291) erzeugt: In Frankreich lernte man die Öffentlichkeit in einer Vorform der Massenversammlung kennen, in dem unvergleichlichen Schwung und den erhebenden Gefühlen,
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‚die der stürmische Applaus einer patriotisch ergriffenen Menge‘ erzeugt, welche dann wohl einem eigentlich politischen Geschäft jene einzigartige ‚Faszination und Leuchtkraft‘ zu verleihen vermag, die doch den Augenblick nicht überdauern (Arendt [1963] 2011b: 154).
Das Problematische hieran ist, dass auch dieser „Zauber“ einer wahren politischen (Inter-) Aktion zwischen Gleichen entgegensteht und hierarchisiertes Füreinanderhandeln begünstigt. Die „erhebenden Gefühle“ von Altruismus können zwar durchaus eine Scheinrealität erzeugen – in dieser erscheint aber nur die Repräsentation der Gefühle im Subjekt des Mitleids, nicht aber die Wirklichkeit selbst. Arendt widerspricht daher deutlich der moralischen Idee, wonach es vor allem und grundlegend darauf ankäme, dass man ein guter Mensch sein müsse, um die Welt zu ändern, wie Arendt ([1968] 1989a: 274f.) in ihrem Aufsatz über Bertolt Brecht schreibt, in dem sie ebenfalls kurz, aber deutlich, auf die Gefahren des Mitleids eingeht. Der „Zauber“ des Gutseins, mit dem man sich leicht selbst affiziere, ist demnach nicht politisch irrelevant, sondern auch auf fundamentale Weise gefährlich für Arendts Konzeption des Politischen.
2.1.4 Die „politischen Leidenschaften“ und Alternativen zum Mitleid Im scharfen Kontrast zu all diesem durch das Mitleid als Ziel und Mittel verursachten „Unglück“ der Französischen Revolution positioniert Arendt das „Glück“ des amerikanischen Pendants. Arendts Darstellung gemäß hatten die amerikanischen Revolutionäre nicht mit einem „sozialen“ Problem wie in Frankreich zu kämpfen. Grund dafür war laut Arendt, dass es in den vorrevolutionären amerikanischen Kolonien keine derartige Verelendung wie in Europa gegeben habe – und dass die Armut, die sowohl auf dem europäischen als auch auf dem amerikanischen Kontinent vorzufinden gewesen sei, in der Amerikanischen Revolution als ein politisches, nicht aber als ein soziales Problem begriffen worden sei (vgl. Arendt [1963] 2011b: 85f.). Die amerikanischen Revolutionäre konnten demnach in Freiheit von der öffentlichen (emotionalisierten) Meinung für eine politische Freiheit eintreten, für „einen neuen politischen Körper […] und eine neue Staatsform“ (Arendt [1963] 2011b: 28). An ihren früheren Lehrer Karl Jaspers schrieb Arendt hierzu bereits 1958: „Es ist atemberaubend spannend und großartig, nämlich die amerikanische Revolution, die Gründung der Republik, die Verfassung. Madison, Hamilton, Jefferson, John Adams“ (Arendt/Jaspers 1985: 393). Für dieses „atemberaubend Spannende“ verwendet Arendt ebenfalls den Begriff des „Zaubers“ (Arendt [1963] 2011b: 40) – der, im Gegensatz zu demjenigen der Französischen Revolution, allerdings ein wahrhaft politischer gewe68
sen sei: Er habe sich in der politischen Betätigung gebildet und seine Wirkmächtigkeit im Verfolg des „öffentlichen Glück[s]“ (Arendt [1963] 2011b: 170) und der politischen Freiheit sowie ohne jegliches Mitleid entfaltet. In den Passagen über dieses „Glück“ als Teilnahme an den öffentlichen Angelegenheiten offenbart sich ein markantes und gleichsam paradox anmutendes Element der Arendt’schen ‚Emotionstheorie‘: Arendt spricht trotz ihrer vehementen Warnung vor der Emotionalisierung des öffentlich-politischen Raums wirklich leidenschaftlich (vgl. auch Bourgault 2018: 226) und in einer Art feierlicher Ergriffenheit über eine bestimmte Form von Leidenschaftlichkeit, nämlich über die wahrhaft „politischen Leidenschaften“ (Arendt [1963] 2011b: 355). Für Arendt sind dies „der Mut, das Streben nach öffentlichem Glück, der Geschmack an öffentlicher Freiheit, das Streben nach Auszeichnung“ (ebd.). Das Pathos der Amerikanischen Revolution
In ihrem Revolutionsbuch proklamiert Arendt, dass Revolutionen stets von einem „ungeheure[n] Pathos des neu angebrochenen Zeitalters“ (Arendt [1963] 2011b: 50) begleitet worden seien und dass nur die spezifische Verknüpfung dieses Pathos mit Freiheitsvorstellungen eine Revolution definiere (Arendt [1963] 2011b: 41, 276). Hierin ist ein starkes normatives Plädoyer für nicht-sentimentale „politische Leidenschaften“ (Arendt [1963] 2011b: 355) enthalten, die Menschen im Hinblick auf politisches Handeln empfinden sollten. Eine solche Leidenschaftlichkeit hat Arendts Interpretation der Amerikanischen Revolution maßgeblich geprägt. Die amerikanischen Revolutionäre seien „in das Getriebe der öffentlichen Angelegenheiten geraten, in welchem sie wissentlich und unwissentlich, auf jeden Fall aber wider Erwarten, den Erscheinungsraum konstituierten, in dem allein die Freiheit ihren ‚Zauber‘ entfalten und zu einer sichtbaren, greifbaren Realität werden kann“ (Arendt [1963] 2011b: 39f.). Hier kontrastiert und verbindet Arendt im gleichen Atemzug ein quasi ‚magisches‘ Freiheitserlebnis mit einer ‚mechanisierten‘ Betätigung im politischen Raum – stellt den Enthusiasmus und den Einsatz der amerikanischen Revolutionäre dem „Getriebe“ gegenüber, das unaufhörlich weiterläuft und zuverlässigen Einsatz erfordert. Für Arendt ist dieser „Zauber“ schließlich auch zu einer Realität geworden. Damit konstruiert sie folglich auch einen fundamentalen Gegensatz zu der Art von „Zauber“, der als sentimentale Selbstaffizierung zum antipolitischen Charakter und zum proto-totalitären Potenzial des Mitleids in der Französischen Revolution beigetragen habe. Geschichte, so führt Arendt weiter aus, könne nur „von denen geschrieben [werden], die im Licht sind“ (Arendt [1968] 1989a: 276); es sei das „Unglück“ der Armut, „daß das Leben keine Folgen in der Welt hat, keine Spur in ihr hin69
terläßt, daß es von dem Licht der Öffentlichkeit ausgeschlossen ist, in dem allein das Ausgezeichnete und Außerordentliche aufleuchten kann“ (Arendt [1963] 2011b: 86). Für eben dieses „Licht“ der Öffentlichkeit, für das Sichauszeichnen und für das Schreiben von Geschichte, hätten sich die Männer der Amerikanischen Revolution entschieden. Arendt bezieht sich hierbei auf die griechische Vorstellung der eudaimonia im Sinne einer freudvollen Beschäftigung mit beziehungsweise der „unmittelbaren Anteilnahme“ (Arendt [1963] 2011b: 152) an öffentlichen Angelegenheiten.46 Die amerikanischen Revolutionäre, die „große Herren“ (Arendt [1963] 2011b: 175) gewesen seien und die sich durch „überlegene Einsicht“ (Arendt [1963] 2011b: 120) auszeichneten, hätten sich gegen die Durchsetzung ihrer Privatinteressen und für das Öffentliche entschieden, „und zwar aus Liebe zu dieser Welt und nicht aus ‚Idealismus‘“ (Arendt [1963] 2011b: 175; vgl. kritisch hierzu u. a. Jörke 2016: 212; King 2015: 131). Dabei umschreibt diese Perspektive keine universale Menschenliebe, sondern ein leidenschaftliches Verantwortungsgefühl für das Gemeinwohl, ein Sichkümmern um die gemeinsamen Angelegenheiten. Demnach besteht das politische Handeln nicht in einem ungehemmten Ausleben von Machthunger, sondern schlägt sich „in der Ausübung legitimer Macht“ (Arendt [1963] 2011b: 163) nieder. Dieses „öffentliche Glück“ beschreibt ein Zufriedenheitsgefühl damit, bürgerschaftlich gehandelt zu haben, und das „unabhängig von Amt, Würden und gesellschaftlicher Stellung, ja sogar von Erfolg und Ruhm“ (Arendt [1963] 2011b: 355). Diese Bestimmung steht allerdings in einem gewissen Spannungsverhältnis zu Arendts agonaler Vorstellung von Politik als Wettbewerb – einer Vorstellung, die sich in ihrer These widerspiegelt, dass diese Zufriedenheit (auch) darin besteht, sich öffentlich unter anderen auszuzeichnen (vgl. Arendt [1963] 2011b: 152f.). Auch wenn Robespierre ([1794] 1971: 589) in seiner Rede vor dem Nationalkonvent ebenfalls eine generelle Leidenschaftlichkeit für öffentliche Angelegenheiten beschwor, existiert für Arendt ein mehr als deutlicher Unterschied zwischen der Leidenschaftlichkeit für das Politische in der Amerikanischen und der Emotionalität des Mitleids in der Französischen Revolution: „Was 46
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Laut Barbara Holland-Cunz ist diese Arendt’sche Emphase durchaus bemerkenswert: „Dass Politische Theorien sich eines derart pathetischen Begriffs annehmen, sollte ausdrücklich vermerkt werden. Außer in der Ideengeschichte des utopischen Denkens spielen Glücksvorstellungen in der Politischen Theorie kaum eine Rolle, sie setzen sich gar dem Verdacht aus, banal, unkritisch, ideologisch oder irrelevant zu sein. In ernsthafter wissenschaftlicher Analyse oder Theorie darf Glück kein Thema sein, will sich die schreibende Person nicht der Ignoranz oder Lächerlichkeit preisgeben“ (Holland-Cunz 2012: 138; vgl. auch 132f.).
in Frankreich offenbar nicht mehr als eine ‚Passion‘ oder ein ‚Geschmack‘ war, war in Amerika eine wirkliche Erfahrung“ (Arendt [1963] 2011b: 152), schreibt Arendt. Hieran zeigt sich, dass eine reine leidenschaftliche Ergriffenheit für Arendt nicht ausreicht, um sich für ein „öffentliches Glück“ zu qualifizieren: Erst die reale Erfahrung dieser mit staatsmännischen Leidenschaften verknüpften Beschäftigung mit den öffentlichen Angelegenheiten charakterisiert laut Arendt ein solches Glücksempfinden. Das, was Gudrun van Tevenar (2014: 44) treffend als Arendts „passion for political performance” betitelt hat, erinnert erneut deutlich an die Weber’sche Theorie zur Leidenschaftlichkeit in der Politik (im Gegensatz zur formalen Leidenschaftslosigkeit in der staatlichen Bürokratie, vgl. auch Sauer 2007: 172f.). Die folgende Einschätzung Max Webers passt fast nahtlos auf Arendts Beschreibung der handlungsleitenden Prinzipien der amerikanischen Revolutionäre: Man kann sagen, daß drei Qualitäten vornehmlich entscheidend sind für den Politiker: Leidenschaft – Verantwortungsgefühl – Augenmaß. Leidenschaft im Sinne von Sachlichkeit: leidenschaftliche Hingabe an eine ‚Sache‘, an den Gott oder Dämon, der ihr Gebieter ist. […] Denn mit der bloßen, als noch so echt empfundenen Leidenschaft ist es freilich nicht getan. Sie macht nicht zum Politiker, wenn sie nicht, als Dienst in einer ‚Sache‘, auch die Verantwortlichkeit gegenüber ebendieser Sache zum entscheidenden Leitstern des Handelns macht (Weber [1919] 2018: 62).
Diese Vision des leidenschaftlichen Diensts für die Sache spiegelt sich in Arendts Beschreibung der Ziele der amerikanischen Revolutionäre immer wieder explizit und implizit wider – genauso wie Webers These, dass Politik zwar „mit dem Kopfe gemacht“ werde, dass aber die ehrliche „Hingabe“ an sie, „wenn sie nicht ein frivoles intellektuelles Spiel, sondern menschlich echtes Handeln sein soll, nur aus Leidenschaft geboren und gespeist werden“ (Weber [1919] 2018: 62f.) könne. Diese Leidenschaft allerdings, so betont Weber, müsse der Politiker bändigen und gegen die (eigene und fremde) „Aufgeregtheit“ verteidigen – mit der nötigen Distanz des Politikers „zu den Dingen und Menschen“ (Weber [1919] 2018: 62). Ein ähnlich konzipiertes normatives Distanzverhältnis ist in der Arendt’schen Politiktheorie zu finden. Darin ist der Zwischenraum zwischen den Menschen unbedingt zu bewahren und vor allem auch gegen Bestrebungen zu schützen, den politischen Raum mithilfe von Emotionalität zu zerstören. Mehr noch als Weber bemüht Arendt selbst ein deutliches sprachliches Pathos, wenn sie über die Leidenschaft für die Politik spricht. So hat Arendt das Zusammenhandeln, das für den Verfolg des „öffentlichen Glücks“ maßgeblich sei, in einem Rundfunkinterview mit Joachim Fest als „ausgespro71
chenes Lustgefühl“ (Arendt/Fest 2011: 39) charakterisiert und an anderer Stelle das „öffentliche Glück“ als Quelle persönlicher „innerer Befriedigung“ (Arendt [1963] 2011b: 152) angepriesen. Der Verfolg des „öffentlichen Glücks“ dient demnach nicht nur dazu, die (staatsbürgerliche) Pflicht zu erfüllen, sondern um ein Gefühl von „Freude“ für „die Debatten, die Beratungen und die Beschlußfassungen“ (ebd.) zu empfinden. Dieser Zustand ist für Arendt unmittelbar mit der Erfahrung von politischer Freiheit verknüpft (vgl. Arendt [1963] 2011b: 178) – eine Freiheit, wie es sie laut Arendts Definition ausschließlich im öffentlichen Raum geben kann (vgl. Arendt [1963] 2011b: 152, 173). Die Teilhabe an politischen Entscheidungen ist für Arendt damit eben keine Pflichterfüllung der Wenigen, um den Vielen eine konkurrierende (neuzeitliche) Freiheitsvorstellung als Freiheit von der Politik zu ermöglichen (vgl. u. a. Arendt 2007b: 67f.; [1963] 2011b: 174), sondern eine Freiheit durch und gleichzeitig für die Politik. Es sind die Erfahrungen von kollektiver Selbstbestimmung, von Selbstregierung und von politischer (Gestaltungs-) Macht, die Arendt hier beschwört. Sie finden Einlass in die von Arendt konzipierte Trias politischen Handelns: „öffentliche Freiheit, öffentliches Glück, öffentlicher Geist“ (Arendt [1963] 2011b: 284, 286).47 Diese Art eines leidenschaftlichen Bedürfnisses, im öffentlichen Raum zu erscheinen und sich für das Politische zu engagieren, ist trotz der Tatsache, dass sich Arendt nicht als uneingeschränkte Befürworterin des aufklärerischen Rationalitätsglaubens positionierte (vgl. Kap. 2.1.3), in die Vorstellung eines kontrollierbaren Bereiches der individuellen Vernunft eingebettet. Diese ist zudem klar männlich konnotiert: „[W]as für Männer“, schwärmt Arendt mit Bezug auf die amerikanischen Revolutionäre in einem Brief an Jaspers (Arendt/Jaspers 1985: 393) und unterstützt damit indirekt eine Maskulinisierung des öffentlichen Raumes (vgl. u. a. Butler 2018: 76). Ihre Vision „politischer Leidenschaften“, die sie mit viel eigener Leidenschaftlichkeit beschwört, 47
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Trotz der Tatsache, dass die Amerikanische Revolution letztlich an der Etablierung dieser Trias in dauerhaften Institutionen gescheitert sei (vgl. u. a. Arendt [1963] 2011b: 85), ist Arendt der Meinung, dass sich zumindest die Erfahrungen von Freiheit und Glück in der Amerikanischen Revolution in die nachfolgende Geschichte der Vereinigten Staaten fortgeschrieben hätten: „[D]ie revolutionären Vorstellungen von öffentlichem Glück und politischer Freiheit sind ein unabdingbarer Teil der Struktur des republikanischen Gemeinwesens geworden und geblieben, und als solche sind sie aus dem Bewußtsein amerikanischer Politik niemals ganz verschwunden“ (Arendt [1963] 2011b: 178). Von dieser Annahme sind viele von Arendts Schriften geprägt, die dieses republikanische Pathos weiter zelebrieren – auch wenn Arendt gleichzeitig ihren Missmut zum einen über die Verfehlungen der Politik in den 1950er und 1960er Jahren und zum anderen über den Zustand der US-amerikanischen Massengesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg geäußert hat (vgl. hierzu vor allem die Essays, die in In der Gegenwart [2000] abgedruckt sind).
ist trotz entgegengesetzter Beteuerungen intellektualisiert; vor allem aber ist sie konzeptionell entemotionalisiert. Hier stellt sich die Frage, inwiefern sich dieses Gefühl – im Erleben dieses Gefühlszustands, nicht im Ergebnis – von dem Gefühl des „Zaubers“ derjenigen unterscheidet, die statt von der Leidenschaften für das Politische von der Leidenschaft des Mitleids ergriffen sind. Zudem kann auch dieses Lustgefühl der politischen Leidenschaften durchaus zu einem Selbstzweck werden, der das Wohl der öffentlichen Angelegenheiten zu einer reinen Mittelkategorie degenerieren ließe. Außerdem ist die Konzeption dieser „politischen Leidenschaften“ hochgradig individualisiert, auch wenn sie sich auf die öffentlichen Angelegenheiten richtet. Solidarität und politische Freundschaft
Für die kollektive Ebene hat Arendt zwei konzeptionelle Gegenentwürfe zum Mitleid vorgelegt: eine explizite, die Solidarität, und eine implizite, die politische Freundschaft – allerdings, so ist gleich einschränkend zu bemerken, umfassen Arendts Ausführungen zur Solidarität in Über die Revolution gerade einmal knappe anderthalb Textseiten, diejenigen zur politischen Freundschaft, die sich in einigen Absätzen verschiedener Werke finden lassen, sind ebenfalls nicht substanzieller ausgestaltet. Damit sind diese von Arendt präsentierten Alternativen zum Mitleid nur bedingt als solche zu erschließen. Die Solidarität ist laut Arendt zunächst eines der politischen Prinzipien, „die das Handeln inspirieren und lenken“ (Arendt [1963] 2011b: 113). Die Solidarität fühle „sich nicht wie das Mitleid ‚zu den Schwachen hingezogen‘ […], sondern [sinnt] in abwägender Freiheit von Gefühl wie Leidenschaft darauf […], eine von dem Wechsel der Stimmungen und Empfindungen unabhängige, dauerhafte Interessensgemeinschaft mit den Unterdrückten und Ausgebeuteten zu etablieren“ (Arendt [1963] 2011b: 112). Demnach basiert die Solidarität eben nicht auf einer Gruppenzugehörigkeit aufgrund persönlicher Eigenschaften, sondern alleinig qua politischer Positionen. Die Solidarität könne sich zwar als Gefühlserlebnis äußern, sei jedoch phänomenologisch gesehen „der Vernunft teilhaftig“ und könne daher „die Idee der Menschheit, wie die Vernunft sie uns vorgibt“ (Arendt [1963] 2011b: 113), erfassen. Da Arendt die Solidarität als politisches Prinzip definiert, besitzt diese eine intersubjektive Dimension, die es ihr erlaubt, im öffentlichen Raum besprochen zu werden (vgl. Muldoon 2016: 124). Allerdings scheint Arendt nicht nur die Vernunft und die intersubjektive Deliberationsmöglichkeit der Solidarität zu begeistern: Verglichen mit dem Mitleid, das in seinem eigenen Gefühl schwelgt, aber auch mit dem Mit-Leiden, das leidenschaftlich seiner selbst vergißt, wird diese an Ideen
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orientierte und von der Vernunft geleitete Solidarität leicht als kalt und abstrakt erscheinen, als fehle es ihr an allgemeiner Menschenliebe. Dafür ist das, worauf sie sich gründet: die Prinzipien der Größe, der Ehre, der Würde des Menschen, erheblich dauerhafter als Gefühl und Leidenschaft (Arendt [1963] 2011b: 113).
Mit diesem Bezug auf die „Würde des Menschen“ verstärkt Arendt noch einmal ihre Kritik am politisierten Mitleid, wobei Arendt in Rahel Varnhagen durchaus eine, wenn auch „krankhafte“, Verbindung zwischen dem „wirklichen“ Mitleid und einem „instinktiven Begreifen“ (Arendt [1957] 1981: 199) der Menschenwürde zieht, das sie den Parias der Gesellschaft zuschreibt (vgl. hierzu auch Kap. 2.3). Arendt bedient mit der Zuordnung der Solidarität als vernunftgeleitet eine tatsächlich sehr deutliche Kontrastierung zwischen Emotionalität/Leidenschaftlichkeit und der Vernunft (vgl. u. a. Arendt [1963] 2011b: 101, 121), bei der das Mitleid in „Rebellion gegen die Vernunft“ (Arendt [1963] 2011b: 101) trete und daher ganz klar als der „demagogisch gefährlichste Konkurrent der Solidarität“ (Arendt [1963] 2011b: 113) fungiere. Der Vernunftcharakter der Solidarität begründet sich für Arendt darauf, dass die Solidarität sich nicht (nur) – wie die Leidenschaft (vgl. Arendt [1963] 2011b: 108) – auf den Partikularfall bezieht, sondern auf die allgemeine Ebene abstrahieren und ein Kollektiv um- und erfassen kann (vgl. Arendt [1963] 2011b: 113). Diese Voraussetzung macht laut Arendt ein ausgewogenes und möglichst viele (divergierende) Perspektiven berücksichtigendes politisches Urteil überhaupt erst möglich. Das Prinzip der Solidarität, so schreibt Arendt, hat den Status des Mitleidens erst dann überwunden, wenn es „die Starken und Reichen ebenso miteinbezieht wie die Armen und Schlechtweggekommenen“ (ebd.). Diese Bestimmung ist bemerkenswert, nicht nur für das Handeln aus Mitleid, sondern auch für die Solidarität: Sie verbietet eine uneingeschränkte beziehungsweise einseitige Solidarität mit einer Gruppe von Menschen, deren Schicksal das (individuelle oder kollektive) solidarische Subjekt bewegt. Hier priorisiert Arendt die politische Verantwortung ganz klar vor persönlicher Betroffenheit. Indem sie diese allgemeine Position betont, die die Solidarität bei der Berücksichtigung dieses Schicksals einnehmen muss, impliziert Arendt auch eine deutlich vergrößerte Distanz des Subjekts zum Objekt der Solidarität. Nur aus der Entfernung kann die Solidarität gemäß Arendts Definition wirksam werden – auch wenn sie durchaus durch den „Anblick fremder Not“ (ebd.), ergo aufgrund einer mitleidigen Gefühlsregung, erweckt werden könne.48
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Dan Degerman (2019: 167f.) zufolge ist aus den Thesen Arendts zu schließen, dass das Mitleid als Leidenschaft nicht automatisch mit dem Mitleid als (Massen-)Stimmung
Noch aus einem anderen Grund präferiert Arendt das politische Prinzip der Solidarität klar gegenüber dem Mitleid: Letzteres führe dazu, dass das Leiden „glorifiziert“ und damit potenziell fortgeschrieben würde: „[O]hne Unglück gäbe es kein Mitleid“ (ebd.); das Mitleid sei daher daran interessiert, dass es Unglückliche gebe. Dies ist ein wirklich vernichtendes Argument gegen das Mitleid als politische Emotion. Denn die Legitimation einer wie auch immer ausgestalteten politischen Mitleidsagenda würde sich gemäß dieser Perspektive tatsächlich rein aus sich selbst heraus generieren; das Mitleid geriete demnach zum Selbstzweck, dem eine Vorstellung von politischem Handeln als ergebnisoffenem Prozess diametral entgegenstünde. Für Arendt liegt diese Zweckimmanenz des Mitleids aber nicht nur in der Maßgabe begründet, Leiden zu lindern und in diesem Zuge dafür zu sorgen, dass es immer Leiden gibt, das es zu lindern gilt, sondern auch darin, vom Erleben berauschender (vermeintlich) altruistischer Gefühlszustände abhängig zu sein. Diesem eklatanten Legitimationsdefizit des Mitleids stellt Arendt konzeptionell die Solidarität gegenüber – ohne jedoch auszuführen, warum die Solidarität nicht auch zum Selbstzweck missbraucht werden könnte. Darüber hinaus bleibt Arendt letztlich die genaue Unterscheidung zwischen einem politischen Prinzip wie der Solidarität und einer Leidenschaft oder einem Gefühl schuldig (und vermischt an dieser Stelle auch die eigenen Begrifflichkeiten; so beschreibt sie den „Zauber des Mitleidens“ auch als „allgemein[en] menschliche[n] Solidarisierungsakt“ (Arendt [1963] 2011b: 102; vgl. kritisch hierzu auch Mohrmann 2015: 47f.). Arendt bietet aber noch eine weitere Alternativ zum Mitleid an, die sie allerdings, im Gegensatz zur Solidarität, nicht explizit in ihrem Revolutionsbuch, sondern in anderen Publikationen punktuell erwähnt: die politische Freundschaft (vgl. Nixon 2015; Gutschker 2002: 475).49 In ihrer Lessing-Rede ([1968] 1989b), in der Vorlesung „Philosophy and Politics“ (Arendt [1954] 1990) sowie in Vita Activa ([1958] 2007) sind affirmative Überlegungen Arendts zu den Freundschaftskonzeptionen von Aristoteles und Lessing
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verknüpft sei, sondern genauso gut dem politischen Prinzip der Solidarität dienlich sein könne. Diese beiden Optionen stehen für Degerman in einem gleichwertigen Möglichkeitsverhältnis, das ich allerdings mit Blick auf die entsprechenden Passagen Arendts in Über die Revolution nicht gänzlich überzeugend finde. Assaf Sharon (2018: 108ff.) hat hierbei eine Lesart vorgeschlagen, wonach Arendt das Konzept der Solidarität als politische Freundschaft angedacht haben könnte – dass Arendts Thesen zur Solidarität mit denen über die politische Freundschaft derart eng verknüpft sind, dass es sich möglicherweise um mindestens verwandte Phänomene handeln könnte. Auch wenn diese Interpretation interessant und originell ist, wird meines Erachtens weder aus Arendts Thesen zur Solidarität noch derjenigen zur politischen Freundschaft eine derart enge und systematische Verbindung der beiden Mitleidsalternativen ersichtlich.
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zu finden. Seyla Benhabib (1996: 20) hat außerdem dargelegt, dass eine protopolitische Freundschaftskonzeption bereits in Arendts biografischer Schrift über Rahel Varnhagen ([1957] 1981) und den mit ihr verknüpften gesellschaftlichen Salons der Romantik angelegt ist. Für Arendt ist die politische Freundschaft eine Möglichkeit, eine Art von Bindung zwischen Menschen auf Augenhöhe zu kreieren – allerdings ohne intime Nähe und Weltverlust (vgl. u. a. Arendt [1958] 2007: 310). Demnach überlebt die Freundschaft, wenn sie in die Öffentlichkeit getragen werde, im Gegensatz zur Liebe (vgl. Arendt [1958] 2007: 64) und zur „wahrhaften“ Leidenschaft des Mitleidens. Daher kann die Freundschaft für Arendt auch als „eminent republikanische Tugend“ (Arendt 2003: 12) fungieren und „politische Relevanz“ (Arendt [1968] 1989b: 40) entfalten. Die politische Freundschaft, wie sie Arendt nach Lessing skizziert, manifestiere sich im „Gespräch“, weil dies Gespräch (im Unterschied zu den Gesprächen der Intimität, in welchen individuelle Seelen über sich selbst sprechen), so sehr es von der Freude an der Anwesenheit des Freundes durchdrungen sein mag, der gemeinsamen Welt gilt, die in einem ganz präzisen Sinne unmenschlich bleibt, wenn sie nicht dauernd von Menschen besprochen wird. Denn menschlich ist die Welt […], wenn sie Gegenstand des Gesprächs geworden ist (Arendt [1968] 1989b: 41; meine Hervorhebung).
In dieser deliberativen und dezidiert antiken Vorstellung von Freundschaft wird die gemeinsame menschliche Welt bestätigt und damit die Verbindung zwischen den Menschen in all ihrer Vielfalt. Sie reicht nach Arendts Deutung bei Lessing über alle Grenzen der Verschiedenheit hinweg: „Keine Einsicht in das Wesen des Islam oder das Wesen des Judentums oder das Wesen des Christentums hätte ihn [Lessing, AKW] davon abhalten können, sich mit einem überzeugten Mohammedaner oder einem frommen Juden oder einem gläubigen Christen in eine Freundschaft und das Gespräch der Freundschaft einzulassen“ (Arendt [1968] 1989b: 46f.). Entscheidend sei hierfür, dass man bereit sei, die Welt mit anderen zu teilen. Dieser Vorgang der „Humanität“ (Arendt [1968] 1989b: 42), die sich in der politischen Freundschaft manifestiere, ist für Arendt allerdings von Distanz geprägt (vgl. Arendt [1968] 1989b: 47f.; Disch 1995: 304) – sie ist eben nicht „schwärmerisch“, sondern „nüchtern und kühl“ (Arendt [1968] 1989b: 42). Auch hier erneuert Arendt also wieder ihre Kritik an Sentimentalität und „erhebenden Gefühlen“. Auch das spezifische Pathos der Freundschaft ist für Arendt nur in einer sehr abstrakten, verrationalisierten Vision leidenschaftlich: Sie ist leidenschaftlich im Inhalt, aber nicht in der Form. Große Leuchtkraft gewinnt eine solche Vorstellung, die Arendt leider nicht weiter ausgeführt hat, insbesondere auch für die Herausforderungen unserer 76
Zeit: Mit dem Imperativ, miteinander zu sprechen, zu streiten, aber immer zu versuchen, das „Unmenschliche noch zu vermenschlichen“ (Arendt [1968] 1989b: 47), und dabei doch die Distanzen zu wahren, hat Arendt ein klares Plädoyer für das gemeinsame Aushandeln und Aushalten divergierender Meinungen, Glaubenssätze und Lebensentwürfe vorgelegt. So schwer dieses Aushandeln und Aushalten auch sein möge, führe daran kein Weg vorbei, erläutert Arendt mit Lessing, wenn die Welt zwischen den Menschen nicht zugrunde gehen solle. Ein solcher Dialog mit denjenigen, die ich trotz ihrer Verschiedenheit zu meinen Freund:innen erwähle, die mich erwählen, hat Arendt in Rekurs auf Sokrates in bewegender Weise wie folgt beschrieben: The assumption was that the world opens up differently to every man, according to his position in it; and that the ‚sameness‘ of the world, its commonness (koinon, as the Greeks would say, common to all) or ‚objectivity‘ (as we would say from the subjective viewpoint of modern philosophy) resides in the fact that the same world opens up to everyone and that despite all differences between men and their positions in the world – and consequently their doxai (opinions) – ‚both you and I are human‘ (Arendt [1954] 1990: 80).
Der politische Dialog unter Freund:innen bestätigt demnach nicht nur die gemeinsame Menschlichkeit, sondern auch die Maxime des Perspektivwechsels (vgl. hierzu Kap. 2.2 und 4.4). Die Welt eröffnet sich jedem Menschen auf unterschiedliche Art und Weise – das bedeutet, dass ich im Gespräch über diese verschiedenen Welten erfahre und sie mir vorstellen kann. Der Vorgang des freundschaftlichen Gesprächs und Streits, des „talking something through“ (Arendt [1954] 1990: 81), ermöglicht das politische Urteil, das sich aus dem Gespräch mit der anderen als anderer ergibt: „The political element in friendship is that in the truthful dialogue each of the friends can understand the truth inherent in the other’s opinion. […] This kind of understanding – seeing the world (as we rather tritely say today) from the other fellow’s point of view – is the political kind of insight par excellence“ (Arendt [1954] 1990: 83).50 In ihrer Charakterstudie über Adolf Eichmann, einen der Hauptorgani50
Mit ihrer Konzeption der politischen Freundschaft nähert sich Arendt durch Rekurs auf die Antike dem Grundgedanken der Politischen Theorie Martha Nussbaums an, wonach nur das individuell-motivationale Miteinander eine politische Verbindung zwischen Menschen als Gleiche (in all ihrer Verschiedenheit) erschafft, die niemals durch Stadtoder Landesgrenzen oder Gesetze alleine erreicht würde (vgl. Arendt [1954] 1990: 82f.). Martha Nussbaum selbst hat die Idee einer politischen Freundschaft aber nur am Rande gestreift. Diese zeichne sich durch den Gedanken an ein gemeinsames Schicksal sowie die Bildung einer Gruppe mit einem gemeinsamen Ziel aus (vgl. Nussbaum 2013: 345).
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satoren des Holocaust, wird Arendt diese essenzielle Fähigkeit zum Perspektivwechsel – „seeing the world from the other fellow’s point of view“ – ins Zentrum ihrer Politischen Theorie stellen, und zwar als eine Maxime menschlichen Handelns „in finsteren Zeiten“ (diese Wendung entlehnt sie Brechts Gedicht „An die Nachgeborenen“, vgl. Arendt [1968] 1989b: 26).
2.2 Die Maxime der „erweiterten Denkungsart“: Lektionen aus dem Eichmann-Fall Fast zeitgleich mit Über die Revolution erscheint im Jahr 1963 eine weitere Publikation Hannah Arendts. Auch hierzu korrespondiert die Politische Theoretikerin wieder mit ihrer Freundin Mary McCarthy: „Du [bist] der einzige Leser [sic!] […], der verstanden hat, was ich sonst noch nie zugegeben habe – nämlich, daß ich dies Buch in einem merkwürdigen Zustand der Euphorie schrieb. Und daß ich mich seitdem in der ganzen Angelegenheit – nach zwanzig Jahren – unbeschwert fühle. Erzähle es niemandem; denn ist das nicht der eindeutige Beweis, daß ich keine ‚Seele‘ habe?“ (Arendt/McCarthy 1995: 260). Bei „diesem Buch“ handelt es sich um das vielleicht berühmteste, sicher aber um das kontroverseste Werk Hannah Arendts, nämlich um ihren Bericht über den Eichmann-Prozess. Arendt nahm im Jahr 1961 an der Gerichtsverhandlung gegen den in Jerusalem angeklagten SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann teil, der den Holocaust maßgeblich mitorganisiert hatte; aus ihren Prozessbeobachtungen und der Lektüre der Prozessakten veröffentlichte Arendt einen fünfteiligen Bericht im Magazin The New Yorker, der kurz darauf in Buchform erschien. Gleichzeitig wird deutlich, wie reserviert Nussbaum an eine solche Vision herantritt – sie verweist auf die Tatsache, dass eine solche „bürgerliche Freundschaft“ oftmals auf der Wahrnehmung eines externen Feindes oder einer gemeinsamen Unterdrückungserfahrung beruhe (vgl. Nussbaum 2013: 346). Daher kommt sie zu dem wenig aussagekräftigen Schluss: „[O]ne would like to have some strategies for civic friendship that do not depend on the existence of George III or the British Raj, much less Hitler and Hirohito“ (ebd.). Allerdings ist diese inhaltliche Seichtigkeit, die Nussbaum hier erkennen lässt, sowie ein gewisser Unwille, sich näher mit einer (antiken) Konzeption von politischer Freundschaft zu beschäftigen, verständlich: Nussbaum benötigt eine derartige Konzeption nicht, da sie die Verbindungen, die Arendt aus einer politischen Freundschaft generiert, bereits in ihrer umfassenden Vision einer öffentlichen Mitgefühlskultur angelegt hat. Bürgerliche Freundschaft kann als Basis für Mitgefühl wirken (vgl. Nussbaum 2013: 369); diese Freundschaft ist allerdings – wie bei Arendt auch – ein deutlich emotionsentleertes Konzept (vgl. Nussbaum 2013: 44) und daher für Nussbaum offenkundig nur bedingt von Interesse.
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Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen ([1963] 2011a) hat unmittelbar nach seiner Veröffentlichung für unzählige, vor allem emotionale Reaktionen gesorgt. Neben Arendts streitbaren Thesen zur Kollaboration der Judenräte mit den Nationalsozialisten, über „die Fügsamkeit der jüdischen Behörden, die Fügsamkeit der Opfer“ (Arendt [1963] 2011a: 206), lässt sich das Interesse an Eichmann in Jerusalem vor allem anhand der Faszination erklären, die Arendts Kernthese über die Beschaffenheit des Eichmann’schen Charakters bis heute hervorruft: Auf Arendt hatte Eichmann den Eindruck eines ganz durchschnittlichen, „typischen Kleinbürgers“ (Arendt [1963] 2011a: 106) gemacht: „Trotz der Bemühungen des Staatsanwalts konnte jeder sehen, daß dieser Mann kein ‚Ungeheuer‘ war, aber es war in der Tat sehr schwierig, sich des Verdachts zu erwehren, daß man es mit einem Hanswurst51 zu tun hatte“, notierte Arendt ([1963] 2011a: 132) hierzu. Mit dieser markanten Formulierung versuchte Arendt bewusst gegen die Mythologisierung Eichmanns anzukämpfen – denn man habe ihm „beim besten Willen keine teuflisch-dämonische Tiefe abgewinnen“ (Arendt [1963] 2011a: 57) können. Arendts Deutung des Wesens und der realen Motive Eichmanns gilt zwar als fehlerhaft und überholt52 – allerdings ist und bleibt ihre Charakterstudie als Interpretation äußerst aufschlussreich für übergeordnete politiktheoretische Fragen nach den Potenzialen und Gefahren von Mitleid sowie zur Relevanz des Perspektivwechsels im Politischen. Diese Erkenntnis nimmt ihren Anfang in Arendts berühmten Thesen zum ‚Bösen‘, das Eichmann in den Augen vieler verkörperte: Eine Dämonisierung Eichmanns macht es, Arendt zufolge, viel zu leicht, sich von eigener Schuld 51
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Zunächst sollte in der deutschen Version des Buches der Begriff des „Monsters“ verwenden werden; Arendt ersetzte ihn jedoch in einer Korrekturversion mit dem Begriff des „Ungeheuers“. Ebenso korrigierte Arendt den Begriff des „Clowns” zu „Hanswurst“ (vgl. Hannah Arendt Papers, Speeches and Writings File, Cont. 65). Diese Akzentverschiebung ist insofern bemerkenswert, da der Begriff des „Hanswurst“ spöttischer ist und Lächerlichkeit stärker insinuiert als der Begriff des „Clowns“. Arendt hat ihr „Charakterbild“ von Eichmann demnach kurz vor der Drucklegung noch einmal deutlich zugespitzt. In den Augen Arendts war Eichmann ein Angeklagter, ein Schreibtischtäter, der ungeheure Taten befehligt hatte, aber nicht die Personifizierung des Bösen. Damit sei Arendt, schreibt die Historikerin Bettina Stangneth, der „selbstherrlich-arroganten Inszenierung“ (Stangneth 2011: 45) des „grauenhafte[n] Prahlhans“ (Stangneth 2011: 86) Adolf Eichmann gefolgt. Entgegen Arendts Einschätzung, dass bei Eichmann zumindest nicht vordergründig Vorurteile in Form einer geschlossenen Ideologie – dem Antisemitismus – zu beobachten gewesen seien (vgl. u. a. Arendt/McCarthy 1995: 234), befindet Stangneth, dass Eichmann sehr wohl ein „überzeugte[r] Antisemit“ (Stangneth 2011: 295) gewesen sei. Stangneth begründet Arendts Fehlurteil vor allem mit dem eingeschränkten Quellenmaterial, das Arendt zum Prozess zur Verfügung gestanden und das vor allem Eichmanns Selbstdarstellung enthalten habe (vgl. Stangneth 2011: 21).
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freizusprechen (vgl. Arendt/Fest 2011: 40); vor allem aber zeichne sich das Böse durch „Banalität“ aus. Mit dieser polarisierenden Wendung rahmte Arendt die Vorstellung davon, was Menschen dazu verleitet, moralisch ‚böse‘ zu handeln (oder moralisch ‚gute‘ Taten zu unterlassen): „Das Böse, davon war Arendt überzeugt, ist nur dann zu überwinden, wenn wir uns klarmachen, daß es uns in winzigen Schritten überwältigt“ (Neiman 2004: 439). Eine von Arendts zentralen Thesen besagt, dass das unermesslich Böse, das sich in den 1930er und 1940er Jahren in einer noch nie zuvor dagewesenen Größenordnung zeigte, eben nicht das Resultat von absoluter Bösartigkeit war: „We were here not concerned with wickedness […] but with evil; not with sin and the great villains who became the negative heroes in literature and usually acted out of envy and resentment, but with the non-wicked everybody who has no special motives and for this reason is capable of infinite evil“ (Arendt 1971: 445). In ihrem Denktagebuch notiert Arendt, dass diese Art von Bösartigkeit nichts mit „Psychologischem – Macbeth“ oder „Charakterologischem – Richard III., der beschloss, ein Bösewicht zu werden“ (Arendt 2003: 18) zu tun gehabt habe. Arendt betont zwar, dass ihre Studie nicht dazu angelegt sei, eine eventuelle „Natur des Bösen“ zu beschreiben, sondern einzig den Charakter Eichmanns und den Prozess zu beurteilen (vgl. Arendt [1963] 2011a: 54, 57). Trotzdem können aus Eichmann in Jerusalem generalisierbare Lektionen abgeleitet werden, über das „Banale“ des abgrundtief Bösen als Mangel an Vorstellungskraft – und, im Umkehrschluss, über die politische Wirkmächtigkeit des Perspektivwechsels.
2.2.1 Eichmanns „absoluter Mangel an Vorstellungskraft“ Adolf Eichmann war in leitender Funktion für die Enteignung, Vertreibung und Deportation der Jüdinnen und Juden aus Deutschland und den besetzten Gebieten verantwortlich. Die gigantische Größenordnung seiner bösen Taten steht, Arendt zufolge, in einem eklatanten Missverhältnis zur Persönlichkeit des Täters, der keine „particularity of wickedness, pathology, or ideological conviction“ aufgewiesen habe, sondern dessen einziges hervorstechendes Merkmal „perhaps extraordinary shallowness“ (Arendt 1971: 417) gewesen sei. Diese ungewöhnliche charakterliche Flachheit basiert für Arendt vor allem auf einem weiteren Negativbefund des Charakters Adolf Eichmanns, nämlich auf dem Mangel an kognitiven Grundvoraussetzungen für den gedanklichen Tiefgang, den ein politisches Urteil, insbesondere über Fragen von Gut und Böse, verlangt. In einem Brief an den Publizisten Joachim Fest schreibt Arendt, Eichmann habe sich durch einen „Unwillen“ ausgezeichnet, „sich je vorzustellen, was eigentlich mit dem anderen ist“ (Arendt/Fest 2011: 44). Damit meinte Arendt aber nicht ein eklatantes Fehlen an Einfüh80
lungskraft – in Eichmann in Jerusalem notiert sie: „Je länger man ihm [Eichmann, AKW] zuhörte, desto klarer wurde einem, daß diese Unfähigkeit, sich auszudrücken, aufs engste mit einer Unfähigkeit zu denken [Hervorhebung im Original] verknüpft war. Das heißt hier [meine Hervorhebung], er war nicht imstande, vom Gesichtspunkt eines anderen Menschen aus sich irgend etwas vorzustellen“ (Arendt [1963] 2011a: 126). Demnach liegt der Schwerpunkt von Arendts Beschäftigung mit Fragen zu Gut und Böse in ihrem EichmannBuch nicht unmittelbar auf der Ermangelung eines generellen Denkprozesses, sondern auf ihrer Interpretation der Unfähigkeit Adolf Eichmanns, gedankliche Perspektivwechsel zu vollziehen.53 Eichmann habe nicht nur nicht gedacht, er habe gar nicht denken können, weil er sich wirksam gegen den Einsatz der Vorstellungskraft abgegrenzt habe, und damit gegen die Möglichkeit, überhaupt mit anderen in Kontakt zu treten, sie zu ihm durchdringen zu lassen: „Verständigung mit Eichmann war unmöglich, nicht weil er log, sondern weil ihn der denkbar zuverlässigste Schutzwall gegen die Worte und gegen die Gegenwart anderer, und daher gegen die Wirklichkeit selbst umgab: absoluter Mangel an Vorstellungskraft“ (Arendt [1963] 2011a: 126). Dieser Mangel ist nach dem von Arendt gezeichneten Bild eine Monumentalvorstellung, etwas, das nicht überwunden oder durchdrungen werden kann (zumal in seiner „denkbar zuverlässigsten“ Ausprägung). Diese hermetische Abschirmvorrichtung leistet ihren Dienst demnach umfassend: Das gesprochene Wort und die Erscheinung anderer Menschen als sprachlicher und verkörperter Ausdruck von Pluralität können nicht mehr zu demjenigen durchdringen, der den Schutzwall errichtete; vor allem aber schirmt dieser Mangel an Vorstellungskraft gegen die Realität selbst ab. Arendt verbindet dieses (welt-)vernichtende Urteil damit nicht nur mit der individuellen „Banalität des Bösen“, sondern auch mit kollektiven Gefahren für den politischen Raum. Welche fatalen Konsequenzen sich aus dem Mangel an Vorstellungskraft ergeben, hat Arendt eindrucksvoll anhand der Person Eichmanns illustriert: Zunächst befindet sie, dass Eichmann „[a]ußer einer ganz ungewöhnlichen Beflissenheit, alles zu tun, was seinem Fortkommen dienlich sein konnte“, keine Motive für sein Handeln gehabt habe;
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Ich fokussiere auch deswegen auf Eichmann in Jerusalem, weil es viel eher der Politischen Theorie zuzuordnen ist als Arendts deutlich philosophischeres Spätwerk Vom Leben des Geistes ([1977, 1978] 2008), das postum erschienen ist: der erste Teil über das Denken 1977, der zweite Teil über das Wollen 1978. Darin hat Arendt ihr Erkenntnisinteresse stärker auf die Denktätigkeit an sich verschoben; die „erweiterte Denkungsart“ spielt keine zentrale Rolle mehr.
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[e]r hat sich nur, um in der Alltagssprache zu bleiben, niemals vorgestellt, was er eigentlich anstellte. Es war genau das gleiche mangelnde Vorstellungsvermögen, das es ihm ermöglichte, viele Monate hindurch einem deutschen Juden im Polizeiverhör gegenüberzusitzen, ihm sein Herz auszuschütten und ihm wieder und wieder zu erklären, wie es kam, daß er es in der SS nur bis zum Obersturmbannführer gebracht hat und daß es nicht an ihm gelegen habe, daß er nicht vorankam (Arendt [1963] 2011a: 56f.).
Anhand dieser Zeilen schreibt Arendt ihre Empörung nieder – darüber, dass sich derjenige, der Millionen Jüdinnen und Juden per Waggonladungen in den Tod befördern ließ, über derartige Nichtigkeiten ausließ und gar nicht imstande gewesen war, zu erfassen, in welchem Spannungsverhältnis sich seine Schilderungen zu der Person befand, die ihm im Verhör gegenübersaß. Arendt zitiert weitere Episoden, die Eichmann in besagtem Polizeiverhör in Israel zu Protokoll gegeben hatte, darunter eine, in der Eichmann im Vernichtungslager Auschwitz auf Berthold Storfer trifft, der Schiffstransporte von Jüdinnen und Juden nach Palästina organisiert hatte: „‚Ich fuhr nach Auschwitz und sage – besuchte, suchte Höß auf – und sagte: Hier sitzt Storfer ein […] Dann ist er geholt worden. Storfer, ja, dann war es ein normales menschliches Treffen gewesen. Er hat mir sein Leid geklagt. Ich habe gesagt: ‚Ja, mein lieber guter Storfer, was haben wir denn da für ein Pech gehabt?‘“ (Arendt [1963] 2011a: 128). Diese Szene offenbart im Kontext von Arendts Eichmann-Interpretation keine Verlogenheit – Arendt illustriert hieran ihre These, dass Eichmann nicht nur unfähig gewesen sei, sich das Schicksal der Millionen Menschen vorzustellen, die er mit seiner Arbeit systematisch in den Tod beförderte, sondern ganz und gar unfähig, sich überhaupt jemals in die Position eines anderen, zumal eines ihm bekannten, Menschen hineinzudenken. In einem weiteren Beispiel beschrieb Eichmann laut Arendt seine „‚Reagenz‘“ auf die Lubliner Holzbaracken, in denen Jüdinnen und Juden mit den Abgasen eines sowjetischen U-Boot-Motors ermordet wurden: „‚Das war für mich auch ungeheuerlich. Ich bin keine so robuste Natur, die, sagen wir mal, ohne irgendwelche Reagenz irgend etwas über sich in dieser Art … ergehen lassen kann. […] Ich weiß es auch jetzt noch, wie ich mir darunter sofort die Sache bildlich darstellte, und daß ich irgendwie auch unsicher in meinem Gehabe wurde‘“ (Arendt [1963] 2011a: 173). Das Beispiel zeigt, dass Eichmann nach Arendts Interpretation durchaus in der Lage war, sich grundsätzlich etwas vorzustellen. Die bildliche Darstellung der „Sache“, also der Vergasung, das Sichtbarmachen des Möglichen – das sind Beweise dafür, dass sich Arendts Diagnose von Eichmanns „Mangel an Vorstellungskraft“ nicht eigentlich auf das gänzliche Fehlen dieser Vorstellungskraft bezieht, sondern vor allem auf das Versagen, sie in den Dienst des Perspektivwechsels mit 82
anderen zu stellen.54 Dies ist die Quintessenz ihrer Thesen über Eichmanns „Charakterbild“ – aber nicht nur über ihn. Im Briefwechsel mit Joachim Fest schreibt Arendt: Ernst Jünger ist während des Krieges zu pommerischen oder mecklenburgischen […] Bauern gekommen (die Geschichte steht in den Strahlungen), und der Bauer hatte russische Kriegsgefangene unmittelbar aus den Lägern bekommen, natürlich völlig verhungert […]. Und er sagt zu Jünger: ‚Na, dass das Untermenschen sind – und […] wie’s Vieh! Das kann man ja sehen: Sie fressen den Schweinen das Futter weg.‘ […] Der Mann sieht nicht, dass das Menschen tun, die eben verhungert sind, nicht wahr, und jeder tut es (Arendt/Fest 2011: 43).
„Der Mann sieht nicht“ – damit hebt Arendt erneut das Fehlen eines Perspektivwechsels hervor. Demnach erkannte der besagte Bauer nicht, dass die Gefangenen das Schweinefutter nicht deshalb aßen, weil sie „Untermenschen“ waren, sondern schlicht, weil sie Hunger litten. Auch dieser Deutsche war in Arendts Augen unfähig, mithilfe der Imagination die Situation anderer zu erfassen. In einer anderen Episode aus einem ostpreußischen Flüchtlingslager im Jahr 1945 berichtet Arendt von einer Frau, die einem Arzt ihre Krampfadern gezeigt habe, „an denen sie seit Jahren litt, die sie aber jetzt, wo sie Zeit habe, endlich behandelt haben wollte“ (Arendt [1963] 2011a: 201). Die Frau habe auf die Frage des Arztes, wohin sie von dem Lager aus ziehen wolle, geantwortet: „‚Das weiß ich nicht, nur daß sie alle ins Reich kommen sollen‘“, und hinzugefügt: „‚Unterm Ruß läßt uns der Führer nicht fallen, da vergast er uns lieber.‘“ Beißend zynisch kommentiert Arendt diese Episode: Sie „kommt einem wie die meisten wahren Geschichten unvollständig vor. Da fehlte eine Stimme – möglichst eine weibliche –, die tief aufseufzend geantwortet hätte: Und nun haben sie doch all das gute teure Gas an die Juden verschwendet!“ (ebd., meine Hervorhebung). Diese Textstelle offenbart eine unverhohlene Negierung weiblicher Urteils- und Vorstellungskraft sowie eine negative weibliche Charakterstereotypisierung, die sich in doppelter Hinsicht diametral gegenüber Weiblichkeit und Emotionalität positioniert.55 Sie ist gleichsam 54
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Annette Vowinckel überzeugt Arendts Interpretation an dieser Stelle nicht: „Das Problem war [..] weniger, daß Eichmann sich nicht vorstellen konnte, was er tat, als daß er von der Notwendigkeit der Morde, die er organisierte, so überzeugt war, daß er nie auf die Idee kam, er müsse sich dem, was er angeblich selbst so grausam fand, entgegenstellen“ (Vowinckel 2001: 234). Hieran wird erneut eine Argumentation ersichtlich, die an die Theorie Mary Wollstonecrafts erinnert: Eines von vielen Beispielen der harschen Kritik Wollstonecrafts am Verhalten von Frauen – die sie allerdings gleichranging mit einer systemischen Kritik am Pat-
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gutes Beispiel und bedenkliches Zeugnis für die Wirksamkeit eines „misogyne[n] Bias“ (Holland-Cunz 2012: 112) auch bei den klügsten Denkerinnen. Was bedeutet nun aber der von Arendt diagnostizierte „Mangel an Vorstellungskraft“ beziehungsweise der Mangel, diese Vorstellungskraft in den Dienst eines intersubjektiven Perspektivwechsels zu stellen, für das Politische? Mit ihren Beispielen sucht Arendt klar zu belegen, dass die Unfähigkeit, sich die Lage eines anderen vorzustellen, unmittelbar mit demjenigen Phänomen verknüpft ist, das Arendt die „Banalität des Bösen“ genannt hat – eine „Banalität“, die furchtbare Konsequenzen mit sich gebracht hat, nämlich die geschäftsmäßige Vernichtung Millionen von Menschen, deren Perspektive man nicht einnehmen konnte oder wollte. Die „Unfähigkeit, jemals eine Sache vom Gesichtspunkt des anderen her zu sehen“, schirmt sich somit gegen die Realität und die Pluralität der Menschen ab, mehr noch, sie vernichtet diese Realität aktiv, wenn sie einem totalitären Zwecke dient. Dass dieser „Mangel an Vorstellungskraft“ derart folgenschwer sein kann, ist für Arendt auf die Tatsache zurückzuführen, dass die Vorstellungskraft in ihrer Politischen Theorie mit zentralen Aspekten des menschlichen und politischen Zusammenlebens verknüpft ist. Bereits 1952 notierte Arendt in ihrem Denktagebuch (2003: 191) einige Zeilen aus dem autobiografischen Gedicht „The Prelude“ des britischen Denkers – und, nota bene, Vordenkers der englischen Romantik – William Wordsworth. „‚… Imagination, which, in truth, Is but another name for absolute power And clearest insight, amplitude of mind, And Reason in her most exalted mood.‘“
Die „absolute Macht“, die „klarste Erkenntnis“, die „Fülle des Geistes“, die „Vernunft in ihrer überschwänglichsten Stimmung“ – das Pathos zur Vorstellungskraft, das Arendt hier zitiert, erstreckt sich auch und gerade auf das politische Wirkpotenzial der Vorstellungskraft. Denn der Wert der Vorstellungskraft, die
riarchat vorbringt – lautet wie folgt: „Women are supposed to possess more sensibility, and even humanity, than men, and their strong attachments and instantaneous emotions of compassion are given as proofs; but the clinging affection of ignorance has seldom any thing noble in it, and may mostly be resolved into selfishness, as well as the affection of children and brutes“ (Wollstonecraft [1792] 2004: 235). Eine solche Abwertung ist mindestens in abgeschwächter Version auch im Subtext der Arendt’schen Theorien zu finden, der punktuell, wie in diesem Kommentar Arendts, an die Textoberfläche gelangt (vgl. zu Arendts systematischer Ausklammerung von Gender-Aspekten generell v. a. die zeitlosen Analysen von Dietz 1995; O’Brien 1981; Pitkin 1998; Rich 1979: 203ff.).
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Arendt in ihren späteren Werken und an Kants Terminologie angelehnt synonym auch als „Einbildungskraft“ bezeichnet, besteht darin, dass die Vorstellungskraft als basale Fähigkeit „das Band zwischen den Menschen“ (Arendt 2003: 570) bildet, also menschliche Verbindungen erst aufbaut. Mithilfe der Vorstellungskraft ist zudem die Verbindung mit „der lebendigen Erfahrung“ (Arendt [1977, 1978] 2008: 92) gegeben – sprich, mittels dieser Fähigkeit ist der Mensch mit der Welt verbunden. Vor allem aber bereitet dieses Vermögen in Arendts Politischer Theorie die Grundlage für das menschliche Denken und Urteilen überhaupt vor: „Ohne sie [die Vorstellungskraft, AKW], die Abwesendes in entsinnlichter Form vergegenwärtigt, wären überhaupt keine Denkvorgänge und Gedankengänge möglich“ (Arendt [1977, 1978] 2008: 90f.). Die Vorstellungskraft, die als basale Fähigkeit dem Denken vorgeschaltet ist (vgl. auch Assy 2008: 120f.), schafft dabei „Distanz zu dem, was zu nah ist, und sie rückt Dinge in die Nähe, die zu fern sind“, schreibt Waltraud Meints (2011: 223) und verweist damit auf einen für die Arendt’sche Theorie absolut zentralen Impetus, den für sie notwendigen Zwischenraum zwischen Menschen zu erhalten.
2.2.2 Die „erweiterte Denkungsart“ und das politische Urteil Die Vorstellungskraft im Sinne eines Perspektivwechsels intersubjektiv nutzbar zu machen, ist eine Kernthese der Arendt’schen Theorie, die sich spätestens seit ihrer Beobachtung des Eichmann-Prozesses durch ihre Werke zieht. Dieser Perspektivwechsel, so hält Arendt normativ fest, solle sich aber nicht im Singular vollziehen, sondern das Individuum mit einem Kollektiv verbinden, und zwar indem sich das Individuum die Perspektiven möglichst vieler anderer vor Augen führt und deren Schicksale in einem anschließenden (politischen) Urteil berücksichtigt. Damit, so sind Arendts Thesen hierzu zu verstehen, existiert ein, wenn nicht sogar das wirkmächtigste Werkzeug, die schlimmsten Auswüchse des „banalen“ Bösen im Großen wie im Kleinen zu verhindern. „Erweiterte Denkungsart“ versus Empathie
Einen derart umfassenden Perspektivwechsel nennt Arendt „erweiterte Denkungsart“. 1961 – also im Jahr der Prozessbeobachtung – hat Arendt diese Fähigkeit in ihrem Aufsatz „The Crisis in Culture“ (1961b) erstmals ausführlicher skizziert und im Anschluss an ihren Eichmann-Report substanziell weiterentwickelt, vor allem in ihrem Aufsatz „Thinking and Moral Considerations“ (1971) sowie ihren Vorlesungen über Kants Politische Philosophie, die im Deutschen als Das Urteilen ([1982] 2012]) postum herausgegeben wurden. Die „erweiterte Denkungsart“ zeichnet sich laut Arendt dadurch aus, „daß man seine Einbildungskraft lehrt, Besuche zu machen“ (Arendt [1982] 85
2012: 68). Nach dieser an Kant angelehnten Vorstellung abstrahiert der denkende Mensch von der eigenen Position und vergegenwärtigt sich mögliche Positionen von anderen (vgl. Arendt [1982] 2012: 69; vgl. für Kant KdU §40, 294). Es handelt sich hierbei um eine Veranschaulichung der Perspektiven möglichst vieler anderer vor dem geistigen Auge. Zweck dieses Prozesses ist es, die gemeinsame Welt zu erhalten und zu schützen. Denn: „Eine gemeinsame Welt verschwindet, wenn sie nur noch unter einem Aspekt gesehen wird; sie existiert überhaupt nur in der Vielfalt ihrer Perspektiven“ (Arendt [1958] 2007: 73). Die „erweiterte Denkungsart“ ist eine Tätigkeit, die auf dem Vermögen der Imagination und des Denkens beruht, die die menschliche Pluralität anerkennt und die größtmögliche Abstraktion zum Ziel hat, auf deren Grundlage das Subjekt dieser Fähigkeit schließlich ein idealtypisches (politisches) Urteil fällen kann. Gemäß den Thesen Kants, denen Arendt folgt, ist das Primat der „erweiterten Denkungsart“ dann erfüllt, „wenn er [der Mensch, AKW] sich über die subjektiven Privatbedingungen des Urteils […] wegsetzen kann und aus einem allgemeinen Standpunkt (den er dadurch nur bestimmen kann, daß er sich in den Standpunkt anderer versetzt) über sein eigenes Urteil reflektiert“ (KdU §40, 295). Auch für Arendt ist die „erweiterte Denkungsart“ eine konstante Übung, die ihre Perfektion in der größtmöglichen Ausweitung des Perspektivwechsels und der Konstanz ihrer Anwendung findet: „Je mehr solcher Standorte ich in meinen eigenen Überlegungen in Rechnung stellen kann und je besser ich mir vorstellen kann, was ich denken und fühlen würde, wenn ich an der Stelle derer wäre, die dort stehen, desto besser ausgebildet ist dieses Vermögen […] und desto qualifizierter wird schließlich das Ergebnis meiner Überlegungen, meine Meinung sein“ (Arendt [1967] 1987: 61f.). Traditionsgemäß sei die Ausdehnung der „erweiterten Denkungsart“ bis hin zu den nationalstaatlichen Grenzen angestrebt worden; in Zeiten der Globalisierung sei aber eine deutlich umfassendere Ausdehnung vonnöten, wie Arendt im Jahr 1968 in einem Skript zu ihrer Vorlesung „Political Experience in the Twentieth Century“ notiert: The enlarged mentality has its limitations, and these limitations, politically speaking, used to coincide roughly with the national boundaries. In foreign politics these had always to be transcended. Today we must transcend them even further. If it is true that when someone coughs in Japan, somebody in this country is likely to catch cold, we need an enormous enlargement of our ‚enlarged mentality‘, ie. of being able to think in other people’s places, to be able to imagine, make present to ourselves, their circumstances.56
56
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Vgl. Hannah Arendt Papers, Subject File, Cont. 58.; meine Hervorhebung.
Eine solche Ausdehnung bedeutet aber im Umkehrschluss nicht, die identifikatorische Distanz zu denjenigen, deren Perspektive man laut Arendt einnimmt, zu schmälern: Der Fokus der „erweiterten Denkungsart“ liegt weiterhin auf der Einzigartigkeit des Subjekts, das sich vorstellt, wie es sich in der Situation anderer fühlen oder was es denken würde – und nicht darin, wie sich diese anderen tatsächlich fühlen oder was sie tatsächlich denken: Es gelte, „ohne die eigene Identität aufzugeben, einen Standort in der Welt einzunehmen, der nicht der meinige ist“ (Arendt [1967] 1987: 61). Das Subjekt bleibt, trotz der Befreiung von den eigenen Interessen, ganz bei sich: „We do not exactly leave ourselves behind; rather, we position ourselves differently in order to do justice to the presence of others, not in away that assumes identity, but in a way that gives voice to difference“, fasst Susan Bickford (1995: 321) diesen Vorgang zusammen. Das Subjekt der „erweiterten Denkungsart“ gerät dabei nicht in die Gefahr, den eigenen Reflexions- und Handlungsspielraum durch passives Übernehmen der Emotionen und Gedanken anderer zu verlieren – ein Punkt, der für Arendt dahingehend relevant ist, dass er die Handlungsfähigkeit des Individuums garantiert. „Dieser Vergegenwärtigungsprozeß akzeptiert nicht blind bestimmte, mir bekannte, von anderen vertretene Ansichten. Es handelt sich hier weder um Einfühlung noch darum, mit Hilfe der Vorstellungskraft irgendeine Majorität zu ermitteln und sich ihr dann anzuschließen“ (Arendt [1967] 1987: 61). Genau diese Distanz der „erweiterte Denkungsart“ ist so wichtig für das sich anschließende Urteil. Arendt begründet dies wie folgt: Um eine (politische) Meinung zu bilden, die ein ausgewogenes (politisches) Urteil ermöglicht, bedarf es eines „eindeutig ‚unnatürlichen‘ und bewußten Rückzug[s] vom Engagement und der Parteilichkeit des unmittelbaren Interesses [..], wie es durch meine Stellung in der Welt und meine Rolle in ihr gegeben ist“ (Arendt [1977, 1978] 2008: 82). Dieser Rückzug von der Parteilichkeit bedeutet dann, ein Urteil nicht aufgrund der eigenen Vorlieben, Identität(skonstuktion) oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe zu fällen. Dabei sei, so notiert Arendt, das Urteil des Zuschauers „zwar unparteiisch und frei vom Interesse an Gewinn oder Ruhm, aber es ist nicht unabhängig von den Ansichten anderer – im Gegenteil, diese muß nach Kant eine ‚umfassendere Denkungsart‘ berücksichtigen. Die Zuschauer sind zwar von der Partikularität des Akteurs distanziert, aber sie sind nicht allein“ (Arendt [1977, 1978] 2008: 99). Mit diesem erweiterten Blickwinkel aktualisiert Arendt auch die menschliche Pluralität: „[T]his enlarged way of thinking, […] it needs the presence of others ‚in whose place‘ it must think“ (Arendt 1961b: 220; vgl. auch Benhabib 1996: 189). Linda Zerilli (2016: 29) betont dabei den Zusammenhang zwischen Pluralität und Wirklichkeit der Mitwelt, die sich aus Arendts Konzeption der „erweiterten Denkungsart“ ergebe. Das erweiterte Denken ist dem87
nach der Garant dafür, dass ein Mensch zumindest ein Stück der Realität der Welt erfährt – eine Realität, die sich überhaupt erst aus der Pluralität der vorgestellten Perspektiven ergibt: [N]o one can adequately grasp the objective world in its full reality all on his own, because the world always shows and reveals itself to him from only one perspective, which corresponds to his standpoint in the world and is determined by it. If someone wants to see and experience the world as it ‚really‘ is, he can do so only by understanding it as something that is shared by many people, lies between them, separates and links them, showing itself differently to each and comprehensible only to the extent that many people can talk about it and exchange their opinions and perspectives with one another, over against one another (Arendt 2005a: 128).
Die Welt, die zwischen den Menschen liegt, sie voneinander trennt und miteinander verbindet, wie Arendt hier notiert, offenbart sich jedem Menschen anders. Es ist diese Andersartigkeit, die der mit einer „erweiterten Denkungsart“ denkende Mensch wahrnehmen, respektieren und für seine eigene Realität berücksichtigen muss. „Kritisches Denken [i.e. die „erweiterte Denkungsart“, AKW] spielt sich nach wie vor in der Einsamkeit ab; doch durch die Einbildungskraft macht es die anderen gegenwärtig und bewegt sich damit in einem Raum, der potenziell öffentlich, nach allen Seiten offen ist“ (Arendt [1982] 2012: 68). Die Offenheit der Vorstellungskraft sichert die menschliche Pluralität auch in der Isolation des Denkens nicht nur ab, sondern befördert sie im Rahmen des Gemeinsinns auch aktiv. Damit wird zudem ermöglicht, „daß sich alle auf etwas Gemeinsames beziehen, auch wenn sie aus verschiedenen Perspektiven wahrnehmen“, notiert Thomas Gutschker (2002: 138): „Perspektivität ist somit keine Einbuße an Wirklichkeit, sondern ihre Voraussetzung in einer pluralen Welt.“ Entscheidend hierfür ist, dass die „erweiterte Denkungsart“ mitteilbar ist (vgl. Arendt [1982] 2012: 114) – das heißt, das Subjekt kann sich im Ausüben dieser Tätigkeit sprechend im öffentlichen Raum bewegen und somit auch politischen Dialog gewährleisten. Die „Allgemeinheit“, die in der „erweiterten Denkungsart“ angestrebt wird, ist für Arendt „eng verbunden mit dem Besonderen, mit den besonderen Bedingungen der Standpunkte, durch die man sich hindurcharbeiten muß, um zu dem eigenen ‚allgemeinen Standpunkt‘ zu gelangen“ (Arendt [1982] 2012: 69). Bethania Assy (2008: 121) weist allerdings darauf hin, dass dabei Konflikte oder Divergenzen bestehen blieben; das Subjekt der „erweiterten Denkungsart“ weiß in dieser Konzeption, dass auch die Standpunkte anderer „blinde Flecken“ (Zerilli 2016: 39) enthielten – was natürlich eine entrückte, idealtypische Konstruktion eines Perspektivwechsels darstellt, die mit der Realität wohl meist wenig gemein hat. 88
Eine ähnliche Problematik spiegelt sich auch in der Tatsache wider, dass die zuvor beschriebene Ausdehnungsmaxime der „erweiterten Denkungsart“ an einer entscheidenden Stelle begrenzt wird: Die Vorstellung der verschiedenen Perspektiven innerhalb der „erweiterten Denkungsart“ und ein darauf basierendes Urteil beschränken sich laut Arendt auf die Perspektiven all jener, mit denen ich eine Übereinkunft finden muss (vgl. Arendt 1961b: 220) – also folglich allen, die im öffentlichen Raum präsent sind („all those who happen to be present“, Arendt 1961b: 221). Dieses Kriterium schließt im Umkehrschluss diejenigen aus, die nicht Teil der Erscheinungswelt des öffentlichen Raumes sind (vgl. ebd.). Der Denkende muss also die Interessen, Erfahrungen und Haltungen derjenigen, die sich im privaten Raum aufhalten, nicht mitdenken; er darf aber auch nicht über diejenigen urteilen, die nicht erscheinen. Analog zu ihrer These, wonach Politik nur mit anderen statt für andere gemacht werden kann, ist auch ihre These zum Urteilen konzipiert – das Subjekt kann nur über diejenigen urteilen, die tatsächlich anwesend sind und die an dem Urteil teilhaben, es anfechten und revidieren können. Deswegen bestimmt sie hier den Aufenthaltsort der Objekte des Urteils im öffentlichen Raum. Nur dann nämlich können diese selbst auch zu Subjekten werden und durch Handeln und Urteilen Geschichte schreiben (vgl. Arendt [1968] 1989a: 276). Diese strikte Limitierung könnte zwar ein Zugeständnis an die praktische Schwierigkeit sein, wie sich die Perspektive gänzlich unbekannter Personen überhaupt vergegenwärtigen ließe; wohl eher soll sie aber sowohl die Sphäre der Politik vor Vermutungen und Phantasmen als auch diejenigen selbst schützen, die nicht Teil der Öffentlichkeit sind – nämlich vor übergriffigen Urteilen angesichts einer Vorstellung, die nicht durch ihr Erscheinen in der Öffentlichkeit verifiziert werden kann. Angesichts der weitverbreiteten menschlichen Unart, Urteile über Menschen zu fällen, deren Perspektive man nicht kennen kann, weil sie einem aufgrund äußerer Umstände verborgen ist, erscheint diese Schutzfunktion tatsächlich bis zu einem gewissen Grad normativ sinnvoll; allerdings mutet sie mit Blick auf die menschliche Realität dennoch befremdlich an. Letztlich könnte sie Arendts eigenes Diktum vom Wert der Pluralität ad absurdum führen (vgl. auch von Tevenar 2014: 46). Auch in ihren Thesen zur „erweiterten Denkungsart“ und dem Urteilen schreibt Arendt somit die strikte Trennung zwischen dem öffentlichen und dem privaten Raum fort. Das hat insbesondere aus feministischer Sicht fatale Konsequenzen, denn die Perspektiven und Erfahrungen derjenigen, die momentan oder dauerhaft nicht am öffentlichen Leben partizipieren (können) – Menschen (Frauen), die Care-Arbeit leisten, Menschen mit schweren körperlichen oder kognitiven Beeinträchtigungen, ältere Menschen – werden folglich weiter aus der öffentlichen Debatte ausgegrenzt. So ist auch bei bester Intention, dem Schutz des Nicht-Anwesenden vor 89
Projektion, wenig bis kein Fortschritt hin zu mehr (Teilhabe-)Gerechtigkeit möglich; die Freiheit bleibt für alle diese Personen beschnitten. Umso erstaunlicher ist es, dass Arendts Thesen zur „erweiterten Denkungsart“ innerhalb der feministischen Theorie dazu herangezogen werden, um Analysen intersektionaler auszurichten (vgl. kritisch hierzu auch Zerilli 2016: 181; Kruks 2018). Diese gewisse abstrakt-sterile und partiell anti-feministische Distanz, die Arendts Thesen über die „erweiterte Denkungsart“ prägt, ist maßgeblich mit ihrer allgemeinen Konzeption des Denkvorgangs verbunden: Dieser ist für Arendt nur in der Abwesenheit von Emotionen, Gefühlen und Leidenschaften möglich. Alle geistigen Tätigkeiten seien „von einer gewissen Stille der Leidenschaften der Seele abhängig“ (Arendt [1977, 1978] 2008: 76), schreibt Arendt. Darin lässt sie erneut den großen Einfluss von Kant erkennen, der zur „erweiterten Denkungsart“ notierte, dass man „Materie, d.i. Empfindung [..], soviel wie möglich wegläßt und lediglich auf die formalen Eigentümlichkeiten seiner Vorstellung oder seines Vorstellungszustandes achthat“ (KdU §40, 294). Arendt allerdings gesteht – analog ihrer Ausführungen über die Leidenschaften als Movens politischen Handelns (vgl. Kap. 2.1.4) – indirekt zu, dass Leidenschaften als Anlässe und Gegenstände des Denkens und Urteilens durchaus auftreten könnten, denn sie entstünden „durch mein Leben in dieser Welt“ (Arendt [1977, 1978] 2008: 76). Und doch seien die geistigen Tätigkeiten weder durch sie erzwungen noch durch sie bedingt (vgl. ebd.). An sich ist der Denkvorgang für Arendt kein Mittel zum Zweck, sondern Selbstzweck (vgl. Arendt [1977, 1978] 2008: 72). Insofern ist er eine „reine Tätigkeit“ (Arendt [1969] 1989: 176). Politisch ist dieses „natürliche Bedürfnis menschlichen Lebens“ (Arendt 1971: 445) nicht unmittelbar relevant, weil das Denken in Abgeschiedenheit, in einer Unterbrechung des Alltags und aller anderen Tätigkeiten stattfindet (vgl. Arendt 1971: 423) und somit einen radikalen – allerdings, und das ist wichtig, ausschließlich momentanen – Rückzugs von der Welt erfordert (vgl. Arendt [1977, 1978] 2008: 97). Mit diesem Rückzug erlischt laut Arendt jedoch nicht unser Platz in der Welt (damit positioniert sich Arendt entschieden als Gegnerin der „Zwei-Welten-Theorie“; vgl. u. a. Arendt [1977, 1978] 2008: 32). Mittelbar ist das Denken trotzdem in dreifacher Hinsicht für das Politische relevant: Erstens bereitet der Denkvorgang als innerer Dialog mit sich selbst (vgl. u. a. Arendt [1977, 1978] 2008: 184) den Weg für eine Offenheit für die Welt, in der nicht das eine Subjekt lebt, sondern viele Subjekte in Pluralität (vgl. auch Assy 2008: 65). Damit verbunden ist auch die Übung, die Welt dialogisch zu beleuchten, also nicht nur aus einem Standpunkt heraus, sondern aus mehreren – das, was letztlich die „erweiterte Denkungsart“ ausmacht. Hierbei handelt es sich in Arendts naturgewaltlicher Bildsprache auch um einen „Wind“, allerdings nicht um den „Sturmwind“ der Revolution (vgl. Kap. 2.1.2), sondern 90
um einen sanfteren Wind des Denkens, der gleichwohl aufweckt und die Vorbedingungen für politisches Handeln schafft: „[I]f the wind of thinking, which I shall now arouse in you, has roused you from your sleep and made you fully awake and alive, then you will see that you have nothing in your hand but perplexities, and the most we can do with them is share them with each other“, schreibt Arendt (1971: 434) mit Rekurs auf Sokrates. Zweitens wühlt das Denken laut Arendt die Welt und die darin bekannten und gefestigten Strukturen auf, hebt die Welt radikal aus den Angeln, stellt sich quer gegenüber allen Kategorien, Werten und Kriterien, mit denen Gut und Böse bestimmt worden seien (vgl. Arendt 1971: 434). Der Denkvorgang ist also besonders dann relevant und in diesem Sinne tatsächlich auch unmittelbar politisch, wenn das Individuum „Grenzsituationen“ (Arendt [1977, 1978] 2008: 191) erlebt. Diese „Grenzsituationen“ sind es, die ihre Gedanken über die Verbindung zwischen dem Bösen und der Verweigerung des Denkens derjenigen, die Arendt als „Schlafwandler“ (Arendt [1977, 1978] 2008: 190; 1971: 436) bezeichnet hat, so entscheidend prägen. Diese „Schlafwandler“ seien ganz normale und geschäftige Menschen, die sich daran gewöhnten, sich niemals Gedanken zu machen (vgl. Arendt 1971: 426)57. Drittens erwartet Arendt von allen Menschen, Gebrauch von dem von ihr identifizierten natürlichen Trieb zum Denken zu machen; ungeachtet ihrer wichtigen Geschäfte, denen sie nachgehen müssen – also auch ungeachtet ihrer jeweiligen Lebenssituationen und -wirklichkeiten, im Rückzug von den „Nöten des täglichen Lebens“ (Arendt [1977, 1978] 2008: 82), die doch weiterhin Bestand haben und uns Menschen in unterschiedlichem Maße fordern. Dieser Anspruch ist so radikal wie er fordernd ist, und er fordert natürlich besonders diejenigen, die nicht nur den eigenen, sondern auch den Lebensnotwendigkeiten von anderen nachkommen wollen und/oder müssen. Angesichts dieser Umstände den Raum und die Zeit (und die Nerven) für die „absolute Wachheit“ (Arendt 2003: 12) des Denkens zu finden, erscheint als Imperativ wenig lebensnah und begünstigt diejenigen, die sich erfolgreich der eigenen „Notwendigkeiten“ sowie derjenigen der anderen entledigt haben. Arendt setzt die Bereitschaft zum Denken, Gegebenes zu hinterfragen und letztlich auch ein moralisches Urteil über Gut und Böse zu fällen unabhängig des jeweiligen Bildungsstandes voraus: „If the ability to tell right from wrong should have anything to do with the ability to think, then we must be able to 57
Bemerkenswert ist, dass der Historiker Christopher Clarke (2014: 718) genau mit diesem Begriff die bald zu Kriegsparteien werdenden Nationen vor dem Ersten Weltkrieg beschreibt – ohne sich aber auf Arendt zu beziehen. Die Protagonisten von 1914 seien „Schlafwandler“ gewesen, „wachsam, aber blind, von Albträumen geplagt, aber unfähig, die Realität der Gräuel zu erkennen, die sie in Kürze in die Welt setzen sollten“.
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‚demand‘ its exercise in every sane person no matter how erudite or ignorant, how intelligent or stupid he may prove to be“ (Arendt 1971: 422).58 Anhand des Eichmann-Falls erläutert sie die schwerwiegenden Gefahren, die aus dem „Nichtdenken“ resultieren, „das ein so empfehlenswerter politischer und moralischer Zustand zu sein scheint“, wie Arendt ([1977, 1978] 2008: 176) sarkastisch befindet: Adolf Eichmann ist demnach ein Musterbeispiel desjenigen gewesen, der sich völlig unbewusst des (Nach-)Denkens entzogen hatte, über sein eigenes Handeln und die Paradigmen des Regimes, dem er diente: „Die traurige Wahrheit ist, daß fast alles Schlechte von Menschen getan wird, die sich nie dazu entschlossen haben, gut oder böse zu sein oder zu handeln“ (Arendt [1977, 1978] 2008: 179). Arendt offenbart hier eine der zentralen Thesen ihrer Politischen Theorie, die auch als Bindeglied zwischen früheren Werken wie Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft über Eichmann in Jerusalem hin zu den Schriften aus dem Nachlass fungiert. So schlicht sie eigentlich anmutet, so monumental ist ihre Tragweite und die Konsequenz, die daraus zu folgen hat: Das Böse kann in der Welt walten, weil wir Menschen nicht imstande sind oder sein wollen, über uns, unsere Taten, unsere Mitmenschen, die Umstände, in denen wir leben, und über die Zukunft, in der wir leben wollen, nachzudenken. Die Frage ist allerdings, wie gezielt diese Negation des Denkens als „stets bereitliegende Fähigkeit jedes Menschen“ (Arendt [1977, 1978] 2008: 190) aktiv verweigert wird oder werden kann beziehungsweise wie passiv das Nicht-Denken – auch in seiner ausgedehnten Form als „erweiterte Denkungsart“ – in vielen Fällen vonstattengeht. Arendt eigene Antwort scheint zu letzterem zu tendieren: „Die Gedankenlosigkeit ist [..] ein mächtiger Faktor im menschlichen Leben, statistisch gesehen sogar der mächtigste, nicht nur im Verhalten der vielen, sondern im Verhalten aller“ (Arendt [1977, 1978] 2008: 77; vgl. auch 190). In „Grenzsituationen“ hat diese „Gedankenlosigkeit“ unmittelbare politische Konsequenzen: „At these moments, thinking ceases to be a marginal affair in political matters. When everybody is swept away unthinkingly by what everybody else does and believes in, those who think are drawn out of hiding because their refusal to join is conspicuous and 58
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Dieses Verdikt scheint in seiner Radikalität auf Arendts Freundin Mary McCarthy zurückzugehen. In einem Brief an Arendt wies McCarthy ihre Freundin auf eine bis dato elitistische Interpretation des Denkvermögens hin: „Wenn Du […] sagst, wir müßten ‚zu dem Schluß gelangen, daß nur Menschen, die von diesem Eros erfüllt sind … des Denkens fähig sind’, dann legst Du nahe, daß dies die Masse der Menschen von einer Elite ‚edler Naturen‘ trennt, die fähig sind zu philosophieren. […] Man muß annehmen, daß jeder Mensch ein denkendes Wesen ist und eine edle Natur, wenn auch nur zeitweise“ (Arendt/McCarthy 1995: 428f.).
thereby becomes a kind of action“ (Arendt 1971: 445f.). An der erneut naturgewaltlichen Wortwahl Arendts wird deutlich, dass diejenigen, die in „Grenzsituationen“ (erweitert) denken, nicht aktiv zu Widerständigen werden. Sie werden vielmehr aus ihrem Versteck in der (temporären) Weltlosigkeit des Denkens59 herausgezogen, während der Strom alle anderen mitreiße. Mit diesem dramatischen Bild wird nicht nur ein ums andere Mal das große Pathos deutlich, mit dem Arendt normative Fragen nach dem menschlichen Verhalten in „Grenzsituationen“ beschreibt; Arendt verknüpft das Denken nun auch mit dem Handeln – der Denkvorgang selbst wird an dieser Stelle zu einem politischen Akt, einem Akt allerdings, der nicht auf dem gemeinsamen Handeln mit anderen beruht, sondern sich in der Dialogizität des Denkvorgangs erschöpft, mit dem das Subjekt sich gegen die starke Strömung von Herrschaft und Gewalt zu behaupten sucht. Von einem solchen geistigen Vorgang war Adolf Eichmann, so Arendts Interpretation, gänzlich abgeschirmt. In den vielen „Grenzsituationen“, die das nationalsozialistische System geschaffen hatte, zeichnete sich Eichmann laut Arendt durch völliges Versagen seines Denkvermögens aus – genauer: das Versagen, über die Situationen anderer nachzudenken. Hierbei handelt es sich laut Arendt allerdings nicht um das Versagen, sich in den Anderen einzufühlen, denn Arendt zieht eine scharfe konzeptionelle Grenze zwischen der „erweiterten Denkungsart“ und der „Empathie“ als einem Modus, der Emotionen beinhalten kann (diese wesentliche Unterscheidung fehlt beispielsweise in den Analysen von Marcus [2000: 226], Margalit/ Motzkin [2000] und Postone [2000]). Arendt rekurriert nur in äußerst geringem Umfang auf die Empathiefähigkeit, und wenn, dann ausschließlich ex negativo, in Abgrenzung zur „erweiterten Denkungsart“. Empathie bedeutet für Arendt das Vermögen, zu wissen, „was tatsächlich in den Köpfen“ vor sich gehe (Arendt [1982] 2012: 69, meine Hervorhebungen) – im Gegensatz zur „erweiterten Denkungsart“, in deren Rahmen das Subjekt lediglich über die möglichen Perspektiven reflektiert: Das anzunehmen, was in den Köpfen derjenigen, deren ‚Standpunkt‘ nicht der meinige ist, vor sich geht (wobei Standpunkt genauer meint: der Platz auf dem sie stehen; die Bedingungen, denen sie unterworfen und die immer unterschiedlich 59
Diese Form der „Weltlosigkeit“ ist jedoch nicht gleichzusetzen mit derjenigen, die Arendt im Hinblick auf die Gefährdung des menschlichen Lebens im Totalitarismus beschrieben hat. Die totalitäre Weltlosigkeit zeichnet sich durch eine Haltung aus, „die alle menschlichen Sorgen und Bedrückungen hinter sich gelassen hat, eine dumpfe, apathische Indifferenz gegen sich selbst und alle anderen“, wie Barbara Holland-Cunz (2012: 74) zusammenfasst.
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sind, von Individuum zu Individuum, von einer Klasse oder Gruppe zur anderen) – solches Akzeptieren würde nichts anderes bedeuten als passiv ihre Gedanken anzunehmen, d. h. ihre Vorurteile gegen die meinem eigenen Platz entsprechenden einzutauschen (ebd., meine Hervorhebungen).
Arendt skizziert die Empathie folglich als eine Fähigkeit, mit der sich das Subjekt die wirkliche Situation, die konkreten Emotionen und Schicksale von anderen nicht nur vor Augen führt, sondern sie ohne weitere Abwägung und Reflexion auch für sich selbst „annimmt“. Die entscheidende Frage, die sich hierbei stellt, lautet, ob sich diese „Annahme“ im Sinne einer Bestätigung oder im Sinne einer Übernahme deuten lässt. Entscheidend ist diese Frage deshalb, weil eine Übernahme auch die Übernahme von Emotionen bedeuten kann – und Arendt damit die Empathiefähigkeit mit einer unmittelbaren Affizierung durch Emotionen verbinden würde. Für diese Deutung spricht die folgende Notiz in Arendts Vorlesung „Political Representation in the Twentieth Century“ an der New School: „This [die „erweiterte Denkungsart“, AKW] is not empathy: You are not supposed to feel as they felt but to imagine through learning of their ‚feelings,‘ thinking, etc [sic!] how you would have felt, thought, etc.“ 60 Umgekehrt ist hieraus zu schließen, dass Empathie für Arendt bedeutet, das zu fühlen, was andere gefühlt haben, und das zu denken, was andere gedacht haben. Meine Interpretation im Sinne einer Übernahme wird darüber hinaus durch die Tatsache gestützt, dass Arendt, die sich in ihren Werken durchweg an dem strengen etymologischen Gehalt und der griechischen Bedeutung der von ihr verwendeten Begriffe orientiert hat, Empathie folglich als „em-pathos“ verstanden haben muss, also als ein „in-Seelenbewegung“-Sein. Ein Subjekt kann nur dann eine solche Bewegung in der Seele verspüren, wenn es die Gefühle und Gedanken des anderen übernimmt. Im Vorgang der „erweiterten Denkungsart“ hingegen wäre gerade diese Seelenbewegung insofern hochproblematisch, als sie das politische Urteil gefährde, das unter Berücksichtigung vieler Positionen gefällt werde, die aber nicht zu den eigenen werden (dürfen). In einer derartigen Übernahme lauert demnach die Gefahr, dass die Identität des Subjekts kompromittiert, sozusagen durch die Empathie fremdgesteuert wird. Die Annahme des Standpunktes des anderen lässt nach dieser Konzeption folglich kein Zwischenraum zwischen dem Subjekt und dem Objekt der
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Hannah Arendt Papers, Subject File, Cont. 58. Interessant ist hierbei, dass Arendt „feelings“ in Anführungszeichen setzt – so als ob sie sich auch in der alltäglichen gedanklichen Auseinandersetzung mit theoretischen Themen allseits kritisch von „Gefühlen“ – nicht nur dem Begriff, sondern auch von dessen Inhalt – distanzieren wolle.
Empathie zu – damit ist politisches Handeln unmöglich (vgl. auch Han 2013). Dieser normative Ausschluss der Empathie aus dem politischen Raum wird auch durch das von Arendt im vorigen Langzitat verwendete Adverb „passiv“ gestützt – das Politische ist ein Ort des genuin Aktiven, nicht des Passiven (vgl. Arendt [1958] 2007). Sie weicht hier, darauf verweist Giunia Gatta (2011: 10), substanziell von den Thesen Karl Jaspers’ ab: „[F]or Arendt, empathizing entails a passivity on behalf of those who empathize that is unbecoming to human beings, while for Jaspers empathy demands a very active ‚onslaught‘ of the prejudices attached to one’s own situation in order to be able to relate to another.“ Das Subjekt der Empathie verbleibt passiv; (kontinuierliche) Aktivität ist nur im Rahmen der „erweiterten Denkungsart“ möglich – indem das Subjekt „Besuche“ bei anderen macht (vgl. Matthiesen/ Klitmøller 2019). Von der Sphäre des Politischen schließt Arendt die Empathie auch dadurch aus, dass sie diese als eine Tätigkeit konzipiert, die das Singuläre und Partikulare betrifft – das Subjekt von Empathie übernimmt passiv den Standpunkt eines anderen. Dies ist daran ersichtlich, dass Arendt an der zentralen Textstelle zur Empathie die Formulierung einer „außergewöhnlich erweiterten Empathie“ anbringt, mit der der Standpunkt „aller anderen“ angenommen werden solle. Im Gegensatz zur „erweiterten Denkungsart“, die ihrer Natur nach auf Pluralität ausgerichtet ist, kann dieser Zustand bei einer genuin singulär ausgerichteten Empathie nur durch einen derartigen Ausnahmezustand erreicht werden. In der Tat ist es schwer vorstellbar, wie im Rahmen einer solchen Empathiekonzeption wie der Arendts, die von einer Übernahme der Gedanken und Gefühle eines anderen ausgeht, ein empathisches Subjekt mehrere divergierende Standpunkte annehmen kann – es sei denn, es handele sich um den Standpunkt einer homogenen Gruppe, womit für Arendt, das hat ihre Diskussion über die Gruppe der „Elenden“ in der Französischen Revolution eindrucksvoll gezeigt (vgl. Kap. 2.1), ein essenzielles Problem für das Politische tangiert ist. Die passive und sich idealtypisch auf ein singuläres Objekt beziehende Empathie hat ein weiteres zentrales Manko, das sie nach dieser Interpretation für den politischen Raum untauglich macht: Diese Fähigkeit zeichnet sich auch durch Sprachlosigkeit aus. Denn wenn aus dem Erleben der eigenen Emotionen für Arendt Sprachlosigkeit resultiert (vgl. Kap. 2.1.2) und sich diese Emotionen somit der Mitteilbarkeit im öffentlichen Raum entziehen, indem sie ausschließlich in der Tiefe und der Dunkelheit des menschlichen Herzens erscheinen, dann wird dies auch für die Emotionen anderer gelten, die das Subjekt der Empathie übernommen hat. Der eigentliche Kern der Differenzierung, die Arendt zwischen der Empathie und der „erweiterten Denkungsart“ vornimmt, bezieht sich somit nicht 95
auf eine Unterscheidung zwischen Gefühlen und Gedanken als den Objekten dieser geistigen Vorgänge (vgl. Benhabib 1996: 191; Degerman 2019: 163); maßgeblich ist vielmehr eine Unterscheidung im Rahmen der Distanz zwischen dem Subjekt und dem Objekt dieser mentalen Ergebnisse der Vorstellungskraft, und schließlich zwischen der Affinität der Empathie zur Partikularität und dem Streben der „erweiterten Denkungsart“ zur Abstraktion: Die Distanz ist beim empathischen Subjekt viel kleiner und somit viel anfälliger für Partikularität. Bei der „erweiterten Denkungsart“ ist hingegen das Ziel die maximale Distanz, um ein möglichst objektives Urteil zu ermöglichen. Folglich wird mit der „erweiterten Denkungsart“ eine wie auch immer geartete persönliche Betroffenheit über die Situation der anderen der Maxime der Unparteilichkeit geopfert. Die „erweiterte Denkungsart“ ist eine in der Idealvorstellung ent-emotionalisierte Tätigkeit des menschlichen Geistes. Diese Konzeption ist insofern problematisch, als dass die Maxime der Distanz, die Arendts Unterscheidung zwischen der „erweiterten Denkungsart“ und der Empathiefähigkeit erneut zementiert, wirkliches Miteinander nicht befördert, sondern die Distanz im Gegenteil zu einem Absolutum werden lässt (vgl. auch Gatta 2011: 10). Arendts Thesen zur „erweiterten Denkungsart“ weisen zudem noch eine andere relevante Problematik auf: Im Extremfall bedeutet diese Fähigkeit das möglichst umfassende Mit- (aber nicht Ein-)denken in möglichst viele Standpunkte. Das heißt, das Subjekt des Denkvorgangs ist einer Vielzahl von divergierenden Meinungen und Haltungen ausgesetzt, mit deren Hilfe es die eigene Position finden und ultimativ ein eigenes Urteil fällen muss. Auf welcher Grundlage entscheidet sich das Subjekt aber letztlich unter all diesen Standpunkten für seinen jeweils eigenen? Auf diese Frage hat Arendt keine verbindliche Antwort geben wollen (vgl. auch Benhabib 1966: 193). Die Verantwortung zur Ent- und Unterscheidung für und zwischen verschiedenen Perspektiven obliegt demnach allein dem Subjekt der „erweiterten Denkungsart“ – eine wirklich äußerst voraussetzungsreiche Aufgabe, zumal wenn auch der ‚innere‘ Kompass der eigenen Emotionen keine verlässliche Richtschnur geben kann und darf. Diese hohe theoretische Hürde, die das Subjekt meistern muss, um „erweitert“ denken zu können, gibt damit auch einen Hinweis, warum es einfacher sein könnte, sich dem „Banalen“ des Bösen hinzugeben – oder warum es so schwer ist, dem Entstehen und dem Wirken des Bösen wirklich etwas entgegenzusetzen. Trotzdem: Auch wenn es kein leichtes Unterfangen ist, „erweitert“ zu denken, und auch wenn es reichlich naiv wäre, aus Arendts Thesen zur „erweiterten Denkungsart“ zu schließen, dass das Böse mithilfe des Perspektivwechsels gänzlich eliminiert werden könnte (vgl. auch Ring 1997: 161), beinhaltet diese Fähigkeit ein essentielles Widerstandspotenzial gegen das „banale Böse“. 96
Mindestens hätte das erweiterte Denken zur Folge, dass Täter:innen nicht mehr als „Schlafwandler:innen“ handelten, sondern in vollem Bewusstsein über die Folgen ihrer jeweiligen politischen und moralischen (Fehl-)Urteile. Das politische Urteil
Der multiple Perspektivwechsel der „erweiterten Denkungsart“ bietet zunächst einen gewissen Schutz vor gesellschaftlichem und politischem Egoismus, weil das Subjekt des Perspektivwechsels die Lage anderer mitdenkt. Diese Art des Denkens ermöglicht daher politische Freiheit, weil sie „diskursiv und öffentlich ist und der menschlichen Pluralität entspricht“ (Meints 2011: 210). Das alles entscheidende Charakteristikum der „erweiterten Denkungsart“ liegt für Arendt aber vor allem darin, dass diese Fähigkeit ein (politisches) Urteil vorbereitet – also essenziell für den eigenen und unabhängigen Meinungsbildungsprozess ist: „The capacity to judge is a specifically political ability in exactly the sense denoted by Kant, namely, the ability to see things not only from one’s own point of view but in the perspective of all those who happen to be present“ (Arendt 1961b: 221). Mit der ihr inhärenten Fähigkeit zum Perspektivwechsel und in ihrer Zielsetzung der Urteilsfindung wird die „erweiterte Denkungsart“ demnach zu einer spezifisch politischen Tätigkeit. Dabei hänge die entsprechende „Qualität einer Meinung wie auch eines Urteils durchaus von dem Grad der ‚erweiterten Denkungsart‘, der Unabhängigkeit von Interessen“ (Arendt [1967] 1987: 62) ab. Auch hier greift sie die zentralen Thesen Kants auf. Demnach sei Rücksicht zu nehmen auf die Vorstellungsart jedes anderen in Gedanken, um gleichsam an die gesamte Menschenvernunft sein Urteil zu halten und dadurch der Illusion zu entgehen, die aus subjektiven Privatbedingungen, welche zu leicht für objektiv gehalten werden könnten, auf das Urteil nachteiligen Einfluß haben würde. Dieses geschieht nun dadurch, daß man sein Urteil an anderer nicht sowohl wirkliche, als vielmehr bloß mögliche Urteile hält und sich in die Stelle jedes anderen versetzt, indem man bloß von den Beschränkungen, die unserer eigenen Beurteilung zufälligerweise anhängen, abstrahiert (KdU §40, 293f.).
Hieran wird nicht nur ersichtlich, wie deutlich bei Kant diese spezielle Ausprägung des Denkens mit dem Prozess des Urteilens verknüpft ist; das Zitat belegt auch, wie eng Arendt ihre eigene Konzeption der „erweiterten Denkungsart“ an die Kantische Theorie anlehnt: Das Urteilen, genauso wie das Wollen, ist laut Arendt ([1977, 1978] 2008: 97) darauf angewiesen, „daß das Denken ihre Gegenstände vorher reflektiert hat“. Die Maxime der „erweiterten Denkungsart“ ist dem Urteil also obligatorisch vorgeschaltet. Dies hat auch 97
aufgrund der Charakteristika Sinn, die Arendt für die Urteilskraft bestimmt: Die Urteilskraft ist demnach eine „geheimnisvolle Fähigkeit des Geistes, die das Allgemeine, das stets eine geistige Konstruktion ist, und das Besondere, das stets in der Sinneserfahrung gegeben ist“ (Arendt [1977, 1978] 2008: 75; vgl. zu Arendts Urteilstheorie ausführlich u. a. Benhabib 1988; Meints 2011; Spiegel 2011; Zerilli 2016), zusammenbringe. Auch wenn Arendt mit der Wendung der „geheimnisvollen“ Fähigkeit des Geistes erneut von einer nüchternen Stilistik absieht und stattdessen einen bewusst emotionalisierten Spannungseffekt kreiert, weicht ihr Urteilsbegriff jedoch – wie auch ihre Definition der anderen Fähigkeiten des menschlichen Geistes – stark von einer emotionsaffinen Konzeption ab. Sie ist in der Tat eher als ein von Emotionen „abgehobener, intellektueller Akt“ (Solomon 2009: 150) zu verstehen – ein Akt, der zwar im Rückzug von Parteilichkeit und Handeln (vgl. Arendt [1977, 1978] 2008: 99), allerdings trotzdem in der Welt vollzogen wird: Die Distanz für das Urteil „tritt nicht aus der Erscheinungswelt heraus, sondern tritt vom aktiven Engagement in eine Sonderposition zurück, um das Ganze zu betrachten“ (ebd.). Dieser Ort, an dem sich Menschen ihr Urteil bildeten, könne sich demnach ganz „eindeutig in der gewöhnlichen Welt“ (Arendt [1978] 2008: 102; vgl. auch 82) befinden, in der parteilosen Distanz zum Geschehen und „frei vom Interesse an Gewinn oder Ruhm“, aber „nicht unabhängig von den Ansichten anderer“ (ebd.). Nicht nur der Ort des Urteilens befindet sich in der Welt, auch der Gegenstand des Urteilens leitet sich demnach aus dem Erleben der menschlichen (Mit-)Welt ab: Um das Besondere mit dem Allgemeinen zu verbinden, wie es das Urteil verlangt, muss der urteilende Mensch laut Arendt das Besondere erlebt haben (vgl. Arendt [1977, 1978] 2008: 92) – also aktiv an der Welt teilhaben. Die Urteilskraft dient dabei als Verbindung zwischen dem Denken und der Welt. Das Urteilen wird aber nicht nur in der Welt, sondern auch für die Welt vollzogen. Für Arendt ist das Urteilen „das politischste der geistigen Vermögen“ (Arendt [1977, 1978] 2008: 191), denn das Urteil greift für Arendt vor allem in den Situationen, „wenn wir mit etwas konfrontiert werden, was wir noch nie gesehen haben und wofür uns keinerlei Maßstäbe zur Verfügung stehen. Dies Urteilen, das maßstabslos ist, kann sich auf nichts berufen als die Evidenz des Geurteilten selbst“ (Arendt 2007b: 20; vgl. u. a. auch Arendt [1977, 1978] 2008: 75f.). Die Urteilskraft kommt für Arendt also dann zum Tragen, wenn sich das denkende Individuum nicht auf allgemein gültige Regeln verlassen kann, also vor allem in Zeiten politischer Umwälzungen. Das Urteil hilft laut Arendt, zu unterscheiden – zwischen Gut und Böse, zwischen Politik und Antipolitik, zwischen Macht und Gewalt, zwischen Freiheit oder Totalitarismus. Damit, so hat Waltraud Meints (2011: 26) Arendts Überlegungen zugespitzt, konstituiert sich das Politische eigentlich erst „durch die reflektie98
rende Urteilskraft, weil diese den Menschen die Möglichkeit verschafft, sich im Handeln und Denken zu orientieren“. Eine solche Orientierung und Unterscheidung(-sfähigkeit) hatte Arendt bei Eichmann nicht ausmachen können – Eichmann, so lautete ihre Interpretation, ordnete und subsumierte sein Verhalten ausschließlich unter bestehende Regeln. Dieses Subsumieren unter unsere jeweiligen „Vor-Urteile“ (Arendt 2007b: 20) ist laut Arendt allgegenwärtig. Vorurteile erfüllen laut Arendt eine wichtige Schutzfunktion: „[O]hne Vorurteile kann kein Mensch leben, und zwar nicht nur, weil keines Menschen Klugheit oder Einsicht dazu ausreichen würde, all das neu zu beurteilen, worüber ihm ein Urteil im Laufe seines Lebens abverlangt wird, sondern weil eine solche Vorurteilslosigkeit eine übermenschliche Wachheit erfordern würde“ (Arendt 2007b: 17). Werden Vorurteile jedoch im politischen Raum bemüht, liegt laut Arendt eine eindeutige Gefahrensituation vor. Dann nämlich schlage die Stunde der Ideologien und damit der potenziellen Vernichtung einer freiheitlichen politischen Ordnung (vgl. Arendt 2007b: 21). Genau an dieser Stelle setzt sie die politische Wirkmächtigkeit des erweiterten Denkens an – indem sich das Subjekt nicht auf seine Vorurteile zurückzieht, sondern aktiv die Standpunkte anderer berücksichtigt und auf dieser Grundlage urteilt, kann es sich nicht mehr von der Wirklichkeit und der gemeinsamen Mit-Welt distanzieren. Das (erweiterte) Denken ist daher eine „mittelbar politisch“ relevante Tätigkeit, weil es die „Zerstörung“ von „Werte[n], Doktrinen, Theorien und sogar Überzeugungen“ (Arendt [1977, 1978] 2008: 191) für das Urteilen anrege. Zunehmend pathetisch und erneut mit naturgewaltlichen Metaphern beschreibt Arendt in Das Leben des Geistes die Weigerung, „gedankenlos mitzuschwimmen“ (Arendt [1977, 1978] 2008: 192): [D]ie Urteilskraft, das Nebenprodukt der befreienden Wirkung des Denkens, realisiert das Denken, bringt es in der Erscheinungswelt zur Geltung, wo ich nie allein bin und immer viel zu beschäftigt, um denken zu können. Der Wind des Denkens äußert sich nicht in Erkenntnis; er ist die Fähigkeit, recht und unrecht, schön und häßlich zu unterscheiden. Und diese kann – in den seltenen Augenblicken, da die Einsätze gemacht sind – in der Tat Katastrophen verhindern, mindestens für das Selbst.
Im Gegensatz zum Vorurteil kann sich ein Mensch im Urteilen nicht hinter dem Ordnen und Subsumieren verstecken. Er muss einer Angelegenheit (ergebnis-)offen entgegentreten und eine Haltung entwickeln, die seiner Identität und seinem Gewissen entspricht. Das ist das spezifisch „Geheimnisvolle“ der Urteilskraft – dass niemals vorhergesehen werden kann, wie das Ergebnis dieses Vermögens für das jeweilige Individuum aussehen wird; dass das Urteilen das völlig Überraschende, das Widerständige und das wahrhaft Heroische 99
zur Realität werden lassen kann. In den „Grenzsituationen“, in denen „die Einsätze gemacht sind“, bringt der „Wind des Denkens“ das Individuum mit sich selbst im Einklang. Das erweiterte Denken, das auf dem Perspektivwechsel beruht, kann somit in Verbindung mit der Fähigkeit des Urteilens das vielleicht entscheidende Moment darstellen, in dem das Denken das Böse verhindert. Arendt argumentiert hierbei wie folgt: In Wechselwirkung mit der Welt könne die Urteilskraft der menschlichen „Dummheit“ (und damit einer der elementarsten Grundbedingungen für die Entstehung des Bösen) etwas entgegensetzen: „Das Wissen, wie das Allgemeine auf das Besondere anzuwenden ist, ist eine zusätzliche ‚Gabe der Natur‘, deren Mangel nach Kant ‚eigentlich das [ist, Ergänzung Arendt], was man Dummheit nennt, und einem solchen Gebrechen ist gar nicht abzuhelfen‘“ (Arendt [1977, 1978] 2008: 75). Auch Eichmann ist in Arendts Augen durchaus „ganz intelligent“ gewesen, „aber diese Dummheit hatte er. […] Und das habe ich eigentlich gemeint mit der Banalität. Da ist keine Tiefe – das ist nicht dämonisch! Das ist einfach der Unwille, sich je vorzustellen, was eigentlich mit dem anderen ist, nicht wahr?“ (Arendt/Fest 2011: 43f.). Es ist bemerkenswert, dass Arendt in ihren Briefen an Mary McCarthy und Joachim Fest von Eichmanns „Dummheit“ schreibt. In ihren theoretischen Schriften indes grenzt sie das Konzept der „Dummheit“ deutlich gegenüber der von ihr favorisierten Wendung der „Gedankenlosigkeit“ ab: Eichmann, befindet Arendt, war nicht dumm. Es war gewissermaßen schiere Gedankenlosigkeit – etwas, was mit Dummheit keineswegs identisch ist –, die ihn dafür prädisponierte, zu einem der größten Verbrecher jener Zeit zu werden. […] Daß eine solche Realitätsferne und Gedankenlosigkeit in einem mehr Unheil anrichten können als alle die dem Menschen vielleicht innewohnenden bösen Triebe zusammengenommen, das war in der Tat die Lektion, die man in Jerusalem lernen konnte (Arendt [1963] 2011a: 57).
Diese Unterscheidung zwischen der „Gedankenlosigkeit“ und der „Dummheit“ sollte zum einen dem Irrtum vorbeugen, die „Dummheit“ als das Gegenteil von Intelligenz zu verstehen, wie Arendt in einem Brief an McCarthy erläutert: „[Nathalie Swan Rahv] [s]tellte Fragen wie: Woran liegt es, daß Intellektuelle (gemeint war Philip [Rahv, AKW]) so dumm sein können? Ich versuchte, das zu erklären – Unterscheidung zwischen (fehlender) Urteilskraft und Verstandeskraft“ (Arendt/McCarty 1995: 150). Für Arendt ist die „Gedankenlosigkeit“ tatsächlich der Mangel an dem so notwendigen Perspektivwechsel, der das Urteilen ermöglicht. Arendts Freundin Mary McCarthy hingegen verweist auf eine wichtige inhaltliche Differenz zu Kant (vgl. Arendt 1971: 423f.): 100
Ich hätte gesagt, daß Eichmann zutiefst, beispiellos dumm war […]. Hier stimme ich eher Kant zu […], daß Dummheit nicht durch Schwäche des Geistes, sondern durch ein ‚schlechtes Herz‘ verursacht wird. Gefühllosigkeit, Stumpfheit, die Unfähigkeit, Zusammenhänge herzustellen, oft begleitet von gewöhnlicher ‚animalischer‘ Schlauheit. Man kann nicht umhin zu empfinden, daß diese geistige Verwahrlosung selbstgewählt ist, ob vom Herzen oder vom moralischen Willen – eine aktive Präferenz, und das erklärt, warum einen Dummheit so irritiert, was nicht der Fall ist, wenn man es mit einem wirklich zurückgebliebenen Menschen zu tun hat. Ein Dorfidiot mag weitaus weniger dumm sein als Eichmann. […] Ein Idiot kann natürlich reflektiert sein: Er denkt in Deinem Sinne wahrscheinlich sehr viel, vielleicht mehr als die meisten Menschen (Arendt/McCarthy 1995: 427f.).
Mit dieser Kritik Mary McCarthys rücken zwei der zentralen Herausforderungen in den Fokus, die Arendts Verdikt über Eichmanns „Gedankenlosigkeit“ prägen: erstens die Frage, ob die Diagnose der ‚Perspektivenübernahmestörung‘ nicht eigentlich verschleiert beziehungsweise sogar verharmlost, dass es sich bei Eichmanns „Unfähigkeit“ vielmehr um einen Unwillen gehandelt haben müsse, sich in die Lage anderer Menschen zu versetzen; dass also Eichmanns „Banalität“ in der Tat kein Zufall, sondern „selbstgewählt“ war. Insgesamt bleiben Arendts Aussagen hierzu widersprüchlich; da sie in ihrem Eichmann-Buch allerdings nur Verweise auf die „Unfähigkeit“ gibt, scheint sie dort die These von einer unwillentlichen „Gedankenlosigkeit“ zu präferieren, die sich für Arendt vor allem durch Eichmanns unermüdlichen Gebrauch sprachlicher Klischees, als „milder Fall von Aphasie“ (Arendt [1963] 2011a: 125), erklärt. Indirekt verweist diese Ambivalenz in Arendts Theorie auch auf die zweite Herausforderung, die in McCarthys Zweifel an Arendts These über die „Gedankenlosigkeit“ angelegt ist, und die das ganze Ausmaß der Akzentverschiebung von der „Dummheit“ zur „Gedankenlosigkeit“ verdeutlicht: Arendts Konzept der „Gedankenlosigkeit“ bedeutet nicht „Gefühllosigkeit“. Arendt wendet sich also entschieden gegen jegliche Emotionalisierung ihrer Kernthesen zu Eichmanns vermeintlichem „Mangel an Vorstellungskraft“. Diese strikte Abgrenzung zwischen dem Denken und dem Fühlen, die in Arendts Thesen zum Perspektivwechsel zur Anwendung kommt, ist eine Konstruktion, die einen gewissen (intellektuellen) Reiz aufweist: In ihrer Lessing-Rede fragt Arendt ([1968] 1989b: 30f.): „Sollten […] Menschen so schäbig sein, daß sie ohne den Affekt des Mitleids, ohne von ihrem eigenen Mitleiden angstachelt und gleichsam gezwungen zu werden, unfähig sind, sich menschlich zu verhalten?“61 In dieser Frage wird die emotionsfreie Vision 61
Hier weichen Arendts Thesen deutlich von der Kant’schen Theorie ab: Demnach obliegt
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sehr deutlich, mit der Arendt „menschliches“ Verhalten gerne normativ begründen würde. Letztlich überzeugt sie jedoch nicht: Zu groß ist die Distanz zwischen der Tatsache, dass Menschen fühlende Wesen sind, die irrational, höchst subjektiv und interessengesteuert agieren, und der „erweiterten Denkungsart“ als gleichzeitig intellektuellem Vergnügen und quasi-moralischer Pflicht. Eine Konzeption wie die Arendts vermeidet damit Durchlässigkeit und einen realistischen Blick auf das menschliche Zusammenleben, das von Emotionen geprägt ist. Das ist zumindest dann problematisch, wenn man von der Annahme ausgeht, dass der Umgang mit anderen nicht oder nicht nur eine Angelegenheit von Hypothesen und Imagination ist, wie Guinia Gatta (2011: 10) zu Recht kritisiert. Gudrun van Tevenar (2014: 46) mag daher in der Annahme richtigliegen, dass eine „erweiterte Denkungsart“ überhaupt erst möglich sein kann, wenn sie auf Mitleid/Mitgefühl basiert. Letztlich bleibt Arendt auch Erklärungen über den genauen Modus des Prozesses des erweiterten Denkens schuldig: Es bleibt unklar, wie genau man dazu kommt, gegen alle äußeren Widerstände mit einer „erweiterten Denkungsart“ zu denken, in Zeiten, in denen „die Einsätze gemacht sind“ (vgl. auch Benhabib 1996: 193).
2.2.3 Die „erhebenden Gefühle“ des Massenmörders Im Hinblick auf das Innenleben Adolf Eichmanns lag (und liegt) die Vermutung in der Tat sehr nahe, dass er, der Millionen Menschen per Waggonladungen in den Tod hatte befördern lassen, offenbar zu beidem nicht fähig war – also weder dazu, „erweitert“ zu denken noch mit seinen Opfern mitzuleiden. Die Vermutung über einen eklatanten Mangel an Mitleid wird auch durch die von Bettina Stangneth zusammengetragenen Zitate von Eichmann in den sogenannten Sassen-Dokumenten gestützt – den Interviews also, die der niederländische SS-Reporter Willem Sassen mit Eichmann im argentinischen Exil geführt hatte, bevor er dort 1960 vom israelischen Geheimdienst gefasst und ein Jahr später in Jerusalem vor Gericht gestellt wurde. „Am Anfang lief alles ‚sehr hoffnungsvoll‘, die Transporte ‚rollten am Anfang, dass man sagen kann, es war eine Pracht‘“, zitiert Stangneth (2011: 342) Eichdem Mitleid als natürliches sinnliches Gefühl sogar eine „besondere, obzwar nur bedingte, Pflicht“, die als „Mittel zur Beförderung des tätigen und vernünftigen Wohlwollens zu gebrauchen“ ist (MS §34, 592). Das Mitleid soll demnach die vernünftige Pflicht der „Maxime des Wohlwollens (die praktische Menschenliebe)“ als „aller Menschen Pflicht gegen einander“ (MS §27, 586) unterstützen, und zwar als indirekte Pflicht, „die mitleidige[n] natürliche[n] (ästhetische[n]) Gefühle in uns zu kultivieren“ (MS §35, 594). Das Handeln ist nach dieser Konzeption ausschließlich der Vernunft unterworfen – das Gefühl des Mitleids kann und sollte allerdings als Movens unterstützen.
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mann. „‚[D]as Material‘“ sei ja in den Konzentrationslagern nicht „‚als vollendete Nieten […] abzuliefern‘“ gewesen (Stangneth 2011: 341). Deshalb sei „‚die ganze Endloesungsgeschichte‘ eine – Eichmann sagt es ganz ohne Ironie! – ‚Mordsarbeit‘“ (Stangneth 2011: 345) gewesen. Arendt, der die Sassen-Interviews nicht vorgelegen haben, bietet jedoch auf Grundlage der ihr zugänglichen Quellen – maßgeblich sein Gebärden vor Gericht sowie im Polizeiverhör – eine ganz andere Erklärung für das Emotionsleben des Mannes an, für den das reibungslose Abtransportieren von Menschen in die Gaskammern eine „Pracht“ dargestellt hatte: Eichmann hat demnach nicht an einem Zuwenig, sondern einem Zuviel an Emotionalität und Mitleid gekrankt. Er sei regelmäßig sowohl von überbordendendem und der Situation völlig unangemessenem Selbstmitleid durchtränkt (vgl. Arendt [1963] 2011a: 126; Stangneth 2011: 360) als auch gleichzeitig von „erhebenden Gefühlen“ beziehungsweise „erhebender Stimmung“ (Arendt [1963] 2011a: 123, 133, 142, 359, 369) beseelt gewesen, schreibt Arendt und übernimmt dabei diese recht kuriose Wendung von Eichmann selbst.62 Nach Arendts Schilderung zeichnete sich Eichmann als ein Mensch aus, der sich am selbst-reflexiven Fühlen, an seinen „erhebenden Gefühlen“, ergötzte – und präsentiert damit einen Befund, den sie bereits in ihrem parallel erarbeiteten Buch Über die Revolution als Charakterschwäche der französischen Revolutionäre ausgemacht und verurteilt hatte (vgl. Kap. 2.1.3). In Eichmann in Jerusalem breitet sie das Unheil, das von dieser Art der Selbstaffizierung mit „erhebenden Gefühlen“ ausgeht, mit beißendem Zynismus vor ihrer Leser:innenschaft aus: „Was Eichmann anlangte, so handelte es sich hier [..] um wechselnde Stimmungen, und solange er irgend imstande war, zu der jeweiligen erhebenden Stimmung die ihr entsprechende Redensart zu finden […], war er ganz zufrieden und merkte überhaupt nicht, daß da so etwas wie eine ‚Inkonsequenz‘ zutage trat“ (Arendt [1963] 2011a: 133). Arendt beschreibt Eichmann als einen Angeklagten, der im Rahmen des Polizeiverhörs und später vor dem Jerusalemer Gericht in schiere Verzückung geriet, weil ihn beim Aussagen pathetische Gefühle ergriffen hatten.63
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In Kants Werk erscheint der Begriff der „seelenerhebenden“ Empfindung (KdU § 29, 265), auf den sich Eichmann gegebenenfalls gestützt haben könnte (vgl. generell zu Eichmanns Kant-Bezügen Arendt [1963] 2011a: 232f.). Bettina Stangneth hat überzeugend dargelegt, dass diese Seite von Eichmann offenbar kein Schauspiel vor Gericht war, sondern tatsächlich Teil seiner Persönlichkeit: „Eichmanns bevorzugte Form war eindeutig der Monolog, die Rede, die niemand unterbrach. In ihr konnte er ungestört seine hermetische Interpretation der Welt ausbreiten und sich dem Pathos seiner eigenen Sprache hingeben. Avner W. Less [der Eichmann verhört hatte, AKW] beobachtete während des Verhörs ebenfalls diese Wirkung nach einer klei-
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Eine solche Sentimentalität hat laut Arendt anstelle von geistigen Tätigkeiten in Eichmann regiert – die emotionale Selbstberauschung Eichmanns habe ihn damit außerordentlich erfolgreich vom Denken abgeschirmt. Beim alltäglichen Erledigen der Massenvernichtung habe sich Eichmann selbst als mitfühlenden Menschen empfunden. Anhand der bereits genannten Episode über das Treffen Eichmanns mit Berthold Storfer in Auschwitz illustriert Arendt die grausame Diskrepanz zwischen dem Innenleben Eichmanns und der Wirklichkeit. Eichmann, schreibt Arendt, hätte damals erwirkt, dass der Häftling Storfer keine Schwerarbeit leisten musste: ‚Da war er sehr erfreut, und wir gaben uns die Hand, und dann hat er den Besen bekommen und hat sich auf die Bank gesetzt. Das war für mich eine große innere Freude gewesen, daß ich den Mann, mit dem ich so lange Jahre, den ich so lange Jahre zumindest sah – und man sprach.‘ Sechs Wochen nach diesem ‚normalen, menschlichen Treffen‘ war Storfer tot – offenbar wurde er nicht vergast, sondern erschossen (Arendt [1963] 2011a: 128f.).
Arendt legt dar, wie sich Eichmann an den eigenen vermeintlich mitfühlenden Gefühlen ergötzte, während er gleichzeitig gänzlich außer Stande war, (denkend) zu dem Schluss zu kommen, dass dieser Bekannte ermordet werden würde – von dem gleichen mörderischen System, dem er gewissenhaft diente. Der „Zauber“ der Selbstaffizierung mit Emotionen, in diesem Fall die „Freude“, die Eichmann bar jeglicher Realität beseelt habe, ist für Arendts Kritik am Mitleid ein charakteristisches Motiv. Die emotionale Selbstberauschung führt demnach zu völliger Dissonanz zwischen dem Kontext und dem Erleben von Eichmanns „erhebenden Gefühlen“, die sich auch in anderen Situationen gezeigt habe. So sei Eichmann in Minsk Zeuge einer Ermordung geworden, schreibt Arendt: Auf der Rückfahrt von Minsk folgte er einem Impuls und hielt in Lemberg an – das schien zuerst ein guter Einfall zu sein, denn als er in der ehemals österreichischen Stadt ankam, sah er ‚das erste freundliche Bild‘ nach all dem ‚Fürchterlichen‘, nämlich ‚das Bahnhofsgebäude, das zur Erinnerung des 60jährigen Regierungsjubiläums Kaiser Franz Josefs errichtet‘ worden war – für diese Epoche hatte er, Eichmann, schon immer geschwärmt […]. Der Anblick dieses Bahnhofsgebäu-
nen Eichmann-Ansprache: ‚Am Ende war der Mann regelrecht von seinen eigenen Worten zu Tränen gerührt‘“ (Stangneth 2011: 301). Auch beim Schreiben im argentinischen Exil habe Eichmann „Höhenrausch“ und „Triumphgefühl“ (Stangneth 2011: 268) empfunden.
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des vertrieb die scheußlichen Eindrücke, und noch in Jerusalem konnte er es bis ins kleinste Detail beschreiben, wie schön das Jubiläumsjahr z. B. eingraviert war (Arendt [1963] 2011a: 174f.).
Auch wenn Arendt die Zitate Eichmanns natürlich gezielt ausgewählt hat, um ihre Grundthesen über die Ursachen für eine derartige menschliche Verfehlung zu belegen – ihre Interpretation eines völligen Bruchs der Verbindung zwischen dem moralisch Guten und dem Mitleiden, zwischen Emotionalität und Realität, ist dennoch absolut eindrucksvoll. Eichmanns Verhalten offenbart nach dieser Deutung keinen Reflexionsprozess, der durch das Verbildlichte der Taten, die er zu sehen bekommen hatte, in Gang gesetzt worden sei. Vielmehr gaben Arendt seine Schilderungen Anlass, sie als emotionale Reaktion zu kategorisieren, die die mangelnde Tiefe seines Charakters manifestierte. Ein anderes Beispiel, das sie hierfür anführt, waren die Vorbereitungen für die Vergasung von Jüdinnen und Juden in Treblinka, die Eichmann bei einem Besuch in Lublin inspiziert hatte. Er beschrieb dieses Erlebnis so, „‚[a]ls ob ich irgendeine aufregende, eine aufregende Sache hinter mir hätte, wie das eben schon mal so vorkommt, daß man nachher wie ein leises inneres Zittern, oder so ähnlich möchte ich es ausdrücken, hat‘“ (Arendt [1963] 2011a: 173). Eichmanns „erhebende Gefühle“ stellen nach Arendts Deutung insgesamt eine absolute Zäsur dar, eine Umkehrung all jener Maximen, auf die gute Mitmenschlichkeit in einer gemeinsamen Welt gründet. Diese Umkehrung basiert auch darauf, dass es sich bei Eichmanns „erhebenden Gefühlen“ laut Arendt um etwas Oberflächliches, Fehlgeleitetes und Falsches gehandelt hat. Arendt deklassiert Eichmanns „erhebende Gefühle“ denn auch postwendend als Klischee beziehungsweise betont deren Verknüpfung mit Redensarten und (schiefen) Sprachbildern: Wesentlich ist, daß er nicht eine einzige der Phrasen vergessen hatte, die ihm in der einen oder anderen Situation ein ‚erhebendes Gefühl‘ verschafft hatten. Wenn nun die Richter im Kreuzverhör versuchten, sein Gewissen anzusprechen, tönten ihnen diese ‚erhebenden Gefühle‘ entgegen, und es entsetzte sie, ebenso wie es sie verwirrte, als sie entdeckten, daß der Angeklagte ein spezielles erhebendes Klischee für jeden Abschnitt seines Lebens und für jede der Tätigkeiten, die er ausgeübt hatte, parat hatte. In seinem Kopf bestand kein Widerspruch zwischen dem ‚ich werde lachend in die Grube springen‘, das bei Kriegsende angemessen geklungen hatte, und der nicht weniger freudigen Bereitschaft, ‚sich als abschreckendes Beispiel öffentlich zu erhängen‘, das jetzt, unter radikal veränderten Umständen, genau die gleiche Funktion erfüllte – nämlich ihm erhebende Gefühle zu verschaffen (Arendt [1963] 2011a: 131, meine Hervorhebung).
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Indem Arendt die Klischee- und Phrasenhaftigkeit dieser oberflächlichen Emotionalität hervorhebt, grenzt sie sie scharf gegenüber allem „echten“ Fühlen ab – das sich nur im stummen Zweisein und im intimen Raum entfalten kann. Indirekt attestiert Arendt Eichmann damit nicht nur eine Unfähigkeit zu denken, sondern auch eine Unfähigkeit zu fühlen – nämlich „echt“ zu fühlen in dem Sinne, in eine Beziehung mit einem anderen zu treten. Stattdessen habe er sich (nur) an den Regungen seines Innenlebens berauscht, zu denen es eigentlich gar keines anderen, keines realen Auslösers, bedurft hätte. Damit markiert Arendt auch einen deutlichen Unterscheid zwischen Eichmann und anderen Täter:innen des NS-Regimes, denen sie durchaus das Gegenteil von Gefühllosigkeit zuschreibt: Schließlich hätten SS-Männer für die Ausübung des Massenmordes erst das „animalische Mitleid“ beseitigen müssen, „das normale Menschen beim Anblick physischer Leiden nahezu unweigerlich befällt“ (Arendt [1963] 2011a: 194f.); Himmler habe in diesem Fall einen „Trick“ angewandt: „[E]r bestand darin, dies Mitleid im Entstehen umzukehren und statt auf andere auf sich selbst zu richten. So daß die Mörder, wenn immer sie die Schrecklichkeit ihrer Taten überfiel, sich nicht mehr sagten: Was tue ich bloß!, sondern: Wie muß ich nur leiden bei der Erfüllung meiner schrecklichen Pflichten […]!“ (Arendt [1963] 2011a: 195). Hier scheint Arendt aufgrund der Bestimmung des „Animalischen“ von einem „echten“ Mitleid auszugehen64, das deutlich zu unterscheiden ist von dem völlig inhaltsleeren und kontextuell entfremdeten Gefühl der Selbstaffizierung bei Eichmann. Diese Interpretation wird auch durch die Tatsache gestützt, dass Arendt Eichmann und dessen „Gedankenlosigkeit“ derart stark stilistisch von anderen Täter:innen heraushebt, dass hierbei ein wirklich starker Kontrast zwischen den „normalen Menschen“, die das ihnen inhärente Mitleid erst beseitigen mussten, und dem Angeklagten in Jerusalem offensichtlich ist, der nur eine grotesk-verzerrte und in seiner Subjekt-Objekt-Relation völlig verkehrte Mitleidsstimmung aufwies. Das ist nach Arendts Interpretation genau das „Banale“ des Bösen, das letztlich vielleicht schlimmer wiegt als das Böse, das von denjenigen begangen wird, die sich denkend für die (Massen-)Vernichtung von Menschen entschei-
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Allerdings kann sich diese Charakterisierung nicht auf das Mitleiden als Leidenschaft beziehen. In der englischen Version des Buches verwendet Arendt klar den „pity“-Begriff (vgl. Arendt [1963] 2006: 106; vgl. zu den unterschiedlichen Mitleidstermini bei Arendt Kap. 2.1.1). Denkbar ist, dass dem ‚animalischen Charakter‘, den Arendt hier dem Mitleid zuschreibt, eine Hierarchie inhärent ist, der mit dem Begriff der „compassion“ – als der Leidenschaft des Mitleidens unter Zweien – nicht adäquat beizukommen war, und der darüber hinaus eine deutliche kollektive Komponente beinhaltet. Dieses „echte“ Mitleid, das Arendt den SS-Männern zugestand, ist insofern nicht gleichzusetzen mit dem „wahrhaften“ Mitleiden, das im Privaten zwischen Zweien als Leidenschaft existiert.
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den. (Ein Menschentypus wie) „Eichmann war gerade deshalb so empfänglich für das totalitäre System, weil er sich schon am totalitären Denken berauschen konnte“, resümiert Bettina Stangneth (2011: 290) daher treffend. Dieses Berauschen am totalitären System, Eichmanns „Lust“ am „reinen Funktionieren“ (Arendt/Fest 2011: 39), scheint nach Arendts Interpretation zwar ein genuines Gefühl im Sinne eines Movens gewesen zu sein. Für Arendt ist diese Lust am Befehlefolgen aber vor allem Ausdruck einer ganz und gar unfähigen Persönlichkeit. Ein ums andere Mal wird die Dissonanz zwischen den Taten Eichmanns und seiner Person (wie sie Arendt erschien) deutlich; sie dient aber auf der Metaebene natürlich auch Arendts wiederkehrender Dichotomisierung von Denken und Emotionalität und zugleich ihrer Grundthese, dass die Berauschung an „erhabenen Gefühlen“ mit einer eklatanten Realitätsferne und -flucht einhergeht (vgl. auch Swift 2011: 84). Allerdings schmälert diese Binnendifferenzierung der Täter:innenprofile nicht die politische Gefahr, die auch von denjenigen ausgeht, die für eine gewisse Zeit noch genuines Mitleid empfänden – im Gegenteil: Auch sie werden unter dem Einfluss von „erhebenden Gefühlen“ zu Massenmördern, notiert Arendt am Beispiel Heinrich Himmlers, der die SS-Staffeln auf das Töten, ihre „‚übermenschlich unmenschliche‘“ (Arendt zitiert hier Himmler; Arendt [1963] 2011a: 194) Aufgabe einschwor: „In den Köpfen dieser Männer, die zu Mördern geworden waren, blieb lediglich die eine Vorstellung hängen, daß sie in etwas Historisches, Großartiges, Einzigartiges einbezogen waren, daß sie einer ‚in zweitausend Jahren nur einmal vorkommenden Aufgabe‘ dienten, an der man entsprechend schwer zu tragen hatte“ (ebd.). Die „erhebenden Gefühle“ dienen nach der Deutung Arendts auch „normalen Menschen“ dazu, Grausamkeit in einem bis dato nicht dagewesenen Ausmaß zu mobilisieren und automatisieren.
2.2.4 Arendts Mangel an „Herzenstakt“ Nicht nur für ihre These über die ‚Gefühlsseligkeit‘ und gleichzeitige „Gedankenlosigkeit“ Eichmanns, sondern auch für ihr gesamtes Werk schlug Arendt kurz nach dessen Erscheinen deutliche Kritik entgegen: Sie habe Eichmann, einen der Hauptorganisatoren des Holocausts, als bloßen „Bürokraten“ verharmlost, das Monströse in ihm in eine nicht zu verstehende „Banalität“ verklärt und ihn dadurch seiner kolossalen Schuld entledigt. Im Zentrum der Vorwürfe an Arendt steht aber auch das Argument, dass sie – als Jüdin, als Frau, als Intellektuelle – zu viel Einfühlung gegenüber Eichmann (vgl. Margalit/Motzkin 2000b: 203) und gleichzeitig zu wenig Mitgefühl mit den Opfern des Holocausts gezeigt habe (vgl. u. a. Benhabib 1996: 89; King 2015: 309; Macdonald 1964: 265f.). So behauptete beispielsweise der ehemalige Richter der Nürn107
berger Prozesse, Michael Musmanno, in einer breit rezipierten Rezension im Magazin The New Yorker (1963), Arendt habe klar mit Eichmann sympathisiert. Es gibt Textstellen, die dieses (gewollte oder ungewollte) Missverständnis nähren. So schreibt Arendt ([1963] 2011a: 131 beispielsweise, dass es ein „Dilemma“ gegeben habe „zwischen dem namenlosen Entsetzen vor seinen Taten und der unbestreitbaren Lächerlichkeit des Mannes, der sie begangen hatte“. Nicht zu Unrecht fragt Hans Blumenberg im Hinblick auf die Funktion, die Eichmann im Prozess erfüllt hatte, ob Eichmann wirklich als „Hanswurst“ habe „verharmlost“ werden dürfen: „Das erbeutete Böse kann unmöglich ein Hanswurst gewesen sein; das verunglimpft seine Opfer, die sich ihm voreilig unterworfen hätten – nicht der Mörder, der Ermordete ist auch hier schuldig: der hat die Hanswurstiade ernst genommen, statt sie mit einem Lachen unmöglich zu machen“ (Blumenberg 2015: 77). Was Blumenberg und viele andere Kommentator:innen allerdings missverstanden, das hat Julia Kristeva (2004: 126) mit einem Satz treffend formuliert: „‚Banalität‘ ist [..] noch lange nicht das gleiche wie ‚Unschuld‘.“ Nach ihrer Entscheidung, Eichmann trotz seiner Schuld die Monstrosität zu nehmen, sah sich Arendt neben einer Fülle an kritischen Rezensionen auch persönlichen und vor allem hochemotionalen Vorwürfen und Angriffen ausgesetzt. Davon zeugen die vielen Briefe, die in ihrem Nachlass in der Library of Congress in Washington D.C. archiviert sind. Ein Beispiel ist diese Zuschrift, die es im Gesamten zu zitieren lohnt: Mrs. Hannah Arendt: I was shocked and grieved when I read the review by Michael A. Musmanno of your infamous book ‚Eichmann in Jerusalem‘ […]. But I had no intention of writing to you. What could I add to prove the perversion of your way of thinking what Mr. Musmanno omitted? But on seeing your picture in ‚The New York Times Book Review‘ […], I got an urge to write to you. The picture is of a face hard as rock and cold as ice in the North Pole. Contempt hovers on the lips, and an iron brutality is seen in the eyes. I felt that that page on which your picture is on as [sic!] contaminates the whole of the ‚Review‘. I put on a glove (I felt a revolting to put my bare hand on that page), ripped it out from the ‚Review‘ and, not wanting to give it the dignity of burning it, I threw it in the garbage can. I do not carry hatred in my heart, nor do I take delight in vengeance, but this I know that the souls of our six million martyrs whom you desecrated will swarm about you day and night; they will give you no rest. It cannot be otherwise.65
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Alle Briefe in diesem Abschnitt sind im folgenden Ordner der Hannah Arendt Papers
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Dieser Brief belegt, dass Arendt zu Recht monierte, dass die meisten Kritiker:innen ihr Buch gar nicht selbst gelesen hätten (vgl. Arendt/McCarthy 1995: 233) – er ist aber vor allem eine verstörende und gleichzeitig faszinierende Quelle: Sie offenbart eine unmittelbare und höchst heftige emotionale Reaktion auf Musmannos Thesen zu Arendt, vor allem aber auf das bildliche Porträt der Politischen Theoretikerin. Der theatralische Ekel, die pathetische Wortwahl im letzten Briefabsatz – sie zeugen von einer tiefen emotionalen Verletzung, die Arendts (kolportierte) Thesen dieser Person zugefügt hatten, eine Verletzung, die Arendt offenbar bewusst einkalkuliert hatte (vgl. Smith 2000: 8). So konzedierte Arendt nach dem Erscheinen ihres Buches: „Es gibt […] legitime Gefühle. Und es ist keine Frage: Ich habe Menschen verletzt“ (Arendt/Fest 2011: 59). Es waren vor allem weibliche Kommentatorinnen und Briefeschreiberinnen, so mein Eindruck nach der Sichtung vieler Briefe, die Arendt emotional angriffen: „Dear Mrs Bluecher, I disagree violently with your conclusion in your book“, beginnt einer der Briefe; die Verfasserin einer anderen Zuschrift kommentiert explizit als „a Jewish woman and mother“ und befindet: „You [..] write that the Jews took their suffering so much like sheep. How dare you write such a thing?“. Wiederum eine andere Briefeschreiberin richtete an Arendt den simplen Appell: „[S]chämen Sie sich!“ („Shame!“). Auf den Punkt bringt es aber vor allem der folgende Brief einer „einfache[n] Frau“. In ihrem langen, anklagenden Brief an „Fräulein Hannah Arendt“ heißt es: Sie Hannah Arendt sind eine von den Deutschen […] die ihr Gewissen verloren haben. Die N.Y. Times wiederholt, dass Adolf Eichmann, in Conzentration Lager hinein u. hinaus stürmte, dass er „die Züge beaufsichtigte „vielleicht sogar leitete, wo Menschen, Hannah Arendt, geliebte Menschen, Väter, Mütter, Grosseltern, sogar Kinder abtransportiert wurden zum Schlachthof, wie sie anscheinend selbst in ihrem Geschreibe sagen, von A. Eichmann zu menschlichen Schlacht-plätzen, geführt wurden. […] Meine Enkelkinder sollten aber nie eine Verteidigung eines dieser Unmenschen hören. Verteidigen, Hannah Arendt,? Wissen sie so wenig von dem menschlichen Leid das wir, sie u. ich, jetzt älteren Frauen, miterlebt haben? Falls sie vielleicht weniger davon wissen (ich weiss nicht ob sie Mutter sind) so denken sie nur an die unzähligen Mütter, denen man die geliebten, behüteten Kinder entriss und die
in der Library of Congress zu finden: Hannah Arendt Papers, Adolf Eichmann File, Cont. 43. Rechtschreibung, Zeichensetzung und Hervorhebungen folgen der Originalquellen, soweit nicht anders gekennzeichnet; vgl. auch FN 8.
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sowier [sic!] ein gebrochenes Herz in den Gasofen nahmen. Vergessen sie ihr Herz nicht, Hannah Arendt, sie müssen ein sehr Kluges Mädchen gewesen sein, denn zu unserer Zeit studierten nur wenige von uns. Aber über alle Intelligence geht Menschlichkeit, Liebe u. Ehre.66
Es ist auffällig, dass die Autorinnen dieser Briefe die (kinderlose) Theoretikerin oft explizit als Mütter adressierten; und dass sie an Arendts Schamgefühl und an eine (weiblich konnotierte) Fähigkeit zur „Menschlichkeit“ und „Liebe“ (aber gleichzeitig auch an ein männlich konnotiertes Prinzip der „Ehre“) appellierten. Ganz eindeutig trifft also die Diagnose Deborah Nelsons (2006: 99) zu, dass die Distanz, die Arendt (und auch ihrer Freundin McCarthy) zu ihren Sujets zugeschrieben wurde, „überdramatisiert“ worden sei – „because our culture expects warmth and intimacy from women and feels their absence all the more keenly when they are denied“. Zudem, darauf hat Jennifer Ring (1997: 26ff.) hingewiesen, fiel die Reaktion auf diese Provokation von Männern oft paternalistisch aus, wie unter anderem der viel zitierte Schriftwechsel zwischen Arendt und Gershom Scholem belegt: Scholem wirft Arendt in einem Brief vom 23. Juni 1963 eloquent und exemplarisch für viele andere mangelnde „Ahabath Israel“, also mangelnde Liebe zum jüdischen Volk (vgl. Arendt/Scholem 2010: 429), vor – und damit fehlendes Mitgefühl gegenüber anderen (Jüdinnen und Juden) (vgl. Mosès 2000: 81f.). Dieser Briefwechsel ist im Hinblick auf Arendts Haltung zu politischer Emotionalität auf mehrerlei Weise äußerst aufschlussreich: Was meine Herzlosigkeit etc. anlangt, so werden Sie ja wohl von mir nicht erwarten, dass ich Ihnen darauf antworte. Ich habe es getan, sofern es über die persönliche Invektive hinausging: ‚Liebe zum jüdischen Volk‘ etc. Ich könnte noch nach einer anderen Richtung hin antworten, nämlich über die Rolle des ‚Herzens‘ in der Politik. Ich habe jetzt dazu keine Zeit, würde Sie aber bitten, wenn es Ihre Zeit erlaubt, sich das zweite Kapitel meines Revolutionsbuchs anzusehen, in dem ich mich zu diesen Fragen geäußert habe (Arendt/Scholem 2010: 458).
Arendt schiebt den emotionalisierten Vorwurf der „Herzlosigkeit etc.“ unwirsch beiseite, verweigert ein ‚Bekenntnis‘ im Sinne der Ahabath Israel (vgl. hierzu auch Arendt/Scholem 2010: 439) und verweist direkt auf das entscheidende Kapitel aus Über die Revolution, in dem sie sich mit der politischen Instrumentalisierung des Mitleids kritisch auseinandergesetzt hatte (vgl. Kap. 2.1). Damit zeichnet Arendt eine direkte inhaltliche Verbindungslinie 66
Unterstreichungen gemäß dem Original; meine Hervorhebungen in kursiv.
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zu ihrer Kritik an der strategischen Emotionalisierung politischer Angelegenheiten und bestätigt damit selbst die Annahme über den werksübergreifenden Zusammenhang ihrer Thesen in beiden 1963 erschienenen Büchern. In der Kontroverse sind Arendt und ihr Buch folglich selbst zu einem Politikum geworden. In diesem Kontext versuchte Arendt sich der Forderung nach öffentlich zur Schau gestellter Gefühlsoffenbarung sowie einer Vereinnahmung ihrer Thesen für identitätspolitische politische und wissenschaftliche Agenden maximal zu entziehen. Für sie bedienten sich Hetzkampagnen wie diejenige, der sie sich im Rahmen der Kontroversen um ihr Buch ausgesetzt sah, systematisch des Vorwurfs mangelnden Mitgefühls: „Wie oft denen, die Tatsachen berichten, Mangel an ‚Herzenstakt‘ vorgeworden wurde, wissen Sie so gut wie ich“, ergänzte Arendt in ihrem Briefwechsel mit Gershom Scholem für die Veröffentlichung desselben in der Neuem Zürcher Zeitung (Arendt/Scholem 2010: 445). Eva Illouz (2015b: 42f.) definiert diesen „Herzenstakt“ im öffentlichen Raum als „jenes unaussprechliche, nicht auf den Begriff zu bringende Vermögen, den Drang, die Wahrheit zu sagen, gegen die Anerkennung der realen oder potenziellen Qual eines anderen Menschen abzuwägen“ (vgl. zum Vorwurf des mangelnden „Herzenstaktes“ auch Ignatieff 2003; Young-Bruehl 2004: 463). In Arendts Briefwechsel mit Scholem wird deutlich, dass sie diese Anforderung zwar wahrnimmt, aber zurückweist; und dass sie die Instrumentalisierung des Mitleids gegen sie als Mittel interpretierte, unbequeme Wahrheiten zu diskreditieren. Arendts Insistieren auf einem emotionslosen „Tatsachen“-Bericht über den Eichmann-Prozess, auf die Maxime des Nicht-Fühlens, die sie mit gradliniger Konsequenz durch ihre Thesen drückt, stand dem kollektiven Bedürfnis nach Heilung und Trost unversöhnlich gegenüber. Arendt habe mit ihrer Eichmann-Schrift dem jüdischen Volk den negativen Gründungsvater der Nation abspenstig gemacht, befindet Blumenberg (2015: 13; vgl. auch Nelson 2004: 222; 2017: 10). Blumenberg weist damit auf einen wichtigen Punkt hin: Der Prozess gegen Eichmann hatte eine wichtige Funktion zu erfüllen – er sollte Trost spenden (vgl. auch Meyer 2015b: 107). Dass Arendt sich dazu entschied, sich der populären Deutung der vermeintlichen Gefühllosigkeit Eichmanns zu widersetzen, hatte Konsequenzen für den Prozess der kollektiven Verarbeitung der nationalsozialistischen Taten. Genau diesen emotionalen ‚Heilungsprozess‘ enthielt Arendt ihren Leser:innen vor. Darauf weist auch Mary McCarthy hin: „Vielleicht bin ich dumm, aber mir scheint, Du sagst, daß einem Eichmann eine grundlegende menschliche Eigenschaft fehlt: die Fähigkeit zu denken […]. Aber ist er dann nicht einfach ein Ungeheuer? Wenn Du ihm aber ein schlechtes Herz zugestehst, läßt Du ihm eine gewisse Freiheit, die uns erlaubt, ihn zu verurteilen“ (Arendt/ McCarthy 1995: 429). 111
Anschaulich verdeutlicht McCarthy damit erneut ein Dilemma von Arendts Eichmann-Interpretation: Wenn jemand ein schlechtes Herz hat, kann er dafür verurteilt werden, können der Wut und dem Entsetzen Ausdruck verliehen werden. Wenn jemand jedoch „gedankenlos“ im Arendt’schen Sinne ist – also unfähig, zu denken und sich die Perspektive anderer vor Augen zu führen – finden diese Emotionen letztlich keinen Adressaten. Damit wird ihren Träger:innen auch die dringend benötigte Erlösung verwehrt. Arendts These über die „Gedankenlosigkeit“ bietet wenig bis gar keinen Spielraum, um zu verurteilen. Sie überlässt damit die Opfer dieser Gedankenlosigkeit einer Leere, die sich wie eine ungerechtfertigte Ent-Schuldigung anfühlen musste. Insofern erscheint es nur logisch, dass sich die Wut und das Entsetzen über die Taten Eichmanns in der Rezeption von Eichmann in Jerusalem letztlich gegen Arendt selbst richteten. Arendt verhinderte mit ihrer spezifischen Charakterstudie über Eichmann nicht nur im Inhalt Trost und Heilung – auch der Ton, mit dem sie Eichmann in Jerusalem zu Papier brachte, war und ist (vgl. u. a. Vetlesen 1994: 86) in den Augen vieler Kommentator:innen unangemessen bis pietätlos. Liest man Sätze wie den folgenden über den Judenrat Rudolf Kastner, der an der Auswahl von Jüdinnen und Juden für Transporte aus Ungarn beteiligt war und der in dieser Funktion auch direkt mit Adolf Eichmann zusammengearbeitet hatte, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass dieser Vorwurf eine gewisse Berechtigung hatte – insbesondere in der Parallelisierung zwischen dem Täter schlechthin und einem Juden: „Nun saß der Teufel selbst [Arendt bezieht sich hierbei auf Eichmann, AKW] auf der Anklagebank und entpuppte sich als ‚Idealist‘; und so unglaublich es klingt: es ist durchaus möglich, daß derjenige, der seine Seele verkauft hatte [damit meint Arendt Kastner, AKW], ebenfalls ein ‚Idealist‘ gewesen ist“ (Arendt [1963] 2011a: 117).67 Zutreffend ist daher Annette Vowinckels (2001: 235) Einordnung, dass Arendts Ton „zwischen Ironie und abgrundtiefen Zynismus“ schwankte; für Amos Elon 67
Jennifer Ring (1997: 26) bietet die interessante These an, dass Arendt aber nicht nur ausgehend von der Charakterstudie über Eichmann, sondern auch in Verbindung mit ihrer Kritik an der Kooperation einiger Judenräte bei der Organisation der Massenvernichtung zu ihrer These über die gravierenden Folgen der „Gedankenlosigkeit“ gelangt sei: „Her argument in Eichmann is that a nearly universal failure to think on the part of both oppressors and victims allowed the destruction of the Jews to proceed.“ Dieses Argument wird in ihrer Allgemeinheit von Arendts Thesen zu einem gewissen Grad gestützt (vgl. u. a. Arendt [1963] 2011a: 117). Allerdings besteht in der Schilderung Arendts ein deutlicher Unterschied zwischen dem Angeklagten in Jerusalem, der umfassend unfähig zum (erweiterten) Denken gewesen sei, und den Judenräten, die, durchaus gedacht und geurteilt, die aber letztlich ein falsches politisches Urteil – nämlich das zur Kooperation – getroffen hätten.
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(2000: 24) wirkt er hingegen „unerträglich arrogant“ und „herrisch, voller Professorenherrlichkeit [sic!]“. Auch wenn viele der Angriffe auf Arendts Eichmann-Buch von Unkenntnis und Missverständnis ihrer Thesen und Intentionen herrühr(t)en, und auch wenn gegebenenfalls ein deutliches Zuviel an Emotionalität in die Rezeption des Werkes eingeflossen ist, so verweist der Vorwurf der Arroganz und des mangelnden „Herzenstaktes“ auf der Metaebene ihrer Studie auf einen schmerzlich wahrgenommenen ‚emotionalen Mangel‘ in Arendts Schreiben, der so auffällig in Kontrast zu ihrer ‚emotionalen Methode‘ (vgl. Kap. 1.2) steht. Diese Kantigkeit im doppelten Wortsinn, mit der sich Arendt gezielt jeglicher Emotionalisierung verweigert, ist zugleich befremdlich und faszinierend, wie diese Dialogpassage zwischen Arendt und dem Journalisten Günter Gaus eindrucksvoll belegt: Arendt: Der Ton ist weitgehend ironisch, natürlich. Und das ist vollkommen wahr. Der Ton ist in diesem Falle wirklich der Mensch. Wenn man mir vorwirft, daß ich das jüdische Volk angeklagt hätte: Das ist eine böswillige Propagandalüge und nichts weiter. Der Ton aber, das ist ein Einwand gegen mich als Person. Dagegen kann ich nichts tun. Gaus: Das sind Sie bereit zu tragen? Arendt: Oh, gern. Was soll man denn da machen, nicht wahr? Ich kann den Leuten doch nicht sagen: Ihr mißversteht mich, und in Wahrheit geht in meinem Herzen dies und jenes vor! Das ist doch lächerlich (Arendt 2007a: 64f.; meine Hervorhebung).
Die Ironie diente Arendt offenbar als Instrument des Selbstschutzes. Diese Passage legt aber auch ein Verständnisproblem zwischen Arendt und den Rezipient:innen ihres Eichmann-Buches offen: „Die Leute“ erwarteten von Arendt weniger Bekenntnisse ihres Herzens als vielmehr einen respektvoll(er) en Umgang mit den von Arendt berichteten „Tatsachen“. Das hat Arendt nicht gesehen beziehungsweise, wohl eher, nicht sehen wollen: dass dieser Teil der Kritik nicht auf Bekenntnisse ihrer Authentizität aus war, sondern vielmehr auf die Komponente des Fühlens – sowohl auf der Metaebene ihrer Studie als auch auf der Inhaltsebene –, die sie in Eichmann in Jerusalem so bewusst und geradezu störrisch unterdrückt hat. In seiner fokussierten Studie über diese „Taktlosigkeit“ bietet Simon Swift die These an, dass der spezifische Ton in Eichmann in Jerusalem, aber auch in anderen Werken Arendts, ein Symptom totalitärer Gewalt sei. Für Swift steht nicht der Zynismus Arendts im Vordergrund, sondern „a calculated lack of heart and a cultivated anger“ (Swift 2011: 82), den er liberalen Rationalisierungsversuchen diametral entgegensetzt. Für den Literaturwissenschaftler ist 113
diese Form der ‚emotionalen Methode‘ Arendts mehr als ein Stilmittel, nämlich ein historisches und politisches Statement: „Her tactlessness is deliberate and performative to the extent that it knows its effect on her audience“ (Swift 2011: 85). Für Deborah Nelson ist der vermeintlich fehlende „Herzenstakt“ Ausdruck einer „toughness“ (Nelson 2006: 88; vgl. auch 2017), einer Widerstandsfähigkeit auf der Metaebene des Werkes. Die Ironie ist dabei allerdings nicht, wie Nelson schreibt, „affektlos“ (Nelson 2004: 232) – im Gegenteil: In Arendts Eichmann-Studie blitzt in den tiefironischen Passagen immer wieder emotionale Betroffenheit auf, meist in Form von Bitterkeit und Empörung. Es ist mir wirklich unverständlich, wie diese von Kommentator:innen – zumindest von denjenigen, die ihr Buch tatsächlich gelesen hatten – missverstanden werden konnte. Die Reaktion Arendts auf Eichmanns „Gedankenlosigkeit“ sowie auch auf die spezifische „Lächerlichkeit“ (Arendt [1963] 2011a: 131) des Angeklagten vor Gericht ist ganz klar (ab-)wertend und emotional.68 Ein weiterer Beleg für diese These lässt sich auch an den Textstellen finden, in denen Arendt mit tiefer emotionaler Erschütterung die Ungeheuerlichkeiten des Holocausts beschreibt – ein Subtext, der parallel zu ihrer expliziten, oft die Pietät schmerzhaft tangierenden, kontextuellen Oberfläche verläuft (vgl. u. a. Arendt [1963] 2011a: 79f.). Arendts ‚emotionale Methode‘ erreicht in Eichmann in Jerusalem also einen ganz eigenen, widersprüchlichen Zenit. Sie steht in einem spannungsvollen Kontrast zu Arendts Insistieren auf einer (vermeintlich) emotionslosen Berichterstattung und Theoriebildung über „Tatsachen“. Diese Widersprüchlichkeit wird auch im Gaus-Interview offenkundig. Hier antwortet Arendt im Kontext der Debatte über ihr Eichmann-Buch merklich agitiert: Arendt: „Wenn man der Meinung ist, dass man über diese Dinge nur schreiben kann, wie soll ich sagen, pathetisch… und [längere Pause] … indem man … [längere Pause] wenn, oder sagen wir mal anders, ich will gar nicht aggressiv werden… Gaus: „Werden Sie aggressiv?“ Arendt: „Nein, wozu?…“69
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Stangneth (2011: 287) unterstellt Arendt hierbei auch eine Art emotionale Reaktion als „Berufsarroganz“, bezogen auf einen Mann, der sich anmaßte, vor Gericht mit Kant zu argumentieren und sich des Schreibens und der Philosophie, also Arendts Metiers, zu bedienen. In der verschriftlichten Version des Interviews ist Arendts Zögern sowie der Aspekt der Aggression mitsamt der eingeworfenen Frage Günter Gaus’ nicht wiedergegeben (vgl. Arendt 2007a: 64). Hier empfiehlt sich das Videodokument des Interviews, das u. a. hier abzurufen ist: www.youtube.com/watch?v=J9SyTEUi6Kw [letzter Zugriff am 12.09.2023]. Die entsprechende Gesprächspassage lässt sich bei 48:44 finden.
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Was Arendt eigentlich ablehnte, war das Mitleid für die Opfer des Holocausts als Gegenstand und Tonalität ihrer Studie über Eichmann. In der Tat hatte sie für „Sentimentalität“ nichts übrig – das belegt auch ein Brief, den Arendt 1948 an Dolf Sternberger schrieb: „[W]as Sentimentalität auch im guten Sinne anlangt habe ich die Seele eines besseren Schlachterhundes“ (Arendt 2013: 80f.). Am Bild des Schlachterhundes zeigt sich, wie eng Arendts Abneigung von „Sentimentalität“ mit ihrer eigenen Biografie verknüpft ist: Dieses bedauernswerte Geschöpf hat so viel gesehen und erlebt, dass es abgestumpft ist angesichts des Leidens, das sein ganzes Lebensumfeld darstellt. Die Parallele, die Arendt als deutsche Jüdin hier indirekt zeichnet, liegt klar auf der Hand. Arendts Unbehagen angesichts öffentlich gezeigter „Sentimentalität“ wird auch anhand ihres Urteils deutlich, wonach das Prozessgeschehen durch überbordende Emotionalität in Mitleidenschaft gezogen worden sei: Das Leid der Opfer des Nationalsozialismus, die von der Anklage vor Gericht geladen wurden, sei zur Schau gestellt worden: „Herr Hausner hatte eine ‚tragische Menge‘ dieser von Leid Gezeichneten zusammengeholt, und jeder einzelne von ihnen wollte diese einzigartige Gelegenheit wahrnehmen, jeder war überzeugt, einen Anspruch darauf zu haben, seine Geschichte gerichtsnotorisch zu machen“, schreibt Arendt ([1963] 2011a: 318f.) mit unverhohlener Abneigung. Ich teile zwar das Unbehagen Ahlrich Meyers zu Arendts Bewertungen über die Zeugenaussagen vor Gericht (vgl. Meyer 2015a: 42). Allerdings deute ich diese weniger als „Abwertung“ der Zeug:innen, sondern vielmehr als Missfallen Arendts, diese in all ihrer Emotionalität vorgeführt zu sehen, und zwar insbesondere angesichts einer für Arendt klar auf der Hand liegenden politischen Agenda, in deren Dienst sie das Mitleid gestellt sah. Denn für Arendt grenzte der Prozess an einen orchestrierten „Schauprozess“ (Arendt [1963] 2011a: 71) des damaligen israelischen Premierministers David Ben Gurion (dem „unsichtbare[n] Regisseur“), der sich auf einer Bühne und vor Publikum abgespielt habe. Ein Bühnenstück lebt von Emotionen – auch deshalb muss Arendt der Prozess in Jerusalem suspekt gewesen sein, in dem die Emotionalität der Zeug:innen, die den Horror des Holocausts vor Gericht belegten, bewusst einkalkuliert war und für politische Zwecke instrumentalisiert wurde (vgl. u. a. Swift 2011: 83). Diese performative Emotionalität drohte in den Augen Arendts vom Wesentlichen abzulenken (vgl. Arendt/Jaspers 1985: 471; Nelson 2004: 226) – nämlich der spezifischen Ausprägung des „banalen Bösen“, das Eichmann verkörperte. Allerdings weist Arendts Werk derart beißenden Zynismus und scharfe derogative Formulierungen auf, dass sich in aller Klarheit zeigt: Arendt hat zwar ohne Mitleid, aber durchaus mit Pathos über „diese Dinge“ (Arendt/ Fest 2011: 59) geschrieben – nur eben nicht mit einem Pathos des Mitleids, 115
sondern mit einem Pathos der Wut, Empörung und der Notwendigkeit, angesichts des ungeheuerlichen „Banalen“ dessen „Lächerlichkeit“ zu enthüllen.
2.3 Zwischenfazit In der Zusammenschau von Über die Revolution und Eichmann in Jerusalem kristallisiert sich eine zwar fragmentarische, manchmal widersprüchliche, aber dennoch aussagekräftige ‚Mitleidstheorie‘ sowie ein Gesamtbild der Arendt’schen Thesen zur Emotionalität im politischen Raum heraus. Dieses Gesamtbild ist geprägt von der Warnung vor der Verführung, Mitleid zu einem zentralen politischen Mittel, vielleicht sogar zu einem politischen Ziel zu erheben; außerdem von tiefer Besorgnis über die Unfähigkeit oder den Unwillen, sich die Welt aus der Perspektive anderer Menschen vorzustellen. In beiden „Charakterbildern“ bietet Arendt aber auch theoretisch interessante Alternativvorschläge zur mitleidenden Emotionalität im Politischen an, die auf das Einnehmen einer allgemeinen Position abzielen: in Über die Revolution das von Emotionen befreite – und generell „mit Männlichkeit und Stärke positiv konnotiert[e]“ (Bargetz 2020: 28) – politische Prinzip der Solidarität sowie die Fähigkeit zum Perspektivwechsel, die Arendt in Eichmann in Jerusalem zur Maxime der „erweiterten Denkungsart“ ausgearbeitet hat. Trotz Arendts relativ rigider Binnendifferenzierung zwischen einem individuellen und intimen Mitleiden als „wirkliche“ Leidenschaft sowie der „Perversion“ der Leidenschaft in das Mitleid als kollektiv erleb- und instrumentalisierbare Stimmung verschmilzt diese Dichotomie letztlich in ihren Kernthesen zur Wirkmächtigkeit des Mitleids im politischen Raum, genauer: in der Feststellung des apolitischen Charakters des Mitleidens als Leidenschaft und der antipolitischen (und zuweilen proto-totalitären) Konsequenzen des Mitleids als Gefühl: Für Arendt beinhaltet das Mitleid in beiden Ausprägungen Sprachlosigkeit und einen unmittelbaren Handlungsimpuls. Aus ihren Thesen sticht hierbei maßgeblich die damit verbundene Gefahr des Füreinanderhandelns hervor, die deshalb problematisch ist, weil sie die Arendt’sche Vorstellung von Politik als gemeinsamen Akt des Sprechens und Handelns unter Gleichen ausgehebelt. Das Mitleid ist dann eben nicht „uneigennützig“, wie es ein populäres PsychologieLexikon postuliert (vgl. FN 3). Stattdessen begünstigt es eine Hierarchisierung zwischen dem Subjekt und dem Objekt des Mitleids und ist folglich mit (rechtlicher) Gleichheit und Freiheit normativ nicht zu vereinbaren. Arendts Thesen zum Mitleid berühren dagegen Fragen nach Gerechtigkeit kaum beziehungsweise werten sie als Agitation für soziale Gerechtigkeit ganz klar ab. Stattdessen verweisen sie auf das antipolitische und sogar proto-totalitäre Potenzial von im Voraus festgelegten politischen Zielsetzungen, wie etwa die Abschaffung 116
sozialer Ungerechtigkeit: „[S]he [..] refused to entertain the idea that one could derive valuable, strong welfare measures from a civic experience of compassion“ (Bourgault 2018: 232; vgl. kritisch hierzu auch von Tevenar 2014). Ihre Interpretation ist in dieser Hinsicht logisch und bestechend: Das leidenschaftliche Mitleiden als Movens und das gefühlsselige Mitleid als ‚politisches‘ Mittel und Ziel drängen demnach das Subjekt der Emotion dazu, das (vermeintliche) Leiden des anderen oder eines Kollektives zu beenden, ohne vorher in den Dialog mit dem Objekt des Mitleids zu treten. Dieses Handeln ist sowohl für das Subjekt des mitleidigen Handlungsimpulses als auch das entsprechende Objekt eine explizit antipolitische Erfahrung: Es verhindert zum einen Deliberation und Macht und fördert zum anderen separierendes, kolonialisierendes und letztlich gewaltaffines Verhalten. Das Handeln für andere im Namen des Mitleids ist bei Arendt mit einer elitären Herrschaftsstruktur verknüpft, die eine Politik unter Gleichen von vornherein unterläuft, da der politische Zwischenraum – den Arendt mit der berühmten Metapher des „Tisches“ illustriert (vgl. Arendt [1958] 2007: 66) – zerstört wird. Allerdings unterschlägt die damit verbundene Maxime des Miteinanderhandelns durchaus die Fälle, in denen zumindest ein initiales Handeln überhaupt nur im Modus des Füreinanders möglich ist, um eine politische Weichenstellung anzustoßen. Auch kann das Mitleid in diesem Fall tatsächlich bewirken, dass uns das Schicksal anderer nicht gleichgültig ist. Auch wenn dieses Szenario durchaus mit Vorsicht zu behandeln ist, wie Arendts Thesen eindrücklich gezeigt haben, ist der völlige Ausschluss des Mitleids aus einer Politischen Theorie insbesondere aus einer feministischen Perspektive (der Fürsorge) nicht minder bedenklich. Das Füreinanderhandeln auf Basis des Mitleids untergräbt in Arendts Konzeption das Faktum der menschlichen Pluralität durch den Versuch, den Partikularfall zu politisieren, sowie durch Aufhebung der nötigen Distanz zwischen den Menschen, die nach Arendts Interpretation in einen Rousseau’schen (und proto-totalitären) „Gemeinwillen“ gepresst werden. Damit ist das Funktionieren unabhängiger politischer Urteilskraft kompromittiert. Auch der Distanz- und Selbstverlust, der der Empathie laut Arendt inhärent ist, bietet diesen antipolitischen Tendenzen Gestaltungsspielraum, denn in der Übernahme der Gefühle und Gedanken anderer verliert sich das Selbst als eigenständig denkendes und handelndes Subjekt. In den denkbar knappen Ausführungen Arendts zur Empathie plädiert sie daher erneut für ein starkes Distanzverhältnis der Subjekte im politischen Raum. Nicht minder besorgniserregend ist eine zunächst eher harmlos anmutende Diagnose, deren Gefahrenpotenzial Arendt allerdings in bestechender Logik ausbreitet: das antipolitische und potenziell proto-totalitäre Erleben einer Art von Rauschzustand, das Emotionen im Politischen, vor allem aber das Mit117
leid, begleitet. Dieser „Zauber“ ist ein beeindruckendes und auf Nietzsche zurückgehendes Motiv in Arendts Politischer Theorie, das sie für ihre eigene Kritik am Mitleid nutzbar gemacht hat: In ihrer Analyse über das Mitleid der französischen Revolutionäre, das sich sowohl als politisches Mittel als auch als revolutionäres politisches Ziel gezeigt hätte, positioniert Arendt den „Zauber“ dieses Mitleids diametral gegenüber der Realität und klassifiziert das Erleben des emotionalen Rauschzustandes als gefährlichen Selbstzweck. Laut Arendts Prozessbericht war auch Eichmann von einem ähnlichen „Zauber“ erfüllt: Indem er sich an seinen eigenen „erhebenden Gefühlen“ berauschte, habe er sich von der Realität seines Handelns als einer der Hauptorganisatoren der Massenvernichtung radikal entfremdet und sich stattdessen, so Arendts Interpretation, an seiner eigenen Gefühlswelt gelabt. Arendt überträgt diese Kritik auch auf die sogenannten „68er“ und deren Ansinnen, die Schuld am Holocaust ihrer Generation zumindest als symbolisch-rhetorischen Akt aufzuerlegen: „Sich schuldig zu fühlen, wenn man absolut nichts getan hat, und es in die Welt zu proklamieren, ist weiter kein Kunststück, erzeugt allenthalben ‚erhebende Gefühle‘ und wird gern gesehen“ (Arendt [1963] 2011a: 369). Auch hier diagnostiziert Arendt wieder eine Realitätsabkehr und emotionale Flucht: „[W]enn diese Jugend von Zeit zu Zeit – bei Gelegenheit des AnneFrank-Rummels [sic!] oder anläßlich des Eichmann-Prozesses – in eine Hysterie von Schuldgefühlen ausbricht, so nicht, weil sie unter der Last der Vergangenheit, der Schuld der Väter, zusammenbricht, sondern weil sie sich dem Druck sehr gegenwärtiger und wirklicher Probleme durch Flucht in Gefühle, also durch Sentimentalität entzieht“ (Arendt [1963] 2011a: 370). Die Kritik an der Selbstaffizierung, die einer (kritischen) Reflexion diametral entgegensteht, ausschließlich auf die eigene Innerlichkeit abzielt und eine fatale Abkehr von der Verantwortung für die Mitwelt markiert, kulminiert in der Zusammenschau von Über die Revolution und Eichmann in Jerusalem. Damit wird auch eine starke Verbindungslinie zwischen den beiden Werken sichtbar. Diese in beiden politiktheoretischen „Charakterbildern“ von Arendt identifizierte spezifische Stimmung geht, ihrer Interpretation zufolge, mühelos mit absoluter „Gedankenlosigkeit“ einher. Eine derartige Emotionalität glorifiziert das eigene (Nicht-)Handeln und perpetuiert damit potenziell das Leiden des anderen – oder dieser „Zauber“ führt zu gänzlich apolitischer Untätigkeit, zu einer romantischen Innenwendung und Nabelschau, die ein politisches Urteil und ein anschließendes Handeln verhindern. Arendts Thesen über den „Zauber“ der „erhebenden Gefühle“ lenken den Blick gezielt auf die Frage, wem genau das politisierte Mitleid eigentlich dient: dem Objekt oder doch eher dem Subjekt des Mitleids. Ihre in dieser Hinsicht wirklich beeindruckende Argumentation legt offen, dass ein instrumentalisiertes Mitleid im politischen Raum letztlich nicht automatisch demjenigen nützen wird, der 118
sich in einer Notlage befindet. Diese Tatsache wird leider allzu oft vergessen, wenn das Mitleid/Mitgefühl (sozial-)politisch angerufen wird. Mit Thesen wie diesen hat sich Arendt auf politisch-kultureller Ebene deutlich gegenüber dem bereits Mitte des 20. Jahrhunderts erstarkenden Gefühlsdiskurs sowie dem damit einhergehenden Gefühlsprimat positioniert. Damit sei sie mit ihrer Freundin Mary McCarthy und einflussreichen Denkerinnen wie Susan Sontag und Simone Weil in guter Gesellschaft gewesen, schreibt Deborah Nelson: „This resistance to emotion while in the domain of painful reality [..] sets them apart from the type of political affiliation favored by the progressive social movements that emerged in the mid-twentieth century, all of which advocated bonds of feeling and group identification“ (Nelson 2017: 11; vgl. auch Nelson 2006: 87). Interessant ist hierbei der realpolitische Kontext, in dessen Rahmen Arendt sich vehement gegen den „Zauber“ des politisierten Mitleids und für ein emotionsfreies Primat des (erweiterten) Denkens ausgesprochen hatte: nämlich die US-amerikanische Bürgerrechtsbewegung. In der Tat war Arendt deren Gefühlsdiskurs hochgradig suspekt und unangenehm – davon zeugt ihr Brief an den Schriftsteller James Baldwin anlässlich der Veröffentlichung eines seiner Essays (vgl. generell zu Arendt und Baldwin u. a. Caver 2019): „What frightened me in your essay was the gospel of love which you begin to preach at the end. In politics, love is a stranger, and when it intrudes upon it nothing is being achieved except hypocrisy. […] Hatred and love belong together, and they are both destructive; you can afford them only in the private and, as a people, only so long as you are not free.“70 In diesen Zeilen steht offenkundig ein starkes Unbehagen im Zentrum. Deborah Nelson (2017: 8) ist folglich zuzustimmen, dass in Arendts Augen der Trost für (politischen) Schmerz in der Sphäre der Intimität letztlich als Narkotikum gewirkt habe. Appelle an kollektive emotionale Reaktionen auf Unrecht und Ungleichheit, wie sie Baldwin oder vor allem auch Martin Luther King jr. forderten, mussten daher für Arendt Unverständnis und Besorgnis hervorrufen. Eine politische Lösung der Bürgerrechtsfrage war für Arendt ausschließlich eine institutionelle (vgl. Caver 2019: 36; Norton 1995). So galt nach Arendts Dafürhalten für die Bürgerrechtsbewegung im Grunde genau dasjenige Verdikt, das sie bereits für andere „finstere Zeiten“ von Unterdrückung, Gewalt und Terror gefällt hatte: Angesichts dieser Grausamkeiten liege die Versuchung nahe, sich auf eine (innerliche) Natur des Menschen zu besinnen, die sich auch durch Mitleid, eine nach innen gerichtete Solidarität und eine eng gefasste ‚Liebe‘ innerhalb einer Minoritätengruppe auszeichne. Für 70
Hannah Arendt Papers, Correspondence File, Cont. 9.
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Arendt jedoch führt dieser Weg fort von der Welt und der Verantwortung für eben diese; beziehungsweise ist diese Richtung Ausdruck eines bereits erfolgten Weltverlusts. Nur Parias hätten ein „Recht auf Wärme“ der eng aneinander gerückten Menschen, also ein Recht auf apolitische Distanzlosigkeit, nicht aber „diejenigen, die auf Grund ihrer andersgearteten Stellung in der Welt eine Verpflichtung für die Welt haben“, wie Arendt ([1968] 1989b: 31) in ihrer Lessing-Rede vermerkte. Man dürfe eben nicht die „Wärme der Intimität“ als „Ersatz für die Leuchtkraft“ (Arendt [1968] 1989b: 47) und die Streitkraft des öffentlichen Raumes eintauschen. Arendts Brief an Baldwin offenbart vor diesem Hintergrund eine mehr als deutliche Warnung vor einer zu starken Intensität und Indienstnahme der Nähe. Diese wirkt aus heutiger Perspektive überzogen, auch wenn Arendt im Kontext ihrer eigenen biografischen Erfahrungen (dazu unten mehr) von der Totalität der Distanzlosigkeit geprägt war. Im Baldwin-Brief lässt sich aber noch eine weitere Parallele zu Arendts übergeordneten Mitleidsthesen finden: Der Appell an die kollektive „Liebe“ der Parias macht demnach unfrei. Aber nicht nur die Liebe, sondern auch das Mitleiden reißt das Subjekt wie eine naturgewaltliche Welle mit, ohne dass es sich dagegen wehren könnte. Arendts Verdikt, dass der Eigenwille verloren gehe, wenn das Subjekt mitleide, ihr Insistieren, dass die Leidenschaft des Mitleidens sprachlos mache und gleichsam, auch als „pervertiertes“ Gefühl, zum unmittelbaren Handeln dränge – auch diese Charaktereigenschaften des Mitleids weisen auf die Unfreiheit des (mit-)fühlenden Menschen hin: Das Mitleid gehört nicht zu den zahllosen Eigenschaften, die ein starker Charakter nach Belieben ein- oder auch ausschalten, mit denen er im Spiel der Welt nach Belieben spielen, sich in das Getriebe einlassen und auch wieder aus ihm zurückziehen kann. Mitleid ist eine Leidenschaft, und der Leidenschaften ist der Mensch nicht Herr. Nur eigentlich leidenschaftslose Menschen sind vollkommen souverän (Arendt [1968] 1989a: 273).
Eine solche Unfreiheit im „Getriebe“ der Leidenschaften ist für Arendt im politischen Raum töricht und brandgefährlich. Insbesondere ist sie für eine Theoretikerin wie Arendt, für die Freiheit zentral war, nicht hinnehmbar. Die politische Indienstnahme des Mitleids setzt jedoch nicht nur die Freiheit aufs Spiel – auch die Welt als gemeinsame Mitwelt, auf deren Grundlage sich die Freiheit überhaupt erst entfalten kann, ist essenziellen Gefahren ausgesetzt: Angesichts von „finsteren Zeiten“, den „Grenzsituationen“, liegt demnach die Versuchung nahe, sich auf Emotionalität und damit auf einen Rückzug ins Innere zu besinnen, weg von der Realität und hin ins Fühlen, mit dem eigene Scheinrealitäten erschaffen werden. 120
Die Unerbittlichkeit, mit der Arendt an die Verantwortlichkeit für die gemeinsame Welt und für das Sichkümmern um die öffentlichen Angelegenheiten appelliert, ist einerseits mitreißend und von großer politiktheoretischer Bedeutung – sie ist insbesondere für alle Zeiten politischen Umbruchs eine angemessene Warnung vor dem Rückzug in das Behagliche, das Schützende des privaten Raumes und den daraus resultierenden Konsequenzen. Andererseits aber ist diese normative Festlegung Arendts so strikt und undurchlässig, dass sie schwerwiegende Probleme bereitet, und das sowohl für die Lebenswelt jeder Einzelnen, vor allem in ihrem inerten Bedürfnis nach Rückzug und „Wärme“, als letztlich auch für eine gerechte Gestaltung einer ganzen Gesellschaft: Denn diejenigen, die politische Anliegen im öffentlichen Raum ausdiskutieren und konzertiert handeln können, sind auch diejenigen, die des Rückzugs in den privaten Raum nicht (vollends) bedürfen. Allen anderen wird durch Arendts oben genannte Diagnose sowie die darin inhärente strikte Sphärentrennung erneut die politische Handlungsfähigkeit abgeschrieben und der private Raum als legitimer (wenn auch temporärer) Rückzugsort des Menschseins gleichzeitig degradiert. Vor dem Hintergrund, dass Arendt selbst darauf gepocht hat, dass das Private als Schutzraum vor dem gleißenden Licht der Öffentlichkeit unter allen Umständen gewahrt werden müsse, ist diese Konzeption unverständlich – allerdings ist sie natürlich mit Blick auf Arendts rigide Sphärentrennung alles andere als überraschend. So ist denn auch die daran angelehnte zweigeteilte Konzeption des politisierten Mitleids entlang der von Arendt kontrastierten Sphären des Privaten und des Öffentlichen an sich problematisch. Sie ermöglicht es Arendt zwar, dem Mitleiden (als Leidenschaft) einen Raum zuzugestehen – allerdings einen sehr kleinen und letztlich fast hermetisch von der zu schützenden Öffentlichkeit abgegrenzten. Außerdem basiert diese Dichotomie auf einer problematischen Differenzierungsfrage, nämlich derjenigen nach der Authentizität des Mitleids: Laut Arendt ist nur das intime Mitleiden „wirklich“, also authentisch; das politische Mitleid hingegen ein „bloßes“ Gefühl und damit „falsch“, weil es als politisches Mittel und als politischer Zweck instrumentalisiert werden kann. Auch wenn Arendt dem Mitleid als Movens eine punktuelle Durchlässigkeit zugesteht, ändert dies sowohl an Arendts Zweiteilung als auch am generellen Grundtenor ihrer Thesen letztlich wenig: Das Unterbinden von Emotionen in der Sphäre des Politischen, allen voran des Mitleids, ist spätestens ab ihrer Lessing-Rede ein ganz deutlich ausformuliertes normatives Anliegen Arendts. Dieser Rigorismus zieht sich, das hat die Analyse gezeigt, durch Arendts gesamte ‚Emotionstheorie‘; der von vornherein limitierte Fokus auf die mangelnde Legitimität von Mitleid im Politischen verstellt den Blick auf die eigentlich relevanten politiktheoretischen Fragen, beispielsweise die nach der (demokratischen) Legitimation von politischen Emotionen. 121
Arendts Weigerung, moralische Richtlinien für das „erweiterte“ Denken vorzugeben, ihr kategorischer Ausschluss von Emotionalität aus dem politischen Raum sowie ihre Warnung vor Distanzverlust und Partikularität – all dies kontrastiert sie mit ihrer Idealvorstellung des Politischen als Maxime des Selbstdenkens und der emotionslosen Distanzwahrung. Zwar ist Arendts Theorie nicht in dem strikten (auf Platon zurückgehenden) Dualismus zwischen Emotionalität und Rationalität verankert, die ihr beide in ihrer jeweiligen ‚überschwänglichen‘ Ausprägung – wenn auch in deutlich ungleichem Maße – suspekt waren. Dennoch dichotomisiert und hierarchisiert Arendt in ihren Thesen zum Mitleid und zur „erweiterten Denkungsart“ das Denken und das Fühlen derart stark, dass hierbei keinesfalls von einer „Anerkennung der Gefühle als Äquivalent zur Vernunft“ (Neumayr 2007: 161) oder gar einer „Ethik des Fühlens“ (Neumayr 2007: 162) die Rede sein kann. Der „furchtbaren Banalität des Bösen, vor der das Wort versagt und an der das Denken scheitert“ (Arendt [1963] 2011a: 371), entgeht man laut Arendt nicht mit Herzenswärme oder dem leidenden Identifizieren mit dem anderen; Abhilfe schafft nur ein viel distanzierterer, voraussetzungsreicher innerlicher Vorgang, nämlich der Perspektivwechsel, der das erweiterte Denken ermöglicht, sowie das politische (und „der Vernunft teilhaftige“) Prinzip der Solidarität. Beide Vorschläge zeichnen sich dadurch aus, dass das Leid eines Individuums oder Kollektivs zumindest abstrakt erfasst und abgemildert werden kann – so ist das „erweiterte Denken“ im Gegensatz zur Leidenschaft zum Generalisieren angelegt. Diese scharfe Grenzziehung gegenüber dem Partikularen, das Gegenstand des Mitleids ist, dient vorranging dem Schutz des politischen Raums vor emotionaler „Kontamination“ (Nelson 2017: 68) und dem „Überwuchern“ (Arendt [1958] 2007: 58; im englischen Original spricht Arendt sogar von „devour“, also vom „Verschlingen“; vgl. Arendt [1958] 2018: 45) des Politischen durch die Gesellschaft (vgl. Pitkin 1998: 3f.). Vor allem mit der „erweiterten Denkungsart“ versucht Arendt die Wahrung der Distanz zwischen dem Subjekt des erweiterten Denkens und seinen möglichen Objekten konzeptionell und normativ zu fassen; Distanz, die einerseits den „Zwischenraum“ ermöglicht, der für das politische Gestalten unabdingbar ist und andererseits Distanz, in der das eigene Ich die Gedanken und Gefühle anderer zwar wahrnimmt und in den Reflexionsprozess einbezieht, sein Innerstes von diesem Vorgang aber nicht tangiert wird. Man kann Arendts Alternativvorschläge zum politisierten Mitleid durchaus wohlwollend deuten: „Her work still wants to imagine the standpoint of the other, but it knows how this act of the imagination can collapse into naïve sentiment and what the consequences of this might be, and so it binds its thinking of the other to a dismissal of ‚care‘ for the other’s wellbeing“ (Swift 2011: 94). Weniger euphemistisch umschrieben wirken sowohl Arendts in wenigen 122
Textpassagen umrissene Thesen über Solidarität als auch die ausführlicher dargelegte Konzeption des Perspektivwechsels, den sie bereits in ihren frühen Ausführungen über die antike Idee der politischen Freundschaft skizziert und schließlich im Rahmen der „erweiterten Denkungsart” weiter ausgearbeitet hat, reichlich elitär und realitätsfremd. Die Distanz, die in beiden Vorschlägen steckt, ist zwar gewollt, wirkt aber fast totalisierend: Die undurchlässige Entgegensetzung zwischen dem, was Arendt unwirsch als „Sentimentalität“ abtut und den von ihr aufgestellten Maximen des Denkens und gemeinschaftlichen Handelns bilden ein Theoriegeflecht, das der Lebenswirklichkeit und den Bedürfnissen von Individuen und Kollektiven weder deskriptiv noch normativ ausreichend Rechnung tragen kann. Vor allem vor dem Hintergrund von Arendts ‚emotionaler Methode‘ – also einer spezifischen Emotionalität als Anlass ihres Denkens und Schreibens – mutet dieser unerbittliche Versuch der Emotionsbefreiung zunächst befremdlich an. Noch irritierender scheint dieser Befund angesichts der von Arendt überschwänglich befürworteten „politischen Leidenschaften“, des leidenschaftlichen Handelns für die öffentlichen Angelegenheiten, sowie ihres Schwärmens für die Leidenschaftlichkeit des Denkens (vgl. u. a. Arendt [1969] 1989: 177). Diese Diskrepanz zieht sich im Subtext durch Arendts Thesen zum Mitleid und zur (Un-)Fähigkeit zum Perspektivwechsel. Auch wenn die Tendenz, ein Werk wie Arendts „auf der Folie von persönlichen Erlebnissen zu deuten“ (Tömmel 2013: 17) durchaus problematisiert werden muss – Arendts Liebesbeziehung zu ihrem Lehrer Martin Heidegger ist hierfür ein denkwürdiges Beispiel (vgl. u. a. Grunenberg 2008) –, erscheint mir diese vermeintliche Inkonsequenz vor dem Hintergrund persönlicher Erfahrungen schlüssig: So hat Arendt selbst ihre Thesen zum Mitleid explizit in den Kontext ihrer Biografie gesetzt (vgl. Kap. 2.2.4): Demnach hat das Mitleid den Paria-Gemeinschaften, wie sie als deutsche Jüdin einer angehört hatte, nie geholfen, nur den Täter:innen. Kein Wunder also, dass Arendt das politische Engagement, das auf den Verfolg der Freiheit abzielte, mit nahezu überschwänglicher Anerkennung versah, während sie gleichzeitig den „Zauber“ der Emotionalität theoretisch aufs Schärfste abzustrafen suchte.
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3 Mitgefühl und Empathie in der Politischen Theorie Martha Nussbaums So leidenschaftlich Hannah Arendt vor dem politisierten Mitleid warnt, so leidenschaftlich befürwortet Martha C. Nussbaum das Mitgefühl – und zwar sowohl als politisches Mittel als auch als politisches Ziel. Damit gilt die USamerikanische Philosophin als die zeitgenössische politische Mitgefühlsund Emotionstheoretikerin schlechthin (vgl. u. a. Crisp 2008: 234). Seit den 1980er Jahren beschäftigt sich Nussbaum mit dem (aristotelischen) Ziel, das bürgerschaftliche „commitment to the common good“ (Nussbaum 2013: 376) zu steigern. Nussbaums These, dass es dafür notwendig sei, das Mitgefühl gezielt zu kultivieren, prägt und umspannt den Großteil ihres umfassenden Werkkorpus.71 Nussbaum betrachtet das Politische72 nicht als einen (rational-)deliberativen Prozess, in dem politische Entscheidungen aufgrund eines rationalen Diskussionsprozesses zwischen Gleichen gefällt werden, „who listen respectfully to each other’s views, weigh the available data, consider alternative possibilities, argue about relevance and worthiness, and then choose the best policy
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Diese Auseinandersetzung begann bereits in Nussbaums (noch stärker philosophisch denn politiktheoretisch ausgerichteten) Werken Fragility of Goodness ([1986] 2007: 383ff.) sowie Love’s Knowledge (1990). Nach der Exploration des Zusammenhangs zwischen Gefühlen und Feminismus ([1993] 2007a) legte Nussbaum 1996 eine erste detaillierte Standortbestimmung des politischen Mitgefühls in ihrem Aufsatz „Compassion: The Basic Social Emotion“ (1996) vor. Darauf folgte die umfassende Monografie Upheavals of Thought ([2001] 2008), der Aufsatz „Compassion and Terror“ (2003) und, vorerst abschließend, die programmatische und normativ aufgeladene Theorieschrift Political Emotions (2013), in der alle vorigen Thesen zum Mitgefühl kristallisieren. Nussbaums Begriff „des Politischen“ („the political“) ist formal weit gefasst und umspannt in Rekurs auf die Wiederaneignung des Begriffs durch John Rawls „all those institutions that influence people’s life chances pervasively and over the entire course of their lives“ (Nussbaum 2013: 16). Für Nussbaum umfasst „Das Politische“ daher auch die Familie. Sie sei eine politische Institution, die durch das Gesetz modelliert werde (vgl. Nussbaum 2016: 9). Nussbaum grenzt das Politische allerdings gegenüber dem „Rest der Gesellschaft“ ab, der dem Rawls’schen Konzept einer „background culture“ (Nussbaum 2013: 132) der Zivilgesellschaft entspricht. Nach Rawls ([1993] 2005: 13) ist diese „the culture of the social […]. It is the culture of daily life, of its many associations: churches and universities, learned and scientific societies, and clubs and teams.“ Auf diese Ebene zielen Nussbaums normative Thesen zum Mitgefühl nicht ab: „The focus […] is on society’s political culture, not the informal institutions of civil society. This is not to say that civil society does not pervasively shape citizens’ emotions; but this is not what I am investigating here“ (Nussbaum 2013: 16).
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for the country or the best person for the office“ (Walzer 2004: 91; vgl. hierzu auch Young 2001). Für Nussbaum ist das Politische stattdessen unausweichlich von Emotionalität geprägt, die den politischen Prozess unberechenbarer, aber vor allem menschlicher und aufregender macht. Emotionen sind in Nussbaums Politischer Theorie ein „all-purpose tool kit“ (Nussbaum 2013: 23), also ein Allzweckwerkzeugsatz, der in allen Staatsformen, auch in der Demokratie, bewusst als Steuerungs- und Herrschaftsinstrument eingesetzt wird und werden sollte: Nussbaum spricht sich dafür aus, dass diese Emotionalität gelenkt, gewisse Emotionen unterbunden und „positive“ Emotionen73 gefördert werden – also für ein „demokratisch legimitiertes kollektives Emotionsmanagement“ (Schaal/Heidenreich 2013: 10; vgl. auch Schaal/Fleiner 2015: 80ff.). Das Mitgefühl weist laut Nussbaum zwar einige gravierende Schwachstellen auf, sei aber trotzdem unabdingbar für das politische Ziel, Gerechtigkeit zu fördern und das gute Leben zu stärken. Mehr noch: Nussbaum zufolge gehört das Mitgefühl zu den zehn „Grundfähigkeiten“ (Nussbaum [1993] 2007b: 201) des Menschen – das Ausleben mitfühlender Bindung zu anderen macht demnach überhaupt erst ein würdevolles Leben aus (vgl. u. a. Nussbaum 2000: 79; 2011: 32f.). Es müsse daher jeder einzelnen ermöglicht werden, Mitgefühl ausleben zu können (vgl. u. a. Nussbaum [2001] 2008: 416). Mit dieser starken These ist Nussbaums teleologische Emotions- und Mitgefühlstheorie explizit mit dem von ihr und Amartya Sen zuvor entwickelten Fähigkeitenansatz (vgl. Nussbaum 2000; 2011) verknüpft (vgl. u. a. Nussbaum 1995a: 386; 2013: 119).
3.1 Mitgefühl und Empathie: durchlässige Differenzen Nussbaums normatives Plädoyer für die Wirkmächtigkeit des politisierten Mitgefühls ist eng mit einer detaillierten Bestimmung der Strukturmerkmale dieser Emotion verbunden. Die spezifischen Charakteristika des Mitgefühls basieren zunächst auf der allgemeinen, umfassenden und „neo-stoisch“ (Nussbaum [2001] 2008: 27) interpretierten Emotionstheorie Nussbaums. 73
Nussbaum folgt hierbei grundsätzlich einer aristotelischen Dichotomisierung zwischen potenziell „positiven“ und „hilfreichen“ (Nussbaum 2013: 135) Emotionen wie dem Mitgefühl und „negativen“ Emotionen (vgl. Aristoteles, Nikomaschische Ethik II 6, 1107a; IX 8, 1169a; vgl. kritisch hierzu Heidenreich 2013: 578; Pedwell 2014: 93f.; Weber 2020). Nussbaum hat ihre Thesen zu „negativen“ Emotionen ebenfalls detailliert ausgearbeitet – zum Umgang der Gesellschaft mit Angst in Monarchy of Fear (2018), mit Zorn in Anger and Forgiveness (2016), mit Neid, Scham Ekel und Stigma in Political Emotions (2013: 339ff.).
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Demnach sind Emotionen Ausdrucksformen evaluativer Gedanken, die für das gute Gedeihen der eigenen Person relevant sind (vgl. Nussbaum [2001] 2008: 22). Generell beziehen sich Emotionen laut Martha Nussbaum a) auf ein Objekt, und zwar b) zielgerichtet und nicht zufällig, c) verkörpern Emotionen bestimmte Überzeugungen („beliefs“), die die Subjekte dieser Emotion haben, und d) ist das Objekt der Emotion für das Subjekt wichtig (vgl. Nussbaum [2001] 2008: 27ff.). Nach dieser Interpretation können Emotionen generell mit nicht-kognitiven Elementen wie Körperreaktionen als separatem Strukturmerkmal einhergehen beziehungsweise diese verursachen (vgl. Nussbaum [2001] 2008: 58); diese Elemente seien allerdings nicht zwingend notwendig für eine Bestimmung von Emotionen generell und dem Mitgefühl im Besonderen (vgl. u. a. Nussbaum 2016: 252).74 Auch „Gefühle“ („feelings“), die Nussbaum im Sinne seelischer Zustände charakterisiert, die intentional sein können oder auch nicht (als Beispiele nennt Nussbaum das Gefühl der Leere des Lebens ohne eine geliebte Person und das Gefühl von Erschöpfung), sind demnach für Nussbaum kein notwendiger Bestandteil für die formale Bestimmung von Emotionen (vgl. Nussbaum [2001] 2008: 60). Emotionen sind für Nussbaum (in mehr oder weniger bewusstem Ausmaß) folglich mental erfass- und erfahrbar. Nach dieser Vorstellung – die als Inbegriff einer lehrbuchartigen kognitivistischen Emotionstheorie75 gilt – können Emotionen nicht phänomenologisch unterschieden werden, also dahingehend, wie sie sich anfühlen: „They are distinguished, instead, in virtue of their distinctive cognitive component“ (Weber 2005: 497). Sie sind das, was ein anderer prominenter Befürworter einer kognitivistischen Emotionstheorie, 74
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Nussbaum notiert hierzu: „I argue that, although some such elements are present in most of our emotional experience, and although, indeed, all human and animal emotions are embodied in some way, these non-cognitive elements do not have the constancy and regular association with the emotion type in question that would be required if we were to include them in the definition of an emotion of a particular type“ (Nussbaum 2016: 252). Es stellt sich jedoch die Frage, ob diese Begründung ausreichend ist. Nur weil es keine Konsistenz in der Erfahrung von nicht-kognitiven Reaktionen/Körperzuständen gibt, wie Nussbaum insinuiert, muss das nicht automatisch bedeuten, dass sie nicht als charakterisierendes Strukturmerkmal bestimmt werden könnten beziehungsweise sollten. Die Tatsache, dass Emotionen in vielen Fällen von diesen Erfahrungen begleitet werden, könnte als Argument durchaus ausreichen, um sie in den Rang eines Strukturmerkmals zu erheben. Eine kognitivistische Emotionstheorie zeichnet sich dadurch aus, dass darin „[p]hysiologische Prozesse, subjektive Empfinden (‚Gefühlsqualia‘), Ausdrucksphänomene, soziale und kulturelle Facetten […] entweder in zweiter Linie oder gar nicht berücksichtigt“ werden (Schiewer 2014: 30; hier wird allerdings von einer „kognitiven“ Emotionstheorie gesprochen). Solomon (2009:151) kritisiert diese Bezeichnung, weil „‚Kognition‘ so unterschiedlich und schlecht definiert“ werde.
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Robert C. Solomon (2009: 150), als „Beteiligung[en] an der Welt“ bezeichnet hat, als eine Art und Weise, „sich mit der Welt kognitiv auseinanderzusetzen“. Diese Betrachtungsweise unterscheidet sich diametral von phänomenologischen beziehungsweise auf Affekten basierenden Ansätzen: Im Gegensatz zu einer postmodernen Auffassung von Affekten sind Emotionen demnach durchaus Träger von Bedeutung („signifcation and meaning“, vgl. Leys 2011: 443). Es ist insofern nicht überraschend, dass sich Nussbaum dem gegenwärtigen Affekt-Trend verweigert: Ihre Emotionstheorie lasse sich, so Nussbaum, nämlich nicht mit einer „glitschigen und vagen“ (Nussbaum [2001] 2008: 326) Vorstellung von „Affekt“ verbinden. Im Gegenzug werden Nussbaums affirmative Thesen zu „guten“ Emotionen wie dem Mitgefühl als „pre-ideological and naïve“ (Woodward 2004: 63; vgl. auch Pedwell 2014: 95; vgl. kritisch hierzu wiederum Solomon 1999: 165) wahrgenommen. Mit ihrer Ablehnung der Affekt-Konzeption muss sich Nussbaum zudem dem Vorwurf einer ‚Verrationalisierung‘ (vgl. Ammann 2004: 20; Hoggett 2006: 146) stellen, die die patriarchalische Hegemonie begünstige und letztlich eine effektive Widerstandspraxis gefährde (vgl. u. a. Ahmed 2004: 170).76
3.1.1 Das Mitgefühl als „hilfreiche“ politische Emotion Nussbaums frühere Thesen zum Mitgefühl scheinen diese Kritik zunächst zu untermauern: In der Grundsteinlegung ihrer Theorie zum Mitgefühl, ihrem 1996 erschienenen Aufsatz „Compassion: The Basic Social Emotion“, hatte Nussbaum noch betont, dass das Mitgefühl „vernünftig“ und „rational“ sei (Nussbaum 1996: 30; 1995b: 72; vgl. hierzu generell auch Nussbaums emotionstheoretisches Grundlagenwerk Upheavals of Thought [(2001) 2008], das den bezeichnenden Untertitel „The Intelligence of Emotions“ trägt). Damals verknüpfte sie das Mitgefühl noch dezidiert mit der Aufklärung und deren Vernunftsmaxime (vgl. Nussbaum 1996: 28), betonte dessen Ein- und Anpassfähigkeit in den zugehörigen Diskurs. Je mehr Nussbaum ihre Mitgefühlstheorie allerdings ausgeweitet und verfeinert hat, desto stärker zeigt sich in ihrer Theorie eine Warnung davor, „dass eine zu starke Rationalisierung das spezifische politische Bindungs- und Mobilisierungspotenzial von Gefühlen austrocknet“ (Straßenberger 2019: 225). Nussbaum hat also das aufklärerische Vernunftideal dezidiert zugunsten einer Konzeption von Emotionalität aufge-
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Nussbaums enthusiastische Befürwortung von „guten“ Emotionen wie dem Mitgefühl, „Nussbaum’s world of liberal compassion“ wie Kathleen Woodward (2004: 72) polemisch formuliert, erscheinen aus dieser Perspektive „pre-ideological and naïve“ (Woodward 2004: 63; vgl. auch Pedwell 2014: 95; vgl. kritisch hierzu wieder Solomon 1999: 165).
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geben, die den intrinsischen Wert von Mitgefühl und Emotionen generell (vgl. Nussbaum 2013: 392f.) betont. Auch mit einer anderen konzeptionellen Entscheidung weicht Nussbaum von der ideengeschichtlichen Tradition ab: In ihren aktuelleren Werken verwendet Nussbaum explizit den Begriff des „Mitgefühls“ („compassion“), nicht mehr den des „Mitleids“ („pity“). Diese terminologische Abgrenzung erfolge, notiert Nussbaum, als Zugeständnis an eine veränderte Konnotation des Mitleidsbegriffs: Zwar würden beide Termini in der neueren philosophischen Tradition immer stärker synonym verwendet (vgl. Nussbaum [2001] 2008: 303; abweichend hierzu u. a. Whitebrook 2014: 22), allerdings impliziere der Mitleidsbegriff ein Subordinationsverhältnis zwischen dem Subjekt und dem Objekt der Emotion (vgl. u. a. Nussbaum 2013: 416, Anm. 7). „Mitgefühl“ sei daher zumindest gegenwärtig ein etwas geeigneterer Begriff, befindet Nussbaum (1996: 29): Er lasse ein Mitleiden auf Augenhöhe eher zu, denn die Hierarchie zwischen Subjekt und Objekt sei im Mitgefühl strukturell weniger ausgeprägt. An späterer Stelle werde ich zeigen, dass insbesondere dieser Aspekt einer der großen Stolpersteine der Nussbaum’schen Theorie ist, der sich auch durch ein Anpassen des wordings nicht gänzlich verschleiern beziehungsweise ausräumen lässt (vgl. Kap. 4.3; vgl. abweichend hierzu Murphy 2019: 11). In Anlehnung an die Aristotelische Mitgefühlsethik – Roger Crisp (2008: 234) spricht kritisch von einer „Verteidigung“ derselben – bestimmt Nussbaum das Mitgefühl zunächst übergeordnet als „a painful emotion directed at the serious suffering of another creature or creatures“ (Nussbaum 2013: 142). Zwar verweist Nussbaum hiermit an zentraler Stelle auf das Element des Schmerzes, das das Subjekt der Emotion angesichts des Leids eines anderen oder mehrerer anderer, Mensch oder Tier, empfinde. Allerdings sei dieser Schmerz kein separates Strukturelement im Sinne einer für das Mitgefühl notwendigerweise vorliegenden körperlichen Reaktion; verknüpft sei der Schmerz hingegen mit kognitiven „Gedanken“ („thoughts“, vgl. Nussbaum [2001] 2008: 306ff.; in ihren früheren Werken hatte Nussbaum noch von „Urteilen“ [„judgments“] gesprochen, vgl. Nussbaum 2013: 142ff.): „It is mental pain directed toward the victim that we want, not some obtuse physical spasm; but what is this mental pain, if not a way of seeing the victim’s distress with concern, as a terrible thing?“ (Nussbaum [2001] 2008: 326). Diese Anerkennung der eigenen Verletzlichkeit, die im mentalen Schmerz erfahren werde, helfe allerdings durchaus dabei, Mitgefühl für andere zu entwickeln (vgl. Nussbaum [2001] 2008: 324). Statt der körperlichen Erfahrung des Schmerzes hat das Mitgefühl laut Nussbaum drei notwendige Bestandteile: a) den Gedanken der „Größe“ im Sinne der Ernsthaftigkeit („seriousness“), sprich: das Leid, das jemandem 128
widerfahren ist, ist schlimm und nicht marginal; sowie b) den Gedanken, dass dieses Leid nicht aufgrund eigener Schuld aufgetreten ist („nonfault“ bzw. „nondesert“), wobei Nussbaum diese Bedingung mittlerweile einschränkt hat und sie nicht für alle Formen des menschlichen Mitgefühls als notwendig erachtet (vgl. Nussbaum 2013: 143, 147). Schließlich ist dem Mitgefühl laut Nussbaum c) ein eudämonistischer Gedanke zu eigen – das heißt, das Subjekt des Mitgefühls realisiert, dass das Leiden eines anderen Auswirkungen auf seine eigene spezifische Konzeption des guten Lebens hat (vgl. Nussbaum [2001] 2008: 318f.). Anhand dieser formalen Bestimmung haben sich zwei verschiedene Kritiklinien formiert: Nach der ersten, die unter anderem Roger Crisp (2008: 237f.) vertritt, ist Nussbaums Emotionstheorie künstlich: Sie sei viel zu detailliert und voraussetzungsreich und lasse zudem das einzig valide Kriterium, das des Schmerzes, gänzlich außen vor. Nach einer anderen Deutung hingegen ist Nussbaums Bestimmung des Mitgefühls gerade nicht detailliert genug, sondern so weit und umfassend angelegt, dass eine Abgrenzung zu dem, was nicht kognitiv sei, schwerfalle (vgl. Weber 2005: 489). Beide Kritikpole haben durchaus ihre Berechtigung: Indem Nussbaum beispielsweise in der Unterscheidung von „mentalem“ und „körperlichen“ Schmerz eine klassisch phänomenologische Erfahrung – die des Schmerzes – halbiert, teilweise ‚kognitiviert‘ und den nicht-kognitivierbaren Teil in der theoretischen Versenkung verschwinden lässt, weitet sie in der Tat den Kognitionsbegriff stark aus; außerdem ist die Negierung der nicht-kognitiv steuer- und erfassbaren körperlichen Erfahrung (des Schmerzes) in ihrer Totalität sicherlich nicht als Beschreibung der menschlichen Realität dienlich. Grundsätzlich fällt zudem sofort auf, dass diese Konstruktion der formalen Strukturbestimmungen des Mitgefühls stark subjektbezogen ist – insbesondere deshalb ist mir nicht klar, warum Grit Straßenberger (2019: 223f.) die Nussbaum’sche Mitgefühlkonzeption als eine „von eigenen unmittelbaren Erfahrungen der Betroffenheit abgelöste [..] Tugend“ versteht. Dieser deutliche Subjektfokus zeigt sich unter anderem im ersten Kriterium der Größenordnung, das ideengeschichtlich u. a. auch an die Thesen David Humes ([1739/40] 2003: 276) anknüpft. Nach dieser Vorstellung entscheidet allein das Subjekt der Emotion, was ernsthaftes Leiden ist, nicht das Objekt77, auch 77
Dieses Strukturmerkmal wird auch von der psychologischen Forschung gestützt. Demnach ist dieser Subjektfokus im Sinne eines „paternalistischen Helfens“ (Tomasello 2020: 325) im Mitgefühlsprozess bereits bei menschlichen Kleinkindern verankert: „Anderen paternalistisch nicht mit dem zu helfen, was sie wollen, sondern mit dem, was sie brauchen, und zwar insbesondere im Hinblick auf ihr psychisches Wohlergehen, stimmt mit einer evolutionären Analyse im Sinne der Interdependenz überein, bei
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wenn Nussbaum mit Verweis auf die Idee der menschlichen Grundfähigkeiten eine Richtschnur für die inhaltliche Beurteilung dessen anbietet, welches Leid des Mitgefühls würdig ist (vgl. Nussbaum 2013: 418). Nussbaum versucht mit diesem notwendigen Kriterium offenbar, das Mitgefühl vor der Indienstnahme für ‚Lappalien‘ zu schützen; allerdings ist damit auch eine potenzielle Hierarchie zwischen dem Subjekt und dem Objekt des Mitgefühls angelegt. Ein Zustand, den das Subjekt nicht als mitfühlenswert anerkennt, wird auch kein Mitgefühl hervorrufen. Laura Cannon kritisiert hierbei, dass sich in Nussbaums Strukturelementbestimmung des Mitgefühls eine Abkehr von klassischen Care-Ansätzen zeigt: Indem das Subjekt über die Größenordnung des Leids entscheide, lege es zugleich auch den Wert des Objekts des Mitgefühls fest (Cannon 2005: 105). Dieser Befund kann auch im Sinne einer Objektivierung und sozialen Distanzierung von demjenigen gedeutet werden, mit dem entweder mitgefühlt wird oder eben nicht. Je nach individueller Sozialisation und Persönlichkeit des Subjekts könnte das Kriterium der Größenordnung somit in der Tat zu einem moralischen und politischen Problem werden (vgl. kritisch hierzu auch Crisp 2008: 235).78 Aber auch am zweiten von Nussbaum genannten Strukturelement des Mitgefühls, der Unschuldsvermutung, zeigt sich diese Subjektzentrierung außerordentlich deutlich (vgl. Cannon 2005: 104). Hoggett (2006) wertet sie als Ausdruck einer sozialen Distanzierung eines privilegierten Subjekts gegenüber einem passiven und idealisierten anderen als Objekt; Smith (2005: 69) befindet, dass dieses Kriterium letztlich dessen Akteur:innenschaft verletze. Somit ist in Nussbaums Mitgefühlstheorie bereits auf formaler Ebene mindestens ein klares Distanzverhältnis zwischen dem Subjekt und dem Objekt der Emotion eingeschrieben. Das Subjekt fühlt zudem nicht mit dem Objekt mit, indem es sich vorstellt, es sei das Objekt. Es fühlt mit, weil das Objekt einen Wert für das Subjekt hat, einen Wert als andere/r. Dies hat Nussbaum schon zu einem frühen Zeitpunkt ihrer Mitgefühlstheorie – in der sie allerdings im Rückblick auf die ideengeschichtliche Tradition von „Mitleid“ („pity“) spricht – deutlich gemacht:
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der das Wichtigste ist, dass die Individuen, von denen man abhängt, in guter Verfassung bleiben“ (Tomasello 2020: 327). Statt das Mitgefühl an der Größenordnungsschwelle im Sinne der Alles-oder-nichtsKonzeption gegebenenfalls scheitern zu lassen, schlägt Crisp (2008: 235) hingegen vor, dieses Kriterium einfach graduell zu betrachten: „Compassion is felt at the misery of others, and if their misery is minor then the default assumption must be that the compassion felt will also be minor or faint.“
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Pity does indeed involve empathetic identification as one component: for in estimating the seriousness of the suffering, it seems important, if not sufficient, to attempt to take its measure as the person herself measures it. But even then, in the temporary act of identification, one is always aware of one’s own separateness from the sufferer – it is for another, and not oneself, that one feels (Nussbaum 1996: 35).
Dieses Distanzverhältnis zwischen dem Subjekt und dem Objekt des Mitgefühls, das in der Hervorhebung der „Abgrenzung“ und des „anderen“ ganz klar hervortritt, steht zwar im Einklang mit Aristoteles’ Bestimmung, dass das Leiden des anderen in einem mangelnden Distanzverhältnis als eigenes Leid erfahren werde und somit kein Mitleid mehr möglich sei (vgl. Rhetorik II 8 1386a). Nussbaum weicht allerdings von Aristoteles’ Mitleidstheorie an einer entscheidenden Stelle ab, die es ihr ermöglicht, das Mitleid auch auf charakterliche, lebensweltliche (nicht aber allzu große räumliche) Distanzen auszuweiten: Aristoteles bestimme als weitere notwendige Bedingung für das Mitleid das Konzept der ähnlichen Möglichkeiten („similar possibilities“, vgl. u. a. Nussbaum [2001] 2008: 320f.) – also die Realisierung, dass das, was anderen passiere, jederzeit auch dem Subjekt des Mitleids selbst zustoßen könne. Dieses Kriterium sei jedoch nicht unbedingt notwendig für eine Bestimmung der notwendigen Elemente des Mitgefühls, denn man könne auch ohne die „similar possibilities“ Mitgefühl empfinden, wenn die Möglichkeit, dasselbe oder ein ähnliches Leid zu erfahren, nicht sehr wahrscheinlich sei. Dieser Fall liegt laut Nussbaum beispielsweise dann vor, wenn ein Mensch mit Tieren mitfühlt (vgl. Nussbaum 2013: 144ff.; vgl. hierzu ideengeschichtlich v. a. Schopenhauer [1840] 1977: 278f.). Dieser theoretische Schachzug ist nicht nur im Hinblick auf die Ausweitung von Mitgefühl auf Spezies wichtig, die nichtmenschlich sind – er ermöglicht es dem Subjekt von Mitgefühl, auch mit Menschen mitzufühlen, die ihm absolut fremd sind. Das aristotelische Konzept der „similar possibilities“ dient allerdings laut Nussbaum oft als eine Brücke zum „eudämonistischen“ Urteil, also zu Nussbaums drittem notwendigen Kriterium. Nussbaums charakteristische Weise, bereits in der Deskription normative Plädoyers in klarer und gleichzeitig lyrischer Manier zu präsentieren (vgl. kritisch hierzu Weber 2005: 496), wird an dieser Textstelle deutlich: Equipped with her general conception of human flourishing, the spectator looks at a world in which people suffer hunger, disability, disease, slavery, through no fault of their own. She believes that goods such as food, health, citizenship, freedom, do matter. And yet she acknowledges, as well, that it is uncertain whether she herself will remain among the safe and privileged ones to whom such goods are stably guaranteed. She acknowledges that the lot of the beggar might be (or become) her
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own. This leads her to turn her thoughts outward, asking about society’s general arrangement for the allocation of goods and resources. Given the uncertainty of life, she will be inclined, other things being equal, to want a society in which the lot of the worst off – of the poor, of people defeated in war, of women, of servants – is as good as it can be. Self-interest itself, via thought about shared vulnerabilities, promotes the selection of principles that raise society’s floor (Nussbaum [2001] 2008: 320f.).
Hier verweist Nussbaum nicht nur auf die Gerechtigkeitstheorie ihres Lehrers John Rawls, nach dessen zweitem Gerechtigkeitsgrundsatz soziale und ökonomische Ungerechtigkeiten derart auszugestalten seien, dass sie für alle Mitglieder einer Gesellschaft von Vorteil sind (vgl. Rawls [1971] 1999: 53) – hier tritt vor allem das Menschenbild Nussbaums hervor, welches grundsätzlich von einem positiven Wirkpotenzial eines jeden Menschen ausgeht, trotz oder gerade wegen der Unwägbarkeiten des Lebens. Auch der Gedanke der „shared vulnerabilities“, der allen Menschen inhärenten Verletzlichkeit, ist ein starkes Motiv in Nussbaums Politischer Theorie, das aus geteilter Schwäche gemeinsame Stärke generiert – auch wenn Nussbaum gleichzeitig das in allen Menschen wirkende Eigeninteresse betont, das im Kriterium der „similar possibilities“ angelegt sei. Deutlich wird an dieser Passage zudem, dass dem Nussbaum’schen Mitgefühl bereits in seinem Definitionskern eine Blickrichtung nach außen inhärent ist, die kraftvoll und bestimmt auf die Gesellschaft (und, nota bene, weder auf die Menschheit als Ganzes noch in die entgegengesetzte Richtung auf das rein private Umfeld) fokussiert. Damit deutet Nussbaum bereits auf der formalen Ebene der Strukturelementsbestimmung das große Potential an, das nach ihrer Interpretation dem Mitgefühl für eine gerechtere Gestaltung von Gesellschaft innewohnt. Diese dahingehend bereits deutlich gefärbte inhaltliche Potenzialbestimmung des Mitgefühls, die Nussbaum eng mit den formalen Elementen ihrer Theorie verknüpft, werde ich nachfolgend kurz skizzieren, um sie anschließend detailliert und im Kontext von Nussbaums normativer Vision einer „öffentlichen Mitgefühlskultur“ zu analysieren. Wie Arendt auch spricht Nussbaum dem Mitgefühl zunächst eine „animalische“ Qualität zu: Das Mitgefühl sei Teil unseres tierischen Erbes (vgl. Nussbaum 2013: 113) und dem „social shaping“ (Nussbaum 2013: 156) vorgeschaltet. Diese „Naturalisierung der Moral“ (Braidotti 2014: 83), die Vertreter:innen des Posthumanismus beanstanden (vgl. Braidotti 2014: 84), deutet Nussbaum in ihren emotionstheoretischen Schriften tatsächlich klassisch im Sinne eines humanistischen Denkens: Ab einem gewissen Punkt ergäben sich Unterschiede selbst zu den am höchsten entwickelten Tierarten, die auch einen politischen Handlungsimperativ bedingten (vgl. Nussbaum 2013: 160; in ihrer kürzlich entwickelten Tierethik [Nussbaum 2023] hat sie ihre The132
sen hierzu ausgeweitet, dabei aber das Hierarchieverhältnis zwischen Tier und Mensch merklich abgeschwächt). Bereits im frühesten Kindesalter zeigten Menschen (und auch einige Tierarten) mitgefühlsartige Empfindungen, schreibt Nussbaum in Rekurs auf die psychologische Forschung zur menschlichen Emotionalität. Daher sei das Mitgefühl eine basale soziale Emotion (vgl. Nussbaum 1996: 28), die in der philosophischen Tradition zu Recht als eine „Brücke zwischen dem Individuum und der Gemeinschaft“ (ebd.) gedacht worden sei. Dieser Prämisse folgt Nussbaum, erweitert sie jedoch substanziell, indem sie dem Mitgefühl eine Vorstellung des „human flourishing“, also des guten menschlichen Gedeihens attestiert, und zwar nicht irgendeine Vorstellung sondern die beste, die das Subjekt des Mitgefühls vorbringen könne (vgl. Nussbaum 1996: 22). Das Mitgefühl könne somit dabei helfen, eine bestimmte Form der Gemeinschaft zwischen dem Subjekt der Emotion und dem anderen zu etablieren, die letztlich dafür sorge, dass das Subjekt auf das Leid dieses anderen eben nicht mit Indifferenz, reiner intellektueller Neugier oder dem Unwillen reagiere, dieses Leid abzumildern oder abzuschaffen (Nussbaum 1996: 35). Stattdessen fühle sich das Subjekt emotional verbunden und helfe. Das Mitgefühl sei daher „so crucial for motivating and sustaining altruistic action and egalitarian institutions“ (Nussbaum 2013: 21). Allerdings ist dies nur die eine Seite der Charakteristika des Mitgefühls: Trotz ihrer affirmativen Haltung gegenüber dem Mitgefühl als grundsätzlich proto-soziale Emotion verweist Nussbaum auch auf gravierende Schwachstellen, die es „gefährlich instabil“ (Nussbaum 2013: 165) machten. Diese betreffen vor allem a) den relativ zügigen Abfall von Aufmerksamkeit und Besorgnis, b) die „Enge“ sowie c) die Parteilichkeit des Mitgefühls (vgl. ebd.). In Bezug auf das erste Problem verweist Nussbaum auf ein prägnantes Beispiel aus Adam Smiths Mitleidstheorie (vgl. Nussbaum 2003: 16): Würde die Erde in China beben, empfänden Europäer:innen nur so lange Mitleid, bis die Probleme, die sie unmittelbar beträfen, ihre Aufmerksamkeit umlenkten (vgl. Smith [1759] 2009: 158). Die zeitliche Aufmerksamkeit für dasjenige, das unser Mitgefühl erfordere, ist auch in den Augen Nussbaums deutlich begrenzt. Die zweite Schwachstelle betrifft das Problem der „Enge“ („narrowness“), das Nussbaum als Hinderungsgrund für ein positives Wirken des Mitgefühls immer wieder betont: Unser Bezugskreis („circle of concern“), der diejenigen umfasse, denen gegenüber ich (potenziell) Mitgefühl empfinden könne, sei von Natur aus klein: „We grieve for people we care about, not for total strangers. We fear damages that threaten ourselves and those we care about, not earthquakes on Mars“ (Nussbaum 2013: 11). Dieser Punkt betrifft direkt das dritte von Nussbaum genannte notwendige formale Strukturelement des Mitgefühls, das eudämonistische Urteil. Demnach kann das Leiden einer 133
anderen nur dann Auswirkungen auf das Subjekt des potenziellen Mitgefühls haben, wenn es dieser Person einen Wert zuschreibe, ihr zugestehe, dass sie für das eigene Leben wichtig ist. Das dritte Problem betreffe die Parteilichkeit des Mitgefühls, die laut Nussbaum auf der Neigung des Mitgefühls zu Partikularität statt zum Universellen beruht (vgl. Nussbaum 2013: 385; vgl. kritisch hierzu Weber 2005: 501): „Subjects who are given a vivid story of another person’s plight tend overwhelmingly to diverge from a principle of fairness that they themselves have endorsed […]. The person whose story they have imagined is overwhelmingly preferred to candidates more deserving by standards of fairness to which people already assent“ (Nussbaum 2013: 157). Hierbei sei die Narration, das emotionale Bewegen und Bewegtwerden, von zentraler Bedeutung – und der Grat zur Manipulation schmal. Adam Smiths Formulierung ist dahingehend vielsagend: Mitgefühl sei die „emotion which we feel for the misery of others, when we either see it, or are made to conceive it in a very lively manner“ (Smith [1759] 2009: 13, meine Hervorhebung). Diese Parteilichkeit des Mitgefühls könne schließlich destabilisierend auf „gute Prinzipien“ (Nussbaum 2013: 317) der Gerechtigkeit wirken. Das Mitgefühl müsse daher ständig an diese rückgekoppelt werden (vgl. Nussbaum 2013: 265). Problematisch ist laut Nussbaum zudem die Tatsache, dass sich das Mitgefühl oftmals mit anderen Emotionen oder emotionsartigen Zuständen verbinden könne – so auch mit Ekel, Neid und Abschaum (vgl. Kap. 3.2.1), die destabilisieren und exkludieren. In einem solchen Fall können sich die protosozialen Eigenschaften des Mitgefühls, so Nussbaums These, in ihr Gegenteil verkehren und Spaltung und Hierarchisierungen begünstigen (vgl. Nussbaum 2013: 2). Die alleinige Fähigkeit, Mitgefühl zu empfinden, sagt also noch nichts darüber aus, welches Ziel damit verfolgt wird (vgl. Nussbaum 2010: 38) – erst durch kulturelles Formen wird das Mitgefühl demnach zu einer entscheidenden „positiven“ politischen Ressource. Deutlich neutraler noch als das Mitgefühl ist in Nussbaums Politischer Theorie allerdings die Empathiefähigkeit („empathy“) konzipiert. Sie kann laut Nussbaum eine Brücke hin zu Mitgefühl und Sozialität bilden, allerdings auch einem gänzlich gegenteiligen Zweck dienen.
3.1.2 Die Empathie als „moralisch neutrale“ Fähigkeit Unter Empathie versteht Nussbaum die mentale Fähigkeit, sich die Perspektive einer anderen Person zu vergegenwärtigen: „We may define empathy as the ability to imagine the situation of the other, taking the other’s perspective“ (Nussbaum 2013: 145). In Nussbaums Theorie ist die Empathie somit eine imaginative Rekonstruktion, ein Verstehen („understanding“, Nussbaum 134
[2001] 2008: 329) der Lage eines anderen. Dieser Perspektivwechsel geht über das reine Wissen darüber hinaus, wie es einer anderen Person ergeht (vgl. Nussbaum 2013: 145); allerdings sei dies nicht damit zu verwechseln, wie man sich selbst in der Situation des anderen fühle (Nussbaum 2013: 146). Bei der Empathie gehe es hingegen darum, dass sich das Subjekt der Empathie vorstelle, wie der andere als anderer sich in einer bestimmten Lage fühlt und was er dabei denkt (vgl. kritisch hierzu Breithaupt 2017: 18). Nussbaum stützt sich hierbei erneut auf die frühkindliche Entwicklungsforschung, um zu belegen, dass bereits Einjährige zumindest in Ansätzen zwischen dem Selbst und dem anderen unterscheiden und die Perspektive jenes anderen übernehmen können (vgl. Nussbaum 2013: 177) – dass es also zur Grundausstattung des Menschen gehört, sich im Zuge der Empathie in die Lage anderer zu versetzen (vgl. auch Tomasello 2020). Die Empathiefähigkeit geht für Nussbaum allerdings, und das ist wichtig, ohne eine spezielle Bewertung dieses Erlebnisses einher (vgl. Nussbaum [2001] 2008: 301f.); sie ist daher moralisch gesehen neutral (vgl. Nussbaum [2001] 2008: 333; vgl. abweichend hierzu u. a. Edge 2017: 2). Dieses Kriterium ist für Nussbaum der entscheidende Unterschied zum Mitgefühl, gegen das sie die Empathie dezidiert abgrenzt: I shall use ‚empathy‘ in a way that clearly distinguishes it from ‚compassion‘: empathy is simply an imaginative reconstruction of another person’s experience, whether that experience is happy or sad, pleasant or painful or neutral, and whether the imaginer thinks the other person’s situation good, bad, or indifferent (separate issues, since a malevolent person will think the other’s distress good and her happiness bad) (Nussbaum [2001] 2008: 302).
Empathie kann sich somit auch auf schöne Erlebnisse derjenigen beziehen, denen gegenüber wir empathisch sind. Das Mitgefühl ist hingegen, wie bereits skizziert, immer mit dem Leid einer Person verknüpft, die a) für das Subjekt der Emotion wichtig ist, deren Leid b) ohne eigene Schuld zustande gekommen ist, und deren Lage c) Auswirkungen auf das gute Leben des Subjekts hat. Empathie muss diese drei Kriterien nicht erfüllen. So kann das Subjekt der Empathie, folgt man Nussbaum, durchaus auch empathisch gegenüber Menschen sein, die keine unmittelbare persönliche Bedeutung für das Subjekt haben, sowie gegenüber jenen, die das eigene Leid selbst über sich gebracht haben, oder in deren Fällen die eigene Schuld deutlich das Element des Schicksals übertrifft. Auch das dritte Kriterium des Mitgefühls – das eudämonistische Urteil – trifft laut der Definition Nussbaums nicht für die Empathiefähigkeit zu. So kann das Subjekt, wenn es empathisch gegenüber einer anderen Person ist, 135
deren Freude oder Leid zwar nachvollziehen, indem es sich in ihre Lage versetzt. Diese Freude oder dieses Leid muss das Subjekt aber nicht zwangsläufig in seinem Wohlbefinden beeinflussen (vgl. Nussbaum [2001] 2008: 329f.). Als Beispiel führt Nussbaum die Schauspielerei an, die maßgeblich auf der Empathiefähigkeit beruhe (vgl. Nussbaum 2013: 146). Eine Schauspielerin müsse die Perspektive der von ihr dargestellten Person annehmen, um die Rolle überzeugend zu spielen. Sie muss laut Nussbaum aber nicht von den Emotionen der Figur, die sie spiele, mitgenommen sein; deren Leid bereite ihr in der Regel keine schmerzhafte Erfahrung. Auch die Empathie ist demnach eher subjekt- denn objektbezogen und damit zuvorderst denjenigen dienlich, die empathisch sind, und eben nicht denjenigen, denen gegenüber Empathie empfunden wird: „Mit dieser Einsicht ist an sich noch nicht viel gewonnen. Allerdings schützt sie einen vor überzogener Hoffnung, dass Empathie an sich schon ein Mittel gegen Egozentrik, Narzissmus oder Eigennutz ist“, konstatiert Fritz Breithaupt (2017: 14) hierzu treffend. Den Unterschieden zwischen Empathie und Mitgefühl in Nussbaums Theorie zum Trotz wird aber auch deutlich, dass die Grenzen zwischen Empathie und Mitgefühl fließend sind. Indem das Leid anderer das Subjekt der Empathie rührt, merkt es, dass diese anderen Personen offenbar für das eigene Leben relevant sind – deswegen schreibt Nussbaum der Empathie also, wie bereits erwähnt, eine wichtige Brückenfunktion hin zum Mitgefühl zu. Nussbaum setzt dafür eine idealerweise konstante ‚Anwendung‘ der Vorstellungskraft für den empathischen Prozess des Perspektivwechsels voraus. Insofern ist die Imaginationsfähigkeit als (moralische) Bereitschaft, mithilfe einer imaginativen Tätigkeit das Innenleben eines anderen zu erkunden (vgl. Nussbaum 2010: 109), ein ganz wesentliches Strukturelement für die Empathiefähigkeit, das aber auch eine wichtige Rolle für das Erleben von Mitgefühl spielt: „Here what the imagination seems to do is to help us bring a distant individual into the sphere of our goals and projects, humanizing the person and creating the possibility of attachment. […] [T]he imagination is a bridge that allows the other to become an object of our compassion“ (Nussbaum [2001] 2008: 66). Dass genau diese Brückenfunktion gestört sein und damit Empathie nicht automatisch mit dem Mitgefühl gleichgesetzt werden kann, illustriert Nussbaum an folgendem Beispiel: „Empathy is not sufficient for compassion, for a sadist may have considerable empathy with the situation of another person, and use it to harm that person“ (Nussbaum 2013: 146; vgl. auch Nussbaum [2001] 2008: 329). Ein empathischer Folterer oder Sadist lindert also das Leid einer anderen Person nicht, sondern nutzt ausgerechnet die Empathiefähigkeit, um Leid erst hervorzurufen, zu verlängern oder zu vergrößern – um sein eigenes Wohlbefinden, seine Lust, zu befriedigen (vgl. auch Breithaupt 2017: 7). Aus der Empathiefähigkeit muss also nicht zwangsläufig eine mitfühlende 136
Haltung entstehen. Wie Lois Shepherd (2003: 450) überzeugend darlegt, können aufgrund falscher Annahmen, die sich aus der empathischen Perspektivübernahme ergeben, auch ethisch frag-, mindestens aber diskussionswürdige Handlungen erwachsen, wie beispielsweise aufgrund eines medizinisch auffälligen Ergebnisses der Pränataldiagnostik oder im Rahmen aktiver Sterbehilfe. Problematisch ist hierbei nicht die Empathiefähigkeit an sich, sondern die Bewertung, die aus diesem Perspektivwechsel erfolgt: „[W]e may inaccurately judge the degree and nature of the suffering of another person“ (Shepherd 2003: 461). Auch wenn die Empathiefähigkeit einen geringeren Stellenwert in Nussbaums Werk einnimmt als das Mitgefühl, ist sie für Nussbaum dennoch wichtig: „We should [..] grant that empathy involves something morally valuable in and of itself: namely, a recognition of the other as a center of experience. The empathetic torturer is very bad, but perhaps there is something worse still in the utter failure to recognize the other as a center of experience“ (Nussbaum 2013: 146). Diese These Nussbaums ist für die übergeordnete Analyse dieser Arbeit zentral: dass zwar der empathische Folterer Böses tut, dass aber das wirklich abgrundtief Böse darin besteht, dass der andere nicht als Mensch und als ein eigener Zweck in sich anerkannt wird, weil der Perspektivwechsel unterbleibt. Animalisierung (hierbei insbesondere die Insektifizierung) sowie Objektifizierung sind die Tendenzen, die dieses Böse nähren und in denen sich das Böse gleichsam materialisiert. Und auch hier, wie in der Politischen Theorie Hannah Arendts, offenbart eine theoretische Umkehrung die normative Kernthese von Nussbaums Emotionstheorie: Abhilfe gegen das Böse schafft – analog zu Arendts Vorstellung der „erweiterten Denkungsart“ – die Fähigkeit zum empathischen Perspektivwechsel.
3.2 Die Vision einer öffentlichen Mitgefühlskultur: politisches Ziel und Mittel Durch eine kulturelle Leistung können Mitgefühl und Empathie selbst zu wirkmächtigen Gestaltern von Gesellschaft und Politik werden – das ist die emotionspolitische Grundthese der Theorie Martha Nussbaums. Sie entwirft ein normatives Gesamtkonzept für verschiedene gesellschaftspolitische Bereiche, um dieser Wirkmächtigkeit Rechnung zu tragen und ihr Potenzial strategisch in den Dienst einer liberalen (demokratischen) Politik und Werten wie Gerechtigkeit und Chancengleichheit zu stellen (vgl. Nussbaum 2013: 3). In einem übergeordneten Sinne fungiert aber auch die Programmatik, die Nussbaum für das Erreichen dieser Ziele vorschlägt – nämlich eine „public culture of compassion“ (Nussbaum 2013: 157), also eine öffentliche Mitgefühlskultur 137
zu etablieren –, als politisches Ziel in sich. Der Kulturbegriff, den Nussbaum anwendet, ist dabei ein weit gefasster: Er beinhaltet vor allem politische Rhetorik, öffentliche Zeremonien und Rituale, Lieder, Symbole, Lyrik beziehungsweise Literatur, darstellende Kunst, Architektur, die Gestaltung öffentlicher Parkanlagen und Gedenkstätten (Nussbaums Vorschläge erinnern diesbezüglich stark an die Stadtphilosophie Richard Sennetts [1991; 2018]) sowie Sport, und schließt vor allem auch die öffentliche (Schul-)Bildung ein (vgl. Nussbaum 2013: 17). Auf der politischen Makro- und der gesellschaftlichen Mikroebene fächert Nussbaum diese Zielsetzung einer politischen Mitgefühlskultur in Teilziele auf. Das Mitgefühl nimmt dabei als politisches Mittel einen essenziellen Stellenwert ein. Zum einen soll es laut Nussbaum dabei helfen, das Engagement für wichtige politische Projekte anzukurbeln und zu stabilisieren, zum anderen soll es das eindämmen helfen, was Nussbaum anlehnend an Kant als das „radikal Böse“ (vgl. Nussbaum 2013: 3) bezeichnet: nämlich Tendenzen in uns Menschen, die das fragile Selbst beschützen sollen und dabei andere herabwürdigen und erniedrigen (vgl. Nussbaum 2013: 3). Die konkrete Wirkmächtigkeit ergibt sich für Nussbaum dabei vor allem aus der Annahme, dass das Erleben des Mitgefühls in vielen Fällen zu einer mitfühlenden Handlung führt (vgl. Nussbaum 2016: 22). Auch soll das Mitgefühl in Nussbaums Konzeption eine Akteur:innenschaft aller Bürger:innen ermöglichen, ausbauen und stabilisieren helfen (vgl. Nussbaum 2013: 120f.; 2008: 84) und so eine Bindung zu den von ihr vorgeschlagenen Normen des Fähigkeitenansatzes schaffen (vgl. Nussbaum 2013: 6). Allerdings müsse das Mitleid dabei, wie bereits erwähnt, aufgrund seiner (in Kap. 3.1 skizzierten) Schwachstellen ständig im Dialog mit „guten“ moralischen und politischen Prinzipien stehen (vgl. Nussbaum 2013: 70). Als primäre Analyseeinheit der avisierten Mitgefühlskultur, die durch politische Institutionen eingerahmt werden müsse (vgl. hierzu Kap. 3.2.1), dient Nussbaum die Ebene des Nationalstaates. Mit Rückgriff auf die Theorie Guiseppe Mazzinis nennt sie hierfür drei Gründe: Erstens sei die Nation „the largest unit we know until now that is decently accountable to people’s voices and capable of expressing their desire to give themselves laws of their own choosing“ (Nussbaum 2013: 17). Das bedeutet in der politischen Praxis, dass es auf der Ebene der Nation am besten gelinge, ein „Wir“ zu kreieren. Damit propagiert Nussbaum eine Identitätskonstruktion, die beispielsweise auch Chantal Mouffe in ihrer agonistischen Emotionstheorie heranzieht (vgl. Mouffe 2007: 25). Mouffe betont dabei aber expliziter als Nussbaum, dass eine solche „Wir“-Konstruktion notwendigerweise auch immer die ‚Kehrseite‘ beinhaltet, nämlich das „Sie“ im Sinne der Formierung ‚der anderen‘. Zweitens benötigten politische Emotionen „historische Partikularität“ (Nuss138
baum 2013: 17), die der Fokus auf die Nation biete. Dieses Kriterium ist laut Nussbaum (2013: 17) ein notwendiges für „alle guten“ emotionstheoretischen Projekte – damit überschreite Nussbaum allerdings, wie Grit Straßenberger (2019: 228) schreibt, in „originelle[r] wie riskante[r]“ Weise die Grenzen „zwischen einem liberalen Universalismus und einem kommunitaristischen Partikularismus“. Und drittens wirke die Nation als Hebel, um dem Individuum globale Anliegen näherzubringen: „Citizens will understand that the living standard and life opportunities of people in other nations are also a matter of concern […]“, schreibt Nussbaum (2013: 122) und befindet optimistisch: „Thus sacrifice and sympathy do not stop at national borders.“ In Political Emotions bleibt Nussbaums emotionstheoretisches Projekt trotzdem stark auf der Nationenebene verhaftet. Diese Engführung hat im Hinblick auf Fragen zu Hierarchie und Herrschaft – zu Recht – scharfe Kritik hervorgerufen, in der das Mitgefühl schließlich selbst als „technology of regulation“ (Pedwell 2014: 57) gedeutet wird.
3.2.1 Bürgerschaftliches Mitgefühl kultivieren In der Einleitung ihres Werkes Political Emotions bestimmt Nussbaum zumindest formal klar die Hierarchie zwischen politischen Prinzipien und Emotionen: „All political principles, the good as well as the bad, need emotional support to ensure their stability over time, and all decent societies need to guard against division and hierarchy by cultivating appropriate sentiments of sympathy and love“ (Nussbaum 2013: 2f.). Emotionen soll in Nussbaums Theorie somit zumindest normativ eine Unterstützer-, aber keine Leitfunktion zukommen (vgl. auch Nussbaum 2013: 134). Dezidiert grenzt Nussbaum ihre normative Vision (unter Heranziehung der Theorie von John Stuart Mill und Mozarts Oper Le nozze di Figaro) gegenüber Jean-Jacques Rousseaus und Auguste Comtes Entwürfen einer von Emotionen maßgeblich geprägten Zivilreligion beziehungsweise einer „Religion der Menschlichkeit“ ab (vgl. hierzu die Kapitel „Equality and Love“, „Religions of Humanity I“ und „Religions of Humanty II“ in Political Emotions). Insbesondere Rousseaus durch das Mitleid gestärkte Konzeption der Zivilreligion sei hierarchisch, „diktatorisch“, zwanghaft, quasi-totalitär (vgl. u. a. Nussbaum 2013: 5, 23, 45) und eindeutig von Homogenitätsbestrebungen geprägt (vgl. Nussbaum 2013: 30). Nussbaum mahnt an mehreren Textstellen explizit an, dass ihr Appell an Mitgefühl und Liebe nicht als politische oder quasi-religiöse Doktrin (vgl. Nussbaum 2013: 201), als „uncritized foundation for policy“ (Nussbaum 2013: 319), (miss-)verstanden werden dürfe: „[T]he public cultivation of sentiment will not be a form of coercive enforcement“ (Nussbaum 2008: 83). Ihre Vision einer öffentlichen Mitgefühlskultur entspreche daher nicht einer 139
„umfassenden Doktrin“ („comprehensive doctrine“), wie Nussbaum in Anlehnung an John Rawls ([1993] 2005: 13) notiert. „Umfassend“ bedeutet demnach, dass Doktrinen unter anderem eine Konzeption desjenigen beinhalten, das von Wert für das menschliche Leben ist. Stattdessen schwebt Nussbaum eine Art „Teillehre“ des Mitgefühls vor, die wie ein Modul in bestehende politische Prinzipien eingepasst werden solle (vgl. Nussbaum 2019: 216f.). Um der Gefahr von politischen Zwangs- und Uniformierungstendenzen zu entgehen, wirbt Nussbaum dafür, die Öffentlichkeit zu überzeugen, um einen (politiktheoretisch ebenfalls von Rawls entlehnten) Konsens („overlapping consensus“) zwischen den Bürger:innen zu ermöglichen (vgl. u. a. Nussbaum 2008: 80). Nussbaum benennt außerdem zwei ‚Schutzkriterien‘ gegen eine mögliche doktrinäre Wirkung ihrer emotionstheoretischen Vision: a) den Dissens und b) den Liberalismus. Zu a): Wieder und wieder betont Nussbaum, dass die von ihr propagierte öffentliche Mitgefühlskultur Widerspruch erlauben und fördern müsse. Diese Dissensprämisse ist für Nussbaum unabdingbarer Bestandteil ihrer Vision (vgl. Nussbaum 2013: 389). Sie appelliert dabei insbesondere an eine „robustly critical political culture“ (Nussbaum 2013: 7), die die Meinungs- und Versammlungsfreiheit schütze: „[D]issenting voices play a valuable role in keeping the conception truly liberal, and accountable to citizens“ (ebd.). Ein derartiger Widerstand benötige, so Nussbaum, allerdings ebenfalls Unterstützung durch Emotionen, um ihre Stabilität zu gewährleisten (vgl. Nussbaum 2013: 126f.) – es müsse eine emotionale Bindung zu genau dieser Dissensmaxime aufgebaut werden (vgl. Nussbaum 2013: 389), damit sie wirken könne. Zu b), dem Liberalismus: Nussbaum bettet ihr emotionstheoretisches „Projekt“ (Nussbaum 2013: 16) in Anlehnung an Rawls und in scharfer Abgrenzung zu einer statisch-republikanischen Emotionstheorie in die Denktradition des Liberalismus ein (vgl. Nussbaum 2013: 5f., 23).79 Dadurch ist laut Nuss79
Diese Selbstverortung im Liberalismus (vgl. u. a. auch Nussbaum 1999a: 9ff.; [1997] 2000: 89; kritisch hierzu Gutschker 2002: 461) – die insbesondere von der (überwiegend kritischen) Rezeption von Nussbaums Emotionstheorie in affekttheoretischen Kulturtheorien geteilt wird (vgl. u. a. Pedwell 2014: 93f.; Schwartzman 2005) –, ist durchaus mit der Fremdverortung Nussbaums als Vertreterin eines „sozialdemokratischen Kommunitarismus“ (Reese Schäfer 2001: 74) vereinbar, auch wenn sich Nussbaum in früheren Jahren gegen den Partikularismus im Kommunitarismus ausgesprochen hatte (vgl. Nussbaum [1997] 2000: 90). Laut Grit Straßenberger (2919: 213) ist Nussbaum hierbei eine „auf der Schnittstelle zwischen Kommunitarismus und Liberalismus balancierende Denkerin“, für Jens Bonnemann (2021: 145) handelt es sich zwischen diesen beiden Theorielinien bloß um einen „Familienstreit“, und auch für Walter Reese-Schäfer (2019: 7) ist es durchaus möglich, „philosophisch Kommunitarier [zu] sein und zugleich politisch liberal in einem ganz bestimmten Sinn“ – insbeson-
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baum gewährleistet, dass Räume außerhalb des Politischen offenständen, in die staatliche Emotionspolitik nicht eindringen könne (vgl. Nussbaum 2013: 386). Zudem begrenzten die negativen Freiheitsrechte einer liberalen Nation automatisch die strategische Kultivierung von öffentlichen Emotionen (vgl. Nussbaum 2013: 16). Diese dezidiert vorgebrachten theoretischen Schutzbarrieren werden allerdings dadurch ad absurdum geführt, dass Nussbaums Leitvision einer „public culture of compassion“ eben genau als ein politisches Ziel par excellence fungiert und eine gezielte emotionale und top-down-orientierte Steuerung vorsieht, die durchaus den Charakter einer allumfassenden Doktrin einnehmen kann (so klingt es beispielsweise auch bei Murphy [2019: 209] an). Nussbaum plädiert hierfür an einigen Textstellen sogar verblüffend offen: „[G]overnment may attempt to influence citizens’ psychology directly (for example, through political rhetoric, songs, symbols, and the content and pedagogy of public education), or it may devise institutions that represent the insights of a valuable type of emotion“ (Nussbaum 2013: 20). An anderer Stelle schreibt sie: Im Sinne der Stabilität sei es „natürlich“, dass der Fokus darin liege, „Menschen dazu anzuhalten, gewisse Emotionen in gewissen Kontexten und mit speziellen Objekten zu erleben“ („making people experience certain emotions in certain contexts and with particular objects“, Nussbaum 2013: 134f., meine Hervorhebung). Nussbaums Projekt zielt somit klar auf ein gezieltes, viele verschiedene Wirkebenen umfassendes und in seinem Fokus auf die Motivationsebene klar kommunitarisches (vgl. Reese-Schäfer 2001: 62; Straßenberger 2019: 223) Emotionsmanagement ab – ein Emotionsmanagement, das Nussbaum allerdings für einen nach liberalen Prämissen organisierten politischen Raum in geradezu republikanischer Weise (vgl. Schaal/Heidenreich 2013: 6; Heidenreich 2015: 54) anpreist: [G]overnment, more broadly conceived, generates public emotion through many strategies: through public artworks, monuments, and parks, through the construction of festivals and celebrations, through songs, symbols, official films and photographs, through the structure of public education, through other types of public discussions, through the public use of humor and comedy, even by shaping the public roles of sports (Nussbaum 2013: 203). dere, da sich das gegenwärtige kommunitarische Denken „um eine Balance zwischen individuellen Rechten und sozialen Verantwortlichkeiten“ (Reese-Schäfer 2019: 9f.) bemühe. Damit grenzt sich diese Definition gegenüber derjenigen ab, die seit Erstarken des Rechtspopulismus auf den Aspekt einer ethnischen Identitätspolitik mitsamt scharfer nationaler Grenzziehungen fokussiert (vgl. u. a. Merkel 2017; Teney 2019; kritisch hierzu Meyer 2019; Nida-Rümelin 2019; Reese-Schäfer 2019: 14ff.).
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Es ist kaum vorstellbar, dass politische Emotionen, würden sie derart gezielt gefördert, gesteuert unterdrückt und großflächig instrumentalisiert, wie es Nussbaum im Hinblick auf das politische Mitgefühl vorschwebt, politischen Prinzipien stets untergeordnet blieben. Nussbaums Theorie kann Bedenken dahingehend jedenfalls kaum entkräften, dass Emotionen von einer reinen Unterstützungsfunktion nicht auch zu einem politischen (Selbst-)zweck mutieren und die Bürger:innen einer bestimmten Nation in umfassender Weise beeinflussen könnten, würde konsequentes politisches Emotionsmanagement betrieben. Daher ist es meiner Ansicht nach legitim von der „public culture of compassion“ als einem eigenen politischen Ziel auszugehen. Nussbaum, so meine weitere Interpretation, unterteilt dieses politische Ziel – „[c]reating civic compassion“ (Nussbaum 2013: 314) – in drei Teilziele (Nussbaum selbst spricht allerdings nur von zwei „Aufgaben“, die das Mitgefühl zu erfüllen habe, vgl. Nussbaum 2013: 3). Alle drei reagierten auf menschliche Neigungen, die einem bürgerschaftlichen Zusammenleben eigentlich nicht förderlich seien, schreibt Nussbaum: „[P]eople are inclined to be narrow and greedy in their sympathies, reluctant to support projects aimed at a common good if these require sacrifice. They are also prone to ugly practices involving the projection of disgust properties onto subordinate groups, who then function in majority ideologies as quasi-animals“ (Nussbaum 2013: 314). Das erste Teilziel einer öffentlichen Mitgefühlskultur besteht demnach darin, das politische Gefüge zu stabilisieren und Gerechtigkeit zu fördern. Das Mitgefühl soll in diesem Kontext für ausreichende Motivation für unliebsame, aber notwendige politische Projekte sorgen und dafür an das gesellschaftliche Gemeingut appellieren (vgl. Nussbaum 2013: 3). Das zweite Teilziel einer „public culture of compassion“ besteht, so interpretiere ich Nussbaums Mitgefühlstheorie, in ihrer Vision einer grundlegenden und affirmativen gesellschaftlichen Liebe (ähnlich wie bei Hardt 2011). Diese stehe in einer Wechselwirkung mit dem öffentlichen Mitgefühl, werde durch diese Emotion gestärkt, schaffe Begegnungen und baue Differenzen ab. Dafür ruft Nussbaum einen „kritischen“ Patriotismus an, der bereits in Schulen gelehrt werden solle. Als drittes Teilziel einer öffentlichen Mitgefühlskultur sticht aus Nussbaums Theorie der Imperativ hervor, das Potenzial des Mitgefühls zu nutzen, um das „radikale Böse“ einzudämmen, dessen Wurzeln maßgeblich in der Kindheit ausgebildet würden. Darunter fallen für Nussbaum Emotionen wie Scham, Ekel und Neid sowie daraus oftmals resultierende Subordinations- und Erniedrigungstendenzen, insbesondere gegenüber Frauen (vgl. Nussbaum [2001] 2008: 345).
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Politische Stabilität und gerechte Institutionen
Nussbaums normative Leitvision einer öffentlichen Mitgefühlskultur ist zunächst geprägt von dem (sozialdemokratisch gefärbten, vgl. Nussbaum 2013: 123) Bestreben, Stabilität und soziale Gerechtigkeit zu gewährleisten.80 Dieses Bestreben gleicht in Nussbaums Theorie durchaus einer staatlichen ‚Ermutigung‘, deren aktivierender Charakter vor allem anhand der markanten historischen Beispiele sichtbar wird, mit denen Nussbaum dieses politiktheoretische Teilziels illustriert. So habe Anfang der 1930er Jahre beispielsweise der damalige US-Präsident Franklin D. Roosevelt erfolgreich an das kollektive Mitgefühl appelliert. Sein Ziel sei es gewesen, eine bestimmte Mitgefühlskultur zu kreieren, um breite gesellschaftliche Zustimmung für die umfassenden Sozial- und Wirtschaftsreformen des „New Deals“ zu generieren. Laut Nussbaum bediente sich Roosevelt hierfür emotionaler Rhetorik und entsprechend inszenierter Auftragsfotografie: Roosevelt […] deliberately set out to convince Americans that an economic disaster has all the features of a natural disaster that are most relevant where the emotion of compassion is concerned. Using an analysis of compassion similar to ours, [Michele Landis, AKW] Dauber shows that winning compassion for the victims of economic disaster required convincing the American public that the calamity they suffered was serious, that they were not to blame for it […], and that it was the sort of thing that any human being might suffer. In short, Roosevelt used an implicit understanding of compassion and motivation that tracks the classic Aristotelian and Greek-tragic models – not so surprising, since this same understanding is deeply rooted in American traditions (Nussbaum 2013: 282).
Anhand dieses Beispiels wird nicht nur eine (deutlich an Arendt erinnernde) Begeisterung für die US-amerikanische politische Tradition deutlich; vor allem betont Nussbaum in dieser Passage die absichtsvoll lenkende Hand des politischen Akteurs Roosevelts, die gezielte politische Steuerung kollektiver Emotionalität – und legt damit ihre Sympathie für diese Strategie offen. Ihre eigene Mitgefühlstheorie, das wird auch an zahlreichen anderen Textstellen deutlich, empfiehlt ebenfalls das explizite „Beeinflussen“ beziehungsweise „Formen“ („shaping“, Nussbaum 2013: 316) des emotionalen Klimas einer Nation, um
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Carolyn Pedwell kritisiert, dass im Rahmen „(neo-)liberaler“ Emotionstheorien wie derjenigen Nussbaums Mitgefühl mit einer „near magical power to bridge social and economic differences“ aufgeladen werde (Pedwell 2014: 42). Ungeachtet aller Polemik ist dieser Einwand gegen Nussbaums Vision durchaus gerechtfertigt.
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eine politische Ordnung zu stabilisieren – und nicht um eine wie auch immer geartete Revolution emotional aufzuladen (vgl. auch Nussbaum 2013: 131). Emotionen stützen in Nussbaums Vision eine bestehende liberale Ordnung – und stehen darüber hinaus und damit verbunden in bedeutender Wechselwirkung mit politischen Institutionen, wie Nussbaum erklärt: Institutionen erleichterten das Erleben politischer Emotionen, während politische Emotionen diese Institutionen stabilisierten und augmentierten, indem sich die emotionale Erfahrung schließlich in Institutionen „kristallisiere“ (Nussbaum 2013: 136). Eine zentrale Aufgabe der Institutionen sei es dabei, die Bürger:innen einer Nation sozial näher zueinander zu positionieren (vgl. Nussbaum 2013: 135) und damit den individuellen Mitgefühlsbildungsprozess zu fördern (vgl. Nussbaum [2001] 2008: 405). Mit diesen Vorschlägen positioniert Nussbaum das Mitgefühl als Movens – eine Rolle, die diese Emotion in Nussbaums politischer Leitvision einer öffentlichen Mitgefühlskultur des Öfteren einnimmt: „A society with decent institutions will not remain stable if citizens simply rely on institutions to function in a certain sort of way: for reliance is compatible, once again, with great cynicism toward both institutions and officials“ (Nussbaum 2016: 173). Anstelle bloßen Vertrauens in das reine Funktionieren von Institutionen setzt Nussbaum darauf, dass Angehörige einer bestimmten Nation diese Institutionen aktiv befürworten und unterstützen. Das Mitgefühl solle Bürger:innen entsprechend zu Vertrauen in und Partizipation an institutionellem Handeln motivieren. In ihrem emotionstheoretischen Hauptwerk zu Mitgefühl im Politischen, Political Emotions, fokussiert Nussbaum allerdings fast ausschließlich auf die individuelle Wirkung von Emotionen, nicht auf die institutionelle. Diese Verengung begründet Nussbaum damit, normative emotionspolitische Anregungen für verschiedene politische Systeme bereitstellen zu können (vgl. u. a. Nussbaum 2013: 6). Das führt unter anderem dazu, dass Nussbaum ihr „Projekt“, eine öffentliche Mitgefühlskultur zu schaffen (in einem ihrer früheren Aufsätze zum Thema [1996: 53] hatte Nussbaum bereits von einem „imaginary curriculum for citizenship“ gesprochen), nicht ausschließlich innerhalb einer Demokratie situiert – andere ihrer Theorieschriften weisen hingegen eine eindeutige demokratische Positionierung auf (vgl. u. a. Nussbaum 2008; 1996: 36). Dieser Fokus auf die motivationale Ebene bleibt seit Jahrzehnten statisch; Nussbaums Politische Theorie bewegt sich auch weiterhin „kaum auf der institutionellen, verfahrenspolitischen Ebene“ (Holland-Cunz 2008: 537). Sie nährt damit zumindest indirekt die These Birgit Sauers (2007: 178f.), wonach „moderne Ent-Institutionalisierungen“ mit einer „Re-Emotionalisierung“ verknüpft und dabei Ausdruck einer neoliberalen Restrukturierung menschlicher Lebensräume seien (vgl. auch Weber 2007) – eine These, die Nussbaums an 144
Details mangelnde inhaltliche Auseinandersetzung mit den konkreten Parametern dieses Wechselspiels zwischen Institutionalität und (subjektivierter) Emotionalität nicht entkräften kann. Trotzdem stellt Nussbaum der Wirkmächtigkeit von politischem Mitgefühl zumindest eine institutionelle Schutzbarriere entgegen: „Of course, law is crucial. Laws and institutions protect us against the damage of bad civic passions, and law often precedes and guides the creation of decent sentiments. We certainly don’t want to wait until most people love each other before we protect the civil rights of the vulnerable“, schreibt Nussbaum (2013: 315) und bringt an dieser Stelle einen raren Verweis auf Hannah Arendts Politische Theorie an: „Hannah Arendt wrongly opined that we should wait for racial harmony in society before passing nondiscrimination laws. But the force of law was essential in starting, however painfully and slowly, a process of emotional change that is still taking place“ (Nussbaum 2013: 316). Gerechte Institutionen leisten demnach eine gewisse Anschubkraft für gesellschaftliche Stimmungen und gemeinschaftliches Verhalten. Daraus folgt für Nussbaum, dass das Mitgefühl erst durch das Wechselspiel mit Institutionen sein gesamtes positives Wirkpotenzial für eine gerechte Gesellschaft entfalten könne. Auffällig ist zudem, dass sie ihre normativen Empfehlungen für eine umfassende Mitgefühlspolitik in den Abschnitten, in denen sie auf die Institutionenebene verweist, am stärksten und kritischsten einschränkt: „When you feel sympathy for the poor, it is fine to view that as occasion for philantropy, but it is better to use that energy to create a decent tax system and a set of welfare programs“, notiert Nussbaum (2013: 135) ungewohnt scharf. An dieser Stelle priorisiert Nussbaum klar ein Kollektivziel des Mitgefühls vor individueller Wohltat. Für das Subjekt könnte individuelle Wohltätigkeit zwar angenehme Gefühle bereiten und nur geringen eigenen Aufwand bedeuteten – sinnvoller für das Gemeinwohl ist laut Nussbaum allerdings ein aufwändigeres Engagement für Gerechtigkeit und konkrete politische Maßnahmen, die diesem Ziel dienen. Dieses, in Nussbaums Theorie allerdings nur angerissene, Wechselspiel zwischen der politischen Leitversion einer öffentlichen Mitgefühlskultur und einem gerechten Institutionendesign trägt quasi-Rousseau’sche Züge (vgl. Honig 2017: 18). Für Nussbaum ist darin auch die Möglichkeit enthalten, dass Institutionen im besten Fall emotionale Erfahrungen verkörperten (vgl. Nussbaum 2013: 17, 135). Leider führt sie diesen spannenden, aber letztlich doch viel zu vage verbleibenden Gedanken nicht weiter aus. Zwar verweist sie in anderen Werken durchaus und regelmäßig auf konkrete Handlungsmöglichkeiten einer mitfühlend(er)en Justiz, die ihr Strafmaß entsprechend anpasst (vgl. Nussbaum 2016: 207f.). Allerdings bleibt eine relevante Leerstelle in ihrer ansonsten mehr als umfassenden Emotionstheorie bestehen: Nussbaums Vision 145
umgeht letztlich die entscheidende Frage, wie das Mitgefühl in politischen Institutionen, vor allem auch in jenen, die nicht in den Bereich der Judikative fallen, konkret und systematisch verankert werden und ihre Struktur formen kann, und welche Spannungen sich hierbei – insbesondere im Hinblick auf das übergeordnete Ziel der Gerechtigkeit – ergeben könnten. Eine solche Spannung wäre beispielsweise denkbar, wenn man von der These Chantal Mouffes ausginge, dass es vielmehr die Rolle und Eigenschaft von demokratischen Institutionen sei, eine gemäßigte Angriffsfläche für die dem Politischen inhärente und agonistische Emotionalität zu bieten. Erodieren, Mouffe zufolge, demokratische Institutionen, so erhöhe sich die Gefahr, dass sich die agonistische emotionale Konfrontation zunehmend im direkten, antagonistischen Kontakt entlade (vgl. Mouffe 2007: 33). Die Frage, ob ein systematisch verankertes Mitgefühl stärkend, aber nicht verzerrend und parteiisch, auf einen (zumindest in der Theorie) potenziell neutral konzipierten Resonanzboden demokratischer Institutionen wirken kann, bleibt somit weiterhin offen. Konstruktion einer staatsbürgerlichen Liebe
Diese De-facto-Priorisierung der individuellen vor der institutionellen Ebene wird an einigen Textstellen mehr als deutlich: „Compassion, however altruistic, can’t run a fair tax system. So, we turn many things over to institutions and laws. Nonetheless: these institutions and laws will not sustain themselves in the absence of love directed at one’s fellow citizens and the nation as a whole“ (Nussbaum 2013: 214). Für Nussbaum steht diese Konstruktion einer staatsbürgerlichen Liebe im Zentrum ihrer normativen Vision für eine öffentliche Mitgefühlskultur. Sie ist mit einem klaren Appell an das Individuum zum gemeinschaftlichen bürgerschaftlichen Engagement als einem „umfassende[n] Verantwortungsgefühl“ (Straßenberger 2019: 225) verbunden. Mit der Forderung nach mehr Liebe in Politik und Gesellschaft reiht sich Nussbaum zwar in den reichhaltigen Kanon feministischer Theorie und Praxis ein, in dem Liebe als (zuweilen entscheidende) Ressource für die Transformation des öffentlichpolitischen Raums bei gleichzeitiger Transzendierung des privaten gedacht wird (vgl. u. a. hooks 2000; Jaggar 1989; Ruddick 1989); kurioserweise rezipiert Nussbaum diesen feministischen Kanon allerdings nicht, genauso wenig wie die ebenfalls reichhaltige kritische Literatur zu Liebe und Herrschaft (vgl. u. a. Benjamin 1988; Jónasdóttir 2011; Langford 1999). „Liebe“ definiert Nussbaum, von feministischer und ideengeschichtlicher Tradition weitgehend losgelöst, als „emotionale Einstellung“ (Nussbaum 2018: 213) und interpretiert sie als „erotic outward movement of the mind and heart toward the lovable“ (Nussbaum 2013: 177; vgl. kritisch hierzu Krause 2014: 841), als 146
a delighted recognition of the other as valuable, special, and fascinating; a drive to understand the point of view of the other; fun and reciprocal play; exchange, and what [Donald, AKW] Winnicott calls ‚subtle interplay‘; gratitude for affectionate treatment, and guilt at one’s own aggressive wishes or actions; and, finally and centrally, trust and a suspension of anxious demands for control (Nussbaum 2013: 176).
Diese breit gefächerte Charakterisierung ist bemerkenswert – sie ist verspielt und ‚kindlich‘ in dem Sinne, dass sie das Wunder, dass der Mensch die Welt mit anderen teilt und teilen darf, in den Vordergrund rückt, genauso wie das „Spiel“, den Austausch, die unbändige Freude („fun“) am Lebendigsein und am Leben in einer Gemeinschaft. Darin hallt nicht nur die Festlegung Nussbaums wider, dass das „Spiel“ als „[b]eing able to laugh […], to enjoy recreational activities“ (Nussbaum [2001] 2008: 417) Bestandteil der Liste der zentralen menschlichen Fähigkeiten ist, die es gesellschaftlich und politisch zu beschützen und zu ermöglichen gelte – in dieser Vorstellung ist vor allem auch ein Kontrollverlust über all das einkalkuliert, das wir Menschen nicht steuern können (vgl. Nussbaum 2013: 15). Diese Art von Fatalismus hilft dem Subjekt der Liebe, das Leben leichter (an-) zu nehmen, und sie bietet gleichzeitig einen Schutz für den anderen, der nicht kontrolliert werden kann und darf. Die gesellschaftliche Liebe ist für Nussbaum darüber hinaus auch ein zentrales Motiv für moralische Verantwortung (vgl. Nussbaum 2016: 131) im Wechselspiel mit gesellschaftlichen und politischen Normen (vgl. Nussbaum 2013: 319). Nussbaums spezifische Vorstellung dieser Liebe als eine bestimmte Art und Weise, das eigene Leben zu begreifen und zu gestalten (vgl. Nussbaum 2007) und, davon ausgehend, in und auf die Gesellschaft zu wirken, dient ihrer Konstruktion des Mitgefühls zunächst als Fundament, um anschließend als politisches Mittel wirken und schließlich in ein politisches Ziel sui generis münden zu können: „[A]ll of the core emotions that sustain a decent society have their roots in, or are forms of, love“ (Nussbaum 2013: 15). Hier setzt Nussbaum explizit an, um Rawls’ Gerechtigkeitstheorie weiterzuentwickeln und seiner Vision von abstrakten, aus Prinzipien abgeleiteten und ‚verkopften‘ politischen Emotionen eine fühlende Partikularität entgegenzusetzen – die Nussbaum auch als „erotic relationship we all have, in a variety of forms […], to the meaning of our lives“ (ebd.) bezeichnet. Eines der Ziele bei der Förderung des Mitgefühls auf gesellschaftlicher Ebene ist dabei für Nussbaum, dem Unperfekten Raum zuzugestehen – dies sei, so Nussbaum, eher ein Erfolgsgarant als rigide und abstrakte politische Prinzipien, an denen echte Menschen nur scheitern könnten (vgl. Nussbaum 2013: 22). Die Wechselwirkung der Liebe mit der Leitvision einer öffentlichen Mitgefühlskultur wird auch dadurch geprägt, dass Nussbaum konzeptionell auf eine zentrale Wirkkomponente des Mitgefühls setzt: die Ausweitung des 147
Bezugskreises („circle of concern“). Nussbaums Argumentation lautet hierbei wie folgt: [T]o make people love something requires making them see it as ‚their own,’ and preferably also as ‚the only one they have.‘ This point, of course, is the point we have made all along: the major emotions are ‚eudaimonistic,‘ tied to the person’s conception of flourishing and the circle of concern that is involved in any such conception. To make people care, you have to make them see the object of potential care as in some way ‚theirs‘ and ‚them‘ (Nussbaum 2013: 219).
Um eine gesellschaftliche Liebe zu kreieren, müssen die Bürger:innen einer Nation zunächst diese Nation und ihre Mitbürger:innen als zu ihnen zugehörig empfinden, als einen Teil von sich selbst. Da es keine effektive institutionelle Struktur gebe, die uns zusammenbringe (vgl. Nussbaum [2001] 2008: 422), muss laut Nussbaum eine kollektiv kultivierte Mitgefühlskultur diese Aufgabe übernehmen. Am weitesten ausdehnbar und gleichzeitig am effektivsten ist dieser Bezugskreis demnach auf der nationalen Ebene: Nussbaum appelliert an einen Patriotismus, der das Potenzial innehabe, soziale Gerechtigkeit und politische Gleichheit innerhalb einer bestimmten Nation zu fördern.81 So kommt Nussbaum zu dem folgenden Verdikt: „[N]ational sentiment is [..] a way of making the mind bigger“ (Nussbaum 2008: 80). Der Gesellschaft erwachsen unweigerlich individuelle und kollektive Pflichten, im Gegenzug für die Garantie der von Nussbaum festgelegten essenziellen Fähigkeiten des Menschen etwas zu opfern. Dieser Prozess gestalte sich, so Nussbaum, deutlich reibungsloser und angenehmer, wenn an die Liebe zur Nation als Heimat für alle appelliert werde (vgl. Nussbaum 2008: 83). Diese Liebe zur Nation muss, Nussbaum zufolge, vor allem in Schulen gelehrt werden – allerdings in einer „kritischen“ Weise: „Teaching patriotism in the schools invites, but we are allowed to rebel“ (Nussbaum 2013: 389). Nussbaum betont hier zwar die Möglichkeiten zum Dissens (vgl. auch Nussbaum 2008: 86); gleichzeitig aber werden diese durch ihr Insistieren ad absurdum geführt, dass Kinder erst ein sorgendes Gefühl für die Nation entwickeln müssten („[b]egin with love“, Nussbaum 2013: 250), um Dissens überhaupt ausüben zu können. Entscheidend für die Bindung des Einzelnen an das nationale Kollektiv, die bereits in Schulen gelehrt werden solle, ist laut Nussbaum vor allem die 81
Rorty (1998: 319) vertritt eine ganz ähnliche Position: „[I]nsufficient national pride makes energetic and effective debate about national policy unlikely. Emotional involvement with one’s country […] is necessary if political deliberation is to be imaginative and productive.“. Nussbaum hatte Rortys Thesen früher dezidiert kritisiert (vgl. Nussbaum [1997] 2000: 92f.).
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Art und Weise, wie über diese Nation gesprochen wird: „[A]ny nation is a narrative […] any national narrative is an interpretation“ (Nussbaum 2008: 83). Dass dieses Narrativ unberechenbar sein kann, das erkennt auch Nussbaum an (vgl. Nussbaum 2008: 79). Und doch hält sie mit einer gewissen theoretischen Sturheit klar am Patriotismus fest – unter anderem, indem sie relativ schlicht proklamiert, dass der von ihr angerufene Patriotismus keiner sei, der „Blut und Zugehörigkeit“ (Nussbaum 2019: 54) propagiere; außerdem müsse das Narrativ über die Geschichte einer Nation und ihre Identität, das das Gefühl für die Nation prägt, alle Mitglieder einer Nation einschließen (vgl. Nussbaum 2013: 213). Für Nussbaum sind gelungene Beispiele für ein patriotisches, aber inkludierendes Narrativ unter anderem die Debatten über die Wahl der Nationalhymne und -flagge Indiens (vgl. Nussbaum 2013: 240) oder die Ausweitung des Bezugskreises des Mitgefühls im unmittelbaren Nachgang der Terrorakte des 11. September 2001 – ein Ereignis, in dessen Rahmen sich Nussbaum (2003: 16f.) selbst als Teil des amerikanischen „Wirs“ positioniert: „[W]e actually extended concern […] to people in America who had not previously been part of our circle of concern at all […]. We extended concern to them both because we heard their stories and also, especially, because we were encouraged to see them as a part of the America we already loved and for which we now intensely feared.“ Da diese Liebe auf die Launen der menschlichen Natur reagiere, können, befindet Nussbaum optimistisch, Gerechtigkeit und gemeinschaftliches Streben nach dem guten Leben gedeihen: „[T]he human mind is quirky and particularistic, more easily able to conceive a strong attachment if these high principles are connected to a particular set of memories, symbols, narrative, and poetry“ (Nussbaum 2008: 82). In früheren Publikationen, in denen sich Nussbaum noch nicht oder nicht derart stark für Patriotismus ausgesprochen hatte, führte sie prägnante Negativbeispiele aus der US-amerikanischen Geschichte auf (vgl. u. a. Nussbaum 2003) – in Political Emotions zieht sie hingegen fast ausschließlich Positivbeispiele heran, um ihre Thesen zu illustrieren: So hebt Nussbaum beispielsweise die politische Rhetorik Abraham Lincolns und Martin Luther Kings in vielerlei Hinsicht wohlwollend hervor. Ihnen sei es nämlich gelungen, abstrakte politische und moralische Prinzipien mit der Partikularität von Erinnerungen und Erzählungen zu verbinden: Lincoln and King express, and inspire in others, a profound love of America and a pride in her highest ideals. They do so, however, while constructing a narrative of America that is aspirational, foregrounding the best values to which America may be thought to be committed, and also deeply and explicitly critical, showing that America has failed to live up to her ideals (Nussbaum 2013: 239).
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In diesem deutlich pathetischen Duktus sticht zwar ein gewisser ‚Amerikanismus‘ klar hervor (vgl. auch Slaby 2017: 150); allerdings auch ein Insistieren darauf, dass es eine gemeinschaftliche Aufgabe sei, die Meinungsfreiheit gegenüber blindem Herdengehorsam zu verteidigen. Nur unter dieser Prämisse sei es geboten, eine gewisse Vorstellung von Liebe, nämlich eine „evocative and quasi-erotic sense of national love“ (Nussbaum 2013: 282), gesellschaftlich zu fördern und damit den „true patriot“ (Nussbaum 2013: 218) hervorzubringen. Der wahre (aber kritisch denkende) Patriot, der sich mit anderen wahren (ebenfalls kritisch denkenden) Patriot:innen um eine quasierotische nationale Liebe bemüht – spätestens bei dieser normativen Vision Nussbaums zeigt sich ein deutliches Spannungsverhältnis insbesondere zur deutschen Denkschule (vgl. u. a. Heidenreich 2013: 578; Nielsen 2015: 43; Slaby 2017: 149f.), die Nussbaum in einer Replik unwirsch attackiert: Im Anschluss an eine sehr kurze Kritik an Jürgen Habermas befindet Nussbaum (2013: 222): „Germany’s past makes people particularly squeamish about any appeal to strong emotion in the political realm, and it is consequently particularly difficult to address the topic of patriotic emotion there.“ Diese Unbeirrbarkeit in Nussbaums Plädoyer für mehr Patriotismus ist umso erstaunlicher, als die Philosophin hierzu eine bemerkenswerte Hundertachtziggradwendung vollführt hat – bis zu einem Aufsatz aus dem Jahr 2008 hatte sich Nussbaum nämlich als enthusiastische Fürsprecherin für den Kosmopolitismus positioniert: „The air does not obey national boundaries“, befand Nussbaum ([1994] 2002: 12) beispielsweise mit gewohntem Pathos. In früheren Werken hatte sie sich vehement gegen jedwede Form von Patriotismus ausgesprochen (vgl. hierzu den von ihr mitherausgegebenen Sammelband For Love of Country?; Nussbaum/Cohen [Hrsg.] [1996] 2002).82 Die Zugehörigkeit zur Nation, so führte Nussbaum damals aus, sei eine „moralisch irrelevante Charakteristik“ (Nussbaum [1994] 2002: 5); der Patriotismus sei „behaglich“ und von „einfachen“ (Nussbaum [1994] 2002: 7) Emotionen begleitet. Auch deshalb sei eine patriotische Erziehung ein Irrweg, befand Nussbaum damals: „An education that takes national boundaries as morally salient too often reinforces this kind of irrationality, by lending to what is an accident of history a false air of moral weight and glory“ (Nussbaum [1994] 2002: 11). Auch zu Beginn der 2000er Jahre plädierte Nussbaum noch mit Nachdruck für die Weltbürger:innenschaft: „We must [..] cultivate world citi82
In der Literaturliste von Political Emotions lässt sich keine einzige Referenz zu diesem Sammelband finden. Einen ähnlichen Befund gilt es im Hinblick auf Nussbaums 2019 erschienenem Werk über die „Revision“ des kosmopolitischen Ideals zu konstatieren – auch hier ist kein expliziter Verweis zu ihren früheren, kosmopolitischen Thesen zu verzeichnen.
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zenship in our hearts and minds as well as our codes of law“ (Nussbaum 2002: 139). Es ist aus heutiger Perspektive überraschend, wie stark Nussbaum gegen die „Irrationalität“ des Patriotismus und für eine ent-emotionalisierte kosmopolitische Vision argumentiert hatte (vgl. kritisch hierzu Pinsky 2002: 89). Der Kontrast zu ihrer späteren Emotionstheorie könnte dahingehend nicht größer sein: Das Mitgefühl ist demnach eben keine „kosmopolitische Tugend“ (Straßenberger 2019: 224, 228) mehr – genauer, weder Tugend, noch kosmopolitisch. Nussbaum notiert hierzu, dass sie aufgrund der Folgen des 11. September, aber vor allem bedingt durch die Hinwendung zum politischen Liberalismus nach Rawls vom Kosmopolitismus abgerückt sei, da er zu stark an eine umfassende Doktrin erinnere (Nussbaum 2008: 80) – wobei natürlich infrage gestellt werden kann, ob nicht auch der Vision eines kritischen Patriotismus gewisse doktrinäre Züge inhärent sind. Zudem bleibt Nussbaum Lösungsvorschläge für ein konkretes und relevantes Problem schuldig, das sich aus ihrem Plädoyer für mehr Patriotismus ergibt – und das sie selbst anspricht: nämlich die Frage, wie ein (inkludierendes) Narrativ einer Nation adäquat an ein Weltnarrativ geknüpft werden (vgl. Nussbaum 2013: 214) und wie der Weltbürger eine Liebe zu seinem Land entwickeln kann, die keinen rivalisierenden Hass auf andere Nationen beinhaltet (vgl. Nussbaum 2019: 96). Denkbar ist, dass Nussbaum es hier wie Richard Rorty hält – eine den einzelnen Nationen übergeordnete politische Struktur kann demnach nur dann aufgebaut werden, wenn die Bürger:innen dieser Nationen einen gewissen Stolz entwickelten, so dass ihre Regierungen auf dieses Ziel hinarbeiteten (vgl. Rorty 1998: 3; vgl. zur Verbindung der Nussbaum’schen Thesen mit denen Rortys: Slaby 2017: 149f.). Diese Argumentation kann realpolitisch indes kaum überzeugen: So belegen die quälend langsamen und denkbar geringen Fortschritte im Klimaschutz, dass eine etwaige „Liebe“ für und Stolz auf die eigene Nation (inklusive dem Wunsch nach frischer Luft, nach Artenschutz, nach guten Lebensbedingungen der folgenden Generationen) bislang kaum an ein Weltnarrativ anknüpfen konnte, mit der entschiedenes und konzertiertes Handeln möglich ist. Patriotismus kann im Gegenteil eher zur Abkehr von Klimazielen zu führen, wie das Beispiel der Vereinigten Staaten unter der Führung des ehemaligen Präsidenten Donald Trump deutlich zeigt. Auch vor diesem Hintergrund ist es mehr als bedauerlich, dass Nussbaum auch in ihrem Buch über die „Revision“ des kosmopolitischen Ideals (2019; deutsche Übersetzung: 2020) offenlässt, wie genau diesem Ideal einer an die Nation gebundenen, aber trotzdem weltoffenen Bürgerin in der Praxis nachgekommen werden soll. In kommunitarischer Manier (vgl. ReeseSchäfer 2019: 19) spricht sich Nussbaum unter anderem für eine Begrenzung von Einwanderung aus, wenn diese den Zielen der Nation schade (vgl. Nussbaum 2019: 231). Der Nation von Nutzen seien hingegen vor allem politische 151
„leader“, die eine patriotische Loyalität zur eigenen Nation in eine Werte loyalität umwandelten, die für eine gerechte globale Ordnung zentral sei (Nussbaum 2019: 211). Nussbaums politiktheoretische Vision einer bürgerschaftlichen Liebe hinterlässt bei der Leserin einen eigenartigen Zwiespalt: Sie krankt auf der einen Seite ganz entschieden an Nussbaums Plädoyer für einen („kritischen“) Patriotismus beziehungsweise insbesondere an einer Theorie, die überhaupt nicht überzeugend darzulegen vermag, wie eine zugwandte Haltung zwischen Menschen einer Nation auch nur in Ansätzen auf das Supranationale, wie also das rein Punktuelle und auf individuellem Interesse und Engagement Beruhende, ausgeweitet werden kann. Damit zerfällt letztlich Nussbaums (wenn auch nur sehr vage angerissene) optimistische Vision, dass eine öffentliche Kultur voller Mitgefühl und Liebe nicht nur den Bürger:innen innerhalb einer Nation, sondern auch über die eigenen Landesgrenzen hinweg für ein gedeihliches Leben dienlich ist. Auf der anderen Seite transzendiert Nussbaums empathische und von Einwänden an die ‚Rationalität‘ völlig unbeirrte Liebeskonzeption einen ziemlich wunden Punkt des Mainstreams beziehungsweise Malestreams Politischer Theorie: Nussbaums unermüdliches Einsetzen für das menschliche Bedürfnis nach Nähe und Bindung, nach Geborgenheit angesichts menschlicher Fragilität und Vulnerabilität, kulminiert in ihren Thesen über eine staatsbürgerlichen Liebe zu einer selbstbewussten Demonstration dessen, wie Gesellschaft auch und alternativ gedacht und gestaltet werden kann – und welche Weichen im Politischen hierzu gestellt werden müssten. Vielversprechender wäre es allerdings, wenn eine solche Konzeption von Liebe auch ohne patriotische Appelle gedacht werden könnte. Hilfsmittel gegen das „radikale Böse“
Die Liebe ist für Nussbaum auch deshalb so wichtig, weil sie den Menschen aus seinem emotionalen Gefängnis der Hilflosigkeit und vom Narzissmus der frühen Kindheit befreie: „[L]ove is an ongoing necessity for the personality in adult interactions, if these are not to lapse back into narcissism. This is as true in political life as it is in familial and friendly relations“ (Nussbaum 2013: 190). Diese Liebeskonzeption wirkt in Nussbaums Theorie „negativen“ Emotionen wie Neid, Ekel, Scham und vor allem der Urangst entgegen, auf der alle diese Emotionen beruhten (vgl. Nussbaum 2018: 20). Diese Emotionen formieren dasjenige, das Nussbaum in Anlehnung an Kant als das „radikale Böse“ bezeichnet: „Evil is radical, according to Kant – that is to say, it goes to the root of our humanity – because human beings, prior to concrete social experience, have a propensity to both good and evil, in the form of tendencies that are deeply rooted in our natures“ (Nussbaum 2013: 166). Diese 152
Tendenzen führten dazu, dass wir andere nicht als in sich wertvoll, sondern als Objekte betrachteten und behandelten (vgl. Nussbaum 2013: 4). Allerdings betont Nussbaum, dass sie in einem entscheidenden Aspekt von der Kant’schen Theorie über das „radikale Böse“ abweiche: Sie vertritt die These, dass die politische und soziale Kultur diese Prozesse maßgeblich beeinflussen könne (vgl. Nussbaum 2013: 165). Genau hier kommt dem politischen Ziel einer öffentlichen Mitgefühlskultur eine weitere tragende Rolle zu: Die Gesellschaft kann sich damit gegen anti-soziale Tendenzen verteidigen – die, das macht Nussbaum deutlich, durchaus auch zu konkreten Gefahren für das Gemeinwesen werden können. Laut Nussbaum ist das „radikale Böse“ unser Erbe aus der frühesten Kindheit, die von Hilflosigkeit und Abhängigkeit gezeichnet sei. In dieser kurzen, aber wichtigen Zeitspanne unseres Lebens prägen uns laut Nussbaum (die sich hierbei vor allem auf die Entwicklungspsychologie bezieht, aber auch, zumindest kurz, auf ähnliche Gedanken Rousseaus verweist, vgl. Nussbaum 2010: 31) natürliche Neigungen, wonach wir versuchten, zu herrschen und andere nicht als Menschen mit eigenen Bedürfnissen und Interessen zu sehen, sondern als unsere Sklaven (vgl. Nussbaum 2013: 172). Damit sei oftmals der Wunsch verbunden, unser fragiles Ich zu beschützen, indem wir andere für die Erfüllung unserer eigenen Wünsche und Bedürfnisse erniedrigten und abwerteten (vgl. Nussbaum 2013: 3). Das sei das „wirkliche Böse“ („real evil“, Nussbaum 2013: 165) – und unumgänglicher Bestandteil der „Unordnung des ‚bloßen Menschseins‘“ („the messiness of the ‚merely human‘“, Nussbaum 2013: 16). Diese Neigungen, das macht Nussbaum deutlich, können sich auch im und auf das Politische(n) auswirken. Ekel sei beispielsweise dafür verantwortlich, Unterdrückung und Ausgrenzung zu forcieren oder gar zu verursachen: Dabei dichteten Menschen in Machtpositionen ihren Gegner:innen tierische Attribute an, die bei der eigenen Gefolgschaft projektiven Ekel hervorriefen (Nussbaum 2013: 182). „Disgust blocks equal political respect“, befindet Nussbaum (2013: 186) daher, denn dieser Ekel führe zu Dominanzverhalten, Kontaktvermeidung und, im schlimmsten Falle, zu roher Gewalt. Im Nationalsozialismus beispielsweise seien Jüdinnen und Juden oftmals als nicht-menschlich und ‚animalisch‘ stigmatisiert worden, als „insects or vermin, or as inanimate objects, ‚cargo‘ to be transported“ (Nussbaum 1996: 35; vgl. hierzu beispielsweise die Ausführungen Adolf Eichmanns in den Sassen-Interviews, Kap. 2.2.3). Die Emotion des Ekels wurde (und wird) also instrumentalisiert, um einen Vernichtungswillen mithilfe von Animalisierung, Ent-Individualisierung (vgl. auch Nussbaum 1995b: 92) und Objektifizierung politisch durchzusetzen und gesellschaftlich zu verankern. Dabei gefährdeten Emotionen wie Ekel, Scham, Neid und Angst das menschliche Mitgefühl, schreibt 153
Nussbaum. So würde beispielsweise Neid das Mitgefühl auf doppelte Weise „attackieren“: zum einen, indem der Bezugskreis des Mitgefühls geschmälert statt erweitert würde; zum anderen dadurch, dass der Neid die Empathie und den für das Mitgefühl hilfreichen Gedanken an das gleiche Schicksal blockiere, so dass das neidende Subjekt das Objekt der Emotion als Feind wahrnehme (vgl. Nussbaum 2013: 345). Nussbaum identifiziert aber noch ein weiteres gravierenderes Problem: Das Mitgefühl könne nämlich selbst Teil des „radikalen Bösen“ werden. Hierbei spielt das dem Mitgefühl inhärente Element der Parteilichkeit eine entscheidende Rolle: „Subjects who are given a vivid story of another person’s plight tend overwhelmingly to diverge from a principle of fairness“ (Nussbaum 2013: 157). Gerechtigkeit wird somit potenziell ausgehebelt. Im Falle politischen Emotionsmanagements kann dies mitunter verheerende Folgen haben: Wird eine „negative“ Emotion politisch instrumentalisiert und ein entsprechend bewegendes Narrativ konstruiert, das gleichzeitig gegenüber einer dominanten Gruppe inkludierend und gegenüber einer Minderheitengruppe exkludierend wirkt, kann das Mitgefühl laut Nussbaum zu einem Erfüllungsgehilfen von Exklusion, Unterdrückung und sogar Terror werden. Trotz der von ihr identifizierten sozialen und politischen Gefahren hält Nussbaum jedoch an ihrer normativen These über die Wirkmächtigkeit des Mitgefühls fest: „[W]e must [..] try energetically to construct a bridge from the vividly imagined single case to the impartial principle by challenging the imagination, reminding people that a predicament to which they respond in a single vividly described case is actually far broader. A public culture of compassion must be concerned with both the dialogue and the bridge“ (Nussbaum 2013: 157). Paradoxerweise plädiert Nussbaum dafür, das Mitgefühl auszuweiten, anstatt es aufgrund des ihm inhärenten Gefahrenpotenzials einzudämmen: „[O]ne of the best preventions against damage is the strengthening of extended compassion itself“ (Nussbaum 2013: 315). Nussbaum setzt mit Nachdruck auf die gezielte Ausweitung des gesellschaftlichen Mitgefühls, das auf kollektiver Ebene erlernt, geübt und angewandt werden solle – denn je besser diese Fähigkeit eingeübt sei, desto eher seien die Subjekte des Mitgefühls in der Lage, den ihnen eigenen Tendenzen des „radikalen Bösen“ nicht nachzugeben und sie sogar aktiv zu bekämpfen. Dies ist für Nussbaum auch deshalb so wichtig, da viele Formen der Liebe oftmals durch die Enge eines klar begrenzten Bezugsfelds definiert seien (vgl. u. a. Nussbaum [2001] 2008: 300). Flankierend zu den bereits angesprochenen institutionellen Schutzarrangements ist für Nussbaum das Mitgefühl somit das vielleicht wirksamste Gegenmittel gegen die Tendenzen, die das „radikale Böse“ befördern: „They can be modified by upbringing and education […]. Nations can foster cultures of 154
dissent, encourage personal accountability, and discourage bureaucratic anonymity. Perhaps most important, they can build cultures of empathy, encouraging the ability to see the world through the eyes of others and to recognize their individuality“ (Nussbaum 2013: 198). Nussbaum spricht hier von „Empathie-“ anstelle von „Mitgefühlskulturen“ – das ist tatsächlich kein terminologischer Lapsus, sondern verweist im Gegenteil auf die entscheidende Ressource, wie eine strategische Mitgefühlskultur das „radikale Böse“ eindämmen kann: Mithilfe der Imagination, der Fähigkeit, die Welt durch die Augen des anderen zu sehen, weiß das Subjekt um das Schicksal des anderen. We always risk error in bringing the distant person close to us; we ignore differences of language and of cultural context, and the manifold ways in which these differences shape one’s inner world. But there are dangers in any act of imagining, and we should not let these particular dangers cause us to admit defeat prematurely, surrendering before an allegedly insuperable barrier of otherness (Nussbaum 2003: 26).
Interessant ist hierbei Nussbaums Wortwahl: Sie evoziert das Bild eines gewaltlosen Ankämpfens gegen eine nur vermeintlich „unüberwindbare“ Mauer des Andersseins, so aussichtslos dieser Kampf zunächst erscheinen mag. Ihre Argumentation bedarf keiner weiteren Auslegung: Je erfolgreicher unsere Empathiefähigkeit wirken kann, desto schwerer wird es, den uns eigenen „negativen“ Emotionen widerspruchslos nachzugeben. Genauso wie die Ursprünge des „radikalen Bösen“ in der Kindheit zu finden seien, entschieden unsere allerersten Lebensjahre auch darüber, ob wir Empathie ausbilden könnten oder nicht: Die bedingungslose und unbeirrbare Liebe sowie auch die Perspektivenübernahme der Eltern gegenüber ihrem Kind bilden hierfür das Fundament. Das liebevolle Umfeld bewegt das Kind demnach dazu, in kognitiv etwas gereifterem Alter Empathie erst zu erlernen und anschließend selbst anzuwenden (vgl. Nussbaum 2013: 175f.; [2001] 2008: 388f.). Nussbaums politiktheoretische Vision einer bürgerschaftlichen Liebe basiert auf diesem entwicklungspsychologischen Fundament – genauso wie eine andere unserer frühesten Kindheitserfahrungen: die bereits Säuglingen zu eigene „Liebe zum Licht“. Damit meint Nussbaum eine bestimmte Haltung, nämlich „that generous outward-seeing movement of the mind, finding the world fascinating and curious, that is both intelligent and emotional: the world is seen as loveable“ (Nussbaum 2013: 174). Sie beschreibt damit im Grunde eine allen Menschen qua Natur und seit Geburt inhärent liegende ‚Liebe zur Welt‘ (vgl. Kap. 4), die den zentralen Nährboden dafür bereitstellt, dass Liebe dort gedeiht, wo sie gesät wird. Diese Argumentation kann man als utopisch oder verkitscht abtun; man kann darin aber im Gegenteil auch – so mein Vorschlag – eine kraftvolle und 155
pro-soziale Politische Theorie lesen, die einer liebevollen Kindheit essenziellen Wert zuschreibt, und zwar nicht nur individuellen, sondern auch gesellschaftlichen. Sie erinnert in gewisser Weise an Hannah Arendts Natalitätskonzeption, wonach jeder Mensch qua Geburt einen radikalen Neuanfang darstellt und damit Hoffnung für die gemeinsame Welt verkörpert (vgl. u. a. Arendt [1958] 2007: 18). Nussbaum setzt konzeptionell zwar etwas später an, erst im frühen Kindheitsalter, aber auch sie betont das enorme Potenzial, das jeder Mensch von Kindesbeinen an für die gemeinsame Welt birgt. Allerdings: Eine liebevolle Kindheit verlangt eine entsprechende Sozialisation. Die Familie ist laut Nussbaum daher nicht nur der erste, sondern auch der wichtigste und prägendste Ort, der die Grundlagen für ein gutes Leben bereitet und an dem die essenziellen Erfahrungen von Liebe, Empathie und Mitgefühl gemacht werden (sollen) (vgl. u. a. Nussbaum 1996: 50; 2010: 37). Auch deswegen ordnet Nussbaum die Familie strukturell dem politischen Raum zu (vgl. FN 72). In liberaler Tradition verweist sie darauf, dass aus dem narzisstischen Kind im Idealfall erst ein moralischer Sohn/eine moralische Tochter werde (vgl. u. a. Nussbaum 2013: 175; vgl. ideengeschichtlich hierzu auch Wollestonecraft [1792] 2004: 202), bevor das Kind zu einem:r moralischen Bürger:in heranreifen könne. Aufbauend auf den Erfahrungen in der Familie sollen anschließend auch auf gesellschaftlicher Ebene die Empathiefähigkeit und ein (immer stärker auf ein Kollektiv ausgerichtetes) Mitgefühl weiter bestärkt werden – vor allem auch in Schulen, mithilfe von Rollenspielen oder gemeinsamer Lektüre. Die Grunderfahrungen der „Liebe” immer wieder aufs Neue anzuwenden, das ist für Nussbaum ein übergeordnetes normatives Anliegen: [L]ove needs to come to the rescue: only a vigorous imaginative engagement with another person’s particularity will undo or prevent the ravages of group-based stigma and reveal citizens to one another as whole and unique people. It is crucial not only to have had love in one’s childhood, then, but also to be able to renew it on each occasion when one’s ‚inner eyes‘ are dim (Nussbaum 2013: 165).
Die Tonalität dieses letzten Satzes erinnert stark an die Passage in der Theorie Hannah Arendts, in der sie auf die Maxime der auf Grundlage des Perspektivwechsels gebildeten Urteilskraft verweist, „in den seltenen Augenblicken, da die Einsätze gemacht sind“ (Arendt [1977, 1978] 2008: 192). Beide Theorien ähneln sich hier nicht nur im (pathetischen) Duktus, sondern weisen auch eine ganz ähnliche Kernthese auf: Nur mit der aktiven und gezielten Anwendung des Fühlens (Nussbaum) beziehungsweise des Denkens (Arendt) können in „Grenzsituationen“ humanitäre Katastrophen verhindert werden.
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3.2.2 Den Bezugskreis ausweiten Im Gegensatz zur Arendt’schen Theorie spielt das politisierte Mitgefühl für Nussbaum eine entscheidende Rolle als Leitvision für die gesellschaftliche und politische Kultur einer Gemeinschaft beziehungsweise einer Nation. In der damit verbundenen Ausweitung des Bezugskreises des Individuums liegt aber nicht nur der Schlüssel für Nussbaums Konzeption des Mitgefühls als politisches Ziel, sondern auch und maßgeblich als politisches Mittel. Um räumliche und lebensweltliche Distanz zu schmälern, plädiert Nussbaum nämlich dafür, das Mitgefühl strategisch dazu zu nutzen, ein „Wir“ zu bilden: [T]he ones who will stir deep emotions in us are the ones to whom we are somehow connected through our imagining of a valuable life, what I shall henceforth call our ‚circle of concern.‘ If distant people and abstract principles are to get a grip on our emotions, therefore, these emotions must somehow position them within our circle of concern, creating a sense of ‚our‘ life in which these people and events matter as parts of our ‚us,‘ our own flourishing (Nussbaum 2013: 11).
Diese Ausweitung des Bezugskreises hat Martha Nussbaum anhand eines einfachen Modells erläutert, dessen Grundgedanken sie auf Auguste Comte zurückführt (vgl. Nussbaum 2013: 62). Demnach bildet das Subjekt den Kern innerhalb eines engen Kreises nahestehender Personen, die ihm wichtig für sein eigenes gutes Gedeihen erscheinen (vgl. Kap. 3.1.1). Laut Nussbaum besteht die primäre politische Aufgabe nun darin, Menschen dazu zu bewegen, eine immer größere Anzahl von anderen in diesen Kreis aufzunehmen beziehungsweise ihn weiter nach außen hin auszudehnen, also andere in unserem persönlichen Narrativ zu den unsrigen zu machen. Paradoxerweise helfe dabei gerade die Parteilichkeit des Mitgefühls, um die eigentlich eng angelegte Emotion ausweiten zu können (vgl. u. a. Nussbaum 2013: 223): Um den Bezugskreis nämlich substanziell zu erweitern, ist in Nussbaums Theorie die Imaginationsfähigkeit und die Vermittlung eines Narrativs entscheidend – ein Narrativ, das das Subjekt des Mitgefühls bewegt, sich das Schicksal anderer lebhaft vorzustellen (vgl. generell zu Nussbaums Emotionstheorie als Narrationstheorie: Mrovlje 2019; Straßenberger 2006; Vasterling 2007; Weber 2008: 32): If we don’t have exceptionless principles, if, instead, we need to negotiate our lives with a complex combination of moral reverence and erotic attachment, we need to have a keen imaginative and emotional understanding of what our choices mean for people in many different conditions, and the ability to move resourcefully back and forth from the perspective of our personal loves and cares to the perspective of the distant (Nussbaum 2003: 24).
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In Nussbaums Theorie fokussiert diese Ausweitung des Bezugskreises auf drei politische beziehungsweise gesellschaftliche Ebenen: Das Mitgefühl als politisches Mittel wirkt, erstens, als bedeutsames Steuerungsinstrument im Rahmen eines strategischen Emotionsmanagements, das sich in politischer Rhetorik und Symbolik manifestiert; zweitens bestimmt Nussbaum das Mitgefühl als politisches Hilfsmittel, um eine politische Agenda – sprich, das Mitgefühl als politisches Ziel, genauso wie politische Prinzipien der Gerechtigkeit und des guten Lebens – zu unterstützen. Die Schule bildet dabei, drittens, den idealen Nährboden für Nussbaums Vision einer umfassenden bürgerschaftlichen Mitgefühlskultur. Damit ist das Nussbaum’sche Modell der Bezugskreisausweitung, das ihrer Mitgefühlskonzeption inhärent ist, nicht nur eine zentrale moralische Angelegenheit (vgl. Tronto 1993: 59), sondern vor allem eine explizit politische. Um als politisches Mittel wirken zu können, ist das Mitgefühl laut Nussbaum (2013: 11) vor allem auf Lyrik und Symbolik angewiesen. Bonnie Honig zufolge ist eine solche Vorstellung ein zentraler Marker für die kommunitarische Idee: „Nationalists and communitarians have long known about the power of the collective thing, embracing the symbol, the song, the uniform that help make diverse people into a nation or community. […] They understand the importance of public things to national or community identity“ (Honig 2017: 3). Honig verweist in ihrem Essay über „öffentliche Dinge“ beziehungsweise „öffentliche Angelegenheiten“ („public things“, 2017) auch auf die Relevanz derselben für die Demokratie: „Public things are part of the ‚holding environment‘ of democratic citizenship; they furnish the world of democratic life. […] They […] constitute us, complement us, limit us, thwart us, and interpellate us into democratic citizenship. This is true of sewage treatment plants and railroads“ (Honig 2017: 5). Nussbaum liefert klassische Beispiele und Plädoyers für zumindest einige dieser von Honig genannten „öffentlichen Dinge“.83 Darunter fallen beispielsweise Gedenkstätten (vgl. 83
Dass sich Nussbaums und Honigs Theorien in diesem Punkt derart ähneln, obwohl Honig nicht auf Nussbaums Theorie rekurriert, ist insofern nicht erstaunlich, da beide ihre Inspiration aus den Werken des Kinderarztes und Psychoanalytikers Donald Winnicott schöpfen, der die Idee einer „haltenden“, also behütenden (mütterlichen) Umgebung für ein Kind geprägt hatte (vgl. Winnicott 1965; 1986). Beide, Honig und Nussbaum, übertragen dieses Konzept auf die öffentliche beziehungsweise politische Sphäre (vgl. Nussbaum [2001] 2008: 185), Honig expliziter noch als Nussbaum auf die Demokratie. Honig nutzt für diese Erweiterung des Konzepts einer individuellen Objektbeziehung in einer durch die Mutter beschützten und vertrauensvollen Kindsumgebung auf demokratische Kollektive interessanterweise Hannah Arendts Konzeption der „Liebe zur Welt“ (vgl. Honig 2017: 38f.): „The baby has, in intrasubjective terms, to learn to act in concert. She learns about cohesion and unitariness from the object world, and ulti-
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u. a. Nussbaum 2013: 284ff.) oder Parkanlagen (vgl. Nussbaum 2013: 296ff., 326ff.), deren bewusste und eine öffentliche Mitgefühlskultur fördernde Gestaltung ebenfalls Aufgabe eines gezielten politischen Emotionsmanagements sei. So beschreibt Nussbaum unter anderem die inkludierende (und in ihrer Schlichtheit und gleichzeitiger Tiefe wirklich beeindruckende) Erlebnisstruktur des Vietnam Veteran Memorials in Washington, D.C.: „The memorial, while about individuals, is in that sense universal: it includes all visitors in the experience of grief, bringing them together no matter what they think of the war“ (Nussbaum 2013: 287; vgl. kritisch hierzu Neiman 2020: 385). Nussbaums offener Blick auf die Vielzahl an Möglichkeiten, anhand derer der menschliche Bezugskreis erweitert und ein Gefühl von Verbundenheit mit anderen Menschen sowie deren Schicksal geschaffen werden kann, die im öffentlichen Raum zu entdecken und zu gestalten sind, gehört zu den absoluten Stärken ihrer gesamten Politischen Theorie. Ganz im Gegensatz zur Honig’schen Theorie sind „public things“ in der Nussbaum’schen Konzeption so angelegt, dass sie Differenz und den ihnen inhärenten Agonismus (vgl. u. a. Honig 2017: 24, 36) transzendieren. Nussbaums und Honigs Theorien stimmen allerdings darin überein, dass die Theoretisierung und die politische Gestaltung dieser „öffentlichen Dinge“ von enormer Relevanz für die gemeinsame Welt (und die Demokratie) sind: „If democratic theorists neglect public things, we end up theorizing the demos or proceduralism without the things that give them purpose and whose adhesive and integrative powers are necessary to the perpetual reformation of democratic collectivity“ (Honig 2017: 91). Nussbaums Konzeption von Mitgefühl als politischem Mittel zielt genau auf eine derartige Stärkung „zusammenführender“ politischer und gesellschaftlicher Kräfte ab; und genau wie Honig betont sie die Wirkmächtigkeit öffentlicher Symbolik im politischen Raum. Diese zu nutzen ist für Nussbaum eine zentrale Aufgabe politischer Akteur:innen. Politisches Emotionsmanagement: Politische Rhetorik, Symbolik und mitfühlende Rechtsprechung
Das gezielte Mitgefühlsmanagement geht demnach von charismatischen Politiker:innen aus: „Great democratic leaders, in many times and places, have understood the importance of cultivating appropriate emotions“, schreibt mately she takes it on. Now, what if the same is true – analogously – for democratic citizens? That is, what if democratic forms of life depend partly upon objects to help collect diverse citizens into self-governing publics divested (like Winnicott’s maturing infants) of fantasies of omnipotence and invested with a sense of integrated subjectivity, responsibility, agency, and concern?“ (Honig 2017: 17).
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Nussbaum (2013: 3) und erinnert mit dieser Art von Ehrfurcht gegenüber den „großen demokratischen Führungspersonen“ an Arendts unverhohlene Bewunderung für die amerikanischen Revolutionäre (vgl. Kap. 2.1.4). Genauso wie Arendt zelebriert Nussbaum das Auftreten herausragender politischer Persönlichkeiten, die ihre jeweiligen politischen Visionen leidenschaftlich verfolgten; im Gegensatz zu Arendt hebt Nussbaum jedoch positiv hervor, wie gekonnt Emotionalität in den von ihr genannten Beispielen politisch instrumentalisiert worden sei. Nussbaum fokussiert hierbei vor allem auf die Wirkmächtigkeit emotionaler politischer Rhetorik und Symbolik. Die Überzeugungskraft politischer Akteur:innen ist, so lautet die These Nussbaums, vor allem mit der Fähigkeit verknüpft, sich die politische und gesellschaftliche „Macht von Kunst und Symbolen“ (Nussbaum 2013: 388) zu Nutze zu machen, die über partikularen Interessen und Identitäten stünde und diese gegebenenfalls überwinden helfe. Nussbaum setzt hierfür statt auf gesetzlichen Zwang auf „informelle Überzeugung“, die die entsprechende Symbolik und Rhetorik fördern solle: „[P]ublic officials can use persuasion […] – both encouraging support for legal norms and encouraging more general habits of mind that render those norms stable“ (Nussbaum 2013: 132). Am Beispiel ausschließlich männlicher Politiker – dass Nussbaum kein prägnantes Beispiel weiblicher Akteurinnen bringt, ist höchst irritierend – der USamerikanischen und indischen Geschichte porträtiert Nussbaum episodenhaft die Wirkmächtigkeit eines gezielten politischen Emotionsmanagements. Demnach haben es Martin Luther King, Abraham Lincoln, George Washington oder Mohandas Gandhi meisterlich verstanden, eine starke Verbindung zwischen ihrem öffentlichen Auftreten und dem emotionalen Befinden ihrer Adressat:innen herzustellen (vgl. Nussbaum 2013: 225ff., 323ff.). Ihre emotionspolitischen Strategien seien letztlich erfolgreich gewesen, denn viele Bürger:innen hätten die entsprechenden politische Agenden entweder (passiv) hingenommen oder (aktiv) unterstützt. Anhand dieser Beispiele wird deutlich, dass Nussbaums politiktheoretische Thesen sowohl die Personalisierung von Politik (vgl. Holland-Cunz 1994: 241f.) als auch die Emotionalisierung politischer Kommunikation in Mediendemokratien (vgl. u. a. Heidenreich 2015: 55ff.) forcieren. Ins Schwärmen gerät Nussbaum vor allem dann, wenn mitfühlende politische Rhetorik lyrische Form annimmt (vgl. Nussbaum 2013: 11ff., 277ff.), oder wenn mitfühlende politische Symbolik an das Gemeinschafts- und Gerechtigkeitsempfinden appelliert (vgl. Nussbaum 2013: 242) und gesellschaftliche Grenzen transzendiert (vgl. Nussbaum 2013: 365ff.). Fast wehmütig, so scheint es, blickt Nussbaum dabei in die Geschichte zurück; der Blick in die Gegenwart offenbart für Nussbaum eklatante und folgenreiche Leerstellen, die sie auf einer politiktheoretischen Werteebene moniert – im Stil, nicht 160
aber im Inhalt, ähnlich wie Hannah Arendts nostalgische Retrospektive der Amerikanischen Revolution sowie ihre Abneigung gegenüber der Konsumorientierung der US-amerikanischen Gesellschaft ihrer Zeit: „The fact that nobody is thinking much about these matters [den „appeal to emotion“, AKW] today goes at least some way to explaining the slide back to the view that the poor cause their own misery, and, in turn, to the decline of the American welfare state“ (Nussbaum 2013: 284). Nussbaum zeichnet hierbei eine direkte Verbindungslinie zwischen der mangelnden emotionalen Ansprache der USamerikanischen Bürger:innen und der Abschaffung des Wohlfahrtsstaates und damit einer zentralen Institution all jener politischen Gesellschaften, die sich einem Gerechtigkeitsprimat verschrieben haben. Das Mitgefühl als politisches Mittel soll nach Nussbaums Vorstellung aber nicht nur auf der politischen ‚Output‘-Ebene in Richtung der Bürger:innen instrumentalisiert werden; auch auf der ‚Input‘-Ebene ist das Mitgefühl demnach hilfreich, also für die politischen Entscheidungsträger:innen selbst. Sie müssten zunächst überhaupt erst über imaginative Fähigkeiten verfügen, auf denen das Mitgefühl beruht und die für die Umsetzung von Nussbaums Leitvision einer öffentlichen Mitgefühlskultur zentral sind: „We should demand political leaders who display the abilities involved in compassion, who show not just mastery of pertinent facts about their society and its history, but also the ability to take on in imagination the lives of the various diverse groups whom they propose to lead“ (Nussbaum 1996: 51). In ihren Entscheidungen, so verlangt es Nussbaum, sollen politische Akteur:innen sich sodann mithilfe der Imagination und des Mitgefühls in ihren Urteilen leiten lassen. Für Nussbaum gilt das vor allem für die institutionelle Ebene der Rechtsprechung. Besonders wichtig für (zukünftige) Richter:innen sei daher „not just collecting facts about the diverse ways of life with which they are likely to come in contact, but entering into these lives with empathy and seeing the human meaning of the issues at stake in them“ (Nussbaum 1996: 53). Denn gerade die Judikative sei von einer zunehmenden und systematischen Exklusion von Emotionen betroffen, befand Nussbaum zumindest noch in den 1990er Jahren (1995b: 54f.). Mit ihrer ‚amerikanischen‘, das heißt aus europäischer Sicht gewagten beziehungsweise allein verfassungsrechtlich kaum umzusetzenden Thesen befürwortet Nussbaum eine empathische und mitfühlende Ausübung des Richter:innenamts (vgl. Nussbaum 1995b: 121; Nussbaum 1995b; [2001] 2008: 441ff.; 2016; zum konstruktiven Wirkpotenzial des Mitgefühls beziehungsweise der Empathiefähigkeit im [US-amerikanischen] Rechtssystem vgl. u. a. auch Bandes 2017; Krause 2011). Dieses Plädoyer für eine zugewandte Rechtsauslegung spiegelte sich im Vorfeld der Ernennung Sonia Sotomayors als Richterin am Obersten Verfassungsgericht (Supreme Court) der 161
USA wider, als der damalige US-Präsident Barack Obama explizit auf die Empathiefähigkeit als Auswahlkriterium für das vakante Richter:innenamt verwies (vgl. Obama 2009; vgl. hierzu auch Murphy 2019: 169f.). Nussbaums Fürsprache für eine einfühlendere Justiz, die sie ausgehend von Adam Smiths Konzept des „judicious spectator“ entwickelt (vgl. Nussbaum 1995b: 72ff.), erinnert in gewisser Weise an die Arendt’sche Konzeption der „erweiterten Denkungsart“. Demnach ist es die Aufgabe von Richter:innen, zwar neutral und unparteilich, aber mit einem möglichst umfassenden Blick auf die beteiligten Akteur:innen eines Falles und deren individuelle Geschichte zu einem Urteil zu gelangen: „The judicious spectator must go beyond empathy, assessing from her own spectatorial viewpoint the meaning of those sufferings and their implications for the lives involved“ (Nussbaum 1995b: 90). Im Gegensatz zu Arendt geht Nussbaum hier aber ganz klar einen ‚emotionaleren‘ Weg, indem sie sowohl Empathie als auch eine anschließende mitfühlende Beurteilung im Rechtssprechungsprozess propagiert: „From both judges and jurors […] we should demand both empathy and an appropriate compassion as ingredients in the mastery of the human facts before them. This compassion must be tethered to the evidence and constrained by institutional factors“ (Nussbaum [2001] 2008: 445). Nussbaum unterfüttert ihre Handlungsempfehlungen für die „mitfühlende“ Richterin beziehungsweise den empathischen und an Emotionen appellierenden politischen Akteur (sic!) fast ausschließlich mit narrativen Beispielen – auffällig ist, dass sie diese insbesondere in Politische Emotionen keiner wirklichen Systematik unterzieht. Auch der Abschnitt zu „Political Leaders“ in Nussbaums aus über 700 Seiten bestehenden emotionstheoretischen Grundlagenwerk Upheavals of Thought umfasst gerade einmal drei Seiten (vgl. Nussbaum [2001] 2008: 435ff.). Diese Ausdünnung ist umso erstaunlicher, als ihr die Ideengeschichte hierzu viele Anregungen hätte liefern können – vor allem für eine Neo-Aristotelikerin ist diese Leerstelle auffällig. Erklärt werden kann sie allerdings damit, dass Nussbaum ihre Vision erklärtermaßen vage genug halten wollte, so dass ihre Ideen für eine Reihe von unterschiedlichen politischen Gesellschaften relevant und anwendbar seien. Ausgehend von diesen Prämissen tut Nussbaum in der Tat gut daran, zwar prägnante, aber wenig systematisch aufbereitete Beispiele zu skizzieren. Nussbaums weitreichender Appell an politische Verantwortungsträger:innen wirkt damit allerdings relativ beliebig und in ihrer normativen Dimension wenig konkret greif- und anwendbar. Das in Political Emotions so skizzierte aktive Emotionsmanagement verbleibt letztlich im Episodenhaften. Ihre Argumentation wird zudem dadurch geschwächt, dass die meisten der von ihr skizzierten historischen Beispiele ihre Forderung nach einem („kritischen“) Patriotismus untermauern sollen. 162
Noch problematischer allerdings ist die Tatsache, dass Nussbaum so gut wie keine Erklärung gibt, wie politische Emotionen als Massenerlebnisse wirken (vgl. u. a. Schiewer 2014: 150), und welche Gefahren sich aus einer derartigen Indienstnahme des Mitgefühls als politisches Mittel ergeben können. Ein Emotionsmanagement wie das von ihr vorgeschlagene muss sich eine solche Frage sicherlich gefallen lassen – Nussbaums unwirsches Abtun der europäischen Kritik an ihren normativen Empfehlungen zur politischen (beziehungsweise patriotischen) Mobilisation durch Rhetorik und Symbolik ist auch aus diesem Grund unverständlich, Mitgefühl in Literatur und Kunst
Da für Nussbaum Symbole und Lyrik entscheidende Werkzeuge sind, um den Bezugskreis zu erweitern, liegt es nahe, dass sie Literatur, Musik, Film und der bildenden Kunst großes Augenmerk schenkt. Es gibt kaum eine Politische Theorie, die das politische Potenzial der Gesamtheit der Künste derart umfassend betont, von antiker Komödie und Tragödie (vgl. u. a. Nussbaum 2013: 257ff.; 1986; 1990), Oper (vgl. u. a. Nussbaum 2013: 27ff.), über Film (vgl. u. a. Nussbaum 2013: 294f.; [2001] 2008: 433ff.) bis hin zu öffentlicher Architektur in Form von Gedenkstätten und der Gestaltung von Parkanlagen. Bezugnehmend auf den Kinderarzt und Psychoanalytiker Donald Winnicott verweist Nussbaum auf den entscheidenden Erfolgsfaktor der Künste für eine öffentliche (Mitgefühls-)Kultur: Literatur, darstellende und bildende Kunst sowie Architektur schüfen einen „‚potential space‘ in which roles and options can be tried out without real-life stress“ (Nussbaum 2013: 181). Sie böten also einen geschützten Raum, in dem die Vielfalt der möglichen Realitäten des Lebens unter Berücksichtigung spezifischer kultureller Normen (vgl. Nussbaum 2013: 14) abgebildet, ausprobiert und kreativ bearbeitet werden könne. Literatur ist demnach die beste Vermittlerin von Mitgefühl und dient als ‚Trainingsraum‘ der Empathie. So zeugen insbesondere Nussbaums frühe Schriften von dem Versuch, das „subversive“ (Nussbaum 1995b: 2) Potenzial von Literatur und literarischer Imagination für die Ausgestaltung einer öffentlichen Mitgefühlskultur nutzbar zu machen. Sie bringt daher nicht nur zahlreiche prägnante Beispiele aus der Literatur, um ihre Thesen zu untermauern, sondern plädiert auch normativ für die „Wiederbelebung einer öffentlichen Lesekultur“ (Straßenberger 2009: 171) nach antikem Vorbild – in Schulen, aber auch im Rahmen öffentlicher Leseprogramme, die eine „good civic discussion“ (Nussbaum 2013: 290) ermöglichten. Nussbaum zufolge liegt ein Ziel darin, mithilfe der bewegenden Darstellung von Einzelschicksalen die Empathiefähigkeit der Leser:innen zu schulen und in einem nächsten Schritt dieses spezifische empathische Erlebnis auf die abstraktere beziehungsweise 163
generelle Reflexions- und Emotionsebene zu bringen, um politisches Mitgefühl zu fördern. Literatur, schreibt Nussbaum, sei somit kein rein privates Vergnügen, das von den politischen und juristischen Entscheidungen dieser Welt abzugrenzen sei; sie müsse stattdessen als unerlässliche Ergänzung zu normativen Schriften der Politischen Theorie und Ökonomie verstanden werden. Denn diese Texte lieferten zwar die wichtige, aber zuweilen (zu) abstrakte Grundlagentheorie unserer Gesellschafts- und Politikordnung. Ein Roman wie Hard Times von Charles Dickens könne die Theorie daher um wichtige, das heißt partikulare, Erkenntnisse ergänzen (vgl. Nussbaum 1995b: 12), die erst das Verständnis dafür schüfen, wie es einem anderen ergehe: „Even in political history and biography, the lives of the insignificant many appear, on the whole, only as classes or statistics […]. But in reading Dickens’s story, we embrace the ordinary“ (Nussbaum 1995b: 9). Insbesondere mithilfe des realistischen Romans als „paradigm of moral activity“ (Nussbaum 1987: 170) könne diese Brückenfunktion zwischen dem Abstrakten und dem Konkreten folglich aufgebaut werden: „I shall argue that the genre itself, on account of some general features of its structure, generally constructs empathy and compassion in ways highly relevant to citizenship“ (Nussbaum 1995b: 10). Empathie und Mitgefühl zu vermitteln bedeutet nach Nussbaum, das konkrete menschliche Dasein zu beleuchten. Das Leben des einzelnen Menschen wird uns vor Augen geführt – und damit auch eine Vorstellung von den Folgen politischer und juristischer Entscheidungen, die uns Menschen in der Realität prägen.84 Die literarische Imagination sei somit proto-sozial und -politisch, „an imagination that will steer judges in their judging, legislators in their legislating, policy makers in measuring the quality of life of people near and far“ (Nussbaum 1995b: 3). Zwar bleibe Literatur weiterhin eine Kunstform und sei in sich wertvoll, betont Nussbaum. Trotzdem leisteten viele Werke einen wichtigen Beitrag zur Demokratieerziehung und zum kritischen Denken: „[T]he novel […] is a morally controversial form, expressing in its very shape and style, in its modes of interaction with its readers, a normative sense of life. It tells its readers to notice this and not this, to be active in these and not those ways. It leads them into certain postures of the mind and heart and not others“ (Nussbaum 1995b: 2; vgl. zu den Leerstellen eines solchen Narrativs Hartmann 2005: 162).
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Der Ökonom Thomas Piketty, Autor des vielbeachteten Werks Das Kapital im 21. Jahrhundert (2014), bestätigt diese These: „Viele Fragen, die ich mir über die Bedeutung von Wohlstand, Arbeit, Lohn und Erbschaft gestellt habe, kamen aus der Beschäftigung mit Literatur“ (Grassmann/Markwardt/Puschner 2014).
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Damit ist die Literatur laut Nussbaum „disturbing in a way that history and social science writing frequently are not“ (Nussbaum 1995b: 5). Auch wenn Nussbaum ihre allzu affirmative Haltung gegenüber der Wirkmächtigkeit von Literatur für den politischen Raum mittlerweile abgeschwächt hat und die instrumentelle Neigung von Literatur für Parteilichkeit kritisch hervorhebt (vgl. Nussbaum 2013: 138), bleibt der Nussbaum’schen Theorie weiterhin der Grundgedanke der Emotionsvermittlung qua Literatur erhalten. So befindet sie in Political Emotions beispielsweise, dass die politische Lyrik Walt Whitmans das sprichwörtliche „flesh on the bones of liberty and equality“ (Nussbaum 2013: 12) darstelle. So einleuchtend diese Thesen literaturaffinen Menschen erscheinen können, so sinnvoll seien sie jedoch nicht unbedingt für eine Politische Theorie, monieren Kritiker:innen. So hat vor allem Veronika Vasterling (2007: 83) darauf verwiesen, dass „Amateurleser:innen“ intuitiv erfassten, was Nussbaum entgehe: dass die literarische und die wirkliche Welt überhaupt nicht austauschbar seien. Diesen Kritikpunkt teilt auch Bruce Maxwell (2006: 340) und zeigt sich skeptisch, ob und wie das Mitgefühl gegenüber einem Romanprotagonisten überhaupt in ein Mitgefühl gegenüber reellen Personen übersetzt werden könne. Im schulischen Unterricht sei diese unmittelbare Verkettung nicht notwendigerweise zu beobachten: „[J]ust how any particular student reacts to a literary work is unpredictable. In the worst-case scenario, reading about struggles for social justice in realist social novels might in fact deepen pre-existing antipathies among some students“.85 Auch Lois Shepherd sieht in Nussbaums Reflexionen ein potenzielles Übersetzungsproblem von der Fiktionalität in die Realität gegeben, das zudem auch eine mangelnde Übertragbarkeit von der Erlebnis- auf die Handlungsebene bedeuten könne: [W]hile literature or art may cause us to feel despair or suffering in a way that deepens our knowledge of despair or suffering, we must acknowledge that it does so in a way that carries little or no risk, and the transitory nature of those feelings of sorrow or grief or suffering when reading a sad story or watching a sad movie too closely mirrors the transitory nature of our feelings of compassion when we encounter someone who is suffering (Shepherd 2003: 459, meine Hervorhebung).
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Maxwell (2006: 349) kritisiert zudem eine Form von Elitarismus in Nussbaums Thesen: Mit ihrer Verengung auf das Resultat der Empathie- und Mitgefühlsbildung von Literatur (Maxwell unterscheidet diese Phänomene nicht trennscharf voneinander) setze Nussbaum voraus, dass nur diejenigen angesprochen würden, die über eine „starke linguistisch-verbale Intelligenz“ verfügten. Diesen Aspekt hat Nussbaum in Political Emotions allerdings modifiziert und ob der großen Zahl an Analphabet:innen in Indien beispielsweise öffentliche Diskussionen über Filme statt Literatur vorgeschlagen (vgl. Nussbaum 2013: 294).
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Für Nussbaum scheint es hingegen sogar vorteilhaft zu sein, dass das durch die Literatur vermittelte Mitfühlen zunächst nur ein kleines oder gar kein Risiko für das Subjekt des Mitgefühls beinhaltet. Ihre Theorie ist letztlich eine der kleinen Schritte hin zu einer umfassenden Mitgefühlskultur. Auch das reine und relativ passive Erleben eines Perspektivwechsels im Rahmen eines Romans, eines Gedichtes oder eines Schauspiels ist für Nussbaum bereits eine Leistung und ein zu förderndes Gut, denn es führe zur „Einstimmung in die Gemeinschaft“ („communal attunement“, Nussbaum 1990: 173). Weil die Antike diesbezüglich eine umfassende Möglichkeitenstruktur geboten habe, propagiert Nussbaum die Wiederbelebung der antiken Tragödien- und Komödienkultur und ihrer politischen Rolle sowie eine Übersetzung dieser antiken Vorbilder in heutige Settings (vgl. Nussbaum 2013: 261, 276). Sie solle auf vielerlei Ebenen der Alltagskultur implementiert werden, die nicht nur ein an der Antike interessiertes Bildungsbürger:innentum, sondern alle Bürger:innen einer Nation ansprächen. Der Gedanke der Perspektivübernahme spielt hier erneut eine wichtige Rolle: „Nussbaum legt nahe, daß der durch die Tragödie geschulte Mensch im politischen Leben umsichtiger und milder urteilen wird als jemand, für den Imagination, Emotion und Identifikation keine Rolle spielen“ (Gutschker 2002: 417).86 Für Nussbaum schult das antike Drama zum einen das Verständnis über die eigene Vulnerabilität (vgl. v. a. Nussbaum [1986] 2007), das ein wirkmächtiges Mittel darstelle, um „Segmentierung“ (Nussbaum 2013: 265) im sozialen Leben zu überwinden; zum anderen lege es das gemeinsame Schicksal und Leiden offen (vgl. u. a. Nussbaum 2003: 23f.), das Menschen verbinde (vgl. Nussbaum 2013: 272). Auch diese normativen Thesen Nussbaums zur Antike haben zuweilen vehemente Kritik hervorgerufen: Maureen Whitebrook (2014: 22) beispielsweise unterstellt Nussbaum eine elitäre und antiquierte Perspektive, die mit der realen Welt nicht zu vereinbaren sei. Sie stellt damit die Übertragbarkeit von Nussbaums Thesen zur antiken Tragödie und Komödie auf unsere heu-
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Rousseau hingegen hat eine solche Vision scharf kritisiert. In seinem Essay Lettre à M. d’Alembert sur les spectacles schreibt er: „J’entends dire que la Tragédie mène à la pitié par la terreur; soit, mais quelle est cette pitié? Une émotion passagère et vaine, qui ne dure pas plus que l’illusion qui l’a produite; un reste de sentiment naturel étouffé bientôt par les passions; une pitié stérile qui se repaît de quelques larmes, et n’a jamais produit le moindre acte d’humanité“ (Rousseau 1785: 12). Das Tragödienschauspiel bringe Sentimentalität und ein „steriles Mitleid“ hervor, das bloß Tränen und niemals reale Akte der Mitmenschlichkeit erzeuge. Diese Kritik erinnert stark an Arendts Verdikt der Sentimentalität und Selbst-Affizierung – eine Kritik, die sie wiederum paradoxerweise zuvorderst aus Rousseaus Theorie generiert (vgl. Kap. 2.1.3).
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tige (politische) Lebensrealität fundamental in Frage. Auch Maša Mrovjle (2019) teilt diese Zweifel. Sie moniert – mit Rückgriff auf die Theorien Hannah Arendts und Albert Camus’ –, dass Nussbaums Anliegen, das eigene Wiedererkennen im Anderen trotz intersubjektiver Differenzen zu unterstützen, zu einer unredlichen theoretischen Moralisierung beitrage und die realistisch gegebene Pluralität und Differenz zwischen den Menschen im politischen Raum zu negieren suche. Nussbaums „self-centred view of the ethics of reading“ (Mrovlje 2019: 165) könne beunruhigende politische Konsequenzen haben. Jonathan Marks (2007: 738f.) nimmt hieran ebenfalls Anstoß: Nussbaum könne nicht garantieren, dass die Perspektive auf das und die öffentliche Erziehung zum antike(n) Erbe immer nur Mitgefühl und Güte produziere. Emotionen wie Zorn und Verzweiflung ignoriere sie in ihrer Mitgefühlstheorie allerdings weitestgehend. Mitgefühl in der Bildung
Nussbaum spricht sich jedoch nicht nur für eine Wiederbelebung der antiken Kultur sowie die Wirkmächtigkeit der Künste aus, in deren Rahmen das Mitgefühl als politisches Mittel wirke – sie geht einen deutlichen und politiktheoretisch spannungsgeladenen Schritt weiter und plädiert für eine gezielte und umfassende Implementierung des Mitgefühls in der Bildung, insbesondere in der klassischen Schulbildung ab der Grundschule (vgl. Nussbaum 2013: 276). Um mithilfe des Mitgefühls (als politisches Mittel) eine öffentliche Mitgefühlskultur (als politisches Ziel) zu etablieren, greift Nussbaum hierbei auf einen in der Ideengeschichte beliebten Gedanken zurück: [T]he first recommendation I would make for a culture of respectful compassion is a Rousseauian one: it is, that an education in common human weakness and vulnerability should be a very profound part of the education of all children. Children should learn to be tragic spectators and to understand with subtlety and responsiveness the predicaments to which human life is prone. Through stories and dramas, they should learn to decode the suffering of others, and this decoding should deliberately lead them into lives both near and far, including the lives of distant humans and the lives of animals (Nussbaum 2003: 24).
Auch wenn Nussbaum, wie Grit Straßenberger (2019: 225) schreibt, in tugendethischer Perspektive Emotionen ebenfalls als Vehikel sieht, um „nach entsprechender moralischer Schulung ein gerechtes, also auf das Wohlbefinden anderer bezogenes Handeln [zu] befördern“, bedient sich Nussbaum weitestgehend nicht der einschlägigen Thesen Rousseaus zum Mitleidsbildungsprozess; auch das Bildungsprogramm, das John Stuart Mill Mitte des 19. Jahr167
hunderts vorgeschlagen hatte, dient ihr eher als Kontrastfolie (vgl. Nussbaum 2013: 75ff.). Vielmehr schöpft sie Inspiration aus den Thesen Donald Winnicotts sowie aus dem Erziehungsprogramm des indischen Philosophen Rabindranath Tagores. Was Nussbaum hierbei augenscheinlich beeindruckt, ist der Fokus auf das Spiel, gegenseitige Anerkennung und das Mitgefühl (vgl. Nussbaum 2010; 2013: 177ff.) – Kernaspekte, die sowohl das Werk Winnicotts als auch das Tagores prägen. Nussbaum übernimmt hiervon beispielsweise die Idee, Rollenspiele in Schulen systematisch zu verankern. Es geht Nussbaum dabei um eine aktive „participatory experience of the stigmatized position“ (Nussbaum 2010: 107), mit deren Hilfe Schüler:innen wichtige Erfahrungen für demokratische Staatsbürger:innenschaft machten: Verletzbarkeit, Scham und soziales Stigma in einem geschützten Rahmen selbst zu erleben, sensibilisiere für politische Maximen der Gleichheit und Gerechtigkeit (vgl. Nussbaum 2010: 100; vgl. auch zu einer entsprechenden Kinderliteratur, die dieses Ziel fördern solle, Nussbaum 2013: 276). Das Spiel, wie es Winnicott propagiert, sei hierfür entscheidend: „[I]n its most general sense, [play, AKW] is an imaginative activity in which one occupies a ‚potential space,‘ a realm of unreality that is peopled with stories that enact hypothetical possibilities“ (Nussbaum 2013: 178). Im geschützten Raum des Spiels als „potential space“ könnten sich Kinder ausprobieren und mögliche Handlungsstrategien für die Unwägbarkeiten des menschlichen Lebens entwickeln. Im Unterricht müsse daher geübt werden, die Menschlichkeit ‚des anderen‘ in sozialen Spannungsfeldern anzuerkennen sowie die Fähigkeit zu entwickeln, die Welt als einen Ort zu sehen, an dem man nicht alleine sei (Nussbaum 2010: 97). Damit stellt ein solcher potenzieller Raum auch die Verbindungsmöglichkeit zwischen dem Individuum und der Welt dar (vgl. Nussbaum [2001] 2008: 236). Im Kern von Nussbaums Empfehlung, einen solchen risikofreien Raum für das Erproben von Interaktion bereitzustellen, steht die empathische Perspektivenübernahme sowie das Mitfühlen mit denjenigen, die als ‚andere‘ gekennzeichnet sind. Gleichwohl müsse die Empathieund Mitgefühlsförderung in Schulen in eine „culture of ethical criticism, and especially self-criticism“ (Nussbaum 2003: 25) eingebettet sein. Martha Nussbaum lässt folglich keinen Zweifel daran aufkommen, dass das Mitgefühl als politisches Mittel insbesondere in Schulen eine zentrale Rolle spielt, um gesellschaftliche Werte zu stärken und bereits im Kindesalter auf die Verwirklichung gesellschaftspolitischer Ziele hinzuwirken (vgl. hierzu auch Llanque 2012: 130; vgl. generell zu den Potenzialen und Grenzen des Perspektivwechsels im Rahmen der Moralerziehung Kenngott 2012). Nussbaum setzt offenkundig auf das „Pathos der Schule“ als Ort der „Entbarbarisierung der Menschheit“ (Adorno [1971] 2017: 86). Deshalb müsse das Einüben des Mitgefühls auch zentraler Bestandteil von Bildungsplänen werden, 168
fordert Nusssbaum: „Education will [..] be one of the main arenas in which the shaping of politically appropriate sympathy will take place, and in which inappropriate forms of hatred, disgust, and shame will be discouraged“ (Nussbaum 2013: 124). Bereits in einer früheren programmatischen Schrift vertrat Nussbaum daher die griffige Kernthese, dass die Erziehung zum Mitgefühl maßgeblich eine Erziehung zur Demokratie sei (vgl. Nussbaum 2010). Diese Erziehung hin zu einer „compassionate citizenship“ (Nussbaum [2001] 2008: 432) solle und müsse daher auch multikulturell angelegt sein. Nussbaum setzt sich zudem vehement dafür ein, die universitären Geistesund Kulturwissenschaften sowie die freien Fächer in der Schule zu stärken, um so dem immer stärker wachsenden Profit- und Effizienzdenken im Bildungswesen entgegenzuwirken (vgl. auch Braidotti 2014: 10). Jene neoliberalen Tendenzen gefährdeten die Demokratie, denn sie verhinderten die Ausbildung des Mitgefühls und schrieben Ungleichheit fort: „When we meet in society, if we have not learned to see both self and other in that way, imagining in one another inner faculties of thought and emotion, democracy is bound to fail, because democracy is built upon respect and concern, and these in turn are built upon the ability to see other people as human beings, not simply as objects“ (Nussbaum 2010: 6). Die entsprechende Gestaltung des schulischen (und universitären) Curriculums ist eine Forderung, in der die Steuerungsfunktion des Mitgefühls klar hervortritt: Mithilfe des systematischen Einübens von Mitgefühl soll Nussbaums Vision einer „public culture of compassion“ gestärkt werden; entscheidende Akteur:innen sind, so lässt sich schlussfolgern, diejenigen, die die Lehrpläne festlegen, und Lehrer:innen, die diese umsetzen oder im Rahmen der Lehrfreiheit selbst Initiative ergreifen, um Empathie und Mitgefühl zu fördern. Eine politische Mitgefühlskultur à la Nussbaum würde sich demnach ganz klar auf die Unterrichtsgestaltung niederschlagen. Der Bildungssektor ist folglich einer der Hauptschauplätze für den strategischen Einsatz des Mitgefühls als politisches Mittel. Damit wirkt Nussbaum einer Disziplinierung des „rationale[n] Staat[s]“ über „Affektmodulation und Entemotionalisierung“ (Buckel/König 2012: 275) zwar inhaltlich diametral entgegen, allerdings steht ihr Vorschlag gänzlich quer zu der liberalen Vision der Entscheidungsfreiheit, die sie selbst sonst so explizit vertritt (vgl. Straßenberger 2019: 221). Außerdem führt diese gegenteilige Strategie, die Emotionalisierung der politischen Bildung, nicht zwangsläufig zu einer Abkehr von Herrschaft, wie ich in Kap. 4.3 darlegen werde.
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3.3 Zwischenfazit Diese Steuerungsebene ist unbestreitbar die größte Achillesferse von Martha Nussbaums normativer Politischer Mitgefühlstheorie. Nussbaum betont, dass ihre Konzeption politischer Emotionen nicht „totalisierend“ sei – „it leaves spaces for citizens to have particular relationships with people and causes they love, in the part of their lives that is carried out apart from politics, under the aegis of whatever comprehensive view of life they favor“ (Nussbaum 2013: 386). Diesen Beteuerungen zum Trotz sind in ihrer Mitgefühlstheorie dennoch klare Tendenzen hin zu einer gezielten „emotionale[n] Synchronisierung“ (Heidenreich 2015: 53) zwischen den Subjekten und den Objekten eines politischen Herrschaftssystems zu finden. Dieser Befund ist auf mehrerlei Ebenen sichtbar geworden: Zunächst lassen sich textimmanente Belege für doktrinäre Anlagen ihrer Vision des politischen Mitgefühls finden. So befindet Nussbaum (2013: 20) beispielsweise: „[G]overnment may attempt to influence citizens’ psychology directly“, und führt weiter aus, dass der Staat aktiv die Rolle eines „cultivator of emotions“ (2013: 133) übernehmen solle – „making people experience certain emotions in certain contexts and with particular objects (the nation itself, its goals, its specific tasks or problems, its people)“ (Nussbaum 2013: 135; meine Hervorhebung). Eingestreute (Halb-)Sätze und beiläufig fallende Formulierungen wie diese lassen keinen anderen Schluss zu, als dass ihre normative Vision einer öffentlichen Mitgefühlskultur als politisches Ziel und das strategische Emotionsmanagement in Form des Mitgefühls als politisches Mittel durchaus doktrinäre Elemente enthält. Nussbaum legt unter anderem explizit fest, dass in Notfällen autoritäres Handeln vertretbar sei: „If some values at some times are so urgently important and so fundamental that it seems right for a leader to ask for commitment rather than a calm critical conversation […], still, critical conversation should always wait in the wings“ (Nussbaum 2013: 285). Damit priorisiert sie de facto ein strategisches Emotionsmanagement vor einem deliberativen politischen Aushandlungsprozess. Zudem überzeugen die inhaltlichen Schutzmechanismen nicht, die Nussbaum gegen eine mögliche doktrinäre Auslegung ihrer Mitgefühlstheorie anführt. Es reicht eben nicht aus, dass Nussbaum ihr Projekt im politischen Liberalismus verortet, um außerpolitische Schutzräume zu garantieren (eine Vorstellung, die, zumindest in diesem spezifischen Sinne, an Arendts strikte Sphärentrennung erinnert, vgl. Kap. 2.1 und 2.3). Unverständlich bleibt, dass Nussbaum aus diesen Prämissen ernsthaft ableitet, dass ihre normative Vision immun gegenüber einer doktrinären Auslegung sei. Auch die von Nussbaum mannigfach wiederholte Dissensprämisse überzeugt nicht, denn ihrer Theorie mangelt es an Ideen, wie diese Prämisse konkret ausgestaltet werden 170
könnte: Wie genau Möglichkeiten zu Dissens gegeben sein, wie abweichende Meinungen im Politischen Gehör und Raum finden sollen – Antworten hierauf bleibt Nussbaum bedauerlicherweise schuldig. Diese Leerstelle ist umso gravierender, da Nussbaum sonst mit detailhaften und verständlichen Beispielen zur Verknüpfung und Anwendung von abstrakter Politischer Theorie auf konkrete Situationen aus dem individuellen und kollektiven (politischen) Alltag brilliert. Auffällig ist auch, wie schnell Nussbaum mithilfe des bloßen Verweises auf Dissensgelegenheiten potenziell problematische Tendenzen ihrer Theorie beiseiteschiebt, und wie leicht Nussbaum somit ein Idealbild zeichnet, das so voraussetzungsreich ist, dass es mit der Realität nur noch wenig gemein hat. Hier greift die – zumindest in Teilen berechtigte – Kritik an einem gewissen Konstruktionscharakter der Nussbaum’schen Thesen: So kommen sowohl Laura Cannon (2005: 105) als auch Veronika Vasterling (2007) zu dem Schluss, dass Nussbaums Mitgefühlskonzeption zu wenig an der (menschlichen) Wirklichkeit orientiert sei und deren Komplexität nicht angemessen Rechnung trage. Mithilfe des Rückgriffs auf Arendts Thesen kritisiert Vasterling Nussbaum und spricht treffend vom „messy business“ (Vasterling 2007: 90) der intersubjektiven Interaktion, die Nussbaum in ihren Thesen zur Wirkmächtigkeit von Literatur ignoriere und stattdessen eine Illusion von Kohärenz und Übereinstimmung erzeuge. Diese Kritik lässt sich eindeutig auch auf Nussbaums Thesen über das politisierte Mitgefühl übertragen (vgl. hierzu sehr kurz auch Wilkinson 2017: 213): Die zu erwartenden Reibungen, die sich aus der Frage nach demokratisch angemessenen Legitimationsstrukturen einer wie auch immer gearteten Mitgefühlsprogrammatik zwangsläufig ergeben müssen, stehen in starkem Widerspruch zu der von Nussbaum präsentierten ‚Idealkonstruktion‘ politisierter Emotionalität, die mit der Realität nicht oder nicht gänzlich vereinbar ist. Darauf verweist auch – trotz mangelnder terminologischer Trennschärfe – die Einschätzung Grit Straßenbergers (2019: 225), wonach das Mitgefühl ein „von politischen Konflikten losgelöstes, widerstreitende Emotionen der Zugehörigkeit und Parteilichkeit ausgleichendes Gefühl kontrollierter Nächstenliebe“ sei. Auch wenn Nussbaum die Parteilichkeit im Mitgefühl durchaus anerkennt und deren Potenzial für die von ihr avisierte Mitgefühlskultur sogar positiv hervorhebt, ist doch nicht von der Hand zu weisen, dass gerade der Aspekt politischer Konflikthaftigkeit und der Anspruch des harmonisierenden Ausgleichs in Nussbaums Mitgefühlskonzeption berechtigte Skepsis hervorruft. „Even if such a [religious or secular, AKW] doctrine is not coercively imposed, it is a statement that creates an in-group and various out-groups, saying that some citizens are true believers, in line with the official state doctrine, and others are not“, kritisiert Nussbaum (2013: 128) die Visionen Rousseaus, 171
Comtes und Mills zu einer öffentlichen Mitgefühlskultur. Auch ihre Theorie läuft jedoch Gefahr, eine „In-„ und eine „Out-Group“ und damit politische und soziale Hierarchisierung zu fördern – zum einen auf der Ebene derjenigen, die eine öffentliche Mitgefühlskultur unterstützen und derjenigen, die dies nicht tun, zum anderen aber auch grundsätzlich zwischen politischen Entscheidungsträger:innen und den ‚Rezipient:innen‘ dieser Politik (vgl. auch Degerman 2019: 170; Weber 2018). Obwohl sie selbst in Rousseaus Zivilreligion ein „downward movement“ (Nussbaum 2013: 46) moniert, muss sich auch Nussbaums Theorie somit einen solchen Vorwurf gefallen lassen. Die öffentliche Mitgefühlskultur als politisches Ziel und das strategische Emotionsmanagement des Mitgefühls als politisches Mittel wären durchaus weitreichende Leitideen für Politik und Gesellschaft, würden sie konsequent als solche implementiert. Auch wenn kein Zwang zur Durchsetzung dieser Leitidee angewandt und rein auf informelle Überzeugung gesetzt würde, wie Nussbaum betont, kann eine solche Vision dennoch eine emotionale Bindung erzeugen, die gesellschaftlichen Zugzwang entwickeln könnte. Die Grenzen zwischen informeller Überzeugung, kollektivem und konzertiertem Handeln für das Gemeinwohl und (gesamt-) gesellschaftlicher Ächtung derjenigen, die nicht partizipieren, können fließend sein. Diese Top-down-Tendenz ihrer Theorie käme damit im Grunde einer normativen Absage an die individuelle Akteuer:innenschaft jedes einzelnen gleich. Das ist metatheoretisch auch insofern hochproblematisch, dass Nussbaums Fähigkeitenansatz darauf abzielt, genau diese Akteur:innenschaft zu stärken. Auch wenn Nussbaums Vision keine expliziten „feeling rules“ (Hochschild 2016: 227) aufstellen will, kann ihr Insistieren auf Mitgefühl als öffentliche Leitemotion folglich als eine groß angelegte „Gefühlsregel“ wahrgenommen werden – als Versuch des „Establishments“ also, bestimmte politischen Agenden durchzusetzen. Schnell kann hierbei das Narrativ der „Eliten“ bedient werden, die „political correctness“ und die Unterstützung bestimmter Bevölkerungsgruppen zulasten anderer mithilfe des Mitgefühls durchsetzen wollen, wie Arlie Hochschild (2016) zeigt. Auch wenn Nussbaum sicherlich nichts fernerläge, lauert diese Gefahr jedoch unter der Oberfläche ihrer Theorie, wie ich andernorts dargelegt habe (vgl. Weber 2018). In einer solch aufgeladenen politischen Konstellation könnte die politische Steuerung hin zu einer Vision wie der Nussbaum’schen weiteren Zündstoff liefern. Wenn man mit Chantal Mouffe (2007: 32) davon ausgeht, dass Institutionen als sichere Basis für die dem Politischen inhärente Emotionalität zwischen (agonistischen) politischen Akteur:innen fungieren, dann müssen sie für einen zu erwartenden leidenschaftlichen politischen Austausch in der Tat neutral und gemäßigt konzipiert sein. Eine politische Kultur des Mitgefühls kann hierbei Schieflagen produzieren – zumal Nussbaum nur wenig Hinweise darauf gibt, wie diese institu172
tionelle Seite einer öffentlichen Mitgefühlskultur dementsprechend ausgestaltet sein müsste. Dadurch verwischen auch die Grenzen zwischen Emotionen und Prinzipien; Nussbaums vertikale Ordnungsstruktur wirkt wie ein nachträglicher Versuch, den Einfluss einer offensiven Emotionspolitik doch noch theoretisch zu zügeln. Der indirekte Appell an die Selbstregulationsfähigkeit sowohl von politischen Entscheidungsträger:innen als auch der ‚Rezipient:innen‘ einer gezielten Emotionspolitik sowie der Verweis auf die universelle Gültigkeit politischer Prinzipien schallt dadurch in eine gewisse theoretische Leere. Grenzüberschreitungen in den selbst gesetzten Konturen ihrer normativen Vision einer „public culture of compassion“ werden zudem daran sichtbar, dass Nussbaum anhand von historischen Beispielen aus der politischen Rhetorik von der motivationalen Ebene en passant auf die institutionelle Akteur:innenebene wechselt. Der Unterschied zwischen „legal coercion“ und „informal persuasion“ wird unter anderem im Beispiel der Roosevelt’schen Emotionspolitik fast bis zur Unkenntlichkeit aufgeweicht. Nussbaums Emphase auf „große“ politische Führungspersonen scheint zwar nicht direkt der zunehmenden „celebritization“ von Politik in die Hände zu spielen (vgl. hierzu u. a. Street 2012; Wheeler 2013; Wood/Corbett/Flinders 2016); trotzdem kann ein derartiger personeller Fokus auf einen emotionalen „leader“ natürlich unweigerlich komplexe politische Sachverhalte verkürzen, Manipulation begünstigen und damit politische Gefolgschaften dynamisieren. Der Weg von Nussbaums empathisch und leidenschaftlich vorgetragener Vision hin zu einem rein kalkulierten Emotionsmanagement, in dem die „optimierte Performanz“ (Gast 2013: 585) politischen Führungspersonals im Vordergrund steht, die ihre Macht und politische Agenda mithilfe gezielt eingesetzter Emotionalität absichern könnten, erscheint nach der vorliegenden Analyse tatsächlich kürzer, als es Nussbaum recht sein kann. Ein derartiges Emotionsmanagement bringt noch eine weitere Problematik mit sich: Weder präsentiert Nussbaum einen systematischen Vorschlag für einen demokratischen Legitimierungsprozess im Politischen, noch leuchtet sie die Frage nach der Legitimation von Emotionen im politischen Prozess überhaupt aus. So bleibt völlig offen, wie individuell erlebte Emotionen „subject to the verifications of plurality“ (Nelson 2004: 243, FN 16) sein können. Ideen dafür liefert laut Gary S. Schaal und Felix Heidenreich der Republikanismus. Demnach sei Emotionspolitik dann legitim, „wenn sie das Ergebnis eines demokratischen Willensbildungsprozesses darstellt und gewisse Grenzen respektiert“ (Schaal/Heidenreich 2013: 9). Heidenreich hat in einer anderen Publikation (2013: 580f.) mit Rekurs auf Jürgen Habermas und Axel Honneth diesen Punkt konkretisiert: Emotionen können demnach im deliberativen Prozess zu Argumenten werden, die sich daraufhin in einem demokratischen 173
Entscheidungsprozess messen lassen müssten. Im Falle einer demokratischen Zustimmung zu diesen zu Argumenten verfestigten Emotionen würden sie anschließend in Rechtsprechung und Politik übergehen und so demokratische Legitimation erfahren. Ein derartiger Prozess ist in Nussbaums Theorie allerdings weder theoretisch ausformuliert noch überhaupt angedacht. Schließlich kann Nussbaums Mitgefühlstheorie noch aus einer ganz anderen, quasi entgegengesetzten, Perspektive herausgefordert werden – indem wir fragen, warum sie nicht gleich einen noch größeren theoretischen Wurf gewagt hat: „Society will not be revolutionized“, befindet Nussbaum (2013: 131) über ihr „Projekt“ einer öffentlichen Mitgefühlskultur. Wenn Nussbaum zum Schutz von Demokratie und liberaler Gesellschaftsgestaltung fordert, dass wir mehr mitfühlen sollen, dann braucht es dafür vor allem eines: Freiräume und Zeit. Dazu wären aber umfassend(er)e und radikal(er)e Ansätze vonnöten, unter anderem auch die Absage an klassisch liberale Werte, wie sie Nussbaum vertritt – wie beispielsweise an den Wettbewerb, den sie, trotz Forderungen nach mehr Wohlfahrt im Staat, weitgehend unangetastet lassen möchte. Zaghafte Ansätze hierzu (vgl. Nussbaum 2003: 25) erscheinen insbesondere aus einer feministischen Perspektive deutlich ausbaufähig. Es scheint, als ob Nussbaum selbst das revolutionäre Potenzial ihrer Theorie unterschätzt, zeichnet sie sich doch durch ihren Einsatz dafür aus, dass wir Bindungen leben, Liebe erfahren und Empathie ausbilden können; und dafür, dass wir Mitgefühl als politische Ressource überhaupt anerkennen. Dennoch ist fragen, warum sie bei einem derart feministischen Anliegen ausgerechnet einschlägige feministische Care-Literatur gänzlich außen vorlässt (vgl. auch Krause 2014: 838ff.). Dennoch liegt ein großer Reiz in Nussbaums Vision, dass es möglich sein sollte, eine umfassende Kultur des Mitgefühls zu schaffen und diese zu hegen und zu pflegen. In Zeiten, in denen die Abschottung gegenüber anderen kontinuierlich zunimmt, besticht eine solche visionäre Idee des guten Zusammenlebens und des gemeinsamen Menschseins in all der damit verbundenen Verletzlichkeit und Bedürftigkeit. Es sind dabei gerade auch die potenziell doktrinären Elemente ihrer Theorie, die aus dieser Perspektive eine gewisse Anziehungskraft erfahren: Auch wenn die emotionale Steuerung durch politische Entscheidungsträger:innen wohl immer eine sehr reale Gefahr birgt, Zwang und Manipulation zu erzeugen, so ist dennoch gleichsam unbestreitbar, dass große politische Visionen, insbesondere aber der Glaube an mehr Mitgefühl, Liebe, Bindung und Fürsorge entsprechende Narrative benötigen – und Menschen, mit denen Identifikation möglich ist. Die Leidenschaftlichkeit, mit der Reformen oder Revolutionen gemacht werden, muss im politischen System eine Wirkfläche und einen Resonanzboden erfahren, ansonsten wirkt Politik als rein bürokratisches und ‚ent-menschlichtes‘ Unterfangen. Dass es hierbei legitim sein kann und 174
sollte, im Sinne des Verfolgs demokratischer Ziele von Gleichheit und Teilhabe genau die Emotionalität zu stärken, die diese Ziele am ehesten zu unterstützen versprechen – diesen Gedanken hat Nussbaum maßgeblich geprägt. Sie bietet auch bei strengster Auslegung ihrer Schwachstellen im mindesten eine visionäre Basis, von der aus weitergedacht und Nussbaums störanfällige Ideen entsprechend transformiert werden können. Ein unbestreitbares Verdienst von Nussbaums Mitgefühlstheorie ist zudem die Tatsache, dass sie lebensnah gedacht und verständlich vermittelt ist – in einer Weise des Schreibens, der Barbara Holland-Cunz (2003: 245) eine „intellektuell eindrucksvoll[e] und philosophisch anspruchsvoll[e] theoretische Schlichtheit“ attestiert hat. In einem Interview beschrieb Nussbaum diesen Stil als bewusstes Kalkül: „Ich bestehe auf einer Art und Weise des Schreibens, welche die Struktur des Denkens so offenlegt, dass alle sie verstehen und gegebenenfalls auch kritisieren können“ (Focus 2000). Aber nicht nur auf der Metaebene, sondern auch inhaltlich sind Nussbaums Bemühungen um eine demokratische Teilhabe an Prozessen, die die „public culture of compassion“ unterstützen sollen, sichtbar: Sie bietet umfassende Vorschläge im Sinne eines Baukastenprinzips an, das Menschen dort erreichen kann, wo sie sich gerade befinden – sei es im Rahmen eines Spaziergangs in einem Park oder beim Besuch einer Gedenkstätte. Am wirkmächtigsten erscheint allerdings Nussbaums Insistieren, das Bildungswesen dazu zu nutzen, um bereits in der Kindheit für demokratische Ziele und „gute Bürger:innenschaft“ zu werben. Diese staatliche Lenkung mag und muss man problematisieren – sie bedeutet aber in der Praxis tatsächlich einen potenziell aussichtsreichen Versuch, den Perspektivwechsel im Rahmen der Empathiefähigkeit spielerisch und gleichzeitig systematisch zu fördern. Was eine Gesellschaft hieraus macht, das bleibt natürlich offen, zumal auch die Wirkmächtigkeit der Imagination ihre Grenzen hat und das Mitgefühl nicht automatisch ein politisch signifikantes Motiv für politisches Handeln ist (vgl. Gutschker 2002: 465; siehe auch Kap. 4.3). Aber das Fundament für das voraussetzungsreiche Ideal des „good citizen“ (Nussbaum 2013: 394), einer Bürgerin, die andere trotz ihrer Differenz respektiert und das gute Zusammenleben fördern möchte, ist damit zumindest in Ansätzen gelegt. Nussbaums Vorschläge beinhalten darüber hinaus das große Potenzial, menschlichen Bindungen und Bedürfnissen auf vielerlei Ebenen Rechnung zu tragen. Der Schutz und die Intensivierung dieser Bindungen und Bedürfnisse ist eine, wenn nicht die wichtigste politische Aufgabe – nicht nur, um die „Entfaltungsbedingungen“ (Reese-Schäfer 2001: 29) der einzelnen zu gewährleisten, sondern auch das Bindungsverlangen eines Kollektivs. Umso wichtiger sind entsprechende Maßnahmen, wenn die Grundlagen hierfür nicht bereits in der Familie geschaffen werden (können). 175
Viele der konkreten Ideen Nussbaums sind störanfällig, und das spezifisch „Politische“ der Thesen zum politisierten Mitgefühl hat Nussbaum nicht ausreichend ausbuchstabiert (vgl. hierzu auch die scharfe Kritik Jan Slabys [2017: 151]). Trotzdem gibt Nussbaums Politische Theorie des Mitgefühls zumindest einen Anstoß hin zu einer dringend notwendigen Debatte über die emotionspolitische Zukunft unserer Gesellschaften. Sie schlägt Antworten auf die Fragen vor, wie wir leben, wie wir mit ‚dem anderen‘ umgehen und wie wir fühlen wollen. Ihre Vision ist dabei gerade utopisch genug, um zu hoffen, aber nicht zu utopisch, als dass diese Hoffnung nicht umsetzbar erschiene. Nussbaum liefert mit ihrer Mitgefühlstheorie außerdem ein starkes Plädoyer dafür, dass wir unsere menschliche Vulnerabilität anerkennen; darüber hinaus hat sie auch eine engagierte Vision des Guten vorgelegt, die sich entschieden und aktiv gegen das (radikal) „Böse“ richtet. Um es pathetisch auszudrücken: Nussbaum bietet – auf eine sehr ähnliche Art und Weise wie Arendt, aber mit gänzlich anderen inhaltlichen Prämissen – einen flammenden Appell für die uns gemeinsame Welt und eine konkrete (wenn auch theoretisch nicht ausgereifte) Vision an, wie wir in ihr möglichst gut zusammen leben können.
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4 Distanz, Differenz und Dissens – über die Potenziale und Gefahren von Mitleid/Mitgefühl und Perspektivwechsel Die „Liebe zur Welt“ und die Bereitschaft, für die gemeinsam be- und erlebte Welt Verantwortung zu übernehmen, verbindet die beiden sonst so grundlegend verschiedenen Theorien zur politischen Wirkmächtigkeit von Mitleid, Mitgefühl und dem Perspektivwechsel. Beide, Hannah Arendt und Martha Nussbaum, liefern in ihren ‚Emotionstheorien‘ leidenschaftliche Plädoyers für intersubjektive Kooperation und einen sinnlichen Weltbezug im Sinne der aktiven politischen Beteiligung an den menschlichen Angelegenheiten. Beide Politische Theorien setzen (allerdings in deutlich unterschiedlichem Maße) auf Pluralität und Interdependenz und präsentieren normative Vorschläge, um diesen Prämissen des menschlichen und auch politischen Lebens gerecht zu werden – wobei ersichtlich wird, dass Nussbaum insgesamt stärker auf den öffentlichen, Arendt tatsächlich expliziter auf den politischen Raum fokussiert. Auch wenn Arendt und Nussbaum die Grenzen von Privatheit und Öffentlichkeit gänzlich verschieden abstecken, so steht in beiden Theorien die Frage nicht zur Disposition, ob wir für übergeordnete politische Leitvisionen (wie Gerechtigkeit und das gute Leben bei Martha Nussbaum beziehungsweise Freiheit bei Hannah Arendt) eintreten sollen, sondern nur, auf welche Weise. Wichtige Antworten auf diese Frage liefern Arendts und Nussbaums Thesen über die Potenziale und Gefahren der politischen Mobilisation von Mitleid/Mitgefühl und dem Perspektivwechsel. Die nachfolgende systematische Zusammenschau beider Theorien wird hierzu spannungsgeladene Divergenzen und wirkmächtige Konvergenzen offenlegen.87 Auf der operationellen Ebene beider Theorien ist zunächst ein deutlicher konzeptioneller Gegensatz zu konstatieren: Nussbaums Vision einer öffentlichen Mitgefühlskultur wirkt als eigenes politisch und gesellschaftlich anzustrebendes Ziel sui generis. Darüber hinaus propagiert Nussbaum das Mitgefühl auch als politisches Mittel, das Prinzipien wie Gerechtigkeit und der Beförderung des guten Lebens dienen und in unterschiedlichen Bereichen des menschlichen Lebens auf umfassende Weise wirken soll – so unter anderem in der Bildung oder im Rahmen der Gestaltung des öffentlichen Raums.
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Eine erste Skizze dieses Vergleiches habe ich mit Blick auf die US-amerikanische Präsidentschaftswahl 2016 vorgelegt (vgl. Weber 2018). Es gäbe auch noch weitere relevante Aspekte, nach denen beide Theorien verglichen werden könnten, beispielsweise die Verbindung zwischen Mitleid/Mitgefühl und dem (aristotelischen) Guten.
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Nussbaum strebt hierbei einen zirkulären Wechselwirkungsprozess an: Dieser besteht aus einer De-Individualisierung von Emotionen (vgl. Lang 2015), in deren Zuge sich im öffentlichen Raum eine politisch aktiv beförderte Mitgefühlskultur entwickelt, und aus einer gleichzeitig vonstattengehenden ReIndividualisierung, in deren Rahmen diese Mitgefühlskultur auf das emotionale Empfinden des Einzelnen zurückwirkt. In Arendts Theorie ist ein derartiger Prozess hingegen schon allein deshalb nicht vorgesehen, weil sie bereits den Gedanken an eine De-Individualisierung von privaten Leidenschaften vehement ablehnt und eine geradezu apokalyptische Gefahrenwarnung vor dem Mitleid ausgibt. Deskriptiv gesehen verfolgt Arendt einen phänomenologischen Ansatz bei der Beschreibung des fast naturgewaltlichen und kaum steuerbaren gewaltsamen Wirkens von Leidenschaften auf das Individuum und als Gefühl im öffentlichen Raum: Wird die Leidenschaft des Mitleidens als Movens politischer Akteur:innen in den öffentlichen Raum gedrängt, mutiert es dort laut Arendt zu einer „Perversion“, einer kollektiven Massenstimmung, die den politischen Prozess zu zerstören droht. Aus der normativen Perspektive Arendts gesehen ist somit eine mögliche De-Individualisierung für das Politische fatal; und auch den Prozess einer Re-Individualisierung von kollektiven Emotionen lehnt sie im Sinne einer (potenziell proto-totalitären) ideologischen Indoktrination entschieden ab. Alleinig eine nahezu völlig emotionsfreie, auf dem Denkvorgang basierende Fähigkeit – die „erweiterte Denkungsart“ – ist laut Arendt für das politische Urteilen nicht nur von Vorteil, sondern unabdingbar; genauso wie eine ganz spezifische Art von Leidenschaftlichkeit, nämlich eine für das Politische. Bei der Betrachtung beider Theorien kommt man nicht umhin, auch einen deutlichen Unterschied in der Körperlichkeit festzustellen: Arendt führt die (vermeintliche) Animalität des Mitleids als etwas, das das Subjekt be- und überfällt und das eng mit der „Notwendigkeit“ verbunden ist, als Beleg für dessen Unzulänglichkeit an. Hier kommt auch die sphärische Trennung zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten als Heimat der Körperlichkeit zum Tragen – eine Trennung, die die Freiheit (u. a. von der körperlichen Notwendigkeit) schützen soll. Der Preis dafür ist eine konzeptionelle Abgrenzung zwischen Körper und Geist, zwischen Emotionalität und Denkvermögen. Nussbaum lässt hingegen das Somatische im Mitgefühl eher zu – und das, obwohl sie eine stark kognitivistische und gleichzeitig phänomenologisch unterentwickelte Emotionstheorie vorgelegt hat.88 Die Erotizität, die Nuss-
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Die Körperlichkeit der Nussbaum’schen Theorie ist demnach eine völlig andere als diejenige, die im Rahmen kulturwissenschaftlicher Affekttheorien diskutiert wird: Bei-
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baum der Gestaltung der gemeinsamen Mit-Welt durch eine politische Mitgefühlskultur nicht nur unterstellt, sondern aktiv propagiert, zeugt von einem deutlich sinnlicheren Umgang mit und Zugang zu den somatischen Elementen von Emotionen wie dem Mitgefühl, die selbst ihr Insistieren auf die Kognition nicht abzuschwächen weiß. In Bezug auf das Pathos stehen sich Nussbaums und Arendts Politische Theorien wiederum in nichts nach, wie aus den vorangegangenen Kapiteln deutlich wurde; auch wenn sie zu ganz unterschiedlichen Bewertungen der politischen Wirkmächtigkeit von Mitleid/Mitgefühl kommen: Bei Nussbaum sind mitfühlende Emotionen notwendige und maßgebliche Bestandteile einer aktiven Teilhabe an der Welt, die eine bürgerschaftliche Liebe und vor allem das übergeordnete politische Ziel der Gerechtigkeit befördern können; bei Arendt hingegen Phänomene, die auf Passivität beruhen und politisch negativ konnotiertes Erleiden mitsamt gravierender Gefahren für das Politische evozieren. Inhaltlich deutlich näher beieinander liegen beide Theorien mit ihren jeweiligen Konzeptionen der Empathiefähigkeit (Nussbaum) beziehungsweise der „erweiterten Denkungsart“ (Arendt) – also in den (kognitiv geprägten) Fähigkeiten, in denen der Perspektivwechsel von essenzieller Bedeutung, das Element des Mit-Fühlens beziehungsweise Mit-Leidens hingegen ausgeklammert ist. Der systematische Vergleich beider Theorien zeigt aber vor allem, dass eine grundlegende Analyse der Distanzen zwischen dem Subjekt und dem Objekt von Mitleid/Mitgefühl, „erweiterter Denkungsart“ und Empathie für eine politiktheoretische Betrachtung unabdingbar ist, die von einem systematischen Gegen- und Miteinanderdenken beider Theorien im Hinblick auf Differenz und Dissens flankiert wird. Die Frage nach der Ausgestaltung der Distanzen zwischen den Subjekten des Mitgefühls spiegelt die für die (feministische) Demokratietheorie unerlässlichen Fragen nach Herrschaft, Akteur:innenschaft und Gerechtigkeit (vgl. hierzu auch Holland-Cunz 1994: 243). Beide Theorien offenbaren in der Gegenüberstellung relevante Erkenntnisse darüber, wie sich die unterschiedlichen Distanzverhältnisse auf das jeweilige Subjekt und das jeweilige Objekt von Mitleid/Mitgefühl und Perspektivwechsel auswirken, und darüber, welche Gestaltungsmöglichkeiten und Grenzziehungen sich hieraus ergeben.
spielsweise spricht Sara Ahmed (2004: 4) im Anschluss an Spinoza und die queer- feministischen Theorien Judith Butlers („I experience a certain thrill […] when bodies get together in the street“; Butler 2018: 134) und Lauren Berlants nicht mehr von „Menschen“ (oder „Bürger.innen“ etc.), sondern von „Körpern“ („bodies“) als Subjekte von Affekten: „I will track how emotions circulate between bodies, examining how they ‚stick‘ as well as move“ (vgl. hierzu u. a. auch Åhäll 2018: 40f.).
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Zunächst sind auf einer horizontalen Distanzebene politiktheoretisch signifikante Befunde zu finden. Diese unterteilen sich zum einen in den Aspekt der Identifikation mit dem Objekt der Emotion/Fähigkeit: Je kleiner die Distanz zwischen dem Subjekt und dem Objekt von Mitleid/Mitgefühl ist, je absoluter die Identifikation, desto mehr drohen individuelle Grenzen zu kollabieren und das Subjekt die eigenständige Akteur:innenschaft zu verlieren. Hier schließt die Frage an, wie mit der den Menschen inhärenten Pluralität und der mit ihr verbundenen „unwilled proximity and unchosen cohabitation“ (Butler 2018: 114) umgegangen wird und werden sollte, wie also die Konzeption unterschiedlicher Distanzverhältnisse intersubjektive Differenz normativ zu verkleinern oder vergrößern sucht. Gleichzeitig gilt: Je größer die identifikatorische Distanz zwischen dem Mitleidenden und derjenigen, die bemitleidet wird, desto deutlicher wird das Mitleiden potenziell erschwert. Zum anderen betrifft diese Ebene auch die Frage nach der Dimensionierung von Mitleid/Mitgefühl beziehungsweise der „erweiterten Denkungsart“ im Sinne von Ausdehnung und Reichweite: Die Frage, wie weit Mitleid/Mitgefühl und Perspektivwechsel reichen können und sollen, ist dabei eine, die zentral entlang der grob skizzierten Grenzen zwischen Kosmopolitismus und Kommunitarismus verläuft und die spezifische Problematiken mit sich bringt: [I]f I am only bound to those who are close to me, already familiar, then my ethics are invariably parochial, communitarian, and exclusionary. […] If I am only bound to those who suffer at a distance, and never those who are close to me, then I evacuate my situation in an effort to secure the distance that allows me to entertain ethical feeling and even feel myself to be ethical (Butler 2018: 104).
Damit verknüpft ist die Frage, ob eine emotionale Reaktion auf ein partikulares Schicksal von politischer Relevanz ist bzw. normativ sein darf, oder ob Visionen über die positive wie negative Wirkmächtigkeit von Mitleid/Mitgefühl und den auf dem Perspektivwechsel basierenden Fähigkeiten auf eine universelle Ebene abzielen sollten. Schließlich sind auch auf einer vertikalen Distanzebene mögliche Hierarchisierungsstrukturen zwischen dem Subjekt und dem Objekt der Emotion beziehungsweise der Fähigkeit angesiedelt, die Machtungleichgewicht und Herrschaft aufrechterhalten und fördern können. Dies ist allerspätestens dann der Fall, wenn Dissens untergraben oder Differenz negiert wird.
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4.1 Identifikation Auf horizontaler Ebene zeichnen sich beide Theorien zunächst durch normative Konzeptionen aus, die das Subjekt von Mitgefühl und Empathie (Nussbaum) beziehungsweise der „erweiterten Denkungsart“ (Arendt) merklich zum Objekt dieser Emotionen/Fähigkeiten in Distanz setzen – dies gilt maßgeblich für den Grad der Identifikation: Martha Nussbaums Mitgefühl ist eine Emotion, die sich durch kognitive Wertreflexionen auszeichnet und dabei bereits in der formalen Bestimmung eine klare Distanz zwischen dem Subjekt und dem Objekt einer Emotion erkennen lässt (vgl. Kap. 3.1.1) – auch wenn die strategische politische Instrumentalisierung einer solchen Emotion letztlich die Überwindung eines Teils dieser Distanz zum Ziel hat, indem sich der jeweilige Bezugskreis immer weiter ausdehnt, de facto also die persönliche Distanz zwischen dem Subjekt und dem Objekt des Mitgefühls aufgrund des eudämonistischen Werturteils geschmälert wird beziehungsweise werden soll (vgl. Nussbaum [2001] 2008: 300). In Nussbaums Theorie bildet das Subjekt trotzdem unbestreitbar das Zentrum des Erlebens; die notwendigen Bedingungen, die an diese Emotion geknüpft sind, verbleiben rein kognitiv im Subjekt verhaftet und können sogar gänzlich ohne Perspektivwechsel erfolgen. Sie zeichnen sich allein durch Werturteile aus, die die Selbstbezogenheit des Subjekts der Emotion in keiner Weise erschüttert. Wenn Person X (vorübergehend) leidet, weil sie einen Schnupfen hat (in dem Sinne, wirkliches Leid ob der eigenen gesundheitlichen Konstitution zu erfahren), dann wird die mitfühlende Reaktion von Person Y ausbleiben, wenn Y einen Schnupfen nicht als ernsthaftes Leid anerkennt. Auch in der Empathie ist sich das Subjekt seiner Selbst weiterhin bewusst – „one is not the sufferer“ (Nussbaum [2001] 2008: 327). Somit sind Nussbaums Thesen nicht kompatibel mit Konzeptionen ‚emotionaler Ansteckung‘, in denen der Subjektfokus durch physiologische Automatismen gefährdet ist (vgl. Nussbaum 2013: 146). Mithilfe der Empathiefähigkeit versetzt man sich in Nussbaums Theorie in den Zustand der anderen als anderer (ebd.); Voraussetzung hierfür ist eine imaginative Rekonstruktion der Erlebnisse dieses anderen. Hierbei ist laut Nussbaum kein emotionales Bewegtwerden notwendig (vgl. Nussbaum [2001] 2008: 329), auch wenn die Empathiefähigkeit aus mehr als nur darin bestehe, über den Zustand des anderen Bescheid zu wissen oder darüber nachzudenken, wie man selbst sich in der Lage des anderen fühlen würde (vgl. Nussbaum 2013: 146). Um Empathie zu empfinden, ist nach Nussbaum ein aktives Versetzen in die Situation des anderen mithilfe der Vorstellungskraft nötig; das Erlebniszentrum schwenkt dabei zugunsten des anderen um: Wenn Person Y sich in Lage der verschnupften Person X hineinversetzt, kann sich Y das (vorübergehende) Leid von X vorstellen, das der 181
Schnupfen hervorruft, und es als solches anerkennen – auch wenn Y einen Schnupfen als trivial erachtet und sich selbst in der Lage von X kein Leid zugestehen würde. Was bei der Empathiefähigkeit zählt, ist, dass X aus der eigenen Perspektive heraus wirklich leidet. Und trotzdem weiß das Subjekt in der Nussbaum’schen Konzeption ganz klar um die Differenz zwischen sich selbst und dem anderen. So ergeht es auch dem Subjekt in Hannah Arendts Konzeption der „erweiterten Denkungsart“. Diese von Kant entlehnte Fähigkeit ist in der Politischen Theorie Arendts ein Resultat der „Einbildungskraft“ (nota bene: nicht der Einfühlungskraft; vgl. Arendt [1967] 1987: 61), die die Lage eines anderen beziehungsweise möglichst vieler anderer vor dem geistigen Auge bildlich reproduziert. Die Distanz zwischen dem Subjekt und den Objekten dieser Fähigkeit bleibt völlig intakt – normativ gesehen sogar so abstrakt und groß wie nur möglich. Diese Distanz ist für Arendts Politikbegriff notwendig, denn das politische Urteil, das das Subjekt auf Grundlage der Ergebnisse des erweiterten Denkens fällt, benötigt die Distanz des Betrachters zu den Dingen, den „Rückzug vom Engagement und der Parteilichkeit unmittelbarer Interessen“ (Arendt [1997, 1978] 2009: 97). Die Distanz wird in der „erweiterten Denkungsart“ aber nicht nur aufrechterhalten; die Imagination soll sie sogar aktiv aufbauen. Ziel ist hierbei, das zu Nahe, das Partikulare, welches das ausgewogene politische Urteil gefährdet, auf Distanz zu halten (vgl. Arendt [1967] 1987: 61f.). In Arendts Theorie ist die „erweiterte Denkungsart“ gänzlich vom Fühlen befreit – damit grenzt sie diese Fähigkeit sowohl deskriptiv als auch normativ gegenüber ihrer Konzeption von „Empathie“ ab. Demnach kann das Subjekt sowohl die Gedanken als auch die Emotionen eines anderen übernehmen. Stichwortgebend sind hier für Arendt Aspekte der „Übernahme“, der „Annahme“ und des „Akzeptierens“ des Standpunkts des anderen: In Arendts Thesen zur Empathie bleibt das Subjekt nicht bei sich selbst, sondern geht ganz im anderen auf. Die Folgen sind für Arendt gravierend: Der Zwischenraum zwischen dem Subjekt und dem Objekt der Empathie verschwindet, das Subjekt bildet nicht mehr das Zentrum seines eigenen Erlebens. Ganz ähnlich konzipiert Arendt auch das Mitleiden: Als „wahrhafte“ Leidenschaft wird es nur zwischen Zweien erlebt, wobei die eine das Leid der anderen übernimmt, und zwar in einer räumlichen Konstellation, in der der für die Politik notwendige Zwischenraum nicht existieren kann. Eine derart starke Übernahme des Leids eines anderen ist in Arendts Thesen zum kollektiven Gefühl des Mitleids, das sie scharf gegenüber der Leidenschaft des Mitleidens abgrenzt, zwar nicht angedacht; es zeichnet sich sogar durch eine „gefühlsselige Distanz“ (Arendt [1963] 2011b: 113) zum Objekt des Mitleids aus. Allerdings ist diese „gefühlsselige Distanz“ nicht gleichbedeutend mit einer politischen Distanz im Arendt’schen Sinne: Indem sich 182
das Mitleid in seiner kollektiven Form zwar einer Menge mitteilen kann, zielt es auf einen gewissen Grad an Identifikation ab, den es braucht, um einen Handlungsimpuls auszulösen. Damit ist der politische Zwischenraum auch in der „gefühlsseligen Distanz“ potenziell in Gefahr. Die Distanz der „erweiterten Denkungsart“ hingegen macht diese erst zu eine Vorrausetzung für politisches Handeln – weil sie genau auf die Vergegenwärtigung des „Abwesenden“ (Arendt [1967] 1987: 61) zielt, und nicht auf das Anwesende, ergo, das (zu) Nahe, in welches das Subjekt potenziell emotional involviert sein könnte. Allerdings, das ist wichtig zu wiederholen, korreliert die Konzeption dieses „Abwesenden“ wiederum nicht mit dem Schicksal und der Position derjenigen, die sich im Privaten befinden. Beide Theoretikerinnen sprechen sich folglich sowohl gegen graduelle als auch absolute Distanzverluste im Rahmen einer möglichen Identifikation des Subjektes mit dem Objekt des politisierten Mitleids/Mitgefühls beziehungsweise den Fähigkeiten aus, die auf dem Perspektivwechsel beruhen (vgl. kurz hierzu auch Bourgault 2011). Sowohl Nussbaum als auch Arendt lehnen Konzeptionen ab, die die Übernahme der Gedanken und Emotionen anderer für eine politische (nicht aber private) Wirkmächtigkeit voraussetzen. In einem solchen Szenario wäre folglich die Distanz zwischen den Beteiligten als eigenständige Akteur:innen untergraben – und, damit verbunden, die Möglichkeit politisch handeln und sprechen zu können (ein gutes Beispiel für diese Schwierigkeit lässt sich bei Pedwell 2014: 82ff. finden). In beiden normativen Vorstellungen bleibt das mitfühlende beziehungsweise erweitert denkende Subjekt sich ständig selbst bewusst; es weiß um seine eigene Identität und tauscht diese nicht gegen die eines anderen ein, auch nicht gegen dessen (soziales oder politisches) Begehren. Eine völlige Hingabe an die andere, die gleichbedeutend ist mit einer zumindest momentanen Aufgabe ihrer selbst, lehnen beide Theoretikerinnen mit Vehemenz ab. Das Fühlen des Leidens der anderen verbleibt selbst in der bindungsaffineren Mitgefühlstheorie Nussbaums relativ abstrakt und wird sofort in einen kognitiven Akt umgewandelt; hier ist Nussbaums Theorie ähnlich subjektzentriert wie Arendts normative Empfehlung der „erweiterten Denkungsart“. Bei Arendt ist ein distanzvernichtendes identifikatorisches Als-ob-Fühlen und -Denken (diese Begriffe habe ich von Sapolsky [2017: 678] übernommen) sogar ein Widerspruch in sich, da das Subjekt sich niemals derart selbst aufgeben darf, um noch eine wahrhaft politische Akteurin sein zu können. Damit entgehen beide Theorien in gewisser Weise der ethischen Fragwürdigkeit, die sich aus einem (zu) tiefen Eindringen in das Innenleben des anderen ergibt (vgl. auch Pedwell 2014: 7): Das favorisierte Distanzverhältnis bietet nicht nur einen effektiven Selbstschutz für das Subjekt des Mitgefühls beziehungsweise des Perspektivwechsels, sondern auch für denjenigen, dessen 183
Schicksal Gegenstand dieser Vorgänge ist. Insbesondere in Arendts „erweiterter Denkungsart“ ist demnach theoretisch die Möglichkeit gegeben, dass durch die sehr große Distanz zum Objekt dieses erweiterten Denkens die eigene Verstrickung in dessen Leid und dessen Beherrschung (vgl. Pedwell 2014: 74) sichtbar wird. Eine solche maximale Distanzierung kann, zumindest in der Theorie, der Gefahr entgegenwirken, dass das Subjekt im Perspektivwechsel seine „Fantasien“ (Young 1997: 350) über den anderen auslebt – ohne überhaupt einen ernsthaften Versuch unternommen zu haben, wirklich zu verstehen, was im anderen als anderem vor sich geht. Aus diesem Blickwinkel betrachtet ist die Distanzmaxime allerdings nur dann sinnvoll, wenn das Subjekt um die eigenen strukturell begründeten Limitierungen im Prozess des Perspektivwechsels weiß, also um die soziale[n] Hierarchie[n] zwischen dem Subjekt und dem Objekt des Perspektivwechsels, um soziale Privilegierung oder Benachteiligung. In Nussbaums Theorie bleibt dieser Aspekt, insbesondere auch durch ihre Festlegung auf das „eudämonistische Urteil“ und damit auf den Selbstbezug des Subjekts als Zentrum des Erlebens, weitgehend unterbelichtet. Mit dieser deutlichen Konvergenz beider Theorien – der Distanzmaxime in der Frage nach dem Grad der Identifikation mit ‚dem anderen‘ – folgen sowohl Arendt als auch Nussbaum dem Gros der ideengeschichtlichen Tradition: Für Max Weber ([1919] 2018: 62) ist eine solche Distanzlosigkeit „eine der Todsünden jeden Politikers“, die zu „politischer Unfähigkeit“ führe. Weber fordert daher eine „Distanz des Politikers zu den Dingen und Menschen“ – eine Forderung, die vor allem in Arendts Texten widerhallt. In der Ideengeschichte sind allerdings viele Schattierungen hinsichtlich der Frage nach der Distanz zwischen dem Subjekt und dem Objekt des Mitleids/Mitgefühls beziehungsweise des Perspektivwechsels erkennbar. Arthur Schopenhauer, für den das Mitleid „ganz allein [..] die wirkliche Basis aller freien Gerechtigkeit und aller ächten Menschenliebe“ (Schopenhauer [1840] 1977: 248), „das große Mysterium der Ethik“ (ebd.) sowie eine der drei „Grund-Triebfedern der menschlichen Handlungen“ (Schopenhauer [1840] 1977: 249) darstellt, setzt voraus, dass das „Nicht-Ich gewissermaaßen [sic!] zum Ich“ (Schopenhauer [1840] 1977: 248) geworden ist, und die „Wehe“ des anderen fühle wie sonst nur meines, und deshalb sein Wohl unmittelbar will, wie sonst nur meines. Dies erfordert aber, daß ich auf irgend eine Weise mit ihm identificirt sei, d. h. daß jener gänzliche Unterschied zwischen mir und jedem Andern, auf welchem gerade mein Egoismus beruht, wenigstens in einem gewissen Grade aufgehoben sei. Da ich nun aber doch nicht in der Haut des Andern stecke, so kann allein vermittelst der Erkenntniß, die ich von ihm habe, d. h. der Vorstellung von ihm in meinem Kopf, ich mich so weit mit ihm identificiren, daß meine That jenen Unterscheid als aufgehoben ankündigt.
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Hier ist der normative Appell zu einer mindestens graduellen Aufhebung identifikatorischer Distanz ersichtlich. Auch Schopenhauer stellt allerdings klar, dass dem Ich jederzeit bewusst ist, dass das Leiden das des anderen ist und nicht das eigene (vgl. Schopenhauer [1840] 1977: 251, 268f.). Stärker noch als Schopenhauer, für den nur eine uneigennützige Handlung aus Mitleid überhaupt moralischen Wert besitzt (vgl. u. a. Schopenhauer [1840] 1977: 244, 248), drängt der schottische Moraltheoretiker David Hume in Richtung Aufhebung dieser Distanz. Im Empfinden von sympathy – ein empathischer Vorgang, mit dessen Hilfe verschiedene Emotionen vom Objekt zum Subjekt übertragen werden können, nicht nur das Mitleid/Mitgefühl (vgl. Hume [1739/40] 2003: 262) – ist eine Art emotionale ‚Ansteckung‘ angelegt: „As in strings equally wound up, the motion of one communicates itself to the rest; so all the affections readily pass from one person to another, and beget correspondent movements in every human creature“ (Hume [1739/40] 2003: 410). Der emotionale Zustand eines anderen wird in dieser Vorstellung direkt übertragen, er dringt in den anderen ein („affection is infus’d by sympathy“; Hume [1739/40] 2003: 226), bedingt durch eine fast unwiderstehliche (naturgewaltliche) Kraft. Bei Hume ist dies nicht nur ein fast automatischer Vorgang – der allerdings eine stringente Vorgangsstruktur aufweist (vgl. u. a. Hume [1739/40] 2003: 262), die sich maßgeblich an der Imagination als Voraussetzung für das Empfinden der Emotionen anderer orientiert (vgl. u. a. Hume [1739/40] 2003: 305) –, sondern auch ein lustvoller (vgl. Hume [1739/40] 2003: 226). Dabei kann das Subjekt eine Emotion empfinden, die der ursprünglichen Emotion des Objekts von sympathy sogar gleichkommt (vgl. Hume [1739/40] 2003: 227) beziehungsweise zu der eigenen wird: „The sentiments of others can never affect us, but by becoming, in some measure, our own; in which case they operate upon us, by opposing and encreasing our passions, in the very same manner, as if they had been originally deriv’d from our own temper and disposition“ (Hume [1739/40] 2003: 422f.). Zentral ist hierbei die Erkenntnis, dass im Vorgang der sympathy das Subjekt fühlt, was das Objekt fühlt, und nicht, was das Subjekt als Ich in der Situation des anderen fühlen würde: „[I]n sympathy our own person is not the object of any passion, nor is there any thing, that fixes our attention on ourselves“ (Hume [1739/40] 2003: 242). Und trotzdem gilt auch für die Theorie David Humes, die von allen klassischen ideengeschichtlichen Texten zum Mitleid/Mitgefühl und dem Perspektivwechsel die Identifikation mit dem Subjekt wohl am stärksten propagiert – das Subjekt bleibt sich letztlich zumindest bis zu einem gewissen Grad doch seines Selbst bewusst: „Ourself is always intimately present to us“ (Hume [1739/40] 2003: 228, vgl. auch 226). Zudem schränkt Hume ein, dass „in vielen Fällen“ das Subjekt der sympathy seine eigenen Emotionen nicht komplett veränderte, auch wenn die Emotionen 185
des anderen meist so stark wären, dass sie den „easy course of my thought“ (Hume [1739/40] 2003: 422) beeinflussten. Adam Smith, der mit seinem Werk The Theory of Moral Sentiments ([1759] 2009) zwei Dekaden nach David Hume über die Relevanz von Einfühlung schrieb, offenbart eine ebenfalls ambivalente Haltung zur identifikatorischen Distanz des Ichs zum anderen. Zunächst bestätigt Smith eindeutig eine solche Distanz: „As we have no immediate experience of what other men feel, we can form no idea of the manner in which they are affected, but by conceiving what we ourselves should feel in the like situation. […] They [our senses, AKW] never did, and never can, carry us beyond our own person“ (Smith [1759] 2009: 13; meine Hervorhebung). Allerdings befindet er nur einige Zeilen später, die Relevanz des Imaginationsvermögens gegenüber einem anderen betonend: „By the imagination we place ourselves in his situation, we conceive ourselves enduring all the same torments, we enter as it were into his body, and become in some measure the same person with him, and thence form some idea of his sensations, and even feel something which, though weaker in degree, is not altogether unlike them“ (Smith [1759] 2009: 13f.; meine Hervorhebung). Auch wenn hier ein partieller Übertritt des Ichs in die Person des anderen impliziert ist, verweisen die sprachlichen Einschränkungen, die Smith vornimmt („in some measure“, „some idea“, „though weaker in degree“, „not altogether unlike“) dennoch auf die Tatsache, dass das Subjekt in diesem Vorgang des Perspektivwechsels grundlegend bei sich verbleibt: „His agonies, when they are thus brought home to ourselves, when we have thus adopted and made them our own, begin at last to affect us, and we then tremble and shudder at the thought of what he feels“ (Smith [1759] 2009: 14; meine Hervorhebung). Das Leiden des anderen kann in Smiths Theorie tatsächlich auf das Subjekt übertragen werden (vgl. Smith [1759] 2009: 20), allerdings nur in bedingtem Maße (vgl. Smith [1759] 2009: 56); die Leidenschaft an sich kann indes nur unter bestimmten Voraussetzungen und darüber hinaus nicht grundlegend auf das Subjekt übergehen (vgl. Smith [1759] 2009: 15). Ein gewisses Maß an Distanz ist also auch in der Smith’schen Theorie angelegt; Smith betont, dass „Sympathie“, verstanden als Fähigkeit des Einfühlens, die sowohl das Mitleid als auch das „fellow-feeling“ (ebd.) anderer Emotionen betreffen kann, nicht aus dem direkten Anblick („view“) der Leidenschaft selbst resultiert, sondern aus dem Anblick der Situation, die die Leidenschaft ausgelöst hat (vgl. Smith [1759] 2009: 16). Hier ist eine deutliche Zurücknahme des Ichs aus der direkten Konfrontation mit Emotionalität impliziert, die auf einen umfassenderen Blickwinkel auf die situativen Gegebenheiten der Emotion abzielt. Smith ([1759] 2009: 17) empfiehlt sogar, eine mitleidserregende Situation mit seiner „gegenwärtigen Vernunft und Urteilskraft“ zu betrachten – auch wenn er gleichzeitig konzediert, dass dies viel186
leicht unmöglich sei. Smith verweist außerdem auf das Gebot, die Intensität der Leidenschaft sowohl vonseiten des Subjekts als auch des Objekts einer Emotion her zu modulieren, ein „Mittelmaß“ (Smith [1759] 2009: 34) zu finden, das deutlich an Aristoteles’ normative Affektbestimmung (vgl. Kap. 2.1.2) erinnert. Dieses Modulationsprimat bedingt für Smith die Notwendigkeit, die Empfindungen zwischen dem Subjekt und dem Objekt der Leidenschaft als ein aktives und wechselseitiges Verhältnis der Beteiligten an diesem emotionalen Prozess zu „harmonisieren“ (Smith [1759] 2009: 28f.) – ein Verhältnis, das insbesondere von demjenigen, der sich in einer Notsituation befindet, (zu) viel abverlangt und dabei das eigentliche Leiden potenziell abwertet (vgl. u. a. Smith [1759] 2009: 31). Schließlich ist auch in der Mitleidstheorie Jean-Jacques Rousseaus die identifkatorische Distanz zwischen dem Ich und der anderen mehrdimensional konzipiert: „Das Mitleid ist süß, denn wir versetzen uns zwar an die Stelle des Leidenden, empfinden aber zugleicht [sic] die Freude, nicht so zu leiden wie er“, schreibt Rousseau ([1762] 1998: 222) und befindet weiterhin: „Um die Übel anderer zu beklagen, muß man sie ohne Zweifel kennen; man braucht sie aber nicht zu fühlen“ (Rousseau [1762] 1998: 231). Allerdings changiert Rousseau – von dem Schopenhauer ([1840] 1977: 285) als „tiefe[m] Kenner des menschlichen Herzens, der seine Weisheit nicht aus Büchern, sondern aus dem Leben schöpfte“ schwärmte – deutlich, was die graduelle Ausprägung dieser identifikatorischen Distanz betrifft. So weist diese Konzeption, ähnlich wie bei Adam Smith, keine Übernahme der Perspektive des anderen auf, denn der Moment des ‚Übertritts‘ in die Identität des anderen ist bei Rousseau mit Tendenzen des Selbstverlusts verknüpft: Wie sollen wir in der Tat vom Mitleid bewegt werden, wenn wir uns nicht selbst vergessen und mit dem leidenden Tier identifizieren, indem wir sozusagen unser Ich verlassen und seines annehmen? Wir leiden nur so viel, als es nach unserer Meinung leidet. Wir leiden nicht in uns, wir leiden in ihm, Man [sic!] wird nur dann empfindsam, wenn sich die Phantasie regt und beginnt, uns aus uns selbst heraustreten zu lassen (Rousseau [1762] 1998: 224).
Interessant ist hierbei nicht nur Rousseaus Betonung der Vorstellungskraft („Phantasie“), die es ermöglicht, dass wir uns mit der anderen identifizieren; bemerkenswert ist vor allem, dass diese Identifikation nur so weit reicht wie unser eigener Horizont. Die Bewertungshoheit über die Größe und Tiefe des Leides des anderen verbleibt daher immer noch beim Subjekt des Mitleids (vgl. auch Rousseau [1762] 1998: 226), ähnlich, wie Nussbaum es in ihren notwendigen Bedingungen zum Mitgefühl festgehalten hat (vgl. Kap. 3.1.1). Auch in ihrer Theorie bestimmt das Subjekt, ob es überhaupt mitfühlt – nur 187
wenn es das Leiden der anderen als schwerwiegend einstuft, ist Mitgefühl demnach möglich. Dass das mitleidende Ich sich trotz eines etwaigen „Heraustretens“ und ‚Übertretens‘ in die Perspektive des anderen in Distanz zum anderen wahrnehmen muss, ist auch für Rousseau ([1762] 1998: 232) von gewisser Bedeutung. Ist die Distanz vernichtet, tritt der Fall ein, dass man selbst leide, und damit letztlich nur sich selbst und nicht den anderen beklage. Die Folge ist eine äußerst begrenzte politische Reaktionsfähigkeit (vgl. auch Roberts-Miller 2007: 693f.), denn der Selbstbezug führt anschließend zu politischem Handeln, das eher oder sogar rein unseren spezifischen Interessen dienlich ist. Letztlich blockiert diese Selbstzentrierung eine Auseinandersetzung mit der Realität und damit den Bedürfnissen der anderen (vgl. auch Shepherd 2003: 462). Selbstzentrierung ist im Rückgriff auf die Ideengeschichte auch dann ein Problem, wenn ein nahestehender Mensch leidet. Laut Aristoteles fühlt das Subjekt in einem solchen Fall statt Mitleid Furcht, die zu weiterem Unheil (beispielsweise, so ließe sich denken, entweder zu einer vollständigen Paralyse, zu Fluchtbestrebungen oder anderenfalls zu dem Wunsch nach und dem Akt von Vergeltung) führen kann (vgl. Rhetorik II 8 1386a). Nur wenn sich die Person emotional etwas weiter vom Subjekt entfernt in dessen Bezugskreis befindet, es sich also nicht so leicht mit ihr identifiziert, kann es mitleiden, ohne vom „Furchtbaren“ selbst überwältigt zu werden. Dieser Aspekt ist bemerkenswert, da aus dieser Perspektive die damit aufgebaute beziehungsweise zu erhaltende Distanz erst die Grundlage für eigenständiges Denken und Handeln schafft. Andererseits kann ein solch programmatisches Distanzverhältnis durch „interpersonale Sterilität“ gekennzeichnet sein, wie Lola Frost (2014: 58) moniert. Dieser Exkurs hat gezeigt, dass Selbstaufgabe und Selbstverlust im Rahmen einer identifikatorischen Übernahme der Gedanken und Gefühle einer anderen im Gros der Ideengeschichte weitgehend abgelehnt wird.89 Aus einer kontemporären politiktheoretischen Perspektive erscheint eine weitreichende (Über-)Identifikation mit anderen ebenfalls problematisch: In einer Gesellschaft, die einen derartigen Selbstverlust politisch propagierte und aktiv beförderte, wäre ein solches Vorgehen aus individueller psychologischer Sicht verantwortungslos. Zudem lebt der politische Raum – aller antidemokratischen Agitation vor allem aus dem rechten politischen Spektrum zum Trotz – von 89
Auch aus Sicht der Neurowissenschaften ist die Distanzprämisse unabdingbar, wie Sapolsky (2017: 712) ausführt: „[E]in vernünftiges Maß an Distanz [ist] unbedingt erforderlich, um tatsächlich zu handeln. Besser das, als dass unser Herz in schmerzlicher Synchronie mit einem leidenden Menschen zu rasen beginnt, denn diese kardiovaskuläre Aktivierung veranlasst uns in den meisten Fällen zur Flucht, weil uns das alles zu viel wird.“
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Vielfalt und Differenz. Kein Leben gleicht dem anderen; diesem Faktum muss ein politisches System bei aller Rücksicht auf Gleichbehandlung und Fairness Rechnung tragen. Es wäre, politisch gesehen, sicherlich leichter, eine Identifikation mit ‚dem anderen‘ zu erwirken, um größere Übereinstimmung in politischen Fragen zu erreichen. Und natürlich ist es von größter gesellschaftlicher und politischer Relevanz, die Situation der anderen in die eigenen Handlungen und Ziele einzubeziehen. Dies geht jedoch auch ohne Identifikation, nämlich, wie die Politischen Theorien Hannah Arendts und Martha Nussbaums gezeigt haben, entweder durch Perspektivübernahme, bei der sich jedoch das Subjekt weiterhin seiner eigenen Interessen bewusst ist, oder im Rahmen eines viel abstrakteren Mit-Denkens der Position (möglichst vieler) anderer. Im Sinne der Achtung menschlicher Pluralität scheinen diese Lösungen zielführender und psychologisch eher vertretbar als eine mögliche Selbstaufgabe, die im Mitleid/Mitgefühl angelegt sein kann, sowie auch als ein zu tiefes Eindringen des einen in die Innenwelt des anderen. Damit ist auch eine individuelle und gleichzeitig politische Freiheit und Autonomie gegenüber dem anderen potenziell stärker geschützt. Allerdings gibt es auch Ansätze, insbesondere aus der feministischen (Care-)Theorie, die eine bindungsorientierte Vereinbarkeit zwischen Mitleid/Mitgefühl und Freiheit postulieren (vgl. u. a. Jones 1993: 173; Conradi 2001), und auch solche, die den Spagat zwischen Mitfühlen und gleichzeitiger (gradueller) Distanzierung theoretisch ansprechend darlegen. Hierfür empfiehlt sich beispielsweise das von Sara Ruddick (1989: 120) in Rekurs auf Simone Weil und Iris Murdoch aus der Mutterschaft abgeleitete Konzept der „attentive love“, der aufmerksamen Liebe, bei der das Subjekt sich an den Bedürfnissen des anderen orientiere, ohne sie jedoch auf das eigene Ich zu beziehen. Es gehe hierbei um das „knowing another without [Hervorhebung im Original] finding yourself [meine Hervorhebung] in her. A mother really looks at her child, tries to see him accurately rather than herself in him“ (Ruddick 1989: 121). Allerdings erzeugt dieses Erfordernis nach Nähe (wie es auch in Nussbaums Theorie zumindest teilweise eingeschrieben ist) und gleichzeitig nach Distanz natürlich ein insbesondere in der politischen Praxis herausforderndes Spannungsverhältnis (vgl. auch Pedwell 2014: 74). Nussbaums Theorie hat gute Ansätze dafür geliefert, wie Nähe und Distanz nicht im Gegensatz, sondern zusammen gedacht und politisch bearbeitet werden können. Der Arendt’sche Imperativ zur „erweiterten Denkungsart“ stößt hingegen genau an dieser zentralen Distanzmaxime an seine Grenzen. Ein eindrucksvolles Beispiel hierfür ist in einem von Arendts Aufsätzen selbst zu finden, und zwar in Arendts Reflexionen über die Ereignisse in Little Rock, als Anfang September 1957 neun Schwarze Schüler:innen auf eine Schule wechseln sollten, die bislang ausschließlich von weißen Kindern besucht worden 189
war. Auf Anweisung des Gouverneurs des Bundesstaates Arkansas hinderte die Nationalgarde die „Little Rock Nine“ daran, die Schule zu betreten. Erst als US-Präsident Eisenhower intervenierte, konnten sie unter Militärschutz zum Unterricht erscheinen. Anlass ihres Aufsatzes sei ein Perspektivwechsel hierzu gewesen, schreibt Arendt in einer Replik: „My first question was: what would I do if I were a Negro [sic!] mother?“ (Arendt 1959: 179). Seyla Benhabib (1996: 155) verweist auf die Problematik, die sich aus diesem Ansatz ergibt: „Arendt tried to exercise the art of ‚enlarged mentality‘ in thinking about the issue of school desegregation. Instead, however, of truly presenting to herself the standpoint of the others involved, she projected her own history and identity onto those of others.“ Eine zentrale Problematik liegt hierbei nicht nur darin, dass Arendt ihre Erfahrungen mit europäischem Antisemitismus auf die Rassentrennung in den Vereinigten Staaten übertrug (vgl. Benhabib 1996: 149), sondern auch, wie Anne Norton (1995: 258) im Rahmen ihrer Auseinandersetzung über Arendts hochproblematische Thesen zu race herausgearbeitet hat, in der Distanz Arendts, die als weiße Intellektuelle über die Ereignisse an der Little Rock Central High School urteilte. Auch wenn Norton die „erweiterte Denkungsart“ theoretisch nicht erfasst und stattdessen Arendts Mangel an „essential sympathies“ (Norton 1995: 259) kritisiert, die der Betrachtung der Rassentrennung das politische Element nehme und sie stattdessen privatisiere, spricht sie tatsächliche Mängel an, die der Konzeption der „erweiterten Denkungsart“ inhärent sind: Der Fokus dieses Perspektivwechsels liegt nämlich, das zeigt Norton deutlich, auf Arendts „I“, dem „Ich“, also auf Arendt als aus der Entfernung urteilendem Subjekt mit ganz eigener Geschichte, und eben nicht auf der Mutter eines der betroffenen Kinder. Die Distanz in der „erweiterten Denkungsart“ verbleibt in dem zitierten Beispiel derart groß, dass Arendts Urteil in der Tat unangemessen und höchst fragwürdig erscheint. Die Vermutung ist daher nicht von der Hand zu weisen, dass das gute Leben nicht davon abhängen darf, dass alle üben, in intellektueller Manier die Distanz aufrechtzuerhalten, sondern sie im Gegenteil doch zumindest etwas zu schmälern versuchen. So erscheint Gudrun van Tevenars (2014: 46) These plausibel, wonach die „erweiterte Denkungsart“ nur dann wirklich greifen kann, wenn sie, zumindest in irgendeiner Form, mit Mitgefühl verknüpft ist, um uns überhaupt erst für die Art von Reflexionen aufmerksam und aufnahmefähig zu machen, die die „erweiterte Denkungsart“ ermöglichen. Trotz dieser deutlichen Differenz zwischen Arendts und Nussbaums Politischen Theorien zum identifikatorischen Distanzprimat zwischen dem Subjekt und dem Objekt von Mitleid/Mitgefühl beziehungsweise der Fähigkeiten, die auf dem Perspektivwechsel beruhen – Arendt propagiert eine viel stärkere, intellektualisierte Distanzierung als Nussbaum, die den theoretischen Spagat zwischen Distanz und Nähe wagt –, ist die grundsätzliche Konvergenz klar: Das 190
Schicksals der anderen mitzufühlen (Nussbaum) beziehungsweise mitzudenken (Arendt) darf aus normativer Perspektive nur ohne Selbstverlust vonstattengehen, die eine Identifikation mit dem Leiden des anderen mit sich bringen würde. Aus dieser identifikatorischen Distanzprämisse ergeben sich allerdings einige schwerwiegende demokratietheoretische Probleme: zum einen und zuvorderst der Umstand, dass ein gewisses Maß an Identifikation mit dem Leiden beziehungsweise der Notlage des individuellen oder kollektiven anderen unabdingbar ist, um überhaupt Denken und Handeln anstoßen zu können. Befindet das Subjekt, dass es gar nichts gemein hat mit der anderen, die leidet, würde es schon ein enorm großes moralisches Bewusstsein und vor allem den Willen besitzen müssen, sich dieses Leidens trotzdem anzunehmen. Daher erscheint Hannah Arendts Vorschlag der „erweiterten Denkungsart“ deutlich zu entrückt und voraussetzungsreich, um in der Breite in nennenswertes politisches Sprechen, Urteilen und Handeln zu münden. Aber auch das Distanzverhältnis, das Nussbaum im Mitgefühl angelegt hat, könnte letztlich zu groß sein: Die normative Problematik liegt hierbei darin, dass sie sich weigert, Empathie als notwendiges Kriterium für das Mitgefühl anzuerkennen. In der Abwesenheit dieser Fähigkeit verbleibt der Aspekt des Leidens im Mitgefühl derart subjektzentriert, dass auch hier fraglich ist, ob eine angemessene politische Reaktion auf bestehendes Leiden erfolgte und daraus wirklich eine tiefe(re) gesellschaftliche Verbindung zwischen den Bürger:innen einer bestimmten Nation resultierte. Indem das Subjekt festlegt, was eine ernsthafte Notlage ist, bleibt viel reales Leid ohne angemessene Reaktion. Die Definition, wonach Gewalt dasjenige ist, was vom Gewaltopfer als solche wahrgenommen wird, erscheint unter diesen Gesichtspunkten her sinnig, denn sie verlegt den Schwerpunkt weg von der Wahrnehmung des (dominanten) Subjekts hin zu der Wahrnehmung und den Bedürfnissen des (sich ohnehin schon in einer prekären Situation befindenden) Objekts. Eine solche Verschiebung des Fokus hin zum Objekt ist in Nussbaums Vision, genauso wie in Arendts Thesen zur „erweiterten Denkungsart“, nicht vorgesehen. Gerade aus feministischer Perspektive ist vor allem die in beiden Theorien zumindest implizit anklingende Suggestion eines autonomen Subjekts ebenfalls problematisch, das im Idealfall auch im emotionalen Erleben Distanz zu anderen aufrechterhält, um nicht in Abhängigkeit zu geraten und stattdessen zu einem unparteiischen Urteil zu gelangen (eine gute Zusammenfassung zur Problematik des „bindungslosen Subjekts“ ist bei Conradi 2001: 83ff. zu finden). Zwar betonen sowohl Nussbaum als auch Arendt die Notwendigkeit der politischen (Arendt) und sozialen (Nussbaum) Bindung des Subjekts an andere im Zuge der Verantwortung für das Gemeinwesen. Allerdings ist diese bei beiden nicht in ein systematisches Bindungsnarrativ eingefasst. In Bezug auf Nussbaums Emotionstheorie ergibt sich hieraus eine gewisse Herausfor191
derung, diese mit Care-Ansätzen zu verbinden, die Bindung (noch deutlich) stärker betonen (vgl. u. a. Conradi 2001; Porter 2006; Tronto 1993); Nussbaums Schwerpunktsetzung auf den eudämonistischen Gedanken, der für das Subjekt des Mitgefühls zentral ist, ist dafür zu undurchlässig. Arendts Distanzmaxime in der „erweiterten Denkungsart“ steht einer Indienstnahme durch feministische Theorie und Praxis zwar nicht diametral, aber doch noch einmal deutlich sperriger im Wege als Nussbaums. Allerdings, das macht Kathleen B. Jones (1993: 177) deutlich, sind die von Arendt so stark betonten Maximen von Distanz und Differenz unter Umständen auch für eine feministische Theorie und Praxis nutzbar zu machen. Einer derart positiven Deutung der Distanz zwischen dem Ich und der anderen liegt die Anerkennung von Differenz (vgl. auch Holland-Cunz 2003: 234) zugrunde – die Erkenntnis darüber, dass Pluralität notwendig und schützenswert ist, und dass sich Subjekt und Objekt des Mitleids/Mitgefühls folglich ebenbürtig sein müssen. Arendts und Nussbaums Konzeptionen stimmen dahingehend zunächst ebenfalls überein, dass die (graduelle) Distanz zwischen dem Subjekt und dem Objekt von Mitgefühl und Empathie (Nussbaum) sowie der „erweiterten Denkungsart“ (Arendt) erlaubt, eine grundlegende zwischenmenschliche Differenz anzuerkennen und sie zu wahren. Beide gehen von der Prämisse aus, dass jeder Mensch als einzigartiges Wesen in unsere Welt geboren wird, eine Welt, die für alle eine Mit-Welt ist. Beide sprechen sich zudem aktiv gegen Bestrebungen aus, politische Einstimmigkeit zu erzeugen. Die Anerkennung lebensweltlicher Differenz kann ganz maßgeblich die Anerkennung politischer Differenz begünstigen – eine Differenz im Sinne einer Konfrontation, die für das Politische konstituierend und sogar sinnvoll sein kann (vgl. Mouffe 2007: 42f.). In der Zusammenschau beider Theorien ist aber ein Unterschied zwischen dem Anerkennen und dem aktiven Befördern von Differenz zu erkennen: Bei Arendt ist sie untrennbar mit ihrer Pluralitätsprämisse verwoben, die das Fundament ihrer Thesen über das Politische bildet: „[D]ifference and otherness [..] are such outstanding characteristics of the world of appearances as it is given to man as his habitat among a plurality of things“ (Arendt 1971: 442). Alle Versuche, per Mitleidspolitik Differenz zu beseitigen, müssen daher normativ gesehen als Frontalangriff auf das Konzept der Pluralität gewertet werden. In Nussbaums Theorie ist der Differenzcharakter dynamischer angelegt – und korreliert damit auch mit ihrem im Vergleich zu Arendt dynamischeren Distanzkonzept. Zwar geht Nussbaum, wie Rawls, als Basis ebenfalls von der Prämisse der Pluralität zwischen den Menschen aus (vgl. Nussbaum 2013: 132, 387); ihre Politische Theorie betont Differenz allerdings nicht so stark wie die Arendts. Stattdessen zeichnet sie sich durch das Ziel aus, die Differenz als das die Menschen Trennende graduell zu schmälern: Konkret schlägt 192
Nussbaum vor, Bürger:innen mithilfe gezielter Mitgefühlspolitik zu schulen, ihren jeweiligen Bezugskreis auszuweiten und damit Verständnis für die Lebensumstände der anderen aufzubringen. Dies solle schließlich Verständigung und ein auf ein gemeinsames Ziel ausgerichtetes Handeln ermöglichen und Ungerechtigkeiten beseitigen helfen. Dieser Ausweitung und Fokussierung auf gemeinsame Ziele liegt mindestens temporär ein Assimilationsgedanke zugrunde: Ein „gemeinsames Schicksal“ anzuerkennen beinhaltet nämlich für Nussbaum den Moment, in dem Menschen ihre Differenzen vergäßen und sich zusammen gegen oder für eine Herausforderung stark machten (vgl. Nussbaum 2013: 346). Neid und Ekel müssten dabei zugunsten eines „inklusiven“ (Nussbaum 2013: 2) Mitgefühls bekämpft werden. Mithilfe der Vorstellungskraft solle Differenz zudem bereits in Schulen „inkludiert“ werden, schreibt Nussbaum, denn: „[O]ne of the big dangers in the misplaced-values department is underinclusiveness“ (Nussbaum 2013: 251). Deutlich wird an diesen Beispielen, dass das Faktum der Pluralität bei Nussbaum zwar berücksichtigt wird, die menschliche Differenz allerdings peu à peu in ein gemeinsames normatives Ziel – die öffentliche Mitgefühlskultur – münden soll, in welchem sie zumindest partiell aufgehoben werden beziehungsweise temporär in den Hintergrund rücken soll. Diese generelle Tendenz des ‚Glattbügelns‘ von Differenz hat unter anderem Zerilli (2016: 170f.) beanstandet. Auch Maša Mrovlje (2019: 172) kritisiert die Neigung Nussbaums, Differenz zu negieren, indem sie ihren Fokus auf Narration und empathische Identifikation legt. Dieser erfülle einen bereits im Vorfeld festgelegten (nach innen gerichteten) Zweck: „It was this desire to achieve complete mutual understanding between persons that Arendt warned against as an unpolitical form of human togetherness“ (Mrovlje 2019: 170). Mrovlje weist zu Recht auf den deutlich wahrnehmbaren Unterschied zwischen Nussbaums und Arendts Theorie in Bezug auf das Kriterium der Differenz hin – Nussbaums normative Maxime der menschlichen Verständigung, die nicht nur in ihrer Narrationsethik eine herausragende Rolle spielt, sondern in ihrer gesamten Emotionstheorie, steht der Arendt’schen Pluralitätsprämisse in vielerlei Hinsicht diametral entgegen: „For Arendt [..] the plurality of political affairs is not something to be overcome, but the very condition of the possibility of bringing into existence a shared, public world“ (Mrovlje 2019: 169). In der Folge muss sich Nussbaums Theorie durchaus die Frage gefallen lassen, ob in ihrer Vision einer öffentlichen Mitgefühlskultur der Standpunkt der anderen „without projection, idealization, and distortion“ (Benhabib 1996: 191) akzeptiert wird, oder ob menschliche Differenz nicht doch unterdrückt würde, wenn ihr politiktheoretisches „Projekt“ realpolitisch umgesetzt würde. Verständigung und das Hinwirken auf ein gemeinsames Ziel sind von enormer politischer Relevanz; allerdings bedroht eine gewollte oder unge193
wollte Marginalisierung von Differenz eine authentische Auseinandersetzung mit dem anderen. Daran schließt die Frage, ob und gegebenenfalls wie durch eine solche sich aus ihrer Theorie hervorhebende Maxime der Verständigung nicht nur intersubjektive, sondern auch interessengeleitete, sich gegen andere abgrenzende individuelle Akteur:innenschaft gewährleistet werden kann. Steven R. Smith (2005: 70ff.) hat zudem darauf verwiesen, dass bereits der formalen Bestimmung der notwendigen Kriterien des Mitgefühls in Nussbaums Theorie die Tendenz eingeschrieben sei, Differenz zu unterminieren: Indem das Subjekt Werturteile über das Leid des Objekts von Mitgefühl fälle, lege es fest, dass dieser Mensch leide. Damit würden die eigenen Maßstäbe an den anderen angelegt und damit eine (von Hierarchie geprägte) Uniformierung tendenziell untermauert. Aus alledem folgt, dass die Ausgestaltung identifikatorischer Distanzverhältnisse zwischen dem Subjekt und dem Objekt des Mitleids/Mitgefühls und den auf dem Perspektivwechsel basierenden Fähigkeiten zentral dafür ist, eine Identifikation im Sinne eines Selbstverlusts zu vermeiden und die Wahrung von Differenz zu garantieren. Gleichzeitig ist zu beachten, dass die Distanz nicht zu groß sein darf, so dass kein Verlangen mehr bliebe, sich überhaupt mit dem Leid der anderen zu beschäftigen. (Zu große identifikatorische) Distanz kann Unverständnis, Erniedrigung und Grausamkeit befördern (vgl. u. a. Müller 2019: 96). Die identifikatorische Distanzprämisse, das hat die Analyse beider Politischer Theorien gezeigt, erzeugt ein deutliches Spannungsverhältnis und viele Ambivalenzen. In politiktheoretischer Hinsicht erscheint es folglich angebracht, einen Mittelweg anzudenken, der den Gefahren sowohl von zu geringer als auch von zu großer identifikatorischer Distanz im Mitleid/Mitgefühl begegnen kann. Judith Butler (2018: 108) hat hierfür eine simple und gleichzeitig sinnvolle Perspektive vorgeschlagen: „To find that one’s life is also the life of others, even as this life is distinct and must be distinct, means that one’s boundary is at once a limit and a site of adjacency, a mode of spatial and temporal nearness and even boundedness.“ Demnach kann ein gutes Leben nur darin bestehen, die Grenzen des eigenen Ichs zu schützen und gleichzeitig bis in die Tiefenstruktur des eigenen Wesens anzuerkennen, dass wir von anderen abhängig und mit ihnen verbunden sind (vgl. Butler 2018: 218f.). Der Blick auf die Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Arendts und Nussbaums Thesen zur Identifikation belegt, dass ein starker Subjektfokus durchaus mit einer echten Sorge um die andere, mit einer Sorge um die (Mit-)Welt vereinbar ist; dass dieser Fokus sogar notwendig sein kann, um wirkliches Handeln im Sinne von Freiheit und Gerechtigkeit zu fördern.
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4.2 Dimensionierung Ein starker Subjektfokus schwächt nicht nur die Identifikation mit dem Objekt des Mitleids/Mitgefühls beziehungsweise den Fähigkeiten graduell oder substanziell ab, die auf dem Perspektivwechsel beruhen – er beeinträchtigt möglicherweise auch, wie weit unser Mitleid/Mitgefühl in der Welt eigentlich reicht, und wie stark wir im Mitfühlen/Mitleiden vom Konkreten auf das Generelle schließen können und sollen. Politiktheoretische Reflexionen über die räumlichen und quantitativen Dimensionen des Mitleids/Mitgefühls sowie des Perspektivwechsels sind demnach ebenfalls von Bedeutung für die Bestimmung der horizontalen Distanzverhältnisse, auf die sowohl Hannah Arendt als auch Martha Nussbaum rekurrieren. Der Aspekt der räumlichen Dimension der Reichweite des Mitleids/Mitgefühls beziehungsweise des Perspektivwechsels wird oftmals mit dem berühmten Denkbeispiel Adam Smiths illustriert, wonach ein Unglück in China einen westlichen Betrachter nur insofern tangiert dass er anhand dessen seine eigenen „erhebenden Gefühle“ kurzfristig und ohne emotionalen Tiefgang erlebe (vgl. auch Kap. 3.1.1). Verlöre er jedoch selbst einen Finger, wäre er im tiefsten Inneren berührt und verstört. Im Zuge dieses Beispiels äußert Smith eine beißende Kritik an einem nach innen gerichteten Schwelgen in mitleidigen Gefühlen, die nicht nur in ihrem ironischen Duktus dem Arendt’schen Verdikt über den „Zauber“ des Mitleids ähnelt: [A man of humanity in Europe, AKW] would, I imagine, first of all, express very strongly his sorrow for the misfortune of that unhappy people, he would make many melancholy reflections upon the precariousness of human life, and the vanity of all the labours of man, which could thus be annihilated in a moment […]. And when all this fine philosophy was over, when all these humane sentiments had been once fairly expressed, he would pursue his business or his pleasure, take his repose or his diversion, with the same ease and tranquillity, as if no such accident had happened (Smith [1759] 2009: 158; meine Hervorhebung).
Bei Smith ist es die räumliche Distanz zwischen dem Subjekt und dem Objekt von Mitleid, die Sentimentalität hervorruft, eine Distanz also, die kein nennenswertes politisches beziehungsweise moralisches Handeln mit sich bringt. Martha Nussbaum schränkt die Reichweite ihrer Mitgefühlstheorie hingegen nicht nur deskriptiv, sondern auch normativ deutlich ein – sie erstreckt sich räumlich bis zur Nationengrenze. Damit revidiert Nussbaum ihre kosmopolitische Haltung früherer Schriften (vgl. Kap. 3.2.1). Auch wenn Nussbaum erklärt, dass eine öffentliche Mitgefühlskultur letztlich von der Nation her auf die Welt ausgeweitet werden könne, verbleiben ihre Ausführungen hierzu vage. 195
In ihrer Erwiderung auf Gershom Scholems Kritik ob ihrer mangelnden „Liebe“ zum jüdischen Volk führt Arendt unter anderem das folgende aus: „Dass es keinen Patriotismus geben kann ohne ständige Opposition und Kritik, darüber dürften wir uns beide einig sein“ (Arendt/Scholem 2010: 440). Auch wenn dieser Satz zunächst an Nussbaums Theorie erinnert, verweist Arendt mit der Prämisse der „ständigen Opposition“ bereits auf eine scharfe – und vor allem eine dezidiert politische – Einschränkung eines möglichen Patriotismus. Mehr noch: Im Gegensatz zu Nussbaum propagiert Arendt in ihren Thesen rund um die „erweiterte Denkungsart“ eben keinen Patriotismus, sondern spricht sich überzeugender (wenn auch nicht unbedingt tiefgehender) für eine Transzendierung nationaler Grenzen aus – sicherlich auch bedingt durch die eigenen biografischen Erfahrungen (vgl. auch Benhabib 1996: 42). Nicht nur die „erweiterte Denkungsart“, auch Arendts ent-emotionalisierter Vorschlag der Solidarität als Alternative zum Mitleid als Massengefühl ist so konzipiert, dass sie „nicht nur das Kollektiv einer Klasse oder einer Nation oder eines Volkes, sondern schließlich auch die Idee der Menschheit, wie die Vernunft sie uns vorgibt“ (Arendt [1963] 2011b: 113) erfassen könne. Das Mitleid wiederum ist in Arendts Theorie auf eine partikulare Einheit ausgerichtet, nämlich auf eine Klasse, eine Nation oder ein Volk. Arendt moniert zudem, dass im Mitleid eine einseitige Parteinahme (für ein nationales Kollektiv beispielsweise) angelegt sei (vgl. ebd.) – dass eine universellere Distanz und ‚objektive(re)‘ Betrachtungsweise hierbei, im Gegensatz zur Solidarität oder der „erweiterten Denkungsart“, eben nicht gegeben sind. Gerade dieses Erfordernis – auch das Schicksal anderer in weit entfernten Regionen mitdenken beziehungsweise mitfühlen zu können – erscheint nicht nur unter moralischen Gesichtspunkten, sondern auch aus einer realpolitischen Perspektive dringend notwendig. Tobias Scholz hat in seiner Studie über die mediale Darstellung von Mitleid in Reaktion auf (Natur-)Katastrophen beispielsweise gezeigt, dass bei Kriegen oder Terrorismus – im Gegensatz zu Naturkatastrophen (vgl. hierzu u. a. Xu 2017) – eine zu große räumliche Distanz politische Aktion behindert oder gar unmöglich macht: Das Mitleid des fernen Anderen wird durch Zweifel verhindert, die sich in politischer Parteinahme, der Geschichte von Konflikten etc. begründen. Täter und Opfer lassen sich nur schwer auseinanderhalten. Im Falle der Naturkatastrophe sind diese Zuschreibungen selbst im Falle von menschengemachten Katastrophen wesentlich einfacher vorzunehmen (Scholz 2012: 16f.).
Allerdings steht einer großen Ausweitung des Mitleids/Mitgefühls beziehungsweise des Perspektivwechsels auf das Schicksal von Menschen, die sich räumlich weit entfernt vom Subjekt der Emotion/der Fähigkeit befin196
den, ein strukturelles Hindernis im Weg: die menschliche Neigung zur Partikularität, wie sie insbesondere Nussbaum in ihrer Mitgefühlstheorie hervorhebt. Hinsichtlich der quantitativen Dimensionierung, der Ausdehnung des Mitgefühls von einem Partikularfall auf das Universale, schlägt Nussbaum vor, sich die Partikularität von Emotionen zu Nutze zu machen, und mithilfe eines entsprechenden emotionalen Narrativs Gerechtigkeit in Nähe und Ferne zu fördern. Hier schließt Nussbaums Theorie merklich an die David Humes an, der immer wieder das Erfordernis der „vivacity“, der Lebhaftigkeit, in der Vermittlung von Emotionen vom Objekt zum Subjekt betont (vgl. u. a. Hume [1739/40] 2003: 226, 258), da die Imagination natürlicherweise stärker vom Partikularen als vom Allgemeinen bewegt werde (vgl. Hume [1739/40] 2003: 413). Hume verknüpft hierbei die Partikularität mit der Partialität von sympathy, indem er als Strukturmerkmal dieses Einfühlungsprozesses das Kriterium der räumlichen sowie relationalen Nähe („contiguity“, vgl. u. a. Hume [1739/40] 2003: 276, 344, 413) bestimmt – ein Kriterium, das für Hume auch wesentlich für das Mitleiden gilt (vgl. Hume [1739/40] 2003: 263). Aus dieser Partialität schlussfolgert Hume wiederum, dass institutionelle Strukturen notwendig sind, um Gerechtigkeit zu fördern (vgl. Hume [1739/40] 2003: 413): „My sympathy with another may give me the sentiment of pain and disapprobation, when any object is presented, that has a tendency to give him uneasiness; tho’ I may not be willing to sacrifice any thing of my own interest, or cross any of my passions, for his satisfaction“ (Hume [1739/40] 2003: 418). Ganz ähnlich argumentiert auch Nussbaum: Demnach sind die meisten Menschen erst von einem Partikularfall ausgehend bereit, auf einer allgemeineren Ebene strukturelle Ungerechtigkeiten zu hinterfragen. Arendt hingegen lehnt den Partikularfall weitestgehend ab, um direkt die Ebene der größtmöglichen Abstraktion normativ anzuraten, die von der Abwesenheit persönlicher Betroffenheit gekennzeichnet ist. Dabei ist das partikulare Einzelschicksal wenn, dann nur ein kleiner Baustein auf dem Weg zum Erreichen des „‚allgemeinen Standpunktes‘“ (Arendt [1982] 2012: 69) – ein Einzelschicksal, das sogar im Gegenteil potenziell gefährlich werden kann, wenn es das abstraktere Denken und damit das politische Urteil be- oder gar verhindert. Wohl auch deswegen kritisiert Arendt die öffentliche Zurschaustellung von Emotionalität (vgl. Kap. 2.2.4) so vehement, denn das Mitleid als Leidenschaft habe keinen „Begriff vom Allgemeinen und keine Fähigkeit zu generalisieren“ (Arendt [1963] 2011b: 108). Auch für Horkheimer und Adorno ist die Parteilichkeit des Mitleids ein gravierendes Manko: „Es bestätigt die Regel der Unmenschlichkeit durch die Ausnahme, die es praktiziert. Indem Mitleid die Aufhebung des Unrechts der Nächstenliebe in ihrer Zufälligkeit vorbehält, nimmt es das Gesetz der universalen 197
Entfremdung, die es mildern möchte, als unabänderlich hin. […] Nicht die Weichheit sondern das Beschränkende am Mitleid macht es fragwürdig, es ist immer zu wenig“ (Horkheimer/Adorno [1944] 2012: 110). Trotz dieser durchaus berechtigten Vorbehalte gegenüber dem Mitleid überzeugt Arendts rigorose Abneigung gegen alles Partikulare – das heißt in diesem Fall gegen alles Emotionale – nicht. Sie negiert das enorme Potenzial des „specific, concrete other“ (Jones 1993: 143) und die Realität der menschlichen Natur, die Nussbaum hier, wie ich finde, treffend beschreibt: Real people are sometimes moved by the love of just principles presented just as such, abstractly; but the human mind is quirky and particularistic, more easily able to conceive a strong attachment if these high principles are connected to a particular set of perceptions, memories, and symbols that have deep roots in the personality and in people’s sense of their own history (Nussbaum 2013: 10).
Anzunehmen ist, dass wir uns oftmals überhaupt erst eines kollektiven Leidens oder einer Ungerechtigkeit bewusst werden, wenn wir vorher von einem Einzelschicksal bewegt werden; und nur dann bekommt ein Gegenstand überhaupt erst Aufmerksamkeit und politisches Gewicht. Auch wenn dem Partikularen, wie Nussbaum zu Recht betont, immer die Gefahr der Parteinahme inhärent ist, bewirke es doch immerhin einen Zustandswechsel von passivem Unbewegtsein hin zu einem zumindest graduell ausgeprägten Betroffensein. Die Partikularität verleiht abstrakten politischen Prinzipien demnach also die nötige motivationale Unterstützung. Nussbaum ist zuzustimmen, dass der Partikularfall potenziell und stärker als abstrakte Prinzipien die Gemüter bewegt und somit Engagement und auch die von Arendt angepriesenen Leidenschaften für politisches Sprechen und Handeln fördern kann. So intuitiv einleuchtend diese Argumentation erscheint, so heikel kann das Instrumentalisieren des Partikularfalls allerdings politisch gesehen sein und in einem starken Spannungsverhältnis zu Grundsätzen von Fairness und Chancengleichheit stehen. Außerdem kann aus Arendts Begrenzungsmaxime der „erweiterten Denkungsart“, nach der nur jene mitgedacht werden sollen und dürfen, die im öffentlichen Raum erscheinen, eine weitere wichtige Warnung entnommen werden: Auch wenn Nussbaums Theorie trotz ihrer starken Partikularitätsprämisse deutlich durchlässiger und demokratisch anschlussfähiger ist als Arendts degradierendes Ausklammern derjenigen, die sich „in der Dunkelheit“ befinden (vgl. Kap. 2.1.1), ist Arendt durchaus zuzustimmen, dass Partikularität im politischen Raum niemals um jeden Preis instrumentalisiert werden darf und individuelle Grenzen respektiert werden müssen: Keine/r darf gegen den eigenen Willen gezwungen werden, ihr/sein Schicksal politisch offenlegen und breit198
treten zu müssen. In Mediengesellschaften, die maßgeblich von Skandalisierung und Boulevardisierung geprägt sind (vgl. Heidenreich 2015: 50f.), ist diese Warnung Arendts nicht zu unterschätzen.
4.3 Hierarchisierung Arendts Thesen weisen nicht nur äußerst prägnant und scharfsinnig auf die schwerwiegenden Problematiken hin, die das Mitleid als politisierte Emotion auf der horizontalen Ebene der Distanzverhältnisse mit sich bringt – ihnen ist auch eine wichtige Kritik auf der vertikalen Ebene zu entnehmen: Wenn das Subjekt mit dem Objekt mitleidet, entsteht demnach unweigerlich ein Hierarchieverhältnis. Indem das Subjekt für die andere handele und nicht mit ihr, entstehe kein Handeln unter politisch Gleichen, sondern ein Ungleichgewicht zwischen einem dominanten Subjekt und einem subordinierten Objekt. Dieser Interpretation zufolge radiert das Mitleid das für den politischen Prozess essenzielle Miteinandersprechen und -handeln aus, und es manifestiert einen nicht nur grammatikalischen Objekt- und Opferstatus des anderen. Wer Mitleid ‚empfangen‘ ‚durfte‘, steht somit in der Schuld des Mitleidenden (vgl. Ahmed 2004: 193), der darüber hinaus oftmals Dankbarkeitsansprüche entwickelt. Die ‚Empfängerin‘ von Mitleid/Mitgefühl oder Empathie kann sich gegen diesen Prozess meist nicht wehren (vgl. auch Pedwell 2014: 96) und als eigenständiges politisches Subjekt agieren oder als solches wahrgenommen werden. Laut Wendy Brown (1995: 27) verdrängt eine zunehmende gesellschaftliche Moralisierung das politische Argument sukzessiv und bedroht dabei die Akteur:innenschaft von „Verletzten“. Übertragen auf eine wie auch immer geartete Mitleids-/Mitgefühlspolitik könnte auch diese soziale Rollen fixieren und Stigmata festigen. Hierauf zielt Arendts Kritik am Mitleid ab, denn in Kontexten, in denen diese vertikale Hierarchiestruktur zutage tritt, ist Politik nach Arendts Definition nicht möglich. Das bedeutet de facto: Wer in einer Position des Leides ist, ist von Macht ausgeschlossen; wird beherrscht durch den Mitleidenden. Die amerikanischen Revolutionäre, die nach Arendts Deutung frei vom politischen Mitleid gewesen seien, verkörpern demnach Ebenbürtigkeit und politische Gleichrangigkeit in einer repräsentativen Politikform: „Wenn sie im Namen des Volkes sprachen, so nicht, weil sie etwas für das Volk tun wollten – sei es aus Machthunger oder aus Liebe zu ihm. Sie sprachen und handelten als die Vertreter einer gemeinsamen Sache“ (Arendt [1963] 2011b: 93). Arendt zielt mit ihrer Warnung vor dem Mitleid auf dieser vertikalen Hierarchieebene vor allem auf den Schutz der Objekte dieser Emotion ab – und unterfüttert damit eine wichtige, herrschaftskritische Perspektive auf die Gefahren des politisierten Mitleids/Mitgefühls. 199
Arendt führt diese Kritik aber noch viel weiter und wendet die Konsequenzen auch auf das Subjekt der Emotion an: Demnach verliert es im Mitleidsprozess ein Stück seiner Eigenständigkeit; ergötzt und berauscht am „Zauber“ des Mitleids handelt es nicht mehr ‚objektiv‘ gemäß eigener Gedanken und Urteile, sondern für das, was als Allgemeinwille äußerlich und innerlich festgeschrieben wurde – sofern es denn überhaupt handelte. Der Verlust des Selbst in diesem Prozess ist eine potenzielle Gefahr, die das Hierarchieverhältnis folglich sogar umdreht, so dass das Objekt des Mitleids herrsche. Hier nähert sich Arendts Theorie der Generalabrechnung Friedrich Nietzsches mit dem Mitleid an. Nietzsche moniert den Verlust der Autonomie und die Subordination des Subjektes unter das Objekt des Mitleids und der christlichen Nächstenliebe. In Nietzsches Polemik gegen „die ganze Selbstentäusserungs-Moral“ ([1886] 2016: 41) lässt sich, wie bereits erwähnt, auch der Ursprung von Arendts Kritik am „Zauber“ des Mitleids finden: So wettert Nietzsche gegen „viel zu viel Zauber und Zucker in jenen Gefühlen des ‚für Andere‘“ (ebd.). Nietzsche verbindet das christliche Gebot zur Nächstenliebe mit einer antidemokratischen, misogynen und deutlich nihilistischen Verfallsgeschichte, in der er aus der Perspektive des „Wirs“ der „Umgekehrten“ (Nietzsche [1886] 2016: 51) den Untergang des „vornehmen Menschen“ (u. a. Nietzsche [1886] 2016: 187) beklagt. Nach dieser Darstellung bedroht das Mitleid die naturgegebene Dominanz dieser (noch) herrschenden Elite gegenüber den den natürlichen Machthunger des Menschen sich versagenden „beredte[n] und schreibfingrige[n] Sklaven des demokratischen Geschmacks und seiner ‚modernen Ideen‘“ (Nietzsche [1886] 2016: 50), den „herangezüchtet[en]“ Vertreter[n] einer „verkleinerte[n], fast lächerliche[n] Art, ein Heerdenthier, etwas Gutwilliges, Kränkliches und Mittelmässiges“ (Nietzsche [1886] 2016: 71). Die christliche Nächstenliebe, die „Religion des Mitleidens“ (Nietzsche [1886] 2016: 107), bedrohe diese Dominanz auf essenzielle Weise, indem das Objekt des Mitleidens das Subjekt zu „versklaven“ und „herunterziehen“ drohe und dadurch gleichzeitig nach Herrschaft trachte: Ob Hedonismus, ob Pessimismus, ob Utilitarismus, ob Eudämonismus: alle diese Denkweisen, welche nach Lust und Leid, das heisst nach Begleitzuständen und Nebensachen den Werth der Dinge messen, sind Vordergrunds-Denkweisen und Naivetäten, auf welche ein Jeder, der sich gestaltender Kräfte und eines Künstler-Gewissens bewusst ist, nicht ohne Spott, auch nicht ohne Mitleid herabblicken wird. Mitleiden mit euch! das ist freilich nicht das Mitleiden, wie ihr es meint: das ist nicht Mitleiden mit der socialen ‚Noth‘, mit der ‚Gesellschaft‘ und ihren Kranken und Verunglückten, mit Lasterhaften und Zerbrochnen von Anbeginn, wie sie rings um uns zu Boden liegen; das ist noch weniger Mitleiden mit murrenden gedrückten aufrührerischen Sklaven-Schichten, welche nach Herrschaft – sie
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nennen’s ‚Freiheit‘ – trachten. Unser Mitleiden ist ein höheres fernsichtigeres Mitleiden: – wir sehen, wie der Mensch sich verkleinert, wie ihr ihn verkleinert! – und es giebt Augenblicke, wo wir gerade eurem Mitleiden mit einer unbeschreiblichen Beängstigung zusehen, wo wir uns gegen dies Mitleiden wehren – […] Die Zucht des Leidens, des grossen Leidens – wisst ihr nicht, dass nur diese Zucht alle Erhöhungen des Menschen bisher geschaffen hat? (Nietzsche [1886] 2016: 140).
Nietzsches Theorie liefert mit diesem fundamentalen und gleichsam unerträglichen Verdikt eine radikale Umkehrung der bisher dargestellten möglichen Subjekt-Objekt-Hierarchie im Mitleid – indem das Objekt mithilfe des Mitleids an Macht gerät und Herrschaft ausüben kann. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass Nietzsche ausdrücklich ein „Pathos der Distanz“ beschwört, das eine horizontale Distanzerweiterung der Seele, vor allem aber auch eine vertikale „Erhöhung des Typus ‚Mensch‘“ (Nietzsche [1886] 2016: 183) ermögliche. Bedingt durch die Degradierung des herrschenden Subjekts im Rahmen einer möglichen Herrschaftsumkehr ist bei Nietzsche, wie später auch in Arendts Theorie, ein drohender Selbstverlust des Subjekts im Mitleid angelegt (vgl. Nietzsche [1886] 2016: 136, 209), der durch mangelnde hierarchische Distanz bedingt wird. Das Motiv des „Zaubers“ des Mitleidens, das Arendt auch als Berauschung an den eigenen Gefühlen des Gutsein(wollen)s deutet, weist bei Nietzsche stärker masochistische Züge auf: „[E]s giebt einen reichlichen, überreichlichen Genuss auch am eignen Leiden, am eignen Sich-leidenmachen“ (Nietzsche [1886] 2016: 146).90 Trotz dieser Nuancen lassen sich erstaunlich viele Parallelen zwischen Arendts und Nietzsches Mitleidstheorien ausmachen – ohne dass Arendt in Über die Revolution explizit auf die Thesen Nietzsches als Quelle ihrer eigenen verweist (aus ihrem Denktagebuch ist allerdings ersichtlich, dass sie sich ausgiebig mit Nietzsches Werk befasst hat, vgl. Arendt [2003] 107ff.). Das ist wirklich bemerkenswert, denn auch Arendts Verdikt, dass nur Parias Anrecht auf den (apolitischen) Distanzverlust, das „Recht auf Wärme“, hätten, erinnert an Nietzsches Urteil über den „Blick des Sklaven“, der diese Eigenschaften instrumentalisiere und sie „mit Licht“ (Nietzsche [1886] 2016: 189) übergieße. Gleiches gilt für Arendts War90
Diese Nietzscheanische Kritik an der Selbstberauschung wird auch von der ersten Generation der Kritischen Theorie geteilt: Max Horkheimer und Theodor W. Adorno ([1944] 2012: 110) attestieren dem Mitleid in Dialektik der Aufklärung „narzißtische[] Deformationen“, die eine „verinnerlichte Bestätigung des Unterschieds von arm und reich“ darstellten. Horkheimer und Adorno parallelisieren ebenfalls das Mitleid mit dem spezifischen Gefühl der Selbstberauschung, indem sie diese „narzißtische Deformation“ mit den „Hochgefühlen des Philanthropen“ und dem „moralische[n] Selbstbewußtsein des Sozialfürsorgers“ (ebd.) gleichsetzen.
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nung vor der Gefahr, dass das Leiden anderer perpetuiert werden könne, um weiterhin einen Anlass zum Mitleiden zu bieten (vgl. Nietzsche [1886] 2016: 69). Mit ihren streckenweise Nietzscheanischen Thesen legt Arendts Theorie mögliche Schieflagen auf der vertikalen Distanzebene des Mitleids offen – ohne dabei jedoch deren Nihilismus und Herrschaftsmaxime zu übernehmen. Martha Nussbaum hingegen kanzelt Nietzsches Thesen kurz und scharf ab: „Nietzsche […] takes up the extreme and absurd position that […] [s]trong spirits survive, and weak spirits go under. This position keeps coming back to plague political thought“ (Nussbaum [2001] 2008: 384; zu einem früheren Zeitpunkt hatte sie sich allerdings ausführlicher und differenzierter mit Nietzsches Thesen zum Mitleid beschäftigt, vgl. Nussbaum 1994). Daher ist es kaum erstaunlich, dass sich in Nussbaums Theorie vergleichsweise wenige beziehungsweise nur schwache Warnungen vor den politischen Gefahren der vertikalen Distanzverhältnisse im Mitgefühl finden lassen: Abgesehen von ihren Beteuerungen, dass das Mitgefühl im politischen Raum immer den möglichen Dissens von Minderheiten beachten müsse, und dass eine offiziell durch die Politik unterstützte Mitgefühlskultur niemals totalisierend aufgebaut sein dürfe, weist ihre Theorie deutliche Schwachstellen im Hinblick auf die Gefahren der Hierarchisierungen durch vertikale Distanzverhältnisse auf (vgl. auch Woodward 2004: 67). Das größte Manko von Nussbaums Plädoyer für das Mitgefühl als politisierte Emotion besteht vor allem darin, Hierarchisierungen zwischen den Initiator:innen und den Rezipient:innen des von ihr befürworteten strategischen Emotionsmanagements zu begünstigen: Nussbaum schreibt, dass den gesellschaftlichen Kräften, die das „radikale Böse“ nährten, „energisch“ entgegengetreten werden müsse, und zwar „by an education that cultivates the ability to see full and equal humanity in another person“ (Nussbaum 2013: 3). In ihrer Studie lassen sich zahllose Beispiele dafür finden, wie vehement ihr Insistieren auf ein gezieltes Emotionsmanagement, insbesondere im Hinblick auf die (Schul-)Bildung, ist. Auch ihre mit großem Enthusiasmus präsentierten Beispiele emotionalisierter politischer Rhetorik lassen keinen anderen Schluss zu, als dass Nussbaums Theorie eine zumindest implizite Top-down-Perspektive politischen Emotionsmanagements beinhaltet. Diese Interpretation wird sehr deutlich von Textstellen wie diesen unterfüttert, die im Einleitungskapitel von Political Emotions zentral platziert sind: We might say that a liberal state asks citizens who have different overall conceptions of the meaning and purpose of life to overlap and agree in a shared political space, the space of fundamental principles and constitutional ideals. But then, if those principles are to be efficacious, the state must also encourage love and devotion to those ideals (Nussbaum 2013: 7; meine Hervorhebung).
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Der letzte Halbsatz ist entscheidend für meine Kritik, dass Nussbaum zwar vordergründig eine Top-down-Perspektive und damit eine potenzielle Hierarchie zwischen politischen Entscheidungsträger:innen und Bürger:innen ablehnt, die von ihr propagierten Maximen aber de facto genau eine solche Vision unterstützen. Es ist kein Zufall, dass Nussbaum hier „den Staat“ anruft, der „Liebe und Hingabe“ fördern „müsse“ (nicht „könne“ oder „dürfe“) – eine Hingabe, die Nussbaum auch als Aufopferung versteht. Jens Bonnemann (2021: 151) hat zudem darauf verwiesen, dass bereits Nussbaums Vorstellung von Politik als Familiengefüge kritisch zu betrachten sei, „denn in Familien sind zweifellos asymmetrische und hierarchische Verhältnisse vorherrschend, und über unmündige Kinder wird dementsprechend paternalistisch entschieden“. All das zeigt, dass Nussbaum die „Herausforderung“ für ihr Buch und ihre theoretische Vision, sich deutlich von einer rigiden, „diktatorischen“ (Nussbaum 2013: 5) Mitleidspolitik à la Rousseau abzugrenzen, missglückt ist – zumindest dann, wenn man Nussbaums Theorie konsequent beim Worte nähme. Dies ist umso erstaunlicher, als Nussbaum ihre Politische Theorie selbst im Liberalismus verortet (vgl. Kap. 3.2.1) und bereits zuvor dem Vorwurf einer Top-down-Perspektive ausgesetzt war: Aus einer konservativen Perspektive spricht Thomas Gutschker (2002: 465) beispielsweise von einer „extrem paternalistische[n] Staatsauffassung“ Nussbaums; Teilhabe an politischen Entscheidungen stünde für Nussbaum nicht im Fokus. Es liege nämlich „in der Konsequenz ihres Ordnungsdenkens, daß die aus dem guten Leben abgeleiteten Zielvorgaben nicht Gegenstand politischer Revision sind. Sie schlägt eine indirektere und subtilere Bevormundung der Bürger vor“ (Gutschker 2002: 481). Nussbaums ermüdend oft widerholte Appelle an Dissens können diese Kritik, die sich nahtlos auf ihre aktuelleren emotionspolitischen Vorschläge anwenden lässt, nicht entschärfen. Insofern ist das Beispiel, das Nussbaums Theorie gibt, auch eine Mahnung an allzu großen Optimismus, wie ihn Schaal und Heidenreich (2013: 11) vertreten: „Eine [..] ‚Politik der Gefühle‘ wird in einer Demokratie nie die Form einer einvernehmlichen policy annehmen, also einer Gefühlspolitik, die analog zur Gesundheitspolitik systematisch auf Konsensziele hinarbeitet.“ Hier sollte das Verb, normativ betrachtet, ein anderes sein: Eine wie auch immer geartete Gefühlspolitik darf nie auf eine einvernehmliche policy hinauslaufen, um der Demokratie, der ihr inhärenten Pluralität sowie der Interdependenz zwischen Menschen – die durchaus nicht dasselbe ist wie soziale Harmonie (vgl. Butler 2018: 151) – nicht zu schaden. Als abschreckendes Beispiel für einen solchen Fall kann diese Analyse aus dem Politikfeld der Internationalen Beziehungen gelten, die ich umfänglich zitieren möchte:
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Für demokratische Entscheidungsträger, die ihre außenpolitische Präferenz öffentlich durchsetzen möchten, muss es darum gehen, deren emotionale Resonanz zu optimieren. Gerade in diesem hochkomplexen Politikfeld sind sie schlecht beraten, wenn sie viel Zeit auf die differenzierte Erklärung möglicher Szenarien und deren Implikationen verwenden. […] Dabei kommt es vor allem darauf an, die präferierte Handlungsmöglichkeit als die ‚einzig gerechte‘ Vorgehensweise erscheinen zu lassen. Hierzu müssen die konkurrierenden Optionen anhand von möglichst eindringlichen Anschauungsbeispielen so dargestellt werden, dass sie mit vorherrschenden moralischen Intuitionen konfligieren. Umgekehrt muss die präferierte Handlungsmöglichkeit mithilfe anderer Beispiele als diejenige beschrieben werden, die dem moralischen Empfinden der Zielgruppe am besten entspricht. […] Je nachdem, ob eine konfrontative oder kooperative Politik bevorzugt wird, hilft es natürlich auch Ereignisse in Erinnerung zu rufen, die mit einer Abgrenzung der nationalen Identität gegenüber dem anderen Akteur verbunden sind bzw. solche, bei denen dieser Akteur als Mitglied eines großen Kollektivs gesehen wurde, mit dem man sich selbst auch identifiziert hat. Außenpolitiker, die solche Ratschläge beherzigen, werden weit mehr Erfolg haben als Kollegen, die sich mit sachlichen Argumenten darum bemühen, der Öffentlichkeit eine Politik nahezubringen, die emotional abgelehnt wird, weil sie ihren moralischen Intuitionen zuwider läuft (Wolf 2013: 600f.; meine Hervorhebungen).
Auch wenn diese Einschätzung über das gezielte außenpolitische Emotionsmanagement sicherlich eine ziemlich akkurate Zustandsbeschreibung der Realität darstellt, liest sie sich gleichzeitig wie eine dystopische Zuspitzung von Nussbaums Vorschlägen – insbesondere, was die präferierte Handlungsmöglichkeit sowie auch die Anrufung und Abgrenzung nationaler Identität betrifft. Aus ihrer umfassenden Vision für eine öffentliche Mitgefühlskultur können demnach „feeling rules“ (Hochschild 2016: 227), also Gefühlsregeln, abgeleitet werden – tatsächliche oder bloß als solche wahrgenommene (vgl. auch Kap. 3.3). Die Soziologin Arlie R. Hochschild, die sich seit Jahrzehnten mit (politischen) Emotionen beschäftigt, hat deren Folgen in ihrer Studie Strangers in Their Own Land (2016) über Mitglieder der US-amerikanischen „Tea Party“-Bewegung eindrucksvoll dokumentiert. Ihre Studie zeigt, dass es für eine Demokratie zur unmittelbaren Gefahr werden kann, wenn der Appell zu mehr Mitgefühl sowohl auf der individuellen als auch auf der institutionellen Ebene als geforderte „Emotionsarbeit“ und damit als „Emotionsprogramm von oben“ wahrgenommen wird, als Zwang zum Mitfühlen also, der gleichzeitig das Mitgefühl für die eigene (prekäre oder prekär wahrgenommene) Existenz verwehrt (vgl. auch Weber 2018: 58f.). Außerdem müssen innerhalb eines sozialen Gefüges selbst bei konsensualem Befolgen einer Mitgefühlprogrammatik die Emotionen der einen nicht unbedingt den Emotionen des anderen gleichen – 204
hier ist der affekttheoretischen Kritik durchaus zuzustimmen, wonach es problematisch ist, von einer Gleichartigkeit oder zumindest einer Ähnlichkeit auszugehen, wie Emotionen erfahren werden (vgl. Pedwell 2014: 60). Gerade für die Nussbaum’sche Theorie, die so umfassend und tiefgehend für politisches Mitgefühl plädiert, sind ihre wenigen konkreten Auseinandersetzungen mit diesen potenziellen Gefahren von Hierarchie- und Herrschaftsstrukturen unzureichend. Um es mit aller Schärfe zu formulieren: Ihre politiktheoretische Zuversicht zur positiven Wirkmächtigkeit von Mitgefühl kann nur unter Gleichen funktionieren, und selbst in einem solchen Gefüge ist die Machtbalance immer wieder potenziell zulasten der ‚Empfänger:innen‘ von Mitgefühl bedroht. Kathleen Woodward (2004: 68) hat darauf verwiesen, dass Nussbaum zwar durchaus um die Distanz zwischen derjenigen, die mitfühlt, und derjenigen wisse, mit der mitgefühlt wird. Ihr Standpunkt sei aber primär derjenige der mitfühlenden – die Position des Objekts von Mitgefühl missachte Nussbaum hingegen. Damit klammere sie das Bewusstsein um individuelle Machtungleichheiten systematisch aus, die diese Perspektive mit sich bringt: „In operation, compassion is a term denoting privilege: the sufferer is over there“ (Berlant 2004: 4). Dieses Urteil wird auch von Carolyn Pedwell (2014: 95) geteilt, die Theorien wie der Nussbaum’schen unterstellt, dass die Differenz zwischen den Menschen im Empathie- beziehungsweise Mitgefühlsprozess letztlich ein Hierarchiegefüge manifestiert: Das privilegierte Subjekt von Mitgefühl könne aufgrund dieser Differenz immer noch entscheiden, ob es mitfühlt und die Perspektive wechseln möchte oder nicht: „[T]he act of ‚choosing‘ to extend empathy or compassion can itself be a way to assert power.“ Auch wenn Nussbaum in ihrem Beispiel des empathischen Folterers beziehungsweise Sadisten eine hierarchisierte Herrschaftsebene offenlegt (vgl. Kap. 3.1.2), fehlt eine solche Reflexion in ihren Thesen über die „positive“ politische Wirkmächtigkeit des Mitgefühls. Eindrücklich hat Iris Marion Young darüber hinaus auf den Aspekt der strukturellen Ungleichheit verwiesen, die im (Gebot zum) Perspektivwechsel unweigerlich zum Tragen komme: „[T]hose who attempt to adopt the standpoint of others stand in a relation of social privilege to those whose perspective they claim to adopt“ (Young 1997: 349). Diese Privilegierung führe dazu, dass die imaginativen Repräsentationen allzu oft Projektionen und „Fantasien“ (Young 1997: 350) darstellten, in denen sich das privilegierte Subjekt selbst spiegele – eben weil der Fokus doch beim Subjekt verbleibe und nicht wahrhaftig auf das individuelle oder kollektive Objekt übergehe. Young kritisiert daher die Indienstnahme des Perspektivwechsels in der Moraltheorie. Als Alternative schlägt sie vor, ‚einfach‘ zuzuhören: „In moral humility one starts with the assumption that one cannot see things from the other person’s perspective, and waits to learn by listening to the other person to what extent they 205
have similar experiences“ (ebd.; vgl. auch Scudder 2020). Young macht darüber hinaus deutlich, dass die Idee eines reziproken Perspektivwechsels fehlgeleitet ist – es sei nicht davon auszugehen, dass Gegenseitigkeit auch nur im Ansatz möglich ist, wenn der soziale Kontext ganz klar Ungleichheiten befördert. Eine auf einem Perspektivwechsel beruhende Empathie oder „erweiterte Denkungsart“ kann demnach kein wahrhaft politisches Potenzial beinhalten, da sie nur die eigene Perspektive trübt, statt die Ursachen zu beseitigen. Die von Young betonte Asymmetrie im Prozess des Zuhörens, das sich aber durchaus auch in einem Sich-Vergegenwärtigen der Positionen anderer niederschlägt, steht insofern der Nussbaum’schen Theorie erst einmal nicht entgegen, da letztere von vornherein keine Reziprozität im Mitgefühls- und Empathieprozess anzunehmen beziehungsweise zu befürworten scheint. Allerdings klammert Nussbaum die von Young so präzise beschriebenen Mechanismen struktureller Ungleichheit weitestgehend aus, wenn sie den Perspektivwechsel propagiert. Auch lässt Nussbaum alle Fragen zur demokratischen Legitimation von Mitgefühl weitgehend unbeantwortet. Sie bietet keine nennenswerten Vorschläge, wie alle Bürger:innen einer bestimmten politischen Einheit sowohl die avisierte öffentliche Mitgefühlskultur (politisches Ziel) als auch an die Normen strategischen Mitgefühlsmanagements (politisches Mittel) demokratisch mitgestalten können. Hier mangelt es Nussbaums Vision klar an demokratietheoretischer Tiefe. Imaginäre oder tatsächlich existierende Gefühlsregularien sind darüber hinaus noch aus einer anderen Perspektive problematisch – nämlich aus Sicht der Befürworter:innen und gegebenenfalls auch der herrschenden Subjekte einer solchen Vision: Würden tatsächlich „feeling rules“ rund um das Mitgefühl etabliert, könnten sie zum Erleben des von Arendt beschriebenen „Zaubers“ führen, in dem die Realität von Pluralität und politischem Dissens ausgeblendet würde91; in diesem Szenario könnten Gefühlsregularien als umfassende Doktrinen, als Handlungsimperative entlang eines realen oder fiktiven emotionalen Verhaltenskodexes erlebt werden, die eigenes kritisches Denken und Urteilen verzichtbar machten (vgl. hierzu auch Zerilli 2016: 177). Hierzu lässt sich Theodor W. Adornos Kritik an der Anrufung von „Bindungen“ im Sinne eines autoritären Politik-‚Programms‘ anführen, das dem Gebot von Autonomie entgegensteht:
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Gestützt wird diese Erkenntnis auch durch die Hirnforschung: Demnach verfügen apolitische Wähler:innen grundsätzlich eher über die Fähigkeit, ‚objektiv‘ zu wählen – d. h. ihr Wahlverhalten nach Fakten und rationalen Maßstäben auszurichten – als politisch interessierte und informierte (vgl. Westen 2012: 126).
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Leicht werden die sogenannten Bindungen entweder zum Gesinnungsspaß – man nimmt sie an, um sich als ein zuverlässiger Bürger auszuweisen – oder sie produzieren gehässige Rancune, psychologisch das Gegenteil dessen, wofür sie aufgeboten werden. Sie bedeuten Heteronomie, ein Sichabhängigmachen von Geboten, von Normen, die sich nicht von der eigenen Vernunft des Individuums verantworten. Was die Psychologie Über-Ich nennt, das Gewissen, wird im Rahmen von Bindung durch äußere, unverbindliche, auswechselbare Autoritäten ersetzt, so wie man es nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs auch in Deutschland recht deutlich hat beobachten können. Gerade die Bereitschaft, mit der Macht es zu halten und äußerlich dem, was stärker ist, als Norm sich zu beugen, ist aber die Sinnesart der Quälgeister, die nicht mehr aufkommen soll. Deswegen ist die Empfehlung der Bindungen so fatal. Menschen, die sie mehr oder minder freiwillig annehmen, werden in eine Art von permanentem Befehlsnotstand versetzt. Die einzig wahrhafte Kraft gegen das Prinzip von Ausschwitz wäre Autonomie, wenn ich den Kantischen Ausdruck verwenden darf; die Kraft zur Reflexion, zur Selbstbestimmung, zum Nicht-Mitmachen (Adorno [1971] 2017: 92f.).
Adorno lehnt den Appell an gesellschaftliche Bindung und Nähe, an deren „Wärme“ entschieden ab (vgl. auch Kap. 4.4): Wie Arendt geht auch er davon aus, dass Gefühle wie Liebe und Mitgefühl natürlich und sozial unvermittelt seien. Deshalb eigne sich staatlich verordnete Bindung nicht als Hilfsmittel gegen das Böse: „Der Zuspruch zur Liebe – womöglich in der imperativischen Form, daß man es soll – ist selber Bestandstück der Ideologie, welche die Kälte verewigt. Ihm eignet das Zwanghafte, Unterdrückende, das der Liebesfähigkeit entgegenwirkt“ (Adorno [1971] 2017: 102f.). Adorno stellt diesem potenziell autoritären Emotionsprogramm eine Vorstellung politischen Handelns gegenüber, in deren Zentrum immer ein eigenes, situationsabhängiges und von allgemeinen Leitlinien unberührtes Urteil steht – eine Vorstellung, die sich auch in der Theorie Hannah Arendts in auffallend ähnlicher Weise ausmachen lässt (vgl. Zerilli 2016: 264ff.). Sicherlich ist sie in beiden Fällen auch auf die Erfahrungen des Nationalsozialismus und der damit verbundenen Emotionalität (vgl. u. a. Frevert 2011: 28; Mohrmann 2015: 10f.) zurückzuführen (vgl. auch Kap. 2.4). Nussbaum appelliert zwar ebenfalls durchaus an ein eigenständiges politisches Urteil – fast gebetsmühlenartig betont sie für ihre Vision einer öffentlichen Mitgefühlskultur die Möglichkeit zum kritischen Dissens. Allerdings verbleiben ihre konkreten Ausführungen und Ideen hierzu normativ viel zu vage und können Bedenken, die sich aus ihren emotionspolitischen Forderungen ergeben – wie denen nach emotional bewegenden Reden von Politiker:innen und generell nach einer „patriotischen“ Erziehung –, vor allem im Hinblick auf die Wirkmächtigkeit gezielter emotionaler Manipulation kaum 207
standhalten. Wie genau Dissens in einer solchen Gesellschaft möglich sein soll, die sich dem normativen Projekt nach mehr Mitgefühl im öffentlichen Raum verschrieben hat, bleibt theoretisch unterbelichtet in Nussbaums Mitgefühlstheorie, die sonst sehr detailliert und von Beispielen durchzogen ist. Zwar insistiert sie auf einer kritischen politischen Kultur, kann aber in der Gegenüberstellung mit Arendts Thesen der Kritik an einer möglichen ‚Meinungsuniformität‘ nicht genug entgegensetzen: „Meinungsfreiheit und Herrschaft einer einmütig vertretenen öffentlichen Meinung [sind] schlechterdings unvereinbar“, befindet Arendt ([1963] 2011b: 290) hierzu treffend. Die ‚Meinungsuniformität‘, das hat unter anderem auch Chantal Mouffe (2007: 43) prägnant herausgearbeitet, ist eine der stärksten Gefahren einer demokratischen Gesellschaft: Würden Meinungsverschiedenheiten nicht mehr oder nicht ausreichend wertgeschätzt, sei eine zunehmende Unterstützung populistischer und antiliberaler Bewegungen und Parteien die Folge – die oftmals nicht nur inhaltlichen Dissens, sondern vor allem auch „politische[] Leidenschaften“ (Mouffe 2007: 94) zu artikulieren versprächen. Auch wenn Bonnie Honig Arendts Politische Theorie ebenfalls als „agonistische“ Politiktheorie klassifiziert (vgl. Honig 1995), unterscheidet sich diese jedoch deutlich von derjenigen Chantal Mouffes (2007), für die Dissens ebenfalls auch Ausdruck von Pluralität, aber viel stärker als bei Arendt auf eine (demokratische) Gegner:innenschaft ausgelegt ist und nicht primär als Ausdruck von Deliberation und Freiheit fungiert (vgl. auch Mouffe 2007: 29f., FN 9). Insofern kann Mouffe (2007: 40), konträr zu Arendt, die „Dimension leidenschaftlicher Parteilichkeit“ (Mouffe 2007: 42) in der Politik proklamieren und ein agonistisches Ventil für die dem Politischen inhärenten Leidenschaften fordern. Bei Arendt hingegen steht der individuelle und kollektive „Zauber“ des Mitleids, das den politischen Dialog potenziell manipulieren könnte, der Pluraliätsprämisse diametral gegenüber. Arendts deliberatives Politikverständnis kann dabei zwar Dissens viel eher begünstigen als Nussbaums Vision einer öffentlichen Mitgefühlskultur – allerdings auf die Gefahr hin, dass der damit verbundene Diskussionsprozess ein rasches und situationsgerechtes politisches Handeln erschwert, oder ein politischer Kompromiss, der für Arendts Politische Theorie essenziell ist, letztlich kaum auszuhandeln ist. Arendts politischer Realismus gerät auch dann an seine Grenzen, wenn Bildung bloß die Aufgabe hat, über die Welt, wie sie ist, zu informieren. Arendt beharrt darauf, dass sie sich aufgrund von Indoktrinationsgefahren nicht mit Fragen zu beschäftigen habe, wie die Welt sein könnte und sollte (vgl. Arendt [1958] 1994). Wer aber wird motiviert sein, sich politisch zu engagieren, leidenschaftlich für die Welt einzutreten, wenn sie oder er nicht von einem bestimmten Anliegen, einem Individuum oder Kollektiv dazu 208
angeregt wurde? Spätestens hier empfiehlt sich wiederum doch Nussbaums Vorschlag: Ihre Vision von Bildung, die von Mitgefühl, Fantasie, Spiel und Vorbildern geprägt ist, erscheint generell viel freudvoller und deutlich erstrebenswerter als das Arendt’sche Pendant, das dem Spiel wenig bis gar keinen Raum zuteilwerden lässt (vgl. Arendt [1958] 1994: 265). Arendts Dissensprämisse verschreibt sich jedoch letztlich nicht nur dem politischen Realismus, sondern auch einer Absolutheit, die sich an der höchsten moralischen Messlatte orientiert: Es gab eine Alternative [im Nationalsozialismus, AKW] […], und die hieß: nicht mitmachen, selber urteilen: ‚Bitte schön …, das mach’ ich nicht mit. Ich setze nicht mein Leben ein, ich versuche zu entkommen, ich versuche, wie ich um die andere Ecke komme.‘ Nicht wahr? ‚Aber ich mache nicht mit. Und falls ich gezwungen sein sollte mitzumachen, dann werde ich mir das Leben nehmen.‘ Diese Möglichkeit gab es. Dazu gehörte, dass man nicht Wir sagt, sondern dass man Ich sagt, dass man selbst urteilt (Arendt/Fest 2011: 49).
Es verwundert kaum, dass viele Deutsche im Nationalsozialismus die völlige Innenkehr, das emotionale und moralische Abstumpfen als ultimativen Selbstschutz präferierten, statt dem normativen moralischen Anspruch Arendts zum absoluten Dissens in „Grenzsituationen“ – dem Suizid beziehungsweise dem „Nichtstun“, das in vielen Fällen ebenfalls mit dem Tod hätte bezahlt werden müssen (vgl. Arendt/Scholem 2010: 441) – nachzukommen. Dieser Tatsache begegnet Arendt, indem sie auf die wenigen verweist und gleichsam an sie appelliert, die sich dem Terror nicht fügen: „Menschlich gesprochen ist mehr nicht vonnöten und kann vernünftigerweise mehr nicht verlangt werden, damit dieser Planet ein Ort bleibt, wo Menschen wohnen können“ (Arendt [1963] 2011a: 347). Diese normative Rigorosität, die in Arendts Theorie bis hin zur essenziellen Entscheidung zwischen Leben und Tod reicht, zeigt sich auf andere Weise auch im Hierarchieverständnis ihrer Thesen zum Mitgefühl: So erstickt ihr Verdikt, dass das Mitleid den (politischen) Zwischenraum zwischen den Menschen kollabieren lasse, nicht nur eine auch nur im Ansatz nennenswerte Emotionspolitik im Keim, sondern verhindert zudem auch direkt Schritte hin zu mehr Teilhabegerechtigkeit am politischen Prozess. Paradigmatisch ist hierzu Kathleen B. Jones’ (1993: 146) Kritik an Arendts Unparteilichkeitsmaxime zu lesen: „Insofar as the dominant model of judgment remains impartiality, then practices of judgment that attempt to judge from within, instead of only from without, are delegitimated as practices of justice and consigned to the private sphere“. Thomas Gutschker (2002: 482) hat darüber hinaus zu Recht darauf verwiesen, dass Arendts Handlungsbegriff ebenfalls problematische Züge Richtung Paternalis209
mus aufweise – nämlich hinsichtlich der Tatsache, dass sie politisches Handeln nur denjenigen zuschreibt, die Interesse an der Welt hätten, und damit Rollenund Machtdifferenzierungen außer Acht lasse. Arendt perpetuiert folglich die Dominanz eines zuweilen abstrakt-sterilen und maskulinen Verständnisses von Politikgestaltung und eine Hierarchisierung zwischen politisch Aktiven und denjenigen, die nicht politisch partizipieren können oder wollen. Sowohl Arendts als auch Nussbaums Politische Theorien müssen sich folglich, auf unterschiedliche Weise, dem Vorwurf einer elitären Distanzierung aussetzen: Auf beide trifft zumindest in Teilen das Urteil Woodwards (2004: 69) zu, wonach die Perspektive der Distanz zwischen dem Subjekt und dem Objekt von Mitleid/Mitgefühl auch zu einer Distanzierung von „sentimentality“ selbst führt – „Sentimentalität“ verstanden als wirklichen Bewegtsein, das nicht anders kann als Hegemonien und Herrschaft radikal zu dekonstruieren. Ein politiktheoretischer Ausweg aus diesen vielfältigen und demokratietheoretisch gravierenden Problematiken von Hierarchie und Herrschaft, die sich aus der strategischen Instrumentalisierung von Mitleid/Mitgefühl und dem Perspektivwechsel im politischen Raum ergeben, könnte gegebenenfalls darin bestehen, die Partizipations- und Gestaltungsmöglichkeiten an emotionspolitischen Ziel- und Mittelvorstellungen so inklusiv und offen wie möglich zu konzipieren: Dies würde zuvorderst bedeuten, dass diese zentralen demokratischen Werte nicht gegen den einfacheren Weg der Übertragung der Gestaltungsmacht an politische Führungspersonen mit großem rhetorischen Talent und Gespür für die Emotionalität der Beherrschten (Nussbaum) oder gegen die „großen Männer“ [sic!], die leidenschaftlich und gleichzeitig entrückt von eigener und gesellschaftlicher Emotionalität Politik machten (Arendt), eingetauscht werden dürften. Dieser Prozess wäre unweit zäher, vielleicht aber würde er zumindest einige der Dilemmata lösen, die sich aus den Distanzverhältnissen von Mitleid/Mitgefühl und den Fähigkeiten ergeben, die auf dem Perspektivwechsel beruhen – zuvorderst das Dilemma von Hierarchie und damit von Herrschaft, aber auch dasjenige, in dessen Fokus die oft fragwürdige emotionspolitische Legitimation steht. Gleichzeitig liegt es aber durchaus auch im Rahmen des Möglichen, dass das Mitleid/Mitgefühl selbst Hierarchiegefüge aufsprengen könnte. Diese positive Deutung kann beispielsweise der emotionstheoretischen Thesen Michael Walzers (2004: 130) entnommen werden. Demnach kann Politik letztlich und langfristig erfolgreich nur mit der Zustimmung derjenigen gemacht werden, die am unteren Ende der politischen Hierarchie stehen. Hieraus erwächst die Möglichkeit, dass dieses Angewiesensein Hierarchien abbaut. Aus dieser Perspektive erscheint Nussbaums emotionspolitisches Plädoyer für das konsequente und kontinuierliche ‚Einüben‘ des eudämonistischen Mitgefühlsgedankens und des empathischen Perspektivwechsels in der 210
Tat als eine zentrale Stellschraube, um Gerechtigkeit und politische Stabilität zu fördern. Dieser Gedanke des Erlernens von Mitgefühl und des Perspektivwechsels als proto-politische Phänomene lässt sich auch in der Ideengeschichte finden. So notiert beispielsweise Adam Smith ([1759] 2009: 24f.): „Every faculty in one man is the measure by which he judges of the like faculty in another […]. I neither have, nor can have, any other way of judging about them.“ Nur mit einem ausgebildeten und umfassenden (emotionalen) Fähigkeitenrepertoire kann das Subjekt die Situation der anderen beurteilen und nachvollziehen. Existiert dieses Repertoire nicht, ist verkümmert oder blockiert, ist Verständnis und Verständigung nicht mehr möglich. Auch aus diesem Blickwinkel ist der Gedanke des Erlernens und Übens des Perspektivwechsels elementar, auch wenn sich, wie ich bereits dargelegt habe, aus einer hierarchisierten ‚Verordnung‘ dieses Übens wiederum eigene gravierende Problematiken ergeben.
4.4 Imagination Anhand des Vergleichs der multidimensionalen Distanzverhältnisse ist deutlich geworden, dass Arendts und Nussbaums Politische Theorien fundamentale Divergenzen im Hinblick auf die Frage offenbaren, ob und gegebenenfalls wie Mitleid/Mitgefühl politisch propagiert und instrumentalisiert werden sollten. Arendts Maxime einer politischen Emotions- und insbesondere einer Mitleidslosigkeit, die sie nur im Hinblick auf das Movens von Politik durchbricht, steht Nussbaums Plädoyer für einen emotions- beziehungsweise mitgefühlsgeladenen politischen Raum nahezu unversöhnlich gegenüber. Nur in der identifikatorischen Distanzprämisse ähneln sich die Thesen Arendts und Nussbaums stark. Darüber hinaus gibt es aber auch noch eine weitere zentrale Konvergenz in den sonst weitgehend von Unterschieden geprägten ‚Emotionstheorien‘ Arendts und Nussbaums: Die Verantwortung für die gemeinsame Mit-Welt und die Empfänglichkeit für andere Menschen, die trotz Pluralität mit uns verbunden sind, sind in beiden Theorien an den Perspektivwechsel geknüpft. Dieser ist – wenn auch in unterschiedlichem Maße – in beiden Theorien zunächst konzeptionell ex negativo dargelegt, im Hinblick auf die Unfähigkeit, Empathie zu empfinden (Nussbaum) beziehungsweise mit einer „erweiterten Denkungsart“ zu denken (Arendt): Für beide, Arendt und Nussbaum, ist dieser Mangel das entscheidende Kriterium für das Entstehen des „banalen“ (Arendt) beziehungsweise „radikalen“ (Nussbaum) Bösen. In dieser Konvergenz beider Theorien offenbart sich ein interessanter normativer Vorschlag darüber, womit „das Böse“ zunächst charakterisiert und benannt werden könnte. Schließlich 211
lassen sich aus der Umkehrung dieser Thesen im Sinne der positiven Fähigkeit zum Perspektivwechsel gegebenenfalls praktische Konsequenzen ableiten, wie diesem „Bösen“ präventiv und situativ begegnet werden kann – nämlich vor allem darin, systematisch und umfassend gesellschaftliche Gelegenheitsstrukturen zu schaffen, die das Erlernen und Üben des Perspektivwechsels fördern. Zwar gestaltet sich diese Übereinstimmung nicht völlig deckungsgleich: Während die „erweiterte Denkungsart“ nach Arendt zum Ziel hat, an Allgemeinplätzen anzukommen – also die Standpunktgedanken derart zu erweitern, dass daraus ein allgemeines Urteil abgeleitet werden kann –, ist diese Abstraktionsebene bei Nussbaum nicht wirklich angedacht. Die von ihr konzipierte Empathiefähigkeit richtet sich zuvorderst auf ein konkretes und personell zu benennendes Subjekt (vgl. Nussbaum 2013: 417, FN 19) und dessen Emotionen. In Arendts „erweiterter Denkungsart“ hingegen darf das Denken zwar durch Emotionen angestoßen werden; im Denkprozess selbst sind Emotionen jedoch ausgeschlossen. Die „erweiterte Denkungsart“ ist damit ihrer Natur nach ein ganz anderer Prozess als der mitunter emotionale Perspektivwechsel in Nussbaums Empathiefähigkeit. Hinsichtlich des konzeptionellen Ziels jedoch gleichen sich die Thesen zur (Nussbaum’schen) Empathie beziehungsweise der „erweiterten Denkungsart“ merklich an. Die Basis beider Theorien bildet die Anerkennung der Menschlichkeit und Verletzlichkeit des anderen, die Nussbaum in gewohnt pathetischer Prosa beschreibt: We are all born naked and poor; we are all subject to disease and misery of all kinds; finally, we are all condemned to death. The sight of these common miseries can, therefore, carry our hearts to humanity – if we live in a society that encourages us to make the imaginative leap into the life of the other. […] Whatever else we are bound by and pursue, we should recognize, at whatever personal or social cost, that each human being is human and counts as the moral equal of every other (Nussbaum [1996] 2002: 132f.).
Für diesen gedanklichen „Sprung“ hin zum Leben der anderen ist der Perspektivwechsel maßgeblich: „If I allow my mind to be formed into the shape of your experience, […] even without concern for you, I am still in a very basic way acknowledging your reality and humanity“ (Nussbaum [2001] 2008: 333). Ist dieser Perspektivwechsel jedoch auf basale Weise gestört, werden die Bedürfnisse der anderen ignoriert und ihr Dasein nicht als gleichwertig anerkannt, ist dies – sowohl für Nussbaum als auch für Arendt – letztlich eine Form des moralisch Bösen (vgl. auch Tronto 1993: 127). Nach dieser Vorstellung ist nicht nur das Politische in Gefahr, wenn Menschen das gemeinsame 212
Menschsein negieren und gegeneinander indifferent werden – die gesamte gemeinsame Mit-Welt würde dadurch potenziell zerstört. Genau hier setzen beide Politische Theorien normativ an: Denn schlimmer und „böser“ als der empathische Folterer, der zumindest den Gefolterten als eigenständiges Subjekt in seinem Objektsein anerkennt (vgl. Nussbaum [2001] 2008: 334) ist laut Nussbaum das, was sie als „evil of utter dehumanization“ (ebd.) bezeichnet – das Böse, das aus der Entmenschlichung erwächst. Und genau dieses Böse ist in der Essenz weitgehend deckungsgleich mit Arendts Interpretation von Eichmanns „Unfähigkeit, jemals eine Sache vom Gesichtspunkt des anderen her zu sehen“ – eine aktive Verweigerung des Mit-Denkens der Positionen anderer Menschen. Ein prägnantes Beispiel hierfür ist natürlich das „Doppelleben“ vieler Nationalsozialist:innen: „Brought up to have empathy for those they recognized as human, they led lives of cultivated imagination with those people; toward those whom they killed and tortured, they denied the very recognition of humanity“ (Nussbaum [2001] 2008: 335). Das Paradox, wonach „[t]he greatest ruffian, the most hardened violater of the laws of society“ (Smith [1759] 2009: 13) durchaus zum Perspektivwechsel fähig ist, macht dabei noch nicht das wirklich Böse aus: Den Theorien Arendts und Nussbaums zufolge ist die Fähigkeit zum Perspektivwechsel auch in ihrer grausamsten Anwendung der Alternative vorzuziehen – nämlich der völligen Absenz dieser Fähigkeit oder profaner und dennoch folgenschwerer Indifferenz. Dann nämlich kann grundsätzlich keine Übereinstimmung einer Emotion oder einer Perspektive erfolgen, die Menschen untereinander erleben und die für Adam Smith maßgeblich für das Wirken von Mitleid und Vorstellungskraft (vgl. Smith [1759] 2009: 22) sowie für die „Harmonie der Gesellschaft“ (Smith [1759] 2009: 28) ist. Dies gilt insbesondere im Hinblick darauf, dass ein „Mangel an Übereinstimmung“ („the want of this correspondence of sentiment“) laut Smith zu einem Abbruch des Miteinandersprechens führt – „we can no longer converse upon these subjects. We become intolerable to one another“ (Smith [1759] 2009: 27). Mit der Sprachlosigkeit und dem damit verbundenen potenziellen Rückzug aus dem Zwischenraum, der sich zwischen der einen und der anderen gebildet hat, verlieren wir laut Arendt den politischen Raum und unsere gemeinsame Welt. Auch jenseits von Gewalt und Terror lässt Indifferenz also insbesondere Demokratien einen hohen Preis zahlen. Wer indifferent gegenüber der gemeinsamen MitWelt und den Mitmenschen ist, wird darüber hinaus kein Engagement zeigen, sich für kleine und große Anliegen einzusetzen, die andere betreffen. Für eine partizipatorische Vorstellung von Politik ist Indifferenz gegenüber der Sache als einer gemeinsamen Angelegenheit mit anderen Menschen, insbesondere im Angesicht menschlicher Fragilität (vgl. H olland-Cunz 2012: 62), fatal. 213
Sowohl Arendt als auch Nussbaum begreifen dieses dystopische und gleichzeitig sehr reale „Böse“ als Tendenz, die potenziell alle Menschen in sich tragen: „The most conspicuous and most dangerous fallacy in the proposition, as old as Plato, ‚Nobody does evil voluntarily,‘ is the implied conclusion, ‚Everybody wants to do good.‘ The sad truth of the matter is that most evil is done by people who never made up their mind to be either bad or good“ (Arendt 1971: 437f.). Beide richten ihre normative Hoffnung, diesem „Bösen“ angemessen zu begegnen oder es gar in seinem Entstehen zu verhindern, auf die Fähigkeit, die den Perspektivwechsel überhaupt erst ermöglicht – die Imagination. Für Arendt basieren alle geistigen Fähigkeiten des denkenden Menschen – vor allem aber die menschliche Urteilskraft – maßgeblich auf der Imaginationsfähigkeit, die daher nicht nur zentral für ihre Interpretation des Charakters Adolf Eichmanns ist, sondern auch für ihre gesamte Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus. Viele der konkreten normativen Vorschläge von Nussbaum zielen ebenfalls eindeutig auf die Förderung dieser Fähigkeit ab, da die Imagination eine Brückenfunktion zwischen dem Subjekt und dem Objekt von Mitgefühl einnimmt. Die Imaginationsfähigkeit muss laut Nussbaum erlernt und immer wieder geübt werden. Dieser kontinuierliche und bewusste Gebrauch der Imagination ist aber auch bei Arendt normativ angelegt – Arendt insistiert, dass man die Vorstellungskraft „lehren“ solle, „Besuche zu machen“ (Arendt [1982] 2012: 68). Damit schließen beide Theorien erneut und quasi nahtlos an die Ideengeschichte an (vgl. v. a. Hume [1739/40] 2003; Schopenhauer [1840] 1977: 253). Adam Smith (1759] 2009: 13) notiert hierzu beispielsweise: „[I]t is by the imagination only that we can form any conception of what are his sensations [die des anderen, AKW].“ In Smiths Mitleidstheorie ermöglicht die Vorstellungskraft erst das Mitgefühl (vgl. Smith (1759] 2009: 13f., 36f.) und stellt eine einmalige Schutzfunktion gegen Verbrechen dar (vgl. Smith [1759] 2009: 17f.). In der Zusammenschau der ansonsten stark voneinander divergierenden Thesen Arendts und Nussbaums zum Mitgefühl, Mitleid und zu den Fähigkeiten, die auf dem Perspektivwechsel beruhen, sticht die Imaginationsfähigkeit eindeutig als normativer Leuchtturm hervor – für den trüben Alltag, in dem wir die Vorstellungskraft für ein gutes Zusammenleben benötigen (Nussbaum), vor allem aber für die herausfordernden dunklen Zeiten, in denen alle Maßstäbe für das eigene Handeln fundamental auf die Probe gestellt werden können (Arendt). Die Vorstellungskraft bildet, wie Arendt in ihrem Denktage buch schreibt, „das Band zwischen den Menschen“, befreie sie aus dem „Selbst-Sinn“ und setze dem einen „Welt-Sinn“ (Arendt 2003: 570) gegenüber. Dass die Imaginationsfähigkeit ein, wenn nicht der, essenzielle(r) Baustein dafür ist, dem ‚Bösen‘ in seinen mannigfachen Ausprägungen gegenüber zu treten und ihm etwas entgegenzusetzen, mehr noch, den öffentlichen Raum 214
sogar aktiv im Sinne eines guten Lebens zu gestalten, wie Nussbaum insistiert, das zeigen beide Theorien auf eindrucksvolle Weise – und sie sollten hierbei durchaus beim Wort genommen werden. Denn die Vorstellungskraft scheint eng mit „motivational habits of civic courage and civic virtue“ (Benhabib 1996: 193) verknüpft zu sein. Das Subjekt ist oft (erst) dann aktiv (politisch) engagiert, wenn es sich die Situation mindestens eines anderen vorstellen kann. Im Idealfall ist dabei aber ein kritisches Bewusstsein über die insbesondere von Young genannten strukturellen Ungleichheitsmechanismen vorhanden (vgl. Kap. 4.3), die den Prozess des Perspektivwechsels maßgeblich beeinträchtigen (können). Diese Schlussfolgerung ist, normativ betrachtet, kein einfacher Befund, da das Einüben und Anwenden der Imaginationsfähigkeit an gewisse Voraussetzungen geknüpft ist: Neben der Tatsache, dass ein Mensch aufgrund der Entwicklung seines Gehirns dazu in der Lage sein muss, ist der Einsatz der Vorstellungskraft maßgeblich sowohl an die Gewohnheit (Nussbaum) als auch den Willen (Arendt) gebunden, diese Fähigkeit überhaupt erst anzuwenden. Der Übung und dem bewussten willentlichen Akt zu einer auf das eigene gute Leben und das der anderen ausgerichteten Imaginationsfähigkeit steht der Zeit- und der Wettbewerbsdruck moderner westlicher Gesellschaften mehr als nur hinderlich gegenüber: Nur wer über geistigen und emotionalen Freiraum verfügt, kann sich auf das Abenteuer einlassen, das ein Perspektivwechsel mit sich bringt; und nur wer letztlich darin auch einen intrinsischen Wert sieht und die Imaginationsfähigkeit nicht nur zu Marketing- oder Manipulationszwecken anzuwenden sucht, kann dessen moralisches Potenzial erfassen. Allerdings – auch die Wirkmächtigkeit der Imagination hat Grenzen: „How capacious is the imagination at its most capacious?“, fragt Elaine Scarry (2002: 102; vgl. auch Muldoon 2014: 161f.) zu Recht. Scarry positioniert konstitutionelle und institutionelle Lösungen für den Umgang mit ‚dem anderen‘ vor störanfälligeren Lösungen, die auf der Vorstellungskraft beruhten (vgl. Scarry 2002: 98ff.). Dieser Ansatz wird letztlich zwar in gewisser Weise auch von Arendt und Nussbaum geteilt, findet allerdings in beiden Theorien keinen konkreten theoretischen Niederschlag und lässt ausformulierte Ideen für die Ausgestaltung entsprechender institutioneller Strukturen und Mechanismen vermissen (vgl. kritisch zu Arendt Benhabib 1996: 30; zu Nussbaum Macdonald 2014: 90). Das ist bedauerlich, denn die Notwendigkeit zu einer institutionellen Schutzgarantie ergibt sich nicht zuletzt auch aus der Tatsache, dass es keinesfalls ausgemachte Sache ist, dass aus einem wie auch immer gearteten Perspektivwechsel überhaupt eine Handlung erfolgen muss (vgl. Wilkinson 2014: 124). Dies gilt für Nussbaum im Übrigen auch für das Mitgefühl:
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People can all-too-easily feel that they have done something morally good because they have had an experience of compassion – without having to take any of the steps to change the world that might involve them in real difficulty and sacrifice […] This does not mean that compassion by itself has bad tendencies; it means that people are frequently too weak to keep their attention fixed on a course of action, and that a momentary experience is frequently much easier for them than a sustained commitment. This gives us reason to insist on going beyond compassion and to focus, as does Kant, on action and institutions (Nussbaum [2001] 2008: 399).
Auch wenn Nussbaum diesen Aspekt zwar kurz anspricht, übergeht ihre Theorie de facto diese Schwierigkeit, in dem sie ein Handeln aufgrund eines Perspektivwechsels oftmals unterstellt (vgl. Nussbaum 2016: 22) – eine Annahme, die von der neurowissenschaftlichen Forschung in dieser Konsequenz nicht bestätigt wird (vgl. Sapolsky 2017: 700). Eine „Tendenz zur empathischen Übererregung“ (Sapolsky 2017: 225) könne wirksames Handeln sogar untergraben. Dieses Verdikt erinnert an Arendts Warnungen vor der Verführung des „Zaubers“, der „erhebenden Gefühle“ der eigenen emotionalen Ergriffenheit. Die Innerlichkeit vieler Spielarten des imaginativen Erlebens kann demnach ein längerfristiges, sicherlich auch ein genuin politisches Handeln im Arendt’schen Sinne verhindern – und ist damit sowohl aus einer feministischen als auch einer demokratietheoretischen Perspektive nicht uneingeschränkt tragbar (vgl. Barbara Holland-Cunz 1994: 241). Dass Nussbaum vage auf die Rolle von Institutionen und damit auf die Notwendigkeit von mehr Distanzierung verweist, ist aus dieser Perspektive folglich zwar sinnvoll; dennoch droht dieser Befund ihre gesamte Vision des motivationalen Emotionsprojektes selbst infrage zu stellen – zumal wenn davon auszugehen ist, dass strukturelle Machthierarchien den emotionalen Prozess empfindlich stören können, wie Carolyn Pedwell (2014: 75) schreibt. Das entscheidende Problem kann erneut mithilfe von Arendts Theorie benannt werden: dass eben, erstens, nicht nur die Fähigkeit vorhanden sein muss, sich die Lage eines anderen zu verbildlichen, sondern auch ganz maßgeblich ein Wille, dies zu tun – auch im Hinblick auf diejenigen, die uns unglaublich fern scheinen, die wir aber unter allen Umständen in unsere ‚Denkbesuche‘ einbeziehen sollten. Und dass, zweitens, die Ergebnisse dieses individuellen mentalen Prozesses schließlich in einen öffentlich-politischen überführt werden müssen. Insofern gilt die von Thomas Gutschker (2002: 459) geäußerte Kritik an früheren Ausführungen Nussbaums auch für ihre aktuellen: dass sie (in ihren Beispielen) letztlich „viel moralische[n] Appell“ anbiete, „aber wenig bis gar keine politische Verpflichtung“. Auch wenn die Imaginationsfähigkeit, das zeigen beide Politische Theorien, enorm wichtig sein kann für das politische Zusammenleben von Bürger:innen, ist sie folglich dennoch keine 216
arantin für (durch Institutionen gestütztes) politisches Handeln. Bin Xu G (2017) hat anhand seiner Studie über das bürgerschaftliche Engagement in China in Reaktion auf das Erdbeben in Sichuan 2008 beispielsweise gezeigt, dass das Mitgefühl immer durch die politischen Möglichkeitenstrukturen gestaltet wird und von diesen abhängig ist. Theodor W. Adorno stützt diese Erkenntnis, dass die Imagination störanfällig ist, mit einer Episode, die auch aus Arendts Anekdotenrepertoire hätte stammen können: Man hat mir die Geschichte einer Frau erzählt, die einer Aufführung des dramatisierten Tagebuchs der Anne Frank beiwohnte und danach erschüttert sagte: ja, aber das [Hervorhebung im Original, AKW] Mädchen hätte man doch wenigstens leben lassen sollen. Sicherlich war selbst das gut, als erster Schritt zur Einsicht. Aber der individuelle Fall, der aufklärend für das furchtbare Ganze einstehen soll, wurde gleichzeitig durch seine eigene Individuation zum Alibi des Ganzen, das jene Frau darüber vergaß. Das Vertrackte solcher Beobachtungen bleibt, daß man nicht einmal um ihretwillen Aufführungen des Anne-Frank-Stücks, und Ähnlichem, widerraten kann, weil ihre Wirkung ja doch, so viel einem daran auch widerstrebt, so sehr es auch an der Würde der Toten zu freveln scheint, dem Potential des Besseren zufließt. Ich glaube auch nicht, daß durch Gemeinschaftstreffen, Begegnungen zwischen jungen Deutschen und jungen Israelis und andere Freundschaftsveranstaltungen allzuviel geschafft wird, so wünschbar solcher Kontakt auch bleibt. Man geht dabei allzusehr von der Voraussetzung aus, der Antisemitismus habe etwas Wesentliches mit den Juden zu tun und könnte durch konkrete Erfahrungen mit Juden bekämpft werden, während der genuine Antisemit vielmehr dadurch definiert ist, daß er überhaupt keine Erfahrung machen kann, daß er sich nicht ansprechen läßt [meine Hervorhebung] (Adorno [1971] 2017: 26).
Adorno ([1971] 2017: 101) diagnostiziert als Grund hierfür eine gesamtgesellschaftliche „Kälte“, die wesentlich für das Aufkommen des Bösen gewesen sei. Genau in dieser „Kälte“ als „Indifferenz gegen das Schicksal der anderen“ (ebd.), in diesem Sich-nicht-ansprechen-lassen, liegt die Grenze des Potenzials der Imaginationsfähigkeit begründet, die sowohl von Hannah Arendt als auch von Martha Nussbaum originär gegen Indifferenz in Stellung gebracht wurde. Denn das grundlegende Problem besteht darin, dass „weder die Fähigkeit zu originellem, feinsinnigem moralischen Denken noch die zu besonders empathischem Empfinden [..] zwangsläufig dazu [führt], dass man auch wirklich etwas Schwieriges, Mutiges und Mitfühlendes tut“ (Sapolsky 2017: 864). Was also gegen eine aktive und ganz bewusste Verweigerung getan werden kann, sich je vorzustellen, was mit dem anderen ist, wenn alle politischen und gesellschaftlichen Strukturen tatsächlich auf die Förderung der Imagina217
tionsfähigkeit ausgelegt sein würden – beide Theorien geben hierauf keine umfassende und befriedigende Antwort. So gilt die Kritik Annette Vowinckels (2001: 234) an Arendts Eichmann-Interpretation – dass der entscheidende charakterliche Mangel des Massenmörders weniger die mangelnde Vorstellungskraft gewesen sei als vielmehr die „moralische Verantwortungslosigkeit“ Eichmanns – letztlich auch für Nussbaums Theorie. Aus der Analyse beider Politischer Theorien zur Imaginationsfähigkeit im Besonderen und zum Mitleid/Mitgefühl im Allgemeinen geht folglich klar hervor, dass ein realistischer Blick auf die positiven Potenziale aber auch die Grenzen der Gestaltungskraft des Perspektivwechsels durchaus angemessen ist. Die alles entscheidende Frage, das hat die Analyse gezeigt, lautet eben nicht: Was ist, wenn die Vorstellungskraft versagt, wenn also das Unvermögen Handlungen beziehungsweise Unterlassungen leitet? Sie lautet vielmehr: Was passiert, wenn trotz des ausreichenden Vermögens zur Imagination und Perspektivwechsel aus Unwillen, Indifferenz oder reiner Bösartigkeit gehandelt oder unterlassen wird? Es verbleibt, so scheint es, letztlich wohl doch ein Rest des „banalen“ oder „radikalen“ Bösen, mit dem zu leben wir uns in Theorie wie Praxis abfinden müssen – oder aber mit der Tatsache, dass das Gutsein(-wollen) eine Wahl ist, die es aktiv zu treffen gilt.
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5 Fazit Die multiplen weltpolitischen Herausforderungen unserer Zeit stellen unser Gutsein(-wollen) auf vielfältige Weise auf die Probe. Klimakrise, UkraineKrieg, Nahostkonflikt, stetig steigende Fluchtmigration, salonfähig gewordener Rechtspopulismus, -extremismus und Antisemitismus, nicht zuletzt auch der Siegeszug künstlicher Intelligenz – diese und andere Katastrophen und Konfliktpotenziale zwingen uns dazu, den Fokus stärker auf dasjenige zu richten, was für uns wesentlich ist: Wir werden endlich nachhaltige Wege finden müssen, die Welt miteinander zu teilen. Nach Jahrzehnten, in denen wir mit neoliberalen Narrativen von Selbstständigkeit, Eigenverantwortung und Selbstfürsorge sozialisiert wurden, ist es daher für mich nicht überraschend, dass das Mitfühlen in den vergangenen Jahren zu einem absoluten Trendphänomen im politischen Diskurs und Handeln avanciert ist. Manch rein machtpolitischer Inszenierung zum Trotz verbirgt sich dahinter, so meine These, das basale Bedürfnis danach, unser Gebundensein wieder stärker anzuerkennen und neue (Ver-)Bindungen zu schaffen, auch und gerade im öffentlichen Raum. Als eine der ersten, auf jeden Fall aber als eine der prominentesten zeitgenössischen Theoretiker:innen hat Martha Nussbaum dieses Bedürfnis politiktheoretisch aufgegriffen – und eine fulminante affirmative Mitgefühlsethik vorgelegt, die in der Forderung nach einer umfassenden staatlich geförderten Mitgefühlskultur kumuliert. Zu Beginn meiner Arbeit war ich dank Nussbaum von der umfassenden positiven Gestaltungsmacht des Mitgefühls überzeugt. Je mehr das Mitleid/Mitgefühl in den vergangenen Jahren allerdings in den Mittelpunkt des politischen Diskurses rückten, desto skeptischer wurde ich. Denn ich konnte weder einen gesellschaftlichen noch einen nennenswerten politikwissenschaftlichen Metadiskurs über demokratietheoretische Grundsatzfragen ausmachen, die sich immer dann stellen sollten, wenn Mitleid/Mitgefühl als Mittel und/oder Ziel des Politischen instrumentalisiert werden: Welche Potenziale und Gefahren resultieren aus dieser speziellen Indienstnahme des Emotionalen in der Politik? Wer herrscht im Mitleiden, und wie nah sollten wir das Schicksal der anderen eigentlich an uns heranlassen? Nussbaums Mitgefühltheorie hält hierzu durchaus Antworten parat, ohne allerdings das volle Spektrum der Potenziale und Gefahren der politischen Nutzbarmachung von Mitleid/Mitgefühl abzubilden. Um zu einem demokratietheoretisch profunden und differenzierten Für und Wider zu gelangen, bot sich eine Theorie an, die der Nussbaum’schen quasi diametral gegenübersteht: Hannah Arendts vernichtendes Urteil über das Mitleid als politische Emotion. 219
In Kapitel 2 trug ich zunächst diese fragmentarische Mitleidstheorie Arendts zusammen. Als besonders markant hat sich in meinen Augen das auf Nietzsche zurückgehende Motiv des „Zaubers“ erwiesen, das sich sowohl in Arendts spezifischer Interpretation der Französischen und Amerikanischen Revolution als auch in ihrer Studie über den Charakter Adolf Eichmanns niedergeschlagen hat – ein Motiv, mit dem sie die Selbstberauschung am (Mit-) Leiden aufs Schärfste kritisiert. Diese Form der Selbstaffizierung untergräbt wahrhaft politisches Handeln demnach auf zweierlei Weise: So führt sie laut Arendt entweder dazu, dass wir den Akt des Fühlens bereits als politischen Akt betrachten und damit genau eines nicht tun – uns wirklich politisch zu engagieren. Oder wir machen uns, einem unmittelbaren Mitleidsimpuls folgend, unmittelbar daran, für andere zu handeln, um ihr Leid zu mildern. Wir vergessen dabei aber fatalerweise, dass es nicht darauf ankommt, füreinander, sondern miteinander zu handeln – ein Prozess, der statt schnellem Zauber zu generieren viel Zeit, aktives Zuhören und respektvolle Zusammenarbeit benötigt. Mit dem Motiv des „Zaubers“ hat Arendt damit einen der meines Erachtens wichtigsten Schwachpunkte der Politisierung des Mitleids schonungslos offengelegt – und damit die entscheidende herrschaftskritische Frage formuliert, mit der wir Mitleids-/Mitgefühlspolitiken untersuchen können: Wem genau dient das Mitleid/Mitgefühl eigentlich wirklich – dem Objekt oder doch eher dem Subjekt der Emotion, das sich am eigenen Fühlen berauscht? Doch auch Arendts Theorie ist nicht frei von Hierarchisierungen, die eine asymmetrische Herrschaftsbeziehung strukturell begünstigen. Hier ist vor allem ihr rigoroser Versuch zu nennen, Emotionalität aus dem Politischen zu verbannen, zugunsten eines unrealistischen und zuweilen elitär anmutenden Denkprimats, das in ihrer Konzeption der „erweiterten Denkungsart“ ihren Kristallisationspunkt findet. Diese gewollte, geradezu störrische emotionsentleerte ‚Sterilität‘ im politischen Miteinander, mit der Arendt vehement das übergeordnete Ziel der Freiheit zu verteidigen sucht, mag gerade vor dem Hintergrund einer von Emotionen durchtränkten politischen Zeit große Anziehungskraft entfalten; trotzdem verstimmt Arendts scherenschnittartige Gleichsetzung von Emotionalität und politischer Unfreiheit insbesondere aus feministischer Perspektive: Zwischenmenschliche Bindungen können mit einer solchen Konzeption wenig bis gar nicht authentisch gelebt beziehungsweise politisch anerkannt werden – auch wenn Arendt durchaus einige, leider aber eher halbgare, Vorschläge für entemotionalisierte Formen politischer Bindung vorgelegt hat: Hier sind das Prinzip der Solidarität sowie Arendts Skizze einer politischen Freundschaft zu nennen. Unstimmig bleibt zudem, dass Arendt zwar die Leidenschaften als Mittel und Ziel von Politik vehement ablehnt, gleichzeitig aber äußerst leiden220
schaftlich für die Leidenschaft, Politik zu machen, plädiert. Diese Diskrepanz könnte sich aus Arendts Biografie als Jüdin, die vor dem Nationalsozialismus fliehen musste, als Staatenlose, und schließlich als erfolgreiche Politische Theoretikerin in einer fast ausschließlich männlich dominierten Disziplin erklären. Und doch war und blieb es für mich irritierend, dass Arendt damit eine maskulinisierte Ausdrucksform öffentlicher Auszeichnung ohne die geringste Spur von Problembewusstsein zelebriert. Im Gegensatz zu Arendt, die das Mitleid aus dem politischen Raum normativ ausblendet, verortet Nussbaum das Mitgefühl sowohl als politisches Mittel als auch als politisches Ziel und setzt es damit, wie in Kapitel 3 gezeigt, ins Zentrum ihres emotionstheoretischen Projekts. Der Fähigkeit zum empathischen Perspektivwechsel kommt nach dieser Interpretation eine wichtige Brückenfunktion zu: Nussbaums unermüdliches Plädoyer dafür, dass wir alle ab frühester Kindheit den Perspektivwechsel systematisch ein- und ihn regelmäßig bis ins hohe Alter ausüben sollen, ist ein besonders bestechender Topos ihrer normativen Mitgefühlsprogrammatik. Damit gibt Nussbaum unserem grundlegenden Bedürfnis nach (Ver-)Bindung in ihrer Theorie viel mehr Raum als Arendt, unterbreitet Vorschläge zur Umsetzung, die nahezu alle Bereiche unseres Zusammenlebens tangieren – das macht diese Politische Emotionstheorie so bestechend. Dennoch weisen Nussbaums Thesen zum Mitgefühl bei genauerem Hinsehen deutliche demokratietheoretische Fallstricke auf: So begünstigt Nussbaums Vorschlag ein deutliches Hierarchiegefüge zwischen den Subjekten und den Objekten des Mitgefühls. Dass Nussbaum als Abhilfe nur Worthülsen vorschlägt, ist mir unverständlich – genauso wie die Tatsache, dass sie sich kaum darum bemüht hat, sich mit den (schwierigen) Fragen nach Legitimationsstrukturen einer umfassend staatlich gesteuerten Mitgefühlkultur zu beschäftigen. Diese mangelnde demokratietheoretische Profundität ihrer Vision ist enttäuschend, gerade auch im direkten Vergleich mit den kritischen Thesen Arendts. Sie ist jedoch, so mein Eindruck, nicht auf mangelndes Können Nussbaums zurückzuführen, sondern auf eine bewusste Entscheidung, auf Reichweite denn auf Tiefe zu setzen. So verfolgt sie erklärtermaßen das Ziel, ein emotionspolitisches Programm auch unabhängig von Demokratie zu denken; außerdem hat sie ihre Emotionstheorie im vergangenen Jahrzehnt zwar immer wieder aktualisiert, vor allem aber populärwissenschaftlich in die gesellschaftliche Breite vermittelt, statt sie dezidiert und detailliert politiktheoretisch auszubauen. Wie stark diese inhaltliche Asymmetrie zwischen den Thesen Arendts und Nussbaums zutage tritt, hat mich im Verlauf meiner Analyse tatsächlich überrascht. Gerade deswegen aber lohnt sich das systematische Gegen- und Miteinanderdenken beider Theorien zum Mitleid/Mitgefühl, deren Ergebnisse ich 221
in Kapitel 4 festgehalten habe. Der Vergleich hat zunächst aufschlussreiche Divergenzen zwischen den beiden Theorien offengelegt: So bildet politische Differenz in Arendts Theorie die conditio sine qua non politischen Handelns – eine notwendige Bedingung, die in Nussbaums Vision auf grundlegende Weise gefährdet ist. Die paternalistischen und koerziven Züge, die durch ihre normative Mitgefühlsprogrammatik durchscheinen, lassen befürchten, dass die Pluralität von Interessen, Meinungen und (Lebens-)Wegen zumindest punktuell geopfert werden müsste, um dem übergeordneten politischen Ziel der „public culture of compassion“ nahezukommen. Dass Nussbaum kaum nennenswerte Vorschläge macht, wie konstruktiv mit Dissens zu einer solchen Programmatik umgegangen werden soll, hat meine Skepsis gegenüber Nussbaums Vorschlägen weiter verstärkt. Das Gegen- und Miteinanderdenken hat somit Unstimmigkeiten innerhalb und Divergenzen zwischen den Theorien Arendts und Nussbaums zutage befördert. Ich konnte aber auch zwei interessante Konvergenzpunkte ausmachen, die der weiteren Reflexion über die Wirkmächtigkeit politischen Mitleids/Mitgefühls in Theorie und realpolitischer Praxis dienlich sind: So plädieren beide Denkerinnen erstens für die unbedingte Wahrung von Distanz in allen Spielarten mitfühlender, mitleidender oder mitdenkender Interaktion. Im Einklang mit der ideengeschichtlichen Tradition warnen sie vor einer allzu ausgeprägten Identifikation mit anderen. Hingabe bis zum Selbstverlust gefährdet demnach die eigene Handlungsfähigkeit und Identität(-skonstruktion) – und das sowohl beim Subjekt als auch beim Objekt von Mitleid, Mitgefühl sowie den Fähigkeiten, die auf dem Perspektivwechsel beruhen. Distanz ist auch deshalb unerlässlich, weil wir uns nur aus der Entfernung unsere eigene Rolle im Leiden des anderen vergegenwärtigen und damit Verantwortung für unser Tun übernehmen können. Erst die nötige Distanz macht folglich eine wirklich konstruktive politische Nähe möglich. Arendt und Nussbaums Theorien kreuzen sich, zweitens, in ihrem jeweiligen Plädoyer für den Perspektivwechsel: Das „banale“ (Arendt) beziehungsweise „radikale“ (Nussbaum) Böse entsteht demnach aufgrund der Unfähigkeit, sich auf einen geistigen Perspektivwechsel einzulassen. Daraus folgt im Umkehrschluss: Sich in die Lage unserer Mitmenschen zu versetzen – das ist für beide, Arendt und Nussbaum, eine, wenn nicht die Voraussetzung dafür, dass Demokratie überhaupt funktionieren kann, mehr noch, für ein grundlegendes Miteinander in einer geteilten Welt. Beide Theorien geben die klare normative Empfehlung, die Fähigkeiten, aber auch die Willensbildung, zum Perspektivwechsel individuell (Arendt) und kollektiv (Nussbaum) zu fördern. Ihr großes Potenzial entfaltet diese Alternative zum Mitleid beziehungsweise Mitgefühl besonders dann, wenn die Zeiten düster sind. Angesichts eines radikalen Verweigerns, die gemeinsame Menschlich222
keit anzuerkennen und die körperliche und seelische Unversehrtheit anderer zu wahren, wird der Perspektivwechsel letztlich zwar keine Wunder vollbringen können. Er kann uns aber dabei helfen zu verstehen, dass ‚die Welt‘ nicht nur aus unserer eigenen, sondern aus unzähligen individuellen Welten besteht. Aus dieser Erkenntnis erwächst eine große Verantwortung – aber hoffentlich auch ein Gefühl des Glücks, dieses vielfältige Leben mit anderen zu teilen.
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Dank Viele Jahre habe ich, mal „hauptberuflich“, mal „nebenberuflich“, für dieses (Promotions-)Projekt gelesen, gedacht und geschrieben. Auch wenn ich nicht alle Personen aufführen kann, die mich in den verschiedenen Arbeitsphasen unterstützt haben, bin ich ihnen allen zu tiefstem Dank verpflichtet. Ganz besonders möchte ich mich bei Prof. Dr. Barbara Holland-Cunz bedanken. In ihren Seminaren habe ich nicht nur die Politischen Theorien Arendts und Nussbaums kennen- und schätzen gelernt, sondern mein eigenes politiktheoretisches Denken überhaupt erst ausbilden dürfen. Sie hat mich zum Promovieren ermutigt, über all die Jahre hinweg an diese Arbeit geglaubt und mich mit großem Engagement und Interesse hervorragend betreut. Mein herzlicher Dank gilt auch Ute Schneider, die mir frohgemut dabei geholfen hat, die Formalitäten der Promotionszeit erfolgreich zu meistern. Ich danke Dr. Dan Degerman für den netten und fruchtbaren kollegialen Austausch und Dr. Verbena Giambastiani, die mich auf die politische Freundschaftskonzeption in Arendts Theorie aufmerksam gemacht hat. Bedanken möchte ich mich auch bei Prof. Jude Browne für die Einladung an die Universität Cambridge. Dort habe ich meine Thesen zu Arendt auch dank der Unterstützung Prof. Seyla Benhabibs schärfen können. Das Stipendium der Friedrich-Ebert-Stiftung hat es mir ermöglicht, zu promovieren und gleichzeitig Familie zu leben. Dafür bin ich sehr dankbar, genauso wie für das Abschlussstipendium der JLU, das mir das ‚Doppelleben‘ als Mutter und Promovendin deutlich erleichtert hat. Dazu haben auch Dr. Lothar Bauer und Dr. Joachim Recktenwald beigetragen, die das Manuskript aufmerksam gelesen und kommentiert haben. Ihnen und auch Paula Tuschling sei herzlich gedankt, die das Literaturverzeichnis in Form gebracht hat. Meine Freundinnen haben Freud und Leid des „Dissens“ stets mit mir geteilt: Liebe Jessica, liebe Steffi, mit euch zusammen hat es besonders viel Spaß gemacht, dieses Projekt zu beginnen; liebe Eva (Hilus), du hast dich in diese Arbeit eingedacht wie in deine eigene und mich mit viel Energie und Tatkraft dabei unterstützt, sie fertigzustellen. Liebe Nadja, du hast mir Zeit zum Arbeiten geschenkt und dich noch am Abend vor der Abgabe mitten in die Formatierung gestürzt. Liebe Sandra, mit dir durfte ich meinen Alltag in herausfordernden Zeiten teilen und nebenbei viel über das menschliche Fühlen erfahren. Liebe Thea, du hast diese Arbeit Korrektur gelesen – vor allem aber hast du mich immer ermutigt und begleitet, und das weit über „die Diss“ hinaus. Mein größtes Dankeschön an euch, und natürlich auch an Kerstin, Sabrina und Eva (Diehl) für die Unterstützung im (langen) „Endspurt“.
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Dieses Buch ist meiner wundervollen Familie gewidmet. Meine Mutter und mein Vater haben mir alles Wichtige für ein gutes Leben mit auf den Weg gegeben und immer an mich geglaubt. Von Herzen danke, liebe Mama und lieber Papa (ich vermisse dich sehr…)! Ohne die allerbeste Schwester der Welt hätte ich dieses Buch wohl nie fertigstellen können: Unzählige Stunden kostbarer Arbeitszeit und rückhaltlose Unterstützung hast du, liebe Dagmar, mir geschenkt. Wie froh ich bin, dass ich dich habe! Lieber Stefan, ich danke dir für die Köstlichkeiten, mit denen du mich immer gestärkt hast, und dir, lieber Ben, dass ich mit dir über kleine und große Fragen philosophieren und dabei immer deinen gradlinigen inneren Kompass, dein gutes Herz, bestaunen darf. Lieber Marc, das Denken und Schreiben dieser Arbeit hat viele Jahre unserer gemeinsamen Zeit in Anspruch genommen. Du hast „die Diss“ mitgetragen, für mich – oft mehr, als mir bewusst war. Dass wir die wunderschöne und gleichzeitig herausfordernde Fülle an Leben gemeinsam meistern, bedeutet mir sehr viel: Danke! Und natürlich möchte ich meinen Kindern danken. Erst durch euch weiß ich, was Arendt damit gemeint hat, dass mit jeder Geburt ein Neuanfang in die Welt kommt. Ihr wollt staunen und verstehen, teilhaben, sorgen, mit anderen sein und zusammen gestalten: Ihr verkörpert die Liebe zur Welt, von der in dieser Arbeit die Rede ist.
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Für die Primärliteratur habe ich, soweit möglich und relevant, das Originalerscheinungs datum in eckigen Klammern notiert, da ich die zeitliche Einordnung der Schriften als wichtig erachte. Für die Sekundärliteratur habe ich, mit Ausnahme wichtiger ideengeschichtlicher Quellen, im Sinne der Lesefreundlichkeit auf diesen Schritt verzichtet.
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