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German Pages [240] Year 2008
Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung Herausgegeben von Clemens Vollnhals Band 35
Vandenhoeck & Ruprecht
Hannah Arendt weitergedacht Ein Symposium
Herausgegeben von Lothar Fritze
Vandenhoeck & Ruprecht
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-525-36913-5 Umschlagabbildung: Hannah Arendt Quelle: Getty Images International Limited
© 2008, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Satz: Hannah-Arendt-Institut, Dresden Druck und Bindung: h Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Inhalt
Einleitung Lothar Fritze
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I. Politisches Exil und wissenschaftlicher Denkweg
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Zwischen Europa und Amerika Hannah Arendts Wanderungen durch die politische Ideengeschichte Alfons Söllner
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Hannah Arendts politische Wissenschaft als Wissenschaft von der Welt Karl-Heinz Breier
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II. Denken des Politischen Die Produktivität der Macht Hannah Arendts Revolutionierung des klassischen Begriffs der Politik Hauke Brunkhorst Repräsentation oder politisches Handeln? Ein möglicherweise falscher Gegensatz im Denken Hannah Arendts Winfried Thaa
III. Totale Herrschaft Dialektik der totalen Herrschaft Paradoxien eines idealtypischen Totalitarismusbegriffs Lothar Fritze Eine Theorie der Erschöpfung totalitärer Expansionskraft Zur Revision von Hannah Arendts Totalitarismuskonzeption Achim Siegel
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Inhalt
IV. Antisemitismus und Erklärung des Bösen
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Das „Böse“ und der „Traditionsbruch“ bei Hannah Arendt Peter Trawny
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„The scramble for Africa“ Hannah Arendts paradoxer Versuch, den Holocaust aus dem Kolonialismus herzuleiten Micha Brumlik
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Moderner Antisemitismus? Hannah Arendts „Eichmann in Jerusalem“ Julia Schulze Wessel
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V. Kritik der Menschenrechte und die „Idee des Politischen“
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Hannah Arendts Kritik der Menschenrechte Werner Becker
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Wird Hannah Arendts Werk überschätzt? Friedrich Pohlmann
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Anhang
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Das Mädchen aus der Fremde Hannah Arendt und das Leben auf lauter Zwischenstationen Joachim Fest
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Autorenverzeichnis
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Einleitung Lothar Fritze Der 100. Geburtstag Hannah Arendts (14. Oktober 1906 – 4. Dezember 1975) war für das Hannah - Arendt - Institut für Totalitarismusforschung an der TU Dresden Anlass, der Namensgeberin des Instituts mit einem dreitägigen Symposium zu gedenken. Die Bedeutung dieser originellen, aber auch unkonventionellen Denkerin bedarf an dieser Stelle kaum einer Erwähnung. Nur wenige Philosophen und Sozialwissenschaftler des 20. Jahrhunderts dürften einen vergleichbaren geistigen Einfluss auf die Debatten in Wissenschaft und Öffentlichkeit gewonnen haben wie Hannah Arendt. Gleichzeitig waren nur wenige so umstritten, haben nur wenige derart polarisiert und sahen sich nur wenige derart intensiven Anfeindungen ausgesetzt wie sie. Eine Reihe ihrer Thesen und Überlegungen stießen auf energischen Widerspruch und lösten geradezu hasserfüllte Debatten aus, die teilweise noch heute weitergeführt werden. Die Rezeption ihres Werkes hat nach der Epochenwende 1989 einen kaum vorhersehbaren Aufschwung erlebt, der die Literatur über sie und ihr Denken nachgerade sprunghaft auf einen Umfang hat anwachsen lassen, der eine Sichtung wahrscheinlich selbst für Spezialisten nur noch mit Mühe möglich macht. Hannah Arendts Werk ist für die Mitarbeiter des Hannah - Arendt - Instituts für Totalitarismusforschung relevant, insofern es für die Totalitarismusforschung von Bedeutung ist. Das im Jahre 1993 gegründete Institut ist keine Einrichtung für Hannah Arendt - Forschung – obwohl dies fälschlicher weise mitunter angenommen wird. Entsprechend seiner Satzung widmet sich das Institut in der Hauptsache den beiden deutschen Diktaturen des 20. Jahrhunderts, und seine Mitarbeiter versuchen auf ganz unterschiedliche Weise – multidisziplinär und durchaus auch interdisziplinär –, sich diesem Gegenstand zu nähern. Arendt ist für die Institutsmitarbeiter eine Theoretikerin des Totalitarismus unter anderen Theoretikern des Totalitarismus. Hannah Arendt hatte früh die „Wesensver wandtschaft“ von Hitlerschem Nationalsozialismus und Stalinschem Sowjetkommunismus erkannt. Indem sie die Grenze nicht zwischen Faschismus und Antifaschismus, sondern zwischen Totalitarismus und westlichen Demokratien zog, hatte sie eine der Siegermächte des Zweiten Weltkrieges gleichsam in das „Reich des Bösen“ verbannt. Sie widersprach damit der marxistisch - leninistischen Interpretation des Faschismus, die in diesem eine gewalttätig - aggressive Form der bürgerlichen Herr-
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schaft sehen wollte, aber kein strukturelles Analogon zur bolschewistischen Herrschaftsform. Mit dieser Sichtweise lag sie quer zu wesentlichen Strömungen des Zeitgeistes. Der Analyse struktureller Ähnlichkeiten der in der inhaltlichen Ausrichtung ihrer Ideologien so unterschiedlichen Systeme des Nationalsozialismus und des Bolschewismus hat sie wichtige Teile ihres Werkes gewidmet. Ihre übergeordnete Sorge jedoch bezog sich auf die Bedrohung der Freiheit des Einzelnen in den modernen Massengesellschaften. Als Analytikerin der Moderne und als eine „weltliche Denkerin“ war sie nicht zuletzt von der Frage umgetrieben, wie in einer säkularen Welt und damit ohne Bezugnahme auf Gott ein menschliches Zusammenleben auf eine human verträgliche Weise möglich ist. All dies sind Probleme, die im Zentrum der Totalitarismusforschung stehen. Hannah Arendts Werk stößt somit in vielerlei Hinsicht auf das Interesse von Totalitarismusforschern. Auf drei Problemkreise sei an dieser Stelle hingewiesen. Erstens : Man wird nach dem Buch Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft kaum noch darüber diskutieren wollen, ob ein Vergleich von Bolschewismus und Nationalsozialismus sinnvoll und legitim ist oder nicht. Der Teil III dieses Werkes sollte vielmehr die Dringlichkeit dieses Vergleiches für jeden unabweisbar gemacht haben, der die Katastrophen des vergangenen Jahrhunderts verstehen will. Das nach wie vor Erschütternde eines solchen Vergleichs besteht in der Erkenntnis, dass nicht nur eine partikularistische und zudem rassistische Ideologie, sondern auch eine Ideologie mit universalistischem Anspruch, die sich selbst der Tradition der Aufklärung und des Humanismus verpflichtet fühlt, tatsächlich oder scheinbar geeignet ist, ein opferträchtiges Handeln großen Stils zu rechtfertigen. Zweitens : Arendt hat in vielfältiger Weise ein Problem thematisiert, das für das Verständnis repressiver Systeme grundsätzlich von Bedeutung ist – nämlich das Problem des Verhaltens des Einzelnen in der Diktatur. Sie hat zum einen um ein Verständnis moralisch verwerf lichen Verhaltens auf der Täter - Seite gerungen und hat in diesem Zusammenhang auf die besondere Problematik einer Be - und Verurteilung von Tätern aufmerksam gemacht, denen selbst jedes Unrechtsbewusstsein fehlt und die sich, wie sie schrieb, als moralisch unzurechnungsfähig erwiesen haben. In der Tradition Kants stehend, hat sie insbesondere bei ihrer Analyse Eichmanns auf den Zusammenhang zwischen Denken und moralischem Handeln hingewiesen und deutlich gemacht, dass es ein Mangel an Vorstellungsvermögen, eine „Realitätsferne“ und „Gedankenlosigkeit“ waren, die ihn zu einem der größten Verbrecher jener Zeit prädisponierten. Zum anderen hat sie – und zwar am Beispiel der Kollaboration der Judenräte – gezeigt, dass und wie Schuld auch auf der Opfer - Seite entstehen kann. Drittens : Wiederholt hat Arendt einen Zusammenhang zur Sprache gebracht, der nicht nur für das Verständnis geschichtlicher, sondern auch für die Vermeidung zukünftiger totalitärer Systeme von Bedeutung ist – den Zusammenhang zwischen der menschlichen Bedürfnisstruktur einerseits und den Erfolgsaussichten, bestimmte politisch - soziale Systeme zu etablieren anderer-
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seits. Sie hat damit die Verführungskraft totalitärer Systeme thematisiert und diese Verführungskraft in einer Kompensation von Defiziten der modernen Welt, insbesondere der – wie sie jedenfalls meinte – in Massengesellschaften beförderten Tendenz der „Atomisierung“ des Einzelnen, erblickt. Zweifellos war Hannah Arendt eine anregende Denkerin – die möglicherweise gerade auch durch ihre Problemstellungen in der Zukunft weiterwirken wird. Ganz in diesem Sinne waren die eingeladenen Wissenschaftler – Philosophen, Politologen, Soziologen und Historiker – aufgefordert, unter der Generalüberschrift „Hannah Arendt weitergedacht“ Ideen, Problemstellungen und Überlegungen Hannah Arendts aufzugreifen und gegebenenfalls kritisch weiterzuführen. Dem Auftrag des Instituts gemäß, nämlich „Vergangenheit aufzuhellen“, so der Gründungsdirektor Alexander Fischer, konnte wohl niemand an einer lediglich der unkritischen Verehrung und der bloßen Huldigung dienenden Veranstaltung interessiert sein. Und vermutlich hätte es auch Hannah Arendt gefallen, zu sehen, dass ihr Werk als Anregung begriffen wird, weiter über die Dinge nachzudenken, die im Mittelpunkt ihres wissenschaftlichen Interesses standen. Der Chemnitzer Politikwissenschaftler Alfons Söllner rekonstruiert Hannah Arendts Denken anhand ihrer drei wichtigsten Monographien – den Büchern Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft aus dem Jahre 1951, Vita activa von 1958 sowie dem fünf Jahre später publizierten Über die Revolution. Söllner, der in dieser „politikwissenschaftlichen Trilogie“ eine „höchst originelle Neuvermessung des ideengeschichtliches Horizontes“ sieht, geht von der Überlegung aus, dass die Wanderung von Europa über Frankreich nach Amerika Arendts Denken und Schreiben erkennbar geprägt hat. Diese Ausgangsvermutung findet er auch bestätigt : „Die Denkwege, die sie in ihrer monumentalen Trilogie zurückgelegt hat, waren sicherlich ein Ergebnis von Vertreibung, Exil und der Ankunft in der ‚neuen Welt‘, aber mehr noch markieren sie konkrete und sich verändernde Orte auf der Landkarte des 20. Jahrhunderts. Wirklich kompliziert aber wird diese Konstellation dadurch, dass diese ideenpolitische Topographie in das ‚weite Feld‘ der gesamten abendländischen Geschichte zurückprojiziert wurde.“ Schließlich, so Söllner, spitze Hannah Arendt ihre Fragestellung auf eine scharfe Alternative zu, in der Europa, speziell Frankreich, und die USA als zwei konkurrierende Modelle von „richtiger Politik“ gegeneinandergestellt würden. Arendt sei es um die Frage gegangen, „was unter Politik überhaupt zu verstehen sei und in welcher Weltgegend die besten Bedingungen gegeben sind, um im Strudel der Moderne politisches Handeln überhaupt noch vorstellbar zu machen“. Während das französische Modell der Schaffung eines modernen Nationalstaates in Arendts Perspektive als Verhängnis erschien, sei es ihr letztlich um die Verstärkung des amerikanischen Modells und der dazugehörigen Traditionsbestände gegangen. Karl - Heinz Breier, Politikwissenschaftler in Kiel, unternimmt den Versuch, Hannah Arendts Denkweg als politische Denkerin und Denkerin des Politischen zu skizzieren. Dabei begreift er Hannah Arendts politische Wissenschaft
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als Wissenschaft von der von Menschen konstituierten Welt – einer Welt, die nicht durch ein einfaches Nebeneinander, sondern ein menschliches Mit- und Füreinander geprägt ist. Ausgehend von ihrer Doktorarbeit über den Liebesbegriff bei Augustin bis zum unvollendeten Spätwerk Vom Leben des Geistes arbeitet Breier Arendts Begriff des Politischen heraus und zeigt dabei insbesondere den übereinstimmenden Bezugspunkt des politischen Denkens von Arendt und Machiavelli. Für beide stehe das Tätigsein, die Gestaltungs- und Tatkraft von Handelnden, im Zentrum der Überlegungen. Im Bereich des Politischen würden weder christliche Weltabgewandtheit noch philosophische Kontemplation, sondern in erster Linie Mut verlangt – Mut, die eigene Person im öffentlichen Handeln zu erkennen zu geben. In diesem Zusammenhang macht Breier deutlich, dass es bei Arendt nicht um eine Verklärung der Polis geht, sondern um die Rückgewinnung einer in der Polis gemachten Erfahrung, nämlich der Erfahrung, dass das Politische an Öffentlichkeit gebunden ist. Die politischen Institutionen einer Republik erführen ihre Legitimation über das öffentliche Begründen von Entscheidungen und Handlungen. Darüber hinaus aber sähe Arendt im Politischen auch eine anthropologische Dimension. Inmitten aller natürlichen und physischen Vergänglichkeit stabilisiere es einen weltlichen Raum, der den Sterblichen für die Dauer ihrer Anwesenheit auf der Erde eine Heimat gibt. Der Flensburger Soziologe Hauke Brunkhorst, auf der Tagung selbst nicht anwesend, analysiert Hannah Arendts Begriff der Politik, insbesondere die Wandlungen ihres Machtbegriffs sowie ihre verschiedenen Ansätze, den „Ursprung des Totalitarismus“ zu identifizieren. Letzteren verorte sie zunächst, so Brunkhorst, in einem reflexiven Mechanismus der Machtsteigerung, einem Mechanismus, der mit jeder seiner Bewegungen mehr Macht erzeugt und „die neue, bürgerlich - kapitalistische Gesellschaft zu imperialistisch entgrenzter Selbstproduktion und Selbststeigerung von Kapital und Macht antreibt“ und auf diese Weise in einer rasant expandierenden Gesellschaft „den Staat als öffentliche Angelegenheit aller Bürger vernichtet“. Später habe sie den Ursprung des Totalitarismus in den Nationalstaat selbst zurückverlegt und ihre Kritik der modernen Gesellschaft auf deren demokratische Staatsverfassung erweitert. Arendts Machtbegriff, den sie in Vita activa und Über die Revolution entfaltet, nennt Brunkhorst schließlich „eine verblüffende Uminterpretation und Erweiterung des Machtbegriffs der Ursprünge totaler Herrschaft“. Reflexive und deshalb entgrenzte Macht erscheine jetzt nicht mehr ausschließlich destruktiv. Sie werde als eine „öffentliche Sache“ begriffen, die dem Machthaber nicht verfügbar ist. Für Brunkhorst ist die „überraschende Synthese des modernen Begriffs einer hoch beweglichen, unbegrenzt steigerbaren und vollständig reflexiven Macht mit dem klassischen Verständnis des Politischen als öffentliche Angelegenheit“ eine „beeindruckende Innovation in der politischen Theorie“. Den Denkeinstieg für Winfried Thaa, Politikwissenschaftler in Trier, bildet ein merkwürdiger Kontrast : einerseits eine ganz ungewöhnliche Popularität, der sich das Arendtsche Denken seit fast zwanzig Jahren erfreue, andererseits die Tatsache, dass ihr enthusiastischer Politikbegriff – zusammengefasst in der
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Behauptung „der Sinn von Politik ist Freiheit“ – in der modernen Demokratietheorie kaum eine Rolle spiele. Thaa vermutet den Grund dafür in Arendts Kritik des Repräsentationsprinzips. Ziel seiner Ausführungen ist es zu zeigen, dass, „ungeachtet aller Vereinseitigungen“, die Arendtsche Auseinandersetzung mit der modernen repräsentativen Demokratie nicht als Ablehnung des Repräsentationsprinzips gelesen werden muss, sondern vielmehr einen Ausgangspunkt für Überlegungen zu ihrer Reform bilden kann. Für Arendt nämlich, die allerdings keine allgemeine Theorie der Repräsentation entwickelt habe, seien Meinungsvielfalt, Konflikt und politische Opposition Sicherungen gegen die Gefahr einer „einheitsverkörpernden Macht“ gewesen. Diese Sicherungen müssten durch eine „Institution, in der die Mannigfaltigkeit der Meinungen eine legitime Repräsentation findet“, stabilisiert werden. Eine „dem Politischen adäquate Rationalisierung unseres Handelns“, so rekonstruiert Thaa den Gedanken Arendts, könne in einer Welt, der es an absoluten Maßstäben fehle, nur erreicht werden, wenn wir „auch aus der Perspektive der anderen denken“. Eine Voraussetzung dafür leiste nicht die direkte, sondern die repräsentative Demokratie, indem sie die unterschiedlichen Meinungen präsentiere, die mannigfaltigen Meinungen zu überschaubaren Alternativen strukturiere und damit Sachfragen entscheidbar mache. Der Herausgeber des vorliegenden Bandes versucht den Nachweis zu führen, dass die Arendtsche Bestimmung des Terrors als eines notwendigen Merkmals des Begriffs der totalitären Diktatur unzweckmäßig und in einem bestimmten Sinne unhaltbar ist. Der Nachweis wird mit Hilfe eines Gedankenexperiments geführt, welches deutlich machen soll, dass idealtypisch vollendet gedachte totalitäre Systeme ohne Terror auskommen können. In einem solchen ( praktisch unrealisierbaren ) System wären die Herrschaftsunter worfenen auf dem Wege einer vollständigen Indoktrinierung von der Systemideologie überzeugt worden; sie würden den Befehlen der Führungselite im Bewusstsein der Freiwilligkeit folgen und die Macht der Herrschenden als zu Recht bestehend anerkennen. Damit aber wäre nicht nur der Terror als Herrschaftsmittel überflüssig geworden, vielmehr hätte sich der Totalitarismus im Moment seiner Vollendung scheinbar selbst aufgehoben. Diese Konsequenz hält der Herausgeber allerdings für inakzeptabel und zieht daraus die Schlussfolgerung, dass Terror nicht als ein unverzichtbares Merkmal totalitärer Systeme betrachtet werden sollte. Ein solches Merkmal sei jedoch die staatlich organisierte und monopolisierte Indoktrination im Sinne der Systemideologie. Ausgehend von einer Rekonstruktion von Hannah Arendts Totalitarismuskonzeption legt der Freiburger Soziologe Achim Siegel eine Theorie der Erschöpfung totalitärer Expansionskraft vor. Als empirischer Prüfstein dient ihm der sowjetische Stalinismus, weniger der Nationalsozialismus. Gerade am Stalinismus zeigten sich, so Siegel, die Erklärungslücken von Arendts Totalitarismuskonzeption : Arendt unterschätze offenbar das endogene Entwicklungspotential einer totalitären hin zu einer post - totalitären Herrschaftsform; zudem neige sie dazu, auch die Wandlungen innerhalb des sowjetischen Stalinismus
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(1930–1953) zu übersehen – Wandlungen, die im Rahmen von Siegels Theorie bereits für den Nachkriegsstalinismus typische Anzeichen einer Erschöpfung der totalitären Expansionskraft darstellten. Siegel geht bei seinen Überlegungen theoretisch - deduktiv vor : Er erklärt die historischen Entwicklungen auf der Basis relativ abstrakter Modelle, die er anschließend schrittweise konkretisiert, um dann die historischen Entwicklungen den theoretisch modellierten zuordnen zu können ( Methode der „Idealisierung und Konkretisierung“). In seiner Theorie identifiziert Siegel hauptsächlich zwei Faktoren für die nachlassende Expansionskraft totalitärer Regime : Erstens die Reduktion des utopisch - fiktiven Gehalts der Ideologie und damit einhergehend das Nachlassen des ideologischen Eifers der totalitären Herrscher bei der Umsetzung ihrer politischen Ziele; zweitens das allmähliche Wiederauf leben autonomer Handlungsbereiche der Beherrschten. Dies gebe letzteren – zumal im Zusammenspiel mit dem zuerst genannten Faktor – wieder die Kraft für eine innere Abwendung vom Regime. Beide Faktoren werden von Siegel nicht einfach ad hoc als „Faktoren“ behauptet, sondern der Autor versucht, sie endogen – als reguläres Resultat der Entwicklung totalitärer Herrschaft – zu erklären. Kaum ein anderes Buch dürfte je eine derart scharfe Kontroverse ausgelöst haben wie Hannah Arendts Prozessbericht Eichmann in Jerusalem. Die Dresdener Politikwissenschaftlerin Julia Schulze Wessel wendet sich gegen einen der Hauptvor würfe, Arendt hätte in ihrem Buch über Adolf Eichmann mit ihrem Antisemitismusbegriff gebrochen und die herausragende Bedeutung des Antisemitismus für die Erklärung des Täterverhaltens abgeschwächt. Gegen diese Kritik versucht Schulze Wessel den Nachweis zu führen, dass Eichmann in Jerusalem vielmehr „die konsequent zu Ende erzählte Geschichte des modernen Antisemitismus“ verkörpere. Sie zeigt, wie sich Inhalt und Funktion des Antisemitismus im totalitären Staat verändert haben, und verteidigt die These, dass selbst eine massenmörderische Tätigkeit ohne eine dahinterstehende Ideologie und entsprechende Überzeugung denkbar ist. Peter Trawny, Philosoph an der Universität Wuppertal, geht in seinem Beitrag Hannah Arendts Holocaust - Deutung nach, speziell ihrer Behauptung, im Ereignis des Holocaust hätte sich ein bisher unbekanntes Böses manifestiert. Arendt sei von einem „Traditionsbruch“ ausgegangen – der Tatsache, dass sämtliche abendländischen Ideen und Begriffe von Gut und Böse zerbrochen seien. Unklar sei allerdings, ob Arendt den Zusammenbruch dieser Ethik als Ursache oder Folge dieses geschichtlichen Ereignisses interpretiert habe. Trawny rekonstruiert Arendts Kritik an klassischen Bestimmungen des Bösen und weist schließlich auf einen Widerspruch hin, den Arendts Denken unablässig zu formulieren gezwungen sei : Einerseits betone sie, dass der „Traditionsbruch“, den der Holocaust darstelle, alle bestehenden Kriterien zerstört habe, andererseits aber nehme sie zum Holocaust eine eindeutige moralische Haltung ein. Trawny vermutet, dass Hannah Arendt den Unterschied von Recht und Unrecht, von Gut und Böse, den sie weder begründet noch jemals in Frage gestellt habe, für „natürlich“ hielt.
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In einem öffentlichen Abendvortrag widmete sich Micha Brumlik, Philosoph und Erziehungswissenschaftler aus Frankfurt am Main, dem Versuch Hannah Arendts, den Holocaust aus dem Kolonialismus herzuleiten. Gedanklicher Ausgangspunkt ist die Vermutung, dass sich die industrielle Massenvernichtung, wie sie in den nationalsozialistischen Vernichtungslagern betrieben wurde, „schon Jahre früher in Europas Kolonien, in den Ländern des Südens“ angekündigt habe. Brumlik diskutiert die These, „dass der industrielle Massenmord an den europäischen Juden seiner Systematik und Genealogie nach einen Reimport kolonialer Tötungspraxen“ in den europäischen Raum darstellt. Vertreter dieser „Kolonialhypothese“ beriefen sich dabei auf Ausführungen von Arendt in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Brumlik versucht zu zeigen, dass Arendt zwar eine richtige historische Intuition hatte, diese aber „aufgrund ihrer eigenen rassistischen Vorurteile nicht angemessen entfalten konnte“, sodass ihre genealogische Vermutung letztlich auch nicht nachgewiesen sei. Der Gießener Philosoph Werner Becker setzt sich kritisch mit dem Hannah Arendtschen Verständnis der Menschenrechte auseinander, dem zufolge es sich bei diesem Konzept um eine Aporie bzw. Paradoxie handele. In Arendts Augen stellte die Idee der Menschenrechte „einen der Grundzüge totalitären Denkens in der politischen Philosophie der Moderne zur Verfügung“. Die „Verquickung“ der Idee der Menschenrechte mit dem Konzept der demokratischen Volkssouveränität habe nach Arendt jener Entrechtung von Menschen – sie dachte hier an die Staatenlosen und Vertriebenen – Vorschub geleistet, zu der es in den kollektivistischen Diktaturen der Sowjetunion und Hitler - Deutschlands später real kam. Becker zeigt zunächst, dass die Behauptung einer Aporie bzw. Paradoxie des Menschenrechtskonzepts auf einer unhaltbaren Annahme beruht, um sich anschließend der Frage zu widmen, was den Menschenrechten eigentlich jene Unantastbarkeit verleiht, von der in jeder freiheitlichen Verfassung ausgegangen wird. Zur Lösung dieses Problems präsentiert Becker ein Konzept der liberalen individuellen Grundrechte. Grundrechte, Rechte der individuellen Person, kommen nach dieser Rechtsauslegung zustande, indem der Staat dem Einzelnen den staatsbürgerlichen Titel einer individualistisch - einzigartigen Rechtsperson verleiht. Über diese Rechte darf, der Logik der personalen Individualität gemäß, nur der personale Rechteeigentümer verfügen. Indem das als persönliches Rechtseigentum verstandene Grundrecht jeder in gleicher Weise, nämlich als einzigartige und unverwechselbare Person erhält, sei zugleich die Rechtsgleichheit der persönlichen Inhaberrechte garantiert. Der Freiburger Soziologe Friedrich Pohlmann reflektiert im Vorfeld der Beantwortung seiner Frage, ob Hannah Arendts Werk überschätzt wird, die „Zeitgeist“ - Abhängigkeit geisteswissenschaftlicher Forschung. Er erinnert daran, dass Arendts Totalitarismustheorie während der Zeit der Entspannungspolitik „völlig quer zu den dominierenden Mustern der Deutung des Nationalsozialismus“ stand und nicht Wenigen die damals herrschenden ideologischen Fixierungen wie unhinterfragbare wissenschaftliche Wahrheiten erschienen. Erst die Zeitenwende 1989/92 habe eine gänzlich neue – nun aber „auf unein-
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geschränkt positiven Vorurteilen aufruhende“ – Aufnahmebereitschaft für ihr Werk geschaffen. Selbst Personen, die gestern noch als Laudatoren des Sowjetkommunismus aufgetreten seien, hätten jetzt ihren, „ein dreifach Gutes“ – „Weiblichkeit, jüdische Existenz und Antitotalitarismus“ – verkörpernden Namen nutzen können, um moralische Integrität zu demonstrieren. In Abgrenzung dazu wirft Pohlmann einen vom Wissens - und Problembestand unserer Zeit bestimmten Blick auf das Werk Hannah Arendts und stellt die Frage, was aus diesem Werk von überdauerndem Wert ist. Pohlmann bezweifelt die Validität der Unterscheidung von Arbeiten, Herstellen und Handeln sowie die logische Folgerichtigkeit der Verknüpfung von Handeln und Natalität. Die Schwäche der Arendtschen Politiktheorie sieht er in der einseitigen Fixiertheit dieser Theorie auf die Möglichkeit eines gewaltfreien Miteinanders. Statt aber, wie Arendt, das Freiheitsproblem in den Mittelpunkt des Nachdenkens zu stellen, gehöre die Frage nach den Voraussetzungen von Ordnung und Frieden an den Anfang jeder politischen Philosophie. Für Pohlmann selbst bleibt schließlich Arendts Totalitarismustheorie, die trotz vieler Schwächen die wesentlichen Kategorien für die Analyse totalitärer Diktaturen entwickelt habe. Zu den Persönlichkeiten, die Hannah Arendt persönlich kannten und über ihre Begegnungen mit ihr öffentlich berichteten, gehörte Joachim C. Fest, Publizist und Historiker. Joachim Fest hatte ursprünglich zugesagt, in einem für die Öffentlichkeit bestimmten Vortrag über seine Bekanntschaft mit Hannah Arendt zu sprechen. Dazu ist es nicht mehr gekommen. Schon im Dezember 2005 betrachtete der Hitler - Biograph und langjährige Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung seine gesundheitliche Verfassung als „etwas schwankend“, sodass er sich nicht in der Lage sah, etwas gänzlich Neues zu bieten. Wir vereinbarten, dass er aus seinem Porträt Das Mädchen aus der Fremde vortragen werde. Bereits im Sommer musste er jedoch seine Zusage zurückziehen, und noch vor Konferenzbeginn war er verstorben. Fest vermittelt in seinem, im Anhang erneut abgedruckten, Bericht ein eindrückliches Bild von der Persönlichkeit Hannah Arendts. Dem Leser erschließen sich nicht nur wichtige Lebensstationen; skizziert werden nicht nur Lebensumstände und Begebenheiten, insbesondere die für Arendt prägende Beziehung zu Martin Heidegger. Vielmehr gewinnt der Leser einen Einblick in die Geisteshaltung Hannah Arendts, den Charakter ihres Denkstils sowie die polarisierende Wirkung ihrer oftmals scharfen Urteile. Dabei waren ihr die geistigen Kämpfe, die sie vor allem nach ihrem Eichmann - Buch und der ohne Weiteres nachvollziehbaren Formel von der „Banalität des Bösen“ zu bestehen hatte, von Gegnern aufgezwungen worden, die vor Verdrehungen ihrer Aussagen nicht zurückschreckten und mit Verunglimpfungen nicht sparten. Den eigentlichen Grund dafür, dass ihr Denken immer wieder provozierte, sucht Fest in dessen Unbedingtheit. Es war ihre Ernsthaftigkeit als Denkerin und vor allem ihre Abneigung gegen Opportunismus, die es ihr unmöglich machten, die Produkte ihres Denkens taktischen Gesichtspunkten anzupassen. Dass sie mit dieser mu-
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tigen Haltung auch in der heutigen Zeit erbitterten Widerspruch auf sich zöge, wird niemand bezweifeln wollen. Mein Dank gilt Walter Heidenreich und Christine Lehmann für das Layout sowie dem Rowohlt Verlag für die Genehmigung zum Abdruck des Artikels von Joachim Fest.
I. Politisches Exil und wissenschaftlicher Denkweg
Zwischen Europa und Amerika Hannah Arendts Wanderungen durch die politische Ideengeschichte Alfons Söllner
I. Das politische Exil in der Topographie des 20. Jahrhunderts „Being in between“ – dass dies ein Schlüsselwort zum Verständnis von Hannah Arendt darstellt, ist bislang vor allem an der biographischen Literatur deutlich geworden, die kein anderer politischer Denker des 20. Jahrhunderts so reichlich auf sich gezogen hat. Fragt man nach den Gründen dafür, so ist man nicht nur auf Verfolgung und Exil ver wiesen, die dieses Leben so offensichtlich geprägt haben, sondern beinahe mehr noch darauf, dass sich diese Erfahrung in ihrem Fall sinnfällig zu einer existentiellen Metapher für die Situation des Intellektuellen im 20. Jahrhundert insgesamt verdichtet hat. „Einmal im Exil, immer im Exil“ – was der deutsch - schwedische Schriftsteller Peter Weiss so formuliert hat, verweist auf einen unwahrscheinlichen Aspekt der intellektuellen Emigration, nämlich auf den langfristigen Gewinn, der aus dem Verlust der Heimat resultieren konnte. Auch in der „neuen Heimat“ entstand nämlich häufig keine „einfache“ Identität mehr, sondern so etwas wie eine vielfach gebrochene, eine „multiple Identität“. So problematisch der Begriff seinerseits sein mag – bei Hannah Arendt erhielt er einen erkennbar positiven Sinn, der den biographischen Zugriff geradezu herausforderte. In den Vordergrund trat ihre allseitige Produktivität, ihr „weibliches Genie“1, ebenso wie die Affäre des jüdischen „Mädchens aus der Fremde“ mit dem philosophischen „Meister aus Deutschland“ ( Rüdiger Safranski ), mit Martin Heidegger sich bedeutungsvoll in die Denkgeschichte des 20. Jahrhunderts hineinprojizieren lässt.2 So wunderbar also Hannah Arendt der reichlich trockenen politischen Literatur zu neuem Leben verholfen hat – für uns wird die sachliche Frage in den Vordergrund treten, auf welche Weise die erzwungene Wanderung von Europa 1 2
Es begann mit der großen Biographie von Elisabeth Young - Bruehl, Hannah Arendt. For Love of the World, New Haven 1982 und endete vorläufig mit Julia Kristeva, Das weibliche Genie. I. Hannah Arendt, Wien 2001. Vgl. zuletzt Antonia Grunenberg, Hannah Arendt und Martin Heidegger. Geschichte einer Liebe, München 2006.
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nach Amerika ihr wissenschaftliches und philosophisches Denken beeinflusst hat, in welche Regionen es dadurch gelenkt oder auch abgelenkt wurde und welche politischen und intellektuellen Spuren dies hinterlassen hat. Dass dergleichen Fragen keineswegs einfach zu beantworten sind, wird schon an den Selbstdeutungen Hannah Arendts greifbar : Einmal hat sie sich zu keiner Zeit einer bestimmten politischen Richtung, schon gar nicht einer politischen Partei zugehörig gefühlt – sie war und blieb das „Weltkind in der Mitten“, das sich weder links noch rechts zu Hause fühlte und auch nicht auf eine konkrete Ausprägung der Mitte, also etwa des amerikanischen Liberalismus festgelegt war. Zum andern hat Hannah Arendt auch ihre professionelle Identität bedeutungsvoll in der Schwebe gehalten : Sie hat sich in der akademischen Welt als essayistische Außenseiterin behauptet und war stolz darauf, sie ist den Wissenschaftlern als Philosophin gegenübergetreten und hat sich von den Fachphilosophen wiederum als „Politiktheoretikerin“ abgegrenzt. Schließlich muss man die Wirkungsgeschichte, vor allem die Dynamik der neueren Hannah - Arendt - Rezeption ins Auge fassen, um die ganze Bandbreite, aber auch die Vieldeutigkeit zu ermessen, die das Denken und Schreiben von Hannah Arendt auszeichnet. Dies alles hat sich auf kuriose Weise in Hannah Arendts intellektueller Präsenz in der Bundesrepublik Deutschland niedergeschlagen. Nimmt man dieses Beispiel und lässt es vor dem Hintergrund ihrer internationalen Rezeption Revue passieren3, dann scheinen zwei Entwicklungen besonders signifikant : Einmal gewinnt man den Eindruck, dass die Hannah - Arendt - Rezeption im Verlauf der letzten drei, vier Jahrzehnte gewissermaßen von rechts nach links gewandert ist – heute könnten altgediente Anhänger der Frankfurter Schule mit einem neidischen Blick beinahe sagen, dass Hannah Arendt in der akademischen Politik die Stelle einnimmt, die einmal von Horkheimer, Adorno und Marcuse besetzt war. Zum andern hat sich mit der Verbreiterung der Rezeption gewissermaßen auch der Ort geändert, an dem Hannah Arendt gelesen und diskutiert wird : Ihr Publikum ist nicht mehr auf die akademische Wissenschaft beschränkt, vielmehr ist Hannah Arendt zu einer Ikone des Kulturbürgertums insgesamt geworden, unter expliziter Einbeziehung der Kunst - und Kulturszene, ja sogar der Medien.4 Ich gehe bei meinen folgenden Überlegungen davon aus, dass die Wanderung von Europa nach Amerika – oder wie genauer zu sagen wäre : von Deutschland über Frankreich in die USA – in einem bestimmten Sinn für Hannah Arendts Werk konstitutiv wurde, also ihr Denken und Schreiben erkennbar mitgeprägt hat. Und um die These noch zu verstärken : Ich glaube, dass dieser Migrationsweg nicht nur den Kontakt zu diesen Ländern hergestellt oder verstärkt hat, son3 4
Eine Synopse der Rezeptionsgeschichte gibt Wolfgang Heuer, Ich selber wirken ? In : ders./ Thomas Wild ( Hg.), Hannah Arendt, Göttingen 2005, S. 174 ff.; hier auch eine repräsentative Bibliographie, S. 183 ff. Signifikant dafür sind das Text und Kritik - Heft : Heuer / Wild ( Hg.), Hannah Arendt sowie die neue Darstellung von Thomas Wild, Hannah Arendt. Leben, Werk, Wirkung, Frankfurt a. M. 2006.
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dern dass er eine Art von intellektueller Topographie für ihr Denkens und Schreibens festgelegt hat. Und da Hannah Arendt, professionell gesehen, in erster Linie als Ideenhistorikerin hervorgetreten ist, so muss man fragen : Wie ist ihre Arbeitsweise als Ideenhistorikerin durch den Weg von Deutschland über Frankreich nach Amerika geprägt worden ? Welche Rolle spielte dieser Weg bei der Entstehung der Werke, welche Spuren hat er in ihrer Textur hinterlassen und welche Schlussfolgerungen politischer und intellektueller Art lassen sich daraus ablesen ? Lässt sich vielleicht sogar zeigen, dass Hannah Arendts kuriose Wirkungsgeschichte ein später Reflex ihres Migrationsweges ist ? Ich werde mich bei der Diskussion dieser Fragen nicht an das bunte und reiche Spektrum der politischen Publizistin halten, das sich bereits seit Mitte der 40er Jahre auftut, um in den 50er und 60er Jahren zu einer wahren Flut von Essays und Aufsätzen anzuschwellen. Ich werde mich vielmehr ganz konventionell auf ihre drei wichtigsten wissenschaftlichen Monographien konzentrieren, nämlich auf das Totalitarismus - Buch von 1951, auf Vita activa von 1958 und auf das fünf Jahre später publizierte Buch On Revolution. Wenn ich dabei von Hannah Arendts „politikwissenschaftlicher Trilogie“ spreche, so soll damit nicht suggeriert werden, dass diese drei Bücher aus einer strikten inneren Entwicklungslogik her vorgegangen sind. Auf der andern Seite gilt es der postmodernen Koketterie entgegenzutreten, auch Hannah Arendt habe doch immer „nur Geschichten erzählen“ wollen.5 Durch eine Art von mittlerer Lektürehaltung könnte am deutlichsten her vortreten, was an Hannah Arendt am bemerkenswertesten war und ist : ihre höchst originelle Neuvermessung des ideengeschichtlichen Horizontes. Die Verarbeitung der „totalitären Erfahrung“ führte schon im Totalitarismus - Buch von 1951 zu einem so interessierten wie negativen Rückgriff auf das europäische 19. und 20. Jahrhundert, der sich dann, im Mittelstück von Vita Activa, zu einem monumentalen, in die klassische Antike zurückstrebenden Denkbogen ausweitete, um schließlich im Revolutions - Buch einen dezidierten Schlussstein zu setzen, der ein Bekenntnis zu Amerika und ein melancholisches Einverständnis mit der Moderne markierte.6 Ich meine, dass Beobachtungen dieser Art, so forciert sie im biographischen Kontext auch wirken mögen, für die politische Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts im weiteren Sinn signifikant sind – sofern man von der Biographie auf die politische Zeitgeschichte extrapoliert und von dieser noch einmal auf folgenreiche Verschiebungen im kulturhistorischen Gesamthorizont schließt. Vielleicht kann man für die zweite Jahrhunderthälfte sogar eine Art von politischer Kulturgeographie ins Auge fassen, als deren Pole man den deutschen und darüber hinaus den europäischen Kulturraum auf der einen und den der USA als neuer Hegemonialmacht auf der anderen Seite ansehen könnte. Während der erstere 5 6
Eine typische postmoderne Arendtlektüre ist Dana R. Villa, Arendt and Heidegger. The Fate of the Political, Princeton 1996. Ich folge hier der wohl ausgewogensten Darstellung von Seyla Benhabib, Hannah Arendt. Die melancholische Denkerin der Moderne, Hamburg 1998. Vgl. auch die kluge „theoriepolitische Verortung“ durch Otto Kallscheuer, Nachwort. In: ebd., S. 343 ff.
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auf dem Rückzug ist und mit ihm die europäische Nationalstaatsordnung, gewinnt der zweite an internationaler Magnetwirkung.7 Um es am Beispiel Hannah Arendts noch einmal zu unterstreichen : Die Denkwege, die sie in ihrer monumentalen Trilogie zurückgelegt hat, waren sicherlich ein Ergebnis von Vertreibung, Exil und der Ankunft in der „neuen Welt“, aber mehr noch markieren sie konkrete und sich verändernde Orte auf der Landkarte des 20. Jahrhunderts. Wirklich kompliziert aber wird diese Konstellation dadurch, dass diese ideenpolitische Topographie in das „weite Feld“ der gesamten abendländischen Geschichte zurückprojiziert wurde. Die dramatischen Verschiebungen im Kräfteverhältnis zwischen Europa und Amerika erscheinen dadurch eigentümlich gebrochen, d. h. gleichzeitig untermauert und verflüssigt.
II. Philosophische Deutung des Totalitarismus und Abschied vom „alten Europa“ Was die außerordentliche und rasche Wirkung von Hannah Arendts monographischem Erstling betrifft, so dürfte schnell Einverständnis darüber hergestellt sein, dass sie vor allem mit seinem dritten Kapitel, mit der Totalitarismus - Analyse zusammenhing.8 Deren große Originalität resultierte weniger aus der dokumentarischen Überzeugungskraft noch aus der umstrittenen Gleichsetzung von Nationalsozialismus und Stalinismus, sondern vor allem aus einer atemberaubenden philosophischen Interpretation des neuartigen Charakters der totalitären Regime. Dafür wiederum verantwortlich war in erster Linie eine ganz bestimmte philosophische Sprechweise, die in gezieltem Gegensatz zu den szientistischen Tendenzen der amerikanischen social sciences die inkommensurable Realität der totalitären Lager schilderte : als „Laboratorien zur Zerstörung der menschlichen Natur“. Erst sehr viel später wurde der eigentliche clue erkannt : Hannah Arendt hatte zentrale und höchst eindringliche Metaphern ausgerechnet des philosophischen Existentialismus, konkret : aus Heideggers „Sein und Zeit“ dazu benutzt, um die Herrschaftstechniken der totalitären Regime hautnah zu charakterisieren. Diese überraschende Verwendung einer Terminologie, die durch Heideggers Engagement für den Nationalsozialismus tief diskreditiert war, zur Kritik totalitärer Praktiken war sicherlich eine Provokation, aber mehr noch kam sie einer gezielten Transformation ihrer eigenen philosophischen Sozialisation gleich. Ich muss hier sowohl die Errungenschaften wie die Probleme von Hannah Arendts Totalitarismusanalyse vernachlässigen, die beide vorhanden sind9, und 7 8 9
Vgl. Alfons Söllner, Fluchtpunkte. Studien zur politischen Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, Baden - Baden 2006, besonders die Einleitung, S. 11–28. Ich zitiere im Folgenden nach der deutschen Ausgabe : Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 2. Auf lage München 1991. Vgl. dazu Antonia Grunenberg ( Hg.), Totalitäre Herrschaft und republikanische Demokratie. Fünfzig Jahre The Origins of Totalitarianism, Frankfurt a. M. 2003.
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möchte die bisweilen geäußerte Kritik, dass es keinen hinreichenden Zusammenhang mit den historischen Kapiteln des Buches gibt, ins Positive wenden. Tatsächlich kann man die vorausgehenden Kapitel über den Antisemitismus und den Imperialismus nicht nur als relativ eigenständige Untersuchungen über die Prägekräfte der bürgerlichen Weltanschauung im 19. Jahrhundert lesen, sondern auch als den ersten deutlichen Versuch Hannah Arendts, ihren eigenen Standort in einer geistesgeschichtlichen Topographie zu finden. Dies ist exakt die Konstellation, die für uns von gesteigertem Interesse ist. In der Tat leistet Hannah Arendt mit ihren Studien zur Formierung des modernen Antisemitismus nicht nur einen Beitrag zur Sozialgeschichte einer Minderheit, sondern identifiziert mit den Juden in Deutschland diejenige Gruppe, an der die Schattenseiten der europäischen Moderne ganz allgemein greifbar werden.10 Ist der Antisemitismus die exemplarische soziale Diskriminierung nach innen, so erscheint der Imperialismus als die nach außen gewendete, zudem wirtschaftspolitisch motivierte und militärisch potenzierte Durchsetzung ein - und desselben politischen Organisationsprinzips. Zu seiner Charakterisierung rekurriert Hannah Arendt überraschenderweise auf den Begriffs - Zwitter des bürgerlichen „National - Staates“11, sie exponiert die dazu gehörige „bürgerliche Weltanschauung“ an Thomas Hobbes und arbeitet dann in vielfachen Variationen jenes innere Spannungsverhältnis heraus, das beim Übergang ins 20. Jahrhundert nicht etwa aufgelöst, sondern nur noch gesteigert wird : von den Anfängen des Rassedenkens über die totalitären Institutionen der Kolonialherrschaft bis zu den Panbewegungen des späten 19. Jahrhunderts, als deren zukunftsträchtigste, weil ideologisch wie bürokratisch gleichermaßen schlagkräftige Version schließlich der völkische Nationalismus auftritt. Das Destruktionspotential, das im Ersten Weltkrieg so sichtbar explodierte, verfolgt Hannah Arendt aber nicht primär an der deutschen Entwicklung, vielmehr spart sie den Übergang zu den totalitären Regimen der 30er Jahre auf eigentümliche Weise aus, verzichtet z. B. auf eine detaillierte Analyse der Weimarer Republik und konzentriert sich stattdessen auf den „Niedergang des Nationalstaates und das Ende der Menschenrechte“. Das gleichnamige Kapitel des Totalitarismus - Buches12, das vor allem die französische Dritte Republik aufs Korn nimmt, lohnt eine genauere Beachtung – nicht nur weil es am Ende des historischen Teils, d. h. direkt vor der Totalitarismusanalyse platziert ist, sondern auch weil in ihm prinzipielle Überlegungen angestellt werden, die das politische Schicksal Europas insgesamt betreffen. Hier wird gleichsam der ideenpolitische Doppelpunkt gesetzt, der dann in die philosophische Interpretation der totalitären Herrschaft führt. Gleichzeitig wird wie in einem Kristall sichtbar – so scharf wie vielfältig gebrochen –, aus welcher existentiellen Erfahrung Hannah Arendts politisches Denken entspringt, aber auch wie aus einer scharf10 Vgl. dazu Julia Schulze Wessel, Ideologie der Sachlichkeit. Hannah Arendts politische Theorie des Antisemitismus, Frankfurt a. M. 2006. 11 Arendt, Elemente und Ursprünge, Kap. 5, S. 217 ff. 12 Ebd., Kap. 9, S. 422 ff.
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sinnig formulierten Ambivalenz ein ebenso kühner wie folgenreicher Entschluss wird, der den Blick zurück ebenso verändert wie den Blick nach vorne. Um es vorwegzunehmen : Ich glaube, dass hier das eine Ende des inneren Fadens am besten zu fassen ist, der durch Hannah Arendts politikwissenschaftlicher Trilogie hindurchzuführen verspricht, durch ein geistesgeschichtliches Labyrinth, das zu den Ursprüngen Europas zurückkehrt und schließlich in Amerika endet. Die Herausarbeitung der Minderheitenkonflikte, die seit 1918 kontinuierlich zugenommen haben, die Dramatisierung des christlichen Antijudaismus zum politischen Antisemitismus, der die Juden zur Minderheit par excellance stempelt, schließlich die Schilderung des Schicksals einer spezifischen Untergruppe im weltweiten Flüchtlingsheer des 20. Jahrhunderts, nämlich der „Staatenlosen“ – all dies gehört, vor dem katastrophischen Hintergrund des in die Tat umgesetzten Genozids an den europäischen Juden, zu den diagnostischen Glanzstücken von Hannah Arendts Totalitarismus - Buch. Doch nicht darauf kommt es uns hier an, sondern auf die eigentümliche philosophische Reflexion, die Hannah Arendt an einer gezielten Problematisierung der Menschenrechte festmacht und zu einer tief verstörten gesamteuropäischen Diagnose ausweitet. Was sich auf den ersten Blick als eine existentielle Verdeutlichung der schlichten Tatsache darstellt, dass der Schutz der Menschenrechte nur in konkreten Gemeinschaften garantiert werden kann, enthüllt eine ätzende Schärfe, wenn man bemerkt, wie prinzipiell die „Aporien der Menschenrechte“ ausbuchstabiert werden. Hannah Arendt begnügt sich nämlich nicht mit der Feststellung des Widerspruchs, dass sich einerseits seit dem 18. Jahrhundert die Legitimation der Staatsgewalt und damit die gesellschaftliche Ordnung insgesamt um den Pol universeller und unveräußerlicher Individualrechte zu drehen beginnt, andererseits aber die Verrechtlichung der Herrschaft am Prinzip der Nationalstaatlichkeit gebrochen wird, das sich als das ens realissimum auch des demokratischen Prinzips der Volkssouveränität erweist. Der moderne Nationalstaat ist für sie nicht bloß, weil er der einzige Garant auch der Menschenrechte ist, der gut bewachte Zollhafen, in dem deren Universalitätslast in der Währung von Bürgerrechten gelöscht wird. Der Anspruch auf die Menschenrechte nimmt in ihrer Argumentation vielmehr selber das odium einer ebenso abstrakten wie gefährlichen Illusion an, er verkörpert eine contradictio in adjecto, verweist auf einen grundsätzlichen Defekt der modernen Politikauffassung, am Ende sogar darauf, dass die Fundamente der Moderne insgesamt nichts weniger als brüchig sind, verdorben von Anfang an. Um den Stellenwert dieser Reflexionen zu unterstreichen, muss man sich nicht zuletzt den Ton vergegenwärtigen, auf den sich die Diskussion der Menschenrechtsproblematik im Totalitarismus - Buch durchgehend eingestimmt findet. Es handelt sich um eine Stimmung von abgrundtiefer Verzweif lung und Verlassenheit. „Das bloße Wort ‚Menschenrechte‘ wurde überall und für jedermann, in totalitären und demokratischen Ländern, für Opfer, Verfolgte und Betrachter gleichermaßen, zum Inbegriff eines heuchlerischen oder schwachsin-
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nigen Idealismus.“13 Was mit einem solchen Sarkasmus anhebt, steigert sich schrittweise zur Schilderung einer existentiellen Heimatlosigkeit, der das resignierte Gefühl entspricht, aus einem sinnhaften Kontinuum herauskatapultiert, ja der kulturellen und moralischen Ausstattung der species Mensch überhaupt beraubt worden zu sein. In der Tat ist es beinahe mehr die dramatische Inszenierung als die Argumentation selber, die den Leser den Atem anhalten und ihn spüren lässt, dass hier nicht nur eine lebensgeschichtliche Erfahrung verhandelt wird, sondern dass ein kulturelles Universum zum Einsturz kommt : Ein ganzes Weltbild ist in Schutt und Asche gefallen, was bleibt ist ein großes, ein existentielles Fragezeichen in einem entleerten Raum ! Man muss sich der Dramatik dieser Argumentation überlassen, weil es nichts als zynisch wäre, den absoluten Nullpunkt einfach zu übersehen, der in der Diskussion der Menschenrechtsproblematik bei Hannah Arendt erreicht wird. Erst vor diesem Hintergrund kann ihre philosophische Deutung der totalitären Herrschaft, vor allem ihre Analyse der nationalsozialistischen Konzentrations - und Vernichtungslager so unnachahmlich und eindringlich ausfallen. Dennoch muss die Umwendung des Blicks erlaubt sein und die Frage gestellt werden, nicht so sehr ob Hannah Arendts Demonstration der „Aporien der Menschenrechte“ falsch oder richtig ist – der „Zivilisationsbruch“ ( Dan Diner ) hat auch die moralische Uhr neu gestellt –, wohl aber in welche Richtung sie sich für die Gewinnung eines neuen Horizontes auf den Weg machte. Diese Richtung scheint mir einmal durch den prominenten Stellenwert angedeutet, den Burkes Kritik an der französischen Revolution in Hannah Arendts ideengeschichtlicher Genealogie einnimmt14. Weiter dürfte es aufschlussreich sein, dass bei der Erörterung des Begriffs der menschlichen Natur die Lösungen des 18. Jahrhunderts in Bausch und Bogen verworfen und stattdessen, soweit ich sehe, das erste Mal Aristoteles und sein spezifisches Menschenbild autoritativ zitiert werden.15 Zusammengefasst : Die Menschenrechte geraten Hannah Arendt zu einem nicht nur gegenwärtig ungelösten, sondern unter den epochalen Bedingungen der bürgerlichen Moderne auch unlösbaren Problem – die verzweifelte Demonstration ihrer Aporien aber steht gleichursprünglich für den Versuch, aus dem Dilemma auszubrechen und anderswo einen neuen Rückhalt zu finden. Was sich hier vorbereitet, ist so etwas wie ein geistesgeschichtlicher Tigersprung, einer, der aus der Moderne herausführen soll und in der griechischen Antike landen wird. Überflüssig zu sagen, dass dies eine Rückkehr zu Themen und Interessen aus Hannah Arendts Studienjahren ist. Schwer wiegender könnte es schon sein, dass der vorne apostrophierte Argumentationsstil eine Neigung nicht nur zum existentialistischen Pathos, sondern auch zu essentialistischer oder gar quasi - theologischer Sprechweise erkennen lässt. Schließlich drängt sich die Frage auf, ob im Menschenrechtskapitel des Totalitarismus - Buches nicht in nuce bereits steckt, was in Vita activa dann explizit wird : die Ausformulierung 13 Ebd., S. 426. 14 Vgl. u. a. ebd., S. 192 f., 466. 15 Ebd., S. 463.
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einer Geschichtsphilosophie mit negativen Vorzeichen, eine Verfallsgeschichte der europäischen Menschheit.
III. Romantische Rückkehr zu den griechischen Ursprüngen und Kritik der modernen Massengesellschaft Das 1958 publizierte Vita activa ist bekanntlich ein äußerst vielschichtiges und umfassendes Buch, es ist ohne Zweifel das philosophische Hauptwerk von Hannah Arendt16 – für uns wird es zum so prachtvollen wie fragwürdigen Mittelstück einer politikwissenschaftlichen Trilogie. Begonnen als Forschungsprojekt über die „Totalitarian Elements of Marxism“, hat es sich rasch von dieser Thematik emanzipiert und ging kurzentschlossen in die philosophische Totale – in mehrfacher Hinsicht : Einmal legte die mittler weile bekannte Autorin hier einen großen Entwurf vor, der Grundformen des menschlichen Weltverhaltens systematisch darstellen wollte und dafür die ontologischen Unterscheidungen von Arbeiten, Herstellen und Handeln vornahm. Zu diesem Zweck wurden zweitens die Stationen der abendländischen Denkgeschichte von der Antike bis in die unmittelbare Gegenwart abgeschritten, d. h. sowohl selektiv als Steinbruch benützt als auch – und nicht ohne innere Widersprüche – zu einer geistesgeschichtlichen Phänomenologie des menschlichen „Weltverhaltens“ überhaupt zusammengebaut. Im Ergebnis erscheint drittens die Geschichte des Abendlandes als ein galoppierender Verfallsprozess, der sich trotz, ja – paradoxer weise – mittels eines unzähmbaren Fortschrittsglaubens durchsetzt und auf einen fortschreitenden Erfahrungsverlust hinausläuft – auf die „Weltentfremdung“ des modernen Menschen, wie Hannah Arendt es mit halb - theologischen Anklängen nennt.17 Ich möchte aus diesem komplexen Geflecht, aus den interessanten Motiven, phänomenologischen Denkfiguren und historischen Entwicklungslinien nur einen einzigen Faden herausziehen, der die Frage der Politik und des Politischen betrifft und allerdings für das Gewebe des Buches von so zentraler Bedeutung war wie für die weitere Denkentwicklung von Hannah Arendt insgesamt. Dies ist ihre Theorie des politischen Handelns, die einerseits – im Anschluss an Aristoteles – vom Herstellen unterschieden und andererseits – in scharfer Kritik an Marx und am Marxismus – gegenüber dem Arbeiten abgesetzt wird.18 Es ist also eine doppelte, eine idealtypische wie geistesgeschichtliche Abgrenzung, durch die dieser Leitbegriff entsteht, der Hannah Arendts politischer Philosophie dann seine unverwechselbaren Konturen verleiht : Das politische Handeln soll wesens16 Ich zitiere nach der deutschen Ausgabe : Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, 3. Auf lage München 1983. 17 Mit dieser Perspektivierung widerspreche ich der Grundintention von Benhabib, Hannah Arendt, S. 12. Ausführlicher dazu mein Aufsatz : Alfons Söllner, Hannah Arendt : „Vita Activa oder Vom tätigen Leben“ – ein Lektüreversuch. In : Alfons Söllner, Deutsche Politikwissenschaftler in der Emigration, Opladen 1996, S. 226–248. 18 Zentral ist das fünfte Kapitel : Das Handeln, in Arendt, Vita activa, S. 164 ff.
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verschieden von der Tätigkeit des Herstellens sein, das auf ein dauerhaftes Produkt zielt und dessen Realtypus der antike oder der mittelalterliche Handwerker ist; und es ist wesensverschieden von der Tätigkeit des Arbeitens, bei dem menschliche Kraft gegen Produkte bzw. gegen Waren getauscht wird und dessen antiker Realtypus der Sklave ist, während sein moderner Zwilling, der Lohnarbeiter nicht weniger pejorativ als „animal laborans“ bezeichnet wird. Uns soll hier die Frage interessieren, was es zu bedeuten hat, dass Hannah Arendt das spezifische Design ihres politischen Denkens, konkret ihr Konzept des politischen Handelns nicht nur aus der griechischen Antike gewinnt, sondern darüber hinaus den philosophischen Selbstdeutungen der polis entnimmt, und besonders aus Platon und Aristoteles. Welches Erkenntnispotential steckt in diesem Rückgriff auf die Antike – und welches sind die Hypotheken, die Hannah Arendt dabei in Kauf nehmen muss ?19 Vor allem aber : Was besagt der vormoderne Ursprung ihres Philosophierens für die Validität ihrer Grundbegriffe bei der Analyse der modernen Welt ? Eine typische und sprechende Formulierung lautet z. B. : „Die Polis hatte die Aufgabe, die Gelegenheiten regelmäßig bereitzustellen, durch die man den ‚unsterblichen Ruhm‘ er werben konnte, bzw. die Chancen zu organisieren, unter denen sich einer sich auszeichnen und in Wort und Tat zur Schau stellen konnte, wer er in seiner einmaligen Verschiedenheit war. [...] Die zweite Aufgabe der Polis, auch sie eng mit den vor ihrer Entstehung erfahrenen Risiken des Handelns verbunden, bestand darin, die Abhilfe für die dem Handeln und Reden eigene Vergeblichkeit zu schaffen. Einem so ausschließlich auf das Preis - und Ruhmwürdige bedachten Volke musste nichts unerträglicher scheinen als die Vergessenheit, die gerade das Handeln und das Gehandelte, also das einzige, was sie für ruhm - und preiswürdig hielten, bedroht.“20
Das Zitat bedarf keines Kommentars, um sichtbar zu machen, wie eng sich Hannah Arendt bei der Ausstattung ihrer politischen Leitbegriffe an die Lebenswelt der griechischen Polis bindet und was sie sich dabei einhandelt : eine eklatant elitistische und personalistische Verengung des Vorstellungsraums der Politik; die spiritualistische Abstraktion von Interessensbindungen, die für jedes realistische Politikverständnis nicht nur in der Moderne unabdingbar sind; und nicht zuletzt die fehlende Reflexion auf ein Machtzentrum, auf die institutionellen Erscheinungsformen der Politik sowie auf die Modalitäten ihrer Legitimation. Ungeklärt bleibt also, wie dieser Begriff des politischen Handelns all jene Spezifizierungen abwerfen kann, mit denen er an Gesellschaft und Politik der Antike gebunden war und bleibt, als da z. B. sind : grundsätzliche Begrenzung der Politikfähigkeit auf die von materiellen Reproduktionszwängen freigesetzten Männer, d. h. die männlichen Vollbürger der griechischen Polis; primär immaterielle Orientierung an „Ruhm“ und nicht so sehr an ökonomischen „Interessen“ oder politischem „Einfluss“; radikale Trennung von Öffentlichkeit und Pri19 Die feinsinnigste Diskussion dieser Fragen hat Dolf Sternberger geführt, siehe Dolf Sternberger, Politie und Leviathan. In : ders., Verfassungspatriotismus, Frankfurt a. M. 1990, S. 232–284. 20 Arendt, Vita activa, S. 190.
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vatsphäre; schließlich dramaturgische und rhetorische Selbstdarstellung der politisch Handelnden, die wichtiger ist als seine Ausrichtung auf ein ökonomisches Kalkül oder auf politisches Machtstreben. Es ist ziemlich offensichtlich, dass sich dergleichen Fragen der rein geistesgeschichtlichen Perspektive Hannah Arendts von Anfang an entziehen, selbst wenn man ihr philosophisches Anliegen ansonsten nicht in Gegensatz zur Sozial - oder Politikgeschichte bringen möchte. Um dieses Anliegen zu charakterisieren, kann man, ganz analog zum Totalitarismus - Buch, an der Textur von Vita activa diejenigen Passagen hervorheben, in denen der eher argumentative Sprachduktus zugunsten eines emotionalen oder gar hymnischen Gestus verlassen wird. Dies ist nicht zufällig genau dort der Fall, wo Hannah Arendt die antike Vorstellung des politischen Handelns mit der Sphäre der Kunst, die sonst eigentlich in die Sphäre des Herstellens gehört, gleichsam zur Deckung bringt : „Ohne die Geräte, die Homo faber entwirft, um die Arbeit zu erleichtern und die Arbeitszeit zu verkürzen, könnte auch menschliches Leben nichts sein als Mühe und Arbeit; ohne die Beständigkeit der Welt, die die den Sterblichen zugemessene Frist auf der Erde überdauert, wären die Geschlechter der Menschen wie Gras und alle Herrlichkeit der Erde wie des Grases Blüte; und ohne die gleichen herstellenden Künste von Homo faber, aber jetzt auf ihrem höchsten Niveau, in der vollen Glorie ihrer reinsten Entfaltung, ohne die Dichter und Geschichtsschreiber, ohne die Kunst des Bildens und die des Erzählens, könnte das Einzige, was redende und handelnde Menschen als Produkt hervorzubringen vermögen, nämlich die Geschichte, in der sie handelnd und sprechend auftraten, bis sie sich soweit gefügt hat, dass einer sie als Geschichte berichten kann, niemals dem Gedächtnis der Menschheit einprägen, dass sie Teil der Welt wird, in der Menschen leben.“21
Das Pathos, das hier am Inbegriff der Vita activa zum Ausbruch kommt, ist schwerlich ein Zufall; vielmehr dürfte es indizieren, dass die Autorin dort angekommen ist, wo sie sich offensichtlich am meisten „zu Hause fühlt“ – in mehrfacher Hinsicht : Einmal bewegt sie sich auf einem Terrain, das der ausgebildeten Gräzistin seit den Marburger und Heidelberger Studententagen vertraut ist; zum andern hat sie mit dem Begriff des Handelns nunmehr jenen Punkt erreicht, der in der Werthierarchie der menschlichen Tätigkeiten, die das Buch aufstellt, ganz oben rangiert; schließlich kommt jetzt geballt zum Vorschein, was man das Idiosynkratische an Hannah Arendts Philosophieren, ihren persönlichen Entwurf nennen könnte, wie er aus einer spezifischen Verarbeitung ihrer eigenen Geschichte hervorgeht. Wenn man sich also bei der Lektüre des Kapitels über das Handeln, mehr als sonst in dem Buch, hin - und hergerissen fühlt zwischen Faszination und Zweifel – Faszination über die existentielle Dichte und die literarische Intensität des ausführlichen Textes; Zweifel daran, ob die Argumentation wirklich gedeckt ist durch das philologische Material und vor allem wie sie methodisch verfährt –, so wird man gut daran tun, sich vom hinreißenden Gedankenflug erst einmal forttragen zu lassen.22 21 Ebd., S. 162 f. 22 Dass auch in diesem Wechsel des Tons die analytische Kraft nicht verloren gehen muss, hat Hannah Arendt in ihren Essays zur Literatur hinlänglich bewiesen. Vgl. z. B. Han-
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Es zeigt sich dann nämlich am raschesten, dass Hannah Arendts Konzept des Handelns geradezu daraufhin angelegt ist, Differenzierungen wie die genannten außer Kraft zu setzen. In der Tat ist das semantische Feld, in dem der Handlungsbegriff angesiedelt wird, durch nichts mehr gekennzeichnet als durch charismatisch besetzte Begriffe wie „Einzigartigkeit“, „Neuigkeit“, „Unerwartetes“ usf. Sie fügen sich, zumal sie gleichzeitig Tätigsein und Sprechen, Aktion und Sprache umfassen, zu einer Assoziationskette, die unversehens – und dem anfänglichen Dementi zum Trotz – eine emphatische Wesensbestimmung des Menschen etabliert : „Sprechen und Handeln sind die Tätigkeiten, in denen diese Einzigartigkeit sich darstellt. Sprechend und handelnd unterscheiden Menschen sich aktiv voneinander, anstatt lediglich verschieden zu sein; sie sind die Modi, in denen das Menschsein sich selbst offenbart.“23 Diese Wesensbestimmung bringt so widersprüchliche Grunderfahrungen auf einen gemeinsamen Nenner, dass man vermuten möchte, genau hier, in der Notwendigkeit der Synthetisierung von Widersprüchen, könnte einer der Gründe für das Pathos liegen, das Hannah Arendt über ihren Begriff des Handelns ausgießt. Das bedeutet sicherlich nicht, dass diesem Begriff des politischen Handelns sachliche Bedeutung ganz abzusprechen ist. Man wird seinen Bedeutungskern jedoch am ehesten ausfindig machen, wenn man sich auf die Widersprüche konzentriert, die Hannah Arendt weniger logisch zu ordnen als zu artikulieren versucht. Dazu gehört einmal der Widerspruch zwischen Einheit und Vielheit, den Hannah Arendt im Begriff der menschlichen „Pluralität“24 einzufangen versucht; dazu gehört die existentielle Tatsache von Geburt und Tod, die aufgehoben werden sollen durch „die strahlende Helle, die nur dem Öffentlichen, das sich im Miteinander der Menschen konstitutiert, eignet“25; dazu gehören schließlich – und vermutlich grundlegend – die Überlegungen zum Problem der geschichtlichen Existenz des Menschen, die an Ausführlichkeit nichts zu wünschen übrig lassen. Wenn irgendwo, dann dürfte hier die Originalität, aber auch die Begrenztheit von Hannah Arendts politischer Philosophie insgesamt greifbar werden; es hat nämlich den Anschein, als ob hier der Punkt erreicht ist, an dem nicht nur der Begriff des Handelns mit dem des Politischen konfundiert wird, sondern an dem sich zeigt, dass beide Grundbegriffe in einem ausgesprochen existentialistischen Gedankenknoten verknüpft sind, der nicht leicht zu entwirren ist. nah Arendt, Die verborgene Tradition, Frankfurt a. M. 1976; Walter Benjamin, Brecht – Zwei Essays, München 1971. Wie bei Walter Benjamin, den sie zeitlebens verehrte, aber auch bei Adorno, den sie zeitlebens verachtete, steht der Essay nicht nur für eine literarische Form, sondern für eine Methode der Erkenntnis. Von hier aus gesehen erweisen sich die Differenzen mit Adorno als persönliche Animositäten, die ihre tieferen Ursachen wahrscheinlich im Streit darum hatten, wer das Erbe Benjamins authentischer repräsentierte. Vgl. dazu Alfons Söllner, Der Essay als Form politischen Denkens. In : Heuer / Wild, Hannah Arendt, S. 79–91. 23 Arendt, Vita activa, S. 165. 24 Ebd., S. 164. 25 Ebd., S. 170.
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Ob man dieses Verfahren nun idealistisch nennen oder ob man in ihm eine neuromantische Wiederkehr der bildungsbürgerlichen Gräkomanie des deutschen 19. Jahrhunderts sehen möchte – in jedem Fall gewinnt Hannah Arendts Rückkehr zum athenischen Rhetor - Feldherrn ( die Heroen der polis bekleideten oft das Amt des strategos !) seinen hochgradig normativen Stellenwert erst dadurch, dass dieses Idealbild auf den Hintergrund einer durch und durch negativen Gesellschaftsgeschichte gemalt wird, in der die konservative Kulturkritik der Weimarer Republik und die dazugehörigen antidemokratischen Idiosynkrasien fröhliche Urstände feiern. Was schon in den Eingangskapiteln von Vita activa diagnostiziert wird : Das zerstörerische Eindringen des Gesellschaftlichen in die antike Trennung von Privatsphäre und Öffentlichkeit26, steigert sich in den mittleren Kapiteln über die Entstehung der modernen Gesellschaft zu einem grundsätzlichen Verdikt über die Arbeits - und Technikwelt, um schließlich die demokratischen wie die totalitären Massengesellschaften des 20. Jahrhunderts gleichermaßen und in Bausch und Bogen zu verwerfen.27 Als „animal laborans“ ist der moderne Mensch nicht nur der totalen „Selbstentfremdung“, sondern mehr noch der „Weltentfremdung“ verfallen, d. h. er ist weder zum Handeln noch zu einer „echten“ Erfahrung mehr fähig : „Vergleicht man die moderne Welt mit den Welten, die wir aus der Vergangenheit kennen, so drängt sich vor allem der enorme Erfahrungsschwund auf, der dieser Entwicklung inhärent ist. Nicht nur, dass die anschauende Kontemplation keine Stelle mehr hat in der Weite spezifisch menschlicher und sinnvoller Erfahrungen, auch das Denken, sofern es im Schlussfolgern besteht, ist zu einer Gehirnfunktion degradiert, welche die elektronischen Rechenmaschinen erheblich besser, schneller und reibungsloser vollziehen als das menschliche Gehirn. Das Handeln wiederum, das erst mit dem Herstellen gleichgesetzt wird, sinkt schließlich auf das Niveau des Arbeitens ab, weil auch das Herstellen wegen seiner ihm inhärenten Weltlichkeit und Gleichgültigkeit gegen die Belange des Lebens nur als eine Form der Arbeit geduldet werden kann.“28
Ich breche hier ab, um im Sinne unserer kulturgeographischen Verortung einer exemplarischen Denkentwicklung sowohl einen Blick zurück und als auch einen Blick nach vorne zu werfen. Hatte Hannah Arendt im Totalitarismus - Buch die europäische Nationalstaatsordnung als Trümmerhaufen vorgefunden und ihr eine tödliche Theoriediagnose gleichsam hinterhergeschickt, so schlägt sie jetzt in Vita activa eine rettende Kehre – zurück nämlich in eine Ursprungsphilosophie, aus der die reine Utopie eines „echten“ politischen Handelns aufsteigen kann. Umso schwärzer färbt sich vor diesem Idealbild das banale Hintergrundsgemälde der gegenwärtigen Arbeits - und Konsumgesellschaft ein, die aus einer so großen Distanz geschildert wird, dass kaum noch Unterschiede zu erkennen sind – weder zwischen den realsozialistischen und den westlich - demokratischen Ländern noch auch zwischen Europa und Amerika, das sich allenfalls durch seine Führungsrolle bei der technischen Perfektionierung der modernen Massengesellschaft hervorhebt. 26 Vgl. besonders das zweite Kapitel, ebd., S. 27 ff. 27 Einschlägig sind besonders die Schlusspassagen des sechsten Kapitels, ebd., S. 287 ff. 28 Ebd., S. 314.
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IV. Amerikanischer Republikanismus versus europäische Demokratie Mit dem im Jahr 1963 publizierten und 1965 ins Deutsche übersetzten Buch On Revolution tritt der Konflikt zwischen Herkunft und Ankunft, der sich in Hannah Arendts intellektueller Entwicklung eingezeichnet findet und für den Europa und Amerika als Topoi stehen, sozusagen in sein Entscheidungsstadium.29 Hatte sich Vita activa auf dem „weiten Feld“ der abendländischen Geistesgeschichte getummelt, um in der griechischen Polis einen romantischen Rückhalt zu finden, so kehrt Hannah Arendt jetzt in die Welt der Moderne zurück und spitzt ihre Fragestellung auf eine scharfe Alternative zu, in der Europa, genauer Frankreich, und die USA als zwei konkurrierende Modelle von „richtiger Politik“ gegeneinandergestellt werden. Der ideengeschichtliche Horizont, in dem dieser Konflikt ausgetragen wird, findet sich prima facie auf die Entwicklung seit der Mitte des 18. Jahrhunderts verengt, gleichzeitig tritt die institutionelle Ausprägung der genannten Alternative in den Vordergrund und erlaubt damit auch eine konkretere Beurteilung der Fragen, um die es uns zu tun ist. Auf der andern Seite darf man sich von der thematischen Ausrichtung des Buches auf die modernen Revolutionen nicht darüber hinwegtäuschen lassen, dass es Hannah unvermindert um die denkbar allgemeine Frage geht, was unter Politik überhaupt zu verstehen sei und in welcher Weltgegend die besten Bedingungen gegeben sind, um im Strudel der Moderne politisches Handeln überhaupt noch vorstellbar zu machen. Dafür muss sie zunächst eine gemeinsame Plattform schaffen, und sie findet sie – reichlich gewunden – in der Etymologie des Wortes Revolution selber, das für sie ursprünglich nicht die Bedeutung des gewaltsamen Umsturzes hat, sondern ganz im Gegenteil für die Wiederherstellung eines früheren Zustandes, ja sogar für Restauration steht.30 Damit ist die Richtung angedeutet, in die der folgende Vergleich gehen wird. Er übersetzt das aktivistisch - elitäre Element des griechischen Handlungsmodells in die politische Sprache des 18. Jahrhunderts und gerät dabei auf das Begriffspaar von Freiheit und Gleichheit, die bekanntlich im aufklärerischen Weltbild zu den Leitbegriffen der politischen Sphäre geworden sind. Aber der Witz an Hannah Arendts Rekonstruktion liegt von vorn herein nicht in der Zusammengehörigkeit dieser Begriffe, sondern in ihrem Gegensatz. Dies ist zwar eine Prämisse, die aus der Anlage von Vita activa stammt, aus der für die antiken Gesellschaft typischen Trennung der öffentlichen von der privaten Sphäre, aber mit ihrer Übersetzung in die moderne Gesellschaft zeigt sich allererst die ganze Konsequenz : Sie besteht in einer grundsätzlichen Abwertung der gesellschaftlichen Sphäre als solcher, die nunmehr in einen kategorischen Gegensatz zur politischen Sphäre tritt. Es ist klar, dass damit einigermaßen schwierige Bedingungen gesetzt sind, um ein so offen29 Ich zitiere die deutsche Ausgabe : Hannah Arendt, Über die Revolution, München 1965. 30 Ebd., S. 49 ff.
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sichtlich gesellschaftlich bedingtes Phänomen wie die modernen Revolutionen adäquat zu beurteilen. Zwar lässt Hannah Arendt keinen Zweifel daran, dass die amerikanische Unabhängigkeitserklärung und die französische Revolution für dieselbe Programmatik der Befreiung des Individuums aus feudalen und absolutistischen Schranken stehen – die Menschenrechtsdeklarationen haben einen gemeinsamen Ursprung; durchaus verschieden aber gestalten sich sowohl die theoretischen Begründungen wie die Institutionen, in denen diese Emanzipationsbewegungen Gestalt angenommen haben. Für Hannah Arendt aber sind sie nicht nur verschiedenartig, sondern auch verschiedenwertig – und hier gewinnt die politische Selbstpositionierung ihre Konturen, die sich in dem Buch in höchst subtilen, aber ebenso eindeutigen Akzentsetzungen und Interpretationen Geltung verschafft. Sie laufen insgesamt darauf hinaus, dem politischen Traditionsbestand der USA den Zuschlag zu geben und die europäische Denktradition im Vergleich damit abzuwerten. Dies ist sicherlich nicht primär ein plakatives politisches Bekenntnis, wohl aber wird in dem ganzen Buch eine eindeutige Perspektivierung vorgenommen, die das französische Modell der Schaffung eines modernen Nationalstaates als Verhängnis erscheinen lässt. Im Gegenzug geht es um die Verstärkung des amerikanischen Modells und der dazugehörigen Traditionsbestände oder zumindest darum, die alternativen Ideen auszuzeichnen und zu retten, die in ihm ursprünglich am Werke waren; denn auch sie sind bedroht. Das dichotomische Szenario, das Hannah Arendt aufmacht, ist komplex, nicht ohne Spitzfindigkeiten und voller ideengeschichtlicher Überraschungseffekte31 – hier können nur die groben Resultate aufgezählt werden : Während in der französischen Revolution die „soziale Frage“ alsbald zum Antriebsmotor des Geschehens und die Herstellung der sozialen Gleichheit zum Ziel wurde, konnte dieses Motiv in den „reicheren“ Kolonien Neuenglands im Hintergrund bleiben und damit der Weg freiwerden für eine ganz andere Form der Umwälzung. Hannah Arendt nennt sie mit wertender Emphase die „Gründung der Freiheit“32, um von hier auf eine ganz spezifische, eben die amerikanische Auffassung der republikanischen Staatsform zu schließen. Demgegenüber entstand zwar auch in Frankreich ein republikanisches Staatssystem, aber seine Verfassung blieb unter dem Veto der demokratischen Massenbewegung, die alsbald in der jakobinischen „terreur“ erstickte und sich in Napoleon einem neuen Diktator auslieferte – die berühmte „Volkssouveränität“ hier wurde zum Medium, in dem Elemente des absolutistischen Staates zwar transformiert wurden, aber auch überlebten. Ideengeschichtlich entspricht dem der Gegensatz zwischen 31
Die Dichotomie findet sich ebd. im zweiten Kapitel über die „soziale Frage“ und im vierten Kapitel über die „Gründung : Constitutio libertatis“ konzentriert, ansonsten aber steckt sie in beinahe jedem Abschnitt des Buches. Es ist insofern tatsächlich eine komparative Ideengeschichte, auch wenn die Freiheit des Vergleichs methodologisch sehr weit gefasst ist. 32 Ebd., S. 85.
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Rousseau und Montesquieu, organisatorisch aber der zwischen einem demokratischem Staatsabsolutismus auf der einen und einem gewaltenteiligen Verfassungsstaat mit rein negativen Freiheitsrechten auf der andern Seite, wie man es verkürzt nennen könnte. „Die von den amerikanischen Revolutionären so oft betonte Unterscheidung von Republik und Demokratie basiert auf einer radikalen Trennung von Gesetz und Macht, die jeweils verschiedenen Ursprüngen entstammen und daher ganz verschiedene Arten der Legitimation erfordern und verschiedene Anwendungsbereiche betreffen“33. Formulierungen wie diese stehen bei Hannah Arendt nicht nur für verschiedene Varianten des modernen Verfassungsstaates, sondern mehr noch für zwei verschiedene politische Kulturen, die in dem Maße einen Unterschied ums Ganze machen als sie einer normativen Bewertung unterworfen werden, die ihrerseits mit einer mythologisch überhöhten Tradition aufgeladen wird. Einen verstärkten Drang zur Mythologisierung des Politischen gibt es überhaupt in diesem Buch von Hannah Arendt, jedenfalls werden die konträren Auffassungen von Macht und Herrschaft, die sich aus dem Vergleich zwischen Frankreich und den USA ergeben, immer wieder von einem sprachlichen Pathos übergossen, so wenn die „Vergöttlichung des Volkes“ in der französisch - rousseauistischen Tradition zurückgewiesen und die amerikanische Alternative, basierend auf Montesquieu und Tocqueville, herausgestellt wird. Der Archetypus dieser anderen Tradition ist der Mayflower - Pakt, der nicht nur als praktische Konsensgrundlage der Aussiedler bei der Trennung vom Mutterland gesehen, sondern zur symbolischen Grundnorm mit zivilreligiöser Bindekraft stilisiert wird. Dieses „Einzigartige des nordamerikanischen, vorrevolutionären Siedlungsexperiments – nichts Vergleichbares hat es je in irgendeinem Teil der Welt gegeben“34 – findet seine Verstetigung und Institutionalisierung in den neuenglischen „townships“, woraus schließlich in einem längeren Prozess die Staatsgründung der Vereinigten Staaten von Amerika hervorgeht, die ihrerseits einer „Heiligsprechung der Verfassung“ gleichkam, weil sie auf einer Autorität beruhte, in der „Gründungsakt und Einen - neuen - Anfang - setzen“35 zusammenfielen. Diese Darstellung ist sicherlich verkürzt oder wenigstens eine Forcierung der durchaus feinsinnigen Gedankenführung im Revolutions - Buch, doch wird auf diese Weise die dualistische Konstruktion und die damit verbundene Wertung besonders plastisch, die sich in Hannah Arendts politischem Denken zwei Jahrzehnte nach ihrer Ankunft in Amerika immer schärfer herauskristallisierte. Offensichtlich hatte dies nicht nur damit zu tun, dass die Philosophin sich nunmehr stärker als vorher mit den institutionellen Dimensionen der Politik und ihren konkreten Erscheinungsformen in Europa wie in Amerika konfrontierte, vielmehr zeigte sich in ihm ein regelrechter Denkzwang, der vielleicht Ergebnis der intellektuellen Wanderung war, gleichzeitig aber auch ein Konflikt zwischen Herkunft und Ankunft, der eine politische Topologie ebenso festlegen wie er 33 Ebd., S. 216. 34 Ebd., S. 227. 35 Ebd., S. 256.
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durch Reflexion sich verändern mochte. In diesem Sinne hat der britische Politikwissenschaftler Bernard Crick das Revolutions - Buch als eine Huldigung an die USA bezeichnet, die jeder Emigrant seinem Gastland schuldig sei : „Every German American does it once in gratitude.“36 Die süffisante Bemerkung des Zeitgenossen war sicherlich berechtigt, aber sie verfehlte auch, was aus heutiger Sicht noch bemerkenswerter ist : dass sich in den Friktionen des wertenden Vergleichs zwischen der europäischen und der amerikanischen Politiktradition nicht nur eine Akzentverlagerung in Hannah Arendts eigenem Denken ereignete, sondern dass diese Veränderung einen objektiveren Prozess, nämlich eine Horizontverschiebung im intellektuellen Kraftfeld zwischen Europa und den USA generell indizierte. War in Vita activa die athenische Polis zum Modell für ihre Vorstellung von „richtiger Politik“ geworden, so rekurrierte Hannah Arendt jetzt auf die altrömische Tradition und beanspruchte damit ein neues ideengeschichtliches Fenster zu öffnen, nämlich das des politischen Republikanismus, gleichzeitig aber zeichnete sie Amerika als den besonderen Ort aus, an dem diese Tradition in der modernen Welt noch einmal zur Wirkung gelangt war. Es kann hier nicht diskutiert werden, wie sich Hannah Arendts Neuorientierung am römischen Denken zu der altgriechischen Instrumentierung ihrer ontologischen Grundbegriffe verhält – erhebliche Widersprüche sind anzunehmen –, wohl aber ist der Preis zu benennen, den Hannah Arendt dafür zu entrichten hatte, dass sie den Realitäten der amerikanischen Gründungsgeschichte sozusagen ein altrömischen Gedankenkleid überstülpte. Er bestand, wie es scheint, in einer ausgesprochen substanzialistischen, d. h. letztlich antimodernen Gleichsetzung von Gründungsakt ( condere ), Autorität ( auctoritas ) und Verfassung ( constitutio ) sowie ihrer Konfundierung zu einer Vorstellung von Politik, die in einem offensichtlichen Spannungsverhältnis zu wichtigen Prinzipien der modernen Demokratieauffassung verblieben.37 Dazu gehört – und das ist für uns die zentrale Provokation – das Prinzip der Volkssouveränität als dem primären Geltungsgrund jeden modernen Verfassungsstaates, der alleine eine allgemeine Verfassungsgebung, d. h. eine auf dem Niveau der Allgemeinheit und Gleichheit stehende Staatsgründung begründen kann. Waren der Mayflower Pakt und die Praxis der neuenglischen Townships nicht eher die Wiederkehr einer uralten Gewissheit, der Einheit von gottgewollter Ordnung und christlicher Gemeindedemokratie, wie sie von den protestantischen Siedlern beansprucht wurde ? – Und vor allem : Wie hat sich die Verbindlichkeit dieser Zivilreligion auf dem Weg in die Gegenwart der modernen Industriegesellschaft verändert ? Doch selbst wenn man in der Entgegensetzung zwischen dem französischen und dem amerikanischen Modell der Verfassungsgebung keinen antidemokratischen Impuls am Werk sehen möchte – es genügt auf die Seltsamkeiten zu verweisen, mit denen Hannah Arendts Revolutions - Buch endet :
36 Bernard Crick, Revolution vs. Freedom. In : The London Observer vom 23. 2.1964. 37 Einschlägig ist hier besonders das fünfte Kapitel über den „Novus ordo saeclorum“.
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Es ist ein durchaus widersprüchliches Schlussbild, das diesen Entwurf der neueren Ideengeschichte als ein Drama erscheinen lässt, in dem zwei Protagonisten der demokratischen Bewegungen gegeneinander antreten : So klar der Kampf ausgeht und die Lorbeeren der höheren Legitimität verteilt sind – am Ende versinkt auch der Sieger im Orkus der grauen Gegenwart, weil die Einheit von freier Selbstbestimmung und demokratischer Konsensfindung, wie sie in der heroischen Gründungsphase Amerikas einen kurzen Augenblick verwirklicht war, in der historischen Entwicklung auch der USA verloren ging und eigentlich keine Chance auf eine Wiederbelebung hat. Was stattdessen sich durchgesetzt hat, findet die Liebe der traditionsversessenen Politikforscherin ganz und gar nicht : der prosaische demokratische Parteienstaat, den sie als eine Variante der Massengesellschaft nur mit böser Verachtung übergießen kann. In ihrer Verzweif lung geht Hannah Arendt so gar soweit, mit dem Gedanken zu spielen, ob es nicht besser wäre, da demokratische Wahlen doch nur auf eine republikanisch maskierte Oligarchie, d. h. eine mehr oder weniger funktionierende Elitenherrschaft hinausliefe, sich die demokratischen Prozeduren ganz zu sparen : „Vielleicht würde eine solche im wahrsten Sinne ‚aristokratische‘ Staatsform dann nicht mehr zu dem Mittel der allgemeinen Wahlen greifen; denn nur diejenigen, die freiwillige Mitglieder einer ‚Elementarrepublik‘ sind, hätten den Beweis dafür erbracht, dass es ihnen um anderes und vielleicht um mehr geht als um ihr privates Wohlbefinden und um ihre legitimen Privatinteressen. Nur wer an der Welt wirklich interessiert ist, sollte eine Stimme haben im Gang der Welt.“38 Gelten solche verzweifelten Reflexionen den Nachkriegsverhältnissen in den USA und im Europa der 60er Jahre gleichermaßen, so präsentiert Hannah Arendt am Ende ihrer politikwissenschaftlichen Trilogie noch eine andere Überraschung, die der sonst abgewerteten europäischen Tradition wenigstens in einem Punkt zur Ehre verhilft, wenngleich ebenfalls nur in der Form eines melancholischen Denkmals : War schon bei der Schilderung der neuenglischen Townships die Praxis der direkten Demokratie aufgetaucht, so lässt sie diesen Gedanken noch einmal auferstehen, aber nur um auch ihn ausführlich zu Grabe zu tragen : „Zu erzählen und dem nachdenkenden Andenken zu empfehlen bleibt die seltsame und traurige Geschichte des Rätesystems, der einzigen Staatsform, die unmittelbar aus dem Geist der Revolution entstanden ist.“39 Was sicherlich als ein Reflex ihrer engagierten Beobachtung der ungarischen Revolution von 1956 zu gelten hat40, erhält im Kontext der Ideengeschichte, wie er durch die Forcierung der republikanischen Tradition revidiert worden ist, einen zusätzlichen Stachel; denn es gibt gegenüber den durchaus verschiedenen historischen Experimenten an direkter Demokratie, wie sie in den neuenglischen Townships und den Räten der europäischen Arbeiterbewegung unternommen 38 Ebd., S. 360. 39 Ebd., S. 327. 40 Vgl. Hannah Arendt, Die ungarische Revolution und der totalitäre Imperialismus, München 1958.
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worden sind, eine deprimierende Gemeinsamkeit : Sie sind beide dem oligarchischen Organisationszwang der Politik, im Falle des Kommunismus der Einparteienherrschaft, zum Opfer gefallen. Immerhin äußert Hannah Arendt in demselben Schlusskapitel für das aktuelle Verhältnis zwischen Europa und Amerika eine zaghafte Zukunftshoffnung, nämlich, „dass dieser Riss aus dem Ende des 18. Jahrhunderts in der Mitte des 20. Jahrhunderts im Begriff steht zu verheilen, und sei es nur, weil sich inzwischen herumgesprochen hat, dass die atlantische Zivilisationsgemeinschaft die letzte Chance der abendländischen Kultur ist“41. Dieser optimistische Ton erweist sich als neu und als bemerkenswert, wenn man zum Vergleich eine essayistische Serie aus dem Jahr 1953 heranzieht, in der Hannah Arendt sich in immerhin drei Teilen, aber fast durchgehend skeptisch über das Verhältnis zwischen Europa und Amerika ausgelassen hatte. Die Abhandlung ließ wenig Gutes an den politischen Entwicklungen in Europa und zumal in Deutschland und gipfelte in dem Verdacht, dass in den zarten Vorformen der europäischen Vereinigung doch nichts weiter am Werke sei als ein „paneuropäischer Nationalismus“, den man an seinen „antiamerikanische Gefühlen“ erkenne.42 In den 50er Jahren war die europäische Geschichte für Hannah Arendt ein zum Einsturz gekommenes Universum, eine ideengeschichtliche Ruine, in der die lebensgeschichtliche Hoffnung einer deutschen Jüdin begraben lag, eine ganze politische Kultur an ihr Ende gekommen war. Aber Hannah Arendt wäre nicht die Denkerin gewesen, als die wir sie kennen, wenn es dabei geblieben wäre. Sie machte sich mit Entschiedenheit und mit Phantasie auf, um die Denkgeschichte des Abendlandes neu zu grundieren. Die Resultate mögen widersprüchlich gewesen sein, jedenfalls verletzend für festgezurrte Traditionen, aber sie haben gerade dadurch an der Verschiebung des ideengeschichtlichen Horizontes mitgewirkt, über den Europa und Amerika nach dem Zweiten Weltkrieg neu miteinander verbunden wurden.
V. Das aktuelle Desiderat einer inter - kulturellen Weltwissenschaft Das Stichwort von der „atlantischen Zivilisationsgemeinschaft“, mit dem das Revolutions - Buch endet, steht für eine versöhnliche Perspektive auf das Verhältnis zwischen Amerika und Europa. Ich möchte es abschließend aufgreifen, um eine Vermutung darüber zu äußern, wo aus heutiger Sicht die größte Leistung dieser politischen Philosophin zu liegen scheint und wo ihre Grenze. Ich riskiere eine ähnliche Abstraktionslage, indem ich einen Zusammenhang herstelle zwischen dem vielleicht allgemeinsten Begriff, der dieses politische Denken fundiert, nämlich dem der „Welt“ bzw. der „Weltlichkeit“ allen politischen Handelns und dem neuen Diskurs um die sog. Globalisierung, um ihre Formen und 41 Arendt, Über die Revolution, S. 278. 42 Hannah Arendt, Zur Zeit : Politische Essays. Hg. von Marie Luise Knott, Berlin ( West ) 1986, S. 71 und 80.
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ihre Folgen. Während Hannah Arendt offensichtlich noch über einen theologischen Resonanzraum verfügte, wenn sie von „Weltoffenheit“ oder „Weltentfremdung“ sprach – ihr „mundus“ korrespondiert mit dem „coelum“ der christlichen Tradition und vor allem des Augustinus43 –, sind wir Heutigen mit einem empirischen Weltbegriff konfrontiert, mit den harten Kanten des „globus“ und der konfligierenden Kulturen, die auf ihm Platz finden müssen. Ich sehe die große Leistung Hannah Arendts, die ihr einen Platz im akademischen Pantheon des 20. Jahrhunderts sichert, vor allem darin, dass sie die Politikwissenschaft wieder als Weltwissenschaft etabliert hat, nicht nur was ihren thematischen Umfang und ihre Fragestellungen, sondern was ihre Grundlagen, ihre Grundbegriffe und ihren Horizont betrifft. Dies war in ihrem Fall eine wahre Herkules - Aufgabe, wenn man bedenkt, wo sie herkam und wo sie hinging. Sie hat nach der Flucht aus Europa, in dem ihr die physische Vernichtung zugedacht war, in den USA die beinahe übermenschliche Kraft gefunden, die Nullsituation der absoluten Verzweif lung ins Positive zu wenden – so entwickelte sie eine weltoffene Handlungstheorie, auch wenn sie wie aus unendlicher Ferne kam und oft in nostalgischer Distanz zu den gegenwärtigen Problemen verblieb. Vielleicht kann man sie tatsächlich am ehesten als einsame, so rezeptions - wie dezisionsfreudige Migrantin der westlichen, der „abendländischen“ Ideengeschichte verstehen, die der Vergangenheit wahre Schätze entriss, um sie vor dem Vergessen zu bewahren. Dies ist ihr nicht zuletzt deswegen gelungen, weil sie eine geniale Schriftstellerin war, die elegant und bilderreich zu schreiben verstand und dennoch niemals das Forum der Argumentation verließ. Aber zeigen ihre Bücher – und nicht zu vergessen ihre vielen, teils aktuellen, teils historischen und literarischen Essays – auch einen Ausweg aus dem „Kampf der Kulturen“ ( Samuel Huntington ), der heute als die Begleiterscheinung der Globalisierung immer offensichtlicher wird ? Hat sie sich, als intellektuelle Migrantin auf dem Weg von Europa in die Vereinigten Staaten, nicht zu ausschließlich und zu immanent auf die Ideenkreise beschränkt, die Europa und Amerika miteinander verbanden, auch wenn es ihr gerade auf die Differenzen ankam ? War es nicht doch am Ende und bei aller Betonung der menschlichen „Pluralität“ die Suche nach der großen Einheit, eine romantische oder auch nostalgische Zurückwendung zu den heilen Ursprüngen der einen, der abendländischen „Kultur“, durch die es diese „Zivilisation“ – lugt diese manichäische Metaphorik der konservativen deutschen Kulturkritik bei ihr nicht doch noch hervor ? – zu retten galt ? Dass in der gegenwärtigen internationalen Tagespolitik Europa und Amerika wieder einmal auseinander zu driften scheinen, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass beide Kontinente in einer gemeinsamen Konfrontation mit dem „Rest der Welt“ festgefahren scheinen : Während die USA in einem neuen christlichen Fundamentalismus zu versinken drohen, wird die Europäische Union mit dem Einwanderungsdruck nicht fertig und greift 43 Die subkutane Fortexistenz christlich - theologischer Fragen, wie sie sie in ihrer Doktorarbeit über den Liebesbegriff des Augustinus behandelt hat, in den amerikanischen Büchern, besondern in „Vita activa“, harrt der Forschung.
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auf religlös verbrämte Abwehrszenarien zurück. Beide Reaktionen spiegeln eine regressive Haltung wider, hinter der sich der alte Hegemonieanspruch der westlichen Zivilisation nur mühsam verbirgt. Solange dies nicht wirklich begriffen ist, kann die multikulturelle Verfasstheit des Globus nicht einmal als Sollzustand anerkannt werden, von konkreten Schritten zu seiner Realisierung ganz zu schweigen. Wenn diese Diagnose auch nur annähernd stimmt, dann stehen die Vereinigten Staaten von Europa wie die von Amerika am Ende doch vor dem gleichen Problem. Kann man mit Arendtschen Denkübungen aus diesem Dilemma herausfinden ? Stellt ihre politische Theorie die Mittel zur Verfügung, um diese Situation wenigstens aufzuschlüsseln und zu verstehen ? Oder um es ganz aktualistisch und kulturtagespolitisch zu formulieren : Wie hätte Hannah Arendt die Regensburger Papst - Vorlesung vom Herbst 2006 beurteilt ? Wie hätte sie die erwartbaren Reaktionen aus der islamischen Welt interpretiert ? Wir wissen es nicht ! Der Versöhnungswille ist die eine Sache, seine Realisierung ist eine andere. Aber sicher ist auch, dass gerade historisch tief angesetzte Überzeugungen, also intellektuelle Ursprungsmythen, ganz besonders hartnäckige Hindernisse werden können – wie eben die Überzeugung des Papstes, dass „die Wahrheit“, hier die Versöhnung zwischen Vernunft und Glauben, eben doch nur im christlichen Abendland gelungen ist, während sie in der islamischen Welt offenbar gar nicht gedacht werden konnte. Dieser gelehrte Zeigefinger ist nicht geeignet, den Dialog zwischen den Weltreligionen voranzubringen. Hannah Arendt spürte bei ihren Wanderungen durch die abendländische Geschichte viele Widersprüche der westlichen Zivilisation auf, und sie verwies mit großem Scharfsinn auf das produktive Potential, das gerade in diesen Differenzen steckte. Aber bei aller „Weltläufigkeit“, bei allem Pathos der Pluralität – oder der „Differenz“, wie es heute heißt – lässt ihr Denken eben doch an keiner Stelle wirklich das Fenster frei für den Blick auf die „anderen“ Weltkulturen, die ohne die dahinterstehenden Weltreligionen nicht zu erschließen sein werden. Dass sie den letzten Zusatz sofort unterschrieben hätte, verweist übrigens auf eine viel zu wenig beachtete Dimension ihres Denkens, auf den christlich - jüdischen Resonanzboden, der ihre Gräko - und Romanophilie immer in Schwingung hielt. Wenn man aber diese Rolle des Christentums bemerkt – weshalb hat Hannah Arendt keinen einzigen Seitenblick z. B. auf das „andere Amerika“ geworfen, auf das katholische Neuspanien und die daraus entstehende südamerikanische Kultur ? Das Wort „interkulturelle Kommunikation“ mag heute für nicht mehr stehen als für ein akademisches Modefach, aber der Impuls, der in ihm steckt und von den Studierenden ja auch aufgenommen wird, ist authentisch – er richtet sich nicht zuletzt an eine so altgediente Disziplin wie die politische Ideengeschichte. Sie muss heute, wenn sie der historischen Stunde gewachsen sein will, nicht nur als Kritik und Selbstkritik der westlichen Zivilisation, sondern mehr noch als Dialog zwischen den Weltkulturen betrieben werden. In dieser Hinsicht ist beinahe noch alles zu tun !
Hannah Arendts politische Wissenschaft als Wissenschaft von der Welt Karl - Heinz Breier
I. Mundialität oder in love with the world In einer Vorlesungsnotiz grenzt Hannah Arendt die politische Wissenschaft von anderen Disziplinen und ihren Gegenstandsbereichen folgendermaßen ab : „The philosophers : in love with Being ( thaumadzein ). The natural scientists : in love with the Universe. The philologist : in love with books, each good commentator is in love with the printed word. The political scientist : in love with the world, mundus as ag. kosmos, something the Greek called polis, what men do. This includes : Worry for the world, we are afraid something may happen to the mundus hominum.“1
Wir sehen in aller Deutlichkeit : Die politische Wissenschaft ist eine mundiale Wissenschaft. Sie befasst sich mit der Welt. Allerdings, mit Welt sind weder der Kosmos gemeint als ewige, gleichsam in sich selbst ruhende, Geordnetheit noch das Universum, welches mit den quantifizierenden Verfahren der Naturwissenschaft der Erkenntnis zugänglich gemacht werden kann. Welt als mundus bezeichnet „die von den Menschen konstituierte Welt“, jene „civitas terrena, die immer zugleich eine societas ist, d. h. bestimmt durch ein Mit - und Füreinander der Menschen und nicht durch ein einfaches Nebeneinander.“2 Wenn Arendt im Zusammenhang mit der politischen Wissenschaft von mundus und von civitas terrena spricht, so liegt es ihr fern, sich der Welt im augustinischen Sinne zuzuwenden. Bereits in ihrer Doktorarbeit über den Liebesbegriff bei Augustin macht sie auf den zentralen Punkt aufmerksam, dass nämlich die christliche Nächstenliebe „in der allen gemeinsamen geschichtlichen Abstammung von Adam“3 verwurzelt ist. Der Mitmensch wird demnach nicht in erster Linie als Person wahrgenommen, welche handelnd und sprechend in ihrer Ein1 2 3
Hannah Arendt, Political Theory. Notes, unveröff., Library of Congress, Arendt Papers, Box 39, S. 4. Hannah Arendt, Der Liebesbegriff bei Augustin. Versuch einer philosophischen Interpretation, Berlin 1929, S. 77. Ebd., S. 70.
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maligkeit zu Tage tritt, sondern im Nächsten wird das geliebt, was am Ewigen teilhat. Es ist die Gleichursprünglichkeit aus der identischen Abstammung von Gott. Nur so ist es verständlich, dass man nach christlichem Verständnis in der Lage sein muss, selbst den größten Feind zu lieben. Im Sein vor Gott wird der Andere nicht in seiner originär weltlichen Bedeutsamkeit gesehen, sondern ein Jeder – unabhängig von seinen Taten in der Welt – verdient Achtung und Respekt, eben weil ihm seine Würde als Geschöpf Gottes zuteil wird. „Jede Frage nach dem Anderen fragt hier gerade nicht nach seiner weltlichen Bedeutsamkeit, sondern nach seinem Sein vor Gott.“4 Bereits in ihrer Dissertation, in der sie die Wurzeln der spezifisch christlichen Weltabgewandtheit analysiert, schärft sich Hannah Arendt den Blick für ihre späteren politischen Fragen. Muss es nicht möglich sein, dass Menschen ein innerweltliches Bezugsgeflecht knüpfen, in welchem sie sich auch jenseits der christlichen Nächstenliebe in eine verlässliche, gemeinsame Welt einbinden? Und weiter : Ist es nicht möglich, dass wir uns auch ohne Gott – also auch und gerade jenseits eines Seins vor Gott – Respekt und weltliche Bedeutsamkeit gewähren ? Politisch institutionell gesprochen zeigt sich die Welteinbindung in den Einrichtungen einer Republik, ist sie doch – wie Ernst Vollrath sagt – die „Institution der Institutionen“5. In einer Republik bildet das Politische, und zwar unabhängig von letzter Wahrheitsvergewisserung, das Zentrum der wechselseitigen Verbundenheit. Bei Augustinus hingegen verhält es sich anders. Arendt schreibt : „Der amor zur Welt, geleitet von dem letzten Telos, ist sekundärer Natur. Im Erstreben des summum bonum ist die Welt, und zwar die Welt, zu der der amans gehört, in ihrer Eigenständigkeit vergessen.“6 Doch gerade um diese Eigenständigkeit der Welt kreist Arendts gesamtes politisches Denken. Für sie ist es entscheidend, dass die Bezüge zwischen Menschen nicht von einem archimedischen Bezugspunkt außerhalb der Welt hergeleitet werden. Der Bezugsraum muss die Welt in ihrem Bezugsgewebe sein. Und allein vor dem Horizont des menschlichen Bezugsgewebes sind wir in der Lage, das Politische als spezifisches Beziehungsgeflecht wahrzunehmen. Hannah Arendts akademischer Freund Ernst Vollrath betont genau dieses in seinem letzten Buch : „Das Phänomen des Politischen zeigt sich in seiner Wahrnehmung und von dieser her. Es ist außerhalb seiner Wahrnehmung gar nicht sichtbar, d. h. kein Phänomen. Noch mehr : das Politische, das, ohne etwas bloß Subjektives zu sein, kein objektives Ding ist, existiert außerhalb seiner Wahrnehmung nicht.“7 4 5 6 7
Ebd., S. 79. Ernst Vollrath, Revolution und Konstitution als republikanische Grundmotive bei Hannah Arendt. In : Bernward Baule ( Hg.), Hannah Arendt und die Berliner Republik. Fragen an das vereinigte Deutschland, Berlin 1996, S. 130 ff., hier 137. Arendt, Der Liebesbegriff bei Augustin, S. 24. Ernst Vollrath, Was ist das Politische ? Eine Theorie des Politischen und seiner Wahrnehmung, Würzburg 2003, S. 17.
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Ernst Vollraths Studie Was ist das Politische ? führt das Phänomen des Politischen auf die Art und Weise seiner Wahrnehmung zurück. So lautet der Untertitel : Eine Theorie des Politischen und seiner Wahrnehmung. Wahrnehmung bedeutet Wahrnehmung, und politisch gesprochen ist jede Wahrnehmung immer jemandes Wahrnehmung. Aus den Perspektiven unterschiedlich Wahrnehmender stellen sich die politischen Phänomene verschieden dar. Ein vermeintlich eindeutiger Sachverhalt entpuppt sich als durch und durch mehrdeutig, und je nachdem, in welchem Situationszusammenhang der vermeintlich eindeutige Sachverhalt verortet wird, desto offensichtlicher tritt seine Uneindeutigkeit vor Augen. In ihrem Spätwerk Vom Leben des Geistes betont Hannah Arendt : „wir sind von dieser Welt und nicht bloß in dieser Welt“8, und von daher stellt sie sich die Frage, was es für unsere Welt bedeutet, wenn wir womöglich von einer außerweltlichen Fixierung her unsere innerweltlichen Bezüge interpretieren. „In der Nächstenliebe lieben die Menschen einander, weil sie auf diese Weise Christus, ihren Erlöser lieben; Nächstenliebe ist eine überirdische, transzendente Liebe, zwar in der Welt, aber nicht zu ihr.“9 Der Liebe in der Welt, die von der außerweltlichen Beziehung zu Gott getragen wird, setzt Arendt im Laufe ihres politischen Schreibens immer ausdrücklicher die Liebe zur Welt entgegen. In einem Brief an Karl Jaspers schreibt sie : „Ich habe so spät, eigentlich erst in den letzten Jahren, angefangen die Welt wirklich zu lieben [...]. Aus Dankbarkeit will ich mein Buch über politische Theorien ‚Amor mundi‘ nennen.“10 Ihr Verleger, Klaus Piper, riet ihr jedoch von diesem Titel ab.
II. Arendts Machiavellian Moment Hannah Arendt, die auch als Hüterin des Politischen bezeichnet wird, will insbesondere angesichts der Erfahrung moderner Weltentfremdung das Politische in seiner Eigenbedeutsamkeit wieder ins Bewusstsein heben. Dabei rekurriert sie auf Niccolò Machiavelli. Dieser ist für Arendt „der einzige nachklassische Denker, dessen Hauptanliegen es war, das Politische in seine alte Würde wiedereinzusetzen.“11 Machiavellis Augenmerk richtet sich auf „das Wiedererstehen jenes rein weltlich - politischen Raumes, um das sein gesamtes Denken kreist.“12 In seinen Discorsi nimmt Machiavelli politische Ordnungen im Allgemeinen und Republiken im Besonderen unter dem Aspekt ihrer Fragilität in den 8 9
Hannah Arendt, Vom Leben des Geistes, Band 1, Das Denken, München 1979, S. 32. Elisabeth Young - Bruehl, Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit, Frankfurt a. M. 1986, S. 660. 10 Hannah Arendt / Karl Jaspers, Briefwechsel 1926–1969. Hg. von Lotte Köhler und Hans Saner, München 1985, S. 301. 11 Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 1960, S. 36. 12 Hannah Arendt, Über die Revolution, München 1963, S. 267.
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Blick. Keine Freiheitsordnung besteht auf Dauer, und ein Leben in Freiheit bedarf der stetigen politischen Daseinsgestaltung. Gegenüber dieser radikalen Diesseitsorientierung jedoch ist für den christlichen Menschen die Zugehörigkeit zur Gottesbürgerschaft das Ziel allen Strebens. Sein summum bonum ist das Himmelreich, und von daher ist für die christliche Existenz die Bürgerschaft in einem irdischen Gemeinwesen nur von nachrangiger Bedeutung : „Habt nicht lieb die Welt noch was in der Welt ist, denn alles, was in der Welt ist, das ist des Fleisches Lust und der Augen Lust.“13 Die Abkehr von der zeitlich vergänglichen Sinneswelt und die Hinwendung zur übersinnlichen Welt des zeitlos Geistigen, die das platonische Denken prägen, finden sich in ihrer Struktur auch in der christlichen Religion wieder : „Denn unsre Trübsal, die zeitlich und leicht ist, schafft eine ewige und über alle Maßen gewichtige Herrlichkeit, uns, die wir nicht sehen auf das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare. Denn was sichtbar ist, das ist zeitlich; was aber unsichtbar ist, das ist ewig.“14 Die Nachrangigkeit, die damit der Welt des Sichtbaren zugesprochen wird, wirkt sich für Machiavelli desaströs auf den Bereich des Politischen aus. Und genau hierin liegt Machiavellis Radikalität. Er deckt in aller Schonungslosigkeit die politischen Implikationen auf, die mit einem originär religiösen Leben verbunden sind : „Wenn ich bedenke, woher es kommen konnte, dass im Altertum die Völker die Freiheit mehr liebten als je, so scheint mir dies aus derselben Ursache herzurühren, welche heute die Menschen weniger kraftvoll macht. Sie liegt nach meiner Meinung in der Verschiedenheit der heutigen und der antiken Erziehung, die wiederum in der Verschiedenheit der heutigen und der antiken Religion begründet liegt.“15 Machiavelli entdeckt, dass die Tugenden, die uns die christliche Religion ans Herz legt, keineswegs den politischen Tugenden entsprechen, die zur gelungenen Gründung und Erhaltung einer Republik erforderlich sind. „Unsere Religion, die uns die Wahrheit und den rechten Weg des Heils lehrt, lässt uns die Ehren dieser Welt weniger schätzen, während die Heiden diese sehr hoch schätzten, ihr höchstes Gut darin erblickten und deshalb in ihren Teilen viel kühner waren. [...] Die Religion der Alten sprach ferner nur Männer von großem weltlichen Ruhm heilig wie Feldherren und Staatsmänner. Unsere Religion hat mehr die demütigen und in Betrachtung versunkenen Menschen verherrlicht als die tatkräftigen.“16 Von der christlichen Auffassung, wonach „politische Verantwortung eine Last sei, und dass man die Bürde des Politischen ausschließlich um der Nächstenliebe willen auf sich nehmen dürfe“17, hat sich Machiavelli durchgehend distan13 1 Joh. 2, 15. 14 2. Korinther 4, 18. 15 Niccolò Machiavelli, Discorsi. Gedanken über Politik und Staatsführung, eingeleitet und übersetzt von Rudolf Zorn, 2. Auflage Stuttgart 1977, S. 171. 16 Ebd., S. 171. 17 Arendt, Vita activa, S. 59.
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ziert. Er erhebt diejenigen Menschen zu Vorbildern, die – so Arendt – „bereit sind, um des politischen Bereichs willen, zu dem sie gehören, auf ein ewiges Leben zu verzichten oder die Höllenqualen zu riskieren. Für Machiavelli war es weniger die Frage, ob man Gott mehr liebe als die Welt, als ob man fähig sei, die Welt mehr zu lieben als sich selbst. Machiavellis Einwände gegen die Religion sind gemeinhin an die gerichtet, die sich selbst, also auch ihr eigenes Seelenheil, mehr lieben als die Welt.“18 In dieser dem christlichen Glauben innewohnenden Privatheit, die den einzelnen Gläubigen veranlasst, sich mehr um sein eigenes Seelenheil zu kümmern als um eine gelungene, im Handeln erfahrbare weltliche Existenz, wurzelt nach Machiavelli die Schwierigkeit, eine auf Selbstregierung angelegte Bürgerordnung zu begründen und zu erhalten. „Es ist also eine Folge unserer Erziehung und der so falschen Auslegung unserer Religion, dass es in der Welt nicht mehr so viele Republiken gibt wie in der Antike und dass die Völker infolgedessen nicht mehr von solcher Liebe zur Freiheit beseelt sind wie ehemals.“19 Und weiter schreibt er: „Wenn auch unsere Religion fordert, dass man stark sei, so will sie damit mehr die Stärke des Duldens als die der Tat.“20 Während in der vorchristlichen Antike der Raum des Politischen und die sich darin abspielende Kontinuität von Welt auf Dauerhaftigkeit und Unvergänglichkeit angelegt waren und dem einzelnen Sterblichen die Hoffnung gaben, über herausragendes und unvergessliches Handeln in die weltlich - irdische Unsterblichkeit Eingang zu finden, so hat das Christentum mit seinem jenseitigen Heilsversprechen das Verhältnis zwischen Mensch und Welt geradezu umgekehrt. Die Frohe Botschaft verkündet nunmehr das ewige Leben, und daran gemessen gibt es nichts Vergänglicheres als die einstmals so hochgeschätzte Welt. „Angesichts der möglichen Unsterblichkeit des Einzellebens konnte dem Trachten nach weltlicher Unsterblichkeit keine große Bedeutung mehr zukommen, und das, was die Welt an Ruhm und Ehre zu verleihen vermag, wird eitel, wenn die Welt vergänglicher ist als man selbst.“21 Das Ansehen bei den Mitmenschen ist zweitrangig; zuerst und in der Hauptsache kommt es darauf an, vor den Augen des Herrn zu bestehen. Die Liebe zur Welt ist nachrangig gegenüber der Liebe zu Gott. Denn die Liebe richtet sich auf das, was in der Lage ist, die Vergänglichkeit zu überwinden – und dies geschieht für Christen durch die Ausrichtung auf und das Ruhen in Gott. „Die einzige Tätigkeit, die Jesus nachweislich in Wort und Tat gelehrt hat, ist tätige Güte, und diese Tätigkeit hat sichtlich die Tendenz, sich vor den Augen und Ohren der Menschen verborgen zu halten.“22 Sie ist eine Tätigkeit, die Gutes bewirken will, allerdings mit der weltabgewandten Besonderheit, möglichst nicht unter Menschen in Erscheinung zu tre18 19 20 21 22
Arendt, Über die Revolution, S. 366. Machiavelli, Discorsi, S. 172. Ebd., S. 171 f. Arendt, Vita activa, S. 307. Ebd., S. 71.
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ten. Sobald ein Täter in gutem Licht erscheint, verliert die gottgefällige Güte den Charakter ihres unbedingten Gutseins. Es fiele sofort der Verdacht auf die gute Tat, dass der Täter mit ihr auf weltlichen Lohn, auf Anerkennung, Ehre oder Ruhm erpicht sei. Die erstrebte Heiligkeit würde sofort als Scheinheiligkeit in Verruf geraten. Christliche Güte wirkt im Verborgenen, am besten so, dass die eine Hand nicht weiß, was die andere an Gutem vollbringt. Demgegenüber denken sowohl Machiavelli als auch Arendt weltorientiert und außerordentlich politisch. Sie wissen, dass mit einer Tugend, die nur versteckt bewirken, aber unter keinen Umständen in Erscheinung treten darf, kein Staat zu machen ist – zumindest keine an Freiheit orientierte Republik. Denn eine Republik lebt geradezu von ihrer Sichtbarkeit, und da ist es von größter Bedeutung, dass die die Republik erhaltenden öffentlichen Standards insbesondere im Handeln der Repräsentanten erkennbar verankert sind. Im besten Fall laden die im Rampenlicht der Öffentlichkeit Handelnden zu beispielgebender Nachahmung ein. Sprich, – so müsste das republikanische Motto lauten – tue Vorbildliches und erscheine darin! Um sich auf die Unwägbarkeiten der weltlichen fortuna einzulassen, bedarf es anderer Tugenden als christlicher Barmherzigkeit und gottesfürchtiger Demut. Zum Handeln in der Welt bedarf es des Mutes, weshalb Arendt denn auch den Mut ausdrücklich als eine der „Kardinaltugenden des Politischen“23 hervorhebt. Mut wird denen abverlangt, die bereit sind, die Geborgenheit des Privatbereichs zu verlassen, um in der Arena des Öffentlichen zu erscheinen und im dortigen Scheinwerferlicht als handelnde Akteure ihre Person zu erkennen zu geben. „In politics : we must appear, see and be seen, hear and be heard, what we show are we, not vice versa.“24 Authentizität ist im Politischen ohne Belang. Wie jemand vor sich selbst oder vor Gott in Erscheinung tritt, ist im weltlichen Erscheinungsraum zwischen Menschen schlichtweg nicht wahrnehmbar. Allein von daher tut die Frage nach Authentizität nichts zur Sache, nicht etwa, weil die sokratische Frage, wie jemand mit sich oder mit dem Göttlichen zusammenlebt, belanglos wäre. Mit Machiavelli ist Arendt der Auffassung, dass die im Christentum angelegte Weltabkehr sich verhängnisvoll auf den Bereich des Politischen ausgewirkt hat. Denn das Politische verkümmert ohne sichtbare Öffentlichkeit. Gerade die politischen Institutionen einer Republik erfahren ihre Legitimation über das öffentliche Begründen von Entscheidungen und Handlungen. Hierfür ist die Tatkraft, die virtù, der Repräsentanten, aber auch der Repräsentierten, von ausschlaggebender Bedeutung. Der Begriff virtù hat für Machiavelli keinerlei bildungsbürgerliche Implikationen. Für ihn ist virtù der Inbegriff all dessen, was geeignet ist, die Lebensfähigkeit und Stabilität eines Gemeinwesens zu gewährleisten. 23 Ebd., S. 36. 24 Hannah Arendt, Machiavelli. In : dies., History of political theory, unveröff., Library of Congress, Arendt Papers, Box 39, S. 24.
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Aus diesem Grunde spricht man im angelsächsischen Raum auch vom Machiavellian Moment. The Machiavellian Moment25 zielt darauf ab, die Lebensfähigkeit und Stabilität des Gemeinwesens zu sichern und die politische Ordnung auf der Höhe ihrer Integrationskraft zu erhalten. Mit virtù ist weder etwas Romantisierendes noch etwas heldenhaft Verklärendes gemeint, sondern in ihr drückt sich der ganze Realitätssinn Machiavellis aus : „Um einer Republik die Freiheit zu erhalten, bedarf es jeden Tag neuer Maßnahmen.“26 In seinen Discorsi benennt Machiavelli die Erhaltungsbedingungen von politischer Ordnung. Im Zentrum seiner Überlegungen stehen die Handlungsfähigkeit und die Handlungsmacht der politischen Entscheidungsträger. Von den Maßnahmen, die sie ergreifen, und von ihrem politischen Geschick hängt in entscheidendem Maße die Qualität der politischen Ordnung ab. Das heißt, für den im originären Sinne politischen Denker kommen die Menschen nicht als erleidende, sondern als tätige Wesen in den Blick. Nicht was uns widerfährt ist streng genommen von Belang, sondern welche Haltung wir einnehmen und welchen Umgang wir angesichts all dessen, was uns widerfährt, entwickeln, macht für Machiavelli den Kern des Politischen aus. Die Gestaltungs - und die Tatkraft von Handelnden und damit das Tätigsein stehen sowohl im Zentrum von Arendts Überlegungen zur Vita activa als auch in Machiavellis Discorsi über ein Vivere Civile.27
III. Rückgang in die Erfahrungsursprünge In den Schriften der republikanischen Denker ist der Freiheitsbegriff vor allem „ein Verwirklichungsbegriff.“28 In ihrer phänomenologischen Erhellung halten sie es für unerlässlich, gerade auch die vorpolitischen Bedingungen zu untersuchen und zu benennen, unter denen Freiheit als weltbezogene Praxis verwirklicht werden kann. Denn politisch gesprochen ist Freiheit ein weltbezogenes Tätigsein, und Erscheinen können politische Phänomene nur in einem Raum, der in seiner Sichtbarkeit den Hintergrund möglichen Erscheinens abgibt. Dieser gemeinsame Raum entspringt aus der Pluralität der Handelnden und Sprechenden selbst. Das heißt die gemeinsame Wirklichkeit hängt davon ab, dass es uns Handelnden gelingt, kontinuierlich unseren öffentlichen Raum her vorzubringen und zu bewahren.29 25 Vgl. Karl - Heinz Breier / Alexander Gantschow, Einführung in die Politische Theorie, Berlin 2006, S. 173 ff. 26 Machiavelli, Discorsi, S. 404. 27 Vgl. John Pocock, The Machiavellian Moment. Florentine Political Thought and the Atlantic Republican Tradition, Princeton 1975, S. 49 ff. 28 Charles Taylor, Der Irrtum der negativen Freiheit. In : ders., Negative Freiheit ? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus, 3. Auf lage Frankfurt a. M. 1999, S. 118 ff., hier 121. 29 Vgl. Alexander Gantschow, Benjamin Barber interkulturell gelesen, Nordhausen 2005, S. 76 ff.
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Es ist dies die Erfahrung des Gründens und Bewahrens, die Ernst Vollrath in seiner Rekonstruktion der politischen Urteilskraft, die er 1977 der verstorbenen Hannah Arendt gewidmet hat, thematisiert. Und diese Grunderfahrung als Erfahrung des politischen Gründens ist für Arendt paradigmatisch im römischen Denken angelegt – ab urbe condita. Die andere Grunderfahrung, nämlich die Erfahrung, dass allein in einem bereits verfassten Gemeinwesen Menschen sich in Bürger verwandeln, nämlich dann, wenn sie sich im öffentlichen Raum als in ihrem Recht und in ihrer Freiheit Gleiche begegnen, diese Erfahrung hat ihren Ursprung im antiken Griechenland.30 „Trotz aller tiefgreifenden Unterschiede zwischen der griechischen Polis und der römischen Res publica gilt doch für beide, dass die Würde der Politik und der Ursprung politischer Körper in der ungeheuren Anstrengung beschlossen lagen, die Vergänglichkeit des sterblichen Lebens und die flüchtige Vergeblichkeit menschlichen Handelns zu überwinden.“31 In diesem Sinne ist der Arendt’sche Rekurs auf die Antike zu deuten. Diesen Rückgang in die Erfahrungsursprünge nun womöglich als nostalgische Verklärung der Polis zu interpretieren, erfasst den Anspruch, den Arendt verfolgt, nicht im Ansatz. Selbstverständlich lässt sich keine moderne repräsentative Demokratie als basisdemokratische Polis interpretieren. Wo kommt denn etwa auf dem Marktplatz die Vollversammlung der Bürger zusammen, um plebiszitär die Geschicke des Landes zu bestimmen ? Ein solches Politikverständnis wäre doch höchst naiv. Arendt ist vielmehr daran gelegen, das Politische als existenzielle Erfahrung zu benennen. Immerhin leiten wir aus der Erfahrung der Polis den Namen des Politischen ab, und im Politischen drückt sich zum ersten Mal – und darin mustergültig – die menschliche Grunderfahrung aus, dass jede politische Wirklichkeit an einen Erscheinungsraum gebunden ist. Diese grundlegende Erfahrung ist im Begriff der politischen Öffentlichkeit enthalten. Für Arendt bezeichnet daher der Begriff öffentlich, „dass alles, was vor der Allgemeinheit erscheint, für jedermann sichtbar und hörbar ist, wodurch ihm die größtmögliche Öffentlichkeit zukommt. Dass etwas erscheint und von anderen genau wie von uns selbst als solches wahrgenommen werden kann, bedeutet innerhalb der Menschenwelt, dass ihm Wirklichkeit zukommt.“32 Demgegenüber wird in politikwissenschaftlichen Publikationen Öffentlichkeit oft „als Prinzip der Rechtsordnung und Methode der Aufklärung“33 dargestellt. Dabei kommt der Öffentlichkeit lediglich die Aufgabe zu, der Regierung die Gründe für ihr Handeln abzuverlangen und darüber die Amtsinhaber auf die Standards der politischen Ordnung zu verpflichten. Jenseits dieser funktionalen Sichtweise, dass Repräsentanten verpflichtet werden, Rechenschaft abzulegen – 30 Vgl. Christian Meier, Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, 2. Auf lage Frankfurt a. M. 1989, S. 27 ff. 31 Hannah Arendt, Fragwürdige Traditionsbestände im politischen Denken der Gegenwart, Frankfurt a. M. 1957, S. 93. 32 Arendt, Vita activa, S. 49. 33 Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, 6. Auf lage Frankfurt a. M. 1999, S. 180.
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und selbst diese Entdeckung ist griechischen Ursprungs –, verweisen Arendts Ausführungen auf eine tiefere Dimension. Arendt sieht den Erscheinungsraum in seiner anthropologischen Bedeutung. Und genau diese anthropologische Dimension liegt als existenzielle Erfahrung der griechischen Entdeckung des Politischen zugrunde. Inmitten aller natürlichen und physischen Vergänglichkeit ist es höchst politisch, einen stabilisierenden weltlichen Raum zu stiften. Polis ist so gesehen der mundiale Raum, der Weltraum, der Sterblichen für die Dauer ihrer Anwesenheit auf der Erde eine mundiale Heimat gibt. Unter Polis versteht Arendt die Welt konstituierende und freiheitlich verfasste Heimat, die – wenn sie intakt bleibt – unsere individuell sterblichen Lebensspannen überdauert. Für Hannah Arendt ist klar : „Die Welt ist nicht im gleichen Sinne gemeinsam wie das christliche Gemeinwohl, die allen Christen gemeinsame Sorge um das eigene Seelenheil; das weltlich Gemeinsame liegt außerhalb unserer selbst, wir treten in es ein, wenn wir geboren werden, und wir verlassen es, wenn wir sterben.“34 Was uns miteinander verbindet ist dasjenige, woran wir gemeinsam Anteil haben, allerdings mit der Besonderheit, dass das Anteilige nicht in jedem unterschiedslos und identisch vorliegt. Dies jedoch ist der Fall, wenn sich zwischen handelnden und sprechenden Menschen eine gemeinsame Welt auftut, die nur dadurch entsteht, dass die Sichtweisen genauso wie die Erfahrungen in der Welt voneinander verschieden sind. In verbindenden Weltbezügen liegt keine wie auch immer geartete Gattungsidentität als Gemeinsamkeit zugrunde. Es ist der mit anderen gemeinsam erfahrbare Aufenthalt in einem Bezugsgewebe, in dem keine Anknüpfungsperspektive mit einer anderen völlig identisch ist.35 Nicht Identität, Arendt sagt Pluralität, ist also die Bedingung dafür, dass es weltbezogenes Handeln unter Menschen gibt. Arendts Sorge um unsere moderne Welt gilt ihrer Befürchtung, dass wir – jeder auf sich fixiert – uns wie in einer mehr oder weniger besetzten U - Bahn aneinander vorbei durchs Leben bewegen. „Was die Verhältnisse in einer Massengesellschaft für alle Beteiligten so schwer erträglich macht, liegt nicht eigentlich, jedenfalls nicht primär, in der Massenhaftigkeit selbst; es handelt sich vielmehr darum, dass in ihr die Welt die Kraft verloren hat zu versammeln, dass heißt, zu trennen und zu verbinden. Diese Situation ähnelt in ihrer Unheimlichkeit einer spiritistischen Séance, bei der eine um einen Tisch versammelte Anzahl von Menschen plötzlich durch irgendeinen magischen Trick den Tisch aus ihrer Mitte verschwinden sieht, so dass nun zwei sich gegenüber sitzende Personen durch nichts mehr getrennt, aber auch durch nichts Greifbares mehr verbunden sind.“36 Unverbundenheit, Isoliertheit und solipsistischer Rückzug stellen Gefahren dar, die in ihren freiheitsbedrohenden Zügen von der gesamten Tradition freiheitlich - republikanischen Denkens erkannt worden sind. Von Aristoteles, der 34 Arendt, Vita activa, S. 54. 35 Vgl. Ernst Vollrath, Grundlegung einer philosophischen Theorie des Politischen, Würzburg 1987, S. 229 f. 36 Arendt, Vita activa, S. 52.
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uns Menschen als von Natur aus als weltbegabte, eben politische Wesen begreift und der von den zehn Büchern seiner Nikomachischen Ethik allein zwei Bücher der Freundschaft widmet, bis hin zu Machiavelli, Montesquieu und Tocqueville sind sich alle über die Freiheitsbedrohung im Klaren, die mit einem privatistischen Rückzug aus der Welt verbunden ist. Mit dem Begriff des individualisme hat dies Alexis de Tocqueville pointiert thematisiert.37 Die republikanische Tradition des politischen Denkens betont diesen Zusammenhang, und es sind nicht zuletzt die eigenen Erfahrungen der Autoren, die sich darin widerspiegeln. Wer politisch schreibt, indem er Politisches beschreibt, fühlt sich zur Welt hingezogen, sich ihr gegenüber verantwortlich, ja im besten Fall von der Sorge um sie in die Pflicht genommen. Der politische Mensch, der eine weltorientierte Existenz lebt, weiß, dass diese Lebensweise ihren Sinn und ihre Bedeutung in sich selbst trägt. Sie erfüllt, sie macht Spaß, und jeder, der einmal so gelebt hat, weiß, „dass es im menschlichen Leben höhere Güter gibt als das individualistische Glück des zurückgezogenen Privatmannes.“38 In Anlehnung an die Federalist - Autoren nennt Arendt dieses Vergnügen, im Erscheinungsraum sichtbar zu sein, „public happiness“39.
IV. Zur Pluralität der Lebensweisen Um eine völlig andere Glückserfahrung, eudaimonia, handelt es sich dagegen, wenn ein Philosoph sich an seinem daimon, d. h. an der für ihn zuträglichen Lebensweise orientiert. Ganz im aristotelischen Sinne trifft Arendt die Unterscheidung zwischen den beiden Lebensweisen eines bios theoretikos und eines bios politikos40. Während das theoretische Leben in Einsamkeit stattfindet und auf die Erkenntnis derjenigen Dinge abzielt, die sich auf unveränderliche Prinzipien, das Ewige, das Unwandelbar - Beständige erstrecken, so geht es im Bereich des Politischen gerade um das Wandelbare, das Veränderliche, eben um die Angelegenheiten zwischen Menschen. Das theoretische Leben, verkörpert im Philosophen und dessen weltabgewandter Erforschung des immer währenden Seins, steht im krassen Gegensatz zur Lebensweise des der Welt zugewandten politischen Menschen und dessen verantwortlicher Teilnahme am öffentlichen Leben. Einsamkeit – wenn auch im denkenden Zwiegespräch mit sich selbst41 – und Gemeinsamkeit stehen sich gegenüber. Was dem Philosophen die Freundschaft 37 Vgl. Karl - Heinz Breier, Leitbilder der Freiheit. Politische Bildung als Bürgerbildung, Schwalbach / Ts. 2003, S. 219 ff. 38 Michael Hereth, Zur Aktualität der Gedanken Alexis de Tocquevilles. In : ders./ Jutta Höffken ( Hg.), Alexis de Tocqueville – Zur Politik in der Demokratie. Symposion zum 175. Geburtstag von Alexis de Tocqueville, Baden - Baden 1981, S. 9 ff., hier 14. 39 Hannah Arendt, Action and the „Pursuit of Happiness“. In : Politische Ordnung und menschliche Existenz. Festgabe für Eric Voegelin zum 60. Geburtstag. Hg. von Alois Dempf, München 1962, S. 1 ff. 40 Arendt, Vita activa, S. 19 f. 41 Vgl. Arendt, Vom Leben des Geistes, Band 1, S. 184 ff.
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zur Wahrheit ist, bedeutet dem politischen Menschen die Freundschaft zur Welt. Der Philosoph sucht Ruhe, der politische Mensch hingegen befindet sich inmitten von Unruhe, und zwar von Unruhe, die er durch sein Handeln selbst in Gang setzt und in Gang hält. Philosophie verträgt keine Ablenkung. Für den Freund der Wahrheit ist es unerheblich, ob er von der Natur oder von der Welt an seinem kontemplativen Rückzug gehindert wird. Denn für jeden, der ungestörte Ruhe sucht, ist störende Unruhe ein Übel. Die betrachtende Lebenshaltung erstrebt, jede sich in der Zeit zutragende Bewegung, jede Veränderung, jeden Wechsel – mithin alles Kontingente – hinter sich zu lassen. Soweit es Menschen möglich ist, versucht der Philosoph, sich aus allen zeitlich bedingten Verflechtungen zurückzuziehen und sich dem zeitlosen Göttlichen zuzuwenden. In Ablösung von der wechselhaften und stets bewegten Welt der Erscheinungen wendet sich der bios theoretikos dem theos, also dem Göttlichen zu. Denn im Göttlichen fallen die ersten Ursachen und letzten Gründe in eins, so dass das Göttliche das Sein in seiner Ganzheit und Fülle darstellt. „Das nannten die Griechen Theoria : Weggegeben - Sein an etwas, das sich in seiner über wältigenden Präsenz allen gemeinsam darbietet und dadurch ausgezeichnet ist, dass es im Gegensatz zu allen anderen Gütern durch Teilung nicht weniger wird und deswegen umstritten ist wie alle Güter sonst, sondern durch Teilhabe gewinnt. Das ist am Ende die Geburt des Vernunftbegriffes.“42 Vernunft zielt auf Vernehmen, und je mehr die Vernunft des Allgemeinen teilhaftig wird, desto mehr erfüllt sich das Denken in der Betrachtung. „In der klassischen politischen Theorie heißt der Grundbegriff für die Gemeinsamkeit : homonoia. Das ist die Gemeinschaft in der Vernunft. Vernunft einigt. Es wäre unvernünftig, wenn wir gegeneinander stünden. Vernunft bringt die Menschen und die Menschen mit anderem zusammen [...]. Sie ist die alles versammelnde Kraft schlechthin, als welche sie dann logos genannt wird. Homo - noia heißt wörtlich das gleiche Vernehmen, das den Menschen auszeichnen soll.“43 Die Vernunft erhellt die menschliche Existenz, und es scheint – wie Sokrates zeigt – der Gang des Fragens selbst zu sein, wodurch dem vernünftig Fragenden sich das Wesentliche zur Einsicht und zu Bewusstsein bringt. Demgegenüber hat Hannah Arendt das Unpolitische der weltabgewandten, philosophischen Lebensweise vor Augen – nicht zuletzt in der Person Martin Heideggers. Das Verbindende und das Gemeinsame der Philosophen ist weder eine gemeinsame Welt noch sind es tätige Bezüge, die ein in - between von Menschen stiften.44 Das Zwischen ist vielmehr innerhalb der solitären philosophischen 42 Hans - Georg Gadamer, Was ist Praxis ? Die Bedingungen gesellschaftlicher Vernunft. In: ders., Vernunft im Zeitalter der Wissenschaft, Frankfurt a. M. 1976, S. 64. 43 Arno Baruzzi, Freiheit, Recht und Gemeinwohl. Grundfragen einer Rechtsphilosophie, Darmstadt 1990, S. 168. 44 „This in - between of men living together is the topic of politics or the political sphere.“ In : Hannah Arendt, Montesquieu. In : dies., History of political theory, unveröff., Library of Congress, Arendt Papers, Box 39, o. S.
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Existenz angesiedelt. Dort hat das in - between seinen Ort, und dort erfährt der nach Wahrheit Strebende die Spannung zum Grund seiner Existenz.45 Nicht in einem möglichst intakten Bezugsgeflecht zu anderen Menschen gelangt ein Philosoph zur Wahrheit seiner Existenz, sondern diese Erfahrung vollzieht sich – wie Voegelin treffend ausdrückt – „durch seine Teilhabe, seine participatio an der welt - jenseitigen, göttlichen Ratio.“46 „Der Mensch wird in der Wahrheit seiner Existenz sein, wenn er seine Psyche der Wahrheit Gottes geöffnet hat; und die Wahrheit Gottes wird in der Geschichte offenbar werden, wenn sie die menschliche Psyche zur Empfänglichkeit für das unsichtbare Maß geformt hat. Das ist das große Thema der Politeia Platons. In den Mittelpunkt des Dialoges stellt Platon das Höhlengleichnis mit seiner [...] Hinwendung zur Wahrheit der Idee.“47 Arendts Haltung zur Philosophie ist distanziert. Wie sie in einem Fernsehgespräch äußert, gibt es „eine Art von Feindseligkeit gegen alle Politik bei den meisten Philosophen [...]. Eine Feindseligkeit, die für diesen ganzen Komplex außerordentlich wichtig ist, weil es keine Personalfrage ist. Es liegt im Wesen der Sache selber [...]. Ich will an der Feindseligkeit keinen Teil haben. [...] ich will Politik sehen mit, gewissermaßen, von der Philosophie ungetrübten Augen.“48 Mit einem kurzen „Ich verstehe“ beendet daraufhin Günter Gaus Arendts Ausführungen über das von ihr angedeutete Spannungsverhältnis zwischen Philosophie und Politik. Während er in seinem Inter view zur Frage nach der Frauenemanzipation überleitet, ist ihm entgangen, dass Arendt gerade eine andere Emanzipationsfrage zu erörtern begann – die Frage nach der Emanzipation des Politischen von der Philosophie. Gleichsam rückblickend resümiert Arendt in ihrem Spätwerk : „Es ging mir um das Problem des Handelns, die älteste Frage der Theorie der Politik, und es hatte mich schon immer daran gestört, dass selbst die Bezeichnung, unter die ich meine Überlegungen zu diesem Gegenstand stellte, nämlich ‚vita activa‘, von Leuten geprägt worden war, die ein kontemplatives Leben führten und alles Seiende von diesem Standpunkt aus betrachteten.“49 Jedoch nicht erst gegen Ende ihres Lebens, sondern bereits im Jahre 1956 spricht sie in einem Brief an Karl Jaspers von dem „Konflikt zwischen Politik und Philosophie, dem ich versuche auf die Spur zu kommen.“50 Schon fünf Jahre früher bringt sie ihr Unbehagen gegenüber der von Platon grundgelegten philosophischen Tradition in einem Brief an Eric Voegelin zum Ausdruck : „Wie 45 Dante Germino, Eric Voegelin. The In - Between of Human Life. In : Anthony de Crespigny / Kenneth R. Minogue ( Hg.), Contemporary Political Philosophers, London 1975, S. 100 ff. 46 Eric Voegelin, Die Neue Wissenschaft der Politik. Eine Einführung, 4. Auf lage Freiburg 1991, S. 16. 47 Ebd., S. 106 f. 48 Hannah Arendt, Was bleibt ? Es bleibt die Muttersprache. In : Adelbert Reif ( Hg.), Gespräche mit Hannah Arendt, München 1976, S. 1 ff., hier 10. 49 Arendt, Vom Leben des Geistes, Band 1, S. 16. 50 Arendt / Jaspers, Briefwechsel, S. 325.
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kommt es, dass wir aus unserer Tradition nicht imstande waren, die uns von unserer Zeit gestellten politischen Fragen zu beantworten. Dies führt zu der weiteren Frage : Was ist Politik seit Platon ? Und sind die seit Platon gegebenen Antworten zureichend ? Ich weiß, dass es Ihnen hybrid klingen wird, wenn ich sage: ich glaube nicht. Ich habe den Verdacht, dass in dieser, der rein politischen Hinsicht, irgend etwas in unserer philosophischen Tradition nicht in Ordnung ist. Ich weiß nicht, was es ist, aber es scheint mir im Zusammenhang mit der Pluralität der Menschen zu stehen und mit dem Faktum, dass die Philosophie es vorwiegend mit dem Menschen zu tun gehabt hat.“51 Als Zeitgenossin der Moderne und ausgebildet von Karl Jaspers und Martin Heidegger52 versucht Arendt die metaphysisch - philosophische Tradition zu unterlaufen. Sie unternimmt es, den Bereich des Politischen nicht vom archimedischen Standpunkt aus zu befragen. Das Bemühen, eben metaphysisch hinter, vor oder in der Vielheit der Erscheinungen die Einheit des Seins als den wahren Grund der Vielheit auszumachen, verstellt nach Arendt den Blick auf den Bereich des Politischen. Dem Politischen liegt weder eine Einheit, sprich eine von menschlichen Handlungen unabhängige Substanz zugrunde, noch können wir jenseits der Vielheit, aus dem das Politische hervorgeht, einen der Welt enthobenen Ort ausmachen, der es uns Weltwesen erlaubte, das Politische gleichsam von außen zu untersuchen. Während Arendt gerade die Vielfalt der Perspektiven betont, aus denen sich der Raum des Politischen konstituiert, zielt das Unternehmen der Philosophie darauf ab, das Geflecht der bloßen Perspektiven zu durchdringen. Im Bestreben, sich von ihnen zu befreien, zielt philosophisches Fragen auf eine Wirklichkeit, welche keine andere, bessere oder höherwertige Perspektive mehr zulässt. Für einen Philosophen ist die Vernunft, der logos, eben das Göttliche, welches uns in unserem Begehren nach Wahrheit anzieht, das Umgreifende und Umspannende unserer Existenz. Für einen politischen Menschen hingegen ist dies die Welt der Bezüge zwischen Menschen, ebenso wie die darin zutage tretende Perspektivenvielfalt, die als Bereicherung angesehen wird und gerade nicht als auszuräumendes Hindernis auf dem Weg zur unbedingten Wahrheit.
V. Politische Wissenschaft als Bürger wissenschaft Hannah Arendt ist Schülerin von Martin Heidegger, und beide sind in ihrer Krisendiagnose unserer Moderne gleichsam „durch Nietzsche durchgegangen“. So schreibt Arendt : Erst „mit der Befreiung der hiesigen Welt von diesem Spuk des Seins und diesem Wahn, es erkennen zu können, entfiel die Notwendigkeit, 51
Hannah Arendt / Eric Voegelin, Briefwechsel, unveröff., Library of Congress, Arendt Papers, Box 13, S. 2. 52 Für Hannah Arendt war „Jaspers [...] der einzige wirkliche Erzieher – Heidegger ist ein Lehrer“. In : Hannah Arendt, Denktagebuch 1950 bis 1973. Hg. von Ursula Ludz und Ingeborg Nordmann, München 2002, Band 1, S. 13.
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monistisch aus einem Prinzip – nämlich eigentlich aus dieser allesdurchwaltenden Substanz – alles erklären zu müssen. Anstatt dessen kann die ‚Zerrissenheit des Seins‘ (wobei diesmal Sein nicht das Sein der Ontologien bedeutet) zugestanden werden und mit dem modernen Gefühl der Fremdheit in der Welt und dem modernen Willen, in der Welt, die Heimat nicht mehr ist, eine Menschenwelt, die Heimat werden könnte, zu schaffen, Rechnung getragen werden.“53 Der metaphysische Boden ist weggebrochen und angesichts der modernen Bodenlosigkeit macht Arendt auf den vermeintlichen Zwischenboden des Politischen aufmerksam. Doch – und dies ist Arendts Pointe – das Politische ist kein Zwischenboden. Es ist jener eigenständige Boden, der erscheinenden Wesen allererst gerecht wird. Denn für Weltbewohner, die in der Welt ihre Existenz erfahren, fallen Sein und Erscheinung zusammen. Im tätigen Erscheinen gibt sich das Sein, eben die Art und Weise zu sein, zu erkennen. Und was unser menschliches Handeln anbelangt, ist es für Arendt völlig abwegig, nach einem vorgängigen oder dahinter liegenden Sein Ausschau zu halten. „Menschlich und politisch gesprochen, sind Wirklichkeit und Erscheinung dasselbe, und ein Leben, das sich außerhalb des Raumes, in dem allein es in Erscheinung treten kann, vollzieht, ermangelt nicht des Lebensgefühls, wohl aber des Wirklichkeitsgefühls, das dem Menschen nur dort entsteht, wo die Wirklichkeit der Welt durch die Gegenwart einer Mitwelt garantiert ist, in der eine und dieselbe Welt in den verschiedensten Perspektiven erscheint.“54 Die von Platon artikulierte ontologische Differenz, die Unterscheidung zwischen Grund und Gegründetem, zwischen Sein und Seiendem, zwischen Wesen und Erscheinung, zwischen Ewig - Überdauerndem und Zeitlich - Vergänglichem, die die nachfolgenden Meisterdenker über zwei Jahrtausende angetrieben und in die verschiedensten Denkrichtungen geführt hat, wird von Arendt des Feldes verwiesen. Diese Grundfrage, die Frage nach dem Grund, verkennt die vielleicht grundlose Oberflächigkeit unserer Welt. „Wir leben ja in einer erscheinenden Welt; wäre es da nicht viel einleuchtender, dass das Bedeutsame und Sinnvolle gerade an der Oberfläche zu finden sein sollte ?“55 Für Hannah Arendt indes steht fest, und dies ist einer der wenigen Maßstäbe, der aus ihrer phänomenologischen Zugangsweise gewonnen werden kann : „The criterion is the world.“56 Und das bedeutet : Für erscheinende Wesen muss der Raum möglichen Erscheinens intakt bleiben. Und diese Aufgabe, diese politische Herausforderung ist leistbar, ohne von einer „vernünftig - theoretischen Zuwendung zur Ordnung des Kosmos als Teilhabe am Göttlichen“57 abhängig zu sein. Sicherlich, originär philosophische Fragen, etwa die nach der Begründung von Gerechtigkeit, muss Arendt radikal ausklammern. Die das Feld der Meinun53 Hannah Arendt, Was ist Existenzphilosophie ? In : dies., Sechs Essays, Heidelberg 1948, S. 48 ff., hier 79. 54 Arendt, Vita activa, S. 192 f. 55 Arendt, Vom Leben des Geistes, Band 1, S. 37. 56 Arendt, From Machiavelli to Marx, S. 1.
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gen transzendierenden Fragen nach dem unbedingt Guten und in der Folge nach einer entsprechenden Güterhierarchie weisen über eine rein weltlich - politische Orientierung hinaus. Dies ist der Preis, den die Freundin der Phänomene entrichten muss. Aristoteles hat in der Kritik an seinem Lehrer Platon damit begonnen, die politische und die philosophische Existenz als zwei eigenständige Lebensweisen zu erörtern und in ihrem jeweiligen Anspruch zu würdigen. Mit der Betonung ihrer Unterscheidung zwischen Vita activa und Vom Leben des Geistes hat Hannah Arendt ihrerseits diesen Faden wieder aufgenommen. Dazwischen liegt eine Tradition republikanischen Denkens, die entscheidend von Machiavelli, Montesquieu, The Federalist und Tocqueville geprägt ist. Jenseits aller Eigentümlichkeiten ist ihnen Eines gemeinsam. Es ist die Welt zugewandte Unternehmung, die Sichtbarkeit des Politischen selbst wieder erfahrbar zu machen. Eben darin liegt die ganze Radikalität einer politischen Wissenschaft, die sich als Bürgerwissenschaft versteht. Tocqueville hat diese gigantische Herausforderung auf den Punkt gebracht : „Eine völlig neue Welt bedarf einer neuen politischen Wissenschaft.“ Als politische Denkerin des 20. Jahrhunderts führt Hannah Arendt diese Denkbewegung weiter. In ihrer Krisendiagnose der Moderne, in der sie die Gefährdung des Politischen nachzeichnet, radikalisiert sie diese Welt zugewandte Tradition, ja sie nimmt diese in ihrer geradezu existenziellen Tiefe wahr : „Weltentfremdung und nicht Selbstentfremdung, wie Marx meinte, ist das Kennzeichen der Neuzeit.“58 Vor diesem Hintergrund ist die Gefahr moderner Weltlosigkeit Hannah Arendts Thema, und darin gipfelt ihr politisches Denken, das als weltbezogene Tätigkeit das Denken des Politischen betreibt. „Wie immer man sich zu der Frage stellen mag, ob es der Mensch oder die Welt sei, die in der heutigen Krise auf dem Spiel steht, eines ist sicher, die Antwort, welche den Menschen in den Mittelpunkt der gegenwärtigen Sorge rückt und meint, ihn ändern zu müssen, um Abhilfe zu schaffen, ist im tiefsten unpolitisch; denn im Mittelpunkt der Politik steht immer die Sorge um die Welt und nicht um den Menschen.“59 Hannah Arendt hat die Unheimlichkeit moderner Existenz sowohl theoretisch über ihre existenzphilosophischen Lehrer als auch lebensgeschichtlich als ortloser Flüchtling vor dem Totalitarismus erfahren. Und auch sie ist sich darüber im Klaren, dass kein ungebrochenes Wiederanknüpfen an die einst gültige metaphysische Tradition möglich ist. Hannah Arendts politische Wissenschaft als Wissenschaft von der Welt unternimmt es, das Politische zu rehabilitieren.60 Alle Dominanzansprüche von Sei57 Günther Bien, Die Grundlegung der politischen Philosophie bei Aristoteles, 3. Auf lage Freiburg 1985, S. 169. 58 Arendt, Vita activa, S. 249. 59 Hannah Arendt, Was ist Politik ? Fragmente aus dem Nachlass. Hg. von Ursula Ludz, München 1993, S. 24. 60 Karl - Heinz Breier, Politische Wissenschaft als Bürgerwissenschaft. Hannah Arendt über Bürgerfreiheit in der Republik. In : Gisela Riescher / Dirk Berg - Schlosser / Arno Wasch-
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ten der Philosophie, von Seiten der Theologie und auch von Seiten der Ökonomie unterläuft Hannah Arendt. Denn es ist nicht eine wie auch immer geartete Idee des Menschen, die Arendts politischem Denken das Fundament gibt, sondern es ist The Human Condition61, von der her Arendt das Politische wahrnimmt. Sie verabschiedet jegliches metaphysische Geländer und rekurriert auf keinen äußeren Maßstab im Sinne der traditionellen Metaphysik, sondern – und hier ist sie ganz Phänomenologin – sie geht von den Grundbedingtheiten menschlichen Daseins aus. Die „Rede von der Bedingtheit der Menschen und Aussagen über die ‚Natur‘ des Menschen sind nicht dasselbe.“62 Hannah Arendt nimmt Abschied von der metaphysischen Frage nach dem unwandelbaren Wesen des Menschen und sie wendet sich den erfahrbaren Gegebenheiten menschlichen Daseins zu. Und die Daseinsbedingungen unserer Existenz in der Welt können wir ganz phänomenologisch wahrnehmen und benennen. Damit thematisiert Arendt die immer schon in Anspruch genommenen Voraussetzungen humaner Existenz und sie nimmt diese zum Ausgangspunkt ihres Denkens. Es sind die erfahrbare Pluralität und die sich darin ausdrückende Mundialität, die für Arendt die unhintergehbaren Bedingtheiten humanen Daseins darstellen. „Für Menschen heißt Leben [...] so viel wie ‚unter Menschen weilen‘ ( inter homines esse ) und Sterben so viel wie ‚aufhören unter Menschen zu weilen‘ ( desinere inter homines esse ).“63 Weder ein einzelner Mensch als solitäres Wesen noch der Mensch als überzeitliche Idee bilden die Basis ihres politischen Denkens, sondern es sind die Menschen, die in ihrer wechselseitigen Verwiesenheit die Weltbezüge, in denen sie leben, konstituieren. Die Welt als maßgeblichen Wirklichkeitsbereich nennt Hannah Arendt daher auch das „tertium comparationis des Menschseins“64. Sofern es im Politischen um die Gestaltung der menschlichen Angelegenheiten geht, so muss doch die Welt, die wir beleben, intakt sein. Das heißt : „Wir sind von dieser Welt und nicht bloß in dieser Welt.“65 Für weltbezogene Wesen muss zumindest der Raum ihres Erscheinens intakt bleiben. Insofern spricht Arendt von einer Erbschaft. Doch wie wir als handelnde Neuanfänge mit diesem Erbe umgehen, bleibt uns überlassen. Im existentiellen Sinne entpuppt sich Arendts worry for the world als „Erbschaft ohne Testament“66.
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kuhn ( Hg.), Politikwissenschaftliche Spiegelungen. Ideendiskurs – Institutionelle Fragen – Politische Kultur und Sprache. Festschrift für Theo Stammen zum 65. Geburtstag, Opladen 1998, S. 160 ff. Hannah Arendt, The Human Condition, Chicago 1958. Arendt, Vita activa, S. 16. Ebd., S. 15. Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 1986, S. 343. Arendt, Vom Leben des Geistes, Band 1, S. 32. Hannah Arendt, Die Lücke zwischen Vergangenheit und Zukunft. In : dies., Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I. Hg. von Ursula Ludz, München 1994, S. 7 ff., hier 9.
II. Denken des Politischen
Die Produktivität der Macht Hannah Arendts Revolutionierung des klassischen Begriffs der Politik Hauke Brunkhorst Im Zentrum von Arendts Werk steht der Begriff der Macht. Schon die abgründige Geselligkeit des bürgerlichen Salons, die sie in ihrer Habilitationsschrift rekonstruiert, ist Ausdruck einer historisch neuen Macht. Macht ist potentia, ein Vermögen, das den Subjekten und dem Subjekt weder äußerlich noch verfügbar ist. Auch noch die Kunst ist für Arendt nicht Darstellung, sondern Ausdruck eines derartigen Macht - Potentials, und in ihrem letzten Werk Vom Leben des Geistes bringt sie auch noch den bios theoretikos der platonischen Philosophie auf jenen Begriff, der das einsame Denken mit dem Urteilsvermögen innerlich verbindet. Paradigma aller Macht aber ist die politische Macht, die der Herrschaft widerstreitet. Macht ist das, was sich nicht durch Verwaltung, Recht und Staatsgewalt beherrschen, instrumentalisieren, organisieren lässt. Alle Macht fordert, wo sie spontan entsteht, die herrschenden Gewalten, den demokratischen Rechtsstaat ebenso wie die tyrannische Despotie heraus, bedroht sie mit Zerstörung und kann jederzeit wieder zu Herrschaft, Bürokratie, Despotie erstarren. In der Totalitarismusstudie Origins of Totalitarianism ist Macht nur eine hoch dynamische Bewegung des Negativen, die totalitäre Macht der Vernichtung und Selbstvernichtung. Seit Vita activa aber rückt die produktive und gründende Kraft der beweglichen und unbeherrschbaren Macht ins Zentrum von Arendts politischem Denken. Macht ist jetzt das eigentümlich intersubjektive Vermögen, das nicht nur Ordnung, Staat und Recht zu zerstören und zu vernichten, sondern gleichzeitig neu hervorzubringen, zu gründen und zu stiften vermag. Vor allem die Arbeiten, die Vita activa gefolgt sind, allen voran On Revolution, haben Arendt als leidenschaftliche Kritikerin des europäischen Nationalstaats bekannt gemacht. Weniger bekannt ist, dass sie ihre Auseinandersetzung mit den Ursprüngen des Totalitarismus als ebenso entschiedene Verteidigerin dieses Staats, den sie zunächst ganz im Sinne der Französischen Revolution als Republik versteht, begonnen hatte. Der Bruch zieht sich mitten durch das Totalitarismusbuch von 1951. Arendt geht zunächst (I) davon aus, dass der demokratische Nationalstaat, so wie er aus der Französischen Revolution hervorgegangen ist, imstande ist, politische Freiheit zu gewährleisten und sie vor den
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ärgsten Zudringlichkeiten einer hoch dynamischen, bürgerlich - kapitalistischen Gesellschaft zu schützen. Bevor sie sich im Verlauf der 1950er ganz vom Nationalstaat verabschiedet, wird sie sich (II) für einen Augenblick auf die Position des liberalen Rechtsstaats, der seine Bürger vor allem vor der jetzt nur noch nationalistisch verstandenen Nation schützt, zurückziehen. Die Idee des reinen Rechtsstaats, der die Demokratie eng begrenzt und zur Not auch ohne die Demokratie auskommen kann, ist jedoch historisch diskreditiert und der bloße Rechtsstaat viel zu schwach, um sich dem gewaltigen Expansionsdrang von Kapitalismus, Imperialismus und Totalitarismus entgegenstemmen zu können. Aus diesem Dilemma befreit sie sich in Amerika und beim Studium der Federalist Papers und der Schriften Thomas Jeffersons und James Madisons. Sie verbindet (III) diese Lektüre und die Alltagserfahrung der US - amerikanischen Demokratie, die ihr schließlich das Leben gerettet hat, mit einer erneuten Analyse des Begriffs der Macht.
I. Reflexive Macht des Imperialismus In Origins of Totalitarianism ist die Dreyfus - Affaire das Paradigma einer öffentlichen Angelegenheit. Ort des öffentlichen Lebens sind die Bühnen des republikanisch - jakobinischen Nationalstaats : das Parlament, die Gerichte, die Presse, die öffentliche Versammlung. Schriftbasierte Kommunikation unter Abwesenden vermittelt in diesem Modell alle Kommunikationsprozesse, und die Nation ist mit der Deklaration der Rechte des Menschen und des Bürgers gleichursprünglich. Das Band, das die Nation eint, sieht Arendt deshalb ganz konsequent in „jenem jakobinischen Patriotismus, für den die Menschenrechte immer Teil des Ruhms der Nation waren“1. Sie grenzt diesen Patriotismus, den sie dem „Latinismus“ der Revolution, der „bewussten Nachahmung der römischen Republik“, entspringen sieht, scharf von allen Formen des ethnischen, völkischen oder rassischen Nationalismus ab.2 Im Latinismus der Jakobiner erkennt sie zum ersten mal den Ursprung einer Macht, die im Stande ist, den totalitären Mächten der Gesellschaft zu widerstehen : „Das bisher stärkste Bollwerk“, schreibt sie 1948, „gegen die schrankenlose Herrschaft der bürgerlichen Gesellschaft, gegen die Ergreifung der Macht durch den Mob und die Einführung imperialistischer Politik in die Struktur der abendländischen Staaten ist der Nationalstaat gewesen. Seine Souveränität, die einst die Souveränität des Volkes selbst ausdrücken sollte, ist heute von allen Seiten bedroht.“3 Zum letzten Mal hätten die Ideen von 1789 – so Arendt in der amerikanischen Ausgabe von Origins – im Ersten Weltkrieg unter Clemenceaus
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Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 1991, S. 170. Dies., Elemente und Ursprünge, S. 276; vgl. ebd., S. 370–372. Dies., Die verborgene Tradition, Frankfurt a. M. 1976, S. 29.
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Regierungsvorsitz triumphiert : „The first World War could still be won by the Jacobin appeal of Clemenceau, France’s last son of the Revolution.“4 Im republikanischen Nationalstaat bilden Volkssouveränität, Gesetzesherrschaft und individuelle Rechte eine wohlgeordnete Einheit. Aus ihr zieht der Nationalstaat des 18. Jahrhunderts, der im 19. verwirklicht wird, seine antitotalitäre Kraft. In der Schicksalsstunde der Republik bestand die Stärke von Clemenceau, Zola, Picquart, Labori und der andern Dreyfusards dementsprechend – wie Arendt wiederholt betont – in zwei und nur zwei Prinzipien : 1. Im „jakobinischen Prinzip der Nation, die auf den Menschenrechten basiert“ und 2. „im republikanischen Prinzip des öffentlichen Lebens, in dem der Fall eines Bürgers der Fall aller Bürger ist“.5 Durch die Fundierung des römischen Prinzips „potestas in populo“ im jakobinischen der Menschenrechte unterscheidet sich der moderne Republikanismus von seinem antiken Vorläufer, der noch nicht auf die Legitimation der partikularen Bürgersolidarität durch universelle Freiheitsrechte angewiesen war. Es genügte den universalistischen Ansprüchen des klassischen Humanismus, wenn die universale Gestalt des politischen Gattungswesens in wenigen Prachtexemplaren an der Spitze der sozialen Tüchtigkeitshierarchie und in einer einzigen Stadt verwirklicht wurde. Die Orientierung an der Perfektionsgestalt des Politischen war, schon um als solche erkennbar zu sein, auf korrupte Gestalten in ihrer Umgebung angewiesen und schloss von vornherein den radikalen Egalitarismus, der den modernen Menschenrechten eigentümlich ist, aus. Erst dadurch, dass der moderne Nationalstaat das alte Prinzip der Republik mit dem neuen der Menschenrechte zusammenführt, gerät das sozial exklusive, klassische Paradigma der Bürgersolidarität unter normativen Druck. Die scharfen Grenzen, die Eingeschlossene von Ausgeschlossenen, Bürger von Menschen, Besitzende von Besitzlosen, die Tugendhaften von den weniger Tugendhaften, die Kommunizierten von den Exkommunizierten trennen, werden fließend. Das neue, jakobinische Paradigma abstrakter, egalitärer und inklusiver Solidarität öffnet das politische System für die elementaren Rechte derer, die – wie der Hauptmann Dreyfus – von allen bürgerlichen Ehrenrechten ausgeschlossen und aus der „guten Gesellschaft“ ausgestoßen sind – für den, so könnte man mit Foucault, aber auch im Sinne von Arendts Buch über Rahel Varnhagen sagen, „infamen Menschen“6. Nur im Rahmen des republikanischen Nationalstaats können von gesellschaftlicher Exklusion bedrohte Mehrheiten oder Minderheiten – die Arbeiter und die Frauen nicht anders als die Juden und die Schwarzen – zu ihrem Recht kommen. Für die Juden war deshalb, wie Arendt nüchtern konstatiert, „der Zusammenbruch des nationalstaatlich organisierten
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Dies., Origins of Totalitarianism, New York 1979, S. 79. Dies., Elemente und Ursprünge, S. 187. Dies., Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik, München 1981, S. 20, 59, 108, 189 f.
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Europa in jeder materiellen und materiell greifbaren Hinsicht die größte Katastrophe“.7 Gegenbegriffe zu diesem Begriff des Öffentlichen, der um „Staat“, „Nation“ und „Volk“ zentriert ist, sind die „Gesellschaft“ und ihr menschliches Substrat, die „Masse“ und der „Mob“ : „Kämpft das Volk in allen großen Revolutionen um die Führung der Nation, so schreit der Mob in allen Aufständen nach dem starken Mann, der ihn führen kann. Der Mob kann nicht wählen, er kann nur akklamieren oder steinigen“.8 Das klingt fast wie Carl Schmitt, ist es aber nicht. Republik, öffentliche Angelegenheit, das ist in Arendts erstem Schema gegenläufiger Begriffe die parlamentarische Demokratie, und ihr staatsrechtlicher Gegenbegriff ist die plebiszitäre Diktatur, der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, an dem das öffentliche Leben abstirbt. Die plebiszitäre Diktatur aber ist weder demokratisch noch liberal, während demgegenüber im Parlamentarismus Demokratie und Liberalismus keinen unversöhnlichen Gegensatz bilden, sondern einander ergänzen. Es sind jedoch weniger die beweglichen und manipulierbaren Menschenmassen, und es ist schon gar nicht die plebiszitäre Diktatur, die am Ursprung des Totalitarismus stehen, es ist vielmehr ein hochabstrakter reflexiver Mechanismus: die „Expansion um der Expansion willen“, der die neue, bürgerlich - kapitalistische Gesellschaft zu imperialistisch entgrenzter Selbstproduktion und Selbststeigerung von Kapital und Macht antreibt. Imperialistisch ist Macht, weil sie sich wie die ausdifferenzierte Geldwirtschaft im Prozess ihrer fortschreitenden funktionalen Differenzierung selbst produziert, sich vom nationalen Interesse abgekoppelt, entstaatlicht hat und zu globaler Expansion drängt. Diese Gesellschaft ist der eigentliche Gegenbegriff zum Begriff des öffentlichen Lebens. Die rasant expandierende moderne Gesellschaft hat den von ihr im republikanischen Nationalstaat noch getrennten und der Gesellschaft übergeordneten Staat aufgehoben und in eine Organisation der Gesellschaft verwandelt. Aus der klassischen politischen Gemeinschaft, in der sich die Bürger in öffentlicher Selbstdarstellung auszeichnen und ihr politisches Menschenwesen perfektionieren, ist ein wirtschafts - und erfolgsorientiertes Subsystem der Gesellschaft geworden. Macht wird wie Geld zum zählbaren und beliebig einsetzbaren Kapital einer Politik, die nur noch den Namen mit der alten Polis gemeinsam hat. Imperialismus, Faschismus, Nazismus und Stalinismus sind nur noch Selbstradikalisierungen im Prozess gesellschaftlicher Machtakkumulation, die den Staat als öffentliche Angelegenheit aller Bürger vernichtet. Vorbereitet worden ist diese Theorie der „Entstaatlichung der Politik“ und der „Vergesellschaftung des Staats“ in den Nationalsozialismusstudien von Ernst
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Dies., Die verborgene Tradition, S. 46 f. Dies., Elemente und Ursprünge, S. 188.
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Fraenkel9 in den späten 1930er und Franz Neumann10 in den frühen 1940er Jahren. Das Nazi - Regime, der Behemoth, ist der Antistaat. Arendt generalisiert jedoch Zug um Zug die zunächst auf den deutschen Faschismus begrenzte These einer reflexiven Selbstaufstufung dezentrierter politischer Macht. Im ersten Schritt weitet sie die Theorie auf den Stalinismus aus. In zweiten Schritt, den sie in ihrem nächsten großen Buch, der Vita activa vollzieht, wird die These dann in einer fast schon systemtheoretischen Wendung auf die ganze moderne Gesellschaft generalisiert. Die beiden gesellschaftlichen und antipolitischen Entwicklungsprozesse der „Kapitalakkumulation“ und der „Machtakkumulation“ treiben sich wechselseitig an und verstärken einander, um schließlich alle nationalstaatlichen Dämme zu überfluten, alle wohlgeordneten Hierarchien der Staatsgewalt und des Rechts zum Einsturz zu bringen und im totalitären den souveränen Staat zuerst von innen und dann von außen zu zerstören : „Der unbegrenzte Prozess der Kapitalakkumulation bedarf zu seiner Sicherstellung einer unbegrenzten Macht, nämlich eines Prozesses von Machtakkumulation, der durch nichts begrenzt werden darf außer durch die jeweiligen Bedürfnisse der Kapitalakkumulation“.11 Freilich sieht Arendt die expansive Dynamik der modernen, bürgerlichen Gesellschaft ausschließlich negativ, als entfesselte Destruktivkraft. In ihrem Totalitarismusbuch kennt sie denn auch nur einen, rein negativen Begriff reflexiver Macht: „Macht erscheint wie ein immaterieller Mechanismus, der mit jeder seiner Bewegungen mehr Macht erzeugt“.12 Macht produziert sich selbst und zerstört sich in der „schlechten Unendlichkeit“ ( Hegel ) einer end - und ziellosen Bewegung schließlich selbst; ganz analog zur Bewegung des Marx’schen Kapitals. Reflexive Macht ist entgrenzte Macht und als solche bereits totalitär. Der republikanische Nationalstaat vermag ihrem Ansturm auf Dauer deshalb nicht stand zu halten, weil die rechtlich eingeschränkte öffentliche Macht, die er selbst mobilisieren kann, ziel - und interessenorientiert, begrenzt und endlich und deshalb nicht in dem Maße steigerbar ist, wie die imperialistisch - reflexive Macht. Auf Dauer ist die Staatsmacht deshalb dem ständig steigenden Druck des gesellschaftlichen Imperialismus nicht gewachsen.
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Vgl. Ernst Fraenkel, Gesammelte Schriften, Band 2 : Nationalsozialismus und Widerstand, Baden - Baden 1999; ders., Doppelstaat, Hamburg 2001. 10 Vgl. Franz Neumann, Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933– 1944, Frankfurt a. M. 1993. 11 Arendt, Elemente und Ursprünge, S. 248. 12 Ebd., S. 646.
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II. Tragödie des Nationalstaats Das ist die ursprüngliche These, die Arendt den ersten sieben Kapiteln des Buches über die Ursprünge totaler Herrschaft zugrunde legt. Aber im achten und neunten Kapitel über den „völkischen Nationalismus“, den „Niedergang des Nationalstaats und das Ende der Menschenrechte“ überrascht sie den Leser mit einer zweiten These, die den Ursprung des Totalitarismus in den Nationalstaat selbst zurückverlegt. Sie er weitert ihre Kritik der modernen Gesellschaft auf deren demokratische Staatsverfassung. Noch im sechsten Kapitel hatte sie Burkes Kritik an den Menschenrechten als eine gemeinsame Quelle der „englischen und deutschen Rasseideologie“13 denunziert. Nun, im neunten Kapitel, schließt sie sich dessen Kritik der Französischen Revolution ohne wenn und aber an. Die Menschenrechte sind nicht nur für die Staatenlosen, denen sie eigentlich gelten sollten, wertlos, sie tragen als Rechte des „nackten Wilden“ (Burke ) den Keim der Entzivilisierung Europas schon in sich. Statt den „nackten Wilden“ zur bürgerlichen Rechtsperson zu erheben, erniedrigen die natürlichen Rechte diese Person auf den Status des „nackten Wilden“ – und so wie die Menschenrechte das Subjekt auf einen weltlosen Status reduzieren, so reduziert sich das Volk in den staatsrechtlichen Begriffen der Nation und der Volkssouveränität auf den deklassierten und manipulierbaren Mob, die einsame Masse Mensch. Letztlich erklärt Arendt sich die imperialistischen Gewaltausbrüche aus dem „Schrecken“ und „Entsetzen“, das „den europäischen Menschen befiel, als er Neger – nicht in einzelnen, exportierten Exemplaren, sondern als Bevölkerung eines ganzen Kontinents – kennen lernte [...]. Es ist das Grauen vor der Tatsache, dass auch dies noch Menschen sind, und die diesem Grauen unmittelbar folgende Entscheidung, dass solche ‚Menschen‘ keineswegs unseresgleichen sein durften. [...] Was sie von den anderen Völkern unterschied, war nicht die Hautfarbe; was sie auch physisch erschreckend und abstoßend machte, war die katastrophale [...] Zugehörigkeit zur Natur, der sie keine menschliche Welt entgegensetzen konnten. Ihre Irrealität, ihr gespenstisch erscheinendes Treiben ist dieser Weltlosigkeit geschuldet. [...] Die Unwirklichkeit liegt darin, dass sie Menschen sind und doch der dem Menschen eigenen Realität ganz und gar ermangeln. Es ist diese mit ihrer Weltlosigkeit gegebene Unwirklichkeit der Eingeborenenstämme, die zu den furchtbar mörderischen Vernichtungen und zur völligen Gesetzlosigkeit in Afrika verführt hat“.14
Es mag heutige Leser irritieren, dass Arendt die Schwarzen der afrikanischen Stammesgesellschaften als ungeschichtlich rohe Natur, gleichsam als die ursprüngliche Gestalt des Mobs beschreibt, um davon dann das geschichtlich gebildete, westlich - europäische Bürgertum entsetzt abzugrenzen. Aber so dachte dieses großartige Bürgertum bis weit in die 1960er Jahre. Adorno, der selbst so dachte, hat es also keineswegs ohne guten Grund in die Nähe des Faschismus gerückt, als er schrieb, der Bürger sei virtuell schon der Nazi. Erst die kulturrevolutionären Eruptionen der amerikanischen „Rights Revolution“ und der 13 Ebd., S. 292. 14 Ebd., S. 322 f.
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zunehmend globalen Protest - und Marginalisierten - Bewegungen seit Mitte der 1960er Jahre haben dieses, an dem eurozentrischen Gegensatz von Zivilisation und Barbarei orientierte, bildungsbürgerliche Selbstverständnis des weißen Europas und Amerikas erschüttert und verunsichert. Arendt will aber nicht sagen, dass der Anblick der Schwarzen den Imperialismus ausgelöst habe, denn diesen erklärt sie sich, wie wir gesehen haben, soziologisch als Folge der strukturellen Dynamik der modernen Gesellschaft. Aber der Anblick der „Neger“, die deshalb „physisch erschreckend und abstoßend“ wirken würden, weil sie als „Zugehörige der Natur“ in „keiner menschlichen Welt leben“, kurz, der Anblick unmenschlicher Menschen habe diejenigen, die ihn als selbst bereits exportierte „surplus population“ ertragen mussten, der letzten zivilisatorischen Hemmungen beraubt und zu „furchtbar mörderischen Vernichtungen und zur völligen Gesetzlosigkeit“ „verführt“. Daran hat Arendt auch gedacht, als sie ihre Ansichten über Burke, die Nation und den anfangs gefeierten jakobinischen Menschenrechtspatriotismus am Ende des Buches, ohne selbst auf den Widerspruch aufmerksam zu werden, revidiert und jetzt die Menschenrechte als antibürgerliche und antizivilisatorische (und sowieso unwirksame ) „Rechte des nackten Wilden“ denunziert. Die Nation, die sich auf solche Rechte, ihre naturgegebene Souveränität und „nationale Selbstbestimmung“15 beruft, erscheint ihr jetzt als Einbruch der rohen Natur ins zivilisatorische Reich staatlich verfasster Politik. Volkssouveränität verkehrt sich in die „Souveränität der nackten Wilden“, und der Staat, der sich dem entgegenstemmt, entpuppt sich als der verstaubte liberale Rechtsstaat der deutschen Staatsrechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts. Am „secret conflict between state and nation“16 musste dieser Staat schließlich zerbrechen. Wo der Rechtsstaat sich mit der Nation zur demokratischen Republik vereint, hat er den gesellschaftlichen Feind, der ihm den Garaus machen wird, bereits ins eigene Haus eingelassen. Der Geburtsfehler, die „Tragödie des Nationalstaats“17 ist die demokratische Gewaltenteilung, durch die der Vorrang der parlamentarischen Volkslegislative nach Einführung des Allgemeinen Wahlrechts – also nach Einlass der Massen – über kurz oder lang in die „Eroberung“ und „Instrumentalisierung“ des Staates durch die Nation umschlagen musste.18 Die Nation ist jetzt zum Staatsfeind im liberalen Staat regrediert. In Über die Revolution heißt es dann nur noch lapidar : Die „Geburt des Nationalstaats ist der Untergang der freien Republik“.19
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Ebd., S. 434. Arendt, Origins of Totalitarianism, S. 230. Dies., Elemente und Ursprünge, S. 370. Ebd., S. 372. Arendt, Über die Revolution, München 1974, S. 317.
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III. Reflexive Macht der Republik Aus der Erfahrung des Nationalsozialismus und des stalinistischen Terrors zieht Arendt am Ende den Schluss, dass mit der Nation und den Menschenrechten kein Staat, und das heißt hier : kein wahrhaft öffentliches Leben, keine Republik zu machen sei. Auch der bloße Rechtsstaat ist ihr viel zu abstrakt und hat seine tödliche Schwäche in seinem unrühmlichen Untergang im Nazi - Reich erkennen lassen. Wo aber gibt es dann noch einen Ausweg aus dem totalitären Verhängnis des 20. Jahrhunderts, der in die „Helle des Menschlichen“20 führt? – Am Schluss von Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft hat Arendt nur zwei Formeln für das, was an die Stelle des gescheiterten Versuchs, durch die nationalstaatliche Einheit von Volkssouveränität und Menschenrechten dem alten Gedanken der Republik eine neue Form zu geben, treten soll. Erstens das „Recht auf Rechte“21, das an die Stelle der Menschenrechte tritt, deren Gehalt sie damit freilich auf den Status des Rechts auf Mitgliedschaft in irgendeiner zivilisierten Gemeinschaft reduziert, sei sie nun demokratisch oder autokratisch verfasst. Zweitens die „Natalität“, die augustinisch - christliche Hoffnung, auch noch „aus diesem Ende“ des 20. Jahrhunderts, das mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges eingetreten ist, „einen neuen Anfang erstehen zu lassen“.22 Wie beides zusammenhängt und sich als Alternative zum Nationalstaat verstehen lässt, soll die Erneuerung des klassischen, positiv - freiheitlichen Machtbegriffs und die Rückwendung zum revolutionären Ursprung des modernen Republikanismus im 18. Jahrhundert erweisen. Der Machtbegriff von Vita activa und Über die Revolution ist eine verblüffende Uminterpretation und Erweiterung des Machtbegriffs der Ursprünge totaler Herrschaft. Reflexive und deshalb entgrenzt - expansive Macht – „Macht, die mit jeder ihrer Bewegungen mehr Macht erzeugt“ – erscheint jetzt nicht mehr ausschließlich destruktiv. Macht ist als reflexiv aufgestufte nicht mehr automatisch totalitär. Durch diese Uminterpretation des ursprünglich auf Imperialismus und Totalitarismus gemünzten Machtbegriffs gelingt es Arendt, der genuin modernen Erscheinungsweise reflexiver Macht eine produktive, gleichzeitig moderne und klassisch republikanische Seite abzugewinnen, die der Komplexität imperialer Macht gewachsen zu sein scheint. Die überraschende Synthese des modernen Begriffs einer hoch beweglichen, unbegrenzt steigerbaren und vollständig reflexiven Macht mit dem klassischen Verständnis des Politischen als öffentliche Angelegenheit ( res publica ) ist eine beeindruckende Innovation in der politischen Theorie und sie zeigt, dass Arendts Sinn für den avantgardistischen Modernismus der Moderne ebenso intensiv ist wie ihre Liebe zur antiken Wiege unserer politischen Kultur. Auch von der Macht, die Bürger in öffentlichen Versammlungen und gemeinschaftlichem Handeln erzeugen, gilt, dass Macht nur durch Macht „mächtiger 20 Dies., Elemente und Ursprünge, S. 362. 21 Ebd., S. 462. 22 Ebd., S. 730.
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werden“ kann und dass „Teilung der Macht ein Gemeinwesen mächtiger macht als ihre Zentralisierung“.23 Macht kann nur durch reflexive Differenzierung und Dezentrierung gesteigert werden. Auch diese These teilt Arendt mit Luhmann, für den ebenso wie für Arendt klar ist, dass „absolute Macht“ in komplexen Gesellschaften „geringe Macht“ bedeutet.24 Macht kann durch Gewalt zwar zerstört, aber nicht „realisiert“ werden.25 Gewalt lässt sich monopolisieren, Macht nicht. Sie ist dem Machthaber nicht verfügbar. Sie ist eine öffentliche Sache und kein Privatbesitz : „Macht besitzt eigentlich niemand, sie entsteht zwischen Menschen, wenn sie zusammen handeln, und sie verschwindet, sobald sie sich wieder zerstreuen“.26 Durch föderative Vernetzung und „Kombinierung existierender Machtgruppen“ ist gemeinschaftliche Macht für „endlose Erweiterung“ geradezu „prädestiniert“.27 Öffentlich vernetzte Macht ist – hier argumentiert Arendt erstaunlich ähnlich wie der ihr ansonsten so verhasste amerikanische Pragmatismus – „auf Wachstum angelegt“ und fördert, weil sie spontan und unberechenbar aus gemeinsamem Handeln entsteht, die „Lust am Experimentieren“.28 Die Macht der Vielen kennt keine Mitgliedschaft. Sie ist deshalb „von vornherein für alle geöffnet“, die bereit sind, sich gegenseitig auf einen neuen Anfang zu verpflichten. Spontaneität, Unverfügbarkeit und dezentrale Vernetzung verwandeln die gewaltlose öffentliche Versammlung, das bloße miteinander Reden und Beraten, in ein „ungeheures Machtpotential“.29 Es ist, nicht anders als die imperialistische Macht der „Eroberung“,30 nahezu endlos steigerbar. Das ist die Erfahrung aller Revolutionen : „So können auch Volksaufstände gegen die materiell absolut überlegenen Gewaltmittel eines Staates eine fast unwiderstehliche Macht erzeugen“.31 Aus diesem Grund kann die gewaltgestützte und gewaltbereite, herrschaftlich - imperiale Macht sich innerhalb des politischen Raums öffentlicher Angelegenheiten nur solange erhalten, wie sie sich der Deckung durch die „lebendige Macht des Volkes“ sicher sein kann : „Alle politischen Institutionen sind Manifestationen und Materialisationen der Macht; sie erstarren und verfallen, sobald die lebendige Macht des Volkes nicht mehr hinter ihnen steht und sie stützt“.32 Die lebendige Macht des Volkes, das an der zitierten Stelle aus dem späten Aufsatz über Macht und Gewalt eine Übersetzung des amerikanischen „people“ ist und deshalb hier auf keinen Fall mit einem homogenen Kollektivsubjekt ver23 Arendt, Über die Revolution, S. 198 f. 24 Vgl. Luhmann, Niklas, Macht, Stuttgart 1988, S. 30. 25 Vgl. Hannah Arendt, Vita activa oder vom tätigen Leben, München 1981, S. 193 f.; dies., Über die Revolution, S. 196. 26 Dies., Vita activa, S. 194. 27 Dies., Über die Revolution, S. 218. 28 Ebd., S. 222 f. 29 Ebd., S. 228. 30 Ebd., S. 218. 31 Arendt, Vita activa, S. 194. 32 Dies., Macht und Gewalt, München 1970, S. 42.
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wechselt werden darf, diese lebendige Macht ist die Macht ( das Vermögen, potentia = Potential ) des Handelns, und zwar des gemeinsamen Handelns, des „acting in concert“ ( Burke ). Sie ist, das ist für ein angemessenes Verständnis von Arendts Texten sehr wichtig, keineswegs per se das Gute, sondern wie bei Jesus, den sie in diesem Zusammenhang gern zitiert, ein zutiefst ambivalentes Vermögen. Handeln ist die Macht, die römische Republik, den republikanischen Nationalstaat, die katholische Kirche, die Herrschaft des Wohlfahrtsausschusses, die Diktatur Napoleons, die bolschewistische Diktatur des Proletariats oder die islamische Republik hervorzubringen. Das Jesuswort : „Denn sie wissen nicht was sie tun“ ist für Arendt eine ( paradoxe ) Bedingung der Möglichkeit politischen ( und ästhetisch - innovativen ) Handelns.33 Das Neue, das es zum Entstehen bringt, ist ein „Wunder“,34 das in die „Helle des Menschlichen“ führen, aber auch schrecklich scheitern oder Schrecken ohne Ende bringen kann. Vorher kann man das nicht wissen, „denn sie wissen nicht, was sie tun“. Die „Männer der Revolution“ schauen immer in einen „Abgrund“.35 Auf Macht „ist kein Verlass“, und Handeln ist die „gefährlichste aller menschlichen Fähigkeiten und Möglichkeiten“.36 Von imperialistischer unterscheidet sich die republikanische Macht durch ihren Handlungscharakter. Als gemeinschaftliches Handeln hat sie keine Macht über den Willen anderer Personen.37 Macht als potentia ist positive Freiheit.38 Wer Macht hat, kann tun was er möchte. Gemeinschaftliche Macht bildet dabei keinen Gegensatz zur Macht der einzelnen Individuen. Wie in den Machttheorien Spinozas, Hegels und Deweys wächst vielmehr die Macht der Individuen mit der Macht der Gemeinschaft, ohne in ihr unterzugehen.39 Nicht anders als Deweys ideale Demokratie optimiert Arendts ideale Republik die Chancen und Möglichkeiten, also die Macht des Einzelnen, sich durch wachsende Gemeinschaftsmacht selbst zu realisieren. In Deweys idealer Demokratie und Arendts idealer Republik ist die Macht, sich als minoritäre und abweichende Stimme Gehör und Geltung zu verschaffen, größer als in jedem anderen Regime. In der negativen Stellungnahme, in der Enttäuschung von Erwartungen, im abweichenden, normverletzenden Verhalten liegt nicht nur die „Fähigkeit zur Korrektur des Missratenen“,40 sondern auch der egalitäre Ursprung republikanischer Macht. Jeder, der „Nein“ sagen oder eine Erwartung enttäuschen kann,41 hat diese Fähigkeit, und er hat ein Recht, sie zu realisieren. 33 Dies., Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken 1, München 1994, S. 74. 34 Ebd., S. 192, 221. 35 Arendt, Vom Leben des Geistes, Band 2 : Das Wollen, München 1979, S. 30, 185 ff. 36 Dies., Zwischen Vergangenheit und Zukunft, S. 363. 37 Dies., Vita activa, S. 194. 38 Dies., Über die Revolution, S. 194. 39 Vgl. Hauke Brunkhorst, Einführung in die Geschichte politischer Ideen, München 2000, S. 225 f. 40 Arendt, Vita activa, S. 236. 41 Vgl. dies., Vom Leben des Geistes, S. 67, 81 f., 86, 130.
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Es ist das, was Arendt in Abgrenzung und im Gegensatz zu den abstrakten Menschenrechten das Recht auf Rechte genannt hat. Die Rechte sollen durch dieses Recht von vornherein auf die Fähigkeit zur innovativen Negation (=Natalität ) zentriert werden, die für Arendt die grundlegende politische Fähigkeit, nämlich die Fähigkeit, politisch zu handeln ist. So verstanden wäre das Recht auf Rechte ein Recht auf Rechte zur aktiven Teilhabe an einer gemeinsamen politischen Welt und deshalb kein abstraktes, sondern ein konkretes politisches Recht : das Recht des Menschen auf aktivbürgerschaftliche Zugehörigkeit. Abweichendes individuelles Handeln oder die Fähigkeit, nein zu sagen, etwas anderes zu sagen als das, was die Adressaten der Rede vom Redner erwarten und damit neue Weltperspektiven zu erschließen, ist – in der Arendt fremden evolutionstheoretischen Terminologie – nichts anderes als das Negations und Variationspotential einer jeden symbolisch vermittelten Handlung. Demgegenüber bestünde die Macht der Gemeinschaft in den Selektionsleistungen, die das neue zum „einvernehmlichen“ Handeln machen, zur „Meinung, auf die sich viele öffentlich geeinigt haben“.42 Die Frage ist dann, wie solche Macht, die nur in ihrem Vollzug besteht und auf die bekanntlich kein Verlass ist, in einem dauerhaften Gemeinwesen stabilisiert werden kann, ohne die Freiheit, die „im flüchtigen Augenblick des gemeinsamen Handelns“43 liegt, in nichts als Ordnung erstarren zu lassen. Das ist die Frage, die Arendt sich in Über die Revolution stellt. Die Frage ist nicht, wie Macht begrenzt, sondern wie „Macht neu etabliert“ werden kann.44 In immer wieder neuen, ebenso beeindruckenden wie irritierenden Anläufen, bemüht Arendt sich – zunächst am Beispiel der amerikanischen Verfassung, dann im Rückgriff auf die Utopie des Rätesystems – um eine Antwort. Auch der späte, jetzt nicht mehr an Robespierre, sondern an Jefferson orientierte Republikanismus Arendts ist modern, nicht anders als der frühe, jakobinische. Aber der Akzent ihres Modernismus hat sich von der Fundierung der Republik in der menschenrechtlichen Autonomie zum revolutionären, innovativ - kreativen Potential kontinuitätsunterbrechenden Handelns verschoben. Nicht um die altrömische Frage, wie Rom in der Stunde seines Verfalls von neuem gegründet, sondern um die dem modernen Revolutionsbegriff folgende Frage, wie die Macht, ein „neues Rom“, das noch nie da war, zu gründen, etabliert und konstitutionell stabilisiert werden könne, geht es Arendt.45 In systemtheoretischem Jargon müsste die Frage lauten : Wie kann Stabilität durch Variation erzeugt werden ? Ich denke, dass das eine interessante Frage ist, die an den Nerv der modernen Gesellschaft und ihrer politischen Selbstorganisation rührt. Aber das innovativ - weltbildendende Potential gemeinschaftlicher Handlungsmacht bleibt auch bei der späten Arendt eigentümlich ortlos, utopisch. Das ist kein Vorwurf, verweist aber auf eine institutionelle Schwäche ihres politischen Denkens. Die revo42 43 44 45
Dies., Macht und Gewalt, S. 45; vgl. dies., Über die Revolution, S. 96. Dies., Vita activa, S. 195. Dies. Über die Revolution, S. 193. Vgl. ebd., S. 273; Arendt, Vom Leben des Geistes, S. 185, 195, 197.
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lutionäre Gründung eines modernen Verfassungsregimes und den daraus hervorgehenden, herrschaftsbegründenden Verfassungstypus, der ( gegen Arendts eigene Eingrenzung auf Amerika ) die französische und die amerikanische Revolution vom herrschaftsbegrenzenden Verfassungstypus, der sich in England und Preußen / Deutschland im Zuge der Reform absolutistischer Staatsmacht entwickelt hat, unterscheidet, hat sie in ihrem Buch Über die Revolution paradigmatisch beschrieben. Weil sie jedoch die für die Verfassungsgeschichte Amerikas und Frankreichs gleichermaßen charakteristische Möglichkeit, die herrschaftsgründende Verfassung im menschenrechtlichen Autonomieanspruch zu begründen, von vornherein ausschließt, musste ihr die veralltäglichte revolutionäre Macht entgehen, die aus der Verfassungsrevolution in den Paragraphenwald des Staatsorganisationsrechts moderner Demokratien eingewandert ist. Der Grund ist letztlich ein bildungsbürgerlicher Affekt gegen die Demokratie. Deshalb hat sie versucht, die nach einem strikt egalitaristischen Gewaltenteilungsmuster gestrickte Verfassung der Vereinigten Staaten auf eine kaum einleuchtende Weise so zu interpretieren, dass die von ihr jeweils favorisierten Organgewalten der Republik – mal das Oberste Gericht, ein anderes mal der Senat oder dann die townhall meetings der Vergangenheit, in der die „Zahl“ der Bürger noch kein „Frevel“ ( Nietzsche ) und ihr Besitz unter den Wenigen recht gleich verteilt war – nicht als Konkretisierungsstufen im Prozess demokratischer Willensbildung erscheinen, sondern als Einrichtungen zur Zähmung und Bändigung des Volkswillens durch eine kluge Elite politisch ( und nicht nur technokratisch ) denkender Köpfe. Deshalb insistiert sie darauf, den „Ort der Macht“, der im „Volk“ liege, von der „Quelle des Gesetzes“, die in der „Verfassung“ liege, strikt zu trennen.46 Der gesamte Apparat der parlamentarischen Demokratie, der Verfassungsstaat reduziert sich dann konsequent auf die „nicht revolutionäre“ Funktion der „Begrenzung“, die wiederum „unabhängig von der Staatsform“ sein soll.47 Damit aber fällt Arendt auf die von ihr selbst längst überwunden geglaubte Position der deutschen Staatsrechtsideologie zurück, die Rechtsstaat und die Rechte politisch neutralisiert, für ( vorgeblich ) herrschaftsinvariant erklärt und den Zweck des Rechts und seiner Verfassung auf Schutz des Bürgers vor dem Staat und vor dem Volk reduziert.48 Damit verfehlt Arendt jedoch die demokratietheoretische Pointe gerade des von ihr so sehr favorisierten, herrschaftsbegründenden Verfassungstypus. Die verfassungstheoretische Innovation der beiden Revolutionen des 18. Jahrhunderts, die überhaupt erst die moderne Demokratie möglich gemacht hat, liegt nämlich gerade in jener Verbindung von Volkssouveränität und individuellen Rechten im organisationsrechtlichen System einer durchgängig demokratisch
46 Vgl. Arendt, Über die Revolution, S. 204, 229 f., 290 ff., 346 ff. 47 Ebd., S. 186. 48 Vgl. Hauke Brunkhorst, Der lange Schatten des Staatswillenspositivismus. In : Leviathan, 31 (2003) 3, S. 362–381.
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bestimmten Gewaltengliederung.49 Der einzige Sinn der Trennung und Koordination der politischen und rechtlichen Gewalten ist in demokratischen Verfassungen die Gewährleistung der freien und gleichen Willensbildung derjenigen, die den normativ bindenden Folgen solcher Willensbildung ausgesetzt sind. Die Gewaltenteilungslehre, so Herrmann Heller, „ist nichts anderes als eine Technik, um die [...] rechtsetzende volonté générale im Gesetz zu ungetrübter Herrschaft zu bringen“.50 Die Organisationsnormen der Verfassung : Das „ganze System von Abhängigkeiten, wie Wahl, Gegenzeichnung, Parlamentarismus, Referendum, Initiative“, die Normierung der Rechte und Pflichten des Präsidenten, der Regierung, der Legislative usw. ist nur dazu da, „das Ausgehen der Staatsgewalt vom Volke juristisch zu garantieren“.51 Eine mit dem Demokratieprinzip kompatible Lösung des Problems, den Geist der Revolution in der pluralistischen und individualistischen Verfassung einer freien Bürgerschaft zu institutionalisieren, kann deshalb nur darin bestehen, den welterschließend - innovativen Begriff der Handlungsmacht mit dem menschenrechtlichen Autonomieanspruch der Revolutionen des 18. Jahrhunderts zu verbinden. Der Ansatz hierzu läge in einer inklusiven, menschenrechtlich offenen Interpretation des Volksbegriffs, der dem Demokratieprinzip zugrunde liegt. Das Volk, von dem alle Staatsgewalt ausgeht und das die einzige legitime Quelle alles positiven Rechts ist, umfasst – so Friedrich Müller – die „Gesamtheit der von den Normen betroffenen“ und muss deshalb als „offener Begriff“ verstanden werden, dessen „Umgrenzung“ „dem politischen Prozess überlassen“ bleiben muss.52 Eine Funktion innovativer und spontaner Macht wäre es dann, die jeweilige „Umgrenzung“ des Volksbegriffs im Namen derer, die bislang vom status activus ausgeschlossen sind, in Frage zu stellen und solche Fragen durch Artikulation und Protest im Prozess der öffentlichen Willensbildung zum Thema zu machen. Der politische Prozess der Konkretisierung der Verfassung muss genau das ohne Verletzung der Gleichheit ermöglichen. Damit soziale Bewegungen, wie diejenigen, die große Reformen wie die des Wahlrechts, der Assoziations - und Meinungsfreiheit einst ausgelöst hatten – wie beispielsweise die Arbeiterbewegung oder die Frauenbewegung – sich in eine öffentliche Macht verwandeln, bedarf es der innovativen Schubkraft welterschließender Sätze – wie etwa derjenigen des Kommunistischen Manifests –; aber ohne das menschenrechtliche Gleichheitsprinzip gäbe es keine Möglichkeit, für die Berechtigung neuer Ansprüche zu streiten : „The same equality of the Declaration of Independence“, schreibt John Rawls, „which Lincoln invoked to condemn slavery can 49 Vgl. Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt a. M. 1992. 50 Hermann Heller, Souveränität (1928). In : ders., Gesammelte Schriften, Band 2 : Recht, Staat, Macht, Leiden 1971, S. 31–202, hier 39 f. 51 Ebd., S. 98. 52 Friedrich Müller, Wer ist das Volk ? Die Grundfrage der Demokratie – Elemente einer Verfassungstheorie VI, Berlin 1997, S. 24 f.
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be invoked to condemn the inequality and oppression of women“.53 Das war es wohl, was Jefferson gemeint hatte, als er auf die Frage, ob man eine Verfassung unveränderlich machen könne, die Antwort gab, „Ich glaube nicht“, denn „nichts ist unveränderlich außer den unveräußerlichen Menschenrechten“.54 Politische Praxis ist nichts anderes als die Entfaltung dieser Paradoxie. Sie löst sie auf indem sie sich immer von neuem in sie verstrickt, und genau darin besteht die Produktivität ihrer Macht.
53 John Rawls, Political Liberalism, New York 1993, S. XXXI. 54 Zit. nach Arendt, Über die Revolution, S. 299.
Repräsentation oder politisches Handeln ? Ein möglicher weise falscher Gegensatz im Denken Hannah Arendts Winfried Thaa „Im Sinne dieser Überlegungen kann der Versuch, des verlorenen Geistes der Revolution wieder habhaft zu werden, nur bedeuten, dass wir beginnen müssen, das, was wir gewohnt sind als Gegenätze und Sich - Widersprechendes zu verstehen, wieder zusammenzudenken.“1
I. Einleitung Das Denken Hannah Arendts erfreut sich seit nunmehr fast zwanzig Jahren einer ganz ungewöhnlichen Popularität. Die zahlreichen, besonders im deutschen und angelsächsischen Raum erschienenen Veröffentlichungen lassen sich kaum mehr überblicken. Bemerkenswert ist dabei, dass die positive Rezeption ihres Werkes nahezu über das gesamte Spektrum politisch - theoretischer Orientierungen reicht, von Vertretern der Kritischen Theorie bis zu konser vativen und postmodernen Autoren. In vielen Fällen trägt es Züge der Verehrung oder liebevollen Bewunderung. Ein Grund der Attraktivität ihres Denkens dürfte in ihrem, wie Ernst Vollrath formuliert, „wahrlich enthusiastischen Politikbegriff“2 liegen. Dieser Politikbegriff, zusammengefasst in Arendts Behauptung, „der Sinn von Politik ist Freiheit“3, lässt sich gegen die moderne Tyrannei sowohl der Ökonomie als auch der Bürokratie in Stellung bringen und bietet deshalb Autoren verschiedenster Richtungen die Möglichkeit, an Arendts Denken anzuknüpfen. In deutlichem Kontrast dazu zeigt sich die zeitgenössische Demokratietheorie seit mehr als zehn Jahren über wiegend desillusioniert, spricht von einer 1 2 3
Hannah Arendt, Über die Revolution, München 1965, S. 288. Ernst Vollrath, Hannah Arendt. In : Karl Ballestrem / Henning Ottmann ( Hg.), Politische Philosophie des 20. Jahrhunderts, München 1990, S. 13–32, hier 18. Hannah Arendt, Was ist Politik ? Aus dem Nachlass herausgegeben von Ursula Ludz, München 1993, S. 28.
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Transformation des Demokratiebegriffes, die seine partizipativen Elemente verabschiedet oder diagnostiziert gleich ein postdemokratisches Zeitalter.4 Sieht man von einer kurzen Phase der Euphorie um die Zivilgesellschaft nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Herrschaftssysteme ab, so spielt der enhusiastische Politikbegriff Arendts in der Demokratietheorie kaum eine Rolle. Man könnte vermuten, Arendts Denken stünde eher für die hehren Ansprüche, gewissermaßen für die Seite der Sonntagsreden westlicher Demokratien, zu den Problemen ihrer Weiterentwicklung habe es dagegen wenig beizutragen. Will man von Hannah Arendt aus einen „Maßstabsbegriff des Politischen“5 entwickeln, so sollte dieser jedoch nicht zuletzt für Fragen der Demokratieentwicklung relevant sein. Ein wichtiger Grund für die Distanz zwischen der Arendtrezeption auf der einen und den Diskussionen über die zeitgenössische Demokratie auf der anderen Seite liegt vermutlich in Arendts Kritik des Repräsentationsprinzips.6 Wer sich positiv an Arendts Politikbegriff orientiert, macht meist einen großen Bogen um ihre problematischen Ausführungen im sechsten Kapitel von „Über die Revolution“, oder versucht sie doch zu relativieren. Folgen wir dagegen Arendts Kritikern, so kulminiert in ihrer Ablehnung der repräsentativen Demokratie und ihrer Präferenz für das Rätesystem eine Verklärung der antiken Polis,7 eine anti - utilitaristische, existenzialphilosophisch geprägte Ablehnung der für moderne Gesellschaften konstitutiven ökonomischen Interessen8 oder auch ein politischer Elitismus, der Politik zur Sache der wenigen Tugendhaften erklärt und die in erster Linie an privatem Glück orientierten Massen ausschließt.9 Ich möchte im Folgenden zeigen, dass Arendts Auseinandersetzung mit der modernen repräsentativen Demokratie, ungeachtet aller Vereinseitigungen, nicht als Ablehnung des Repräsentationsprinzips zu lesen ist, sondern einen Ausgangspunkt für Überlegungen zur Reform der repräsentativen Demokratie bilden kann. Dazu werde ich zunächst argumentieren, dass es Arendt, anders als Rousseau, gar nicht um eine Opposition von direkter und repräsentativer
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Vgl. etwa Hubertus Buchstein / Dirk Jörke, Das Unbehagen an der Demokratietheorie. In : Leviathan, 31 (2003) 4, S. 470–495; Colin Crouch, Post - Democracy, Cambridge 2004. Ernst Vollrath, Hannah Arendt, S. 19. Claude Lefort, der Arendt ansonsten positiv rezipiert, meint sie, interessiere sich überhaupt nicht für die moderne Demokratie, weil diese repräsentativ sei. Vgl. Claude Lefort, Democracy and Political Theory, Cambridge 1988, S. 55. So etwa Dolf Sternberger, Die versunkene Stadt. In : Merkur, 30 (1976) 10, S. 935–946. So etwa George Kateb, Arendt and Representative Democracy. In : Salmagundi (1983) No. 60, S. 20–59, und Hella Mandt, Politik ohne Heilsversprechen. Hannah Arendts Neubegründung politischen Handelns. In : dies., Politik in der Demokratie, Baden Baden 1998, S. 143–155. So etwa George Kateb, The Questionable Influence of Arendt ( and Strauss ). In : Peter Graf von Kielmansegg /Horst Mewes / Elisabeth Glaser - Schmidt ( Hg.), Hannah Arendt and Leo Strauß, Cambridge 1995, S. 29–43.
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Demokratie geht.10 Arendt, so meine These, entwickelt ihre Kritik am Repräsentationsprinzip nicht wie Rousseau aus dem Gegensatz von Fremdbestimmung und Selbstbestimmung, sondern aus dem Anliegen, gegen die Gefahr der Einheitsverkörperung im Nationalstaat einen breiten pluralen Raum der Meinungs - und Urteilsbildung zu schaffen und politisches Handeln zu ermöglichen (II.). Diese Differenz lässt sich auf unterschiedliche Freiheitsvorstellungen zurückführen, insbesondere auf Arendts Gegenüberstellung von Freiheit und Autonomie (III.). Aus diesem Gegensatz interpretiert Arendt die amerikanische Revolution und das dabei entstandene Repräsentationssystem (IV.), das sie deshalb auch nicht prinzipiell ablehnt, sondern als Differenzrepräsentation für eine herausragende Errungenschaft der US - Verfassung hält (V.). Schließlich möchte ich zeigen, dass Arendts dezidierte Kritik an der repräsentativen Demokratie und ihrem Parteiensystem hinter eigene Einsichten zurückfällt, dennoch aber Anregungen für die zeitgenössische Demokratiedebatte geben kann (VI.).
II. Gegensätzliche Kritiken des Repräsentationsprinzips „Das englische Volk glaubt frei zu sein. Es täuscht sich sehr. Es ist nur während der Wahl der Parlamentsmitglieder frei. Sobald sie gewählt sind, ist es Sklave, es ist nichts“11. Diese berühmten Sätze aus Rousseaus „Contrat Social“ werden gerne als Beleg für die Radikalität seiner Kritik am Repräsentationsprinzip zitiert. Auf den ersten Blick ganz ähnlich, wenn auch im Ton etwas gemäßigter, heißt es bei Hannah Arendt über die neu gegründete amerikanische Republik : „Nicht das Volk, sondern nur seine gewählten Repräsentanten hatten Gelegenheit, sich wirklich politisch zu betätigen, was heißt, dass nur sie in einem positiven Sinn frei waren.“12 Die Quintessenz der beiden Aussagen scheint identisch : Das Volk bezahlt die repräsentative Demokratie mit seiner politischen Freiheit. Von hier aus liegt es nahe, Arendt in eine Reihe mit Rousseau zu stellen und ihr eine simple und verdinglichende Opposition zwischen repräsentativer und direkter Demokratie bzw. zwischen liberaler Demokratie und republikanischer Freiheit vorzuwerfen. Dass beide mit denselben Begriffen jeweils etwas ganz anderes meinen und sich von daher auch die Konsequenzen der jeweiligen Kritik am Repräsentationsprinzip unterscheiden, deutet sich jedoch schon an, wenn wir zwei weitere, nur noch im Duktus ähnliche Formulierungen vergleichen. 10 Von einer solchen Opposition geht auch Albrecht Wellmer in seiner Interpretation des Revolutionsbuches von Arendt aus. Davon abgesehen enthält der Beitrag erhellende Überlegungen zum Verhältnis von Partikularismus und Universalismus im Denken Arendts. Vgl. Albrecht Wellmer, Arendt on Revolution. In : Dana Villa, ( Hg.), The Cambridge Companion to Hannah Arendt, Cambridge 2000, S. 220–244, hier 231 f. 11 Jean - Jacques Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechtes. In: ders., Politische Schriften, Band 1, Paderborn 1977, S. 59–208, hier 158. 12 Arendt, Über die Revolution, S. 302.
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Nach Rousseau kann man bekanntlich „die Macht sehr wohl übertragen, den Willen aber nicht“13. Hannah Arendt formuliert dagegen : „Der Bürger ist repräsentiert, doch repräsentiert und delegiert können nur Interessen und die Sorge um die allgemeine Wohlfahrt der Wählerschaft werden, keinesfalls aber ihre Fähigkeit zu handeln oder auch nur ihre Meinungen.“14 Wenn man weiß, dass es beim Willen Rousseaus um Interessen geht, bei Arendt politische Macht auf Meinung gründet und immer dann entsteht, wenn Menschen sich zu gemeinsamem Handeln zusammenfinden,15 dann stehen beide Aussagen in einem diametralem Gegensatz : Was Rousseau für nicht übertragbar hält, Interesse und Wille, kann nach Arendt sehr wohl repräsentiert werden, und umgekehrt, die politische Macht, die Arendt für nicht delegierbar hält, ist es nach Rousseau sehr wohl. Um hier etwas klarer zu sehen, möchte ich auf das genauer eingehen, was jeweils nicht repräsentierbar sein soll : der Wille bzw. die Fähigkeit zu handeln. Rousseau bestimmt das Grundproblem, das der Gesellschaftsvertrag lösen soll, wie folgt : „Es muss eine Gesellschaftsform gefunden werden, die mit der gesamten gemeinsamen Kraft aller Mitglieder die Person und die Habe eines jeden einzelnen Mitglieds verteidigt und beschützt; in der jeder einzelne, mit allen verbündet, nur sich selbst gehorcht und so frei bleibt wie zuvor“16. Die durch vertragliche Überäußerung eines jeden an die Gemeinschaft zustande kommende Republik soll demnach nichts Geringeres leisten, als Herrschaft und Fremdbestimmung grundsätzlich zu überwinden. Wenn der Bürger in den Gesetzen seinem eigenen Willen folgt, bleibt er autonom und ist niemandem unterworfen. Erreichen will Rousseau dies durch das „gemeinsame Ich“, den neuen „Moral - und Kollektivkörper“17, der aus dem Gesellschaftsvertrag hervorgeht und die Identität von Individuum und Allgemeinheit sichern soll. So weit der durch die Überäußerung eines jeden Mitglieds an die Gemeinschaft entstandene Staatskörper den allen gemeinsamen Willen verfolgt, den volonté générale, verliert der den Gesetzen gehorchende Untertan nicht seine Freiheit. Denn der Gemeinwille, der im Gesetz zum Ausdruck kommt, ist nach Rousseau der in öffentlichen Versammlungen manifest werdende „beständige Wille aller Mitglieder des Staates“18. Dies vorausgesetzt, wird durch das Gesetz niemand einem fremden Willen unterworfen.19 13 14 15 16 17 18 19
Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, S. 84. Arendt, Über die Revolution, S. 346. Vgl. Hannah Arendt, Macht und Gewalt, München 1970, S. 42–45. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, S. 73. Ebd., S. 74. Ebd., S. 171. Dabei gesteht Rousseau ein, dass der Gemeinwille nicht ohne Weiteres mit der Stimmenmehrheit zusammenfällt. Die Frage, wie jemand frei und dennoch gezwungen sein kann, sich der Mehrheit zu fügen, hält er allerdings für falsch gestellt, vorausgesetzt, dass in der Stimmenmehrheit die Kennzeichen des Gemeinwillens erkennbar sind. Dann nämlich hat sich der Überstimmte schlicht geirrt. Das Argument setzt allerdings voraus, dass der Gemeinwille deutlich erkennbar ist. Tatsächlich bedarf es nach Rousseau keiner Umtriebe und Überredungen um das allgemeine Wohl zu ermitteln. Es liegt
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Rousseaus identitätslogische Konstruktion eines Kollektivkörpers und die uns nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts höchst befremdlich scheinende Erwartung, der Souverän könne, da er aus seinen Mitgliedern besteht, kein Interesse verfolgen, das deren Interesse widerspricht,20 sollten uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass Rousseaus Republikanismus einen individualistischen Ausgangspunkt hat. Freiheit ist für Rousseau identisch mit individueller Autonomie. Sie wird zerstört, sobald das Individuum gezwungen ist, einem fremden Willen zu gehorchen.21 Diesen Freiheitsbegriff vorausgesetzt, bleiben zur Legitimation eines politischen Gemeinwesens nur zwei Wege offen : erstens die Sicherung eines Bereiches vorpolitischer Rechte und privater Autonomie durch die Minimierung und gesetzliche Bindung staatlichen Handelns, bei gleichzeitiger Hinnahme eines gewissen Maßes an Heteronomie und Unfreiheit durch die nicht vollständig aus dem eigenen Willen ableitbare Gesetzgebung, und zweitens die wie immer geartete Begründung einer Identität zwischen dem individuellen Willen und dem im Gesetz zum Ausdruck kommenden Gesamtwillen. Das Erste ist der Weg der liberalen repräsentativen Demokratie, das Zweite der eines Republikanismus, der die Differenz zwischen Individuum und Allgemeinheit durch den Vernunftbegriff über winden will. Bei Rousseau geschieht dies dadurch, dass sich das Individuum in seiner Rolle als tugendhafter „citoyen“ mit dem Gesamtkörper, dessen gleichberechtigter Teil es ist, identifiziert und im Sinn des erkannten Allgemeininteresses sein Partikularinteresse als Bourgeois unterdrückt. Wie wir aus der neueren Debatte um deliberative Demokratietheorien lernen können, ist eine vernunftbegründete Identität zwischen individuellem und allgemeinem Willen jedoch nicht an die Vorstellung eines kollektiven Großsubjekts gebunden. Die Habermassche Konzeption einer deliberativen Demokratie will den Widerspruch zwischen privater und öffentlicher Autonomie durch die Verfahren einer diskursiven Meinungs - und Willensbildung über winden, deren „Ergebnisse die Vermutung der Vernünftigkeit für sich haben“22. Die hierfür entscheidende Annahme der diskurstheoretisch begründeten Demokratietheorie besagt, dass wir über die Richtigkeit von Normen wie über die Wahrheit propositionaler Geltungsansprüche durch den zwanglosen Zwang des besseren Arguments entscheiden können. Der letzte Legitimationsgrund politischer Entscheidungen liegt dann in der Verallgemeinerbarkeit der für sie ins Feld geführten Gründe. Diese Verallgemeinerbarkeit, die Konsensfähigkeit der Gründe, bringt den Gegensatz zwischen individueller Autonomie und Gesetzesgehorsam offen zu Tage, ist durch die gesunde Vernunft wahrnehmbar und mit dem identisch, was allgemein als nötig erkannt wird ( vgl. ebd., S. 167–172). 20 Vgl. ebd., S. 77. 21 Interessanterweise entwickelt Isaiah Berlin seinen Begriff der negativen Freiheit auch mit Hilfe Rousseaus. Vgl. dazu Isaiah Berlin, Two Concepts of Liberty. In : ders., Four Essays on Liberty, Oxford 1969, S. 118–172, hier 123. 22 Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaates, Frankfurt a. M. 1992, S. 365.
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zum Verschwinden. Bei Rousseau wie bei Habermas wird Demokratie als Erkenntnisprozess gedacht und bei beiden bleibt der Bürger, der sich demokratisch zustande gekommenen Gesetzen unterordnet, „so frei wie zuvor“, da diese Gesetze ja Ausdruck eines vernünftigen, allgemeinen Willens sind. Allerdings braucht Habermas das Repräsentationsprinzip nicht wie Rousseau rundweg abzulehnen, da er die Vorstellung eines unmittelbar aus seinen Mitgliedern bestehenden Großsubjekts durch eine „Verflüssigung der Volkssouveränität“ in „subjektlosen Kommunikationsformen“ ersetzt.23 Dadurch kann er das Repräsentationsprinzip der parlamentarischen Demokratie so umdefinieren, dass es der angestrebten Willenseinheit nicht mehr im Wege steht, sondern sogar zu einem Moment der deliberativen Herausbildung eines einheitlichen und vernünftigen Willens wird.24 Ungeachtet der höheren Komplexität seines Demokratiemodells und seines Anschlusses an die moderne Gesellschaftstheorie stimmt Habermas mit Rousseau darin überein, das Herrschafts - oder Heteronomiemoment der Politik gegenüber den Individuen durch einen der Gesetzgebung zugeschriebenen Vernunftcharakter, durch die Zusammenführung von Wille und Vernunft zu eskamotieren. Rousseau braucht dazu das offensichtliche, durch die Willensäußerung der Volksversammlung leicht festzustellende Allgemeinwohl, Habermas eine als wahrheitsfähigen Erkenntnisprozess strukturierte, gesamtgesellschaftliche Deliberation.
III. Freiheit ohne Autonomie Hannah Arendt, um nun endlich wieder auf sie zu sprechen zu kommen, ist in derartige Versuche zur Lösung des Heteronomieproblems politischer Herrschaft gar nicht einzuordnen, weil sie deren Prämissen nicht teilt. Es interessiert sie nicht, wie private und politische Autonomie widerspruchsfrei zusammengebracht werden können, weil sie im Autonomiebegriff selbst eine tödliche Bedrohung des Politischen sieht. Von daher sind ihre Aussagen zum Verhältnis von repräsentativer und direkter Demokratie auch gar nicht auf dieses Verhältnis bezogen. Arendt versteht unter Freiheit nicht die Selbstbestimmung eines Individuums oder einer Gruppe, sondern die Möglichkeit, in einer mit anderen geteilten Welt zu handeln. Der Freiheitsbegriff der westlichen Tradition, gegen den sie immer wieder polemisiert,25 bezeichne ein unpolitisches oder gar ein antipolitisches 23 Vgl. ebd., S. 224 f. 24 „Erst mit einer der politischen Willensbildung innewohnenden Logik kommt ein Vernunftmoment ins Spiel, das den Sinn der Repräsentation verändert. Wenn Abgeordnete als Teilnehmer an repräsentativ oder stellvertretend geführten Diskursen gewählt werden, hat die Wahl zunächst nicht die Bedeutung einer Delegation von Willensmacht.“ (Ebd., S. 225). 25 Um nur einige Belege zu nennen etwa Hannah Arendt, Freiheit und Politik. In : Zwischen Vergangenheit und Zukunft, München 1994, S. 201–226, hier 211 f.; dies., Kul-
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Phänomen. Er beziehe sich auf die Erfahrung von Freiheit im „Umgang mit sich selbst, nicht mit anderen [...] entweder nämlich in dem Dialog mit sich selbst, den wir seit Sokrates mit Denken identifizieren, oder in dem Konflikt mit sich selbst, dem Streit zwischen Wollen und Können, in dem das Christentum in der Nachfolge Paulus’ und Augustinus’ die Unzulänglichkeit und Fragwürdigkeit menschlicher Existenz erblickte.“26 Arendt identifiziert hier eine philosophische und eine christliche Wurzel des westlichen Freiheitsbegriffes. Gemeinsam sei beiden, dass sie Freiheit als Autonomie des Willens bestimmen, die im Verkehr mit sich selbst erfahrbar ist. Wird dieser selbstbezügliche Freiheitsbegriff auf den Bereich des Politischen übertragen, setze er Freiheit gleich mit der Unabhängigkeit von anderen, mit Souveränität. Souveränität ist für Arendt ein säkularisierter theologischer Begriff. Menschen können im Gegensatz zu Gott aber nicht souverän sein, da sie immer unter ihresgleichen leben. Als Souveränität ist Freiheit nur möglich, wenn man „über andere so verfügen kann, dass sie lediglich Vollstrecker der eigenen anfänglichen Ziele sind, also nicht handeln, sondern Befehle ausführen“27. Freiheit, die als Souveränität verstanden wird, impliziert demnach die Instrumentalisierung intersubjektiver Beziehungen. Handeln unter Bedingungen der menschlichen Pluralität und der politischen Gleichheit findet dagegen in einem Netz von Bezügen statt und löst Reaktionen aus, über die der Handelnde, im Gegensatz zu demjenigen, der einen Gegenstand herstellt, nicht souverän verfügen kann.28 Wer politisch handelt, ist deshalb immer vom Handeln anderer betroffen, souverän ist nur der homo faber in seinem instrumentellen Verhältnis gegenüber Dingen und Menschen. Deshalb kann Hannah Arendt sagen : „Wo Menschen, sei es als einzelne, sei es in organisierten Gruppen, souverän sein wollen, müssen sie die Freiheit abschaffen. Wollen sie aber frei sein, so müssen sie auf Souveränität gerade verzichten.“29 Politische Freiheit bedeutet für Arendt also nicht die Übereinstimmung eines Subjektes mit sich selbst – sei es individuell oder kollektiv. Sie kommt nur dem Bürger, nicht dem Menschen überhaupt zu und kann nur im Verkehr unter Gleichen wirklich werden. Als Handlungsfreiheit er weist sie sich, anders als bei Rousseau und Habermas, nicht in der Herstellung einer höheren Einheit – sei es die des volonté générale oder eines vernünftig begründeten Konsenses. Sie setzt vielmehr Alterität und Kontingenz voraus. Kontingenz, weil für Arendt Freiheit in der Fähigkeit besteht, „zu tun, was auch ungetan bleiben könnte“30,
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tur und Politik. In : ebd., S. 277–304, hier 294 f.; dies., Vita Activa oder Vom tätigen Leben, München 1981, S. 216; dies., Über die Revolution, S. 35. Arendt, Freiheit und Politik, S. 211. Arendt, Vita Activa, S. 216. Anschaulich beschreibt Arendt den Unterschied in „Kultur und Politik“, vgl. Arendt, Kultur und Politik, S. 294. Arendt, Freiheit und Politik, S. 215. Hannah Arendt, Vom Leben des Geistes. Das Denken. Das Wollen, München 1998, S. 425.
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Alterität, weil wir nur in einer mit anderen geteilten Welt handeln können und auch die als Ergebnis eines Meinungstausches mögliche Gemeinsamkeit stets nur eine begrenzte Übereinstimmung bleibt.31 Schließlich ist Freiheit bei Arendt nicht nur durch das Faktum der Pluralität beschränkt, das uns mit anderen Handelnden konfrontiert, sondern auch weil Handeln nur in einer auf Voraussetzungen basierenden, durch Gesetze und Sitten geregelten Welt möglich ist.32
IV. Repräsentation als Differenzrepräsentation : Politik ohne Souveränität Dieser stark existentialphilosophisch geprägte Freiheitsbegriff ermöglicht es Hannah Arendt, ein „herrschaftskategoriales“ Verständnis des Politischen33 zu überwinden und in der amerikanischen Republik eine constitutio libertatis, eine echte Gründung politischer Freiheit zu sehen. Im Gegensatz zur Frankfurter Schule gewinnt Arendt die Kategorien ihrer über weite Strecken ja sehr ähnlichen Kritik an der modernen kapitalistischen Gesellschaft nicht aus einer Auseinandersetzung mit dem Vernunftbegriff, sondern aus einer existentialistisch geprägten Phänomenologie menschlichen Handelns.34 Dies öffnet ihr den Blick für die Handlungspotentiale der neuzeitlichen politischen Revolutionen. Für Arendt rissen diese Revolutionen nicht nur die Schranken nieder, die einer Totalisierung ökonomischer bzw. instrumenteller Vernunft im Wege standen – das ist die These des jungen Marx in seiner Schrift „Zur Judenfrage“ und letztlich auch die der „Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer und Adorno –, sondern sie begründeten einen Erscheinungsraum für das politische Handeln unter Gleichen. Während die Diktatur der Jakobiner diesen Raum schnell wieder zerstörte, gelang es den Revolutionären in Nordamerika ihn dauerhaft zu sichern. Wie wenig ihre Kritik der repräsentativen Demokratie und ihre Begeisterung für das Räteprinzip auf eine Selbstherrschaft des Volkes in der Form direkter Demokratie zielen, lässt sich allein schon aus dem Überschwang ersehen, mit dem Arendt die Klugheit der amerikanischen Gründungsväter lobt. Nicht zuletzt begründeten diese ja repräsentative Institutionen. Einer der Ursachen für den Erfolg der Amerikanischen Revolution liegt nach Arendt darin, dass sie die Identität des neuen Staates in dauerhaften weltlichen Institutionen 31
Vgl. Arendt, Über die Revolution, S. 96. Entsprechend formuliert Arendt auch : „Wo alle das gleiche tun, handelt niemand mehr in Freiheit, auch wenn keiner direkt gezwungen wird“ ( ebd., S. 215). 32 Vgl. dazu Arendt, Vom Leben des Geistes, S. 426. 33 Zu Vollraths Kritik am herrschaftskategorialen Verständnis des Politischen vgl. Ernst Vollrath, Die Kultur des Politischen. Konzepte politischer Wahrnehmung in Deutschland. In : Volker Gerhardt ( Hg.), Der Begriff der Politik, Stuttgart 1990, S. 268–290. 34 Zu dieser Differenz und ihren Auswirkungen auf die jeweilige Wahrnehmung der westlichen Demokratie vgl. Winfried Thaa, Hannah Arendts Demokratisierung der Kulturkritik. In : Winfried Thaa / Lothar Probst ( Hg.), Amerika im Denken Hannah Arendts, Berlin 2003, S. 140–166.
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sicherte, während die Französische Revolution sie unter dem Einfluss Rousseaus in die eine unteilbare Nation und damit in den einheitlichen Willen des Volkes verlegte.35 Soll die direkte Demokratie im landläufigen Verständnis eine unmittelbare Einheit des Volkes mit sich selbst sichern, so begeistert sich Hannah Arendt für die amerikanische Revolution, gerade weil sie eine solche Willenseinheit effektiv zu verhindern wusste. Dies geschah in mehrfacher Hinsicht: Erstens gelang es der amerikanischen Verfassung die Macht des Volkes zu konsolidieren, zugleich aber dessen Anspruch auf Souveränität konsequent zu eliminieren. Arendt führt dies weniger auf die ausgeprägte Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative zurück, als vielmehr auf das von James Madison aus der vorrevolutionären Erfahrung der Selbstverwaltung entwickelte föderative Prinzip, getrennte, unabhängig voneinander entstandene und weiter über eigene Kompetenzen verfügende politische Gebilde miteinander zu vereinigen.36 Die so zustande kommende „compound republic“37 ist demzufolge kein unteilbarer Körper, sondern eine Kombination verschiedener politischer Räume, in denen auch nach dem Zusammenschluss jeweils separat politische Macht entstehen kann. Zweitens unterscheidet die amerikanische Verfassung nach Arendt radikal zwischen Gesetz und Macht. Quelle des Gesetzes ist die Autorität der Verfassung, das ursprüngliche Versprechen der Gründer. Quelle der Macht dagegen ist das Volk bzw. dessen Meinungen. Arendt trennt diese beiden Dimensionen in einer zunächst befremdlichen Schärfe. Offensichtlich meint sie, es könne so auch in einer säkularisierten, nicht mehr transzendent legitimierten politischen Ordnung vermieden werden, Gesetz und politische Macht in gleicher Weise auf den Willen des Volkes zurückzuführen und damit einer demokratischen Willkürherrschaft den Weg zu ebnen. Arendt sieht die Lösung der amerikanischen Republik darin, der Macht des Volkes durch etwas von ihr unterschiedenes, nämlich die in der Verfassung objektiv gewordenen Gründungsversprechen einen einschränkenden Rahmen zu geben.38 Dieser Unterscheidung lässt sich vordergründig entgegenhalten, dass selbstverständlich auch die Autorität der Gründungsversprechen auf das Volk zurückgeht und ihre jeweilige Interpretation Veränderungen unterworfen ist. Das stellt Arendt aber selbst in Rechnung. In ihrer positiven Würdigung des zivilen Ungehorsams gegen den Vietnamkrieg argumentiert sie, die kritische Überprüfung und Weiterentwicklung gehöre notwendigerweise zu einer vom Geist der freiwilligen Vereinigung geprägten Ver35 Vgl. dazu Arendt, Über die Revolution, S. 96 f. 36 Vgl. dazu ebd., S. 200 f., 218 f.; Hannah Arendt, Denktagebuch. Hg. von Ursula Ludz, München 2002, Bd. 1, S. 130 f. 37 The Federalist. A Commentary on the Constitution of the United States, ed. by The Modern Library, New York o. J., Nr. 51, S. 339. 38 Arendt meint, dass auch später, als unter dem Einfluss europäischer Verfassungstheoretiker der Vorrang der Verfassung aus ihrer Verwurzelung im Volkswillen abgeleitet wurde, „man doch noch ein Gefühl dafür ( behielt ), dass, nachdem diese Entscheidung einmal gefallen war, sie für den politischen Körper der aus ihr entstanden ist, bindend bleibt“; Arendt, Über die Revolution, S. 205.
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fassung. Dennoch glaubt sie, die von ihr hervorgehobene Unterscheidung von Macht und Autorität könne die Einführung eines neuen Absoluten in die Politik vermeiden und eine Einheitsverkörperung des Volkes, sei es durch die Nation oder durch ein soziales Interesse, verhindern.39 Diese Verdoppelung der Zustimmung des Volkes in Macht und Autorität schafft einen Abstand der Gesellschaft bzw. der Mehrheit von sich selbst. Gegen das Prozessdenken der Neuzeit im Allgemeinen und die Wechselhaftigkeit des Willens im Besonderen kommt damit Stabilität und Dauerhaftigkeit in die Politik.40 Eine weitere Sicherung gegen die Gefahr einer einheitsverkörpernden Macht sieht Arendt drittens in der zentralen Bedeutung, die dem Begriff der Meinung im amerikanischen Politikverständnis zukommt. Die Autoren der Federalist Papers führen politische Macht auf Meinung zurück.41 Für noch wichtiger hält Arendt, dass sie dabei von einer unaufhebbaren Verschiedenheit von Meinungen ausgehen und diese nicht nur als notwendiges Übel akzeptieren, sondern für vernunftgemäß halten. Einmütigkeit ist nach Madison nur von politisch gefährlichen, gemeinsamen Leidenschaften zu erwarten, der freie Gebrauch der Vernunft aber führe unweigerlich zu verschiedenen Meinungen.42 Aus dieser Überlegung folgt eine grundsätzliche Legitimierung des Konflikts und der politischen Opposition. Alle drei Differenzen – zwischen politischen Räumen, zwischen Macht und Autorität, zwischen Mehrheits - und Minderheitsmeinung – finden institutionelle Repräsentationen im amerikanischen Verfassungsstaat.
V. Repräsentieren, Urteilen, Handeln Schon deshalb verbietet es sich, Arendts Denken im Gegensatz von Repräsentation und Demokratie zu verorten. In ihrer Würdigung der amerikanischen Revolution argumentiert sie über weite Strecken für das Prinzip politischer Repräsentation als Differenzrepräsentation, die sie als freiheitsverbürgende Alternative zum französischen, tendenziell totalitären Modell der Identität von Volk und Republik sieht.43 Diese These lässt sich selbst noch durch Arendts Aus39 Zur Trennung von Gesetz und Macht vgl. auch Anne - Marie Roviello, Die Volkssouveränität und die repräsentativen Institutionen bei Hannah Arendt, Manuskript o. J. 40 Vgl. Arendt, Über die Revolution, S. 288. 41 So zitiert sie Madison : „All government rests on opinion“ ( ebd., S. 293). 42 So heißt es im „Federalist“ „When men exercise their reason cooly and freely on a variety of distinct questions, they inevitably fall into different opinions on some of them. When they are governed by a common passion, their opinions, if they are so to be called, will be the same“ (The Federalist, No. 50, S. 334). Dazu Arendt, Über die Revolution, S. 290 f. 43 Zu diesem Begriff vgl. Ernst Vollrath, Identitätsrepräsentation und Differenzrepräsentation. In : Orsi, Giuseppe / Seelmann, Kurt / Smid, Stefan / Steinvorth, Ulrich (Hg.), Recht und Moral, Frankfurt a. M. 1993, S. 65–78. Die Gegenüberstellung zwischen einer einheitsverkörpernden und einer die Unaufhebbarkeit von Konflikten symbolisierenden Repräsentation stammt von Claude Lefort ( vgl. etwa Claude Lefort, Democracy and Political Theory, Cambridge 1988).
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führungen im abschließenden sechsten Kapitel ihres Revolutionsbuches, in dem sich ihr überschwängliches Lob des Rätesystems findet, weiter erhärten. Arendt betont zunächst, die Hauptsorge der Gründungsväter sei die drohende Instabilität der neuen Republik gewesen. Reine Demokratien „have in general been as short in their lives as they have been violent in their deaths“ formuliert der von ihr zitierte Madison im 10. Brief der Federalist Papers.44 Den Grund dafür sehen die Verfassungsväter nach Arendt ganz zu recht im Untergang der Meinungsvielfalt „in einem Meer einmütiger ‚Leidenschaften‘, volkserhebender Gefühle und patriotischer Redensarten“45. Fragen wir, wie die Vielfalt der Meinungen und die Chance der Bürger, sich in Auseinandersetzung mit ihnen selbst eine Meinung zu bilden, gesichert werden kann, lautet die Antwort : durch Repräsentation, das heißt durch eine Institution, in der die Mannigfaltigkeit der Meinungen eine legitime Repräsentation findet. Das sollte nach der Arendtschen Lesart der amerikanischen Verfassung der Senat sein46 – gewiss keine Institution direkter Demokratie. Dazu lohnt es, die für eine angebliche Gegnerin des Repräsentationssystems doch erstaunlichen Äußerungen ausführlicher zu zitieren : „Meinungen entstehen nur, wo Menschen frei miteinander Verkehr pflegen und das Recht haben, ihre Ansichten öffentlich kundzutun; und diese Ansichten in ihrer schier unendlichen Mannigfaltigkeit bedürfen in der Tat auf das dringendste einer Reinigung und einer Vertretung. ... Denn wiewohl nur Einzelne sich eine Meinung bilden können, und diese Meinung daher auch gleichsam immer ihr Eigentum bleibt, so kann doch kein Einzelner [...] je der Aufgabe gewachsen sein, die von allen Seiten auf ihn einstürmenden Meinungen zu sichten, das Willkürliche oder rein individuell Bedingte auszuscheiden und nur die Meinungen an die Öffentlichkeit zu lassen, die eine gewisse Gültigkeit beanspruchen dürfen ... Meinungen entstehen und bewähren sich in einem Prozess allseitigen Meinungsaustausches und eine Vermittlung ihrer Verschiedenheiten und Konflikte kann daher am besten zustande kommen, wenn man sie durch das Medium einer Körperschaft leitet, deren Glieder für diesen Zweck besonders ausgewählt sind.“47
Es bedarf also nach Arendt einer Körperschaft aus gewählten Mitgliedern, damit sich politisch tragfähige Meinungen herausbilden und öffentlich sichtbar werden können. Insofern schreibt sie der repräsentativen Körperschaft ein Element von „Trusteeship“ im Sinne Hannah Pitkins zu, d. h. die Repräsentanten handeln anstelle derjenigen, die sie ausgewählt haben.48 Dennoch sieht Arendt im Gegensatz zu den „Federalist Papers“ im Repräsentationsprinzip keinen Ersatz für die direkte Zusammenkunft der Bürger.49 Vielmehr bestimmt sie die Herausbildung und Repräsentation verschiedener Meinungen durch gewählte 44 45 46 47 48
The Federalist, No. 10, S. 58. Zitiert bei Arendt in Arendt, Über die Revolution, S. 289. Arendt, Über die Revolution, S. 291. Vgl. ebd., S. 291. Ebd., S. 292 f. Zur Definition des „trustee“ - Verständnisses von Repräsentation vgl. Hanna Fenichel Pitkin, The Concept of Representation, Berkeley 1967, S. 127. 49 So heißt es in den „Federalist Papers“ über das Repräsentationsmodell („the scheme of representation“), es sei „a substitute for a meeting of the citizens in person“ (The Federalist, No. 52, S. 343).
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Vertreter als eine positive Bedingung der individuellen Meinungsbildung und damit auch des politischen Handelns. Im politikwissenschaftlichen Jargon könnten wir sagen, die politischen Aktivitäten der Bürger seien auf die Aggregationsleistungen ihrer Repräsentanten angewiesen. Daraus müsste Arendt eigentlich den allgemeinen Schluss ziehen, dass politisches Handeln gar nicht ohne ein repräsentatives Überschreiten der unmittelbaren, konkreten Präsenz der Akteure stattfinden kann, vielmehr immer darauf angewiesen ist, Bezüge auf ein zwar unmittelbar nicht Vorhandenes, dennoch aber Repräsentiertes zu aktualisieren. Genau genommen gilt dies auch schon für die direkte Versammlungsdemokratie, in der die Handelnden auch ohne ein formalisiertes Mandat stets für etwas oder jemanden das Wort ergreifen, also auch repräsentieren.50 Arendt entwickelt keine allgemeine Theorie der Repräsentation, aber ihre Gedanken zur Repräsentation von Meinungen implizieren, dass erst das Repräsentationsprinzip Politik als einen Raum verschiedener Handlungsmöglichkeiten öffnet und sichtbar werden lässt. Das Fehlen systematischer Überlegungen zum Repräsentationsprinzip ist bei Arendt noch aus einem weiteren Grund erstaunlich. Im Zentrum ihres enthusiastischen Begriffs der Politik steht bekanntlich der Gedanke der Natalität, die Überzeugung, dass wir in unserem Handeln nicht determiniert sind, sondern den Lauf der Dinge unterbrechen und etwas Neues beginnen können. Da uns in der modernen säkularisierten Welt die absoluten Maßstäbe fehlen und wir die Einführung vermeintlicher Notwendigkeiten mit dem Preis der Freiheit bezahlen müssen, kann eine dem Politischen adäquate Rationalisierung unseres Handelns nur erreicht werden, indem wir auch aus der Perspektive der anderen denken. In Anlehnung an Kants „Kritik der Urteilskraft“ spricht Arendt von der „erweiterten Denkungsart“ und der „reflektierenden Urteilskraft“, mit der wir uns über unsere subjektiven Privatbedingungen hinwegsetzen und den Gegenstand oder die Streitfrage, um die es geht, aus der Sicht der anderen sehen.51 Dazu aber müssen diese anderen präsent sein oder im Denken re - präsentiert werden.52 Arendt nennt die Meinungsbildung und das Urteilen die „politisch ausschlaggebenden rationalen Vermögen des Menschen“53. Beide sind, so jedenfalls die Schlussfolgerung aus ihrer Argumentation, ohne die Repräsentation politischer Differenz gar nicht möglich. Ohne die Vergegenwärtigung der Anderen und ihrer Perspektiven bzw. Meinungen würde das Entscheiden als Teil jedes Urteils zur bloßen Willkür. Ohne die Vermittlung der mannigfaltigen Meinungen zu überschaubaren Alternativen im Medium einer Körperschaft 50 Dazu ausführlicher Urbinati, die der Repräsentation als einer Form der Indirektheit eine Schlüsselrolle für den deliberativen Charakter von Politik zuschreibt. Vgl. Nadia Urbinati, Representation as Advocacy. A Study of Democratic Deliberation. In : Political Theory, 28 (2002) 6, S. 758–786. 51 Vgl. dazu etwa Arendt, Kultur und Politik, S. 298. 52 „Was die Präsenz des Selbst für die formale Widerspruchslosigkeit der Logik und die nicht weniger formale Logik der Gewissensethik ist, ist die Präsenz der anderen für das Urteilen“ ( ebd., S. 298). 53 Arendt, Über die Revolution, S. 295.
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käme es gar nicht zu entscheidbaren Alternativen. Genauere Überlegungen zum Verhältnis von repräsentativem Denken und dem Prinzip der parlamentarischen Repräsentation finden sich bei Arendt allerdings nicht.
VI. Kritik der repräsentativen Demokratie und des Parteiensystems Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass für Arendt Repräsentation als Differenzrepräsentation nicht nur eine Sicherung gegen die Gefahren der Einheitsverkörperung bildet, sondern auch eine positive Voraussetzung des Urteilens und Handelns darstellt. Erst an dritter Stelle kommt dann ihre Kritik, die auf der Feststellung beruht, dass die amerikanische Verfassung dem Volk zwar alle Macht gegeben habe, jedoch „ohne die Möglichkeiten zu bestimmen, in deren Rahmen dieses Volk nun auch sich als Bürger und Bürger einer Republik bewähren und bestätigen konnte.“54 Solange diese Möglichkeiten fehlten, könne sich nicht das Volk, sondern nur seine gewählten Vertreter politisch betätigen und in den Genuss positiver Freiheit kommen.55 Ziel der Kritik ist demnach aber nicht das Repräsentationsprinzip als solches, sondern die vollständige Abgabe politischer Handlungsmöglichkeiten an die Repräsentanten. Die Menschen nehmen nicht mehr als Bürger am politischen Leben teil und als Folge davon liefert die Demokratie in Wahlen und Abstimmungen die Macht einem Volk von Privatleuten aus.56 Da Arendt rigider zwischen privaten Interessen und dem öffentlichen Bereich des Politischen trennt als ihre amerikanischen Gewährsleute,57 das Private für sie ein Bereich der Notwendigkeit, das Öffentliche ein Bereich der Freiheit ist, muss sie in der Orientierung der Bürger am privaten, in erster Linie kommerziellen Leben eine tödliche Gefahr für die Republik sehen. Nicht die mögliche Verselbständigung der Repräsentanten gegenüber den Interessen der Repräsentierten ist dabei der Punkt. Ganz im Gegensatz zur gängigen Kritik an der parlamentarischen Demokratie fürchtet Arendt die enge Bindung der Repräsentanten an die ökonomischen Belange ihrer Wählerbasis.58 Denn mit wirtschaftlichen Interes54 55 56 57
Ebd., S. 324. Ebd., S. 302. Vgl. ebd., S. 324. Horst Mewes zeigt in Bezug darauf, dass Arendt insbesondere Madison und Hamilton falsch interpretiert und deren positive Würdigungen der privaten Freiheiten unberücksichtigt lässt. Vgl. dazu Horst Mewes, Hannah Arendts Verständnis von moderner Politik und die Analyse der amerikanischen Verfassungsgründung. In : Thaa / Probst ( Hg.), Die Entdeckung der Freiheit, S. 169–200. 58 Nach Arendt kehrt sich die Korruptionsgefahr mit den neuzeitlichen Revolutionen geradezu um. Bestand sie zuvor in erster Linie im Eindringen der öffentlichen Gewalt in die unzureichend geschützte Privatsphäre der Bürger, so droht nun eine Beschädigung des öffentlichen Raumes durch das Eindringen korrumpierender Privatinteressen. Vgl. dazu Arendt, Über die Revolution, S. 322 f. Zu diesem antiökonomischen Aspekt der Parlamentarismuskritik Arendts ausführlich Kateb, Arendt and Representative Democracy.
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sen dringen Notwendigkeiten in das Politische ein, zerstören es als Raum verschiedener Meinungen und Handlungsmöglichkeiten und rekonstruieren über Zweck - Mittel - Beziehungen die Differenz von Herrschern und Beherrschten. Die von Arendt bereits bei Plato ausgemachte Tendenz, Handeln durch Herstellen zu ersetzen und die öffentlichen Angelegenheiten nach dem Vorbild des Haushalts und seiner arbeitsteiligen Herr - Knecht - Verhältnisse zu gestalten, vollendet sich demnach in den repräsentativen Demokratien moderner Arbeits - und Konsumgesellschaften. Obwohl sich Arendts Kritik damit auf den Herrschaftsaspekt des Repräsentationsprinzips richtet, dreht sie sich auch hier nicht um den Gegensatz von Autonomie und Heteronomie, sondern um den Charakter der Akteursbeziehungen in der demokratischen Republik. Dabei lassen sich m. E. zwei Gesichtspunkte unterscheiden, die sie selbst nicht klar genug trennt. Zum einen knüpft ihre Kritik am republikanischen Tugenddiskurs an und argumentiert mit Jefferson, dass nur durch die alltägliche Beteiligung an Regierungsgeschäften in Elementarrepubliken, den „wards“ oder Räten, die Freude am öffentlichen Leben und die Verantwortung für die öffentlichen Angelegenheiten erlernt und erhalten werden könnten. Nur so lasse sich ein Gegengewicht zum Privatismus der modernen Wirtschaftsgesellschaft schaffen und der Gefahr der Atomisierung und ihrer Kehrseite, der Anfälligkeit für pseudowissenschaftliche Ideologien, begegnen. Dies ist im Grunde Tocquevilles Argument der „Schulen der Demokratie“, die er in der lokalen Selbstverwaltung, den Geschworenengerichten und den vielfältigen Assoziationen der amerikanischen Gesellschaft sah.59 Für die republikanische Sozialisation der Bürger bedarf es aus dieser Sicht in ausreichendem Maße gesellschaftlicher Bereiche, die nicht unter die Regelungskompetenz der politischen Repräsentanten fallen, sondern durch Eigenaktivitäten der Bürger gestaltet werden können. Neben diesem Sozialisationsaspekt enthält Arendts Kritik an den Akteursbeziehungen der repräsentativen Demokratie jedoch noch einen strukturellen Aspekt. In ihrem Kompetenzbereich monopolisieren die Repräsentanten den Raum politischen Handelns und reproduzieren dadurch auch in einer demokratischen Republik die alte Unterscheidung zwischen Herrschenden und Beherrschten. Dagegen empfiehlt Arendt ebenfalls das Heilmittel des Rätesystems, dessen Gestalt sie als eine von unten nach oben laufende Abstufung von Versammlungen ausmalt, in denen jeweils Gleiche untereinander beraten und die für die nächsthöhere Stufe Gewählten ihre Wahl ausschließlich dem Vertrauen von ihresgleichen verdanken.60 Explizit lehnt Arendt dabei ein Delegierten59 Die Metapher der Schule findet sich bei Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika. Beide Teile in einem Band, München 1976, S. 606. Zu den Parallelen und Unterschieden zwischen Tocquevilles und Arendts Denken vgl. auch Dana Villa, Arendt und Tocqueville. In : Thaa / Probst ( Hg.) : Die Entdeckung der Freiheit, S. 201–236. 60 Offensichtlich schlägt hier Arendts Begeisterung für das Handeln in einer peer - group Ebenbürtiger durch, das sie etwa auch ins Zentrum ihrer Würdigung von Rosa Luxemburgs politischem Handeln stellt. Vgl. Hannah Arendt, Rosa Luxemburg. In : Der Monat, 20 (1968) Heft 243, S. 28–40, hier 32.
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modell ab, das die gewählten Vertreter an Instruktionen bindet. Letzteres verhindere die Meinungsbildung, zu der es des Meinungsaustausches bedarf, und reduziere die Repräsentanten auf Interessenvertreter oder Experten.61 Als Ermöglichung einer aktiven Beteiligung an der Politik, die über die Ebene der eigenen unmittelbaren Präsenz hinausgeht, kann diese Vorstellung allerdings nicht überzeugen. Wie Arendt selbst formuliert, entsteht in diesem Rätesystem „die Gestalt aller Staatsformen, die uralte Form der Pyramide“62. Dann aber stellt sich doch die Frage, wie die Mitglieder der unteren Räte an den Entscheidungen der oberen Räte teilnehmen können, um die auch hier zu befürchtende Reproduktion von Herrschaftsverhältnissen zu vermeiden. Sind die Räte weisungsgebundene Delegierte, gibt es auf den verschiedenen Ebenen keine Meinungsbildung, ergo keine politische Freiheit. Sind sie es nicht, haben wir es selbstverständlich auch hier mit Repräsentationsbeziehungen zu tun, in denen die einen über die anderen entscheiden. Arendt kann in ihrem Rätemodell das Problem des Handlungs - und Freiheitsverlustes der Repräsentierten nicht überzeugend lösen. Den Grund sehe ich darin, dass sie Repräsentation im Kern als Nichtanwesenheit und damit als Handlungsunfähigkeit der Repräsentierten bestimmt. Wie oben bereits zitiert, können Meinungen und die Fähigkeit zu handeln nach Arendt nicht delegiert oder repräsentiert werden. Das leuchtet zwar ein, aber folgt daraus, dass in der Beziehung zwischen Repräsentierten und Repräsentanten nur die zweiten handeln können? Lassen sich, wenn wir Repräsentation als Beziehung denken, nicht auch Handlungsmöglichkeiten für die Repräsentierten ausmachen ? Auf diesen Punkt zielt David Plotke in einer Kritik an Hanna Pitkin, die in Bezug auf politisches Handeln Arendts Verständnis von Repräsentation teilt.63 Plotkes Argument lautet, Repräsentation werde zu unrecht mit der Abwesenheit des Repräsentierten gleichgesetzt und sollte demgegenüber besser als Relation verstanden werden. So gesehen kann der Repräsentierte nicht nur in seiner Wahlentscheidung tätig werden. Gerade weil es sich nicht um den Auftrag zur Wahrnehmung eines bestimmten Interesses oder um die Durchsetzung eines feststehenden Willens handele, impliziere die Repräsentationsbeziehung eine permanente Auseinandersetzung darüber, wie der Repräsentant zu entscheiden 61 Vgl. dazu Arendt, Über die Revolution, S. 304. 62 Ebd., S. 358. 63 Vgl. dazu David Plotke, Representation is Democracy. In : Constellations, 4 (1997) 1, S. 19–34. Pitkin formuliert : „As long as politics is is equated with government, and government regarded as a means for achieving private purposes and reconciling conflicting claims in a generally acceptable manner, rightly designed representative institutions may serve its purposes very well. But if its real function is to direct our shared, public life, and ist real value lies in the opportunity to share in power over and responsibility for what we, jointly, as a society, are doing, then no one else can do my politics ‚for‘ me, and representation can mean only the exclusion of most people from its benefits most of the time.“ Hanna F. Pitkin, Representation. In : Terence Ball u. a. ( Hg.), Political Innovation and Conceptional Change, Cambridge 1989, S. 150, zitiert nach Plotke, Representation is Democracy, S. 29.
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habe. Diese politische Aktivität – bei Plotke allerdings in erster Linie das Aushandeln von Interessen – sei zudem nicht auf die vertikale Dimension beschränkt. Da jeder Einzelne und jede Gruppe wisse, dass die Repräsentanten neben ihnen auch andere Individuen und Gruppen zu vertreten haben, seien sie gezwungen, deren Perspektive mit zu berücksichtigen. Demnach zwingt das Repräsentationsprinzip die Repräsentierten, beim Versuch, erfolgreich Einfluss auszuüben, ihre Position als verallgemeinerungsfähig darzustellen und sowohl ihre Mitbürger wie ihre politischen Repräsentanten davon zu überzeugen. Statt den öffentlichen Raum zu schwächen, kann das Repräsentationsprinzip zu seiner Stärkung beitragen. Überlegungen, die in diese Richtung weisen, finden sich bei Hannah Arendt nicht. Trotz der grundsätzlich positiven Würdigung der Differenzrepräsentation als Sicherung gegen die Gefahren der Einheitsverkörperung, als Öffnung eines Raumes politischer Alternativen und als Voraussetzung der individuellen Meinungsbildung, thematisiert Arendt die Repräsentationsbeziehung selbst explizit nur als handlungsverhindernd. Allerdings enthält ihre konkrete Kritik an den parlamentarischen Parteiensystemen durchaus Hinweise auf Gegenmittel zur entpolitisierenden Wirkung der repräsentativen Demokratie. An ihnen lässt sich veranschaulichen, dass Arendt, im Gegensatz zu Rousseau, keine grundsätzliche Alternative zur parlamentarischen Demokratie vertritt. So lehnt Arendt etwa schon in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft das kontinentale Mehrparteiensystem ab und bekräftigt diese Einschätzung weiter in Über die Revolution. Ihre zwei Hauptargumente beziehen sich auf Stabilitätsgesichtspunkte, aber auch auf die Handlungsmöglichkeiten der Bürger. Die Parteien in den kontinentalen Mehrparteiensystemen tendieren ihr zufolge viel stärker als Parteien in den angelsächsischen Zweiparteiensystemen dazu, sich mit partiellen Interessen zu identifizieren und sind für deren Ideologisierung anfälliger. Zudem vertieften sie die Kluft zwischen den Parteien, die gar nicht erst versuchten, für das Ganze zu stehen, und dem Staat, der das Allgemeinwohl repräsentieren soll. Demgegenüber setze das Zweiparteiensystem die Parteien unter den Zwang, absolute Mehrheiten zu gewinnen, weshalb sie intern allzu enge Interessenbindungen überwinden und im Gegensatz zu den oligarchischen Bürokratien der europäischen Parteien auch Prozesse der Meinungsbildung zulassen müssten. Da im Zweiparteiensystem immer eine der beiden Parteien zeitweise zum Staat wird, blieben Macht und Staatsapparat in der „Griffnähe des Bürgers“. Schließlich seien auch die Verantwortlichkeiten klarer geregelt.64 Ähnlich konkrete Überlegungen über die Auswirkungen auf die Handlungsmöglichkeiten der Bürger finden sich bei Arendt auch zur Kandidatennominierung, zur Rolle von Experten, der Wirkung des Wohlfahrtsstaates oder der Professionalisierung der Politik.65 Bei alldem interessiert weniger, ob wir den Urteilen 64 Vgl. dazu Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 1986, S. 405 f.; dies., Über die Revolution, S. 344 f. 65 Ausführlich zu Arendts Auseinandersetzung mit der repräsentativen Parteiendemokratie vgl. Roland W. Schindler, Erschöpfung der Demokratie ? Erneuerung der Politik ?
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Arendts im Einzelnen folgen können. Insbesondere ihre strikte Opposition von Interesse und Meinung, von Notwendigkeit und freiem Handeln scheint sie bei konkreten politischen Urteilen öfter in die Irre zu führen. Das Hauptanliegen ihrer Kritik, die Handlungsmöglichkeiten der Bürger in der repräsentativen Demokratie, ist angesichts des derzeitigen Zustandes der Politik jedoch aktueller denn je. Das Ausmaß, in dem heute die Beschwörung von ökonomischen Zwängen den Meinungsstreit verdrängt und demokratische Politik ihre Legitimation in der Wachstumsrate des Sozialprodukts sucht, übertrifft selbst die schlimmsten Befürchtungen Hannah Arendts.
Hannah Arendt über Parteiendemokratie und Rätewesen. In : Utopie kreativ, 11 (2000) Heft 113, S. 264–275.
III. Totale Herrschaft
Dialektik der totalen Herrschaft Paradoxien eines idealtypischen Totalitarismusbegriffs Lothar Fritze Nimmt man das vergangene Jahrhundert in den Blick, so wurde dieses ganz wesentlich durch eine besondere Art von Diktaturen mitbestimmt. Bei diesen Herrschaftssystemen handelte es sich um Diktaturen, deren Errichtung weder auf zuvor bereits bestehenden Verfassungs - oder Rechtsvorschriften beruhte noch dem Ziel diente, eine Herrschaftsausübung auf Basis der ursprünglichen Verfassung wieder zu ermöglichen. Im Unterschied zu sogenannten konstitutionellen Diktaturen – Diktaturen, die aufgrund von verfassungsrechtlichen Notstandsbestimmungen auf Zeit und mit dem Ziel errichtet werden, denjenigen „Zustand zu überwinden, der unter den Bedingungen der verfassungsgemäßen Gewaltenteilung nicht mehr überwunden werden konnte“1 – handelte es sich bei diesen Herrschaftssystemen, insbesondere der bolschewistischen und der nationalsozialistischen Diktatur, um nicht - konstitutionelle Diktaturen.2
I. Nicht - konstitutionelle Diktaturen Nicht - konstitutionelle Diktaturen haben keine verfassungsmäßige Grundlage und sind insofern illegitim. Es sind Herrschaftssysteme, in denen diejenigen, die von den Entscheidungen und Handlungen der politischen Führer unmittelbar betroffen sind, auf die Berufung und Abberufung der Entscheidungsträger, auf die Festlegung von deren Kompetenzen sowie auf deren Handeln keinen rechtlich verbürgten Einfluss haben. Eine nicht - konstitutionelle Diktatur kann daher auch als ein Regime beschrieben werden, dessen Führung in der Lage ist, ihren Willen durchzusetzen, ohne die Herrschaftsunter worfenen an der Willensbildung und Entscheidungsfindung beteiligen zu müssen. Die Herrschenden sind in einer solchen Diktatur bezüglich ihrer Entscheidungen, einschließlich der Gesetzgebung und hier wiederum einschließlich der Gesetzgebung zur Gesetzgebung, autonom und hinsichtlich ihrer Herrschaftsausübung niemandem 1 2
Carl Joachim Friedrich, Art. „Diktatur“. In : Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft. Eine vergleichende Enzyklopädie, Band I, Freiburg 1966, Sp. 1240–1259, hier 1252. Vgl. auch ders., Der Verfassungsstaat der Neuzeit, Berlin 1953, Kap. XXVI. Vgl. Friedrich, Art. „Diktatur“, Sp. 1243 f.
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rechenschaftspflichtig. Die Reichweite ihrer Entscheidungen ist unbegrenzt. Die Führer nicht - konstitutioneller Diktaturen verfügen über die Kompetenz, ihre eigenen Kompetenzen festzulegen; sie sind souverän. Das Herrschaftsgremium eines solchen diktatorischen Systems kann von der Möglichkeit, autonom zu entscheiden, umstandslos Gebrauch machen, seine Diktatur also offen praktizieren, es kann aber ebenso die Herrschaftsunterworfenen zu Willensäußerungen ermuntern, sie an bestimmten Entscheidungsprozessen in einer durch das System selbst bestimmten Weise beteiligen und damit der eigenen Herrschaft einen scheindemokratischen Anstrich geben. Solange sich die Herrschenden die letzte Entscheidung über Entscheidungsbefugnisse selbst vorbehalten, ändern alle den Herrschaftsunterworfenen gewährten Beteiligungsmöglichkeiten nichts am Diktaturcharakter des Systems. Diese Bestimmung des Begriffs der nicht - konstitutionellen Diktatur sagt nichts darüber aus, mit welchem Ziel oder in wessen Interesse die Herrschaftsausübung erfolgt. Mit dieser Definition ist es daher vereinbar, erstens, dass die Herrschenden beabsichtigen, die Herrschaft im Interesse der Herrschaftsunterworfenen auszuüben, zweitens, dass die Herrschaft im tatsächlichen Interesse der Herrschaftsunterworfenen ausgeübt wird, und drittens, dass alle Herrschaftsunter worfenen sowohl den Herrschaftsanspruch des Herrschaftsgremiums akzeptieren als auch der Art und Weise der Herrschaftsausübung zustimmen.
II. Weltanschauungsdiktaturen Die das 20. Jahrhundert prägenden Diktaturen, das bolschewistische und das nationalsozialistische Regime, wurden errichtet, um bestehende Gesellschaften zu beseitigen und neuartige aufzubauen – wobei für diese Zwecksetzungen keine verfassungsgemäße Grundlage bestand. Die intendierten Gesellschaftsumgestaltungen, die sowohl dem Ziel der Abwehr drohender Gefahren als auch der Etablierung einer neuen Ordnung des gesellschaftlichen Zusammenlebens folgten, waren die primären Impulse der Führer dieser Diktaturen. Die Zwecksetzungen und Zielvorstellungen wurden in weltanschaulichen Ideensystemen (Ideologien ) formuliert, begründet und gerechtfertigt. Da sich die Führer dieser Diktaturen von solchen Ideologien leiten ließen, kann man diese Diktaturen als „ideologiegeleitet“ oder auch als Weltanschauungsdiktaturen bezeichnen. Weltanschauungsdiktaturen sind nicht - konstitutionelle Diktaturen besonderer Art. Somit weisen Weltanschauungsdiktaturen neben den allgemeinen Merkmalen nicht - konstitutioneller Diktaturen spezifische Merkmale auf. Für sie sind erstens von den Führungseliten vertretene weltanschauliche Ideensysteme kennzeichnend, die die Ziele der Gesellschaftsumgestaltung sowie die Konstruktionsprinzipien der zu etablierenden Herrschafts - und Gesellschaftsordnung formulieren und an denen sich die Herrschaftsausübung orientiert. Zweitens wird die das jeweilige System orientierende Ideologie für die gesamte Gesellschaft verbindlich vorgeschrieben. Drittens enthalten die jeweiligen Systemideologien
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Aussagen darüber, was die tatsächlichen oder die rationalen – in diesem Sinne: objektiven – Interessen der Gesellschaftsmitglieder oder wenigstens der Mehrheit der Gesellschaftsmitglieder sind und wie sich diese realisieren lassen. In diesem Zusammenhang können auch Feinde definiert werden. Viertens unterstellen die Führer solcher Diktaturen auf seiten der Herrschaftsunterworfenen ein Defizit an Aufgeklärtheit über die eigenen Interessenlagen sowie die gesellschaftliche Problemsituation und daraus resultierend ein Defizit an Bewusstheit hinsichtlich dessen, was gesellschaftlich getan werden muss. Daraus ergibt sich fünftens die Notwendigkeit, die wesentlichen Inhalte der Systemideologie den Herrschaftsunter worfenen durch Erziehung und Bildung zu vermitteln und deren Verhalten durch Propaganda und Agitation entsprechend zu konditionieren. Für Weltanschauungsdiktaturen ist daher sechstens eine ins Extrem gesteigerte Monopolisierung der politischen Macht kennzeichnend. Indem sämtliche Institutionen, Organisationen und Interessengruppen der Gesellschaft gleichgeschaltet, massiv geschwächt oder zerstört werden, unterliegt das Handeln der politischen Führer weder der öffentlichen Kritik noch der Kontrolle. Die Orientierung an einer Ideologie wirkt in ideologiegeleiteten Diktaturen tendenziell als ein Herrschaft beschränkendes Moment. Um die Ideologie glaubhaft vertreten zu können, muss die Herrschaftspraxis als ideologiekonform gerechtfertigt werden können. Unter dieser Voraussetzung sind auch die Herrschaftsausübenden in ihrem Tun und Lassen nicht völlig frei. Die potenziell herrschaftsbeschränkende Wirkung von Systemideologien wird allerdings konterkariert durch das von den Führern ausgeübte Interpretationsmonopol. Die Führer solcher Diktaturen behaupten einen Erkenntnisvorsprung. Die Propagierung der Systemideologie dient – aus Sicht der Ideologen – der Aufklärung; sie ist ihrem intentionalen Gehalt nach ein Akt der Zuwendung und Hilfe. Die Führer solcher Diktaturen treten daher mit dem Anspruch auf, ihre Herrschaft im wohlverstandenen Interesse der Herrschaftsunterworfenen – in der Regel unter Abzug der objektiven Feinde – auszuüben. Die Herrschaft wird also nicht zum Eigennutz der Diktatoren ausgeübt – so jedenfalls deren Binnensicht –, sondern um der Erreichung von Zielen willen, die jeder ( oder fast jeder) der Herrschaftsunter worfenen ebenfalls anstreben würde, wenn er nur zureichend informiert wäre und hinreichend über die Gesamtproblematik nachgedacht hätte. Die Führer solcher Diktaturen gehen somit in Übereinstimmung mit der Systemideologie vom Bestehen einer Identität der objektiven Interessen aller ( oder fast aller ) Beteiligten aus, und sie begreifen ihre eigene Herrschaft als eine Notwendigkeit im Dienste der Verwirklichung der übereinstimmenden objektiven Interessen aller Einzelnen. Herrschaft zu diesem Zweck auszuüben ist ihr zentrales Legitimationsargument. Weltanschauungsdiktaturen können nicht vom Beginn ihrer Existenz an mit Zustimmung rechnen. In ihnen ist eine anfängliche Divergenz zwischen dem Bewusstheitszustand der Führer und dem unaufgeklärten Willen, dem falschen Bewusstsein des Volkes gerade unterstellt. Unter diesen Ausgangsbedingungen kann sich Zustimmung zur Herrschaftsausübung zumindest anfangs nicht sofort
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einstellen. Weltanschauungsdiktaturen streben aber danach, Zustimmung der Gesellschaft beziehungsweise des Volkes zu erlangen. Betrachtet man die beiden dominanten Weltanschauungsdiktaturen des 20. Jahrhunderts, den bolschewistischen Sowjetstaat und das nationalsozialistische Regime, so zeichneten sich diese Systeme durch ein zusätzliches Merkmal aus : nämlich durch eine terroristische oder exzessiv - gewalttätige Herrschaftsausübung. Beide Systeme haben tatsächliche oder vermeintliche Feinde massenhaft verfolgt, unterdrückt, eingesperrt und getötet. Dieses Moment eines exzessiven Terrors wurde zu einem definitorischen Merkmal des ursprünglichen Begriffs der totalitären Diktatur.
III. Hannah Arendts Verständnis der totalen Herrschaft Den ursprünglichen Begriff der totalitären Diktatur, für den das Merkmal des Terrors konstitutiv ist, hat zweifellos Hannah Arendt wesentlich mitgeprägt. Terror, so sagt sie, sei „das wahre Wesen totaler Herrschaft“3. Das heißt bei Arendt, dass der Terror „das ist, was macht“4, dass dieser Staat ein totalitärer Staat ist. Totalitäre Diktaturen benutzten, sobald sie fest im Sattel sitzen, den Terror, „um ihre ideologischen Doktrinen“ in die Wirklichkeit umzusetzen. Der Terror werde „zu der spezifisch totalen Regierungsform“.5 Für Arendt ist die totale Herrschaft „die furchtbarste aller modernen Regierungsformen“6. Für das Totalitarismus - Verständnis Hannah Arendts dürften eine Reihe von Annahmen beziehungsweise Aussagen von zentraler Bedeutung sein. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien einige, die der Teil III ihres Werkes Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft enthält, genannt : Erstens unterstellt sie, dass eine vollständige Realisierung einer totalen Herrschaft „unter normalen Umständen“ unmöglich ist.7 – Innerhalb ihres Gedankengebäudes hat diese Unterstellung den Charakter einer Prämisse, die allerdings auf anthropologischen und soziologischen Erwägungen beruht. Ihr Begriff der totalen Herrschaft hat idealtypischen Charakter. Zweitens nimmt sie den „Totalitätsanspruch“ der ihr empirisch vor Augen stehenden Systeme ernst – das heißt, sie geht davon aus, dass sowohl im Nationalsozialismus als auch im stalinistischen Bolschewismus die Etablierung einer totalen Herrschaft tatsächlich experimentell angestrebt wurde. – Dieses Element ihrer Theorie hat den Charakter einer empirisch fundierten Hypothese. Drittens benennt sie ein entscheidendes Herrschaftsmittel, nämlich nicht nur die autoritäre Begrenzung von Freiheit, sondern deren „Abschaffung“, die „Eli3 4 5 6 7
Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus – Imperialismus – Totale Herrschaft, München 1991, S. 549; ähnlich auch S. 710 f. Ebd., S. 711. Ebd., S. 546. Ebd., S. 491. Ebd., S. 677.
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minierung der menschlichen Spontaneität überhaupt“.8 Totalitäre Regime haben es nach Arendt darauf abgesehen, die Menschen auf ein rein tierisches Verhaltensniveau herabzudrücken, sodass sie ihre Funktionen, Marionetten gleich, absolut kontrollierbar und voraussehbar erfüllen.9 Wirkliche Menschen, also Menschen, die durch ihre Individualität gekennzeichnet sind, seien in totalitären Systemen überflüssig; das heißt : Menschen sollen auf ihre Gattungsmerkmale reduziert werden. – Vermutlich betrachtete Arendt diese Behauptung als eine Aussage über das Wesen der totalen Herrschaft, die durch Verallgemeinerung empirischer Erkenntnisse gewonnen wurde. Viertens identifiziert sie zwei wesentliche Herrschaftsmethoden : zum einen die ideologische Indoktrination in den Eliteformationen und zum anderen den absoluten Terror in den Lagern.10 – Diese Behauptung, nämlich die Feststellung, dass totalitäre Systeme ihre Herrschaft wesentlich mittels dieser zwei Herrschaftsmethoden sichern, hat den Charakter einer empirischen Feststellung über einen Ziel - Mittel - Zusammenhang. Fünftens behauptet sie, dass sich die Zerstörung von Spontaneität als menschlicher Verhaltensweise letztlich nur im Lager experimentell anstreben ließe, weshalb das Konzentrationslager das „richtunggebende Gesellschaftsideal für die totale Herrschaft überhaupt“ sei.11 Deshalb sind für sie die Konzentrations - und Vernichtungslager „die eigentliche zentrale Institution des totalen Macht - und Organisationsapparats“.12 – Diese Behauptungen beruhen offenbar auf Annahmen über soziale Gesetzmäßigkeiten; in sie scheinen aber auch Annahmen über anthropologische Gegebenheiten eingegangen zu sein. Sechstens behauptet sie, der Weg zur totalen Herrschaft führe über Zwischenstadien für die sich in der Geschichte zahlreiche Analogien und Präzedenzfälle finden ließen, die totale Herrschaft jedoch sei präzedenzlos.13 Die „Institutionen der totalen Herrschaft“ seien „nicht nur radikaler, sondern prinzipiell verschieden von den Formen politischer Unterdrückung“, die „aus Vergangenheit und Gegenwart bekannt sind“.14 – Diese Behauptung ergibt sich aus ihrer Suche „nach dem eigentlichen Wesen der totalen Herrschaft“, einer, wie sie meint, neuen, bisher unbekannten Staatsform,15 und hat den Charakter einer historischen Feststellung. Siebentens konstatiert Arendt ein dialektisches Umschlagen der Natur des Terrors während der Entfaltung der totalen Herrschaft. So etwa schlüge der „außerordentlich blutige Terror im Anfangsstadium einer totalen Herrschaft“, in der er dazu dient, „den politischen Gegner zu erledigen und alle Opposition unmöglich zu machen“, in den totalen Terror um, der dann erst, wie es bei 8 9 10 11 12 13 14 15
Ebd., S. 629. Vgl. ebd., S. 698. Ebd., S. 676. Ebd., S. 677. Ebd., S. 677. Vgl. ebd., S. 678 ff. Ebd., S. 703. Ebd., S. 703.
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Arendt heißt, „losgelassen“ werde, wenn „das Regime keinerlei Opposition mehr zu fürchten“ hat.16 – Diese Behauptungen stützen sich auf Erfahrungen mit ( zumindest einst ) real existierenden Systemen; ihr Anspruch ist aber genereller Art, das heißt, diese Aussagen beanspruchen Gültigkeit für alle totalitären Diktaturen. Dies gilt auch für die Punkte acht, zehn und elf. Achtens unterstellt Arendt einen Unterschied zwischen dem Terror einer revolutionären Diktatur, der sich wesentlich gegen wirkliche Gegner des Regimes und „nicht gegen jedermann“17 wende, und dem totalitären Terror, der „am meisten“ dadurch charakterisiert sei, „dass er entfesselt wird, wenn jede organisierte Opposition sich gelegt hat und der totalitäre Herrscher weiß, er muss nichts mehr befürchten“.18 Das „letzte, voll entwickelte Stadium totalitären Terrors“ sei dann erreicht, „wenn immer größere Massen von Menschen ohne Ansehen von ‚Schuld‘ oder ‚Unschuld‘ bestraft, also ermordet werden“.19 Neuntens würden „in einem vollentwickelten totalitären System“ die Opfer „ganz und gar nach ‚objektiven‘ Kriterien, ganz und gar willkürlich, was ihre eigene Person betrifft“, ausgewählt.20 Insofern der totalitäre Terror unabhängig ist „von allen Vergehen gegen das Regime“ und keineswegs überflüssig wird, wenn es keine Opposition mehr gibt, würden stets neue Kategorien von objektiven Feinden definiert, sodass es zu einer „permanente[ n ] Ausscheidung der Überflüssigen und Schädlichen“ komme.21 – Diese Behauptungen ergeben sich als eine logische Konsequenz, für die sich aber auch empirische Anhaltspunkte finden lassen. Zehntens behauptet Arendt eine Art Eskalationsdynamik. Dieser Vorstellung zufolge entfaltet die totale Herrschaft im Verlaufe ihrer Existenz die ihr innewohnende wesentliche Potenz : Die Herrschaft selbst wird gleichsam grenzenlos. Wo immer die neuen Herrschaftsmethoden ihre „wirklich totale Struktur“ erhalten haben, könnten, so Arendt, „weder Nutzen noch wie immer verstandenes Interesse“ der Herrschaftsausübung Grenzen setzen.22 Elftens behauptet Arendt, dass den totalitären Bewegungen „die menschliche Wohlfahrt als Ziel aller Politik“ „ganz und gar fremd“ sei. Für sie sei eine „vollkommene Verachtung alles greifbaren Nutzens“ sowie „die große Gleichgültigkeit der Massen gegen ihre eigenen Interessen“ charakteristisch.23 Für totalitäre Bewegungen sei der Terror „nicht ein Mittel zu einem Zweck“; sie sagt aber auch, der Terror scheide „die Individuen aus um der Gattung willen“.24 Zudem erhöben alle totalitären Bewegungen „Anspruch auf Weltherrschaft“.25 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25
Ebd., S. 678; ähnlich auch S. 710. Ebd., S. 521. Ebd., S. 482. Ebd., S. 550. Ebd., S. 668. Ebd., S. 698, 710. Ebd., S. 679. Ebd., S. 554. Ebd., S. 712. Ebd., S. 706.
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Zwölftens nimmt sie an, dass wir bei der Bestimmung des Wesens dieser Staatsform auf den Geist des Zeitalters stoßen müssen, der „sich nirgends greifund sichtbarer zeigt als in der eigentlichen politischen Sphäre, die durch ihre Öffentlichkeit alles in die allgemeine Sichtbarkeit zwingt“, und damit auch „einige Grundzüge der Krise entdecken können, in der wir heute alle und überall leben“.26 – Diese Vermutung beruht unter anderem auf einer Annahme über das In - Erscheinung - Treten wesentlicher politisch - sozialer Zusammenhänge. Dies sind einige wichtige Aussagen Arendts über totalitäre Systeme. Weitere ließen sich hinzufügen. Ich gestehe, dass ich erhebliche Zweifel habe, ob sich die im Einzelnen häufig interessanten und zutreffenden, mitunter aber auch unklaren, schwer begreifbaren und zweifelhaften Überlegungen Hannah Arendts in ein kohärentes Aussagensystem überführen lassen. Diesbezügliche Schwierigkeiten resultieren bereits aus begriff lichen Unschärfen. Davon abgesehen ist nicht immer klar, welchen Erkenntnisanspruch Arendt selbst mit ihren Aussagen über die totale beziehungsweise totalitäre Herrschaft ( sie verwendet beide Prädikate synonym ) verbindet. Die Aussagen selbst enthalten anthropologische Prämissen, empirische Feststellungen, Annahmen über soziale Gesetzmäßigkeiten, soziologische Hypothesen, psychologische Vermutungen sowie Verallgemeinerungen empirischer Erkenntnisse. Da sie Aussagen über das „wahre“ und das „eigentliche“ Wesen der totalen Herrschaft macht, ist man geneigt, Arendts Bemühungen als eine essentialistische Suche nach dem wahren Inhalt des Begriffs der totalen Herrschaft zu verstehen. Es fragt sich allerdings, ob diese Deutung zwingend ist. Wie Arendt ausführt, stelle sie „die Frage nach dem eigentlichen Wesen der totalen Herrschaft in dem Sinne, dass wir uns fragen müssen, ob wir hier nicht vielleicht mit einer neuen, in der Geschichte noch unbekannten ‚Staatsform‘ konfrontiert sind“27. In diesem Sinne scheint mir die Frage nach dem Wesen nicht notwendigerweise illegitim zu sein. Denn es handelte sich in diesem Falle um den Versuch, Merkmale zu identifizieren, durch welche die empirisch gegebenen und tatsächlich untersuchten ( Weltanschauungs - )Diktaturen wesentlich gekennzeichnet waren und die sie von anderen Diktaturen unterscheiden. Wenn Arendt sagt, das „Wesen der Staatsform“ sei das, „was macht, dass der Staat so und nicht anders ist“28, so ist dies ein Hinweis, der in diese Richtung weist. Dies unterstellt, hätte Arendt unter dem Wesen einer Staatsform nichts anderes als die Menge der Merkmale verstanden, die einen Staat als Element der betreffenden Klasse von Staaten ausweist. Anders gesagt : Arendt wäre dann lediglich an der Feststellung der wesentlichen Merkmale einer bestimmten Art von Diktaturen interessiert gewesen, die als „totalitäre Diktaturen“ bezeichnet worden sind. Dieses Verfahren ist methodologisch nicht zu beanstanden. Erst wenn man glaubte, das „wahre“ Wesen erfassen zu können, würde das Verfah26 Ebd., S. 703. 27 Ebd., S. 703. 28 Ebd., S. 711.
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ren notwendigerweise zirkulär. Denn um das wahre Wesen totalitärer Diktaturen erforschen zu können, müsste man entweder über ein intuitives Vorwissen verfügen, welche Staaten totalitäre Diktaturen sind, oder man müsste intuitiv wissen, was ein paradigmatischer Fall einer solchen Diktatur ist. Erkenntnismethoden, die ein solches – intersubjektiv gültiges – Wissen zu generieren in der Lage wären, sind jedoch unbekannt.29 Auch wenn man wohl am besten offen lässt, welches Verständnis Arendt selbst hatte, lässt sich doch so viel sagen : Die angeführten Aussagen Arendts stützen sich vor allem auf Erfahrungen mit empirisch gegebenen Systemen; der Erkenntnisanspruch, der mit diesen Aussagen verbunden wird, dürfte allerdings genereller Art sein, das heißt, diese Aussagen beanspruchen Gültigkeit für alle Diktaturen, die der Staatsform der totalitären Diktatur angehören. Charakteristisch für Arendts Totalitarismus - Konzeption ist nun zweifellos die Fixierung auf den Terror als Herrschaftsmittel. Das entscheidende Merkmal der in Gestalt des Sowjetkommunismus und des Nationalsozialismus real gegebenen und als neuartig empfundenen Systeme besteht danach im Terror – einschließlich der Methoden, Terror auszuüben. Dabei hat Arendt primär den Terror gegen Opponenten oder Feinde außerhalb des jeweiligen Führungszentrums im Auge. Sie nennt an erster Stelle das Lager. Arendt hat die Auffassung vertreten, dass nur eine solche Diktatur als eine „totalitäre Diktatur“ angesprochen werden sollte, für die der Terror und die von ihr genannten wesentlichen Methoden seiner Ausübung ein zentrales Herrschaftsmittel darstellt. Im Folgenden möchte ich zeigen, dass eine solche Begriffsfassung unzweckmäßig, ja der von Arendt erhobene Anspruch auf generelle Gültigkeit ihrer Aussagen in einem näher zu bestimmenden Sinne unhaltbar ist. Zu diesem Zweck schlage ich ein Gedankenexperiment vor.
IV. Ein Gedankenexperiment Man stelle sich einen Diktator vor, der über alle notwendige Macht in Staat und Gesellschaft verfügt, um seinen Willen durchzusetzen. Dieser Diktator soll sich darüber hinaus durch zwei weitere Merkmale auszeichnen : Zunächst soll er eine hinreichend präzise Vorstellung über Konstruktionsprinzipien eines sozialen Systems besitzen, das er realisieren will. Dazu gehören auch Vorstellungen, wie man dieses System verwirklichen kann. Ich bezeichne ein solches Ideensystem als „Systemideologie“ ( I ). Sodann soll er über Methoden verfügen, die es ermöglichen, das Bewusstsein aller Herrschaftsunterworfenen so zu verändern, dass diese die Systemideologie in ihren Überzeugungsbestand aufnehmen. Ich bezeichne diese Methoden als „Bewusstseinstechnologien“ ( II ). 29 Vgl. dazu Lothar Fritze, Essentialismus in der Totalitarismusforschung. Über Erscheinungsformen und Wege der Vermeidung. In : Achim Siegel ( Hg.), Totalitarismustheorien nach dem Ende des Kommunismus, Köln 1998, S. 143–166.
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Unter diesen Voraussetzungen soll der Diktator ans Werk gehen, und es sei weiterhin angenommen, dass es tatsächlich gelingt, (1) die von ihm konzipierte Gesellschaft in Übereinstimmung mit der Systemideologie zu etablieren und (2) die der Systemideologie entsprechende Bewusstseinsbildung der Massen dauerhaft zu bewerkstelligen. Was wäre für eine solche Gesellschaft charakteristisch? Den Voraussetzungen gemäß würden die Herrschaftsunterworfenen dem etablierten Realsystem sowie allen Konsequenzen, die sich aus der Systemideologie ergeben, zustimmen. Sie würden die Verhältnisse akzeptieren, und sie wären von der Wahrheit und Richtigkeit der Ideologie überzeugt. Sie würden glauben, dass sie in einer von ihnen gewollten Welt leben, und dass die Überzeugungen, die sie haben, ihre eigenen Überzeugungen sind. Sie würden den Diktator lobpreisen und im Falle geheimer Wahlen ( die es in realen Diktaturen nicht gibt ) für ihn stimmen. Insbesondere wäre dies eine Gesellschaft, in der entweder sämtliche Personen, die – etwa aufgrund ihrer Klassen - oder Rassenzugehörigkeit – als objektive Feinde gelten könnten, beseitigt oder assimiliert sind oder aber im Bewusstsein der Notwendigkeit ihrer Beseitigung dieser zustimmten. Wäre ein solches System – ein System, welches die Bedingungen „(1)“ und „(2)“ erfüllte – Realität geworden, hätte ein totalitärer Diktator seine Ziele erreicht. Es wäre ein idealtypischer Totalitarismus entstanden. Ein solcher, so können wir definieren, wäre etabliert, sobald (1) die der Systemideologie entsprechende Gesellschaft geschaffen worden wäre und (2) die Herrschaftsunterworfenen die von dem totalitären Führer vorgegebene Ideologie internalisiert hätten und somit der ihr entsprechenden Gesellschaftsorganisation im Bewusstsein, selbst frei zu entscheiden, vorbehaltlos zustimmen würden. Ein solches System entspräche dem, was Hannah Arendt als „totale Herrschaft“ bezeichnet; es wäre ein „totalitäres Regime“ gleichsam in Vollendung. „Totale Herrschaft“ gehe darauf aus, so sagt sie, „alle Menschen in ihrer unendlichen Pluralität und Verschiedenheit so zu organisieren, als ob sie alle zusammen nur einen einzigen Menschen darstellten“.30 Man könnte hinzufügen : Ideologiegläubige hätten unter diesen Umständen nicht nur keinen sachlichen Grund, zu widersprechen oder gar Widerstand zu leisten – aufgrund ihrer geistigen Situation wären sie dazu vielmehr unfähig. Ihr Wollen und Verhalten wäre daher vorausberechenbar und entbehrte desjenigen Moments, das Hannah Arendt als das „größte Hemmnis der totalen Herrschaft über den Menschen“ betrachtet – nämlich der „Spontaneität“, „der Fähigkeit des Menschen, von sich aus etwas Neues zu beginnen, das aus Reaktionen zu Umwelt und Geschehnissen nicht erklärbar ist“31. Gegen dieses Ergebnis könnten zumindest zwei Einwände geltend gemacht werden. Erstens ließe sich einwänden, dass der in diesem Gedankenexperiment konstruierte Gesellschaftszustand idealtypischer Natur und in der Realität nie verwirklichbar sei. Insofern sei es auch müßig, über einen solchen Zustand eines 30 Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 676. 31 Ebd., S. 696, 698.
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totalitären Systems nachzudenken. Diese Sichtweise hätte zudem eine Grundlage in der Arendtschen Behauptung der Unmöglichkeit, eine totale Herrschaft zu realisieren. Dieser Einwand ist einerseits in der Sache richtig, andererseits irrelevant. Er ist richtig, insofern in der Tat kein reales Sozialsystem jemals die Bedingungen „(1)“ und „(2)“ erfüllen dürfte. Da menschliche Handlungen grundsätzlich nicht vorausgesehene und auch nicht voraussehbare Nebenwirkungen zeitigen, wird weder eine Systemideologie eins zu eins in die Praxis umsetzbar sein, noch werden Bewusstseinstechnologien exakt die gewollte Wirkung erzielen. Zudem dürfte menschliches Verhalten tatsächlich spontane Elemente enthalten, die unter normalen Lebensbedingungen grundsätzlich nicht ausschaltbar sind. Der Einwand geht aber zugleich an der Sache vorbei, insofern er nicht den methodologischen Sinn idealtypischer Konstruktionen trifft. Diese können unter anderem als Hilfsmittel dienen, die in Gattungsbegriffen implizit mitgedachten Entwicklungspotenzen empirischer Gegenstände gedanklich zur Entfaltung zu bringen.32 Zweitens könnte man sagen, dass für das Bestehen eines idealtypischen totalitären Systems bereits eines der beiden Merkmale hinreichend sei. Beide Merkmale sind nämlich zumindest in der Innenperspektive des Herrschaftsunterworfenen nicht unabhängig voneinander. Zum einen, so ließe sich argumentieren, ist eine idealtypische Weltanschauungsdiktatur immer dann schon Wirklichkeit geworden, wenn der in Merkmal „(1)“ genannte Zustand realisiert ist. Denn zu einer vollständigen Realisierung der von der Systemideologie geforderten Gesellschaftszustände gehöre immer auch, dass sich das unter „(2)“ genannte Merkmal realisiert habe. Denn wäre die Systemideologie nicht vollständig internalisiert, bestünde keine Garantie einer vollständigen Zustimmung zu den etablierten gesellschaftlichen Verhältnissen. Ohne eine solche Zustimmung aber könne von einem idealtypischen totalitären System nicht die Rede sein. Zum anderen sei aber auch die vollständige Internalisierung der Systemideologie hinreichend. Denn Systemideologien totalitärer Natur33, so könnte man behaupten, verfügen über ein Argumentationsinstrumentarium, das es ihnen gestattet, beliebige Realisierungszustände des geplanten Zukunftssystems als mit der Systemideologie kompatibel darzustellen. Gleichgültig wie unvollkommen die soziale Wirklichkeit des vom Diktator geschaffenen totalitären Systems also sei, ein wirklich Überzeugter wird stets Gründe benennen können, wieso unter den historisch - konkreten Bedingungen gleichwohl das Optimum ausgeschöpft worden ist und noch bestehende Defizite als zeitbedingt anzusehen sind. Ausschlaggebend für das Realisiertsein einer idealtypischen Weltanschauungsdiktatur sei daher nicht die tatsächliche Etablierung des von der Systemideologie vor32 Vgl. dazu Max Weber, Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. In : ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1988, S. 146–214, hier 201 ff. 33 Zum Begriff der totalitären Ideologie vgl. Lothar Fritze, Verführung und Anpassung. Zur Logik der Weltanschauungsdiktatur, Berlin 2004, S. 32–34.
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gegebenen Gesellschaftssystems, sondern allein die Realisierung von Merkmal „(2)“. Ist nämlich eine vollständige Internalisierung der Systemideologie erfolgt, ist auch in der Binnenperspektive des von der totalitären Systemideologie Überzeugten die Bedingung „(1)“ realisiert und damit, so die Schlussfolgerung, eine vollständige Zustimmung zu der – gleich wie unvollkommen – realisierten sozialen Praxis gegeben. Dieser zweite Einwand ist einerseits in seinem sachlichen Gehalt ebenfalls zutreffend, geht aber andererseits ins Leere. Er ist zutreffend, weil es zum einen tatsächlich Sinn macht, von einem vollendeten totalitären System erst dann auszugehen, wenn ihm die Beherrschten auch garantiert zustimmen. Anders gesagt: Es entspricht durchaus der Logik totalitären Denkens, das Merkmal „(1)“ erst dann für realisiert zu halten, wenn auch „(2)“ realisiert ist. Der Einwand ist aber auch deshalb zutreffend, weil wir zum anderen von einem „Ideologiegläubigen“ im strengen Sinne in der Tat erst dann sprechen, wenn ein Überzeugter von der grundsätzlichen Revisionsunbedürftigkeit des von ihm akzeptierten Ideensystems ausgeht und zudem unabhängig von der tatsächlichen Übereinstimmung zwischen Systemideologie und Realität bestehende Differenzen dieser Art in einer Weise erklärt, die eine Revision der Systemideologie als nicht erforderlich erscheinen lässt, und schon deshalb stets ideologisch überzeugt bleibt. Anders gesagt : Der totalitären Logik entsprechend kann von einer Realisierung des Merkmals „(2)“ erst dann gesprochen werden, wenn der Ideologiegläubige der Propaganda vollständig folgt, also „(1)“ unter allen Umständen beziehungsweise der jeweiligen Entwicklungsphase entsprechend für erfüllt hält und daher nie Anlass hat, seine Überzeugungen revidieren zu müssen. Der Einwand geht gleichzeitig ins Leere, weil beide Merkmale in der Außenansicht der Weltanschauungsdiktatur sehr wohl unabhängig voneinander sind und daher auseinandergehalten werden sollten. Zwar gilt, dass ab einem gewissen Realisierungsgrad eines totalitären Systems beide Merkmale innerhalb eines sich gegen Zweifel und Kritik selbst immunisierenden Überzeugungssystems stets gemeinsam auftreten, Merkmal „(1)“ muss jedoch keineswegs real vorliegen, nur weil Merkmal „(2)“ bereits realisiert ist. Auch wenn man mit Hannah Arendt übereinstimmt, dass eine totale Herrschaft in dem idealtypischen Sinne nicht realisierbar ist – ihre Begründung dafür, die mit ihrer Handlungs - und Politiktheorie zusammenhängt,34 muss man nicht akzeptieren –, ist doch deshalb eine gedankliche Analyse der Vorstellung einer totalen Herrschaft nicht überflüssig. Offenbar weist eine als vollendet gedachte totale Herrschaft, das heißt ein idealtypischer Totalitarismus, einige Merkwürdigkeiten auf, die man sich bewusst machen sollte. Das entscheidende Charakteristikum dürfte Folgendes sein : Eine Indoktrination führt bei vollständiger Realisierung zu einer vollständigen Zustimmung. Die totale Herrschaft 34 Vgl. dazu Friedrich Pohlmann, Der „Keim des Verderbens“ totalitärer Herrschaft. Die Einheit der politischen Philosophie Hannah Arendts. In : Siegel ( Hg.), Totalitarismustheorien, S. 201–234, bes. 225 f.
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des totalitären Führers produzierte somit auf seiten der total Beherrschten totale Zustimmung zur Systemideologie und damit auch zu seiner Herrschaft und Herrschaftsausübung.
V. Paradoxien eines idealtypischen Totalitarismusbegriffs Für die Totalitarismuskonzeption ergibt sich aus dieser Konsequenz eine theoretische Herausforderung. Denn – so scheint es jedenfalls : Totale Zustimmung der Herrschaftsunterworfenen nimmt der Führung den Herrschaftscharakter. Wenn der Einzelne den Regeln des Herrschaftssystems folgt, hat er nicht das Gefühl, einem Befehl Gehorsam zu leisten; vielmehr befolgt er Regeln, die er akzeptiert und deren gesellschaftliche Geltung sowie allgemeine Befolgung er selbst wünscht. Es ist nun interessant, dass Hannah Arendt dieses Problem gesehen, aber keine Konsequenzen daraus gezogen hat. Sie schreibt : „Die totale Herrschaft gibt sich niemals damit zufrieden, von außen, durch den Staat und einen Gewaltapparat, zu herrschen; in der ihr eigentümlichen Ideologie und der Rolle, die ihr in dem Zwangsapparat zugeteilt ist, hat die totale Herrschaft ein Mittel entdeckt, Menschen von innen her zu beherrschen und zu terrorisieren. In diesem Sinne schafft die totale Herrschaft gerade den Unterschied zwischen Herrschern und Beherrschten ab und erzielt einen Zustand, in dem das, was wir unter Macht und Willen zur Macht verstehen, gar keine oder eine sekundäre Rolle spielt. Der totalitäre Führer ist wirklich nichts als ein Exponent der von ihm geführten Massen; er ist nicht ein machthungriges Individuum, das seinen Untertanen einen willkürlichen Willen tyrannisch auferlegt. Als Exponent ist er jederzeit ersetzbar und hängt von dem ‚Willen‘ der Massen, die er verkörpert, genauso ab wie die Massen von ihm, ohne den sie ‚körperlos‘ bleiben würden.“35
Dass in einem solchen Falle, der totalitäre Führer den „Willen“ der vielen Einzelnen verkörperte, also „wirklich nichts als ein Exponent der von ihm geführten Massen“ wäre, ist eine Vorstellung, die übrigens auch Carl Joachim Friedrich irritierte.36 Sobald sich die totalitäre Herrschaftsausübung vervollkommnet hätte, wäre tatsächlich – wenn auch in einem anderen Sinne, als dies Hitler glaubte behaupten zu dürfen – ein Zustand erreicht, von dem gesagt werden könnte, dass sich der Volkswille im Wille des totalitären Führers verdichtet beziehungsweise in diesem seinen adäquaten Ausdruck gefunden hat. Da die Massen unter diesen Voraussetzungen dem Führer freiwillig folgten und auch keine andere Politik wollten, wären politisch motivierte Repression, Gewalt und erst recht Terror überflüssig geworden. Herrschaft hätte sich selbst abgeschafft. In einem real gewordenen idealtypischen System totaler Herrschaft hätte sich der Charakter der nach Hannah Arendt zentralen Herrschaftsinstru35 Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 527. 36 Vgl. Carl Joachim Friedrich, Freiheit und Verantwortung. Zum Problem des demokratischen Totalitarismus. In : Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts - und Gesellschaftspolitik, 4 (1959), S. 124–132, hier 127.
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mente, Ideologie und Terror, radikal geändert. Wir hätten in diesem idealtypischen System eine Ideologie, die geglaubt wird – die jeder Einzelne als mit seinen persönlichen Überzeugungen identisch betrachtete. Die Mitglieder der Gesellschaft würden den Befehlen der Führungselite aus freien Stücken folgen und Gehorsam leisten. Wir hätten einen Zwang zu konstatieren, der von den Zwangsunterworfenen begrüßt und gewollt und daher nicht als Zwang wahrgenommen würde. Jeder Einzelne würde glauben, dass er gute Gründe hat, sich der ausgeübten Macht freiwillig zu unterstellen. Er lebte in dem Gefühl, Gesetzen zu folgen, die er als ein autonomer Gesetzgeber für sich selbst und die Gemeinschaft nicht anders entworfen hätte. Daher hätte sich das Gefühl, einem Befehl Gehorsam zu leisten, genauso aufgelöst wie das Gefühl, einer äußeren Macht unterworfen zu sein. Vielmehr würde die bestehende Macht als zu Recht bestehend betrachtet, mithin als legitim anerkannt. In einem solchen System bestünde Einwilligung der Massen in ihre Beherrschung – wobei durch diese Einwilligung die Beherrschung ihren Herrschaftscharakter scheinbar verloren hätte. Auch wenn man annimmt, dass eine totale Herrschaft im idealtypischen Sinne nicht realisierbar ist, wird man doch nicht ausschließen wollen, dass sich eine totale Herrschaft über Einzelne nahezu vollständig gewinnen lässt. Auf die theoretische Herausforderung, die dieses Gedankenexperiment für die Konzeption der Weltanschauungsdiktatur darstellt, kann man in ( mindestens ) zweierlei Weise reagieren. Zum einen könnte man urteilen, dass sich der Totalitarismus im Moment seiner Vollendung aufhebt. Insoweit man anerkennte, dass der vollendete Totalitarismus sogar demokratische Legitimiertheit beanspruchen kann, könnte man behaupten, es gehöre zum Begriff des Totalitarismus, im Moment seiner Ver wirklichung in seinen Gegensatz umzuschlagen. Diese Deutung entspricht der Binnensicht der in das System involvierten Herrschaftsunterworfenen, nimmt sie ernst und akzeptiert sie. Zum anderen jedoch empfänden wir solche Formulierungen als inadäquat und irreführend. Zwar könnte der totalitäre Führer unter der Bedingung einer vollständigen Zustimmung sogar demokratische Institutionen aufbauen – Institutionen, die seine Abwählbarkeit prinzipiell ermöglichten –, und er wäre in keiner Weise mehr auf Gewalt und Terror angewiesen, um von der Systemideologie vorgegebene Ziele zu ver wirklichen. Faktisch aber blieben unter diesen Bedingungen die Machtstrukturen unangetastet und damit die Herrschaftsinstrumente weiterhin verfügbar. Außerdem fällt es schwer, die in dieser Deutung implizierten dialektischen Schlüsse zu akzeptieren – nämlich : dass die perfekte Indoktrination als Selbstbestimmung des Menschen begriffen werden soll; dass mit der vollständigen Herstellung von Indoktriniertheit Zwang in Freiheit umschlagen soll; dass die komplette Zerstörung der Autonomie des Einzelnen Herrschaft zum Verschwinden bringen soll. Diese Konsequenzen erscheinen absurd; sie erscheinen absurd, weil mit ihnen die Idee der Freiheit als vernünftiger Selbstbestimmung aufgekündigt und
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die Akzeptanz dieser Konsequenzen mit dem Selbstverständnis eines vernünftigen Wesens unvereinbar ist. Natürlich : Wenn man sich nur auf die subjektiv wahrgenommene Perspektive der Herrschaftsunterworfenen konzentrierte, wäre ein vollendeter Totalitarismus nicht mehr als „Totalitarismus“ zu bezeichnen. Aber : Wer wäre jemals auf die Idee gekommen, etwa eine Geiselnahme nicht mehr als das zu bezeichnen, was sie ist, nur weil es der psychologisch geschickte Geiselnehmer verstanden hat, seine Geisel psychisch an ihn zu binden und Loyalität sowie Zustimmung zu seinem Tun zu erlangen ? Was könnte uns veranlassen oder gar zwingen, die Perspektive der indoktrinierten Opfer zu übernehmen ? Die letzte Frage ist nicht nur rhetorischer Natur. Ich werde auf sie zurückkommen. Im Folgenden sollen Konsequenzen aus den bisherigen Überlegungen zusammengefasst und Schlussfolgerungen daraus gezogen werden.
VI. Terror – ein nicht - notwendiges Merkmal Wenn eine totale Herrschaft ohne Terror denkbar und auch approximativ reaisierbar ist, kann der Terror nicht das Wesen der totalen Herrschaft ausmachen. Hätte Hannah Arendt ihre eigene Begriffsbildung ernst genommen, hätte sie gesehen, dass die Ausübung totaler Herrschaft nicht notwendigerweise an das Mittel des Terrors gebunden ist. Ein nicht - notwendiges Merkmal ist kein wesentliches Merkmal. Es sind ideologiegeleitete Diktaturen denkbar, denen es gelingt, eine massenhafte Zustimmung zu generieren, sodass sie auf Terror verzichten können – ohne dass eine Veränderung der wesentlichen Funktionsmechanismen dieser Systeme die notwendige Folge wäre. Ist ein solches System gegeben, gibt es keinen Grund, ihm das Merkmal „totalitär“ abzusprechen. Stattdessen zu sagen, dass sich der Totalitarismus im Moment seiner Vervollkommnung selbst aufhebt, zerstörte die Kohärenz der Begriff lichkeit, in der wir über Fragen der Herrschaftsausübung sprechen. François Furet nannte es gar das „größte Geheimnis der Politik“, „dass die schlimmste Tyrannei der Billigung der Tyrannisierten bedarf, falls möglich sogar ihrer enthusiastischen Unterstützung“.37 Wenn unabhängig vom Vorliegen von Terror, also unabhängig davon, ob dieses drakonische, aber spezielle Herrschaftsmittel Anwendung findet beziehungsweise angewandt werden muss, Freiheit unterdrückt und die Autonomiefähigkeit von Menschen zerstört werden kann, dann muss der Begriff des Totalitarismus auch unabhängig vom Merkmal des Terrors konzipiert werden. Es erscheint daher sinnvoll, die Ausdrücke „Weltanschauungsdiktatur“ und „totalitäre Diktatur“ synonym zu verwenden. Somit kann nur gelten : Der Totalitarismus zeigt sich nicht darin, dass der Herrschaftsanspruch mit Terror durchgesetzt wird. Auch wenn der Diktator sich 37 François Furet, Das Ende der Illusion. Der Kommunismus im 20. Jahrhundert, München 1998, S. 244.
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allgemeiner Anerkennung und Zustimmung erfreut, bleibt doch – was die Konstruktionsprinzipien des Staates, die realen Machtverhältnisse und die Grundlagen seiner Machtausübung anlangt – sein Regime ein totalitäres System. Das Herrschaftsmittel „Terror“ ist in totalitären Diktaturen kontingent; es ist nicht der Kern oder das wesentliche und unverzichtbare Merkmal derjenigen Art von politisch - sozialen Systemen, zu denen auch diejenigen gehören, die Hannah Arendt als reale Exponenten der totalen Herrschaft auffasste. Arendt hat mit ihrer Betonung der Rolle des Terrors einen Weg in der Theoriebildung beschritten, der nicht wirklich fruchtbar ist. Natürlich hat man immer die Möglichkeit, im Sinne einer Nominaldefinition festzulegen, dass nur solche Systeme, die einen exzessiven Terror betreiben, als „totalitäre“ Systeme bezeichnet werden sollen. Aber ich glaube nicht, dass dieses Vorgehen der ursprünglichen Intention Arendts entspräche. Als sie ihr Buch schrieb, war das Begriffswort „totalitär“ bereits seit langem in Gebrauch, sodass die Erfolgsaussichten, mit einer stipulativen Definition – der Einführung eines neuen Begriffs – den allgemeinen Sprachgebrauch festzulegen, ohnehin gering gewesen sein dürften. Vielmehr wollte sie auf der Basis einer Analyse solcher Systeme, die spätestens seit den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts als „totalitär“ galten, deren Wesen ergründen; sie wollte die notwendigen und hinreichenden Bedingungen für die Anwendbarkeit des Begriffs der totalitären Diktatur ermitteln. Allerdings führte sie diese Analyse zu einer – eben am Terror orientierten – „Wesensbestimmung“, die den Begriffsumfang des Begriffs „totalitäre Diktatur“ eng begrenzte. Danach konnte das sowjetrussische Regime erst mit Beginn der so genannten Säuberungen 1929 als „totalitär“ gelten, war die totale Herrschaft während der Kriegszeit 1941–1945 zeitweilig aufgehoben und das Ende der totalitären Herrschaft in der Sowjetunion mit dem Ende des Terrors, also dem Tode Stalins 1953, gekommen.38 Ein Weiteres kommt hinzu : Dieses Begriffsverständnis deckt sich heute nicht mehr mit dem, was viele Sprecher meinen, wenn sie von einem „totalitären System“ sprechen. Die Vorstellungen, was ein paradigmatischer Fall einer totalitären Diktatur ist, haben sich im Laufe der Jahrzehnte gewandelt. Dies ist ein zusätzlicher Grund, auf „Terror“ als notwendiges Merkmal des Totalitarismus zu verzichten und stattdessen den Totalitarismusbegriff offen zu halten für Systeme, die wir, obschon sie ohne Terror auskommen, gleichwohl aufgrund ihrer ( sonstigen ) wesentlichen Ähnlichkeit mit den ursprünglichen Prototypen von totalitären Diktaturen – dem Sowjetkommunismus und dem Nationalsozialismus – als „totalitäre Diktaturen“ anzusprechen geneigt sind. Hintergrund für diese „Neigung“ sind die fortdauernden wissenschafts - praktischen Bedürfnisse, die zur ursprünglichen Bildung des Begriffs führten. Im Falle des Totalitarismusbegriffs war dies das Bedürfnis, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstandenen neuartigen Diktaturen von den herkömmlichen Diktaturen begriff lich zu unterscheiden. Der bis heute anhaltende Streit um 38 Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 473, 475, 490 f.
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einen adäquaten Totalitarismusbegriff ist wesentlich ein Streit um die Frage, worin das Neuartige und gleichzeitig für die Herrschaftspraxis Relevante dieser Diktaturen besteht. Nur wenn man den Streit in diesem Sinne auffasst, ist er, wie ich glaube, auch sinnvoll. Allerdings sollte man nicht annehmen, dass ein solcher Streit immer geschlichtet werden kann. Bereits die Rekonstruktion des ursprünglichen wissenschafts - praktischen Bedürfnisses der Begriffsbildung wirft Probleme auf. Auch ist nicht gesagt, dass es genau nur ein solches Bedürfnis gegeben hat. Sodann können sich diese Bedürfnisse, also die praktischen Zwecke der Begriffsbildung, verändern oder durch neue ergänzt werden. Und schließlich entwickeln sich die betrachteten sozialen Systeme selbst weiter. Die Auszeichnung einer bestimmten Diktatur als „Prototyp der totalitären Diktatur“ bestimmt eben noch nicht, wann eine Diktatur diesem Prototyp hinreichend ähnlich ist, um selbst eine totalitäre Diktatur zu sein. Man wird nun fragen, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit ein Gegenstand relevante Ähnlichkeit mit dem prototypischen Exemplar aufweist.39 Aber diese Frage ist letztlich keine Frage einer rein objektiven Erkenntnis. Das heißt, es ist keine Erkenntnismethode bekannt, mit der sich „relevante Ähnlichkeit“ ermitteln ließe. Die Vorstellung, es sei eine Aufgabe der Wissenschaft, zu ermitteln, was relevante Ähnlichkeit ausmache und wann demgemäß ein Gegenstand unter einen Begriff falle, bezeichnet man als „essentialistisch“.40 In die Bestimmung von relevanter Ähnlichkeit gehen vielmehr stets Festlegungen des Theoretikers beziehungsweise Sprachverwenders ein, und die Entscheidungen darüber, wie bestimmte begriff liche Abgrenzungen vorgenommen werden, macht man sinnvollerweise auch abhängig von Zweckmäßigkeitsüberlegungen. Sowohl für Carl Joachim Friedrich als auch für Hannah Arendt bestand das Neuartige der in Betracht genommenen Diktaturen in deren exzessiven Gewaltanwendung. Im Jahre 1968/69 reagierte jedoch Friedrich mit der Korrektur seines „Totalitarismussyndroms“41 auf die Entwicklungen in der Sowjetunion42 und strich das Merkmal des physischen Massenterrors aus dem Katalog der „Wesenszüge“ einer totalitären Diktatur; das Merkmal des physischen Massenterrors, 39 Auf die Unterscheidung einer stärkeren und einer schwächeren Version der PrototypenTheorie kann hier verzichtet werden. Siehe dazu Peter Baumann, Erkenntnistheorie, 2., durchgesehene Auflage Stuttgart 2006, S. 104 f. 40 Vgl. dazu auch Karl Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Tübingen 1992, Band I, S. 39–42; Band II, S. 15–29. 41 Vgl. Carl Joachim Friedrich, Totalitäre Diktatur. Unter Mitarbeit von Zbigniew K. Brzezinski, Stuttgart 1957. 42 Dass sich die kommunistischen Systeme der Gegenwart nicht mehr adäquat durch das Merkmal des Terrors charakterisieren lassen, hatte Christian Peter Ludz schon 1961 festgestellt. Vgl. ders., Offene Fragen in der Totalitarismus - Forschung. In : Bruno Seidel / Siegfried Jenkner ( Hg.), Wege der Totalitarismus - Forschung, Darmstadt 1968, S. 466– 512, hier 495, 497. Und schon in Martin Draths Analyse totalitärer Regime aus dem Jahre 1958 spielte die Reflexion auf Terror keine entscheidende Rolle ( vgl. ders., Einleitung „Totalitarismus in der Volksdemokratie“. In : Ernst Richert, Macht ohne Mandat. Der Staatsapparat in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands. 2., erweiterte und überarbeitete Auflage Köln 1963, S. XI–XXXVI ).
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welches sich durch das Studium Stalin - Russlands und Hitler - Deutschlands aufgedrängt hätte, sei in seiner Bedeutung als Aspekt des „Totalitarismussyndroms“ überschätzt worden.43 Arendt hingegen hatte bereits zuvor den anderen, theoretisch ebenfalls möglichen Weg beschritten. Sie betrachtete die nachstalinsche Sowjetunion nicht mehr als einen Anwendungsfall ihrer Totalitarismusanalyse. Da aber gleichwohl viele ihrer Aussagen auch für dieses System zutrafen, lässt sich vermuten, dass die Aufnahme des Merkmals „Terror“ in die Menge der notwendigen Bedingungen für das Gegebensein einer totalitären Diktatur – gemessen am wissenschafts - praktischen Bedürfnis dieser Begriffsbildung – nicht zweckmäßig ist. Der Massenterror ist lediglich eine konkrete Form, in der das „Grässliche“ (Alfons Paquet ) dieser neuartigen Zwangs - und Unterdrückungssysteme ( mitunter ) erscheint. Die Neuartigkeit dieser Systeme und gleichzeitig ihre grundsätzliche Ablehnungswürdigkeit sind jedoch nicht nur im Terror zu suchen. Die Ablehnungswürdigkeit dieser Systeme ist grundsätzlicherer und allgemeinerer Natur. Allgemein gesagt, geht es um die Wirkungen, die politisch - soziale Systeme aufgrund ihrer Konstruktionsprinzipien und Leitorientierungen für die herrschaftsunter worfenen Gesellschaftsmitglieder mit großer Wahrscheinlichkeit haben. Politisch - soziale Systeme verkörpern Institutionen, in denen und unter denen Menschen ihr individuelles Dasein gemeinschaftlich bewältigen. Das von den Prototypen totalitärer Systeme erzeugte „Entsetzen“ ( Hannah Arendt ) und ihre daraus resultierende Ablehnungswürdigkeit muss sich daher in letzter Instanz auf deren Auswirkungen im Hinblick auf die menschliche Bedürfnisbefriedigung beziehen. Es ist daher völlig ausreichend, dass es sich um Systeme handelt, die für die Verwirklichung grundlegender menschlicher Interessen eine Gefahr darstellen und daher als eine ernste Bedrohung wahrgenommen werden.
VII. Orientierung an weltanschaulich - ideologischen Ideensystemen Die Gefährlichkeit der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert entstandenen und als neuartig empfundenen Diktaturen kann, muss sich aber nicht in einer drakonischen und ausufernden physischen Gewaltanwendung44 manifestieren. Da in den Führungszentren nicht - konstitutioneller Diktaturen alle Macht mono43 Vgl. Carl Joachim Friedrich, Totalitarianism : Recent Trends. In : Problems of Communism, 17 (1969), S. 32–43, hier 39. Zur wissenschaftstheoretischen Einordnung dieser Korrektur siehe Lothar Fritze, Unschärfen des Totalitarismusbegriffs. Methodologische Bemerkungen zu Carl Joachim Friedrichs Begriff der totalitären Diktatur. In : Eckhard Jesse ( Hg.), Totalitarismus im 20. Jahrhundert. Eine Bilanz der internationalen Forschung, 2., erweiterte Auflage Bonn 1999, S. 305–319. 44 Zu den Merkmalen der Gewaltanwendung in totalitären Systemen siehe Juan J. Linz, Typen politischer Regime und die Achtung der Menschenrechte : Historische und länderübergreifende Perspektiven. In : Eckhard Jesse ( Hg.), Totalitarismus im 20. Jahrhundert. Eine Bilanz der internationalen Forschung, 2., erweiterte Auflage Bonn 1999, S. 519–571, hier 550 f.
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polisiert ist, sind die Führer in der Lage, beliebige Sanktionen für von ihnen definierte Delikte oder gegen von ihnen identifizierte Feinde zu verhängen. Die Anwendung von Gewalt ist daher jederzeit möglich; sie muss aber keine permanente Realität sein. Und erst recht muss es nicht zur Anwendung bestimmter Formen von Gewalt kommen. Insofern ist in der Tat das Augenmerk, so Peter Graf Kielmansegg, „nicht auf diese oder jene bestimmte Form der Sanktionspraxis, sondern auf das Sanktionspotential zu richten“45. Die Eigenschaften, die die besondere Gefährlichkeit dieser Systeme im Vergleich zu anderen nicht demokratischen Systemen ausmachen, liegen wesentlich – wenngleich, wie das Gedankenexperiment gezeigt hat, nicht nur – in der Unbeschränktheit des Sanktionspotentials, das heißt in der Möglichkeit, beliebige Repressionsinstrumentarien einzusetzen. Die besondere Gefährlichkeit dieser Herrschaftssysteme ist also nicht identisch mit der exzessiven Gewaltanwendung selbst. Schon von daher wäre es falsch, den Terror zu einem definierenden Merkmal zu erheben. Gegen die Einbeziehung des Merkmals „Terror“ in die Definition totalitärer Diktaturen sprechen des Weiteren zwei bekannte Tatsachen. Zum einen ist dies die Tatsache, dass es auch in anderen nicht - demokratischen Systemen zu massiven Gewaltanwendungen und zur Verletzung fundamentaler Menschenrechte kommen kann. Zum anderen ist bekannt, dass die Anwendung von Terror in totalitären Systemen einer Eigendynamik unterliegt und funktionslos werden kann. Terror wird dann, wie es Juan J. Linz formuliert, aus „nichtzweckgebundenen“46 Gründen in Szene gesetzt. Ein solcher Terror ist für die Stabilität dieser Systeme kontraproduktiv. Schon von daher ist es nicht unplausibel, mit der Möglichkeit zu rechnen, dass auch in solchen – ansonsten unverändert bleibenden – Systemen bestimmte Formen der Gewaltanwendung und Unterdrückung aufgehoben werden können und diese Systeme trotzdem stabil bleiben. Ganz in diesem Sinne stellt Linz fest : „Terror sollte daher nicht in die Definition von Totalitarismus einbezogen werden. Stabilisierte politische Systeme mit allen Merkmalen des Totalitarismus, außer einem weitverbreiteten und alles durchdringenden Terror, sind vorstellbar.“47 Auch wenn holistische Sozialexperimente grundsätzlich auf Widerstand stoßen und Terror daher in totalitären Systemen mit größerer Wahrscheinlichkeit auftritt als in anderen nicht - demokratischen Systemen, sollte er weder als ein notwendiges noch als ein hinreichendes Merkmal einer totalitären Diktatur betrachtet werden. Um besser zu begreifen, was diese Herrschaftssysteme wesentlich ausmacht, sollten sie als Angehörige einer Art aufgefasst werden, für die Terror nicht konstitutiv ist. Terror - Systeme, insbesondere Systeme, für die ein exzessiver Massenterror kennzeichnend ist, wären somit als eine historische 45 Peter Graf Kielmansegg, Krise der Totalitarismustheorie ? In : Manfred Funke ( Hg.), Totalitarismus. Ein Studien - Reader zur Herrschaftsanalyse moderner Diktaturen, Düsseldorf 1978, S. 61–79, hier 77. 46 Linz, Typen politischer Regime und die Achtung der Menschenrechte, S. 561. 47 Ebd., S. 551. Vgl. auch ders., Totalitäre und autoritäre Regime, 2., überarbeitete und ergänzte Auflage Berlin 2003, S. X; vgl. auch S. 32, 63 f., 77 f.
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Erscheinungsform totalitärer Herrschafts - und Gesellschaftssysteme zu verstehen. Ausgehend von den Erfahrungen mit den Regimen Hitlers und Stalins wurde in der bisherigen Totalitarismus - Debatte die Bedeutung des Massenterrors jedoch überbetont.48 Wenn aber nicht der Terror, welche Merkmale wären dann als die wesentlichen Charakteristika dieser Art von Diktaturen zu betrachten ? Zunächst dürfte klar sein, dass das Wesen der totalitären Herrschaft im Zweck und im weitesten Sinne in der Art und Weise der Herrschaftsausübung zu suchen ist. Eines der Merkmale, das diejenigen Diktaturen, die als Prototypen totalitärer Diktaturen gelten, übereinstimmend aufwiesen und das sie zugleich von den herkömmlichen nicht - konstitionellen, autoritären Diktaturen unterschied, ist ihre Ideologiegeleitetheit49 – das heißt die Orientierung der Führer dieser Regime an einem weltanschaulich - ideologischen Ideensystem, dessen praktische Umsetzung zugleich als der Zweck solcher Herrschaftssysteme gilt. Diese Ideologien stellen die gedanklichen Inhalte für das politische Handeln der Führer bereit; sie legen insbesondere die materialen Ziele fest, um deren willen die politische Macht ergriffen und ausgeübt wird. Das übereinstimmende allgemeine Ziel dieser Art von Herrschaftssystemen ist aber die Beseitigung der bestehenden und / oder die Errichtung einer neuen und neuartigen Gesellschaftsordnung. Die Orientierung an einer solchen, für das Handeln der politischen Führer ausschlaggebenden und zudem der gesamten Gesellschaft verbindlich vorgeschriebenen Systemideologie, in welcher die Ziele der Gesellschaftsumgestaltung sowie die Konstruktionsprinzipien der zu schaffenden Gesellschaft formuliert sind, lässt nicht - konstitutionelle Diktaturen die spezielle Form einer totalitären Diktatur annehmen. Damit fällt aber der hier vorgeschlagene Begriff der totalitären Diktatur mit dem der Weltanschauungsdiktatur zusammen. Zugleich sind es charakteristischerweise die Systemideologien, die ein Potential für die Rechtfertigung des Einsatzes schlechter, das heißt an sich illegitimer, Mittel zur Erreichung der anvisierten Ziele darstellen. Ganz unabhängig davon, ob totalitäre Diktaturen in bestimmten Phasen ihrer Existenz genötigt sind, Gewalt und Unterdrückung einzusetzen, stellen doch Ideologien Rechtfertigungsformeln bereit, auf die vor allem unter Druck geratene Diktatoren zurückgreifen können. Die damit gegebene Möglichkeit, selbst umfassende Gewaltanwendungen zu rechtfertigen, indem man sie im Sinne der Systemideologie ( zu recht oder zu unrecht ) als geboten ausweist, in Verbindung mit der unbeschränkten Fähigkeit, entsprechende Entscheidungen zu treffen, macht ihre dauerhafte Gefährlichkeit aus. 48 So auch Boris Meissner, Totalitäre Herrschaft und sozialer Wandel in der Sowjetunion. In : ders., Partei, Staat und Nation in der Sowjetunion. Ausgewählte Beiträge. Berlin 1985, S. 495–507, hier 496. 49 Das Kriterium der Ideologie betonen auch Eckhard Jesse, War die DDR totalitär ? In : Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“, B 40/94, S. 12–23, hier 15, sowie Norbert Kapferer, Der Totalitarismusbegriff auf dem Prüfstand. Ideengeschichtliche, komparatistische und politische Aspekte eines umstrittenen Terminus, Dresden 1995, S. 18 f.
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Sodann dürfte auch Folgendes klar sein : Da es in totalitären Diktaturen um die praktische Umsetzung einer Systemideologie geht und zu diesem Zweck auch ein allgemeines Überzeugtsein von dieser Ideologie hergestellt werden muss, ist die typische Art und Weise, in der auf die Herrschaftsunterworfenen geistig und psychisch eingewirkt wird, ein wesentliches, wenngleich abgeleitetes Merkmal. Diese Art und Weise der Herrschaftsausübung ist aber nichts anderes als die staatlich organisierte und monopolisierte Indoktrination im Sinne der Systemideologie.
VIII. Indoktrination und Indoktriniertheit Was könnte uns nun veranlassen oder gar zwingen, die Perspektive der indoktrinierten Opfer zu übernehmen ? Man ist geneigt, diese Frage mit einem klaren „Nichts“ zu beantworten. Nichts zwingt uns, die Ideologie des totalitären Diktators nur deshalb unserer Bewertung zugrunde zu legen, weil sie von den Herrschaftsunterworfenen akzeptiert wird. Gerade wenn man die Indoktrination im Sinne einer Systemideologie als konstitutiv für den Totalitarismus betrachtet, erscheint es inadäquat und widerstrebt es, die Vollendung des „Teufelswerks“ als seine Aufhebung zu feiern. Diese Feststellung ist jedoch alles andere als unproblematisch. Es erscheint durchaus fraglich, wie die beschriebenen kontraintuitiven Konsequenzen eigentlich ver mieden werden können. Dass sie uns irritieren, absurd erscheinen oder die Integrität unseres Weltbildes tangieren, ist für sich genommen kein Argument. Zu fragen ist zunächst : Was ist „Indoktrination“ ? Und wie kann man einen Indoktrinierten von einem Nicht - Indoktrinierten unterscheiden ? Hier ist Folgendes zu beachten : Aus dem Umstand, dass man zu einer Überzeugung durch Indoktrination gelangt ist, folgt nicht, dass die Überzeugung falsch wäre. Denn generell gilt, dass die Art des Zustandekommens einer Überzeugung nichts über deren Wahrheitsgehalt besagt. Der Unterschied zwischen einem Indoktrinierten und einem Nicht - Indoktrinierten kann demzufolge nicht darin bestehen, was sie glauben oder wovon sie überzeugt sind. Der Unterschied zwischen Indoktriniertem und Nicht - Indoktriniertem berührt nicht die Überzeugungsinhalte. Offenbar ist es die Art des Zustandekommens einer Überzeugung, die den Begriff der Indoktrination ausmacht. „Indoktrination“ meint, dass ein Rezipient ( hier : der Herrschaftsunterworfene ) durch einen Propagandisten ( hier : den totalitären Diktator ) unter Zuhilfenahme bestimmter Methoden ( hier : Agitation, Propaganda, Erziehung ) dazu gebracht wird, ein vorgegebenes Überzeugungssystem ( hier : die Systemideologie ) auszubilden – und zwar unabhängig davon, ob der Betreffende eine Einsicht in die ( tatsächliche oder vermeintliche ) Wahrheit oder Richtigkeit dieser Inhalte erlangt hat. Indoktrination bewirkt, dass die Gründe, warum einer eine bestimmte Überzeugung ausbildet, ganz oder weitgehend abgekoppelt sind von dem jeweiligen Überzeugungsinhalt.
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Wenn auch der Ideologiegläubige glaubt, Gründe für die Ausbildung seiner Überzeugung zu haben, dann kann der Unterschied zwischen Indoktriniertheit und Nicht - Indoktriniertheit nur noch am tatsächlichen Vorliegen guter Gründe für die Ausbildung einer Überzeugung festgemacht werden. Gute Gründe sind aber nur rationale Gründe – Gründe, bei deren Vorliegen es vernünftig ist, bestimmte Aussagensysteme hypothetisch für wahr oder moralische Regeln für richtig zu halten. Eine vernünftige Entscheidung über das Vorliegen guter Gründe setzt gedankliche Operationen des Zweifelns, Kritisierens und Abwägens voraus. Indoktriniertheit in einer ideologiegeleiteten Diktatur liegt also vor, wenn die Systemideologie nicht aufgrund einer rationalen Einsicht in deren Wahrheit oder Richtigkeit vom Überzeugten internalisiert wurde, sondern aufgrund einer vom Führungszentrum gelenkten Agitation und Propaganda, auf deren Verlautbarungen der Einzelne, ohne von seinem Vermögen zum kritischen Denken Gebrauch zu machen, gleichsam nur mechanisch reagiert.
IX. Irrationale Überzeugungsbildung als Herrschaftsmethode Totalitäre Herrscher versuchen, Zustimmung zu erlangen. Sofern dies gelingt, erlangen sie Zustimmung auf der Basis einer irrationalen Überzeugungsbildung. Die systematische und staatlich organisierte Erzeugung bestimmter Überzeugungsinhalte – unter Einsatz verschiedener Bewusstseinstechnologien – sollte somit neben dem genannten Zweck der Herrschaft sowie der Orientierung der Herrschenden an einem verbindlich vorgeschriebenen weltanschaulich - ideologischen Ideensystem als ein weiteres Merkmal des Totalitarismus betrachtet werden. Ich schlage vor, den Unterschied zwischen einer nicht - konstitutionellen Diktatur im allgemeinen Sinne und einer totalitären beziehungsweise einer Weltanschauungsdiktatur auch an dieser Stelle zu suchen. Totalitarismus zeigt sich nicht darin, dass die Ideologie inhaltlich falsch oder aufgrund ihres utopischen Gehalts unrealisierbar ist. Nicht der Inhalt der Überzeugung ist ausschlaggebend, sondern die Art ihres Zustandekommens. Das zentrale Herrschaftsinstrument zur Realisierung einer totalen Herrschaft ist nicht der Terror und es ist im strengen Sinne auch nicht die Ideologie, sondern es ist eine von der Führungselite organisierte geistige Manipulation mit dem Ziel, den Herrschaftsunterworfenen die Systemideologie zu infiltrieren und Inhalte, die mit dieser Ideologie unverträglich sind, zu eliminieren. Der Versuch, totalitäre Herrschaft auszuüben, ist überall dort präsent, wo eine organisatorisch ( in der Regel staatlich ) monopolisierte und an einer Systemideologie ausgerichtete Indoktrination stattfindet. Daraus folgt : Um nachzuweisen, dass eine totalitäre Herrschaft vorliegt oder angestrebt wird, muss nicht nachgewiesen werden, dass die Ideologie oder die Überzeugungsinhalte falsch sind. Festzuhalten ist allerdings, dass nicht jede Form der geistigen Beeinflussung als Indoktrination zu gelten hat. Nicht der Versuch, Überzeugungen weiterzu-
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geben, ist anstößig, sondern die spezifische, totalitäre Art der Vermittlung – jene Vermittlung also, die, wie Hannah Arendt völlig zu Recht betont, menschliche Autonomie zerstört. Indoktrination bewirkt Verblendung – die Selbsttäuschung nämlich, man stimmte den angebotenen Überzeugungsinhalten freiwillig und mit guten Gründen zu. Deshalb gilt : Der Indoktrinierte ahnt noch nicht einmal, dass er indoktriniert ist. Des Weiteren ist zu sehen : Irrationale Überzeugungsbildung gibt es in allen politisch - sozialen Systemen. Aber dies ist nicht der Punkt. Entscheidend ist vielmehr, dass in einer totalitären Diktatur die Bedingungen, die eine rationale Urteils - und Überzeugungsbildung erst ermöglichen – nämlich die Meinungsäußerungsfreiheit, die Wissenschaftsfreiheit, das Recht und die praktische Möglichkeit, öffentlich zu kritisieren, sowie die persönliche Freiheit, sich geistigen Beeinflussungen zu entziehen – bewusst und systematisch und auf eine staatlich organisierte Weise zerstört werden.
X. Eine verdeckte Prämisse der Totalitarismuskonzeption Die Paradoxien eines idealtypischen Totalitarismusbegriffs lassen sich nur dann vermeiden, wenn es einen erkennbaren Unterschied zwischen einer Zustimmung auf der Basis von Indoktrination und einer Zustimmung auf Basis einer rationalen Überzeugungsbildung gibt. Denn nur unter der Voraussetzung, dass sich eine freie Zustimmung eines aufgeklärten und urteilsfähigen Bürgers von einer unter sachfremden Einflüssen von außen erzwungenen Zustimmung hinreichend klar unterscheiden lässt, ist es überhaupt sinnvoll, einen Zustand der Freiheit vom Zustand des vollendeten Totalitarismus zu unterscheiden. Eine Unterscheidbarkeit solcher Zustimmungsqualitäten zu unterstellen ist offenbar eine verdeckte Prämisse der Totalitarismuskonzeption. Wenn es nicht gelingt, diese Unterscheidung aufrechtzuerhalten, bricht die Totalitarismuskonzeption ( wenigstens insofern man Indoktrination als ein wesentliches Merkmal totalitärer Diktaturen betrachtet ) zusammen, denn dann wäre – wie das Gedankenexperiment gezeigt hat – die Vollendung der totalitären Herrschaft, das heißt ihre Aufgipfelung zur totalen Herrschaft, zugleich ihre Aufhebung.
XI. Institutionelle, instrumentelle und ideologische Voraussetzungen totalitärer Herrschaft Voraussetzungen dieser Art sollen abschließend nur genannt, aber nicht näher untersucht werden : Weltanschauungsdiktaturen können die ihnen gemäße Funktionsweise nur realisieren, wenn sie entsprechende Institutionen und Herrschaftsinstrumente ausbilden. Etablierte Systeme dieser Art entwickeln spezifische institutionelle Selbstbehauptungs - und kognitive Immunisierungsstrategien, die sämtlichst die Funktion
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haben, bestehende Institutionen und Überzeugungen einer von der Herrschaftsbeziehungsweise Führungsriege nicht gewünschten Revision zu entziehen. Weltanschauungsdiktaturen stehen vor der Aufgabe, Menschen so mit der Systemideologie zu indoktrinieren, dass sich diese nicht für Indoktrinierte halten. Da das Empfinden von Zwang auch davon abhängt, ob die Zwang ausübende Institution als selbstverständlich betrachtet wird, muss die Politik der totalitären Herrscher als alternativlos erscheinen und unhinterfragt akzeptiert werden. Demgemäß kontrollieren totalitäre Systeme Informationsflüsse und zerstören sämtliche Institutionen, die Kritik, Konkurrenz und Pluralismus erzeugen. Sie monopolisieren Meinungsbildungsprozesse und Entscheidungskompetenzen. Totalitäre Systeme dogmatisieren ihre Systemideologie und entziehen sie einer möglichen Revision. Dazu bedarf es einer letztinstanzlichen Interpretationsmacht. Deshalb sind totalitäre Systeme tendenziell antipluralistisch und nur als Ein - Parteien - Diktaturen denkbar, und deshalb ist jede legale Opposition systematisch ausgeschlossen. Totalitäre Systeme sind genötigt, fundamentale Grundrechte zu unterdrücken. Sie errichten Tabus und zensieren, sie überwachen und kontrollieren. Vor allem aber gilt : Totalitäre Systeme stellen auf Legitimation qua Zustimmung ab, generieren Zustimmung durch den Einsatz von Bewusstseinstechnologien und schaffen Gelegenheiten, in denen sich Zustimmung wahrnehmbar äußern kann. Totalitäre Systeme können tendenziell weder unabhängige nicht - staatliche Institutionen, noch eine staatlich nicht kontrollierte Öffentlichkeit dulden. Sie unterliegen deshalb dem Zwang, auch den privaten Bereich zu kontrollieren. Totalitäre Systeme zerstören die Eigenrationalität sämtlicher Subsysteme der Gesellschaft und unterwerfen diese einer politischen Steuerung, die sich an der Systemideologie orientiert. Sie unterwerfen tendenziell sämtliche Bereiche des gesellschaftlichen Lebens ihrer Kontrolle. Totalitäre Systeme mobilisieren die Massen ( vornehmlich in Massenorganisationen ) und lassen die Menschen auf diese Weise ein Leben leben, das der Systemstabilisierung dienlich ist.
XII. Fazit Die für totalitäre Systeme charakteristischen Institutionen und Herrschaftsmethoden sind notwendig zur Realisierung der in der jeweiligen Systemideologie formulierten Ziele. Gewalt und Terror hingegen sind keine dauerhaft notwendigen Herrschaftsinstrumente. Sie sind unverzichtbar, solange und insoweit die Systemideologie noch nicht zum Überzeugungsbestand hinreichend vieler Herrschaftsunterworfenen geworden ist. Totalitäre Systeme erstreben Legitimation qua Zustimmung der Bevölkerung. Zustimmung wird generiert auf dem Wege der Indoktrination unter Nutzung von Bewusstseinstechnologien. Dieser Charakter totalitärer Diktaturen bleibt unverändert, auch wenn diese Systeme ohne Terror auskommen. Daher ist es unzweckmäßig, das Herrschaftsmittel „Terror“ als ein notwendiges Merkmal
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des Begriffs der totalitären Diktatur zu betrachten. Damit können die Ausdrücke „totalitäre Diktatur“ und „Weltanschauungsdiktatur“ synonym verwendet werden. Mit dem vorgestellten konzeptionellen Verständnis des Totalitarismus ist zum einen ein Ansatzpunkt gewonnen, die institutionelle Umsetzung von Weltanschauungsdiktaturen zu analysieren und zu begreifen. Zum anderen ist damit implizit auf eine Bedingung der Möglichkeit der Stabilisierung demokratischer Herrschaft hingewiesen : nämlich der rationalen Urteils - und Willensbildung der Herrschaftsunterworfenen.
Eine Theorie der Erschöpfung totalitärer Expansionskraft Zur Revision von Hannah Arendts Totalitarismuskonzeption Achim Siegel Hannah Arendts Totalitarismuskonzeption bietet eine Fülle interessanter und fruchtbarer Gedankengänge; es ist jedoch eine offene Frage, ob ihre Überlegungen im Sinne einer kohärenten Argumentation zusammengeführt werden können – einer Argumentation, die zumindest in groben Zügen die Entwicklung totalitärer Regime erklären kann. Ich rekonstruiere zunächst die wichtigsten Argumente in Hannah Arendts Totalitarismuskonzeption und erläutere dann – insbesondere im Hinblick auf den Stalinismus –, wo ich grundsätzliche Erklärungsdefizite sehe. Anschließend skizziere ich ein neues Verlaufsmodell „totalitärer Herrschaft“, das wichtige Grundgedanken Hannah Arendts innerhalb eines neuen theoretischen Rahmens beibehält.
I. Hannah Arendts Konzeption der Dynamik totaler Herrschaft 1. Hannah Arendts Begriff der totalitären Partei Eine allein herrschende Partei gilt nach dem Verständnis Hannah Arendts als totalitär, wenn sie zwei Merkmale aufweist : (1) Ihre Führer sind Anhänger einer Ideologie, in der metaphysische, von menschlichem Handeln vermeintlich unabhängige „Gesetze der Geschichte“ postuliert werden. Zu solchen „Gesetzen“ wäre im Fall des Marxismus - Leninismus das Gesetz des Klassenkampfs zu rechnen, das angeblich – einem Naturgesetz ähnlich – zur Abschaffung aller Klassen und zum Kommunismus führe, oder im Fall des Nationalsozialismus das Gesetz des „Rassenkampfs“, das schließlich zum Aussterben vermeintlich „minder wertiger“ Rassen und Menschen führe. (2) Die Führer einer solchen Partei sind bereit, alle Gewaltmittel des Staates einzusetzen, um diesem angeblich „objektiven Gesetz der Geschichte“ zum Durchbruch zu verhelfen bzw. seine Verwirklichung zu beschleunigen.1 1
Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 1986, Kap. 10 und 11.
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2. Bedingungen und Merkmale eines totalitären Herrschaftssystems Von einem totalitären Herrschaftssystem kann man aber erst dann sprechen, wenn alle tatsächlichen politischen Gegner der totalitären Partei ausgeschaltet, alle parteiunabhängigen Organisationen zerstört sind und wenn der über wiegende Teil der Bevölkerung „atomisiert“ den Vertretern der Gewaltapparate gegenübersteht.2 Denn erst unter diesen Bedingungen kommt jene Verbindung von Ideologie und Terror zustande, die für Hannah Arendt die Besonderheit eines totalitären Systems ist : Ungestört kann die totalitäre Partei nun ihre jeweiligen „Geschichtsgesetze“ exekutieren und z. B. daran gehen, vermeintlich „minderwertige Rassen“ und „lebensunwerte Menschen“ auszurotten ( wie der Nationalsozialismus ) oder alle sozialen Klassen zu eliminieren, deren Vertreter noch über Privateigentum an Produktionsmitteln verfügen und damit die Ver wirklichung der kommunistischen Utopie behindern ( wie der Kommunismus ). Unwichtig ist dabei, ob die Opfer tatsächlich gegen konkrete Verhaltensregeln verstoßen haben – denn totalitärer Terror richtet sich charakteristischerweise gegen „objektive Feinde“, d. h. Menschen, deren biologisches oder soziales Sein an sich als Hindernis für die Verwirklichung der totalitären Utopie gilt. 3. „Endlos destruktive Bewegung“ als Bewegungsform totaler Herrschaft Für diesen ideologiegeleiteten Terror ist kennzeichnend, dass die Terrormaschinerie nach der Beseitigung einer bestimmten Kategorie „objektiver Feinde“ nicht zum Stillstand kommt, sondern sich fortlaufend erneuert, indem ständig neue „objektive Feinde“ bestimmt und eliminiert werden.3 Denn aufgrund des fiktiv - utopischen Charakters der ideologischen Heilsziele stoßen die Versuche der Machthaber zur Verwirklichung der Utopie – so lassen sich Arendts Überlegungen interpretieren – notwendigerweise immer wieder an Grenzen, weswegen die utopischen Erwartungen immer wieder enttäuscht werden. Die Barrieren, die die Umsetzung ideologischer Fiktionen verhindern, bestehen im Innern des totalitär regierten Landes schon allein in der natürlichen Trägheit der Bevölkerung, im „Schlendrian der Massen“4, wie Hannah Arendt die Ausdrucksweise der totalitären Bewegungen paraphrasiert. Außerhalb der Grenzen totalitär regierter Länder existiert ohnehin eine nicht - totalitäre Welt, die bereits per se eine Barriere für die Umsetzung totalitärer Ziele darstellt.5 Unabhängig von einer eventuell bestehenden militärischen und politischen Rivalität zwischen totalitären und nicht - totalitären Ländern ist nämlich die nicht 2 3 4 5
Ebd., Kap. 12. Ebd., S. 710. Ebd., S. 613. Ähnliche Argumente finden sich auch in anderen inhaltlichen Zusammenhängen : Die „menschliche Natur [...], so wie sie ist“, stelle sich „dauernd dem totalitären Prozess entgegen“ (ebd., S. 701). Ebd., S. 614.
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totalitäre Welt – so interpretiere ich Hannah Arendt – eine Quelle von Informationen, die nicht von den totalitären Propagandainstitutionen produziert worden sind. Wegen der stets nur unvollkommenen informationellen Abschottung totalitärer Staaten ist die nicht - totalitäre Welt bereits aufgrund ihrer schieren Existenz eine Instanz, die die totalitäre Weltdeutung und Indoktrination in Frage stellt. Angesichts der immer nur unvollkommenen Fügsamkeit der Realität gegenüber den fiktiv - utopischen Zielsetzungen verhalten sich die totalitären Machthaber jedoch nicht pragmatisch, d. h. sie passen ihre Fiktionen nicht dem praktisch Machbaren an, sondern sie reagieren typischerweise mit der Bestimmung neuer „objektiver Feinde“, d. h. sie radikalisieren ihr manichäisches Weltbild. Die schiere Widerständigkeit der wirklichen Welt verleitet also die totalitären Machthaber zu einer stetigen Ausweitung ihres Feindbegriffs und – sofern das totalitäre Regime nicht implodiert oder niedergeworfen wird – zu einer stets erweiterten Repression „objektiver Feinde“. Wird ein totalitäres Regime nicht von außen besiegt, hat der totalitäre Terror die Tendenz, sich in Form einer solch „endlos destruktiven Bewegung“6 zu verstetigen. 4. Der Lagersektor als natürlicher Attraktor („richtungsweisendes Gesellschaftsideal“) totalitärer Herrschaft Im theoretischen Idealfall („ideal“ im methodischen Sinne !) schreitet diese destruktive Dynamik fort, bis – so interpretiere ich Hannah Arendt – die gesamte Gesellschaft einem riesigen Lager gleicht. Für Hannah Arendt ist der Lagersektor realer totalitärer Systeme deshalb nicht etwa nur ein Subsystem unter vielen oder nur ein besonders bestialischer Auswuchs. Als „richtungsweisendes Gesellschaftsideal“7 bildet das Lager vielmehr den inhärenten Zielpunkt, auf den die reguläre Entwicklung eines totalitären Systems ( unter Bedingungen nationaler Isoliertheit ) zusteuert. In diesem Sinne ist das Lager – wie Hannah Arendt sagt – „das Wesen“ totalitärer Herrschaft, und der Lagerinsasse das „außerhalb der Lager immer nur unvollkommen ver wirklichbare Modell des ‚Bürgers‘ eines totalitären Staates.“8 Eine derart perfektionierte „totale Herrschaft“, in der die Gesellschaft einem riesigen Konzentrationslager gleicht, ist – so lassen sich Hannah Arendts Argumente interpretieren – als idealtypischer Zustand aufzufassen, der nur unter der Bedingung der Weltherrschaft eines totalitären Systems realisierbar bzw. unter der idealisierenden Modellannahme der Isolierung von allen äußeren Einflüs6
7 8
Vgl. hierzu auch Friedrich Pohlmanns Interpretation von Hannah Arendts Konzeption der Dynamik eines totalitären Regimes in: Friedrich Pohlmann, Politische Herrschaftssysteme der Neuzeit. Absolutismus – Verfassungsstaat – Nationalsozialismus, Opladen 1988, S. 152 f. Arendt, Elemente, S. 677. Ebd., S. 697.
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sen denkbar ist.9 So lange aber bestimmte äußere Faktoren – wie z. B. wirtschaftliche Beziehungen oder militärische Rivalitäten mit nicht - totalitären Ländern – auf ein totalitäres System einwirken, sind für reale totalitäre Systeme stets nur mehr oder weniger enge Annäherungen an diesen Idealtyp möglich. 5. Zur Frage des Widerstands in der „totalen Herrschaft“ Die Konsequenzen dieses Konzepts totalitärer Herrschaft hinsichtlich des Widerstands in einem solchen System sind damit offensichtlich : Die Chance, effektiv Widerstand zu leisten und ein totalitäres Regime in Gefahr zu bringen, sind im Normalfall verschwindend gering. Folgt man Hannah Arendt, dann bringt die Erfahrung von Verlassenheit und Ohnmacht gegenüber Partei und Geheimpolizei einen Großteil der Bevölkerung sogar dazu, sich an die utopischen Verheißungen der Ideologie zu klammern, um angesichts der eigenen Ohnmacht noch einen Sinn im Weiterleben unter solchen Bedingungen zu sehen. Kritische, d. h. „echte Denkfähigkeit und echte Erfahrungsfähigkeit“ gehen unter Bedingungen dauerhafter Verlassenheit „zugleich zugrunde“, wie Hannah Arendt formuliert.10 Mit der permanenten Erzeugung des Gefühls der Verlassenheit und Ausgeliefertheit, d. h. im Zuge seines regulären Funktionierens, entwickle ein totalitäres Regime einen Mechanismus – so Hannah Arendt –, „Menschen von innen her zu beherrschen und zu terrorisieren.“11 In diesem Zusammenhang diskutiert Hannah Arendt in der Erstausgabe ihres Buches, ob totalitäre Systeme das, was man bisher als menschliche Natur betrachtete, transformieren und eine Art „neuen Menschen“ schaffen könnte – einen Menschen, der als entindividualisiertes „Reaktionsbündel“ den effizient funktionierenden Modellbürger eines totalitären Regimes bilden könnte.12 Von einer solchen Vorstellung rückte sie später jedoch deutlich ab.13
9 10 11 12 13
Vgl. ebd., z. B. S. 613 f., 652. Ebd., S. 729. Ebd., S. 527. Ebd., S. 696 ff., 701 f. Bereits im später hinzugefügten Schlusskapitel mit dem Titel „Ideologie und Terror“ der Fall – vgl. ebd., S. 730 – rückte sie entschieden von dieser Hypothese ab. Die Gefahr totalitärer Regime sei nicht, so heißt es dort, „dass sie etwas Bleibendes errichten können. Totalitäre Herrschaft gleich der Tyrannis trägt den Keim des Verderbens in sich.“ Selbst unter ausgereiften totalitären Bedingungen werde der Mensch also nie vollkommen fügsam gegenüber dem Regime sein. Demnach würden totalitäre Systeme also immer mit dem „Schlendrian der Massen“ zu kämpfen haben. Eine genauere Vorstellung davon, wie ein totalitäres System schließlich gegenüber dem „Schlendrian der Massen“, d. h. der Widerständigkeit der Welt, kapituliere, findet sich bei ihr jedoch nicht.
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6. Der sowjetische Stalinismus in den Jahren 1934–1939 und 1948–1953 als historische Verkörperung eines totalitären Systems Die Sowjetunion der 1930er Jahre kommt dem soeben skizzierten Entwicklungsbild sehr nahe. Nach dem Ende der Zwangskollektivierung in der ersten Hälfte der 1930er Jahre wähnten sich die Machthaber kurz vor ihrem ideologischen Endziel : Mitte der 1930er Jahre waren die Klassen „abgeschafft“, der Sozialismus galt offiziell als „im Wesentlichen errichtet“, und nicht nur das Überholen der technologisch fortgeschrittensten kapitalistischen Länder, sondern auch die Verwirklichung von Prinzipien wie der „Abschaffung der Unterschiede von Hand - und Kopfarbeit“ schien eine Frage von nur wenigen Jahren.14 Als Reaktion auf die tatsächlichen Misserfolge, die es – gemessen an derart utopischen Er wartungen – geben musste, wurden in den 1930er Jahren ständig neue Gruppen von „Volksfeinden“ ausgemacht, und zwar auch zunehmend innerhalb der Herrschaftsapparate selbst. Parallel dazu wuchs die Zahl der Lagerhäftlinge auf Millionenhöhe an.15 Auch ohne weitere historische Details sollte nun erkennbar sein, dass die Dynamik des politischen Systems der Sowjetunion in den 1930er Jahren in wichtigen Entwicklungsaspekten mit Bezug auf Hannah Arendts Totalitarismuskonzept interpretiert werden kann. 7. Die Unwahrscheinlichkeit einer endogenen Evolution des Totalitarismus in ein post - totalitäres System – zur Kritik an Hannah Arendts Totalitarismuskonzeption Auf der Basis dieses Totalitarismuskonzepts, das den ideologiegeleiteten Terror in Form einer endlos destruktiven Bewegung als charakteristisches Systemmerkmal auffasste, galten die nach - stalinistischen Herrschaftssysteme nicht mehr als totalitär. So schrieb Hannah Arendt 1966 im Vor wort zur zweiten Auf lage ihrer Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft: „Auf dem sowjetischen Volk lastet heute nicht mehr der Alptraum eines totalitären Regimes, es leidet nur
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Dies zeigt sich sehr klar in verschiedenen Äußerungen Stalins in den Jahren 1935 und 1936; vgl. z. B. Josef Stalin, Werke Bd. 14, Dortmund 1976, z. B. S. 32–35, 60 f. 15 Vgl. zum Anwachsen der Zahl der Lagerhäftlinge J. Arch Getty / Gábor T. Rittersporn / Viktor N. Zemskov, Victims of the Soviet Penal System in the Pre - war Years : A First Approach on the Basis of Archival Evidence. In : American Historical Review, 98 (1993) 4, S. 1017–1049; Steven Rosefielde, Stalinism in Post - Communist Perspective : New Evidence on Killings, Forced Labour and Economic Growth in the 1930s. In : Europe - AsiaStudies, 48 (1996) 6, S. 959–987; Robert Conquest, Victims of Stalinism : A Comment. In : Europe - Asia - Studies, 49 (1997) 7, S. 1317–1319; Stephen G. Wheatcroft ( Hg.), Challenging Traditional Views of Russian History, Basingstoke / New York 2002; Michael Ellman, Soviet Repression Statistics : Some Comments. In : Europe - Asia - Studies, 54 (2002) 7, S. 1151–1172; Oleg V. Chlevnjuk, The History of the Gulag, New Haven / London 2004.
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noch unter den vielfältigen Unterdrückungen, Gefahren und Ungerechtigkeiten, die eine Einparteiendiktatur mit sich bringt“.16 Diese Aussage offenbart bei genauerer Überlegung ein erstes Erklärungsproblem in Arendts Konzeption : Hannah Arendt konstatiert zwar den Wandel in der Sowjetunion hin zu einer nicht mehr totalitären Diktatur, aber sie erklärt diesen Wandel nicht im Rahmen ihrer Totalitarismuskonzeption. Es lässt sich sogar behaupten : Der Wandel von einem totalitären zu einem post - totalitären Regime in einem Land kann im Rahmen von Hannah Arendts Konzeption prinzipiell nur durch den Rückgriff auf äußere Einflüsse – wie z. B. Kriege oder drohende militärische Auseinandersetzungen mit nicht - totalitären Staaten – erklärt werden. Aber selbst an den wenigen Stellen ihres Gesamtwerks, an denen Hannah Arendt andeutet, wie die Evolution des Stalinismus zu erklären ist, verknüpft sie derartige Aussagen nicht mit ihrer Totalitarismuskonzeption.17 Arendts „Erklärungsansatz“ der historischen Entwicklung vom Stalinismus zum Post - Stalinismus hat deshalb den Charakter einer ad - hoc - Erklärung, d. h. sie ist nicht von ihrer Totalitarismustheorie geleitet. Dies verwundert auch nicht, denn die Chancen eines evolutionären endogenen Systemwandels erscheinen wegen der notorischen ideologischen Verblendung an der Parteispitze und der Aussichtlosigkeit eines Widerstands gegen das Regime äußerst gering. Daher ist es zumindest zweifelhaft, ob eine Erklärung des historischen Systemwandels auf der Basis ihrer Totalitarismuskonzeption und mit Bezug auf die angedeuteten äußeren Faktoren konsistent möglich ist. In Bezug auf die Entwicklung des Stalinismus besteht an einer anderen Stelle ein weiteres Erklärungsdefizit : Bereits nach Ende des Zweiten Weltkriegs war die stalinistische Sowjetunion ( d. h. in den Jahren 1945–1953) nicht mehr durch jene ausgeprägt destruktive Dynamik gekennzeichnet wie in den Jahren 1934– 1938. Die große Säuberung in den 1930er Jahren hatte durch die massenhafte Repression von Partei - und Sowjetfunktionären in manchen Gebieten bekanntlich die Herrschaft des Parteiapparats insgesamt untergraben. Im Zeitraum 1948–53 gab es zwar auch wieder gewaltsame Parteisäuberungen sowie eine zunehmende, ideologiegeleitete Repression und ein schnell wachsendes Heer von Zwangsarbeitern; der Terror war in seinem Ausmaß jedoch deutlich gerin16 Arendt, Elemente, S. 491. 17 In „Macht und Gewalt“, 1963 erstmals publiziert, findet sich zumindest ansatzweise eine Erklärung : „Zur Erklärung der Entstalinisierung Russlands sind eine Reihe einleuchtender Gründe vorgebracht worden; keiner scheint mir so zwingend wie die Erkenntnis der stalinistischen Funktionäre selbst, dass eine Fortdauer des Regimes zwar keinen Aufstand zur Folge haben würde – dagegen bietet der Terror in der Tat den zuverlässigsten Schutz – wohl aber die totale wirtschaftliche und schließlich auch militärische Lähmung des Landes“ ( Hannah Arendt, Macht und Gewalt, München 1990, S. 57). Die Antizipation der „militärischen Lähmung des Landes“ lässt sich nur mit Bezug auf externe Faktoren – die militärische Konkurrenz mit nicht - totalitären Staaten – explizieren. Akzeptiert man diesen Grundgedanken, dann ist jedoch noch lange nicht einsichtig, wie ein ausgebildetes totalitäres Regime mit seinen ideologisch konditionierten Machthabern derart vorausschauend, vernünftig und gegen die eigene totalitäre „Tradition“ handeln und die endlos destruktive Dynamik außer Kraft setzen kann.
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ger und vor allem „selektiver“ als während der großen Säuberung, und seine propagandistischen Erscheinungsformen hatten sich gewandelt : So wurden keine öffentlichen Schauprozesse mehr inszeniert; die Sündenböcke und ihr Anhang wurden quasi hinter verschlossenen Türen abgeurteilt. Nicht zuletzt hatten ideologische Heilsvorstellungen im Nachkriegsstalinismus eine deutlich geringere Bedeutung für die Rechtfertigung der praktischen Politik als in den 1930er Jahren.18 Diese Veränderungen legen es nahe, bereits für die spätstalinistische Sowjetunion von einem modifizierten totalitären System auszugehen. Will man diese Mäßigung der Erscheinungsformen einer totalitären Herrschaft erklären, findet man in Hannah Arendts konzeptionellen Überlegungen keinen Ansatzpunkt. Müsste man das Erklärungsdefizit von Hannah Arendts Totalitarismuskonzeption in einem Wort zusammenfassen, so könnte man sagen : Die Erschöpfung der totalitären Expansionskraft, wie sie im sowjetischen Stalinismus zu Tage getreten ist, wird nicht erklärt – eine Erschöpfung, wie sie zum einen in der deutlichen Mäßigung des Terrors in der Nachkriegszeit zu erkennen ist, zum anderen in der allmählichen Herausbildung eines nicht mehr totalitären Systems in den Jahren nach Stalins Tod.
II. Eine Theorie der Erschöpfung totalitärer Expansionskraft Im Folgenden skizziere ich ein Verlaufsmodell totalitärer Herrschaft, das dieses Defizit aufheben soll.19 Dabei versuche ich, Kernargumente Hannah Arendts im Rahmen jenes neuen Modells zu erhalten : Hierzu gehören Arendts Betonung der Rolle der Ideologie für die expansive Dynamik des Terrors, aber auch ihr Beharren auf der nur scheinbaren Gegensätzlichkeit zweier Systemmerkmale totalitärer Herrschaft, nämlich einerseits der Rivalität von Angehörigen der Partei - und Herrschaftsapparate untereinander und andererseits der herausragenden, durch nichts in Frage zu stellenden Autorität des totalitären Führers an der Spitze der Partei.20 18 Zur Deutung einzelner historischer Ereignisse aus dieser Zeit im theoretischen Zusammenhang vgl. Achim Siegel, Ideologic Learning under Conditions of Social Enslavement: The Case of the Soviet Union in the 1930s and 1940s. In : Studies in East European Thought, 50 (1998), S. 19–58. 19 Dieses Modell basiert grundsätzlich auf der politischen Theorie des polnischen Philosophen Leszek Nowak. Siehe insbesondere Leszek Nowak, A Model of Socialist Society. In : Studies in Soviet Thought, 34 (1987), S. 1–55; ders. : Power and Civil Society. Toward a Dynamic Theory of Real Socialism, New York 1991. 20 Die neue Theorie ist damit ein Versuch einer Synthese zwischen der traditionellen Sicht des stalinistischen Terrors als einer durch die idiosynkratischen Eigenschaften Stalins verursachter sozialer Dynamik einerseits und der „strukturalistischen“ Sichtweise andererseits ( genauer zu beiden Erklärungsmustern : Achim Siegel, Die Dynamik des Terrors im Stalinismus, Pfaffenweiler 1992, Kap. 2 und 3; ders., Ideological Learning. Zu neueren Beiträgen zu dieser Debatte siehe beispielhaft E. A. Rees, ( Hg.) : The Nature of Stalin’s Dictatorship, Houndmills 2004; ders., The Great Terror : Suicide or Murder?
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In methodischer Hinsicht gehe ich folgendermaßen vor : Das Verlaufsmodell besteht genau genommen aus einer Folge von Modellen – Modelle, die inhaltlich aufeinander aufbauen. Ich beginne mit dem einfachsten Modell, das so wenige Faktoren wie möglich berücksichtigt und deshalb Entwicklungsmechanismen totalitärer Systeme so einfach wie möglich erklärt. In nachfolgenden Modellen beziehe ich weitere Faktoren ein; dadurch werden die modellierten Entwicklungsmechanismen komplexer, so dass es am Ende vielleicht sogar möglich wird, die historischen Verläufe den simulierten Entwicklungsmechanismen zuzuordnen, d. h. zu erklären. Diese Methodik wird in den empirischen Wissenschaften generell bei der Erklärung komplexer Phänomene angewendet und wird von Wissenschaftstheoretikern oft als „Methode der Idealisierung und Konkretisierung“ bezeichnet21 – in nachfolgenden Modellen werden also stets die Aussagen der vorangehenden Modelle mit Hilfe zusätzlich einbezogener Faktoren „konkretisiert“. 1. Annahmen und grundlegende Hypothesen Ich beginne mit vier grundlegenden Hypothesen zur Sozialstruktur und Dynamik eines totalitären Systems : (1) Das wichtigste Kriterium der sozialen Schichtung bzw. Klassenbildung ist die Verfügungsgewalt über die Repressions - und Kontrollmittel. Dementsprechend unterstelle ich im einfachstmöglichen Modell eines totalitären Systems nur zwei Klassen, nämlich die Klasse der Machthaber, die über die Repressionsund Kontrollmittel der Gesellschaft verfügt, und die Klasse der Bürger, die nicht darüber verfügt. Innerhalb der Klasse der Bürger gibt es eine besondere Schicht: nämlich die Diener: Diese setzen im Auftrag der Machthaber die staatlichen Zwangsmittel ein, können allerdings nicht selbständig über deren Verwendung entscheiden. Neben den Dienern gibt es innerhalb der Klasse der Bürger die Bürger im strengen Sinn, die keine Zwangsmittel im Auftrag der Machthaber dirigieren. Die Interaktionen der Bürger im strengen Sinn bilden zusammen die Zivilgesellschaft. In : The Russian Review, 59 (2000) 3, S. 446–450; Barry McLoughlin / Kevin McDermott ( Hg.), Stalin’s Terror. High Politics and Mass Repression in the Soviet Union, Houndmills 2003; Sheila Fitzpatrick ( Hg.), Stalinism : New Directions, London 2000; J. Arch Getty / Oleg V. Naumov, The Road to Terror : Stalin and the SelfDestruction of the Bolsheviks, 1932–1939, New Haven 1999; J. Arch Getty, „Excesses are not permitted“ : Mass Terror and Stalinist Governance in the Late 1930s. In : The Russian Review, 61 (2002), S. 113–138; Vincent Barnett, Understanding Stalinism – The ‚Orwellian Discrepancy‘ and the ‚Rational Choice Dictator‘. In : Europe- Asia - Studies, 58 (2006) 3, S. 457–466. 21 Siehe genauer z. B. Leszek Nowak, The Structure of Idealization, Dordrecht 1980; ders., On the ( Idealizational ) Structure of Economic Theories. In : Erkenntnis, 30 (1989), S. 225–246; Izabella Nowakowa / Leszek Nowak ( Hg.), Idealization X : The Richness of Idealization, Amsterdam 2000.
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(2) Innerhalb der Klasse der Machthaber und ihrer Diener herrscht ein Wettbewerb um Einflussbereiche; dieser Wettbewerb wirkt sich in einer Tendenz zur ständigen Ausweitung des parteistaatlichen Regulationsbereichs aus. Dies kann folgendermaßen expliziert werden : Unterstellt sei zunächst, dass der relative Einfluss eines Machthabers in erster Linie davon abhängt, wie viele Interaktionen der Bürger er kontrolliert und reguliert – und erst in zweiter Linie davon, wie gut er seine administrativen Aufgaben erfüllt. Wenn wir weiter annehmen, dass ein typischer Machthaber seinen Einfluss zumindest erhalten will, dann ist es für ihn rational, seinen individuellen Regulations - und Kontrollbereich stetig zu er weitern, d. h. mehr und mehr Bereiche gesellschaftlichen Handelns als regulations - und kontrollbedürftig zu reklamieren. Machthaber, die sich diesem Wettbewerb nicht stellen, verlieren nach und nach ihre Hausmacht und ihren Einfluss und riskieren letztlich ihre Stellung als Machthaber. Aus dieser Rivalität innerhalb der Machthaber und deren Diener resultiert also ein beständiger Drang zur Ausweitung des staatlich regulierten Bereichs in einer Gesellschaft. Wenn es in dieser Gesellschaft keine demokratischen und keine verfassungsstaatlichen Institutionen sowie keine wirksamen ökonomischen Beschränkungen gibt, dann kann dieser Tendenz nur ein Faktor entgegenwirken : Widerstand durch die Zivilgesellschaft. (3) Der Widerstand durch die Zivilgesellschaft wird jedoch nur unter bestimmten Bedingungen Ausmaße erreichen, die das Regime gefährden können. a. Ist nur ein kleiner Teil aller Interaktionen der Bürger staatlich reguliert und kontrolliert – wie es z. B. in liberal - demokratischen Verfassungsstaaten gewöhnlich der Fall ist –, dann gibt es normalerweise für die Bürger keinen Anlass, massiv Widerstand zu leisten. Das Widerstandsniveau wird also unter solchen Bedingungen so gering sein, dass das politische System nicht gefährdet wird. Diese Konstellation soll Klassenfrieden genannt werden. b. Ähnlich gering ist das Widerstandsniveau aber auch dann, wenn die Interaktionen der Bürger in sehr großem Umfang staatlich reguliert und kontrolliert sind, wie z. B. in einem sozialistischen System mit Einparteiendiktatur, weitgehend verstaatlichter Wirtschaft und staatlich organisiertem Kultursektor. Unter solchen Bedingungen gibt es nämlich kaum Möglichkeiten zu autonomem Handeln der Bürger in parteiunabhängigen Organisationen, die eine Voraussetzung für effektiven Widerstand sind. Diese Konstellation soll als Deklassierung der Bürgerschaft bezeichnet werden. c. Revolutionäre Ausmaße erreicht der Widerstand der Zivilgesellschaft in der Regel nur, wenn der Regulationsbereich einerseits so groß ist, dass er von der Bürgerschaft als echte Einschränkung empfunden wird, aber andererseits nicht so umfangreich, dass organisierte kollektive Aktionen unmöglich sind. Diese Konstellation soll revolutionäre Entfremdung der Bürgerschaft heißen. d. In extensiv regulierten politischen Systemen, in denen die Zivilgesellschaft auf kümmerliche Reste geschrumpft ist, sind offene Demonstrationen bürgerlichen Ungehorsams lebensgefährlich, und daher ist der Druck zu politischer Konformität enorm. In neu etablierten derartigen Systemen verbreitet
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sich anfangs unter den Bürgern sogar eine Haltung, die man als „negativen Widerstand“ bezeichnen kann : Die Bürger reagieren nun nicht mehr mit Widerstand, sondern mit öffentlich demonstrierter, häufiger sogar frenetischer Zustimmung zum Regime. Diese Konstellation bezeichne ich als totalitäre Konformität oder – in der Terminologie von Leszek Nowak – als Versklavung der Bürgerschaft. Diese Hypothese paraphrasiert Hannah Arendts Idee der „Verlassenheit“ eines „atomisierten“ Bürgers, der sich an die ideologischen Verheißungen des Regimes klammert, das ihn unterdrückt. Die Hypothesen 1 bis 3 werden in Abbildung 1 veranschaulicht.
Abb. 1 : Widerstand der Bürger in Abhängigkeit vom Niveau staatlicher Regulierung der Gesellschaft. Erläuterungen zu Abb. 1 : W – Widerstand der Bürger; Ireg / Iges – Anteil staatlich regulierter Interaktionen an allen Interaktionen der Bürger; F – Bereich des Klassenfriedens; R – Bereich revolutionärer Entfremdung der Bürger; D – Bereich der Deklassierung der Bürger; V – Bereich der Versklavung der Bürger.
(4) Die Bürger können den Zustand der Deklassierung und der totalitären Konformität in der Regel nur allmählich über winden, und zwar nach folgendem Muster : Nachdem die Bürger die Autonomie zerstörenden Lebensbedingungen in einem extensiv regulierten politischen System erfahren haben, lernen sie, autonome Interaktionen neu zu schätzen : Diesen wird nach und nach ein höherer Stellenwert zugemessen. Daher weiten die Bürger den Bereich autonomer Interaktionen aus, zunächst in Form von Interaktionen mit Familienmitgliedern und engen Freunden, dann auch in anderen Handlungsbereichen. Daraus schöpfen die Bürger Selbstbewusstsein und den Willen zur Selbstbehauptung gegen den Parteistaat. Dieses allmähliche Wiederaufleben der Zivilgesellschaft äußert sich in so unterschiedlichen Phänomenen wie z. B. einer grassierenden Schat-
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tenwirtschaft, später dann in autonomen Diskussionszirkeln, Druckereien und Verlagen und schließlich in autonomen Gewerkschaften und politischen Vereinen bzw. „Untergrundparteien“. Während die ersten drei Thesen sich durchaus noch als Paraphrasierungen oder Präzisierungen von Ideen verstehen lassen, wie sie auch Hannah Arendts Totalitarismuskonzeption zu Grunde liegen ( bzw. zu Grunde gelegt werden könnten ), geht die vierte These – die eine zeitabhängige allmähliche Überwindung totalitärer Konformität unterstellt – eindeutig über Hannah Arendts Konzeption hinaus. Diese These ist m. E. jedoch notwendig, um wichtige Entwicklungstendenzen im sowjetischen Stalinismus erklären zu können. 2. Modell I : Die Phase der „totalitären Expansion“ und der Säuberungszyklus Auf der Grundlage dieser vier grundlegenden Annahmen lässt sich nun – in größtmöglicher Vereinfachung – die Dynamik einer extensiv politisch regulierten Gesellschaft modellieren. Ich abstrahiere dabei zunächst von vielen wichtigen Aspekten wie z. B. der Tatsache, dass die Wirtschaft der Gesellschaft so organisiert sein muss, dass sie zumindest eine einfache Reproduktion der Gesellschaft erlaubt. Ich sehe vorerst aber auch von anderen wichtigen Aspekten ab wie z. B. der Tatsache, dass die politischen Entscheidungen von Machthabern und Bürgern stets durch institutionalisierte Regelungen („Regierungssysteme“) geprägt werden oder dass die Handlungen der Machthaber durch bestimmte politische Ideensysteme motiviert oder zumindest gerechtfertigt oder rationalisiert werden. Kurz : Die folgenden Modellaussagen gelten nur auf Basis der ceteris - paribus - Annahme. Auf seinem Weg zu einem immer größeren Regulations - und Kontrollbereich habe das politische System – so sei unterstellt – den Bereich revolutionärer Entfremdung der Bürger heil überstanden; es befindet sich damit an der Schwelle zur Deklassierung der Bürgerschaft. Der Regulationsbereich wächst nun zusehends schneller, denn der wichtigste Faktor, der noch Einhalt gebieten könnte – massenhafter Widerstand durch die Zivilgesellschaft ( siehe These 3.d ) – ist nun für einen längeren Zeitraum nicht mehr möglich.22 22 Da in den idealisierenden Annahmen davon abgesehen wurde, dass das Handeln der Machthaber durch politische Ideologien motiviert und legitimiert wird ( siehe oben ), kann in diesem ersten, einfachsten Modell auch nicht der Fall berücksichtigt werden, dass die Klasse der Machthaber eine Ideologie vertritt, die für das Wachstum des Regulationsbereichs enge Grenzen vorsieht ( wie dies beim Liberalismus der Fall ist ). Da weiterhin unterstellt wurde, dass das Handeln der Machthaber von keinen politischen Institutionensystemen geprägt wird – sondern nur durch den Zwang zur Machterhaltung und Machterweiterung –, kann hier auch nicht der Fall berücksichtigt werden, dass ein demokratisches oder verfassungsstaatliches Institutionensystem den Drang der Machthaber nach stetiger Ausweitung des Regulationsbereichs wirksam beschränkt. Alle diese ( realistischen ) Möglichkeiten werden mittels der oben er wähnten ceteris - paribus Annahme vorerst aus der theoretischen Betrachtung ausgeschlossen.
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Unter diesen Bedingungen kann sich der Regulations - und Kontrollbereich so rasch und gründlich ausdehnen, dass beim Großteil der Bürger typischerweise totalitäre Konformität erzeugt wird. Der Regulationsbereich kann im Prinzip bis zu dem Punkt wachsen, an dem alle Interaktionen der Bürger, die mit dem gegebenen technischen Niveau der Kontroll - und Überwachungsmittel kontrolliert und reguliert werden können, tatsächlich auch kontrolliert sind. Diese Konstellation soll als Zustand der Totalisierung bezeichnet werden. In diesem Zustand können die weiterhin rivalisierenden Machthabergruppen nur noch solche Handlungsbereiche als von ihnen regulierungsbedürftig reklamieren, die bereits unter der Kontrolle irgendwelcher Rivalen sind. Zunehmende Konflikte unter den Machthabern sind also vorprogrammiert : Der Wettbewerb wird zu einem Nullsummenspiel, Ausscheidungskämpfe unter den Machthabern und ihrer Diener sind nun zwingend. Die wachsenden Spannungen werden typischerweise dadurch gelöst, dass eine Gruppe von Machthabern samt deren Dienern ausgeschaltet („gesäubert“) wird. Dadurch werden einige der bisher regulierten Interaktionsbereiche wieder frei, so dass die verbleibenden Machthaber um die Verteilung der gleichsam herrenlos gewordenen Bereiche rivalisieren können. Sobald aber der Zustand der Totalisierung wieder erreicht ist, treten erneut Ausscheidungskämpfe und schließlich Säuberungen auf die Tagesordnung. Wichtig in diesem Zusammenhang ist : Periodische Ausscheidungskämpfe beginnen regelmäßig auch dann, wenn der Zustand der Totalisierung nur in einzelnen Territorien oder einzelnen Handlungsbereichen erreicht wird, die von einer bestimmten Machthabergruppe reguliert werden : Wenn also beispielsweise in einem ausgedehnten Zwangsarbeitslagersektor – wie es etwa der „Archipel Gulag“ im Stalinismus war – der Kontroll - und Regulationsbereich die Grenzen des technisch Machbaren erreicht, werden die damit betrauten Machthaber systematisch nach zusätzlichen Möglichkeiten suchen, um ihren Einflussbereich weiter auszudehnen.23 Unter den in Modell I unterstellten Bedingungen ebben die Säuberungswellen erst dann ab, wenn die Zivilgesellschaft wiederauf lebt. Dann wird es auch möglich, dass mehr und mehr Bürger ihren durch totalitäre Konformität geprägten Habitus überwinden und später sogar wieder offenen Widerstand leisten. Die wieder auf lebende Zivilgesellschaft konfrontiert die Machthaber nun also wieder mit einem gemeinsamen Gegner und ermöglicht ihnen damit eine dauerhafte Re - Integration als Klasse. 23 In den hier referierten Modellen wird durchweg in vereinfachender Weise unterstellt, dass alle Machthaber und Machthabergruppen ihre individuellen Regulations - und Kontrollbereiche gleich schnell ausdehnen und dass es keine systematischen Unterschiede in der Regulierungsdichte zwischen den verschiedenen „Terrains“ einzelner Machthaber gibt. In Wirklichkeit ist es natürlich immer so, dass die Geheimpolizeien in totalitären Systemen „ihr“ ureigenes Terrain – den Zwangsarbeitslagersektor – sehr viel dichter regulieren als z. B. die mit der Führung der Wirtschaftsbetriebe betrauten Machthaber. Derartige Besonderheiten sollten jedoch erst in späteren Modellkonkretisierungen berücksichtigt werden.
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Abb. 2 : Entwicklung eines sozialistischen Systems bis zur Phase periodischer Säuberungen nach Modell I. Erläuterungen : t – Zeit; V, D, R, F, Ireg / Iges – siehe Erläuterungen zu Abb. 1; die gestrichelte Kur ve gibt eine alternative Entwicklung im Fall einer siegreichen Revolution in der Anfangsphase des Systems wider.
Wichtig ist für den in Abbildung 2 simulierten Verlauf Folgendes : Es wird stets unterstellt, dass das totalitäre System nicht nach außen expandiert. Für den Stalinismus ist diese Bedingung in den Jahren bis 1939 und dann wieder in der Nachkriegszeit erfüllt. 3. Modell II : Die Wirkung eines despotischen Regierungssystems Nun soll skizziert werden, wie ein despotisches Institutionensystem die Dynamik der Säuberungen modifiziert.24 Unterstellt sei zunächst – wiederum in realitätsvereinfachender Weise –, dass es innerhalb der Klasse der Machthaber drei Hierarchieebenen gibt : Unterhalb des obersten Machthabers gibt es die Mitglieder der Machtelite; diese bilden zusammen mit dem obersten Machthaber die Regierung. Die unterste Ebene bilden die Mitglieder des Machtapparats. Diese sind gleichsam „an der Front“ zu den Bürgern tätig und setzen in verschiedensten administrativen Bereichen die Regulierungsansprüche des Regimes durch. Demgegenüber haben die Mitglie24 Ausführlicher hierzu Siegel, Ideologic Learning, S. 26–28.
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der der Machtelite eine andere Aufgabe : Sie vertreten die Ansprüche und Interessen der Apparatschiks auf Regierungsebene und setzen diese in ein einheitliches politisches Programm um. Die notorische Rivalität zwischen einzelnen Gruppen im Machtapparat überträgt sich daher auch auf die Machtelite und die Regierung. Gleichzeitig konkurrieren jedoch auch die Mitglieder verschiedener Hierarchieebenen gegeneinander um größtmögliche Kontrollkompetenzen : So streben z. B. die Mitglieder der Machtelite in der Regel nach einem Institutionensystem, das eventuelle Kontrollbefugnisse des Machtapparats gegenüber der Machtelite minimiert, gleichzeitig aber der Machtelite wirksame Kontrollkompetenzen gegenüber dem obersten Machthaber einräumt. Ein despotisches Institutionensystem kann nun folgendermaßen charakterisiert werden : Es gibt keine Institutionen, die die Entscheidungen des obersten Machthabers durch Repräsentationsgremien der unteren Hierarchieebenen wirksam korrigieren oder kontrollieren könnten. Die Entscheidungen des Despoten sind also durch nichts in Frage zu stellen. Wie laufen in einem despotischen Regierungssystem die Ausscheidungskämpfe unter den Machthabern ab ? Folgendes Verlaufsszenario soll dies modellhaft vor Augen führen : Die Versuche einzelner Machthabergruppen zur Erweiterung ihrer Einflussbereiche müssen nun zunächst bei deren jeweiligen Vertretern innerhalb der Machtelite artikuliert werden; letztere wiederum tragen diese Ansprüche dem obersten Machthaber zu. Diesem ist dann in letzter Instanz die Entscheidung vorbehalten, welches politische Programm den Zuschlag bekommt – d. h. welche Gruppe ihren Einflussbereich er weitern kann – und welche andere Machthabergruppe Einflussbereiche aufgeben muss, degradiert wird oder einer „Säuberung“ zum Opfer fällt. Werden die Ausscheidungskämpfe unter den Machthabern im Rahmen einer funktionierenden Despotie ausgetragen, bei der die letztinstanzliche Entscheidung des Despoten nicht in Frage steht, dann sind die Ausscheidungskämpfe weniger eruptiv und anarchisch als es der Fall wäre, wenn es keine funktionierende Despotie gäbe.25 Eine Despotie ist also die institutionelle Voraussetzung dafür, dass die Ausscheidungskämpfe nicht in offene und langwierige Kämpfe zwischen verschiedenen Machthabergruppen ausarten, denn dies würde die Einheit der Klasse der Machthaber zerstören. Ein paar wenige historische Hinweise müssen an dieser Stelle genügen :26 In der Sowjetunion wurde ein despotisches System unmittelbar nach dem Mord am Politbüromitglied Kirov etabliert. Das damals eingeführte Standrecht gab Stalin und seinem Sekretariat praktisch die Möglichkeit, bei „Gefahr im Verzug“ willkürliche Verhaftungen samt Erschießungen vorzunehmen, und zwar ohne Konsultation von Parteigremien. Spätestens in der Nachkriegszeit war Stalins Despotie fest institutionalisiert, und sie wurde offenbar von den Politbüromitgliedern auch hingenommen : Reguläre Plenarsitzungen des Politbüros waren 25 Hierzu genauer Siegel, Dynamik des Terrors, S. 155–172; ders., Ideological Learning, S. 26–28. 26 Genauer hierzu ebd., S. 37 f.
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weitgehend durch Arbeitsgruppensitzungen ersetzt, bei denen stets nur ein Teil der Mitglieder anwesend war, und Stalin konnte nach Belieben bestimmte Mitglieder von der Teilnahme ausschließen – selbst kurz vor Sitzungsbeginn. Mit Blick auf die Sowjetunion der 1930er Jahre ist jedoch offensichtlich, dass die Säuberungen bis 1938 an Umfang zunahmen – von einer rationalen Steuerung des Systems dank Stalins Despotie kann in dieser Phase also keine Rede sein. Dies resultiert m. E. aus der Art und Weise, in der die Ausscheidungskämpfe in den 1930er Jahren ideologisch verbrämt und verklärt wurden. Dieser Aspekt kann mit der folgenden Modellkonkretisierung erklärt werden. 4. Modell III : Die Rolle der totalitären Ideologie und die Erschöpfung totalitärer Expansionskraft nach der „großen Säuberung“ Im Folgenden soll kurz erörtert werden, welche Rolle die politische Ideologie der Machthaber für den Säuberungszyklus spielt. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass totalitäre Machthaber eine Ideologie hegen, die den Drang nach immer größeren Einflussbereichen rechtfertigt und motiviert – und eine umfassende politische Regulation der Gesellschaft als notwendiges Mittel verklärt, um ein säkulares Heilsziel zu erreichen. Daher ist die Oppositionsstellung totalitärer Ideologien gegen liberalistische Ideologien eine logische Konsequenz, denn der Liberalismus bewertet die extensive politische Regulation einer Gesellschaft grundsätzlich negativ. Von selbst versteht sich auch die Opposition totalitärer Ideologien gegen alle verfassungsstaatlichen Institutionen – denn dies sind Institutionen, welche die rasche Erweiterung des Einflussbereichs der Machthaber nach aller menschlichen Erfahrung behindern. Wie bisher skizziere ich auch im Folgenden einen Modellverlauf für ein totalitäres System, das vor Erreichen des Zustands der Totalisierung nicht nach außen expandiert, sondern seine repressive Energie auch bei Erreichen des Zustands der Totalisierung auf sein eigenes Territorium richtet. Die folgende Modellierung ist daher auch nur auf den Stalinismus und den Maoismus – und zwar auch nur in einer bestimmten Entwicklungsphase – übertragbar. In der Expansionsphase eines totalitären Systems – d. h. wenn der Regulationsbereich schnell wächst, gleichzeitig aber der Zustand der Totalisierung noch nicht erreicht ist – ist für die Machthaber eine Ideologie optimal, welche die umfassende politische Regulierung der Gesellschaft als notwendige und hinreichende Bedingung für das Erreichen des säkularen Heilsziels ausgibt. In diesem Fall nämlich werden die einzelnen Machthaber von ihrer Ideologie optimal motiviert, das zu tun, was in ihrem primären Interesse ist, nämlich ihre Einflussbereiche schnell und gründlich auszuweiten. Dieses Ideologem spornt also die Machthaber an in ihrem natürlichen Drang nach permanenter Ausweitung des Regulationsbereichs. Die ideologische Verknüpfung von umfassender Unterwerfung der gesamten Gesellschaft ( als Mittel ) und der Ankunft des Heilsziels ( als Zweck ) in Form
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einer Zweck - Mittel - Beziehung ist jedoch nur während der Expansionsphase eines totalitären Systems funktional. Sobald einmal der Zustand der Totalisierung erreicht ist und periodische Säuberungen anstehen, wird dieses Ideologem für die Machthaber dysfunktional. Stattdessen nützt nun dem Klasseninteresse der Machthaber ein Ideologem, das den utopischen Gehalt der Ideologie deutlich reduziert und den natürlichen Expansionsdrang der Machthaber dämpft, anstatt ihn zu beflügeln. Dies will ich im Folgenden begründen.27 Nach Erreichen des Zustands der Totalisierung durch einige Machthaber ist die Überregulierung und Übernormierung bestimmter Handlungsbereiche der Bürger eine notwendige Folge des weiterhin bestehenden Wettbewerbs unter den Machthabern, denn die verschiedenen Machthabergruppen erheben nun permanent Regulierungs - und Normierungsansprüche in Bereichen, die bereits reguliert sind. Das bedeutet, dass die betroffenen Bürger – aber auch die verantwortlichen Machthaber und vor allem deren Diener – nicht mehr alle Regularien erfüllen können, die für den betreffenden Interaktionsbereich gesetzt wurden. Die Betroffenen müssen also gegen bestimmte Normen verstoßen und bestimmte Aufgaben vernachlässigen. Die betreffenden Aufgaben und Programme können also nicht – jedenfalls nicht zur Gänze – erfüllt werden : Je überregulierter ein Handlungsbereich ist, desto wahrscheinlicher wird das Scheitern der für diesen Bereich geltenden Programme. Der Despot jedoch ist sehr weit von den administrativen Realitäten vor Ort entfernt; er beurteilt die von den unteren Instanzen eingehenden Anträge und Vorschläge in erster Linie nach Maßgabe seiner Ideologie. Diese jedoch besagt, dass mit der totalen Unterwerfung des Landes unter die Kontrolle der Machthaber administrative Mängel und Fehlleistungen immer weniger vorkommen dürfen, da per definitionem der Sozialismus aufgebaut, alle Klassen beseitigt sind und der Kommunismus vor der Tür steht – theoretisch formuliert : die umfassende Unterwerfung der Gesellschaft wird als notwendige und hinreichende Bedingung für die Ankunft des Heilsziels verklärt. Im Rahmen dieses Ideologems ist es also nur konsequent, wenn in der Phase der Überregulierung das Scheitern mancher administrativer Projekte und der Verstoß mancher Diener gegen bestimmte Normen z. B. auf Schlamperei in großem Stil oder gar auf bewusste Sabotage verbliebener „Volksfeinde“ zurückgeführt wird. In jedem Fall gelten nun die administrativen Mängel und Fehlschläge per definitionem als „objektiv vermeidbar“; deshalb ist es auch sinnvoll und ideologisch konsequent, nach größeren administrativen Pannen nicht nur Säuberungen zu lancieren, sondern auch einige Personen öffentlichkeitswirksam als Sündenböcke zu verurteilen und in Schauprozessen an ihnen ein Exempel zu statuieren. Genau diese ideologiekonforme Handlungsweise des Despoten bei der Lösung einer Überregulierungskrise spornt die Mitglieder des Machtapparats und ihre Diener aber noch mehr an, ihre Einflussbereiche so rasch und umfangreich wie möglich auszudehnen, um bei der Erfüllung ihrer administrativen Aufgaben „auf der sicheren Seite“ zu sein – denn die öffentliche Aburteilung von Sünden27 Genauer hierzu Siegel, Dynamik des Terrors, S. 193–221.
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böcken signalisiert den Apparatschiks und ihren Dienern, dass administrative Pannen im eigenen Einflussbereich nun lebensgefährlich sein können. Die Klasse der Machthaber wird also nach der ersten Säuberungswelle, die von einer derartigen Propagandakampagne begleitet wird, den Zustand der Totalisierung sehr schnell wieder erreichen, und die zusehends raschere und intensivere Überregulierung von Handlungsbereichen ist die notwendige Folge. Wiederholte Säuberungen nach diesem Muster führen zwangsläufig zu einer Eskalation der Lage : Diejenigen Machthaber und Diener, die sich in nachfolgenden Überregulierungskrisen mit einer Normenfalle28, d. h. unerfüllbaren Handlungsnormen konfrontiert sehen, müssen befürchten, dass ihnen das Schicksal einer Säuberung droht. In sukzessiven Überregulierungskrisen steigt deshalb die Wahrscheinlichkeit, dass einige Machthabergruppen versuchen, die nun als realitätsfern und gefährlich empfundene Politik des Despoten zu korrigieren oder gar, sich gemeinsam zur Wehr zu setzen. An diesem Punkt gibt es deshalb zwei Entwicklungsmöglichkeiten für das politische System : (1) Entweder der Despot entdeckt rechtzeitig den Versuch, eine Opposition gegen ihn zu bilden, und er lanciert einen Präventivschlag gegen alle möglichen „Verschwörer“ – diese Variante soll als „große Säuberung“ bezeichnet werden –, oder aber (2) es kommt zu einer echten militärischen Konfrontation zwischen mindestens zwei Lagern innerhalb der Klasse der Machthaber.29 In jedem Fall wird das Ergebnis eine weitgehende Lähmung des Herrschaftsapparates sein, so dass ein Teil des Regulationsbereiches nicht mehr effizient kontrolliert wird. Dies kann den Bürgern zumindest kurzzeitig wieder die Möglichkeit zu unabhängigem Handeln verschaffen und sie sogar befähigen, den Herrschenden echten Widerstand entgegenzusetzen. Dieser partielle Zusammenbruch des Regulations - und Kontrollbereichs schließlich schafft in der Regel auch die Grundlage für eine Korrektur der bisherigen, dysfunktional gewordenen Generallinie : Es wird sich – bei Strafe des Zusammenbruchs des Systems – eine neue Generallinie etablieren, die den Aufbau des Sozialismus und die Abschaffung der Klassen nicht mehr als notwendige und hinreichende Bedingung für ein „administratives Nirwana“ ansieht. Funktionalistisch betrachtet, sollte die neue, modifizierte Ideologie nach wie vor die umfassende Regulierung der Gesellschaft als notwendiges Mittel ansehen, um ein administratives Optimum zu erreichen – damit wird das natürliche Interesse der Machthaber nach Beibehaltung eines möglichst großen Regulationsbereichs rationalisiert. Jedoch darf die umfassende Regulierung nicht mehr als notwendig und hinreichend für ein administratives Optimum betrachtet werden, denn sonst gilt jede Panne logischerweise als willentlich verursacht. Kurz : 28 Zum Begriff der Normenfalle siehe Heinrich Popitz, Die normative Konstruktion von Gesellschaft, Tübingen 1980. 29 Diese Variante wurde in der chinesischen Kulturrevolution realisiert. Auf weitere wichtige Unterschiede zwischen der historischen großen Säuberung in der Sowjetunion und der historischen Kulturrevolution im maoistischen China soll hier nicht eingegangen werden. Wichtig ist in diesem Zusammenhang nur, dass Modell III unter anderem an dieser Stelle zwei verschiedene Entwicklungswege zulässt.
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Die umfassende politische Regulierung der Gesellschaft sollte fortan nur noch als notwendig, aber nicht mehr als hinreichend für ein administratives Optimum betrachtet werden. Ist die Ideologie entsprechend korrigiert worden, dann besteht kein zwingender Grund mehr, bei größeren administrativen Pannen „Sabotage“ oder zumindest „kriminelle Schlamperei“ zu wittern. Bei künftigen Ausscheidungskämpfen unter den Machthabern ist es daher auch nicht mehr sinnvoll, an Sündenböcken öffentlich ein Exempel zu statuieren, um die Bevölkerung und den Machtapparat zu noch mehr Wachsamkeit anzuspornen. Nach dieser Modifikation der Ideologie werden die Machthaber grundsätzlich „bescheidener“, was die unmittelbaren administrativen Möglichkeiten einer verstaatlichten Gesellschaft angeht, und ihr Augenmerk beginnt sich in pragmatischer Weise auf Dinge zu richten, die neben der umfassenden Verstaatlichung zusätzlich notwendig sind, um administrative und wirtschaftliche Höchstleistungen zu erreichen. Die Verwirklichung des ideologischen Heilsziels wird hingegen in die ferne Zukunft verlagert, und zur Rechtfertigung und Begründung praktisch - politischer Aufgaben wird es immer seltener herangezogen.30 Der in Modell III inszenierte Verlauf eines totalitären Systems wird in Abbildung 3 illustriert. In Modell III behaupte ich also im Gegensatz zur Totalitarismuskonzeption Hannah Arendts, dass die selbstzerstörerische Dynamik eine Eskalation in Gang setzt, die – bei Strafe des Untergangs des Regimes – eine Anpassung der ideologischen Fiktionen an das real Machbare erzwingt. 5. Eine Interpretation der Säuberungen im Stalinismus im Lichte der Modelle I–III Die historischen Säuberungen im Stalinismus können m. E. recht gut dem hier simulierten Modellverlauf zugeordnet werden :31 Die Säuberungen nach dem Mord an Kirov im Dezember 1934 waren nicht sehr umfangreich und betrafen 30 Dieser ideologische Lernprozess der Machthaber entspricht dem aus der Religionsgeschichte bekannten Vorgang der schleichenden Enteschatologisierung als Reaktion auf die sog. Parusieverzögerung, d. h. auf die unerfüllt bleibende Naher wartung des Heilsziels. 31 Genauer zur Interpretation der Geschichte und zur Auseinandersetzung mit den bisherigen Deutungen der historischen Evidenzen siehe Siegel, Ideologic Learning, S. 34–46. Die seit Ende der 1990er Jahre neu erschienen Quelleninterpretationen haben m. E. das bis dahin bestehende Gesamtbild der historischen Ereignisse nicht entscheidend zu ändern vermocht. Vgl. hierzu neben den in Fußnote 20 bereits zitierten Arbeiten auch beispielhaft Rolf Binner /Marc Junge, Wie der Terror „gross“ wurde : Massenmord und Lagerhaft nach Befehl 00447. In : Cahiers du Monde russe, 42 (2001) 2–4, S. 557–614; David R. Shearer, Social Disorder, Mass Repression and the NKVD during the 1930s. In : Cahiers due Monde russe, 42 (2001) 2–4, S. 505–534; Michael Ellman, The Soviet 1937–1938 provincial show trials revisited. In : Europe - Asia - Studies, 55 (2003) 8, S. 1305–1321; Eric van Ree, The Political Thought of Joseph Stalin. A Study in Twentiethcentury Revolutionary Patriotism, London 2002.
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Abb. 3 : Dynamik eines sozialistischen Systems mit großer Säuberung nach Modell III. V, D, R, F, Ireg / Iges, t – siehe Erläuterungen zu Abb. 1 und Abb. 2; die gestrichelten Kur ven geben alternative Entwicklungsverläufe wider.
neben den einst prominenten Sündenböcken Sinowjew und Kamenev nur untergeordnete Funktionäre staatlicher Herrschaftsapparate. Aber bereits die nächste Säuberungswelle unter den Wirtschaftsverwaltungsapparaten löste eine Eskalation aus : Nachdem sich die radikalen Befür worter der Stachanovkampagne im Politbüro durchgesetzt hatten, wurde jeglicher Widerstand gegen die voluntaristischen Aktionen der Stachanovisten und ihrer Protektoren in der Parteiführung als politisch motiviertes Behinderungsmanöver interpretiert. Dadurch waren die Betriebsdirektoren und Wirtschaftsverwaltungsfunktionäre in einer Normenfalle gefangen : Auf der einen Seite maßlos ehrgeizige Planziele, auf der anderen Seite der ideologische Eifer der Stachanovisten, deren ungeplante und unplanbare Aktivitäten die Betriebsabläufe empfindlich störten. Als Folge der Stachanov - Kampagne nahmen Ausschussproduktion und Maschinenstillstandszeiten zu, es mangelte immer mehr an Rohstoffen und Ersatzteilen, und Arbeitsunfälle begannen sich zu häufen, da die Sicherheitsvorschriften oft sträf lich vernachlässigt wurden. Eine Reihe von Bergwerksexplosionen mit vielen Toten und Verletzten im September 1936 war der Anlass für die nächste Säuberungswelle : Stalin setzte den „zu wenig wachsamen“ Geheimpolizeichef Jagoda ab; anschließend ließen die Hardliner um Stalin und den neuen Geheimpolizeichef Jeschow massenhaft Funktionäre der Wirtschaftsver waltungsapparate verhaften. Diese Säuberungen wurden von mehreren Schauprozessen begleitet – die beiden bekanntesten dieser Zeit fanden im November 1936 in Novosibirsk und
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im Januar 1937 in Moskau statt –, in denen die Sündenböcke als politisch motivierte Wirtschaftssaboteure dargestellt wurden. Der Ablauf des ZK - Plenums Ende Februar und Anfang März 1937 zeigte, dass Stalin und seine Anhänger ihre bisherigen Wahrnehmungsmuster weiter beibehielten.32 Im Frühjahr 1937 sind Indizien für eine wachsende Unruhe in Partei und Herrschaftsapparaten erkennbar, was darauf hindeuten könnte, dass sich nun viele Apparatschiks mit Normenfallen konfrontiert sahen. Manche Historiker glauben sogar, in offiziellen Presseartikeln ein hinter den Kulissen ablaufendes Ringen um die Korrektur der Generallinie entziffern zu können. Die Verhaftung führender Militärkommandeure im Mai und Juni 1937 könnte jedenfalls auf Basis des Verlaufsmodells III als Beginn eines groß angelegten Präventivschlags interpretiert werden ( d. h. einer großen Säuberung im oben ausgeführten theoretischen Sinn ), d. h. als Maßnahme des notorisch misstrauischen Despoten Stalin, einem möglichen Widerstand regionaler Parteiapparate und der mit diesen verbundenen Militäreinheiten zuvorzukommen. Ende 1937 und Anfang 1938 erreichte die historische große Säuberung mit Massenverhaftungen auf allen Ebenen ihre monströsen Dimensionen; dadurch wurde die Parteistaatsherrschaft ernsthaft geschwächt. Mit der Absetzung Jeschows als Geheimpolizeichef und der anschließenden Säuberung der Jeschow - Anhänger in Geheimpolizei und Parteikontrollkommission in den Jahren 1938 und Anfang 1939 endete die historische große Säuberung. Genau zu dieser Zeit setzte sich offenbar auch eine andere ideologische Generallinie durch, die ausdrücklich nicht mehr – wie noch Mitte der 1930er Jahre – darauf bestand, dass mit dem vollendeten Aufbau des Sozialismus ein administratives Nirwana entstanden sei, welches automatisch auch ein Überholen der kapitalistischen Länder innerhalb weniger Jahre ermögliche. Sozialistische Produktionsverhältnisse und die Abschaffung der Klassen reichten nicht aus – so Stalin auf dem 18. Parteitag im März 1939 –, vielmehr brauche man auch „Zeit, und nicht wenig Zeit“ bei der sorgfältigen und fachlichen Ausbildung der Kader. Der Irrglaube vieler „junger Kräfte“, dass „die Sowjetmacht ‚alles kann‘, dass für sie alles ‚ein Kinderspiel‘ sei“, müsse immer wieder korrigiert werden.33 Im Lichte von Modell III stellt sich diese Entwicklung folgendermaßen dar : Die Gedankenfigur, dass die vollständige Unterwerfung der Gesellschaft eine notwendige und hinreichende Bedingung für ein administrati-
32 Eric van Ree argumentiert m. E. überzeugend, dass Stalin ernsthaft – und nicht nur vorgeblich – von der damaligen ideologischen Generallinie überzeugt war ( van Ree, Political Thought, S. 117–125). Daraus folgt natürlich nicht, dass Stalin die Anklageschriften in den Schauprozessen für wahr ( i. S. von faktisch zutreffend ) hielt – vermutlich sah er sie als Mittel, um einen richtigen und notwendigen Zweck zu erreichen : nämlich um die Ungeheuerlichkeit der Sabotage - und Störtätigkeit an sich zu unterstreichen und um Apparatschiks und Bevölkerung zu mehr Wachsamkeit anzuhalten. 33 Die Zitate sind zum einen Stalins Rede auf dem 18. Parteitag vom März 1939 entnommen ( Stalin, Werke, S. 198 f.), zum anderen Stalins Schrift: Die ökonomischen Probleme des Sozialismus in der UdSSR, Moskau 1952, S. 10–13.
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ves Optimum sei, war faktisch aufgegeben worden. Daher nahmen – so lässt sich im Sinne von Modell III folgern – die in der Nachkriegszeit folgenden Säuberungswellen im Zeitraum 1948–53 logischer weise andere Erscheinungsformen an als in den 1930er Jahren.34 Das theoretisch postulierte Wachstum der Widerstandskraft von Teilen der Bürgerschaft zeigte sich in der Geschichte der Stalinschen Sowjetunion sehr anschaulich in den Widerstandsaktionen der sowjetischen Zwangsarbeiter, welche zwischen 1952 und 1955 regelmäßig in große Aufstandsbewegungen mündeten, an denen jeweils viele Tausende Zwangsarbeiter beteiligt waren.35 Der ehemalige Lagerhäftling Alexander Solschenizyn resümiert diese Ereignisse folgendermaßen : „Es ist offenkundig, dass das Stalinsche Lagersystem, vor allem das Sonderlager - System, am Anfang der fünfziger Jahre vor einer Krise stand. Die Archipel - Bewohner begannen noch zu Lebzeiten des Allmächtigen an ihren Ketten zu rütteln.“36 Erst durch die Auf lösung des Systems der Sonderlager in den Jahren 1955–56, d. h. durch die Entlassung der politischen Häftlinge aus den Lagern, wurde der Archipel Gulag befriedet. Das Faktum der Massenaufstände im sowjetischen Sonderlagersystem in den Jahren 1952–55 allein zeigt klar, dass Hannah Arendts Totalitarismuskonzeption als Ausgangspunkt einer Entwicklungstheorie des Stalinismus unzulänglich ist. Es hat etwas Tröstendes, dass ausgerechnet von dem Sektor der Gesellschaft, der laut Hannah Arendt das totalitäre Herrschaftsmodell am reinsten verkörperte, die erste große Aufstandsbewegung im Nachkriegsstalinismus ausging – sie begann zeitlich noch vor dem Aufstand des 17. Juni 1953 in der DDR.
III. Abschließende Bemerkungen Folgt man dem hier präsentierten Verlaufsmodell, dann wirkten nach dem Tod Stalins zumindest zwei endogene Faktoren der Re - Etablierung eines „totalitären Herrschaftssystems“ ( im Sinne Hannah Arendts ) entgegen : zum einen die Reduktion des utopisch - fiktiven Gehalts der Ideologie und das Nachlassen des ideologischen Eifers der Herrschenden; dies führte dazu, dass pragmatischere Herangehensweisen bei der Lösung administrativer und wirtschaftlicher Probleme nicht von vornherein delegitimiert wurden. Zum anderen bewirkte das allmähliche Wiederauf leben autonomer Handlungsbereiche auf Seiten der Bür34 Genauer hierzu Siegel, Ideological Learning, S. 44–46; ders., Dynamik des Terrors, S. 262–266. 35 Genauer hierzu Siegel, Dynamik des Terrors, S. 142–149, 266–268. 36 Alexander Solschenizyn, Der Archipel Gulag, Band 3, Reinbek 1974, S. 264. Vgl. hierzu auch die Einschätzung des Historikers Alexander Nekrich, wonach nach dem Tod Stalins und der Verhaftung Berijas in verschiedenen Teilen des Landes eine „spontane Bewegung in Gang ( kam ), die sich gegen Übergriffe der Obrigkeit wandte.“ Demnach fürchteten die Machthaber, „dass eine Welle der Empörung im Volk aufkam, die sie hinwegzufegen drohte“ ( Michail Heller /Alexander Nekrich, Geschichte der Sowjetunion, Band 2, 1940–1980, Königstein 1982, S. 211 f.).
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gerschaft deren allmähliche innere Abwendung von den ideologischen Verheißungen des Regimes. Beide Faktoren finden sich im hier vorgestellten Verlaufsmodell – und sie werden sogar zum großen Teil selbst theoretisch erklärt. Nicht zuletzt deshalb erklärt dieses Verlaufsmodell die Entwicklungskonturen des Stalinismus insgesamt befriedigender als Hannah Arendts Totalitarismuskonzeption, in der es keine theoretischen Ansätze zur Integration derartiger Argumente zu geben scheint. Inwiefern das hier vorgestellte Modell auch als Grundlage einer historischen Interpretation der Entwicklung des Nationalsozialismus taugt, ist hingegen eine Frage, die noch schwieriger zu beantworten ist als die nach der Tauglichkeit des Modells für eine Interpretation der Stalinschen Sowjetunion.37
37 Leszek Nowak, auf dessen Theorie die hier vorgestellten Verlaufsmodelle aufbauen, fasst Struktur und reguläre Entwicklung faschistischer Systeme – und damit auch des Nationalsozialismus – als grundlegend anders auf ( vgl. Nowak, Power and Civil Society, insbes. S. 213 ff.). Eine Präzisierung dieser Theorie findet sich bei Krzysztof Brzechczyn, The Collapse of Real Socialism in Eastern Europe versus the Overthrow of the Spanish Colonial Empire in Latin America : An Attempt at Comparative Analysis. In : Journal of Interdisciplinary Studies, 1 (2005) 2, S. 105–133.
IV. Antisemitismus und Erklärung des Bösen
Das „Böse“ und der „Traditionsbruch“ bei Hannah Arendt Peter Trawny
I. Einleitung Das Problem des „Bösen“ ist für Hannah Arendt unlösbar mit dem Ereignis des Holocaust verknüpft. Für Arendt ist es dieses „Verbrechen“ – d. h. ein Ereignis, das wir nur unzureichend „Verbrechen“ nennen können –, welches „die Überlieferung einer so lange gesicherten Kontinuität abendländischer Geschichte wirklich durchbrochen“1 habe. Es sei mit ihm „die ganze Struktur der westlichen Kultur mit all den dazugehörigen Überzeugungen, Traditionen, Urteilsmaßstäben über unseren Köpfen niedergestürzt“2, habe „erschöpfte Völker, wirtschaftliches und gesellschaftliches Chaos, politische Leere und eine geistige tabula rasa“3 hinterlassen. Das Problem des Bösen hängt mit diesem „Traditionsbruch“ folgendermaßen zusammen. Vor dem Holocaust gab es einen Begriff des Bösen, der mehr oder weniger in der Lage war, der Realität der Verbrechen zu entsprechen. Der Holocaust ist das Ereignis eines bisher unbekannten Verbrechens ( ein „Verbrechen“). Da wir nur über Begriffe verfügen, die auf solche Verbrechen bezogen werden, die vor dem Holocaust begangen wurden, besitzen wir keinen Begriff für das Verbrechen des Holocaust selber. Also verstehen wir nicht das Böse, wel-
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Hannah Arendt, Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I. Hg. von Ursula Ludz, München 1994, S. 35. Vgl. ähnlich Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus, München 1998, S. 946. Der vorliegende Aufsatz, der das Problem des „Traditionsbruchs“ behandelt, steht in einem engen Bezug zu einem anderen mit dem Titel „Das Trauma des Holocaust als Anfang der Philosophie. Nach Hannah Arendt und Emmanuel Levinas“. Dieser Aufsatz erscheint in der „Zeitschrift für Genozidforschung“. Hannah Arendt, Die menschliche Natur steht auf dem Spiel : „Vorwort“ und „Abschließende Bemerkungen“ zur ersten Auf lage von The Origins of Totalitarianism (1951). In: Über den Totalitarismus. Texte Hannah Arendts aus den Jahren 1951 und 1953, aus dem Englischen übertragen von Ursula Ludz u. kommentiert von Ingeborg Nordmann, Dresden 1998, S. 22. Ebd., S. 16. Zum „Traditionsbruch“ weiter Hannah Arendt, Denktagebuch 1950–1973. Hg. von Ursula Ludz und Ingeborg Nordmann, New York 2002, S. 300 f.
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ches in diesem Ereignis zum Vorschein kam. Wir sind also gezwungen, unsere Idee vom Bösen grundlegend zu modifizieren. Außerdem ist die Aussage, dass sich im Holocaust ein bisher unbekanntes Böses manifestiert habe insofern auf die These vom „Traditionsbruch“ zu beziehen, als dieses Böse offenbar nicht etwas ist, das gleichsam noch zum Holocaust hinzukam. Dieses Böse ist vielmehr der Holocaust bzw. der „Traditionsbruch“ selbst. Das Ereignis des Holocaust ist das Ereignis eines unbekannten Bösen. Das bedeutet, dass das Problem des Bösen der Schlüssel zum Verständnis dieses Ereignisses sein könnte. Im Problem des Bösen überlagern sich demnach die abendländische Geschichte der moralischen Begriffe und Kategorien4, d. h. der Philosophie, mit der Geschichte der Ereignisse. Das hat Arendt nirgendwo so deutlich ausgesprochen wie am Anfang der so genannten Gifford Lectures. Dort spricht sie davon, dass ihre Auseinandersetzung mit dem „Leben des Geistes“ „zwei recht verschiedene Ursprünge“5 habe. Den „unmittelbaren Anstoß“ zu ihr empfing sie in Jerusalem während des Eichmann - Prozesses. Dort begegnete sie einem Bösen, für das sie die Formel von der „Banalität des Bösen“ fand. Sie gibt an, dass „dahinter keine These oder Theorie“ gestanden habe. Sie „ahnte“ lediglich, „dass diese Formulierung unserer literarischen, theologischen und philosophischen Denktradition über das Böse entgegenlief“. Da sie die „Banalität des Bösen“ aber bereits seit ihrem so kontrovers diskutierten „Bericht“ über den Prozess als eine Form der „Gedankenlosigkeit“ charakterisierte, wurde es nötig, jene „Denktradition“ insofern zu untersuchen, als in der Problematisierung des philosophischen Verständnisses des „Denkens“ und seiner Geschichte herausgestellt werden sollte, wie es zu einer solchen „Gedankenlosigkeit“, d. h. zu einem solchen Bösen im Holocaust, überhaupt kommen konnte. Was Arendt also unter den „zwei recht verschiedenen Ursprüngen“ verstand, war die Überlagerung der Geschichte der Ereignisse mit der Geschichte der Philosophie. Die Wendung von den „zwei recht verschiedenen Ursprüngen“ konstatiert eine Differenz. Arendt hat stets betont, dass sich der Holocaust nicht von der Geschichte her verstehen lasse.6 Die Geschichte der Begriffe und moralischen Kategorien herrscht nicht über die der Ereignisse. Sie scheint die andere Verhältnisbestimmung favorisiert zu haben, dass die in sich kontingente Geschichte der Ereignisse diejenige des Denkens bestimmt. Jedenfalls weist die These vom „Traditionsbruch“ unvermeidlich auf diese hin. 4 5 6
Vgl. z. B. die „Tafel der Kategorien der Freiheit in Ansehung der Begriffe des Guten und Bösen“ bei Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft. Hg. von Horst D. Brandt und Heiner F. Klemme, Hamburg 2003, S. 117. Hannah Arendt, Vom Leben des Geistes. Das Denken. Das Wollen. Hg. von Mary McCarthy, München 1998, S. 13. Vgl. Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 946 f. : „Zu erklären ist das totalitäre Phänomen aus seinen Elementen und Ursprüngen so wenig und vielleicht noch weniger als andere geschichtliche Ereignisse von großer Tragweite.“
Das „Böse“ und der „Traditionsbruch“
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Anders lässt sich auch nicht verstehen, wie Arendt am Beginn ihrer Vorlesungen über „Das Leben des Geistes“ mit Nachdruck ein „Ende der Philosophie und Metaphysik“7 behaupten kann. Sie stellt fest, dass die philosophischen „Fragen, die so alt sind wie die Menschen selbst“, keineswegs „sinnlos“ geworden seien. Aber die „Art, wie sie gefasst und beantwortet wurden“, hätten „nicht mehr eingeleuchtet“. „Unsere Situation“ sei also eine solche „nach dem Abtreten der Metaphysik und Philosophie“8. Man wird für eine solche Diagnose Gründe fordern müssen. Gewiss kann sich Arendt auf Nietzsches oder Heideggers Destruktionen der abendländischen Ideengeschichte berufen. Doch eine solche Berufung ist kein Argument. Wenn etwas „nicht mehr“ verstanden wird, dann muss sich etwas verändert haben, was nicht schon in den philosophischen Begriffen selbst liegt. Was die bisherigen philosophischen Antworten auf die alten Fragen unverständlich gemacht hat, kann nur das Geschehen der Veränderung selbst sein, nämlich die Geschichte der Ereignisse. „Unsere Situation“ ist eben eine andere als diejenige von, sagen wir, Kant. Wenn Arendts Hinweis auf Eichmann am Beginn solcher Überlegungen ernst genommen werden soll, dann muss die Konsequenz gezogen werden, dass der Holocaust klassische Antworten auf die wesentlichen Fragen des Menschseins unglaubwürdig gemacht hat. Davon ausgehend werden wir zeigen, inwiefern Hannah Arendts Auseinandersetzung mit dem Problem des Bösen sich von bestimmten klassischen Bestimmungen des Bösen unterscheidet. Ich werde mich dabei notgedrungen auf einen Vergleich mit der Erbsündenlehre und der kantischen Auffassung des „radikal Bösen“ beschränken müssen. Diese Beschränkung reagiert keineswegs auf eine etwaige Überfülle Arendtscher Begriffskritiken. Im Gegenteil : Hannah Arendt hat die Begriffsgeschichte des Bösen keineswegs systematisch thematisiert. Sie hat vielmehr im Großen und Ganzen locker auf bestimmte gängige Vorstellungen vom Bösen hingewiesen. Das mag seine eigene Berechtigung haben. Einer Rekonstruktion des hier behandelten Problems kommt eine solche Vorgehensweise kaum entgegen. Ich werde also auf subjektive Interpretationsentscheidungen angewiesen sein – was Arendt womöglich stillschweigend von all ihren Interpreten erwartete. Die eigentliche Schwierigkeit liegt jedoch woanders. Die von Arendt behauptete Radikalität des „Traditionsbruchs“ besagt, dass sämtliche abendländische Ideen und Begriffe von Gut und Böse zerbrochen sind. Dieser Bruch habe eine „geistige tabula rasa“ hinterlassen. Die Frage, die sich aus einer solchen Konstellation von Geschichte und Philosophie ergibt, ist die, ob sie sich derartig radikal, wie Arendt sie darstellt, denken oder verstehen lässt. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Arendt den Konsequenzen eines dergestalt behaupteten „Traditionsbruchs“ nicht zu entsprechen vermochte. Wo Philosophen mit ihrem Denken hinter der Radikalität eigener starker Behauptungen zurückbleiben, muss sich Kritik einstellen. Andererseits darf eine solche Kritik nicht unberück7 8
Arendt, Vom Leben des Geistes, S. 20. Ebd., S. 22.
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sichtigt lassen, welche Gründe ein solches Zurückbleiben haben könnte. Hannah Arendt hat womöglich den Zustand einer „geistigen tabula rasa“ nicht entsprechend zu Ende gedacht. Vielleicht hat sie ihn überhaupt nicht gekannt. Die Konsequenzen einer solchen „tabula rasa“ zog ein anderer Philosoph, und es kann deutlich werden, inwiefern sie Arendt haben zurückschrecken lassen. Bekanntlich hat Arendt selber zunächst von einem „absoluten“ bzw. „radikalen Bösen“ gesprochen, um später im Eichmann - „Bericht“ die Wendung von der „Banalität des Bösen“ einzuführen. Diese Begriffsmodifikation hängt mit Bewegungen von Arendts Denken in allgemeineren Kontexten zusammen. Sie sind nicht einfach nachzuzeichnen, weil sie nicht in eine einzige große Bewegung einmünden. Arendts Denken verfährt nicht „systematisch“. Die Motive des Arendtschen Denkens bewegen sich selbst dann unabhängig voneinander, wenn sie im Letzten in einer einzigen Motivation zusammenkommen. So hat Arendt der Sache nach schon früh diejenigen Argumente entdeckt, die es ihr später nahe legten, nicht mehr vom „radikal Bösen“ zu sprechen. Damit verbindet sich der Sachverhalt, dass selbst Arendts Gedanke, auf den sie erst während des Eichmann - Prozesses gekommen sein soll, nämlich dass die „Banalität des Bösen“ so etwas wie „Gedankenlosigkeit“ und diese wiederum eine Art von Zusammenbruch der „Urteilskraft“ sei, in seinen Elementen bereits ungefähr zehn Jahre vor diesem Prozess zu finden ist. Um Arendts These von der Unmöglichkeit, das Böse des Holocaust mit den klassischen Auffassungen von der Bosheit des Menschen einzuholen, adäquat verstehen zu können, ist es ratsam, zuerst Arendts Begriff von der „Banalität des Bösen“ in seiner Genesis darzustellen. In einem zweiten Teil werde ich sodann, soweit es nötig ist, zeigen, inwiefern Arendt meinte, dass die Erbsündenlehre und Kants Explikation des „radikal Bösen“ vor dem Bösen des Holocaust versagten. Und schließlich wird es im letzten Teil meiner Überlegungen darum gehen, Arendts Inkonsequenz angesichts des von ihr behaupteten „Traditionsbruchs“ auszulegen.
II. Vom „radikal Bösen“ zur„Banalität des Bösen“ Von Anfang an verbindet Arendt mit dem Begriff der „Radikalität“ des Bösen zwei Aspekte. Der eine bezeichnet das Maß des Bösen, der zweite die Tiefe, in der das Böse „im“9 Menschen „verwurzelt“ sein soll. In den „Elementen und Ursprüngen der totalen Herrschaft“ denkt sie bei der Betonung des „radikal Bösen“ an den ersten Aspekt. Die „totale Herrschaft“ habe „entdeckt, dass es ein radikal Böses wirklich gibt und dass es in dem besteht, was Menschen
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Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Hg. von Bettina Stangneth, Hamburg 2003, B 5 : „Man nennt aber einen Menschen böse, nicht darum, weil er Handlungen ausübt, welche böse ( gesetzwidrig ) sind; sondern weil diese so beschaffen sind, dass sie auf böse Maximen in ihm schließen lassen.“
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weder bestrafen noch vergeben können“10. Das Übermaß des Bösen im Holocaust geht demnach über ein „menschliches“ Maß hinaus. Dieses Böse stamme nicht aus bösen Motiven wie „Eigennutz, Habgier, Neid, Machtgier“ etc., sei demzufolge auch nicht aus ihnen zu verstehen. Das Verstehen wird indessen von Arendt zugleich als der Maßstab für Strafe und Vergebung angesetzt. Damit spricht sie ein Problem an, mit dem es die Nachkriegs - Prozesse und so auch der Eichmann - Prozess in der Tat zu tun hatte.11 Es betrifft die Unmöglichkeit, das angeklagte Individuum mit einem Strafmaß belegen zu können, das in irgendeinem Verhältnis zur Dimension seines Vergehens stand. Für eine „Fabrikation von Leichen“12 gibt es keine adäquate Rechtsprechung und kann es keine geben. Arendt bemerkt weiter, dass sich hier „eines“ zeige. Wir könnten „feststellen, dass dieses radikal Böse im Zusammenhang eines Systemes aufgetreten“ sei, „in dem alle Menschen gleichermaßen überflüssig“13 geworden seien. Diese „Überflüssigkeit“ betreffe nicht nur die Opfer, sondern auch die „totalen Machthaber“, die Täter. Dabei denkt Arendt zwar auch an die reine „Masse“ der Individuen, meint aber eher so etwas wie eine Art von Befindlichkeit. Am Beginn der Moderne erfährt sich das Subjekt als Atom einer „organisierten Verlassenheit“ ( vgl. die Romane und Erzählungen Franz Kafkas ). Das Individuum verliert seine traditionellen metaphysischen und intersubjektiven Bindungen. Nach Arendt ist dieser geschichtliche Vorgang für das Verständnis des neuartigen Bösen von entscheidender Bedeutung. Der Verlust einer natur wüchsig geordneten Gemeinschaft führt zu einer eigentümlichen Auf lösung der Subjekte. Sie verlieren die Relationen, in denen sich moralisches oder politisches Leben realisiert. Das hat Arendt in einem Eintrag ihres „Denktagebuchs“ aus dem Jahre 1953 festgehalten. Gutes und Böses könne es „unter Menschen nur in Relationen geben“. Die „Radikalität“ zerstöre „Relativität und damit die Relationen selbst“. Das „radikal Böse“ sei „Jegliches, was unabhängig von Menschen und den zwischen ihnen bestehenden Relationen gewollt“14 werde. Gute oder böse Handlungen setzen einen distinkten Anderen voraus. Sie beziehen sich auf jemanden, finden demnach in einer „Relation“ statt. Die Radikalisierung des Guten und Bösen ist für Arendt insofern böse, als sie die „Relation“ zu einem distinkten Anderen ignoriert und indem sie es ignoriert nicht bewahrt. Im Zuge einer solchen Radikalisierung ist es im Grunde gleichgültig, was ich tue; wenn ich etwas tue, ohne einen Anderen damit berühren zu wollen, ist mein Handeln „radikal böse“. Nach dieser Bestimmung ist das „radikal Böse“ eine indifferente Praxis, wie sie sich paradigmatisch in der „bureaukratischen Herrschaftsform“ ( Weber ) manifestiert. In dieser modernen Art von Herrschaft werden die „Relationen“ 10 Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 941. 11 Vgl. auch Hannah Arendt, Der Auschwitz - Prozeß. In : dies., Nach Auschwitz. Essays & Kommentare 1. Hg. von Eike Geisel und Klaus Bittermann, Berlin 1989, S. 99–136. 12 Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 912. 13 Ebd., S. 942. 14 Arendt, Denktagebuch, S. 341.
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zwischen den Menschen ausgeschaltet und Regeln eingesetzt, die bestimmte Sachverhalte so oder so kanalisieren. In einer solchen Herrschaft spielen weder die persönlichen Intentionen der verwaltenden Exekutoren noch die persönlichen Motive der verwalteten Subjekte eine Rolle.15 Der zweite Aspekt des „radikal Bösen“, nämlich dass es in der Tiefe eines Charakters „verwurzelt“ und insofern für diesen von substantieller Bedeutung sei, wird von dieser Indifferenz16 revidiert. Als Hannah Arendt in Jerusalem auf Eichmann traf, wusste sie bereits, dass die Bosheit der Männer, welche den Holocaust organisiert hatten, nicht die Bosheit von grausamen Genies war. Während wir von „echt“ bösen Charakteren z. B. einen Entschluss zur Schädigung des Anderen erwarten, habe sich Eichmann „niemals vorgestellt, was er eigentlich anstellte“17. Es sei „Gedankenlosigkeit“, also eine Weise der Indifferenz, gewesen, die Eichmann zu einem emsigen Mitarbeiter der SS disponierte. Die „Banalität des Bösen“ ist demnach eine oberflächliche Bosheit. Dieses Böse habe keine „dämonische Dimension“, wie Arendt einmal an Gerschom Scholem schrieb. Es könne „die Welt überwuchern und verwüsten, eben weil es sich wie ein Pilz auf der Oberfläche ausbreitet“18. Die „Tiefe“ eines eigentlichen Gedankens erreicht dieses Böse nicht. Diese Unfähigkeit, „Tiefe“ zu erlangen, scheint die Voraussetzung für die weite Verbreitung solcher Art von Bosheit zu sein. Arendts Bestimmung der „Banalität des Bösen“ wurde in vielerlei Hinsichten missverstanden. Selbst Golo Mann ist in seiner Rezension des Eichmann Buches einem solchen Missverständnis zum Opfer gefallen. So schließt Mann von der ungeheuren Schwere der Verbrechen zurück auf den Charakter ihrer Organisatoren und meint, dass Eichmann „so harmlos und gutmütig, wie sie [Arendt ] ihn ausmacht, während seines Tuns nicht gewesen sein“19 könne. Auch Hitler erschien in mancher Hinsicht als „hundelieb und freundestreu“. Mit solchen „Beobachtungen“ könne man „das Problem menschlicher Grausamkeit und Teufelei“ nicht lösen. Es gibt keinen Anlass anzunehmen, dass Arendt die Existenz von grausamen Genies bestritten hätte. Es ließe sich jedoch in der Tat bestreiten, dass diese besonderen Charaktere ein Verbrechen wie den Holocaust hätten durchführen können ohne die eifrige Mithilfe von mittelmäßigen Typen, die ihre Funktion erfüllten, indem sie sich indifferent verhielten. 15 Vgl. auch Hans Mommsen, Beamtentum im Dritten Reich. Mit ausgewählten Quellen zur nationalsozialistischen Beamtenpolitik, Stuttgart 1966. 16 Vgl. zur „Indifferenz“ auch Hannah Arendt, Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik. Hg. von Jerome Kohn, München 2006, S. 149 f. 17 Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München 1986, S. 56. 18 Zit. nach Elisabeth Young - Bruehl, Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit, Frankfurt a. M. 1986, S. 507. Vgl. auch Arendt, Über das Böse, S. 77 : „Das größte Böse ist nicht radikal, es hat keine Wurzeln, und weil es keine Wurzeln hat, hat es keine Grenzen, kann sich ins unvorstellbar Extreme entwickeln und über die ganze Welt ausbreiten.“ 19 Golo Mann, Der verdrehte Eichmann. In : Die Kontroverse. Hannah Arendt, Eichmann und die Juden, München 1964, S. 193.
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Indifferenz also ist der Kern der „Banalität des Bösen“. Sie prägt sich aus in einer Verhinderung des „Urteilens“. Arendt hat früh den Gedanken gefasst, dass „politisches Denken im Wesentlichen in der Urteilskraft“20 gründe. In der „Urteilskraft“ liege auch „unsere Fähigkeit, Recht und Unrecht zu unterscheiden“21. Von Eichmann ließe sich behaupten, dass er diesen Unterschied wohl kannte, ihm aber in seinen „Urteilen“ keinen Ausdruck verlieh. Dementsprechend betonte Arendt, dass wir in den Prozessen gegen die Organisatoren des Holocaust „fordern“ müssen, „dass Menschen auch dann noch Recht von Unrecht zu unterscheiden fähig sind, wenn sie wirklich auf nichts mehr zurückgreifen können als auf das eigene Urteil“; ein „Urteil“, das unter den Voraussetzungen der „totalen Herrschaft“ „in schreiendem Gegensatz zu dem steht, was sie für die einhellige Meinung ihrer gesamten Umgebung halten müssen“22. Dieses Postulat ist von entscheidender Wichtigkeit. Sollten wir nicht befugt sein, vom Menschen er warten zu können, dass er die Fähigkeit besitzt, sich den Bedingungen der „totalen Herrschaft“ auch dann noch zu entziehen, wenn er dabei der Mehrheit widersprechen müsste, könnten wir niemanden ob seiner Kollaboration bestrafen. Mithin besteht die „Banalität des Bösen“ in einer Auflösung dieser Fähigkeit. Die Frage, ob eine solche Auf lösung durch eine Entscheidung oder durch eine Art von Vergessen initiiert wird, ist schwer zu beantworten. Fest steht offenbar, dass für Arendt die Ver weigerung zu „urteilen“, d. h. „Recht von Unrecht zu unterscheiden“, ein moralisch relevanter Akt und insofern vorwerfbar ist.
III. Hannah Arendts Kritik an klassischen Bestimmungen des Bösen bei Augustin und Kant Arendts Dissertation über den Liebesbegriff bei Augustin enthält keine Analyse des Bösen als einer privatio boni, sondern behandelt die Lehre vom peccatum originale. Sie mündet in ein Kapitel, das die Überschrift „Vita socialis“ trägt. In ihm spricht sie über die civitas terrena, wie Augustinus sie in De civitate Dei erörtert. Von ihr sagt Arendt, dass sie auf einer „zweiten geschichtlichen Tatsache“ „begründet“23 sei. Die erste sei die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus, sein „Erlösungstod“, jene „zweite „die gemeinsame Abstammung von Adam“. Diese wiederum sei die Basis einer „bestimmten und verbindlichen 20 Hannah Arendt, Was ist Politik ? Fragmente aus dem Nachlaß. Hg. von Ursula Ludz, München 1993, S. 19. Vgl. zum Unterschied von „subsumierender“ und „reflektierender Urteilskraft“ bei Kant und ihrer Rezeption von Arendt : Peter Trawny, Verstehen und Urteilen. Hannah Arendts Interpretation der Kantischen „Urteilskraft“ als politischethische Hermeneutik. In : Zeitschrift für philosophische Forschung, 60 (2006) 2, S. 269–289. 21 Arendt, Vom Leben des Geistes, S. 15. 22 Arendt, Eichmann in Jerusalem, S. 64. 23 Hannah Arendt, Der Liebesbegriff bei Augustin. Versuch einer philosophischen Interpretation. Hg. von Ludger Lütkehaus, Berlin 2005, S. 109.
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Äqualität aller Menschen“. Sie bestehe, weil, in den Worten des Augustinus, „in ipso Adamo genus humanum radicaliter institutum est ( de Genesi ad Litteram VI, 14)“, in Adam selbst das Menschengeschlecht radikal eingesetzt sei. „Radicaliter“ besage, so Arendt, „dass niemand aus dem genus humanum sich dieser Herkunft entziehen“ könne. Alle Menschen teilten „das gleiche Schicksal“24. Alle sind im ersten Menschen verwurzelt, wachsen aus ihm hervor. Diese „gemeinsame Herkunft“, ein solches Verwurzeltsein, sei „das gemeinsame Teilhaben an dem peccatum originale“. Die Sünde hafte dem Menschen „notwendig“ an. Für jeden Menschen ist sie „gleich“. Arendt nennt diesen Zustand die „Äqualität der Situation“. Sie sei das „Übermächtige, das alle Unterschiede vernichtet“. In diesem Sinne werde die Vielfalt der Staaten und Staatsformen auf zwei reduziert. Es gebe nur „zwei civitates, die gute und die schlechte, die auf Christus oder Adam“25 begründete. Das Böse des peccatum originale ist die „radikale“ Situation des Menschen. Obwohl in diesem Zusammenhang nicht von einer „Idee“, einer „Substanz“ oder „Essenz“ des Menschen gesprochen werden kann, betrifft des peccatum originale insofern jeden Einzelnen gleich, als die Sünde, von Generation zu Generation vererbt, das ganze Menschengeschlecht vereint. Die „Wurzel - Fäulnis“ ( Augustinus, De civitate Dei, XII, 14, radice corrupta ) verdirbt den einen Stamm. Die Erbsünde ist das „Übermächtige“, „das alle Unterschiede vernichtet“ bzw. das keine „Unterschiede“ entstehen lässt. Zwar gibt es dennoch einen bösen und einen guten Willen, trotzdem Laster und Tugenden, d. h. freien Willen. Doch sündig – oder eben durch den Jesuanischen „Erlösungstod“ von der Sünde befreit – ist der Mensch gänzlich indifferent als Mitglied des einen Menschengeschlechts. Kant ist kein Vertreter der Erbsündenlehre.26 Dennoch geht er davon aus, dass der Mensch „von Natur“ aus böse sei. „Von Natur“ heißt nicht, dass er von der Seite seiner „Tierheit“ bzw. „Sinnlichkeit“ her böse sei. Sie haben als solche keinen Bezug zum Bösen oder Guten. Der Mensch ist „von Natur“ aus böse heißt vielmehr, dass er als Exemplar seiner „Gattung“ böse sei. Dies wiederum besage nicht, dass seine Bosheit „aus seinem Gattungsbegriffe ( dem eines Menschen überhaupt ) könne gefolgert werden“27. Eine Deduktion der Bosheit wird ausgeschlossen, da die Menschen dann „notwendig“ böse sein müssten, was ihnen als freien Wesen nicht möglich ist. Die Aussage, der Mensch sei in seiner „Gattung“ verdorben, gehe auf „Erfahrung“ zurück. „Subjektiv“ könne man sogar „notwendig, in jedem, auch dem besten Menschen voraussetzen“, dass er böse sei. Die anthropologische Organisation des menschlichen Charakters lässt nach Kant keinen anderen Schluss zu.
24 25 26 27
Ebd., 110. Ebd., 112. Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, B 41. Ebd., B 27.
Das „Böse“ und der „Traditionsbruch“
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Was die Bestimmung des „radikal Bösen“ als einer Verdorbenheit des „Grundes aller Maximen“28 betrifft, so bezieht sich Kant im Grunde auf das praktische Problem der „Triebfedern“. Der „Grund des Bösen“29 könne nicht in der „Sinnlichkeit“ liegen, weil, wie gesagt, diese als solche in keinem Verhältnis zur Freiheit stehe. Er könne aber auch nicht in einer „Verderbnis der moralisch gesetzgebenden Vernunft“ gefunden werden, weil der Mensch als solcher „ein frei handelndes Wesen“ sei und folglich nur als ein Freier der Freiheit abschwören könnte. Hätte der Mensch die Fähigkeit, beiden „Triebfedern“ unabhängig voneinander folgen zu können oder in einer und derselben Hinsicht sowohl „sinnlich“ als auch „moralisch“ zu sein, wäre er nicht böse. Doch er kann diese Fähigkeit nicht haben. Die „Triebfedern“ der „Sinnlichkeit“ des Menschen und seiner „moralischen Anlage“ befinden sich in einer unvermeidlichen Konkurrenz. Demnach muss es eine Hierarchie der „Triebfedern“ geben, eine „Unterordnung“ der einen unter die andere. Die „sittliche Ordnung der Triebfedern“ sieht einen Vorrang des moralischen Gesetzes vor, die Perversion dieses Verhältnisses aber ist das „radikal Böse“. Die „Selbstliebe und ihre Neigungen“ werden zur „Bedingung der Befolgung des moralischen Gesetzes“ gemacht. Nun kann jede gute Handlung nur noch aus sinnlichen Motivationen entspringen. Arendts Kritik an diesen klassischen Auffassungen des Bösen muss einerseits aus Äußerungen im Kontext ihres eigenen Denkens und andererseits aus sporadischen Stellungnahmen destilliert werden. Der wesentlichere Teil dieser Kritik richtet sich auf „metaphysische“ Implikationen dieser Auffassungen, der unwichtigere zielt auf vermeintliche inhaltliche Schwächen. Arendts fundamentalster Einwand betrifft den „metaphysischen“ Gedanken, dass die Besonderheiten aller menschlichen Individuen ein allgemeines Wesen des Menschen voraussetzen. Die klassische Philosophie habe die „Pluralität der Menschen“ verkannt. Deswegen habe sie „keine philosophisch gültige Antwort auf die Frage : Was ist Politik ? gefunden“30. An sich betrachtet ist dieser Einwand dürftig. Denn es fällt schwer, das Unternehmen, universal gültige Merkmale des Menschen herauszufinden, durch das Argument für erledigt zu halten, dass es nicht den, sondern nur die Menschen gibt. So leicht dürfte das Verhältnis von Allgemeinheit und Besonderheit – auch in politischer Hinsicht – nicht zu überwinden sein. Stärker wird Arendts Einwand, wenn wir ihn mit dem Gedanken flankieren, dass das „politische Denken“ im „Urteilen“ bestehe. „Urteilen“ setzt notwendig Unterschiede. Es lehnt diese politische Möglichkeit ab und favorisiert eine andere, oder, was ebenso wichtig ist, verurteilt diesen und ehrt jenen Menschen. In dieser Hinsicht bezieht sich das „Urteilen“ besonders auf den Unterschied von „Recht und Unrecht“. Ich kann den Anderen nur dann als schuldig verur28 Ebd., B 35. 29 Ebd., B 31 ff. 30 Arendt, Was ist Politik ?, S. 9.
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teilen, wenn ich zumindest in derselben Hinsicht unschuldig bin. Wenn ich mich selbst als schuldig beurteile, muss ich mich insofern von mir selbst unterscheiden, als es einen Zustand vor dieser spezifischen Schuld gegeben haben muss, den ich von meinem jetzigen Zustand unterscheiden kann. Unter der Voraussetzung einer vererbten Ursünde oder einer gattungsmäßigen Bosheit lassen sich solche Unterschiede nur uneigentlich aufrechterhalten. Wo immer schon alle schuldig sind, wird die jeweils durch eine konkrete Handlung verursachte Schuld marginalisiert. Unter Umständen wird durch die Behauptung einer Urschuld be - oder verhindert, dass ich wirklich begreife, worin meine eigene Schuld jeweils besteht. Weltliche Rechtsprechung muss eine solche Schuld ohnehin ignorieren. Arendts Einwände gegen die kantische Bestimmung des „radikal Bösen“ sind – was jedenfalls ihre direkten Bezugnahmen auf diesen Moment der kantischen Philosophie betrifft – folgende. Einerseits scheint Arendt zu glauben, dass Kants Rede von einem „moralischen Gesetz“, welches den Unterschied eines mundus sensibilis et intelligibilis voraussetzt, das Phänomen einer guten oder bösen Praxis verfehle. Diese sei vielmehr in einem „Zwischen“31, eben in den Relationen „zwischen“ den Menschen – d. h. in der „Welt“ – anzusiedeln. Andererseits unterstellt sie, dass Kant das Böse „in dem Begriff des per vertiert bösen Willens sofort wieder in ein aus Motiven Begreif liches rationalisiert“32 habe. Die Kritik an der Differenz zwischen einem sensiblen und intelligiblen mundus als Voraussetzung der Moral mag womöglich berechtigt sein. Es ist dennoch fraglich, ob die Verlagerung der moralischen Sphäre in ein „Zwischen“ nicht eine bloße Verschiebung des Problems bedeutet. Denn offenbar übernimmt auch dieses „Zwischen“ eine normative Funktion und muss insofern jeder einzelnen Handlung transzendent bleiben. Der Unterschied zum mundus intelligibilis besteht darin, dass das „Zwischen“ zerstört werden kann. Der Einwand, Kant habe das Böse im Begriff einer Perversion der „Triebfedern“ „rationalisiert“, geht schließlich ins Leere. Es ist zwar wahr, dass Kants Gedanke von der perversen Anordnung der „Triebfedern“ zeigen kann, inwiefern Menschen eher ihrer „Selbstliebe“ schmeicheln wollen und das Gute überaus selten umwillen des Guten tun. Doch Kant hat mehrfach betont, dass der „Hang“ zu einer solchen Perversion völlig „unerforschlich“33 sei. Die Argumente, die wir mit Arendt gegen Augustinus und Kant vorgebracht haben, mögen einleuchten oder nicht. Den ersten und letzten „Einwand“ gegen die abendländische Philosophie hat nach Arendt kein Philosoph, sondern die Geschichte der Ereignisse zur Darstellung gebracht. Arendts Auseinanderset31
Arendt, Denktagebuch, S. 182. Vgl. auch Arendt, Was ist Politik ?, S. 25 : „Wo immer Menschen zusammenkommen, schiebt sich Welt zwischen sie, und es ist in diesem Zwischen - Raum, dass alle menschlichen Angelegenheiten sich abspielen.“ 32 Arendt, Über das Böse, S. 96. 33 Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, B 46. Übrigens gilt dasselbe für die „Freiheit“, die letztlich der eigentliche „unerforschliche“ Ursprung des Bösen sein müsste.
Das „Böse“ und der „Traditionsbruch“
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zungen mit klassischen Auslegungen des Bösen gehen von dem Ereignis aus, das als solches nicht „gedacht“ werden kann, ja, das sogar die Gewalt hat, jeden traditionellen Gedanken über das Böse ab absurdum zu führen. Als die Philosophen über das Böse nachdachten, dachten sie an leichte oder schwere „Laster“, mancher verdammte den „Krieg“ als unmoralisch, doch niemand hätte sich vorstellen können, was in Auschwitz geschah.
IV. Das „Böse“ und der „Traditionsbruch“ – ein ethisches Problem Der „Traditionsbruch“ des Holocaust bedeutet in seiner stärksten Fassung erstens, dass sämtliche überlieferten moralischen und theologischen Kategorien nicht zureichen, das Ereignis zu be - und verurteilen, und zweitens, dass sämtliche moralischen Kategorien, die nach dem „Traditionsbruch“ gelten sollen, im Schatten des Holocaust liegen und daher in diesem Schatten betrachtet werden müssen. Womöglich ließe sich noch hinzufügen, dass, da ja die moralischen Kategorien weitestgehend dieselben sein müssen, die bereits vor dem Holocaust gegolten haben, berücksichtigt werden müsste, inwiefern sie nicht in der Lage waren, den Holocaust zu verhindern. Mit diesem Wegbrechen überlieferter moralischer und theologischer Praxisorientierungen verbindet sich nach Arendt ein „Abtreten der Metaphysik und Philosophie“. Es ist nicht ganz klar, ob Arendt dieses „Abtreten“ als eine Ursache oder als die Folge des „Traditionsbruchs“ interpretiert. Während einer öffentlichen Diskussion aus dem Jahre 1972 hat sie behauptet, sie sei sich „ganz sicher, dass diese ganze totalitäre Katastrophe nicht eingetreten wäre, wenn die Leute noch an Gott oder vielmehr an die Hölle geglaubt hätten, das heißt, wenn es noch letzte Prinzipien gegeben hätte“34. Diese Aussage betont eine Art von metaphysischem Kollaps als Voraussetzung des Holocaust. Doch kann das Ereignis auf Gründe selbst dann zurückgeführt werden, wenn dieser Grund ein Abgrund ist und „Nihilismus“35 heißt ? Wie dem auch sei. Arendt ( natürlich nicht nur Arendt ) hat dem Ereignis des Holocaust eine unüberbietbare Bedeutung für das politische Denken attestiert. Das Ereignis stellt sich also als eine „geistige tabula rasa“ dar. Die Frage ist, ob es eine solche „tabula rasa“ überhaupt geben kann, und falls ja, wie es sie geben kann, d. h. welche Konsequenzen aus ihr entspringen. Die Frage wird 34 Hannah Arendt, Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk. Hg. von Ursula Ludz, München 1996, S. 85. 35 Vgl. Dana R. Villa, Das Gewissen, die Banalität des Bösen und der Gedanke eines repräsentativen Täters. In : Hannah Arendt Revisited : „Eichmann in Jerusalem und die Folgen“. Hg. von Gary Smith, Frankfurt a. M. 2000, S. 254 : „Arendts politisches Denken als Ganzes ist in nicht geringem Maße von Nietzsches Erklärung ‚Gott ist tot‘ beeinflusst.“ Dabei scheint es mir darauf anzukommen, die Frage zu stellen, wie dieser Einfluss aussieht. Denn es ist ein Unterschied, ob eine so starke Voraussetzung wie der Tod Gottes lediglich konstatiert wird oder ob daraus ein Argument entsteht. Wer den Verlust Gottes mit dem Holocaust in Verbindung bringt, argumentiert „metaphysisch“.
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motiviert von einem Widerspruch, den Arendts Denken unablässig zu formulieren gezwungen ist. Denn wenn Arendt einerseits betont, dass der „Traditionsbruch“ Holocaust alle bestehenden moralischen Kriterien zerstört habe, so ist andererseits offensichtlich, dass sie in ihren Texten zum Holocaust eine eindeutig moralische Haltung einnimmt und diese Haltung deutlich akzentuiert. Es ließe sich demzufolge sogar behaupten, dass der Holocaust weniger zu einem Zusammenbruch der moralischen Integrität als zu ihrer Verdichtung und Stärkung geführt habe. Der Holocaust erscheint so gesehen als ein Appell, als eine unwiderstehliche Evokation, wenn nicht Provokation oder Invokation, das Denken grundlegend zu moralisieren. Den Konsequenzen eines Denkens, das der Geschichte der Ereignisse das letzte Wort lässt, ist Arendt aus dem Weg gegangen. Was diese Konsequenzen bedeuten können, hat ihr Lehrer Martin Heidegger in einem Brief aus dem Jahre 1950 angesprochen. Dort erinnert der Philosoph an ein „Denken“, welches eine „historische“ Auffassung der „Geschichte“ negiert, um zu ihrem tieferen Verständnis als einer „Geschichte des Seyns“ durchzudringen. In diesem Kontext bemerkt Heidegger, „dass das Schicksal der Juden und der Deutschen ja seine eigene Wahrheit hat, die unser historisches Rechnen nicht erreicht“36. Nach Heidegger ist das „Schicksal der Juden und der Deutschen“ offenbar ein Moment der „Geschichte des Seyns“. Die Totalisierung der Technik, d. h. für Heidegger die „Machenschaft“ bzw. das „Gestell“, hat Juden und Deutsche so einander „begegnen“ lassen, wie sie sich faktisch „begegnet“ sind. Die „Wahrheit“, um die es Heidegger geht, ist die „Wahrheit des Seins“. Bei ihr geht es darum, dass eine von der sich totalisierenden Technik entfaltete neuzeitliche „Wahrheit“ umschlägt in eine solche „Wahrheit“, welche den Vorrang der totalen Technik überwunden hat. Wenn Heidegger von der „eigenen Wahrheit“ des „Schicksals der Juden und der Deutschen“ spricht, dann denkt er an diesen Augenblick eines schicksalhaften Umschlagens der „Geschichte“ zu einer anderen „Geschichte“, in welcher ohne Zweifel ein Ereignis wie der Holocaust nicht möglich wäre. Nach Heidegger ist der Holocaust ein „Schicksal“. Dieses „Schicksal“ kann moralisch beurteilt werden. Doch weder hat die abendländische Moral vermocht, den Holocaust zu verhindern, noch scheinen ihre nachträglichen Verurteilungen zu einer wirklichen Revolutionierung dieser Moral geführt zu haben. Die Geschichte der Ereignisse geht offenbar über moralische Urteile hinweg. 36 Hannah Arendt / Martin Heidegger, Briefe 1925 bis 1975 und andere Zeugnisse. Hg. von Ursula Ludz, Frankfurt a. M. 1998, S. 94. Vgl. zu dieser Briefstelle auch den Kommentar von Seyla Benhabib, Hannah Arendt : Die melancholische Denkerin der Moderne. Erweiterte Ausgabe, Frankfurt a. M. 2006, S. 354 : „Was sagt Heidegger hier ? Welches Geheimnis des Seins wird vom Schicksal der Juden und der Deutschen offenbart? Ist diese Passage nicht schlichtweg ein Ausweichen vor der individuellen Verantwortung angesichts der Geschichte ? Ist der Appell an höhere Mächte nicht einfach eine phantastische Ausrede ? Woher nahm Arendt die Geduld, sich solche zweitklassigen Mystifizierungen politischer Prozesse anzuhören ?“ Ist der Holocaust ein „politischer Prozess“?
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Heidegger scheint sogar hin und wieder dazu zu tendieren, die abendländische Moral, jedenfalls dann, wenn sie als eine Metaphysik des Willens erscheint, mit diesem „Schicksal“ zu verbinden. Dem Philosophen geht es infolgedessen darum, ein anderes als moralisches Verhältnis zu diesem „Schicksal“ einzunehmen. Der „Wahrheit“, um die es hier geht – darin stimmt Arendt mit Heidegger überein – kann mit „historischen“ Mitteln nicht entsprochen werden. Der Holocaust ist auch für Arendt kein ( bloß ) „historisches“ Ereignis. „Historische“ Ereignisse können als solche keinen „Traditionsbruch“ – keinen Bruch in der Geschichte – evozieren. Die Konstatierung eines solchen Bruches setzt hermeneutische Kriterien voraus, welche die Geschichtswissenschaft aus ihren eigenen methodischen Voraussetzungen nicht entwickeln kann. Ein solches Kriterium wäre z. B. die Unterscheidung zwischen Kontinuität und Diskontinuität. Anders aber als Heidegger hat Arendt den Holocaust als einen Appell zur Moralisierung und Politisierung des Denkens verstanden. Diese Bemerkung ist zu präzisieren. Es ist bereits beobachtet worden, dass Arendt nirgendwo eine Moral oder Ethik ausgearbeitet hat. In dieser Hinsicht hat sie ihr eigenes Urteil von der „geistigen tabula rasa“ festgehalten. Trotzdem ist Arendts Denken von vornherein normativ an einer mehr oder weniger thematischen Gerechtigkeit orientiert.37 Dort z. B., wo Arendt einen Verlust von „Gott“, der „Hölle“ bzw. „letzten Prinzipien“ konstatiert, spricht sie unter der normativen Voraussetzung eines solchen „Prinzips“. Wer die Präsenz oder Absenz eines „Prinzips“ für die Ursache eines Ereignisses hält, denkt beidemal normativ. Vermutlich ist nicht erst Hannah Arendts Haltung zum Holocaust fundamental moralisch. Bereits die Rede von einem „Traditionsbruch“, welche den Verlust der abendländischen Moral behauptet, scheint in sich ethisch motiviert zu sein. Denn indem Arendt ( und nicht nur sie ) einem Ereignis die Bedeutung zuschreibt, eine jahrtausende alte, stets reflektierte Sittlichkeit widerlegen zu können – ganz gleich, ob der Zusammenbruch dieser Ethik Ursache oder Folge dieses Ereignisses war – verleiht sie ihm höchste moralische Dignität. Der Holocaust ist nicht nur der Ausgangspunkt für politisches Denken, er evoziert eine Verwandlung unseres Lebens. Er könnte ein geläutertes Ethos generieren. All das verweist jedoch darauf, dass die Rede von einem „Abtreten der Metaphysik und der Philosophie“ sowie einem Vorrang der Geschichte der Ereignisse problematisch ist. Der moralische Blick auf den Holocaust geht notwen37 Benhabib scheint implizit auf eine solche Unschärfe in Arendts Denken hinzuweisen, wenn sie schreibt : „Zwar sind ihre Auffassungen von der Politik und vom Politischen kaum nachvollziehbar, ja sogar kaum verständlich, ohne eine stark in allgemeinen Menschenrechten, Gleichheit und Respekt verwurzelte Grundannahme, aber in ihren Schriften versucht sie nicht, dergleichen normativ zu begründen.“ Seyla Benhabib, Identität, Perspektive und Erzählung in Hannah Arendts Eichmann in Jerusalem. In : Hannah Arendt Revisited : „Eichmann in Jerusalem und die Folgen“, S. 113. Arendt hat vielfach darauf hingewiesen, dass der Holocaust eben eine solche ethische Normativität bzw. ihre Herausarbeitung als unmöglich erwiesen hat und weiterhin erweist. Dass ihr Denken trotzdem darauf basiert, darin liegt der Kern des Problems.
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dig von einem Ort aus, der sich jenseits der Geschichte befindet. Hannah Arendt hat den Unterschied von Recht und Unrecht, von Gut und Böse – selbst wenn sie ihn als Philosophin nicht begründen wollte – niemals in Frage gestellt. Es ist nicht leicht, sich des Eindrucks zu er wehren, dass sie diesen Unterschied für „natürlich“ hielt.
„The scramble for Africa“ Hannah Arendts paradoxer Versuch, den Holocaust aus dem Kolonialismus herzuleiten Micha Brumlik
I. Hannah Arendt und der Zionismus Westliche Gesellschaften und ihre Politiken sehen sich heute den Menschenrechten verpflichtet und haben sich im Krieg um Kuweit und gegen den Irak, im Krieg gegen Kosovo und nun im Krieg gegen Afghanistan immer wieder auf sie berufen. Wie selbstverständlich nehmen wir die Erfahrungen und das Erbe jener Massenvernichtung, die sich in den Bränden des 9. November 1938, als brennendes Ganzopfer, als „Holokaust“ ankündigten und in den Krematorien von Auschwitz und Treblinka endeten, als Teil der westlichen Zivilisation, als jene Erfahrung an, die das gegenwärtige politische Handeln aufgeklärter Bürger legitimiert. Es könnte jedoch sein, dass darüber vergessen wird, dass sich die industrielle Massenvernichtung schon Jahre früher in Europas Kolonien, in den Ländern des Südens ankündigte. Die politische Debatte im wieder vereinigten Deutschland hat aber zur Renaissance einer Theorie geführt, die in den fünfziger Jahren in aller Munde war, in den siebziger Jahren massiv kritisiert und in den frühen achtziger Jahren fast vergessen wurde. Heute gewinnt diese Theorie angesichts der Notwendigkeit, sich mit den Folgen zweier durchaus ungleichartiger Diktaturen in Deutschland, mit dem Nationalsozialismus und der Parteiherrschaft der Kommunisten, auseinanderzusetzen, neue Aktualität. Neben Autoren wie Carl J. Friedrich, Raymond Aron, Karl Friedrich Bracher und Juan Linz bezieht sich die einschlägige Debatte vor allem auf Hannah Arendts politisches Hauptwerk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, das, Ende der vierziger Jahre in den USA verfasst, stark gekürzt zuerst 1955 in der Bundesrepublik erschien. Dieses Buch stellt ein Hauptwerk des Jahrhunderts dar, eine Arbeit, die neben Lukacs Geschichte und Klassenbewusstsein, Heideggers Sein und Zeit, Horkheimer / Adornos Dialektik der Aufklärung und Sartres Das Sein und das Nichts steht. Im Unterschied zu den vorgenannten Arbeiten trägt es jedoch eine zusätzliche Signatur.
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Dem gilt die folgende These, die ich in der gebotenen Kürze untersuchen möchte : Mit Arendts Ursprüngen und Elementen1 liegt neben einem philosophischen Hauptwerk politischen Denkens nicht weniger vor als die bisher radikalste Form jüdischer Selbstvergewisserung in der Moderne. So sehr Ursprünge und Elemente nämlich ein Resümee der ersten Hälfte dieses mörderischen 20. Jahrhunderts darstellen, so sehr lassen sie sich auch als eines der gewichtigsten Werke lesen, das das moderne Judentum in einer seiner säkularen Varianten, nämlich des Zionismus, hervorgebracht hat. Cum grano salis ließe sich sagen : Wenn der moderne Zionismus es je zu einer systematischen, philosophischen Begründung gebracht hat, dann liegt sie hier vor und zwar dem Umstand zum Trotz, dass Hannah Arendt unmittelbar nach dem Kriege zu den schärfsten Kritikern des politischen Zionismus zählte. Dass Hannah Arendt dabei das Grundproblem jüdischer Existenz in der Moderne mit den theoretischen Mitteln eines Denkens angeht, das der klassischen Antike und der deutschen Existenzphilosophie ungleich stärker verpflichtet ist als der Überlieferung des Judentums, er weist sich weniger als Ausdruck einer historischen Ironie denn jener paradoxen Situation, in der sich alle Juden befanden, die seit der Emanzipation der Auffassung waren, das Judentum auf die Höhe ihrer Zeit bringen zu sollen. Dass Arendts Buch einen Januskopf trägt, liegt indes nicht allein an ihrem individuellen jüdischen Lebenslauf, sondern daran, dass sie selbst einem genau benennbaren und bestimmbaren Entwurf jüdischen Lebens in der Moderne folgt: dem deutschen Zionismus. Aber auch dieses bewusste, schließlich von der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik gezeichnete Denken war nicht davor gewahrt, seinerseits rassistische Annahmen zu verwenden. Ich versuche zunächst, meine Überlegung in drei Bemerkungen zu den Themen „1. Jüdische Selbstkritik in den Elementen und Ursprüngen; 2. Hannah Arendt und der deutsche Zionismus sowie 3. Die Grenzen des deutschen Zionismus und Hannah Arendts“ zu entfalten, um dann auf zwei Fälle philosophischen Kolonialismus hinzuweisen und schließlich zu zeigen, wie der philosophische Kolonialismus in Arendts Denken, einen erfolgversprechenden Ansatz, den Mord an den europäischen Juden welthistorisch zu verstehen, an seinen eigenen Voraussetzungen gescheitert ist. 1. Als Anfang der sechziger Jahre – anlässlich des Erscheinens von Eichmann in Jerusalem – der Zorn der jüdischen Welt über Hannah Arendt ob ihrer These von der Kollaboration der Judenräte bei der Massenvernichtung hereinbrach, konnte sie nur mit Unverständnis reagieren. Substantiell hatte sie nämlich nichts anderes getan, als die Konsequenz aus Argumenten zu ziehen, die spätestens in den Ursprüngen und Elementen theoretisch angelegt waren. Bekanntlich analysiert Arendt die Wurzeln des Totalitarismus, zu denen der Antisemitismus – im Unterschied zum Judenhass – wesentlich gehört, am Problem der Ende des achtzehnten Jahrhunderts gegründeten und schon Mitte des neunzehnten Jahrhunderts niedergehenden Nationalstaaten. Der durch die Expansion des Kapitals 1
Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 1986.
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verursachte Übergang vom Nationalismus zum Imperialismus führt in den Kolonien zu einer Form politischen Handelns, in der die zivile Kontrolle von Polizei und Bürokratie prinzipiell aufgegeben wird, während sich in den Mutterländern das bisher privatistisch verstehende Bürgertum im Sinn des Imperialismus radikalisiert. Der Antisemitismus ensteht in diesem Zusammenhang als massenhafte Reaktion auf die zunehmende Intransparenz politischen Handelns, die Undurchsichtigkeit der Beziehungen zwischen Parlament, Kapital und Regierung. Als Massenbewegung entzündet sich der Antisemitismus an einer gesellschaftlichen Frage, die Hannah Arendt für ein objektives Problem hält : die „Judenfrage“. Sie bestand darin, dass „die Juden fortfuhren, einen mehr oder minder geschlossenen Körper innerhalb der Nation zu bilden“ während „das gesellschaftliche Vorurteil in dem Maße wuchs, in welchem Juden aufgrund ihrer Assimiliertheit in die bürgerliche Gesellschaft einzudringen wünschten“2. Nach Arendts Überzeugung waren jüdische Familien mit ihren internationalen Verbindungen erst die Geldgeber der fürstlichen Begründer des Territorialstaats, fungierten dann als Finanziers der kolonialen Ausdehnung, um im Zeitalter des Imperialismus ihrer Rolle verlustig zu gehen. Der so entstandene Reichtum und Einfluss ohne Macht stempelte sie zu Zielscheiben des Ressentiments der Massen. Dass die Juden sich der entsprechenden Angriffe nicht angemessen er wehrten, lag an ihrer Distanz zu jeder – auch ökonomischen – Macht, was sich nach Arendts wirtschaftshistorischer Überzeugung in der Tatsache niederschlug, dass die Juden sich nur selten bereit fanden, ihr Kapital in industrielle Unternehmungen zu investieren – eine Überzeugung, die als Tatsachenbehauptung durchaus bestreitbar ist. Nicht nur jüdische Unternehmer im russischen und rumänischen Eisenbahnbau ( Poliakoff, Strausberg ), in der polnischen Hüttenindustrie ( Bliokh und Kronenberg ) sowie in der böhmischen Waffenindustrie ( die Petscheks ) belasten Arendts These. Die vermeintliche Distanz der Juden zur Macht aber und die nach Arendts Meinung damit verbundene Unfähigkeit, den Antisemitismus zu verstehen, führte dazu, dass die Juden als Volk eine politische Anomalie darstellten. Diese Anomalie „lag in der Tatsache, dass hier ein Volk in eine politische Rolle gedrängt wurde, das selbst keine Repräsentanz hatte. [...] Als Fremde und auf Grund ihrer politischen Traditionslosigkeit wussten die Juden weder etwas von dem Unterschied zwischen Volk und Regierung noch von der nationalstaatlichen Spannung zwischen Staat und Gesellschaft.“3 Deshalb gehöre es zu den wesentlichen Bestandteilen jüdischer Geschichte im imperialistischen Zeitalter, „dass sie weder je wirklich wussten, was Macht war, auch nicht, als sie sie fast in Händen hatten, noch je wirklich Interesse an Macht hatten“4. Arendts Analyse des jüdischen Schicksals geht somit von zwei normativen Voraussetzungen aus : erstens davon, dass die Juden im ethnischen Sinne ein Volk darstellen; zweitens davon, dass alleine die in sich paradoxe Konstruktion des homogenen Nationalstaats als Ausdruck des terri2 3 4
Ebd., S. 108. Ebd., S. 58. Ebd., S. 60.
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torial und damit politisch begrenzten Willens demokratischer Rechtssetzung in der Lage ist, dem Individuum der Moderne nicht nur den Schutz des Rechts zu gewähren, sondern „sich in einer gemeinsam errichteten Welt sichtbar zu bewähren und so einzurichten, dass jede große Leistung und außerordentliche Handlung einer Nachwelt zuverlässig überliefert werden kann“5. Die hier vertretene Theorie der Tradition benennt das Kernstück von Arendts letztlich aristotelischer Anthropologie : was den Menschen erst wirklich zum Menschen macht ist seine Fähigkeit, eine gemeinsame Welt zu errichten und zu bewahren. Damit wird die Bürgerschaft im modernen Nationalstaat gleichsam zum höchsten Punkt menschlicher Entfaltungsmöglichkeiten – eine Annahme, die bei ihrer Erklärung von Kolonialismus, Imperialismus und Rassismus eine bedeutende Rolle spielen wird. So gesehen, konnte der Zionismus als wesentliche Form eines modernen, staatsbildenden jüdischen Bewusstseins Vorbildfunktion annehmen. Arendts Kritik an Assimilationismus, jüdischem Chauvinismus und einer Flucht des jüdischen Bildungsbürgertums ins Menschheitliche überhaupt korrespondiert in Elemente und Ursprünge der Hinweis, dass erst der „westeuropäische Zionismus“ die objektive Realität der Judenfrage nimmer verleugnet habe und es zudem der „postassimilatorische Zionismus gewesen sei, der mit seinem Einfluss auf die jüdische Intelligenz das deutsch - österreichische Ausnahmejudentum vor den schlimmsten Auswüchsen des Antisemitismus der dreißiger Jahre bewahrt habe“6. Wenn Arendt schließlich feststellt, dass der Verlust der nationalen Rechte im zwanzigsten Jahrhundert in allen Fällen den Verlust der Menschenrechte nach sich gezogen habe und diese „wie das Beispiel des Juden und des Staates Israel zeigt, bisher nur durch die Etablierung nationaler Rechte wiederhergestellt werden können,“7 beglaubigt sie die Stimmigkeit zionistischer Politik sowohl im Hinblick auf die Rettung eines Teils der deutschen Juden seit 1933, als auch bezüglich jüdischer Fortexistenz nach der Massenvernichtung.
II. Pygmäe und Papua Primo Levi, der von 1944 bis 1945 in Auschwitz inhaftiert war, notiert im Januar 1945 kristallklar und nüchtern die von ihm erlittenen Erfahrungen absoluter Entwürdigung; der uns schon zu geläufige Ausdruck von der „Würde des Menschen“ bzw. der „Würde des Menschen“ gewinnt vor der Kulisse von Auschwitz eine gebieterische und einleuchtende Kraft : „Mensch ist“, so notiert Levi für den 26. Januar 1945, einen Tag vor der Befreiung des Lagers, „wer tötet, wer Unrecht zufügt oder erleidet; kein Mensch ist, wer jede Zurückhaltung verloren hat und sein Bett mit einem Leichnam teilt. Und wer darauf gewartet hat, bis 5 6 7
Ebd., S. 387. Ebd., S. 160. Ebd., S. 466.
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sein Nachbar mit Sterben zu Ende ist, damit er ihm ein Viertel Brot abnehmen kann, der ist, wenngleich ohne Schuld, vom Vorbild des denkenden Menschen weiter entfernt als der roheste Pygmäe und, der grausamste Sadist.“ Unter diesen Bedingungen schwindet dann auch die natürliche Neigung zur Nächstenliebe. Levi fährt fort : „Ein Teil unseres Seins wohnt in den Seelen der uns Nahestehenden : darum ist das Erleben dessen ein nicht - menschliches, der Tage gekannt hat, da der Mensch in den Augen des Menschen ein Ding gewesen ist.“8 Dieser Text erschüttert nicht nur beim ersten Lesen, bei der Vedeutlichung dessen, was „Würde des Menschen“ angesichts ihrer völligen Abwesenheit bedeuten kann, sondern auch bei der zweiten Lektüre, die dem Leser die Augen dafür öffnet, dass Primo Levi – wie der Philosoph Giorgio Agamben gezeigt hat9 – mit der Idee des „Untermenschen“ keineswegs nur gespielt hat. Zwar dient Levi die Gestalt des „Muselmanns“, also des total apathischen, nur automatisch vegetierenden Wesens in Menschengestalt als Inbegriff dessen, was man als „Untermensch“ bezeichnen könne, doch zeigt sich schnell, dass es dabei nicht bleibt. Indem Primo Levi sich selbst und sein unmenschliches Verhalten mit einbezieht, kann er dennoch nicht umhin, noch andere Beispiele für Fälle großer Abweichung vom „denkenden Menschen“ als eines Kulturideals aufzuführen : als solche Fälle gelten ihm : der „Grausamste Sadist“ – wobei man sich fragen mag, ob nicht gerade Sadisten eines erheblichen Ausmaßes an gefühlloser Intellektualität teilhaftig sein können – sowie : „der roheste Pygmäe“ und man mag sich fragen, was Primo Levi 1945 – viele Jahre vor dem Erscheinen von Claude Levi Strauss Traurigen Tropen10 für Vorstellungen von der Menschenartigkeit der Pygmäen hatte. Mit derlei Vorurteilen stand Primo Levi in seiner Zeit keineswegs allein : dass die klassische idealistische Philosophie – etwa bei Hegel – Vorstellungen von Indien und Afrika hatte, die uns heute nur noch als grotesk eurozentrisch vorkommen, dürfte bekannt sein, dass aber einer der Großen der Philosophie des 20. Jahrhunderts, Edmund Husserl, ebenso dachte, dürfte schon eher erstaunen: Ausgerechnet oder – typischerweise – in einem Vortrag Husserls aus dem Jahre 1935 über die Krisis des europäischen Menschentums lesen wir zum Beispiel über den Begriff der Vernunft : „Nach der guten alten Definition ist der Mensch das vernünftige Lebewesen, und in diesem weiten Sinne ist auch der Papua Mensch und nicht Tier“11, um fortzufahren : „Er hat seine Zwecke und handelt besinnlich, die praktischen Möglichkeiten überlegend. [...] Aber so wie der Mensch und selbst der Papua eine neue Stufe der Animalität gegenüber dem Tier nämlich darstellt, so stellt in der Menschlichkeit und ihrer Vernunft die phi8
Primo Levi, Ist das ein Mensch, München 1987; ders., Die Atempause, München 1986, S. 164. 9 Giorgio Agamben, Was von Auschwitz bleibt, Frankfurt a. M. 2003, S. 68 f. 10 Claude Levi - Strauss, Traurige Tropen, Köln 1970. 11 Edmund Husserl, Die Krisis des europäischen Menschentums und die Philosophie. In: ders., Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Louvain 1962, S. 337.
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losophische Vernunft eine neue Stufe dar.“12 Mit anderen Worten : Mensch und – so müssen wir ergänzen – sogar noch der Papua stellen eine neue Stufe der Animalität dar, während die Philosophie die Menschlichkeit als Menschlichkeit auszeichnet. Damit wird eine auf - und absteigende Linie kostruiert : von den Tieren in ihrer Animalität zur höchsten Ausprägung der Animalität, dem Menschen, dessen niedrigste Stufen wiederum weit entfernt von der höchsten Ausprägung dessen sind, was diese höchste Stufe der Animalität, der Mensch aus sich machen kann. Die peripheren und für ihren systematischen Gedankengang scheinbar unbedeutenden Bemerkungen Levis und Husserls über den „rohesten Pygmäen“ und den „Papua“ belegen gleichwohl, dass sogar mit Sicherheit aufgeklärte und antirassistische Philosophen und Schriftsteller sich das, was sie als nicht mehr menschlich ansahen, mit Beispielen aus tribalen, schriftlosen Gesellschaften illustrierten.
III. Die Kolonialhypothese Die beiden Denker Primo Levi und Edmund Husserl interessieren im Kontext der staatlichen Großverbrechen des zwanzigsten Jahrhunderts deshalb, weil in ihren Schriften wie in der Nussschale ein Argumentationsgang vorgezeichnet ist, der in einer sich erst heute allmählich herausbildenden Hypothese zu den politisch gewollten Massenmorden des zwanzigsten Jahrhunderts an Prominenz gewinnt, in der Annahme nämlich, dass der industrielle Massenmord an den europäischen Juden seiner Systematik und Genealogie nach einen Reimport kolonialer Tötungspraxen in den von der Haager Landkriegsordnung bestimmten europäischen Raum darstellt. Diese schon früh von Peter Schmitt–Egner13, heute prominent von Enzo Traverso vertretene Hypothese lässt sich mit dessen Worten zu den von den Nationalsozialisten an den Juden begangenen Massakern so skizzieren : Es gehe darum, so Traverso, anzuerkennen, dass diese Massaker „zwischen 1941 und 1945 mitten in einem Eroberungskrieg vollführt wurden, der in Europa als Kolonialkrieg konzipiert war. Dieser – innereuropäische – Kolonialkrieg entlehnte seine Ideologie und seine Prinzipien denen, die der klassische Imperialismus im Verlauf des 19. Jahrhunderts angewandt hatte – jedoch mit weit moderneren, wirksameren und mörderischeren Methoden. [...] Im Nationalsozialismus erfolgte das Zusammentreffen und die Vereinigung von zwei paradigmatischen Figuren : dem Juden, dem ‚Anderen‘ der westlichen Welt, und dem ‚Untermenschen‘, dem ‚Anderen‘ der kolonisierten Welt“14. Traverso gibt als wesentliche Quelle für seine theoretischen Versuch Hannah 12 Ebd., S. 338. 13 Peter Schmitt - Egner, Kolonialismus und Faschismus. Eine Studie zur historischen und begriff lichen Genesis faschistischer Bewusstseinsformen am deutschen Beispiel, Gießen 1975. 14 Enzo Traverso, Moderne und Gewalt – Eine europäische Genealogie des Nazi - Terrors, Köln 2003, S. 24.
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Arendt und ihr Buch über die Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft an – ein Buch, das Ende der vierziger Jahren vollendet wurde, und dem es zunächst darum ging, die imperialistischen Voraussetzungen von Antisemitismus und Nationalsozialismus zu klären – der dritte Teil des Buches über die russische Revolution und die Bolschewiki, der an die beiden ersten Teile durchaus unorganisch anschließt, war eher ihrer Lage als Mitglied einer Gruppe von zu Antikommunisten gewordenen New Yorker Intellektuellen zuzuschreiben als dem systematischen Gedankengang des Buchs.15 In ihm findet sich nun tatsächlich im zweiten „Imperialismus“ betitelten Teil ein Abschnitt, den sie mit „Rasse und Bürokratie“ überschrieb und in dem sie sich mit der Genese des einen Teils der nationalsozialistischen Mordindustrie auseinandersetzte, mit dem Rassismus, während sie die mörderische Exekutionsart, die Bürokratie, eher der britischen Verwaltung in Indien zuschrieb. „Schwarze Gestalten hockten, lagen, saßen zwischen den Bäumen, lehnten sich gegen die Stämme, krümmten sich am Boden, von dem trüben Licht kenntlich und unsichtbar gemacht, in allen Stellungen des Schmerzes, der Verlassenheit und der Verzweif lung. [...] Diese dahinsterbenden Schatten waren frei wie die Luft – und beinahe so dünn. Dann, als ich nach unten blickte, sah ich ein Gesicht neben meiner Hand. Die schwarzen Knochen lagen längelang da, eine Schulter lehnte gegen den Baum, und langsam hoben sich die Augenlider, und die in tiefen Höhlen liegenden Augen sahen zu mir hoch, riesengroß und leer, eine Art blindes, weißes Flackern aus den Tiefen der Augäpfel, das langsam wieder erlosch [...] und überall lagen welche, in allen erdenklichen Haltungen schmerzverkrümmter Erschöpfung wie auf jenen Bildern, die ein Massaker oder die Pest zeigen.“16
Das ist weder eine Schilderung aus dem befreiten Konzentrationslager BergenBelsen noch eine aktuelle Reportage aus Monrovia, der Hauptstadt des heutigen Liberia. Die zitierte Passage findet sich in Joseph Conrads erstmals vor etwas mehr als hundert Jahren erschienener Romannovelle Herz der Finsternis, in der sich Conrad mit den Folgen der kolonialistischen Ausbeutung des Kongogebietes durch den belgischen König Leopold II befasst. Tatsächlich hat in den Jahren der Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert, in der Regierungszeit Leopolds, also von 1885 – 1908, im Kongo das stattgefunden, was wir heute zumindest als „Genozid“, wenn nicht gar als einen „Holocaust“ bezeichnen würden. Dem durch Mord, Verhungern und Krankheit und dementsprechend gesunkener Geburtenraten entsprach eine Dezimierung der Bevölkerung um fünfzig Prozent, d. h. um 10 Millionen Menschen.17 15 Elisabeth Young - Bruehl, Hannah Arendt, Leben, Werk und Zeit, Frankfurt a. M. 1986, S. 285–301; Bernard Crick, Arendt and The origins of Totalitarianism : An Anglocentric View. In : Steven E. Aschheim ( Hg.), Hannah Arendt in Jerusalem, Berkeley 2001, S. 93–104; Michael Halberstam, Hannah Arendt on the totalitarian Sublime and its Promise of Freedom. In : Aschheim ( Hg.), Hannah Arendt in Jerusalem, S. 105–123; Anson Rabinbach, Hannah Arendt und die New Yorker Intellektuellen. In : Gary Smith ( Hg.), Hannah Arendt Revisite, Frankfurt a. M. 2000, S. 33–56. 16 Joseph Conrad, Herz der Finsternis, Zürich 1992, S. 33. 17 Adam Hochschild, Schatten über dem Kongo, Stuttgart 1989, S. 320 f.
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In dem erstaunlichen siebten Kapitel des zweiten Teils des Totalitarismusbuchs, in dem Arendt immer wieder auf Joseph Conrads Herz der Finsternis zu sprechen kommt, will sie nachweisen, dass es die Erfahrung der europäischen Menschheit in Afrika gewesen sei, die über den Umweg einer ersten rassistischen Vergemeinschaftung, nämlich der burischen Gemeinwesen in Oranje und Transvaal, schließlich in die Massenvernichtung der europäischen Juden geführt habe : „Entscheidend für den Rassebegriff des zwanzigsten Jahrhunderts“, so erläutert Arendt ihre These, „sind die Erfahrungen, welche die europäische Menschheit in Afrika machte und die erst durch den ‚scramble for Africa‘ und die Expansionspolitik in das allgemeinere Bewusstsein Europas eindrangen.“18 Man mag aus der Geistesgeschichte mit guten Gründen bezweifeln, dass die afrikanische Erfahrung die Genealogie des Rassismus wesentlich beeinflusste, Arendt selbst verweist in den früheren Teilen ihres Buches auf aristokratische Ideologien seit der französischen Revolution sowie auf den Sozialdarwinismus, Arendt ist gleichwohl, ohne einen schlüssigen genealogischen Nachweis des Eindringens „burischer“ Ideen führen zu können, von der Wirkmacht dieser Erfahrung überzeugt : „Der in Afrika beheimatete Rassebegriff war der Notbehelf, mit dem Europäer auf menschliche Stämme reagierten, die sie nicht nur nicht verstehen konnten, sondern die als Menschen, als ihresgleichen anzuerkennen sie nicht bereit waren. Der Rassebegriff der Buren“, so ihr vorläufiges Fazit, „entspringt aus dem Entsetzen vor Wesen, die weder Mensch noch Tier zu sein schienen und gespensterhaft, ohne alle fassbare zivilisatorische oder politische Realität, den schwarzen Kontinent bevölkerten und übervölkerten.“19 Über diese Passagen ist bereits eine heftige wissenschaftliche Kontroverse ausgebrochen : während etwa Anne Norton20 Arendt vorhält, bei aller offiziell an den Tag gelegten Solidarität mit den Opfern des Kolonialismus letztlich mit ihren Ausführungen doch den burischen Tätern Stimme und Verständnis verliehen zu haben, behauptet Seyla Benhabib unter Hinweis auf Arendts differenzierende Weise, den afrikanischen Kontinent zu beschreiben, dass von einem auch nur angedeuteten Rassismus bei Arendt keine Rede sein könne.21 Anders Hauke Brunkhorst22 : Er ist um den Nachweis bemüht, dass auch Arendt – ähnlich wie Levi oder Husserl – eine philosophische Idee des Menschentums vorliege, die es ihr unmöglich mache, jeden Menschen in einem vollgültigen Sinn als Menschen anzuerkennen. Eine nähere Lektüre von Arendts Ausführungen wird zeigen, dass Brunkhorst und Norton gegen Benhabib recht behalten und uns mit dem Paradox konfrontieren, dass Arendt zwar die richtige Intuition hatte, sie aber aufgrund ihrer eigenen rassistischen Vorurteile nicht angemessen entfalten 18 Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 308. 19 Ebd. 20 Anne Norton, „Heart of Darkness“ : Afrika and African Americans in the Wiritings of Hannah Arendt. In : Bonnie Honig ( Hg.), Feminist Interpretations of Hannah Arendt, Pennsylvania 1995, S. 247–263. 21 Seyla Benhabib, The reluctant Modernism of Hannah Arendt, Thousand Oaks 1996, S. 83–86. 22 Hauke Brunkhorst, Hannah Arendt, München 1999, S. 102 f.
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konnte : „Aus dem Entsetzen, dass solche Wesen auch Menschen sein könnten, entsprang der Entschluss, auf keinen Fall der gleichen Gattung Lebewesen anzugehören. Hier, unter dem Zwang des Zusammenlebens mit schwarzen Stämmen, verlor die Idee der Menschheit und des gemeinsamen Ursprungs des Menschengeschlechts, wie die jüdisch–christliche Tradition des Abendlandes sie lehrt, zum ersten Mal ihre zwingende Überzeugungskraft, und der Wunsch nach systematischer Ausrottung ganzer Rassen setzte sich umso stärker fest, als es offenbar war, dass im Gegensatz zu Australien und Amerika Afrika viel zu übervölkert war, als dass die dort erprobten Lösungen des Eingeborenenproblems je ernstlich in Frage kommen könnten.“23 Arendt war zu keiner Zeit eine Freundin psychoanalytischer Gedankengänge und es wäre ein Fehler, ihre Erklärung des burischen Rassismus mit einer Projektionstheorie zu erklären – etwa derart, dass die Buren eigene Anteile auf die Schwarzen projiziert und in ihnen bekämpft hätten; eher wird man Arendt eine Theorie der Mimesis zuschreiben dürfen, wonach Menschen unter bestimmten Umständen dazu neigen, sich dem anzugleichen, was sie realiter beunruhigt oder gefährdet : Identifikation mit dem Aggressor bzw. – was so in Freuds Werk nie vorkam – Identifikation mit dem Fremden. Man könnte freilich glauben, dass es gerade Arendts glühender US - amerikanischer Patriotismus gewesen ist, der ihr die Einsicht in den wahren Ursprung des Rassismus, nämlich den transatlantischen Sklavenhandel verdeckt hat. Es war Arendts gewiss auch biographisch bedingter methodologischer Nationalismus, der sie ihren frühen Einsichten zum Trotz das Phänomen der Globalisierung in seiner vollen historischen Bedeutung verkennen ließ. Das wird an den ersten Bemerkungen Arendts in einem ohnehin politisch höchst problematischen Aufsatz, indem sie sich mit vielen ernsthaften Argumenten gegen die erwzungene gemeinsame Beschulung schwarzer und weißer Kinder im Zuge der Bürgerrechtsbewegung wendet, besonders deutlich. „Die Rassenfrage“, so Arendt 1959, „ist das Ergebnis des einen großen Verbrechens in der Geschichte Amerikas und kann nur im politischen und historischen Rahmen der Republik gelöst werden. Dass diese Frage auch weltpolitisch zu einem großen Problem geworden ist, ist ( was die amerikanische Politik und Geschichte betrifft ) reiner Zufall; denn die Rassenfrage in der Weltpolitik ist aus dem Kolonialismus und Imperialismus der europäischen Nationen entstanden – d. h. dem einen großen Verbrechen, an dem Amerika niemals teilhatte.“24 Das, was oben als „methodologischer Nationalismus“, d. h. als systematische Beschränkung politischer und sozialwissenschaftlicher Analyse auf eine nationale Gesellschaft – ganz unabhängig von sonstigen politischen oder moralischen Wertungen – bezeichnet wurde, wird an diesem Argument besonders deutlich. Es verwundert umso mehr, als Arendt, die in On revolution die Genealogie der amerikanischen Revolution durchaus auch in Bezug auf ihre Wurzeln in der euro23 Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 308 f. 24 Hannah Arendt, Little Rock. In : dies., In der Gegenwart, München 2000, S. 260; vgl. auch dies., Über die Revolution, München 2000, S. 91.
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päischen, der englischen Aufklärung bedacht hat, die politische Geschichte der USA, „Amerikas“ wie Arendt immer wieder sagt, in Bezug auf diese Frage nicht in ihrem europäischen Ursprung behandeln will. Man wird sich nicht täuschen, wenn man hier ein systematisches Motiv unterstellt : Arendts große Emphase des Anfangs, des Initiums, für das ihr wohl die Gründung der USA als hervorragendes Beispiel galt. Tatsächlich ist jedoch „dieses eine große Verbrechen“ Amerikas ohne die Geschichte Europas seit der Entdeckung Amerikas Ende des 15. Jahrhunderts überhaupt nicht zu verstehen. Die Besiedlung Nordamerikas war zuallererst – wie Arendt zu betonen nicht müde wird 25 – selbst Ausdruck einer Flüchtlingsbewegung, nämlich in England verfolgter religiöser Nonkonformisten in britische Kolonien, in denen sie ihren Glauben unbehelligt ausüben konnten. Nachdem Ende des sechzehnten Jahrhunderts universalistisch und humanistisch denkende und empfindende Jesuitenpatres in den spanischen Vizekönigreichen Mittel - und Lateinamerikas gegen das Töten und Vernutzen der indianischen Urbevölkerung aufgetreten und tatsächlich gesetzliche Regelungen durchgesetzt hatten, die diesen brutalen Raubbau beendeten, stand die in Nord - , Süd - und Mittelamerika, in der Karibik entstandene Plantagenwirtschaft vor dem Dilemma, über keine Arbeitskräfte mehr zu verfügen. In diesem Prozess – und nicht, wie Arendt in Elemente und Ursprünge meint – in der Kolonisierung des südlichen Afrika – entsteht das Konstrukt des „Negers“ als einer untermenschlichen Rasse zwischen Mensch und Tier, deren Angehörige – anders als die Indios, die nach Las Casas als Menschen galten – zur Arbeit gezwungen werden durften. Das galt insbesondere auch für das nicht katholische Nordamerika und für die Karibik. Die Besiedlung Nordamerikas geschah nämlich keineswegs nur aus Motiven der Suche nach Glaubens - und Gewissensfreiheit, sondern allemal auch aus kommerziellen Interessen heraus, unter denen der Wunsch, im Rahmen der Plantagenwirtschaft große Gewinne zu machen, das geringste nicht war.26 Die frühen englischen Vertreter der Menschenrechte, etwa John Locke27 und – mit Abstrichen – David Hume standen in dieser Frage vor einem Dilemma. Hume entwickelte auf der Basis seines naturalistischen Empirismus protorassistische Überzeugungen,28 während John Locke, der doch auf der ursprünglichen Freiheit eines jeden Menschen bestand, nicht zuletzt in seiner Eigenschaft als Miteigner einer Kolonisationsagentur gezwungen war, mit an den Haaren herbeigezogenen, auf der Bibel beruhenden Gründen die Sklaverei in der Karibik gutzuheißen. 25 Arendt, Über die Revolution, S. 221 f. 26 Robin Blackburn, The Making of New World Slavery. From the Baroque to the Modern 1492–1800, London 1997, S. 217 f. 27 William Uzgalis, „An Inconsistency not to be excused“. On Locke and Racism. In : Julie K. Ward / Tommy L. Lott ( Hg.), Philosophers on Race. Citical Essays, London 2002, S. 81–100. 28 Micha Brumlik, Der transatlantische Sklavenhandel, das Entstehen des modernen Rassismus und der Antisemitismus. In : Grenzenlose Vorurteile. Hg. vom Fritz Bauer Institut, Frankfurt a. M. 2000, S. 69–86, besonders 80.
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Ohne die nonkonformistische Fluchtbewegung aus dem England der Stuarts, ohne Plantagenwirtschaft und transatlantischen Sklavenhandel, kurz ohne eine die Erdteile übergreifende religiöse und ökonomische Bewegung wäre die Besiedlung Nordamerikas anders verlaufen – und : wäre es vorerst gar nicht zur Gründung der USA gekommen. Denn nur ein Kompromiss in der Sklavenfrage, der die Regelung dieser Problematik den Einzelstaaten überließ, ermöglichte es religiös universalistischen Puritanern und ökonomisch interessierten Pflanzern, einen gemeinsamen Bundesstaat zu gründen, der mehr war als lediglich ein gegen die britische Krone gerichtetes Bündnis von Staaten. Arendt vertritt eine Theorie des Kolonialismus und Imperialismus, gemäß derer von der Logik der kapitalistischen Ver wertung her „überflüssige Menschen“, Menschen, die „im wahrsten Sinne des Wortes Auswurf dieser Gesellschaft“ sind, ihrer Pariaexistenz überdrüssig waren, endlich – so die Worte eines Chef ideologen des Deutschen Kolonialismus, Carl Peters, „einem Herrenvolk angehören wollten.“29 In Afrika, einem „über völkerten Erdteil“30, angekommen, wurden sie mit einer Gespensterwelt konfrontiert, die zur Auf lösung aller moralischen Maßstäbe führte. Man fragt sich zunächst, woher Arendt mit solcher Sicherheit über das subsaharische Afrika der Jahrhundertwende behaupten kann, dass es übervölkert gewesen sei.31 Die historische Demographie weiß davon nichts. Das Entsetzen vor den Eingeborenen ließ diese in den Augen der Buren nicht mehr als Menschen, sondern als bloße Schemen erscheinen. Arendt meint, dass in den Buren „vermutlich heute noch der erste grauenhafte Schrecken“ lebe, „der ihre Vorväter in die Barbarei gezwungen hatte, der Schrecken vor den Menschen Afrikas – die tiefe Angst vor einem fast ins Tierhafte, nämlich wirklich ins Rassische degenerierten Volk, das doch trotz seiner absoluten Fremdheit zweifellos eine Spezies des homo sapiens war.“32 So führte die Begegnung mit einer anderen Rasse die weißen Menschen dazu, selbst zur „Rasse“ zu werden. „Man mordete“ so Arendt über den Verfall von Moral und Recht, „keinen Menschen, wenn man einen Eingeborenen erschlug, sondern ein Schemen, dessen lebendige Realität man ohnehin nicht glauben konnte“33 – handelte es sich doch um „Wesen [...], die weder Vergangenheit noch Zukunft, weder Ziele noch Leistungen kannten und ihnen daher genauso unverständlich blieben wie die Insassen eines Irrenhauses“34. Der Kontext dieses Satzes lässt kaum eine andere Deutung zu, als dass auch Arendt selbst meint, dass die „Eingeborenen“ weder ein Zeit - noch ein Zielbewusstsein hatten. Anders als die meisten politischen Wissenschaftler, die den Begriff der „Rasse“ schon alleine aus Gründen der biologischen Anthropologie für reine Ideo29 Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 313. 30 Ebd., S. 316. 31 Robert Ross, A concise History of South Africa, Cambridge 1999; John Reader, Africa – a Biography of the Continent, Harmondsworth 1996. 32 Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 322. 33 Ebd., S. 315. 34 Ebd.
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logie halten, vertritt Arendt allerdings einen realistischen, ja einen geradezu politischen Begriff der Rasse. Arendt glaubt, dass es auf der Welt – wenn auch nur in wenigen Fällen „wirkliche Rassen“ gegeben habe : nämlich in Afrika und Australien.35 Von ihnen glaubt sie schreiben zu können, dass sie bis heute, also bis in die späten 1940er Jahre, „die einzigen ganz geschichts - und tatenlosen Menschen“ seien, „von denen wir wissen, die einzigen, die sich weder eine Welt erbaut noch die Natur in irgendeinem Sinne in ihren Dienst gezwungen haben“36. Als ob Arendt gemerkt hätte, dass diese Beschreibungen massive Bewertungen enthielten, führt sie ein gleichsam erklärendes Argument ein und fragt sich, ob diese – so ganz ohne Anführungszeichen – „Rassenstämme“ „Residuen einer früheren Menschheit“ oder „die zufällig überlebenden Abfallprodukte einer untergegangenen Zivilisation“ seien, sicher sei nur, dass man sie dort antreffe, „wo die Natur dem Menschen besonders feindlich“ entgegentrete37 und diese Menschen als die Überlebenden großer Katastrophen erscheinen lasse. Arendt wähnt sich in diesen Fragen besonders kritisch, wenn sie – ohne gesicherten Nachweis – Adolf Hitler mit folgenden Worten zitiert : „Eine Rasse sind wir nicht, eine Rasse müssen wir erst werden.“38 Als Rasse zu existieren, heißt also eine spezifisch menschliche Lebensform zu artikulieren, eine Lebensform, die die Menschen, die ihr unterliegen, von allen anderen Völkern unterscheidet, was nicht an ihrer Hautfarbe liege : „was sie“ – mithin die subsaharischen Schwarzen oder die australischen Aborigines – „auch physisch erschreckend und abstoßend machte, war die katastrophale Unterlegenheit oder Zugehörigkeit zur Natur, der sie keine menschliche Welt entgegensetzen konnten“39. Menschen, die in der Form des rassischen Verbandes leben, können das nicht bilden, was für Arendt die Erfüllung menschlicher Existenz darstellte : eine Welt. „Da sie weltlos sind“, stellt Arendt ohne jede Skepsis fest, „erscheint die Natur als einzige Realität ihres Daseins; und sie gibt sich selbst dem Beobachter als eine so überwältigende Realität – mit weltlosen Menschen kann die Natur nach Belieben umspringen –, dass an ihr gemessen die Menschen etwas Imaginäres, Schattenhaftes, ganz und gar Unwirkliches annehmen. Das Unwirkliche“, und das ist Arendts Conclusio, „liegt darin, dass sie Menschen sind und doch der dem Menschen eigenen Realität ganz und gar ermangeln.“40 Arendts Genealogie des nationalsozialistischen Massenmords an den Juden gipfelt so in der Annahme, dass sich das völkische Bewusstsein – zunächst der Buren41 – der Assimilation, ja der „Einordnung in die schwarze Welt“42 verdan-
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Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 323. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Zur Geschichte der Buren vgl. Ross, A concise History of South Africa, S. 39 f.; Reader, Africa, S. 441– 455 sowie Thomas Pakenham, The Boer War, London 2000. 42 Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 323.
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ke. Die soziale Organisation als Rasse beinhalte ein „Imaginäres“, nämlich auf dem Fehlen einer von Menschen konstruierten und von ihren Gesetzen beherrschten Welt. Die in Afrika am Beispiel der Buren erstmals sichtbar gewordene Möglichkeit, „Völker in Rassestämme zurückzuverwandeln“43 – und man darf annehmen, dass Arendt damit auch auf das nationalsozialistische Deutschland Bezug nahm – führte zum Erscheinen eines gesetzlosen und anarchischen Zusammenseins auch in Europa – späte Folge des Fluchs der Kolonisation. Indem die an die Südspitze Afrikas geworfenen Buren wie die Schwarzen wurden, bildeten sie jene Brücke, über die schließlich die Massaker nach Europa zurückgebracht wurden – es sind letztlich bestimmte Tötungsformen, Massaker, an denen deutlich wird, ob eine Gruppe von Menschen ein politischer Verband oder eine Rasse sind. Die Buren wurden zu einer Rasse und ihre Rasseidee – so Arendts nicht nachgewiesene genealogische Vermutung – war das wesentliche ideenpolitische Motiv hinter dem nationalsozialistischen Judenmord : „Das sinnfälligste Zeichen für die Angleichung des weißen Volkes an die es umgebenden schwarzen Rassestämme liegt vielleicht darin, dass die furchtbaren Metzeleien, welche die Europäer in Afrika angerichtet haben, sich gewissermaßen in die Tradition des afrikanischen Kontinents selbst ohne Schwierigkeiten einfügen. Ausrottung feindlicher Stämme war von eh und je das Gesetz afrikanischer Eingeborenstämme gewesen.“44 An Arendts interessanter Vermutung über die kolonialen Ursprünge des Holocaust erstaunen nicht nur ihre selbst kolonialistischen, ja – nicht nur in Anflügen – rassistischen, durch keinerlei Wissenschaft belegten Vermutungen über Afrika, seine Überbevölkerung, Weltlosigkeit und Grausamkeit, sondern vor allem ihre Geschichtsvergessenheit, ja geradezu Blindheit gegenüber dem von ihr so geschätzten Europa. Sie hätte gar nicht zu den von ihr so geliebten Griechen zurückgehen müssen, die ehrlich genug waren, die eigenen Metzeleien festzuhalten – so etwa Thukydides in den entsprechenden Abschnitten des peloponnesischen Krieges – ein kurzer Blick zurück in den dreißigjährigen Krieg hätte es auch getan. Der hohe Preis für eine richtige historische Intuition provoziert nicht nur die Frage, ob der Preis zu hoch war, sondern ob die These überhaupt richtig ist.
43 Ebd., S. 335. 44 Ebd., S. 324.
Moderner Antisemitismus ? Hannah Arendts „Eichmann in Jerusalem“ Julia Schulze Wessel
I. Schreibtischtäter oder Antisemit ? Bis heute streitet man sich darüber, ob Adolf Eichmann von Judenhass durchsetzt gewesen sei und deswegen begeistert die Vernichtungspolitik vorantrieb und unterstützte oder ob ihn Autoritätshörigkeit und subalterner Gehorsam zu den Verbrechen trieben. Denjenigen, die letztere Sicht unterstützen, wird vorgehalten, warum denn ausgerechnet Adolf Eichmann, der berüchtigte „Deportationsspezialist“ des Dritten Reiches, kein Antisemit gewesen sein soll; ausgerechnet Eichmann, der Millionen von jüdischen Frauen, Kindern und Männern in den Tod schickte; ausgerechnet derjenige, den das Jerusalemer Gericht als Mit - Verantwortlichen für die Durchführung des nationalsozialistischen Plans, die europäischen Juden zu vernichten, anklagte1 und der deswegen mit seinem eigenen Tode bezahlen musste ? Über die Person Eichmann wird mitunter über den Charakter des gesamten NS - Systems verhandelt; deswegen blüht die Debatte immer wieder auf und wird leidenschaftlich ausgefochten. Dabei fällt auf, dass der Streit in diesen zwei Positionen – Eichmann der leidenschaftliche Antisemit oder der subalterne Schreibtischtäter – aufzugehen scheint.2 Es gibt jedoch noch eine dritte, meist vollkommen vernachlässigte Sichtweise auf Adolf Eichmann, die sich von beiden Positionen gleichermaßen absetzt : Auch wenn Hannah Arendt seit Jahrzehnten einhellig unterschoben wird, sie habe Eichmann als den 1 2
Vgl. Eichmann trial. Minutes of Session ( Hannah Arendt Archiv Oldenburg, 54. 6., Heft 1–6, S. 9 f.). Vgl. insbesondere David Cesarani, Adolf Eichmann. Bürokrat und Massenmörder, Berlin 2004; Yaacov Lozowick, Hitlers Bürokraten. Eichmann, seine willigen Vollstrecker und die Banalität des Bösen, Zürich 2000. Beide grenzen sich von der Hannah Arendt untergeschobenen Position, Eichmann sei gehorchender Bürokrat gewesen, ab. Die selbstgenügsame Feststellung Lozowicks, es sei die Aufgabe eines Historikers, die Fakten so nüchtern wie möglich zu betrachten, wendet er kritisch gegen Hannah Arendts Prozessbericht : „Zwar mag es dieser Methode [ die des nüchternen Historikers, d. Verf.] an jener theatralischen Ausstrahlung fehlen, wie sie einer brillanten Frau zu eigen ist, die ihre Wahrheiten kraft der Autorität ihrer unbestreitbaren Gelehrsamkeit vorträgt, dafür aber hat sie den Vorzug, sich dem empirischen Befund gegenüber zu öffnen.“ Ebd., S. 18.
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gehorchenden Bürokraten beschrieben, so ist es doch ihr Eichmann in Jerusalem, der einen ganz neuen Blick auf Eichmann, eine neue Interpretation ermöglicht. Für Hannah Arendt besaß der Prozess gegen Adolf Eichmann sowohl für ihre wissenschaftlichen Arbeiten als auch ihre persönliche Biographie eine herausragende Bedeutung. Als Arendt von der Verhaftung Eichmanns erfuhr, sagte sie kurzerhand sämtliche ihrer eingegangenen Verpflichtungen ab, um nach Jerusalem fahren zu können.3 Nachdem sie die totale Herrschaft als System analysiert hatte und auf Akten und Sekundärliteratur angewiesen gewesen war, hegte sie nun die Hoffnung, den „totalitären Geist“ einer konkreten Person studieren zu können. Denn der Vorteil von Gerichtsverfahren sei es, dass weder das System als Ganzes im Mittelpunkt der Betrachtung stehe noch die Richter den Angeklagten als Rädchen im Getriebe ansehen könnten. Hier rücke das Individuum, ein Mensch „aus Fleisch und Blut“,4 mit all seinen indivduellen Taten und seiner persönlichen Verantwortung in das Licht der Öffentlichkeit. Sie wolle, so schrieb sie im August 1961 an einen Kollegen, „partout wissen [...], wie einer aussieht, der ‚radikal Böses‘ getan hat“5. Die Hoffnung, das Phänomen des Bösen, das sie über Jahre beschäftigt hatte, anhand eines konkreten Täters näher beleuchten zu können, war eines ihrer stärksten Motive für die Teilnahme am Jerusalemer Prozess. Als dann jedoch Adolf Eichmann am 10. April 1961 durch die Eröffnung des Gerichtsverfahrens gegen ihn der Weltöffentlichkeit vorgestellt wurde, reagierte Arendt wie wohl viele andere Zuschauer auf die Erscheinung in dem kugelsicheren Glaskasten reagiert hatten : mit blankem Entsetzen. Die Diskrepanz zwischen den Taten, für die Eichmann sich vor dem israelischen Gerichtshof zu verantworten hatte, und seiner eher unauffälligen Erscheinung schienen unüberbrückbar. Sein Auftreten und sein unscheinbares Äußeres konterkarierten die Monstrosität seiner Verbrechen. Hannah Arendt musste feststellen, dass „dieser Mann“ kein „Ungeheuer“ war, wie von vielen erwartet, sondern vielmehr ein „Hanswurst“6. Ihre eigene Vermutung, „er war einer der Intelligentesten der ganzen Bande“,7 die sie ihrer Freundin Mary McCarthy gegenüber äußerte, 3
4 5 6 7
Vgl. z. B. Arendt an die Northwestern University am 20. 11. 1960 ( Hannah Arendt Archiv Oldenburg, Northwestern University, Evanston, Ill., 1960–1974, 36.18.); Hannah Arendt an Karl Jaspers am 2.12.1960. In : Hannah Arendt / Karl Jaspers, Briefwechsel. 1926–1969, München 1993, S. 446. Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, 8. Auf lage München 1992, S. 14. Arendt an Sigmund Neumann am 15. 8. 1961 ( Hannah Arendt Archiv Oldenburg, Wesleyan University, 1958–1973, 40. 7.). Arendt, Eichmann in Jerusalem, S. 83. Arendt an Mary McCarthy am 20. 6. 1960. In : Hannah Arendt / Mary McCarthy, Im Vertrauen. Briefwechsel 1949–1975, München 1995, S. 150. Darüber, dass sie mit anderen Erwartungen an Eichmann nach Jerusalem gegangen sei, berichtet Arendt im Nachhinein in einem Brief an Samuel Grafton : „When I decided to go to Jerusalem, I myself had been under the impression that he had been much more important than he actually was.“ Siehe Arendts Notizen für ein Interview mit Samuel Grafton im September /
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musste sie aufs Gründlichste revidieren. Allerdings sah Arendt in Eichmann mehr als einfach nur eine lächerliche Person. Er sollte sie von nun an bis zu ihrem Tode immer wieder beschäftigen. Ihr lautes Lachen angesichts der Lächerlichkeit von Eichmanns Aussagen war auch zugleich voller Erschütterung. Wie sollte man auch verstehen, dass eine derart banale Erscheinung „die Mechanisierung der Vernichtung und die sorgfältige und kalkulierte Errichtung einer Welt, in der nur noch gestorben wurde, in der es keinen, aber auch gar keinen Sinn mehr gab“8, mit verantworten musste ? Ihre Fragen, die sie in Elemente und Ursprünge an die Geschichte stellte : „Was war geschehen ? Warum war es geschehen ? Wie konnte es geschehen ?“9, sollte sie auch nach dem Prozess gegen den Leiter des sogenannten Judenreferates nicht beantworten können. Denn, soviel sie auch von den Verhören las, die Verzweifelung und Irritation über diesen Täter und damit über die Taten wuchsen noch an. Sie musste erkennen, dass vor der „Banalität des Bösen“ „das Wort versagt“ und an ihr „das Denken scheitert“.10 Ihr zunächst als Zeitschriftenartikel publiziertes Porträt über den sogenannten Organisatoren der „Endlösung“ beschied Hannah Arendt allerdings kein großes Glück. Nach der Veröffentlichung entbrannte eine in ungeahnter Schärfe ausgefochtene Kontroverse um ihr Buch; die Kritik kam aus den unterschiedlichsten Richtungen; Teile der wissenschaftlichen Welt distanzierten sich öffentlich von Arendt, ganze Freundschaften zerbrachen. Einer der vorgebrachten Vorwürfe lautet bis heute, sie habe Eichmann kleiner gemacht als er war und seinen Beteuerungen, er sei kein Antisemit gewesen, naiv Glauben geschenkt. Ebenso scheint sich mittlerweile sowohl in wissenschaftlichen Veröffentlichungen als auch in den Feuilletons die einstimmige Meinung durchgesetzt zu haben, Arendt habe Eichmann als den gehorsamen, subalternen Bürokraten beschrieben, der pflichterfüllt seine Aufgaben erledigt hat. Seine Welt sei die des Befehls und Gehorsams gewesen. Diese Diskussion ist bis heute nicht abgebrochen. Die in den letzten Jahren erschienenen Werke über den Deportationsspezialisten wiederholen diese Vorwürfe und setzen diesen ihr eigenes Bild eines zumindest stark nationalistisch wenn nicht gar eindeutig antisemitischen, von Hass gegen die Juden durchsetzten Eichmann entgegen.11 Oftmals wird mehr oder minder das Scheitern von Arendts Eichmann - Porträt konstatiert. Und in Oktober 1963 ( Hannah Arendt Archiv Oldenburg, Eichmann Case, Correspondence, Periodicals, 47. 6, S. 11). Das Interview kam jedoch nie zustande. 8 Hannah Arendt, Die vollendete Sinnlosigkeit. In : dies., Nach Auschwitz. Essays und Kommentare, Band 1. Hg. von Eike Geisel und Klaus Bittermann, Berlin 1989, S. 7– 30. 9 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, Totale Herrschaft, 2. Auf lage München 1991, S. 474 ( im Original kursiv ). 10 Arendt, Eichmann in Jerusalem, S. 300. 11 Vgl. Cesarani, Adolf Eichmann; Irmtrud Wojak, Eichmanns Memoiren. Ein kritischer Essay, Frankfurt a. M. 2001; Lozowick, Hitlers Bürokraten; Daniel Jonah Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, Berlin 1996.
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der Tat scheint Arendts Interpretation nicht unmittelbar zu überzeugen. Denn, wie gesagt, warum sollte ausgerechnet Adolf Eichmann kein Antisemit gewesen sein ? Die Arendt - Forschung wiederum verweist in diesem Zusammenhang auf den Widerspruch zwischen dem Antisemitismusbegriff der Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft und der Darstellung des unideologischen ehemaligen Leiters des sogeannten Judenreferates. Kritisiert wird Arendt dafür, dass sie die herausragende Bedeutung, die sie dem Antisemitismus in Elemente und Ursprünge zugestehe, abschwäche und sich lediglich auf den „subjektiven Mangel in Eichmanns Charakter“12 konzentriere. Die Diskrepanz zwischen diesen Werken scheint offensichtlich. Hatte sie doch in den 50er Jahren den Antisemitismus als die „Hauptstütze faschistischer Propaganda und Organisation“13 bestimmt scheint er nun in ihrem Prozessbericht jede Bedeutung verloren zu haben. Interessanter weise widerspricht Arendt aber selbst der Vermutung, sie habe mit ihrem Buch über den Deportationsspezialisten mit ihrem Antisemitismusbegriff gebrochen. Auf die Nachfrage ihres Verlegers Klaus Piper, ob es nicht angebracht sei, ein Wort über das Wesen des modernen Antisemitismus am Schluss des Buches zu schreiben, reagiert sie ablehnend : „Nun zu ihrer Frage – der Antisemitismus. Dies würde den Rahmen dieses Buches sprengen. Darf ich außerdem darauf hinweisen, dass ich mich zur Frage des Antisemitismus und [...] der Judenfrage bereits vor vielen Jahren sehr ausführlich geäußert habe, nämlich im ersten Teil meines Buches über die ‚Totale Herrschaft‘. Ich hätte dem heute nichts hinzuzufügen.“14 Und in der Tat hat die Konfrontation mit dem „Schreibtischtäter par excellence“15 an ihrem Antisemitismusbegriff nichts geändert, ein Widerspruch zwischen den beiden Werken – so meine These – besteht nicht. Es ist vielmehr das Gegenteil der Fall. Denn in ihrer Porträtierung des erschreckend normalen Täters Adolf Eichmann lassen sich auf verschiedenen Ebenen Elemente ihres Antisemitismus - und Ideologiebegriffs wiederfinden. Ja, mehr noch, in der verkümmerten, totalitären Mentalität des „Deportationsspezialisten“ kulminieren geradezu die Erkenntnisse aus ihrer Auseinandersetzung mit dem modernen Antisemitismus. Eichmann in Jerusalem ist die konsequent zu Ende erzählte Geschichte des modernen Antisemitismus, so wie sie Arendt in den 50er Jah12 Moishe Postone, Hannah Arendts ‚Eichmann in Jerusalem‘. In : Gary Smith ( Hg.), Hannah Arendt Revisited : „Eichmann in Jerusalem“ und die Folgen, Frankfurt a. M. 2000, S. 267. 13 Hannah Arendt, Antisemitismus und faschistische Internationale. In : dies., Nach Auschwitz, S.31–48, hier 31. Eine ganz ähnliche Beurteilung findet sich in einer undatierten Skizze, die Arendt wahrscheinlich für „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ angelegt hat. Dort schreibt sie : „Anti - Semitism has turned out to be the most efficient non - military weapon of National - Socialism.“ Outlines and research memoranda (Hannah Arendt Archiv Oldenburg, 76. 5.). 14 Hannah Arendt an Klaus Piper am 22. 1. 1963 ( Hannah Arendt Archiv Oldenburg, R. Piper Verlag, 1963, 31. 2.). 15 Hannah Arendt, Der Auschwitz - Prozeß. In : dies., Nach Auschwitz, S. 99–136, hier 117.
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ren aufgeschrieben hatte. Damit zeigt sich paradoxer weise in der Banalität eines bestimmten Tätertypus der Antisemitismus in seiner radikalsten Ausprägung. Diese These möchte ich nun weiter beleuchten. Die Radikalisierung des Antisemitismus kann auf unterschiedlichen Ebenen verdeutlicht werden : Auf der Ebene der potentiellen Opfer beinhaltet die These der Radikalisierung zum einen das Verschwinden des Besonderen in der antisemitischen Ideologie. Das heißt, Antisemitismus meint immer weniger die konkreten Juden. Das schließt zum anderen – auf den ersten Blick widersinnig – mit ein, dass er sich immer radikaler gegen sie richtet. Je mehr das Besondere des Antisemitismus verschwindet, desto stärker schließt er die Juden mit ein und lässt ihnen kein Entkommen mehr. Je stärker der moderne Antisemitismus seine Besonderheit verliert, desto stärker werden zudem seine planenden und ordnenden Elemente. Der Antisemitismusbegriff Arendts beinhaltet von Anbeginn an ein strategisches Moment. Er wird eingesetzt, um in Gesellschaft eingreifen zu können, um sie nach Belieben zu verändern. Diese Seite des Antisemitismus endet dann bei Eichmann im ausschließlichen Denken von Organisation und Planung. Auf der Ebene der Ideologie kann der Weg von einem Vorurteil, über eine diskriminierende Meinung hin zu einem in sich stimmigen Denksystem nachgezeichnet werden, das nichts anderes neben sich duldet. Die immer umfassender werdende Ideologie schließt dann auf der Ebene des Individuums den fortschreitenden Verfall des Denkens und des Urteilens in sich ein. Diese Vermögen sind bei Arendt dezidiert politische Vermögen, die mit zu den Bedingungen des Menschseins gehören. Die Zerstörung der Subjekte zeigt sich zudem in dem sukzessiven Verlust der Erfahrungsfähigkeit.
II. Das Verschwinden des Besonderen Arendt legt den Beginn des modernen Antisemitismus in die Anfänge der Diskussion um die Emanzipation der Juden in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts. Teile der Mehrheitsgesellschaft reagierten ablehnend der Frage gegenüber, ob Juden als rechtlich und politisch gleichgestellte Bürger anerkannt werden sollten. Die diskrimierenden Äußerungen und Taten sind hier noch an einen konkreten Konflikt gebunden, der Juden als Juden meint. Der Antisemitismus entfernt sich Arendt zufolge jedoch immer mehr von diesem Ursprungskonflikt. Da er sich als fähig erwiesen habe, immer mehr Konfliktstoffe der Zeit in sich aufzunehmen, wurde er zu einem beliebten Mittel im politischen Machtkampf. Mit ihm konnten Scheinlösungen für beliebige Probleme der Zeit angeboten werden. Den atomisierten Individuen der aufkommenden Massengesellschaft wiederum bietet er Halt und Orientierung in einer unsicher werdenden Welt. Bereits hier lässt sich die beginnende Willkür bei der Wahl der Opfer ausmachen, denn dass der Antisemitismus Halt bieten kann, wertet Arendt als
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gewichtiger als seinen konkreten Inhalt. In der totalen Herrschaft hat sich dann der Antisemitismus gänzlich von seinem Ursprungskonflikt gelöst, reagiert nicht mehr auf Erfahrungen zwischen Minderheits - und Mehrheitsgesellschaft. Er drückt nun allgemeine Krisen, Konflikte und Phantasien der antisemitischen Gesellschaft aus. Jede konkret gefüllte Ideologie wäre auch dem Wesen der totalen Herrschaft sinnwidrig. Denn Arendt zufolge ist die Bewegung als solche wichtiger geworden als jede Definition eines bestimmten Feindes. Die Bewegung ist sich selbst Zweck; die gesamte Gesellschaft sei nun auf ein Projekt ausgerichtet, auf das Ziel, „die Menschen dem Gesetz des Mahlstroms gemäß zu organisieren – und das heißt allein Vernichtung.“16 Arendt konstatiert also ausgerechnet zu dem Zeitpunkt das Verschwinden des Antisemitismus als er sich in all seinen mörderischen Konsequenzen am scheinbar radikalsten zeigt : zum Zeitpunkt der beginnenden Massenvernichtung. „Der Inhalt des Antisemitismus [...] geht in der Ausrottungspolitik verloren [...]. Ausrottung per se ist wichtiger als der Antisemitismus.“17 Nun kommt es also nur noch darauf an, die Bewegung zu perpetuieren und den immer wieder neu definierbaren „objektiven Gegner“18 zu vernichten. Wer der konkrete Feind dann ist, scheint gleichgültig geworden zu sein. Auch in der Mentalität Eichmanns findet Arendt keine Anhaltspunkte für einen leidenschaftlichen Antisemitismus, den er benötigt, um die Vernichtung der europäischen Juden zu organisieren.19 Dieses Verschwinden des Antisemitismus als besonderer Ideologie richtet sich nun immer radikaler gegen Juden selbst. Wollten große Teile der Mehrheitsgesellschaft Juden im neunzehnten Jahrhundert von der rechtlichen und politischen Gleichstellung ausschließen, so wurden Juden qua Geburt in der totalen Herrschaft aus der Menschheit als Ganzer ausgeschlossen; sie wurden eindeutig definiert, deportiert und schließlich vernichtet – unabhängig von ihrem vorangegangenen Leben. Adolf Eichmann schließlich machte aus Juden Planungsmaterial, über das er verfügte, je nachdem, wie es die Situation und die scheinbare verwaltungstechnische Notwendigkeit verlangte.
III. Die planenden und strategischen Elemente des modernen Antisemitismus Der Antisemitismus lädt sich Arendt zufolge mit immer mehr Konflikten der Zeit auf und reagiert offensichtlich zunehmend auf die Bedürfnisse seiner Träger. Arendt hebt seine Bedeutung für die politischen Kämpfe insbesondere des 16 Hannah Arendt, Das „deutsche Problem“. In : dies., Zur Zeit. Politische Essays. Hg. von Marie - Luise Knott, übersetzt von Eike Geisel, München 1989, S. 23–42, hier 30. 17 Hannah Arendt an Mary McCarthy am 20. 9. 1963. In : Arendt / McCarthy, Im Vertrauen, S. 234 ( kursiv im Original). 18 Arendt, Elemente und Ursprünge, S. 655. 19 Zu den genannten Dimensionen, die sich im Antisemitismusbegriff Arendts zeigen, siehe ausführlicher : Julia Schulze Wessel, Ideologie der Sachlichkeit. Hannah Arendts politische Theorie des Antisemitismus, Frankfurt a. M. 2006.
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ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts hervor.20 Sie zeigt, wie der Antisemitismus als politisches Kampfmittel eingesetzt wird, über den ein ganzes System bekämpft werden soll. Politische Parteien und Propagandisten machten den Antisemitismus zu einem Instrument, mit dem die verhasste politische Ordnung bekämpft werden sollte. Diese strategisch, planende Seite kann man dann in Arendts Beschreibungen der völkischen Bewegungen, die insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg auf dem europäischen Parkett auftauchten, wiederfinden. Das Ziel dieser Bewegungen sei die Umgestaltung Europas nach den Grundsätzen der Rassetheorien. Diese Theorien transporierten ganz neue Ordnungsvorstellungen von Gesellschaft. In ihnen drückte sich die enthusiastische Begeisterung einer Generation aus, die sozialen und politischen Ordnungssysteme vollkommen neu zu entwerfen.21 In der totalen Herrschaft wiederum kann man eine weitere Zuspitzung des im Antisemitismusbegriff von Arendt angelegten Ordnungsdenkens finden. Denn der Antisemitismus der totalen Herrschaft ist ein Antisemitismus der Tat. Das heißt, dass die Vorstellungen, die in den völkischen Bewegungen umherwaberten, in der totalen Herrschaft nach und nach in Realität übersetzt wurden. Arendt konstatiert hier ein ganz neues Verhältnis von Ideologie und Realität. Führte sie die Anfänge des Antisemitismus noch auf reale Begebenheiten zurück, bestimmte Realität also zu einem gewissen Grad den Antisemitismus, so ist nun genau das Gegenteil der Fall : nun gibt die ideologische Lüge vor, wie die Welt auszusehen habe. Wirklichkeit wird nun gemäß den ideologischen Aussagen zugerichtet. Die Anhänger der totalitären Bewegung sind Arendt zufolge von dem unbedingten Willen beseelt, der Welt zu zeigen, dass sie mit ihren ideologischen Aussagen schon recht gehabt haben. Die Lüge von der in unterschiedliche Rassen geteilten Welt wurde in der totalen Herrschaft in den Ghettos und Vernichtungslagern in Realität umgesetzt. Sie wurde im unmenschlichsten Sinne wahr gemacht.22 Das strategische Element des Antisemitismus kann man also in dieser Umsetzung von Lüge in die Wirklichkeit wiederfinden. Die Nationalsozialisten griffen auf ganze Menschengruppen wie Material zu, an denen die Aussagen der Ideologie bewiesen werden sollten. Dieses Moment der Ideologie, die Antizipation von Zukünftigem, der Wahn, eine Welt nach eigenen Vorstellungen herstellen
20 Vgl. dazu insbesondere das Kapitel über die Dreyfus - Affäre. In : Arendt, Elemente und Ursprünge, S. 163–206. 21 Diese Bereitschaft der radikalen Neugestaltung von Gesellschaft durchzog die unterschiedlichsten philosophischen und geistesgeschichtlichen Strömungen : Von der Theologie bis zur Anthropologie lassen sich Ideen finden, die, um die Vergänglichkeit historisch gewachsener Ordnungen zu überwinden, neue Kategorien entdeckten, von denen aus eine umfassende Umgestaltung der Welt denkbar erschien : Volk, Nation oder Rasse. Vgl. dazu : Lutz Raphael, Radikales Ordnungsdenken und die Organisation totalitärer Herrschaft : Weltanschauungseliten und Humanwissenschaftler im NS - Regime. In : Geschichte und Gesellschaft, 27 (2001) 1, S. 5–40. 22 Vgl. Schulze Wessel, Ideologie der Sachlichkeit, S. 134–150.
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zu können, ist Arendt ein gewichtiges Kennzeichen moderner Ideologien. Sie richten Menschen zu und mit Hilfe von Terror auch zugrunde. In der Beschreibung Adolf Eichmanns kehrt dieses planende Element wieder – nun in einer nochmals radikalisierten Form. Eichmanns Mentalität geht in einem vollkommen technisierten Zugriff auf die Welt auf, in der nur noch Perfektion, der reibungslose Ablauf und der Erfolg einer Aktion zählt. Den Erfolg seiner Tätigkeit bemisst Eichmann an den immer perfekteren administrativen Operationsweisen. Ein Außerhalb dieser technisierten Welt gibt es für ihn nicht mehr. Sie ist die einzige Realität, auf die Eichmann zugreift. Die Politik der Vernichtung übersetzt Eichmann in Administration. So kann er auch jeden etwaigen Skrupeln und moralischen Zweifeln ausweichen, denn, so Arendt, in der Vernichtung sehe er nichts weiter als „schwindelerregende Organisations und Ver waltungsaufgaben“.23 In dieser ver waltungstechnischen Organisation und Planung liegt für die Prozessbeobachterin das Neue des Verbrechens bzw. der Verbrecher. Der „neue Verbrechertypus“ ist der „Schreibtischtäter par excellence“, ist der „administrative Massenmörder“24, der „Verwaltungsmörder“25. In ihrer Beschreibung von Eichmann findet man die totale inhaltliche Entleerung seiner Weltanschauung bis hin zur sukzessiven Herausbildung einer technisch - rationalen Mentalität, welche sich auf Verfahrensweisen ausrichtet. Ihr ist die Identität der Opfer gleichgültig geworden; in einer durch und durch versachlichten Geisteshaltung endet das Verschwinden des Besonderen des Antisemitismus. Diese Geisteshaltung lässt sich, so meine These, als die zugespitzte Form des totalitären Antisemitismus verstehen. Hier hat Arendt ihre früheren Einsichten nochmals radikalisiert. Wie gezeigt worden ist, unterliegt das Phänomen des modernen Antisemitismus mehreren Transformationen. Arendt löst das Besondere am Antisemitismus auf zugunsten der Bestimmung einer allgemeinen Ideologie, die an ihrem scheinbaren Ende, der Vernichtung der europäischen Juden, zur Realität geworden ist. Die Vernichtung ganzer Menschengruppen ist zum Selbstzweck geworden, es geht nur noch darum, die Bewegung zu organisieren und zu perpetuieren. Bei Eichmann ist der Wille, die Bewegung am Laufen zu halten, übergegangen in einen nochmals entleerten Planungs - und Organisationswillen. Arendts These, dass die Bewegung nur um der Bewegung willen aufrechterhalten werde, kann nochmals verschärft werden : In Eichmann sieht Arendt einen Menschen, bei dem die Verwaltungstätigkeit zu einem Selbstzweck geworden ist. Hinter dieser Tätigkeit muss noch nicht einmal eine Idee oder Überzeugung stehen, damit Menschen zu Massenmördern werden. Eichmanns Banalität zeigt sich hier als radikalisierte Ausformung dessen, was im Antisemitismusbegriff Arendts bereits angelegt gewesen ist. An die Stelle eines in den antisemitischen Klischees und Weltbildern transportierten Ordnungsgedanken, 23 Arendt, Eichmann in Jerusalem, S. 190. 24 Ebd., S. 321. 25 Ebd., S. 324.
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den man umzusetzen gedachte, ist das „bloße Verwalten“26 eines vorgegebenen Prozesses getreten.
IV. Vom Vorurteil bis zur erstarrten Ideologie Trotz dieser Entleerung – und hier werde ich Arendts eigenen Begriffe gegen sie wenden – lässt sich Eichmanns Pseudo - Denken als Ideologie bezeichnen. Arendt selbst hat sich dagegen verwehrt, Eichmann als irgendwie ideologisch verhetzt oder antisemitisch zu bezeichnen. Und trotzdem lassen sich die gewichtigsten Elemente ihrer eigenen Definition ideologischen Deduzierens in ihrer Beschreibung der Mentalität des Angeklagten wiederfinden. Als der moderne Antisemitismus noch an den konkreten Konflikt zwischen Minderheits - und Mehrheitsgesellschaft gebunden war, gilt er Arendt noch als Vourteil, als eine diskriminierende Meinung unter vielen. Diese Vorurteile hätten noch durch Aufklärung oder Veränderung der Situation behoben werden können, sie waren potentiell änderbar und ließen noch anderes neben sich gelten. Aus der Sicht Arendts konnte sich der Antisemitismus in dem Gewirr von Meinungen durchsetzen, da er sich als fähig erwiesen habe, immer mehr Probleme der Gesellschaft in sich aufzunehmen.27 Anhand der europäischen Panbewegungen macht Arendt die Entwicklung des Antisemitismus von einer Meinung bis hin zu einer Weltanschauung fest.28 Als Weltanschauung tritt der Antisemitismus als Erklärungsmuster für alle Probleme der Zeit auf. Er bietet auf alle Fragen eine Antwort und schließt sich damit von anderen Erklärungen ab. Neben ihm hat nichts anderes Bestand. Die totale Herrschaft wiederum transformiert den Antisemitismus nochmals insofern, als er hier zu einer festen und starren Ideologie gerinnt. Der Arendtsche Ideologiebegriff enthält neben dem bereits aufgezeigten Element, Zukünftiges zu antizipieren, zwei weitere Charakteristika, die ebenfalls die Mentalität des sogenannten Deportationsspezialisten prägen : Es ist der in sich stimmige und absolut logische Argumentationsprozess sowie die Emanzipation von Erfahrung, die der Ideologie eigen ist.29 Ideologisches Pseudo - Denken zeichnet sich Arendt zufolge durch ein starres Gedankengebäude aus. Es beruht auf einer fiktiven Prämisse ( dem Naturgesetz), von der alles mit unerschütterbarer Folgerichtigkeit abgeleitet wird. Die gesamte Welt wird unter ein bestimmtes, festgelegtes Kästchenschema gezwungen. Dieses deduzierende Schlussfolgern lässt keine Widersprüche zu, es ist unabänderlich und damit gegen die Wirklichkeit und gegen jede Erfahrung gerichtet. 26 27 28 29
Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, 9. Auf lage München 1997, S. 57. Vgl. Arendt, Elemente und Ursprünge, S. 35. Vgl. ebd., S. 382. Zu Arendts Ideologiebegriff vgl. insbesondere : Hannah Arendt, Ideologie und Terror. In : Offener Horizont : Festschrift für Karl Jaspers. Hg. von Klaus Piper, München 1953, S. 229–254.
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Die Emanzipation von Erfahrung ist das dritte Kernelement des ideologischen Deduzierens, das Arendt beschreibt. Nichts kann dieses in sich geschlossene Denksystem erschüttern. Weder Wirklichkeit noch eigen Erlebtes irritieren das Denken, alles wird unter das feste Denkschema subsumiert. Die Fähigkeit der Menschen, Erfahrungen zu machen und an diesen Erfahrungen ihr Denken neu zu orientieren, ist in der totalitären Ideologie vollkommen zerstört. Am Ende von Arendts Auseinandersetzung mit dem Phänomen des modernen Antisemitismus bleibt von der zunächst mit Ressentiments gegen eine besondere Gruppe durchsetzten Ideologie nichts weiter bestehen, als eine erstarrte Denkform. Die Art des Denkens, die feste, durch nichts zu irritierende Logik des Deduzierens ist nach Arendts Überzeugung für die Anhänger der Bewegung weit gewichtiger geworden als jede inhaltliche Ausrichtung der Ideologie.30 Das Verwaltungs - und Ordnungsdenken Eichmanns weist nun genau diese beiden Kernelemente des ideologischen Deduzierens auf. Denn Eichmanns Welt geht ganz in einer versachlichten Welt auf, die aus Administration besteht. Diese Überreste des Denkens sind ebenso wie die Ideologie resistent gegen jede Art der Erfahrung. Wirklichkeit erscheint einzig als eine verwaltungstechnisch zu ordnende Wirklichkeit. Einen anderen Realitätsbezug kennt Eichmann offenbar nicht mehr. Hannah Arendt geht in ihrem Eichmann - Porträt sogar so weit, eindeutig antisemitische Aussagen nicht mehr als Antisemitismus zu bezeichnen. Eichmanns Notizen zu einem Mitte der fünfziger Jahre geführten Interview mit dem holländischen Journalisten und ehemaligen Mitglied der Waffen - SS Willem Sassen bezeichnet Arendt als „grotesk“, da „jede Zeile dieses Gekritzels seine absolute Unwissenheit über alles offenbart, was nicht unmittelbar technisch oder administrativ mit seiner Arbeit verknüpft war“.31 Auch wenn sich Eichmann hier antisemitischer Klischees bedient, so bezeichnet Arendt diese Aussagen dennoch nicht als antisemitisch, sondern nimmt sie vielmehr als Ausdruck für sein zum Klischee verkommenes Denken insgesamt. Denn in ihren Augen war der Angeklagte „von Haus aus unfähig [...], einen einzigen Satz zu sagen, der kein Klischee war“32. Eichmann Antisemitismus nachzuweisen, so wie es in einigen Neuerscheinungen über den „Deportationsspezialisten“ versucht worden ist,33 würde dann in Arendts Sinne das Ausmaß der Krise, das Ausmaß der Katastrophe, die sich in dem Angeklagten manifestiert, vollkommen verkennen, sie kleiner machen, als sie eigentlich war. Antisemitismus ist begrenzt, die Deformation des Denkens, das Arendt bei Eichmann feststellt, ist potentiell unbegrenzt. Sie umfasst seine ganze Person, ist unendlich erweiterbar und kann sich ständig ändernden Bedingungen aufs Beste anpassen. Das Spezifische an der Aussage, die Arendt in den Notizen zum Sassen - Interview gefunden hat, ist damit nicht das antisemitische Klischee, sondern das Klischee, das heute antisemitisch sein kann und morgen etwas ganz anderes ausdrückt. 30 31 32 33
Vgl. Schulze Wessel, Ideologie der Sachlichkeit, S. 140. Arendt, Eichmann in Jerusalem, S. 83. Ebd., S. 77. Vgl. insbesondere : Cesarani, Adolf Eichmann; Lozowick, Hitlers Bürokraten.
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In dem Porträt des Leiters des sogenannten Judenreferates Adolf Eichmann kann also das sukzessive Verschwinden des Antisemitismus ebenso festgemacht werden, wie ein bereits im Antisemitismus angelegtes Planungs - und Ordnungsdenken, mit dem die Wirklichkeit zugerichtet werden soll. Als Kennzeichen des Ideologiebegriffs Arendts kann man das in sich stimmige Deduzieren und die Emanzipation von Erfahrung finden. Das Deduzieren folgt nun nicht mehr der inhaltlich bereits vagen Prämisse des „Naturgesetzes“, sondern folgt ganz einer verwaltungstechnischen Logik, nach der Menschen zuerst in Ghettos deportiert werden, um sie dann in den sicheren Tod fahren zu lassen. Aus dem antisemitischen Vorurteil, das eines unter vielen ist, das beeinflusst und aufgehoben werden kann, ist in Eichmann in Jerusalem die unerschütterbare, durch nichts zu irritierende „Ideologie der Sachlichkeit“34 geworden. Trotz aller Entleerung braucht jedoch auch dieses reduzierte Denken eine Richtung, etwas, das ihm als Maßstab gereicht. In Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft bestimmt Arendt noch das „Gesetz der Natur“ zum richtungsanweisenden Element der Ideologie. Dieses Gesetz bestimmte die Ordnung der Menschheit, die angeblich auf Rassegrundsätzen aufgebaut war. Dieses Gesetz legte fest, wer zu sterben hatte und wer zu den Auserwählten gehörte, die als höherwertige „Rasse“ weiterleben durften. Das erhebende Gefühl, mit zu der Avantgarde einer großen Bewegung zu gehören, die niemals stillstand und die die Welt grundlegend anders organisieren sollte, zählt Arendt damals noch zu den herausragenden Motivationsquellen der Täter, sich an den Morden zu beteiligen. Als sie jedoch Eichmann sieht, revidiert sie ihre Meinung. So schrieb sie an ihre Freundin Mary McCarthy : „Den Einfluss von Ideologie auf das Individuum habe ich [in Elemente und Ursprünge, d. Verf.] vielleicht überbewertet.“35 Arendt erkennt zwar auch bei Eichmann die Begeisterung, bei einer Bewegung mitmachen zu dürfen, dessen Mitglieder sich als etwas Höheres wähnen. Allerdings sieht sie nicht mehr, dass Eichmann von dem Willen getrieben wird, ein „Naturgesetz“ umsetzen zu wollen. Eher nebenbei – und vielleicht ist ihr die Bedeutung selbst nicht ganz klar gewesen – kommt sie auf den Maßstab von Eichmanns Handlungen zu sprechen, nach dem er sein ganzes Tun ausrichtet : Es ist der „Wille des Führers“. An ihm kann gezeigt werden, wie sehr die mittler weile gängigen Interpretationen des Arendtschen Eichmann - Porträts, sie habe Eichmann als gehorchenden Bürokraten beschrieben, an dem eigentlichen Kerngedanken des Berichts vorbeigehen.
34 Schulze Wessel, Ideologie der Sachlichkeit. 35 Hannah Arendt an Mary McCarthy am 20. 9. 1963. In : Arendt / McCarthy, Im Vertrauen, S. 234.
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V. Der „Wille des Führers“ Es mutet grotesk an, dass Eichmann während des Prozesses in der Lage war, Kants moralphilosophische Regel „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne“ wortwörtlich wiederzugeben. Noch groteskere Züge nimmt diese Ausage allerdings an, wenn er auch noch behauptete, sich ausgerechnet an diese Regel im Nationalsozialismus gehalten zu haben. Kants Idee von einer universellen moralischen Richtschnur bog er in seinem Denken so lange zurecht, bis sie von jeglichen moralischen Implikationen vollkommen entledigt war. Sie sei dann, so Arendt, soweit verkümmert und umformuliert worden, bis sie dem von Hans Frank aufgestellten „kategorischen Imperativ“ des Nationalsozialismus angeglichen gewesen sei : „Handle so, dass der Führer, wenn er von deinem Handeln Kenntnis hätte, dieses Handeln billigen würde.“36 Zurück bleibt das Gerippe, die Grundidee des kategorischen Imperativs : dass also der Mensch im Vollzug seiner Handlung zum Gesetzgeber werde. Eichmanns Gesetz richtete sich am „Führerwillen“ aus, er führte ihn jedoch nicht lediglich stur aus, sondern sah sich selbst als Autor dieses Willens. Das, was Eichmann in Hitler verkörpert glaubt, bekommt für ihn in einem normativen, nicht legalistischem Sinne Gesetzeskraft : Dabei gehorcht er nicht einfach diesem Gesetz, sondern macht es vielmehr zu seinem eigenen und schreibt es in seinen Handlungen immer weiter fort. Der Führerwille wird so zum Geist einer jeden Handlung, einer jeden Verordnung und einer jeden Entscheidung. Das von Arendt beschriebene Verhältnis zwischen Eichmann und Hitler deutet auf eine vollkommene Identifikation des „Deportationsspezialisten“ mit den Ideen und Idealen, die er in der Person Hitler repräsentiert sah. Und genau dies ist der Hintergrund, welcher der „Ideologie der Sachlichkeit“ den Bezugsrahmen gibt, an dem Erfolg oder Misserfolg gemessen werden kann. Es ist der vage und unbestimmt bleibende „Führerwillen“, in dem Eichmanns ganzes verwaltungstechnisches Agieren, sein Planen und Organisieren gründet. Er braucht gar keine Befehle, um zu agieren; Befehle sind einem solchen Verhältnis sinnwidrig. In gewissem Sinne war er sogar sein eigener Befehlsgeber. Er entschied vollkommen selbstständig innerhalb eines bestimmten Rahmens. Arendts Deutung des Verhältnisses von Eichmann zu Hitler fordert die Sicht auf den Nationalsozialismus als ein hierarchisch gegliedertes System heraus. Bereits in Elemente und Ursprünge hat sie die Strukturlosigkeit der totalen Herrschaft betont. Ihr Eichmann - Porträt nimmt diese Sicht auf und führt sie weiter. Eichmann in Jerusalem konterkariert jedes strikt hierarchische Befehl - Gehorsam - Verhältnis. Eichmann antizipierte den Willen, den er Hitler zuschrieb, und machte ihn zu seinem eigenen. Ein internalisierter „Führerwillen“ macht seinen Träger autonomer als es ein von oben gegebener Befehl jemals könnte. Arendts 36 Arendt, Eichmann in Jerusalem, S. 174. Arendt zitiert diese „Neuformulierung des kategorischen Imperativs im Dritten Reich“ aus Hans Frank, Die Technik des Staates, München 1942, 15 f.
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Beschreibung des Verhältnisses von Eichmann zu Adolf Hitler kann die Effektivität des Nationalsozialismus bestens beschreiben. Denn während ein Befehl die Menschen nur von außen erreicht und das Handeln dort ein Ende findet, wo auch der Auftrag endet, erfasst der „Führerwille“ das Individuum von innen, dringt bis tief in die Psyche ein und nimmt von ihr vollständig Besitz. Er ist unendlich, kann sich immer wieder neu definieren und so ständiger Antrieb des Agierenden sein. Was Arendt hier beschreibt ist das Paradox einer Selbstständigkeit innerhalb einer extremen Abhängigkeit. Innerhalb des Führerwillens, der für Eichmann wie ein immer weiter zu schreibendes Gesetz gilt, ist er autonom; er befragt jede seiner Aktionen und Handlungen darauf, ob sie die Zustimmung des „Führers“ erlangen würden. Jede Aktivität von Eichmann erhält erst durch ihn ihren Sinn. An dieser Stelle kann eine weitere Parallele zu Arendts Ideologiebegriff aufgezeigt werden. Denn, wie Arendt bereits über die Vernichtungslager festgestellt hatte, ist die totale Herrschaft einzig innerhalb ihrer selbst zu verstehen. Während „die totale Herrschaft einerseits alle Sinnzusammenhänge zerstört, mit denen wir normaler weise rechnen und in denen wir normaler weise handeln, errichtet sie andererseits eine Art Suprasinn, durch den in absoluter und von uns niemals er warteter Stimmigkeit jede, auch die absurdeste Handlung und Institution ihren ‚Sinn‘ empfängt. Über der Sinnlosigkeit der totalitären Gesellschaft thront der Suprasinn der Ideologie.“37 Und über der sinnlosen Welt Eichmanns thront der „Führerwille“.
VI. Radikalisierter Antisemitismus Als modernen Antisemiten wird man Eichmann, so wie er von Arendt beschrieben worden ist, wohl nicht bezeichnen können. Und dennoch liegt ihr Bericht ganz in der Logik ihres eigenen Zugriffs auf das Phänomen. Die Geschichte des Antisemitismus ist eine Geschichte seiner stetigen Radikalisierung bei gleichzeitiger Auf lösung des Besonderen. Radikaler werden seine allgemeinen Elemente, während seine Spezifik, der Hass auf eine bestimmte Gruppe der Gesellschaft, verschwindet. Diese Entwicklung kann am Verhältnis von Ideologie und Realität festgemacht werden, wie am Verhältnis vom Individuum zur Ideologie; sie zeigt sich an dem sukzessiven Verfall jeden Denk - und Urteilvermögens und, auch wenn es paradox erscheint, an der inhaltlichen Entleerung des Antisemitismus. Sie kann an der Transformation einer vorurteilsbeladenen Meinung hin zu einem starren Denksystem aufgezeigt werden. In Arendts Antisemitismusbegriff scheint alles auf, was die Moderne an Pathologien zu bieten, die spezifisch deutsche Entwicklung an Katastrophen her vorgebracht und die totale Herrschaft ermöglicht hatte : Es ist der Verlust von Erfahrung, der Zusammenbruch des Denkens und des Handelns, es ist die Illusion, eine neue Gesellschafts37 Arendt, Elemente und Ursprünge, S. 699.
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ordnung herstellen zu können, indem über Menschen wie Material verfügt wird, es ist der Wahn, eine „rassisch“ reine, homogene Gemeinschaft schaffen zu können und er verweist auf die Hybris, sich zu „Herrenmenschen“ zu deklarieren und anderen Menschen das Recht auf ihr Leben zu nehmen. Es ist der Bankrott der Urteilsfähigkeit. Antisemitismus meint die Leugnung menschlicher Verschiedenheit, die Normierung des Anderen, den Ausstoß des Anderen aus der Gesellschaft. Die mit dem Antisemitismus beschriebene Auf lösung des Besonderen, der Wahn, alles planen und ordnen zu müssen, das zum Klischee verkommene Denken und mit ihm der zunehmende Verfall des Denkens und der politischen Urteilskraft findet sich in Arendts Porträt des Deportationsspezialisten in zugespitzter Form wieder. Eichmann steht für die „Totalität des moralischen Zusammenbruchs im Herzen Europas in ihrer ganzen furchtbaren Tatsächlichkeit“38. Sowohl in Arendts Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus als auch in der Auseinandersetzung mit dem banalen Täter Adolf Eichmann ist ihre gesamte politische Theorie in ihrer Negation festgehalten. Hier taucht alles in radikal negativer Weise auf, was Arendt zum Kennzeichen des Menschen als freiem Wesen bestimmt. Dabei stehen alle Elemente des Antisemitismus für das Festgelegte, das zu Ende Definierte, für die Starrheit, für die Aussonderung des Anderen und für die Weigerung, aus der Routine auszubrechen. Dagegen eröffnen die grundlegenden Kategorien ihrer politischen Theorien erst das Kontingente. All ihre positiv besetzten Begriffe, mit denen sie das Spezifische des Menschseins beschreibt, sind Anfänge, verweisen auf Unsicheres, auf die Möglichkeiten des Menschen, die nie an ein Ende kommen. So lässt die Tätigkeit des Handelns keine Eindeutigkeit zu, es ist ergebnisoffen und niemals abgeschlossen. Die menschliche Pluralität steht für die unendliche Verschiedenheit der Menschen und der menschlichen Welt. Der Antisemitismus zerstört diese Differenz unter den Menschen, er macht sie gleich, duldet nichts anderes. Ideologie und Terror präparieren Menschen als gäbe es nur noch einen einzigen gigantischen Menschen auf der Erde. Gegen das logische Deduzieren, das die Ideologie auszeichnet, steht die menschliche Fähigkeit zum Urteilen. Dieses Vermögen besteht für Arendt immerzu und an jedem Ort. Es gibt den Menschen die Möglichkeit, sich gegen etwas zu entscheiden, auch wenn die gesamte Umgebung anders denkt und handelt. Es befähigt Menschen, Neues anzufangen, jeder scheinbaren zwangsläufigen Logik zu widerstehen, auch wenn alles aussichtslos erscheint.
38 Hannah Arendt in einem Fernsehgespräch mit Thilo Koch. In : Hannah Arendt, Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werken. Hg. von Ursula Ludz, 2. Auf lage München 1997, S. 37.
V. Kritik der Menschenrechte und die „Idee des Politischen“
Hannah Arendts Kritik der Menschenrechte Werner Becker Es sieht so aus, als verwirkliche sich die Menschheit, unter dem Titel der Menschenrechte, einen lange gehegten Traum : den einer alle Menschen umfassenden Solidarität, die alle nationalen und rassischen Schranken überwindet. Die Verpflichtung, sich zu den Menschenrechten zu bekennen, ist nicht nur für Politiker, sondern auch für Intellektuelle dermaßen erdrückend, dass Zweifel am Menschenrechtskonzept einem den Vorwurf politischer Unkorrektheit einbringen. Umso mehr aber muss erstaunen, dass sich jemand wie Hannah Arendt, bereits als „bedeutendste Denkerin des 20. Jahrhunderts“ eingeschätzt, gegen die Menschenrechte ausgesprochen hat. Nun ist Kritik am Konzept der Menschenrechte nichts Neues. Sie erscheint heute nur in diesem Licht, weil die Menschenrechte noch zu keiner anderen Zeit auf dermaßen hohe Akzeptanz gestoßen sind. Die Kritik reicht vom Vorwurf, wie dem von Carl Schmitt, dass lüge, wer von Menschenrechten spreche, bis zu Einwänden über inhaltliche Unklarheiten des Konzepts. Am schärfsten hingegen wäre eine Kritik der Art, wie Hannah Arendt sie vorbringt : dass es sich beim Konzept der Menschenrechte um eine Aporie bzw. Paradoxie handele. Nimmt man beide Begriffe beim Wort, liefe das auf den Vorwurf hinaus, es handele sich bei der Idee der Menschenrechte um etwas logisch Widersinniges, sei doch jede denkbare Fassung dieser Idee in sich widersprüchlich. Fraglos wäre es fatal für das politische Ideal, wenn es sich derart als widersprüchlich entlarvte. Verbinden doch nicht nur Philosophen höchste Ansprüche universaler Rechtsgeltung damit, sondern weit darüber hinaus auch die meisten Politiker der westlichen Welt. Mein Referat hat zwei Teile : Im ersten Teil behandle ich – referierend und kritisch – Hannah Arendts Hauptthesen über das Paradox der Menschenrechte. Im zweiten Teil begründe ich eine eigene Rechtsfigur, die meines Erachtens den Kern der Menschenrechte bildet und von der ich meine, dass sie einer Intention von Hannah Arendt entspräche. Hannah Arendts Kritik der Menschenrechte, als Aporie oder Paradox, entstammt der Problematik der Staatenlosen und Vertriebenen im 20. Jahrhundert. Ihr Interesse galt jedoch nicht, wie der Begriff der Paradoxie es vermuten ließe, der logischen Struktur des Menschenrechtskonzepts. Ihr ging es vielmehr um die geschichtliche Verwicklung des von ihr als aporetisch bzw. paradox gesehenen Konzepts in die beiden großen politischen Katastrophen des 20. Jahrhun-
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derts : in diejenigen der kollektivistischen Diktaturen der Sowjetunion und Hitler- Deutschlands. Beiden Systemen ist der kollektivistisch - totalitäre, die Menschen in ihrer personalen Singularität negierende Grundzug gemeinsam. Das auf den ersten Blick Verstörende der Arendtschen Einbeziehung des Komplexes der Menschenrechte in Kontext und Geschichte der totalitären Systeme besteht nun darin, dass sie gerade im Menschenrechtskonzept den Charakter des Totalitären vorgebildet sieht. In ihren Augen stellte nämlich die Idee der Menschenrechte, als Kern des politischen Ethos der politischen Aufklärungsphilosophie des 18. Jahrhunderts, einen der Grundzüge totalitären Denkens in der politischen Philosophie der Moderne zur Verfügung. Als rechtsethisches Fundament der ersten neuzeitlichen freiheitlichen Verfassungen, der amerikanischen und der französischen, in die politische Wirklichkeit übersetzt, habe diese Idee jener Entrechtung von Menschen Vorschub geleistet, zu der es in den totalitären Diktaturen später real kam.1 Ihre Kritik betrifft sowohl das klassische Naturrecht, wie es durch Samuel v. Pufendorf und John Locke in das Staats - und Rechtsdenken des neuzeitlichen politischen Liberalismus eingeführt wurde, als auch den vernunftrechtlichen Ansatz von Kant. Der universale Menschheitsbegriff der Menschenrechte sei nämlich ein anthropologisches Abstraktum jenseits historischer und staatlich - politischer Konkretion. Er lasse sich allein als abstrakt - allgemeiner menschheitlicher Kulturbegriff verständlich machen. In ihrer kulturellen Existenzform zerfielen die Menschen jedoch in eine dermaßen große historische Vielfalt gesellschaftlicher und politischer Lebensformen, dass für eine Art letzter Oberbegriff allein jene leere Abstraktion eines „Menschenrechtes“ übrig bliebe. Behandelte man diese Abstraktion hingegen wie ein reales Politikum, werde die Menschheit zu einem „Absolutum“ gemacht, „das ein Unheil werden ( müsse ), wenn es sich innerhalb des politischen Raums Geltung verschaffen will.“2 Der historische Übergang, in dem es zu jener fatalen geschichtlichen Auswirkung der Paradoxie gekommen sei, wurde ihr zufolge jedoch erst durch die „Verquickung“ der Idee der Menschenrechte mit dem Konzept der demokratischen Volkssouveränität in den revolutionären Verfassungen des 18. Jahrhunderts herbeigeführt. „Die Paradoxie, die von Anfang an in dem Begriff der unveräußerlichen Menschenrechte lag, war, dass dieses Recht mit einem ‚Menschen überhaupt‘ rechnete, den es nirgends gab, da ja selbst die Wilden in irgendeiner Form menschlicher Gemeinschaft leben, ja, dass dieses Recht der Natur selbst förmlich zu widersprechen schien, da wir ja Menschen nur in der Form von Männern und Frauen kennen, also der Begriff des Menschen, wenn er politisch brauchbar gefasst sein soll, die Pluralität der Menschen stets in sich einschließen muss. Diese Pluralität konnte nur wieder aufgeholt werden im Sinn der politischen Gegebenheiten des 18. Jahrhunderts, indem man den ‚Menschen überhaupt‘ mit dem Glied eines Volkes identifizierte.“3 1
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Ihre unseren heutigen Intuitionen so offenkundig widersprechende Auffassung bezüglich der Rolle des Menschenrechtskonzepts hat sie in ihren Büchern Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 1986, und in Hannah Arendt, Über die Revolution, München 1963, ausgeführt. Arendt, Über die Revolution, S. 107. Arendt, Elemente und Ursprünge, S. 604.
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Wäre doch die Volkssouveränität „nicht wie die Souveränität der Dynastien im Namen und von Gnaden Gottes proklamiert ( worden ), sondern wiederum im Namen und von Gnaden des Menschen überhaupt. So schien es fast selbstverständlich, dass diese beiden Dinge : Volkssouveränität und Menschenrechte, einander bedingten und sich gegenseitig garantierten.“4 Die durch die Verquickung der Menschenrechte mit der Volkssouveränität bewirkte historisch reale Paradoxie präge nun auf beiden Seiten, auf derjenigen der Menschenrechte wie auf jener der Volkssouveränität, jeweils Widersprüche aus. Auf der Seite der Menschenrechte liege der Widerspruch im Konflikt mit ihrer nationalstaatlichen Besonderung, auf der Seite der nationalen Volkssouveränität im Widerspruch mit dem universalen Anspruch der Menschenrechte. Die fatale Konsequenz der Verquickung stellt sich in Hannah Arendts Worten dann wie folgt dar : „Was diese Verquickung der Menschenrechte mit der im Nationalstaat ver wirklichten Volkssouveränität eigentlich bedeutete, stellte sich erst heraus, als immer mehr Menschen und immer mehr Volksgruppen erschienen, deren elementare Rechte als Menschen wie als Völker im Herzen Europas so wenig gesichert waren, als hätte sie ein widriges Schicksal plötzlich in die Wildnis des afrikanischen Erdteils verschlagen [...] Nun stellte sich plötzlich heraus, dass in dem Augenblick, in dem Menschen sich nicht mehr des Schutzes einer Regierung erfreuen, keine Staatsbürgerrechte mehr genießen, es niemanden gab, der ihnen das Recht garantieren konnte, und keine staatliche oder zwischenstaatliche Autorität bereit war, es zu beschützen.“5
Hannah Arendt schildert beeindruckend und ergreifend die Lage der Staatenlosen und Asylsuchenden, ein Schicksal, das bekanntlich ihr eigenes, als der aus Nazideutschland vertriebenen Jüdin, gewesen ist. „Keine Paradoxie zeitgenössischer Politik ist von einer bittereren Ironie erfüllt als die Diskrepanz wohlmeinender Idealisten, welche beharrlich Rechte als unabdingbare Menschenrechte hinstellen, derer sich nur die Bürger der blühendsten und zivilisiertesten Länder erfreuen, und die Situation der Entrechteten selbst, die sich ebenso beharrlich verschlechtert hat, bis das Internierungslager [...] zur Routinelösung des Aufenthaltsproblems der ‚displaced persons‘ geworden ist.“6 Für Hannah Arendt offenbart jene Paradoxie ihre geschichtslogische Fatalität jedoch nicht nur im Schicksal der Staatenlosen und Vertriebenen. Sie verbindet sie darüber hinaus mit einer historischen Prophezeiung über die Zukunft der auf der Volkssouveränität basierenden Nationalstaaten : „Die Flüchtlinge und Staatenlosen sind [...] der Fluch, der sich an alle neuen, im Bild der Nationalstaaten errichteten Staaten der Erde heftet. Für die neuen Staaten wirkt sich dieser Fluch wie der Keim einer tödlichen Krankheit aus. Denn der Nationalstaat kann nicht existieren, wenn nicht alle seine Bürger vor dem Gesetz gleich sind, und kein Staat kann bestehen, wenn ein Teil seiner Einwohner außerhalb der Gesetze zu stehen kommt und de facto vogelfrei ist.“7 4 5 6 7
Ebd., S. 603. Ebd., S. 605. Ebd., S. 578. Ebd., S. 601.
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Wenn Hannah Arendt auch nicht den großvolumigen Anspruch auf eine gesetzmäßige Rekonstruktion der Weltgeschichte, nach Art der Hegelschen und der Marxschen Geschichtsphilosophie, teilt, ist ihre Theorie einer Zerfallsgeschichte des neuzeitlichen Nationalstaats dennoch nach dem gleichen Modell konstruiert. So wird man die Nähe ihres Begriffs der Paradoxie zu dialektischen Argumentationsmustern, in denen sogenannte „existierende Widersprüche“ die zentrale Rolle spielen, nicht bestreiten können, wobei sie stärker von Marx als von Hegel beeinflusst wurde. Spielt bei ihr das Menschenrechtsparadox strukturell und methodisch doch die gleiche Rolle wie der dialektisch - dynamische Freiheitsbegriff bei Hegel und der dialektische Begriff des Klassengegensatzes bei Marx. Damit wird eben jener Begriff bezeichnet, der die Gesetzmäßigkeit methodisch auf den Punkt bringt, der sich die Entstehung des totalitären Staats aus der Zerfallsgeschichte des Nationalstaats verdanken soll. Dass sie sich der dialektischen Objektivierung dessen bedient, was bei ihr Aporie bzw. Paradoxie heißt, bringt ihr den Vorteil ein, auf diese Art und Weise nur eine einzige Interpretation des Menschenrechtekonzepts berücksichtigen zu brauchen. Zwar ist ihr zuzugestehen, dass sie sich an jenem Verständnis der Menschenrechte ausrichtet, das in der Rechts - und Staatstheorie des 20. Jahrhunderts am stärksten verbreitet war und dies auch heute wohl noch ist. Dennoch ist dieses Verständnis gerade nicht dasjenige, das am Ursprung der Verfassungsgeschichte der freiheitlich - demokratischen Republik stand. Hannah Arendt unterstellt in ihrer Interpretation des Menschenrechtekonzepts nämlich eine rein säkulare Rechtfertigungstheorie. Sie geht davon aus, dass damit zugleich auch das Selbstverständnis der politischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts getroffen werde, auf die das Konzept seiner geschichtlichen Herkunft nach zurückgeht. Nach dieser Deutung sei durch eine ausschließlich säkulare Begründung der Menschenrechte der selbstbewusste Anspruch moderner Subjektivität verwirklicht worden, wonach der Mensch, unter Berufung auf die Vernunft, sich selbst zum Schöpfer der Grundnormen von Staat und Gesellschaft gemacht habe. Kants Begriff der Autonomie lieferte dafür das Stichwort und Hegel hat das im Bild der Welt, die sich damals revolutionär „auf den Kopf stellt“, aufgenommen.8 Diese – etwa auch bei Jürgen Habermas anzutreffende – Deutung der Menschenrechte kann jedoch nicht diejenige Rechtfertigung für sich in Anspruch nehmen, die durch die Verfassungen der Amerikaner und Franzosen realpolitische Bedeutung gewann.9 In Wahrheit nämlich liegt Hannah Arendts 8
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Dementsprechend heißt es bei Hannah Arendt, die Völker hätten sich durch die Errichtung der Menschen von der Vormundschaft aller gesellschaftlichen, religiösen und historischen Autoritäten befreit. Und wörtlich : „dass so das Menschengeschlecht seine Erziehung beendet habe und mündig geworden sei“ ( Arendt, Elemente und Ursprünge, S. 602). Und konkret auf die Menschenrechte bezogen : „Da die Menschenrechte als unabdingbar und unveräußerlich proklamiert wurden, so dass ihre Gültigkeit sich auf kein anderes Gesetz oder Recht berufen konnte, sie vielmehr axiomatisch allen anderen zugrunde gelegt werden sollten, bedurfte es anscheinend auch keiner Autorität, um sie zu etablieren. Der Mensch als solcher war ihre Quelle wie ihr eigentliches Ziel“ ( Arendt, Elemente und Ursprünge, S. 603).
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rein säkular - subjektivistischer Auffassung ein verbreitetes Missverständnis zugrunde : das Missverständnis vom areligiösen Rechtsbegriff der relevanten Aufklärungsphilosophen, jedenfalls derjenigen, die wie Locke, Voltaire, Rousseau und letztlich auch Kant einen realpolitischen, d. h. verfassungs - und staatsrechtlichen Einfluss auf die Formulierungen der amerikanischen und französischen Verfassungen ausübten. Alle jene einflussreichen Vertreter der Aufklärungsphilosophie waren nämlich Anhänger des Deismus, eines unter Intellektuellen des 18. Jahrhunderts weit verbreiteten Gottesbildes, in dem ein Monotheismus aristotelischer oder spinozistischer Abkunft tonangebend war.10 Stellt man jedoch die deistische Version in Rechnung, ist von einer Aporie bzw. Paradoxie der Menschenrechte nichts zu sehen. Das ist auch die Erklärung dafür, warum die Verfassungsväter der Amerikaner und Franzosen, allesamt zu logischem Denken befähigte Intellektuelle, nichts Derartiges zu entdecken vermochten. Handelt es sich bei den Menschenrechten nämlich um göttliches und in diesem Sinne überpositives Recht, kann der Widerspruch zwischen universalem und partikular - nationalstaatlichem Recht gar nicht auftreten, den man seit Hannah Arendt dem Menschenrechtskonzept entnehmen will. Dann befinden sich beide Rechtsarten auf unterschiedlichen logischen Ebenen : das göttliche Recht gilt als überstaatliches Recht, das durch positives nationalstaatliches Recht verwirklicht wird, und der Nationalstaat, der sie als Grundrechte positiviert, erweist sich dadurch als gehorsamer Exekutor göttlicher Rechtsordnung. Wenn man hingegen Menschenrechte in der gleichen Weise säkular, als von Menschen gemacht, versteht wie ihre positiv - rechtliche Ver wirklichung im republikanischen Nationalstaat, dann und nur dann kann man die Aporie bzw. Paradoxie erzeugen, die durch Hannah Arendt die bekannt große Rolle spielt. Nur dann ergibt sich die Paradoxie der Menschenrechte, in der die positiven Rechte nationalstaatlicher Verfassungen in einen Widerspruch mit ihrem universalistischen Geltungsanspruch als überpositive Rechte geraten. Aufzuheben wäre dieser Widerspruch dann nur in einem Weltstaat, der allen Menschen, als Weltbürgern, freiheitliche Grundrechte garantierte. Erst dann befänden sich der universalistisch - semantische Geltungsanspruch und dessen rechtstaatlich sanktionierte realgesellschaftliche Gültigkeit in Übereinstimmung. Dennoch befürwortet Hannah Arendt, sich darin vielen politischen Theoretikern seit Kant anschließend, keineswegs die Aufhebung jener Paradoxie durch ein Plädoyer für den Weltstaat. Vielmehr kritisiert sie die Idee des Weltstaats als die vollends ins Totalitäre expandierende Version des Nationalstaats. So sehr man geneigt sein mag, ihrer Kritik zuzustimmen, so ist dies in ihrem Falle dennoch nicht leicht nachzuvollziehen. Trägt doch gerade sie bekanntlich schwer an der Last der Paradoxie der Menschenrechte. Denn entweder handelt es sich bei dieser Paradoxie um etwas Wider vernünftiges, dann hätte man sinnvoller Weise großes Interesse für jeden Weg zu zeigen, der einem die Paradoxie erspart. Oder man 10 Auch in beiden Erklärungen der Menschen - und Grundrechte, der amerikanischen wie der französischen, findet sich an prominenter Stelle die „invocatio dei“, als Berufung auf deren göttlichem Schöpfer.
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hielte diese Paradoxie, dem originär logischen Sinn des Begriffs entsprechend, für unaufhebbar. Dann gäbe es keinen Grund, über die historischen Folgen, zu denen immerhin der Totalitarismus der Moderne zu rechnen ist, Klage zu führen. Die große Philosophin lässt einen hier jedoch im Stich. Dennoch versuche ich im Schlussteil meines Beitrags, „Hannah Arendt weiterzudenken“. Es verbindet sich mit den Menschenrechten ja noch eine Frage, die von jenen, die, wie Hannah Arendt, die rein säkulare Deutung des Konzepts bevorzugen, als beantwortet vorausgesetzt wird : die Frage nämlich, was den Menschenrechten eigentlich jene Unantastbarkeit verleiht, die in jeder freiheitlichen Verfassung deren fundamentale Bestimmtheit ausmachen soll. Die säkularen Interpreten übersehen nämlich, dass darauf die von ihnen angelehnte religiöse Rechtfertigung die Antwort gibt. Danach gilt die Unantastbarkeit dieser Rechte als Ausdruck ihrer göttlichen Hervorbringung. Zwar bedeutete ein freiheitlich - demokratischer Weltstaat die Vermeidung der Arendtschen Paradoxie. Dennoch hätte auch er jene überpositive Unantastbarkeit der Grundrechte in Anspruch zu nehmen, die er selbst durch positives Verfassungsrecht nicht zu erzeugen vermöchte. Aber welcher Gott käme im Weltmaßstab dafür in Frage, wenn sich selbst im westlichen Verfassungsrahmen die Berufung auf den Gott des Christentums bereits als problematisch erwies. Zur Lösung des Problems präsentiere ich einen Vorschlag, der weder auf den Weltstaat setzt noch auf eine göttliche Instanz. Es handelt sich um eine einfache, nämlich ausschließlich auf Logik basierende Rechtfertigung, bei der eher verwundern kann, dass nicht schon häufiger auf sie aufmerksam gemacht wurde. Ich betrachte meinen Vorschlag darum auch als Beitrag zur antimetaphysischen Entdramatisierung des Problems der Rechtfertigung der Menschenrechte. Es lässt sich nämlich ein Konzept der liberalen individuellen Grundrechte denken, das nicht nur mit der bereits bestehenden Rechtspraxis übereinstimmt, sondern darüber hinaus zwei Vorteile zusammenführen würde : Zum einen trägt es dem Gedanken der Unantastbarkeit jener Rechte Rechnung und verleiht diesen so den Charakter von Grundrechten. Zum anderen handelt es sich allein um positives Verfassungsrecht, der einzigen Form einer Rechtsgeltung, die heutzutage realistisch, das heißt mit Aussicht auf allgemeine Zustimmung, vertretbar ist. Wie sähe diese Alternative aus ? Grundrechte sind bekanntlich Rechte der individuellen Person : persönliche Rechte. Sie kommen zustande, indem staatliche Instanzen, ganz und gar positivrechtlich, dem Einzelnen den staatsbürgerlichen Titel einer individualistisch - einzigartigen Rechtsperson verleihen. Das Besondere dieser Rechtszuweisung besteht darin, dass sie nur einzig und allein an dieses Individuum, entsprechend dessen persönlicher Eigennamenbedeutung, erfolgt. Liegt doch die Bedeutung des Eigennamens gerade darin, jeden von jeder anderen Person definitiv unterscheidbar zu machen. Nach der Übertragung an den personalen Rechteeigentümer darf, der Logik der personalen Individualität gemäß, kein anderer, als allein ihr Inhaber, über diese seine Rechte verfügen. Das derart als persönliches Rechtseigentum verstandene Grundrecht erhält der Bürger so gerade nicht als Gleicher unter Gleichen, son-
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dern ein jeder erhält es, in gleicher Weise, als einzigartige und unverwechselbare Person. Die damit zugleich garantierte Rechtsgleichheit der persönlichen Inhaberrechte bezieht sich sowohl auf Verleihung und Beschränkung ihres Gebrauchs als auch auf deren Aberkennung. Auch das entspricht bereits der Rechtswirklichkeit, wo einem jeden Bürger die personalen, ihm und nur ihm allein eingeräumten Rechte, in unterschiedlichen Lebensaltern und Lebenssituationen durchaus abgestuft und unterschiedlich eingeschränkt, jedoch immer nach dem Gleichheitsprinzip, von Geburt an verliehen werden. In Fällen einer Entmündigung dürfen sie bekanntlich sogar auch wieder entzogen werden. Im Normalbereich jedenfalls hat der Staat, durch Gerichte und Polizei, für die Unantastbarkeit des persönlichen Inhaberrechts eines Jeden zu sorgen. Im Lichte dieser personal - individualistischen Logik lassen sich die persönlichen Grundrechte auch klar gegen die kollektiven Rechte der Bürger abgrenzen. So sind kollektive Rechte politische Rechte, wie etwa das Wahlrecht, das der Einzelne nur gemeinsam mit anderen ausüben kann. Für eine Rechtsauslegung entsprechend der Logik personaler Individualität, wie ich sie vorschlage, sprächen entscheidende Vorteile. Erst so besäßen unsere freiheitlichen Grundrechte wirklich einen konsequent säkularen Charakter, ohne Konzession an eine wie immer auch verborgene innere Bindung an metaphysische oder religiöse Prämissen. Außerdem lässt sich diese Art einer Rechtfertigung sowohl einer jeden nationalstaatlichen als auch einer – ja zumindest logisch nicht auszuschließenden – weltstaatlichen Verfassungsgebung zugrunde legen. Dann wäre allerdings die große Frage zu beantworten, wie es zur Entstehung einer kulturellen Tradition wie der westlichen hat kommen können, der sich die kulturgeschichtlich in der Tat einzigartige individualistische Rechtsfigur der Person verdankt. Mir scheint, dass gerade Hannah Arendt es war, die auf die Rolle personaler Kultur, als Voraussetzung der Rechtsfigur personaler Freiheit hingewiesen hat. In „Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft“ spricht sie nämlich selbst über eine eigene überpositive Rechtsidee, die sich von der des klassisch liberalen Naturrechts Lockescher Prägung in Wesentlichem unterscheidet. Sie postuliert dort ein neues Weltbürgerrecht, „ein Recht, Rechte zu haben“, damit sich der Zustand der Staatenlosigkeit durch die internationale Akzeptierung eines Minimalrechts aufheben lasse. Die Idee eines neuen Fundamentalrechts verdanke sich einerseits, als Produkt der Globalisierung des Politischen, der Geschichte der modernen Welt, wodurch sie eben kein fiktiv - überpositives Naturrecht sei. Andererseits verweise sie zugleich auch auf die Verabschiedung von der bisherigen Geschichte, die in diejenige von Kulturen und Nationen zerfiel.11 Im 11
„Der Mensch des 20. Jahrhunderts hat sich von der Natur genauso emanzipiert wie der Mensch des 18. Jahrhunderts von der Geschichte. Geschichte und Natur sind uns in diesem Sinn gleichermaßen fremd, nämlich in dem Sinne, dass das Wesen des Menschen mit ihren Kategorien nicht mehr zu begreifen ist. Andererseits ist die Menschheit, die für das 18. Jahrhundert, kantisch gesprochen, nicht mehr als eine regulative
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Anschluss trägt sie allerdings selbst bereits alle Einwände vor, die sich gegen eine Verwirklichung ihrer neuen Rechtsidee, jenes „Rechts auf Rechte“, vorbringen lassen. So dass es sich erübrigt, sich mit der Operalisierungsfrage weiter zu befassen. Ich möchte demgegenüber mit einem positiven Deutungsvorschlag enden, einem Vorschlag, der Hannah Arendts „vorstaatliches Weltbürgerrecht“ einen etwas konkreteren Sinn verliehe. Meines Erachtens zielt Arendt, allerdings mehr intuitiv als ausdrücklich, auf die Genese des personalen Bewusstseins in der kulturellen Evolution der Menschheit. Man darf nämlich, ohne allzu tief in die Kulturanthropologie einzusteigen, die Behauptung riskieren, dass sich seit prähistorischen Zeiten in allen Kulturen ein individuelles Bewusstsein personaler Einzigartigkeit herausgebildet hatte. Doch fast alle historischen Kulturen entwickelten geistige Techniken der Abschirmung der personalen Individualität des Menschen von realgesellschaftlicher oder gar politischer Berücksichtigung. Zugegebenermaßen pauschal benenne ich die Religionen als ausschlaggebende Methoden einer Abschirmung des personalen Bewusstseins der Menschen : zum einen, wie etwa im Christentum und im Islam, durch Verlagerung der personalen Anerkennung des Gläubigen ins himmlische Jenseits, oder, wie in ostasiatischen Kulten, durch Anihilierung und letztendliche Auslöschung des einzelmenschlichen Ich. Erst in der europäischen Neuzeit kam die Idee auf, den uralten universalen Sachverhalt des personalen Individualitätsbewussteins mit dem Format einer Rechtsfigur zu versehen und ihm so einen gesellschaftspolitischen, rechtlichen Status zu verleihen. Was zur Folge hatte, dass es seitdem zwischen dem universal - menschheitlichen Charakter des Person - Seins und dem modernen, auf die politische Geschichte Europas eingeschränkten Charakter der Rechtsperson zu unterscheiden gilt. Vielleicht hatte Hannah Arendt den bis heute unaufgelösten Zwiespalt im Hinblick auf die personale Bestimmtheit des Menschen im Sinne : auf der einen Seite darf als Tatbestand angenommen werden, dass sich jeder einzelne Mensch wohl in jeder uns bekannten Kultur als einzigartige Person versteht und definiert; auf der anderen Seite aber ist es eine ebenso unbezweifelbare Tatsache, dass die politische Anerkennung des Menschen als individueller Rechtsperson bisher nur in einem kleinen Ausschnitt der Menschheit, d. h. in liberalen Demokratien westlicher Prägung, erfolgt ist. Womöglich läge in Arendts richtigem Hinweis auf diesen Zwiespalt sogar der kulturanthropologisch zu rechtfertigende Sinn, warum auch wir heute noch immer hartnäckig am Universalismus von individuellen Menschenrechten festhalten, obwohl wir doch wissen, wie kulturrelativ und rechtlich ohnmächtig dieses Postulat ist. Hätte Hannah Arendt das gemeint, wüsste ich nichts dageIdee war, für uns zu einer unausweichlichen Tatsache geworden. Diese neue Situation, in der die Menschheit faktisch die Rolle übernommen hat, die früher der Natur oder der Geschichte zugeschrieben wurde, würde in diesem Zusammenhang besagen, dass das Recht auf Rechte oder das Recht jedes Menschen, zur Menschheit zu gehören, von der Menschheit selbst garantiert werden müsste“ ( Arendt, Elemente und Ursprünge, S. 617).
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gen vorzubringen. Auf die Frage aber, ob und mit welchen Methoden man es erreichen könnte, jedem Menschen auf der Welt den Status der Rechtsperson zu verleihen, weiß ich auch keine Antwort. Damit aber dürfte ich kaum allein dastehen.
Wird Hannah Arendts Werk überschätzt ? Friedrich Pohlmann Bei der Beurteilung eines Werkes bringen sich immer die diversen Kontexte der Zeit, in der sie vorgenommen wird – der „Zeitgeist“ in seinen vielfältigen Erscheinungsformen – zur Geltung, und je bewusster man diese Zeitgebundenheit des Urteilens erkennt und reflektiert, desto größer sind die Chancen für die Begründung von Wertungen mit der Kraft zur Dauer. Dass Schriften Hannah Arendts in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts – in der Hochzeit des „Kalten Krieges“ und der noch nicht vernarbten Erinnerungen an alle jene Schrecken, für deren Ende das Jahr „1945“ steht – anders gelesen wurden als in der „Entspannungszeit“ des Anfangs der achtziger Jahre oder in der Gegenwart, ist evident; und es ist auch zu erwarten, dass im Gedenkjahr zu ihrem hundertsten Geburtstag viele überschwengliche Beiträge erscheinen werden, die zur Kategorie der leichtverderblichen geistigen Ware zu zählen sind, denn Feierjahre berühmt gewordener Künstler oder Denker werden immer auch als willkommene Gelegenheiten zum Erwerb von Prestige durch Partizipation an der Aura des großen Namens genutzt. Ich selbst bin 1983 zum ersten Mal auf Hannah Arendt, auf ihre Totalitarismustheorie, gestoßen, beim Beginn meiner Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus. Damals standen die Prämissen dieser Theorie völlig quer zu den dominierenden Mustern der Deutung des Nationalsozialismus. Die Entspannungsepoche hatte den „Geist von 1968“ so in die Geisteswissenschaften und die publizistische Öffentlichkeit hineingeweht, dass dessen ideologische Fixierungen – der Promarxismus in seinen verschiedenen Schattierungen, der Anti Antikommunismus und die Rede von der „Unvergleichbarkeit“ von Nationalsozialismus und Sowjetkommunismus usw. – nicht Wenigen wie unhinterfragbare wissenschaftliche Wahrheiten erschienen. Wer sich, wie ich, von Hannah Arendts Metaphorik und eindringlicher Denkkraft faszinieren ließ und – angestoßen durch ihre Theorie – beim Blick auf den Nationalsozialismus immer auch ein Auge auf dessen Weltanschauungsfeind, den Sowjetkommunismus, richtete, sah sich sehr schnell in Gegnerschaften und manchmal sogar Anfeindungen ähnlicher Intensität hineinverwickelt wie denen, die sich 1986 auf der damaligen „Gewinnerseite“ des Historikerstreites bündelten, die freilich heute in einem etwas anderen Licht erscheint. Jedenfalls ließ der „Zeitgeist“ eine durchgängig positive Würdigung Hannah Arendts noch gar nicht zu. Ein Eintreten für Hannah Arendts Totalitarismustheorie – überhaupt für totalitarismustheoreti-
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sches Denken – erzeugte immer auch Beziehungen der Gegnerschaft, in denen es wesentlich um die Verteidigung qualitativ voneinander differierender Perspektiven auf die politischen Wirklichkeiten von gestern und heute ging und weniger um sachliche Einzelheiten. Obwohl schon im Laufe der achtziger Jahre in Bezug auf Hannah Arendt ein atmosphärischer Wandel deutlich spürbar wurde, war es doch erst die Zeitenwende von 1989/92 mit ihrem völligen Umbruch des weltpolitischen Terrains – das Ende des Sowjetkommunismus und des europäischen Zeitalters des Totalitarismus –, die eine gänzlich neue, nun auf uneingeschränkt positiven Vorurteilen aufruhende Aufnahmebereitschaft für ihr Werk schuf. Ihrem Namen, gewissermaßen ein dreifach Gutes verkörpernd – Weiblichkeit, jüdische Existenz und Antitotalitarismus – wuchs jetzt mehr und mehr ein Charisma zu, das ihn nicht nur zur Benennung neuer Institute hervorragend geeignet machte, sondern sich auch gut zur Demonstration eigener moralischer Integrität nutzen ließ – auch von Personen, die gestern noch als Laudatoren des Sowjetkommunismus aufgetreten waren. Und es war auch voraussehbar, dass dieses Charisma im deutschen Universitätsbetrieb eine jener typisch - universitären Wellen von „Werkaufarbeitungen“ auslösen würde, in denen sich Rezeptionsarten, Urteile und sogar Schreibstile auf einem Niveau der unteren Mitte einander angleichen und verfestigen und interessierten Anfängern das Selbstdenken erschweren. Es geht heutzutage also nicht mehr um die Verteidigung von Grundperspektiven der Totalitarismustheorie Hannah Arendts gegen Fronten von Weltanschauungsgegnern – die gibt es ja kaum noch; und es erscheint mir auch nicht sehr sinnvoll, das Plädoyer für die Fortführung der immanenten Betrachtung ihrer Philosophie zu verlängern – qualitativ gute immanente Interpretationen gibt es mittlerweile genug. Heute können wir uns einen ganz neuen Blick von außen auf ihr Werk leisten, einen vom Wissens - und Problembestand unserer Zeit bestimmten Blick, der – mit der Intention, den Chor verniedlichenden Lobgesangs zu irritieren – nur auf eine Frage zielt : Was bleibt ? Was aus Hannah Arendts Werk hat überdauernden Wert ? Das liegt übrigens auch – ich merke das nur am Rande an – ganz auf der Linie meiner eigenen Beschäftigung mit diesem Werk. Ich habe 19881 eine erste Deutung ihrer Totalitarismustheorie vorgelegt, diese 19922 erweitert und dann 19983 versucht, die Totalitarismustheorie in den Kontext ihrer gesamten politischen Philosophie so einzubetten, dass deren Einheit erkenntlich wird. Das war eine primär werkimmanente Herangehensweise, in der bestimmte Fragen, wie beispielsweise die nach sachlicher Richtigkeit, bewusst ausgeklammert worden waren. Werkinterpretation habe ich danach nicht mehr betrieben – dazu reichte das Interesse nicht mehr –, aber ich 1 2 3
Friedrich Pohlmann, Politische Herrschaftssysteme der Neuzeit. Absolutismus – Verfassungsstaat – Nationalsozialismus, Opladen 1988, S. 135–162. Friedrich Pohlmann, Ideologie und Terror im Nationalsozialismus, Pfaffenweiler 1992, S. 117–144. Friedrich Pohlmann, Die Einheit der politischen Philosophie Hannah Arendts. In : Achim Siegel ( Hg.), Totalitarismustheorien nach dem Ende des Kommunismus, Köln 1998, S. 201–234.
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habe in diversen Analysen totalitärer Phänomene regelmäßig auf einige Einsichten Hannah Arendts zurückgegriffen, und das waren eben diejenigen, in denen sich für mich – ohne dass ich mir das wirklich klar gemacht hätte – die Essenz ihres Denkens kristallisierte, das, was für mich von ihr geblieben ist. Natürlich können wir bei Werkbeurteilungen bestimmte subjektive Vorgaben nie überschreiten. Was wir schätzen oder nicht schätzen, ist abhängig von unseren eigenen „Denkstilen“, die bestimmte nicht verhandelbare Grundattitüden zur Welt einschließen. Aber man kann sich doch auf einige wesentliche Kriterien verständigen, die derartige Beurteilungen leiten sollten, beispielsweise das Kriterium sachlicher Richtigkeit von Texten, ihre immanente Stringenz, ihre Originalität und ihre „Wahrheit“, wobei der Wahrheitswert auf einer anderen Ebene als der Wert wissenschaftlicher Richtigkeit liegt. „Wahrheit“ lässt sich manchmal auch dem sachlich Falschen zusprechen, beispielsweise dann, wenn es eine tiefe Einsicht in einen anthropologischen Grundsachverhalt freilegt, in eine existentielle Möglichkeit des Menschen. Bevor ich eine an diesen Kriterien orientierte Beurteilung versuche, sollte aber noch ein Sachverhalt herausgehoben werden, der in vielen Interpretationen nicht hinreichend reflektiert wird : die Ungewöhnlichkeit von Hannah Arendts Begriffsbildung. Der Sinngehalt vieler Grundbegriffe ihrer Theorie – beispielsweise ihr Machtbegriff – steht vollkommen quer zur sozial - und politikwissenschaftlichen Tradition, die Begriffe „meinen“ etwas ganz anderes als das üblicher weise damit Gemeinte, und wer diese Differenz ver wischt, verfehlt Hannah Arendts Intentionen und erzeugt Missverständnisse. Um die Differenz zu markieren, wäre es ratsam, viele ihrer Grundbegriffe in Anführungszeichen zu setzen. Natürlich wird man nach dem Sinn ihrer eigensinnigen Verwendungsweise von Begriffen zu fragen haben. Ich werde im Folgenden den Blick auf die drei Themenschwerpunkte richten, die Hannah Arendts Hauptwerke dem Betrachter präsentieren : die existenzphilosophisch orientierte anthropologische Tätigkeitstheorie mit ihrer Unterscheidung von den drei Grundformen der „Vita activa“; die normative Politiktheorie, deren Kern eine höchst ungewöhnliche Gegensatzkonstruktion von Macht und Gewalt ist; und schließlich die Totalitarismustheorie, deren Extrakt im eindringlichen Schlusskapitel der „Elemente und Ursprünge“, dem Kapitel über „Ideologie und Terror“ niedergelegt ist. Noch einmal sei hier wiederholt, was ich in einer früheren Deutung4 ausführlich dargelegt habe : Dass diese drei Grundthemen drei Ebenen des Werks bezeichnen, die wechselseitig aufeinander verweisen. Aus ihren Bezügen lässt sich die Einheit der politischen Philosophie Hannah Arendts entwickeln, die sich in Stichpunkten so umreißen lässt : Hannah Arendts „Idee des Politischen“ liegt eine existenzphilosophisch konzipierte anthropologische Tätigkeitstheorie zugrunde, die „Arbeit“, „Herstellen“ und „Handeln“ voneinander abgrenzt und das „Handeln“ als höchste Tätigkeitsform inerhalb der „Vita activa“ bewertet. Aus dem Begriff des Handelns, dessen Kon4
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zeption im Ausgang von der menschlichen Natalität und Pluralität entworfen wird, sind die Kriterien für die Zentralbegriffe ihrer normativen Politiktheorie – Freiheit, Macht, Revolution – abgeleitet. Ihre am Polisideal orientierte „Idee des Politischen“ ist eine Ausgestaltung ihrer Handlungstheorie. Tatsächlich enthält ihr Handlungsbegriff in nuce ihre gesamte Politiktheorie, die Begriffe der Freiheit, Macht und Revolution sind nur Umschreibungen dessen, was ihr Handlungsbegriff meint. Ihre Totalitarismustheorie schließlich bezeichnet ein Gegenkonstrukt zu ihrer Politiktheorie, bezeichnet das Modell einer Wirklichkeit, die die Radikalnegation ihrer Auffassung vom Wesen der Politik darstellt. „Totalitarismus“ steht für eine Diktaturform, die auf die systematische Vernichtung von Grundmerkmalen der menschlichen Existenz zielt, auf die Vernichtung der Prämissen und Komponenten des „Handelns“. Aus anthropologischen Gründen, so Hannah Arendt, aber könne derartigen Systemen keine Dauer beschieden sein : Die totalitäre Diktatur führt zur Lähmung und zum Niedergang der Gesellschaft, bringt einen systeminhärenten „Keim des Verderbens“ zur Entfaltung. So überwindet sich der Totalitarismus gewissermaßen selbst. Soweit in höchstmöglicher Kürze die Skizze der Ebenen und Bezüge im Werk, das ich nunmehr etwas genauer durchstreifen werde. Beginnen wir mit der Tätigkeitstheorie, den Unterscheidungen zwischen Arbeiten, Herstellen und Handeln. Was Hannah Arendt zeigen will, ist in den Grundzügen klar : Die „Vita activa“ umschließt drei qualitativ unterschiedliche Tätigkeitsformen, das Arbeiten, Herstellen und Handeln, von denen das Handeln als die höchste gewertet wird. Arbeiten, Herstellen und Handeln lassen sich dreifach voneinander unterscheiden, hinsichtlich ihrer anthropologischen Bedeutung, ihrer Struktur und hinsichtlich ihrer Resultate. Die Unterschiede zwischen Arbeiten und Herstellen, auf die ich mich als erstes konzentriere, werden so gefasst : Das Arbeiten, die Tätigkeit des Menschen als animal laborans, ist ein durch das Lebendig - Sein des Menschen gewissermaßen biologisch erzwungenes Tun, das – ohne definitiven Anfang und Ende – nie zur Ruhe kommt und auf die Herstellung von Lebensmitteln, Verbrauchsgütern zielt. Hingegen ist die anthropologische Voraussetzung für das Herstellen – für die Tätigkeitsform des Menschen als homo faber – die „Weltlichkeit“ des Menschen, seine Angewiesenheit auf eine überdauernde Dingwelt, die menschliches Leben stabilisiert. Im Gegensatz zum Arbeiten hat das Herstellen eine eindeutige Mittel - Zweck - Struktur und damit eine klare zeitliche Begrenzung; und seine Resultate sind dauerhafte Artefakte, Vergegenständlichungen menschlichen Wollens, die dem Menschen als ein seine gesellschaftliche Existenz formendes Objektgerippe gegenübertreten. Warum sie diese ungewöhnliche Unterscheidung zwischen Arbeiten und Herstellen trifft, macht Hannah Arendt in ihrer Marx - Kritik deutlich : es geht ihr um den Entwurf einer philosophischen Anthropologie der Praxis von der Seite der Objektwelt her5, im Ausgang von der Beschaffenheit der Praxisresultate und ihrer Funktion für den Menschen. Freilich, so sinnvoll diese Intention ist, so 5
„Konzentriert man sich [...], wie in der Moderne und vor allem in Marx’ Werk, ausschließlich auf die Tätigkeit des Subjekts und lässt die objektiv weltlichen Eigenschaf-
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wenig vermögen Hannah Arendts Überlegungen zu überzeugen. Die Kriterien ihrer Abgrenzung von Arbeiten und Herstellen sind wenig durchdacht, und tatsächlich gelten alle Merkmale, die für sie Charakteristika des „Herstellens“ bezeichnen, genauso für „Arbeit“. Schon die Grundannahme, dass es nur beim „Herstellen“ um überdauernde Artefakte gehe, ist falsch, denn es gibt kaum Arbeitsprozesse, in denen technische Artefakte – sei es als Produktionsmittel oder Produkte – keine Rolle spielten. Jedenfalls führen von Hannah Arendts Unterscheidungen keine tragfähigen Brücken zu einer – vom Artefaktcharakter ihrer Resultate her entworfenen – Anthropologie menschlicher Praxis, und mir ist auch kein ernstzunehmender anthropologischer oder soziologischer Versuch bekannt, der an Hannah Arendt anknüpft. Was sie unter „Herstellen“ versteht, ist tatsächlich eine Variante technischen Handelns, die eine Anthropologie der Praxis unter den Oberbegriff des „Gestaltens“ zu bringen hätte.6 Denn das „Gestalten“ ist diejenige Form menschlicher Praxis, deren Grundcharakteristikum die Artefakterzeugung, die Kreation überdauernder Dingwelten ist. In seiner übergreifenden Bedeutung umschließt „Gestalten“ sowohl technisches Handeln, künstlerisches Gestalten und „Arbeit“. In einer Anthropologie müssten diese Praxisformen begriff lich differenziert werden, und man müsste aufzeigen, welche Strukturmerkmale diese Formen in Abhängigkeit von unterschiedlichen Typen von Gesellschaftssystemen und den schon erreichten Standards der Produktionsmittel annehmen. Dabei aber kann uns Hannah Arendt nicht helfen. Kommen wir nun zum „Handeln“, der „höchsten“ Tätigkeit der „Vita activa“. Dieser Schlüsselbegriff bezeichnet bei Arendt nicht, wie gemeinhin, jedes absichtsvolle menschliche Tun, sondern eine bestimmte Art der Kommunikation oder besser : eines Kommunikationsideals, wie es dem Selbstverständnis der Polis - Demokratie zugrunde lag. Sein Wesensgehalt sei die auf die öffentlich - politische Sphäre bezogene herrschaftsfreie Kommunikation, das auf Angelegenheiten der Polis gerichtete „acting in concern“( Burke )7; und seine anthropologische Grundbedingung die menschliche Pluralität, „die Tatsache, dass nicht ein Mensch, sondern viele Menschen auf der Erde leben“.8 Wichtigste Potenz des Handelns sei die Fähigkeit zum bewusst gestalteten Neuanfang, und genau hierin liege die Verknüpfung des Handelns mit der Natalität, die dessen „ontologische Voraussetzung“ sei : Philosophisch gedacht, sei Handeln, so Hannah Arendt in Anknüpfung an Augustinus, die Antwort des Menschen auf das Geborenwerden, das den Inbegriff des Neubeginns bezeichnet und die Grundbedingung sei-
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ten der produzierten Dinge – ihren Ort, ihre Funktion, ihre Beständigkeit in der Welt – ganz und gar außer acht, so wird die Unterscheidung zwischen Arbeiten und Herstellen in der Tat zu einem bloßen Gradunterschied. Der Unterschied zwischen einem Brot, dessen ‚Lebensdauer‘ in der Welt kaum mehr als einen Tag beträgt, und einem Tisch, der manchmal Generationen von Benutzern überlebt, ist zweifellos viel schlagender als der Unterschied in dem Leben der produzierenden Subjekte, also der Unterschied zwischen einem Bäcker und einem Tischler“ ( Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 1992, S. 86). Vgl. Heinrich Popitz, Wege der Kreativität, Tübingen 2000, S. 3 ff. Vgl. Arendt, Vita activa, S. 208 f. Ebd., S. 14.
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ner Existenz.9 Handelnd, im friedlichen Wettbewerb um das Beste, offenbart sich die Person in ihrer Besonderheit und verortet sich sozial. Aber da das Handeln sich nur über Worte und nicht über Dinge vermittelt und jede Handlung Bestandteil eines offenen, in seinen Wirkungen unüberschaubaren und prinzipiell endlosen Kommunikationszusammenhanges ist, ist – im Gegensatz zum Herstellen – eine geradlinige Ver wirklichung von Handlungsprogrammen grundsätzlich unmöglich10; und da Worte und Taten unbeabsichtigte Folgen zeitigen können und aufgrund der menschlichen Erinnerungs - und Tradierungsfähigkeit den Charakter des Unwiderruf lichen haben, können Handelnde immer auch in vertrackter Weise schuldig werden.11 Von außen betrachtet, wirkt Hannah Arendts Handlungskonzept kaum überzeugend. Unklar ist bereits, ob es ein Ideal, eine regulative Idee oder eine Wirklichkeitsbeschreibung sein soll, aber es als einen anthropologischen Grundsachverhalt zu deuten, verbietet allein schon die Tatsache, dass es nur unter den singulären Umständen der Polis ansatzweise realisiert worden ist und dass ein derartiges Selbstverständnis in vielen historischen Gesellschaftstypen unmöglich hätte entstehen können. Auch Hannah Arendts Verknüpfung von Handeln und Natalität – so anrührend sie sein mag – erscheint mir weder logisch noch philosophisch zwingend, und ich sehe auch keine Möglichkeit, das Handlungskonzept auf die Bedingungen moderner Massendemokratien zu übertragen. Kurz : Neue Erkenntnisse über die gesellschaftliche Existenz des Menschen verschafft uns Hannah Arendts „Handeln“, so weit ich sehe, nicht, und man wird auch etwas polemisch nach der Evidenz ihrer Bewertungsmaßstäbe fragen dürfen. Für mich jedenfalls hat vieles, was „hergestellt“ worden ist – manche künstlerischen Artefakte beispielsweise – einen ungleich höheren Wert als die herrschaftsfreien Verhandlungen auf dem Marktplatz von Athen, selbst wenn aus ihnen „großes Neues“ hervorgegangen sein mag. Gehen wir nun zu Hannah Arendts Politiktheorie über. Sie ist, das war bereits angesprochen worden, eine im Rückbezug auf die griechische Antike und das Selbstverständnis der Polis - Demokratie entworfene normative Lehre vom Politischen, die tatsächlich nur eine fortgeschriebene und konkretisierte Ausformung ihrer Handlungstheorie darstellt. An vier Grundelemente der in der Polis – einem der „wenigen großen Glücksfälle der Geschichte“ – entwickelten „Idee des Politischen“12 knüpft Hannah Arendt an : an das hier erstmals formulierte neue Könnensbewusstsein des Menschen, das Wissen um die Veränderbarkeit vorgegebener politischer Strukturen; an den Gedanken der direkten 9 Ebd., S. 166. 10 „Alles Handeln fällt in ein Netz von Beziehungen, in welchen das von den einzelnen Intendierte sich sofort verwandelt und als eindeutig feststehendes Ziel, als Programm etwa, gerade nicht durchsetzen kann“ ( Hannah Arendt, Kultur und Politik. In : Merkur, 13 [1958], S. 1122–1145, hier 1138). 11 Vgl. Arendt, Vita activa, S. 231 ff. 12 Vgl. Christian Meier, Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, Frankfurt a. M. 1980, S. 13 ff.
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Demokratie und die Idee der Gewaltlosigkeit von Politik; und an die Eingrenzung politischen Handelns auf einen von der Privatsphäre strikt getrennten öffentlichen, genuin politischen Raum. Strukturierende Basis ihrer Politiktheorie sind der Pluralitätsbegriff und die Idee des gemeinsamen konsensbestimmten Handelns, und man kann sehr wohl behaupten, dass ihr eine von Aristoteles beeinflusste Konsensusanthropologie zugrunde liegt, als deren exaktes Gegenbild man die Konfliktanthropologie von Hobbes auffassen kann. Während Hobbes einseitig die Tötungsmacht des Menschen und die extremste Form des Konflikts – den Bürgerkrieg – zum anthropologischen Bezugspunkt seiner Staatsphilosophie macht, betont Hannah Arendts Theorie einseitig die Möglichkeit gewaltfreien Miteinanders, und deswegen geht es bei ihr ganz wesentlich um die Bestimmung der Bedingungen, die ein Maximum von Freiheit durch und in der Politik ermöglichen. Diese Einseitigkeit aber, das sei schon jetzt herausgehoben, ist auch der Hauptgrund für die Schwächen ihrer Konzeption, für ihren wirklichkeitsfremd - romantischen Charakter. Nach meiner Auffassung sollte jede politische Philosophie die Frage nach den Voraussetzungen von Ordnung und Frieden an den Anfang stellen und erst an zweiter Stelle das Freiheitsproblem reflektieren, denn Freiheit ohne sozialen Ordnungszusammenhang war historisch immer die Freiheit zur Gewalt. Bekanntlich entspricht diese Reihenfolge auch ganz der Problemgeschichte der neuzeitlichen politischen Philosophie und der Realgeschichte des Staates : Erst nach den Konzeptionen von Bodin und Hobbes, denen die traumatischen Erfahrungen der konfessionellen Bürgerkriege zugrunde lagen, trat bei Montesqieu, Locke oder Kant die Frage nach Demokratie und Freiheit in den Vordergrund. Und wer die Frage nach den Bedingungen von Ordnung und Frieden stellt, wird unweigerlich immer mit jenem Phänomen konfrontiert werden, das Heinrich Popitz als „Circulus vitiosus der Gewalt - Bewältigung“ bezeichnet hat : Dass soziale Ordnungen der Gewalt bedürfen, um Gewalt einzudämmen13, dass also die Vorstellung gewaltfreier sozialer Ordnungen nichts weiter ist als ein frommer Wunsch. Zwar kann man, wie die normative Politiktheorie Hannah Arendts, die Reflexion der Voraussetzungen von Ordnung und Frieden an den Rand schieben und die Frage nach der Freiheit in den Vordergrund rücken, aber dann entsteht sehr schnell die Gefahr von idealistischen Überzeichnungen. Natürlich ist mir sympathisch, was Arendt unter Freiheit versteht : Freiheit als ein soziales Phänomen, eine Erfahrung im politischen Zusammenhandeln in der öffentlichen Sphäre; als ein Phänomen, das das „Neu - Beginnen - Können“, die spontane menschliche Initiative, umschließe und deshalb auch im Widerspruch zum Determinismus geschichtsphilosophischen Denkens stehe, welches an der Kategorie des „Herstellens“ orientiert sei14; ein Phänomen, das die Abwesenheit von Herrschaft voraussetze und sich wesentlich als politische Teilhabe verwirkliche, in der Pluralität gleichberechtigter Meinungen in der öffentlichen Diskussion. Revolutio13 Vgl. Heinrich Popitz, Phänomene der Macht, Tübingen 1992, S. 63 f. 14 Vgl. Hannah Arendt, Fragwürdige Traditionsbestände im politischen Denken der Gegenwart. Vier Essays, Frankfurt a. M. 1957, S. 115.
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nen sind für Hannah Arendt Manifestationen von Freiheit im Sinne des Neu Beginnen - Könnens auf geschichtlicher Ebene, die in Formen der unmittelbaren Demokratie einmünden sollten. Sie verlören ihren genuin politischen Charakter durch den Gebrauch von Gewalt und ihre Verquickung mit ökonomischen Forderungen, so ihr normativer Revolutionsbegriff, der als „unpolitisch“ ausklammert, was Revolutionen normalerweise historisch bezeichnete. Wie gesagt, eine von einem derartigen Freiheitsbegriff abgeleitete „Idee des Politischen“ ist sympathisch, aber auch romantisch, denn sie reflektiert nicht die Bedingungen ihrer Verwirklichung. Ihr liegt ein Begriff politischen Handelns zugrunde, der an der Interaktion unter Anwesenden orientiert ist, also an den überschaubaren Verhältnissen der Polis, die sich fundamental von den durch die Massenmedien bestimmten Verhältnissen moderner Massendemokratien unterscheiden. Und selbst bezüglich der Polis bleibt bei Hannah Arendt unerwähnt, dass die Freiheit ihrer Vollbürger auf der Beherrschung ihrer Mitglieder ohne Bürgerstatus – der Frauen und Sklaven – beruhte. Der idealistisch - wirklichkeitsfremde Charakter von Hannah Arendts „Idee des Politischen“ prägt auch ihre Gegensatzkonstruktion von Macht und Gewalt und bringt sich dort gewissermaßen auf den Begriff. Zunächst sei hervorgehoben, dass sich ihr Machtbegriff vollkommen von allen üblichen Machtbegriffen unterscheidet, denn er fasst Macht nicht als asymmetrisches und freiheitsbeschränkendes, sondern als ein freiheitsstiftendes Verhältnis. „Macht“ meint bei ihr im Wesentlichen das, was der Handlungsbegriff bezeichnen soll – das in den Konsens mündende Miteinander gleichberechtigter Akteure in der Öffentlichkeit – , er bezeichnet also das Gegenteil von „Herrschaft“ und nicht, wie beispielsweise bei Heinrich Popitz, deren Oberbegriff.15 Popitz, um nur knapp eine der differenziertesten Machtkonzeptionen anzusprechen, knüpft an Webers Grunddefinition an – soziale Macht als Chance, „innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen“ –, fächert dann den Machtbegriff zu vier „anthropologischen Grundformen“ auf ( Aktionsmacht, instrumentelle, autoritative und datensetzende Macht )16 und bestimmt „Herrschaft“ als eine „verdichtete“, nämlich „positionalisierte“ Machtbeziehung. Gewalt wird dabei als ein Kernelement von Aktionsmacht beschrieben und die Verfügung über Gewaltpotentiale als eine der wichtigsten Voraussetzungen für dauerhafte instrumentelle Macht. Jedenfalls ist fast allen sozialwissenschaftlichen Machtbegriffen gemeinsam, dass Macht mit Gewalt - , Zwangs - oder Drohungssituationen in Zusammenhang gebracht wird und ein Verhältnis der Über - und Unterordnung bezeichnet. Genau gegenteilig ist Hannah Arendts Begriff : „Macht“, das ist bei ihr ein Synonym für kommunikative Verständigung im öffentlichen Handlungsraum, für Zustimmung, Legitimierung – so die wichtigsten Facetten des Begriffs – also für Phänomene des Miteinander, die strikt vom Gegeneinander von Zwangs - , Drohungs - und Gewaltverhältnissen abge15 Vgl. Popitz, Phänomene der Macht, S. 233 ff. 16 Vgl. ebd., S. 11 ff.
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grenzt werden. Ihr Machtbegriff schließt zwar keine Verhältnisse der Über - und Unterordnung aus – wenn diese auf Zustimmung, einer Ermächtigung der Gehorchenden beruhen –, aber er impliziert ein Verständnis von Gewalt als eines Gegenphänomens zur Macht, weil Drohung und Gewalt üblicher weise durch Nichtzustimmung ausgelöst werden, durch Prozesse der Entmächtigung. Der Gegensatz von Macht und Gewalt, so Hannah Arendt, zeige sich am deutlichsten in Revolutionen. Wenn sich in einer Revolution der Zustimmungsverlust auch in den Zwangsapparaturen des Staates, der Polizei und Armee, ausbreitet, wenn auch „dort Befehlen nicht mehr gehorcht wird, sind Gewaltmittel zwecklos [...] Jetzt stellt sich heraus, dass alles von der Macht abhängt, die hinter der Gewalt steht. Der plötzliche dramatische Machtzusammenbruch, wie er für Revolutionen charakteristisch ist, zeigt, wie sehr der sogenannte Gehorsam des Staatsbürgers [...] eine Sache der öffentlichen Meinung ist, nämlich der Manifestation von positiver Unterstützung und allgemeiner Zustimmung“.17 Das sind zweifellos richtige und wichtige Beobachtungen, die aber trotzdem kaum diesen ungewöhnlichen Machtbegriff rechtfertigen. Es handelt sich hier um Phänomene, die spätestens seit Max Weber durch Bezug auf die Legitimitätskategorie analysiert werden, und tatsächlich ist das, was Hannah Arendt bezüglich der Entstehungsvoraussetzungen von Revolutionen analysiert – der Unterstützungs- und Zustimmungsverlust – auch treffender als Erosion des Glaubens an die Legitimität der politischen Machtverhältnisse („Macht“ dabei im traditionellen Sinn verstanden ) deutbar als mittels eines Begriffs von Macht, der Freiwilligkeit und Gleichberechtigung zu seinen Grundelementen hat. Es ist ein großer Fehler, Zustimmung zu politischen Machtverhältnissen nur auf den kommunikativen Konsens zurückzuführen, es gibt Legitimierungen ganz unterschiedlicher Art, und historisch war der Gegenfall zu Hannah Arendts Auffassung – die aus der schieren Über wältigung entspringende Legitimierung – viel typischer. Nicht selten ist die begeisterte Zustimmung zu absoluten Herrschern ganz wesentlich aus der Glorifizierung ihres Gewalthandelns hervorgewachsen, und sogar die nackte Todesangst kann zu einer Quelle der Legitimierung von Herrschaft werden. Heinrich Popitz schreibt : „Aus Todesangst kann Ehrfurcht, demütige Ehrfurcht vor dem Tötenden entstehen, eine Anerkennung der unermesslichen Überlegenheit des Siegers, der den Kampf um Leben und Tod gewonnen hat und immer gewinnen wird. Es ist wesentlich auch diese Ehrfurcht vor dem Tötenden [...], die zu der Vorstellung führt, es gebe ein schlechthin höheres menschliches Sein, eine gottähnliche Überlegenheit von Menschen über Menschen“.18 Ich fasse zusammen : Hannah Arendts „Idee des Politischen“ konkretisiert sich in ihrem Machtbegriff, dem dieselben romantischen Prämissen einer Konsensusanthropologie zugrunde liegen wie ihrem Handlungsbegriff, aus dem er abgeleitet ist. Dass soziale Ordnungen normative Ordnungen sind, die trotz 17 Hannah Arendt, Macht und Gewalt, München 1990, S. 50. 18 Popitz, Phänomene, S. 54 f.
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aller kommunikativen Verständigung immer – aus anthropologischen Gründen immer – auch den Phänomenen der Abweichung, des Normbruchs und der Gewalt konfrontiert sind, auf die sie mit Sanktions - und Drohpotentialen reagieren müssen, wird darin nicht bedacht. Es ist genau diese Einseitigkeit und zugleich die einseitige Orientierung ihres Politikbegriffs an der griechischen Polis, einer auf der Interaktion unter Anwesenden beruhenden Kleingruppen - Demokratie, der Hannah Arendts Konzeption zugleich sympathisch und wirklichkeitsfremd erscheinen lässt. Ich komme zur Totalitarismustheorie. Hannah Arendts Theorie unterscheidet sich in mehrerer Hinsicht von den meisten anderen damals entworfenen Arbeiten zum Totalitarismusphänomen. Zwar wird auch bei ihr, wie ähnlich bei Carl J. Friedrich, die totalitäre Diktatur als eine „Erfindung“ des zwanzigsten Jahrhunderts gedeutet und der Begriff von Strukturähnlichkeiten des Sowjetkommunismus und Nationalsozialismus abgeleitet, aber Arendt geht doch bei der Analyse von Entstehungsvoraussetzungen des Phänomens viel weiter und umfassender in die Geschichte der europäischen Neuzeit zurück. Auch der idealtypische Charakter ihres Modells und die starke Betonung des dynamisch prozessualen Charakters des totalitären Herrschaftssystems bezeichnen Unterschiede, aber das Wichtigste ist doch, dass ihre Theorie fachwissenschaftliche Grenzen bewusst übersteigt und letztlich auf einen philosophisch - anthropologischen Bestimmungsversuch des Totalitarismus abzielt.19 Auf dieser Ebene ist ihr Totalitarismusmodell mit ihrer normativen „Idee des Politischen“ verknüpft, und die totalitäre Diktatur wird als eine Wirklichkeit entworfen, die deren radikales Gegenbild bezeichnet. Viele ungewöhnliche Aussagen werden nur durch die Erkenntnis dieser Bezüge verständlich, zum Beispiel diejenige, dass die totalitäre Diktatur, die doch normalerweise als eine radikal gesteigerte Form eines Machtsystems beschrieben wird, die „Macht vernichtet“ oder ein „antipolitisches“ Phänomen sei. In ihr verkörpert sich für Hannah Arendt der Gegensatz von Macht und Gewalt in seiner extremsten Ausprägung, weil sie durch systematischen Terror alle Macht - und Freiheitsmöglichkeiten – also menschliches Handeln selbst – zu zerstören versucht. Da das Handeln für Arendt aber einen anthropologischen Grundsachverhalt bezeichnet, ein Wesensmerkmal der menschlichen Existenz, kann – nach den Prämissen ihrer Theorie – der totalitären Diktatur keine Dauer beschieden sein. Der systematische Destruktionsversuch menschlichen Handelns führt langfristig zur Selbstdestruktion des Systems, die totalitäre Diktatur produziert die Bedingungen ihrer eigenen Überwindung, einen systeminhärenten Kern ihres Verderbens.20 So weit die wichtigsten Bezüge in Umrissen. Gehen wir jetzt mehr in die Details. Zunächst sei angemerkt, dass ihre Ausführungen über die „Ursprünge“ der totalitären Diktatur, die vor allem im Antisemitismus, Imperialismus und 19 Ausführliche Gesamtcharakterisierung in : Pohlmann, Einheit, S. 222 ff. 20 Vgl. Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 1993, S. 730.
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einem angeblichen „Niedergang des Nationalstaates und dem anarchischen Aufstieg der modernen Massengesellschaft“ liegen sollen, zum größten Teil unausgearbeitet, widersprüchlich und sachlich falsch sind. Auch Thesen wie die etwas sentimental klingende über die Verlassenheitserfahrung des modernen Menschen als eine der Bedingungen für die Anziehungskraft der totalitären Bewegungen oder über den sogenannten „Mob“ als ihre wichtigste Trägergruppe sind wenig konkret und für die Erkenntnis der realen Entstehungsvoraussetzungen nicht von Nutzen. Tatsächlich lagen die „Ursprünge“ beider Totalitarismen in der „Urkatastrophe“ des zwanzigsten Jahrhunderts, dem ersten Weltkrieg, dessen konstitutive Bedeutung für die Entstehung des Phänomens aber weder von Hannah Arendt noch den anderen Vertretern der „klassischen“ Totalitarismustheorie erkannt wird. Auch viele Thesen über die Elemente und Struktur der totalitären Systeme sind entweder einseitig – weil nur für eines der beiden zutreffend – oder schlicht falsch wie zum Beispiel die Behauptung, totalitäre Führer seien keine charismatischen Führer im Sinne Max Webers, denn Hitler verkörperte gewissermaßen dessen Idealtypus. Es ist aber wenig sinnvoll, an dieser Stelle die Liste sachlicher Unstimmigkeiten im Detail zu verlängern. Ich will stattdessen den Blick auf drei konzeptionelle Mängel lenken, die sich nicht nur in ihrer Totalitarismustheorie, sondern genauso bei C. J. Friedrich finden und grundlegende Schwächen des „klassischen“ Totalitarismusbegriffs bezeichnen. Erstens: Der klassische Theorietypus zielte vor allem auf den Aufweis der historischen Neuartigkeit der totalitären Diktaturen des Sowjetkommunismus und Nationalsozialismus, in ihm wird aber nirgends systematisch deren doppeltes Verhältnis zum Krieg reflektiert. Sowohl die kommunistische als auch die nationalsozialistische Bewegung – wie alle Formen des Faschismus – sind aus dem Ersten Weltkrieg her vorgewachsen, und beide entwickelten Ideologien, die nicht nur den Terror im Inneren, den allein die traditionellen Theorien thematisieren, sondern auch den Krieg – und zwar einen neuen Typus von Krieg – zu einem integralen Element ihrer selbst erhoben. Zweitens muss dem lediglich strukturvergleichend angelegten Totalitarismusmodell eine interaktionstheoretische Dimension eingearbeitet werden, die aufzeigt, dass die Analyse der realen Wechselwirkungen zwischen den beiden Prototypen des Totalitarismus eine der Grundvoraussetzungen für die Entschlüsselung ihres ideologischen Selbstverständnisses und ihrer Praxis ist. Der Nationalsozialismus und der Sowjetkommunismus haben sich wesentlich über Feinbilder vom jeweils anderen – als Gegenbilder ihrer Selbstbilder – definiert. Der Totalitarismusbegriff taugt nur dann zum Zentralbegriff einer politischen Theorie des zwanzigsten Jahrhunderts, wenn man nicht nur – wie die klassischen Theorien – die wechselseitige Gegnerschaft zwischen den Totalitarismen und der Demokratie, sondern zugleich und vor allem die Feindschaft zwischen ihnen selbst ins Zentrum der Analyse rückt. Das ist der Kern von Ernst Noltes historisch - genetischer Totalitarismustheorie. Und die dritte Weiterentwicklung des Modells betrifft seine Verknüpfung mit dem Konzept der politischen Religionen, wie es etwa von Jakob Talmon entwickelt worden ist. Grunddimensionen des leninistisch - stalinisti-
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schen Bolschewismus und des Nationalsozialismus haben eine quasi - religiöse Struktur, sie vereinigen Elemente der Moderne mit sehr alten, aber ins Innerweltliche umgebogenen religiösen Heilsbedürfnissen. In diesem Sinn lässt sich Lenins Ideologie als „Welterlösungslehre“ charakterisieren und diejenige Hitlers – dabei an Ernst Nolte anknüpfend – als „Weltheilungslehre“. Unbeeinflusst von diesen Erweiterungen aber bleibt der Kern von Hannah Arendts Theorie : Das Verhältnis von Ideologie und Massenterror. In diesem Verhältnis kristallisiert sich tatsächlich die historische Neuartigkeit dieser Diktaturen und ihre Ähnlichkeit am eindringlichsten, und wer es ins Zentrum stellt, kann auch die Konzentrationslagersysteme, die als monströses Netz auf dem Territorium beider ausgespannt waren, als Essenz der totalitären Diktatur deuten, als komprimierten Ausdruck ihres eigentlichen Wesens.21 Zugleich wird dadurch der Gebrauch des Totalitarismusbegriffs auf bestimmte Phasen der Geschichte dieser Diktaturen begrenzt, auf die Phasen des Massenterrors. Was lehrt Hannah Arendt über totalitäre Ideologie und Terror ? Zunächst sei ihre eindringliche Analyse der neuartigen Merkmalsstruktur der totalitären Ideologie angesprochen, die sich folgendermaßen systematisieren lässt. Die sowjetkommunistische und nationalsozialistische Ideologie waren weit mehr als eine jener Rechtfertigungslegenden, die sich in allen Herrschaftssystemen entwickeln. Drei ihrer Grundmerkmale sind neu und bezeichnen ihr spezifisch totalitäres Gepräge : Erstens ihr pseudowissenschaftlich untermauerter dogmatischer Anspruch auf Totalerklärung der Wirklichkeit; zweitens ihr Charakter als Aktionsprogramm zur gewalttätigen Verwirklichung eines diesseitigen „Heilsziels“ für die Eigengruppe, das – so die Konstruktion – einem „Geschichtsgesetz“ und ihrem „eigentlichen Willen“ entspreche; und drittens ihr unüberbrückbarer Freund - Feind - Gegensatz, ihre manichäische Zweiteilung der Welt in Gut und Böse, die sich von früheren Freund - Feind - Lehren dadurch unterscheidet, dass hier die Feindgruppen primär als Träger objektiv feindlicher Eigenschaftsbündel definiert werden, deren Tun weniger Ergebnis eines bösen Wollens, sondern ihres – sozialen oder biologischen „Seins“ sei, so dass ihre gewaltsame Ausschaltung gewissermaßen als ein Akt der „objektiven Notwendigkeit“ für die Verwirklichung des geschichtlich vorgegebenen Heilsziels der Eigengruppe postuliert werden kann.22 Diese Gedanken verweisen bereits auf die Besonderheiten totalitären Terrors als einer historisch neuartigen Form der Gewalt. Terror ist weit mehr als unmenschliche Behandlung von Normbrechern oder gewalttätige Ausschaltung von Regimefeinden. Terror ist zum einen Gewaltwillkür, eine vom Tun, Lassen und sogar den Gesinnungen der Beherrschten unabhängige Gewaltpraxis „von oben“, die natürlich immer die absolute Gewalt, das Töten, einschließt; aber der spezifisch totalitäre Terror umfasst noch mehr : die Gewalt gegen den „objektiven“ Feind, also eine spezifische Kategorie von „Schuldigen“, gegen Menschengruppen, deren Feindstatus aus der Ideologie abgeleitet wor21 Vgl. ebd., S. 697. 22 Vgl. ebd., S. 654.
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den ist. Richtig hat Hannah Arendt erkannt, dass totalitärer Herrschaft eine Tendenz zur Ausweitung des Terrors inhärent ist23, dass er also einem sich vergrößernden, immer neue Kategorien von Opfern in seinen Schlund hineinziehenden Strudel ähnelt – was sich vor allem an den Terrorwellen in der Sowjetunion illustrieren lässt; und sie hat auch treffend die gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen der Terrorherrschaft beschrieben : Dass mit der Ausweitung des Terrors die Bereiche künstlich hergestellter Anomie in der Gesellschaft wachsen; dass also totalitäre Systeme keine „total“ durchnormierten Herrschaftsordnungen sind, sondern Destruktionsmaschinerien normativer Ordnungen und als solche Grundbedingungen menschlicher Vergesellschaftung – die Kalkulierbarkeit des Handelns anderer und des Vertrauens in Personen der unmittelbaren Umgebung – aushöhlen. Über die Furcht hinaus wird also eine diffuse Angst eines jeden vor jedem erzeugt, die Menschen werden atomisiert, es entsteht gewissermaßen eine a - gesellschaftliche Gesellschaft, wie besonders weitgehend in der „Großen Säuberung“ von 1937/38 in der Sowjetunion. Charakteristisch ist aber keineswegs die Atomisierung allein. Denn diese stellt gewissermaßen nur die Basis dar, auf der die Menschen zu neuen, künstlichen, auf den Despoten ausgerichteten Einheiten zusammengeschweißt werden, zu einem überdimensionalen, gigantischen Menschenwesen, dessen sinnfälligste Ver wirklichung der Gleichschritt der Menschenkolonnen bei den Massenkundgebungen des Regimes ist.24 Durch beides – die Atomisierung und die künstliche Einheit – vernichtet die totalitär Diktatur die menschliche Pluralität und Spontaneität, also dasjenige, was für Hannah Arendt Grundbestandteile des Handelns und der Macht sind, auf denen ihre „Idee des Politischen“ errichtet ist. Diese Vernichtung wird in den Schreckensstätten dieser Systeme in ihr Extrem getrieben, und deshalb, so Hannah Arendt, sind die Lager „richtunggebendes Gesellschaftsideal“ der totalitären Diktatur und die Lagerinsassen das außerhalb der Lager immer nur unvollkommen ver wirklichbare Modell des „Bürgers eines totalitären Staates“. Dass in den Lagern Grundmerkmale des Gesamtsystems komprimiert und gesteigert sind, gilt nicht nur bezüglich der Erfahrung der Verlassenheit, die für Hannah Arendt die zentrale Erfahrung in der totalitären Diktatur ist, sondern auch bezüglich der Tatsache, dass totalitäre Systeme das Prinzip der arbeitsteiligen Komplizität und Täterschaft in die Gruppe der Opfer hinein verlängern, also auch die Opfer oftmals in vertrackter Weise schuldig werden lassen.25 Bestes Beispiel dafür waren in den Lagern die Täter - Opfer aus dem Kreis der Häftlingselite. Es ist ein großes Verdienst Hannah Arendts, auf23 Vgl. ebd., S. 709 f. 24 „Dem Terror gelingt es, Menschen so zu organisieren, als gäbe es sie gar nicht im Plural, als gäbe es nur einen gigantischen Menschen auf der Erde, dessen Bewegungen in den Marsch eines automatisch notwendigen Natur - oder Geschichtsprozesses mit absoluter Sicherheit und Berechenbarkeit einfallen“ (ebd., S. 714). 25 „In der Schaffung von Lebensbedingungen, in denen Gewissen schlechthin nicht mehr ausreicht und das Gute unter keinen Umständen mehr getan werden kann, wird die bewusste Komplizität aller Menschen an den Verbrechen totalitärer Regime auch auf das Opfer ausgedehnt, und damit erst wirklich ‚total‘ gemacht“ (ebd., S. 662).
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gezeigt zu haben, dass viele Situationen und Strukturen in der totalitären Diktatur keine Wahl zwischen Gut und Böse zulassen, sondern zu tragischen Handlungsverstrickungen führen. Das sollte jeder wissen, der aus der Sicherheit der Freiheit Handeln in diesen Diktaturen zu bewerten versucht. Ich wiederhole nun meine Ausgangsfrage : Wird Hannah Arendts Werk überschätzt ? Was bleibt ? Zumindest dürfte klar geworden sein, was für mich bleibt: Eine Totalitarismustheorie, die trotz vieler Schwächen die wesentlichen Kategorien für die Analyse der totalitären Diktatur entwickelt hat. Die totalitäre Erfahrung war die zentrale Erfahrung des zwanzigsten Jahrhunderts, und wer sich ihr gedanklich zu nähern versucht, kommt an Hannah Arendts Ideologie und Terrorkonzept nicht vorbei. Es bleiben von ihrem Werk aber nicht nur einige Kategorien. Es bleibt ein ganzer Text, nämlich das Abschlusskapitel ihres Werks über den Totalitarismus : „Ideologie und Terror – eine neue Staatsform“. Dieser Text ist einer der großen Texte der politischen Philosophie, er ist als philosophische Reflektion des präzedenzlos Neuen, das die totalitären Systeme in die Geschichte gebracht haben, unübertroffen. Er verkörpert jene Form von Wahrheit, die nicht den Maßstäben wissenschaftlicher Richtigkeit unterliegt und deshalb auch nicht veraltet.
Anhang
Das Mädchen aus der Fremde* Hannah Arendt und das Leben auf lauter Zwischenstationen Joachim Fest Der amerikanische Historiker Gordon A. Craig erzählte gern von einer Reise mit der Bundesbahn, auf der die Fahrgäste über den Lautsprecher mit den Worten begrüßt wurden : „Ich heiße Sie herzlich willkommen an Bord des ICE 573 ‚Hannah Arendt‘. Wer immer Hannah Arendt war !, wünsche ich Ihnen auf der Fahrt von Stuttgart nach Hamburg eine gute Reise.“ Kurz darauf meldete sich die Stimme noch einmal : „Ich habe einen Nachtrag vorzunehmen : Hannah Arendt war, wie ich soeben erfahre, eine erfolgreiche, jüdische Schriftstellerin.“ Etwas später gab der Zugschaffner eine weitere Verbesserung durch, die Hannah Arendt als „Politikwissenschaftlerin“ ausgab, und schließlich, noch einmal eine Viertelstunde danach, kam eine letzte Auskunft : „Ich höre soeben, wie es sich, der Behauptung eines Fahrgasts zufolge, tatsächlich verhält : Hannah Arendt war eine Philosophin, die 1933 emigriert ist. Ich bitte alle Mitreisenden, von weiteren Berichtigungen abzusehen.“ Die Pointe der kleinen Episode ist, dass die im Einzelnen eher schiefen Bezeichnungen aufs Ganze ein ziemlich zutreffendes Bild ergeben. Hannah Arendt war Schriftstellerin, Politikwissenschaftlerin und Philosophin. Trotz aller Entschiedenheit im Auftreten und Meinen ging etwas schwer Bestimmbares von ihr aus. Es äußerte sich in der Breite und Vielfalt ihrer Vorlieben sowie der Erregbarkeit ihrer Interessen. Sie besaß eine leidenschaftliche Wachheit, die sich bis zum Eindruck ständig gefährdeter, unschwer erschütterbarer emotionaler Balance steigerte. Ihre enge Freundin, die Schriftstellerin Mary McCarthy, hat von Hannah Arendts großer Verletzlichkeit gesprochen, ihrem Getriebensein, dem sie den Anschein zu geben versuchte, sie sei zu ständig neuen Aufbrüchen unterwegs. Gleichwohl ist sie jeweils die ganze Wegstrecke zu Ende gegangen, die ein Gedanke verlangte, und oftmals in provokantem Mutwillen über das Ziel hinaus. „Denken muss man mit Haut und Haaren“, äußerte sie in einem unserer frühen Gespräche. „Oder man lässt es bleiben.“
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Nachdruck aus : Joachim Fest, Begegnungen. Über nahe und ferne Freunde, Reinbek bei Hamburg 2006, S. 176–214.
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Mit der Mischung aus Scharfsinn, Übermut und empfindungsstarker Verwegenheit hat sie nach vielen Seiten Anstoß erregt und sich nicht nur Gegner, sondern häufig auch Feinde gemacht. Der oftmals gebieterische Ton, in dem sie ihre Überlegungen vortrug, tat ein übriges, bei zunehmend öffentlichem Ruf einen leeren Raum um sie herum zu schaffen. Doch hat sie die Isolierung, in die sie schon früh geriet, als Preis der Freiheit bereitwillig in Kauf genommen. Zu keiner Zeit jedenfalls hat sie sich jener widersinnigen Larmoyanz anheimgegeben, die so viele im öffentlichen Provokationsgeschäft Tätigen offenbaren, wenn die Provozierten sich tatsächlich getroffen zeigen und zur Wehr setzen. Man dürfe, hat sie bei einem Zusammensein bemerkt, niemals aufgrund von Unwahrhaftigkeit in die Vereinsamung geraten; aus Furchtlosigkeit sei es unvermeidlich. Nach ihrer auffälligsten Eigenschaft befragt, hat ihr Verleger William Jovanovich gesagt, mehr als alles andere bewundere er Hannah Arendts Tapferkeit, und als ihr die Äußerung hinterbracht wurde, hat sie mit der burschikosen Ironie, die sie einmal „mein schönstes deutsches oder eigentlich berlinisches Erbteil“ nannte, gesagt : „Ich raufe nun mal gern !“ Doch der eigentliche Grund für die Gegnerschaften, die sie wieder und wieder auf sich gezogen hat, kam aus der Unbedingtheit ihres Denkens. Erst in der äußersten Zuspitzung werde der Gedanke er selber, behauptete sie einmal, sonst bleibe er ein bloßes Dafürhalten. Kürzer und zugleich schlagender drückte es Dolf Sternberger aus, mit dem sie eine lebenslange Freundschaft verband : „Sie war zu kühn, um weise zu sein.“ Im „kleinen Eckladen des Denkens“, den sie „querab von der Zeit“ betrieb, wie sie mit Vorliebe sagte, war sie glücklich über jeden Beistand, der ihr zuteil wurde, doch musste er aus der Freiheit des Urteilens kommen : „Wo von geistigen Lagern die Rede ist, herrscht meistens der Ungeist“, versicherte sie. Sie sei weder links noch rechts, weder liberal noch prinzipienstreng und glaube nicht einmal an irgendeinen Fortschritt – sei es in der Moral, sei es im Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse. Selbst als Außenseiter habe sie niemals gelten wollen, sondern immer nur vertreten, was ihr das Richtige schien. Aus diesem Grund habe sie keine Theorie entwickelt und werde, zum Kummer vieler Freunde, auch keine hinterlassen. Theorien seien, ergänzte sie ein andermal, „pompöse Masken für dürre Köpfe, die auf dem intellektuellen Karneval herumspringen. Ich gehe da nicht hin. Die Aufgabe, die mich in Anspruch nimmt, lautet ganz einfach : die Welt und die Menschen zu verstehen.“ Es gebe da keine Verbotsschilder. Nach allem, was das Jahrhundert der Welt angetan hat, verlange gerade das Böse die ganze Erkenntniskraft. Wer da mit dem Kopf kapituliert, sei auch im Wirklichen nicht weit davon weg. Wer ihr Leben überblickt, stößt denn auch immer wieder auf abgebrochene, oft in Verstimmung endende Zugehörigkeiten, weil sie nicht bereit war, den Gedanken irgendeiner taktischen Überlegung anzupassen oder gar zu unterwerfen. Nicht wenige hielten sie aus diesem Grund für unberechenbar, und ein gemeinsamer Freund äußerte bei Gelegenheit, sie sei für eine Philosophin allzu launisch. Als Hannah Arendt davon hörte, ließ sie ihm eine Notiz zukommen,
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wonach der Gedanke, der sich selber treu bleibe, in einer Zeit der alles beherrschenden Opportunismen in der Tat wie eine Laune wirken müsse; sie lasse sich davon aber nicht irremachen. Doch war das nicht die ganze Antwort, und zu der ungemeinen Anziehung, die Hannah Arendt auf so viele übte, gehörte nicht zuletzt, dass der offene Rest des Rätsels, das sie darstellte, jederzeit spürbar blieb. Ich selber notierte nach unserem ersten, annähernd drei Tage währenden Zusammentreffen im Herbst 1964, dass sie bei aller „selbstentäußernden Verve“, wie ich das nannte, einen „seltsam ortlosen Eindruck“ mache. Womöglich ging diese Überlegung nicht zuletzt darauf zurück, dass sie im Verlauf unseres ausgedehnten Gesprächs über Heimat, Emigrationsverlust und neu erworbene Heimat sagte, sie sei sich durchaus bewusst, wie tief und unverbesserlich deutsch sie sei : „In meiner Art zu denken und zu urteilen komme ich noch immer aus Königsberg. Manchmal verheimliche ich mir das. Aber es ist so. Amerikanerin bin ich sozusagen nur und zugleich von ganzem politischem Herzen.“ Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu : „Genaugenommen war und bin ich, wohin ich auch kam, immer das Mädchen aus der Fremde gewesen, von dem ein Gedicht Schillers spricht – in Deutschland nur ein bisschen weniger fremd als in Amerika. Und hier wie da, am wenigsten noch im geliebten Italien, hat mich die Angst begleitet, ich könnte zuletzt mir selber verlorengehen.“ Die Zusammenkunft ging auf unseren Verleger Klaus Piper zurück. Hannah Arendt hatte im Jahr zuvor ihre Eindrücke vom Eichmannprozess in Jerusalem sowie ihre Überlegungen dazu veröffentlicht und damit den zweifellos größten Skandal ausgelöst, den ein Buch in Jahrzehnten hervorgerufen hat. Jetzt sollte ihr Bericht in Deutschland erscheinen, und es vermittelt einen Begriff von der Erbitterung der Kontroverse, dass eine Streitschrift mit ganz überwiegend polemischen und mitunter auch persönlich herabsetzenden Beiträgen noch vor ihrem Eichmannbuch in den Buchläden auslag. Die Überlegung Pipers war, seine Autorin zur Vorstellung und Verteidigung ihres Buches nach Deutschland kommen zu lassen. Während der Frankfurter Buchmesse gab es eine hocherregte, von Hannah Arendt mit überlegener Schlagfertigkeit durchgestandene Pressekonferenz sowie in den Tagen darauf eine Vielzahl von Einzelinter views. Ich selber war vom Südwestfunk um ein längeres Gespräch mit Hannah Arendt gebeten worden, und da der Aufnahmetermin ein paar Tage im Voraus lag, schlug Hannah Arendt vor, etwas früher nach BadenBaden aufzubrechen und die gewonnene Zeit mit Unterhaltungen und „schönem Nichtstun“ hinzubringen. Ich habe ihre Verfassung während jener Tage als „gespannte Hochstimmung“ in Erinnerung. Sie war überaus offen, auf ungewöhnliche Weise vertrauensvoll und alsbald von einnehmender Herzlichkeit. Nur als ich das eine oder andere Mal auf die sichtlich gesteuerte Empörung gegen sie zu sprechen kam, gab sie sich angriffslustig, winkte aber jedesmal nach wenigen Worten ab : „Das kann warten !“, sagte sie. Sie wolle lieber über Goethes Gedichte reden, über Bach und Beethovens Sinfonien, die ihr in Amerika ein wenig verlorengegangen sei-
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en, ihr aber wie kaum etwas anderes das Gefühl des Zuhauseseins vermittelten. Sie brachte dann das Gespräch auf Heinrich Heine, später auf Franz Kafka, Bertolt Brecht sowie den armen, „von Gott und seinen Freunden verlassenen Walter Benjamin“. Sie kam zwischendurch auch auf meine Porträts über die Führungsfiguren der Hitlerjahre und bekannte, ihr erster Gedanke beim Erhalt des Buches sei gewesen : „Herrjemine ! Was wird das sein ! Ein bisschen Verstrickungsgerede, ein bisschen Sigmund Freud und das alles in die unvergleichlich deutsche Verbindung von Verhängnis und Feinsinn verpackt !“ Doch schon nach den ersten Seiten habe sie bemerkt, wie voreingenommen sie noch immer auf alles Deutsche reagierte, zumal wenn von der Nazizeit die Rede war, und folglich ihr Urteil rasch geändert. Ich warf ein, ihre Voreingenommenheit offenbarten auch die wenigen Absätze des Eichmannberichts über den deutschen Widerstand. Selten sei mir eine gereiztere und folglich ungerechtere Auffassung darüber begegnet. Natürlich habe man es bei Menschen, zumal unter totalitären Verhältnissen, immer mit Anpasserei, Charakterschwäche und Versagen zu tun. Aber nicht alle beugten sich. Einige seien die Ausnahme. Sie selber erzähle in ihrem Bericht die Geschichte von dem Feldwebel Anton Schmidt, der in allem Grauen integer geblieben sei. Er habe, sei bei ihr zu lesen, die einfache Lehre hinterlassen, „dass unter den Bedingungen des Terrors die meisten Leute sich fügen, einige aber nicht“. Ich teilte ihr ein paar familiäre Erfahrungen aus jenen Jahren mit, Zufallsgeschichten aus der Nachbarschaft von hier und da, und am Ende sagte sie, nachdenklich geworden, sie werde sich „die Sache noch einmal überlegen“. Dann berichtete sie von 1949, ihrem ersten Besuch bei Jaspers in Basel, und wie sie sich einmal, zu später Stunde, als das Haus zur Ruhe gekommen war, zu dem Hausmädchen Erna in die Küche gesetzt habe, um zu hören, wie es ihr in den schweren Jahren ergangen sei. Zu ihrer grenzenlosen Verblüffung habe die „treue Erna“, wie Jaspers gern sagte, statt einer Antwort zu weinen begonnen, und was immer sie herausbrachte, sei im „Schütteln und Schluchzen“ untergegangen, bis sie am Ende her vorgestoßen habe : „Ach, liebe Frau Arendt! – Was haben wir bloß angerichtet !“ Und, nach einigen Wirrheiten noch: „Wir sind alle so schuldig ! Bitte, vergeben Sie uns !“ Zunächst habe sie an sich gehalten, sagte Hannah Arendt; denn unverkennbar war, dass Erna das loswerden musste. „Aber als sie mit der Bitte um Vergebung kam, platzte mir, wie man in Berlin sagt, der Papierkragen, und ich wurde ganz förmlich : ‚Fräulein Möhrle !‘, herrschte ich die Arme an, ‚Sie hören augenblicklich mit dem Gejammer auf ! Denn alles, was Sie sagen, ist Unfug.‘“ Der Professor habe ihr berichtet, wie sie sich für ihn und Frau Jaspers fast umgebracht habe. Und ausgerechnet sie rede von Schuld ! „Das könnte den wirklichen Nazis so passen ! Die arme Erna“, setzte Hannah Arendt hinzu, „hat von meinen Vorhaltungen vermutlich nichts verstanden und noch weniger, warum ich so wütend geworden war. Aber ich musste das sagen ! Denn damals brauchte man nur einen Deutschen zu treffen, der sich schuldig bekannte, und wusste,
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dass dem nichts vorzuwerfen war. Aber sooft einem irgendwer mit dem besten Gewissen von der Welt entgegentrat und versicherte, allezeit ahnungslos gewesen zu sein, hatte man es ziemlich sicher mit einem ehemaligen Nazi zu tun.“ Die eher beiläufige Begebenheit verdient deshalb eine so ausführliche Wiedergabe, weil sie die Freiheit im Denken Hannah Arendts sichtbar macht, die Direktheit ihres intellektuellen Zugriffs und schließlich auch die mitunter kränkend wirkende Unverblümtheit ihres Vorbringens. Bezeichnenderweise hatte sie sich schon gegen Ende des Krieges gegen die verbreitete Kollektivschuldthese gewandt und manchen Kampf darüber ausgefochten. Sie weiche bekanntlich keinem Streit aus, sagte sie jetzt, als wir die Schwarzwaldstraße ein Stückweit hinauf liefen, und als wir schließlich doch auf die gerade im Gang befindliche Auseinandersetzung über Eichmann kamen, sagte sie : „Die ewige Balgerei kostet mich viel Zeit. Doch zugleich genieße ich den Sturm auch, den Gerhard Scholem, Ernst Simon und die vielen anderen mit ihren Windmaschinen machen.“ Und dann, in verschwörerischem Ton : „Aber dass mir die Sache auch Spaß bereitet – das dürfen Sie niemandem sagen und mich vor allem nicht am Mikrofon fragen !“ Schon bei der Niederschrift des Buches habe sie sich in einem „depressiven Rausch“ befunden, einer Art Levitation – und vielleicht setze das ja ihre Gegner ins Recht mit der Behauptung, dass sie „kein Herz“ habe, fügte sie mit rauhem Lachen hinzu. Den Skandal löste Hannah Arendts Erkenntnis aus, dass Adolf Eichmann kein versessener Ideologe war, kein abnormer oder gar dämonischer Mensch, und das war auch der hauptsächliche Gegenstand unseres Rundfunkgesprächs. Das gesamte metaphysische Vokabular in der Bestimmung des Bösen, hatte sie erklärt, falle angesichts der hohlen Mittelmäßigkeit Eichmanns in sich zusammen : Was in dem Glaskäfig des Gerichtssaals mit jedem Tag mehr an Umriss gewonnen habe, sei kein Ungeheuer, sondern eine überaus durchschnittliche, eher gesichtslose Person gewesen, die nicht die geringste Vorstellung von den unsäglichen Leiden besaß, die sie Millionen zufügte. Bis dahin hatte Hannah Arendt geglaubt und in einem ihrer früheren Bücher auch geschrieben, dass das Böse insoweit „radikal“ sei, als es eine Verderbtheit von der Wurzel her anzeige. Jetzt erkannte sie, dass es in Gestalt eines halbwegs ordentlichen Menschen auftreten konnte, dessen Gedanken zu keiner Zeit über die eigene Karriere hinusgingen. Diese „Normalität“, fand sie, sei grauenhafter als alle Dämonie und machte gleichsam das Blut gefrieren. Jedwede überkommene Vorstellung er weise sich als falsch : Die SS - Schergen waren nicht jene modernen Todesboten, deren Spur mitten ins Herz der Finsternis führte, sondern geradewegs in die kleinbürgerliche Wohnküche. Das meinte der Untertitel ihres Buches mit der Formel von der „Banalität des Bösen“. Hannah Arendt hat stets daran festgehalten, dass erst die von ihr gefundene Erkenntnis „die Totalität des moralischen Zusammenbruchs im Herzen Europas“ im ganzen Umfang anschaulich mache. Der Rückgriff aufs Theologische, auf die Welt von Himmel und Hölle mit den Bildern des gefallenen Engels, behauptete sie, habe dem Grauen immer noch einen Sinn und dem Schmerz
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über das Geschehene eine Art Linderung geboten. Doch Eichmann hatte bei allen Leichenbergen, die sich um ihn herum auftürmten, nur an seine Schulterstücke gedacht und nicht die geringste Schuld empfunden. Er war ohne Beziehung zur Welt wie zu den Menschen und daher eher lächerlich als monströs. Doch als Opfer eines „Hanswursts“ dazustehen, war eine Kränkung ohne Trost und, wie ihre Kritiker meinten, weder Toten noch Lebenden zumutbar. Das war die tiefere Ursache des Aufruhrs, der wie auf ein Stichwort hin über Hannah Arendt hereinbrach. Doch den weit greifbareren Anlass boten ihre kritischen Bemerkungen über die Mitwirkung der sogenannten Judenräte bei der Organisation der „Endlösung“. Zwar umfasste der Passus nur vergleichsweise wenige Absätze. Aber viele der unversehens Bloßgestellten waren unterdessen in einflussreiche Positionen, zumal in Israel, gelangt. Die Wortführer der zunehmend rücksichtslos geführten Kampagne behaupteten, Hannah Arendt sei aus dem Judentum „desertiert“ und lasse es an „Liebe zu ihrem Volk“ fehlen. Wenig später wurde mit nicht selten erfundenen Zitaten behauptet, sie habe die Opfer verleumdet und Gestapo wie SS entlastet. Am Tag vor unserer Abreise nach Baden - Baden hatten wir in Frankfurt eine Verhandlung des Auschwitz - Prozesses besucht, und Hannah Arendt hatte beim anschließenden Zusammensein erklärt, sie habe nichts zurückzunehmen : Der Eichmannbericht beschreibe nicht einen Einzeltäter, sondern einen Typus. Das sei die Wahrheit, die sich hier bestätigt habe : Auf den Anklagebänken auch vor den Frankfurter Richtern sei sie diesem Typus in mehrfacher Gestalt wiederbegegnet. Angesichts der Wucht der Verunglimpfungen, die gegen sie laut wurden, zerbrachen bewährte Beziehungen und sogar Freundschaften. Hans Jonas, der seit Studententagen die engste Verbindung zu Hannah Arendt unterhalten hatte, sagte sich ohne ein Wort, einen Brief oder Gruß von ihr los : „Ich bin buchstäblich exkommuniziert“, äußerte sie am Abend vor der Rundfunkaufnahme in BadenBaden. Wie weit ihr Verruf reiche, meinte sie ein andermal, gehe aus dem Umstand hervor, dass niemand Anstoß daran nehme, dass die Zeitschrift „Der Aufbau“ ihrer Entgegnung auf die zuvor im gleichen Blatt veröffentlichten Attacken keinen Platz einräumte. Sie hatte die Auseinandersetzung zunächst als belebende Herausforderung aufgefasst, zumal zahlreiche Anschuldigungen wie etwa die Behauptung, sie habe das jüdische Volk angeklagt, nicht zutrafen. Aber bald wurde behauptet, mit der an Eichmann diagnostizierten „Banalität“ spreche Hannah Arendt ihn zugleich frei, und allmählich überwältigte sie, wie sie in einem Brief schrieb, der „Ekel“ darüber, dass der ganze „intellektuelle und sonstige Mob erfolgreich mobilisiert“ werden konnte, um ein Buch zu erledigen, das „ich nie geschrieben“ habe. Ohne von ihrer Auffassung abzurücken, hat Hannah Arendt Jahre später eingeräumt, dass ihr immerhin die eine und andere Unachtsamkeit unterlaufen sei. So habe sie anfangs allzu lange in der trügerischen Gewissheit geschwiegen, dass „demagogisch hergestellte Erregungen“ sich bald erschöpften; dass keine Kampagne gegen die Vernunft für längere Zeit durchzustehen sei; auch übersehen, dass man sich rechtzeitig einflussreiche Verbündete beschaffen müsse. Für dies
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und vieles mehr benötige man taktische Klugheit, und daran habe es ihr immer gefehlt. Eine Unbedachtheit, sagte sie in unserer Unterredung auch, sei ihr freilich mit der Formel von der „Banalität des Bösen“ unterlaufen. Aber als die Literatin, die sie zugleich sei, habe sie sich augenblicklich in den „finsteren Charme der drei Worte verguckt“ und nicht gedacht, dass sie den Grund für ein wirkliches Missverständnis abgeben könnten. Denn natürlich habe sie weder die Massenvernichtung als „banal“ hinstellen wollen, noch gar das Böse an sich. Vielmehr habe sie dieses Böse in seiner fürchterlichsten Inkarnation als gedankenleere Erscheinung beschreiben wollen. Was da geschehen sei, habe sie stets als den schlimmsten Angriff auf das Wesen des Menschen bezeichnet. Seither sei die Welt nicht mehr, was sie war : alle die großartigen Andachtsbilder vom homo sapiens lägen zertrümmert am Boden. Doch für solche Ergänzungen war es schon binnen kurzer Zeit zu spät : „Das vermeintlich Gute“, meinte sie, „kann ebenfalls hohl und gedankenleer sein – und unnachsichtig obendrein.“ Etwas mehr als fünf Jahre später erlebte ich Hannah Arendt, wie sie, angestrengt lachend und gleichzeitig mit den Tränen kämpfend, sagte, inzwischen versuche man sogar, die von ihr angeblich betriebene Verringerung von Eichmanns Schuld auf ihre privatesten „Verhältnisse“ zurückzuführen : Sie habe, so werde verbreitet, den SS - Henker vor allem entlastet, um damit auch von der Nazisympathie ihres Lehrers Martin Heidegger abzulenken und das eigene „Vergehen“ lebenslanger Verehrung in milderes Licht zu tauchen. „Dagegen kann ich mich nicht wehren“, sagte sie. In der Tat erlangte sie eine Art Vergebung nur von wenigen alten Freunden. Jahrzehnte dauerte es, bis das Eichmannbuch in Israel erschien, und noch dreißig Jahre nach dem Aufruhr „versprach“ sich einer ihrer Gegner während einer öffentlichen Konferenz, indem er sie „Hannah Eichmann“ nannte. Nach dem Rundfunkgespräch ließen wir uns hinunter nach Baden - Baden fahren. Sie wolle endlich einmal auf der Lichtenthaler - Allee Spazierengehen, sagte Hannah Arendt, im fernen Königsberg sei das der Inbegriff des vornehmen Müßiggangs gewesen. Sie erzählte von ihrem Elternhaus, vom frühen Tod ihres Vaters und wie sie im Alter von vierzehn Jahren Kants „Kritik der reinen Vernunft“ gelesen und sozusagen „vom Fleck weg“ beschlossen habe, Philosophie zu studieren. Sie lachte über das, was sie ihr „frühreifes Ungestüm“ nannte, setzte aber mit einer kleinen Feierlichkeit im Ton hinzu, an diesem Entschluss habe sich niemals etwas geändert. „Das war wirklich ernst !“ Nach einem kurzen Blick zu ein paar eilig hinziehenden Wolken sagte sie : „Die Wolken da oben sind sehr deutsch. Die gibt es in Amerika nicht. So wechselnd, so umrisslos und hastig. In lyrischen Stimmungen kann man da viel hineinlesen. Ich kenne die Versuchung. Doch mehr als diesen Anblick benötige ich nicht, um ihr zu widerstehen.“ Und nach kurzem Nachdenken noch : „Glücklich macht mich das Bild trotzdem.“ Übergangslos fragte sie dann, ob ich aus frühen Jahren ähnlich bestimmende Leseerfahrungen hätte wie sie, und ich berichtete kurz über mein Elternhaus und die halbwüchsigen Unentschieden-
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heiten zwischen mancherlei historischen Werken und der Literatur im engeren Sinn. Von Piper oder einem der Freunde in den Staaten hatte sie offenbar dies und jenes von meinen privaten Umständen gehört und fragte nach Einzelheiten. Kaum hatte ich geendet, begann sie gleichsam im Austausch von ihrer ersten Begegnung mit Martin Heidegger zu reden. Mit noch nicht achtzehn Jahren, sagte sie, habe sie im „akademischen Rumor“ erstmals von ihm gehört und augenblicklich beschlossen, in Marburg, wo er lehrte, mit dem Studium zu beginnen. „Es war eine Entscheidung wie keine andere“, fuhr sie fort. „Heidegger hat mich die Welt sehen und begreifen gelehrt und mir bei alledem das Empfinden verschafft, er führe mich zu mir selbst. Das galt für das Denken wie für das Fühlen – und für das mir damals schon so wichtige Verstehen auch. Heidegger hat mich in jedem Sinne zum Leben erweckt.“ Nach einigen anekdotischen Einschüben setzte sie hinzu, sie sei über die Jahre hin ihre „Schulmädchenbefangenheit“ vor Heidegger nicht losgeworden. Sie habe das oft erzählt : Wie sie bald nach Beginn des Studiums zur Vorstellung bei dem Theologen Rudolf Bultmann erschien und ihm mit dem ganzen „Hochmut meiner achtzehn Jahre“ erklärte, dass sie sich jede antisemitische Äußerung von ihm wie von einem der Seminarteilnehmer aufs entschiedenste verbitte. Bultmann habe sie dann einigermaßen beschämt, sagte sie, indem er lächelnd erwiderte, gemeinsam würden sie mit allen denkbaren Rüpeleien schon fertig werden. Bei Heidegger hingegen, sagte sie, den sie um die gleiche Zeit aufsuchte, habe sie kaum ein Wort hervorgebracht und sich schon gar nichts verbeten : „Ich habe nur zugehört, dann und wann ein paar Schritte mitzugehen versucht, verzaubert von seiner Poesie, denn er war ja auch, bei aller Erkenntnisschärfe, ein Dichter.“ Immer wieder habe sie sich im Verlauf der Unterredung dabei ertappt, dass sie ihn im sprachlichen Ausdruck unwillkürlich nachzuahmen versuchte und etwas später ja auch eine „gedichtartige Reflexion“ für ihn verfasst. „Kurzum“, meinte sie zusammenfassend, „wie und was ich bin, geht auf Heidegger zurück; ihm verdanke ich alles !“ Und nach mehreren abgebrochenen Anläufen, sagte sie : „Zugleich hat er alles verdorben !“ Als ich in die entstandene Pause hinein fragte, wie das zu verstehen sei, erwiderte sie schließlich : Man könne das nicht sagen ! Es klinge unendlich sentimental oder sogar kitschig wie jede erzählte Affäre, „wenn nicht gerade Shakespeare der Erzähler“ ist. „Also : nach ungefähr zwei Jahren rettete ich mich durch Flucht. Ich nahm meine Siebensachen und machte mich davon. Nur eines ließ ich in Marburg zurück und habe es mir nie zurückholen können : die Liebe.“ Dann lächelte sie halb verlegen, halb entschlossen : „Kitschig genug ?“, fragte sie. Erst in einem weiteren Gespräch, Jahre später, hat mir Hannah Arendt Näheres über den „Liebessommer 1924“ erzählt : Wie Heidegger bei jenem ersten Besuch, während es draußen bereits dämmerte und sie gerade aufbrechen wollte, plötzlich vor ihr auf die Knie „gestürzt“ sei und sie mit stammelnd hervorgestoßenen Worten an den Hüften umklammert habe. Ihr ohnehin schwaches
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Widerstreben sei unter dem „Überfall“ einfach weggeschmolzen. „Was kann man“, fügte sie hinzu, „als unerfahrenes und außerdem bewunderndes Mädchen schon tun ?“ Sie sagte das in ihrer Wohnung am Riverside Drive, während sie mit irgendwelchen Verrichtungen zwischen Küche und Esstisch beschäftigt war, und trug das alles in einem etwas angestrengt beiläufigen Ton vor. Aber dann und wann schien mir doch heraushörbar, wieviel Mühe die Erinnerung an jenen folgenreichen Abend sie im einen wie im anderen Sinne kostete. Sie kam später darauf, wie sie die Rendezvous in Heideggers Arbeitswohnung und in ihrer Dachkammer verabredeten, ein System der Geheimhaltung entwickelten mit Lichtsignalen, toten Briefkästen und anderen Verschlüsselungen; wie sie allezeit bereit war, sich seinen Wünschen zu fügen : „Wir Weiber sind nun mal Sklavinnen !“, bekannte sie und erzählte von einer nächtlichen Verabredung auf einem abgelegenen Provinzbahnhof : „Er rief, ich kam – auch noch, als ich Marburg seinetwegen schon verlassen hatte. Lange Zeit war das mein Problem – immer wieder. Damals jedenfalls. Zum Glück ist die Jugend irgendwann vorbei.“ Natürlich war nichts vorbei. Doch meine Notizen über Hannah Arendts frühe Affäre mit Martin Heidegger brechen an dieser Stelle ab. Weitere im Folgenden vermerkte Auskünfte, vor allem über den späteren Verlauf der Liebesgeschichte, stammen über wiegend von Mary McCarthy, die wie keine andere Freundin eingeweiht war. Auf meine Frage, warum Hannah Arendt einem einigermaßen Fernstehenden wie mir so bald nach dem Kennenlernen ihre privatesten Erfahrungen preisgegeben habe, antwortete sie : „Ach, wissen Sie – vor Jahren schon, als Hannah fünfzig wurde oder etwas später, überkam sie das Bedürfnis, von frühen Tagen zu sprechen. Das hat man doch häufig : dass einer sein altes Herz auskippen und zumindest in der Erinnerung die großen Gefühle von einst noch einmal schmecken will.“ Wenn die ständige Heimlichtuerei mit Heidegger, trotz aller ungezählten Lästigkeiten, der romantischen Natur Hannah Arendts anfangs entgegenkam, wurde sie ihrer doch im Fortgang der Zeit überdrüssig. Nach rund einem Jahr begann sie, sich mit dem Gedanken vertraut zu machen, Marburg zu verlassen. Heidegger, so hoffte sie, würde auf diese Weise der Ernst ihrer Liebe bewusst werden. Umso überraschter und „wie betrogen“ fühlte sie sich, als er ihr zuvorkam und von sich aus einen Wechsel nach Freiburg zu seinem Lehrer Edmund Husserl und anschließend nach Heidelberg zu seinem Freund Jaspers vorschlug. Mary McCarthy meinte, Heidegger sei zu dieser Zeit ebenfalls der „Liebe im Versteck“ müde gewesen, habe sich aber Hannahs so sicher gefühlt, dass er die räumliche Trennung in Kauf nahm; alles Weitere, mochte er sich sagen, werde sich finden. Auf ähnliche Weise hat Heidegger die vielbegehrte junge Frau in den folgenden Jahren zu jedem Verehrer, von dem er erfuhr, beglückwünscht, so dass Hannah Arendts Bemühungen, die Eifersucht ihres Geliebten zu erregen, ein ums andere Mal ins Leere liefen. Von seinen eigenen Ansprüchen ließ Heidegger gleichwohl nicht ab, und sie kam, wenn er nach ihr verlangte. Selbst über
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ihre Ehe mit seinem Schüler Günther Stern, der sich als Publizist Günther Anders nannte, im September 1929, gab er sich erfreut. Sie selber deckte in zwei Briefen, annähernd fünfundzwanzig Jahre später, das verborgene Motiv ihrer Verhaltensweise auf. An Heidegger schrieb sie : „Weggegangen aus Marburg bin ich ausschließlich Deinetwegen“, was zugleich hieß, dass sie stets gehofft hatte, ihn doch noch für sich zu gewinnen, und tatsächlich ließ sie ihn kurz vor ihrer Eheschließung verzweifelt wissen, sie liebe ihn „wie am ersten Tag“. Ergänzend gestand sie später : sie habe damals „geheiratet, irgendwie ganz gleich wen“. Doch von Heidegger kam kein Wort. Von Marburg ging Hannah Arendt, der Empfehlung Heideggers folgend, über Freiburg nach Heidelberg und promovierte 1928 bei Karl Jaspers. „Es war noch einmal Arkadia“, sagte sie in Erinnerung an diese Zeit, „so konzentriert im Denken und, trotz allen Tumults ringsum, so weit aus der Welt.“ Ein politisches Interesse jedenfalls habe sie damals und während der folgenden Jahre nicht aufgebracht, das „Geschäft des Denkens verzehrte alles“. Auf die Frage, ob sie sich eine Mitverantwortung zumindest an der „Entkräftung“ der Republik zuschreibe, hat sie knapp erwidert : „Ja, haben wir alle !“ Politisch sei keiner von ihnen gewesen. Selbst die Geschichtswissenschaft, hat sie in diesem Zusammenhang bemerkt, sei ihr damals nicht wichtig erschienen und „viel zu nah an der Machtwelt“. Sie habe im Historischen allenfalls den pittoresken Hintergrund der Philosophie und der Poesie sehen können, wie im alten Griechenland, das sie mehr als alle anderen Epochen geliebt habe. Der Einbruch kam mit dem gewaltigen Politisierungsschub Anfang der dreißiger Jahre. Die Weltwirtschaftskrise, die Radikalisierung links und rechts mitsamt den barbarischen Auswüchsen allenthalben, von den Bürgerkriegssonntagen bis hin zum überall sichtbar werdenden Antisemitismus, zwang jeden zur Parteinahme. „In Berlin“, hat Hannah Arendt dazu gesagt, „wo ich damals mit meinem Mann lebte, vor allem vor den Arbeitsämtern und rund um die Armenküchen, bildeten sich kleine primitive Laienparlamente. Unwillkürlich traten die Passanten herzu und hörten mit. Das eine oder andere Mal habe ich sogar selber das Wort ergriffen. Aber hinterher kam mir immer der Ärger hoch. Denn ich wollte das nicht. Wer seine paar Sinne beisammen hatte, konnte mit Händen greifen, wie aussichtslos alles Reden war.“ Die Ernennung Hitlers zum Kanzler sei denn auch kein Schock für sie und ihre Freunde gewesen, setzte sie hinzu : „Der Weltuntergang stand doch schon lange auf allen Programmzetteln“, und eigentlich habe der 30. Januar nur besiegelt, was jeder von uns ohnehin wusste. „Nun mussten wir politisch werden“, sagte sie. „Ich erinnere mich, im Frühjahr 1933 zu Günther Anders gesagt zu haben : ‚Aus dem schönen Paradies der luftleeren Räume, wo wir so frei atmen konnten, hat uns der Hitler schon vertrieben. Bald werden wir auch das Land verlassen müssen.‘“ Da Hannah Arendt stellungslos war und keine Aussicht auf irgendeine Beschäftigung hatte, bat die Zionistische Vereinigung sie, eine Sammlung antisemitischer Äußerungen aus jüngster Zeit anzulegen. „Mit Freuden“, hat sie spä-
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ter versichert, habe sie nicht nur deshalb zugesagt, weil sie darin ebenso wie in der Zuflucht, die sie seit dem Reichstagsbrand verfolgten Freunden bot, eine sinnvolle Aufgabe sah. Vielmehr habe jede gefährliche Tätigkeit zugleich ihre Abenteuerlust befriedigt. „Als der Ausschnittdienst nach kurzer Zeit aufflog“, hat sie hinzugesetzt, „war mein erster, etwas verrückter Gedanke : Großartig ! Auch wenn es zu nichts geführt hat. Aber wenigstens bin ich nicht unschuldig ! Denn das wäre das Schlimmste, was einer wie Hitler mir nachsagen könnte : dass ich mich Mir - nichts - Dir - nichts zur Schlachtbank führen ließ. Ich hätte mir das nie verziehen !“ Hannah Arendt wurde festgesetzt, verblieb aber nur acht Tage in Haft. Zu ihrem Glück gelang es ihr, den Gestapobeamten, der sie über Stunden verhörte, mit ihrem Charme gewissermaßen zu verführen. „Ich beflirtete ihn nach allen Regeln der Kunst“, hat sie erzählt, „und tischte ihm die aber witzigsten Geschichten auf. Natürlich hat er alles durchschaut, er war ja nicht ‚plemplem‘, wie man das nannte. Aber er machte scheinheilige Miene zu meinem verlogenen Spiel – und plötzlich, auch nicht ganz ohne eigenes Risiko, ließ er mich laufen. Er erteilte mir sogar ein paar gute Ratschläge : So was gabs damals noch. Kaum war ich frei, geriet ich aufs neue in Auseinandersetzungen mit meinen jüdischen Freunden. Sie warfen mir ‚Leichtsinn‘, ‚Unverstand‘ und ‚Hasardeurlaune‘ vor, während ich ihre generationenalte Unter würfigkeit anklagte : Den schrecklichen jüdischen Gehorsam oder, was fast das gleiche ist, die Wichtigtuerei. Wir kamen nicht zueinander. Im August 1933 hatte ich vom einen wie vom anderen genug und ging aus Deutschland weg.“ Denn spätestens zu diesem Zeitpunkt hatte sie eine Anzahl bestürzender Erfahrungen gemacht. Nicht, dass „der Nazipöbel“ Ernst machte und jedermann wissen ließ, wohin die Reise ging. „Ich hatte“, sagte Hannah Arendt, „weiß Gott nichts anderes erwartet von unseren geschworenen Feinden. Was mir aber die Welt zum Einsturz brachte, war das Verhalten meiner Freunde. Sie liefen kolonnenweise über. Oder fielen einfach um. Gestern hatten wir noch Anrufe, Briefe, Besuche von überall her. Jetzt wurde es mit einem Mal ganz still, und wir standen wie die traurigen Kegel zwischen lauter umgestürzten Figuren. Sogar ein paar jüdische Bekannte waren eingenommen von dem, was in Deutschland passierte. Ein befreundeter Arzt sagte mir, die Deutschen hätten jetzt ihren Weißen Ritter. ‚Und wir stehen wieder mal abseits und haben nichts als unseren Neid auf ihr Glück.‘“ Erregt habe sie erwidert, manchmal verberge sich unter der weißen Rüstung auch ein Raubritter, und was ihm folge, seien bewaffnete Mordbrenner. „Da gehören wir nicht hin !“ Am fassungslosesten aber habe Heideggers Verhalten sie gemacht, so dass sie „nur verstummen“ konnte. Schon vor Beginn der Hitlerjahre habe sie gerüchteweise gehört, dass auf seiner Hütte in Todtnauberg tiefsinnige Gespräche über Hitlers historischen Auftrag geführt würden, über eine deutsche Ordnungsdiktatur, die dem drohenden Einbruch des Kommunismus die Stirn bieten werde. Doch habe sie gedacht, alle Sorge sei übertrieben, solange Heideggers Philosophie von dergleichen unberührt bleibe. Verwehrt geblieben sei ihr damals die
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Einsicht, sagte sie jetzt, dass Heidegger lebenslang „der Famulus seines Denkens“ blieb und „als Person weit schwächer war als sein Gehirn“. Das aber war alsbald von Aufbruch, Größe und einer Art metaphysischem Rausch so erfasst, dass er sich beugte. Als Karl Jaspers im Mai 1933 die Professorenfrage stellte, auf welche Weise wohl „ein so ungebildeter Mensch wie Hitler Deutschland regieren“ solle, bekam er von Heidegger die Antwort : „Bildung ist ganz gleichgültig ... Sehen Sie nur seine wunderbaren Hände an !“ Noch niederschmetternder als solche halbprivaten Entgleisungen, meinte Hannah Arendt, sei der intrigante Eifer gewesen, mit dem Heidegger die Wahl zum Rektor der Freiburger Universität betrieben habe. Am 1. Mai 1933 trat er im Rahmen einer feierlichen Kundgebung in die NSDAP ein und hielt vier Wochen später, gerade zum Rektor gewählt, in einer akademischen Festveranstaltung, für die er das Absingen des Horst - Wessel - Liedes und Sieg - Heil - Rufe angeordnet hatte, die berühmte Rektoratsrede. Unter dem Titel „Die Selbstbehauptung der deutschen Universität“ deutete er das Geschehen der zurückliegenden Wochen als zweiten Anfang der Menschheitsgeschichte und Eröffnung eines heroischen Zeitalters. Hannah Arendt hat gestanden, jede der Nachrichten aus Freiburg habe sie „wie ein Keulenschlag“ getroffen : „Heidegger wusste doch“, sagte sie, „dass wir keineswegs los voneinander waren. Mindestens die Erinnerung war noch da, und ich fragte mich, ob er den Verrat, den er jeden Tag an uns und schließlich auch an sich beging, überhaupt bemerkte ?“ Früher oder später erfuhr sie weitere Einzelheiten, und jede verwirrte das nach wie vor vergötterte Bild mehr oder verlieh ihm sogar, wie sie noch dreißig Jahre später zugab, lächerliche Züge : Um seine Verbundenheit mit dem neuen Regime auszudrücken, habe Heidegger, wie ihr mitgeteilt wurde, nicht nur „hetzerische Reden“ gehalten, sondern sei dabei oftmals sogar in kurzen Hosen oder mit offenem Hemdkragen aufgetreten. Obwohl sie diesen Aufzug halbwegs gewohnt war, stellte sie sich den „kleinen, vom Denken wie eingedunkelt wirkenden Mann mit dem unpassend herumirrenden Gesichtsausdruck in Halbuniform“ vor. „Aber“, setzte sie hinzu, „bäuerische Durchtriebenheit war ebenfalls in diesem Gesicht und fast das auffälligste daran.“ Ein andermal, erzählte sie, habe Heidegger die Zerstörung eines jüdischen Verbindungshauses durch nationalsozialistische Studenten gedeckt und nicht nur jeden Umgang mit jüdischen Kollegen, sondern auch mit seinem alten Lehrer und Freund Edmund Husserl abgebrochen. Im Herbst 1933 konnte er endlich das erste „Wissenschaftslager“ ausrichten, das, hoch im Schwarzwald, Studenten und Dozenten zu einem Dasein im Freien vereinte : Eine Mischung aus Pfadfindertreffen, Platonischer Akademie und Wehrsportverband, zeichnete sich das Lager dadurch aus, dass die Teilnehmer zwischen gemeinsamen Fußmärschen, Essenfassen und Liederabsingen die Seinsfrage stellten und die neuen Daseinsmächte beschworen. Hannah Arendt war nach Jahrzehnten noch immer entgeistert darüber : „Heidegger“, bemerkte sie, „war stets eine merkwürdige Kombination aus erdfester Natur verbundenheit, Hingabe und abgrundtiefer Verlogenheit. Allen diesen Anlagen gaben die Nazis den freiesten Auslauf,
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und der „Famulus Heidegger nutzte ihn.“ Einige Jahre später beschrieb sie die bitteren Erfahrungen ihres letzten Sommers in Deutschland als Bündnis zwischen Elite und Mob. In Paris, das nach manchen Zwischenstationen ihr neues Zuhause wurde, habe sie erstmals das Bewusstsein erlangt, so erzählte sie, überall und nirgendwo hinzugehören : „Da erst, in der herrlichen Stadt, in die ich mich gleich verliebte, bin ich paradoxerweise erst ganz und gar jenes ‚Mädchen aus der Fremde‘ geworden, das ich bis dahin nur in der blasierten Überheblichkeit meiner Jugend gewesen war.“ Die neue Erfahrung verschaffte ihr den Schlussgedanken für die schon in Berlin weitgehend abgeschlossene Biographie über Rahel Varnhagen. Sie habe anfangs nur das Leben einer romantischen deutschen Jüdin mit ihrem leidenschaftlichen Zugehörigkeitsverlangen nacherzählen wollen, sagte sie. Jetzt, nach dem katastrophalen Zusammenbruch der deutsch - jüdischen Verbindung, endete die Geschichte mit der Absage an alle Assimilationsträume und dem Bekenntnis zum Dasein als Paria : Eine menschenwürdige Existenz, versicherte sie, sei in der modernen Welt für jedermann, der auf sich hält, nur am Rande der Gesellschaft möglich – dort, wo die Juden schon immer zu leben hatten. Ihren Unterhalt verdiente sie sich durch die Mitarbeit in verschiedenen jüdischen Hilfsorganisationen, ab 1935 war sie Generalsekretärin der französischen „Jugend - Alija“, die jungen Menschen bei der Auswanderung nach Palästina half. Bald haftete ihr auch hier wieder, wie schon in Deutschland, der Ruf eines „Ausnahmewesens“ an. Übermütig berichtete sie von der „buntgescheckten Verehrerschleppe“, die ihr in Paris folgte. Als einer dieser Galane, der später eine überaus wichtige Rolle in der jüdischen Welt spielte, in einem Hotelzimmer über sie hergefallen sei, habe sie ihn zunächst „mit schallendem Gelächter“ und, als er weiter an Bluse und Rock herumzerrte, „mit ein paar Ohrfeigen“ zur Vernunft gebracht. Als ich einwarf, er hätte sein Begehren auch anders zeigen können, meinte sie lachend : „Das nicht ! Männer können nur so. Müssen vielleicht auch ! Oder die Frauen glauben ihnen nicht.“ In Paris gehörte Hannah Arendt zum engsten Freundeskreis Walter Benjamins. Durch ihn lernte sie den aus Berlin stammenden Journalisten Heinrich Blücher kennen, der 1934 als ehemaliger Spartakuskämpfer und militanter Kommunist nach Frankreich emigriert war. Beschäftigungslos, wie er seither war, hatte er sich unter ärmlichsten Verhältnissen durchgeschlagen und, in Hannah Arendts Worten, als „unermüdlicher Autodidakt gelesen, gesucht und gedacht“. Schon vor Jahren war er dem Sozialismus Stalinscher Machart abtrünnig geworden und wohl auch von ersten Zweifeln an der kommunistischen Verheißung erfasst. „Blüchers mutiges Proselytentum“, erklärte sie mir, sowie sein „immer wacher Skeptizismus“ habe sie tief beeindruckt, und da ihre Ehe mit Günther Anders in den Zeitwirren auseinandergegangen war, heiratete sie 1940 Heinrich Blücher. Im Mai des gleichen Jahres entkam sie mit ihm und ihrer Mutter vor den anrückenden Deutschen über Lissabon in die Vereinigten Staaten.
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„Sind gerettet“, telegraphierte sie ihrem geschiedenen Mann nach der Ankunft in New York. Die Veröffentlichungen, durch die Hannah Arendt schon bald auf sich aufmerksam machte, zielten in der Hauptsache darauf, den Juden Selbstbewusstsein und Widerstandswillen zu vermitteln. „Zweihundert Jahre lang haben wir uns einreden lassen“, schrieb sie, „dass der sicherste Weg zum Überleben der ist, sich tot zu stellen. Mit dem Erfolg, dass wir untereinander oft nicht wissen, ob wir unter Lebenden oder Toten wandeln.“ Und in einem unserer Gespräche bemerkte sie : „Ich war damals von dem Gefühl überwältigt, dass es der Mantel der Geschichte war, der da eine Weltsekunde lang an uns vorüberflatterte. Jahrhunderte hindurch waren die Juden abgewiesen, verfolgt und jedenfalls ohne Schutz gewesen. Die Ironie der Geschichte wollte es, dass ihnen ausgerechnet Hitler in den Vereinigten Staaten die überlegenste Macht der Welt als Verbündeten zur Seite gab. Das war eine einmalige Chance. Ich wollte, dass sie nicht ungenutzt vorüberging.“ Unvermeidlich war, dass ihre entschiedenen, mitunter gewiss auch ungerechten Einwürfe zu jenen Spannungen mit dem jüdischen Establishment führten, die sich später im „Eichmann - Skandal“ entluden. Die ungeheuerliche Erregung, die dabei losbrach, sagte sie mehrfach, sei nur zu begreifen, wenn man sie als Begleichung allzu lange offener Rechnungen zumal über die Gründung des Staates Israel versteht. Doch lenkte sie wie stets nicht ein, sondern spitzte ihre Plädoyers für eine „jüdisch - arabische Konföderation“ in Vorahnung eines nie endenden, mörderischen Konflikts eher noch zu : ein jüdischer Nationalstaat müsse die gesamte Region des Nahen Ostens in ein „ewig friedloses Schlachtfeld“ verwandeln, sagte sie, und fand ihre Vorhersage mit jedem Tag bestätigt. Im Streit war sie auch mit den Worten nicht wählerisch. Die Gruppen, die eine gewaltsame Inbesitznahme Palästinas mitsamt der Vertreibung der ansässigen Araber befürworteten, bezeichnete sie in ihrer zuzeiten derben Manier als „Sprengstoffspießer“ oder als „Bombenfatzkes“. Desgleichen ließen ihre Gedanken keine Schonung zu. Sie habe ihren Gegnern gern vorgehalten, dass die Juden sich in einem Maße als Opfer empfänden, das jedes Denken zugrunde richte. „Alles Selbstmitleid“, sagte sie damals, „tötet den Verstand.“ Und als es damit Überhand nahm, brach sie schließlich mit der Zeitschrift „Aufbau“, der sie für längere Zeit eine ständige Kolumne geliefert hatte. Erleichtert hatte ihr den Entschluss nicht zuletzt ihr Bedürfnis, die Welt in größeren Zusammenhängen zu begreifen und die Ursachen der unerhörten Vorgänge zu erfassen, die sich im Kerngebiet der zivilisierten Welt ereignet hatten. In der zweiten Hälfte der vierziger Jahre begann sie mit der Arbeit an einem größeren Werk, das die Merkmale und Wurzeln des Totalitarismus offenlegen sollte, der so offensichtlich das Kennzeichen der Epoche war. Im späten Herbst 1949 kam sie erstmals wieder nach Deutschland : „Unbeschreiblichstes, herrlichstes ! Wiedersehen“, schrieb sie in einem Brief, das „große Heulen“ sei ihr gekommen, als sie auf den Straßen und in den Cafes Deutsch sprechen hörte; unbewusst habe sie wohl vermutet, auch die Sprache müsse bei
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soviel Verlorenem abgegangen sein, bemerkte sie Jahre später im Gespräch. Die ungezählten Vorbehalte, die sie mit sich führte, bewahrheiteten sich auf Schritt und Tritt : die Menschen lebten „von der Lebenslüge und der Dummheit“, hielt sie fest und beobachtete verständnislos, wie Zufallsgäste am Nebentisch Dutzende von Ansichtskarten mit gotischen Kirchen, idyllischen Parks oder alten, von noblen Bürgerhäusern umstandenen Plätzen schrieben, die der Bombenkrieg längst weggeräumt hatte. „In den Trümmern hockten eine blinde Geschäftigkeit, der Hunger und das Selbstmitleid“, sagte sie. „Schön und wie unberührt war nur die Landschaft, die Zugfahrten weckten nie gekannte Gefühle der Vertrautheit.“ Aber erst in der Wiederbegegnung mit dem hoffnungslos zerstörten Berlin schmolzen ihre Reserven dahin : Die Bewohner der Stadt seien „unverändert, großartig, menschlich, humorvoll, klug, blitzklug sogar : Dies zum ersten Mal wie nach Hause kommen“, notierte sie für ihren Mann, und in der Erinnerung sagte sie noch Jahre später : „Es war unvergesslich! Wie selten in meinem Leben hatte ich das Gefühl, irgendwo wirklich angekommen zu sein. Und das im zerstörten Berlin ! Und auch noch 1949 !“ Im Dezember des Jahres fuhr sie zu Jaspers nach Basel, dem sie bald nach dem Krieg geschrieben hatte, seit sie wisse, dass er und seine Frau dem „Höllenspektakel“ entkommen seien, fühle sie sich „wieder etwas heimatlicher in dieser Welt“. Jetzt, bei ihrem Wiedersehen, gestand sie nach langen Skrupeln die Affäre mit Heidegger. Zu ihrer Verwunderung zeigte sich Jaspers aber weder eifersüchtig noch moralisch irritiert, sondern rückte sich er wartungsvoll im Stuhl zurecht und sagte nur : „Ach, aber das ist ja sehr aufregend.“ Dann bat er sie, zu erzählen. Hannah Arendt berichtete, was sie Jaspers zumuten mochte, und erfuhr, gleichsam im Gegenzug, weitere Einzelheiten über Heideggers Verhalten während der Hitlerzeit. Sie hatte ihn bei Gelegenheit, zumal aufgrund seiner schmählichen Aufführung gegen Edmund Husserl, dem er buchstäblich „das Herz gebrochen“ habe, einen „potentiellen Mörder“ genannt. Jetzt gewann sie zusätzliche Belegstücke für ihr schroffes Urteil. Bei dem auf Jahre hin letzten Zusammentreffen mit Heidegger, so berichtete Jaspers beispielsweise, sei seine jüdische Frau in Tränen ausgebrochen über das, was seit dem Parteieintritt und der Rektoratswahl über den einstigen Freund in den Zeitungen zu lesen stand. Der aber habe als Trost für sie nur die Antwort gehabt : „Es tut gut, einmal zu weinen“ und sich anschließend nahezu grußlos davongemacht. Auch bekam Hannah Arendt die Briefe Heideggers zur Einsicht, und sie gaben ihr weitere Beispiele seiner „Verlogenheit oder besser Feigheit“. Am Ende kamen Jaspers sogar Bedenken, ob sie nicht zu weit gegangen seien. „Der arme Heidegger“, sagte er, „nun sitzen wir hier, die beiden besten Freunde, die er hat, und durchschauen ihn.“ Das nahe gelegene Freiburg mied Hannah Arendt zunächst, und als eine Freundin sie fragte, ob sie sich auf ein Wiedersehen mit Heidegger freue, erwiderte sie : „Um sich auf Freiburg zu ‚freuen‘, dazu gehört ein bestialischer Mut – über den ich aber nicht verfüge.“ Und ihren Mann in New York ließ sie wissen,
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sie wolle alles dem Zufall überlassen. Aber dann teilte sie ihm plötzlich mit, sie werde an einem der folgenden Tage in Freiburg „sein müssen“ ( !), fügte aber im Hinblick auf Heidegger hinzu, sie habe nicht „die allergeringste Lust, den Herrn wiederzusehen“. Doch die fast schulmädchenhafte Verlegenheit, mit der sie mir über das emotionale Durcheinander jener Tage Auskunft gab, deutete darauf hin, dass sie wieder, wenn auch diesmal vor allem mit sich selber, das Versteckspiel vergangener Zeiten trieb. Jedenfalls ließ sie sich von einem Freund aus Studententagen, dem Romanisten Hugo Friedrich, die Adresse Heideggers geben. Am 7. Februar 1950 war sie in Freiburg. Zu ihrem Versteckspiel gehörte vermutlich auch die Behauptung, Heidegger habe sich am frühen Abend dieses Tages einigermaßen überraschend im Hotel „Zum Bären“ eingefunden und nach ihr verlangt. Bezeichnenderweise weicht fast jede Schilderung des Wiedersehens partienweise von der anderen ab. Die folgende Version geht über wiegend auf Mary McCarthy zurück, die an dem Geschehen nicht nur halbwegs beteiligt war, sondern, wie sie sagte, die unterschiedlichen Aussagen auch gegeneinander abgewogen hat. Sie vermittelt die glaubwürdigste Darstellung – wobei freilich zu bedenken bleibt, dass das Leben, so wie es wirklich abläuft, voller Ungereimtheiten steckt, die zuweilen erst durch die korrigierenden Eingriffe eines Schriftstellers Glaubwürdigkeit gewinnen. Gleich nach ihrer Ankunft im Hotel rief Hannah Arendt Mary McCarthy in Paris an : ob sie Heidegger ihre Ankunft melden solle, wollte sie wissen, und die Antwort war, warum sie überhaupt in Freiburg Station gemacht habe, wenn sie darüber unsicher sei. Aus Hannah Arendt brach es plötzlich heraus, fuhr Mary McCarthy fort, dass Heidegger unausstehlich sei mit seiner pathologischen Unaufrichtigkeit, seiner Kälte und Schwarzwälder Schlaumeierei. „Aber jedem ihrer Worte war anzumerken, dass sie an ihm litt wie nur eine Liebende leidet.“ Sie solle die Nachricht schicken, unterbrach die Freundin sie schließlich, um der Tirade ein Ende zu machen. Denn sie werde es sich nie verzeihen, wenn sie unverrichteter Dinge wieder abreise. Hannah schrieb daraufhin, ging der Bericht weiter, eine kurze Notiz und ließ den Hoteljungen kommen. Sie gab ihm fünf Dollar und schärfte ihm ein, das Kuvert am Rötebuckweg 47 dem Professor persönlich zu übergeben. Nicht seiner Frau, nicht einem Hausmädchen oder einem der Söhne. Sollte er ihren Auftrag, wie verlangt, ausführen, werde sie ihm weitere fünf Dollar geben. Eine gute Stunde später war der Junge zurück und meldete, er habe alles, wie von der Frau Professor gewünscht, erledigt. Einige Zeit lang tat sich nichts, und bei Mary McCarthy schrillte ungefähr alle dreißig Minuten das Telefon. Hannah Arendt war einmal empört, dann ratlos, auch geknickt oder voller Hohn, bis alles von neuem begann. Es war eine höchst verwirrende, ratlos machende Geschichte. Aber gegen Abend endeten die Anrufe unvermittelt. Wie Mary McCarthy später erfuhr, hatte Heidegger sich bald nach dem Besuch des Botenjungen auf den Weg zum Hotel gemacht und dort seinerseits einige Zeilen hinterlassen. Darin ließ er sie in dürren, nach Hannah Arendts
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eigener Bekundung „unendlich fern klingenden Worten“ wissen, dass er für diesen Abend allein sei und sie gern wiedersehen wolle. Im Nebenhinein ließ er die Bemerkung einfließen, dass seine Frau inzwischen über ihre einstige Affäre unterrichtet sei, und Hannah Arendt wird ihm dieses Bekenntnis hoch anrechnen, weil es ihrem uneingestandenen Wunsch entgegenkam, Rechtfertigungsgründe für Heidegger zu finden oder notfalls auch zu erfinden. Er, „der doch notorisch immer und überall lügt“, schrieb sie an Heinrich Blücher, habe wenigstens seine Passion für sie eingestanden, und dass er damit seine Frau, die Rivalin vieler Jahre, gedemütigt hatte, verstärkte ihr Gefühl der Genugtuung. Kaum hatte Heidegger dem Portier seinen Brief ausgehändigt, machte er sich auf den Heimweg, weil ihm die Dinge einen allzu überstürzten Lauf nahmen. Aber nach einigen Schritten kehrte er um, kam noch einmal ins Hotel zurück und ließ sich bei Frau Arendt melden. Er stand, als er ihr Zimmer betrat, wie ein „begossener Pudel“ da, hat Hannah Arendt die Szene beschrieben, und viele ihrer Freunde haben von dem „heimlichen Triumph“ gesprochen, den sie darüber empfand, dem Geliebten erstmals ohne die „alte Kinderangst“ gegenüberzutreten. Schon bald nach der Begrüßung fand Heidegger über seine Befangenheit hinweg, er schien, den Worten Hannah Arendts zufolge, „absolut keine Vorstellung davon ( zu haben, dass) alles fünfundzwanzig Jahre zurücklag“ – was immer sie damit andeuten wollte. Jedenfalls stellte sich bald wieder der vertraute Ton von einst zwischen ihnen her, und Hannah Arendt, so hat Mary McCarthy erzählt, habe daraufhin den einen und anderen Anlauf unternommen, ihn zu ein paar Worten über sein Verhalten 1933 und später zu veranlassen. Doch Heidegger schwieg, und Mary McCarthy gewann den Eindruck, er habe die Aufforderungen kurzerhand überhört und statt dessen von den Verleumdungen gesprochen, denen er seit Jahren ausgesetzt sei, den Entwürdigungen mitsamt dem Lehrverbot und den tausend quälenden Zumutungen einzig aufgrund eines politischen Irrtums. Die Bereitwilligkeit, mit der sie sich „abfertigen“ ließ, meinte Mary McCarthy, beweise, dass der einstige Zauber schon zu dieser Stunde wieder zu wirken begann. Sie werde gleichwohl nicht preisgeben, setzte sie unaufgefordert hinzu, wie nahe die beiden sich in der „evening - night“ ihrer Wiederbegegnung gekommen seien. Aber Hannah schrieb : „Dieser Abend und dieser Morgen sind die Bestätigung eines ganzen Lebens.“ Hätte sie die Gelegenheit zu diesem Treffen ausgeschlagen, wäre das etwa das gleiche gewesen, wie „mein Leben zu verwirken“, und ihrem Mann bekannte sie : es sei von ihr ganz gewiss richtig gewesen, Heidegger „nie zu vergessen“. Für den folgenden Morgen hatte Heidegger auf einem Besuch Hannah Arendts im Rötebuckweg bestanden, damit sie seine Frau kennenlerne. Womöglich trug er sich, wie in den zwanziger Jahren, noch immer mit dem Gedanken, Hannah als „Maitresse clandestine“ in sein Leben einzufügen : Er brauche Elfride ebenso wie Hannahs Liebe, ließ er die beiden Frauen wissen. Die von ihm umsichtig moderierte, „phantastische Szene“ verlief denn auch in halbwegs einverständigen Formen, und die anfangs belauernde Spannung zerging, den
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Worten Mary McCarthys zufolge, im „herrischen Auftreten Hannahs“, die mit jedem Wort und jeder Geste anzuzeigen schien, dass sie endlich in ihr Besitztum einkehre : Heideggers wahrlich verzweifelte Lage an der Seite dieser Frau bedrücke sie sehr, ließ sie die Freundin wissen. An Heinrich Blücher schrieb sie, Elfride sei „leider einfach mordsdämlich“, und mir gegenüber bemerkte sie in einem der vielen Plädoyers für Heidegger, einzig „diese Frau, ihr Brett vor dem Kopf und ihr fressender Ehrgeiz ( hätten ) den gutmütigen und weltfremden Mann in die Nazidummheit gedrängt“. Sie empfinde bei jedem Gedanken an Elfride eine Art „angewiderten Mitleids“. Das Wiedersehen vom 7. und 8. Februar 1950 erwies sich für Heidegger als lebensverändernde Wende. Bis dahin hatte er die Angriffe, die ihm galten, immer nur abgewehrt und gleich anderen Mitläufern beteuert, er habe die zwölf Jahre hindurch im Stillen gelitten. Jetzt ging er gleichsam in die Offensive über. Denn Hannah Arendt war die Lossprechung. Zwar hatte auch sie zunächst ein Schuldeingeständnis verlangt. „Ich wollte noch nach unserer Wiederbegegnung, dass er einmal wenigstens, und sei es lediglich in einem Brief, sein Fehlverhalten einräume. Es sollte kein großer Kniefall sein wie von den Reuedeutschen überall, vor denen mir bis heute unsäglich graust. Nur ein paar erklärende Sätze. Aber dann ließ ich von dem Verlangen ab. Denn Heidegger wusste mir klarzumachen, dass noch das unverfänglichste seiner Worte immer auch bedeuten würde, dass sein Einvernehmen mit Massenmördern prinzipiell vorstellbar sei.“ So leicht, fuhr er dann fort, dürfe er es seinen vielen Feinden aber nicht machen. Sie warteten nur allzu begierig darauf, Missverständnisse zu konstruieren und ihm, wie er sagte, „die Schuldschelle“ umzuhängen. Die großen Lebensirrtümer müsse jeder mit sich selbst verhandeln. Er denke jedenfalls nicht daran, sich vor dem Pöbel zu bekreuzigen. So erfand Heidegger sich Schritt für Schritt eine Neufassung seines Lebens während der Hitlerzeit und teilte sich, über die anfängliche Dulderrolle hinaus, den Part des drangsalierten Regimegegners zu. „Keiner ( hat ) das gewagt, was ich wagte“, schrieb er bereits im April 1950, zwei Monate nach der Wiederbegegnung mit Hannah Arendt, ausgerechnet an Karl Jaspers, der es so viel besser wusste. Aber Heideggers Dreistigkeit bezeugt, wie hoch er die Bedeutung seiner einstigen Schülerin veranschlagte, und Mary McCarthy hat berichtet, sie habe in ironischen Stimmungen mitunter von der „Martinslegende“ gesprochen – das jedoch niemals in Gegenwart Hannahs, weil auch die engste Freundschaft nicht alles aushalte. Das eine und das andere Jahr haben sich Hannah Arendt und Martin Heidegger in der Folgezeit getroffen, doch dann setzten die Begegnungen lange Zeit aus. Während ihres Deutschlandaufenthalts von 1955 besuchte sie Heidegger nicht, sie habe das Gefühl gehabt, sagte sie später, er neide ihr den inzwischen erzielten Welterfolg des „Totalitarismus“ - Buches. Sie überlegte auch, ob es als Heimzahlung zu verstehen sei, dass Heidegger sich bei ihrem folgenden Besuch in Freiburg nicht bei ihr meldete, sondern sogar, wie sie erfuhr, seinen Schülern und Anhängern verbot, sie zu treffen. Mit der Grobheit, die ihm
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eigen war, ließ er sie darüber hinaus wissen, er lese ihre Bücher nicht, sondern reiche sie seiner Frau weiter. Hannah Arendt erzählte solche Begebenheiten mit belustigter Empörung, und in ihrer Stimme klang aufs neue der Triumph durch, den sie aufgrund der Einsicht gewann, dass selbst der sozusagen große Heidegger kleine Rachebedürfnisse empfand. Sie war nicht mehr die „Schülerin“. Sie war es immer noch. Wie die zu jeder Zeit komplexe Verbindung zwischen beiden, zumal in dieser Phase, zu beurteilen ist, mögen die Biographen herausfinden. Unüberhörbar war in allem, was Hannah Arendt dazu äußerte, dass sie nicht mit Heidegger ins Gerede kommen wollte, auch Jaspers, bemerkte sie einmal, habe ihr verschiedentlich die „Anhänglichkeit an Freiburg“ vorgehalten; ein andermal sprach sie von der „egalweg herumkontrollierenden Elfride“, die sie einfach „satt“ gehabt habe. Doch am stärksten schien in allem, was sie sagte, die noch immer wirkende Sorge im Spiel, wiederum in eine kaum steuerbare Verwirrung der Gefühle zu geraten. Wie stark die Versuchung nach wie vor war, ging aus ihrem Eingeständnis während unserer Rückfahrt aus Baden Baden her vor : Sie habe Heidegger mehr als zehn Jahre lang nicht gesehen, bekannte sie, doch habe sie in den vergangenen Tagen wiederholt den Wunsch verspürt, ohne viel nachzudenken den Zug nach Freiburg zu nehmen und bei Heidegger um Verzeihung für ein Zerwürfnis nachzusuchen, das es überhaupt nicht gab. Eine überaus merkwürdige Rolle in dem seltsamen Stück spielte Heinrich Blücher, der inzwischen als Lehrer am Bard - College im Staat New York tätig war. Helen Wolff, die Verlegerfreundin Hannah Arendts, sagte mir einmal, er sei allezeit über den Stand des Verhältnisses seiner Frau zu Heidegger unterrichtet gewesen, doch habe er darin nur eine verlängerte Lehrer - Schüler - Beziehung gesehen – „mehr konnte und wollte er nicht wahrnehmen oder gar wahrhaben. Heinrich war zu schlicht für ver worrene Liebesverhältnisse“, fügte sie hinzu. Was die Ehe der beiden dauerhaft gemacht habe, sei der „Wesensabstand“ zwischen ihnen gewesen. „Er ein grüblerischer Pflastertreter, wie wir früher sagten“, meinte Helen Wolff, „Hannah dagegen eine Romantikerin.“ Schon vor 1933 seien es die Heimlichkeiten gewesen, zu denen die Verbindung mit Heidegger sie zwang, „die verstohlenen Küsse auf der Hintertreppe“ sozusagen, was ihre Liebe erst erweckt hat : „Danach sehnte sie sich noch immer. Ich habe stets gedacht, dass bei der Reise nach Freiburg, Februar 1950, ganz im Verborgenen auch die uneingestandene Hoffnung nach den Verbotsspielen von einst am Werke war. Vielleicht ! Vielleicht auch nicht ! Hannah war so ! Aber Heidegger hat ihr diese Hoffnung zerschlagen, indem er sie mit Elfride zusammenbrachte. Hannah durchschaute das sofort. Dennoch setzte sie die Aufführung ihres kleinen Rührstücks einen Akt lang auf sozusagen verlassener Bühne fort.“ Es war Ende der sechziger Jahre, dass ich wegen irgendeines Vorkommnisses auf der bundesrepublikanischen Szene in eine Meinungsverschiedenheit mit Hannah Arendt geriet. Mit der temperamentvollen Kälte, über die sie im Disput gebot, sah sie wieder die „Geister der Vergangenheit“ am Werk und klagte einmal mehr über die „Unbelehrbarkeit des deutschen Gemüts“. Da kurz zuvor
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von Heidegger die Rede gewesen war, als dessen amerikanische Agentin sie sich unterdessen betätigte, lag die Frage nahe, warum sie ihn, im Gegensatz zu den Deutschen insgesamt, so nachsichtig beurteilte. Als verlange ihre Antwort eine besondere Haltung, legte sie die Zigarette weg, richtete sich fast etwas feierlich auf und sagte dann mit entwaffnender Offenheit : „Aber Heidegger gegenüber war und bin ich doch nicht frei !“ Ich habe oft bedauert, dass ich die Anschlussfrage unterließ, ob sie es denn den Deutschen gegenüber sei. Das ausweglose Durcheinander ihrer Gefühle wird in der Widmung offenbar, die sie 1960 auf ein Einlageblatt für Martin Heidegger in eines ihrer Hauptwerke schrieb : „De vita activa / Die Widmung dieses Buches ist ausgespart. / Wie soll ich es Dir widmen, / dem Vertrauten, / dem ich die Treue gehalten habe / und nicht gehalten habe, / Und beides in Liebe.“ Sie schickte das Blatt aber nicht ab. Auf die Frage, ob sie je an eine Rückkehr nach Deutschland gedacht habe, kam wieder das Motiv der Fremdheit zum Vorschein. „Wohin sollte ich ?“, fragte sie. Die Universitäten mit ihren unzähligen, gleichsam unterirdischen Querverbindungen kenne sie so wenig, dass sie bald an den Rand geraten würde. Mit Frankreich verhalte es sich nicht anders. Am ehesten käme die Schweiz in Frage, die wie Amerika den unschätzbaren Vorteil habe, „den Hinzukommenden niemals seine Fremdheit spüren“ zu lassen, „allzu deutlich jedenfalls nicht“. Aber bisweilen über wältige sie das angeborene und von den Zeitläuften verstärkte „Fluchttrauma“, wie sie es einmal nannte. Am 17. Juni 1953 habe sie sich ernsthaft gefragt, wo auf der Welt „die sicherste Höhle“ sei, bei Malenkows Rücktritt, beim Ungarnaufstand 1956, bei der Kubakrise und allen weiteren „Verdüsterungen am Welthimmel“ ebenso, und als Ende der sechziger Jahre der Vietnamkrieg eskalierte, habe sie sich tatsächlich überlegt, ob sie noch nach Amerika gehöre oder nicht besser einen deutschen ( !) Pass beantrage. Europa sei am Ende doch ihr Zuhause, habe sie damals zu Freunden gesagt. „Ein bessres findst Du nit“, zitierte sie parodierend das Lied vom Guten Kameraden. „Trotz allem !“, ergänzte sie. Was ihre im Ganzen pessimistische Stimmung zuweilen aufgehellt habe, sagte sie später, seien die Studentenunruhen überall gewesen. Die jungen Leute hätten begriffen, dass Demokratie auf der Straße stattfinde, dass es sozusagen Bürgerpflicht sei, den öffentlichen Raum nicht dem Staat oder sonstwem zu überlassen. Er sei Eigentum, Vorrecht und Schuldigkeit jedes Einzelnen. In ihm entwickle sich auch die sogenannte Basisdemokratie, für die sie stets eine große, vielleicht naive Vorliebe gehabt habe wie zu „allen nie erprobten Sachen“. Es kam darüber zu einer langwierigen, in einem späteren Gespräch noch einmal weitergeführten Auseinandersetzung. Ich verwies darauf, dass die von ihr erwähnten Aufbrüche zwar eindrucksvoll im gesellschaftlichen Widerspruch seien, aber nicht die Spur einer konstruktiven Phantasie erkennen ließen. Sie räumte das ein, meinte jedoch, dass der Aufbruch eine Chance erhalten sollte. „Das Jahrhundert hat so vielem offenbaren Unfug Erprobungsmöglichkeiten gegeben. Warum nicht einmal den Leuten guten Willens ?“, sagte sie. Darüber kam es zu neuerlichen Meinungsverschiedenheiten. Am nachdenklichsten stimmte sie
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noch der Einwand, dass keine Chance verdient habe, wer, wie die deutschen Studenten, mehr als hundert Jahre nach Marx auf dessen blutig gescheiterte Ideologie zurückgreife. Doch etwas später wandte sie ein, man dürfe nicht ganz die „russischen Finsternisse“ übersehen, die jedem politischen Experiment zwischen Minsk und Moskau zum Unheil gereichten. „Und an die deutschen Finsternisse denken Sie nicht ?“, hielt ich ihr entgegen. Im Ganzen war mir ihre Zuversicht, dass an die Stelle der zerschlagenen alten Strukturen wie von selbst, gleichsam durch die lenkende Vernunft des Weltgeists, humanere Ordnungen treten könnten, „zu romantisch, zu geschichtsfromm“ und, fügte ich noch hinzu, „im Grunde auch zu deutsch“. Sie nahm es lachend hin. Sie sei kaum weniger skeptisch, sagte sie. „Aber eine Chance muss es geben !“ Als wir Anfang der siebziger Jahre noch einmal über diesen Zusammenhang sprachen, war alles anders. Hannah Arendt hatte in der Zwischenzeit an einer akademischen Veranstaltung in Heidelberg teilgenommen und war beim Betreten der Alten Aula durch ein Spalier grölender, aufgebracht tobender Studenten gegangen. Sie wolle sich mit ihren Panikempfindungen nicht aufspielen, sagte sie. Aber die Gesichter und aufgerissenen Münder, die da ganz nahe an sie herangekommen seien, hätten sie an die „SA - Bengels“ von ehedem erinnert. Woran liege es, fragte sie später, dass alles, was die Deutschen anrührten, einen „Verderbenskeim“ in sich trägt; dass ihnen die hochfliegendsten Träume durch den Hang ins Extreme, in die Weltblindheit oder was sonst alles zum Unglück ausschlagen ? Jetzt fand sie auch Marx weit problematischer als in dem voraufgegangenen Gespräch, und den Marxismus, über alle früheren Vorbehalte hinaus, „intellektuell wie moralisch durch und durch verfault“. Wir sprachen dann über die von den Studenten aufgerührte Totalitarismusdebatte und später über den „Aufmarsch von verworren - links“, wie sie es nannte. Die Wortführer des Totalitarismusstreits attackierten sie, als einen der Begründer dieser Theorie, zunehmend häufiger, bemerkte sie. Die, wie sie meinte, gegen allen Augenschein sowie gegen das Denken selbst gerichtete Behauptung vom fundamentalen Gegensatz zwischen Kommunismus und Faschismus diene lediglich dazu, die sozialistische Seite von allen begangenen und künftigen Verbrechen reinzuwaschen. Schneidend, von Zeit zu Zeit in sarkastisches Gelächter wechselnd, brach es aus ihr hervor, wie ich es ähnlich heftig nie erlebt hatte : „Wer will da Unterschiede machen ?“, rief sie. „Als ob es eine Rangordnung in Massengräbern gebe !“ Ein „Brechreiz“ überfalle sie, sooft dergleichen behauptet werde. „Tote sind Tote ! Sie machten uns leiden, verzweifeln, weinen und trauern – unter welchem Zeichen auch ! Wie korrupt und ordinär muss es in einem Gehirn zugehen, das selbst die Trauer noch politisch markiert!“ Während Hannah Arendt sonst, worüber immer sie sprach, der Musterfall eines Kopfes war, der seine Gedanken geradezu erkennbar beim Reden verfertigte, stürzten sie diesmal fast ungeordnet aus ihr hervor. Sie verhöhnte die ehemaligen Kommunisten, die ihre Torheit als immerwährendes Lebensthema ausbeuteten, und sagte von den Gegnern der Totalitarismustheorie, die einer Ideologie, das heißt einer „Schreibtischinfamie“ so eminente Bedeutung zusprä-
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chen, sie hätten aus einem Jahrhundert der Katastrophen nichts gelernt. Ideologien, fuhr sie fort, seien Spielformen für den Typus des „dummen Augusts“, der zum Krankheitsbild westlicher Gesellschaften gehöre. Der „dumme August“ trete mit Vorliebe in Gestalt des Intellektuellen auf. Für ihren Verleger Bill Jovanovich habe sie deshalb seit je die herzlichsten Empfindungen, weil er, trotz seines Dauerumgangs mit Büchern, kein Intellektueller sei, und das hieße fast schon soviel wie : ein Mensch, der Vertrauen verdient. Und dass seine Blumensträuße jedesmal etwas zu groß ausfielen und sein unternehmerischer Appetit stets allzu gewaltig sei, nehme sie dafür gern in Kauf. Dann kam sie wieder auf das Ausgangsthema zurück. Man müsse, weiß Gott, nicht allzu tief blicken, um das gemeinsame Urbild von Kommunismus wie Nationalsozialismus zu erkennen. Beide setzten alles daran, eine fiktive Welt zu erfinden, die ihre Rechtfertigung aus dem Einklang mit dem historischen oder biologischen Gesetz beziehe. „Wer da nicht mitgeht, wird seelisch oder physisch ohne viele Umstände ausgelöscht. Das ist, in Kürze, die ganze bodenlose Wahrheit. Alles andere ist Geschwätz. Und unsere Erinnerung“, setzte sie hinzu, „hätten die Millionen Toten der vermeintlichen linken Heilsbotschaft ebenso verdient wie diejenigen, die der primitiven Blutgier der Nazis zum Opfer fielen : Das ist“, schloss sie, „die zeitgenössische Wahrheit des Satzes, dass der Tod ein großer Gleichmacher ist.“ Während unseres letzten Gesprächs, im Frühjahr 1975, kamen wir noch einmal auf die Bewandtnisse der Regime von „Ideologie und Terror“ zurück. Wir sprachen über den dogmatischen Anspruch auf Weltdeutung, den sie mit geradezu religiösem Eifer geltend machten : sie führten sich auf wie der erschienene Gott, der an die Stelle des vertriebenen Christengotts getreten sei. Warum nur, fragte Hannah Arendt, habe Europa, jedenfalls aufs Ganze gesehen, den alten Gott in die Flucht geschlagen, wenn es sich, gleichsam im Handumdrehen, einem sowohl schrecklicheren als auch sichtlich fehlerhafteren Weltenlenker in die Arme werfe ? Als gläubiger Christ würde sie fragen, ob die modernen Ideologien die Rache des vertriebenen Gottes seien ? Jetzt müssten sich die Menschen mit einer Welt abfinden, die zwar das Jenseits abgeschafft habe, ihnen aber keinen Trost mehr biete. Auch wisse sie keine Antwort auf die Vergeltungsbedürfnisse, die wir alle mit uns herumtragen, und die einst im großen Gedanken vom Jüngsten Gericht ihre Aufrechnung fanden. „Wussten Sie übrigens“, fragte sie, als das Gespräch längst auf irgendwelche Seitenwege abgekommen war, „dass das erste Gebot der modernen Gesetzestafel ‚Gott ist tot!‘ nicht von Nietzsche herkommt, wie alle glauben, sondern von Hegel ?“ Sie hat für ihr Sein und Tun die treffende Formel vom „Denken ohne Geländer“ gefunden und alle ihre Arbeiten : die philosophischen und politologischen Traktate, die Porträts, Gedankenstücke sowie ihre Einlassungen in den öffentlichen Disputen, an denen sie mit Leidenschaft teilnahm, zeugen davon. In mutwilligen Stimmungen konnte man sie hinzusetzen hören : „Leben sollte man ebenfalls ohne Geländer. Wenn man kann.“ Während einer Unterhaltung am Riverside Drive, im Frühsommer 1974, hat sie die Maxime mit den Worten
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umschrieben : „Nie mit dem Widerspruch zurückhalten, wenn es um das erkannt Richtige oder die Treue zu sich selber geht.“ Und nach einer kurzen Pause : Was das Leben ohne Geländer angeht, habe sie nichts zu sagen. Sie dachte, stellte ich mir vor, vermutlich an Martin Heidegger und die, nach den Worten Mary McCarthys, „bis zum letzten Tag ihres Lebens trotz allem nie verwundene Liebe, die sie für ihn empfand“. Aber dazu sagte ich nichts. Der Freundin gegenüber bemerkte ich später, das Leben Hannah Arendts sei, genau und aufs Persönliche besehen, doch eine ziemliche Tragödie gewesen. Mary McCarthy dachte einen Augenblick lang nach und er widerte dann mit der Lebensklugheit, die so ungemein beeindruckend an ihr war : „Ach, wissen Sie, Hannah war gerade so unglücklich, wie es ein deutsches romantisches Mädchen zu seinem Glück benötigt.“ In den späten Jahren hörte ich von Hannah Arendt, sooft die Rede auf Heidegger kam, nur noch selten etwas aus ihren Erinnerungen oder gar über ihre großen Gefühle. Statt dessen berichtete sie gern vom Fortgang der Werkausgabe, einem geplanten Manuskriptverkauf und anderem. Zu den wenigen persönlichen Bemerkungen über ihr Lebensthema zählte das Bekenntnis von Anfang 1975, sie fühle sich „durch Heidegger als denkendes Wesen wie als Frau erhoben bis heute“. Und einige Monate später hatte sie, ähnlich hochgreifend, wenn auch ins Unbestimmte ausweichend, bemerkt, das Leben werfe Fragen auf, für die es in dieser Welt keine Antwort gibt. Vielleicht in einer anderen. Vom Fragen dürfe man deswegen aber nicht lassen. Sie wisse kein Mittel gegen die Verführungsmacht des „Hochseils“, hat sie auf eine Warnung vor ihrer ständigen Selbstverausgabung geantwortet. Anfang der siebziger Jahre hatte sie mit der Arbeit an einem mehrbändigen Werk begonnen, das die Summe ihrer Einsichten in die Bewegungsabläufe der Welt vereinen sollte. Der erste Band trug den Titel „Das Denken“, der zweite Band behandelte „Das Wollen“, der dritte „Das Urteilen“. Wie stets entwickelte sie ihre Vorstellungen gern in der Auseinandersetzung mit kritischen Gegenspielern. Doch im Sommer 1974 erlitt sie während einer Konferenz im schottischen Aberdeen einen Herzinfarkt. Kaum aus dem Sauerstoffzelt entlassen, begann sie wieder, wie zeit ihres Lebens, unentwegt zu rauchen und sich im Hohn über die „Gesundheitsnarren“ zu ergehen. Unmittelbar nach der Rückkehr machte sie sich neuerlich an die Arbeit. Im Dezember des folgenden Jahres, zum Abschluss des zweiten Bandes, hatte sie ein befreundetes Ehepaar zum Abendessen eingeladen. Beim Kaffee berichtete sie unter anderem von der geplanten Fortsetzung des Werkes. Auf irgendeine Frage wollten die Gäste eine Antwort hören. Hannah Arendt saß aufrecht in ihrem Armsessel, von der Zigarette in ihrer Hand stieg kräuselnd der Rauch empor, und als die Frage wiederholt wurde, erlitt sie plötzlich einen kurzen Hustenanfall. Dann neigte sie sich wie unschlüssig zur Seite, fiel in tiefer Ohnmacht über die Stuhllehne und war wenig später tot. In die Schreibmaschine war ein neuer Bogen eingespannt. Darauf standen die beiden Motti, die sie dem dritten Band voranstellen wollte. Das eine stammte aus Goethes „Faust“
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und lautete : „Könnt’ ich Magie von meinem Pfad entfernen, / Die Zaubersprüche ganz und gar verlernen, / Stund’ ich, Natur, vor Dir, ein Mann allein, / Da war’s der Mühe wert, ein Mensch zu sein.“ Das zweite Motto hatte sie Lukans „Pharsalia“, der Darstellung des Bürgerkriegs zwischen Cäsar und Pompejus, entnommen. Es gedachte des durch Cäsars Sieg unterlegenen republikanischen Gedankens mit dem berühmten Satz : „Die siegreiche Sache gefiel den Göttern, die unterlegene jedoch dem Cato.“ Man müsse aus allem, was die Welt an Drama, Spiel und Schrecklichkeit aufweise, eine Geschichte machen, hat Hannah Arendt verschiedentlich gesagt und geschrieben, sonst falle alles je Geschehene in den immer offenen Rachen der Erinnerungslosigkeit. Die Griechen, die sich der Sterblichkeit des Menschen jederzeit bewusst gewesen seien, hätten das Geschichtenerzählen erfunden, um dem Tod nicht das letzte Wort zu überlassen. Der erkennende Blick stoße unablässig auf große, wenn auch von der Gewöhnlichkeit des Alltags überdeckte Szenen, auf ungezählte stumme Tragödien und die niemals endenden Täuschungen des Glücks. Alles das warte nur darauf, geordnet und in Worte übersetzt zu werden. Auch Biographien, warf ich ein, enthielten häufiger, als viele meinten, eine Geschichte. „In der Tat“, erwiderte sie, „wo sie nichts Erzählbares hergeben, ist das Leben nicht gelebt worden.“
Autorenverzeichnis Werner Becker, Prof. Dr., Universität Gießen Karl-Heinz Breier, Priv.-Doz. Dr., Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Micha Brumlik, Prof. Dr., Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main Hauke Brunkhorst, Prof. Dr., Universität Flensburg Joachim Fest, 1973 bis 1993 Herausgeber der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ Lothar Fritze, apl. Prof. Dr., Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung an der Technische Universität Dresden Friedrich Pohlmann, Priv.-Doz. Dr., Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Julia Schulze Wessel, Dr., Technische Universität Dresden Achim Siegel, Dr., Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Alfons Söllner, Prof. Dr., Technische Universität Chemnitz Winfried Thaa, Prof. Dr., Universität Trier Peter Trawny, apl. Prof. Dr., Universität Wuppertal
Wenn Sie weiterlesen möchten ... Claudia Althaus
Erfahrung denken Hannah Arendts Weg von der Zeitgeschichte zur politischen Theorie Persönliche und zeitgeschichtliche Erfahrungen konstituieren das geschichtliche Bewusstsein des Menschen. Handelt es sich dabei um einschneidende oder gar katastrophische Erfahrungen, müssen sie sinnhaft gedeutet werden, damit die zeitlichen Veränderungen planend und handelnd bewältigt werden können. Hannah Arendt (1906–1975) musste als Jüdin 1933 Deutschland verlassen. Ihre persönlichen und zeitgeschichtlichen Erfahrungen haben Methode, Inhalt und Gestalt ihres Denkens stark beeinflusst. Inwiefern und in welchem Ausmaß, ist Gegenstand der Untersuchung von Claudia Althaus, die Arendts metatheoretische Überlegungen zum Begriff der Erfahrung ebenso einbezieht wie ihre geschichtstheoretischen Reflexionen. Hannah Arendt entwickelte ihre politische Theorie vor dem Hintergrund der Katastrophe totaler Herrschaft. Im Mittelpunkt ihres politischen Denkens steht die Erinnerung, der eine zentrale gesellschaftskritische Funktion zukommt. Als Erzählung von Geschichte soll Erinnerung die katastrophischen Brüche und Unregelmäßigkeiten dem kollektiven Gedächtnis einschreiben und so ein Bewusstsein für die fortdauernden Bedrohungen individueller Freiheit schaffen.
Wenn Sie weiterlesen möchten ... Jürgen Danyel / Jan-Holger Kirsch / Martin Sabrow (Hg.)
50 Klassiker der Zeitgeschichte Nach 1945 konstituierte und profilierte sich die deutsche Zeitgeschichtsforschung vor allem durch die Auseinandersetzung mit Erstem Weltkrieg, Weimarer Republik und Nationalsozialismus. Erst später trat die Geschichte von Bundesrepublik und DDR als wichtiges Untersuchungsfeld hinzu. Bis 1989 stand die Forschung zudem im Spannungsfeld der deutsch-deutschen Systemkonkurrenz. Zentrale Bücher wie Friedrich Meineckes Die deutsche Katastrophe (1946), Fritz Fischers Griff nach der Weltmacht (1961) oder Joachim C. Fests Hitler. Eine Biographie (1973) waren nicht allein von innerwissenschaftlichem Interesse, sondern lösten auch breitere gesellschaftliche Debatten aus. Viele dieser Bücher werden bis heute oft zitiert; ihre prägnanten Titel sind mitunter zu Chiffren einer Epoche geworden (z.B. Die Unfähigkeit zu trauern). 50 solcher Klassiker werden im vorliegenden Band aus heutiger Sicht neu gelesen – als Dokumente ihrer jeweiligen Entstehungszeit, aber auch als Referenztexte mit Impulsen bis in die Gegenwart. Das Spektrum der chronologisch geordneten Werke reicht von Ernst Fraenkels Der Doppelstaat (1941) bis zu den Begleitbänden der beiden »Wehrmachtsausstellungen« (1995/2002). Dieses Buch richtet sich an alle, die sich für deutsche Geschichte und Historiographiegeschichte im 20. Jahrhundert interessieren. Die hier versammelten Essays renommierter Historikerinnen und Historiker machen die methodischen und thematischen Wandlungen der Forschung ebenso deutlich wie die Wandlungen der Nachkriegsgesellschaft, an die die Werke adressiert waren. Nicht zuletzt lädt dieses Buch dazu ein, die vorgestellten Bände wieder oder erstmals selbst zu lesen.
Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung 34: Mike Schmeitzner (Hg.) Totalitarismuskritik von links Deutsche Diskurse im 20. Jahrhundert 2007. 405 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-36910-4 Welche Bedeutung hatte linke Totalitarismuskritik in den deutschsprachigen Diskursen des 20. Jahrhunderts und wie entwickelte sie sich? Die Beiträge dieses Bandes untersuchen die verschiedenen Entwicklungsstufen dieser Diskurse und spannen dabei den Bogen von den frühen Analysen und Kritiken in der Weimarer Republik über die Konzeptualisierungen im Exil bis zur Theorie und Praxis im Kalten Krieg. Es wird deutlich, dass Totalitarismuskritik nicht nur eine Domäne von Liberalen und Konservativen war und sich auch keineswegs erst im Zuge des Kalten Krieges herauskristallisierte.
33: Hans Jörg Schmidt / Petra Tallafuss (Hg.) Totalitarismus und Literatur Deutsche Literatur im 20. Jahrhundert – Literarische Öffentlichkeit im Spannungsfeld totalitärer Meinungsbildung 2007. 208 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-36909-8 Dieser Band untersucht Genese und Auswirkungen totalitärer Denkweisen in der deutschen Literatur der Zeit und fragt nach den Entstehungsbedingungen von Literatur im Totalitarismus, ihrer Wegbereiterrolle und der Bedeutung literarischer Agitation.
Zensurmechanismen und Repressalien werden dabei ebenso behandelt wie Strategien zeitnahen Reagierens in Widerstand und Exil und Bewältigungsversuche nach dem »Neuanfang« 1945. Die Analysen werden ergänzt durch Fallstudien zu Werken von Johannes R. Becher, Bertolt Brecht, Hermann Broch, Thomas Mann, Ernst Jünger, Christoph Hein und Christa Wolf.
32: Andreas Hilger / Mike Schmeitzner / Clemens Vollnhals (Hg.) Sowjetisierung oder Neutralität? Optionen sowjetischer Besatzungspolitik in Deutschland und Österreich 1945–1955 2006. 574 Seiten mit 18 Tab., 6 Abb. und 2 Karten, gebunden ISBN 978-3-525-36906-7 Dieser Band vergleicht erstmals systematisch die sowjetische Besatzungspolitik in Österreich und in Deutschland nach 1945. Weshalb konnte Österreich seine staatliche Souveränität bewahren und 1955 den Abzug aller Besatzungstruppen erreichen, während Moskau im selben Jahr seine These von der Existenz zweier deutscher Staaten endgültig zementierte? Die Beiträge stellen die Gemeinsamkeiten der Instrumente und Maßnahmen der Besatzungsmacht dar und beleuchten darüber hinaus die fundamentalen Unterschiede in der Ausgangslage und der Besatzungssituation.
Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung Band 31: Uwe Backes Politische Extreme Eine Wort- und Begriffsgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart 2006. 310 Seiten mit 12 Abb., gebunden ISBN 978-3-525-36908-1 Uwe Backes legt mit diesem Buch die erste aus den Quellen rekonstruierte Begriffsgeschichte der politischen Extreme von der Antike bis zur Gegenwart vor.
Band 30: Babett Bauer Kontrolle und Repression Individuelle Erfahrungen in der DDR 1971–1989. Historische Studie und methodologischer Beitrag zur Oral History 2006. 492 Seiten mit 2 Abb., gebunden ISBN 978-3-525-36907-4 Staatliche Kontrolle und Repression in der DDR im Spiegel individueller Erfahrungen (1971–1989).
Band 29: Uwe Backes / Eckhard Jesse (Hg.) Gefährdungen der Freiheit Extremistische Ideologien im Vergleich 2006. 592 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-36905-0 Politikwissenschaftler, Historiker und Soziologen untersuchen die ideologischen Inhalte und Strukturen in den Diskursen, Visionen, Programmen und propagandistischen Bemühungen extremistischer Organisationen.
Band 28: Gerhard Besier / Hermann Lübbe (Hg.) Politische Religion und Religionspolitik Zwischen Totalitarismus und Bürgerfreiheit 2005. 415 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-36904-3 Analysen europäischer und amerikanischer Strategien der Religionspolitik erklären Konfliktpotenziale und Chancen der Pluralisierung.
Band 27: Frank Hirschinger »Gestapoagenten, Trotzkisten, Verräter« Kommunistische Parteisäuberungen in SachsenAnhalt 1918–1953 2005. 412 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-36903-6 Die Tradition der Verfolgung: kommunistische Parteisäuberungen vor 1933 und nach 1945.
Band 26: Stefan Paul Werum Gewerkschaftlicher Niedergang im sozialistischen Aufbau Der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB) 1945 bis 1953 2005. 861 Seiten mit 63 Tab., gebunden ISBN 978-3-525-36902-9 Vom Gewerkschaftsbund zum Herrschaftsinstrument der SED.