Mitgliedstaatliche Handlungspflichten bei Beeinträchtigungen des freien Warenverkehrs durch Private [1 ed.] 9783428517855, 9783428117857

Privatpersonen haben weitreichende Möglichkeiten, den freien Warenverkehr und damit die Errichtung des Binnenmarktes zu

131 112 988KB

German Pages 154 Year 2006

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Mitgliedstaatliche Handlungspflichten bei Beeinträchtigungen des freien Warenverkehrs durch Private [1 ed.]
 9783428517855, 9783428117857

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Veröffentlichungen des Walther-Schücking-Instituts für Internationales Recht an der Universität Kiel Band 163

Mitgliedstaatliche Handlungspflichten bei Beeinträchtigungen des freien Warenverkehrs durch Private Von

Iris-Carola Keun

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

IRIS-CAROLA KEUN

Mitgliedstaatliche Handlungspflichten bei Beeinträchtigungen des freien Warenverkehrs durch Private

Veröffentlichungen des Walther-Schücking-Instituts für Internationales Recht an der Universität Kiel Herausgegeben von J o s t D e l b r ü c k, T h o m a s G i e g e r i c h und A n d r e a s Z i m m e r m a n n Walther-Schücking-Institut für Internationales Recht 163

Völkerrechtlicher Beirat des Instituts: Rudolf Bernhardt Heidelberg

Eibe H. Riedel Universität Mannheim

Christine Chinkin London School of Economics

Allan Rosas Court of Justice of the European Communities, Luxemburg

James Crawford University of Cambridge

Bruno Simma International Court of Justice, The Hague

Lori F. Damrosch Columbia University, New York Vera Gowlland-Debbas Graduate Institute of International Studies, Geneva Fred L. Morrison University of Minnesota, Minneapolis

Daniel Thürer Universität Zürich Christian Tomuschat Humboldt-Universität, Berlin Rüdiger Wolfrum Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberg

Mitgliedstaatliche Handlungspflichten bei Beeinträchtigungen des freien Warenverkehrs durch Private Von

Iris-Carola Keun

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel hat diese Arbeit im Jahre 2003 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten # 2006 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 1435-0491 ISBN 3-428-11785-9 978-3-428-11785-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2003 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel als Dissertation angenommen. Ganz herzlich bedanken möchte ich mich an erster Stelle bei meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Dr. Rainer Hofmann, für die hilfsbereite Betreuung der Arbeit. Stets fand er als interessierter und verläßlicher Ansprechpartner die Zeit, die Arbeit mit wertvollen Anregungen zu fördern. Herrn Prof. Dr. Andreas Zimmermann, LL.M. (Harvard), danke ich für die Erstellung des Zweitgutachtens. Ein herzliches Dankeschön gilt Dr. Tim Schommer und Mayling Keun für die Durchsicht des Manuskripts, Frau Rotraut Wolf für die sorgfältige Erstellung der Druckvorlage sowie Dr. Ulf Kämpfer und Dr. Christian Grote für zahlreiche fruchtbare Diskussionen. Marcus Reussmann danke ich sowohl für seine tatkräftige Hilfe bei der Durchsicht des Manuskripts als auch für seine ermutigende Unterstützung in arbeitsintensiven Zeiten. Mein aufrichtiger Dank gilt schließlich meinen Eltern Dr. Friedrich und Brigitte Keun, die meine gesamte Studien- und Promotionszeit mit großem Interesse verfolgt und mich stets in jeder Hinsicht unterstützt und beständig bestärkt haben. Kiel, im Frühjahr 2006

Iris-Carola Keun

Inhaltsverzeichnis Einleitung A. Einführung und Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

B. Ziel und Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

16

Erstes Kapitel Grundlagen A. Der freie Warenverkehr im Sinne der Art. 28, 29 EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I.

Anwendungsvoraussetzungen des Art. 28 EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17 17

1. Der Begriff der Ware . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

2. Grenzüberschreitender Bezug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

18

3. Mengenmäßige Beschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

18

4. Maßnahmen gleicher Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

18

5. Schranken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

20

a) Rechtfertigungsgründe des Art. 30 EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

20

b) Ungeschriebene Schranken nach Cassis de Dijon . . . . . . . . . . . . . .

21

c) Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

22

Anwendungsvoraussetzungen des Art. 29 EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23

B. Unmittelbare Erfassung privater Beschränkungen gem. Art. 28 EGV . . . . . . . . .

23

II.

I.

II.

Die unmittelbare Drittwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

24

1. Terminologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

24

2. Die Entwicklung der Rechtsprechung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . .

25

3. Das Meinungsbild in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

29

4. Wesentliche Kritikpunkte an dem Verantwortungsmodell einer unmittelbaren Drittwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

30

5. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

32

Zurechnung privater Handlungen als staatseigenes Verhalten . . . . . . . . . . .

32

1. Terminologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

32

2. Rechtsprechung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

32

III. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35

8

Inhaltsverzeichnis Zweites Kapitel Die rechtliche Existenz mitgliedstaatlicher Handlungspflichten zur Gewährleistung der Warenverkehrsfreiheit

A. Begründung des EuGH und der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

37

B. Dogmatische Grundlage einer mitgliedstaatlichen Handlungspflicht . . . . . . . . . I. Der Wortlaut der Art. 28–31 EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Art. 10 EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Grundlage einer Handlungsverpflichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Art. 10 Abs. 1 S. 1 i. V. m. Art. 28 EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Schutz des freien Warenverkehrs als bestehende gemeinschaftsrechtliche Verpflichtung der Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Übertragbarkeit des Schutzpflichtgedankens des deutschen Verfassungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gemeinschaftsrechtsspezifische Herleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Wortlautauslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Systematische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Historische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Teleologische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Wirkungsgleichheit zwischen einer Handlung und einem Unterlassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Der Grundsatz des „effet utile“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

38 38 39 39 40 41 41 42 45 45 45 46 47 47 47 49

Drittes Kapitel Entstehung, Verletzung und Schranken mitgliedstaatlicher Handlungspflichten A. Entstehung mitgliedstaatlicher Handlungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Der Ausgangspunkt: Die Dassonville-Formel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Tatbestandliche Begrenzung: Strafbare beziehungsweise rechtswidrige Beeinträchtigungen, gemessen am nationalen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Tatbestandliche Begrenzung: Gemeinschaftsrechtsspezifische Einschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Keck-Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Intention der Keck-Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Übertragung auf eine mitgliedstaatliche Handlungspflicht . . . . . . . c) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Aufhebung der Privatautonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Spürbarkeitskriterium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

50 50 53 53 53 54 55 56 56 57

Inhaltsverzeichnis a) Der Grund des Spürbarkeitskriteriums innerhalb der Art. 81 f. EGV b) Übertragbarkeit auf die Entstehung einer mitgliedstaatlichen Handlungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Konkurrenz: Handlungspflicht gem. Art. 28 i. V. m. Art. 10 Abs. 1 S. 1 EGV/Art. 81 EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9 58 59 60 62

B. Verletzung mitgliedstaatlicher Handlungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Inhalt der Handlungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Art. 10 Abs. 1 S. 1 EGV. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Interessenskonflikt: Gewährleistung des freien Warenverkehrs vs. mitgliedstaatliche Kompetenzen im Bereich der Gefahrenabwehr . . . . . a) Auswirkungen auf das Entschließungsermessen . . . . . . . . . . . . . . . b) Auswirkungen auf das Auswahlermessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Kontrollintensität des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

63 63 63

C. Schranken mitgliedstaatlicher Handlungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Rechtfertigungsgründe des Art. 30 S. 1 EGV und zwingende Erfordernisse nach Cassis de Dijon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Anwendbarkeit der Rechtfertigungsinstitute für die mitgliedstaatliche Handlungspflicht gem. Art. 28 i. V. m. Art. 10 Abs. 1 S. 1 EGV . . . . . . . . . . . . . III. Inhaltliche Abgrenzung von Art. 30 EGV und den „Cassis-Rechtfertigungsgründen“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Entscheidung Cassis de Dijon und die Folgerechtsprechung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Entscheidung Cassis de Dijon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Folgerechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Literaturansichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Option 1: Unterscheidung nach formaler Diskriminierung . . . . . . . b) Option 2: Unterscheidung nach materieller Diskriminierung . . . . . c) Option 3: Konvergenz der Schranken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Übertragungsmöglichkeiten der Optionen auf ein Unterlassen eines Mitgliedstaates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Option 1: Unterscheidung nach formaler Diskriminierung . . . . . . . . . . 2. Option 2: Unterscheidung nach materieller Diskriminierung . . . . . . . . 3. Option 3: Konvergenz der Schranken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Relevante Schranken im einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Störungen der öffentlichen Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Grundrechte als zwingende Erfordernisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Nationale Grundrechte als „gemeinschaftsrechtlich anerkannte Ziele“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

69

64 66 66 68 69

70 71 71 72 72 73 74 75 75 75 76 76 76 77 78 78 78 81 83 84

10

Inhaltsverzeichnis (1) Gemeinschaftsgrundrechte als Auslegungsstütze und -schranke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Ausschließliche Geltung der Gemeinschaftsgrundrechte . bb) Nationales Grundrecht vs. Gemeinschaftsgrundrecht . . . . . . . . (1) Bedeutung und Inhalt der Gemeinschaftsgrundrechte . . . (2) Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Der Wirkungsmechanismus der Gemeinschaftsgrundrechte . . dd) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Relevante Gemeinschaftsgrundrechte als Auslegungsschranke . . . . aa) Die Meinungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Versammlungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Das Streikrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Die Allgemeine Handlungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Auflösung der Kollision zwischen dem Grundsatz des freien Warenverkehrs und dem zwingenden Erfordernis der nationalen Grundrechtsverbürgungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

84 85 86 86 90 90 91 93 94 94 96 97 98 99 101

Viertes Kapitel Reaktionsmöglichkeiten der Kommission und der Mitgliedstaaten auf ein vertragswidriges Unterlassen eines Mitgliedstaates nach dem EG-Vertrag A. Vertragsverletzungsverfahren der Kommission gem. Art. 226 EGV . . . . . . . . . .

103

B. Vertragsverletzungsverfahren der Mitgliedstaaten gem. Art. 227 EGV . . . . . . . .

105

C. Einstweilige Anordnung gem. Art. 243 EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 I. Beachtung des Auswahlermessens der Mitgliedstaaten im Rahmen des Art. 28 i. V. m. Art. 10 Abs. 1 S. 1 EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 II. Generelle Möglichkeit einer einstweiligen Anordnung im Vertragsverletzungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 III. Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 IV. Praktische Erwägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 V. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 D. Vorbeugender Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

109

E. Beschleunigtes Verfahren gem. Art. 62 a VerfO-EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

110

F. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

110

Inhaltsverzeichnis

11

Fünftes Kapitel Die Verordnung Nr. 2679/98 des Rates über das Funktionieren des Binnenmarktes im Zusammenhang mit dem freien Warenverkehr zwischen den Mitgliedstaaten A. Hintergründe des Verordnungserlasses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

112

B. Der Verordnungsvorschlag der Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

112

C. Endgültige Fassung der Verordnung des Rates. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 I. Systematischer Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 II. Anwendungsvoraussetzungen und Begriffsbestimmungen gem. Art. 1 und 2 114 1. Behinderung gem. Art. 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 a) Verstoß eines Mitgliedstaates gegen Art. 28 f. EGV . . . . . . . . . . . . 115 aa) Beschränkung der Verordnung auf den Bereich des freien Warenverkehrs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 bb) „Möglicherweise“ gegen Art. 30 bis 36 verstoßende Behinderung des freien Warenverkehrs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 cc) Ursache der Behinderung: Handeln oder Nichteinschreiten eines Mitgliedstaates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 (1) Aktives Handeln: Verstöße gegen Art. 28 EGV . . . . . . . . 116 (2) Nichteinschreiten eines Mitgliedstaates: Verstöße gegen Art. 28 i. V. m. Art. 10 Abs. 1 S. 1 EGV . . . . . . . . . . . . . 117 (a) Die Definition des „Nichteinschreitens“ gem. Art. 1 Abs. 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 (aa) Handlungen von Personen . . . . . . . . . . . . . . . 118 (bb) Auslegung des Tatbestandsmerkmals „Behinderung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 (b) Konkretisierung des Merkmals „Nichteinschreiten“ . 120 (aa) Entstehung der Handlungspflicht . . . . . . . . . . 120 (bb) Inhalt der Handlungspflicht: Erforderliche und angemessene Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . 121 (cc) Schranken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 b) Qualität der Beeinträchtigung gem. Art. 1 Abs. 1 lit. a)–c) . . . . . . . 122 aa) „Schwerwiegende Beeinträchtigung“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 bb) „Ernsthafter Schaden“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 cc) „Unmittelbares Handeln“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 2. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 III. Das Warnsystem der Art. 3–5 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 1. Informationssystem gem. Art. 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 a) Inhaltlicher Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 b) Inhaltliche Konkretisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 aa) Informationsverpflichtung jedes Mitgliedstaates . . . . . . . . . . . 125 bb) „Unverzügliche Weiterleitung“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 cc) „So bald wie möglich“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126

12

Inhaltsverzeichnis dd) Geltung des Art. 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Wortlaut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Systematik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Sinn und Zweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Handlungspflicht der Mitgliedstaaten gem. Art. 4 . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Mitteilung der Kommission gem. Art. 5. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Inhaltlicher Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Rechtsnatur der Mitteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Mitteilung als „Mahnschreiben“ gem. Art. 226 EGV . . . . . . . . IV. Rechtsgrundlage der Verordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Bedeutung des Art. 308 EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Anwendungsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Anwendungsfälle der Verordnung in der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

127 127 128 128 128 128 129 129 130 131 133 133 134 135 137

Zusammenfassung und Ausblick

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Literaturverzeichnis

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Sachwortverzeichnis

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Einleitung A. Einführung und Problemstellung Zentrale Aufgabe der Europäischen Gemeinschaft ist nach dem jetzigen Art. 2 EGV,1 einen Gemeinsamen Markt zu errichten. Hauptanliegen dieses gemeinsamen Marktes ist die Beseitigung der Handelshemmnisse zwischen den Mitgliedstaaten als Grundlage eines einzigen Marktes2. Durch die Reform der Einheitlichen Europäischen Akte 1986 wurde dieses Anliegen durch die Zielsetzung der Verwirklichung eines Binnenmarktes im Sinne des Art. 14 Abs. 2 EGV weiter intensiviert. Kernstück zur Durchsetzung des Binnenmarktes sind, neben der Abschaffung der Binnenzölle zur Gewährleistung einer Zollunion nach Art. 23 EGV, die Verbote der mengenmäßigen Ein- und Ausfuhrbeschränkungen sowie Maßnahmen gleicher Wirkung zwischen den Mitgliedstaaten. Durch sie soll im 2. Kapitel des EGVertrages die Grundfreiheit des freien Warenverkehrs3 gewährleistet werden. Privatpersonen haben weitreichende Möglichkeiten, den freien Warenverkehr und damit die Errichtung des Binnenmarktes zu gefährden. Zu denken ist dabei vor allem an Streik- und Blockademaßnahmen im Im- und Exportgewerbe. Aber auch Demonstrationen und sogenannte „Buy-national“-Kampagnen können den grenzüberschreitenden Warenverkehr beeinträchtigen. Ob von Privaten ausgehende Handlungsweisen als Verstöße gegen die Vorschriften über den freien Warenverkehr beurteilt werden können – Art. 28 EGV somit unmittelbare Drittwirkung entfaltet –, ist Gegenstand kontrovers geführter Diskussionen. Indessen drängt sich aber auch die Frage auf, ob den Mitgliedstaaten eine gemeinschaftsrechtliche Pflicht obliegt, von Privatpersonen ausgehende Beschrän1 Im Hinblick auf das Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrages vom 1. April 1999 beziehen sich sämtliche Artikelangaben auf die geänderten Numerierungen. Bei Zitaten, die sich auf die alte Numerierung beziehen, werden diese übernommen. 2 Vgl. EuGH Rs. 15/81, Slg. 1982, S. 1409 (1431 f.), Rn. 33 – Gaston Schul Expediteur BV. 3 Zu den vier Grundfreiheiten werden gem. Art. 3 Abs.1 lit. c) EGV gezählt: Die Warenverkehrsfreiheit (Art. 28 ff. EGV), die Personenverkehrsfreiheit, welche die Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 39 ff. EGV) und die Niederlassungsfreiheit (Art. 43 ff. EGV) umfaßt, die Dienstleistungsfreiheit (Art. 49 ff. EGV) und die Kapitalverkehrsfreiheit (Art. 56 I EGV). Die Zahlungsverkehrsfreiheit (Art. 56 II EGV) ist eine die vier Grundfreiheiten flankierende Vorschrift.

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Einleitung

kungen zu unterbinden, um in ihrem Hoheitsgebiet einen ungestörten grenzüberschreitenden Warenverkehr sicherzustellen. Die Frage nach einer derartigen Handlungsverpflichtung der Mitgliedstaaten zur Sicherung des freien Warenverkehrs erinnert an die in der deutschen Grundrechtslehre ähnlich gelagerte Problematik staatlicher Schutzpflichten zur Gewährleistung von Grundrechtsgehalten, die spätestens seit dem ersten Fristenlösungsurteil des Bundesverfassungsgerichts4 diskutiert wird. Während die dogmatische Begründung dieser grundrechtlichen Schutzpflicht in der Literatur noch kontrovers diskutiert wird, ist ihre rechtliche Existenz mittlerweile nahezu anerkannt. Die Anerkennung staatlicher Schutzpflichten ist indessen keine Besonderheit der deutschen Grundrechtsdogmatik. Auch in anderen kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen sind grundrechtliche Schutzpflichten rechtlich anerkannt5 und können als Bestandteil der europäischen Grundrechtsdogmatik angesehen werden.6 Für die Gewährleistung der Menschenrechte hat auch der EGMR in den Urteilen Marckx7, Airey8, Artico9 und López Ostra10 positive Handlungspflichten der Mitgliedstaaten aus der Europäischen Menschenrechtskonvention abgeleitet11. Einen ersten Anlaß, verstärkt über die Existenz einer mitgliedstaatlichen Handlungspflicht auch in bezug auf die Grundfreiheit des freien Warenverkehrs nachzudenken, gab ein Urteil des EuGH, das sogenannte „Spanische-Erdbeeren-Urteil“12, das im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens gem. Art. 226 EGV – eingeleitet durch die Kommission gegen die Französische Republik – erging. Hintergrund dieses Verfahrens13 waren jahrelange, gewalttätige Aktionen französischer Landwirte, die das Ziel verfolgten, den Absatz von Obst und Gemüse aus anderen Mitgliedstaaten auf dem französischen Markt zu verhindern. Ab 1993 begannen einige Bewegungen französischer Landwirte, darunter eine Organisation namens „Coordination rurale“, mit einer systematischen Kampagne zur Kontrolle des Angebots an landwirtschaftlichen Erzeugnissen aus anderen Mit4

Vgl. BVerfGE 39, S. 1 ff. Vgl. bspw. für Schutzpflichtkonstruktionen im französischen Recht: Classen, JÖR 1987 (Bd. 36), S. 29 ff. 6 Hofmann/Marko/Merli/Wiederin-Hofmann, S. 3 (13). 7 EuGHMR A/31, Rn. 31 – Marckx, abgedruckt in EuGRZ 1979, S. 454 ff. 8 EuGHMR A/32, Rn. 32 – Airey, abgedruckt in EuGRZ 1979, S. 626 ff. 9 EuGHMR A/37, Rn. 36 – Artico, abgdruckt in EuGRZ 1980, S. 662 ff. 10 EuGHMR A/303–C, Rn. 55 – López Ostra, abgedruckt in EuGRZ 1995, S. 530 ff. 11 Vgl. zu mitgliedstaatlichen Handlungspflichten zum Schutz der Menschenrechte, Wiesbrock, S. 84 ff. 12 EuGH Rs. C-265/95, Slg. 1997, S. I-6959 ff. – Kommission/Frankreich. 13 Vgl. eingehend zum Hintergrund des Verfahrens die Schlußanträge von Generalanwalt Lenz zu EuGH Rs. C-265/95, Slg. 1998, S. I-6959 (6961 ff.), Ziff. 2 ff. – Kommission/ Frankreich. 5

A. Einführung und Problemstellung

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gliedstaaten. Es kam zur Einschüchterung von Groß- und Einzelhändlern, die zur ausschließlichen Deckung ihres Bedarfs mit französischen Erzeugnissen veranlaßt werden sollten, zur Festlegung eines Mindestverkaufspreises für Erzeugnisse sowie zu Kontrollen, mit denen die Einhaltung der erteilten Auflagen durch die Wirtschaftsteilnehmer überprüft werden sollte. So wurden von April bis Juli 1993 insbesondere Erdbeeren aus Spanien Ziel dieser Kampagne. Im August und September 1993 wurde mit Tomatenimporten aus Belgien ähnlich verfahren. Im Jahre 1994 wurden wiederum spanische Erdbeeren Zielscheibe von Gewaltkampagnen und Drohungen. Dabei kam es zu Zerstörungen von Waren und Lieferfahrzeugen innerhalb von zwei Wochen zweimal an derselben Stelle, ohne daß die anwesenden französischen Ordnungskräfte eingriffen, um die Warentransporte vor diesen Übergriffen zu schützen. Die Kommission intervenierte daraufhin mehrmals erfolglos bei den französischen Behörden. Am 19. April 1995 erlangten die Gewaltkampagnen der französischen Landwirte ihren Höhepunkt, indem im Südwesten Frankreichs insgesamt 810 Tonnen spanischer Erdbeeren vernichtet wurden. Daraufhin gab die Kommission am 5. Mai 1995 eine mit Gründen versehene Stellungnahme gem. Art. 226 Abs. 1 EGV ab. Sie vertrat darin die Ansicht, daß die Französische Republik gegen ihre Verpflichtung aus Art. 28 i. V. m. Art. 10 EGV verstoßen habe, indem sie nicht alle erforderlichen und angemessenen Maßnahmen ergriffen habe, um den Beeinträchtigungen des freien Warenverkehrs durch die französischen Landwirte entgegenzuwirken. Am 3. Juni 1995 kam es in Südfrankreich wiederum zu gewalttätigen Ausschreitungen gegen Lastwagen, die Obst und Gemüse aus Spanien beförderten, ohne daß die Ordnungsbehörden eingriffen. Am 16. Juni 1995 teilte die französische Regierung der Kommission mit, daß sie alle ihr zur Verfügung stehenden Maßnahmen getroffen habe, um den freien Warenverkehr in Frankreich zu gewährleisten, und daß Präventivmaßnahmen es ermöglicht hätten, die Gewalttaten im Jahre 1995 erheblich einzudämmen. Gleichwohl wurde Anfang Juli 1995 erneut spanisches und italienisches Obst vernichtet. Daraufhin erhob die Kommission am 4. August 1995 Klage vor dem EuGH. Der Gerichtshof gab der Klage der Kommission statt. Er stellte fest, daß die Republik Frankreich gegen eine ihr obliegende Verpflichtung aus Art. 28 i. V. m. Art. 10 Abs. 1 S. 1 EGV verstoßen habe, indem sie sich offenkundig und beharrlich geweigert habe, ausreichende und angemessene Maßnahmen zu ergreifen, um die Beeinträchtigung des freien Warenverkehrs durch Privatpersonen zu verhindern14.

14 Vgl. EuGH Rs. C-265/95, Slg. 1997, S. I-6959 (7005), Rn. 66 – Kommission/Frankreich.

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Einleitung

B. Ziel und Gang der Untersuchung Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es, das im Gemeinschaftsrecht nunmehr anklingende rechtliche „Novum“ einer mitgliedstaatlichen Handlungspflicht zum Schutze des freien Warenverkehrs zu beleuchten. Zu diesem Zweck wird im 1. Kapitel zunächst ein allgemeiner Überblick über die Anwendungsvoraussetzungen der Grundfreiheit des freien Warenverkehrs gem. Art. 28, 29 EGV gegeben. Daran anschließend werden die rechtlichen Möglichkeiten untersucht, private Beschränkungshandlungen unmittelbar dem Anwendungsbereich des Art. 28 EGV unterzuordnen. In diesem Zusammenhang wird sowohl die Rechtsfigur der unmittelbaren Drittwirkung als auch die Zurechnungsmöglichkeit privater Beschränkungshandlungen als mitgliedstaatseigene Maßnahmen erörtert. Das 2. Kapitel befaßt sich sodann mit der dogmatischen Begründung einer mitgliedstaatlichen Handlungspflicht. Es wird der Frage nachgegangen, ob der EGVertrag nach seinem Wortlaut, seiner Systematik und seiner Zielsetzung auf die Existenz einer solchen Handlungspflicht ausgerichtet ist. Nach der Erörterung der dogmatischen Grundlage einer mitgliedstaatlichen Handlungspflicht, wird im 3. Kapitel untersucht, unter welchen Voraussetzungen eine mitgliedstaatliche Handlungspflicht im Einzelfall entsteht, welchen Inhalt sie hat und welche Rechtfertigungsgründe für die Untätigkeit eines Mitgliedstaates bestehen. Ein weiteres Anliegen dieser Arbeit gilt der Fragestellung, welche Möglichkeiten auf primär- und sekundärrechtlicher Ebene bestehen, um auf die Untätigkeit eines Mitgliedstaates zu reagieren. Hierzu werden im 4. Kapitel zunächst die im EG-Vertrag bestehenden prozessualen Reaktionsmöglichkeiten der Mitgliedstaaten und der Kommission untersucht. Das sich daran anschließende 5. Kapitel der Untersuchung befaßt sich sodann mit einer sekundärrechtlich ausgestalteten Reaktionsmöglichkeit der Kommission, der Verordnung Nr. 2679/98 über das Funktionieren des Binnenmarktes im Zusammenhang mit dem freien Warenverkehr zwischen den Mitgliedstaaten15. Diese Verordnung stellt die legislative Reaktion auf die wiederkehrenden privat verursachten Beschränkungen des freien Warenverkehrs dar und soll der Kommission die Möglichkeit verschaffen, schnell und effektiv bei einer Behinderung des freien Warenverkehrs gegen den betreffenden Mitgliedstaat zu intervenieren. Nach einem Einblick in die Entstehungsgeschichte dieser Verordnung werden deren Anwendungsvoraussetzungen und Rechtsfolgen erörtert und problematisiert.

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ABlEG L 337 vom 12.12.1998, S. 8.

Erstes Kapitel

Grundlagen A. Der freie Warenverkehr im Sinne der Art. 28, 29 EGV Kernstück zur Durchsetzung des freien Warenverkehrs sind die Verbote der Art. 28 und 29 EGV. Im Folgenden wird zunächst ein kurzer allgemeiner Überblick über diese Bestimmungen gegeben1. I. Anwendungsvoraussetzungen des Art. 28 EGV Artikel 28 EGV lautet: „Mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen sowie alle Maßnahmen gleicher Wirkung sind zwischen den Mitgliedstaaten verboten.“

1. Der Begriff der Ware Maßgebliche ungeschriebene Anwendungsvoraussetzung des Art. 28 EGV ist, daß es sich bei den in Rede stehenden Objekten um Waren handelt. Der Begriff der Ware ist im EG-Vertrag selbst nicht definiert. In Abgrenzung zur Freiheit des Dienstleistungsverkehrs2 versteht man unter Waren alle körperlichen, beweglichen Sachen, die Gegenstand rechtmäßiger Handelsgeschäfte sein können und Handelswert haben3. Über das Vorliegen der Wareneigenschaft hinaus ordnet Art. 23 Abs. 2 EGV an, daß die Ware einen spezifischen Gemeinschaftsbezug aufweisen 1

Eine vertiefende Untersuchung einzelner Aspekte, insbesondere der Schranken des Art. 28 EGV, erfolgt im Rahmen der Ausführungen zur konkreten inhaltlichen Ausgestaltung einer mitgliedstaatlichen Handlungspflicht, vgl. 3. Kapitel, A., C. 2 Unter Dienstleistungen i. S. d. Art. 49 EGV versteht man Leistungen, die in der Regel gegen Entgelt erbracht werden, soweit sie nicht den Vorschriften über den freien Warenund Kapitalverkehr und Freizügigkeit der Personen unterliegen, vgl. EuGH Rs. C-275/92, Slg. 1994, S. I-1039 (1089), Rn. 26 – Schindler. Vgl. weiterführend zu Abgrenzungsproblemen Everling, Festschrift-Weber 1997, S. 365 (371 ff.). 3 Vgl. aus der ständigen Rechtsprechung: EuGH Rs. 7/68, Slg. 1968, 634 (642) – Kommission/Italien; EuGH Rs. C-2/90, Slg. 1992, S. I-4431 (4478), Rn. 23 – Kommission/ Belgien. Für bestimmte Waren sieht der Vertrag indessen Sonderbestimmungen vor. Vgl. Art. 296 Abs. 1 b) EGV für Waffen, Munition und Kriegsmaterial und Art. 305 EGV für EGKS- und Euratom-Waren, vgl. dazu Lenz-Lux, Art. 23, Rn. 9 ff.

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1. Kap.: Grundlagen

muß. Nach Art. 23 Abs. 2 Var. 1 EGV ist dieser gegeben, wenn die Ware aus einem Mitgliedstaat kommt. Dies wird dann angenommen, wenn die Ware in einem Mitgliedstaat hergestellt oder zumindest ihre letzte wesentliche und wirtschaftliche Bearbeitung dort vorgenommen wurde4. Nach Art. 23 Abs. 2 Var. 2 EGV liegt ebenfalls ein Gemeinschaftsbezug einer Ware vor, wenn die Ware aus einem dritten Land kommt, sich aber in einem Mitgliedstaat im freien Verkehr befindet. Gemäß Art. 24 EGV werden Waren aus Drittstaaten mit aus Mitgliedstaaten stammenden Waren gleichgesetzt, wenn die Einfuhrförmlichkeiten erfüllt, die vorgeschriebenen Zölle und Abgaben gleicher Wirkung erhoben und diese nicht ganz oder teilweise rückvergütet worden sind. 2. Grenzüberschreitender Bezug Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH wird verlangt, daß der in Rede stehende Sachverhalt einen grenzüberschreitenden Bezug aufweist, d. h. es bedarf eines Bezuges zu einem anderen Mitgliedstaat – einer sogenannten Zwischenstaatlichkeit. Artikel 28 EGV findet daher keine Anwendung, wenn der in Rede stehende Sachverhalt ausschließlich eine innerstaatliche Relevanz aufweist5. 3. Mengenmäßige Beschränkungen Der Begriff der mengenmäßigen Beschränkungen umfaßt sämtliche staatliche Maßnahmen, welche sich als gänzliche oder teilweise Untersagung der Einfuhr, Ausfuhr oder Durchfuhr von Waren darstellen6. In der Praxis handelt es sich dabei regelmäßig um Ein- oder Ausfuhrverbote sowie Kontingentierungen einer Ware7. 4. Maßnahmen gleicher Wirkung Während ausdrückliche mengenmäßige Beschränkungen in der Praxis kaum noch vorkommen8, ist das Verbot der Maßnahmen gleicher Wirkung von zentraler 4

Vgl. Koenig/Haratsch, Rn. 491. Vgl. EuGH Rs. 286/81, Slg. 1982, S. 4575 (4586), Rn. 9 – Strafverfahren gegen Osthoek’s Uitgeversmaatschappij BV. Vgl. aber auch EuGH Rs. C-321–324/94, Slg. 1997, S. I-2343 (2374), Rn. 44 f. – Strafverfahren gegen Pistre, und die diesbezüglichen Anmerkungen von Weyer, EuR 1998, S. 435 (439 ff.), der diese Entscheidung als Anerkenntnis des EuGH wertet, daß Art. 28 EGV auch auf rein innerstaatliche Sachverhalte Anwendung finden kann. 6 EuGH Rs. 2/73, Slg. 1973, S. 865 (879), Rn. 7 – Riseria Luigi Geddo; vgl. weiterhin aus der ständigen Rechtsprechung: EuGH Rs. C-367/89, Slg. 1991, S. I-4621 (4650), Rn. 14 – Strafverfahren gegen Aimé Richard; EuGH Rs. C-131/93, Slg. 1994, S. I-3303 (3319), Rn. 9 – Kommission/Deutschland. 7 Vgl. Schweitzer/Hummer, Rn. 1112. 8 Vgl. dazu Dauses, RIW 1984, S. 197 (201). 5

A. Der freie Warenverkehr im Sinne der Art. 28, 29 EGV

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Bedeutung für die Verwirklichung des Binnenmarktes. Es fungiert gewissermaßen als Auffangtatbestand. Die heute noch vorherrschende und allgemein anerkannte, klassische Begriffsbestimmung einer Maßnahme gleicher Wirkung findet sich erstmals in dem Urteil Dassonville9. Nach der in diesem Grundsatzurteil aufgestellten sogenannten Dassonville-Formel, ist eine Maßnahme gleicher Wirkung „jede Handelsregelung der Mitgliedstaaten, die geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern“10. Der Begriff der „Handelsregelung“ hat in diesem Fall keine eigenständige Bedeutung. Es kommt lediglich darauf an, daß es sich um eine staatliche Maßnahme handelt, die sich auf den innergemeinschaftlichen Handelsverkehr auswirkt11. Anhand dieser Definitionsformel wird zunächst jegliche Diskriminierung eingeführter Waren gegenüber einheimischen Erzeugnissen erfaßt. Aufgrund der Weite dieser Formel werden darüber hinaus alle Maßnahmen erfaßt, die objektiv auf den grenzüberschreitenden Handelsverkehr einwirken, so daß es nicht erforderlich ist, daß tatsächlich eine Diskriminierung vorliegt. Der Dassonville-Formel kommt somit eine Art Trichterfunktion zu, indem sie alle in Frage kommenden Beschränkungen erfaßt. Insofern wurde mit dieser Formel der erste Grundstein gelegt, innerhalb sämtlicher Grundfreiheiten nicht allein von einem Diskriminierungs-, sondern vielmehr von einem Beschränkungsverbot auszugehen12. Gleichwohl hat der EuGH den Anwendungsbereich dieses umfassenden Beschränkungsverbots im Keck-Urteil13 eingeschränkt: „Entgegen der bisherigen 9 EuGH Rs. 8/74, Slg. 1974, S. 837 ff. – Dassonville. In diesem Fall ging es vor einem belgischen Gericht im Ausgangsverfahren um die Strafverfolgung gegen Händler, die schottischen Whisky in Frankreich gekauft und nach Belgien eingeführt hatten. Das belgische Gericht legte ihnen zur Last, nicht im Besitz der Ursprungsbescheinigung der britischen Zollbehörden gewesen zu sein und somit gegen belgische Vorschriften verstoßen zu haben. Derartige Formalitäten zum Nachweis der Echtheit eines importierten Erzeugnisses, welche sich nur Direktimporteure ohne Schwierigkeiten verschaffen können, waren nach Ansicht des EuGH als Maßnahme gleicher Wirkung im Sinne des Art. 28 EGV einzustufen. Darüber hinaus ist diese Entscheidung des EuGH als bemerkenswert hervorzuheben, weil das Verbot Maßnahmen gleicher Wirkung – soweit ersichtlich – erstmals unmittelbar angewandt wurde. Vgl. erstmals grundlegend zu den Voraussetzungen einer unmittelbaren Anwendbarkeit des Primärrechts: EuGH Rs. 26/62, Slg. 1963, S. 1 (25) – van Gend en Loos. 10 EuGH, Rs. 8/74, Slg. 1974, S. 837 (852), Rn. 5 – Dassonville. 11 Vgl. Grabitz/Hilf-Leible, Art. 28, Rn. 14. 12 Vgl. für die Arbeitnehmerfreizügigkeit: EuGH Rs. C-415/93, Slg. 1995, S. I-4921 (5070 f.), Rn. 103 – Bosman; für die Niederlassungsfreiheit: EuGH Rs. 107/83, Slg. 1984, S. 2971 (2987 ff.), Rn. 8 ff. – Klopp; für die Dienstleistungsfreiheit: EuGH Rs. C-275/92, Slg. 1994, S. I 1039 (1093), Rn. 43 – Schindler. Vgl. hierzu allgemein Behrens, EuR 1992, S. 145 (148 ff.). 13 EuGH, verb. Rs. C-267 u. C-268/91, Slg. 1993, S. I-6097 – Keck: Nach französischem Recht ist im Einzelhandel der Verkauf unter Einstandspreis verboten (Art. 1 des Gesetzes Nr. 63-628, i. d. F. der Ordonnance Nr. 86-1243). Bernhard Keck und Daniel Mithourd,

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1. Kap.: Grundlagen

Rechtsprechung ist die Anwendung nationaler Bestimmungen, die bestimmte Verkaufsmodalitäten beschränken oder verbieten, auf Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten nicht geeignet, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten im Sinne des Urteils Dassonville unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern, sofern diese Bestimmungen für alle betroffenen Wirtschaftsteilnehmer gelten, die ihre Tätigkeit im Inland ausüben, und sofern sie den Absatz der inländischen Erzeugnisse und der Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten rechtlich wie tatsächlich in gleicher Weise berühren14.“ Liegen diese Voraussetzungen vor, „so ist die Anwendung derartiger Regelungen auf den Verkauf von Erzeugnissen aus einem anderen Mitgliedstaat, die den von diesem Staat aufgestellten Bestimmungen entsprechen, nicht geeignet, den Marktzugang für diese Erzeugnisse zu versperren oder stärker zu behindern, als sie dies für inländische Erzeugnisse tut. Diese Regelungen fallen daher nicht in den Anwendungsbereich von Art. 30 EGV15.“ Ausgenommen vom Verbot der Maßnahmen gleicher Wirkung sind somit nationale Regelungen über Verkaufsmodalitäten, die von ihrer Zielsetzung nicht auf den grenzüberschreitenden Warenverkehr einwirken. 5. Schranken Beschränkungen des freien Warenverkehrs gem. Art. 28 EGV sind indessen nicht ausnahmslos verboten. a) Rechtfertigungsgründe des Art. 30 EGV Nach Art. 30 EGV können Beschränkungen des innergemeinschaftlichen Handels im Sinne des Art. 28 EGV gerechtfertigt sein, und zwar „aus Gründen der öffentlichen Sittlichkeit, Ordnung und Sicherheit, zum Schutze der Gesundheit und des Lebens von Menschen, Tieren oder Pflanzen, des nationalen Kulturguts von künstlerischem, geschichtlichem oder archäologischem Wert oder des gewerblichen und kommerziellen Eigentums“. zwei Einzelhändler, wurden wegen Verstoßes gegen dieses Verbot vor dem Tribunal de Grande Instance in Straßburg angeklagt. Zu ihrer Verteidigung machten sie geltend, daß ein derartiges generelles Verbot mit den Grundsätzen des freien Warenverkehrs nicht vereinbar sei. Die Möglichkeit, Waren unter Einstandspreis zu verkaufen, sei im Einzelfall geeignet den Warenumsatz zu erhöhen. Ein allgemein höherer Warenumsatz führe dementsprechend zu einer Ausweitung des Warenaustausches zwischen den Mitgliedstaaten. Das Verbot, Waren unter Einstandspreis verkaufen, sei daher geeignet, den freien Warenverkehr mittelbar und potentiell, im Sinne der Dassonville-Formel, zu beeinträchtigen. 14 EuGH verb. Rs. C-267 u. C-268/91, Slg. 1993, S. I-6097 (6131), Rn. 16 – Keck. 15 EuGH Rs. C-267 u. C-268/91, Slg. 1993, S. I-6097 (6131), Rn. 17 – Keck; vgl. folgend: EuGH Rs. C- 292/92, Slg. 1993, S. I-6787 (6822 f.), Rn. 20 ff. – Hünermund u. a.; EuGH verb. Rs. C-69 und 258/93, Slg. 1994, S. I-2355 (2368), Rn. 12 – Punto Casa.

A. Der freie Warenverkehr im Sinne der Art. 28, 29 EGV

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Diese Vorschrift stellt keine allgemeine Schutzklausel oder „domaine réservé“ der Mitgliedstaaten dar16. Sie erlaubt den Mitgliedstaaten lediglich unter bestimmten Voraussetzungen zum Schutze der benannten Rechtsgüter von dem Beschränkungsverbot des Art. 28 EGV abzuweichen. Dabei betreffen die Rechtfertigungsgründe ausschließlich nichtwirtschaftliche Interessen17. Sie sind eng auszulegen, abschließend und nicht ergänzungsfähig18. In diesem Rahmen verfügen die Mitgliedstaaten über einen weit gefaßten Ermessensspielraum, um entsprechend ihrer nationalen Ziel- und Ordnungsvorstellungen zum Schutze der in Art. 30 S. 1 EGV aufgeführten Rechtsgüter zu handeln19. Die benannten Rechtfertigungsgründe werden ihrerseits eingeschränkt durch das Verbot der „willkürlichen Diskriminierung“ und der „verschleierten Beschränkung“ nach Art. 30 S. 2 EGV. Willkürlich in diesem Sinne ist eine Beschränkung dann, wenn sie durch keine sachlich anerkennenswerten Erfordernisse begründet ist20. Eine verschleierte Handelsbeschränkung kann begrifflich als eine als Schutzmaßnahme getarnte Handelsregelung verstanden werden21. Diese Erfordernisse sollen verhindern, daß „auf Gründe des Art. 36 S. 1 gestützte Beschränkungen des innergemeinschaftlichen Handels mißbraucht und zur Diskriminierung von Waren aus anderen Mitgliedstaaten oder zum mittelbaren Schutz bestimmter nationaler Produktionen verwandt werden.“22 b) Ungeschriebene Schranken nach Cassis de Dijon Neben den ausdrücklich normierten Rechtfertigungsgründen des Art. 30 EGV hat der EuGH weitere ungeschriebene Schranken für das Verbot einer Maßnahme 16

G/T/E-Müller-Graff, Art. 36, Rn. 1. Vgl. EuGH Rs.7/6, Slg. 1961, S. 693 (720) – Kommission/Italien; EuGH Rs. 238/82, Slg. 1984, S. 523 (542), Rn. 23 – Duphahr BV u. a.; EuGH Rs. 120/95, Slg. 1998, S. I-1831 (1884), Rn. 39 – Decker. 18 Vgl. EuGH Rs. 7/68, Slg. 1968, S. 633 (644) – Kunstschätze; EuGH Rs. 46/76, Slg. 1977, S. 5 (15), Rn. 12/15 – Bauhuis; EuGH Rs. 113/80, Slg. 1981, S. 1625 (1638), Rn. 7 – Irish Souvenirs; EuGH Rs. 95/81, Slg. 1982, S. 2187 (2204), Rn. 27 – Kommission/ Italien, EuGH Rs. C-205/89, Slg. 1991, S. I-1361 (1377), Rn. 9 – Kommission/Griechenland. 19 Vgl. EuGH Rs. 34/79, Slg. 1979, S. 3795 (3813), Rn. 15 – Henn und Darby; EuGH Rs. 174/82, Slg. 1983, S. 2445 (2462 f.), Rn. 16, 19 – Sandoz B.V. 20 G/T/E-Müller-Graff, Art. 36, Rn. 96. 21 Vgl. zur verschleierten Handelsbeschränkung: EuGH Rs. 3/78, Slg. 1978, S. 1823 (1841 f.), Rn. 19/22 – Centrafarm. 22 EuGH Rs. 40/82, Slg. 1982, S. 2793 (2825), Rn 36 – Kommission/Vereinigtes Königreich; vgl. ebenso bereits EuGH Rs. 34/79, Slg. 1979, S. 3795 (3815), Rn. 21 – Strafverfahren gegen Henn und Darby. 17

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1. Kap.: Grundlagen

gleicher Wirkung, die so genannten zwingenden Erfordernisse entwickelt. In der Entscheidung Cassis de Dijon stellte der Gerichtshof fest, daß „Hemmnisse für den Binnenhandel der Gemeinschaft, die sich aus den Unterschieden der nationalen Regelungen über die Vermarktung dieser Erzeugnisse ergeben, hingenommen werden müssen, soweit diese Bestimmungen notwendig sind, um zwingenden Erfordernissen gerecht zu werden, insbesondere Erfordernissen einer wirksamen steuerlichen Kontrolle, des Schutzes der öffentlichen Gesundheit, der Lauterkeit des Handelsverkehrs und des Verbraucherschutzes.“23 Diese ungeschriebene Schranke ermöglicht den Mitgliedstaaten, unabhängig von einem Rechtfertigungsgrund nach Art. 30 EGV, nationale Regelungen zum Schutze von nichtwirtschaftlichen24, zwingenden Allgemeinwohlinteressen vorzusehen, falls für diese Belange noch keine gemeinschaftsrechtliche Regelung besteht. So wurde der Anwendungsbereich der Cassis-Formel mittlerweile auf zwingende Erfordernisse des Umweltschutzes25, kultureller Zwecke26, der Sicherstellung des finanziellen Gleichgewichts von sozialen Sicherungssystemen27, der Sicherung der Nahversorgungsbedingungen in ländlichen Gebieten28 und der Aufrechterhaltung der Medienvielfalt29 erweitert30. c) Verhältnismäßigkeit Sowohl die Rechtfertigung nach Art. 30 EGV als auch die Berufung auf ein zwingendes Erfordernis unterliegen stets einer Verhältnismäßigkeitsprüfung. Es bedarf damit einer Güterabwägung zwischen der Sicherstellung des freien Warenverkehrs und dem mit der nationalen Maßnahme verfolgten Schutzzweck31.

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EuGH Rs. 120/78, Slg. 1979, S. 649 (662), Rn. 8 – Cassis de Dijon. Vgl. EuGH Rs. C-120/95, Slg. 1998, S. I-1831 (1884), Rn. 39 – Decker. 25 Vgl. EuGH Rs. 302/86, Slg. 1988, S. 4607 (4630), Rn. 8 – Kommission/Dänemark; EuGH Rs. 2/90, Slg. 1992, S. I-4431 (4479), Rn. 30 f. – Kommission/Belgien. 26 Vgl. EuGH verb. Rs. 60 und 61/84, Slg. 1985, S. 2605 (2626), Rn. 24 – Cinéthèque. 27 Vgl. EuGH Rs. C-254/98, Slg. 2000, S. I-151 (172), Rn. 34 – TK-Heimdienst. 28 Vgl. EuGH Rs. C-120/95, Slg. 1998, S. I-1831 (1884), Rn. 39 – Decker. 29 Vgl. EuGH Rs. C-368/95, Slg. 1997, S. I-3689 (3715), Rn. 18 – Familiapress. 30 Vgl. weiterführend zur Ausgestaltung zwingender Erfordernisse, Ahlfeld, S. 84 ff. 31 Vgl. aus der ständigen Rechtsprechung zu Art. 30 EGV: EuGH Rs. 124/81, Slg. 1983, S. 203 (236), Rn. 16 ff – Kommission/Großbritannien u. Nordirland; EuGH Rs. C-131/93, Slg. 1994, S. I-3303 (3321), Rn. 18 – Kommission/Deutschland. Vgl. zur Verhältnismäßigkeit eines zwingenden Erfordernisses: EuGH Rs. C-238/89, Slg. 1990, S. I-4827 (4848), Rn. 12 – Pall Corp.; EuGH Rs. C-126/91, Slg. 1993, S. I-2361 (2388 f.), Rn. 12 – Yves Rocher; EuGH Rs. C-470/93, Slg. 1995, S. I-1923 (1941 f.), Rn. 15 – Mars GmbH; EuGH Rs. C-383/97, Slg. 1999, S. I-731 (759), Rn. 19 – Strafverfahren gegen van der Laan. Vgl. ausführlich zur Verhältnismäßigkeit unten, 3. Kapitel, C. V. 2. c). 24

B. Unmittelbare Erfassung privater Beschränkungen gem. Art. 28 EGV

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II. Anwendungsvoraussetzungen des Art. 29 EGV Während Art. 28 EGV die Importfreiheit regelt, bezieht sich Art. 29 EGV auf die Exportfreiheit. Danach sind mengenmäßige Ausfuhrbeschränkungen sowie Maßnahmen gleicher Wirkung zwischen den Mitgliedstaaten verboten. Angesichts der parallelen Ausgestaltung zu Art. 28 EGV32 wird die Warenverkehrsfreiheit in den nachfolgenden Erörterungen unter dem Aspekt der praktisch bedeutsameren Vorschrift der Importfreiheit gem. Art. 28 EGV analysiert. Für die Exportfreiheit nach Art. 29 EGV gelten dann strukturell die gleichen Überlegungen wie für Art. 28 EGV.

B. Unmittelbare Erfassung privater Beschränkungen gem. Art. 28 EGV Beruhen Beschränkungen des freien Warenverkehrs auf privaten Verhaltensweisen, stellt sich zunächst die Frage, ob derartige Beschränkungen unmittelbar vom Verbot des Art. 28 EGV erfasst werden können. Wie vorstehend erörtert, verbietet Art. 28 EGV hoheitliche mengenmäßige Beschränkung oder hoheitliche Maßnahme gleicher Wirkung. Unter den Begriff einer hoheitlichen Maßnahme fallen Handlungsweisen aller drei Staatsgewalten, Judikative, Exekutive und Legislative. Das Verbot mengenmäßiger Beschränkungen sowie Maßnahmen gleicher Wirkung richtet sich daher grundsätzlich an die Mitgliedstaaten. Um privatautonome Beschränkungen des freien Warenverkehrs dem Anwendungsbereich des Art. 28 EGV gleichwohl unterzuordnen, bieten sich zwei Möglichkeiten an. Zum einen besteht die Möglichkeit, unter bestimmten Voraussetzungen das Verbot staatlicher Maßnahmen gleicher Wirkung vertikal auszudehnen. Im Wege einer Zurechnung werden private Handlungen dem Staat als eigene Maßnahmen gleicher Wirkung zugerechnet. Zum anderen könnte man daran denken, den Adressatenkreis des Art. 28 EGV horizontal zu erweitern, indem das Verbot Maßnahmen gleicher Wirkung die unmittelbar handelnden Privatpersonen selbst bindet. Bevor daher auf die zentrale Frage nach der Möglichkeit und Ausgestaltung einer mitgliedstaatlichen Pflicht zum Einschreiten gegen privat initiierte Beschränkungen des freien Warenverkehrs eingegangen wird, sollen im Folgenden die gedanklich vorgelagerten rechtlichen Möglichkeiten ausgelotet werden, private Beschränkungen unmittelbar dem Anwendungsbereich des Art. 28 EGV unterzuordnen.

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Vgl. B/B/P/S, Rn. 762; Grabitz/Hilf-Leible, Art. 29, Rn. 2 ff.; Lenz-Lux, Art. 29.

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1. Kap.: Grundlagen

I. Die unmittelbare Drittwirkung Bei Beeinträchtigungen des freien Warenverkehrs durch Privatrechtssubjekte stellt sich zunächst die Frage nach der eigenen Verantwortlichkeit der Privatpersonen beziehungsweise nach deren Bindung an die Bestimmungen der Warenverkehrsfreiheit. So wird die Ansicht vertreten, daß privatautonome Rechtsgeschäfte, die den grenzüberschreitenden Warenverkehr beschränken, gem. § 134 BGB nichtig33, privatautonome faktische Beschränkungen des freien Warenverkehrs gem. § 1004 BGB zu beseitigen34 und entstandene Schäden nach § 823 Abs. 2 BGB von privaten Verursachern zu ersetzen seien35. Aus der Sicht des Gemeinschaftsrechts und vor allem aus Sicht der betroffenen Wirtschaftsteilnehmer sei eine derartige direkte Inanspruchnahme Privater schneller und effektiver, als wenn der Umweg über den Mitgliedstaat eingeschlagen werden muß36. 1. Terminologie Eine derartige Wirkung der Grundfreiheiten im privatautonomen Bereich wird als unmittelbare Drittwirkung37 oder horizontale Wirkung38 der Grundfreiheiten bezeichnet. Der Staat, als gemeinschaftsrechtlich ausdrücklich Verpflichteter, und der Private werden sozusagen auf die „gleiche Stufe“ gestellt, indem dieselbe Verpflichtung, die den Staat trifft, im wesentlichen auch dem privaten Dritten auferlegt wird. Zu unterscheiden ist diese unmittelbare Drittwirkung von der unmittelbaren Anwendbarkeit einer Grundfreiheit. Diese Rechtswirkung steht für die Frage, ob Grundfreiheiten von Einzelpersonen zu Lasten eines Mitgliedstaates vor nationalen Gerichten geltend gemacht werden können39. Die Unmittelbarkeit ist darin zu sehen, daß die Interessen der Einzelpersonen somit nicht nur mittelbar über eine erfolgreiche Klage der Kommission oder eines anderen Mitgliedstaates nach Art. 169 ff. EGV geschützt werden können Der entscheidende Unterschied zur unmittelbaren Drittwirkung liegt darin, daß letztere ebenfalls die unmittelbare Anwendbarkeit einer Norm voraussetzt, diese aber darüber hinaus eine Verpflichtung einer Privatperson erzeugt.

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So Hauschka, DB 1990, S. 873 (875); Ganten, S. 201. Schaefer, S. 259 f.; Ganten, S. 209. 35 Schaefer, S. 258; Ganten, S. 203 f.; kritisch dazu allerdings Hauschka, DB 1990, S. 873 (875). 36 Vgl. Jarvis, CMLR 1998 (35), S. 1371 (1379). 37 So bspw. Jeansch, S. 33; Steindorff, Festschrift-Lerche 1993, S. 575 (576); Roth, Festschrift-Everling 1995 (Band II), S. 1231 (1232); Bleckmann, Europarecht, Rn. 757. 38 Vgl. u. a. Schaefer, S. 48; G/T/E-Müller-Graff, Art. 30, Rn. 305. 39 Vgl. dazu grundlegend EuGH Rs. 26/62, Slg. 1963, S. 1 (25) – van Gend en Loos. 34

B. Unmittelbare Erfassung privater Beschränkungen gem. Art. 28 EGV

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Begrifflich zutreffend wird die unmittelbare Drittwirkung wiederum von der mittelbaren Drittwirkung unterschieden40. Diese kennzeichnet die Situation, daß eine den Staat verpflichtende Norm des Gemeinschaftsrechts auf eine lediglich zwischen Privaten geltende nationale Rechtsvorschrift mittels gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung Einfluß nimmt. Dies geschieht in der Regel über die Generalklauseln des Privatrechts. Das Gemeinschaftsrecht wirkt somit mittelbar auf die privaten Rechtsbeziehungen ein41. 2. Die Entwicklung der Rechtsprechung des EuGH Der EuGH steht einer umfassenden unmittelbaren Drittwirkung aller Grundfreiheiten distanziert gegenüber. Den Bestimmungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit gem. Art. 39 EGV und der Dienstleistungsfreiheit gem. Art. 49 EGV hat der Gerichtshof eine unmittelbare Drittwirkung zuerkannt42. Voraussetzung hierfür war bis zur Entscheidung Angonese43, daß die in Rede stehenden privaten Vorschriften einer kollektiven Regelung unselbständiger Arbeit oder Dienstleistungen dienen und deren Urheber, kraft rechtlicher Autonomie, auf einem Feld tätig werden, das in anderen Mitgliedstaaten vom Staat selbst geregelt wird44. Der Begriff der „intermediären Gewalten“ konnte die Lage, wann einer Grundfreiheit gegenüber Privatpersonen im Sinne der Judikatur des EuGH unmittelbare Drittwirkung zukam, veranschaulichend beschreiben45. In der erwähnten Entscheidung Angonese hat der EuGH nunmehr explizit ausgesprochen, daß zumindest das in Art. 39 EGV statuierte Diskriminierungsverbot46 auch Verträge und sonstige 40

Vgl. dazu Zahradnik, S. 8. Insofern läßt sich für diese Rechtswirkung der aus dem deutschen Verfassungsrecht bekannte Begriff der Ausstrahlungswirkung veranschaulichend anführen. 42 Vgl. EuGH Rs. 36/74, Slg. 1974, S. 1405 (1419 f.), Rn. 19/19 f. – Walrave; EuGH Rs. 13/76, Slg. 1976, S. 1333 (1340), Rn. 17/18 – Donà; EuGH Rs. 90/76, Slg. 1977, S. 1091 (1128), Rn. 28 – van Ameyde; EuGH Rs. C-415/93, Slg. 1995, S. I-4921 (5065 f.), Rn. 82 – Bosman; bestätigt in: EuGH Rs. C-176/96, Slg. 2000, S. I-2681 (2732 f.), Rn. 49 – Lehtonen. 43 EuGH Rs. C-281/98, Slg. 2000, S. I-4139 – Angonese. 44 Vgl. EuGH Rs. C-415/93, Slg. 1995, S. I – 4921 (5066), Rn. 83 f. – Bosman. Vgl. dazu die Anmerkungen von Palme, JZ 1996, S. 238 ff. 45 Vgl. Roth, Festschrift-Everling 1995 (Bd. II), S. 1231 (1246), der diesen Begriff geprägt hat. 46 Art. 39 EGV stellt darüber hinaus auch ein umfassendes Beschränkungsverbot dar, vgl. EuGH Rs. C-415/93, Slg. 1995, S. I-4921 (5070 f.), Rn. 103 – Bosman. Offen ist daher, ob der Gerichtshof diese uneingeschränkte unmittelbare Drittwirkung lediglich auf Diskriminierungen beschränken will. 41

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1. Kap.: Grundlagen

Vereinbarungen umfaßt, die weder von staatlichen Stellen noch von intermediären Gewalten herrühren47. Die Judikatur des Gerichtshofes zu den Bestimmungen der Warenverkehrsfreiheit der Art. 28, 29 EGV hat sich indessen nicht so eindeutig entwickelt. In dem Vorabentscheidungsurteil Dansk Supermarket entschied der EuGH, daß „Vereinbarungen zwischen Privaten in keinem Fall von den zwingenden Bestimmungen des Vertrages über den freien Warenverkehr abweichen dürfen“48. Daraus wurde zum Teil in der Literatur gefolgert, daß der EuGH auch hinsichtlich der Bestimmungen über den freien Warenverkehr von einer unmittelbaren Drittwirkung ausgehe49. Diese Einschätzung ist jedoch eher zweifelhaft. In der Entscheidung geht es um die Auslegung einer Generalklausel des dänischen Lauterkeitsrechts. Bezüglich dieser Generalklausel stellt der EuGH fest, daß ein Verstoß gegen eine Vereinbarung zwischen Privatpersonen, die die Einfuhr einer in einem anderen Mitgliedstaat rechtmäßig in den Verkehr gebrachten Ware verbietet, nicht als unlautere Handelspraxis im Sinne der dänischen Generalklausel zu qualifizieren ist50. Artikel 28 EGV wird demnach nicht direkt auf die private Vereinbarung angewandt, sondern dient lediglich zur gemeinschaftskonformen Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs „unlautere Handelspraxis“ im Sinne des in Rede stehenden dänischen Gesetzes. Angesprochen ist daher eine mittelbare Drittwirkung51. Auch wenn man gleichwohl an der These festhalten möchte, der EuGH habe sich mit dieser Entscheidung zu einer unmittelbaren Drittwirkung der Warenverkehrsfreiheit bekannt, sind diese angeblich „zweideutigen Aussagen“ des EuGH ein Einzelfall geblieben. In der der Problematik nachfolgenden Vorabentscheidung van de Haar52 wird bereits eine Ablehnung der unmittelbare Drittwirkung des Art. 28 EGV deutlich. Dabei geht der Gerichtshof in seiner Urteilsbegründung vor allem auf die unterschiedliche Zielsetzung der Art. 28 und 81 EGV ein: „Art. 85 EWG-Vertrag gehört zu den Wettbewerbsregeln, deren Adressaten die Unternehmen und Unternehmensvereinigungen sind und die einen wirksamen Wettbewerb innerhalb des gemeinsamen Marktes aufrechterhalten sollen. […] Art. 30 gehört demgegenüber zu den Regeln, die den freien Warenverkehr gewährleisten und die nationalen Maßnahmen der Mitgliedstaaten beseitigen sollen, die geeignet sind, diesen Verkehr in 47 Vgl. EuGH Rs. C-281/98, Slg. 2000, S. I-4139 (4172 f.), Rn. 33 ff – Angonese. Vgl. hierzu die Anmerkungen von Körber, EuR 2000, S. 932 ff., und Forsthoff, EWS 2000, S. 389 ff. 48 EuGH Rs. 58/80, Slg. 1981, S. 181 (195), Rn. 17 – Dansk Supermarket. 49 Vgl. Steindorff, Festschrift-Lerche 1993, S. 575 (578); Moench, NJW 1982, S. 2689 (2690); Usher, S. 171 (173), die diese Urteilsbegründung des EuGH als eindeutiges Anerkenntnis einer unmittelbaren Drittwirkung ansehen. 50 EuGH Rs. 58/80, Slg. 1981, S. 181 (195), Rn. 18 – Dansk Supermarket. 51 So auch Jaensch, S. 58, und Streinz/Leible, EuZW 2000, S. 459 (460). 52 EuGH verb. Rs. 177/82 und 178/82, Slg. 1984, S. 1797 – van de Haar.

B. Unmittelbare Erfassung privater Beschränkungen gem. Art. 28 EGV

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irgendeiner Weise zu beeinträchtigen“53. Diese explizit ausgesprochene Trennung zwischen den Adressatenkreisen der Art. 81 und 28 EGV scheint gegen eine Verpflichtung Privater gem. Art. 28 EGV zu sprechen. Eine eindeutige positive Ablehnung hat der EuGH in dieser Entscheidung indes noch nicht ausgesprochen. In der Entscheidung Vlaamse Reisbureaus54 scheiterte der Anwendungsbereich der Art. 28, 29 EGV nach Ansicht des EuGH bereits in sachlicher Hinsicht an der mangelnden Warenqualität einer Reise55. Gleichwohl führte der Gerichtshof anläßlich der Frage, ob die in Rede stehende Bestimmung des belgischen Rechts56 und die aufgrund dieser Bestimmung getroffene private Vereinbarung mit Art. 28, 29 EGV in Einklang stünden, aus, „[…] daß die Art. 30 und 34 zum Titel I des EWGVertrages gehören, der den freien Warenverkehr betrifft. Danach sind zwischen den Mitgliedstaaten mengenmäßige Einfuhr- und Ausfuhrbeschränkungen sowie alle Maßnahmen gleicher Wirkung verboten. Da sich die Art. 30 und 34 EWGV nur auf staatliche Maßnahmen und nicht auf Verhaltensweisen von Unternehmen beziehen, ist nur zu prüfen, ob nationale Bestimmungen wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden mit diesen Artikeln vereinbar sind“57. Aufgrund der zuvor festgestellten mangelnden Warenqualität einer Reise sind diese Ausführungen eher überflüssig und daher als obiter dicta anzusehen. Dennoch verstärken sie den Eindruck, daß nach Auffassung des EuGH regelmäßig nur staatliche Verhaltensweisen dem persönlichen Anwendungsbereich der Art. 28, 29 EGV unterfallen. Dieser Eindruck wird sodann in der Entscheidung Bayer58 bestätigt. Dort nahm der EuGH wiederum Stellung zur Abgrenzung der Anwendungsbereiche der Art. 28, 29 und 81 EGV. Dazu führte er aus, daß die Art. 28 und 29 EGV „zu den Vorschriften gehören, durch die der freie Warenverkehr gesichert werden soll und durch die zu diesem Zweck die Maßnahmen der Mitgliedstaaten, die den freien Warenverkehr in irgendeiner Weise behindern könnten, beseitigt werden sollen. Dagegen gelten für Vereinbarungen zwischen Unternehmen die durch Art. 85 ff. EWG-Vertrag aufgestellten Wettbewerbsregeln, die die Aufrechterhaltung eines wirksamen Wettbewerbs innerhalb des Gemeinsamen Marktes bezwecken“59. Dieser Sichtweise entsprechend stellte der Gerichtshof konsequent fest, daß im vorliegenden Fall eine getroffene Nichteingriffsabrede der Parteien eine Vereinbarung 53

EuGH verb. Rs. 177/82 und 178/82, Slg. 1984, S. 1797 (1812), Rn. 12 – van de Haar. EuGH Rs. 311/85, Slg. 1987, S. 3801 (3831), Rn. 32 – Vlaamse Reisbureaus. 55 Vgl. EuGH Rs. 311/85, Slg. 1987, S. 3801 (3830), Rn. 30 – Vlaamse Reisbureaus. 56 Gesetz vom 21. April 1965 über die Rechtsstellung von Reisebüros. Dieses Gesetz beinhaltet einen Pflichtenkatalog für Reisevermittler, der die Einhaltung der vereinbarten oder gesetzlich vorgeschriebenen Preise und Tarife sowie ein Verbot der Teilung ihrer Provision mit den Kunden vorschreibt. 57 EuGH Rs. 311/85, Slg. 1987, S. 3801 (3830), Rn. 28 – Vlaamse Reisbureaus. 58 EuGH Rs. 65/86, Slg. 1988, S. 5249 – Bayer. 59 EuGH Rs. 65/86, Slg. 1988, S. 5249 (5285), Rn. 11 – Bayer. 54

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1. Kap.: Grundlagen

von Unternehmen ist, die dementsprechend ausschließlich an Art. 81 EGV zu messen sei60. In diesem Urteil scheiterte der Anwendungsbereich der Art. 28, 29 EGV nicht, wie beispielsweise im vorherigen Urteil Vlaamse Reisbureaus, an einer sachlichen Anwendungsvoraussetzung. Der EuGH lehnte eine Prüfung der Art. 28, 29 EGV bewußt mit dem Argument ab, daß das Erfordernis einer staatlichen Maßnahme nicht gegeben sei. Dieser Einwand war mithin maßgeblich für die Entscheidungsgründe und nicht bloß als obiter dictum anzusehen61. Mit dem Urteil Bayer dürfte die Haltung des EuGH zur unmittelbaren Drittwirkung im Rahmen des freien Warenverkehrs geklärt sein. Eine Verpflichtung von Privatsubjekten durch die Art. 28, 29 EGV ist ausgeschlossen. Der unmittelbaren Drittwirkung dieser Bestimmungen wurde damit eine endgültige Absage erteilt. Auch die Entscheidung Delhaize62 kann nicht als eine überraschende Abkehr von dieser gefestigten Judikatur des Gerichtshofes verstanden werden63. In dieser Entscheidung legte ein belgisches Gericht dem EuGH zur Vorabentscheidung die Frage vor, ob eine spanische Vorschrift für Weine mit Ursprungsbezeichnung gegen Art. 29 EGV verstoße und, wenn ja, ob sich ein Einzelner gegenüber einer anderen Privatperson auf einen Verstoß gegen Art. 29 EGV berufen könne. Der EuGH stellte diesbezüglich fest, daß sich ein Einzelner innerhalb privater Rechtsstreitigkeiten vor einem nationalen Gericht auf die unmittelbar anwendbare Norm des Art. 34 EGV berufen könne64. Unabhängig von der dargelegten Fragestellung des belgischen Gerichts, könnten die Aussagen des EuGH in der Tat als Anerkenntnis einer unmittelbaren Drittwirkung gewertet werden. Die Ausgangsfrage des vorlegenden Gerichts betraf jedoch eine nationale Legislativmaßnahme und nicht eine Maßnahme privaten Ursprungs. Zum Tragen kommt daher lediglich eine gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung des nationalen belgischen Rechts. Angesprochen ist damit, ebenso wie in der Entscheidung Dansk Supermarket eine mittelbare Drittwirkung, nicht aber eine unmittelbare. Deren Voraussetzung ist vielmehr ein privates Verhalten, das unmittelbar zu der Beeinträchtigung einer Grundfreiheit, in diesem Fall dem freien Warenverkehr führt65. Festzuhalten bleibt, daß eine unmittelbare private Handelsbeeinträchtigung in der Judikatur des EuGH ausschließlich über Art. 81, 82 EGV erfaßt wird. Diese Bestimmungen entsprechen seiner Rechtsprechung zufolge den Art. 28, 29 EGV 60

Vgl. EuGH Rs. 65/86, Slg. 1988, S. 5249 (5285), Rn. 13 – Bayer. A. A. Steindorff, Festschrift-Lerche 1993, S. 575 (580). 62 EuGH Rs. C-47/90, Slg. 1992, S. I-3669 – Delhaize. 63 So aber Zahradnik, S. 59. 64 EuGH Rs. C-47/90, Slg. 1992, S. I-3669 (3711), Rn. 29 – Delhaize. 65 Vgl. in diesem Sinne auch die Schlußanträge von Generalanwalt Gulmann in EuGH Rs. C-47/90, Slg. 1992, S. 3669 (3702), Ziff. 42 ff. – Delhaize. 61

B. Unmittelbare Erfassung privater Beschränkungen gem. Art. 28 EGV

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für den privaten Bereich. Für den Bereich der Warenverkehrsfreiheit wird man daher abschließend festhalten können, daß der EuGH die unmittelbare Drittwirkung dieser Vertragsbestimmungen in beständiger Rechtsprechung ablehnt. 3. Das Meinungsbild in der Literatur Die Literaturmeinungen hinsichtlich einer Bindung Privater an die Bestimmungen des freien Warenverkehrs lassen sich in drei Kategorien einteilen: Eine grundsätzliche Anerkennung einer umfassenden unmittelbaren Drittwirkung aller Grundfreiheiten und damit auch der des freien Warenverkehrs66, eine eingeschränkte Anerkennung der unmittelbaren Drittwirkung der Warenverkehrsfreiheit67 und letztlich die deutlich überwiegende Ablehnung einer unmittelbaren Wirkung der Warenverkehrsfreiheit zwischen Privaten68. Die Befürworter einer umfassenden Bindung sämtlicher Privatpersonen an alle Grundfreiheiten stellen vor allem auf das Argument der Schutzbedürftigkeit privater Wirtschaftsteilnehmer und das Erfordernis einer dynamischen und effektiven Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts69 ab70. Um dieser umfassenden Verpflichtung Privater die Schärfe zu nehmen, wird vereinzelt die Möglichkeit in Betracht gezogen, in Anlehnung an die Rechtsprechung des EuGH in der Rechtssache Bosman, eine unmittelbare Drittwirkung des freien Warenverkehrs lediglich bei kollektiven Regelungen solcher Institutionen zuzulassen, denen quasi staatliche Gewaltbefugnisse zukommen. Entscheidend dabei sei jedoch, daß ein Kollektiv in Form dieser intermediären Gewalt rechtsetzend tätig wird. Wo es an einer solchen Rechtsetzung durch Private fehle und 66 Vgl. Schaefer, S. 54 ff.; Steindorff, Festschrift-Lerche 1993, S. 575 (586); Steindorff, EG-Vertrag und Privatrecht, S. 292 (299); Bleckmann, Gedächtnisschrift-Sasse 1981 (Bd. II), S. 665 (676); Bleckmann, Festschrift-Carstens 1984 (Bd. I), S. 43 (54); Ganten, S. 105; Möllers, EuR 1998, S. 20 (36); Reichhold, ZEuP, 1998, S. 434 (449 f.). 67 Vgl. Roth, Festschrift-Everling 1995 (Bd. II), S. 1230 (1247); Jaensch, S. 263; G/T/EMüller-Graff, Art. 30, Rn. 128. 68 Vgl. nur Meier, ZHR 1970 (Bd. 133), S. 61 (89 ff.); Gundersen, NJW 1975, S. 472 (474); Burgi, EWS 1999, S. 327 (330); Epiney, SZIER 1998, S. 371 (377); Calliess/RuffertEpiney, Art. 28, Rn. 46; Streinz/Leible, EuZW 2000, S. 459 (464 f.); Ehlers-Ehlers, S. 165, Rn. 43; Weber, RdA 1996, S. 107 (108); HKEGV-Hailbronner, Art. 30, Rn. 7; Dauses HdBdWR-Dauses, CI, Rn. 80; Kluth, AöR 122 (1997), S. 557 (566); Hauschka, DB 1990, S. 873 (876); Grabitz/Hilf-Leible, Art. 28, Rn. 44; B/B/P/S, Rn. 141. 69 Vgl. dazu eingehend Schaefer, S. 54 ff. 70 Innerhalb dieser grundsätzlichen Anerkennung wird die inhaltliche Ausgestaltung einer unmittelbaren Drittwirkung wiederum kontrovers beurteilt. So wird einerseits eine unmittelbare Drittwirkung davon abhängig gemacht, ob das private Verhalten eine spürbare Beschränkung der Privatautonomie hervorruft, vgl. Möllers, EuR 1998, S. 20 (36). Andererseits wird eine entsprechende Anwendung des Art. 30 S. 2 EGV unter Privaten befürwortet, so daß nur willkürliche Diskriminierungen unter Privaten untersagt seien, vgl. Steindorff, Festschrift-Lerche 1993, S. 575 (584 f.).

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1. Kap.: Grundlagen

lediglich tatsächlich beeinträchtigende Handlungen vorgenommen werden, sei eine unmittelbare Drittwirkung ausgeschlossen71. 4. Wesentliche Kritikpunkte an dem Verantwortungsmodell einer unmittelbaren Drittwirkung Der Wortlaut des Art. 28 EGV bezieht sich auf „Beschränkungen zwischen den Mitgliedstaaten“. Streng genommen ist mit dieser Wortwahl nicht eindeutig belegt, daß ausschließlich die Mitgliedstaaten selbst diesem Verbot unterliegen. Nur „zwischen ihnen“, also bei grenzüberschreitenden Sachverhalten, ist eine Beschränkung des freien Warenverkehrs untersagt. Von wem diese letztlich ausgehen kann, bleibt vom Wortlaut der Norm her offen72. Gegen eine Einbeziehung Privater in den Adressatenkreis des Art. 28 EGV sprechen indes gewichtige systematische Indizien. Die Rechtfertigungsgründe des Art. 30 EGV betreffen nichtwirtschaftliche, öffentliche Interessen, deren Durchsetzung den Mitgliedstaaten obliegt. Die Rechtfertigungsgründe sind damit explizit auf staatliche Verhaltensweisen zugeschnitten73. Die Möglichkeit, daß sich Private auf nichtwirtschaftliche öffentliche Allgemeinwohlinteressen berufen können, erscheint eher zweifelhaft. Im Ergebnis stünden Privaten daher gegebenenfalls geringere Rechtfertigungsmöglichkeiten zur Verfügung als den Mitgliedstaaten selbst, an die sich das Unterlassungsgebot des Art. 28 EGV grundsätzlich richtet. Diesen Einwänden mag man entgegenhalten, daß es möglich wäre, spezielle, auf private Belange zugeschnittene Rechtfertigungsmöglichkeiten im Rahmen richterlicher Rechtsfortbildung zu entwickeln. Jedoch wird eine systematische Einordnung des Art. 28 EGV als staatengerichtete Norm durch einen – insbesondere vom EuGH aufgezeigten – Vergleich mit den Wettbewerbsvorschriften der Art. 81 f. EGV verdeutlicht. Unter speziellen, auf private Verhaltensweisen zugeschnittenen Voraussetzungen besteht eine unmittelbare Bindung privater Wirtschaftsteilnehmer an Art. 81 f. EGV. Dies läßt den Schluß zu, daß eine über diese Bestimmungen hinausgehende unmittelbare Bindung Privater vom EG-Vertrag nicht vorgesehen ist74. Verstärkt wird diese Erwägung durch einen Vergleich mit Art. 86 Abs. 2 EGV. Diese Vorschrift normiert für private Unternehmen, die mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse betraut sind oder den Charakter eines Finanzmonopols haben, ausdrücklich eine Bindung an die Vorschriften des EG-Vertrages und 71

Vgl. Roth, Festschrift-Everling 1995 (Bd. II), S. 1230 (1247); Jaensch, S. 285 f. Vgl. auch Jaensch, S. 86; a. A. Schwarze-Becker, Art. 28, Rn. 89, der schon allein dem Wortlaut des Art. 28 EGV dessen ausschließliche Bindung an die Mitgliedstaaten entnimmt 73 Vgl. Roth, Festschrift-Everling 1995 (Bd. II), S. 1231 (1241); Jaensch, S. 123 ff. 74 Vgl. G/T/E-Müller-Graff, Art. 30, Rn; Schwarze-Becker, Art. 28, Rn. 89. 72

B. Unmittelbare Erfassung privater Beschränkungen gem. Art. 28 EGV

31

damit eine Bindung an die Grundfreiheiten. Für derartige Unternehmen rechtfertigt sich eine unmittelbare Drittwirkung des Art. 28 EGV, da diese, kraft eines Betrauungsaktes der öffentlichen Gewalt75, mit besonderen Aufgaben betraut sind. Sie nehmen somit staatsähnliche Aufgaben wahr. Fehlt es an einer derartigen Staatsnähe, so kann aus einem argumentum e contrario gefolgert werden, daß übrige Private nicht an Art. 28 EGV gebunden sind. Vielmehr ist ihre Bindung auf die Art. 81 f. EGV beschränkt, die ausdrücklich auf private Verhaltensweisen zugeschnitten sind76. Gegen ein solches argumentum e contrario lässt sich zwar zu Recht einwenden, daß sich die Art. 81 f. EGV nur auf Unternehmen beziehen.77. Für Beschränkungen von Privatorganisationen und Einzelpersonen besteht somit eine Schutzlücke78. Das praktische Bedürfnis diese Schutzlücke mittels einer unmittelbaren Drittwirkung des Art. 28 EGV zu schließen, stößt jedoch nunmehr auf das gewichtigste Argument gegen die Anerkennung einer unmittelbaren Drittwirkung. Diese hätte zur Folge, daß innerstaatliche ausgestaltete Beziehungen zwischen Bürger und Staat durch das Gemeinschaftsrecht determiniert werden. Die Mitgliedstaaten wären ihrer Befugnisse beraubt, innerhalb der ihnen verbleibenden Kompetenzbereiche des nationalen Privatrechts, die Ausgestaltung der Privatautonomie, selbst zu regeln. An die Stelle des nationalen Privatrechts träte unmittelbar das Gemeinschaftsrecht und an die Stelle des nationalen Gesetzgebers träte der EuGH79. Gleiches gilt insbesondere für die Kompetenz der Mitgliedstaaten zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Im Falle privater Streik- und Blockademaßnahmen, die eine Beschränkung des freien Warenverkehrs bewirken, würden die ausschließlichen Handlungs- und Gestaltungsbefugnisse der Mitgliedstaaten, über die Art der Vorgehensweise gegen private Störer zu entscheiden, durch eine verbindliche Auslegung des EuGH ersetzt werden. Die unmittelbare Drittwirkung gestaltet sich daher in erster Linie als ein Kompetenzproblem, welches auch die Befürworter einer unmittelbaren Drittwirkung nicht mit dem praktischen Erfordernis nach der bestmöglichen Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts übergehen können.

75 Vgl. hierzu EuGH Rs. 66/86, Slg. 1989, S. 803 (853), Rn. 55 – Ahmed Saeed Flugreisen; EuGH Rs. C-159/94, Slg. 1997, S. I-5815 (5836), Rn. 65 – Kommission/Frankreich. 76 Vgl. Streinz/Leible, EuZW 2000, S. 459 (464); Roth, Festschrift-Everling 1995 (Bd. II), S. 1231 (1244). 77 Vgl. Jaensch, S. 141 f. Nicht überzeugend ist indes die Ansicht, die den Adressatenkreis des Art. 81 EGV auf sämtliche Privatpersonen erstrecken will, Vgl. dazu Donner, SEW 1982, S. 362 (373), und die gegen eine derartig extensive Interpretation stimmende Begründung von Schaefer, S. 65 f. Vgl. zum Anwendungsbereich des Art. 81 EGV auch unten, 3. Kapitel, A. III. 4. 78 Vgl. dazu Schaefer, S. 65 f., der aus diesem Grund eine unmittelbare Drittwirkung befürwortet. 79 Vgl. Burgi, EWS 1999, S. 327 (330); Streinz/Leible, EuZW 2000, S. 459 (466).

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1. Kap.: Grundlagen

5. Fazit Eine unmittelbare Drittwirkung der Warenverkehrsfreiheit im Sinne der Art. 28, 29 EGV ist – im Einklang mit der Rechtsprechung und der überwiegenden Ansicht in der Literatur – abzulehnen. Private Wirtschaftsteilnehmer können somit nicht unmittelbar an diese Bestimmungen gebunden werden. Dies hat zur Folge, daß Private sich untereinander nicht auf eine Beeinträchtigung der ihnen eingeräumten Rechte gem. Art. 28 EGV berufen können. II. Zurechnung privater Handlungen als staatseigenes Verhalten Unter bestimmten Voraussetzungen können private Beschränkungshandlungen den Mitgliedstaaten als eigene Maßnahmen zugerechnet werden. 1. Terminologie Zurechnung in diesem Sinne bedeutet, daß der Mitgliedstaat für ein privates Verhalten zur Verantwortung gezogen wird. Im Wege einer vertikalen Ausweitung des Verbotes staatlicher Maßnahmen gleicher Wirkung werden private Beschränkungshandlungen dem Staat als eigene Maßnahmen zugerechnet. Im Ergebnis wird der Mitgliedstaat letztlich so gestellt, als wenn er selbst gehandelt hätte. Anknüpfungspunkt der unmittelbaren Beschränkungshandlung bleibt aber das private Verhalten, welches die maßgebliche erfolgsbegründende Ursache für die Beeinträchtigung des freien Warenverkehrs setzt. 2. Rechtsprechung des EuGH Mit dieser Zurechnungsproblematik beschäftigte sich der EuGH in dem sogenannten Buy-Irish-Urteil80. Dort ging es um Werbekampagnen zugunsten einheimischer irischer Waren. Durchgeführt wurde diese Werbekampagne vom IrishGoods Council, einer privatrechtlich organisierten Gesellschaft. Die Vorstandsmitglieder dieser Gesellschaft wurden jedoch von der Regierung ernannt und hatten darüber hinaus auch Einfluß auf die Durchführung der Werbekampagne. Zudem wurde die Organisation vorwiegend durch öffentliche Mittel finanziert. Der EuGH gelangte zu der Ansicht, daß die irische Regierung sich nicht darauf berufen könne, daß die Kampagne letztlich von einer privatrechtlich organisierten Gesellschaft durchgeführt wurde, um sich somit „jeglicher Verantwortung zu entziehen, die ihr nach den Vorschriften des Vertrages auferlegt sein könnte“81. Dem80 81

EuGH Rs. 249/81, Slg. 1982, S. 4005 ff. – Kommission/Irland. EuGH Rs. 249/81, Slg. 1982, S. 4005 (4020), Rn. 15 – Kommission/Irland.

B. Unmittelbare Erfassung privater Beschränkungen gem. Art. 28 EGV

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zufolge stellte der Gerichtshof fest, daß Irland gegen Art. 28 EGV verstoßen hat, indem es eine Kampagne zur Förderung des Absatzes und des Kaufs irischer Erzeugnisse im Inland durchführte82. An dieser Feststellung wird ersichtlich, daß die maßgebliche tatbestandsbegründende Ursache der Beschränkung des freien Warenverkehrs in der Durchführung der Werbekampagne selbst und nicht in der staatlichen Finanzierung und Kontrolle der Kampagne liegt. Letztere stellt jedoch die Voraussetzung für die Zurechnung der privaten Beschränkungshandlung als staatseigene Maßnahme dar83. Im Ergebnis wird die Durchführung der privatorganisierten Werbekampagne der irischen Regierung als eigene Maßnahme gleicher Wirkung zugerechnet. In dem Vorabentscheidungsverfahren Apple and Pear84 ging es um eine Institution, die kraft Verordnung durch den britischen Minister für Landwirtschaft, Fischerei und Ernährung errichtet wurde. Dieser Institution wurde die Aufgabe zugewiesen, Werbungs- und Verkaufsförderungsmaßnahmen zum Absatz von einheimischem Obst auf dem britischen Markt durchzuführen. Die Mitglieder des Apple and Pear Council wurden durch den Minister ernannt, ihre Tätigkeiten wurden durch eine Pflichtabgabe finanziert und der Kreis der dem Council zugehörigen Personen durch einen Hoheitsakt bestimmt. Der Gerichtshof entschied, genauso wie im Buy-Irish-Urteil, daß eine Werbekampagne, die den Absatz und Kauf einheimischer Erzeugnisse fördern soll, unter das Verbot des Art 30 EWGVertrag fallen kann, wenn sie von staatlichen Stellen unterstützt wird. Eine Körperschaft wie der Council, die von der Regierung eines Mitgliedstaates errichtet worden ist und durch eine bei den Erzeugern erhobene Abgabe finanziert wird, könne von Gemeinschaftsrechts wegen hinsichtlich der verwendeten Werbemethoden nicht dieselbe Freiheit genießen, wie die Erzeuger selbst oder wie freiwillige Erzeugergemeinschaften85. Im Gegensatz zum Buy-Irish-Urteil, welches auf die Feststellung einer Vertragsverletzung der irischen Regierung gerichtete war, ist der Gerichtshof in dieser Entscheidung noch einen Schritt weiter gegangen. Er stufte den Council selbst als unmittelbaren Adressaten des Art. 28 EGV ein. Ersichtlich wird daher, daß privatorganisierte Einrichtungen selbst dem Verbot staatlicher Maßnahmen gleicher Wirkung gem. Art. 28 EGV unterliegen, sofern ihr Verhalten dem Staat, kraft staatlicher Förderung und Lenkung, zurechenbar ist. Bestätigt wurde diese Rechtsprechung in der Entscheidung Hennen Olie86. Im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens des Gerichtshofes Den Haag ging es 82

EuGH Rs. 249/81, Slg. 1982, S. 4005 (4023), Rn. 30 – Kommission/Irland. Vgl. auch die Schlußanträge von Generalanwalt Capotorti zu EuGH Rs. 249/81, Slg. 1982, S. 4005 (4027), Ziff. 4. – Kommission/Irland. 84 EuGH Rs. 222/82, Slg. 1983, S. 4083 ff. – Apple and Pear. 85 EuGH Rs. 222/82, Slg. 1983, S. 4083 (4119), Rn. 17 – Apple and Pear. 86 EuGH Rs. C-302/88, Slg. 1990, S. I-4625 – Henn Olie BV. 83

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1. Kap.: Grundlagen

um mögliche ausfuhrbehindernde Maßnamen einer privatorganisierten Einrichtung namens ICOVA. Der Gerichtshof führte aus, daß die IVOCA unter der Kontrolle der niederländischen Behörden gestanden habe. Sie sei an deren Weisungen gebunden gewesen, auch wenn sie nicht formal zur Staatsverwaltung gehört habe. Die Vorstandsmitglieder seien vom Wirtschaftsminister ernannt worden und darüber hinaus befugt gewesen, der ICOVA verbindliche Weisungen zu erteilen, ihre Auflösung zu beschließen sowie ihren Haushaltsentwurf und ihren Jahresabschluß zu genehmigen87. Handlungen einer Einrichtung, die einer solchen behördlichen Kontrolle unterliegen, könnten daher – unabhängig von der Rechtsform der Einrichtung – Maßnahmen im Sinne des Art. 34 EGV sein88. Die Rechtsprechung des EuGH89 weist eine deutliche Parallele im Hinblick auf die Grundrechtsbindung staatlicher Stellen in der deutschen Grundrechtsdogmatik auf. Dort kann es aufgrund der Unbedingtheit des Art. 1 Abs. 3 GG ebenfalls nicht darauf ankommen, durch wen die vollziehende Gewalt handelt und in welchen Organisations- und Handlungsformen sie tätig wird. Auch soweit sie ihre Aufgaben nicht durch eigene Organe wahrnimmt, muß ein Grundrechtsschutz und damit eine Grundrechtsbindung des Staates erhalten bleiben90. Andernfalls wäre eine „Flucht ins Privatrecht“ und eine damit einhergehende Aushöhlung des Grundrechtsschutzes möglich. Insoweit bietet auch auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene die Zurechnung privaten Verhaltens als mitgliedstaatseigenes Verhalten eine Möglichkeit, einer Flucht der Mitgliedstaaten ins Privatrecht entgegenzuwirken. Staatlich geförderte und kontrollierte Beschränkungshandlungen „Privater“ unterfallen somit unmittelbar dem Verbot Maßnahmen gleicher Wirkung gem. Art. 28 EGV91.

87

Vgl. EuGH Rs. C-302/88, Slg. 1990, S. I-4625 (4643 f.), Rn. 15 – Henn Olie BV. Vgl. EuGH Rs. C-302/88, Slg. 1990, S. I-4625 (4644), Rn. 16 – Henn Olie BV. 89 Die vom EuGH entwickelte Zurechnungsmöglichkeit im Rahmen des Art. 28 EGV verlief im übrigen parallel zu seiner Rechtsprechung im Hinblick auf eine unmittelbare Wirkung von Richtlinien, vgl. EuGH Rs. 152/84, Slg. 1986, S. 723 (749), Rn. 48 – Marshall. In der Rechtssache Foster stellte der EuGH ausdrücklich fest, daß „eine Einrichtung unabhängig von ihrer Rechtsform kraft staatlichen Rechtsakts unter staatlicher Aufsicht eine Dienstleistung im öffentlichen Interesse zu erbringen hat und die hierzu mit besonderen Rechten ausgestattet ist, die über das hinausgehen, was für die Beziehungen zwischen Privatpersonen gilt, zu den Rechtssubjekten, denen die unmittelbar anwendbaren Bestimmungen einer Richtlinie entgegengehalten werden können, EuGH Rs. C-188/89, Slg. 1990, S. I-3313 (3348 f.), Rn. 20 – Foster. 90 Pieroth/Schlink, Rn. 169. 91 Die Rechtsprechung des Gerichtshofes hat in der Literatur einhellige Zustimmung gefunden. Vgl. nur Schwarze-Becker, Art. 28, Rn. 86; Lenz-Lux, Art. 28, Rn. 17; Wernicke, S. 143 ff.; Koenig/Harratsch, Rn. 502; G/T/E-Müller-Graff, Art. 30, Rn. 121. 88

B. Unmittelbare Erfassung privater Beschränkungen gem. Art. 28 EGV

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III. Fazit In diesem Abschnitt wurde untersucht, inwieweit neben den Mitgliedstaaten auch private Wirtschaftsteilnehmer an die Bestimmungen des freien Warenverkehrs gebunden sind und unter welchen Voraussetzungen einem Mitgliedstaat private Beschränkungen als eigene Maßnahmen gleicher Wirkung zugerechnet werden können. Zusammenfassend ist festzuhalten, daß die Möglichkeit, Private als Verbotsadressaten der Warenverkehrsfreiheit anzusehen, noch höchst umstritten ist. Es wurde aber dargelegt, daß eine unmittelbare Drittwirkung der Art. 28, 29 EGV vor allem aus systematischen Gründen abzulehnen ist. Private Wirtschaftsteilnehmer können daher nicht an diese Bestimmungen gebunden werden. Als Konsequenz für die Durchsetzung der im EG-Vertrag geforderten Warenverkehrsfreiheit ergibt sich daraus, daß Privatpersonen zwar die Güter beeinträchtigen können, die durch die Warenverkehrsfreiheit geschützt werden, gleichwohl können sie aber nicht in die Warenverkehrsfreiheit also solche eingreifen und diese somit auch nicht verletzen. Adressaten des freien Warenverkehrs sind ausschließlich die Mitgliedstaaten selbst. Nach dem Stand der Judikatur und Literatur ist jedoch anerkannt, daß ein Mitgliedstaat sich private Handlungen zurechnen lassen muß, sofern diese staatlich kontrolliert und gefördert werden. Derartige Beschränkungshandlungen unterfallen somit unmittelbar dem Verbot Maßnahmen gleicher Wirkung gem. Art. 28 EGV und sind letztlich als hoheitliche Maßnahme gleicher Wirkung anzusehen. Diese Zurechnungsmöglichkeit ist jedoch nur begrenzt möglich, so daß weitgehende Schutzlücken und damit einhergehende Durchsetzungsdefizite im Bereich des freien Warenverkehrs verbleiben.

Zweites Kapitel

Die rechtliche Existenz mitgliedstaatlicher Handlungspflichten zur Gewährleistung der Warenverkehrsfreiheit Das Europäische Gemeinschaftsrecht begründet eine selbständige Rechtsordnung, die in der Lage sein muß, sämtliche auftretenden Rechtsprobleme umfassend zu lösen1. Die nachfolgende Untersuchung gilt der Frage, ob ein Mitgliedstaat trotz privater, ihm nicht zurechenbarer Beschränkungshandlungen für einen Verstoß gegen den Grundsatz des freien Warenverkehrs zur Verantwortung gezogen werden kann. Beeinträchtigen Privatpersonen unter Ausschluß jeglicher staatlicher Beteiligung den grenzüberschreitenden Warenverkehr, so kommt eine diesbezügliche Verantwortung des Mitgliedstaates nur dann in Betracht, wenn ihn ein gemeinschaftsrechtlich begründeter Unterlassensvorwurf trifft. Im Unterschied zu einer Zurechnung privaten Verhaltens als mitgliedstaatseigenes Verhalten geht es dementsprechend nicht um eine weitere Haftungsmöglichkeit für ein „privates“ Verhalten, sondern um ein eigenes originäres und unmittelbares Fehlverhalten des Mitgliedstaates, welches in dessen Untätigkeit liegt. Maßgebliche Bedingung für eine Vertragsverletzung durch ein Unterlassen ist eine gemeinschaftsrechtlich bestehende Verpflichtung der Mitgliedstaaten, gegen privatautonome Beeinträchtigungen in ihrem Hoheitsgebiet aktiv einzuschreiten. Dieses Erfordernis einer mitgliedstaatlichen Handlungsverpflichtung läßt sich anschaulich mit dem Begriff einer Garantenpflicht umschreiben2. Die Garantenpflicht im eigentlichen Sinne erinnert an das deutsche Strafrecht. Dort bedarf es für eine Strafbarkeit wegen eines Unterlassens ebenfalls einer rechtlich gebotenen Verpflichtung, um einen verbotenen Erfolg zu verhindern3. Ebenso bedarf es im Gemeinschaftsrecht für einen begründeten Unterlassensvorwurf einer aus dem EG-Vertrag resultierenden Verpflichtung der Mitgliedstaaten, Beschränkungen des freien Warenverkehrs abzuwehren.

1

Bleckmann, Festschrift-Carstens 1984 (Bd. 1), S. 43 (43). Vgl. diesen Begriff bei Burgi, EWS 1999, S. 327 (327); Meier, EuZW 1998, S. 87 (87), verwendet den sinnverwandten Begriff der „Garantenstellung“. 3 Vgl. Wessels/Beulke, Rn. 715. 2

A. Begründung des EuGH und der Literatur

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A. Begründung des EuGH und der Literatur Der Gerichtshof geht in der Entscheidung Kommission/Frankreich im Ergebnis davon aus, daß den Mitgliedstaaten eine solche Verpflichtung gem. Art. 28 i. V. m. Art. 10 EGV obliegt. Zunächst führt er aus, daß Art. 28 EGV nicht nur Maßnahmen verbiete, die auf den Staat zurückzuführen seien, sondern auch dann Anwendung finden könne, wenn ein Mitgliedstaat keine Maßnahmen ergriffen habe, um gegen Beeinträchtigungen des freien Warenverkehrs einzuschreiten, deren Ursachen nicht auf den Staat zurückzuführen seien4. Aus dieser Feststellung schlußfolgert er, daß Art. 28 EGV den Mitgliedstaaten somit nicht nur eigene Handlungen oder Verhaltensweisen, die zu einem Handelshemmnis führen können, verbiete, sondern sie in Verbindung mit Art. 10 EGV auch dazu verpflichte, alle erforderlichen und geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, um in ihrem Gebiet die Beachtung dieser Grundfreiheit sicherzustellen5. Unklar an diesen Ausführungen ist, ob die Grundlage der Handlungspflicht in erster Linie aus der Grundfreiheit des freien Warenverkehrs gem. Art. 28 EGV selbst oder vorrangig aus Art. 10 EGV oder aus einer kumulativen Anwendung beider Bestimmungen erfolgen soll. Den Schlußanträgen Generalanwalts Lenz zufolge bietet Art. 28 EGV allein keine ausreichende Grundlage für eine mitgliedstaatlich Verpflichtung, gegen Beeinträchtigungen Privater aktiv einzuschreiten6. Eine derartige Pflicht ergebe sich erst aus Art. 10 Abs. 1 S. 1 EGV7. Diese Ausführungen deuten mithin darauf hin, daß Generalanwalt Lenz eine mitgliedstaatliche Handlungspflicht anhand einer kumulativen Anwendung der Art. 28 und Art. 10 Abs. 1 S. 1 EGV begründet. In der Literatur hat die notwendige und rechtliche Existenz mitgliedstaatlicher Handlungspflichten in letzter Zeit vermehrt Zustimmung gefunden. Überwiegend wird eine derartige Pflicht entsprechend der Begründung des Gerichtshofes begrüßt8.

4 Vgl. EuGH Rs. C-265/95, Slg. 1997, S. I-6659 (6998 f.), Rn. 30 – Kommission/Frankreich. 5 Vgl. EuGH Rs. C-265/95, Slg. 1997, S. I-6659 (6999), Rn. 32 – Kommission/Frankreich. 6 Vgl. die Schlußanträge von Generalanwalt Lenz zu EuGH Rs. C-265/95, Slg. 1997, S. I-6959 (6978), Ziff. 40 – Kommission/Frankreich. 7 Vgl. die Schlußanträge von Generalanwalt Lenz zu EuGH Rs. C-265/95, Slg. 1997, S. I-6959 (6978), Ziff. 43 – Kommission/Frankreich. 8 Vgl. Kainer, JuS 2000, S. 431 (433); Kühling, NJW 1999, S. 403 (404); Fischer, JA 1998, S. 838 (840); Oliver, Rn. 4.42; Szczekalla, S. 634; Schwarze, EuR 1998, S. 47 (54); Hirsch, ZEuS 1999, S. 503 (504); Jarass, EuR 2000, S. 705 (713); Jaekel, S. 238.

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2. Kap.: Rechtliche Existenz mitgliedstaatlicher Handlungspflichten

Vereinzelt finden sich Ansichten, nach denen eine mitgliedstaatliche Handlungspflicht allein aus Art. 10 EGV resultieren soll9. Demgegenüber wird vereinzelt darauf hingewiesen, daß die maßgebliche Grundlage einer mitgliedstaatlichen Handlungspflicht in Art. 28 EGV verankert sei10.

B. Dogmatische Grundlage einer mitgliedstaatlichen Handlungspflicht Der Weg für die Begründung einer mitgliedstaatlichen Unterlassenshaftung ist – wie die nachstehenden Ausführungen noch zeigen werden – davon abhängig, aus welchem Blickwinkel man diese Diskussion führt. Einerseits könnte man sie mit der Fragestellung beginnen, ob den Bestimmungen des freien Warenverkehrs ein allgemeines Schutzgebot zu entnehmen ist. Andererseits könnte man die Untersuchung unter dem Aspekt einer im EG-Vertrag positiv-rechtlich ausformulierten Handlungsverpflichtung beginnen. Letzteres soll vorliegend der Fall sein. I. Der Wortlaut der Art. 28–31 EGV Zur Begründung einer mitgliedstaatlichen Handlungspflicht zum Schutze der Warenverkehrsfreiheit liegt es nahe, zunächst auf die Bestimmungen der Art. 28–31 EGV einzugehen. Artikel 28, 29 EGV verbieten Ein- und Ausfuhrbeschränkungen sowie Maßnahmen gleicher Wirkung. Mit dem Begriff einer „Maßnahme“ wird grundsätzlich die Vorstellung verbunden, daß der Staat nicht unter Verstoß des Art. 28 EGV aktiv tätig werden darf11. Zu diesen Tätigkeiten, beziehungsweise Maßnahmen, zählen alle Rechts- und Verwaltungsvorschriften, Verwaltungspraktiken sowie alle Akte, die von einer Behörde ausgehen12. Somit wird dem Staat eine Unterlassungspflicht aufgegeben. Dementsprechend normiert Art. 28 EGV ein Handlungsverbot. Ein Unterlassungsverbot und eine entsprechende Handlungspflicht kann dem Wortlaut der Art. 28, 29 EGV nicht entnommen werden. Zwar könnte man daran denken, daß der Entschluß zu einem Unterlassen das Bewußtsein erweckt, eine „negative Handlung“ vorzunehmen. Eine Maßnahme wäre somit auch das bloße Unterlassen und mit einer Handlung gleichsetzen. Dies spielt sich auf einer rein psychologischen Ebene ab. Derartige Erwägungen sind 9 Vgl. Bleckmann, DVBl. 1976, S. 483 (487); Söllner, S. 16; Schaefer, S. 265. Nach Zahradnik, S. 67, besteht eine mitgliedstaatliche Handlungspflicht nach Art. 10 Abs. 2 EGV. 10 Calliess/Ruffert-Epiney, Art. 28; Schindler, S. 195; ebenso wohl auch Meurer, EWS 1998, S. 196 (198). 11 Vgl. Oppermann, Rn. 1294; vgl. hierzu bereits, 1. Kapitel, A. I. 4. 12 Vgl. Fischer, Europarecht, S. 238, Rn. 22.

B. Dogmatische Grundlage einer mitgliedstaatlichen Handlungspflicht

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jedoch nicht in der Lage, eine tragfähige Konstruktion einer Handlungsverpflichtung über den eindeutigen Wortlaut des Art. 28 EGV hinaus zu begründen. Ziel einer Verbalinterpretation ist es, nach dem natürlichen Sprachverständnis einen möglichen Wortsinn herauszukristallisieren13. Vom natürlichen Sprachverständnis her kann mit dem Begriff einer Maßnahme lediglich eine aktive Tätigkeit verbunden werden. Nach Art. 31 Abs. 1 EGV wird den Mitgliedstaaten aufgegeben, ihre Handelsmonopole schrittweise umzuformen. Dieses Gebot ist auf ein aktives Handeln der Mitgliedstaaten ausgerichtet. Jedoch kann von dieser speziellen Aufgabe, die konkret auf den Bereich von Handelsmonopolen zugeschnitten ist, nicht auf eine allgemeingültige Handlungsverpflichtung zugunsten des freien Warenverkehrs geschlossen werden. Zur positiv-rechtlichen Verankerung einer Handlungsverpflichtung können die Bestimmungen der Art. 28–31 EGV ihrem Wortlaut zufolge nicht ausreichen. II. Art. 10 EGV Der EG-Vertrag stellt mit Art. 10 EGV eine Norm zur Verfügung, die neben den in den Einzelbestimmungen geregelten Pflichten drei weitere Verpflichtungen der Mitgliedstaaten normiert. Diese lautet: „Die Mitgliedstaaten treffen alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Erfüllung der Verpflichtungen, die sich aus diesem Vertrag oder aus Handlungen der Organe der Gemeinschaft ergeben. Sie erleichtern dieser die Erfüllung ihrer Aufgabe. Sie unterlassen alle Maßnahmen, welche die Verwirklichung der Ziele dieses Vertrages gefährden könnten“.

Insofern werden zwei Formen der Handlungspflicht in Absatz 1 und eine allgemeine Unterlassungspflicht in Absatz 2 normiert. 1. Bedeutung Artikel 10 EGV statuiert eine generelle gegenseitige Pflicht der Loyalität14 und Solidarität15 zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten16, die beide 13

Larenz, S. 210. Vgl. die Verwendung des Begriffs in EuGH, Rs. 230/81, Slg. 1983,S. 255 (287), Rn. 37 – Luxemburg/Parlament; EuGH, Rs. 52/84, Slg. 1986, S. 89 (105), Rn. 16 – Kommission/Belgien. 15 Vgl. die Verwendung des Begriffs in EuGH verb. Rs. 6 und 11/69, Slg. 1969, S. 523 (540) – Kommission/Frankreich; EuGH, Rs. 39/72, Slg. 1973, S. 101 (115), Rn. 25 – Kommission/Italien. 16 Die Verpflichtung erstreckt sich in vier Richtungen. Zum einen betrifft sie die sich direkt aus dem Wortlaut ergebene Verpflichtung der Mitgliedstaaten gegenüber der Ge14

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2. Kap.: Rechtliche Existenz mitgliedstaatlicher Handlungspflichten

verpflichten soll, sich so zu verhalten, daß das Gemeinschaftsrecht weder umgangen wird, noch den gemeinsamen Interessen zuwiderläuft. Die Summe dieser Pflichten wird allgemein unter dem Begriff des „Grundsatzes der Gemeinschaftstreue“ zusammengefaßt17. Von der systematischen Stellung her folgt Art. 10 EGV unmittelbar auf die Bestimmungen über die Gemeinschaftsorgane. Dies ist ein Zeichen dafür, daß die Mitgliedstaaten, genauso wie die Gemeinschaftsorgane, eine tragende Rolle nicht nur bei der Gründung, sondern auch bei der Fortentwicklung der Gemeinschaft spielen und spielen sollen. Insoweit dient Art. 10 EGV der verstärkten Inpflichtnahme der Mitgliedstaaten und kann vornehmlich dann herangezogen werden, wenn die Mitgliedstaaten ihrer Integrationsfunktion nicht gerecht werden. Insoweit erfüllt Art. 10 EGV die Funktion einer Art „Integrationsreserve“18 und ist fundamental für die Sicherung der Funktionsfähigkeit der Europäischen Gemeinschaft als Rechtsgemeinschaft. 2. Grundlage einer Handlungsverpflichtung Für die Frage einer mitgliedstaatlichen Handlungspflicht ist Art. 10 Abs. 2 EGV offensichtlich nicht von Bedeutung19. Dieser umschreibt ebenso wie Art. 28 EGV lediglich ein Unterlassungsgebot. Interessant für die Begründung einer mitgliedstaatlichen Handlungsverpflichtung bei privaten Beeinträchtigungen könnte Art. 10 Abs. S. 1 EGV sein. Dieser spricht von einer Verpflichtung zum Handeln, so daß vom Wortlaut der Vorschrift her zumindest die gesuchte Rechtsfolge bereits normiert ist. In der Literatur finden sich Stimmen, die eine Handlungsverpflichtung der Mitgliedstaaten bei privaten Beschränkungen allein aus der Bestimmung des Art. 10 Abs. 1 S. 1 EGV ableiten20. meinschaft. Darüber hinaus ist sowohl in der Rechtsprechung als auch im Schrifttum anerkannt, daß Art. 10 EGV über seinen Wortlaut hinausgehend sowohl eine Verpflichtung der Gemeinschaft gegenüber den Mitgliedstaaten, als auch eine Verpflichtung der EG-Organe untereinander und letztlich eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten untereinander umfaßt, vgl. dazu Calliess/Ruffert-Kahl, Art. 10, Rn, 14. 17 Vgl. G/T/E-Zuleeg, Art. 5, Rn. 1; Bleckmann, RIW 19981, S. 653 (653); Söllner, S. 10. Teilweise wird dieses Treueprinzip auf Gemeinschaftsebene mit dem Grundsatz der Bundestreue auf nationaler Ebene verglichen, Vgl. dazu Lück, S. 103 ff. Der Streit um eine ggf. eigenständige Bedeutung eines allgemeinen Grundsatzes der Gemeinschaftstreue ist innerhalb dieser Untersuchung ohne Relevanz. Für eine eigenständige Bedeutung der Gemeinschaftstreue ist Bleckmann, Europarecht, Rn. 697 ff.; kritisch demgegenüber Ipsen, § 9, Rn. 22. 18 Vgl. Calliess/Ruffert-Kahl, Art. 10 EGV, Rn, 15, FN 73, der Art. 10 EGV als Lückenschließungsfunktion bezeichnet und mit der Funktion des Art. 308 EGV vergleicht. 19 A. A. ist Zahradnik, S. 67, der von einer mitgliedstaatlichen Handlungspflicht gem. Art. 10 Abs. 2 EGV ausgeht. 20 Vgl. Bleckmann, DVBl. 1976, S. 483 (487); Söllner, S. 16; Schaefer, S. 265.

B. Dogmatische Grundlage einer mitgliedstaatlichen Handlungspflicht

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Problematisch an dieser Ansicht ist jedoch, daß Art. 10 Abs. 1 S. 1 EGV eine Handlungspflicht „zur Erfüllung der Verpflichtungen, die sich aus diesem Vertrag […] ergeben“ statuiert. Insofern ist die Funktion des Art. 10 Abs. 1 S. 1 EGV auf ein „akzessorisches Prinzip“21 ausgerichtet. Die normierte Handlungspflicht konstituiert somit eine akzessorische Nebenpflicht. Dementsprechend können die auf Art. 10 Abs. 1 S. 1 EGV basierenden Pflichten lediglich einen „auffüllenden Charakter“22 haben, um einem bereits in anderen Bestimmungen des EG-Vertrages angelegten Sollzustand zu dessen voller Funktionsfähigkeit zu verhelfen. Artikel 10 Abs. 1 S. 1 EGV ist somit für sich allein betrachtet zu unbestimmt, um autonom aus sich heraus eine Handlungspflicht zu begründen. Ohne akzessorischen Bezug zu einer vertraglich bestehenden Hauptpflicht wäre nicht feststellbar, in welchen Rahmen und Grenzen eine Handlungspflicht besteht. Es bestünde die Gefahr, daß vertragliche Wertungen unterlaufen würden. Somit bedarf es der Feststellung, daß die umfassende Gewährleistung des freien Warenverkehrs eine im EG-Vertrag angelegte Verpflichtung der Mitgliedstaaten darstellt. Erst dann ist Art. 10 Abs. 1 S. 1 EGV geeignet, dieser vertraglich angelegten „Hauptpflicht“ zu dessen voller Wirksamkeit zu verhelfen, indem er eine Umsetzungsverpflichtung als „akzessorische Nebenpflicht“ begründet, die der Vertrag nicht bereits ausdrücklich normiert. Eine mitgliedstaatliche Handlungspflicht gem. Art. 10 Abs. 1 S. 1 EGV ist somit von einer vertraglich angelegten Pflicht der Mitgliedstaaten, den freien Warenverkehr zu schützen, abhängig. Voraussetzung einer Handlungspflicht ist mithin eine Schutzpflicht zugunsten des freien Warenverkehrs.

III. Art. 10 Abs. 1 S. 1 i. V. m. Art. 28 EGV 1. Der Schutz des freien Warenverkehrs als bestehende gemeinschaftsrechtliche Verpflichtung der Mitgliedstaaten Diese notwendige Voraussetzung einer mitgliedstaatlichen Handlungspflicht führt somit zu der zentralen Frage, ob sich aus den Bestimmungen des EG-Vertrages ergibt, daß den Mitgliedstaaten eine vertraglich bestehende Schutzpflicht zugunsten des freien Warenverkehrs obliegt. Wäre dies der Fall, so ist Art. 10 Abs. 1 S. 1 EGV geeignet, eine akzessorische Umsetzungsverpflichtung dieser Schutzpflicht zu begründen und damit ein Einschreiten der nationalen Vollzugsbehörden gegen private Störer anzuordnen.

21 Hatje, S. 60; Grabitz/Hilf-von Bogdandy, Art. 10, Rn. 13; vgl. in diesem Sinne auch Ukrow, S. 278, der von einer „Annexpflicht“ spricht. 22 Garbitz/Hilf-von Bogdandy, Art. 10, Rn. 13.

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2. Kap.: Rechtliche Existenz mitgliedstaatlicher Handlungspflichten

a) Übertragbarkeit des Schutzpflichtgedankens des deutschen Verfassungsrechts In der Literatur wird zum Teil der Versuch unternommen, eine derartige Schutzpflicht des freien Warenverkehrs mit einem Hinweis auf die in diesem Zusammenhang ähnlich gelagerte Problematik grundrechtlicher Schutzpflichten im deutschen Verfassungsrecht zu begründen. So sei kein Grund ersichtlich, warum die abwehrrechtliche Norm des Art. 28 EGV nicht ebenso wie ein Grundrecht eine Schutzpflicht nach sich ziehen könne23. Im deutschen Verfassungsrecht ist hinsichtlich einer Grundrechtsbeeinträchtigung durch Dritte, also durch nichtstaatliche Subjekte, in Rechtsprechung und Literatur weitgehend anerkannt, daß Grundrechte über ihre klassische Funktion als Abwehrrechte hinaus dem Staat Schutzpflichten auferlegen, um die grundrechtlich gewährleistete Rechtsposition der Bürger zu schützen. Das Bundesverfassungsgericht stellte eine solche staatliche Schutzpflicht erstmals ausdrücklich24 in dem sogenannten ersten Fristenlösungsurteil im Jahre 1975 fest25. Nachfolgende Entscheidungen wie das Schleyer-Urteil26, der Kalkar-Beschluß27, der Mühlheim-Kärlich-Beschluß28, der Fluglärm-Beschluß29 und letztlich das zweite Fristenlösungsurteil aus dem Jahre 199330 verfestigten die Ansicht des Bundesverfassungsgerichts zu einer ständigen Rechtsprechung. Maßgeblicher Grund der staatlichen Schutzpflicht ist nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts ein den Grundrechten innewohnender objektiv-rechtlicher Gehalt31. Unter diesem objektiv-rechtlichen Gehalt der Grundrechte sind objektive Wertentscheidungen zu verstehen, die in den einzelnen Grundrechten enthalten sind und zur Verstärkung der subjektiv-rechtlichen Bedeutung der Grundrechte führen, indem sie den Staat – über Art. 1 Abs. 3 GG – verpflichten, die Realisierung dieser Grundrechte zu verwirklichen32. 23 Vgl. Calliess/Ruffert-Epiney, Art. 28, Rn. 49; andeutend Szczekalla, DVBl. 1998, S. 219 (222). 24 Die Basis zur Entwicklung dieser Schutzpflichtenlehre, wurde indessen schon früher angelegt. Vgl. bereits das Anklingen dieser Lehre in BVerfGE 1, S. 97 (104) – Fürsorgebeschluß; BVerfGE 9, S. 388 (347) – Hebammenbeschluß; BverfGE 35, S. 79 (114) – Hochschulurteil. Vgl. zu dieser Entwicklung Stern, § 69 IV, S. 938 f. 25 BVerfGE 39, S. 1 (41 f.). 26 BVerfGE 46, S. 160 (164). 27 BVerfGE 49, S. 89 (141 f.). 28 BVerfGE 53, S. 30 (57). 29 BVerfGE 56, S. 5 (73). 30 BVerfGE 88, S. 203 (251). 31 Anfänglich stützte sich das Bundesverfassungsgericht neben dem objektiv-rechtlichen Gehalt der Grundrechte auf Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG als Grundlage einer staatlichen Schutzpflicht, vgl. BVerfG 39, S. 1 (41); BVerfGE 46, S. 160 (164). 32 Vgl. Stern, § 69 IV 5c, S. 948.

B. Dogmatische Grundlage einer mitgliedstaatlichen Handlungspflicht

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Hinsichtlich der rechtlichen und auch notwendigen Existenz staatlicher Schutzpflichten sind sich Rechtsprechung und Literatur weitgehend einig33. Der Großteil der Autoren in der Literatur folgt dem Bundesverfassungsgericht auch in der Auffassung, daß diese Schutzpflichten aus einer objektiv-rechtlichen Funktion der Grundrechte abzuleiten sei34. Darüber hinaus wird die rechtliche Existenz staatlicher Schutzpflichten zum Teil aus der Staatsaufgabe der Staatssicherheit35, aus dem Sozialstaatsprinzip36, den Grundrechtsschranken37 und letztlich aus Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG38 abgeleitet. 33 Vereinzelt wird demgegenüber eine sog. abwehrrechtliche Lösung vertreten. Diese basiert im wesentlichen auf der Ansicht, daß die Pflicht des Staates, grundrechtliche Rechtspositionen seiner Bürger zu schützen, nicht über die klassische Funktion der Grundrechte als staatsgerichtete Abwehrrechte hinausgehe. Denn was mit ihnen erstrebt werde, könne einfacher und besser im Rahmen der sog. negatorischen Funktion der Grundrechte erreicht werden. Basierend auf dem Hintergrund des staatlichen Gewaltverbots, sei ein rechtlich nicht untersagtes Verhalten Dritter gleichzusetzen mit einem Duldungsgebot für den Bürger, dessen Rechtsgüter beeinträchtigt werden. Somit sei der Staat an dem erlaubten Eingriff grundsätzlich beteiligt und damit verantwortlich für etwaige Rechtsgutsbeeinträchtigungen. Dies führe unmittelbar zu einem staatlichen Eingriff und berühre konsequenterweise die beeinträchtigten Grundrechte nur in ihrer klassischen Funktion als staatsgerichtete Abwehrrechte. Vgl. Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 211 ff.; ders., Drittwirkung, S. 149; Murswiek, S. 106 f.; ders., NVwZ 1986, S. 611 ff.; ders., WiVerw 1986, S. 179 (183); jüngst Szczekalla, S. 390. Vgl. hierzu kritisch: Dietlein, S. 38 ff.; Dolderer, S. 188 ff. 34 Vgl. nur Böckenförde, S. 38; ders., Der Staat 1990 (29), S. 1 (12 f.); Alexy, S. 410; Jarass, AöR 110 (1985), S. 363 (394); Hermes, S. 199; Hermes/Walther, NJW 1993, S. 2337 (2339); Unruh, S. 56 f.; Dietlein, S. 64 ff.; Benda/Maihofer/Vogel-Hesse, S. 149; Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, § 69 IV, S. 931; Wahl/Masing, JZ 1990 S. 553 (556). 35 Nach dieser Ansicht besteht die ausschlaggebende Grundlage staatlicher Schutzpflichten in dem Staatsauftrag der Friedenssicherung. Dabei soll die Umsetzung dieses Auftrags durch die Grundrechte in ihrer objektiv-rechtlichen Dimension als dogmatischer Anknüpfungspunkt in der Verfassung erfolgen. Vgl. dazu Isensee/Kirchhof-Isensee, Band V, § 111, Rn. 83; H. H. Klein, DVBl. 1994, S. 489 (493); E. Klein, NJW 1989, S. 1633 (1635 f.). 36 Diese Ansicht stellt das Erfordernis staatlichen Schutzes mit der Forderung nach staatlicher Leistung gleich. Aufgrund des Sozialstaatpostulats der Verfassung seien Grundrechte sozialstaatlich zu interpretieren. Diese sozialen Grundrechte gewährten zum einen staatliche Leistungen mittels positiver Leistungsansprüche. Zum anderen gestalte das soziale Grundrecht die soziale Ordnung als System innergesellschaftlicher („zwischenbürgerlicher“) Beziehungen, indem der Staat durch Lenkungs- oder Verteilungsmaßnahmen solche Beziehungen zugunsten einzelner anspruchsberechtigter Bürger und zu Lasten dritter Bürger umgestalte. Vgl Roßnagel, S. 51 f.; Scholz, JuS 1976, S. 232 (234). 37 Nach Seewald, S. 80, entstehen aufgrund von verfassungsunmittelbaren Schranken oder aufgrund einer verfassungsrechtlichen Ermächtigung zu Beschränkungen nicht nur „negativ“ rechtsbegrenzende Wirkungen, sondern gleichsam „positiv“ begünstigende Rechtswirkungen zugunsten der Interessen und Rechtsgüter, die die Schrankenregelung tatbestandsmäßig ausfüllen. Durch die in den Schrankenregelungen enthaltenen Ermächtigungen an den Gesetzgeber würden die Bürger demnach reflexartig begünstigt, indem Gesetzgeber und Verwaltung Maßnahmen zum Schutz und zur Förderung seiner Gesundheit programmieren und durchführen. Kritisch dazu Unruh, S. 49. 38 Dieser Ansicht zufolge sind Grundrechte lediglich hinsichtlich ihres Menschenwürdegehalts vom Staat aktiv zu schützen, so daß ausschließliche Grundlage des staatlichen

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2. Kap.: Rechtliche Existenz mitgliedstaatlicher Handlungspflichten

Die Existenz einer staatlichen Schutzpflicht zugunsten eines Grundrechts im deutschen Verfassungsrecht kann indessen keinen unmittelbaren Aufschluß über die gemeinschaftsrechtliche Existenz einer mitgliedstaatlichen Schutzpflicht zugunsten des freien Warenverkehrs geben. Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß Art. 28 EGV als Grundfreiheit nicht mit einem Grundrecht gleichgesetzt werden kann39. Zwar haben sich im Laufe der Zeit innerhalb der Dogmatik der Grundfreiheiten zu den grundrechtsdogmatischen Fragen (des deutschen Verfassungsrechts) parallele Fragestellungen herausgebildet40. Hinzuweisen ist nur auf die bereits innerhalb dieser Untersuchung geführte Diskussion über die Existenz einer unmittelbaren Drittwirkung, einer Zurechnung privaten Verhaltens als staatseigenes Verhalten und nicht zuletzt die nun auch an dieser Stelle relevante Frage nach der schutzrechtlichen Wirkung einer Grundfreiheit. Zu berücksichtigen ist jedoch, daß Grundfreiheiten und Grundrechte wesentliche strukturelle Unterschiede aufweisen und nach ihrer Funktion und ihrem rechtlichen Gewährleistungsgehalt zu unterscheiden sind. Zunächst schützen Grundrechte vor jeder unverhältnismäßigen Beeinträchtigung innerhalb ihres Schutzbereiches. Grundfreiheiten hingegen sind Schutznormen gegenüber transnationalen Beschränkungen41. Darüber hinaus dienen Grundfreiheiten der Verwirklichung des Binnenmarktes. Sie sind somit primär auf eine institutionelle Zielsetzung und Wirkungsweise ausgerichtet. Die aus den Grundfreiheiten entspringenden subjektiven Rechte der einzelnen Unionsbürger dienen der Sicherung der institutionellen Garantien der Grundfreiheit. Sie sind mithin lediglich Folge der primär angestrebten institutionellen Garantie. Grundrechte hingegen verbürgen aus sich heraus Individualinteressen und stellen mithin originär und primär Individualinteressen dar42. Selbst wenn man Grundfreiheiten eine grundrechtsähnliche Wirkung zugestehen würde43, wäre eine unmittelbare Übertragung des Schutzpflichtgedankens des deutSchutzauftrages Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG sei, vgl. Bleckmann, DVBl. 1988, S. 938 (942), sowie Starck, S. 71, und die diesbezügliche Kritik von Alexy, S. 413. 39 Vgl. Kluth, AöR 1997 (122), S. 557 (574); vgl. auch Everling, EuR 1990, Beiheift 1, S. 81 (102); Beutler, EuGRZ 1989, S. 185 (188), für den entsprechenden Vergleich von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten. Vgl. dagegen Bleckmann, Europarecht, Rn. 755, 1519, der das Verbot Maßnahmen gleicher Wirkung gem. Art. 28 EGV mit einem Grundrecht gleichsetzt, sowie ders., EuGRZ 1981, S. 257 (258), unter Verweis auf die Rechtssache Rutili, in der der Gerichtshof die Schranke der öffentlichen Sicherheit und Ordnung gem. Art. 39 EGV inhaltlich mit in den in Art. 8 ff. EMRK zum Ausdruck kommenden Schranken verglichen (EuGH Rs. 36/75, Slg. 1975, S. 1219 (1232), Rn. 32 – Rutili) und damit zum Ausdruck gebracht habe, daß Grundfreiheiten als echte Grundrechte anzusehen seien. 40 Vgl. dazu Bleckmann, Gedächtnisschrift-Sasse 1981 (Bd. II), S. 665 (665 ff.). 41 Vgl. Kingreen, S. 115; Zuleeg, EuGRZ 2000, S. 511 (513); Müller-Graff, FestschriftSteinberger 2002, S. 1281 (1281). 42 Vgl. Kluth, AöR 1997 (122), S. 557 (574). 43 Vgl. Matthies, Gedächtnisschrift-Sasse 1981 (Band I), S. 115 (117); Calliess/RuffertEpiney, Art. 28, Rn. 49; Zuleeg, EuGRZ 2000, S. 511 (513).

B. Dogmatische Grundlage einer mitgliedstaatlichen Handlungspflicht

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schen Verfassungsrechts auf die Grundfreiheit des freien Warenverkehrs nicht gerechtfertigt. Zur Entwicklung gemeinschaftsrechtlicher Lösungen ist ein Rückgriff ausschließlich auf die deutsche Grundrechtsdogmatik nicht angebracht. Um dem Gemeinschaftsrecht als Rechtsordnung eigener Art gerecht zu werden und den EGVertrag aus sich heraus autonom interpretieren zu können, sind nationale Maßstäbe daher nur bedingt übertragbar. Andernfalls würde man die Eigenständigkeit und Autonomie des Gemeinschaftsrechts ignorieren. Nationale Maßstäbe können daher in erster Linie nicht zur Begründung einer Lösung, sondern allenfalls zur vergleichenden Absicherung einer autonom begründeten gemeinschaftsrechtlichen Lösung dienen44. b) Gemeinschaftsrechtsspezifische Herleitung aa) Wortlautauslegung Dem bloßen Wortlaut der Art. 28 ff. EGV kann eine vom EG-Vertrag bezweckte Schutzpflicht der Mitgliedstaaten zugunsten des freien Warenverkehrs nicht entnommen werden. Ebenso wie der Vorschrift nach der oben dargestellten Wortlautinterpretation keine positiv ausformulierte Handlungspflicht, sondern nur ein Unterlassungsgebot entnommen werden kann, läßt sich dem Wortlaut der Art. 28 ff. EGV zufolge auch keine umfassende Pflicht der Mitgliedstaaten den freien Warenverkehr zu gewährleisten, entnehmen. bb) Systematische Auslegung Nach Art. 14 EGV umfaßt der Binnenmarkt einen Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gemäß den Bestimmungen dieses Vertrages gewährleistet ist. Die verwandte Formulierung „gewährleistet ist“ deutet zunächst darauf hin, daß der Vertrag die in diesem Zusammenhang gesuchte umfassende Gewährleistungspflicht der Mitgliedstaaten zugunsten des freien Warenverkehrs intendiert. Jedoch bezieht sich die normierte Zielsetzung der Gewährleistung des freien Warenverkehrs auf die „Bestimmungen dieses Vertrages“. Die beabsichtigte Gewährleistung des freien Warenverkehrs bezieht sich mithin auf die Art. 28 f. EGV, welche – wie bereits festgestellt – lediglich mitgliedstaatlich initiierte Handelshemmnisse verbieten. Die in Art. 14 EGV normierte Gewährleistung der Warenverkehrsfreiheit geht daher nicht über das in Art. 28 EGV statuierte Unterlassungsgebot hinaus. Von seinem Wortlaut her ist Art. 14 EGV daher nicht geeignet, die 44

Vgl. dazu Pernice, Grundrechtsgehalte, S. 31.

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2. Kap.: Rechtliche Existenz mitgliedstaatlicher Handlungspflichten

Funktion des Art. 28 EGV über dessen ausdrücklich normiertes Unterlassungsgebot hinaus als ein Schutzgebot zu interpretieren. Nach Art. 3 Abs. 1 lit. c) EGV ist die Tätigkeit der Gemeinschaft darauf ausgerichtet, einen Binnenmarkt zu errichten der durch „die Beseitigung der Hindernisse für den freien Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr zwischen den Mitgliedstaaten gekennzeichnet ist.“ Die Vorschrift normiert mithin die generelle Beseitigung aller Handelshemmnisse und ist nicht nur auf den Abbau mitgliedstaatlich initiierter Beeinträchtigungen des freien Warenverkehrs gerichtet. Dementsprechend könnte man daran denken, daß Art. 3 Abs. 1 lit. c) EGV Ausdruck dessen ist, daß Art. 28 EGV, über seinen Wortlaut hinaus, nicht nur ein Verbot mitgliedstaatlicher Maßnahmen, sondern auch ein Gebot zur Beseitigung aller Handelshindernisse und damit eine umfassende Gewährleistungspflicht zugunsten des freien Warenverkehrs statuiert. Zu beachten ist indes, daß die in Art. 3 EGV aufgelisteten Tätigkeiten Vertragsziele darstellen. Die Gewährleistung des freien Warenverkehrs ist mithin als Vertragsziel einzustufen. Hinsichtlich der Ziele des EG-Vertrages trifft die Mitgliedstaaten jedoch wiederum nur ein Unterlassungsgebot gem. Art. 10 Abs. 2 EGV. Eine gem. Art. 10 Abs. 1 S. 1 EGV erforderliche bestehende Vertragsverpflichtung, den freien Warenverkehr gem. Art. 28 EGV über dessen Funktion als Unterlassungsgebot hinaus zu schützen, kann daher aus systematischen Erwägungen heraus nicht begründet werden. cc) Historische Auslegung Sowohl eine subjektiv historische Auslegung, die auf den wahren Willen des Gesetzgebers abstellt, als auch eine objektiv historische Auslegung, welche die Funktion von Normen im Zeitpunkt ihres Erlasses erforscht45, ist für die Auslegung des Gemeinschaftsrechts zumeist unbrauchbar46. Den wahren ursprünglichen Willen des Gesetzgebers zu ergründen, erweist sich insofern schwierig, als daß die Protokolle der Vorbereitungsarbeiten zu den Verträgen über die Gründung der Europäischen Gemeinschaften nie veröffentlicht wurden47. Der Wille des Gesetzes beziehungsweise die beabsichtigte Funktion einer Norm im Zeitpunkt ihres Erlasses, kann für das Gemeinschaftsrecht ebenfalls nicht als tragfähiges Auslegungskriterium gelten. Die Europäischen Gemeinschaften sind eine dynamische Institution, denen eine Veränderung der wirtschaftlichen Verhältnisse in einer raschen Stufenfolge immanent ist48. Daher wäre es verfehlt, von früheren Umständen auf die heutige Rechtslage zu schließen. 45 46 47 48

Vgl. Larenz, S. 204 ff. Vgl. auch Mittmann, S. 215; Bleckmann, NJW 1982, S. 1176 (1178). Vgl. Zuleeg, EuR 1969, S. 97 (102). Vgl. Zuleeg, EuR 1969, S. 97 (102).

B. Dogmatische Grundlage einer mitgliedstaatlichen Handlungspflicht

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dd) Teleologische Auslegung Somit kann letztlich nur noch nach teleologischen Aspekten, also nach Sinn und Zweck des Vertrages bestimmt werden, ob die Gewährleistung der Warenverkehrsfreiheit eine mitgliedstaatliche Verpflichtung darstellen kann. (1) Wirkungsgleichheit zwischen einer Handlung und einem Unterlassen Ausgangspunkt dieser Beurteilung ist zunächst eine Betrachtung der Folgen für den freien Warenverkehr. Aus dieser Perspektive gesehen macht es keinen Unterschied, ob der Staat aktiv Maßnahmen ergreift, die den freien Warenverkehr beeinträchtigen, oder ob er es schlicht geschehen läßt, daß Private beeinträchtigende Handlungen vornehmen49. In beiden Fällen kommt es zu einer Beeinträchtigung des freien Warenverkehrs. Jedoch kann dieser Ansatz für sich genommen keine maßgebliche Erwägung sein. Die Frage, ob Sinn und Zweck der Warenverkehrsfreiheit es auch erfordern, daß der Staat gegen Beeinträchtigungen einzuschreiten muß, wird dadurch nicht beantwortet. (2) Der Grundsatz des „effet utile“ Die Grundfreiheiten des EG-Vertrages sind von ihrem Wortlaut der Einzelbestimmungen her häufig zu eng, um ihre volle Durchsetzung zu gewährleisten. Als langfristig angelegte „Wirtschaftsverfassung“ des europäischen Rechtsraumes muß sich die EG flexibel halten, und bedingt durch voranschreitende Entwicklungen in der Lage sein, sich von dem Wortlaut der jeweiligen Vertragsbestimmungen zu lösen50. Ein Instrument, um einen derartigen Lösungsprozeß zu forcieren, ist der dem Völkerrecht entstammende Grundsatz des effet utile, den der EuGH für das Europarecht näher ausgestaltet hat51. Ziel dieser Auslegungsmethode ist es, Normen so auszulegen, daß dem Gemeinschaftsrecht zu seiner vollen praktischen Wirksamkeit verholfen wird52. Insofern läßt sich der Grundsatz des effet utile mit dem 49 Vgl. die maßgebliche Urteilsbegründung des Gerichtshofes in EuGH Rs. C-265/95, Slg. 1997, S. I-6990 (6998 f.), Rn. 30 – Kommission/Frankreich. 50 Vgl. Bleckmann, Europarecht, Rn. 765. 51 Vgl. zum Grundsatz des effet utile als Bestandteil einer teleologischen Interpretation Mittmann, S. 217. 52 EuGH Rs. 48/75, Slg. 1976, S. 497 (517), Rn. 69/73 – Royer. Vgl. zur Anwendung des effet utile in der ständigen Rechtsprechung des EuGH: EuGH Rs. 8/81, Slg. 1982, S. 53 (71 f.), Rn. 23 – Becker; EuGH verb. Rs. C-6 und 9/90, Slg. 1991, S. I-5357 (5414), Rn. 33 – Francovich.

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2. Kap.: Rechtliche Existenz mitgliedstaatlicher Handlungspflichten

Grundsatz der Funktionsfähigkeit gleichsetzen: Es ist diejenige Auslegung zu wählen, die am ehesten zum Gelingen des Integrationsvorhabens beiträgt53. Die Ausdehnung des Art. 28 EGV auf eine umfassende Gewährleistungspflicht dient selbstverständlich diesem Ziel. Die Warenverkehrsfreiheit bildet eine elementare Basis der Gemeinschaft54. Sie ist Grundbedingung dafür, daß neben der Verwirklichung eines funktionierenden Binnenmarktes auch der bezweckte Integrationseffekt erzielt wird. Die „Effet-utile“-Argumentation kann jedoch nur dann überzeugen, wenn sie den im EG-Vertrag angelegten Wertungen zu einer größtmöglichen Geltung verhilft. Denn die Gefahr jeder Teleologie liegt darin, daß sie die Grenze zwischen Rechtsauslegung und Rechtssetzung zu verwischen droht. Der Grundsatz des effet utile muß versagen, sobald vertragliche Wertungen überschritten oder sogar ins Gegenteil verkehrt werden55. Auf der einen Seite stehen somit der erörterte Wortlaut und die Systematik der Bestimmungen der Warenverkehrsfreiheit. Diese im EG-Vertrag formal angelegten Wertungen sprechen gegen eine gemeinschaftsrechtlich bestehende Verpflichtung der Mitgliedstaaten, nicht nur eigene Maßnahmen nach Maßgabe des Art. 28 EGV zu unterlassen, sondern darüber hinaus auch private Hindernisse zugunsten des freien Warenverkehrs zu beseitigen. Fraglich ist daher, ob gegenläufige vertragliche Wertungen existieren, die in der Lage sind, diese formellen Einwände zu entkräften. Nur dann kann der effet utile Anwendung finden und, ungeachtet formaler Widrigkeiten, den gemeinschaftsrechtlichen Wertungen zu ihrer vollen praktischen Wirksamkeit verhelfen. Nach Art. 2 EGV ist die zentrale Aufgabe der Europäischen Gemeinschaften, einen gemeinsamen Markt zu erschaffen, welcher vor allem nach Art. 3 lit. c) EGV über die Errichtung eines Binnenmarktes angestrebt wird. Durch den Abschluß des EG-Vertrages und durch die Aufnahme des Binnenmarktes als Ziel der Gemeinschaft haben die Mitgliedstaaten sich für einen freien Warenverkehr in Europa entschieden. Diese Entscheidung muß mit einer Art Wertentscheidung gleichgesetzt werden. So ist auch der gesamte EG-Vertrag ein objektives Wertesystem und dessen Ziele und Grundfreiheiten sind als abstrakte Werte zu begreifen56. Die von den Mitgliedstaaten getroffene Entscheidung für einen freien Warenverkehr ist daher über ihren Wortlaut hinaus nicht als eine theoretische Zielsetzung, sondern ein von den Mit53

Vgl. Zuleeg, EuR 1969, S. 97 (107); Bleckmann, NJW 1982, S. 11177 (1180). Vgl. EuGH Rs. C-49/89, Slg. 1989, S. 4441 (4456), Rn. 8 – Corsica Ferries France: „Die Artikel des EWG-Vertrages über den freien Warenverkehr […] stellen nämlich, […] Grundsatzbestimmungen dar […]“. Ähnlich EuGH Rs. C-10/89, Slg. 1990, S. I-3711 (3757), Rn. 12 – SA CNL-SUCAL NV, wo von dem „fundamentalen Grundsatz des freien Warenverkehrs innerhalb des Gemeinsamen Marktes“ die Rede ist. 55 Vgl. Jaensch, S. 187. 56 Vgl. Bleckmann, Europarecht, Rn. 463. 54

B. Dogmatische Grundlage einer mitgliedstaatlichen Handlungspflicht

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gliedstaaten gewollt aufgenommener objektiver Wert, sich dafür einzusetzen, daß Waren innerhalb der Europäischen Gemeinschaft tatsächlich grenzüberschreitend zirkulieren können57. Diese Wertentscheidung ist den Normen der Art. 28 ff. EGV immanent. Würde sich diese vertraglich eingegangene Entscheidung aufgrund unzureichender Aktivitäten der Mitgliedstaaten als nicht durchsetzbar erweisen, so bestünde die Gefahr eines Vertrauensverlustes in die vom EG-Vertrag aufgestellte Rechtsordnung. Diese fundamentalen Wertungen des EG-Vertrages sind in der Lage, sich über den formal angelegten Wortlaut und die Systematik der Warenverkehrsfreiheit hinwegzusetzen. Der Grundsatz des grenzüberschreitenden freien Warenverkehrs stellt daher einen vertraglich verpflichtenden Sollzustand dar. Artikel 28 EGV ist mithin Ausdruck einer umfassenden, an die Mitgliedstaaten adressierten Gewährleistungspflicht. 2. Fazit Den Mitgliedstaaten obliegt eine Schutzpflicht zugunsten des freien Warenverkehrs. Diese Schutzpflicht stellt eine vertragliche bestehende Hauptpflicht des EGVertrages dar. Im Falle privatinitiierter Beeinträchtigungen des freien Warenverkehrs sind die Mitgliedstaaten gem. Art. 10 Abs. 1 S. 1 EGV verpflichtet, alle Handlungen zur Erfüllung dieser ihnen obliegenden vertraglichen Pflicht vorzunehmen. Eine mitgliedstaatliche Handlungspflicht im Falle privat verursachter Beschränkungen besteht daher gem. Art. 28 i. V. m. Art. 10 Abs.1 S. 1 EGV. Die Grundlage dieser Handlungspflicht entspringt einer Art. 28 EGV innewohnenden Gewährleistungspflicht zugunsten des freien Warenverkehrs. Die Handlungspflicht als solche – die konkrete Umsetzungsverpflichtung auf nationaler Ebene – entspringt Art. 10 Abs. 1 S. 1 EGV.

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Vgl. Meurer, EWS 1998, S. 196 (197).

Drittes Kapitel

Entstehung, Verletzung und Schranken mitgliedstaatlicher Handlungspflichten Im vorherigen Kapitel wurde aufgezeigt, dass die Existenzberechtigung mitgliedstaatlicher Handlungspflichten zur Sicherung des freien Warenverkehrs rechtlich in Art. 28 i. V. m. Art. 10 Abs. 1 S. 1 EGV verankert ist. Im folgenden sollen nun die Voraussetzungen für die Entstehung und Verletzung einer mitgliedstaatlichen Handlungspflicht entwickelt werden. Daran anschließend werden mögliche Schranken der Handlungspflicht untersucht.

A. Entstehung mitgliedstaatlicher Handlungspflichten Fraglich ist zunächst, wann eine mitgliedstaatliche Handlungspflicht bei Beeinträchtigungen des freien Warenverkehrs durch Private im konkreten Einzelfall entsteht. Da die Erstursache der Beeinträchtigung von einem privaten Verhalten ausgeht, sind die Entstehungsvoraussetzungen einer mitgliedstaatlichen Handlungspflicht an diesem Verhalten zu messen. Denn wenn ein bestimmtes privates Verhalten per se nicht geeignet ist, den freien Warenverkehr zu „beschränken“, so kann den Mitgliedstaat auch diesbezüglich keine Handlungspflicht treffen. Insofern ist zu fragen, welche Kriterien für das beeinträchtigende Verhalten Privater zu fordern sind, um aus einer generellen Gewährleistungspflicht eine konkrete Handlungspflicht für den Mitgliedstaat entstehen zu lassen. I. Der Ausgangspunkt: Die Dassonville-Formel In der bereits angesprochenen Entscheidung Kommission/Frankreich bezieht sich der Gerichtshof zur Begründung und Entstehung einer Handlungspflicht Frankreichs auf die von ihm entwickelte Dassonville-Formel1: „Insbesondere sind nach Art. 30 EGV mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen sowie alle Maßnahmen gleicher Wirkung zwischen den Mitgliedstaaten verboten. Das bedeutet nach dem 1

Vgl. zur Dassonville-Formel, oben 1. Kapitel, A. I. 4.

A. Entstehung mitgliedstaatlicher Handlungspflichten

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Kontext dieser Bestimmung, daß alle unmittelbaren oder mittelbaren, tatsächlichen oder potentiellen Beeinträchtigungen der Einfuhrströme im innergemeinschaftlichen Handel beseitigt werden sollen.“2 Die Vernichtung landwirtschaftlicher Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten verursachte nach Ansicht des EuGH unzweifelhaft Hemmnisse für den innergemeinschaftlichen Handel mit diesen Erzeugnissen3. Weitere Ausführungen bezüglich der Entstehung einer Handlungspflicht der Französischen Republik bleibt der EuGH indes schuldig. Die Ausführungen des EuGH lassen zwei mögliche Schlüsse zu: Entweder der EuGH steht tatsächlich auf dem Standpunkt, zur Entstehung mitgliedstaatlicher Handlungspflichten sei ausschließlich die Dassonville-Formel maßgeblich, oder aber der EuGH verzichtet aufgrund der im vorliegenden Fall evidenten und eklatanten Beeinträchtigung der coordination rural auf weitere obiter dicta für mögliche problematische Grenzfälle einer mitgliedstaatlichen Handlungspflicht. Die konsequente Anwendung der Dassonville-Formel nach Maßgabe des EuGH hätte zur Folge, daß bei jeglichem Verhalten Privater, das unmittelbar, mittelbar, tatsächlich oder potentiell den innergemeinschaftlichen Handel beeinträchtigt, eine Handlungspflicht des in seinem Hoheitsgebiet betroffenen Mitgliedstaates entstünde. Selbst Bagatellfälle würden in den Anwendungsbereich des Art. 28 i. V. m. Art. 10 Abs. 1 S. 1 EGV fallen4. Denn der Gerichtshof verzichtet im Rahmen des Art. 28 EGV – anders als bei Wettbewerbsbeschränkungen – auf ein Spürbarkeitserfordernis, die sogenannte „De-minimis“-Regel5. Als praktisches Beispiel für die Weite der Dassonville-Formel sei auf Werbekampagnen hingewiesen, die aufgrund ihrer durchschlagenden Wirkung die Marktbürger eines Mitgliedstaates dazu veranlassen, nur noch ein bestimmtes inländisches Produkt zu erwerben. Der betroffene Mitgliedstaat wäre bei Anwendung der Dassonville-Formel verpflichtet, die Werbekampagnen zu unterbinden. In letzter Konsequenz wäre der Mitgliedstaat sogar dazu gezwungen, den freien Wettbewerb zu beschränken. Angenommen, ein Großteil der Endverbraucher in Spanien entschließt sich dazu, nur noch einheimische spanische Schuhe statt wie bisher auch italienische Schuhe zu erwerben. Potentiell würde durch das Kaufverhalten der Verbraucher der innergemeinschaftliche Handel im Sinne der Dassonville-Formel gefährdet. Die Absurdität der Annahme, Spanien sei verpflichtet, aktiv gegen das Verhalten der Endverbraucher einzuschreiten, liegt auf der Hand. 2

EuGH Rs. C-265/95, Slg. 1997, S. I-6959 (6998), Rn. 28 f. – Kommission/Frankreich. Vgl. EuGH Rs. C-265/95, Slg. 1997, S. I-6959 (7000), Rn. 38 – Kommission/Frankreich. 4 Rein hypothetische und ungewisse Beschränkungen fallen indes nach einhelliger Ansicht nicht unter die Verbotsnorm des Art. 28 EGV (vgl. G/T/E-Müller-Graff, Art. 30, Rn. 60). Eine mitgliedstaatliche Handlungspflicht ist daher in diesen Fällen ebenfalls ausgeschlossen. 5 Vgl. EuGH Rs. 16/83, Slg. 1984, S. 1299 (1326, 1329), Rn. 20 und 30 – Prantl. Vgl. ausführlich zum Spürbarkeitskriterium sogleich unten, 3. Kapitel, A. III. 3. 3

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3. Kap.: Entstehung, Verletzung und Schranken der Handlungspflichten

Selbst ein Verkehrsunfall, der an einer mitgliedstaatlichen Grenze den gesamten Verkehr stillegt, bedingt eine Maßnahme gleicher Wirkung im Sinne von Dassonville. Grenzfälle der Dassonville-Formel werden auch deutlich bei Protestaktionen, ausgelöst durch rein inländische Problematiken, die de facto dazu führen, daß der grenzüberschreitende Warenaustausch behindert wird. So haben beispielsweise streikende französische Hafenarbeiter im Jahre 2001 zwölf Tage lang allen Handelsschiffen die Einfahrt in den Hafen von Marseille verwehrt. Anlaß dieser Blockade war die Forderung nach besserer Bezahlung und die Einführung einer 35-Stundenwoche6. Im Jahre 1996 errichteten französische Fernfahrer rund 160 Straßensperren und brachten quasi das gesamt Land zum Stillstand, um ihrer Forderung nach einer Lohnerhöhung und einer geringeren monatlichen Arbeitszeit Nachdruck zu verleihen7. Im Jahre 1998 blockierten wiederum französische und deutsche Fernfahrer zahlreiche Grenzübergänge. Rund zwanzig Straßensperren wurden unter anderem an der Kehler Europabrücke bei Straßburg sowie an den Grenzen Frankreichs zu Belgien, Luxemburg und Spanien errichtet. Ebenso wurde der Mont-Blanc-Tunnel nach Italien sowie der Güterverkehr über den Ärmelkanal nach Großbritannien von den Fernfahrern blockiert. Motivation dieser Blockaden waren die Arbeitszeiten der Fernfahrer8. Im Juni 1998 veranstaltete der Umweltschutzverein Transitforum Austria Tirol, Verein zum Schutz des Lebensraumes in der Alpenregion, auf der Brennerautobahn A 13 eine Versammlung und brachte dadurch den Güterverkehr auf dieser Transitroute knapp vier Tage zum Stillstand. Hintergrund der Demonstration waren die steigenden Verkehrsaufkommen auf dieser Straßenverbindung und die dadurch bedingte Umweltbelastung in der Region9. In allen diesen Fällen stellt sich die Frage, ob dem betreffenden Mitgliedstaat eine Handlungspflicht entsteht, derartige Protestaktionen zu unterbinden. Fraglich erscheint dies insbesondere deswegen, weil derartige Protestaktionen von ihrer Intention her Auswirkungen auf nationaler Ebene verfolgen und nicht unmittelbar gegen die Warenein- und -durchfuhr mitgliedstaatlicher Waren gerichtet sind.

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Vgl. BZ vom 26.11.2001. Vgl. BZ vom 06.11.1997. 8 Vgl. BZ vom 09.09.1998. 9 Vgl. hierzu Krist, ÖJZ 1999, S. 241 ff. Diese Vorkommnisse waren Gegenstand des jüngst ergangenen Urteils des EuGH in der Rechtssache Schmidberger. Der Gerichtshof ging in diesem Fall jedoch lediglich unter Verweis auf die Dassonville-Formel von dem Vorliegen einer Beeinträchtigung des freien Warenverkehrs und einer dementsprechenden Handlungspflicht der österreichischen Behörden aus, vgl. EuGH Rs. C-112/00, Slg. 2003, S. I-5694 (5713), Rn. 56 – Schmidberger. Weitere Ausführungen in bezug auf die konkreten Entstehungsvoraussetzungen einer Handlungspflicht bleibt der Gerichtshof – ebenso wie in der Rechtssache Kommission/Frankreich – weiterhin schuldig. 7

A. Entstehung mitgliedstaatlicher Handlungspflichten

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Die Folgen der Anwendung der Dassonville-Formel können in gewissen Fallkonstellationen ersichtlich zu weitreichend sein. Um die mitgliedstaatliche Handlungspflicht praktikabel zu gestalten, ist es notwendig, geeignete Voraussetzungen zur Eingrenzung der Dassonville-Formel zu entwickeln. II. Tatbestandliche Begrenzung: Strafbare beziehungsweise rechtswidrige Beeinträchtigungen, gemessen am nationalen Recht Als Voraussetzung für die Entstehung einer mitgliedstaatlichen Handlungspflicht könnte man ein strafbares oder verbotenes Verhalten Privater fordern. Der betroffene Mitgliedstaat wäre immer dann angehalten, aktiv gegen Verhaltensweisen Privater vorzugehen, wenn deren Verhalten – gemessen an den jeweiligen nationalen Rechtsordnungen – einen Straf- oder Verbotstatbestand erfüllt, und dies eine Beeinträchtigung des freien Warenverkehrs bedingt10. Dieser Ansatz ist jedoch nicht interessengerecht. Zum einen führt das Kriterium der Rechtswidrigkeit dazu, daß die Entstehung mitgliedstaatlicher Handlungspflichten in den jeweiligen Mitgliedstaaten unterschiedlich zu beurteilen ist. Zum anderen hätten die Mitgliedstaaten die Möglichkeit, durch die Ausgestaltung ihrer jeweiligen nationalen Rechtsordnungen die Entstehung einer Handlungspflicht zu beeinflussen. Ein Rückgriff auf nationale Vorschriften zur Eingrenzung beziehungsweise Entstehung einer mitgliedstaatlichen Handlungspflicht kommt daher nicht in Frage11. III. Tatbestandliche Begrenzung: Gemeinschaftsrechtsspezifische Einschränkungen Erforderlich sind somit gemeinschaftsrechtliche und insbesondere warenverkehrsfreiheitsspezifische Erwägungen, um sinnvolle Entstehungsvoraussetzungen einer Handlungspflicht zu entwickeln. 1. Die Keck-Rechtsprechung Im Falle eines mitgliedstaatlichen Handelns werden der Weite der DassonvilleFormel durch die sogenannte Keck-Formel Grenzen gesetzt. Danach werden mit10

So Hirsch, DAR 2000, S. 500 (503). Letztlich im Ergebnis auch Meurer, EWS 1998, S. 196 (199), der eine Handlungspflicht zwar auf jeden Fall bei strafbaren oder verbotenen Verhaltensweisen Privater entstehen lassen will. Darüber hinaus fordert er aber auch, daß auf Ebene des Gemeinschaftsrechts ein Maßstab für verbotene Verhaltensweisen entwickelt beziehungsweise, daß Maßstäbe zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung des national verbotenen Verhaltens entwickelt werden. 11

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3. Kap.: Entstehung, Verletzung und Schranken der Handlungspflichten

gliedstaatliche Maßnahmen, die „bestimmte Verkaufsmodalitäten“ betreffen, nicht vom Beschränkungsverbot des Art. 28 EGV erfaßt12. Um die Handlungspflicht interessengerecht auf den freien Warenverkehr zuzuschneiden, stellt sich daher die Frage, ob diese speziell für den freien Warenverkehr entwickelte Rechtsprechung auf die Fallkonstellation privaten Verhaltens beziehungsweise mitgliedstaatlichen Unterlassens übertragbar ist. Führt man sich die grundlegende Intention der Rechtsprechung vor Augen, werden wichtige Aussagen für die hier zu untersuchende Problematik deutlich.

a) Die Intention der Keck-Rechtsprechung Ebenso wie an dieser Stelle nach einem geeigneten Eingrenzungskriterium der Dassonville-Formel gesucht wird, wurde im Rahmen des Keck-Urteils die Einschränkung des umfassenden Beschränkungsverbotes des freien Warenverkehrs gefordert. Der Grund dafür war, daß sich Wirtschaftsteilnehmer zunehmend auf die Regelung des Art. 28 EGV beriefen, um „jedwede Regelung zu beanstanden, die sich als Beschränkung ihrer geschäftlichen Freiheit auswirkt, auch wenn sie nicht auf Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten gerichtet ist“13. Der EuGH stellte im Rahmen seiner Entscheidungsgründe klar, daß gewisse Regelungen das Absatzvolumen von Erzeugnissen aus anderen Mitgliedstaaten durchaus beschränken können, indem sie den Wirtschaftsteilnehmern eine Methode der Absatzförderung nehmen. Es sei jedoch fraglich, ob diese Möglichkeit der Absatzförderung ausreiche, um die in Rede stehenden Rechtsvorschriften als Maßnahmen gleicher Wirkung anzusehen14. Der Grund, bestimmte Verkaufsmodalitäten dem Anwendungsbereich der Maßnahmen gleicher Wirkung zu entziehen, liegt nach der Entscheidung Alpine Investments darin, „daß die Anwendung derartiger Regelungen nicht geeignet ist, den Marktzugang für diese Erzeugnisse im Einfuhrmitgliedstaat zu versperren oder stärker zu behindern, als sie dies für inländische Erzeugnisse tun.“15 Im Zusammenspiel mit den Ausführungen von Generalanwalt Tesauro in dem dritten leitentscheidenden Urteil der Keck-Rechtsprechung wird die Ratio der Keck-Formel eindeutig. In seinen Schlußanträgen in der Entscheidung Hünermund führt er aus, daß „der Zweck von Art. 30 EGV darin besteht, den freien Warenverkehr sicher zu stellen, um einen einheitlichen Binnenmarkt zu schaffen […]. Art. 30 bezweckt dagegen nicht, die verschiedensten Maßnahmen zu erfas-

12 13 14 15

Vgl. zur Keck-Rechtsprechung auch oben, 1. Kapitel, A. I. 4. EuGH Rs. C-267/91, Slg. 1993, S. I- 6097 (6131), Rn. 14 – Keck. Vgl. EuGH Rs. C-267/91, Slg. 1993, S. I -6097 (6130), Rn. 13 – Keck. EuGH Rs. C-384/93, Slg. 1995, S. I-1141 (1177), Rn. 37 – Alpine Investments.

A. Entstehung mitgliedstaatlicher Handlungspflichten

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sen, um letztlich die größtmögliche Ausdehnung des Handels zu gewährleisten.“16 Im Zusammenhang mit den zuvor zitierten Ausführungen in der Rechtssache Alpine Investments wird klar, daß es nicht darum geht, die größtmögliche Ausdehnung des Handels in den einzelnen Mitgliedstaaten zu gewährleisten, sondern den innergemeinschaftlichen und damit grenzüberschreitenden Handel sicherzustellen. Zusammenfassend kann der Schluß gezogen werden, daß Sinn und Zweck der Keck-Rechtsprechung darin liegt, diejenigen Fälle vom Beschränkungsverbot des freien Warenverkehrs auszunehmen, die nicht den zwischenstaatlichen Warenaustausch als solchen beeinträchtigen17. Die Warenverkehrsfreiheit wird damit auf ihren ursprünglichen und eigentlichen Sinngehalt als Marktzugangsrecht zurückgeführt18. Maßnahmen gleicher Wirkung müssen von ihrer Wirkungsweise mit einer Einfuhrbeschränkung tatsächlich vergleichbar sein19. Das Merkmal der Beeinträchtigung des Marktzuganges im Sinne eines schrankenlosen Warenaustausches beschränkt sich dabei nicht darauf, daß die Beeinträchtigung zum Zeitpunkt des Grenzübertritts der Ware oder bei der Abfertigung zum freien Verkehr in Erscheinung tritt. Eine Behinderung des Marktzuganges kann auch erst auf der Endstufe beim Einzelhandel vorliegen20. b) Übertragung auf eine mitgliedstaatliche Handlungspflicht Übertragen auf mitgliedstaatliche Handlungspflichten bedingt die Ratio der Keck-Rechtsprechung, daß eine Handlungspflicht dann entsteht, wenn durch private Verhaltensweisen tatsächlich der Marktzugang für mitgliedstaatliche Waren beeinträchtigt wird. „Beschränkungen“ Privater, die lediglich auf dem Umstand basieren, daß die Absatzvolumina nach erfolgtem Marktzugang in den einzelnen Mitgliedstaaten nicht größtmöglich ausgedehnt werden können, lösen indessen keine Handlungspflicht aus. Damit besteht für den Mitgliedstaat keine Pflicht, aktiv gegen ein einseitiges Kaufverhalten von Endverbrauchern vorzugehen. Gleiches gilt für Aufrufe, ein bestimmtes Produkt nicht zu erwerben oder etwa für die Werbekampagne einer Firma. Zu ergänzen ist die Voraussetzung der Beeinträchtigung des Marktzuganges durch das Erfordernis der Finalität privaten Verhaltens. 16 Schlußanträge von Generalanwalt Tesauro zu EuGH Rs. C-292/92, Slg. 1993, S. 6787 (6814), Nr. 28 – Hünermund. 17 Vgl. Oppermann, Rn. 1293. 18 Vgl. Koenig/Haratsch, Rn. 509; Jestaedt/Kästle, EWS 1994, S. 26 (28). 19 Vgl. Becker, EuR 1994, S. 162 (172). 20 Vgl. G/T/E-Müller-Graff, Art. 30, Rn. 58.

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3. Kap.: Entstehung, Verletzung und Schranken der Handlungspflichten

Anhand dieses Erfordernisses können nämlich alle diejenigen privaten „Beschränkungen“ von der Handlungspflicht des Mitgliedstaates ausgenommen werden, die von ihrer Intention her nicht auf eine Beeinträchtigung des Marktzuganges gerichtet sind. So zielt beispielsweise der erwähnte Verkehrsunfall, der einen Grenzübergang blockiert, nicht auf eine Beeinträchtigung des Marktzuganges ab. Eine Werbekampagne, die für ein einheimisches Produkt wirbt, ist von ihrer Intention her ebenfalls nicht gegen mitgliedstaatliche Produkte gerichtet. Auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts entsteht daher keine mitgliedstaatliche Pflicht derartige Verhaltensweisen zu unterbinden. Aufrufe hingegen, die sich inhaltlich explizit gegen den Marktzugang ausländischer Waren richten, lösen indessen eine mitgliedstaatliche Handlungspflicht aus. Fraglich bleibt, wie diejenigen Grenzfälle zu bewerten sind, in denen private Maßnahmen von ihrer Intention her nicht unmittelbar, sondern lediglich mittelbar auf eine Beeinträchtigung des grenzüberschreitenden Warenaustausches abzielen. So ist beispielsweise ein auf nationalen Gegebenheiten basierender arbeitsrechtlicher Streik lediglich auf Veränderungen der nationalen Gegebenheiten gerichtet. Eine Beeinträchtigung des freien Warenverkehrs wird dabei nicht unmittelbar bezweckt. Jedoch ist in diesen Fällen zu berücksichtigen, daß Streikende oder Teilnehmer einer Blockade auf sich und ihre Interessen aufmerksam machen wollen. Das Mittel der Behinderung soll ihnen dabei zur Durchsetzung ihrer Ziele verhelfen. Die Beeinträchtigung des Marktzuganges wird demnach als Mittel zum Zweck, sozusagen als notwendiges Zwischenziel, beabsichtigt. Ein Mitgliedstaat ist somit auch dann verpflichtet, aktiv gegen private Maßnahmen einzuschreiten, die von ihrer inhaltlichen Intention lediglich Auswirkungen auf dem nationalen Markt bezwecken, jedoch die Beeinträchtigung des freien Warenverkehrs als Mittel zur Erreichung ihrer nationalen Ziele einsetzen. Diese Erwägungen betreffen lediglich das Entstehen einer Handlungspflicht. Mögliche Rechtfertigungsgründe bleiben hierbei noch unberücksichtigt21. c) Zwischenfazit Eine mitgliedstaatliche Handlungspflicht entsteht, wenn Maßnahmen Privater unmittelbar oder mittelbar darauf abzielen, den Marktzugang für mitgliedstaatliche Waren zu beeinträchtigen. 2. Aufhebung der Privatautonomie In der Literatur wird hingegen vorgeschlagen, zur Eingrenzung der mitgliedstaatlichen Handlungspflicht aus dem Anwendungsbereich des Art. 28 EGV alle 21

Vgl. dazu ausführlich unten, 3. Kapitel, C. II., III.

A. Entstehung mitgliedstaatlicher Handlungspflichten

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diejenigen privatverursachten „Beschränkungen“ herauszunehmen, die allseits privatautonom begründet worden sind. Die Grundfreiheit des freien Warenverkehrs sei immer dann nicht in ihrem Schutzbereich betroffen, wenn der Im- oder Export nach wie vor von einer privatautonomen Entscheidung abhänge. Kämen jedoch Zwangsmaßnahmen hinzu, so sei der Schutzbereich eröffnet22. Als Konsequenz dieser Differenzierung wird zum Beispiel die Wirkungsweise unterschiedlicher Werbekampagnen angeführt. „Normale“ Werbekampagnen beließen dem Endverbraucher noch ausreichenden Entscheidungsspielraum, während „großangelegte“ Werbekampagnen dann eine mitgliedstaatliche Handlungspflicht hervorriefen, wenn einem verständigen Marktbürger eine privatautonome Entscheidung erschwert würde23. Die Einschätzung, wann von einem Ausschluß der Privatautonomie eines „Durchschnittsmarktbürgers“ auszugehen ist, erweist sich als nicht praktikabel. Welche Anforderungen sind an die Entscheidungsfreudigkeit eines verständigen Marktbürgers zu stellen? Wann erweisen sich psychische Einwirkungen als Zwangsmaßnahmen? Hauptkritikpunkt an dieser Ansicht ist aber deren Grundannahme, Ziel und maßgeblicher Schutzzweck der Warenverkehrsfreiheit sei die Entfaltung der Privatautonomie. Unzweifelhaft fördert das Beschränkungsverbot des Art. 28 EGV die privatautonome Wirtschaftstätigkeit der Marktbürger. Der Bedeutungsgehalt des freien Warenverkehrs ist jedoch im Hinblick auf den Binnenmarkt zu bestimmen. Daher dient Art. 28 EGV ausschließlich der Beseitigung der Hindernisse, die den Marktzugang für ausländische Waren in spezifischer Weise erschweren und nicht einer umfassenden Handlungsfreiheit der Marktbürger24. Den Mitgliedstaaten obliegt somit lediglich die Pflicht, Marktzugangshindernisse zu beseitigen, nicht aber die Pflicht, eine umfassende Handlungsfreiheit der einzelnen Marktbürger zu gewährleisten. Dem Sinngehalt des freien Warenverkehrs als Marktzugangsrecht wird nach dieser Ansicht somit nicht ausreichend Rechnung getragen. 3. Spürbarkeitskriterium Die an Unternehmen adressierten wettbewerbsrechtlichen Vorschriften der Art. 81 f. EGV enthalten als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal das Element der Spürbarkeit, die sogenannte „De-minimis“-Regel25. Wettbewerbsbeschränkendes Verhalten fällt demnach nur dann in den Anwendungsbereich der Art. 81 f. EGV, wenn es in spürbarer Weise den Wettbewerb und den zwischenstaatlichen Handel 22

So Kainer, JuS 2000, S. 431 (434). Kainer, JuS 2000, S. 431 (434). 24 Dies ergibt sich aus der oben ausgearbeiteten Ratio einer Maßnahme gleicher Wirkung im Sinne der Keck-Rechtsprechung. Vgl. zum Schutzzweck des Art. 28 EGV auch Grabitz/ Hilf-Leible, Art. 28, Rn. 8. 25 Vgl. dazu Grabitz/Hilf-Stockenhuber, Art. 81, Rn. 215 ff.; Art. 82, Rn. 269 f. 23

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3. Kap.: Entstehung, Verletzung und Schranken der Handlungspflichten

beschränkt26. Die Kommission bejaht gemäß ihrer sogenannten Bagatellbekanntmachung vom 3. September 1986 eine spürbare Wettbewerbsbeschränkung bei Absprachen der Unternehmen ab einem Umsatzanteil der Beteiligten von 5 % an dem betroffenen Produkt im Gemeinsamen Markt27. Im Rahmen des Art. 28 EGV lehnen der EuGH28 sowie der Großteil der Literaturmeinungen29 die Einführung eines Spürbarkeitsmaßstabes hinsichtlich aktiver Maßnahmen der Mitgliedstaaten ab. Da die Entstehung einer Handlungspflicht am Verhalten der unmittelbar handelnden Privatperson zu beurteilen ist, stellt sich die Frage, ob analog zu den wettbewerbsrechtlichen Vorschriften eine spürbare Beeinträchtigung als Entstehungsvoraussetzung einer Handlungspflicht des Mitgliedstaates fungieren kann. a) Der Grund des Spürbarkeitskriteriums innerhalb der Art. 81 f. EGV Wettbewerb und Konkurrenzverhalten sind Grundvoraussetzungen einer funktionierenden freien Marktwirtschaft. Das Spürbarkeitskriterium bewirkt eine Abwägung zwischen den Zielen eines wettbewerblich strukturierten Binnenmarktes und der Handlungsfreiheit der einzelnen Wirtschaftsteilnehmer30. Das Streben eines Unternehmens nach Wettbewerbsvorteilen ist damit Bestandteil der freien Marktwirtschaft und ist erst dann als von der Marktwirtschaft nicht mehr tolerierbares Verhalten anzusehen, wenn es ein bestimmtes Ausmaß annimmt. Den maßgeblichen Grund des Spürbarkeitserfordernisses könnte man demnach in der Schwelle zur Gefährdung des Wettbewerbs sehen. Vor diesem Hintergrund würde deutlich, warum Art. 87 EGV kein Spürbarkeitskriterium verlangt. Denn staatliche Beihilfen stellen die gefährlichsten Instrumente zur Umgehung marktwirtschaftlicher Strukturen dar und rechtfertigen daher erhöhte Anforderungen31. In der Literatur wird indes überwiegend die Ansicht vertreten, daß das Erfordernis der Spürbarkeit im Rahmen der Wettbewerbsvorschriften aus der Tatsache 26

Vgl. bereits EuGH Rs. 5/69, Slg. 1969, S. 295 (302), Rn. 7 – Völk. Geiger, Art. 81, Rn. 16; vgl. auch Lenz-Grill, Art. 81, Rn. 17; EuGH Rs. 107/82, Slg. 1983, S. 3151 (3201), Rn. 58 – AEG. 28 EuGH Rs. 16/83, Slg. 1984, S. 1299 (1326), Rn. 20 – Prantl; EuGH verb. Rs. 177 und 178/82, Slg. 1984, S. 1797 (1812 f.), Rn. 13 – van de Haar; EuGH Rs. 269/83, Slg. 1985, S. 837 (846), Rn. 10 – Kommission/Frankreich. 29 Dauses, RIW 1984, S. 197 (201); G/T/E-Müller-Graff, Art. 30, Rn. 31; König/Haratsch, Rn. 500; Veelken, EuR 1977, S. 311 (327); a. A. hingegen Reich, ZIP 1993, S. 1813 (1817), und Fezer, JZ 1994, S. 317 (324), sowie ders., JZ 1994, S. 623 (624), der die Keck-Rechtsprechung durch die gekünstelte Abgrenzung zwischen Verkaufs- und Produktmodalitäten als versteckte Spürbarkeitsgrenze wertet. 30 Vgl. Roth in Festschrift-Everling 1995 (Bd. II), S. 1231 (1243). 31 Vgl. Ganten, S. 144; siehe aber G/T/E-Wenig, Art. 92, Rn. 35, der auch im Rahmen des Art. 87 n. F. EGV die Einführung einer Spürbarkeitsüberprüfung fordert. 27

A. Entstehung mitgliedstaatlicher Handlungspflichten

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resultiere, daß Maßnahmen der Mitgliedstaaten aufgrund ihrer Verpflichtung zu Gemeinschaftstreue gem. Art. 10 EGV einem strengeren Beurteilungsmaßstab unterlägen als Maßnahmen von Privatpersonen. Daher müßten Privatpersonen durch das Erfordernis der Spürbarkeit privilegiert werden. Eine gleichartige Privilegierung der Mitgliedstaaten stünde in einem nicht zu vereinbarenden Widerspruch zur Gemeinschaftstreue der Mitgliedstaaten gem. Art. 10 EGV. Daher verlange Art. 87 EGV, welcher sich ausschließlich an die Mitgliedstaaten richte, keinen Spürbarkeitstest bezüglich Wettbewerbsverfälschungen staatlicher Beihilfen32. Diese Ansicht kann insoweit in Zweifel gezogen werden, als daß sie verkennt, daß öffentliche Unternehmen gem. Art. 81 Abs. 1 EGV33 beziehungsweise der Staat selbst gem. Art. 86 Abs. 1 EGV34 unstreitig Adressaten einer solchen Privilegierung sein können35. b) Übertragbarkeit auf die Entstehung einer mitgliedstaatlichen Handlungspflicht Keiner dieser kontrovers diskutierten Gründe für die Existenzberechtigung des Spürbarkeitskriteriums innerhalb des Art. 81 EGV rechtfertigt indessen eine entsprechende Anwendung für die Entstehung einer mitgliedstaatlichen Handlungspflicht gem. Art. 28 i. V. m. 10 Abs. 1 S. 1 EGV. Sieht man die Ratio des Spürbarkeitskriteriums darin, daß sie Private gegenüber dem Staat privilegieren will, so scheidet sie für die Handlungspflicht ebenfalls aus. Denn die mitgliedstaatliche Handlungspflicht ist eine originäre Verpflichtung der Staaten gem. Art. 28 EGV i. V. m. Art. 10 Abs. 1 S. 1 EGV. Eine Privilegierung der Mitgliedstaaten, erst ab einer bestimmten spürbaren Beeinträchtigung des freien Warenverkehrs gegen diese einzuschreiten, dürfte ihnen konsequenterweise nicht zugute kommen. Sieht man hingegen den Grund der Spürbarkeit in der speziellen Schwelle zur Gefährdung des Wettbewerbs, so muß gegen die Einführung eines Spürbarkeitskriteriums eingewandt werden, daß der Schutzzweck des freien Warenverkehrs gem. Art. 28 EGV nicht den Schutz vor wettbewerbswidrigen Verhaltensweisen beinhal-

32 Vgl. Scheuing, EuR 1971, S. 136 (142 f.); Müller-Graff, ZHR 1988 (152), S. 403 (434); Jaensch, S. 150. 33 Vgl. EuGH Rs. C 41/90, Slg. 1991, S. I-1979 (2016 ff., 2018), Rn. 20 ff., 32, 34 – Höfner und Elser/Macrotron GmbH; vgl. Ganten, S. 144; vgl. zu öffentlichen Unternehmen und erwerbswirtschaftlicher Tätigkeit des Staates G/T/E-Schröter, Vorb. zu Art. 85–89, Rn. 16, 33, 36; Bauer, S. 162 ff.; s. a. Badura, Festschrift-Steindorff 1990, S. 835 ff. 34 Vgl. Grabitz/Hilf-Pernice, Art. 90, Rn. 44. 35 Vgl. Ganten, S. 144.

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3. Kap.: Entstehung, Verletzung und Schranken der Handlungspflichten

tet36. Der Schutzzweck des Art. 28 EGV liegt vielmehr darin, durch ein umfassendes Beschränkungsverbot die Grundvoraussetzung für den freien und unverfälschten Wettbewerb – den Zugang zu einem Markt – zu schaffen. Dies wird nicht zuletzt durch die unterschiedliche Wortwahl der Art. 3 Abs. 1 c) EGV und Art. 3 Abs. 1 g) EGV deutlich. Nach Art. 3 Abs. 1 c) EGV soll ein Binnenmarkt geschaffen werden. Gemäß Art. 3 Abs. 1 g) EGV ist es Ziel der Gemeinschaft, innerhalb des Binnenmarktes ein System zu errichten, das den Wettbewerb vor Verfälschungen schützt. Ein Spürbarkeitstest im Sinne der wettbewerbsrechtlichen Vorschriften wäre darüber hinaus im vorliegenden Zusammenhang kaum praktikabel und interessengerecht umzusetzen37. Der Bagatellbekanntmachung der Kommission entsprechend, könnte man die Spürbarkeitsgrenze nämlich lediglich dahingehend anwenden, daß eine mitgliedstaatliche Handlungspflicht dann entsteht, wenn privatautonome Maßnahmen die Einfuhr eines bestimmten Produktes um 5 % zurückgehen lassen. Abschließend ist festzustellen, daß keine vergleichbare Interessenlage für die Einführung eines Spürbarkeitstests im Sinne des Art. 81 EGV im Rahmen des Art. 28 i. V. m. Art. 10 Abs. 1 S. 1 EGV besteht. 4. Konkurrenz: Handlungspflicht gem. Art. 28 i. V. m. Art. 10 Abs. 1 S. 1 EGV/Art. 81 EGV Die Wettbewerbsvorschriften, namentlich Art. 81, 82 EGV, fungieren auf der Ebene einer Konkurrenzlösung als tatbestandliche Begrenzung einer mitgliedstaatlichen Handlungspflicht gem. Art. 28 i. V. m. Art. 10 Abs. 1 S. 1 EGV. Artikel 81 f. EGV verfolgen in erster Linie den Zweck, den vom EG-Vertrag angestrebten wettbewerblich organisierten Binnenmarkt gegen private Beeinträchtigungen zu schützen38. Adressaten der Art. 81, 82 EGV sind Unternehmen, wobei Art. 81 EGV darüber hinaus auch Anwendung auf Unternehmensvereinigungen findet. Dem sogenannten funktionalen Unternehmensbegriff zufolge gilt als Unternehmen jedes Rechtssubjekt, das eine kommerzielle oder wirtschaftliche Tätigkeit ausübt. Nach dieser Definition sind die Wettbewerbsvorschriften nahezu auf jede eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübende Einheit, unabhängig von ihrer Rechtsform, von der Gewinnerzielungsabsicht oder der Art ihrer Finanzierung, anwend36

Haar.

Vgl. EuGH verb. Rs. 177 und 178/82, Slg. 1984, S. 1797 (1813), Rn. 14 – van de

37 Vgl. allgemein zur unpraktischen Handhabe eines Spürbarkeitskriteriums innerhalb des Art. 28 EGV: Grabitz/Hilf-Leible, Art. 28, Rn. 15; vgl. auch Kieninger, S. 150 f., die als Folge der Einführung eines Spürbarkeitstests für aktive mitgliedstaatliche Maßnahmen eine größere Rechtsunsicherheit befürchtet und die Spürbarkeitsgrenze als Begründungsvehikel bezeichnet, das immer dann benutzt werde, wenn andere Argumente versagen. 38 Dauses HdBdEGWR-Emmerich, Bd. 2, H. I, Rn. 5.

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bar39. Privatorganisationen und Einzelpersonen als Endverbraucher sind von den Verbotsregeln ausgenommen40. Insoweit ist ihr Verhalten, gemessen an den Wettbwerbsvorschriften, ohne Belang. In sachlicher Hinsicht setzen Art. 81 f. EGV Vereinbarungen oder Beschlüsse von Unternehmen voraus, die eine unmittelbare, mittelbare, tatsächliche oder potentielle Beeinträchtigung des Handels bewirken41. Der Begriff des Handels umfaßt nach vorherrschender Ansicht den Handel mit Waren, Kapital und Dienstleistungen42. Bislang kam es aufgrund der unterschiedlichen Adressatenausrichtungen des Art. 28 EGV und Art. 81 f. EGV und einer mangelnden unmittelbaren Drittwirkung des Art. 28 EGV43 nur begrenzt zu Konkurrenzlagen44. Jedwede Beschränkung des freien Warenverkehrs durch Private, beziehungsweise durch Unternehmen wurde vom EuGH auf den Anwendungsbereich der Art. 81 f. EGV verwiesen45. Durch die Anerkennung einer mitgliedstaatlichen Handlungspflicht bei Beeinträchtigungen des freien Warenverkehrs durch Private wird der Anwendungsbereich des Art. 28 i. V. m. Art. 10 Abs. 1 S. 1 EGV theoretisch auch für wettbewerbsrelevantes Verhalten Privater, nach Maßgabe der Art. 81 f. EGV, eröffnet. Beeinträchtigt wettbewerbswidriges Verhalten Privater den Handel im Sinne des Art. 28 EGV, so stellt sich die Frage, ob dem Staat bezüglich der beeinträchtigenden Maßnahmen eine Handlungspflicht obliegt, dieses Verhalten zu unterbinden. Die Wettbewerbsregeln treten somit in Konkurrenz zu einer mitgliedstaatlichen Handlungspflicht gem. Art. 28 i. V. m. Art. 10 Abs. 1 S. 1 EGV. Dieser Konflikt lässt sich durch eine klare Trennung der unterschiedlichen Regelungskomplexe auflösen. Für das Verhalten von Einzelpersonen und Endverbrauchern ist der Anwendungsbereich der Art. 81 f. EVG per se nicht eröffnet. Hier fungiert die mitgliedstaatliche Handlungspflicht als eine Art Schutzlückenschließungsfunktion, um den freien Warenverkehr zu gewährleisten.

39 Vgl. Dauses HdBdEGWR-Emmerich, H. I, Rn. 62; Kilian, Rn. 62; Schwintowski, ZeuP 1994, S. 294 (298 ff.); EuGH Rs. C-364/92, Slg. 1994, S. I-43 (61 ff.), Rn. 17 ff. – SAT/Euroconrol; EuGH Rs. C-41/90, Slg. 1991, S. I-1979 (2016 f.) Rn. 20 ff. – Höfner und Elser/Macroton; EuGH Rs. C-159/93, Slg. 1993, S. I-637 (669 f.), Rn. 17 ff. – le Paucet u. a./Cancava. 40 Vgl. dazu oben, 1. Kapitel, B. I. 4. 41 So die „Parallelrechtsprechung“ des EuGH zu der Dassonville-Formel im Rahmen der Wettbewerbsvorschriften, EuGH Rs. 56/64 und 58/64, 1966, S. 321 (389) – Consten und Grundig. 42 Vgl. Calliess/Ruffert-Weiß, Art. 81, Rn. 125, 131. 43 Vgl. dazu oben, 1. Kapitel, B. I. 44 Vgl. Grabitz/Hilf-Leible, Art. 28, Rn. 54; Schwarze-Becker, Art. 28, Rn. 29. Die Maßnahme eines öffentlichen Unternehmens kann indes sowohl in den Anwendungsbereich des Art. 28 EGV als auch in den des Art. 81 EGV fallen. 45 Vgl. dazu oben, 1. Kapitel, B. I. 2.

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3. Kap.: Entstehung, Verletzung und Schranken der Handlungspflichten

Für wettbewerbsrelevantes Verhalten von Unternehmen nach Maßgabe der Art. 81 f. EVG sind diese abschließend geregelt46. Der unternehmerische Wettbewerb wird ausreichend nach diesen Vorschriften geschützt und unterliegt der Überwachung der Kommission. Trotz einer Beeinträchtigung des freien Warenverkehrs entsteht in diesem Fall keine mitgliedstaatliche Eingriffspflicht. Dies gilt sowohl für diejenige Konstellation, in der Art. 81 EGV tatbestandlich einschlägig ist, als auch für den Fall, daß Art. 81 EGV an einer Anwendungsvoraussetzung, wie beispielsweise der Spürbarkeit, scheitert. Denn die Handlungspflicht darf nicht dazu führen, daß der Anwendungsbereich des Art. 28 EGV, der wettbewerbsrelevantem Verhalten von Unternehmen grundsätzlich verschlossen ist, nunmehr „durch die Hintertür“ wieder eröffnet wird. Zudem würden durch die Anerkennung einer Handlungspflicht gem. Art. 28 i. V. m. Art. 10 Abs. 1 S. 1 EGV für wettbewerbsrelevantes Verhalten nach Maßgabe des Art. 81 EGV die Ausnahmeregelungen der Wettbewerbsvorschriften gem. Art. 81 Abs. 3, 83 EGV umgangen47. Diese Ausnahmeregelungen basieren auf der Erfahrung, daß gewisse wettbewerbsbeschränkende Verhaltensweisen gleichwohl positive Auswirkungen auf den technischen und wirtschaftlichen Fortschritt haben48. Zur Wahrung dieser vom EG-Vertrag vorgesehenen Wertungen erscheint es daher geboten, das Verhältnis zwischen der mitgliedstaatlichen Handlungspflicht gem. Art. 28 i. V. m. Art. 10 Abs. 1 S. 1 EGV und den Wettbewerbsregeln als Exklusivverhältnis anzusehen. IV. Fazit Eine mitgliedstaatliche Handlungspflicht gem. Art. 28 i. V. m. Art. 10 Abs. 1 S. 1 EGV entsteht, wenn private Maßnahmen, im Sinne der Dassonville-Formel unmittelbar, mittelbar, tatsächlich oder potentiell den innergemeinschaftlichen Handel beeinträchtigen. Ausgenommen von diesen Beeinträchtigungen sind entsprechend der Ratio der Keck-Rechtsprechung alle diejenigen Maßnahmen, die lediglich eine Begrenzung der Handelsvolumina im nationalen Markt bewirken und nicht die Beeinträchtigung des Marktzuganges für mitgliedstaatliche Waren bezwecken. Letztlich stehen die mitgliedstaatliche Handlungspflicht gem. Art. 28 i. V. m. Art. 10 Abs. 1 S. 1 EGV und die Wettbewerbsvorschriften in einem Ex46 Vgl. zur der Spezialität der Art. 81 ff.: G/T/E-Müller-Graff, Art. 30, Rn. 335 ff. m. w. N. 47 Die anerkannten Ausnahmen der Wettbewerbsvorschriften sind: Die Gruppenfreistellungsverordnungen und die Rule of Reason. Wettbewerbswidrige, aber gleichwohl für den Binnenmarkt förderliche Verhaltensweisen, sind nach Ansicht des EuGH von Art. 81 f. EGV ausgenommen, vgl. dazu Ackermann, S. 11 ff., 53 ff.; vgl. die Gesamtübersicht der Gruppenfreistellungsverordnungen bei Kilian, S. 171 ff. 48 Vgl. dazu Calliess/Ruffert-Weiß, Art. 81, Rn. 153 f. m. w. N.

B. Verletzung mitgliedstaatlicher Handlungspflichten

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klusivverhältnis. Wettbewerbsrelevantes Verhalten ist daher trotz einer Beeinträchtigung des freien Warenverkehrs nicht vom Mitgliedstaat aktiv zu unterbinden. Für derartige Verhaltensweisen gelten ausschließlich die Art. 81 f. EGV unter Aufsicht der Kommission. Durch die lückenlose Anwendbarkeit der Art. 81 ff. EGV und Art. 28 i. V. m. Art. 10 Abs. 1 S. 1 EGV ist ein umfassender Schutz vor privatautonomen handelsbeeinträchtigenden Maßnahmen gewährleistet.

B. Verletzung mitgliedstaatlicher Handlungspflichten Die nachfolgenden Ausführungen befassen sich mit der Frage, wann ein Mitgliedstaat eine ihm entstandene Handlungspflicht verletzt hat. Dazu ist es erforderlich, den Inhalt der Handlungspflicht und den Umfang der gerichtlichen Kontrolle zu bestimmen. I. Inhalt der Handlungspflicht Hinsichtlich des Inhalts einer Handlungspflicht steht der betroffene Mitgliedstaat vor der Frage, welche Maßnahmen im Einzelfall von ihm, beziehungsweise von seinen Organen zu ergreifen sind, um die vorliegende Beeinträchtigung zu beseitigen. 1. Art. 10 Abs. 1 S. 1 EGV Die mitgliedstaatliche Gewährleistungspflicht zugunsten des freien Warenverkehrs wird über Art. 10 Abs. 1 S. 1 EGV zur Handlungspflicht. Artikel 10 Abs. 1 S. 1 EGV schlägt damit die notwendige Brücke zum nationalen Recht und verpflichtet die Mitgliedstaaten, die ihnen obliegende Handlungspflicht, im Rahmen des unmittelbaren Vollzuges49, in ihren Hoheitsgebieten durchzusetzen. Die Auferlegung einer Handlungspflicht errichtet daher gemeinschaftsrechtliche Vorgaben für die Anwendung des Verwaltungsvollzuges und damit Vorgaben für die Anwendung und Auslegung des nationalen Polizei– und Ordnungsrechts. Insoweit bewirkt das Rechtsinstitut der mitgliedstaatlichen Handlungspflicht einen weiteren Schritt zur sogenannten „Europäisierung des Verwaltungsrechts“, 49 Auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts wird zwischen zwei Arten des mitgliedstaatlichen Vollzugs des Gemeinschaftsrechts unterschieden: Dem unmittelbaren und dem mittelbaren Vollzug. Ersterer bedeutet den Vollzug von Gemeinschaftsrecht (Sekundärrecht und Primärrecht). Unter letzterem versteht man den Vollzug von nationalen Ausführungsgesetzen, vgl. zu dieser begrifflichen Unterscheidung Streinz, Rn. 467; ausführlich dazu auch Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 25 ff. m. w. N.

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3. Kap.: Entstehung, Verletzung und Schranken der Handlungspflichten

indem es das Polizei- und Ordnungsrecht unter einen „europarechtlichen Optimierungsvorbehalt“50 stellt.

2. Der Interessenskonflikt: Gewährleistung des freien Warenverkehrs vs. mitgliedstaatliche Kompetenzen im Bereich der Gefahrenabwehr Zu berücksichtigen ist, daß den Mitgliedstaaten, infolge des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung51 und mangels ausdrücklicher Kompetenzzuweisung im EG-Vertrag die ausschließliche Kompetenz zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zusteht52. In Art. 33 EUV und Art. 64 EGV wird eine Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausdrücklich normiert. Selbstverständlich betrifft die mitgliedstaatliche Handlungspflicht keine der Maßnahmen des IV. Kapitels des EU-Vertrages und des IV. Kapitels des EG-Vertrages. Gleichwohl kann aus der Identität der Vorschriften geschlossen werden, daß diesen ein dem gesamten Europarecht allgemeingültiger Rechtsgedanke zu Grunde liegt. Der Bereich des Polizei- und Ordnungsrechts stellt einen sehr sensiblen Bereich dar, auf dem die einzelnen Mitgliedstaaten ihre Hoheitsbefugnisse nicht verlieren dürfen53. Die Anerkennung und effektive Durchsetzung einer Handlungspflicht darf daher auf der einen Seite keinesfalls eine Aushöhlung der ausschließlichen Kompetenz der Mitgliedstaaten zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung sowie eine Ausweitung der Kontrollbefugnisse des EuGH auf diesem Gebiet herbeiführen. Auf der anderen Seite ist die Gemeinschaft aber existentiell und funktionell auf die Mitwirkung der Mitgliedstaaten, insbesondere im Rahmen des Vollzuges des Gemeinschaftsrechts angewiesen54. Bei der Festlegung des Inhalts der Handlungspflicht ist daher eine angemessene Synthese zwischen zwei sich widerstreitenden Interessen zu finden: der Gewährleistung des freien Warenverkehrs und der Verwaltungsautonomie der Mitgliedstaaten.

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Lindner, BayVBl. 1999, S. 337 (338); ders., BayVBl. 2001, S. 193 (194). Vgl. weiterführend zum Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung Kraußer, S. 16 ff. 52 Vgl. auch ausdrücklich EuGH Rs. C-265/95, Slg. 1997, S. I-6990 (6999) – Kommission/Frankreich. Vgl. ebenso bereits an dieser Stelle die Verordnung des Rates Nr. 2679/98 vom 7.12.1998, ABlEG L 337, S. 8, Erwägungsgrund Nr. 6. Eine ausführliche Erörterung dieser Verordnung erfolgt im 5. Kapitel. 53 Vgl. Grabitz/Hilf-Röben, Art. 33 EUV, Rn. 3; Bergmann/Lenz-Winkler, S. 68. 54 Vgl. Ipsen, § 9/14, 15, S. 214. 51

B. Verletzung mitgliedstaatlicher Handlungspflichten

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Hilfestellung für einen zu findenden „Kompromiß“ bietet sowohl der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als auch der allgemeine Rechtsgedanke55 des Subsidiaritätsprinzips56. Diese in Art. 5 Abs. 2 und 3 EGV normierten Grundsätze fungieren im Rahmen des Art. 10 Abs. 1 S. 1 EGV als sogenannte „negative Tatbestandsmerkmale“57 und sind neben den in Art. 5 Abs. 2 und 3 EGV vorgesehenen Maßnahmen der Gemeinschaft auch für die Auslegung und Fortentwicklung des Primärrechts zu berücksichtigen58. Nach dem Subsidiaritätsprinzip wird die Gemeinschaft in den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahme auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend gewährleistet sind und daher wegen ihres Umfanges und ihrer Wirkung besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können. Der allgemeine Gedanke der Subsidiarität liegt darin, daß der kleineren Handlungseinheit, nach Maßgabe ihrer Leistungsfähigkeit, Vorrang im Handeln vor der größeren Handlungseinheit gebührt59. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ergänzt das Subsidiaritätsprinzip und ist ebenfalls ein anerkannter allgemeiner Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts60. Danach sind Maßnahmen verhältnismäßig, wenn sie zur Erreichung des zulässigerweise verfolgten Ziels geeignet und erforderlich sind. Stehen mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl, ist stets die am wenigsten belastende zu wählen. Darüber hinaus müssen die auferlegten Belastungen in einem angemessenen Verhältnis zu dem angestrebten Ziel stehen61. In diesem Sinne weist Ziffer 7 des Protokolls über die Anwendung der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit ausdrücklich darauf hin, daß bei Maßnahmen der Gemeinschaft so viel Raum für nationale Entscheidungen bleiben sollte, wie dies im Einklang mit dem verfolgten Ziel und den 55 Das Subsidiaritätsprinzip, das grundsätzlich eine Kompetenzausübungsregel darstellt, muß aus einem argumentum a majore ad minus als allgemeiner Rechtsgedanke herangezogen werden, wenn eine gemeinschaftsrechtliche Verpflichtung gezielt auf ausschließliche Kompetenzen der Mitgliedstaaten einwirken will. 56 Vgl. ebenfalls Schindler, S. 204, der sich auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip bezieht. In diesem Sinne wohl auch Meurer, EWS 1998, S. 196 (200), der eine angemessene Relation zwischen der Freiheit des Art. 28 EGV und den Interessen des betroffenen Staates fordert. 57 Grabitz/Hilf-von Bogdandy, Art. 5 a. F., Rn. 22. 58 Grabitz/Hilf-von Bogdandy, Art. 5 a. F., Rn. 22; Schindler, S. 204; ebenso Kingreen, S. 110; in diesem Sinne wohl auch Möschel, NJW 1995, S. 281 (281), wenn er darlegt, daß das primäre Gemeinschaftsrecht das Subsidiaritätsprinzip im Wege der Auslegung berührt. 59 Fischer, Grundlagen, § 5, Rn. 4; vgl. zur ursprünglichen Bedeutung des Subsidiaritätsprinzips in der katholischen Soziallehre Pieper, S. 33 ff. 60 Vgl. bereits EuGH Rs. 8/55 Slg. 1956, S. 302 (311) – Fédération Charbonnière De Belgique; vgl. weiterführend zum Prinzip der Verhältnismäßigkeit, Hirsch, S. 1 ff.; Emmerich-Fritsche, S. 96 ff. 61 EuGH Rs. 26, Slg. 1989, S. 2237 ( 2269), Rn. 21 – Hermann Schräder HS Kraftfutter GmbH & Co. KG.

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3. Kap.: Entstehung, Verletzung und Schranken der Handlungspflichten

Anforderungen des Vertrages möglich ist. Dabei sollten, unter Einhaltung der gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften, bewährte nationale Regelungen sowie Struktur und Funktionsweise der Rechtssysteme der Mitgliedstaaten geachtet werden. Unter Zugrundelegung dieser Rechtsgedanken ergibt sich für die Feststellung des Inhalts der Handlungspflicht und die Konkretisierung der Ermessensentscheidung der Mitgliedstaaten gem. Art. 10 Abs. 1 S. 1 EGV, daß Effektivität der Handlungspflicht und Autonomie der Mitgliedstaaten derart in ein angemessenes Verhältnis zu bringen sind, daß ein unabdingbares Mindestmaß an Schutz unter gleichzeitiger Schonung der Mitgliedstaaten gewährleistet ist. a) Auswirkungen auf das Entschließungsermessen Ein Entschließungsermessen, also die Frage, ob Maßnahmen bei einer entstandenen Handlungspflicht zu ergreifen sind, ist dem betroffenen Mitgliedstaat im Einklang mit dem Wortlaut des Art. 10 Abs. 1 S. 1 EGV nicht einzuräumen. Zur Gewährleistung des freien Warenverkehrs ist ein Einschreiten bei einer vorliegenden Beeinträchtigung unabdingbar und würde anderenfalls die Handlungspflicht obsolet machen. b) Auswirkungen auf das Auswahlermessen Zur bestmöglichen Schonung der mitgliedstaatlichen Kompetenz für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ist auf der Ebene des Auswahlermessens den Mitgliedstaaten der größtmögliche Gestaltungsspielraum einzuräumen. Es muß ausschließlich in die Entscheidungsbefugnis der jeweiligen nationalen Behörden fallen, welche Maßnahmen im Einzelfall zu ergreifen sind, um Beeinträchtigungen des freien Warenverkehrs entgegenzuwirken. Andernfalls würde Art. 10 Abs. 1 S. 1 EGV das bestehende vertikale Kompetenzgefüge zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaat in nicht mehr zu tolerierende Weise unterlaufen. In der Rechtssache Kommission/Frankreich trägt auch der EuGH diesem Umstand Rechnung, indem er feststellt, daß es nicht Sache der Gemeinschaftsorgane sei, sich an die Stelle der Mitgliedstaaten zu setzen und ihnen vorzuschreiben, welche Maßnahmen sie erlassen und tatsächlich anwenden müssen, um den freien Warenverkehr in ihrem Gebiet zu gewährleisten62. Einzige Anforderung, welche die Mitgliedstaaten bei der Ausübung des Auswahlermessens zu beachten haben, ist, daß die zu treffenden erforderlichen Maßnahmen geeignet und ausreichend sind, um ein unabdingbares Mindestmaß an

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EuGH Rs. C-265/95, Slg. 1997, S. I-6959 (6999), Rn. 33 f. – Kommission/Frankreich.

B. Verletzung mitgliedstaatlicher Handlungspflichten

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Schutz des freien Warenverkehrs in ihrem Hoheitsgebiet zu gewährleisten63. In Betracht kommen in diesem Zusammenhang alle Maßnahmen, vor allem präventiver, aber auch repressiver Art, die diese Mindestanforderungen erfüllen. Dieses Mindestmaß, welches an den Grundsatz des Untermaßverbotes aus dem deutschen Verfassungs- und Verwaltungsrecht erinnert, sichert die Effektivität der Handlungspflicht unter gleichzeitiger Anerkennung des vertikalen Kompetenzgefüges64. In diesem Zusammenhang ist die Handlungspflicht von ihrer Rechtsnatur als eine sogenannte Verhaltenspflicht zu qualifizieren. Nach der dem Völkerrecht entstammenden begrifflichen Trennung von Verhaltens- und Erfolgspflichten verlangen Verhaltenspflichten vom Staat eine bestimmte Verhaltensweise, ohne daß dabei die Erzielung eines bestimmten Ergebnisses verlangt wird. Wendet der Staat ein anderes oder unzureichendes Verhalten an, so liegt eine Verletzung der Verhaltenspflicht vor65. Erfolgspflichten verlangen demgegenüber vom Staat die Gewährleistung eines bestimmten Ergebnisses, ohne daß sie dabei auf bestimmte Verhaltensweisen festgelegt sind. Eine Verletzung einer Erfolgspflicht liegt immer dann vor, wenn der Staat das festgelegte Ergebnis nicht erreicht66. Der Inhalt der Handlungspflicht erschöpft sich darin, geeignete und ausreichende Maßnahmen zu ergreifen. Ein bestimmtes Ergebnis, die Freiheit des freien Warenverkehrs zu garantieren, kann von dem Mitgliedstaat nicht gefordert werden67. Daher ist es in diesem Zusammenhang unzutreffend, wenn zum Teil in der Literatur gefordert wird, der freie Warenverkehr müsse bedingungslos und notfalls unter Einsatz von Waffengewalt gewährleistet werden68.

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Vgl. die Ausführungen in EuGH Rs. C-265/95, Slg. 1997, S. I-6959 (6999), Rn. 33 f. – Kommission/Frankreich und auch die Schlußanträge von Generalanwalt Lenz, EuGH Rs. C-265/95, Slg. 1997, S. I-6959 (6981), Rn. 49 – Kommission/Frankreich, die allerdings nicht explizit auf ein Mindestmaß an Schutz abstellen. 64 Ebenso Meurer, EWS 1998, S. 196 (200); siehe aber auch Klein, Duty to protect, S. 229, Rn. 43, der ausführt, zu mehr als einer Evidenzkontrolle biete die Entscheidung Kommission/Frankreich keinen Raum, dabei aber wohl die Konkretisierung der Ermessensentscheidung und die Kontrollintensität des Gerichtshofes, welche durchaus auseinanderfallen können, vermischt. Vgl. zum Untermaßverbot im deutschen Verfassungsrecht Isensee/Kirchof-Isensee, Bd. V, § 111, Rn. 165. 65 Vgl. Fischer/Köck, Völkerrecht, Rn. 815. 66 Vgl. Fischer/Köck, Völkerrecht, Rn. 815. 67 Vgl. die Schlußanträge von Generalanwalt Lenz in EuGH Rs. C-265/95, Slg. 1997, S. 6959 (6980), Rn. 45 – Kommission/Frankreich; vgl. ebenso Kühling, NJW 1999, S. 403 (403). 68 So aber Meier, EuZW 1998, S. 87 (87).

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3. Kap.: Entstehung, Verletzung und Schranken der Handlungspflichten

II. Kontrollintensität des EuGH Der Gerichtshof sieht es als seine Sache an zu überprüfen, ob der betroffene Mitgliedstaat im konkreten Fall tatsächlich geeignete Maßnahmen zur Sicherstellung des freien Warenverkehrs ergriffen hat69. Dies wirft die Frage nach der Kontrollintensität für nach Art. 28 i. V. m. 10 Abs. 1 S. 1 EGV getroffene Maßnahmen des Mitgliedstaates auf. Denn die Effektivität der Handlungspflicht steht und fällt letztlich mit der gerichtlichen Kontrolle. Nach Art. 230 EGV obliegt dem Gerichtshof die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge sowie des sekundären Gemeinschaftsrechts. Der Umfang dieser Kontrollbefugnis wird indes im Gemeinschaftsrecht nur ansatzweise geregelt70. Bei Ermessensentscheidungen der Organe der Gemeinschaft, kontrolliert der EuGH diese grundsätzlich sehr zurückhaltend71. Insbesondere im Rahmen seiner Judikatur zur Verletzung der Gemeinschaftsgrundrechte durch Gemeinschaftsakte beschränkt er sich stets auf die Prüfung der offensichtlichen Ungeeignetheit der erlassenen Maßnahme72. Die Anerkennung eines Ermessensspielraums hat danach grundsätzlich eine eingeschränkte gerichtliche Kontrolle zur Folge73, die sich in einer Evidenzkontrolle erschöpft74. Für mitgliedstaatliche Maßnahmen zur Sicherstellung des freien Warenverkehrs ist eine derartige zurückhaltende Kontrolle des EuGH ebenfalls geboten. Insbesondere die Achtung der ausschließlichen Kompetenz der Mitgliedstaaten zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung erfordert – wiederum im Hinblick auf die Rechtsgedanken des Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsprinzips – einen Rückzug der gemeinschaftsrechtlichen Kontrolle auf dessen niedrigste Intensität, die Evidenzkontrolle.

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EuGH Rs. C-265/95, Slg. 1977, S. I-6959 (6999), Rn. 35 – Kommission/Frankreich. Vgl. dazu Herdegen/Richter, S. 207 (210 ff.); Adam, Kontrolldichte, S. 33 ff. 71 Vgl. Everling, JZ 2000, S. 217 (225). 72 Vgl. EuGH Rs. C-306/93, Slg. 1994, S. I-5555 (5581), Rn. 21 – SMW Winzersekt GmbH; EuGH Rs. C-280/93, Slg. 1994, S. I-4973 (5068 f.), Rn. 90 – Deutschland/Rat; EuGH Rs. C-331/88, Slg. 1990, S. I-4023 (4063) Rn. 14 – Fedesa U.A.; vgl. dazu auch Kokott, AöR 121 (1996), S. 419 (608 f.); Classen, JZ 1997, S. 454 (455); vgl. zu dieser zurückhaltenden Kontrolle kritisch Pauly, EuR 1998, S. 242 (259); vgl. demgegenüber zur höheren Kontrollintensität bei Maßnahmen der Kommission EuGH Rs. 191/82, Slg. 1983, S. 2913 (2935), Rn. 30 – Fediol I; EuGH Rs. 258/84, Slg. 1987, S. 1923 (1964), Rn. 21 – Nippon Seiko. 73 Vgl. Pache, DVBl. 1998, S. 380 (385). Bei Ermessensentscheidungen übt der EuGH grundsätzlich eine reduzierte Kontrolle aus. Dies ergibt sich aus einem argumentum e contrario aus Art. 172 EGV, 144 EAG und 36 II EGKS. Nur in diesen Fällen ist eine unbegrenzte Ermessenskontrolle vertraglich zulässig, vgl. dazu Ukrow, S. 163. 74 Vgl. Pache, DVBl. 1998, S. 380 (386); Lenz, EuGRZ 1993, S. 585 (589). 70

C. Schranken mitgliedstaatlicher Handlungspflichten

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Der EuGH führte in der Rechtssache Kommission/Frankreich aus, daß die „aufgeführten Vorfälle offenkundig nicht ausreichten, um den innergemeinschaftlichen Handelsverkehr […] zu gewährleisten […]“75. Geht man davon aus, daß der Gerichtshof seine bisherige Kontrollpraxis bei Ermessensentscheidungen beibehält und seine Zusicherung, „sich nicht an die Stelle der Mitgliedstaaten setzen zu wollen“76, nicht den Stellenwert eines bloßen „Lippenbekenntnisses“ hat, so läßt die Wortwahl der „Offenkundigkeit“ die wünschenswerte Tendenz erblicken, daß sich der Gerichtshof im Rahmen der Handlungspflichten ebenfalls auf eine bloße Evidenzkontrolle zurückziehen wird. Die Ermessensentscheidung der Mitgliedstaaten gem. Art. 28 i. V. m. Art. 10 Art. 1 S. 1 EGV wird, im Rahmen einer Einzelfallabwägung, dahingehend zu überprüfen sein, ob die getroffenen Maßnahmen offensichtlich ungeeignet oder unzureichend sind. Eine Offensichtlichkeit liegt dann vor, wenn sie sich ohne weiteres feststellen läßt, eine besondere Schwere oder Intensität wird nicht erfordert77. III. Fazit Eine mitgliedstaatliche Handlungspflicht gem. Art. 28 i. V. m. Art. 10 Abs. 1 S. 1 EGV ist verletzt, wenn ein Mitgliedstaat bei einer Beeinträchtigung des Marktzuganges durch Private entweder gänzlich untätig bleibt oder aber ungeeignete und unzureichende Maßnahmen zur Sicherstellung eines Mindestmaßes an Schutz des freien Warenverkehrs ergreift. Dieses Auswahlermessen kann der Gerichtshof nur im Rahmen einer Evidenzkontrolle überprüfen. Ersichtlich wird, daß die Anerkennung einer mitgliedstaatlichen Handlungspflicht das vertikale Kompetenzgefüge zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten – anders als die Rechtsfigur der unmittelbaren Drittwirkung – nicht unterläuft. Die Durchsetzung der Grundfreiheit des freien Warenverkehrs verbleibt allein in der Hand des betreffenden Mitgliedstaates. Seine ausschließlichen Handlungs- und Gestaltungsbefugnisse im Bereich der öffentlichen Sicherheit und Ordnung über die Art und Vorgehensweise gegen private Störer zu entscheiden, werden nicht durch das Gemeinschaftsrecht ersetzt.

C. Schranken mitgliedstaatlicher Handlungspflichten Nachdem vorstehend Entstehung und Verletzung der Handlungspflicht erörtert wurden, gilt es nachfolgend, der bedeutsamen Frage nach möglichen Schranken der Handlungspflicht nachzugehen. 75 76 77

EuGH Rs. C-265/95, Slg. 1997, S. I-6959 (7002 f.), Rn. 52 – Kommission/Frankreich. EuGH Rs. C-265/95, Slg. 1997, S. I-6959 (6999), Rn. 34 – Kommission/Frankreich. Pache, DVBl. 1998, S. 380 (386).

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3. Kap.: Entstehung, Verletzung und Schranken der Handlungspflichten

I. Rechtfertigungsgründe des Art. 30 S. 1 EGV und zwingende Erfordernisse nach Cassis de Dijon Für aktive Maßnahmen, die Art. 28 EGV zuwiderlaufen, stehen dem Mitgliedstaat die geschriebenen und abschließend geregelten Rechtfertigungsgründe gem. Art. 30 EGV zum Wohle der dort normierten Schutzgüter zur Verfügung78. Darüber hinaus hat der EuGH erstmalig in der Cassis-Entscheidung darüber hinausgehende Schranken des Art. 28 EGV entwickelt. Aufgrund zwingender Erfordernisse, die den Schutz hochwertiger Güter umfassen, ist eine staatliche Maßnahme, die gegen Art. 28 EGV verstößt, ausnahmsweise nicht als Maßnahme gleicher Wirkung im Sinne des Art. 28 EGV zu qualifizieren79. Dogmatisch gesehen, ordnet der EuGH diese zwingenden Erfordernisse als tatbestandsimmanente Schranken des Art. 28 EGV ein. Jene beziehen – im Gegensatz zu den Rechtfertigungsgründen des Art. 30 EGV – die Umstände, die als „Rechtfertigung“ für eine Beschränkung angesehen werden, direkt in den Tatbestand des Art. 28 EGV mit ein, so daß schon von keiner Verwirklichung des Tatbestandes gesprochen werden kann. Zweifel an dieser dogmatischen Einordnung könnte man insofern äußern, als daß die Rechtfertigungsmöglichkeit aufgrund eines zwingenden Erfordernisses unbestritten eine Verhältnismäßigkeitsprüfung voraussetzt80. Die Prüfung einer Verhältnismäßigkeit setzt jedoch voraus, daß im konkreten Einzelfall letztlich zwei Rechtsgüter miteinander kollidieren. Es bedarf damit einer tatbestandlichen Beeinträchtigung des freien Warenverkehrs als Grundvoraussetzung für eine Abwägung mit einem anderen Rechtsgut81. Der maßgebliche Grund des EuGH, die zwingenden Erfordernisse gleichwohl als tatbestandsimmanente Schranken anzusehen, ist darin zu sehen, daß – seiner Rechtsprechung entsprechend – der Rechtfertigungskatalog des Art. 30 S. 1 EGV abschließend geregelt und nicht ergänzungsfähig ist. Damit ist es ihm verwehrt, darüber hinausgehende „Rechtfertigungsgründe“ zu entwickeln. Auch einer extensiven Auslegung des Begriffes der „öffentlichen Ordnung“ hat der Gerichtshof eine Absage erteilt, indem er diese auf diejenigen praktisch geringen Fälle beschränkt, in denen eine Gefahr für die innere und äußere Sicherheit besteht82. 78

Vgl. dazu oben, 1. Kapitel, A. I. 5. a). Vgl. dazu oben, 1. Kapitel, A. I. 5. b). 80 Vgl. EuGH Rs. C-238/89, Slg. 1990, S. I-4827 (4848), Rn. 12 – Pall Corp.; EuGH Rs. C-126/91, Slg. 1993, S. I-2361 (2388 f.), Rn. 12 – Yves Rocher; EuGH Rs. C-470/93, Slg. 1995, S. I-1923 (1941 f.), Rn. 15 – Mars GmbH; EuGH Rs. C-383/97, Slg. 1999, S. I-731 (759), Rn. 19 – Strafverfahren gegen van der Laan. 81 Vgl. Schwarze-Becker, Art. 28 EGV, Rn. 108. 82 EuGH Rs. 177/83, Slg. 1984, S. 3651 (3663), Rn. 19 – Th. Kohl KG; vgl. kritisch dazu Kingreen, S. 156 ff., der den Rechtfertigungsgrund der öffentlichen Ordnung als „Sicherheitsventil für nationale Interessen“ bezeichnet und dementsprechend die vom EuGH entwickelten zwingenden Erfordernisse in Art. 30 EGV eingliedert. 79

C. Schranken mitgliedstaatlicher Handlungspflichten

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Die Kreation tatbestandsimmanenter Schranken erlaubt es dem Gerichtshof somit, Art. 30 EGV als abschließenden Rechtfertigungskatalog zu betrachten und restriktiv auszulegen sowie gleichzeitig darüber hinausgehende Schranken auf der Tatbestandsebene des Art. 28 EGV als zulässig zu erachten. Im Ergebnis prüft der EuGH dabei zunächst eine Beschränkung des Art. 28 EGV und hebt nach Abwägung mit einem zwingenden Erfordernis den Tatbestand gegebenenfalls rückwirkend wieder auf. Bei Rechtfertigungsgründen bleibt der Tatbestand bestehen, dieser ist nur ausnahmsweise nicht als rechtswidrig anzusehen. Damit besteht nur ein methodischer Unterschied zwischen den Rechtfertigungsgründen und den zwingenden Erfordernissen, der im Ergebnis zu keinem Unterschied führen wird. Rein funktional gesehen, werden letztlich die Rechtfertigungsgründe des Art. 30 EGV durch die zwingenden Erfordernisse erweitert83. Aufgrund der bestehenden strukturellen Gemeinsamkeiten zwischen Rechtfertigungsgründen und den zwingenden Erfordernissen können letztere auch als „ungeschriebene Rechtfertigungsgründe“ bezeichnet werden. II. Anwendbarkeit der Rechtfertigungsinstitute für die mitgliedstaatliche Handlungspflicht gem. Art. 28 i. V. m. Art. 10 Abs. 1 S. 1 EGV Beide „Rechtfertigungsinstitute“ sind von ihrer Konzeption her auf staatliche Beschränkungen des freien Warenverkehrs zugeschnitten. Ein Unterlassen oder unzureichendes Einschreiten eines Mitgliedstaates gegen private Beeinträchtigungen stellt eine durch den Staat verursachte originäre Beeinträchtigung des freien Warenverkehrs dar. Sowohl die geschriebenen Rechtfertigungsgründe gem. Art. 30 EGV als auch die zwingenden Erfordernisse sind daher auf ein Unterlassen eines Mitgliedstaates grundsätzlich direkt anwendbar. III. Inhaltliche Abgrenzung von Art. 30 EGV und den „Cassis-Rechtfertigungsgründen“ Fraglich ist allerdings, unter welchen Voraussetzungen sich ein Mitgliedstaat auf die in Art. 30 EGV normierten Gründe und die zwingenden Erfordernisse zur Rechtfertigung seines Nichteinschreitens berufen kann. Die inhaltlichen Anwendungsvoraussetzungen, beziehungsweise die inhaltliche Abgrenzung der geschriebenen von den ungeschriebenen Rechtfertigungsgründen, werden äußerst kontrovers diskutiert. Einstimmigkeit herrscht weitestgehend darüber, daß unterschiedlich anwendbare und somit schon formal diskriminierende Maßnahmen nach Art. 30 EGV gerechtfertigt sein können. Unterschiedslos anwendbaren Maßnahmen, die in- und 83

Vgl. Ehlers-Epiney, S. 202 f., Rn. 56.

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3. Kap.: Entstehung, Verletzung und Schranken der Handlungspflichten

ausländische Waren formal gleich behandeln und darüber hinaus gleich wirken, stehen die ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe und erst recht die geschriebenen Rechtfertigungsgründe gem. Art. 30 EGV zur Verfügung. Unstimmigkeit herrscht bezüglich unterschiedslos anwendbarer Maßnahmen, die sich de facto aber diskriminierend auswirken. Dies wirft die entscheidende Frage auf, ob es für eine Anwendbarkeit der geschriebenen und ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe lediglich auf die formale Gleichbehandlung, sprich unterschiedslose Anwendung, oder aber auf die tatsächliche Wirkung der Maßnahme ankommt. Stimmen in der Literatur und insbesondere der EuGH bieten diesbezüglich aufgrund unklarer Wortwahl und konturloser Rechtsprechung mehrere Lösungsmöglichkeiten an. Diese unterschiedlichen Lösungsansätze werden nachfolgend dargestellt, um anschließend ihre Tauglichkeit für ein Nichteinschreiten eines Mitgliedstaates bei privaten Beeinträchtigungen zu untersuchen. 1. Die Entscheidung Cassis de Dijon und die Folgerechtsprechung des EuGH a) Die Entscheidung Cassis de Dijon In der Cassis-Entscheidung manifestierte sich – nach Dassonville84 – eine Auslegung des Art. 28 EGV als Beschränkungsverbot. Der EuGH stellte fest, daß auch eine unterschiedslos anwendbare Maßnahme mit Art. 28 EGV unvereinbar ist, wenn sie geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel zu behindern. Gleichzeitig erkannte der Gerichtshof aber an, daß diese nicht als Maßnahme gleicher Wirkung zu qualifizieren sei, wenn sie aus zwingenden Erfordernissen des Allgemeinwohls erforderlich ist85. Die Cassis-Entscheidung ist dahingehend zu verstehen, daß bei formaler Gleichbehandlung einheimischer und importierter Waren, trotz diskriminierender Wirkung, der Anwendungsbereich der zwingenden Erfordernisse eröffnet ist. Die Entscheidung war der erste Fall, in dem der EuGH über eine Vorschrift zu befinden hatte, die unterschiedslos für heimische wie importierte Waren galt86. Ausdrücklich angesprochen wurde die Voraussetzung der unterschiedslosen Anwendbarkeit einer Maßnahme nicht. Lediglich die der Entscheidung zugrundeliegende Fallkonstellation deutet auf diese Anwendungsvoraussetzung hin. Erstmalig

84 85 86

EuGH Rs. 8/74, Slg. 1974, S. 837 (852), Rn. 5 – Dassonville. EuGH Rs. 120/78, Slg. 1979, S. 649 (662), Rn. 8 – REWE. Ahlfeld, S. 72 f.

C. Schranken mitgliedstaatlicher Handlungspflichten

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und ausdrücklich ergänzt um das Kriterium der unterschiedslosen Anwendbarkeit wurde die Cassis-Formel in der Entscheidung Rau87. b) Folgerechtsprechung In der Folgerechtsprechung finden sich zahlreiche Urteile, in denen der EuGH eine unterschiedslos anwendbare Maßnahme im Sinne einer diskriminierungsfreien Maßnahme interpretiert und Maßnahmen mit de facto diskriminierender Wirkung am Maßstab des Art. 30 EGV mißt. In den Rechtssachen Schutzverband gegen Unwesen i. d.88, Kohl89, Leclerc90, Cullet91, Wurmser92, Aragonesa93 bejaht der EuGH eine unterschiedslos anwendbare Maßnahme, prüft aber unter Hinweis auf den tatsächlich diskriminierenden Charakter der Maßnahmen lediglich eine Rechtfertigungsmöglichkeit gem. Art. 30 EGV. In der Rechtssache Pistre geht der EuGH sogar ohne Stellungnahme zu der an sich unterschiedslos anwendbaren Maßnahme davon aus, daß eine nationale Regelung angesichts ihres diskriminierenden Charakters nur dann gerechtfertigt sein könne, wenn einer der in Art. 30 EGV normierten Gründe vorliege94. Insoweit drängt sich der Eindruck auf, daß der EuGH – entgegen der Fallkonstellation in der Cassis-Entscheidung – unter einer unterschiedslos anwendbaren Maßnahme eine diskriminierungsfrei wirkende Maßnahme versteht. Für die Unterscheidung zwischen den Rechtfertigungsgründen gem. Art. 30 EGV und den zwingenden Erfordernissen käme es somit auf die tatsächliche Wirkung, nicht hingegen auf die formale Anwendbarkeit der Maßnahme an. Im Gegensatz dazu prüfte der EuGH in den Entscheidungen Reinheitsgebot für Bier95 und Prantl96 eine unterschiedslos anwendbare, aber de facto diskriminierende Maßnahme am Maßstab der ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe. Die Rechtssache De Agostini ergänzt das bislang noch zweigleisige Anwendungsmuster des EuGH um ein drittes. In diesem Fall entschied der Gerichtshof, 87 88 89 90 91 92 93

nesa.

EuGH Rs. 261/81, Slg. 1982, S. 3961 (3972), Rn. 12 – Rau. EuGH Rs. 59/82, Slg. 1983, S. 1217 (1227), Rn. 11 – Schutzverband gegen Unwesen. EuGH Rs. 177/83, Slg. 1984, S. 3651 (3663), Rn. 15, 19 – Th. Kohl KG. EuGH Rs. 229/83, Slg. 1985, S. 1 (35), Rn. 26, 29 – Leclerc u. a. EuGH Rs. 231/83, Slg. 1985, S. 305 (324), Rn. 30, 31 – Cullet. EuGH Rs. 25/88, Slg. 1989, S. 1105 (1128), Rn.11 – Strafverfahren gegen Wurmser. EuGH verb. Rs. C-1/90 und C-176/90, Slg. 1991, S. 4151 (4184), Rn. 12 f. – Arago-

94 EuGH verb. Rs. C-321/94, C-322/94, C-323/94 und C-324/94, Slg. 1997, S. 2343 (2376), Rn. 52 – Strafverfahren gegen Pistre u. a. 95 EuGH Rs. 178/84, Slg. 1987, S. 1227 (1270), Rn. 28 – Kommission/Deutschland. 96 EuGH Rs. 16/83, Slg. 1984, S. 1299 (1327), Rn. 24 ff. – Prantl.

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daß eine sowohl formell als auch materiell diskriminierende Maßnahme am Maßstab der ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe zu messen sei97. Ähnlich wurde in der Rechtssache Kommission/Belgien, dem sogenannten „Abfallurteil“, entschieden. Dort überprüfte der Gerichtshof das wallonische Abfalleinfuhrverbot am Maßstab der ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe. Das Verbot war allerdings unterschiedlich auf einheimische und eingeführte Erzeugnisse anwendbar und somit schon formell diskriminierend. Ein Rückgriff auf das zwingende Erfordernis des Umweltschutzes wäre nicht möglich gewesen. Der EuGH umging diese an sich konsequente Schlußfolgerung, indem er ausführte, daß es Sache jeder Region sei, für die Beseitigung der Abfälle zu sorgen. Daher sei eine Differenzierung zwischen den Abfällen je nach dem Ort ihrer Erzeugung nicht als diskriminierend anzusehen98. Die formelle Diskriminierung wurde somit ergebnisorientiert „weginterpretiert“. Diese Vorstufe zur Konvergenz der Schranken wurde im Urteil PreussenElektra vollendet. Dort übersprang der Gerichtshof den mühevollen Umweg der Umwandlung einer unterschiedlichen in eine unterschiedslos anwendbare Maßnahme und bejahte ohne Umschweife für eine unterschiedlich anwendbare Maßnahme und damit formell und materiell diskriminierende Maßnahme, das zwingende Erfordernis des Umweltschutzes99. Die Entscheidung Kommission/Frankreich, das bislang einzige Urteil des EuGH, bei dem eine Rechtfertigung eines Mitgliedstaates für ein Unterlassen im Raum stand, bietet leider keine Anhaltspunkte für die zu prüfende Rechtfertigungssystematik. Der Gerichtshof geht lediglich auf den, in diesem Fall nicht einschlägigen Rechtfertigungsgrund der öffentlichen Ordnung ein, ohne diesen systematisch zuzuordnen oder dessen Anwendungsvoraussetzungen näher zu erläutern100. c) Fazit Der EuGH bietet innerhalb seiner Judikatur drei unterschiedliche Lösungsmöglichkeiten für die Anwendbarkeit der geschriebenen und ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe an. Es gibt Entscheidungen, in denen er auf die formale Gleichbehandlung, also die unterschiedslose Anwendbarkeit einer Maßnahme abstellt. Demgegenüber hat er in zahlreichen Fällen, unabhängig von der Anwendbarkeit der Maßnahme, auf die diskriminierende Wirkung derselben abgestellt.

97 EuGH verb. Rs. C-34/95 und C-36/95, Slg. 1997, S. I-3843 (3891), Rn. 45 – De Agostini. 98 EuGH Rs. C-2/90, Slg. 1992, S. I-4431 (4479), Rn. 33 ff. – Kommission/Belgien. 99 Vgl. EuGH Rs. C-379/98, Slg. 2001, S- I-2099 (2185), Rn. 72 f. – PreussenElektra. 100 Vgl. EuGH Rs. C-265/95, Slg. 1997, S. I-6959 (7003), Rn. 56 – Kommission/Frankreich.

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In jüngerer Zeit ist indessen eine eindeutige Tendenz zu einem einheitlichen Rechtfertigungsmaßstab zu erkennen. Auch für formal diskriminierende Maßnahmen soll der ungeschriebene Rechtfertigungskatalog der zwingenden Erfordernisse gelten. 2. Literaturansichten Die Ansichten in der Literatur, die auf eine notwendige Differenzierung zwischen der Anwendbarkeit einer Maßnahme und Wirkung einer Maßnahme hinweisen, teilen sich entsprechend der Entwicklung der Judikatur des Gerichtshofes in drei Lager. a) Option 1: Unterscheidung nach formaler Diskriminierung Ein Teil der Literatur unterscheidet danach, ob die staatliche Maßnahme unterschiedlich oder unterschiedslos auf einheimische wie importierte Waren anwendbar ist. Maßgeblich für die Abgrenzung der geschriebenen und ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe sei mithin die formale Gleich- oder Ungleichbehandlung. Bei unterschiedslos anwendbaren Maßnahmen seien, unabhängig von einer tatsächlich diskriminierenden Wirkung, die ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe101 anwendbar. Bei unterschiedlich anwendbaren Maßnahmen stünden lediglich die abschließend normierten Rechtfertigungsgründe des Art. 30 EGV zur Verfügung102. Diese Ansicht steht im Einklang mit der Ausgangssituation der CassisEntscheidung. Sie wird daher mit einem entsprechenden Verweis darauf gerechtfertigt, daß eine Abgrenzung nach der Wirkung der Maßnahme dem ursprünglichen Sinngehalt der Cassis-Entscheidung gänzlich den Boden entziehen würde103. b) Option 2: Unterscheidung nach materieller Diskriminierung Demgegenüber wird vereinzelt nach der tatsächlich diskriminierenden Wirkung der Maßnahme unterschieden. Unterschiedlich sowie unterschiedslos anwendbare Maßnahmen unterfielen dem Rechtfertigungskatalog des Art. 30 EGV, sofern sie diskriminierend wirkten. Lediglich diskriminierungsfreien Maßnahmen stünden die 101 Darüber hinaus sind entsprechend eines Erst-Recht-Schlusses auch die geschriebenen Rechtfertigungsgründe gem. Art. 30 EGV einschlägig. 102 Vgl. Gundel, JURA 2001, S. 79 (85); Gundel, ZUM 1998, S. 1002 (1004 ff.); Hesselhaus, EuZW 646 (647); Schütz, JURA 1998, S. 631 (641); Oppermann, Rn. 1299 f.; vermittelnd G/T/E-Müller-Graff, Art. 30, Rn. 196, der einer unterschiedslos anwendbaren aber diskriminierend wirkenden Maßnahme dann die Rechtfertigung nach den ungeschriebenen Rechtfertigungsgründen verwehrt, wenn die faktische Diskriminierung bezweckt wurde. 103 Vgl. Gundel, JURA 2001, S. 79 (83).

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3. Kap.: Entstehung, Verletzung und Schranken der Handlungspflichten

ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe zur Verfügung. Begründet wird diese Ansicht mit dem Hinweis, daß eine durch formale Gleichbehandlung getarnte Diskriminierung nicht in den Genuß der erweiterbaren ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe kommen dürfe104. c) Option 3: Konvergenz der Schranken Ein zunehmend größer werdender Teil der jüngeren Literatur vertritt die Ansicht, daß die unterschiedlichen Anwendungsvoraussetzungen der geschriebenen und ungeschriebenen Rechtfertigungsinstitute vollständig aufzugeben seien. Die ungeschriebenen wie auch die geschriebenen Rechtfertigungsgründe seien gleichermaßen sowohl für unterschiedlich anwendbare als auch für unterschiedslos anwendbare, aber zugleich diskriminierend wirkende Maßnahmen anwendbar105. Denn für diskriminierende Regelungen bestehe zum einen ein ebenso großes Bedürfnis nach einer Rechtfertigungsmöglichkeit auf Grundlage der ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe. Insbesondere die Entscheidung PreussenElektra zeige – trotz aller verbleibender Unklarheiten der Prüfungsstruktur – die begrüßenswerte Konvergenz der geschriebenen und ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe106. IV. Übertragungsmöglichkeiten der Optionen auf ein Unterlassen eines Mitgliedstaates 1. Option 1: Unterscheidung nach formaler Diskriminierung Soll bei einem Unterlassen eines Mitgliedstaates für die Anwendbarkeit der geschriebenen und ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe nach der formalen Diskriminierung unterschieden werden, so ist zunächst die Hürde zu überwinden, wie man bei einem Unterlassen eine formal unterschiedlich oder unterschiedslos anwendbare Maßnahme charakterisiert. Denn eine unterschiedliche oder unterschiedslose Anwendbarkeit eines Unterlassens ist sowohl begrifflich als auch praktisch nicht vorstellbar. Ein Unterlassen ist nicht „anwendbar“ im Sinne der Anwendbarkeit einer Maßnahme. Der Begriff der Anwendbarkeit ist sinnlogisch auf ein aktives Handeln zugeschnitten. Ein 104

So Kingreen, S. 120. Weiß, EuZW 1999, S. 493 (496 f.); Calliess/Ruffert-Epiney, Art. 30, Rn. 3; EhlersEpiney, S. 203, Rn. 56; Fischer/Köck, Europarecht, S. 480; Koenig/Haratsch, Rn. 511; Koenig/Kühling, NVwZ 2001, S. 768 (770); andeutend Nowak/Schnitzler, EuZW 2000, S. 627 (631), der eine Gleichstellung für den Fall weitere Unstimmigkeiten in der Judikatur fordert; Nowak, DB 1997, S. 2589 (2593); diese Forderung stellt aus Rechtssicherheitserwägungen ebenfalls Steinberg, EuGRZ 2002, S. 13 (24). 106 Koenig/Kühling, NVwZ 2001, S. 768 (770). 105

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Unterlassen hingegen kann lediglich Auswirkungen haben und in diesem Sinne unterschiedlich auf einheimische und importierte Waren wirken. Deutet man daher eine unterschiedslos anwendbare Maßnahme im Bereich des Unterlassens als unterschiedslos wirkende Maßnahme, so gelangt man direkt zu der Ansicht (Option 2), die lediglich auf die Wirkung einer Maßnahme abstellt. Die Ansicht, die nach formalen Kriterien und gerade nicht nach der Wirkung der Maßnahme unterscheiden will (Option 1), wäre in diesem Fall obsolet. Die einzig ersichtliche Möglichkeit, nach anderen Kriterien, als der materiellen Wirkung des Unterlassens zu unterscheiden, ist die Intention des Unterlassens. Die Abgrenzung zwischen den geschriebenen und ungeschriebenen Rechtfertigungsgründen würde sich daran messen, ob durch das Unterlassen eine Diskriminierung bezweckt wird. Die ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe wären demnach dann anwendbar, wenn die Diskriminierung als solche nicht vom Staat bezweckt war, ein Unterlassen aber aufgrund zwingender Erfordernisse erforderlich erschien. Artikel 30 EGV wäre einschlägig, wenn das Unterlassen um der Diskriminierung willen erfolgte. Ein derartiger Ansatz steht indes offensichtlich im Widerspruch zu Art. 30 EGV. Artikel 30 S. 1 EGV erfordert keine Benachteiligungsabsicht der Diskriminierung. Derart protektionistische Absichten werden, dem Sinn und Zweck des Art. 30 S. 2 EGV entsprechend, nicht von Art. 30 EGV geschützt. Die Gleichstellung einer unterschiedlich anwendbaren Maßnahme für aktives Handeln mit einem Bezwecken der Diskriminierung im Falle eines Unterlassens liefert folglich keine brauchbare Lösung. 2. Option 2: Unterscheidung nach materieller Diskriminierung Entsprechend der Ansicht, die die Abgrenzung der Rechtfertigungsgründe anhand der Wirkung der staatlichen Maßnahme vornimmt, wäre Art. 30 EGV immer dann anwendbar, wenn sich das Nichteinschreiten des Staates tatsächlich diskriminierend auswirkt. Die ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe kämen nur dann zur Anwendung, wenn das Nichteinschreiten gegen private Maßnahmen unterschiedslos für importierte wie für einheimische Waren wirkt, also frei von jeglicher Diskriminierung ist. Ein Nichteinschreiten des Staates gegen private Beeinträchtigungen wird sich in der Regel unterschiedlich auswirken, es sei denn, sowohl für einheimische Waren als auch für ausländische Waren besteht eine absolute Marktabschottung. Stellt man sich daher auf den Standpunkt, daß die ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe nicht einschlägig sind, sofern das Unterlassen eine diskriminierende Wirkung nach sich zieht, so wären diese kaum anwendbar. Der nichteinschreitende Mitgliedstaat könnte sich nur auf den abschließend geregelten Art. 30 EGV berufen. Die vom EuGH entwickelten erweiterbaren Rechtfertigungsgründe aufgrund

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zwingender Erfordernisse hätten in diesem Fall ihre Bedeutung verloren. Genauso wie für aktive Maßnahmen besteht aber auch für ein Unterlassen eines Mitgliedstaates das Bedürfnis, vom Gemeinschaftsrecht akzeptierte zwingende Erfordernisse flexibel berücksichtigen zu können. Gerade in Fällen, in denen Privatpersonen handeln, kann es zu Interessenkonflikten führen, die der betreffende Mitgliedstaat, auch bei einer etwaigen diskriminierenden Wirkung seines Nichteinschreitens, berücksichtigen muß. Die Cassis-Rechtsprechung sollte daher für ein Unterlassen nicht unterlaufen werden und die Rechtfertigung für ein Nichteinschreiten nicht restaurativ auf die abschließenden, nicht ergänzungsfähigen Gründe beschränkt werden. 3. Option 3: Konvergenz der Schranken Die für aktive Maßnahmen kontrovers diskutierte Möglichkeit, nach der formalen Diskriminierung zu unterscheiden, ist auf den Bereich des Unterlassens nicht übertragbar. Eine Unterscheidung nach der diskriminierenden Wirkung ist zum einen nicht sinnvoll und hebelt zum anderen die Grundintention der Cassis-Rechtsprechung aus, zwingende Erfordernisse der Mitgliedstaaten flexibel berücksichtigen zu können. Daher ist für die Rechtfertigung eines mitgliedstaatlichen Unterlassens der Begriff der Diskriminierung in formeller und materieller Hinsicht aufzugeben. Artikel 28 i. V. m. Art. 10 Abs. 1 S. 1 EGV ist somit auch auf Rechtfertigungsebene als reines Beschränkungsverbot anzusehen, dessen Rechtfertigung – unabhängig von der Differenzierung nach einer formalen Diskriminierung oder diskriminierenden Wirkung – möglich ist. Eine Abgrenzung des Art. 30 EGV von den zwingenden Erfordernissen wird somit zumindest im Bereich des Unterlassens hinfällig. Dem nicht einschreitenden Mitgliedstaat stehen, soweit er die inhaltlichen Voraussetzungen einer Rechtfertigung geltend machen kann, sowohl die geschriebenen als auch die ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe nebeneinander zur Verfügung. V. Relevante Schranken im einzelnen Die nachfolgenden Ausführungen befassen sich mit speziell ausgewählten Rechtfertigungsgründen, die für eine mitgliedstaatliche Handlungspflicht gem. Art. 28 i. V. m. Art. 10 Abs. 1 S. 1 EGV von vornehmlicher Bedeutung sind, namentlich die öffentliche Ordnung (1.) und die Ausübung verfassungsmäßig garantierter Grundrechte der privaten Störer (2.). 1. Störungen der öffentlichen Ordnung Die öffentliche Ordnung ist ausdrücklich in Art. 30 S. 1 EGV als Rechtfertigungsgrund für Beschränkungen des freien Warenverkehrs niedergelegt.

C. Schranken mitgliedstaatlicher Handlungspflichten

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Angesichts des geringen Bezuges der öffentlichen Ordnung zu den Bestimmungen des freien Warenverkehrs in dessen abwehrrechtlicher Dimension107 hat sich der EuGH bislang jedoch kaum mit diesem Rechtfertigungsgrund befaßt. Erhöhte praktische Relevanz erlangt die öffentliche Ordnung nunmehr für Beeinträchtigungen des freien Warenverkehrs in dessen schutzrechtlicher Funktion im Sinne des Art. 28 i. V. m. Art. 10 Abs. 1 S. 1 EGV. Denn fraglich ist, ob der von einer Beeinträchtigung des freien Warenverkehrs betroffene Mitgliedstaat von einem Einschreiten gegen die privaten Verursacher absehen kann, um eskalierende innerstaatliche Unruhen und schwerwiegende wirtschaftliche Probleme, die zu einer Gefahr oder gar Störung der öffentlichen Ordnung in seinem Hoheitsgebiet führen, zu verhindern. So rechtfertigte auch die Republik Frankreich, in der Leitentscheidung des EuGH zur Problematik mitgliedstaatlicher Handlungspflichten, ihr unzureichendes Einschreiten gegen die privaten Beeinträchtigungen des freien Warenverkehrs damit, daß „die Lage der französischen Landwirte so schwierig gewesen sei, daß Anlaß zur Befürchtung bestanden habe, bei entschiedenerem Vorgehen der zuständigen Behörden hätte es zu gewalttätigen Reaktionen der betroffenen Wirtschaftsteilnehmer, verbunden mit noch schwereren Angriffen auf die öffentliche Ordnung oder gar sozialen Unruhen, kommen können“108. In der Literatur wird der Begriff der öffentlichen Ordnung allgemein als europäischer Rahmenbegriff109 verstanden, der diejenigen hoheitlichen Grundregeln umfaßt, welche die wesentlichen Grundinteressen eines Staates berühren110. Diese Definition lehnt sich an die Rechtsprechung des EuGH zu dem Begriff der öffentlichen Ordnung innerhalb der Arbeitnehmerfreizügigkeit gem. Art. 39 Abs. 3 EGV an111. Die Judikatur des Gerichtshofes zur öffentlichen Ordnung gem. Art. 30 S. 1 EGV liefert indessen keine verläßliche Definition, sondern vielmehr eine pragmatische Handhabe, bestimmte Schutzgüter dem Begriff zuzuordnen112 oder aber zu verschließen113. 107

Vgl. Grabitz/Hilf-Leible, Art. 30, Rn. 12. EuGH Rs. C-265/95, Slg. 1997, S. I-6959 (7003), Rn. 54 – Kommission/Frankreich. 109 Vgl. dazu G/T/E-Müller-Graff, Art. 36, Rn. 51; Kingreen, S. 159; Schneider, S. 70 ff. m. w. N. 110 Vgl. Ehlers-Epiney, S. 207, Rn. 69; Schweitzer/Hummer, Rn. 1129; Streinz, Rn. 734; Schwarze-Becker, Art. 30, Rn. 11; Schneider, S. 26 ff., 113 ff. Die öffentliche Sicherheit – als Teilbereich der öffentlichen Ordnung (vgl. dazu Ehlers-Epiney, S. 207, Rn. 69) – betrifft die Aufrechterhaltung der Existenz des Staates, vgl. dazu EuGH Rs. 72/83, Slg. 1984, S. 2727 (2751), Rn. 34 – Campus Oil Limited u. a.; EuGH Rs. C-398/98, Slg. 2001, S. I-7915 (7941), Rn. 29 – Kommission/Griechenland; Schwarze-Becker, Art. 30, Rn. 12. 111 Vgl. EuGH Rs. 30/77, Slg. 1977, S. 1999 (2013), Rn. 33/5 – Boucherau. 112 Vgl. die positive Zuordnung des Münzrechts als Teil der öffentlichen Ordnung in EuGH Rs. 7/78, Slg. 1978, S. 2247 (2275 f.), Rn. 32 f. – Strafverfahren gegen Thompson. 113 So zieht sich der Gerichtshof beispielsweise auf folgende Aussagen zurück: „wie auch immer der Begriff der öffentlichen Ordnung auszulegen ist, er kann nicht so weit 108

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3. Kap.: Entstehung, Verletzung und Schranken der Handlungspflichten

Auszuschließen von einem wesentlichen Grundinteresse eines Mitgliedstaates im Sinne der öffentlichen Ordnung ist dabei grundsätzlich die wirtschaftliche Lage eines Mitgliedstaates. Denn sowohl den Rechtfertigungsgründen des Art. 30 S. 1 EGV als auch den Cassis-Rechtfertigungsgründen ist gemein, daß sie keine Klauseln zur Verfolgung wirtschaftlicher Interessen darstellen, die es einem Mitgliedstaat ermöglichen, mittels einer Beschränkung des freien Warenverkehrs wirtschaftliche Nachteile abzuwenden114. Auch interne Schwierigkeiten, wie soziale Unruhen, vermögen ebenfalls nicht die inkorrekte Anwendung des Gemeinschaftsrechts eines Mitgliedstaates unter Berufung auf die öffentliche Ordnung zu rechtfertigen115. Den Ausführungen des Gerichtshofes in der Rechtssache Kommission/Frankreich ist jedoch zu entnehmen, daß ein Nichteinschreiten eines Mitgliedstaates gegen Beeinträchtigungen des freien Warenverkehrs im Einzelfall dann gerechtfertigt sein kann, wenn sein Einschreiten „Folgen für die öffentliche Ordnung hätte, die er mit seinen Mitteln nicht mehr bewältigen kann“116. Daraus kann gefolgert werden, daß jegliche innerstaatliche Störungen der öffentlichen Ordnung, auch wenn sie auf wirtschaftlichen Problemen beruhen, dann den Rechtfertigungsgrund der öffentlichen Ordnung gem. Art. 30 S. 1 EGV erfüllen, wenn ihr Ausmaß für den Staat mit derart „unüberwindbaren Schwierigkeiten“117 verbunden ist, die die Grenze seiner Bewältigungsmöglichkeiten überschreiten118. In einem solchen Fall erscheint es sachgerecht, den betroffenen Mitgliedstaat aus seiner Pflicht zu entlassen, geeignete und angemessene Maßnahmen zu ergreifen, um den Grundsatz des freien Warenverkehrs zu gewährleisten.

gefaßt werden, daß er Erwägungen des Verbraucherschutzes mit einschließt“, vgl. EuGH Rs. 177/83, Slg. 1983, S. 3651 (3663), Rn. 19 – Th. Kohl KWG. 114 Vgl. EuGH Rs. 7/6, Slg. 1961, S. 693 (720) – Kommission/Italien; EuGH Rs. 238/82, Slg. 1984, S. 523 (542), Rn. 23 – Duphahr BV u. a.; EuGH Rs. C-120/95, Slg. 1998, S. I-1831 (1884), Rn. 39 – Decker; Grabitz/Hilf-Leible, Art. 30, Rn. 3; Calliess/RuffertEpiney, Art. 30, Rn. 13 f.; Schneider, S. 124 ff. 115 Vgl. bereits EuGH Rs. C-52/95, Slg. 1995, S. I-4443 (4468), Rn. 38 – Kommission/ Frankreich; nunmehr bestätigt in EuGH Rs. C- 265/95, Slg. 1997, S. I-6959 (7003), Rn. 55 – Kommission/Frankreich. 116 EuGH Rs. C-265/95, Slg. 1997, S. I-6959 (7003), Rn. 56 – Kommission/Frankreich; vgl. in diese Richtung weisend auch bereits EuGH Rs. C-128/89, Slg. 1990, S. I-3239 (3262), Rn. 22 – Kommission/Italien; EuGH Rs. C- 426/92, Slg. 1994, S. I-2757 (2781), Rn. 39 – Bundesrepublik Deutschland/Deutsches Milch-Kontor. 117 Vgl. in diesem Sinne die Ausführungen von Generalanwalt Fennelly, EuGH Rs. C-52/95, Slg. 1995, S. I-4443 (4455 f.), Rn. 32 – Kommission/Frankreich. 118 Die Beweislast liegt in diesem Fall bei dem betroffenen Mitgliedstaat, vgl. EuGH Rs. 251/78, Slg. 1979, S. 3369 (3392), Rn. 24 – Fa. Denkavit Futtermittel GmbH; vgl. allgemein zur Beweislastverteilung Baumhof, S. 146 ff. m. w. N.

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2. Grundrechte Typisches und notwendiges Instrument zur Durchsetzung der Handlungspflicht gem. Art. 28 i. V. m. Art. 10 Abs. 1 S. 1 EGV ist ein Einschreiten des betroffenen Mitgliedstaates gegen den oder die privaten Urheber der Beeinträchtigung des freien Warenverkehrs. Die mitgliedstaatliche Handlungspflicht hat daher eine ambivalente Wirkung. Sie sichert zwar auf der einen Seite den freien Warenverkehr, belastet jedoch auf der anderen Seite den privaten Störer, indem dessen Verhalten unterbunden wird. Die Umsetzung der gemeinschaftsrechtlich normierten Handlungspflicht und der diesbezüglichen Verpflichtung zur Gemeinschaftstreue kann den Staat aber nicht von seiner Pflicht entbinden, daß sämtliches Handeln verfassungsrechtlich verankerten Anforderungen, insbesondere der Beachtung der Grundrechte seiner nationalen Verfassung zu genügen hat119. Relevant werden dabei Grundrechte der Störer in ihrer abwehrrechtlichen Dimension. Besondere Bedeutung erlangt in diesem Zusammenhang, am Beispiel der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland, das Streikrecht, welches innerhalb der Vereinigungsfreiheit gem. Art. 9 GG über dessen Wortlaut hinaus garantiert wird120, die Versammlungsfreiheit gem. Art. 8 GG, die Meinungsfreiheit gem. Art. 5 GG sowie die allgemeine Handlungsfreiheit gem. Art. 2 Abs. 1 GG. In der Entscheidung Kommission/Frankreich ist die Frage, ob Grundrechtsausübungen Privater ein Nichteinschreiten eines Mitgliedstaates gegen Beeinträchtigungen einer Grundfreiheit rechtfertigen können, weder entschieden noch im Rahmen eines obiter dictum erörtert worden. Die Entscheidung hatte gewalttätige Ausschreitungen der französischen Bauern zum Gegenstand. Eine Berücksichtigung der Grundrechte kam daher offensichtlich und zu Recht nicht in Betracht und wurde auch von der Republik Frankreich von vornherein nicht angeführt. Insofern vermag eine in der Literatur vertretene Ansicht, die Pflicht eines Mitgliedstaates zum Einschreiten gegen private Störer basiere ausschließlich auf einer Abwägung zwischen Grundrechten und der jeweilig zu schützenden Grundfreiheit121, nicht zu überzeugen. Denn Fallkonstellationen ohne grundrechtliche Relevanz entbehren einer Konfliktlage zwischen Grundrechten und dem Grundsatz des freien Warenverkehrs und damit eines notwendigen Ausgleichs zwischen beiden Rechtsgütern122. In derartigen Fällen, ohne grundrechtliche Implikationen, bemißt sich die mitgliedstaatlicher Handlungspflicht daher allein nach den oben herausgearbeiteten Voraussetzungen.

119 120 121

(215). 122

Vgl. für das deutsche Verfassungsrecht nur Art. 1 Abs. 3 GG. Vgl. BVerfGE 84, 212 (225); Mosler/Bernhard-Dolzer, Bd. 2, S. 1255 (1259). So Schindler, S. 198; ihm jüngst folgend Kadelbach/Petersen, EuGRZ 2002, S. 213 Vgl. zutreffend Frenz, EuR 2002, S. 603 (604).

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3. Kap.: Entstehung, Verletzung und Schranken der Handlungspflichten

Beruhen von privater Seite aus initiierte Beeinträchtigungen des freien Warenverkehrs indessen auf einer rechtmäßigen Ausübung von Grundrechten, dann stellt sich die Frage nach einer dementsprechenden Schranke der mitgliedstaatlichen Handlungspflicht gem. Art. 28 i. V. m. Art. 10 Abs. 1 S. 1 EGV. Zu dieser Frage hat der EuGH jüngst in dem Vorabentscheidungsverfahren Schmidberger Stellung bezogen123. In diesem Verfahren ging es im wesentlichen um die Frage, ob die Republik Österreich durch die Nichtuntersagung einer Versammlung auf der Brennerautobahn gegen ihre Handlungspflicht zur Sicherung des freien Warenverkehrs verstoßen hat und daher den betroffenen Wirtschaftsteilnehmern gegenüber zum Schadensersatz verpflichtet ist. Die Republik Österreich machte diesbezüglich geltend, daß sie nach Abwägung der widerstreitenden Belange zu dem Ergebnis gelangt sei, daß das unveräußerliche Recht der demokratischen Versammlungsfreiheit in diesem Fall von den Versammlungsteilnehmern ausgeübt werden könne und dies keine ernsthafte oder dauerhafte Störung des freien Warenverkehrs mit sich gebracht habe124. Der EuGH führte aus, daß Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze innerhalb der Gemeinschaftsrechtsordnung anerkannt und sowohl von der Gemeinschaft als auch von den Mitgliedstaaten zu beachten seien. Daher seien diese auch grundsätzlich geeignet, eine Beschränkung von Verpflichtungen zu rechtfertigen, die nach dem Gemeinschaftsrecht, auch kraft einer durch den Vertrag gewährleisteten Grundfreiheit wie dem freien Warenverkehr, bestehen125. Nach einer Abwägung beider widerstreitender Interessen kam der Gerichtshof sodann zu dem Schluß, daß das Nichteinschreiten der österreichischen Behörden nicht gegen die ihnen obliegende Handlungspflicht gem. Art. 28, 29 i. V. m. Art. 10 Abs. 1 S. 1 EGV verstieß126. Der EuGH hat somit im Ergebnis die Notwendigkeit der Ausübung grundrechtlicher Rechtspositionen als Rechtfertigung für ein Nichteinschreiten eines Mitgliedstaates anerkannt. Innerhalb seiner Begründung bleibt jedoch weiterhin unklar, auf welcher dogmatischen Rechtsgrundlage die Berücksichtigung grundrechtlicher Interessen beruht. Darüber hinaus bleibt fraglich, ob sich diese Rechtfertigungsmöglichkeit ausschließlich auf die Ausübung eines Gemeinschaftsgrundrechts oder aber auch auf die eines nationalen Grundrechts der jeweiligen mitgliedstaatlichen Verfassungen bezieht. Ziel der folgenden Ausführungen ist die Klärung der Frage, ob, auf welcher Grundlage und unter welchen Voraussetzungen sich ein Mitgliedstaat bei privat 123

Vgl EuGH Rs. C-112/00, Slg. 2003, S. I-5694 – Schmidberger. Vgl. den Sitzungsbericht zur Vorbereitung auf die mündliche Verhandlung am 12. März 2002 – Rs. C-112/00, abgedruckt in EuGRZ 2002, S. 292 (296). 125 Vgl. EuGH Rs. C-112/00, Slg. 2003, S. I-5694 (5718), Rn. 74 – Schmidberger. 126 Vgl. EuGH Rs. C-112/00, Slg. 2003, S. I-5694 (5720), Rn. 81 ff. – Schmidberger. 124

C. Schranken mitgliedstaatlicher Handlungspflichten

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initiierten Beschränkungen des freien Warenverkehrs zur Rechtfertigung seines Unterlassens auf Grundrechtsausübungen Privater berufen kann. a) Grundrechte als zwingende Erfordernisse Dogmatisches Einfallstor für die Berücksichtigung grundrechtlicher Positionen, im Rahmen der mitgliedstaatlichen Handlungspflicht gem. Art. 28 i. V. m. Art. 10 Abs. 1 S. 1 EGV, sind die zwingenden Erfordernisse des Art. 28 EGV. In der Entscheidung Cassis de Dijon legte der EuGH den Grundstein zur Erweiterungsmöglichkeit der zwingenden Erfordernisse, indem er ausführte, daß „Hemmnisse für den Binnenhandel der Gemeinschaft […] hingenommen werden müssen, um zwingenden Erfordernissen gerecht zu werden, insbesondere127 den Erfordernissen einer steuerlichen Kontrolle […]“128. Die Cassis-Rechtfertigungsgründe können somit aufgrund ihrer nichtabschließenden Aufzählung um aktuelle Gesichtspunkte erweitert werden, um zwingend notwendigen Interessen der Mitgliedstaaten gerecht zu werden. Insoweit handelt es sich um einen offenen Begriff, der den Entwicklungen des Gemeinschaftsrechts flexibel angepaßt werden kann129. Zwingenden Charakter hat ein nationales Interesse in diesem Zusammenhang dann, wenn es von derart großer Bedeutung ist, daß sich das Gemeinschaftsrecht dessen Anerkennung nicht verweigern kann130. Bereits in der Rechtssache Bosman sah Generalanwalt Lenz die Vereinigungsfreiheit der Sportverbände grundsätzlich als geeignet an, diese unter das Merkmal der zwingenden Erfordernisse zu subsumieren131. In der Entscheidung Familiapress ordnete der EuGH das von Österreich geltend gemachte grundrechtlich verbürgte Interesse an der Aufrechterhaltung der Medienvielfalt ebenfalls den zwingenden Erfordernissen des Art. 28 EGV zu132. Vom Ergebnis her wird kaum bestritten werden können, daß ein Mitgliedstaat bei der Durchsetzung des freien Warenverkehrs die rechtmäßige Ausübung von Grundrechten seiner Bürger berücksichtigen „darf“. Vielmehr ist er dazu verpflichtet, denn die Gewährleistung von Grundrechten ist von derart grundlegender Bedeutung, daß sich auch das Gemeinschaftsrecht diesem Interesse nicht entziehen kann.

127

Hervorhebung der Verfasserin. EuGH Rs. 120/78, Slg. 1979, S. 649 (662), Rn. 8 – REWE. 129 Vgl. Schwarze-Becker, Art. 30, Rn. 36; G/T/E-Müller-Graff, Art. 30, Rn. 203. 130 Vgl. Ahlfeld, S. 270. 131 Vgl. die Schlußanträge von Generalanwalt Lenz, EuGH, Rs. C-41/93, S. I-4921 (5013), Rn. 216 – Bosman. 132 Vgl. EuGH Rs. C-368/95, Slg. 1997, S. I-3689 (3715), Rn. 18 – Familiapress. 128

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3. Kap.: Entstehung, Verletzung und Schranken der Handlungspflichten

aa) Nationale Grundrechte als „gemeinschaftsrechtlich anerkannte Ziele“? Fraglich ist allerdings, ob Grundrechte ausschließlich am Maßstab der jeweiligen nationalen Verfassungen als zwingende Erfordernisse anerkannt werden können. Problematisch erscheint nämlich, daß eine Berufung der Mitgliedstaaten auf ihre jeweiligen verfassungsmäßig verbürgten Grundrechte unter Umständen zu einer uneinheitlichen Anwendung der zwingenden Erfordernisse und damit zu einer uneinheitlichen Anwendung des Gemeinschaftsrechts führt. Denn historische, politische und soziale Gegebenheiten der einzelnen Mitgliedstaaten bedingen unterschiedliche Ausprägungen von Grundrechtsgehalten innerhalb ihrer jeweiligen Verfassungen133. Bei der Gewinnung und inhaltlichen Bestimmung „neuer“ zwingender Erfordernisse stellt der EuGH darauf ab, ob das nationale Interesse einen gemeinschaftsrechtlich anerkannten legitimen Zweck verfolgt. So hat der Gerichtshof in bestätigter Rechtsprechung klargemacht, daß es sich bei den zwingenden Erfordernissen um „wesentliche Ziele der Gemeinschaft“134 und um „nach dem Gemeinschaftsrecht gerechtfertigte Ziele“135 handeln muß136. Bei der Beurteilung, ob ein nationales Interesse ein gemeinschaftsrechtlich anerkanntes Ziel verfolgt, orientiert sich der Gerichtshof an den Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts137. Zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Gemeinschaftsrechts gehören nach ständiger Rechtsprechung die Gemeinschaftsgrundrechte, deren Wahrung dem EuGH gem. Art. 220 EGV obliegt. (1) Gemeinschaftsgrundrechte als Auslegungsstütze und -schranke Die Gemeinschaftsgrundrechte, welche sogleich im folgenden näher beleuchtet werden, könnte man somit als Rechtserkenntnisquelle und Auslegungsstütze heranziehen, um nationalen Grundrechten zu einer einheitlichen gemeinschaftsrechtlichen Anerkennung als zwingende Erfordernisse, zu verhelfen. Diesen Weg scheint auch Generalanwalt Jacobs in seinen Schlußanträgen zu der erwähnten Rechtssache Schmidberger zu gehen.

133

Vgl. zu den unterschiedlichen mitgliedstaatlichen Verfassungsausprägungen Kirchhof, EuGRZ 1994, S. 16 (18). 134 Vgl. EuGH Rs. 302/86, Slg. 1988, S. 4607 ( 4630), Rn. 8 – Kommission/Dänemark. 135 EuGH Rs. 312/89, Slg. 1991, S. I-997 (1025), Rn. 10 – Conforama u. a.; EuGH Rs. C-332/89, Slg. 1991, S. I-1027 (1040), Rn. 11 – Strafverfahren gegen Merchandise u. a. 136 Vgl. weiterführend zur Gewinnung und inhaltlicher Bestimmung zwingender Erfordernisse Ahlfeld, S. 247 ff. 137 Vgl. Ahlfeld, S. 84 ff., 247 ff.

C. Schranken mitgliedstaatlicher Handlungspflichten

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Hinsichtlich der Frage, ob nationale Grundrechte als gemeinschaftsrechtlich anerkannte Ziele eingestuft werden können, gibt er zunächst zu bedenken, daß es durchaus spezielle nationale Grundrechtspositionen geben könne, die innerhalb der Gemeinschaftsrechtsordnung nicht anerkannt sind. Unter Verweis auf Art. 11 EMRK und Art. 11 und 12 der Charta der Europäischen Union kommt er aber sodann zu dem Schluß, daß das von Österreich verfolgte Ziel gemeinschaftsrechtlich anerkannt sei und daher ein legitimes Ziel verfolge, das eine Beschränkung einer Grundfreiheit insofern zu rechtfertigen vermag, als es versuchte, die Grundrechte der Versammlungsfreiheit der Störer des freien Warenverkehrs zu schützen138. Diesen Ausführungen zufolge bieten die Gemeinschaftsgrundrechte eine Auslegungsstütze und Auslegungsschranke139 für die gemeinschaftsrechtliche Anerkennung eines nationalen Grundrechts als zwingendes Erfordernis. Im Ergebnis stellt aber das nationale Grundrecht selbst weiterhin die Schranke des freien Warenverkehrs dar. (2) Ausschließliche Geltung der Gemeinschaftsgrundrechte In der Literatur wird indessen davon ausgegangen, daß lediglich die Gemeinschaftsgrundrechte selbst Schranken einer Grundfreiheit darstellen können. Losgelöst von der speziellen Situation der mitgliedstaatlichen Handlungspflicht, wird diese Ansicht zum einen mit dem Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts vor innerstaatlichem Recht begründet, der es verbiete, nationales Recht gegenüber einer Norm oder einem Grundsatz des Gemeinschaftsrechts einzuwenden140. Übersehen wird bei dieser, dem Grundsatz nach zwar zutreffenden Aussage jedoch, daß 138

Vgl. die Schlußanträge von Generalanwalt Jacobs in der Rechtssache Schmidberger, EuGH Rs. C-112/00, abgedruckt in EuGRZ 2002, S. 369 (378), Rn. 96 ff. 139 Nicht zu verwechseln ist diese „Auslegungsschranke“ mit der sogenannten Schranken-Schranken-Funktion der Gemeinschaftsgrundrechte. Nach mittlerweile gefestigter Rechtsprechung des EuGH fungieren die Gemeinschaftsgrundrechte als Schranken der anerkannten Vorbehalte der Grundfreiheiten, vgl. EuGH Rs. C-260/89, Slg. 1991, S. I-2925 (2964), Rn. 43 – ERT; EuGH Rs. C-62/90, Slg. 1992, S. 2575 (2609), Rn. 23 – Kommission/Deutschland; EuGH Rs. C-368/95, Slg. 1997, S. I-3689 (3715), Rn. 19 ff. – Familiapress. Den Gemeinschaftsgrundrechten kommt in diesen Fällen die Funktion zu, daß ein bereits anerkanntes zwingendes Erfordernis sich einer gemeinschaftsgrundrechtlichen Kontrolle unterziehen muß, bei der sämtliche Grundrechte aller Beteiligten gegeneinander abgewogen werden. Die Gemeinschaftsgrundrechte wirken dementsprechend als SchrankenSchranken einer Grundfreiheit. Vorliegend geht es indessen um eine dieser Problematik vorgelagerte Frage, nämlich um die Anerkennung eines Grundrechts als Schranke. Vgl. zur Problematik der Gemeinschaftsgrundrechte als Schranken-Schranken: Jürgensen/Schlünder, AöR 121 (1996), S. 200 (213 ff.); Kühling, EuGRZ 1997, S. 296 (299 f.); Kühling, Kommunikationsfreiheit, S. 75 ff. Kritisch insbesondere dazu Kingreen, Struktur, S. 166 ff.; Kingreen/Störner, EuR 1998, S. 263 (282 f.); Schilling, Der Staat 33 (1994), S. 555 (566). 140 So Hintersteiniger, S. 263; Ganten, S. 174; Schaefer, S. 216 ff.

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3. Kap.: Entstehung, Verletzung und Schranken der Handlungspflichten

ein zwingendes Erfordernis stets eine nationale Regelung darstellt. Diese müßte dem Vorrang des Gemeinschaftsrechts zufolge grundsätzlich hinter dem Grundsatz des freien Warenverkehrs zurücktreten. Bei der Rechtfertigung von Grundfreiheitsbeschränkungen im Rahmen der zwingenden Erfordernisse nimmt der EuGH jedoch stets eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vor141. Ersichtlich wird somit, daß ein nationales Interesse durch seine Einstufung als gemeinschaftsrechtlich anerkanntes Ziel auf den Rang des Gemeinschaftsrechts gehoben wird. Auf dieser Stufe ist es sodann legitimiert, dem Grundsatz des freien Warenverkehrs als gleichrangige Rechtsposition gegenüber zu treten. Zwingende Erfordernisse sind somit nationale Regelungen, die durch eine gemeinschaftsrechtliche Anerkennung Teil des primären Gemeinschaftsrechts werden. Können nationale Grundrechte mithin als zwingende Erfordernisse anerkannt werden, dann sind sie in der Lage, dem freien Warenverkehr als gleichrangige Rechtsposition gegenüberzutreten. Gegen eine derartige Anerkennung wird im speziellen Fall der mitgliedstaatlichen Handlungspflicht ein weiterer Einwand erhoben. Vorgebracht wird, daß sich die Mitgliedstaaten im Bereich ihrer Handlungsverpflichtung zur Gewährleistung einer Grundfreiheit im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts befänden. In diesem Bereich könnten ausschließlich die Gemeinschaftsgrundrechte und nicht die jeweiligen nationalen Grundrechte als Schranken einer Grundfreiheit fungieren142. bb) Nationales Grundrecht vs. Gemeinschaftsgrundrecht Im Folgenden wird daher ein kurzer Einblick143 über die Bedeutung und den Inhalt der Gemeinschaftsgrundrechte gegeben, um sodann deren rechtliche Bedeutung für die mitgliedstaatliche Handlungspflicht herauszuarbeiten. (1) Bedeutung und Inhalt der Gemeinschaftsgrundrechte Aus damaliger Sicht der Vertragsschöpfer konnten die Gemeinschaftsverträge als zwischenstaatliche Verträge keine grundrechtsbeeinträchtigende Wirkung entfalten. Für das Konzept einer funktionell-wirtschaftlichen Integration wurden Grundrechte in einem Vertragswerk wie dem EWG nicht für erforderlich gehalten144. 141 Vgl. EuGH Rs. C-238/89, Slg. 1990, S. I-4827 (4848), Rn. 12 – Pall Corp.; EuGH Rs. C-126/91, Slg. 1993, S. I-2361 (2388 f.), Rn. 12 – Yves Rocher; EuGH Rs. C-470/93, Slg. 1995, S. I-1923 (1941 f.), Rn. 15 – Mars GmbH; EuGH Rs. C-383/97, Slg. 1999, S. I-731 (759), Rn. 19 – Strafverfahren gegen van der Laan. 142 So Szczekalla, S. 662; Szczekalla, DVBl 1998, S. 219 (224); Frenz, EuR 2002, S. 603 (605), und Schindler, S. 134 f., der allerdings ohne Begründung von den Gemeinschaftsgrundrechten als Schranke ausgeht. 143 Vgl. weiterführend zur Entwicklung des Grundrechtsschutzes auf Gemeinschaftsrechtsebene in der zahlreichen Literatur etwa Pernice, Grundrechtsgehalte, S. 25 ff.; Chwolik-Lanfermann, S. 41 ff.; Cirkel, S. 23 ff. 144 Vgl. Mosler/Bernhard/Hilf-Pescatore, S. 64.

C. Schranken mitgliedstaatlicher Handlungspflichten

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Das entscheidende Wesensmerkmal der EG als supranationale Organisation besteht jedoch darin, daß sie im Rahmen des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung autonom verbindliche Rechtsregeln erlassen kann145. Die, die Supranationalität der Gemeinschaft kennzeichnende, unmittelbare Wirkung146 und der Vorrang des Gemeinschaftsrechts147, stellten sich aber schon bald als geeignet heraus, Grundrechtsbeeinträchtigungen der Gemeinschaftsbürger zu ermöglichen148. Insofern hat der EuGH mit seiner Rechtsprechung in den Rechtssachen Van Gend & Loos und Costa ./. E.N.E.L. die Forderung149 und die Notwendigkeit eines Grundrechtsschutzes für Akte der Gemeinschaftsorgane selbst erschaffen150. In der Rechtssache Stauder stellte der EuGH erstmals, wenn auch zunächst nur als obiter dictum, fest, daß Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze integraler Bestandteil der Gemeinschaftsrechtsordnung sind, deren Wahrung der EuGH zu sichern hat151. Die Ermittlung des Inhalts dieser Gemeinschaftsgrundrechte ist dabei zum einen von den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten getragen152. Hinweise werden zudem aus den völkerrechtlichen Verträgen über den Schutz der Menschenrechte gewonnen, an deren Abschluß die Mitgliedstaaten beteiligt waren oder denen sie beigetreten sind153. Eine besondere Bedeutung hat in diesem Zusammenhang die Europäische Menschenrechtskonvention154, dessen Beachtung mittlerweile in Art. 6 Abs. 2 EUV ausdrücklich normiert ist. Diese Rechtserkenntnisquellen allein sind indessen nicht ausschlaggebend für die Gewinnung der Gemeinschaftsgrundrechte. Inhalt und Auswahl der Gemein145

Weiterführend zum Begriff der Supranationalität: Streinz, Rn. 115 ff. m. w. N. Vgl. EuGH Rs. 26/62, Slg. 1963, S. 1 (24) – Van Gend & Loos. 147 Vgl. EuGH Rs. 6/64, Slg. 1964, S. 1251 (1269 f.) – Costa./.E.N.E.L. 148 Vgl. Bleckmann, Europarecht, Rn. 99. 149 Vgl. die implizierte Forderung eines Grundrechtsschutzes auf Gemeinschaftsrechtsebene in dem bekannten Solange-I-Beschluß, BVerfGE 37, S. 271 (285). 150 Vgl. Pollak, S. 28. 151 EuGH Rs. 29/69, Slg. 1969, S. 419, Rn. 7 – Stauder; vgl. sodann grundlegend EuGH Rs. 11/70, Slg. 1970, S. 1125 (1135), Rn. 4 – Internationale Handelsgesellschaft. 152 Vgl. EuGH Rs. 11/70, Slg. 1970, S. 1125 (1135), Rn. 3 – Internationale Handelsgesellschaft. Diese Rechtserkenntnisquelle hat sich fest in der Rechtsprechung etabliert, vgl. nur EuGH Gutachten 2/94, Slg. 1996, S. I-1759 (1789), Rn. 33 – Gutachten zum Beitritt der EMRK. 153 Vgl. EuGH Rs. 4/73, Slg. 1974, S. 491 (507), Rn. 13 – Nold. 154 Erstmals ausdrücklich auf die Bedeutung der Europäischen Menschenrechtskonvention für die Anerkennung der Grundrechtsgewährleistungen wurde in der Rechtssache Rutilli Bezug genommen, EuGH Rs. 36/75, Slg. 1975, S. 1219 (1232), Rn. 32 – Rutilli; daran anschließend EuGH Rs. 44/79, Slg. 1979, S. 3727 (3744), Rn. 15 – Hauer; vgl. weiterhin: EuGH Rs. 222/84, S. 1986, S. 1651 (1682), Rn. 18 – Johnston; EuGH verb. Rs. 97-99/87, Slg. 1989, S. 3165 (3185), Rn. 14 ff. – Dow Chemical Ibérica SA u. a.; EuGH Rs. C260/89, Slg. 1991, S. I-2925 (2963), Rn. 41 – ERT; EuGH Rs. C-368/95, Slg. 1997, S. I-3689 (3715), Rn. 18 – Familiapress. 146

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3. Kap.: Entstehung, Verletzung und Schranken der Handlungspflichten

schaftsgrundrechte werden, unter Berücksichtigung der Struktur und den Zielen der Gemeinschaft, im Wege einer wertenden Rechtsvergleichung bestimmt155. Dabei findet ein stetiger Prozeß vergleichender Rückkoppelung und Wechselwirkung zwischen den Rechtserkenntnisquellen als sogenanntem Basismaterial und den Zielen und Strukturen des Gemeinschaftsrechts als Maßstab für Auswahl und Inhalt des zu ergründenden Gemeinschaftsgrundrechts statt. Sinn dieser wertenden Rechtsvergleichung ist es, dasjenige Gemeinschaftsgrundrecht zu entwickeln, das sich unter Berücksichtigung der Struktur und Ziele der Gemeinschaft, als die „beste Lösung“ erweist156. Auf einen Minimal- oder Maximalstandard des Grundrechtsschutzes im Verhältnis zu den mitgliedstaatlichen Verfassungsüberlieferungen kommt es mithin nicht an157. Die am 7. Dezember 2000 zu Beginn des EU-Gipfels in Nizza feierlich proklamierte Charta der Grundrechte der Europäischen Union158 formuliert nunmehr einen Grundrechtskatalog, der eine Sichtbarmachung des bislang im wesentlichen geltenden europäischen Grundrechtsstandards darstellt159. Mangels Aufnahme in Art. 6 Abs. 2 EUV kommt ihr bislang160 allerdings keine verbindliche Wirkung als Rechtserkenntnisquelle für die Grundrechtsinterpretation des EuGH zu. Ein im Wege der dargestellten wertenden Rechtsvergleichung gewonnenes Gemeinschaftsgrundrecht kann daher lediglich durch Heranziehen der Charta als Orientierungsstütze bestätigt werden161. 155 Vgl. EuGH Rs. 11/70, Slg. 1970, S. 1125 (1135), Rn. 3 – Internationale Handelsgesellschaft; G/T/E-Beutler, Art. F, Rn. 68. 156 Lenz-Borchardt, Art. 220, Rn. 27; Grabitz/Hilf-Pernice/Mayer, Art. 6 EUV, Rn. 14. 157 Vgl. Ehlers-Ehlers, S. 321, Rn. 8; Lenz-Borchardt, Art. 220, Rn. 27; Jürgensen, S. 160 ff. (164); Kühling, Kommunikationsfreiheit, S. 52; Stadler, S. 199 ff.; vgl. ferner die daher konträr ergangenen Urteile EuGH Rs. 4/73, Slg. 1974, S. 491 (507), Rn. 13 – Nold und EuGH verb. Rs. 46/87 und 227/88, Slg. 1989, S. 2859 (2924), Rn. 17 – Hoechst. 158 ABlEG C 364 vom 18.12.2000, S. 1 ff.; vgl. zur Entstehungsgeschichte im Überblick: Weber, S. 1 ff. 159 Vgl. zu ihren Defiziten und zuständigkeitsüberschießenden Gehalten, Calliess, EuZW 2001, S. 261 (262 ff.); vgl. weiterführend auch Rengeling, Festschrift-Rauschning 2001, S. 225 ff. 160 Der Europäische Konvent hat dem Europäischen Rat jüngst auf dessen Tagung in Thessaloniki am 20. Juni 2003 einen Vertragsentwurf einer Verfassung für Europa vorgelegt (vgl. CONV 820/03, einsehbar unter http.//european-convention.eu.de). Art. 7 Abs. 1 des Vertragsentwurfes lautet: „Die Union erkennt die Rechte, Freiheiten und Grundsätze an, die in der Charta der Grundrechte als dem Teil II dieser Verfassung enthalten sind.“ Im Falle des Inkrafttretens dieses Vertragsentwurfes, mit dem frühestens im Jahre 2006 gerechnet werden kann, käme der Charta somit zukünftig eine rechtsverbindliche Wirkung zu. Vgl. allgemein zur Entwicklung der Arbeitsergebnisse des Europäischen Verfassungskonvents, Oppermann, DVBl 2003, S. 1 ff. 161 Vgl. Calliess, EuZW 2001, S. 261 (267); Schmitz, JZ 2001, S. 833 (335 ); Philippi, S. 51 f.; Ehlers-Calliess, S. 462, Rn. 28; Herdegen, Rn. 174 b. Vgl. auch EuG Rs. T 54/99, Urteil vom 30.1.2002 – max.mobil Telekommunikation Service GmBH/Kommission, abgedruckt in EuGRZ 2002, S. 266 (270), Rn. 48. In diesem Urteil nimmt der EuG „bekräftigend“ auf Art. 41 Abs. 1 der Charta Bezug.

C. Schranken mitgliedstaatlicher Handlungspflichten

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Die Gemeinschaftsorgane selbst haben ihre Bindung an die Gemeinschaftsgrundrechte ohne ersichtlichen Widerstand akzeptiert162. Ihre Handlungen sind sowohl nach Ansicht des EuGH163 als auch grundsätzlich nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts164 ausschließlich an dem Standard der Gemeinschaftsgrundrechte zu messen.

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Vgl. Kühling, Kommunikationsfreiheit, S. 67. Vgl. nochmals EuGH Rs. 11/70, Slg. 1970, S. 1125 (1135), Rn. 3 – Internationale Handelsgesellschaft: „Die einheitliche Geltung des Gemeinschaftsrechts würde beeinträchtigt werden, wenn bei der Entscheidung über die Gültigkeit von Handlungen der Gemeinschaftsorgane Normen oder Grundsätze des nationalen Rechts herangezogen würden. […] Daher kann es die Gültigkeit einer Gemeinschaftshandlung oder deren Geltung in einem Mitgliedstaat nicht berühren, wenn geltend gemacht wird, die Grundrechte in der ihnen von der Verfassung dieses Staates gegebene Gestalt oder die Strukturprinzipien der nationalen Verfassung seien verletzt.“ Während der EuGH den Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor nationalem Verfassungsrecht autonom begründet, bezieht sich das BVerfG allerdings auf Art. 23 Abs. 1 GG als verfassungsrechtliche Ermächtigungsnorm, vgl. weiterführend Peters, S. 309 ff. 164 Auch das Bundesverfassungsgericht erkennt seit der Solange-II-Entscheidung an, daß im Hoheitsbereich der Europäischen Gemeinschaften mittlerweile ein Maß an Grundrechtsschutz erwachsen ist, „das nach Konzeption, Inhalt und Wirkungsweise dem Grundrechtsstandard des Grundgesetzes gleichzuachten ist“ (BVerfG 73, S. 339 (378)). Daher werde es seine Gerichtsbarkeit über die Anwendbarkeit von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht nicht mehr ausüben und dieses Recht nicht mehr am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes überprüfen, „solange die Europäischen Gemeinschaften, insbesondere die Rechtsprechung des EuGH einen wirksamen Schutz gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaft generell gewährleistet, der den vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im wesentlichen gleichzuachten ist, zumal den Wesensgehalt der Grundrechte generell verbürgt“ (BVerfGE 73, S. 339 (387). In der Maastricht-Entscheidung stellte das Bundesverfassungsgericht sodann fest, daß es seine Zuständigkeit in einem Kooperationsverhältnis zum EuGH ausüben werde, in dem es sich auf eine generelle Gewährleistung der unabdingbaren Grundrechtsstandards beschränken will (BVerfG 89, S. 155 (175)). Die Konkretisierung des Begriffes „Kooperationsverhältnis“, also die grundlegende Frage wann und unter welchen Voraussetzungen das Bundesverfassungsgericht seine Zuständigkeit zur Überprüfung von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht ausüben wird, ist nunmehr seit dem Bananenmarktordnungsbeschluß vom 7. Juni 2000 geklärt. Das Bundesverfassungsgericht stellte fest, daß es seine Zuständigkeit nur dann ausüben werde, wenn die „europäische Rechtsentwicklung einschließlich der Rechtsprechung des EuGH nach Ergehen der Solange-IIEntscheidung unter den erforderlichen Grundrechtsstandard abgesunken sei“. Dies gebiete, daß im einzelnen dargelegt werden müsse, daß der jeweils unabdingbare Grundrechtsschutz vom EuGH generell nicht gewährleistet wird, was eine Gegenüberstellung des Grundrechtsschutzes auf nationaler und auf Gemeinschaftsebene in der Art und Weise, wie das Bundesverfassungsgericht sie in BVerfGE 73, S. 339 (378 ff.) geleistet hat, erfordert (BVerfGE 102, S. 147 (164) ). Somit hat das Bundesverfassungsgericht klargestellt, daß es seine Zuständigkeit subsidiär ausüben wird. Erst wenn der EuGH den Grundrechtsstandard verlassen sollte, der im Solange-II-Beschluß beschrieben ist, wird es wieder tätig werden, vgl. hierzu Hofmann, Festschrift-Steinberger 2002, S. 1207 ff., und zur Möglichkeit der Vorlage des Bundesverfassungsgerichts gem. Art. 235 im Falle eines – allerdings eher unwahrwahrscheinlichen – Konfliktes zwischen Bundesverfassungsgericht und EuGH, Hofmann, Grundrechte, S. 86 f. 163

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3. Kap.: Entstehung, Verletzung und Schranken der Handlungspflichten

(2) Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte Voraussetzung für die Beachtung der Gemeinschaftsgrundrechte in den Fällen privater Beeinträchtigungen des freien Warenverkehrs ist, daß auch die Mitgliedstaaten im Bereich ihrer Handlungsverpflichtung zur Sicherung des freien Warenverkehrs an diese gebunden sind. Eine Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte wird vom EuGH nach mehrfach bestätigter Rechtsprechung dann angenommen, wenn eine mitgliedstaatliche Regelung in den „Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts“ fällt165. Einhellig anerkannt ist dabei zu Recht, daß die Mitgliedstaaten dann im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts handeln und dementsprechend an die Gemeinschaftsgrundrechte gebunden sind, wenn sie primäres und sekundäres Gemeinschaftsrecht vollziehen oder umsetzen166. Denn in diesen sogenannten „agency situations“167 handeln die Mitgliedstaaten in Ausführung eines von der Gemeinschaft initiierten Aktes, sozusagen als deren „verlängerter Arm“168. Die mitgliedstaatliche Handlungspflicht ist eine in Art. 28 i. V. m. Art. 10 Abs. 1 S. 1 EGV primärrechtlich verankerte Pflicht der Mitgliedstaaten, gegen Beeinträchtigungen des freien Warenverkehrs durch Privatpersonen vorzugehen. Primäres Gemeinschaftsrecht wird demnach durch entsprechende Anwendung nationaler Eingriffsnormen im Auftrag des Gemeinschaftsrechts vollzogen. (3) Zwischenergebnis Die Mitgliedstaaten handeln im Rahmen ihrer Pflicht gem. Art. 28 i. V. m. Art. 10 Abs. 1 S. 1 EGV im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts. In diesem Bereich sind sie an die Gemeinschaftsgrundrechte gebunden. Die Mitgliedstaaten unterliegen daher im Rahmen ihrer Handlungsverpflichtung einer „doppelten Grundrechtsloyalität“169, einerseits den nationalen Grundrechten gem. Art. 1 Abs. 3 GG, andererseits den Gemeinschaftsgrundrechten gegenüber.

165 Erstmals EuGH Rs. C-260/89, Slg. 1991, S. I-2925 (2964), Rn. 42 – ERT; sodann bestätigt u. a. in EuGH Rs. C-159/90, Slg. 1991, S. I-4685 (4741), Rn. 31 – Grogan; EuGH Rs. C-2/92, Slg. 1994, S. I-955 (938), Rn. 16 – Bostock. 166 Vgl. etwa Kühling, EuGRZ 1997, S. 296 (298); Bleckmann, Europarecht, Rn. 125; Ruffert, EuGRZ 1995, S. 518 (527 f.); Calliess/Ruffert-Kingreen, Art. 6 EUV, Rn. 57; Jones, S. 60 f.; EuGH Rs. 5/88, Slg. 1989, S. 2609 (2639), Rn. 19 – Wachauf; bestätigt in EuGH Rs. C-2/92, Slg. 1994, S. I-955 (938), Rn. 16 – Bostock. Kritisch dazu allerdings Generalanwalt Gulmann in seinen Schlußanträgen zu EuGH Rs. C-2/92, Slg. 1994, S. I-955 (969), Rn. 29 ff. (34 ff.) – Bostock. 167 Calliess/Ruffert-Kingreen, Art. 6 EUV, Rn. 58. 168 Jürgensen/Schlünder, AöR 121 (1996), S. 200 (212). 169 Pernice, NJW 1990, S. 2409 (2417).

C. Schranken mitgliedstaatlicher Handlungspflichten

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Insgesamt betrachtet gestaltet sich die Notwendigkeit, Grundrechte der handelnden Störer zu gewährleisten, nunmehr als dreifache Kollision. Der Grundsatz des freien Warenverkehrs kollidiert mit Grundrechtspositionen der handelnden Privaten. Innerhalb dieser Grundrechtspositionen streiten wiederum nationale Grundrechte mit Gemeinschaftsgrundrechten. cc) Der Wirkungsmechanismus der Gemeinschaftsgrundrechte Fraglich ist zunächst, inwieweit die Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte tatsächlich die Möglichkeit ausschließt, nationale Grundrechte als zwingende Erfordernisse anzuerkennen. Zur Auflösung des Spannungsverhältnisses zwischen nationalen Grundrechten und Gemeinschaftsgrundrechten liegt es auf den ersten Blick nahe zu argumentieren, daß aufgrund des Anwendungsvorranges des Gemeinschaftsrechts die Geltendmachung nationaler Grundrechte ausscheide. Lediglich die Gemeinschaftsgrundrechte könnten daher als Schranke der Grundfreiheiten fungieren. Diese Sichtweise vermag so pauschal gesehen allerdings nicht zu überzeugen. Denn der Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts verdrängt nationales Recht nur insoweit, als daß es ihm entgegensteht170. Auch ein von einem Mitgliedstaat vorgebrachtes nationales Grundrecht wird demnach nur insoweit von einem Gemeinschaftsgrundrecht verdrängt, als daß es ihm entgegensteht. Dies ist jedoch nur dann der Fall, wenn das nationale Grundrecht materiell mit dem Schutzbereich und -niveau des Gemeinschaftsgrundrechts nicht übereinstimmt, inhaltlich also weiter ist und ein Mitgliedstaat zu seiner Rechtfertigung sozusagen mehr beansprucht, als das Gemeinschaftsrecht anerkennt. Stimmt der Schutzbereich des nationalen Grundrechts mit dem des Gemeinschaftsgrundrechts überein oder bleibt ein geltend gemachtes nationales Grundrecht sogar hinter dem Schutzniveau des Gemeinschaftsgrundrechts zurück, so steht das nationale Recht dem Gemeinschaftsrecht nicht entgegen. Der Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts verliert in diesen Fällen seine Berechtigung. Eine grundsätzlich ausschließliche Geltung der Gemeinschaftsgrundrechte und ein Ausschluß der Möglichkeit, nationale Grundrechte als zwingende Erfordernisse geltend machen zu können, vermag insoweit nicht zu überzeugen. Entsprechend dem Grundgedanken zwingender Erfordernisse als gemeinschaftsrechtlich anerkannte nationale Interessen, darf ein Mitgliedstaat zwar keine Ziele verfolgen, die mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbar sind. Gleichwohl kommt

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Vgl. Jarass, DVBl. 1995, S. 954 (959), sowie Jarass, Grundfragen, S. 3 ff.

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3. Kap.: Entstehung, Verletzung und Schranken der Handlungspflichten

es dabei nicht darauf an, daß die Schranken einen überall in der Gemeinschaft exakt gleichlautenden Inhalt haben171. Vielmehr erscheint es sachgerechter, dem Gemeinschaftsgrundrecht die Funktion einer Rechtserkenntnisquelle und Auslegungsstütze für die einheitliche Anerkennung eines nationalen Grundrechts als zwingendes Erfordernis zu teil werden zu lassen. Die Gemeinschaftsgrundrechte stellen insoweit „lediglich“ einen Teil der allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts bereit, die dem EuGH eine Orientierungshilfe und Legitimationsstütze für die Anerkennung eines zwingenden Erfordernisses bieten. Die dogmatische Konstruktion der gemeinschaftsrechtlichen Anerkennung nationaler Grundrechte als Schranke des Art. 28 EGV unter Berücksichtigung der Gemeinschaftsgrundrechte als Rechtserkenntnisquelle und Auslegungsschranke läßt sich anhand der Entscheidung Familiapress verdeutlichen. Dort machte die Republik Österreich geltend, daß das Verbot periodischer Druckwerke, die dem Leser eine Teilnahmemöglichkeit an einer Verlosung einräumen, der Aufrechterhaltung der Medienvielfalt diene und daher ein zwingendes Erfordernis im Hinblick auf Art. 28 EGV darstelle. Der EuGH stellte diesbezüglich fest, daß das vorgebrachte nationale Interesse Österreichs, die Aufrechterhaltung der Medienvielfalt, grundsätzlich ein zwingendes Erfordernis darstellen kann. Denn die Aufrechterhaltung der Medienvielfalt trage zur Wahrung des Rechts der freien Meinungsäußerung bei, das durch Art. 10 EMRK und zu den von der Gemeinschaftsrechtsordnung geschützten Grundrechten gehöre172. Ersichtlich wird, daß die Aufrechterhaltung der Medienvielfalt vom EuGH deswegen als zwingendes Erfordernis angesehen wird, da es im Einklang mit einem vom Gemeinschaftsrecht anerkannten Grundrecht steht. Das Gemeinschaftsgrundrecht dient dabei als Auslegungskriterium für die Anerkennung eines zwingenden Erfordernisses. Schranke des freien Warenverkehrs selbst bleibt indessen das von Österreich vorgebrachte nationale grundrechtliche Interesse der Aufrechterhaltung der Medienvielfalt. Dieses und nicht die dementsprechende Verbürgung innerhalb der Gemeinschaftsgrundrechte ist vom EuGH als zwingendes Erfordernis und somit als Schranke der Grundfreiheit letztlich anerkannt worden. Artikel 10 EMRK trug in diesem Zusammenhang lediglich zur Absicherung des nationalen Regelungsinteresses als gemeinschaftsrechtlich anerkanntes Ziel bei. Ein von einem Mitgliedstaat geltend gemachtes nationales Grundrecht muß sich daher zur Anerkennung als zwingendes Erfordernis einer gemeinschaftsgrundrechtlichen „Kontrolle“ unterziehen. Hält das nationale Grundrecht dieser gemeinschaftsgrundrechtlichen Kontrolle stand, so ist es als anerkanntes legitimes Ziel der Gemeinschaftsrechtsordnung anzusehen und als zwingendes Erfordernis anzuerkennen. 171

Vgl. Kingreen, Struktur, S. 159. Vgl. EuGH Rs. C-386/95, Slg. 1997, S. I-3689 ( 3715), Rn. 18 – Familiapress; vgl. ebenso EuGH Rs. C-288/89, Slg. 1991, S. I-4007 (4043), Rn. 23 – Gouda. 172

C. Schranken mitgliedstaatlicher Handlungspflichten

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Dies ist grundsätzlich dann der Fall, wenn der Schutzbereich des nationalen Grundrechts mit dem des Gemeinschaftsrechts im wesentlichen übereinstimmt. Ist der Schutzbereich des nationalen Grundrechts enger, beziehungsweise bleibt er inhaltlich hinter dem Schutzbereich des Gemeinschaftsgrundrechts zurück, so ist das nationale Grundrecht sozusagen als „Minus“ in den gemeinschaftsgrundrechtlichen Gewährleistungen enthalten und daher selbstverständlich ebenfalls als gemeinschaftsrechtlich anerkanntes Ziel einzustufen. Denn die Mitgliedstaaten beanspruchen in diesem Fall nicht mehr für sich, als das Gemeinschaftsrecht ihnen zugesteht. Beruft sich ein Mitgliedstaat hingegen auf die Ausübung von verfassungsmäßig verbürgten Grundrechten, die in ihrer speziellen Ausprägung nicht vom Gemeinschaftsrecht anerkannt sind, so kann zur Wahrung der Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts die geltend gemachte Grundrechtsposition in der Regel nicht als zwingendes Erfordernis anerkannt werden. Zu beachten ist allerdings in diesem Zusammenhang, daß großzügigere nationale Grundrechtsstandards durchaus aufrechterhalten werden können, sofern sie nicht die effektive Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts in Frage stellen173. dd) Fazit Zusammenfassend ist festzustellen, daß nationale Grundrechte die dogmatische Grundlage eines zwingenden Erfordernisses gem. Art. 28 EGV darstellen. Den Gemeinschaftsgrundrechten kommt die Funktion zu, als Auslegungsstütze und -schranke diejenigen Kriterien bereitzustellen, die es ermöglichen, einen einheitlichen Schrankenstandard aufrecht zu erhalten und letztlich darüber entscheiden, ob das nationale Grundrecht ein gemeinschaftsrechtlich anerkanntes Ziel verfolgt, um als zwingendes Erfordernis anerkannt werden zu können. Wird das nationale Grundrecht auf diesem Weg als gemeinschaftsrechtlich anerkanntes Ziel eingestuft, so ist es legitimiert, dem Grundsatz des freien Warenverkehrs als gleichrangige Rechtsposition zur Abwägung gegenüberzutreten. Dieser Lösungsweg bewirkt eine einheitliche Anwendung der Ausnahmetatbestände der Grundfreiheiten. Er fügt sich ein in den gebotenen Vorrang des Gemeinschaftsrechts gegenüber entgegenstehendem nationalen Recht und entspricht dem Grundgedanken, nationale Interessen als zwingende Erfordernisse anzuerkennen, sofern sie ein gemeinschaftsrechtlich anerkanntes Ziel verfolgen. Vom Ergebnis her wird sich die hier vertretene Ansicht wohl weitgehend mit der Ansicht decken, die, dogmatisch gesehen, direkt auf das Gemeinschaftsgrundrecht selbst als Schranke der mitgliedstaatlichen Handlungspflicht abstellt. Jedoch bringt die hier entwickelte Lösung einen sehr entscheidenden Vorteil gegenüber 173

(528).

Vgl. dazu Kühling, Kommunikationsfreiheit, S. 78; Ruffert, EuGRZ 1995, S. 518

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3. Kap.: Entstehung, Verletzung und Schranken der Handlungspflichten

der ausschließlichen Geltung der Gemeinschaftsgrundrechte mit sich: Großzügigere nationale Grundrechtsstandards können aufrechterhalten und vom Mitgliedstaat geltend gemacht werden, sofern dadurch nicht die effektive Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts in Frage gestellt wird. Der Einwirkungsmechanismus der Gemeinschaftsgrundrechte als Auslegungshilfe bedingt damit einen flexiblen, subsidiaritätsachtenden und verhältnismäßigkeitsprinzipwahrenden Lösungsweg, um Grundrechtsausübungen Privater als Schranke einer mitgliedstaatlichen Handlungspflicht anzuerkennen. b) Relevante Gemeinschaftsgrundrechte als Auslegungsschranke Bevor nun auf die spezielle Auflösung der Kollision zwischen der Notwendigkeit der Grundrechtsbeachtung der Mitgliedstaaten und der Gewährleistung der Warenverkehrsfreiheit eingegangen wird, werden im folgenden die für den Bereich der mitgliedstaatlichen Handlungspflicht wesentlichen Gemeinschaftsgrundrechte dargestellt. Denn diese sind – wie festgestellt – Rechtserkenntnisquelle und Auslegungsschranke für die Anerkennung eines nationalen Grundrechts als zwingendes Erfordernis. aa) Die Meinungsfreiheit Das Recht auf freie Meinungsäußerung174 wird vom EuGH in ständiger Rechtsprechung, unter Bezugnahme von Art. 10 EMRK, „als wesentliches Grundrecht einer demokratischen Gesellschaft“175 gesichert176. In Art. 11 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dieses Grundrecht inhaltsgleich mit Art. 10 EMRK bekräftigt worden177. Danach hat jede Person das Recht auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht schließt die Meinungsfreiheit und die Freiheit ein, Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu empfangen und weiterzugeben. Darüber hinaus wird die Freiheit der Medien und ihre Pluralität geachtet.

174 Im Dienstrecht der Gemeinschaften ist das Recht auf freie Meinungsäußerung ausdrücklich in Art. 12 Beamtenstatut für Beamte und Bedienstete garantiert. 175 EuGH Rs. C-274/99 P, Slg. 2001, S. I-1611 (1679), Rn. 53 – Connolly. 176 Vgl. zur Meinungsfreiheit in der Rechtsprechung des Gerichtshofes, EuGH Rs. C-260/89, Slg. 1991, S. I-2925 (2964), Rn. 44 – ERT; EuGH Rs. C-288/89, Slg. 1991, S. I-4007 (4043), Rn. 23 – Gouda u. a; EuGH Rs. 219//91, Slg. 1992, S. I-5485 (5513), Rn. 35 – Ter Voort; EuGH Rs. C-368/95, Slg. 1997, S. I-3689 (3717), Rn. 26 – Familiapress. 177 Daher hat Art. 11 Charta der Grundrechte der Europäischen Union gem. Art. 52 Abs. 3 Charta der Grundrechte der Europäischen Union die gleiche Bedeutung und Tragweite wie das durch Art. 10 EMRK garantierte Recht, vgl. dazu Picker, S. 45.

C. Schranken mitgliedstaatlicher Handlungspflichten

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Die Rechtsprechung des EuGH zum Recht auf freie Meinungsäußerung läßt sich in drei wesentliche Untergruppen unterteilen178: Die Meinungsäußerungsfreiheit im öffentlichen Dienst des Gemeinschaftsrechts179, die Presse- und Rundfunkfreiheit180 und das Recht der freien Meinungsäußerung im Bereich der kommerziellen Kommunikation, welches in diesem Zusammenhang besondere Bedeutung erlangt. Der Bereich der kommerziellen Kommunikation umfaßt sämtliche Formen der Kommunikation, die auf Förderung des Absatzes von Produkten oder Dienstleistungen beziehungsweise des Images eines Unternehmens oder einer Organisation gegenüber den Endverbrauchern und/oder Vertriebsunternehmen abzielen. Damit beinhaltet der Begriff alle Formen der Werbung, des Direktmarketings, Sponsorings, der Verkaufsförderung und der Öffentlichkeitsarbeit181. In den Schlußanträgen der Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Tabakwerbe-Richtlinie stellte Generalanwalt Fenelly fest, daß die Freiheit der Bürger, ihre wirtschaftliche Betätigung durch Äußerungen zu fördern, nicht nur aus ihrem Recht auf wirtschaftliche Betätigung und im Gemeinschaftskontext aus der allgemeinen Verpflichtung auf eine auf den freien Wettbewerb gestützte Marktwirtschaft fließe, sondern auch aus ihrem ursprünglichen Anspruch als Menschen, Ansichten zu jeder Frage einschließlich der Qualität von Waren oder Dienstleistungen, die sie verkaufen oder erzeugen, auszudrücken oder zu empfangen182. Auch in der Rechtssache Society for the Protection of Unborn Children tritt Generalanwalt van Gerven ausdrücklich dafür ein, daß, im Einklang mit Art. 10 EMRK, das Gemeinschaftsrecht dahingehend auszulegen sei, dass jeder das Recht habe, entgeltlich oder unentgeltlich Informationen über eigene oder fremde Dienstleistungen zu verbreiten.183 Private Äußerungen, Informationskundgaben und Aufrufe, die nicht darauf abzielen, den Marktzugang für mitgliedstaatliche Waren zu beeinträchtigen, lösen keine mitgliedstaatliche Handlungspflicht aus. Wenden sich Private indessen ausdrücklich gegen Waren aus anderen Mitgliedstaaten oder betreiben sie intensive 178 Ein konkret abgrenzbarer Schutzbereich wurde in der Rechtsprechung indes bislang nicht entwickelt. 179 Vgl. EuGH Rs. C-100/80, Slg. 1989, S. 42855 (4308), Rn. 15 – Oyowe und Traore. In dieser Entscheidung wurde die Meinungsfreiheit erstmalig vom Gerichtshof als Grundrecht bezeichnet. 180 Vgl. dazu EuGH verb. Rs. 43 und 63/82, Slg. 1984, S. 19 (62), Rn. 33 – Vlaamse Boekwezen; EuGH Rs. C-260/89, Slg. 1991, S. I-2925 (2951), Rn. 41 – ERT; EuGH Rs. C-23/93, Slg. 1994, S. I-4795 (4833), Rn. 24 f. – TV 10. 181 Ehlers-Schorkopf, S. 359. 182 Vgl. Schlußanträge von Generalanwalt Fenelly, EuGH Rs. C-376/98, Slg. 2000, S. I-8419 (8423), Rn. 154 – Bundesrepublik Deutschland/Europäisches Parlament und Rat der Europäischen Union. Der EuGH erklärte die Rechtmäßigkeit der Tabakwerbe-Richtlinie, jedoch bereits aus formellen Gründen, für nichtig, vgl. EuGH Rs. C-376/98, Slg. 2000, S. I-8419 (8532), Rn.118 – Bundesrepublik Deutschland/Europäisches Parlament und Rat der Europäischen Union. 183 Vgl. Schlußanträge von Generalanwalt van Gerven, EuGH Rs. C-159/90, Slg. 1991, S. I-4685 (4713), Rn. 19 – Society for the Protection of Unborn Children Ireland Ltd.

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3. Kap.: Entstehung, Verletzung und Schranken der Handlungspflichten

sogenannte „Buy-national“-Kampagnen, die tatsächlich den Marktzugang für mitgliedstaatliche Waren beeinträchtigen, entsteht für den Mitgliedstaat eine Handlungspflicht. Das Verhalten der Störer fällt allerdings unter das Recht auf freie Meinungsäußerung. Zwar sind „Buy-national“-Kampagnen vom EuGH für verboten erklärt worden, wenn sie staatlich gefördert sind. Werden „Buy-national“Kampagnen allerdings unter Ausschluß jeglicher staatlicher Beteiligung initiiert, so kann sich ein Mitgliedstaat auf die Notwendigkeit berufen, das Recht auf freie Meinungsäußerung seiner Bürger gewährleisten zu müssen und sein Nichteinschreiten gegen die privaten Beeinträchtigungen rechtfertigen. bb) Die Versammlungsfreiheit Die Versammlungsfreiheit ist in Art. 11 EMRK geschützt und wird in Art. 12 Charta der Grundrechte der Europäischen Union deklaratorisch bestätigt. Danach hat jede Person das Recht, sich insbesondere im politischen, gewerkschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Bereich auf allen Ebenen frei und friedlich mit anderen zu versammeln. Bis zu dem jüngst ergangenen Urteil Schmidberger184 hatte sich der Gerichtshof zu diesem Grundrecht nicht geäußert. Aufgrund der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten185 und dem Erfordernis der Existenz einer Versammlungsfreiheit als „Grundlage jedes freiheitlich demokratischen Staates“186, konnte aber bereits in der Vergangenheit davon ausgegangen werden, daß auch auf Gemeinschaftsrechtsebene ein Grundrecht auf Versammlungsfreiheit existiert187. In der Rechtsache Schmidberger hat der Gerichtshof unter Bezugnahme auf Art. 11 EMRK Union die Existenz eines Grundrechts auf Versammlungsfreiheit auf Gemeinschaftsrechtsebene nun ausdrücklich anerkannt188. Für die Kundgabe von Meinungen durch Versammlungen tritt die Meinungsfreiheit (Art. 10 EMRK, Art. 11 Charta der Grundrechte der Europäischen Union) subsidiär hinter die Versammlungsfreiheit zurück189. Unter Zugrundelegung von Art. 11 EMRK versteht man unter einer Versammlung das Zustandekommen von Menschen zu dem gemeinsamen Zweck, untereinander und gegenüber Dritten Meinungen mitzuteilen, zu diskutieren oder ihnen

184

EuGH Rs. C-112/00, Slg. 2003, S. I-5694 – Schmidberger. Vgl. Art. 26 B; §§ 79, 80 DK; Art. 8 GG; § 10a SF; Art. 11 GR; Art. 40 Abs. 6 Ziff. 1 lit. b) IR; Art. 17 I; Art. 25 L; Art. 9 NL; Art. 45 P; Kap. 2 § 1 Ziff. 4 S; Art. 21 SP. 186 Vgl. Frowein/Peukert-Frowein, Art. 11 EMRK, Rn. 1. 187 Vgl. dazu auch Wetter, S. 176. 188 Vgl. EuGH Rs. C-112/00, Slg. 2003, S. I-5694, Rn. 79 – Schmidberger. 189 Vgl. Frowein/Peukert-Frowein, Art. 11 EMRK, Rn. 1. 185

C. Schranken mitgliedstaatlicher Handlungspflichten

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symbolischen Ausdruck zu geben190. Eine bloße Menschenansammlung kann daher nicht als Versammlung qualifiziert werden. Die zusammengekommenen Personen müssen sich stets einem gemeinsamen Zweck entsprechend zusammengeschlossen haben191. Von besonderer Bedeutung für die mitgliedstaatliche Handlungspflicht ist, daß lediglich friedliche Versammlungen geschützt werden. Als unfriedlich werden derartige Versammlungen bezeichnet, die von Anfang an von ihren Organisatoren zur gewaltsamen Durchsetzung von Zielen geplant sind192. Aggressive oder gewalttätige Verhaltensweisen können daher selbstverständlich nicht vom Mitgliedstaat mit der Notwendigkeit, das Grundrecht seiner Bürger auf Versammlungsfreiheit gewährleisten zu müssen, als zwingende Erfordernisse geltend gemacht werden. Wie bereits angesprochen, ging auch der EuGH in der Entscheidung Kommission/Frankreich, aufgrund der offensichtlich gewalttätigen Aktionen der französischen Bauern, nicht auf die Frage der Gewährleistung der Versammlungsfreiheit der Bauern ein. cc) Das Streikrecht Ein Streikrecht hat in der Judikatur des EuGH bislang noch keine Anerkennung gefunden. Artikel 11 EMRK gewährleistet ausdrücklich kein Streikrecht. In der Rechtssache Schmidt und Dahlström führte der EGMR zwar aus, daß aus Art. 11 EMRK abzuleiten sei, daß die Mitglieder einer Gewerkschaft zum Schutze ihrer Interessen einen Anspruch darauf haben, von ihrer Organisation gehört zu werden, wobei dem betreffenden Vertragsstaat die Wahl der Mittel überlassen bliebe, die er zu diesem Zweck einsetzen will. Als geeignete Mittel erkannte der Gerichtshof unter anderem die Gewährung eines Streikrechts an193. Als wesentlicher Bestandteil des Art. 11 EMRK wird das Streikrecht allerdings nicht angesehen194. Ausdrücklich textlich ausgewiesen wird es allerdings in Art. 6 Nr. 4 der Europäischen Sozialcharta und Nr. 13 der Gemeinschaftscharta der Sozialen Grundrechte. Auf verfassungsrechtlicher Ebene der Mitgliedstaaten wird ein Streikrecht in Frankreich, Griechenland, Italien, Portugal, Schweden gewährt. In Deutschland, Finnland und Luxemburg ist das Streikrecht in der Verfassung zwar nicht ausdrück190

Vgl. dazu Ehlers-Marauhn, S. 96; Frowein/Peukert-Frowein, Art. 11, Rn. 2.; EGMR, Urteil vom 21. Juni 1988, Nr. 5/1987/128/179, abgedruckt in EuGRZ 1989, S. 522 ff. – Plattform „Ärzte für das Leben“. 191 Vgl. Frowein/Peukert-Frowein, Art. 11, Rn. 2. 192 Vgl. Frowein/Peukert-Frowein, Art. 11 EMRK, Rn. 4. 193 Vgl. EGMR, Urteil vom 6. Februar 1976, abgedruckt in EuGRZ 1976, S. 68 (70) – Schmidt u. Dahlström. 194 Vgl. weiterführend Mosler/Bernhardt-Kitz, Bd. 2, S. 1073 (1078 ff., 1098).

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3. Kap.: Entstehung, Verletzung und Schranken der Handlungspflichten

lich normiert, genießt aber dennoch nach allgemeiner Auffassung Verfassungsrang195. In der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist das Streikrecht nunmehr ausdrücklich in Art. 28 niedergelegt. Artikel 2 der Verordnung Nr. 2679/98 über das Funktionieren des Binnenmarktes im Zusammenhang mit dem freien Warenverkehr zwischen den Mitgliedstaaten weist ebenfalls ausdrücklich darauf hin, daß die dort normierte Handlungspflicht der Mitgliedstaaten zur Sicherung des freien Warenverkehrs nicht so ausgelegt werden darf, daß ein in den Mitgliedstaaten anerkanntes Streikrecht gefährdet wird196. Nach alledem ist davon auszugehen, daß auf Gemeinschaftsrechtsebene ein Streikrecht als Grundrecht gewährleistet ist197. Sofern sich ein Mitgliedstaat darauf beruft, die rechtmäßige Ausübung der Streikfreiheit seiner Bürger gewährleisten zu müssen, wird das nationale Streikrecht grundsätzlich als zwingendes Erfordernis des Gemeinschaftsrechts anerkannt werden müssen. dd) Die Allgemeine Handlungsfreiheit Weder die EMRK noch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union beinhalten ein Grundrecht auf allgemeine Handlungsfreiheit. In den Mitgliedstaaten wird ein derartiges Grundrecht ausdrücklich nur in Deutschland, Frankreich und Griechenland normiert198. Allerdings wurde in der Rechtssache Rau die allgemeine Handlungsfreiheit vom EuGH ausdrücklich als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts bezeichnet199. Auch die Entscheidung Hoechst AG wird in der Literatur als ein Anerkenntnis des Gerichtshofes zu einem Grundrecht auf allgemeine Handlungsfreiheit auf Gemeinschaftsrechtsebene angesehen200. Dort heißt es: „[…] indessen bedürfen in allen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten Eingriffe der öffentlichen Gewalt in die 195

Vgl. dazu Mosler/Bernhardt-Dolzer, Bd. 2, S. 1255 (1259). Vgl zur Verordnung sogleich ausführlich unten, 5. Kapitel. 197 Vgl. zur Anerkennung des Streikrechts als allgemeinen Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts: Wetter, S. 171 ff.; Bleckmann, Europarecht, Rn. 758. 198 Vgl. Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 5 MR-F; Art. 5 Abs. 1 GR. Allerdings weist Calliess/Ruffert-Kingreen, Art. 6 EUV, Rn. 164, FN 386, zu Recht darauf hin, daß natürlich nicht ausgeschlossen werden kann, daß in anderen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen die allgemeine Handlungsfreiheit über die Auslegung anderer Grundrechte geschützt wird. 199 Vgl. EuGH verb. Rs. 133-136/85, Slg. 1987, S. 2289 (2338 f.), Rn. 15 ff. – Rau. Auf die konkrete inhaltliche Ausgestaltung dieses Rechts ging der Gerichtshof allerdings nicht ein. 200 Vgl. Steinberger, VVDStRL 50 (1991), S. 9 (26); Kirchhof, EuR 1991, Beiheft 1, S. 11 (24); Rengeling, Grundrechtsschutz, S. 136; Calliess/Ruffert-Kingreen, Art. 6 EUV, Rn. 169. 196

C. Schranken mitgliedstaatlicher Handlungspflichten

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Sphäre der privaten Betätigung jeder natürlichen oder juristischen Person einer Rechtsgrundlage und müssen aus den gesetzlich vorgesehenen Gründen gerechtfertigt sein; diese Rechtsordnungen sehen daher, wenn auch in unterschiedlicher Ausgestaltung, einen Schutz gegen willkürliche oder unverhältnismäßige Eingriffe vor. Das Erfordernis eines solchen Schutzes ist deutlich als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts anzuerkennen.“201 Erkennt man innerhalb des Gemeinschaftsrechts ein Grundrecht auf allgemeine Handlungsfreiheit an, so kommt diesem allerdings lediglich die Funktion eines subsidiären Auffanggrundrechts202 und damit eine eher untergeordnete Rolle zu. c) Auflösung der Kollision zwischen dem Grundsatz des freien Warenverkehrs und dem zwingenden Erfordernis der nationalen Grundrechtsverbürgungen Beruft sich ein Mitgliedstaat zur Rechtfertigung seines Nichteinschreitens gegen private Störer des freien Warenverkehrs auf Grundrechte seiner nationalen Verfassung, wie beispielsweise auf die Meinungsäußerungsfreiheit, die Versammlungsfreiheit oder die Streikfreiheit, die im wesentlichen im Einklang mit den oben dargestellten entsprechenden Grundrechtsverbürgungen auf Gemeinschaftsrechtsebene stehen, so ist das geltend gemachte nationale Grundrecht als gemeinschaftsrechtlich anerkanntes zwingendes Erfordernis einzuordnen. Im Ergebnis stehen sich dann das nationale Grundrecht und der Grundsatz des freien Warenverkehrs gegenüber, was nunmehr die Frage nach der speziellen Auflösung dieser Interessenkollision aufwirft. Die konkrete Auflösung der Kollision eines zwingenden Erfordernisses mit dem Grundsatz des freien Warenverkehrs bestimmt sich grundsätzlich anhand einer Verhältnismäßigkeitsprüfung203. Ein gemeinschaftsrechtlich anerkannter nationaler Allgemeinwohlbelang muß stets geeignet, erforderlich und angemessen sein, um eine Beschränkung des freien Warenverkehrs zu rechtfertigen204. Dabei werden allerdings die gedanklich zu tren-

201 EuGH verb. Rs. 248/88, 254–258/88, 309/88 und 316/88, Slg. 1989, S. 2837 (2924), Rn. 19 – Hoechst AG. 202 Vgl. Calliess/Ruffert-Kingreen, Art. 6 EUV, Rn. 165, der auf die parallele Stellung des Art. 2 Abs. 1 GG als Auffanggrundrecht im Deutschen Verfassungsrecht verweist. 203 Vgl. nur EuGH Rs. C-238/89, Slg. 1990, S. I-4827 (4848), Rn. 12 – Pall Corp.; EuGH Rs. C-126/91, Slg. 1993, S. I-2361 (2388 f.), Rn. 12 – Yves Rocher; EuGH Rs. C-470/93, Slg. 1995, S. I-1923 (1941 f.), Rn. 15 – Mars GmbH; EuGH Rs. C-383/97, Slg. 1999, S. I-731 (759), Rn. 19 – Strafverfahren gegen van der Laan; vgl. zur ausnahmslosen Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Rahmen der Ausnahmetatbestände einer Grundfreiheit auch Pollak, S. 51 ff. 204 Vgl. zur Entwicklung und Ausgestaltung des Verhältnismäßigkeitsprinzips im Gemeinschaftsrecht, Emmerich-Fritsche, S. 198 ff.

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3. Kap.: Entstehung, Verletzung und Schranken der Handlungspflichten

nenden Prüfungspunkte der Erforderlichkeit und der Angemessenheit vom EuGH zumeist zugleich vorgenommen205. Wie bereits zuvor erwähnt, zeigt diese praktizierte Verhältnismäßigkeitsprüfung, daß sowohl der Grundsatz des freien Warenverkehrs als auch ein gemeinschaftsrechtlich anerkanntes zwingendes Erfordernis gleichrangige Prinzipien des Gemeinschaftsrechts darstellen. Denn die verhältnismäßige Zuordnung zweier Rechtsgüter setzt voraus, daß es sich bei den abzuwägenden Interessen um gleichwertige Prinzipien handelt206. Anhand einer einzelfallbezogenen Verhältnismäßigkeitsprüfung wird das Prinzip des freien Warenverkehrs durch das Prinzip einer Grundrechtsposition relativiert. Die rechtliche Möglichkeit der Realisierung des Prinzips des freien Warenverkehrs hängt dabei von der Gewichtung des gegenläufigen Prinzips des zwingenden Erfordernisses ab. Eine Abwägung beider Interessen führt sodann zur Auflösung der Kollision und zur Reduktion des freien Warenverkehrs auf ein sogenanntes Optimierungsgebot207. Im Ergebnis bedarf es somit einer genauen Abwägung zwischen dem Interesse der Gemeinschaft an einem uneingeschränkten, grenzüberschreitenden Warenaustausch zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten und dem Interesse des Mitgliedstaates die verfassungsrechtlich verbürgten Grundrechte der Störer des freien Warenverkehrs zu gewährleisten. In der Rechtssache Bosman, die letztlich – wenn auch im Rahmen der unmittelbaren Drittwirkung – ebenfalls eine Kollision einer Grundfreiheit und einem Grundrecht zum Gegenstand hatte, ging der EuGH mit lediglich zwei Sätzen auf die geltend gemachte Vereinigungsfreiheit der Sportverbände ein. Er stellte fest, daß „nicht davon auszugehen ist, daß die von Sportverbänden aufgestellten Regeln […] erforderlich sind, um die Ausübung dieser Freiheit durch die genannten Verbände, die Vereine oder die Spieler zu gewährleisten, oder daß sie eine unausweichliche Folge dieser Freiheit darstellen.“208 Der Vorrang der Arbeitnehmerfreizügigkeit gegenüber der Vereinigungsfreiheit folge daraus, daß „die Ausübung der dem einzelnen durch den Vertrag verliehenen Rechte nicht eingeschränkt werden dürfe“209 und damit aus einer umfassend gebotenen Verwirklichung des freien Personenverkehrs210. Dieser Argumentation zufolge führt erst eine solche Regelung zu einem Anwendungsausschluß der Grundfreiheit, die sich als unausweichliche Voraussetzung für die Vereinigungsfreiheit darstellt. Es scheint, daß der EuGH mit der Formulierung „unausweichliche Folge“ im Grunde darauf abstellt, daß eine Grundrechtsposition 205 206 207 208 209 210

Vgl. dazu Ahlfeld, S. 240 ff., 245. Vgl. Borowski, S. 121. Vgl. zu Prinzipien und Optimierungsgeboten Alexy, S. 100 f. EuGH Rs. C-415/93, Slg. 1995, S. I-4921 (5065), Rn. 80 – Bosman. EuGH Rs. C-415/93, Slg. 1995, S. I-4921 (5065), Rn. 81 – Bosman. Vgl. Gramlich, DöV, 1996, S. 801 (810).

C. Schranken mitgliedstaatlicher Handlungspflichten

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sich erst dann gegenüber einer Grundfreiheit durchsetzten kann, wenn dessen Wesensgehalt betroffen ist211, andernfalls die Grundfreiheit Vorrang gegenüber dem Grundrecht genießt. Den Grundrechten wird durch eine lediglich ausschließliche Wesensgehaltsgarantieprüfung im Rahmen der Warenverkehrsschranke allerdings nicht ausreichend Rechnung getragen. Letztlich wird auf diese Weise die Gleichrangigkeit und Gleichwertigkeit von Grundrechten und Grundfreiheiten durch den Gerichtshof negiert. Um Grundrechte und Grundfreiheiten im Bereich der mitgliedstaatlichen Handlungspflicht gem. Art. 28 i. V. m. Art. 10 Abs. 1 S. 1 EGV tatsächlich als gleichrangige und gleichgewichtige Prinzipien zu achten, ist zu wünschen, daß bei deren Kollisionen die geltend gemachten Grundrechten eine eingehendere Würdigung erfahren. Unbedingt erforderlich dafür ist, daß zwischen den Grundrechten und der Grundfreiheit des freien Warenverkehrs ein möglichst schonender Ausgleich im Sinne einer praktischen Konkordanz212 hergestellt wird. Dieser Forderung scheint der Gerichtshof nunmehr in dem kürzlich ergangenen Urteil Schmidberger weitgehend nachgekommen zu sein. Hinsichtlich der Frage nach der Tragweite der Grundrechte einerseits und des Grundsatzes des freien Warenverkehrs andererseits, führte er aus, daß die bestehenden Interessen abzuwägen und anhand sämtlicher Umstände des jeweiligen Einzelfalles festzustellen ist, ob das rechte Gleichgewicht zwischen diesen Interessen gewahrt worden ist213. Nach einer Abwägung beider Interessen kam der Gerichtshof zu dem Ergebnis, daß eine Untersagung der Demonstration auf der Brennerautobahn einen nicht hinnehmbaren Eingriff in die Grundrechte der Demonstranten, sich zu versammeln und ihre Meinung friedlich öffentlich zu äußern, dargestellt hätte214. Diese Ausführungen lassen somit auf eine positive Tendenz in der Rechtsprechung des EuGH schließen, daß bei künftigen Kollisionen zwischen Grundrechten und Grundfreiheiten, zumindest im Bereich der mitgliedstaatlichen Handlungspflicht gem. Art. 28 i. V. m. Art. 10 Abs. 1 S. 1 EGV, den Grundrechten eine umfassendere Würdigung zukommen wird. VI. Fazit In diesem Abschnitt wurden die Schranken einer mitgliedstaatlichen Handlungspflicht gem. Art. 28 i. V. m. Art. 10 Abs. 1 S. 1 EGV untersucht.

211 Vgl. zur Wesensgehaltsgarantie EuGH Rs. 44/79, Slg. 1979, S. 3727 (3747), Rn. 23 – Hauer; EuGH Rs. C-280/93, Slg. 1994, S. I-4973 (5065), Rn. 78 – Deutschland/Rat. 212 Vgl. zum Begriff der praktischen Konkordanz: Isensee/Kirchhof-Kirchhof, Band V, § 124, Rn. 289. 213 Vgl. EuGH Rs. C-112/00, Slg. 2003, S. I-5694, Rn. 81 – Schmidberger. 214 Vgl. EuGH Rs. C-112/00, Slg. 2003, S. I-5694, Rn. 89 – Schmidberger.

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3. Kap.: Entstehung, Verletzung und Schranken der Handlungspflichten

Zusammenfassend ist festzuhalten, daß die bestehenden Schranken des Art. 28 EGV – namentlich die geschriebenen Rechtfertigungsgründe des Art. 30 EGV und der ungeschriebene Rechtfertigungskatalog der zwingenden Erfordernisse im Sinne der Cassis-Rechtsprechung – zwar grundsätzlich direkt auf ein mitgliedstaatliches Unterlassen anwendbar sind. Jedoch wird eine Abgrenzung der geschriebenen von ungeschriebenen Rechtfertigungsgründen anhand der kontrovers diskutierten Notwendigkeit einer unmittelbar diskriminierenden, mittelbar diskriminierenden oder diskriminierungsfreien Maßnahme hinfällig. Dem Mitgliedstaat stehen sowohl die geschriebenen als auch die ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe nebeneinander zur Verfügung, um sein Nichteinschreiten oder unzureichendes Einschreiten gegen Beschränkungen von Privatpersonen zu rechtfertigen. Die in diesem Zusammenhang notwendige Berücksichtigung nationaler Grundrechte der jeweiligen mitgliedstaatlichen Verfassungen unterfällt dem ungeschriebenen Rechtfertigungskatalog der zwingenden Erfordernisse im Sinne der CassisRechtsprechung.

Viertes Kapitel

Reaktionsmöglichkeiten der Kommission und der Mitgliedstaaten auf ein vertragswidriges Unterlassen eines Mitgliedstaates nach dem EG-Vertrag Die folgenden Ausführungen widmen sich den prozessualen Möglichkeiten, um auf die Untätigkeit eines Mitgliedstaates bei privatverursachten Beschränkungen des freien Warenverkehrs reagieren zu können. Dazu werden die nach dem EGVertrag bestehenden Reaktionsmöglichkeiten der Kommission und der Mitgliedstaaten untersucht.

A. Vertragsverletzungsverfahren der Kommission gem. Art. 226 EGV Der Kommission als „Hüterin der Verträge“1, wird mit dem in Art. 226 EGV normierten Vertragsverletzungsverfahren ein Instrument zur Verfügung gestellt, um gegen das vertragsbrüchige Verhalten eines Mitgliedstaates vorzugehen. Dieses Verfahren bildet in der Praxis eine der wichtigsten Maßnahmen, um die Mitgliedstaaten zur Einhaltung des Gemeinschaftsrechts anzuhalten, um somit Zweck, Bestand und Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft zu sichern2. Eine Vertragsverletzung im Sinne des Art. 226 EGV liegt vor, wenn ein Mitgliedstaat eine Norm des EG-Vertrages nicht oder nicht richtig anwendet, einer Unterlassungspflicht zuwiderhandelt oder einer Handlungspflicht nicht genügt3. Im zweiten Kapitel konnte dargelegt werden, daß die Mitgliedstaaten gem. Art. 28 i. V. m. Art. 10 Abs. 1 S. 1 EGV vertraglich verpflichtet sind, gegen privat initiierte Beeinträchtigungen des freien Warenverkehrs einzuschreiten. Verletzt ein Mitgliedstaat diese ihm obliegende Pflicht, so ist ein Vertragsverletzungsverfahren grundsätzlich die richtige Klageart, um das Unterlassen des Mitgliedstaates zu ahnden. Das Verfahren gem. Art. 226 EGV ist in zwei Stadien unterteilt: in ein formelles Vorverfahren und ein gerichtliches Verfahren. 1 2 3

Lenz-Breier, Art. 211, Rn. 3. Vgl. Ortlepp, S. 11. Vgl. zu diesen möglichen Vertragsverstößen König/Haratsch, Rn. 334 ff.

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4. Kap.: Reaktionsmöglichkeiten auf vertragswidriges Unterlassen

In der Praxis wird dem formellen Vorverfahren regelmäßig noch ein informelles Vorverfahren vorgeschaltet, welches auf diplomatischem Wege dem gerügten Verhalten Abhilfe verschaffen soll4. Führt das informelle Vorverfahren nicht zu einer Streitbeilegung, so eröffnet die Kommission das formelle Vorverfahren. Die Verfahrensherrschaft obliegt in diesem Stadium allein der Kommission. Kommt diese zu der Überzeugung, daß ein Mitgliedstaat gegen das Gemeinschaftsrecht verstoßen hat, so wird dem betreffenden Mitgliedstaat zunächst ein Mahnschreiben übermittelt, zu dem er sich binnen einer bestimmten Frist äußern muß. Das Mahnschreiben dient hauptsächlich der förmlichen Anhörung des Mitgliedstaates und der Eingrenzung eines künftigen Streitgegenstandes5. Nach ergebnisloser Anhörung und fortwährenden Zuwiderhandlungen des Mitgliedstaates gibt die Kommission eine mit Gründen versehene Stellungnahme ab. Diese Stellungnahme6 gibt die Überzeugung der Kommission vom Bestehen des Vertragsverstoßes in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht wieder. Sie stellt eine letzte Aufforderung an den Mitgliedstaat dar, innerhalb einer bestimmten Frist den vertragswidrigen Zustand zu beseitigen und sämtliche ergriffenen Maßnahmen der Kommission mitzuteilen. Kommt der betroffene Mitgliedstaat den Aufforderungen der Kommission nicht nach, kann die Kommission gem. Art. 226 Abs. 2 EGV Klage vor dem Gerichtshof einreichen. Hinsichtlich dieser Klageerhebung verfügt die Kommission über ein Ermessen7. Innerhalb dieser Ermessensentscheidung ist jedoch stets die Verpflichtung der Kommission zu beachten, gem. Art. 211 EGV für die Anwendung des EG-Vertrages Sorge zu tragen. Die Möglichkeit, gegen untätige Mitgliedstaaten im Wege eines Vertragsverletzungsverfahrens vorzugehen, ist ein sehr langwieriger Prozeß. Exemplarisch ist auf den Fall Kommission/Frankreich hinzuweisen. In diesem Fall erging das Mahnschreiben der Kommission an die Republik Frankreich am 19. Juli 1994. Die darauf folgende Stellungnahme wurde am 5. Mai 1995 abgegeben. Die schließlich erhobene Klage gegen die dauerhaft untätig bleibende Republik wurde am 9. Dezember 1997 entschieden8. Im Ergebnis vergingen also über zweieinhalb Jahre bis effektiv auf das Unterlassen Frankreichs reagiert werden konnte. Diese Verfahrensdauer ist indessen noch nicht einmal als eine durchschnittliche Verfahrens-

4 Vgl. hierzu Koenig/Sander, Rn. 178; Grabitz/Hilf-P. Karpenstein/U. Karpenstein, Art. 226, Rn. 45. 5 Vgl. EuGH Rs. 211/81, Slg. 1982, S. 4547 (4557), Rn. 8 f. – Kommission/Dänemark. 6 Die Stellungnahme ist zwar zwingende Voraussetzug des formellen Vorverfahrens, entfaltet jedoch keine rechtlich verbindliche Wirkung, vgl. EuGH Rs. 48/65, Slg. 1966, S. 27 (39) – Lütticke; EuGH Rs. C-191/95, Slg. 1998, S. I-5449 (5498), Rn. 44 – Kommission/Bundesrepublik Deutschland. 7 Vgl. Art. 226 Abs. 2 EGV: „kann […] anrufen“. 8 Vgl. EuGH Rs. C-265/95, Slg. 1997, S. I-6959 (6992 ff.), Rn. 1 ff. – Kommission/ Frankreich.

C. Einstweilige Anordnung gem. Art. 243 EGV

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dauer einzustufen. In der Regel beträgt die Dauer eines Vorverfahrens zwölf bis achtzehn Monate, die des gerichtlichen Verfahrens 25 Monate9. Vor diesem Hintergrund erweist sich das in Art. 226 EGV normierte Vertragsverletzungsverfahren als unzureichend, um einer Untätigkeit der Mitgliedstaaten bei privat initiierten Beeinträchtigungen effektiv und vor allem schnell entgegenzutreten.

B. Vertragsverletzungsverfahren der Mitgliedstaaten gem. Art. 227 EGV Nach Art. 227 EGV haben auch die einzelnen Mitgliedstaaten die Möglichkeit, ein Vertragsverletzungsverfahren gegen einen anderen vertragsbrüchigen Mitgliedstaat einzuleiten. Der Klageerhebung vor dem EuGH geht ebenfalls ein außergerichtliches Vorverfahren voraus, in dem zunächst die Kommission mit dem behaupteten Vertragsverstoß befaßt wird. Diese gibt dem betreffenden Mitgliedstaat im Rahmen eines kontradiktorischen Verfahrens die Möglichkeit, sich mündlich und schriftlich zu den Vorwürfen zu äußern und erläßt danach eine mit Gründen versehene Stellungnahme. Erst dann kann ein Mitgliedstaat Klage vor dem Gerichtshof einreichen10. Von dieser Form des Vertragsverletzungsverfahrens wird allerdings in der Praxis kaum Gebrauch gemacht11. Die Mitgliedstaaten meiden in der Regel eine gerichtliche Konfrontation12 und überlassen es der Kommission, Vertragsverstöße nach Maßgabe des Art. 226 EGV geltend zu machen. Unabhängig davon gestaltet sich auch das durch einen Mitgliedstaat eingeleitete Vertragsverletzungsverfahren als ebenso langwierig wie das der Kommission.

C. Einstweilige Anordnung gem. Art. 243 EGV Nach Art. 243 EGV, Art. 83 § 1 EuGH-VerfO haben Kommission und Mitgliedstaaten die Möglichkeit, vorläufigen Rechtsschutz in Form des Erlasses einer einstweiligen Anordnung des EuGH zu beantragen. Die Funktion der einstweiligen Anordnung besteht darin, die Effektivität des Endurteils zu sichern. 9

Vgl. Lenz-Borchardt, Art. 226, Rn. 23. Dabei ist es unerheblich, ob sich die Kommission den Vorwürfen des rügenden Mitgliedstaates anschließt oder nicht, vgl. Lenz-Borchardt, Art. 227 EGV, Rn. 2. Erläßt die Kommission nicht binnen drei Monaten nach Antragstellung eine Stellungnahme, so können die Mitgliedstaaten unabhängig von dieser Stellungnahme den Gerichtshof anrufen, vgl. Art. 227 EGV. 11 Vgl. Oppermann, Rn. 628; Ortlepp, S. 128. 12 Vgl. dazu Everling, EuR 1983, S. 101 ff. 10

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4. Kap.: Reaktionsmöglichkeiten auf vertragswidriges Unterlassen

Zur vorläufigen Sicherung oder Gestaltung streitiger Rechtsverhältnisse kann der Antragsgegenstand einer einstweiligen Anordnung grundsätzlich jede geeignete und erforderliche Ver- oder Gebotsregelung sein13. Dadurch wird vermieden, daß durch die Dauer des Hauptsacheverfahrens ein schwerer und nicht wieder gutzumachender Schaden entsteht. I. Beachtung des Auswahlermessens der Mitgliedstaaten im Rahmen des Art. 28 i. V. m. Art. 10 Abs. 1 S. 1 EGV Im Falle privat initiierter Beeinträchtigungen des freien Warenverkehrs stößt der Erlaß konkreter vorläufiger Gebotsregelungen zur Wiederherstellung des „status quo ante“ auf erhebliche Bedenken. Der Inhalt der mitgliedstaatlichen Handlungspflicht gem. Art. 28 i. V. m. Art. 10 Abs. 1 S. 1 EGV erschöpft sich darin, geeignete und angemessene Maßnahmen zu treffen, um ein unabdingbares Mindestmaß an Schutz zugunsten des freien Warenverkehrs zu gewährleisten. Es liegt ausschließlich im Ermessen des betroffenen Mitgliedstaates, welche Maßnahmen er im Einzelfall ergreift, um dieser Pflicht nachzukommen. Andernfalls läge ein kompetenzwidriger Eingriff in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vor14. Gegenstand einer vorläufigen Gebotsregelung im Sinne des Art. 243 EGV kann daher lediglich die einstweilige Anordnung sein, geeignete und angemessene Maßnahmen zur Wiederherstellung des freien Warenverkehrs zu ergreifen. II. Generelle Möglichkeit einer einstweiligen Anordnung im Vertragsverletzungsverfahren Jedoch ist auch diese vorläufige Anordnung, geeignete und angemessene Maßnahmen zu ergreifen, problematisch. Zu beachten ist nämlich, daß der Erlaß einstweiliger Ver- oder Gebote gem. Art. 243 EGV nicht über den Antrag in der anhängigen Hauptsache hinausgehen darf15. Das Vertragsverletzungsverfahren erschöpft sich gem. Art. 228 EGV in einem Feststellungsurteil. Die Zulässigkeit einer einstweiligen Anordnung im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens könnte man daher in Zweifel ziehen. 13

Vgl. dazu Lenz-Borchardt, Art. 243, Rn. 11; Schwarze-Schwarze, Art. 243, Rn. 7. Vgl. oben, 3. Kapitel, B. I. 2. 15 Vgl. EuGH Rs. 88/76 R, Slg. 1971, S. 1585 (1587), Rn. 2/6 – Société pour l’exportation des sucres; EuGH Rs. C-313/90 R, Slg. 1991, S. I-2557 (2564), Rn. 23 – Comité international de la rayonne. Auch der allgemein gehaltene Wortlaut des Art. 243 EGV kann sich über dieses Erfordernis nicht hinwegsetzen, so aber Generalanwalt Reischl in seinen Schlußanträgen zu Rs. 61/77, Slg. 1977, S. 937 (953), Ziff. 1 – Kommission/Irland. 14

C. Einstweilige Anordnung gem. Art. 243 EGV

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Denn der Erlaß einer vorläufigen Gebotsregelung gem. Art. 243 EGV geht gestaltend über den Tenor einer Vertragsverletzung in der Hauptsache – die bloße Feststellung eines Vertragsverstoßes – hinaus16. Insofern würde der Kommission, beziehungsweise klagenden Mitgliedstaaten, im Falle ihres Obsiegens bei Erlaß einer beantragten Anordnung mehr gewährt werden, als ihnen in der Hauptsache zugesprochen werden kann17. Gleichwohl erläßt der EuGH in beständiger Rechtsprechung einstweilige Anordnungen gem. Art. 243 EGV im Rahmen von Vertragsverletzungsverfahren18. Ein Teil der Literatur versucht, diesen dogmatischen Widerspruch zu entkräften, indem sie darauf hinweist, daß die Pflicht zur Beseitigung eines Vertragsverstoßes nicht erst mit dem abschließenden Feststellungsurteil des EuGH entstehe, sondern von Beginn des Vertragsverstoßes an vorliege. Aus dieser Sichtweise heraus stehe die vorläufige Anordnung von Ge- und Verbotsregelungen nicht im Widerspruch zu den Zielen und Möglichkeiten des Vertragsverletzungsverfahrens19. Diese Argumentation läßt jedoch außer acht, daß die Frage der Möglichkeit einer einstweiligen Anordnung im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens nicht am Maßstab der Vereinbarkeit mit den Zielen des Vertragsverletzungsverfahrens, sondern vielmehr anhand der Befugnisse des Gerichtshofes zum Erlaß einstweiliger Anordnungen, beantwortet werden muß. Eine derartige Befugnis kann indes nicht mit dem maßgeblichen Ziel des Vertragsverletzungsverfahrens begründet werden, wenn das Vertragsverletzungsverfahren selbst lediglich eine Feststellungsbefugnis beinhaltet20. Will man nicht zuletzt aufgrund des erhöhten praktischen Bedürfnisses nach einer einstweiligen Anordnung diese auch im Vertragsverletzungsverfahren als zulässig erachten21, so könnte man vorbringen, daß der an sich kompetenzüberschreitende Tenor des EuGH deswegen gerechtfertigt sei, da die Folgen eines Feststellungsurteils und die einer einstweiligen Anordnung letztlich im wesentlichen gleich sind. Eine einstweilige Anordnung ist nämlich hinsichtlich einer mitgliedstaatlichen Verpflichtung nicht vollstreckbar22. Eine weitere, jeglichen 16

Vgl. Koenig/Sander, Rn. 215. Vgl. Schwarze-Schwarze, Art. 243, Rn. 9; vgl. bereits die Schlußanträge von Generalanwalt Mayras in Rs. 31/77 R und 53/77 R, Slg. 1977, S. 921 (935) – Kommission/Großbritannien, für das Verfahren nach Art. 88 Abs. 2 EGV. 18 Vgl. EuGH Rs. 45/87 R, Slg. 1987, S. 783 (786), Rn. 8 – Kommission/Irland; EuGH Rs. 194/88 R, Slg. 1988, S. 5647 (5645), Rn. 8 ff. – Kommission/Italien; EuGH Rs. C-195/90 R, Slg. 1990, S. I-3351 (3364), Rn. 18 ff. – Kommission/Deutschland. Auf die problematische Zulässigkeit einer einstweiligen Anordnung geht der EuGH in keiner Rechtssache ein. 19 Vgl. G/T/E-Krück, Art. 169, Rn. 49; Grabitz/Hilf-P. Karpenstein/U. Karpenstein, Art. 226, Rn. 79. 20 Vgl. Calliess/Ruffert-Cremer, Art. 226, Rn. 37. 21 So Kaessner, S. 74; Ehlermann, Festschrift-Kutscher 1981, S. 135 (149). 22 Vgl. Calliess/Ruffert-Cremer, Art. 226, Rn. 37. 17

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4. Kap.: Reaktionsmöglichkeiten auf vertragswidriges Unterlassen

dogmatischen Widerspruch vermeidende Lösung wäre der Vorschlag, die Spruchwirkung des Gerichtshofes gem. Art. 243 EGV auf eine „einstweilige Feststellung“ zu begrenzen23. III. Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache Erachtet man eine einstweilige Anordnung als zulässig, so ist weiterhin zu berücksichtigen, daß diese im Bereich der Verletzung einer mitgliedstaatlichen Handlungspflicht gem. Art. 28 i. V. m. Art. 10 Abs. 1 S. 1 EGV erhöhte Gefahr läuft, die Hauptsache zu präjudizieren. Im Falle eines Nichteinschreitens eines Mitgliedstaates gegen privat initiierte Beeinträchtigungen des freien Warenverkehrs, erschöpft sich die Kontrollbefugnis des Gerichtshofes im Hauptsacheverfahren in einer Evidenzkontrolle. Dem EuGH steht damit lediglich die Befugnis zu, zu überprüfen, ob der betroffene Mitgliedstaat offensichtlich ungeeignete Maßnahmen zur Wiederherstellung des freien Warenverkehrs ergriffen hat24. Die Notwendigkeit einer einstweiligen Anordnung ermittelt der EuGH anhand einer summarischen Überprüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache. Dabei bedient er sich zum Teil ebenfalls an dem Kriterium der Offenkundigkeit des behaupteten Vertragsverstoßes25. Insofern ist in erhöhtem Maße darauf zu achten, daß die Prüfung der Notwendigkeit einer einstweiligen Anordnung nicht die Überprüfung der Hauptsache präjudiziert. IV. Praktische Erwägungen Unabhängig von den dargestellten rechtlichen Problemen einer einstweiligen Anordnung, ist ein derartiger Antrag nur dann zulässig, wenn er von einer Partei eines beim EuGH bereits rechtshängigen Rechtsstreits gestellt wird. Dieses Erfordernis ergibt sich zum einen aus dem Wortlaut des Art. 243 EGV („bei ihm anhängigen Sachen“) sowie aus Art. 83 § 1 Abs. 2 EuGH-VerfO. Die einstweilige Anordnung wirkt damit streng akzessorisch in Bezug auf das Hauptsacheverfahren26. Die Rechtshängigkeit einer Klage tritt gem. Art. 19 S. 1 EuGH-Satzung 23 Vgl. die Schlußanträge von Generalanwalt Mayras in Rs. 31 und 53/77 R, Slg. 1977, S. 921 (935) – Kommission/Großbritannien; Koenig/Sander, Rn. 215. 24 Vgl. dazu oben, 3. Kapitel, B. II. 25 Vgl. EuGH verb. Rs. 60 und 190/81 R, Slg. 1981, S. 1857 (1862), Rn. 7 – IBMC; EuGH Rs. 154/85 R, Slg. 1985, S. 1753 (1756), Rn. 11 – Kommission/Italien. Vgl. dazu ebenfalls Grabitz/Hilf-Grabitz, Art. 186, Rn. 16, unter Verweis auf Art. 185, Rn. 28; Kaessner, S. 110 ff.; Wagner, S. 54 ff. 26 Vgl. den Unterschied zum deutschen Verwaltungsprozessrecht nach § 80 und insbesondere § 123 VwGO. Vgl. dazu Redeker/von Oertzen, § 80 Rn. 25 ff. sowie § 123, Rn. 1.

D. Vorbeugender Rechtsschutz

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mit wirksamer Klageerhebung ein. Das bedeutet, daß zur Zulässigkeit einer einstweiligen Anordnung zunächst das Vorverfahren des Vertragsverletzungsverfahrens wirksam durchgeführt werden muß27. Wie bereits erwähnt, liegt die durchschnittliche Vorverfahrensdauer bei zwölf bis achtzehn Monaten. In der Rechtssache Kommission/Frankreich zog sich das Vorverfahren über ein Jahr hin. Insofern erweist sich selbst die Möglichkeit eines Antrages auf einstweilige Anordnung gem. Art. 243 EGV als sehr zeitintensiv. V. Fazit Entgegen der Praxis des EuGH bestehen erhebliche Bedenken im Hinblick auf die grundsätzliche Zulässigkeit einer einstweiligen Anordnung im Vertragsverletzungsverfahren. Darüber hinaus besteht gegenüber einstweiligen Anordnungen im Rahmen von Vertragsverletzungsverfahren, die auf die Feststellung einer Verletzung der mitgliedstaatlichen Handlungspflicht gem. Art. 28 i. V. m. Art. 10 Abs. 1 S. 1 EGV gerichtet sind, die erhöhte Gefahr einer Präjudizierung der Hauptsache. Im Hinblick auf das Erfordernis der Rechtshängigkeit der Klage, kann letztlich aber auch eine einstweilige Anordnung keine schnelle und effektive Reaktion auf die Untätigkeit eines Mitgliedstaates bei Beeinträchtigungen des freien Warenverkehrs durch Private ermöglichen.

D. Vorbeugender Rechtsschutz Für das deutsche Verwaltungsprozeßrecht besteht in Rechtsprechung und Literatur im Ergebnis weitgehende Übereinstimmung dahingehend, daß das Institut des vorbeugenden Rechtsschutzes als Klageart existiert28. Ziel des vorbeugenden Rechtsschutzes ist es, ernstlich befürchteten, künftigen Rechtsverletzungen zu begegnen29. Im Gegensatz zum einstweiligen Rechtsschutz, der die vorläufige Entscheidung eines sich in der Regel schon länger hinziehenden Rechtsstreits zum Ziel hat, umfaßt der vorbeugende Rechtsschutz diejenigen Maßnahmen, die der Abwehr drohender, bereits angekündigter oder jedenfalls nahe bevorstehender Akte öffentlicher Gewalt dienen30. Unabhängig von der Frage, ob entsprechend bei der bloßen Gefahr der Verletzung einer Handlungspflicht eines Mitgliedstaates ein vorbeugender Rechtsschutz sinnvoll und vor allem rechtlich möglich wäre, ist im Recht der Europäischen Gemeinschaften das Rechtsinstitut eines vorbeugenden Rechtsschutzes nicht ausdrücklich normiert.

27 28 29 30

Vgl. dazu kritisch Kaessner, S. 23 ff. Vgl dazu Eyermann, § 42, Rn. 66, m. w. N.; a. A. Schmitt Glaeser/Horn, Rn. 313. Eyermann, § 42, Rn. 66. Vgl. Berrang, S. 15.

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4. Kap.: Reaktionsmöglichkeiten auf vertragswidriges Unterlassen

Auch eine Analogie zu den bereits vorhandenen Rechtsschutzmöglichkeiten kommt nicht in Betracht31.

E. Beschleunigtes Verfahren gem. Art. 62 a VerfO-EuGH Seit dem 1. Februar 2001 besteht die Möglichkeit der Durchführung eines sogenannten beschleunigten Gerichtsverfahrens gem. Art. 62 a VerfO-EuGH32. Diese Verfahrensart ist für Rechtssachen mit besonderer Dringlichkeit bestimmt, denen selbst der Erlaß einer einstweiligen Anordnung im Rahmen eines vorläufigen Rechtsschutzes nicht gerecht werden kann33. Voraussetzung gem. Art. 62 a § 1 VerfO-EuGH ist, daß die besondere Dringlichkeit der Rechtssache es erforderlich macht, daß der Gerichtshof innerhalb kürzester Zeit entscheidet. Durchgesetzt wird das beschleunigte Verfahren gem. Art. 62 a § 2 VerfO-EuGH durch eine grundsätzliche Beschränkung des schriftlichen Verfahrens auf einen einzigen Schriftsatzwechsel zwischen den Parteien. Der mündlichen Verhandlung kommt somit eine entscheidende Bedeutung zu. Dementsprechend kommt das beschleunigte Verfahren insbesondere für solche Rechtsstreitigkeiten in Betracht, die sich im Hinblick auf ihren Schwierigkeitsgrad und des jeweiligen Umfanges des jeweiligen Schriftsatzes der Parteien für eine im wesentlichen mündliche Erörterung eignen34. Der Antrag einer Partei, eine Rechtssache dem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen, ist gem. Art. 62 a § 1 Abs. 2 VerfO-EuGH mit besonderem Schriftsatz gleichzeitig mit der Klageschrift oder der Klageerwiderung einzureichen. Voraussetzung für die Zulässigkeit eines beschleunigten Verfahrens ist mithin die Klagerhebung und damit die der Klagerhebung vorausgehende notwendige Durchführung eines gerichtlichen Vorverfahrens. Insoweit ermöglicht das beschleunigte Verfahren lediglich eine Verkürzung des gerichtlichen Verfahrens.

F. Fazit Verletzt ein Mitgliedstaat eine ihm obliegende Handlungspflicht gem. Art. 28 i. V. m. Art. 10 Abs. 1 S. 1 EGV, haben weder die betroffenen Mitgliedstaaten noch die Kommission die Möglichkeit, umgehend und effektiv gegen die Untätigkeit des vertragsbrüchigen Mitgliedstaates vorzugehen.

31 32 33 34

Vgl. dazu Berrang, S. 25 ff., 41. Vgl. ABlEG C 34 vom 1.2.2001, S. 1 ff. Vgl. Zerdick, AnwBl 2001, S. 226 (226). Vgl. Zerdick, AnwBl 2001, S. 226 (226).

Fünftes Kapitel

Die Verordnung Nr. 2679/98 des Rates über das Funktionieren des Binnenmarktes im Zusammenhang mit dem freien Warenverkehr zwischen den Mitgliedstaaten Am 7. Dezember 1998 hat der Rat eine „Verordnung über das Funktionieren des Binnenmarktes im Zusammenhang mit dem freien Warenverkehr zwischen den Mitgliedstaaten“ erlassen1. Diese Verordnung und eine ihr beigefügte Entschließung2 stellen die legislative Reaktion auf die mangelhaften Reaktionsmöglichkeiten auf etwaige Untätigkeiten der Mitgliedstaaten bei privatinitiierten Beeinträchtigungen des grenzüberschreitenden Warenverkehrs dar. Mit dieser Verordnung hat die Europäische Gemeinschaft eine Regelung getroffen, die nach Art. 249 EGV allgemeine Geltung beansprucht und unmittelbar in jedem Mitgliedstaat gilt, ohne daß es eines nationalen Transformationsaktes bedarf. Der Regelungskern der Verordnung beinhaltet die Normierung mitgliedstaatlicher Handlungspflichten sowie ein umfassendes Warnsystem für den Bereich der Warenverkehrsfreiheit. Ziel dieser Regelungen ist es, der Kommission die Möglichkeit zu geben, schneller und effektiver als bisher auf mögliche Handelsbeeinträchtigungen reagieren zu können. Im folgenden wird in der gebotenen Kürze der Hintergrund der Verordnung sowie der der Verordnung vorausgegangene Verordnungsvorschlag der Kommission3 mit dessen wesentlichem Kritikpunkt dargestellt. Im Anschluß daran werden eingehend die Anwendungsvoraussetzungen und Rechtsfolgen der endgültig in Kraft getretenen Verordnung erörtert.

1

Verordnung (EG) Nr. 2679/98 des Rates v. 7.12.1998, ABlEG Nr. L 337 v. 12.12. 1998, S. 8. 2 Entschließung des Rates und der im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten über den freien Warenverkehr v. 7.12.1998, ABlEG L 337 v. 12.12.1998, S. 10. 3 Vgl. ABlEG C 10 vom 15.1.1998, S. 8.

112 5. Kap.: Verordnung Nr. 2679/98 über das Funktionieren des Binnenmarktes

A. Hintergründe des Verordnungserlasses Nachdem es im Frühjahr 1997 wiederholt zu verstärkten Übergriffen französischer Landwirte auf Obst- und Gemüseimporte, insbesondere solcher aus Spanien kam, häuften sich parlamentarische Anfragen an die Kommission, welche Maßnahmen sie zur Sicherstellung des freien Warenverkehrs zu ergreifen gedenke, um weitere Beeinträchtigungen zu unterbinden4. Am 4. Juni 1997 legte die Kommission dem Europäischen Parlament und dem Rat einen Entwurf eines Aktionsplans für den Binnenmarkt vor, welcher als erstes strategisches Großziel die wirkungsvollere Gestaltung der bestehenden Binnenmarktvorschriften enthielt5. Auf der Regierungskonferenz zum Vertrag von Amsterdam, am 16.–17. Juni 1997, billigte der Europäische Rat die Gesamtzielsetzung des Aktionsplanes und stellte das erste Großziel des Aktionsplanes – die wirkungsvollere Gestaltung der bestehenden Binnenmarktregeln – als vorrangig heraus6 und forderte die Kommission auf, zu untersuchen, auf welche Weise der freie Warenverkehr wirksam gewährleistet werden könne und welche Sanktionsmöglichkeiten gegen vertragsbrüchige Mitgliedstaaten in Betracht kämen7.

B. Der Verordnungsvorschlag der Kommission Am 26.11.1997 kam die Kommission der Aufforderung des Rates nach und legte diesem einen „Vorschlag für eine Verordnung des Rates (EG) zur Einführung eines Mechanismus für ein Einschreiten der Kommission zur Beseitigung bestimmter Handelsbehinderungen“8 vor. Mittels dieses Verordnungsvorschlags sollte auf sekundärrechtlicher Ebene ein „Interventionsmechanismus“9 eingeführt werden, welcher zum einen der Kommission die Möglichkeit verschaffen sollte, unmittelbar auf Handelsbeeinträchtigungen reagieren zu können, und zum anderen das Vorverfahren des Vertragsverletzungsverfahrens gem. Art. 226 EGV erheblich verkürzen sollte.

4 Vgl. die schriftlichen Anfragen von: José García-Margallo y Marfil vom 30.5.1997, P-1992/97; Joan Vallvé und Carles-Alfred Gasòliba i Böhm vom 11.6.1997, E-2023/97. 5 Vgl. KOM (97) 184. Bei diesem Aktionsplan handelt es sich um die Fortsetzung der von der Kommission bereits im Oktober 1996 vorgelegten Analyse über die Wirkung und Wirksamkeit der Binnenmarktmaßnahmen, vgl. dazu KOM (96) 520 sowie Bull. 10-96, Ziff. 1.3.17. 6 Vgl. SN 150/97, S. 8. 7 Vgl. SN 150/97, S. 8. 8 ABlEG C 10 vom 15.1.1998, S. 8. 9 Vgl. diesen Begriff bei Schorkopf, EuZW 1998, S. 237 (237).

B. Der Verordnungsvorschlag der Kommission

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Der Vorschlag sah im wesentlichen vor, daß die Kommission bei offenkundigen, eindeutigen und ungerechtfertigten Beeinträchtigungen des freien Warenverkehrs, unabhängig davon, ob diese aus einem Handeln oder Nichteinschreiten eines Mitgliedstaates resultieren und eine schwerwiegende Störung des freien Warenverkehrs hervorrufen, einen ernsthaften Schaden für Privatpersonen verursachen und ein unmittelbares Handeln verlangen, nach Anhörung des betreffenden Mitgliedstaates diesen mittels einer Entscheidung zur Vornahme angemessener Maßnahmen hätte verpflichten können. Bei fortwährenden Zuwiderhandlungen des Mitgliedstaates sollte die Kommission, nach Abgabe einer Stellungnahme und einem fruchtlosen Ablauf einer Dreitagesfrist, unverzüglich den Gerichtshof anrufen können. Diese unverzügliche Klagemöglichkeit vor dem Gerichtshof hätte das Vorverfahren des Vertragsverletzungsverfahrens erheblich verkürzt. Gleichwohl stieß dieser Vorschlag zu Recht auf erhebliche Kritik. Dabei betraf der Hauptkritikpunkt die normierte Entscheidungsbefugnis der Kommission10. Zu beachten ist nämlich, daß eine verbindliche Entscheidung der Kommission, den betreffenden Mitgliedstaat zur Vornahme angemessener Maßnahmen zu verpflichten, die Feststellung eines Vertragsverstoßes impliziert. Vertragsverletzungen können indessen nur durch den Gerichtshof festgestellt werden11. Zwar obliegt der Kommission nach Art. 211 EGV „nach Maßgabe dieses Vertrages“ Entscheidungen in eigener Zuständigkeit zu treffen. Eine Entscheidungsbefugnis der Kommission im Hinblick auf eine Interventionsmöglichkeit im Rahmen der Warenverkehrsfreiheit ist im EG-Vertrag jedoch nicht vorgesehen. Das Interventionsverfahren des Verordnungsvorschlages lehnte sich an die Verfahrensregeln in Beihilfesachen gem. Art. 88 EGV an. In diesem Verfahren ist die Entscheidungsbefugnis der Kommission primärrechtlich verankert und daher rechtlich zulässig. Ohne eine Vertragsänderung wäre die Übertragung einer derartigen förmlichen Entscheidungskompetenz auf die Kommission nicht mit dem institutionellen System des EG-Vertrages vereinbar gewesen12.

10 Vgl. die Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses, ABlEG C 214 vom 10.7.1998, S. 90 (91), Ziff. 3.2 f. 11 EuGH verb. Rs. 142 und 143/80, Slg. 1981, S. 1413 (1433), Rn. 16 – Amministrazione delle Finanze dello stato. 12 Vgl. auch Hauchschild, EuZW 1999, S. 236 (237).

114 5. Kap.: Verordnung Nr. 2679/98 über das Funktionieren des Binnenmarktes

C. Endgültige Fassung der Verordnung des Rates Nach grundlegender Änderung des Verordnungsvorschlages wurde die Verordnung Nr. 2679/98 in ihrer endgültigen Fassung13 und eine ihr beigefügte Entschließung der Mitgliedstaaten14 am 7. Dezember 1998 vom Binnenmarktrat verabschiedet. I. Systematischer Überblick Die erlassene Verordnung umfaßt fünf Artikel und gliedert sich in zwei Teile. Art. 1 definiert die der gesamten Verordnung zugrundeliegende Voraussetzung einer „Behinderung“ und legt damit ihren Anwendungsbereich fest. Artikel 2 statuiert eine Auslegungsregel. Danach wird die Auslegung aller Verordnungsbestimmungen unter den Vorbehalt der Gewährleistung der in den Mitgliedstaaten anerkannten Grundrechte gestellt. Die daran anschließenden Art. 3 bis 5 stellen den zentralen Regelungskern der Verordnung dar, welcher nachfolgend als sogenannter Warnmechanismus bezeichnet wird. Dieser Warnmechanismus legt in Art. 3 und 4 Informations- und Handlungspflichten der Mitgliedstaaten fest und verleiht der Kommission gem. Art. 5 die Befugnis, eine Mitteilung an diejenigen Mitgliedstaaten zu versenden, die von einer Behinderung betroffen sind. II. Anwendungsvoraussetzungen und Begriffsbestimmungen gem. Art. 1 und 2 Der Warnmechanismus wird nach Art. 3 dann eingeleitet, wenn eine „Behinderung“ eintritt oder einzutreten droht. Grundlegende Anwendungsvoraussetzung ist somit das Vorliegen einer Behinderung oder der drohende Eintritt einer solchen. 1. Behinderung gem. Art. 1 Der Begriff der Behinderung wird in Art. 1 legaldefiniert. Danach bedeutet „Behinderung“ eine „möglicherweise gegen Art. 30 bis 36 des Vertrags15 ver13 Sämtliche nachfolgenden Artikelangaben ohne besondere Bezeichnung beziehen sich auf die Verordnung Nr. 2679/98 des Rates. 14 ABlEG L 337 vom 12.12.1998, S. 10. 15 Nunmehr Art. 28 bis 30 EGV Amsterdamer Vertrag.

C. Endgültige Fassung der Verordnung des Rates

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stoßende Behinderung des freien Warenverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten, für die ein Mitgliedstaat verantwortlich ist, gleichgültig, ob sie sich aus einem Handeln oder Nichteinschreiten dieses Mitgliedstaates ergibt, und die a) aufgrund einer physischen oder sonstigen Verhinderung, Verzögerung oder Umleitung der Einfuhr von Waren in, ihrer Ausfuhr aus oder ihrer Verbringung durch den Mitgliedstaat eine schwerwiegende Beeinträchtigung des freien Warenverkehrs hervorruft, b) einen ernsthaften Schaden für die betroffenen Personen verursacht und c) ein unmittelbares Handeln verlangt, um jedes Fortbestehen, jede Ausdehnung oder Verschlimmerung der Beeinträchtigung oder des Schadens zu verhindern.“ Das Tatbestandsmerkmal „Behinderung“ setzt sich somit aus zwei Teilen zusammen. Zum einen aus einer Behinderung des freien Warenverkehrs und zum anderen aus dem kumulativen Vorliegen der in lit. a)–c) genannten Voraussetzungen, die als eine Art Spürbarkeitsvoraussetzungen charakterisiert werden können. Problematisch an dieser Definition ist, daß sie sich im ersten Teil mit dem gleichen Wort erklärt, wie der zu definierende Begriff der Behinderung selbst. Dies führt, wie nachfolgend noch aufgezeigt werden wird, zu Mißverständnissen innerhalb der Interpretation des Anwendungsbereichs der Verordnung. Die folgenden Ausführungen befassen sich zunächst mit der Erläuterung der einzelnen Merkmale einer „Behinderung“ im Sinne des Art. 1 Abs. 1. a) Verstoß eines Mitgliedstaates gegen Art. 28 f. EGV Erste Voraussetzung für das Vorliegen einer Behinderung gem. Art. 1 Abs. 1 ist ein möglicherweise vorliegender Verstoß eines Mitgliedstaates gegen Art. 28 f. EGV. aa) Beschränkung der Verordnung auf den Bereich des freien Warenverkehrs In seinen Stellungnahmen zum Verordnungsvorschlag der Kommission kritisierte der Wirtschafts- und Sozialausschuß die ausschließlich vorgesehene Anwendbarkeit des Verordnungsvorschlages für Beeinträchtigungen des freien Warenverkehrs. Er regte an, den Anwendungsbereich der Verordnung gleichsam auf die Dienstleistungs-, Kapital- und Personenverkehrsfreiheiten zu erweitern16. Dieser Kritik wurde keine Rechnung getragen. 16 ABlEG C 214/90 v. 10.7.1998, Ziff. 2.1.2.; vgl. ebenfalls die schriftliche Anfrage von Amedeo Amadeo, E-3450/98.

116 5. Kap.: Verordnung Nr. 2679/98 über das Funktionieren des Binnenmarktes

Der Anwendungsbereich der Verordnung ist ausdrücklich auf Verstöße gegen Art. 28 f. EGV und damit ausschließlich auf Beeinträchtigungen des freien Warenverkehrs beschränkt. Eine analoge Anwendung der Verordnung für Beeinträchtigungen anderer Grundfreiheiten ist aufgrund des eindeutigen Wortlautes der Verordnung und der eindeutigen Intention des Gesetzgebers, der den Vorschlag des Wirtschafts- und Sozialausschusses bewußt nicht berücksichtigte, nicht möglich. bb) „Möglicherweise“ gegen Art. 30 bis 36 verstoßende Behinderung des freien Warenverkehrs Eine Behinderung im Sinne des Art. 1 Abs. 1 liegt bei einer „möglicherweise gegen Art. 30 bis 36 EGV verstoßenden Behinderung des freien Warenverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten“ vor. Der Zusatz „möglicherweise“ stellt klar, daß letztlich nur der EuGH die Befugnis hat, endgültig über eine Beeinträchtigung des freien Warenverkehrs und damit über einen Vertragsverstoß eines Mitgliedstaates zu entscheiden. Im Unterschied zu Art. 1 des Verordnungsvorschlages der Kommission, welcher vom „Vorliegen einer Beeinträchtigung“ ausgeht und der Kommission diesbezüglich eine Entscheidungskompetenz einräumt, wird nunmehr klargestellt, daß ein Vertragsverstoß seitens der Kommission nicht festgestellt werden kann und bis zu einem endgültigen Urteil des EuGH lediglich der Verdacht einer Beeinträchtigung vorliegt17. Insofern wird mit der Einschränkung einer „möglicherweise“ vorliegenden Behinderung das institutionelle System des EG-Vertrages gewahrt. cc) Ursache der Behinderung: Handeln oder Nichteinschreiten eines Mitgliedstaates Die „Behinderung“ gem. Art. 1 Abs. 1 kann sowohl Ursache eines „Handelns“ als auch eines „Nichteinschreitens“ eines Mitgliedstaates sein. (1) Aktives Handeln: Verstöße gegen Art. 28 EGV Nach dem Wortlaut des Art. 1 Abs. 1 ist der Anwendungsbereich der Verordnung damit für aktive Ein- und Ausfuhrbeschränkungen sowie aktive Maßnahmen gleicher Wirkung eines Mitgliedstaates eröffnet. Das Warnsystem der Art. 3–5 wird daher theoretisch auch dann eingeleitet, wenn ein Mitgliedstaat selbst aktiv gegen Art. 28 f. EGV verstößt oder aber Handlungen Privater ihm als 17

Ebenso für diese Interpretation Hauschild, EuZW 1999, S. 236 (237).

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eigene zugerechnet werden können18. Gleichwohl kommt dieser Tatbestandsvariante eine untergeordnete Rolle zu19. Denn wie aus Erwägungsgrund Nr. 2 der Verordnung hervorgeht, war das Hauptmotiv des Erlasses der Verordnung eine verbesserte Reaktionsmöglichkeit auf einen Verstoß eines Mitgliedstaates gegen Art. 28 i. V. m. Art. 10 Abs. 1 S. 1 EGV. Auch die Erfahrungen in der Praxis haben gezeigt, daß die Verordnung ausschließlich auf die Fälle von Beeinträchtigungen von Privatpersonen und die diesbezügliche Handlungspflicht der Mitgliedstaaten Anwendung gefunden hat20. (2) Nichteinschreiten eines Mitgliedstaates: Verstöße gegen Art. 28 i. V. m. Art. 10 Abs. 1 S. 1 EGV Neben einem Verstoß gegen Art. 28 f. EGV durch das Handeln eines Mitgliedstaates normiert Art. 1 Abs. 1 den eigentlichen Anwendungsfall der Verordnung. Dieser sieht vor, daß ein Mitgliedstaat auch dann gegen die Bestimmungen des freien Warenverkehrs verstößt, wenn er gegen Beeinträchtigungen Privater nicht aktiv einschreitet, um den freien Warenverkehr in seinem Hoheitsgebiet sicherzustellen. Auch, beziehungsweise gerade in diesem Fall, tritt der Warnmechanismus der Art. 3–5 in Kraft. Das Tatbestandsmerkmal „Nichteinschreiten“ hat insofern deklaratorischen Charakter, als daß sich – wie die Untersuchung im zweiten Kapitel erwiesen hat – ein Verstoß eines Mitgliedstaates gegen die Bestimmungen des freien Warenverkehrs aufgrund eines Nichteinschreitens gegen private Beeinträchtigungen aus der Verletzung der primärrechtlichen Bestimmungen der Art. 28 i. V. m. Art. 10 Abs. 1 S. 1 EGV ergibt. (a) Die Definition des „Nichteinschreitens“ gem. Art. 1 Abs. 2 In Art. 1 Abs. 2 wird der Begriff des Nichteinschreitens legaldefiniert. Danach liegt ein Nichteinschreiten vor, „wenn die zuständigen Behörden eines Mitgliedstaates angesichts von Behinderungen, die durch Handlungen von Personen verursacht werden, es unterlassen, im Rahmen ihrer Befugnisse alle erforderli-

18 Vgl. zur Zurechnung privaten Verhaltens als staatseigenes Verhalten EuGH Rs. 249/ 81, Slg. 1982, S. 4005 (4022), Rn. 23 ff. – Kommission/Irland. Vgl. hierzu oben, 1. Kapitel, B. II. 19 Aufgrund der hier zu untersuchenden Thematik „mitgliedstaatlicher Handlungspflichten“, beziehen sich die nachfolgenden Untersuchungen der Verordnung auf die Variante des Unterlassens eines Mitgliedstaates. 20 Vgl. KOM (2001) 160, Anhang 2. Vgl. zur Anwendung der Verordnung in der Praxis unten, 5. Kapitel, C. V.

118 5. Kap.: Verordnung Nr. 2679/98 über das Funktionieren des Binnenmarktes

chen, der Situation angemessenen Maßnahmen zu ergreifen, um die Behinderung zu beseitigen und den freien Warenverkehr in ihrem Gebiet sicherzustellen.“ Diese Definition stimmt fast wortgleich mit der Urteilsbegründung des EuGH in der Entscheidung Kommission/Frankreich überein. Dort heißt es: „Art. 30 verbietet den Mitgliedstaaten nicht nur eigene Handlungen oder Verhaltensweisen […] sondern verpflichtet sie […] alle erforderlichen und geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, um in ihrem Gebiet die Beachtung dieser Grundfreiheit sicherzustellen.“21 (aa) Handlungen von Personen Artikel 1 Abs. 2 stellt klar, daß eine mitgliedstaatliche Handlungspflicht bei Beeinträchtigungen des freien Warenverkehrs durch „Personen“ besteht. Im Gegensatz zum Verordnungsvorschlag der Kommission, welcher zur Definition des „Nichteinschreitens“ eines Mitgliedstaates lediglich auf Beeinträchtigungen durch „Privatpersonen“ Bezug nimmt22, erstreckt sich die in der Verordnung normierte Handlungspflicht somit auch auf Beeinträchtigungen, die durch Handlungen nichtstaatlicher Unternehmen und Vereinigungen verursacht werden23. Zu beachten ist in dieser Stelle allerdings, daß die Wettbewerbsvorschriften, namentlich Art. 81 f. EGV und die Bestimmungen über den freien Warenverkehr gem. Art. 28 ff EGV – wie erörtert – in einem Exklusivverhältnis stehen. Wettbewerbsrelevantes Verhalten von Unternehmen, das den Handel nach Maßgabe des Art. 28 EGV beeinträchtigt, löst daher keine mitgliedstaatliche Handlungspflicht im Sinne des Art. 28 i. V. m. Art. 10 Abs. 1 S. 1 EGV aus24. Das Nichteinschreiten eines Mitgliedstaates in derartigen Fällen stellt damit keinen Verstoß gegen den freien Warenverkehr dar und fällt mithin nicht in den Anwendungsbereich der Verordnung. (bb) Auslegung des Tatbestandsmerkmals „Behinderung“ Artikel 1 Abs. 2 spricht von einem Nichteinschreiten gegen „Behinderungen“. Wie bereits eingangs kritisiert wurde, setzt sich die Definition der Behinderung gem. Art. 1 Abs. 1 (Oberbegriff der Behinderung) sowohl aus einer Behinderung des freien Warenverkehrs (Unterbegriff der Behinderung) als auch aus drei Spürbarkeitsvoraussetzungen zusammen.

21 22 23 24

EuGH Rs. C-265/95, Slg. 1997, S. I-6959 (6999), Rn. 32 – Kommission/Frankreich. Vgl. Art. 1 Abs. 2 Verordnungsvorschlag, ABlEG C 10 vom 15.1.1998, S. 14. Vgl. Hauschild, EuZW 1999, S. 236 (238). Vgl. oben, 3. Kapitel, A. III. 4.

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Fraglich ist daher, auf welchen Begriff der Behinderung sich der in Art. 1 Abs. 2 verwandte bezieht. Setzt man den Begriff der Behinderung des Art. 1 Abs. 2 mit dem Oberbegriff der Behinderung des Art. 1 Abs. 1 gleich, dann wäre Voraussetzung für ein „Nichteinschreiten“ eines Mitgliedstaates im Sinne der Verordnung, daß die Spürbarkeitskriterien gem. Art. 1 Abs. 1 lit. a)–c) erfüllt sind25. Dies hätte zur Folge, daß die Verordnung die Pflicht zum Einschreiten gegen private Beeinträchtigungen gem. Art. 28 i. V. m. Art. 10 Abs. 1 S. 1 EGV vom Vorliegen dieser Spürbarkeitsvoraussetzungen abhängig macht. Demgegenüber könnte sich der Begriff der Behinderung gem. Art. 1 Abs. 2 auch auf den Unterbegriff der Behinderung gem. Art. 1 Abs. 1 beziehen. Die Spürbarkeitsvoraussetzungen des Art. 1 Abs. 1 lit. a)–c) wären dann nicht Voraussetzung für die Frage, ob dem betroffenen Mitgliedstaat ein „Nichteinschreiten“ zur Last gelegt werden kann, sondern lediglich zusätzliche Voraussetzung für die Eröffnung des Anwendungsbereichs des Warnsystems gem. Art. 3–5. Ein Vergleich mit dem englischen, französischen und spanischen Wortlaut der Verordnung gibt keinen Aufschluß über eine möglicherweise vom Rat beabsichtigte Verwendung der Begriffe der „Behinderung“. In der englischen Fassung des Art. 1 Abs. 1 bezieht sich die Definition des „obstacle“ auf ein „obstacle of the free movements of goods“. In Art. 1 Abs. 2 bezieht sich die Definition der „inaction“ gleichsam auf ein „obstacle“. Auch die französische Fassung bedient sich in Art. 1 Abs. 1 sowie in Art. 1 Abs. 2 jeweils des Begriffes „entrave“. Gleiches gilt für den in der spanischen Fassung verwandten Begriff des „obstaculo“. Somit ist davon auszugehen, daß die verwandte Wahl des Begriffes der Behinderung in der deutschen Fassung nicht auf einem Übersetzungsfehler beruht. Führt man sich indessen streng systematisch vor Augen, daß Art. 1 Abs. 2 den Begriff des „Nichteinschreitens“ des Art. 1 Abs. 1 konkretisiert, so wird ersichtlich, daß sich die Definition des Art. 1 Abs. 2 nicht auf den Oberbegriff der Behinderung beziehen kann. Ansonsten würde der Oberbegriff der Behinderung innerhalb seiner eigenen Konkretisierung gem. Art. 1 Abs. 2 wieder auf sich selbst verweisen. Zudem würde dies dazu führen, daß man zur Subsumtion des Nichteinschreitens gem. Art. 1 Abs. 2 die Spürbarkeitskriterien gem. Art. 1 Abs. 1 lit. a)–c) zu prüfen hätte und diese sodann bei konsequenter Prüfungsabfolge des Art. 1 Abs. 1 nochmals prüfen würde. Die Systematik des Art. 1 zeigt daher, daß sich das Tatbestandsmerkmal der Behinderung gem. Art. 1 Abs. 2 auf den Unterbegriff der Behinderung gem. Art. 1 Abs. 1 bezieht.

25

So Hauschild, EuZW 1999, S. 236 (238).

120 5. Kap.: Verordnung Nr. 2679/98 über das Funktionieren des Binnenmarktes

Die Spürbarkeitskriterien des Art. 1 Abs. 1 lit. a)–c) sind somit nicht Voraussetzung für ein „Nichteinschreiten“ gem. Art. 1 Abs. 2. Sie stellen lediglich neben dem Erfordernis einer Beeinträchtigung des freien Warenverkehrs zusätzliche Voraussetzungen dar, die das in Art. 3 ff. normierte Warnsystem auslösen. Für eine Beeinträchtigung des freien Warenverkehrs gem. Art. 28 EGV und die Definition des „Nichteinschreitens“ spielen sie indessen keine Rolle. Der Anwendungsbereich der Verordnung ließe sich verständlicher ermitteln, wenn man den Unterbegriff der Behinderung gem. Art. 1 Abs. 1 und den Begriff der Behinderung gem. Art. 1 Abs. 2 durch das Tatbestandsmerkmal der „Beeinträchtigung“ ersetzen würde. (b) Konkretisierung des Merkmals „Nichteinschreiten“ Die Definition des „Nichteinschreitens“ gem. Art. 1 Abs. 2 liefert, ebenso wie die Entscheidungsgründe des EuGH in der Rechtssache Kommission/Frankreich26, keine näheren Anhaltspunkte für die Entstehungsvoraussetzungen, den Inhalt und die Reichweite einer mitgliedstaatlichen Handlungspflicht. Hierfür kann nun auf die im dritten Kapitel herausgearbeiteten Voraussetzungen zurückgegriffen werden, um das Tatbestandsmerkmal des „Nichteinschreitens“ im Sinne der Verordnung zu konkretisieren. (aa) Entstehung der Handlungspflicht Erste Voraussetzung eines Nichteinschreitens ist, daß dem Mitgliedstaat zunächst eine Handlungspflicht gem. Art. 28 i. V. m. Art. 10 Abs. 1 S.1 EGV entstanden ist. Dies ist grundsätzlich dann der Fall, wenn private Maßnahmen, im Sinne der Dassonville-Formel unmittelbar, mittelbar, tatsächlich oder potentiell den innergemeinschaftlichen Handel beeinträchtigen. Ausgenommen von diesen Beeinträchtigungen sind entsprechend der Ratio der Keck-Rechtsprechung alle diejenigen privaten Verhaltensweisen, die lediglich die Ausdehnung der Handelsvolumina auf dem nationalen Markt beschränken und daher nicht den Zugang zu einem Markt verhindern sowie dies auch nicht unmittelbar oder mittelbar bezwecken. Wettbewerbsrelevantes Verhalten von Unternehmen gem. Art. 81 f. EGV, welches zu einer Beeinträchtigung des freien Warenverkehrs führt, löst darüber hinaus keine Handlungspflicht eines Mitgliedstaates aus27.

26 27

EuGH Rs. C-265/95, Slg. 1997, S. I-6959 – Kommission/Frankreich. Vgl. oben, 3. Kapitel, A.

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(bb) Inhalt der Handlungspflicht: Erforderliche und angemessene Maßnahmen Hinsichtlich des Inhalts der Handlungspflicht normiert Art. 1 Abs. 2 die Pflicht der Mitgliedstaaten, „alle erforderlichen, der Situation angemessenen Maßnahmen zu ergreifen, um die Behinderung zu beseitigen und den freien Warenverkehr in ihrem Gebiet sicherzustellen“. Erwägungsgrund Nr. 6 der Verordnung weist in diesem Zusammenhang ausdrücklich darauf hin, daß die Mitgliedstaaten über die ausschließliche Zuständigkeit für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Gewährleistung der inneren Sicherheit sowie für die Entscheidung verfügen, ob, wann und welche Maßnahmen erforderlich und der Situation angemessen sind, um in einer gegebenen Lage den freien Warenverkehr in ihrem Gebiet zu erleichtern. Dieses Zugeständnis an die Mitgliedstaaten erweist sich jedoch hinsichtlich des aufgeführten umfassenden Entschließungsermessens als bloßes „Lippenbekenntnis“. Denn ein Entschließungsermessen ist dem Mitgliedstaat im Falle einer entstandenen Handlungspflicht nicht einzuräumen. Der Inhalt der Handlungspflicht erschöpft sich auf Ebene des Auswahlermessens darin, geeignete und ausreichende Maßnahmen zu ergreifen, um ein unabdingbares Mindestmaß an Schutz des freien Warenverkehrs zu gewährleisten. Ein bestimmtes Ergebnis, die Freiheit des Warenverkehrs zu garantieren, kann von dem Mitgliedstaat nicht gefordert werden28. Zur Konkretisierung der „geeigneten und angemessenen Maßnahmen“ erwägt die Kommission, zukünftig einen Katalog einer exemplarischen Auflistung von erforderlichen und angemessenen Maßnahmen zur Wiederherstellung des freien Warenverkehrs aufzustellen29. Diesem Unterfangen der Kommission muß jedoch entschieden entgegengehalten werden, daß es unabdingbar ausschließlich Sache der Mitgliedstaaten ist – und bleiben muß –, darüber zu entscheiden, welche Maßnahmen sie im Einzelfall ergreifen. Ein Beispielskatalog, der im Zweifel einen „Leitfaden“ für mögliche Vertragsverletzungsverfahren vor dem EuGH bietet, würde in nicht mehr zu tolerierender Weise die Kompetenz der Mitgliedstaaten zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung untergraben. (cc) Schranken Dem von einer Beeinträchtigung betroffenen Mitgliedstaat steht unabhängig von einer diskriminierenden Wirkung seines Nichteinschreitens sowohl der ungeschriebene Rechtfertigungskatalog der zwingenden Erfordernisse als auch die geschrie28 29

Vgl. oben, 3. Kapitel, B. I. Vgl. KOM (2001) 160, S. 11, 15.

122 5. Kap.: Verordnung Nr. 2679/98 über das Funktionieren des Binnenmarktes

benen Rechtfertigungsgründe des Art. 30 EGV zur Verfügung, um sein Unterlassen oder unzureichendes Einschreiten zu rechtfertigen30. Der in diesem Zusammenhang erforderlichen Berücksichtigung von Grundrechtspositionen der Störer wird in Art. 2 Rechnung getragen. Danach „darf [die Verordnung] nicht so ausgelegt werden, daß sie in irgendeiner Weise die Ausübung der in den Mitgliedstaaten anerkannten Grundrechte, einschließlich des Rechts oder der Freiheit zum Streik, beeinträchtigt. Diese Rechte können auch das Recht oder die Freiheit zu anderen Handlungen einschließen, die in den Mitgliedstaaten durch die spezifischen Systeme zur Regelung der Beziehungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern abgedeckt werden.“ Die Gewährleistung der Grundrechte wird dogmatisch gesehen, innerhalb der Prüfung eines „Nichteinschreitens“ gem. Art. 1 Abs. 2 relevant. Dort fungieren die Grundrechte als zwingende Erfordernisse des Art. 28 i. V. m. Art. 10 Abs. 1 S. 1 EGV. Der Wortlaut des Art. 2 bezieht sich auf die „in den Mitgliedstaaten anerkannten Grundrechte“. Zweifelhaft ist daher, ob damit die jeweiligen nationalen Grundrechte gemeint sind. Nationale Grundrechte können jedoch lediglich unter Berücksichtigung der Auslegungsschranke der Gemeinschaftsgrundrechtsgehalte als gemeinschaftsrechtlich anerkannte Ziele und damit als Schranke der mitgliedstaatlichen Handlungspflicht gem. Art. 28 i. V. m. Art. 10 Abs. 1 S. 1 EGV anerkannt werden31. Die Formulierung „anerkannte Grundrechte“ ist daher im Sinne von „gemeinschaftsrechtlich anerkannte Grundrechte“ zu verstehen32. Kann sich ein Mitgliedstaat somit auf die Notwendigkeit berufen, die rechtmäßige Ausübung der Grundrechte seiner Bürger gewährleisten zu müssen, ist Art. 1 nicht erfüllt und der Anwendungsbereich der Verordnung nicht eröffnet. b) Qualität der Beeinträchtigung gem. Art. 1 Abs. 1 lit. a)–c) Neben einem Verstoß gegen Art. 28 f. EGV ist zweite Voraussetzung einer „Behinderung“ i. S. d. Art. 1 Abs. 1, daß eine „schwerwiegende Beeinträchtigung“, ein „ernsthafter Schaden“ und die Notwendigkeit eines „unmittelbaren Handelns“ gem. Art. 1 Abs. 1 lit. a)–c) vorliegt. Erst wenn auch diese Voraussetzungen kumulativ erfüllt sind, ist der Anwendungsbereich des Warnmechanismus der Art. 3–5 eröffnet. 30

Vgl. oben, 3. Kapitel, C. IV. Vgl. oben, 3. Kapitel, C. V. 2. a) cc). 32 A. A. Schorkopf, EWS 2000, S. 156 (161), der die Gemeinschaftsgrundrechte selbst als Schranken der Grundfreiheit des Art. 28 EGV ansieht und Art. 2 entsprechend interpretiert. 31

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Fraglich ist allerdings, wann von einer „schwerwiegenden Beeinträchtigung“, einem „ernsthaften Schaden“ und dem Erfordernis eines „unmittelbaren Handelns“ auszugehen ist. aa) „Schwerwiegende Beeinträchtigung“ Die Verordnung stellt die legislative Reaktion auf die eklatanten Vorfälle dar, die der Entscheidung Kommission/Frankreich33 zugrunde lagen. Daher könnte man als ersten Anhaltspunkt davon ausgehen, daß eine „schwerwiegende Beeinträchtigung“ im Sinne von Art. 1 Abs. 1 lit. a) dann vorliegt, wenn Art und Ausmaß der Beeinträchtigungen des freien Warenverkehrs in einem Mitgliedstaat mit denen in der Rechtssache Kommission/Frankreich vergleichbar sind34. Allerdings umschreibt der EuGH die Vorkommnisse in der benannten Rechtssache mit dem Sammelbegriff „Gewalttaten“35. Dies sollte einen nicht dazu verleiten, nur dann von einer schwerwiegenden Beeinträchtigung auszugehen, wenn die Beeinträchtigung des freien Warenverkehrs auf gewalttätigen Ausschreitungen beruht. Denn von ihrem Ausmaß her kann eine „friedliche“ Beeinträchtigung ebenso schwerwiegende Folgen nach sich ziehen. Ein Beispiel hierfür bietet die „Brennerblockade“ des Transitforums Austria Tirol. Auf der Brennerautobahn A 13 wurde der Verkehr unter anderem durch das Aufstellen von Vergnügungszelten und diversen Musikdarbietungen insgesamt über vier Tage hinweg zum Stillstand gebracht36. Bei der Frage nach einer „schwerwiegenden Beeinträchtigung“ sollte es daher vor allem darauf ankommen, ob der freie Warenverkehr in einem Mitgliedstaat über einen relevanten Zeitraum hinweg beeinträchtigt wird. bb) „Ernsthafter Schaden“ Zur Definition eines „ernsthaften Schadens“ gem. Art. 1 Abs. 1 lit. b) hilft ein Blick auf die Haftung der Europäischen Gemeinschaften gem. Art. 288 Abs. 2 EGV. Danach ist der Begriff des Schadens von den gemeinsamen Rechtsgrundsätzen der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen geprägt. Der allgemeine Inhalt eines Schadens, der in allen Mitgliedstaaten gleich zum Ausdruck gebracht wird, ist „jeder Nachteil, den eine Person durch ein bestimmtes Ereignis erleidet“37. Ein darüber hinaus vorausgesetzter „ernsthafter“ Schaden im Sinne des Art. 1 Abs. 1 lit. b) läßt sich sinngemäß mit einem „erheblichen“ Schaden vergleichen. 33 34 35 36 37

EuGH Rs. C-265/95, Slg. 1997, S. I-6959 – Kommission/Frankreich. So Hauschild, EuZW 1999, S. 236 (237). EuGH Rs. C-265/95, Slg. 1997, S. I-6959 (7000), Rn. 38 – Kommission/Frankreich. Vgl. diese Beispiele bei Krist, ÖJZ 1999, S. 241 (241). Dauses HdBdWR-Borchert, PI, Rn. 251; auf diesen verweisend ebenso Hidien, S. 63.

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Im Rahmen des Art. 288 Abs. 2 EGV wird davon ausgegangen, daß dem Kläger ein „erheblicher Schaden“ entstanden sein muß38. Der EuGH führte diesbezüglich aus, daß es dem einzelnen zugemutet werden kann, gewisse schädliche Auswirkungen einer Rechtsvorschrift auf seine Wirtschaftsinteressen hinzunehmen. Diese Grenze sei allerdings dann überschritten, wenn der Schaden alles in allem die allgemeinen wirtschaftlichen Risiken seiner Tätigkeit überschreite39. In Anlehnung an diese Voraussetzungen könnte man von einem „ernsthaften Schaden“ im Sinne der Verordnung sprechen, wenn die betroffenen Wirtschaftsteilnehmer einen Nachteil erleiden, der über das normale Maß der allgemeinen Risiken eines grenzüberschreitenden Warenaustausches hinausgeht. cc) „Unmittelbares Handeln“ Das Erfordernis eines „unmittelbaren Handelns“ erinnert an die aus dem deutschen Polizei- und Ordnungsrecht bekannte Notwendigkeit, des sofortigen Eingriffs der Polizei bei einer „Gefahr im Verzug“40. In Anlehnung an diese Voraussetzung ist ein unmittelbares Handeln eines Mitgliedstaates dann erforderlich, wenn aus einer Ex-ante-Betrachtung heraus zur Verhinderung eines erheblichen Schadens sofort eingegriffen werden muß. 2. Zwischenfazit Die obigen Ausführungen sollen als Ansätze dienen, um die überaus unbestimmten Spürbarkeitsvoraussetzungen näher zu konkretisieren. Erschwert wird dieser Versuch dadurch, daß bislang weder der EuGH noch die Kommission zu diesen Voraussetzungen Stellung bezogen hat. Letztlich wird es Aufgabe des EuGH sein, eine Rechtsprechungslinie zu entwickeln, die es ermöglicht, Anhaltspunkte zu finden, wann die Spürbarkeitsvoraussetzungen des Art. 1 Abs. 1 lit. a)–c) erfüllt sind.

38

Vgl. Hidien, S. 64. Vgl. EuGH verb. Rs. 83 und 94/76, 4, 15 und 40/77, Slg. 1978, S. 1209 (1224) Rn. 6 f. – HNL; EuGH verb. Rs. C-104/89 und C-37/90, Slg. 1992, S. I-3061 (3133), Rn. 17 – Mulder u. a. Der Schaden im Rahmen der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung der Mitgliedstaaten wird indes nicht von einer „Erheblichkeit“ abhängig gemacht, vgl. dazu die Begründung und Rechtfertigung der unterschiedlichen Schadensbestimmung von Generalanwalt Tesauro in seinen Schlußanträgen zu EuGH verb. Rs. C-46/93 und C-48/93, Slg. 1996, S. I-1029 (1114), Rn. 91 ff. – Brasserie du pêcheur SA; vgl. dazu ebenfalls Hidien, S. 64. 40 Vgl. zu einer „Gefahr im Verzug“ im deutschen Polizei- und Ordnungsrecht Schoch, JuS 1994, S. 667 (670). 39

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III. Das Warnsystem der Art. 3–5 Artikel 3–5 normieren den eigentlichen Regelungsgegenstand der Verordnung, den Warnmechanismus. Der Aufbau dieses Warnmechanismus' ist hinsichtlich seiner Struktur und Abfolge mit Art. 3 der Koordinationsrichtlinie für die Anwendung der Nachprüfverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauverträge vergleichbar41. 1. Informationssystem gem. Art. 3 a) Inhaltlicher Überblick Tritt eine Behinderung ein oder droht eine solche einzutreten, hat jeder Mitgliedstaat, der diesbezüglich über sachdienliche Informationen verfügt, gem. Art. 3 Abs. 1 lit. a) die Pflicht, diese unverzüglich der Kommission zu übermitteln. Nach Art. 3 Abs. 1 lit. b) übermittelt die Kommission diese und alle weiteren sachdienlichen Informationen sodann an alle übrigen Mitgliedstaaten. Der von der Behinderung oder drohenden Behinderung betroffene Mitgliedstaat antwortet gem. Art. 3 Abs. 2 so bald wie möglich auf ein Auskunftsersuchen der Kommission oder anderer Mitgliedstaaten zu der Art der Behinderung und zu den Maßnahmen, die er gegen die Behinderung getroffen hat oder zu treffen beabsichtigt. Dabei müssen alle zwischen den Mitgliedstaaten ausgetauschten Informationen jeweils auch der Kommission übermittelt werden. b) Inhaltliche Konkretisierung aa) Informationsverpflichtung jedes Mitgliedstaates Das in Art. 3 normierte Informationssystem statuiert einen umfassenden wechselseitigen Informationsaustausch sowohl zwischen den Mitgliedstaaten und der Kommission als auch unter den Mitgliedstaaten selbst. Von besonderer Bedeutung ist dabei, daß diese Informationsverpflichtung für sämtliche Mitgliedstaaten unabhängig davon besteht, ob sie von der Behinderung betroffen sind oder nicht. Diese Verpflichtung steht im Einklang mit Art. 10 Abs. 1 S. 2 EGV. Danach obliegt es den Mitgliedstaaten, den Organen der Gemeinschaft die Erfüllung ihrer Aufgaben zu erleichtern. Dazu gehört nach Rechtsprechung des EuGH die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, die Kommission bei der Erfüllung 41

Vgl. ABlEG L 395 v. 21.12.1989, S. 33.

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der ihr in Art. 211 erster Spiegelstrich EGV übertragenen Aufgabe, für die Anwendung des EG-Vertrages Sorge zu tragen, zu unterstützen42. Auf Wunsch der Kommission haben die Mitgliedstaaten bis auf Belgien und Irland nunmehr nationale Kontaktstellen eingerichtet, um sachdienliche Informationen schnellstmöglich per Fax weiterleiten zu können43. Hinsichtlich der Vertraulichkeit der übermittelten Informationen, die gegebenenfalls auf Beschwerden von feststellbaren Wirtschaftsakteuren zurückzuführen sind, sind die Kommission und die Kontaktstellen der Mitgliedstaaten übereingekommen, daß die Kommissionsdienststelle lediglich als Übermittler der eingegangenen Informationen fungiert. Für die Folgen der Bekanntgabe vertraulicher Daten bleiben die Mitgliedstaaten allein verantwortlich44. bb) „Unverzügliche Weiterleitung“ Artikel 3 Abs. 1 lit. a) und b) sieht eine „unverzügliche Weiterleitung“ aller sachdienlichen Informationen an die Kommission und die Mitgliedstaaten vor. Von einer „unverzüglichen Weiterleitung“ wird man in der Regel dann sprechen können, wenn ein Mitgliedstaat nach Kenntnisnahme von einer Behinderung oder einer drohenden Behinderung ohne schuldhaftes Zögern45 die Kommission von seinem Kenntnisstand informiert, beziehungsweise die Kommission, nach Kenntnisnahme der Informationen, diese ohne schuldhaftes Zögern an die übrigen Mitgliedstaaten weiterleitet. cc) „So bald wie möglich“ Nach Art. 3 Abs. 2 hat der betroffene Mitgliedstaat auf Auskunftsersuchen der Kommission und anderer Mitgliedstaaten „so bald wie möglich“ zu antworten. Im Vergleich zu einer „unverzüglichen“ Weiterleitung wird dem Mitgliedstaat somit ein größerer zeitlicher Spielraum belassen, um auf Anfragen reagieren zu können. Sinn und Zweck des Art. 3 Abs. 2 ist es, die Kommission und die übrigen Mitgliedstaaten über die Art der Behinderung und vor allem über deren Beseitigungsmöglichkeiten aufzuklären. 42 EuGH Rs. 192/84, Slg. 1985, S. 3967 (3979), Rn. 19 – Kommission/Griechenland; EuGH Rs. 96/81, Slg. 1982, S. 1791 (1803), Rn. 7 – Kommission/Niederlande; EuGH Rs. C-374/89, Slg. 1991, S. I-367 (379), Rn. 14 f. – Kommission/Belgien; EuGH Rs. C-365/97, Slg. 1999, S. I-7773 (7828), Rn. 85 – Kommission/Italien. 43 Vgl. KOM (2001) 160, S. 6. 44 Vgl. KOM (2001) 160, S. 9. 45 Vgl. die Legaldefinition der „Unverzüglichkeit“ im deutschen Privatrecht gem. § 121 BGB.

C. Endgültige Fassung der Verordnung des Rates

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Der betroffene Mitgliedstaat wird erst dann zu einer solchen Auskunft in der Lage sein, wenn er selbst über die Sach- und Rechtslage derart informiert ist, daß er beurteilen kann, ob und wie er gegen die Behinderung vorgehen wird. Aus dem Erfahrungsbericht der Kommission geht indes hervor, daß diese, entgegen des Wortlautes des Art. 3 Abs. 2, den Mitgliedstaaten Fristen zur Beantwortung der Auskunftsersuche gesetzt hat. Dabei handelte es sich in der Regel um achtundvierzig Stunden und bei besonders schwerwiegenden oder dringenden Fällen um vierundzwanzig Stunden46. dd) Geltung des Art. 2 Der Anwendungsbereich der Informationsverpflichtung wird im Rahmen parlamentarischer Anfragen vermehrt in Frage gestellt, wenn in dem betroffenen Mitgliedstaat die Behinderung oder drohende Behinderung mit der rechtmäßigen Ausübung von Grundrechten der „Störer“ einhergeht47. Indem die Kommission ein Informationsersuchen verschicke, mische sie sich zu sehr in das Bestehen und die Ausübung des Streikrechts der Mitgliedstaaten ein48. Bei einem näheren Blick auf Art. 3 drängt sich in der Tat die Frage auf, ob Art. 2 Geltung für dessen Auslegung beanspruchen kann. (1) Wortlaut Nach dem Wortlaut des Art. 3 besteht eine Informationsverpflichtung der Mitgliedstaaten dann, wenn eine Behinderung eintritt oder einzutreten droht. Erste Voraussetzung der „Behinderung“ ist gem. Art. 1 Abs. 1, daß dem betroffenen Mitgliedstaat ein „Nichteinschreiten“ gem. Art. 1 Abs. 2 zur Last gelegt werden kann. Ein Nichteinschreiten gem. Art. 1 Abs. 2 liegt indes nur dann vor, wenn der Mitgliedstaat gegen eine Handlungspflicht gem. Art. 28 i. V. m. Art. 10 Abs. 1 S. 1 EGV verstoßen hat. Bei der Beurteilung, ob ein derartiger Verstoß vorliegt, ist Art. 2 zu beachten. Denn dieser stellt eine Auslegungsregel für die gesamte Verordnung und somit auch für die Beurteilung, ob ein „Nichteinschreiten“ vorliegt, dar. Kann sich ein Mitgliedstaat daher auf die Schranke der gemeinschaftsrechtlich anerkannten Grundrechte berufen, liegt ein „Nichteinschreiten“ gem. Art. 1 Abs. 2 nicht vor. Das Tatbestandsmerkmal der Behinderung ist damit nicht erfüllt. Eine Informationsverpflichtung der Mitgliedstaaten liegt dem Wortlaut des Art. 3 zufolge mangels einer Behinderung nicht vor. 46

Vgl. KOM (2001) 160, S. 9. Vgl. die parlamentarische Anfragen von Schmid, H-0708/99. Vgl. ebenfalls Schmid, H-0877/00, und Sjöstedt, P-3079/00. 48 Vgl. die parlamentarische Anfrage von Schmid, H-0708/99. 47

128 5. Kap.: Verordnung Nr. 2679/98 über das Funktionieren des Binnenmarktes

(2) Systematik Allerdings wird in Art. 4 und 5 ausdrücklich auf den Vorbehalt des Art. 2 hingewiesen. Von einem derartigen ausdrücklichen Hinweis wurde in Art. 3 abgesehen. Dieser systematische Vergleich läßt den Schluß zu, daß eine Informationsverpflichtung über die Behinderung, unabhängig von einer Ausübung der Grundrechte, bestehen soll. (3) Sinn und Zweck Die diesbezüglichen parlamentarischen Anfragen wurden von der Kommission dahingehend beantwortet, daß sie mit einem Auskunftsersuchen gem. Art. 3 den betreffenden Mitgliedstaat nicht auf einen möglichen Vertragsverstoß hinweisen wolle. Ihr Schreiben verfolge lediglich einen vorbeugenden Zweck, der die Behörden an ihre Handlungsverpflichtung erinnern sollte, falls eine rechtmäßige Ausübung der Grundrechte nicht mehr vorliege49. Die Kommission geht zu Recht davon aus, daß ein bloßes Auskunftsersuchen den Mitgliedstaat nicht in seinem Recht verletzt, Grundrechte seiner Bürger zu gewährleisten. Der Sinn und Zweck des Art. 3 liegt darin, Kommission und Mitgliedstaaten über mögliche Behinderungen aufzuklären, ohne daß dabei Maßnahmen des betroffenen Mitgliedstaates eingefordert werden. (4) Fazit Entsprechend seinem Sinn und Zweck und im Einklang mit einem systematischen Vergleich der Art. 4 und 5, ist Art. 3 dahingehend auszulegen, daß eine Informationspflicht der Mitgliedstaaten, unabhängig von der Schranke der Grundrechte im Sinne des Art. 2, besteht. Der Begriff der Behinderung gem. Art. 3 ist daher dementsprechend teleologisch zu reduzieren. 2. Handlungspflicht der Mitgliedstaaten gem. Art. 4 Neben seiner Informationsverpflichtung gem. Art. 3 ist der von einer eingetretenen Behinderung betroffene Mitgliedstaat gem. Art. 4 Abs. 1 lit. a) verpflichtet, vorbehaltlich des Art. 2, alle erforderlichen, der Situation angemessenen Maßnahmen zu ergreifen, um den freien Warenverkehr in seinem Hoheitsgebiet wieder sicherzustellen.

49 Vgl. die Antwort der Kommission zur parlamentarischen Anfrage von Schmid, H-0708/99.

C. Endgültige Fassung der Verordnung des Rates

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Darüber hinaus hat der Mitgliedstaat gem. Art. 4 Abs. 1 lit. b) die Kommission von getroffenen oder beabsichtigten Maßnahmen zu unterrichten. Die Kommission übermittelt diese Informationen sodann gem. Art. 4 Abs. 2 unverzüglich an die übrigen Mitgliedstaaten. Die in Art. 4 Abs. 1 lit. a) normierte Handlungsverpflichtung korrespondiert in positiver Formulierung mit der in Art. 1 Abs. 2 normierten Definition des Nichteinschreitens eines Mitgliedstaates und ist aufgrund der primärrechtlichen Handlungsverpflichtung der Mitgliedstaaten gem. Art. 28 i. V. m. Art. 10 Abs. 1 S. 2 EGV deklaratorischer Natur. Die Pflicht zum Einschreiten gegen private Behinderungen des freien Warenverkehrs bemißt sich wiederum an den bereits im Rahmen des Art. 1 benannten Voraussetzungen hinsichtlich der Entstehung der Handlungspflicht, dem Umfang der zu treffenden Maßnahmen und den Schranken des Art. 28 EGV. Neben dieser deklaratorischen Handlungspflicht besteht eine Informationsverpflichtung der Mitgliedstaaten, die im Unterschied zu Art. 3 Abs. 2 unabhängig von einem entsprechenden Auskunftsersuchen an die Kommission zu erfolgen hat. 3. Mitteilung der Kommission gem. Art. 5 a) Inhaltlicher Überblick Ist die Kommission der Auffassung, daß in einem Mitgliedstaat eine Behinderung vorliegt, teilt sie dem betroffenen Mitgliedstaat gem. Art. 5 Abs. 1 die Gründe ihrer Ansicht mit und fordert ihn auf, „alle erforderlichen, der Situation angemessenen Maßnahmen“ zu ergreifen, um die Behinderung zu beseitigen. Dabei setzt die Kommission dem Mitgliedstaat eine Frist, die je nach Dringlichkeit des Falles in ihrem Ermessen bestimmt werden kann. Gemäß Art. 5 Abs. 3 kann die Kommission den Wortlaut der versandten Mitteilung im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften veröffentlichen. Auf Anfrage von anderen Mitgliedstaaten muß sie diese Mitteilung unverzüglich weiterleiten50. Der betroffene Mitgliedstaat hat gem. Art. 5 Abs. 4 innerhalb von fünf Arbeitstagen nach Eingang der Mitteilung die Kommission entweder von den getroffenen oder beabsichtigten Maßnahmen zur Beseitigung der Behinderung zu unterrichten oder aber der Kommission eine begründete Darlegung zu übermitteln, warum seiner Ansicht nach keine Behinderung vorliegt. Die Frist von fünf Arbeitstagen kann die Kommission nach Art. 5 Abs. 5 auf Antrag des Mitgliedstaates verlängern, wenn dessen Begründung gerechtfertigt ist. 50 Hinsichtlich der Weiterleitung an andere Parteien verfügt die Kommission nach dem eindeutigen Wortlaut des Art. 5 Abs. 3 VO über kein Ermessen.

130 5. Kap.: Verordnung Nr. 2679/98 über das Funktionieren des Binnenmarktes

Bei der Entscheidung, dem betroffenen Mitgliedstaat eine Mitteilung im Sinne des Art. 5 Abs. 1 zuzuleiten51, hat die Kommission gem. Art. 5 Abs. 2 „die Ausübung der in den Mitgliedstaaten anerkannten Grundrechte“ nach Art. 2 zu beachten. Im Ergebnis ist die Kommission somit angehalten, im Rahmen ihrer Beurteilung, ob eine Behinderung vorliegt und der betroffene Mitgliedstaat zum Einschreiten gegen diese Behinderung verpflichtet ist, eine Verhältnismäßigkeitsprüfung im Sinne praktischer Konkordanz zwischen der Beeinträchtigung des freien Warenverkehrs einerseits und der Notwendigkeit der Grundrechtsgewährleistung andererseits durchzuführen52. Neben der ausdrücklich normierten Beachtung der Grundrechte wird die Kommission aber auch den Rechtfertigungsgründen gem. Art. 30 EGV, insbesondere dem Rechtfertigungsgrund der öffentlichen Ordnung, Rechnung zu tragen müssen. b) Die Rechtsnatur der Mitteilung Fraglich ist, welcher Rechtsnatur die Mitteilung ist. Zur Erfüllung ihrer Aufgaben stehen dem Rat und der Kommission nach Art. 249 EGV Verordnungen, Richtlinien, Entscheidungen, Empfehlungen und Stellungsnahmen als Handlungsmittel zur Verfügung. Diese stellen allerdings nur die typischen Rechtshandlungsformen dar, ohne eine abschließende Regelung zu treffen53. Insofern läßt Art. 249 EGV grundsätzlich auch andere Handlungsmittel zu, soweit diese Rechtsschutz und Rechtssicherheit ausreichend gewährleisten54. Begrifflich fällt die „Mitteilung“ der Kommission unter keine der in Art. 249 EGV aufgezählten Handlungsformen. Die Einordnung einer Rechtshandlung hängt allerdings eher von ihrer Rechtswirkung als von ihrer Bezeichnung ab. Um eine Äußerung der Kommission als verbindliche Entscheidung qualifizieren zu können, müßte sie „erkennbar dazu bestimmt sein, ihren Adressaten Rechte zu gewähren oder Pflichten aufzuerlegen“55. Die Kommission legt in ihrer Mitteilung an den betroffenen Mitgliedstaat lediglich ihre Auffassung über das Vorliegen einer Behinderung dar und fordert den Mitgliedstaat dazu auf, Maßnahmen zur Beseitigung zu ergreifen.

51 Die Mitteilung muß gem. Art. 4 ff. der Geschäftsordnung der Kommission von den Kommissionsmitgliedern beschlossen werden, vgl. KOM (2001) 160 S. 7. 52 Vgl. zur Verhältnismäßigkeitsprüfung oben, 3. Kapitel, C. V. 2. c). 53 Lenz-Hetmeier, Art. 249, Rn. 3. 54 Grabitz/Hilf-Grabitz, Art. 249, Rn. 76. 55 EuGH verb. Rs. 23, 24 und 52/63, Slg. 1963, S. 473 (484) – Usines Emile Henricot u. a.

C. Endgültige Fassung der Verordnung des Rates

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Nach Art. 2 des Verordnungsvorschlages der Kommission wurde der Kommission die Befugnis zugewiesen, eine Behinderung „festzustellen“ und den betroffenen Mitgliedstaat mittels einer „Entscheidung“ zu „verpflichten“ alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um die Behinderung zu beseitigen. Diese eindeutige Entscheidungskompetenz der Kommission wurde vom Wirtschafts- und Sozialausschuß zu Recht kritisiert56. Aufgrund der bewußten Änderung des Verordnungsvorschlages wurde der Kommission somit die Kompetenz eine verbindliche Entscheidung auszusprechen, entzogen. Auch geht aus Erwägungsgrund Nr. 8 der Verordnung hervor, daß der Mitgliedstaat zwar angemessene Maßnahmen ergreifen „sollte“, eine verbindliche Verpflichtung dazu jedoch nicht besteht. Die Mitteilung der Kommission ist daher nicht dazu geeignet, dem betroffenen Mitgliedstaat erkennbar verbindliche Pflichten aufzuerlegen57. Vielmehr ist sie eine sonstige Rechtshandlung unverbindlicher Natur. Als solche kann sie auf der Ebene von Empfehlungen und Stellungnahmen eingeordnet werden58. Denn Ziel und maßgeblicher Zweck von Stellungnahmen und Empfehlungen ist es, ihren Adressaten ein bestimmtes Verhalten nahe zu legen, ohne sie zu binden59. c) Die Mitteilung als „Mahnschreiben“ gem. Art. 226 EGV Die Verordnung normiert keine Rechtsfolgen für den Fall, daß der betroffene Mitgliedstaat auf die Mitteilung der Kommission nicht reagiert. Auch wenn der betroffene Mitgliedstaat zwar der Aufforderung der Kommission nachkäme, eine Stellungnahme abzugeben, aus der hervorgeht, warum er die Beeinträchtigung in seinem Hoheitsgebiet nicht beseitigen wird, so ist der Warnmechanismus der Verordnung beendet. Die einzige Möglichkeit der Kommission weiterhin auf das Nichteinschreiten des Mitgliedstaates zu reagieren, wäre die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens gem. Art. 226 EGV. Im Ergebnis wäre der Warnmechanismus somit vor das Vertragsverletzungsverfahren geschaltet. Die Dauer des gesamten Verfahrens würde somit noch weiter in die Länge gezogen, als wenn die Kommission direkt ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet hätte. Maßgebliches Ziel der Verordnung war jedoch, der Kommission die Möglichkeit zu verschaffen schneller und effektiver als bisher auf ein Nichteinschreiten eines Mitgliedstaates bei Beeinträchtigungen reagieren zu können. Um diesem Anliegen gerecht zu werden, liegt es nahe, die Mitteilung der Kommission gem. Art. 5 in das Vertragsverletzungsverfahren zu integrieren. Die Mitteilung könnte demnach das Mahnschreiben der Kommission im Rahmen des außergerichtlichen 56 57 58 59

Vgl. dazu oben, 5. Kapitel, B. Vgl. im Ergebnis wohl auch Schorkopf, EWS 2000, S. 156 (160). Vgl. Grabitz/Hilf-Grabitz, Art. 249, Rn. 76; Adam, Mitteilung, S. 118. Lenz-Hetmeier, Art. 189, Rn. 18.

132 5. Kap.: Verordnung Nr. 2679/98 über das Funktionieren des Binnenmarktes

Vorverfahrens ersetzen, durch das dem betroffenen Mitgliedstaat „Gelegenheit zur Stellungnahme“ gem. Art. 226 EGV gegeben wird60. Diese Interpretation des Art. 5 trägt zweifellos dem Sinn und Zweck der Verordnung Rechnung, die Reaktionsmöglichkeiten auf eine Beeinträchtigung der Warenverkehrsfreiheit zu beschleunigen. Zweifelhaft ist allerdings, ob die Mitteilung von ihrer inhaltlichen Ausgestaltung ohne weiteres als ein Mahnschreiben im Sinne des Art. 226 EGV angesehen werden kann. Zwar werden an das Mahnschreiben der Kommission gem. Art. 226 EGV keine besonders strengen inhaltlichen Anforderungen gestellt. Sein Zweck ist es, eine erste Zusammenfassung der Vorwürfe, die gegen den Mitgliedstaat erhoben werden, zusammenzufassen und dem betreffenden Mitgliedstaat diesbezüglich rechtliches Gehör zu gewähren61. Um diesem Zweck gerecht zu werden, muß das Mahnschreiben zur ordnungsgemäßen Einleitung des Verfahrens jedoch mindestens drei Elemente beinhalten62: 1. die Mitteilung der Tatsachen, in denen die Kommission einen Vertragsverstoß sieht, 2. die Ankündigung, daß wegen dieser Tatsachen ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet wurde, und 3. die Aufforderung, sich zu diesen erhobenen Vorwürfen innerhalb einer bestimmten Frist zu äußern63. Die Mitteilung gem. Art. 5 beinhaltet die Erklärung der Kommission, warum ihrer Ansicht nach in einem Mitgliedstaat eine Behinderung und damit ein Vertragsverstoß vorliegt. Zudem gibt sie dem betroffenen Mitgliedstaat die Gelegenheit, sich zu diesen Vorwürfen zu äußern. Art. 5 sieht allerdings nicht vor, daß in der Mitteilung der Kommission die Ankündigung enthalten ist, daß wegen der von ihr behaupteten Behinderung ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet worden ist. Will man also die Mitteilung gem. Art. 5 in das Vertragsverletzungsverfahren rechtmäßig integrieren und das Mahnschreiben durch die Mitteilung gem. Art. 5 ersetzen, muß die Kommission diese Ankündigung in ihre Mitteilung aufnehmen. Ob letztlich der EuGH angerufen wird oder nicht, wird durch diese Ankündigung nicht festgelegt. Denn nach Art. 226 Abs. 2 EGV liegt eine Anrufung des Gerichts-

60

So Schorkopf, EWS 2000, S. 156 (160); Hauschild, EuZW 1999, S. 236 (238); Grabitz/Hilf-Leible, Art. 28, Rn. 68. 61 Vgl. EuGH Rs. C-135/94, Slg. 1995, S. I-1812 (1814 f.), Rn. 5 ff. – Kommission/ Italien. 62 Vgl. Grabitz/Hilf-P. Karpenstein/U. Karpenstein, Art. 226, Rn. 48. 63 Vgl. Grabitz/Hilf-P. Karpenstein/U. Karpenstein, Art. 226, Rn. 48; Koenig/Sander, Rn. 181; Rengeling/Middeke/Gellermann, Rn. 77 ff.

C. Endgültige Fassung der Verordnung des Rates

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hofes, nach Beendigung des außergerichtlichen formellen Vorverfahrens, im Ermessen der Kommission. Unterläßt es die Kommission die Einleitung des Vertragsverletzungsverfahrens in der Mitteilung anzukündigen, kann Art. 5 lediglich die Funktion zukommen, als ein, dem Mahnschreiben vorgeschaltetes „informelles Vorverfahren“ zu fungieren. IV. Rechtsgrundlage der Verordnung Der Rat hat als Rechtsgrundlage für den Erlaß der Verordnung Art. 308 EGV gewählt. 1. Bedeutung des Art. 308 EGV Nach dieser Norm kann der Rat einstimmig auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Europäischen Parlaments geeignete Vorschriften für den Fall erlassen, daß ein Tätigwerden der Gemeinschaft erforderlich erscheint, um im Rahmen des Gemeinsamen Marktes eines ihrer Ziele zu verwirklichen, wenn im Vertrag die dafür erforderlichen Befugnisse nicht vorgesehen sind. Artikel 308 EGV stellt neben dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung eine „Abrundungsermächtigung“64 dar, die der vertragsimmanenten Fortentwicklung des Gemeinschaftsrechts und der Verwirklichung der Vertragsziele dient. Insofern hat die Norm keine sogenannte „Lückenschließungsfunktion“, die es der Gemeinschaft erlaubt, Ziele des Vertrages autonom zu erweitern oder zu ändern und damit das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung zu durchbrechen65. Denn wenn der Rat von Artikel 308 EGV Gebrauch macht, dann übt er bereits bestehende, ihm durch Art. 308 EGV zugewiesene Befugnisse aus66. Maßnahmen, die sich auf Art. 308 EGV stützen, führen daher regelmäßig zu einer Ausweitung des Gemeinschaftsrechts, ohne daß dabei die Gemeinschaftskompetenz ausgeweitet wird67. Dennoch wird in der politischen Praxis und in der Literatur die Existenz des Art. 308 EGV mit Skepsis beurteilt. Befürchtet wird ein ausufernder Spielraum der Gemeinschaft, unter dem Deckmantel des Art. 308 EGV, Hoheitsbefugnisse den Mitgliedstaaten ohne Mitwirkung der nationalen Parlamente zu entziehen68, denn das Verfahren im Rahmen des Art. 308 EGV erschöpft sich lediglich in einer 64

Herdegen, Rn. 193; Koenig/Haratsch, Rn. 61. So aber Schweitzer/Hummer, Rn. 340. 66 Vgl. Lenz-Röttinger, Art. 308 EGV, Rn. 2; G/T/E-Schwartz, Art. 235, Rn. 10; Herdegen, Rn. 193; Koenig/Haratsch, Rn. 61. 67 Vgl. Bungenberg, EuR 2000, S. 879 (887), der von einer „Wirkungsausweitung“ des Gemeinschaftsrechts durch die Anwendung des Art. 308 EGV spricht. 68 Vgl. Everling, EuR 1976, Sonderheft, S. 2 (3). 65

134 5. Kap.: Verordnung Nr. 2679/98 über das Funktionieren des Binnenmarktes

Anhörung des Parlaments sowie einer Kontrolle der Ratsmitglieder durch ihre nationalen Parlamente. 2. Anwendungsvoraussetzungen Der Erlaß der Verordnung war zweifellos erforderlich, um im Rahmen des Gemeinsamen Marktes die Verwirklichung des Binnenmarktes voranzutreiben69. Allerdings kommt ein Tätigwerden der Gemeinschaft gem. Art. 308 EGV nur dann in Betracht, wenn „in diesem Vertrag die hierfür erforderlichen Befugnisse nicht vorgesehen [sind]“. Stellt der EG-Vertrag somit an anderer Stelle eine Befugnis zur Verwirklichung des verfolgten Ziels der Gemeinschaft bereit, so ist Art. 308 EGV nicht anwendbar70. Die Verordnung dient der Verwirklichung des Binnenmarktes gem. Art. 14 EGV. Erwägungsgrund Nr. 1 der Verordnung bezieht sich ebenfalls ausdrücklich auf Art. 7a EGV71 a. F. Zur Verwirklichung des Binnemarktziels gem. Art. 14 EGV wird der Gemeinschaft gem. Art. 95 EGV eine Ermächtigungsgrundlage zur funktionellen Rechtsangleichung72 der mitgliedstaatlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften zur Verfügung gestellt73. Hinsichtlich der, wenn auch nur deklaratorisch normierten Handlungsverpflichtung gem. Art. 4 handelt es sich allerdings um eine Rechtsneuschöpfung und nicht um eine Rechtsangleichung bestehender nationaler Rechts- und Verwaltungsvorschriften im Sinne des Art. 95 EGV74. Auch die Möglichkeit der Kommission, dem betroffenen Mitgliedstaat eine Mitteilung gem. Art. 5 zuzuleiten, dient nicht der Rechtsangleichung der mitgliedstaatlichen Vorschriften. Sie dient einer neu geschaffenen Reaktionsmöglichkeit der Kommission, um ihrer Aufgabe, für die Einhaltung des Gemeinschaftsrechts Sorge zu tragen, gerecht zu werden. Der Rege69

Vgl. zu den an dieser Stelle unerheblichen Diskrepanzen der Interpretation der einzelnen Tatbestandmerkmale des Art. 308: Calliess/Ruffert-Rossi, Art. 308, Rn. 9 ff. m. w. N.; Bungenberg, Art. 235, S. 101 ff. m. w. N. 70 Vgl. EuGH verb. Rs. 73 und 74/63, Slg. 1964, S. 1 (29) – Internationale Creditvereinigung; EuGH verb. Rs. C-51/89, C-90/89 und 94/89, Slg. 1991, S. I-2757 (2790 f.), Rn. 6 – Vereinigtes Königreich u. a./Rat; EuGH Rs. C-295/90, Slg. 1992, S. I-4193 (4233), Rn. 11 – Parlament/Rat. 71 Nunmehr Art. 14 EGV Amsterdamer Vertrag. 72 Callies/Ruffert-Kahl, Art. 95, Rn. 4. 73 Zwar könnte man der Auffassung sein, daß Art. 14 und damit Art. 95 EGV nach dem Wortlaut des Art. 14 Abs. 1 EGV seit dem 31. Dezember 1992 außer Kraft getreten sind. Jedoch stellt das Binnenmarktziel, wie nicht zuletzt aus dem Aktionsplan Binnenmarkt aus dem Jahre 1997 hervorgeht, ein „Dauermandat“ dar. Daher ist Art. 95 EGV nach einhelliger Auffassung nicht dahingehend zu interpretieren, daß er seit dem 31.12.1992 außer Kraft getreten ist, vgl. Callies/Ruffert-Kahl, Art. 95, Rn. 4; Dauses, EuZW 1990, S. 8 ff. m. w. N. 74 Vgl. ebenso Hauschild, EuZW 1999, S. 236 (239).

C. Endgültige Fassung der Verordnung des Rates

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lungsinhalt der Verordnung dient daher nicht der Rechtsangleichung im Sinne des Art. 95 EGV75. Darüber hinaus findet die Rechtssetzungsbefugnis der Gemeinschaft gem. Art. 308 EGV ihre Grenze in einer Vertragsänderung gem. Art. 48 EUV. Diese – über den Wortlaut des Art. 308 EGV hinausgehende – negative Tatbestandsvoraussetzung wirkt einem Entzug der mitgliedstaatlichen Hoheitsbefugnisse ohne Mitwirkung der nationalen Parlamente entgegen. Artikel 308 EGV kann somit nicht als Rechtsgrundlage für den Erlaß von Bestimmungen dienen, die der Sache nach, gemessen an ihren Folgen, auf eine Vertragsänderung ohne Einhaltung des hierfür vom Vertrag vorgesehenen Verfahrens hinausliefen76. Fraglich ist daher, ob die Folgen der Verordnung noch im Einklang mit den von den Mitgliedstaaten übertragenen Hoheitsbefugnissen stehen. Wie bereits erörtert, bedingt die Handlungsverpflichtung keine Aushöhlung der mitgliedstaatlichen Kompetenz zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Es liegt ausschließlich im Ermessen der Mitgliedstaaten welche Maßnahmen sie ergreifen, um ein unabdingbares Mindestmaß an Schutz zugunsten des freien Warenverkehrs zu gewährleisten. Die diesbezüglichen Folgen der Verordnung stehen daher noch im Einklang mit den im Vertrag vorgesehenen Hoheitsbefugnissen der Gemeinschaft. Die Mitteilung gem. Art. 5 ist erkennbar nicht dazu geeignet, dem betroffenen Mitgliedstaat verbindliche Pflichten aufzuerlegen. Vielmehr ist sie unverbindlicher Natur und steht somit – anders als die im Kommissionsvorschlag vorgesehene verbindliche Entscheidungskompetenz der Kommission – im Einklang mit dem institutionellen System des EG-Vertrages. Die Mitteilung kann unter Umständen inhaltlich die „Gelegenheit zu Stellungnahme“ gem. Art. 226 EGV oder aber unproblematisch das informelle Vorverfahren des Art. 226 EGV ersetzen. Das Vertragsverletzungsverfahren wird dabei inhaltlich nicht geändert. Insgesamt betrachtet, laufen die Folgen der Verordnung somit nicht auf eine Vertragsänderung hinaus, so daß die Grenze zu Art. 48 EUV gewahrt ist. V. Anwendungsfälle der Verordnung in der Praxis Nach dem derzeit aktuellsten Erfahrungsbericht der Kommission wurde die Verordnung im Jahre 1999 viermal und im Jahre 2000 achtzehnmal angewandt77. 75

Nach anfänglicher Kritik billigte daher auch der Ausschuß für Rechte und Bürgerrechte Art. 308 EGV als Rechtsgrundlage, vgl. PE-224.005, S. 19. 76 Vgl. grundlegend EuGH Gutachten 2/94, Slg. 1996, S. I-1759 (1788), Rn. 30 – Gutachten zum Beitritt der EMRK. 77 Vgl. KOM (2001) 160, S. 8, Rn. 4.1. und Anhang 2. Dieser Erfahrungsbericht entstand aufgrund der Aufforderung des Rates an die Kommission, zwei Jahre nach Inkraft-

136 5. Kap.: Verordnung Nr. 2679/98 über das Funktionieren des Binnenmarktes

Dabei handelte es sich um Straßenblockaden in allen Mitgliedstaaten78, speziell in Belgien79, Frankreich80, Österreich81, Spanien82, Italien83, Luxemburg84, Niederlande85, Schweden86 und Portugal87, um Hafenblockaden in Spanien88, Frankreich89, Griechenland90 und Irland91 und um Behinderungen des Luftverkehrs in Frankreich92 und Italien93. In allen Fällen kam das Informationssystem gem. Art. 3 zum Tragen. Eine Mitteilung der Kommission gem. Art. 5 wurde nicht verschickt, da die betreffenden Fälle nicht von langer Dauer waren94. Angesichts dieser Vorfälle stellt die Kommission fest, daß lediglich Österreich, Belgien, Spanien und Luxemburg gem. Art. 3 Abs. 1 lit. a) ihrer Informationspflicht gem. Art. 3 Abs. 1 lit. a) nachkamen. Jedoch trafen diese Informationen, mit Ausnahme der von Österreich95 und Luxemburg96, erst ein, als die Behinderungen schon beseitigt waren, so daß ein Einschreiten der Kommission nicht mehr gerechtfertigt erschien.

treten der Verordnung einen Bericht über dessen Anwendung vorzulegen, vgl. ABlEG L 337 vom 12.12.1998, S. 11, Nr. 8. 78 Aktionstag der europäischen Spediteure am 5. Oktober 1999. 79 Aktion der Spediteure in Belgien am 4. Juni 1999 und 10. Juni 1999 sowie Proteste gegen die Erhöhung der Erdölpreise im August/September 2000. 80 Straßenblockade am 10. Januar 2000 und 31. Januar 2000 aufgrund der Ablehnung der 35-Stunden-Woche der Arbeitgeber des Straßenverkehrssektors; Aufhalten spanischer Lastwagen mit Knoblauchlieferungen an der Grenze im August 2000; Protest gegen die Erhöhung der Erdölpreise im August/September 2000. 81 Blockade der Brennerautobahn vom 23.–24. Juni 2000. 82 Protest gegen die Erhöhung der Benzinpreise im Oktober 2000. 83 Streik der Spediteure an den Grenzübergängen in den Alpen im Juni 2000. 84 Grenzblockade anlässlich einer Sitzung des Rates für Verkehr im Oktober 2000. 85 Protest gegen die Erhöhung der Erdölpreise im September 2000. 86 Protest gegen die Erhöhung der Erdölpreise im September 2000. 87 Angriff auf spanische Lastwagen am 23. Juni 2000. 88 Protest gegen die Erhöhung der Erdölpreise im Oktober 2000. 89 Protest gegen die Erhöhung der Erdölpreise im August 2000. 90 Protest gegen die Erhöhung der Erdölpreise im Oktober 2000. 91 Blockade in Castletown vom 14.–16. Juli 2000. 92 Fluglotsenstreik am 26. Juni 2000. 93 Fluglotsenstreik am 27. Juli 2000. 94 Vgl. KOM (2001) 160, S. 8. 95 Informationen bezüglich der Brennerblockade vom 23.–24. Juni 2000. 96 Informationen bezüglich der Grenzblockade anlässlich der Sitzung des Rates Verkehr im Oktober 2000.

C. Endgültige Fassung der Verordnung des Rates

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VI. Fazit Die vorstehenden Ausführungen zeigen, daß die Verordnung innerhalb der Definition einer Behinderung gem. Art. 1, welche die maßgebliche Anwendungsvoraussetzung der gesamten Verordnung darstellt, erhebliche Unklarheiten aufweist. Die in Art. 1 Abs. 2 ausdrücklich normierte mitgliedstaatliche Handlungspflicht, läßt darüber hinaus die konkreten Entstehungs- und Verletzungsvoraussetzungen der Handlungspflicht ihrem Wortlaut zufolge weiterhin offen und bedurften der Konkretisierung. Der in Art. 3 normierte wechselseitige Informationsaustausch zwischen den Mitgliedstaaten und der Kommission trägt zwar zu einer erhöhten Transparenz bei Störungen des grenzüberschreitenden Warenaustausches der Mitgliedstaaten bei. Die Kompetenz der Kommission, auf derartige Störungen zu reagieren, beschränkt sich allerdings darauf, Informationsgesuche einzufordern und unverbindliche Mitteilungen an die betroffenen Mitgliedstaaten zu verschicken. Mag diese eher schwache Interventionsmöglichkeit der Kommission auch unbefriedigend erscheinen, können mehr Befugnisse der Kommission, wie erörtert, nicht eingeräumt werden. Die Mitteilung der Kommission gem. Art. 5 vermag nicht das Mahnschreiben, sondern lediglich das informelle Vorverfahren des Vertragsverletzungsverfahrens zu ersetzen. Insgesamt betrachtet wurde mit der Verordnung keine erheblich effektivere Neuregelung im Bereich der Binnenmarktvorschriften eingeführt. Die mit der Verordnung angestrebte schnellstmögliche Reaktionsmöglichkeit auf Vertragsverstöße gem. Art. 28 i. V. m. Art. 10 Abs. 1 S. 1 EGV wird letztlich nur durch eine Kombination mit der Durchführung eines beschleunigten Verfahrens97 seitens des EuGH erfolgen können. Zu beachten ist, daß die Einführung des beschleunigten Verfahrens zwei Jahre nach Inkrafttreten der Verordnung eingeführt wurde. Dies verdeutlicht um so mehr, daß mit der Verordnung deren ursprüngliche Intention nicht erreicht werden konnte. Im Ergebnis hängt der reibungslose grenzüberschreitende Warenaustausch zwischen den Mitgliedstaaten weiterhin weitgehend von der Vertragstreue und der Handlungsbereitschaft der einzelnen Mitgliedstaaten selbst ab.

97

Vgl. dazu oben, 4. Kapitel, E.

Zusammenfassung und Ausblick I. Die vorliegende Untersuchung widmet sich der Frage nach der rechtlichen Existenz und inhaltlichen Ausgestaltung einer mitgliedstaatlichen Handlungspflicht bei Beeinträchtigungen des freien Warenverkehrs durch Private sowie den auf primär- und sekundärrechtlicher Ebene bestehenden Möglichkeiten der Kommission und der Mitgliedstaaten, auf die Verletzung einer solchen Handlungspflicht reagieren zu können. Die innerhalb dieser Untersuchung herausgearbeiteten Ergebnisse lassen sich wie folgt zusammenfassen: 1. Privatpersonen haben weitreichende Möglichkeiten, den grenzüberschreitenden Warenverkehr zu beeinträchtigen. Aufgrund einer mangelnden unmittelbaren Drittwirkung des Verbotes Maßnahmen gleicher Wirkungen gem. Art. 28 EGV und einer nur begrenzten Möglichkeit, private Handlungen dem Mitgliedstaat als staatseigene Maßnahmen zuzurechnen, bestehen erhebliche Schutzlücken und Durchsetzungsdefizite im Bereich der Grundfreiheit des freien Warenverkehrs. 2. Diese Schutzlücke wird durch die Anerkennung einer mitgliedstaatlichen Unterlassungshaftung geschlossen. Dieses Verantwortungsmodell knüpft an ein eigenes originäres und unmittelbares Fehlverhalten eines Mitgliedstaates an, welches in dessen Untätigkeit im Falle privatautonomer Beschränkungen des freien Warenverkehrs liegt. Die für einen vertragswidrigen Unterlassungsvorwurf notwendige Voraussetzung einer gemeinschaftsrechtlich bestehenden Verpflichtung eines Mitgliedstaates, private Beschränkungen zu unterbinden, folgt aus Art. 28 i. V. m. Art. 10 Abs. 1 S. 1 EGV. Die Grundlage dieser mitgliedstaatlichen Handlungspflicht entspringt einer objektiven Wertentscheidung und einer somit umfassenden mitgliedstaatlichen Schutzpflicht der Mitgliedstaaten zugunsten des freien Warenverkehrs. Die Umsetzungsverpflichtung dieser vertraglich angelegten Schutzpflicht auf nationaler Ebene folgt aus Art. 10 Abs. 1 S. 1 EGV. 3. Eine auf diesem Wege gemeinschaftsrechtlich abgesicherte Handlungspflicht entsteht für den betreffenden Mitgliedstaat im konkreten Einzelfall dann, wenn Maßnahmen Privater nach Maßgabe der Dassonville-Formel unmittelbar, mittelbar, tatsächlich oder potentiell den innergemeinschaftlichen Handel beeinträchtigen. Ausgenommen von diesen Beeinträchtigungen sind – in sinngemäßer Anwendung der Keck-Rechtsprechung – diejenigen privaten Maßnahmen,

Zusammenfassung und Ausblick

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die lediglich eine Begrenzung der Handelsvolumina auf dem nationalen Markt bewirken, nicht darauf abzielen, den Marktzugang für mitgliedstaatliche Waren unmittelbar oder mittelbar zu beeinträchtigen. Darüber hinaus stehen die mitgliedstaatliche Handlungspflicht gem. Art. 28 i. V. m. 10 Abs. 1 S. 1 EGV und die Wettbewerbsvorschriften der Art. 81 f. EGV in einem Exklusivverhältnis. Im Falle wettbewerbsrelevanten Verhaltens Privater, das den Handel im Sinne des Art. 28 EGV beeinträchtigt, entsteht für den betreffenden Mitgliedstaat keine gemeinschaftsrechtliche Pflicht, diese Verhaltensweisen zu unterbinden. 4. Die Frage nach dem Inhalt der Handlungspflicht führt in ein äußerst sensibles Spannungsfeld zwischen der effektiven Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts und der ausschließlichen Kompetenz der Mitgliedstaaten zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Unter Zugrundelegung des allgemeinen Rechtsgedankens der Verhältnismäßigkeit und der Subsidiarität läßt sich dieser Interessenkonflikt dergestalt auflösen, daß den Mitgliedstaaten ein Entschließungsermessen nicht zuzugestehen, ihnen jedoch auf der Ebene des Auswahlermessens der größtmögliche Gestaltungsspielraum einzuräumen ist. Einzige Anforderung, die die Mitgliedstaaten innerhalb ihres Auswahlermessens zu beachten haben, ist, daß die zu treffenden Maßnahmen geeignet und ausreichend sind, um ein unabdingbares Mindestmaß an Schutz des freien Warenverkehrs zu gewährleisten. Dieses Auswahlermessen kann der Gerichtshof nur im Rahmen einer Evidenzkontrolle überprüfen. 5. Sowohl die geschriebenen Rechtfertigungsgründe gem. Art. 30 EGV als auch der ungeschriebene Rechtfertigungskatalog der zwingenden Erfordernisse sind auf das Unterlassen eines Mitgliedstaates bei privatautonomen Beschränkungshandlungen grundsätzlich direkt anwendbar. Die für den Bereich mitgliedstaatlicher Maßnahmen kontrovers diskutierte Frage, ob die Abgrenzung der Rechtfertigungsinstitute anhand einer formalen oder materiellen Diskriminierung zu erfolgen hat, wird indessen hinfällig. Im Bereich des Unterlassens stehen dem betreffenden Mitgliedstaat die geschriebenen und ungeschriebenen Rechtfertigungsinstitute uneingeschränkt nebeneinander zur Verfügung. 6. Jegliche innerstaatlichen Störungen der öffentlichen Ordnung, unabhängig davon, ob diese auf wirtschaftlichen Problemen beruhen, rechtfertigen ein Nichteinschreiten des betreffenden Mitgliedstaates gem. Art. 30 EGV, sofern ihr Ausmaß für den Staat mit derart unüberwindbaren Schwierigkeiten verbunden ist, die die Grenze seiner Bewältigungsmöglichkeiten überschreiten. 7. Besondere Bedeutung im Anwendungsbereich der mitgliedstaatlichen Handlungspflicht erlangt die Notwendigkeit der Mitgliedstaaten, sich auf die Ausübung von Grundrechten der privaten Störer berufen zu können. Dogmatische Grundlage für die Berücksichtigung grundrechtlicher Rechtspositionen ist der ungeschriebene Rechtfertigungskatalog der zwingenden Erfordernisse. Auf dieser Grundlage sind die nationalen Grundrechte der jeweiligen mitgliedstaatlichen Verfassungen dann als zwingende Erfordernisse anzuerkennen, wenn sie einer gemeinschaftsgrund-

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rechtlichen Kontrolle standhalten und somit ein gemeinschaftsrechtlich anerkanntes Ziel der Gemeinschaft verfolgen. In einem solchen Fall ist das nationale Grundrecht legitimiert, dem Grundsatz des freien Warenverkehrs als gleichrangige Rechtsposition gegenüberzutreten, deren spezielle Interessenabwägung im Rahmen einer praktischen Konkordanz zu erfolgen hat. 8. Verletzt ein Mitgliedstaat eine ihm obliegende Handlungspflicht gem. Art. 28 i. V. m. Art. 10 Abs. 1 S. 1 EGV haben weder die übrigen Mitgliedstaaten noch die Kommission nach den im EG-Vertrag bestehenden Vorschriften die Möglichkeit, umgehend und effektiv auf die vertragswidrige Untätigkeit des betreffenden Mitgliedstaates zu reagieren. 9. Die Verordnung des Rates über das Funktionieren des Binnenmarktes im Zusammenhang mit dem freien Warenverkehr zwischen den Mitgliedstaaten, welche der Kommission die Möglichkeit geben sollte schneller und effektiver als nach den bislang im EG-Vertrag vorgesehenen Möglichkeiten auf die Untätigkeit eines Mitgliedstaates reagieren zu können, weist erhebliche Unklarheiten innerhalb ihrer Anwendungsvoraussetzungen und Begriffsbestimmungen auf. Darüber hinaus trägt die Verordnung nur äußerst bedingt zu einer effektiveren Reaktionsmöglichkeit der Kommission bei. Die Kompetenz der Kommission beschränkt sich im wesentlichen darauf, Informationsgesuche einzufordern und eine unverbindliche Mitteilung an die betreffenden Mitgliedstaaten zu verschicken. Diese Mitteilung vermag nicht das Mahnschreiben, sondern lediglich das informelle Vorverfahren des Vertragsverletzungsverfahrens gem. Art. 226 EGV zu ersetzen. II. Während bisher lediglich Beschränkungen des freien Warenverkehrs Zielscheibe privater Beschränkungshandlungen waren, sind auch Fallkonstellationen denkbar, in denen privatautonome Verhaltensweisen eine Beschränkung der übrigen Grundfreiheiten bewirken können. Der Gerichtshof hatte bislang noch keine Gelegenheit, sich zu einer mitgliedstaatlichen Handlungspflicht zugunsten der übrigen Grundfreiheiten zu äußern. Für gegebenenfalls in der Zukunft geführte Verfahren vor dem EuGH, in denen das Nichteinschreiten eines Mitgliedstaates gegen privatautonome Beschränkungen einer der übrigen Grundfreiheiten gerügt wird, ist zu bedenken, daß diese – ebenso wie die des freien Warenverkehrs – objektive Wertentscheidungen darstellen. Auch sie sind Ausdruck vertraglich angelegter umfassender Gewährleistungspflichten, zu deren Erfüllung die Mitgliedstaaten alle geeigneten und angemessenen Maßnahmen gem. Art. 10 Abs.1 S. 1 EGV zu treffen haben. Hinsichtlich des Inhalts dieser Handlungspflicht und der diesbezüglichen Kontrollbefugnis des EuGH wird in diesem Zusammenhang nichts anderes gelten können als in bezug auf die innerhalb dieser Untersuchung herausgestellten Ergebnisse für den Bereich des freien Warenverkehrs.

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Die Entstehungsvoraussetzungen und Schranken der Handlungspflicht werden entsprechend des jeweiligen speziellen Inhalts und der Struktur der betreffenden Grundfreiheit zu entwickeln sein. Zu berücksichtigen ist hierbei jedoch, daß sämtliche Grundfreiheiten trotz ihrer jeweils unterschiedlichen inhaltlichen Ausgestaltung eine gewisse Strukturgleichheit aufweisen, die es erlaubt, von einer sogenannten Konvergenz der Grundfreiheiten zu sprechen1. So stellen sämtliche Grundfreiheiten umfassende Beschränkungsverbote dar2. Zudem scheint die vom EuGH entwickelte Keck-Rechtsprechung zur Eingrenzung des umfassenden Beschränkungsverbots des freien Warenverkehrs sinngemäß Eingang in die Rechtsprechung des Gerichtshofes im Bereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit und Dienstleistungsfreiheit gefunden zu haben3. Dies wird darüber hinaus in der Literatur auch für den Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit4 und Kapitalverkehrsfreiheit5 zunehmend befürwortet. Ferner ist innerhalb sämtlicher Grundfreiheiten der Rechtfertigungsgrund der öffentlichen Sicherheit und Ordnung anerkannt6. In Anlehnung an die Cassis-Rechtsprechung können sämtliche Grundfreiheiten aufgrund zwingender Erfordernisse beschränkt werden7. In diesem Zusammenhang dürfte die Geltendmachung nationaler Grundrechte als zwingende Erfordernisse nach den oben herausgearbeiteten Voraussetzungen innerhalb einer jeden Grundfreiheit anerkennungsfähig sein. Diese Strukturgleichheit zwischen der Grundfreiheit des freien Warenverkehrs und den übrigen Grundfreiheiten rechtfertigt die Überlegung, daß sich die Entstehungsvoraussetzungen und Schranken einer mitgliedstaatlichen Handlungspflicht zugunsten der übrigen Grundfreiheiten im Falle zukünftig auftretender privatautonomer Beeinträchtigungen in wesentlichen Zügen an den innerhalb dieser Untersuchung herausgestellten Ergebnissen orientieren können.

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Vgl. dazu Streinz, Festschrift-Rudolf 2001, S. 199 ff. Vgl. für die Arbeitnehmerfreizügigkeit: EuGH Rs. C-415/93, Slg. 1995, S. I-4921 (5070 f.), Rn. 103 – Bosman; für die Niederlassungsfreiheit: EuGH Rs. 107/83, Slg. 1984, S. 2971 (2987 ff.), Rn. 8 ff. – Klopp; für die Dienstleistungsfreiheit: EuGH Rs. C-275/92, Slg. 1994, S. I-1039 (1093), Rn. 43 – Schindler. 3 Vgl. für die Arbeitnehmerfreizügigkeit: EuGH Rs. C-190/98, Slg. 2000, S. I-493 (523), Rn. 23 – Graf. Vgl. Für die Dienstleistungsfreiheit: EuGH Rs. C-384/93, Slg. 1995, S. I-1141 (1177), Rn. 36 f. – Alpine Investments. 4 Vgl. Schneider, NJ 1996, S. 512 (515); Eberhartinger, EWS 1997, S. 43 (49). 5 Vgl. Schneider, NJ 1996, S. 512 (515). 6 Vgl. Art. 58 Abs. 1 lit. b), 3. Var. EGV (Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit); Art. 55 i. V. m. Art. 46 EGV (Dienstleistungsfreiheit); Art. 46 Abs. 1 EGV (Niederlassungsfreiheit); Art. 39 Abs. 3 (Arbeitnehmerfreizügigkeit). 7 Vgl. zur Übertragung der Cassis-Rechtsprechung auf alle Grundfreiheiten: EuGH Rs. C-55/94, Slg. 1995, S. I-4165 (4197) Rn. 37 – Gebhard. Vgl. speziell für die Kapitalund Zahlungsverkehrsfreiheit: EuGH Rs. C-222/97, Slg. 1999, S. I-1661 (1680), Rn. 29 ff. – Trummer. Für die Dienstleistungsfreiheit: EuGH Slg. 1991, S. I-4007 (4043), Rn. 23 – Gouda. Für die Niederlassungsfreiheit: EuGH Rs. C-55/94, Slg. 1995, S. I-4165 (4197) Rn. 37 – Gebhard; EuGH Rs. C-212/97, Slg. 1999, S. I-1459 (1495), Rn.34 – Centros Ltd. 2

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Sachwortverzeichnis agency situations 90 akzessorische Nebenpflicht 41 allgemeine Handlungsfreiheit 98 f. Alpine Investments 54 Angonese 25 f. Apple and Pear 33 Aragonesa 73 Auslegung – des Wortlautes 38 f., 45 – historische 46 – systematische 45 f. – teleologische 47 ff. Bayer 27 f. Behinderung des Luftverkehrs 136 beschleunigtes Verfahren 110 Bosman 29, 83, 100 Brennerblockade siehe Schmidberger Buy Irish 32 f.

Drittwirkung – mittelbare 25, 26, 28 – unmittelbare 24 ff., 139 effet utile 47 ff. einstweilige Anordnung 105 f. Erfolgspflicht 67 Ermessen – Auswahlermessen 66 f., 106, 121, 140 – Entschließungsermessen 66, 121, 140 Europäisierung des Verwaltungsrechts 63 Evidenzkontrolle 68 f., 140 Exportfreiheit 23 Familiapress 83, 92 Fernfahrerstreik 52 Finalität privaten Verhaltens 55 f. Flucht ins Privatrecht 34

Garantenpflicht 36 Gemeinschaftsgrundrechte – als Auslegungsstütze und Rechtserkenntnisquelle 84 f., 91 ff. – als zwingende Erfordernisse 85 f. – Bindung der Gemeinschaftsorgane 89 – Bindung der Mitgliedstaaten 90 Dansk Supermarket 26 – Entwicklung 86 ff. Dassonville-Formel 19, 50 ff., 62, 120, 139 Gemeinschaftstreue 39 ff. – Eingrenzung 53 ff. grenzüberschreitender Bezug 18 De Agostini 73 f. Grundrechte 81 Delhaize 28 – als gleichrangige Rechtspositionen 93 De-minimis-Regel siehe Spürbarkeitskriteri- – als Schutzpflichten 42 ff. um – als zwingende Erfordernisse 83, 140 f. Diskriminierung – Gleichsetzung mit Grundfreiheiten 44 f. – formale 75, 140 – materielle 75 f., 140 Hafenarbeiterstreik 52 doppelte Grundrechtsloyalität 90 Hafenblockaden 136 Cassis de Dijon 21 f., 70 f., 72 f., 75, 83 Charta der Grundrechte 88 Coordination rurale 14, 51 Costa ./. E.N.E.L. 87 Cullet 73

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Sachwortverzeichnis

Handlungspflicht 36 – dogmatische Grundlage 38 ff., 49, 139 – Entstehung 50 ff., 120 – Inhalt 63 ff., 121 – Schranken 69 ff., 121 f. Hennen Olie 33 f. Hoechst AG 98 f. horizontale Wirkung siehe unmittelbare Drittwirkung Hünermund 54 f. Intermediäre Gewalten 25, 29 f. Kaufverhalten 51 Keck-Formel 19 f., 53 f., 120 – Intention 54 f. – Übertragbarkeit auf Handlungspflichten 55 f. Kohl 73 Kommission ./. Belgien 74 Kommission ./. Frankreich 14 ff., 37, 50 f., 69, 74, 79 f., 81, 97, 104, 120 Kontrollintensität 68 f. Konvergenz – der Grundfreiheiten 142 f. – der Schranken 78 Leclerc 73 Marktzugang 54, 55 f., 140 Maßnahmen gleicher Wirkung 9 ff, 50 ff. Meinungsfreiheit 94 ff. mengenmäßige Beschränkungen 18 ff. objektive Wertentscheidungen – der Grundfreiheiten 48 f. – der Grundrechte 42 öffentliche Sicherheit und Ordnung – Kompetenz der Mitgliedstaaten 31, 64 ff., 68, 121, 140 – Umfang 70, 78 ff. Optimierungsgebot 100 Pistre 73 praktische Konkordanz 101, 141

Prantl 73 PreussenElektra 74, 76 Privatautonomie 31, 56 f. Rau 98 Rechtfertigungsgründe – Abgrenzung 71 ff. – Anwendbarkeit für Handlungspflichten 71, 76 ff., 140 – geschriebene 20 f., 78 ff. – ungeschriebene siehe ungeschriebene Schranken Reinheitsgebot für Bier 73 Schmidberger 52, 82, 84 f., 96, 101 Schmidt und Dahlström 97 Schutzlücke 31, 35, 139 Schutzpflichten 41, 49, 139 – der Grundrechte siehe Grundrechte Schutzverband gegen Unwesen i. d. 73 Society for the Protection of Unborn Children 95 Spanische-Erdbeeren-Urteil siehe Kommission ./. Frankreich Spürbarkeitskriterium 51, 57 f. – Grund 58 f. – Übertragbarkeit auf Handlungspflichten 59 f. Stauder 87 strafbares Verhalten 53 Straßenblockaden 136 Streikrecht 97 f. Subsidiaritätsprinzip 65 f., 68, 140 Tabakwerberichtlinie 95 tatbestandsimmanente Schranken siehe ungeschriebene Schranken ungeschriebene Schranken 21 f., 70 f. unmittelbare Anwendbarkeit der Grundfreiheiten 24 unmittelbarer Vollzug des Gemeinschaftsrechts 63 Untermaßverbot 67 Van de Haar 26 f.

Sachwortverzeichnis Van Gend & Loos 87 Verhältnismäßigkeit 22, 65 f., 70, 100, 68, 140 Verhaltenspflicht 67 Verkehrsunfall 52 Verordnung Nr. 2679/98 98, 111 ff. – Anwendungsfälle 136 f. – Behinderung 114 ff., 118 ff. – ernsthafter Schaden 123 f. – Fassung des Rates 114 ff. – Handlungspflicht 128 f. – Hintergründe 112 – Informationssystem 125 ff. – Mitteilung der Kommission 129 ff. – Nichteinschreiten 120 ff. – Rechtsgrundlage 133 ff. – schwerwiegende Beeinträchtigung 123 – Spürbarkeitskriterien 118 ff. – unmittelbares Handeln 124 – Vorschlag der Kommission 112 f. Versammlungsfreiheit 96 f. verschleierte Beschränkung 21

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Vertragsverletzungsverfahren – der Kommission 103 ff. – der Mitgliedstaaten 105 Vertragsziele 46 Vlaamse Reisbureaus 27 vorbeugender Rechtsschutz 109 f. Vorwegnahme der Hauptsache 108 Ware 17 Warenverkehrsfreiheit 17 ff. Werbekampagnen 32 f., 51, 57, 95 f. Wesensgehaltsgarantie 101 Wettbewerbsvorschriften 30 f., 57 ff. – Exklusivitätsverhältnis zur Handlungspflicht 60 ff., 140 willkürliche Diskriminierung 21 Wurmser 73 Zurechnung 32 ff. zwingende Erfordernisse siehe auch ungeschriebene Schranken – als gleichrangige Prinzipien 100 – Gewinnung 84